Legitimität, Frieden, Völkerrecht: Eine Begriffs- und Theoriegeschichte der menschlichen Sicherheit [1 ed.] 9783428531677, 9783428131679

Sicherheit ist selbstverständlich. Erst aus dem Bewusstsein der Unsicherheit folgt das Bemühen um Sicherheit. Sicherheit

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Legitimität, Frieden, Völkerrecht: Eine Begriffs- und Theoriegeschichte der menschlichen Sicherheit [1 ed.]
 9783428531677, 9783428131679

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 157

Legitimität, Frieden, Völkerrecht Eine Begriffs- und Theoriegeschichte der menschlichen Sicherheit

Von

Harald Kleinschmidt

a Duncker & Humblot · Berlin

HARALD KLEINSCHMIDT

Legitimität, Frieden, Völkerrecht

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 157

Legitimität, Frieden, Völkerrecht Eine Begriffs- und Theoriegeschichte der menschlichen Sicherheit

Von

Harald Kleinschmidt

a Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 978-3-428-13167-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Sicherheit, Legitimität, Frieden und Völkerrecht

9

Kapitel 2 Öffentlichkeit, Legitimität und Sicherheit in der europäischen Tradition des Mittelalters und der Frühen Neuzeit

19

I.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

II.

Leben in Gruppen. Die Bereitstellung von Sicherheit und das Bringen von Schutz als Faktoren personenbezogener Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die heterodynamische Verhaltensweise und der personenzentrierte Herrschaftsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Legitimität von Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Begriff der Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23 23 32 42

III. Leben in Mauern. Bereitstellung von Sicherheit und Bringen von Schutz als Zeugnis institutioneller Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der raumbezogene Begriff von Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Legitimität von Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Begriff der Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47 47 55 59

IV. Leben in Territorien. Der Erfolg in der Bereitstellung von Sicherheit und im Bringen von Schutz als Zeugnis institutioneller Macht . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Wachstum der Bürokratien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Legitimität von Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Begriff der Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65 65 67 77

V. Leben in Staaten. Die Militarisierung der Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 1. Staatsentstehung als Absorption kollektiver Identitäten und Nationalisierung des politischen Raums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 2. Die Legitimität von Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3. Der Begriff der Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 VI. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

6

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 3 Europäische und japanische Friedenslehren der Frühen Neuzeit im Vergleich

105

I.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

II.

Allgemeine Theorien des Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

III. Die Anwendung der europäischen Handlungstheorie in den Friedenslehren und der Praxis des Friedensschließens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 IV. Die Umsetzung der buddhistischen Handlungstheorie in japanischen Friedenslehren und der Praxis der internationalen Beziehungen . . . . . . . . . . . 149 V. Schluss: Die Bedeutung frühneuzeitlicher europäischer und ostasiatischer Friedenslehren für die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

Kapitel 4 Völkerrecht, Freihandel und Kolonialismus. Ungleiche Verträge, europäische Expansion und Staatensukzession im 19. und frühen 20. Jahrhundert

175

I.

Einleitung: Freihandel, Völkerrecht, Kolonialismus und Staatensukzession . . 177

II.

Souveränität, Reziprozität und Moral. Entstehung und Wandlungen der juristischen Fiktion der Gleichheit der souveränen Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . 192

III. Europäische Expansion und völkerrechtliche Ungleichheit. Wandlungen des Verhältnisses der Ziele von Freihandelszwang und Kolonialherrschaft am Beispiel ungleicher völkerrechtlicher Verträge zwischen den USA und europäischen Staaten einerseits, China, Japan und Ozeanien andererseits . . . 1. Freihandel und Kolonialismus um die Mitte des 19. Jahrhunderts . . . . . 2. Der britisch-chinesische Vertrag von Nanjing und das Formular des Friedensvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anwendung des europäischen Rechts zwischenstaatlicher Verträge in Ostasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der amerikanisch-japanische Vertrag von Kanagawa . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der britisch-japanische Vertrag von Nagasaki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Der japanisch-russische und der japanisch-niederländische Vertrag . . . . 7. Die Ansei-Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Der japanisch-preußische Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Der japanisch-schweizerische Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Die Folgeverträge von 1866 bis 1869 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Zusammenfassung zu den Verträgen zwischen Japan und Staaten in Europa sowie den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

210 210 214 220 236 245 252 255 260 267 275 281

Inhaltsverzeichnis

7

12. Verträge zwischen Japan einerseits, China und Hawaii andererseits im Licht des europäischen Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 13. Verträge zwischen europäischen Regierungen und Regierungen in Südostasien sowie Ozeanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 IV. Völkerrechtliche Verträge und militärische Gewalt in der Kolonialisierung Afrikas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 V. Globalisierung der amerikanisch-europäischen Rechtssysteme, insbesondere des europäischen Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 VI. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

Kapitel 5 Ausblick

329

Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484

Kapitel 1

Sicherheit, Legitimität, Frieden und Völkerrecht Es war das Jahr 1834. Nach vierzehnmonatiger Irrfahrt sahen sie schließlich wieder Land. Ihr Transportschiff, eigentlich nur für die Küstenschifffahrt ohne Mast und Steuer gebaut, hatte sie über den Ozean getragen, den wir den Pazifischen nennen. 1832 waren sie in Japan auf Routinefahrt entlang der Küste gegangen. Nun landeten sie am Kap Alava, der westlichsten Spitze der Olympic Peninsula im heutigen US-Bundesstaat Washington. Sie waren nur noch zu dritt, hatten überlebt mit entsalztem Meerwasser und dem spärlichen Proviant an Bord. Ihre Namen: Iwakichi, 29, Kyu¯kichi, 16, und Otokichi, 15. Die übrigen Angehörigen der Besatzung waren während der Irrfahrt verstorben. Wo sie sich befanden, wussten sie nicht. Aber eines war ihnen klar: Ihre Rückkehr nach Japan würde schwierig werden. Denn seit fast genau 200 Jahren galt dort ein ehernes Gesetz: Niemand durfte das Land verlassen. Und wer es doch tat, gleich aus welchem Grund, würde bei der Rückkehr hingerichtet. Sie wollten zurück, aber konnten nicht. Wie sollten Iwakichi, Kyu¯kichi und Otokichi ihr Dilemma verständlich machen? Die Bewohner der Küste, Angehörige der Makah-Gruppe der Native Americans, nahmen sie freundlich auf. Die Verständigung, ohnehin schwierig, erbrachte aber nicht viel. Das Land hieße Oregon, sagte man ihnen. Aber von Japan und seinen Gesetzen wusste man nichts. Die Makah reichten sie schließlich weiter an John McLoughlin, Faktor der britischen Hudson Bay Company und zuständig für den um den Columbia-Fluss gelegenen Handelsdistrikt. Der wusste von Japan, interessierte sich aber nicht für die Ängste der drei Schiffbrüchigen. Vielmehr dachte der Mann geschäftlich. Genau zwanzig Jahre zuvor hatte kein geringerer als Thomas Jefferson, damals Präsident der USA, den kühnen Plan gefasst, auf dem Landweg Nordamerika zu überqueren und dann den transpazifischen Seehandel mit Ostasien zu entwickeln. Später hoffte man, auf diese Weise den Weg der Handelsgüter zwischen Ostasien und Europa über Nordamerika lenken und so die noch junge USA am lukrativen Geschäft des britischen Asienhandels beteiligen zu können. McLoughlin dachte ebenso, nur pragmatischer. Die drei Schiffbrüchigen könnten seine Verbindungsleute in Japan werden, hoffte er. Also ließ er ihnen etwas Englisch beibringen und sandte sie auf dem

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Kap. 1: Sicherheit, Legitimität, Frieden und Völkerrecht

Landweg an die Ostküste und von dort über den Atlantik nach London. Dort trafen sie 1835 ein. Von Japan waren sie nun weiter entfernt als je zuvor. Aber die britische Regierung entschied gegen McLoughlin und ließ sie in den portugiesischen Stützpunkt Macau an der chinesischen Küste einschiffen, um von dort aus die Rückkehr zu ermöglichen. Inzwischen schrieb man das Jahr 1837. In Macau trafen sie auf den umtriebigen deutschen Missionar Karl Gützlaff, der gerade dabei war, auf eigene Faust nach Japan zu reisen, um dort das Evangelium zu predigen. Auch weitere schiffbrüchige Japaner hielten sich in Macau auf. Otokichi, der jüngste, dessen Englischkenntnisse schon gut gediehen waren, versuchte erneut, sein Dilemma zu erläutern. Er trat nunmehr gegenüber den beiden anderen in den Vordergrund. Doch Otokichi erreichte nichts. Gützlaff wollte von Rechtsdingen nichts wissen. Ein amerikanisches Schiff, die Morrison, stand bereit zur Fahrt nach Japan. Widerwillig folgten die Schiffbrüchigen Gützlaff an Bord. Ziel war der japanische Hafen Nagasaki. Dort, so glaubte Gützlaff, dürften ausländische Schiffe anlanden. Aber die Hafenpolizei hatte andere Instruktionen. Nur chinesische und holländische Schiffe waren zugelassen, gab man zu verstehen. Die Morrison wurde zum sofortigen Verlassen des Hafens aufgefordert, so streng, dass sogar Gützlaff murrend zum Nachgeben bereit war. Gleichwohl wollte er erreichen, dass die Schiffbrüchigen abgesetzt werden konnten. Doch gerade dieses Ansinnen rief helle Empörung auf japanischer Seite hervor. In Amerika könnten überhaupt keine Japaner leben, hielt man Gützlaff entgegen. Sollten die Schiffbrüchigen japanischen Boden betreten, würden sie sofort hingerichtet, da sie illegal ausgereist sein mussten. Otokichi und seine Schicksalsgenossen fuhren also zurück. Otokichi ließ sich in Shanghai nieder und nahm 1843 Kontakt zu britischen Kaufleuten auf. Sechs Jahre lang ging Otokichi in Shanghai seinen Geschäften nach, bis sich die britische Regierung wieder an ihn erinnerte. Inzwischen hatte sie von der chinesischen Regierung in Beijing das Zugeständnis erpresst, auf der Insel Hong Kong einen Stützpunkt anlegen zu können, der nach dem Vertrag von Nanjing vom Jahr 1842 auf Dauer britischer Herrschaft unterstellt sein sollte. Von Hong Kong aus unternahmen britische Schiffe Erkundungsfahrten in den Nordpazifik, auch und gerade in japanische Gewässer. Im Jahr 1849 nahm die Crew der HMS Mariner Otokichi an Bord, verkleidete ihn als Chinesen aus Nagasaki und setzte ihn als Dolmetscher in Verhandlungen ein, die man mit japanischen Behörden im Hafen von Uraga führen wollte. Doch die japanischen Behörden wiesen jeden britischen Versuch zur Aufnahme von Beziehungen irgendwelcher Art zurück. Derweil sann die US-Regierung im fernen Washington wieder einmal über den Ostasienhandel nach. Die Westküste war inzwischen weitgehend unter

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der Kontrolle der Regierung geraten, und zahllose Siedler hatten sich über den Oregontrail in die ferne Gegend gewagt. Auch in das südlich angrenzende Kalifornien hatte der Goldrausch jede Menge Abenteurer getrieben. Es gab also genug Gelegenheit, den Pazifik ins Auge zu fassen. In Washington glaubten Handelsleute, dass die Zeit gekommen sei, den transpazifischen Verkehr aufzunehmen, zumal gerade die neue Technik der mit Dampfmaschinen betriebenen Schiffe aufkam und die Seefahrt über den Ozean verlässlicher zu gestalten schien. Den Zwischenfall der Morrison nahm die Regierung als weiteren Grund dafür, eine Expedition nach Japan zu planen. Dass die dortige Regierung rückkehrende Schiffbrüchige mit dem Tod bestrafte, hielt man in Washington für einen schreienden Verstoß gegen Menschrechte und war bereit, derlei scheinbarem Missbrauch entgegen zu wirken. Im Südosten Europas begann derweil 1853 der Krimkrieg, den Frankreich und das Vereinigte Königreich gegen das Russische Reich führten. Russland war aber seit dem 18. Jahrhundert nicht nur eine europäische, sondern auch eine pazifische Macht geworden, die britische Aktivitäten im Pazifik beeinflussen, wenn nicht gar beeinträchtigen zu können schien. Die russische Regierung, die ebenso wie die britische von den amerikanischen Expeditionsplänen gehört hatte, war seit Ende des 18. Jahrhunderts bestrebt gewesen, mit Japan in Beziehungen zu treten, stets ohne Erfolg. Dabei strebte die russische Regierung dasselbe Ziel an wie die US-Regierung, nämlich die vorgebliche „Öffnung“ Japans für den freien Handel. Während der Krimkrieg im Schwarzen Meer tobte, dirigierte die russische Regierung eine Flotte von St. Petersburg nach Nagasaki. Im Jahr 1854 geriet Otokichi unversehens in die Mühlen der Weltpolitik. Denn die britische Regierung wollte dem russischen Drängen zwar nicht nachstehen, hielt sich aber mit Rücksicht auf ihre Kronkolonie Hong Kong zunächst zurück. Der dort stationierte britische Emissär und Konteradmiral James Stirling dachte jedoch anders. Entgegen einer ausdrücklichen Weisung der Regierung, nicht nach Japan zu gehen, bereitete er 1854 auf eigene Faust eine Japanexpedition vor, um der russischen Regierung zuvor zu kommen. Stirling hörte von Otokichi, stellte ihn wieder als Dolmetscher in Dienst und fuhr nach Nagasaki. So kehrte Otokichi im Gefolge Stirlings 1854 wieder nach Japan zurück, wenn auch abermals nur für kurze Zeit. Nachdem die japanische Regierung einen Vertrag mit dem Vereinigten Königreich unterzeichnet hatte, ließ Stirling Otokichi nach Shanghai zurückbringen. Im Jahr 1866 hob die japanische Regierung das Ausreiseverbot auf und rehabilitierte Otokichi. Der aber zog nach Singapur, dem Heimatland seiner Frau, und starb dort im folgenden Jahr 1867. Die Geschichte Otokichis führt ins Zentrum des Konflikts zwischen dem Sicherheitsbedürfnis einzelner Personen und den Sicherheitsinteressen der

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Regierungen von Staaten. Niemand hatte um die Mitte des 19. Jahrhunderts diesen Konflikt gewollt. Die Regierung von Japan hatte im Jahr 1633 das Verbot der Ausreise verfügt, um Konfrontationen ihrer Untertanen mit den spanischen Kolonialbehörden auf den Philippinen zu beenden. Otokichi und seine Schicksalsgenossen hatten Japan nicht verlassen wollen. Die US-Regierung hatte sich für diejenigen Werte eingesetzt und auf diejenigen Normen berufen, die in der Tradition der amerikanischen und nachmalig auch der französischen Revolutionen als Menschenrechte festgeschrieben worden waren. Und doch wurden Otokichi und seine Schicksalsgenossen gleich mehrfach bestraft, von den Unbilden der Natur, von der Unerbittlichkeit der Gesetze und von der Unflexibilität der Politik von Regierungen, die über sich weder rechtliche noch moralische Instanzen anerkennen wollten. Wie können die Sicherheitsbedürfnisse einzelner Personen mit den Sicherheitsinteressen der Regierungen von Staaten vereinbart werden? Seit etwa zwanzig Jahren stellt der Begriff der Menschlichen Sicherheit (Human Security) so etwas wie eine Zauberformel dar. Sie besagt, dass zwischen den Sicherheitsbedürfnissen einzelner Personen und den Sicherheitsinteressen der Regierungen von Staaten dann kein Widerspruch besteht, wenn der Begriff der Sicherheit genügend breit über militärische Belange hinaus ausgeweitet wird und zentrale Lebensbereiche einzelner Personen ebenso umfasst wie die äußere Politik der Regierungen von Staaten. Mit dieser Formel soll nicht nur die Sekuritisierung der Rohstoff- und Energieversorgung sowie des Umweltschutzes ermöglicht werden, sondern auch die Bereitstellung von Schutz vor Übergriffen durch staatliche Institutionen in die Privatsphären einzelner Personen. Mit anderen Worten: der Begriff der Sicherheit, dem die beteiligten Regierungen in Europa, Amerika und Japan um die Mitte des 19. Jahrhunderts anhingen, war auf militärische Belange verengt. Hätte es einen Begriff von Menschlicher Sicherheit damals gegeben, wäre die Irrfahrt Otokichis und seiner Schicksalsgenossen immer noch ein bemerkenswertes Ereignis gewesen, hätte aber keine ihrer dramatischen politischen Folgen gehabt. Gleichwohl hat die Menschliche Sicherheit heute mehr als je zuvor ihren Preis. Denn sie umschließt die Forderung, dass zur Einhegung der Sicherheitsbedürfnisse von Staaten ein Pluralismus lokaler, nationaler wie auch internationaler Sicherheitsanbieter in öffentlicher wie auch privater Trägerschaft zugelassen werden soll in Ergänzung privatrechtlich firmierender Versicherungsträger. Der auf diese Weise entstehende Markt des Gewährens von Sicherheit fördert Konkurrenz unter den Sicherheitsanbietern. Diese Konsequenz ist nicht nur vor dem Hintergrund der politischen Verhältnisse in Europa, Nordamerika und Ostasien um die Mitte des 19. Jahrhunderts schwer nachzuvollziehen. Sie wird auch in der gegenwärtigen Diskussion

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kritisch beurteilt. Denn die Sekuritisierung der als essentiell kategorisierten Bereiche des täglichen Lebens trägt zur Intensivierung von Konflikten über eben diese Bereiche bei. Wer beispielsweise den Schutz der Privatsphären einzelner Personen als Teil der Menschlichen Sicherheit sekuritisiert, behauptet nicht nur dessen Wichtigkeit für die Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, sondern tabuisiert zugleich die politische Debatte über eben diese Komponente des Sicherheitsbegriffs. Wer will schon in der öffentlichen Debatte dagegen argumentieren wollen, dass der Schutz der Privatsphären einzelner Personen ein wichtiges gesellschaftliches, politisches und wirtschaftliches Gut ist. Wer, obwohl der Schutz der Privatsphären einzelner Personen sekuritisiert ist, fordert, die Möglichkeiten für Eingriffe staatlicher Behörden zu erweitern, beispielsweise zum Zweck der Strafverfolgung, handelt nicht allein politisch inkorrekt, sondern schadet letztlich der Legitimität von Regierungen in demokratisch verfassten Staaten. Jeder Versuch, die Sekuritisierung der Privatsphären einzelner Personen in Frage zu stellen, muss als undemokratische Zielsetzung gelten. Aber auch umgekehrt gilt: Wer der nur wenig begrenzten Zulassung privater Sicherheitsanbieter auf dem Markt der Sicherheitsgewährung das Wort redet, schränkt die Kompetenz derjenigen staatlichen Stellen ein, die, wie die Polizei, für die Sicherheitsgewährung zuständig sind. Wer, wo technisch ausgereifte Waffen billig und ohne bedeutsame Einschränkungen verfügbar sind, dem Einsatz privatrechtlich firmierender Söldnertruppen das Wort redet, gefährdet die militärische Sicherheit ganzer Staaten. Sicherheitsfragen eignen sich also weder für Wahlkämpfe noch für Parlamentsdebatten noch für Talkshows. Sie müssen im Konsens beantwortet werden, wenn sie nicht die Stabilität der Staats oder gar der internationalen Ordnung gefährden sollen. Die Legitimitätsreduktion folgt also nicht nur aus der Tabuisierung politischer Debatten um die Sicherheit, sondern auch und mehr noch aus der Pluralisierung der Sicherheitsanbieter und der damit einhergehenden Entstehung eines Marktes der Sicherheitsgewährung. Was Otokichi und seinen Schicksalsgenossen vielleicht geholfen hätte, wird heute leicht zum Problem: Die Pluralisierung der Sicherheitsanbieter beendet das Gewaltmonopol von Polizei und Armee, da privatrechtlich firmierende Sicherheitsdienste, national und transnational operierende zivilgesellschaftliche Hilfsorganisationen sowie internationale öffentliche Einrichtungen auf der Basis ihrer eigenen Finanzmittel als Sicherheitsanbieter mit staatlichen Einrichtungen in Konkurrenz treten. Im Mai 2008 hat diese Teilprivatisierung des Marktes der Sicherheitsgewährung in der Union von Myanmar dazu geführt, dass die Sicherheitsbedürfnisse vieler Opfer der Unbilden der Natur nicht hinreichend versorgt werden konnten, da die Regierung von Myanmar, wohl zu Recht, befürchtete, sie könne in Konkurrenz mit offensiv auftretenden auswärtigen privaten Sicherheitsanbietern wie etwa Oxfam ins

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Hintertreffen geraten. In einigen Staaten Afrikas (Kenia, Liberia), Lateinamerikas (Haiti), Zentral- (Georgien, Tadschikistan), Süd- (Bangladesch, Sri Lanka) und Südostasiens (Indonesien, Osttimor) sowie Ozeaniens (Fidschi) sind bereits Situationen eingetreten, in denen unter dem Etikett so genannter Katastrophen-, Entwicklungs- oder Übergangshilfe beträchtliche Finanzmittel an Sicherheitsempfänger vergabt wurden, ohne dass den zuständigen staatlichen Einrichtungen Kontrollmöglichkeiten eingeräumt waren. Sicherheitsempfänger, die von der Leistungsfähigkeit der für sie unmittelbar zuständigen staatlichen Einrichtungen nicht hinreichend überzeugt sind, werden geringere Bereitschaft zeigen, ihren steuerlichen und sonstigen staatsbürgerlichen Verpflichtungen nachzukommen. Folglich kann ein frei wettbewerblich organisierter Markt der Sicherheitsgewährung die Aufrechterhaltung einer regulären öffentlichen Verwaltung erschweren oder gar ausschließen. Im Extremfall kann die Privatisierung des Marktes der Sicherheitsgewährung zum Zusammenbruch von Staaten führen. Sicherheitstheoretiker, die an der gegenwärtigen Debatte über die Bestimmung des Sicherheitsbegriffs teilnehmen, gehen zumeist von der Annahme aus, dass das Bedürfnis nach Ausweitung des Sicherheitsbegriffs über militärische Belange hinaus am Ende der 1980er Jahre aufgekommen sei und auf die Veränderungen der Modalitäten der Kriegführung seit dem Ausgang des Kalten Krieges geantwortet habe. Wichtige Aspekte dieser Veränderungen seien der Anstieg der Zahlen der Kriegsopfer unter den Nicht-Kombattanten sowie die Asymmetrisierung des Krieges im Verbund mit der Aufweichung der völkerrechtlichen Kriegsdefinition gewesen. Bei dieser Annahme wird jedoch übersehen, dass, wie das Beispiel Otokichis zeigt, im Blick auf lange Zeiträume und verschiedene Kulturen nicht die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs über militärische Belange hinaus das Explanandum darstellt, sondern die zuvor in Europa – und zunächst nur dort – während des 19. Jahrhunderts aufgetretene Militarisierung des Sicherheitsbegriffs. Die gegenwärtig stattfindende Diskussion um die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs stellt also in historischer Perspektive die Abkehr von Sonderentwicklungen der europäischen Staats- und Gesellschaftstheorien des 19. Jahrhunderts dar. Diese Theorien postulierten Staaten als umfassende Systeme, die sie in den Kategorien des Lebens und Sterbens beschrieben. Diese Staaten wurden als souveräne, nach außen abgeschlossene organisatorische Einheiten wie lebende Körper mit deren Organen gegeneinander gestellt. Die aus der Antike überkommene Metapher des corpus politicum erhielt auf diese Weise eine neue Dimension. Ein Sprachbild, das mit ganz unterschiedlichen Modellen, im 17. und 18. Jahrhundert beispielsweise mit dem der Maschine, kombinierbar gewesen war, geronn selbst zum Modell, das die Koexistenz

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von Staaten in Parallele zum Zusammenleben von Personen zu positionieren schien. Da auf der höheren Ebene der Beziehungen zwischen den Staaten eine Parallele zur Gesellschaft nicht eo ipso gegeben zu sein schien, galt diese Ebene als rechtlose Sphäre, in der Krieg als das letzte Mittel zur Durchsetzung der Sicherheitsinteressen der Regierungen der Staaten sei. Sicherheit konnte also im Kontext der europäischen Staats- und Gesellschaftstheorien des 19. Jahrhunderts nur militärisch definiert sein und durch Regierung souveräner Staaten gewährt werden. Frieden konnte im Rahmen dieser Theorien nur als Vorstufe eines künftigen Krieges bestimmt sein, das heißt, Krieg galt als gewöhnliches Vorkommnis in den Beziehungen zwischen den Staaten. Krieg erschien den Theoretikern des 19. Jahrhunderts als Manifestation von Bewegung und Leben, Frieden hingegen als Zwischenphase des Stillstands. Das Schicksal Otokichis und seiner Mannen wirft ein gleißendes Licht auch auf das Problem der Sicherheitsgewährung in dem auf diese Weise theoretisierten politischen Raum zwischen den Staaten. Mit dem Problem, das das Schicksal der japanischen Schiffbrüchigen aufwarf, ist gerade nicht ihre Rettung als Schiffbrüchige bezeichnet. Denn bei ihrer Anlandung an der Westküste Nordamerikas erhielten sie Hilfe, ohne dass es des Handelns der Regierungen von Staaten oder irgendwelcher internationaler Organisationen bedurft hätte. Unmittelbar fand das übliche, gewissermaßen naturrechtlich gegebene Gebot der Unterstützung Hilfsbedürftiger in Verbindung mit dem Gastrecht Anwendung, ohne dass das Handeln irgendwelcher öffentlicher Einrichtungen erforderlich geworden wäre. Internationale Organisationen gab es in den 1830er Jahren nicht. Die Regierungen von Staaten fühlten sich erst angesprochen, als die geretteten Schiffbrüchigen zum Objekt diplomatischer Aktionen wurden. Eine außergewöhnliche Notlage bestand für die Schiffbrüchigen zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Aber die grundsätzliche Frage, in welchem Staat die drei Schiffbrüchigen leben sollten, ließ sich nach den europäischen staats- und völkerrechtlichen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts nicht mit Rücksicht auf die Wünsche der Betroffenen, sondern nur auf der Ebene der souveränen Staaten entscheiden. Das heißt, die drei japanischen Schiffbrüchigen gerieten in die Mühlen der internationalen Beziehungen und des diplomatischen Verkehrs zu einem Zeitpunkt, als zwischen Japan einerseits sowie den USA und den europäischen Staaten andererseits keinerlei bilaterale Beziehungen bestanden. Als der Versuch Gützlaffs scheiterte, die drei Schiffbrüchigen gegen den bekannten Willen der japanischen Regierung zurückzuführen, verfestigte sich ein in Europa bereits bekanntes Problem der Diplomatie zu einem handfesten Konflikt, der nur deswegen nicht zu einem regelrechten Krieg ausartete, da es den europäischen Regierungen damals, das heißt vor der britischen Okkupation Hong Kongs, an den nötigen und in Ostasien einsetzbaren mili-

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tärischen Machtmitteln mangelte. Gleichwohl zogen in den folgenden Jahren einige europäische Regierungen sowie die Regierung der USA verschiedene Register der völkerrechtlichen Diskriminierung gegenüber der japanischen Regierung. Sie bezichtigten letztere des Despotismus sowie der Missachtung der Menschenrechte und verlangten die „Öffnung“ des Landes. Japan, dessen Regierung den vorgeblich universalen Normen des europäischen Völkerrechts nicht Genüge tun zu wollen schien, wurde im Blick der Europäer und Amerikaner potentielles Ziel herrschaftlichen Kolonialismus. Wollte die japanische Regierung der Unterwerfung Japans unter die herrschaftliche Kontrolle einer Regierung in Europa oder der Regierung der USA entgegenwirken, hatte sie in der Perspektive der Europäer und Amerikaner die im europäischen Völkerrecht niedergelegten Normen zu akzeptieren. Herrschaftlicher Kolonialismus war in dieser Perspektive nur durch Regime-Kolonialismus, das heißt durch Oktroi europäischer Normensysteme, ersetzbar. Frieden konnte aus europäischer und amerikanischer Sicht nur durch Systemwandel in den internationalen Beziehungen fortbestehen. In diesem diplomatischen Kalkül waren die persönlichen Sicherheitsinteressen der betroffenen Schiffbrüchigen bedeutungslos. Ein weiter Sicherheitsbegriff, der die Gewährung umfassender Sicherheit durch konkurrierende Akteure umfasste, war jedoch unvereinbar mit der im 19. und frühen 20. Jahrhundert üblichen Erwartung eines künftigen Krieges. Wenn Sicherheit nicht nur Armeen hätten gewährt werden und nicht nur aus den militärischen Interessen der Regierung folgen sollte, sondern auch den Sicherheitsbedürfnissen einzelner Personen hätte gehorchen und von nichtstaatlichen Anbietern bereitgestellt werden können, wäre es nicht möglich gewesen, staatliche Institutionen mit der Notwendigkeit des Vorbereitetseins auf den künftigen Krieg zu legitimieren, wie es die europäischen Staats- und Gesellschaftstheorien des 19. Jahrhunderts taten. Denn wenn die Sicherheit einzelner Personen im Kernbereich des Sicherheitsbegriffs hätte platziert werden müssen, hätte keine staatliche Institution unumstrittene Legitimität für sich beanspruchen können, wenn sie, wie Fichte und die auf ihn folgenden Theoretiker des Nationalismus forderten, erwartet oder gar verlangt hätte, dass einzelne Personen ihre Sicherheit zu Gunsten der Sicherheit des Staats hätten gefährden sollen. Sicherheits- und Legitimtitätstheorie sind also aneinander gekoppelt gewesen. Überdies steht ein erweiterter Sicherheitsbegriff derjenigen Interpretation der Vergangenheit entgegen, die den Wechsel vergangener Kriegs- und Friedenszeiten als Abfolge von Krieg durch Frieden zu einem neuen Krieg interpretiert und als Erwartung für die Zukunft fortschreibt. Ein erweiterter Sicherheitsbegriff hingegen setzt Frieden nicht als begrenzte Zwischenphase zwischen zwei Kriegen, sondern als theoretisch gesetzten Normalzustand

Kap. 1: Sicherheit, Legitimität, Frieden und Völkerrecht

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der Welt, der durch Kriege, das heißt durch unangemessenes menschliches Handeln, hin und wieder unterbrochen wird. In Europa basierte diese naturrechtliche Bestimmung des Friedens auf der Theologie des heiligen Augustinus und lag noch den Völkerrechtstheorien des 18. Jahrhunderts zugrunde. In Ostasien, insbesondere in Japan, fanden vergleichbare Friedensbegriffe bis ins 19. Jahrhundert hinein Anwendung. Die Theorien von Staat und Gesellschaft, Krieg und Frieden des 19. und frühen 20. Jahrhunderts beförderten nicht nur mit dem erweiterten Sicherheitsbegriff unvereinbare Modalitäten der Bestimmung der Kriterien der Legitimität von Staaten, sondern bedingten auch eine Änderung des Gebrauchs von Völkerrechtstheorien. Obzwar im frühen 20. Jahrhundert einige Pazifisten, wie Otfried Nippold, Walther Max Adrian Schücking und Hans Wehberg, Völkerrechtslehrer waren, gedieh das Völkerrecht zu einem Regelsystem für die Ausbreitung nichtherrschaftlicher Normensysteme und Grundsätze des „freien“ Welthandels. Hauptsächliches Mittel zu diesem Gebrauch des Völkerrechts waren die zwischenstaatlichen Verträge, die seit den 1820er Jahren immer häufiger zwischen europäischen Staaten und Staaten in Afrika und Asien geschlossen wurden. Diese Verträge hatten ein europäisch bestimmtes Formular und oktroyierten dadurch das europäische Normensystem auf die außereuropäischen Vertragspartner. Das Völkerrecht war also im 19. und frühen 20. Jahrhundert keineswegs nur Selbstzweck, sondern diente auch der Ideologie der europäischen Expansion. In letzterem Zusammenhang stellte es diejenigen Begriffe bereit, mit denen die Expansion überhaupt erst konzipierbar war, und lieferte sodann diejenigen Verfahren, mit denen die Expansion umgesetzt werden konnte. Zu den wichtigsten Begriffen zählten die verschiedenen Ausprägungen der Souveränität, mit deren Hilfe staatliche Existenz anerkannt oder aberkannt werden konnte. Zu den wichtigsten Verfahren zählte das zwischenstaatliche Vertragsrecht, mit dessen Hilfe Gleichheit der Souveräne festgestellt oder negiert werden konnte. Anders ausgedrückt: Aus der Globalisierung des Begriffs der Souveränität und des zwischenstaatlichen Vertragsrechts aus dem europäischen Völkerrecht folgte die Anmaßung einiger europäischer Regierungen und der Regierung der USA, autoritativ und rechtswirksam über die Staatlichkeit und die Gleichheit politischer Gemeinschaften außerhalb Europas befinden zu können. In der Wahrnehmung der Opfer europäischer herrschaftlicher und nichtherrschaftlicher Kolonialexpansion war das Völkerrecht folglich nicht neutral, sondern Instrument der Unterdrückung. Deswegen geriet das europäische Völkerrecht auch dort in Verruf, wo keine europäische Kolonialherrschaft oktroyiert wurde. Mit den zwischenstaatlichen Verträgen, die häufig als Friedensverträge deklariert waren, setz-

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Kap. 1: Sicherheit, Legitimität, Frieden und Völkerrecht

ten einige europäische Regierungen und die Regierung der USA Normen, die unter Androhung von Kriegshandlungen erzwingbar waren. Diese Abkommen wurden auch dann in das Formular der Friedensverträge gegossen, wenn zwischen den Vertragspartnern kein Kriegszustand gegeben war, sondern erklärtermaßen der Herausbildung und Festigung von Handelsbeziehungen nach den Grundsätzen des „freien“ Welthandels dienten. Auch in diesen Fällen waren europäische Regierungen und die Regierung der USA bestrebt, ihre Grundsätze der Gestaltung der zwischenstaatlichen Beziehungen global durchzusetzen. Die Folge war, dass in Asien, Afrika und Ozeanien das Völkerrecht primär als Instrument der Kriegführung und anderer Formen der Unterdrückung wahrgenommen wurde. Die Opfer europäischer herrschaftlicher wie nichtherrschaftlicher Kolonialexpansion hatten somit keine praktikable Alternative zur Aufgabe ihrer indigenen, auf Frieden, Krieg, staatliche Ordnung und zwischenstaatliche Beziehungen gerichteten Begriffe und Verfahrensweisen und sich den europäischen Vorgaben anzupassen. Die nachfolgende Darstellung hat das Ziel, die Bezüge aufzuzeigen, die zwischen den Begriffsflächen und Verfahrensfeldern der Sicherheit und Sicherheitsgewährung, der Legitimität und der Verfahren der Legitimitätsbestimmung, des Friedens und der Friedensschlüsse sowie des Völkerrechts und der europäischen Kolonialexpansion bestanden haben. Sie betreibt Begriffsgeschichte nicht als bloßes exercitium in theoreticis, sondern gebunden an das praktische Handeln der Menschen. Sie basiert somit auf der Annahme der Empiristen, dass Denken Handeln ist und Begriffe sich in allen Formen von Kommunikation äußern. Nicht allein Wörter sollen daher als Träger von Begriffsflächen gelten, sondern auch Bilder, Gesten, Riten und alles Tun, das im Sinn der Handelnden Bedeutung trägt oder tragen soll. Nicht allein Theoretikern soll die Fähigkeit zuerkannt werden, Begriffe zu definieren und autoritativ zu artikulieren, sondern jedem Handelnden. Kapitel 2 bietet einen historischen Abriss der Verengung und Erweiterung des Sicherheitsbegriffs in der europäischen Tradition. Kapitel 3 fokussiert den Sicherheitsbegriff auf die internationalen Beziehungen mit einem Vergleich der Entwicklungen der Friedensbegriffe in Europa und in Ostasien, speziell Japan, in der Frühen Neuzeit. In Kapitel 4 folgt eine Analyse der Bedingungen, unter denen Friedensbegriffe zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Beginn des ersten Weltkriegs durch das europäische Völkerrecht außerhalb Europas verändert wurden und insbesondere in Afrika, Asien und Ozeanien ein Bewusstsein der Unsicherheit aufkam. Kapitel 5 enthält eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse.

Kapitel 2

Öffentlichkeit, Legitimität und Sicherheit in der europäischen Tradition des Mittelalters und der Frühen Neuzeit I. Einleitung Der Begriff der Menschlichen Sicherheit gilt als Erfindung der 1990er Jahre und wird als in unterschiedliche Richtungen erweiterter Begriff der militärischen Sicherheit aufgefasst. Im Folgenden möchte ich darlegen, dass der Begriff Menschliche Sicherheit – anders als das Wort Human Security – keine Erfindung der 1990er Jahre ist, sondern zum Grundbestand militärischer und politischer Theorie seit dem Mittelalter gehört und überdies eng angebunden war an Vorstellungen von Öffentlichkeit und Theorien der Legitimität. Entgegen der seit mehr als vierzig Jahren bestehenden sozialwissenschaftlichen Orthodoxie hat sich die Geschichte des Verhältnisses von privater und öffentlicher Sphäre als lang und wandlungsreich erwiesen.1 Es ist nicht mehr möglich, eine Geschichte der beiden Sphären als Geschichte der Kommunikation im Rahmen von Theorien zu schreiben, die 1 Die Orthodoxie entstand aus den frühen Studien von Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuausg. Frankfurt: Suhrkamp 1990, S. 60, 160 [zuerst (Neuwied: Luchterhand, 1962)]. Ansätze zu Habermas’ Beobachtungen zum Wandel des Öffentlichkeitsbegiffs lagen schon vor in der Frankfurter Dissertation von Hans Heinrich Gerth, Bürgerliche Intelligenz um 1800. Zur Soziologie des deutschen Frühliberalismus. Phil. Diss. Frankfurt 1935 [hrsg. von Ulrich Herrmann, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1976, S. 61 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. 19.)]. Habermas’ Begriff der repäsentativen Öffentlichkeit ist vorgeprägt in Carl Schmitt, Verfassungslehre, München: Duncker & Humblot, 1928, S. 209 [Nachdruck, Berlin: Duncker & Humblot 1965]. Eine englische Fassung von Habermas’ Frühwerk erschien u. d. T.: The Structural Transformation of the Public Sphere, Cambridge, MA: MIT Press 1989. Zur Rezeption im englischen Sprachraum siehe Habermas and the Public Sphere, hg. von Craig Calhoun, Cambridge, MA, und London: MIT Press 1993. Bereits in den 1970er Jahren formierte sich Kritik an Habermas’ Thesen. Siehe dazu: Oskar Negt und Alexander Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung, Frankfurt: Suhrkamp 1972 [englische Fassung, Minneapolis und London: University of Minnesota Press 1993], und Bibliografie Nr. 1. Richard Wyn Jones, Security, Strategy and Critical Theory, Boulder: Rienner 1999, S. 102–123, hat wohl als erster versucht, die in Habermas’ Theorie einbeschlossene Forderung nach gesellschaftlicher Emanzipation in die Sicherheitsdebatte einzuführen.

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Kap. 2: Sicherheit in der Tradition des Mittelalters und der Neuzeit

Begriffe von Staat und Gesellschaft in Staats- und Gesellschaftstheorien des 19. Jahrhunderts als scheinbar allgemein gültig vorgeben.2 Im Blick über längere Zeiträume muss die öffentliche von der privaten Sphäre hingegen nach Kriterien unterschieden werden, die auf unterschiedliche Theorien von Staat und Politik in ihren jeweiligen Epochen bezogen werden können.3 Denn die Geschichte der Differenzierung zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre setzt nicht nur Begriffe von Staat und Politik voraus, die breiter sind als diejenigen der Theorien von Staat und Politik des 19. Jahrhunderts. Sie muss darüber hinaus die ältere Hypothese hinterfragen, dass die öffentliche Sphäre als Arena der Politik und der Kontroversen über Politisches zu bestimmen sei, wohingegen die Sphäre des Privaten als der Bereich der sozialen Beziehungen innerhalb des (ganzen) Hauses zu gelten habe. Diese Hypothese gründete im politischen Aristotelismus, der seit Beginn des 14. Jahrhunderts im Okzident maßgeblich wurde. Im Frühund frühen Hochmittelalter bestand sehr wohl ein aus der Spätantike überkommenes Verständnis der Unterschiedlichkeit von öffentlicher (res publica) und privater (res privata) Sphäre. Doch erst der politische Aristotelismus setzte die Notwendigkeit der Legitimation von politischer Herrschaft als öffentliche Institution (imperium) voraus, die von der privaten Hausherrschaft (dominium) getrennt zu bestimmen sein sollte.4 Auf der Basis des 2 Siehe Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 7. Nachdruck der 3. Aufl. von 1913, Bad Homburg: Gentner 1960, S. 394–434 [zuerst, Berlin: Häring 1900]. Albert Schäffle, Bau und Leben des socialen Körpers, 4. Bd., 2. Teil, Tübingen: Laupp 1881, S. 216–219. Siehe auch Heinrich Ahrens, Die Philosophie des Rechts. Die organische Staatslehre auf philosophisch-anthropologischer Grundlage, Wien: Gerold 1850 [zuerst, Braunschweig: Westermann 1846]. Herbert Spencer, Principles of Sociology, 1. Bd., New York und London: Appleton 1910, S. 449–453. Zu diesen Theorien siehe Bibliografie Nr. 2. 3 Bereits Geoff Eley, Nations, Publics, and Political Cultures. Placing Habermas in the Nineteenth Century, in: Habermas and the Public Sphere (wie Anm. 1), S. 289–339, erkannte die Abhängigkeit Habermas’ von Theorien des Staats und der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Zur Öffentlichkeit im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit siehe Bibliografie Nr. 3. Unergiebig für die hiesige Fragestellung ist: Giorgio Cittolini, The „Private“, the „Public“, the „State“, in: Journal of Modern History 67. Jg. (1996), Supplement: The Origins of the State in Italy, S. S34-S61 [zuerst in: Origini dello stato, hg. von Giorgio Cittolini, Anthony Molho und Pierangelo Schiera, Bologna: Istituto 1994 (Annali dell’ Istituto Storico Italo-Germanico. 39.)]. Die öffentliche Sphäre reichte im 18. Jahrhundert bis in das Militär, wo Soldaten über die Gerechtigkeit der Kriege, in denen sie zu kämpfen hatten „räsonnierten“. Siehe dazu unten Anm. 151 bis 154. Herrscher erließen daher Verbote gegen das „Räsonnieren“ in Armeen. Siehe beispielsweise das Reglement für die Königlich Preußische Infanterie, Berlin: s. n. 1743, § XI, 3/7 [Nachdruck, Osnabrück: Biblio-Verlag 1976 (Altpreußischer Kommiss. 31/32.)]. 4 Zur spätmittelalterlichen Aristoteles-Rezeption siehe Bibliografie Nr. 4. Zur frühmittelalterlichen Auffassung von öffentlicher Sphäre siehe Bibliografie Nr. 5. Zum Weiterwirken der Lehre von der Trennung von dominium und imperium siehe:

I. Einleitung

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politischen Aristotelismus entstanden seit Beginn des 14. Jahrhunderts kontraktualistische Theorien der Legitimität von Herrschaft. Anhänger dieser Theorien nahmen hypothetische Verträge (pacta) an, die die wechselseitigen Pflichten von Herrschern und Beherrschten stipulieren sollten.5 Dieser Annahme zufolge verpflichteten sich die Beherrschten zur Loyalität gegenüber ihren Herrschern, sofern und so lange die Herrscher den Beherrschten Sicherheit und Schutz bereitstellten. Gleichwohl kam die kontraktualistische Legitimitätstheorie relativ spät auf, nachdem der Zusammenhang zwischen Legitimität von Herrschaft und Gewährung von Sicherheit und Schutz bereits in Rechtstexten des 13. Jahrhunderts formuliert worden war.6 Die Geschichte des begrifflichen Beziehungsgeflechts zwischen öffentlicher und privater Sphäre, Legitimität und Sicherheit sprengt also den Rahmen sowohl der Staats- und Politiktheorien des 19. Jahrhunderts wie auch der Herrschaftsvertragslehre. Die Häufigkeit von Aussagen über Sicherheit und Schutz in normativen wie deskriptiven Quellen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit steht in starkem Kontrast zu dem gering ausgeprägten wissenschaftlichen Interesse an der Geschichte des Sicherheitsbegriffs. Während die Staats- und Gesellschaftstheorien des 19. und 20. Jahrhunderts den Sicherheitsbegriff in der Hauptsache auf militärische Belange begrenzten, waren bis zum Ende des 18. Jahrhundert Aussagen über Sicherheit und Schutz bestimmt durch einen umfassenden Begriff von Sicherheit. Zudem waren bis ans Ende des 18. Jahrhunderts eine Vielzahl konkurrierender Anbieter von Sicherheit und Schutz zugelassen, wohingegen im 19. und 20. Jahrhunderts in der Regel die Regierungen der Staaten das Monopol der Bereitstellung von Sicherheit (im engeren, militärischen Sinn) für sich reklamierten. Diese Staaten waren bestimmt als souveräne Nationalstaaten, in denen die Gewährung militärischer Sicherheit den Armeen, die Bereitstellung von Schutz für Individuen Johannes Althusius, Politica methodice digesta, lib. IX, cap. 4, 3. Aufl., Herborn: Corvinus 1614 [zuerst, ebenda 1603; neu hg. von Carl Joachim Friedrich, Cambridge: Cambridge University Press 1932, S. 88 [Nachdruck der Originalausg., Aalen: Scientia 1981; Nachdruck von Friedrichs Ausg., New York: Arno Press 1979]. 5 Engelbert von Admont, De ortu et fine Romani imperii, cap. 2, hg. von Melchior Goldast von Haiminsfeld, Politica imperialia, Frankfurt: Bringer 1614, S. 755. Johann Quidort von Paris, De potestate regia et papali, cap. 1, hg. von Fritz Bleienstein, Stuttgart: Kohlhammer 1969, S. 75–78 (Frankfurter Studien zur Wissenschaft von der Politik. 4.). Siehe auch: Marsilius von Padua, Defensor pacis, dictio I, lib. XX, cap. 6–7, hg. von Richard Scholz, Hannover: Hahn 1932, S. 66–68 (Monumenta Germaniae Historica, Fontes iuris Germanici antiqui in usum scholarum separatim editi. 7.). Zu Engelbert von Admont siehe Bibliografie Nr. 6. Zu Johann von Quidort siehe Bibliografie Nr. 7. 6 Zur Geschichte des Begriffs der Legitimität siehe Bibliografie Nr. 8. Zur Geschichte des Sicherheitsbegriffs siehe Bibliografie Nr. 9.

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der staatlichen Polizei überantwortet waren. Zudem hatte die Herrschaftsvertragslehre seit ihren Anfängen im 14. Jahrhundert die Begrenzung des Sicherheitsbegriffs auf das Diesseits zur Folge und schloss die eschatologische Dimension von Sicherheit aus. Deswegen konnten Theorien von Sicherheit und Schutz außerhalb theologischer Debatten über Heilsgewissheit entstehen. Vor dieser Säkularisierung muss mit einem weiten Sicherheitsbegriff gerechnet werden, der den Tod transzendieren konnte. Im Folgenden möchte ich normative und deskriptive, theoretische und empirische Quellen zur europäischen Tradition der Trennung der öffentlichen von der privaten Sphäre auf der einen Seite mit Wandlungen von Legitimitätstheorien und Sicherheitsbegriffen auf der anderen Seite vernetzen. Dabei versuche ich die Regel zu belegen, dass, umso weiter die Definition des Sicherheitsbegriffs war, desto geringer die Trennung der öffentlichen von der privaten Sphäre ausgeprägt und desto höher die Zahl der Sicherheitsanbieter war. Dass diese Regel Folgen auf die Bestimmung der Kriterien der Legitimität von Herrschaft hatte, versteht sich von selbst. Denn vor dem Hintergrund dieser Regel hing die Legitimität von Herrschaft von der erfolgreichen Bereitstellung von Sicherheit und des Bringens wirksamen Schutzes durch die Herrschaftsträger als Kernelemente des umfassenden Begriffs der Menschlichen Sicherheit ab. Folglich sind das Aufkommen der Bezeichnung Human Security und die Aktivitäten der UNO sowie von NGO’s, einigen Regierungen und Zivilgesellschaftsgruppen als Sicherheitsanbieter seit den 1990er Jahren alles andere als revolutionäre Neuerungen, sondern stellen eher die Abkehr von der rigiden Verengung des Sicherheitsbegriffs auf militärische Belange dar, die sich erst im 19. Jahrhundert durchsetzte.7 Gleichwohl möchte ich nicht versuchen zu demonstrieren, 7 Zu Quellentexten siehe: United Nations Development Programme, New dimensions of Human Security, New York: Oxford University Press 1994. Mahbub ulHaq, Global Governance for Human Security, in: Worlds Apart. Human Security and Global Governance, hg. von Majid Tehranian, London und New York: Tauris 1999, S. 79–94. International Commission on Intervention and State Sovereignty, The Responsibility to Protect. December 2001, Ottawa: International Development Centre 2001, S. 14–16. Human Security and the New Diplomacy. Protecting People, Promoting Peace, hg. von Robert McRae und Don Hubert, Montreal: McGill University Press und Kingston, Ont: Queen’s University Press 2001. Commission on Human Security, Human Security Now, New York: The Commission 2003, S. 6–7. Vorgeprägt ist der Begriff der Menschlichen Sicherheit, nicht das Wort, bei dem der internationalen Friedensbewegung angehörenden ungarischen Philosophen Ludwig Stein, Das Ideal des „ewigen Friedens“ und die soziale Frage, Berlin: Reimer 1896 [französische Fassung, Limoges: Jouannem 1905]. Stein, Die Philosophie des Friedens. Ein Wort an die Friedensconferenz im Haag, Berlin: Paetel 1899, der den Sicherheitsbegriff in die Diskussionen um die damals so genannte „soziale Frage“ einführte. Robert McRae, Human Security in a Globalized World, in: Human Security (wie oben), S. 15, Stellvertretender Botschafter Kanadas bei der NATO, setzt „hu-

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dass es nichts Neues gibt, sondern zu spezifizieren, aus welchen Langzeitbedingungen die Militarisierung des Sicherheitsbegriffs sowie die Monopolisierung des Sicherheitsangebots auf Institutionen des Staates des 19. und 20. Jahrhunderts entstanden sind.

II. Leben in Gruppen. Die Bereitstellung von Sicherheit und das Bringen von Schutz als Faktoren personenbezogener Macht 1. Die heterodynamische Verhaltensweise und der personenzentrierte Herrschaftsbegriff Das frühmittelalterliche Europa war ein Kontinent mit hoher Migrationsfrequenz seiner Bewohner. Viele Leute waren unterwegs, zumeist in kleinen Gruppen, und sie fuhren auch über große Entfernungen und teilweise in mehreren Generationen. Angesichts der Begrenztheit der verfügbaren Transporttechnologie und der mitunter beklagenswerten Qualität der Wege war die Häufigkeit und Extensität der Migrationen zwischen dem 4. und dem 9. Jahrhundert eine erstaunliche Erscheinung, die den Blick auf die Struktur der migrierenden Gruppen lenkt. Historische Anthropologen haben für die in dieser Zeit vorherrschende Gruppenstruktur den Begriff der Heterodynamik geprägt. Er bezeichnet eine Verhaltensweise, derzufolge Personen erwarteten, dass sie ihre Ziele auf einfachere und sicherere Weise erreichen würden, wenn sie die Hilfe anderer Gruppenangehöriger, Außenstehender sowie auch übermenschlicher Wesen in Anspruch nehmen konnten, anstatt die in ihnen selbst vorhandenen physischen und mentalen Energien zu nutzen.8 man security“ „at its most basic level“ mit „freedom from fear“ gleich und positioniert diesen Begriff von Menschlicher Sicherheit in den Rahmen der Tätigkeit des Roten Kreuzes. Mit seinem Rückgriff auf eine der beiden negativen Komponenten der Roosevelt’schen Vier Freiheiten bekennt sich der Diplomat, anders als Vertreter der UNO und transnationaler Zivilgesellschaftsorganisationen, zu einer für die Begriffsbildung der Regierungen souveräner Staaten charakteristisch engen Definition Menschlicher Sicherheit. Zur Revision des Sicherheitsbegriffs am Ende des 20. Jahrhunderts siehe Bibliografie Nr. 10. Ohne Bezug auf einen Begriff von Sicherheit und die Politik der Sicherheitsgewährung gebraucht die neuere Forschung über Strukturen des Staates in Afrika den Begriff der „Privatisierung der Öffentlichkeit“ zur Beschreibung der Personalisierung von Macht. Siehe: Morten Bøås, Weak States, Strong Regimes. Toward a „Real“ Political Economy of African Regionalization, in: The New Regionalism in Africa, hg. von J. Andrew Grant und Fredrik Söderbaum, Aldershot: Ashgate 2003, S. 33.

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Eine heterodynamische Verhaltensweise verlangte daher, dass Personen sich der Disziplin, den Regeln und der Kontrolle derjenigen Gruppen unterwarfen, deren Angehörige sie sein und bleiben wollten. Sie mussten dazu bereit sein, wenn sie sich der Hilfe und des Schutzes durch andere Gruppenangehörige bedienen wollten. Ebenso wurde erwartet, dass sich Personen Außenstehenden und übernatürlichen Wesen gegenüber loyal verhielten, wenn sie von diesen Hilfe und Schutz erbeten hatten. Sie konnten dann Schutz erwarten und so hoffen, die Schwierigkeiten ihres Lebens überwinden zu können. Insbesondere für Migranten, die ihre physische und soziale Umwelt häufig als feindlich wahrnahmen oder erfuhren, war es unabdingbare Voraussetzung für ihr Überleben, dass sie sich Gruppen anschlossen und in sie integriert blieben. Während des Frühmittelalters waren Äußerungen zur Sicherheit nicht Bestandteil nur eines bestimmten literarischen Genus, wie etwa akademischen Aufarbeitungen einer Sicherheitstheorie. Folglich muss die Analyse des Sicherheitsbegriffs für diese Zeit auf unterschiedliche Quellengattungen, auch Bildquellen, Rekurs nehmen und ist somit kompliziert. Hinzu kommt, dass frühmittelalterliches Schriftgut des Okzidents überwiegend im Medium des Lateinischen niedergelegt ist und somit der klassisch-römischen Terminologie gehorchte. Doch diese Terminologie musste nicht mit denjenigen Anliegen kompatibel sein, die Autoren des Frühmittelalters mit ihren Aussagen zur Sicherheit verbunden wissen wollten. Ein wesentlicher Unterschied ergab sich aus der Zahl der Sicherheitsanbieter. Während in der römischen Spätantike nur ein höchstrangiger Sicherheitsanbieter im Amt des Kaisers gegeben war, standen im Frühmittelalter außerhalb von Byzanz eine große Zahl konkurrierender Sicherheitsanbieter zur Verfügung. In der frühmittelalterlichen Kunst wurden menschliche Akteure oft als schwächliche Personen wiedergegeben, die mächtigen und bösen Kräften der Umwelt ausgesetzt zu sein schienen. So zeigt die folgende Steinskulptur aus Niederdollendorf am Rhein und der Zeit um 700 einen Krieger mit Schild und Schwert, den Standardwaffen eines Fußkriegers. Er steht unter einem doppelköpfigen wurmförmigen Tier, das sich über seinem Kopf biegt. Einer der Köpfe droht den Krieger in dessen linken Arm zu beißen. Gegen den anderen Kopf schützt der Krieger sich mit seinem Schild. Mit der linken Hand umfasst er die Klinge seines Schwerts. Der Krieger erscheint also in einer defensiven Stellung. Es bleibt unklar, ob er in der Auseinandersetzung mit dem Wurm obsiegen wird. Gleichwohl hat der Körper des Krieger eine Form, die eigentlich Sieg andeutet. Denn die nach rechts 8

Zu diesem Begriff siehe: Harald Kleinschmidt, Understanding the Middle Ages, Woodbridge: Boydell & Brewer 2000, S. 62–88. August Nitschke, Kunst und Verhalten, Stuttgart: Fromman-Holzboog 1975.

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Abbildung 1: Stein von Niederdollendorf, um 700. Ein Krieger in Auseinandersetzung mit einem doppelköpfigen Tier. Bonn: Rheinisches Landesmuseum.

zeigenden Fußspitzen, der nach oben angewinkelte rechte Arm und der nach unten angewinkelte linke Arm ergeben zusammen eine nicht ganz vollständige Swastika, ein Siegeszeichen im frühen Mittelalter.9 Hinzukommt, dass das Gewicht erhaltener Schwerter aus dieser Zeit erkennen lässt, dass Krieger kräftig und geübt sein mussten, wenn sie mit dem Schwert kämpfen wollten. Die Körperkräfte, über die der Krieger verfügt haben muss, kommen in dem Bild nicht zum Ausdruck. Um dieselbe Zeit entstand ein frühes irisches Evangeliar mit einem Bild der Gefangennahme Christi durch römische Soldaten. Die Miniatur zeigt Christus als bewegungslose Person, die ihre Arme wie Holzstöcke den Soldaten entgegenstreckt. Diese erscheinen als überdimensionierte Personen, 9 Zu diesen Abbildungen siehe Heinrich Beck, Einige vendelzeitliche Bilddenkmäler und die literarische Überlieferung, München: Beck 1964 (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philos.-Hist. Kl. 1964, Heft 6.). Karl Hauck, Die Wiedergabe von Göttersymbolen und Sinnzeichen der A-, B- und C-Brakteaten auf D- und F-Brakteaten, exemplarisch erhellt mit Speer und Kranz, in: Frühmittelalterliche Studien 20. Jg (1986), S. 474–512.

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Abbildung 2: Bild der Gefangennahme Christi. Aus dem Book of Kells. Dublin, Trinity College, Ms 58, fol. 114r. Board of Trinity College Dublin.

die sich anschicken, gegen ihr Opfer Gewalt anzuwenden. Die bevorstehende Gewaltanwendung wird angedeutet, aber die Körperkräfte, über die die Soldaten verfügen müssen, finden im Bild keinen Ausdruck. Eine weitere Abbildung ist auf dem Geldbeutelverschluss des Schiffsgrabes von Sutton Hoo aus dem frühen 7. Jahrhundert erhalten. Die Einlegearbeit stellt auf der rechten und der linken Seite je eine menschliche Figur zwei großen, Bären ähnlichen Tieren gegenüber, die auf beiden Seiten der Figur aufrecht stehen. Auch hier verharrt die Figur zwischen den offensichtlich ihr gegenüber feindlichen Tieren, ohne dass Körperkräfte bildlichen

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Ausdruck finden. Der Geldbeutel gehörte zu der reichen Ausstattung dieses Grabes, das vielleicht als Zenotaph für eine herausragende Persönlichkeit angelegt worden war. Das Grab der nicht identifizierten Person enthielt also Beigaben, die einer Schwäche Ausdruck gaben, wenn Personen Drohungen einer feindlichen Umwelt ausgesetzt waren.10 In dieser Hinsicht geht der Befund des Geldbeutelverschlusses aus Sutton Hoo mit den zeitnahen Bildern der Steinskulptur von Niederdollendorf und der Miniatur des irischen Evangeliars zusammen. Alle drei Bilddokumente zeigen Einzelpersonen in Schwächezuständen angesichts einer Bedrohung, die von der natürlichen oder sozialen Umwelt auf sie zu wirken scheint. Die Personen erscheinen hilflos den Bedrohungen ausgesetzt, da sie in keine Gruppen eingebunden sind und daher keinen Schutz von anderen Personen erwarten können. Da wir es hier mit der Sondersituation zu tun haben, dass Personen als Einzelne dargestellt sind, müssen die der Verhaltensweise zugrundeliegeden Regeln aus anderen Quellen bestimmt werden. Zunächst bestehen Regeln der Erbfolge in frühmittelalterlichen Politien. Im Königreich der Franken war es üblich, die Herrschaft unter gleichrangig nachfolgeberechtigten männlichen Erben zu teilen, diese Teile dann aber wieder zu vereinigen, wenn der eine oder andere Nachfolger verstorben oder der Herrschaft entsagt hatte. Darin folgte man dem üblichen Erbverfahren, das nach fränkischem Recht vorgeschrieben war.11 So ergab sich eine Praxis, derzufolge die verschiedenen Reichsteile sich nicht zu traditionsbildenden Teilreichen entwickelten, sondern oft neu strukturiert wurden. Die königliche Dynastie herrschte zwischen dem Ende des 5. Jahrhunderts und 751 als „ganzes Haus“ und manifestierte dadurch die Einheit des Königreiches. Erst im 9. Jahrhundert zerbrach die Einheit und ließ drei Teilreiche entstehen. Die Übereinstimmung der Nachfolgeregelungen für die königliche Herrschaft und für jede Form von Eigentum an Liegenschaften weist darauf hin, dass das fränkische Königreich im Grundsatz beherrscht wurde, als wäre es ein großer Bauernhof. Die herrscherliche Dynastie überdauerte als Gruppe die Generationen, angeblich seit undenkbar langer Zeit.12 Um die lange Bestandsdauer des Königreiches belegen zu können, konstruierten gelehrte Historiker und Genealogen des 6. und 7. Jahrhunderts dynastische Stammfolgen, für die sie auf orale Traditionen sowie auch auf 10

Zur Interpretation von Kampfszenen im Book of Kells siehe: Stephan Kubisch, Quia nihil Deo sine pace placet. Friedensdarstellungen in der Kunst des Mittelalters, Münster und Hamburg: Lit 1992, S. 44–45 (Kunstgeschichte. 9.). Zum Schiffsgrab von Sutton Hoo siehe Bibliografie Nr. 11. 11 Lex Salica. 100 Titel-Text, cap. 93, hg. von Karl August Eckhardt, Weimar: Böhlau 1953, S. 232. Zu den merowingischen Teilungen siehe Bibliografie Nr. 12. 12 Zur zeitlichen Dimension der frühmittelalterlichen Herrscherdynastien, soweit sie in Genealogien zum Ausdruck kam, siehe Bibliografie Nr. 13.

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Mythen zurückgriffen, die zum literarischen Erbe der griechischen und römischen Antike gehörten.13 Bis in die Mitte des 8. Jahrhunderts ging man davon aus, dass die herrscherliche Dynastie in die unbestimmbare Zukunft fortdauern werde. Da die Berechtigung zur Nachfolge auch durch Angehörige der Dynastie vermittelt werden konnten, die ohne Herrschaft getragen zu haben verstorben waren,14 bedeutete Tod nicht das Ende der Gruppenzugehörigkeit. So entstand schon früh ein „transpersonaler“ Staatsbegriff, der sich aus einem Verbund politischer und anderer Gruppen ergibt, mitunter wie im Frankenreich oder auch im frühmittelalterlichen Britannien beträchtliche Bestandsdauer erreichen und dem Herrscher in Kooperation mit Einrichtungen der katholischen Kirche die Aufgabe der Repräsentation der beherrschten Gruppen vor der Gottheit zuweisen konnte.15 Folglich wurden spätestens seit dem ausgehenden 7. Jahrhundert in Klöstern Messen zur Memoria für verstorbene Herrscher abgehalten, wobei diese Form der Memoria mit dem Heiligenkult einhergegangen sein kann.16 Die Konstitution der 13 Darunter hauptsächlich die Mythen von der Herkunft aus Troja. Siehe zum Trojamythos insbesondere unter den Franken im frühen Mittelalter Bibliografie Nr. 14. 14 Für eine Fallstudie zu Nachfolgeregelungen in Wessex siehe Bibliografie Nr. 15. 15 Die neuere Diskussion um Staatlichkeit im Frühmittelalter problematisiert den teleologischen Charakter früherer Argumentationen, in denen mittelalterliche und mitunter auch frühneuzeitliche Staatlichkeit an den Vorgaben Jellineks sowie, diesem folgend, Max Weber, gemessen wurde. Dem gegenüber hoben neuere Autoren hervor, dass die Komplexität mittelalterlicher Staatsvorstellungen und -wahrnehmungen nicht erfassbar ist, wenn diese nur als unfertige Vorläufer späterer Vorstellungen und Wahrnehmungen hingestellt werden. Siehe: Alan Harding, Medieval Law and the Foundation of the State, Oxford: Oxford University Press 2002. Dick Harrison, The Early State and the Towns. Forms of Integration in Lombardy, Italy. AD 568–774, Lund: Lund University Press 1993, S. 10 (Lund Studies in International History. 29.). Matthew Innes, State and Society in the Early Middle Ages. The Middle Rhine Valley. 400–1000, Cambridge: Cambridge University Press 2000, S. 44 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought. Fourth Series, 47. Bd.). Kleinschmidt, Understanding (wie Anm. 8), S. 311–334. Walter Pohl, Staat und Herrschaft im Frühmittelalter. Überlegungen zum Forschungsstand, in: Staat im frühen Mittelalter, hg. von Stuart Airlie, Walter Pohl und Helmut Reimitz, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2006, S. 9–38 (Denkschriften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Philos.-Hist. Kl., 334. Bd. = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters. 11.). Im konventionellen Sinn verfuhren gleichwohl Johannes Burkhardt, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: Zeitschrift für Historische Forschung 24. Jg. (1997), S. 509–574. Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, München: Beck 1999, S. 31–47. Siehe auch Bibliografie Nr. 16. 16 Beda, Historia ecclesiatica gentis Anglorum, lib. IV, cap. 14, hg. von Bertram Colgrave und Roger Aubrey Baskerville Mynors, Oxford: Oxford University Press 1969, S. 376–378 [Nachdrucke, ebenda 1991; 2003]. Zur Totenmemoria, insbesondere in England, siehe Bibliografie Nr. 17.

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Gruppen als potentiell staatstragender „Gemeinschaften der Lebenden und der Toten“ ergibt sich zudem aus den zahlreich erhaltenen Memorialbüchern, die in Klöstern zwischen dem 9. und dem 12. Jahrhundert geführt wurden. Dabei handelt es sich um Listen der Namen von Personen, die kirchlichen Einrichtungen Stiftungen hatten zuteil werden lassen. Im Gegenzug versprachen diese, für die Seelen der Stifter nach deren Tod Fürbitte zu leisten. In mindestens einigen Fällen lässt sich vermuten, dass die Stifter in Verwandtschafts-, Nachbarschafts- oder Vertragsgruppen auftraten.17 Über die Stiftung und die daran geknüpften Versprechen der kirchlichen Empfänger konnten schriftliche Verträge abgeschlossen werden.18 Weitere Belege für die Fortdauer der Gruppenzugehörigkeit nach dem Tod ergeben sich aus der Praxis der Grablegung. Oft wurden Tote auf Land bestattet, das als Eigentum der Verwandtengruppe ausgewiesen war, dem sie angehörten.19 Genauso wie Bauernhöfe und die sie umgebenden Ländereien als Eigentum einer Verwandtengruppe charakterisiert und damit zum Bereich des Privaten zählten, das von dem Eigentum anderer Verwandtengruppen segregiert war, konnten die Herrscher private Beziehungen auf der Basis von Verwandtschaft, Nachbarschaft und spezieller, vertraglicher Freundschaft errichten, wie ein Rechtstext des 9. Jahrhunderts vorschrieb.20 Das 17 Einige der umfangreicheren libri memoriales liegen in den folgenden Editionen vor: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, hg. von Johanne Autenrieth, Dieter Geuenich und Karl Schmid, Hannover: Hahn 1979 (Monumenta Germaniae Historica, Libri Memoriales N. S., 1. Bd.). Liber Vitae. Register and Martyrology of New Minster, Winchester, hg. von Walter de Gray Birch, London: Simpkin; Winchester: Warren & Son 1892. Jan Gerchow, Die Gedenküberlieferung der Angelsachsen, Berlin und New York: de Gruyter 1988 (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung. 20.). Liber memorialis von Rémiremont, hg. von Eduard Hlawitschka, Karl Schmid und Gerd Tellenbach, München: Monumenta Germaniae Historica 1970 (Monumenta Germaniae Historica, Libri Memoriales. 1.). Monumenta necrologia monasterii s. Petri Salisburgensis. Liber confraternitatum vetustior, hg. von Sigismund Herzberg-Frankel, Berlin: Weidmann 1904 (Monumenta Germaniae Historica, Necrologia 2.). Die Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter, 1. Bd., hg. von Karl Schmid, München: Fink 1978. Der Liber Vitae der Abtei Corvey, hg. von Karl Schmid und Joachim Wollasch, Wiesbaden: Reichert 1983 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission des Provionzialinstituts für Westfälische Landes- und Volkskunde, Serie XL, 2. Bd.). Karl Schmid, Dieter Geuenich und Roland Rappmann, Die Verbrüderungsbücher, in: Subsidia Sangallensia, 1. Bd., hg. von Michael Borgolte, Dieter Geuenich und Karl Schmid, St. Gallen: Staatsarchiv und Stiftsarchiv St. Gallen 1986, S. 13–283 (St. Galler Kultur und Geschichte. 16.). Zu Pionierstudien über diese Quellen siehe Bibliografie Nr. 17. 18 Die Eingangsseite des liber memorialis des Nonnenklosters Rémiremont (wie Anm. 17.), S. 1, enthält das Formular eines Vertrags, der die Pflicht der Klosterinsassen zum Lesen von Messen regelt. Ähnliche Einträge finden sich im Salzburger liber memorialis, S. 6, 42. Zum Stiftungswesen des Frühmittelalters siehe Bibliografie Nr. 18. 19 Zu den Bestattungsriten siehe Bibliografie Nr. 19.

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hinderte sie gerade nicht daran, auch als Repräsentanten der Gesamtheit der ihnen unterstellten Beherrschten vor der Gottheit aufzutreten. Man kann daher das Stiftungswesen als Sorge für das „Seelenheil“ auffassen. Aber eine Abtrennung des eschatologischen Sicherheitsbegriffs vom säkular-politischen hätte zur Voraussetzung die Vorstellung der Trennbarkeit von Diesseits und Jenseits, die erst im Spätmittelalter aufkam. Im Frühmittelalter hingegen wurde die begriffliche Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen verwischt. Auch wenn in den Siedlungen Räume, die, wie üblicherweise Kirchen und Kirchhöfe,21 für alle frei zugänglich waren, konn20 Das Capitulare missorum generale (a. 802), hg. von Alfred Boretius, in: Capitularia regum Francorum, 1. Bd., Nr. 254, Hannover: Hahn 1883, S. 96 (Monumenta Germaniae Historica, Legum section II, Capitularia, Bd. 1.), legte den Grundsatz fest, dass der fränkische König Frieden und Schutz insbesondere Leuten zuteil werden lassen sollte, die Bindungen an ihn hatten. In allgemeineren Begriffen verzeichnete der Conventus in villa Colonia [Vertrag von Coulaines, s. a. 843], hg. von Alfred Boretius und Viktor Krause, in: Capitularia regum Francorum, 2. Bd., Nr. 254, Hannover: Hahn 1890–1897, S. 253–255 (Monumenta Germaniae Historica, Legum section II, Capitularia, Bd. 2.), drei Typen von Bindungen und stipulierte ein Abkommen, demzufolge ein Herrscher, in diesem Fall König Karl der Kahle, einen allgemeinen Vertrag eingegangen sei mit den Beherrschten und dadurch alle Sonderbeziehungen zwischen dem König und einzelnen Gruppen unter den Beherrschten ausgeschlossen wurden. Zu Untersuchungen über die Beziehungen zwischen Herrschern und Beherrschten im Frühmittelalter siehe Bibliografie Nr. 20. 21 Eine Möglichkeit zur Unterscheidung zwischen Privatem und Öffentlichem bot die Numerik. So differenzierten die Gesetze König Ines von Wessex, wohl vom Jahr 694, Art. 13,1, hg. von Felix Liebermann, Die Gesetze der Angelsachsen, 1. Bd., Halle: Niemeyer 1913, S. 94, militärisches Handeln weder nach der Art der Waffenführung noch nach dem ius ad bellum, sondern nach der Zahl der beteiligten Kombattanten. Danach galt eine Gruppe von mehr als 35 Waffenträgern als reguläre Kampftruppe unter der Kontrolle eines Herrschers, eine Gruppe von Waffenträgern mit weniger als 35 Angehörigen hingegen als illegale, weil privatrechtlich konstituierte Räuberbande. Zur Interpretation der Gesetze Ines siehe: Guy Halsall, Warfare and Society in the Barbarian West, London und New York: Routledge 2003, S. 59. Nach den kymrischen Trioed ynys Prudein. The Triads of the Island of Britain, hg. von Rachel Bromwich, 3. Aufl., Cardiff: University of Wales Press 2006, S. 328 [zuerst, ebenda 1961], war eine Gruppe von 300 Kriegern eine kampfstarke Truppe. Zur Interpretation dieses Texts siehe: Peter Brock, Pacifism in Europe to 1914, Princeton: Princeton University Press 1972, S. 29–30 (Brock, A History of Pacifism. 1.). Zur Entstehung von Kirchhöfen im Frühmittelalter siehe: Günter Peter Fehring, Missions- und Kirchenwesen in archäologischer Sicht, in: Geschichtswissenschaft und Archäologie, hg. von Herbert Jankuhn und Reinhard Wenskus, Sigmaringen: Thorbecke 1979, S. 556–567 (Vorträge und Forschungen, hrsg. vom Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte. 22.). Zum Erlass spezieller Bestimmungen zum Schutz Einzelner innerhalb von Kirchen und um Kirchen herum seit dem 8. Jahrhundert siehe das Capitulare de partibus Saxoniae (s. a. 785), cap. 2, in: Capitularia, 1. Bd. (wie Anm. 20), S. 68. Capitulare de legibus add. (s. a. 803), cap. 3, in: ebenda, S. 113. Zu diesen Zonen, die später als sagrera, bezeichnet wurden, siehe: Karen Kennelly, Sobre la paz de Dios y la sagrera en el condado de Barce-

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ten die Herrscher Regeln nur gegenüber „Untergebenen“ durchsetzen, mit denen sie geregelte Beziehungen unterhielten und durch Repräsentationspflichten verbunden waren. Ein allgemeiner, generischer Begriff der „Nation“ oder des „Volkes“ fehlte.22 Allgemein zugängliche, in dieser Hinsicht also im Rechtssinn öffentliche Räume bestanden in Siedlungen vor Ort in Differenzierung gegenüber den von den Verwandten- und anderen Gruppen ausschließlich genutzten privaten Räumen. Daraus entstand aber keine Öffentlichkeit als Kategorie sozialen Handelns aus spezifischen Interessen der Akteure. Die Quellen des Frühmittelalters erlauben keine klare Bestimmung eines öffentlichen Kommunikationsraums, den ein Herrscher durch seine herausragende Position hätte konstituieren können.23 Die Grundsätze der Nachfolge in der Herrschaft im Frühmittelalter enthüllen die Pragmatik der heterodynamischen Verhaltensweise. Sie identifizierte Personen als Angehörige verschiedener Typen von Gruppen, nicht als Individuen. Tod zog nicht das Ende der Gruppenzugehörigkeit nach sich. Folglich wuchsen Gruppen exponentiell mit der Dauer ihres angenommenen Bestehens. Der weitest verbreitete Typ von Herrschergenealogien bis in das 8. Jahrhundert gab vor, dass Dynastien über sieben bis neun Generationen Herrschaft getragen haben sollen.24 Darin unterschieden sie sich nicht wesentlich von der Aussage eines gelehrten Administrators im Ostgotenreich des 6. Jahrhunderts, der erwartete, dass die Legitimität herrschender Dynastien mit der wachsenden Länge ihrer Genealogien ansteigen werde.25 Rang, lona (1030–1130), in: Anuario de estudios medievales 5. Jg. (1968), S. 107–136. Barbara H. Rosenwein, Negotiating Space. Power, Restraint, and Privileges of Immunity in Early Medieval Europe, Ithaca and London: Cornell University Press 1999, S. 179. 22 Im 6. Jahrhundert nannte Isidor von Sevilla Gruppen unter der Kontrolle eines Herrschers „subjectos“ im Plural [Isidore of Seville, Sententiae, lib. 3, cap. 48, Nr. 7, in: Patrologiae cursus completus. Series Latina, hg. von Jacques-Paul Migne, 83. Bd., Sp. 719]. Auf einer spezielleren Ebene enthalten die Polyptychen des 9. und 10. Jahrhunderts viele Belege für die Formel secundum ordinem suum, derzufolge Bauern ihre Leistungen unterschiedlich nach Stand zu erbringen hatten. Über diese Formel siehe unten, Anm. 52, und: Harald Kleinschmidt, Perception and Action in Medieval Europe, Woodbridge: The Boydell Press 2005, S. 112–114. 23 Contra Nikolaus Staubach, quasi semper in publico. Öffentlichkeit als Funktions- und Kommunkationsraum karolingischer Herrschaft, in: Das Öffentliche und Private in der Vormoderne, hg. von Gert Melville und Peter von Moos, Köln, Weimar und Wien: Böhlau 1998, S. 584–595 (Norm und Struktur. 10.). 24 Herausgegeben von David N. Dumville, The Anglian Collection of Royal Genealogies and Regnal Lists, in: Anglo-Saxon England 5. Jg. (1976), S. 28–37 [wieder abgedruckt in: Dumville, Histories and Pseudo-Histories of the Insular Middle Ages, Aldershot: Variorum 1990, Nr. V]. 25 Siehe: Cassiodor, Variarum libri XII, lib. XI, cap. 1, 10, hg. von Åke Johannson Frid, Turnhout: Brepols 1973, S. 424 (Corpvs Christianorvm. Series Latina. 96.).

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Status, Macht, Reichtum und Einfluss von Personen hingen also wesentlich von ihrer Integration in Gruppen ab. Je höher eine Gruppe sich über andere Gruppen erheben konnte, desto höher wurden Rang, Status, Macht, Reichtum und Einfluss ihrer Mitglieder. Da jedoch die Pragmatik dieser Verhaltensweise nicht spezifisch war für herrschende Dynastien, konstituierten diese keine spezifische Öffentlichkeit und die begriffliche Differenzierung zwischen dem Privatem und dem Öffentlichen war politisch insignifikant. Das zeigt sich auch an der Verwendung von einem und demselben Gruppennamen für unterschiedliche Typen von Gruppen. So konnte der Name der Franken eine Armee, eine herrschende Dynastie oder eine Gruppe von Beherrschten unter der Kontrolle eines Herrschers bezeichnen.26 Wenn aber einer und derselbe Gruppenname sowohl eine herrschende Dynastie als auch eine Gruppe von Beherrschten bezeichnen konnte, kann der strukturelle Unterschied zwischen diesen beiden Gruppentypen kaum politisch bedeutsam gewesen sein. Also waren die Räume des privaten Lebens und der regulären Kommunikation in der Öffentlichkeit weder in theoretischer noch in praktischer Hinsicht rigoros trennbar. Die verschiedenen Typen von Gruppen waren koordiniert, nicht hierarchisch stratifiziert. 2. Die Legitimität von Herrschaft Wenn das Leben unter den Bedingungen häufiger und lang dauernder Migrationen als unsicher wahrgenommen wurde und in einer Umwelt stattfand, die als feindlich und potentiell gefährlich erfahren wurde, geronn die Bereitstellung von Sicherheit und Schutz zur wichtigsten Aufgabe der Gruppen. Um Sicherheit erhalten zu können, mussten die Einzelnen sich den Normen und Regeln unterwerfen, die für diejenigen Gruppen galten, denen sie angehörten oder angehören wollten. Gruppen hatten eine hierarchische innere Struktur unter der Herrschaft von Gruppenältesten, die als Garanten der Sicherheit anerkannt waren. Unter diesen Bedingungen hatte somit jede Gruppe einen hohen Grad an Autonomie gegenüber anderen Gruppen. Gekennzeichnet durch diesen hohen Grad an Autonomie hatten die Gruppen nur geringe Neigung, sich in übergeordnete soziale oder politische Ordnungen einbinden zu lassen, sondern konkurrierten gegeneinander um die Zahlen ihrer Angehörigen, Rang, Status, Macht und Reichtum. Je mehr eine Gruppe als Bereitsteller von Sicherheit anerkannt war, desto stärker stieg die Zahl ihrer Angehörigen und desto mächtiger wurde sie.27 Daraus folgte jedoch weder, dass Staatlichkeit rein personal gedacht worden wäre, im Sinn einer transitorischen, nur an eine jeweils lebende Herrscher26 27

Zu Studien über diese Gruppen siehe Bibliografe Nr. 21. Zu Einzelheiten siehe Kleinschmidt, Understanding (wie Anm. 8), S. 89–119.

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person gebundene Treuepflicht, noch dass das Frühmittelalter keine politische Theorie gekannt hätte. Auch wenn kein spezifisches literarisches Genus zur Exposition politischer Theorie entwickelt wurde, besteht doch kein Mangel an erhaltenen Text- und anderen Quellen, die Politisches und Staatliches theoretisieren.28 Im Kontext dieser Überlieferung hatte der Begriff der Sicherheit einen hervorragenden Platz inne. Als Bereitsteller von Sicherheit konnten Gruppen insgesamt die addierte Kraft ihrer Angehörigen einsetzen, wie es beispielsweise Kriegerverbände regelmäßig taten.29 Gruppen konnten aber ebenso die Unterstützung mächtiger und außerordentlicher Akteure wie Gottheiten, Heilige oder andere übermenschliche Wesen einzuwerben versuchen, um für die Angehörigen Sicherheit bereitzustellen. Diese zweite Strategie scheint im Frühmittelalter häufig angewandt worden zu sein. Dieser Eindruck drängt sich bei Betrachtung der Häufigkeit lokaler Heiligenkulte auf, die zumeist lokale Verwandtengruppen im Frühmittelalter ohne reguläre amtskirchliche Kanonisierungsverfahren einrichteten und förderten.30 Auch orale Traditionen über mäch28

Siehe Bibliografie Nr. 16. Die Struktur der Kriegergruppen ist gut, wenn auch relativ spät, dargestellt in dem altenglischen Epos Beowulf. Die einzige erhaltene Handschrift, die das Epos überliefert, scheint um das Jahr 1000 geschrieben worden zu sein. Siehe: Beowulf and the Fight at Finnsburg, VV. 64–85, hg. von Frederick Klaeber, 3. Aufl., Boston: Heath 1950, S. 3–4. Soweit wir wissen, wurde im Frühmittelalter oft Musik reproduziert, um bestimmte Wirkungen auf die Ausführenden und die Zuhörer zu erreichen. Der Heilige Augustinus beispielweise, der diese Wirkungen einzuschränken versuchte, gab aber zu, dass Lieder den Glauben entfachen sollten. Ebenso glaubte Cassiodor an positive Wirkungen des Singens von Psalmen. Weitere Quellen, darunter Kanonen des 9. und 11. Jahrhunderts, belegen, dass frühmittelalterliche Kirchenbesucher annahmen, dass audielle Wahrnehmung, ähnlich wie visuelle Wahrnehmung, vorbestimmte Wirkungen auf sie haben werde. Siehe: Augustin, Sermo CCCXI, cap. 5, in: Patrologiae cursus completus. Series Latina, hg. von JacquesPaul Migne, 38. Bd., Sp. 1415. Cassiodor, Expositio in psalmos, Ps. XCVII, hg. von by Marcus Adriaen, Turnhout: Brepols 1958, S. 878 (Corpvs Christianorvm. Series Latina. 92.). Ebenso Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive originum libri XX, lib. III, cap. 17, hg. von Wallace Martin Lindsay, Oxford: Clarendon 1911, s. p. Anicius Manlius Torquatus Severinus Boethius, De musica, in: Patrologiae cursus completus. Series Latina, hg. von Jacques-Paul Migne, 63. Bd., Sp. 1169. Synode von Mainz [813], cap. 48, hg. von Albert Werminghoff, in: Monumenta Germaniae Historica, Concilia, 2. Bd., 1. Teil, Hannover: Hahn 1906, S. 272. Regino von Prüm, Liber de synodalibus causis et disciplinis ecclesiasticis, lib. I, cap. 304; lib. I, cap. 398; lib. II, cap. 5,55; lib. II, cap. 390, hg. von Friedrich Wilhelm Hermann Wasserschleben, Leipzig: Engelmann 1840, S. 24; 145; 180–181; 213; 363 [Nachdruck, Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1964)]. Burchard von Worms, Libri Decretorum XX, lib. II, interrogatio 54, 46, in: Patrologiae cursus completus. Series Latina, hg. von Jacques-Paul Migne, 140. Bd., Sp. 577, 579. 30 Zu lokalen Heiligenkulten siehe: Harald Kleinschmidt, Formen des Heiligen im frühmittelalterlichen England, in: Heiligenverehrung in Geschichte und Gegen29

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tige Helden der ferneren Vergangenheit wurden intensiv gepflegt, sogar noch unter Mönchen und Nonnen in Klöstern nach der Bekehrung zum Christentum. Diese oralen Traditionen wurden mit Musik rezitiert, der man besondere Wirkungen auf die Zuhörer zuerkannte.31 Alkuin, Abt von St. Martin in Tours und an der Wende zum 9. Jahrhundert einer der wichtigsten Bildungsreformer, gab seinem Zorn über die Praxis vehementen Ausdruck, dass in Klöstern Lieder über nichtchristliche Helden gesungen würden, und führte auf diese Praxis die am Ende des 8. Jahrhunderts beginnenden Wikingereinfälle nach England zurück. Alkuin zufolge waren die Wikinger eine Strafe der Gottheit.32 Der heilige Zorn, mit dem der Abt diese Praxis zu bekämpfen versuchte, erlaubt Rückschlüsse auf die Hartnäckigkeit, mit der die Klosterinsassen an den oralen Traditionen festzuhalten bestrebt waren. Sie müssen wichtige Bestandteile der sozialen Ordnung derjenigen Verwandtengruppen gewesen sein, die in den Klöstern vertreten waren. Eine Quelle der Wichtigkeit dieser Traditionen kann die Rolle gewesen sein, die diese Gesänge nachweislich im Totenkult noch in christlicher Zeit einnahmen. So enthalten frühmittelalterliche Bußbücher Passagen, die ausdrücklich das Singen von Liedern auf Gräbern untersagten.33 Weitere Belege für die außerordentliche Rolle, die Lebende oder Tote als Bereitsteller von Sicherheit ausüben konnten, ergeben sich aus Bildquellen. wart, hg. von Peter Dinzelbacher und Dieter R. Bauer, Ostfildern: Schwabenverlag 1990, S. 80–85. David Rollason, The Mildreth Legend, Leicester: Leicester University Press; Atlantic Highlands: Humanities Press 1982. 31 Der Dichter und Hagiograf Venantius Fortunatus bietet die Geschichte einer Nonne aus dem 5. Jahrhundert im Konvent der Hl. Radegunde zu Trier. Die Nonne hörte im Kloster, wie außerhalb der Mauern Leute ein Lied sangen, das sie selbst komponiert hatte, bevor sie in das Kloster eingetreten war. Die Nonne schämte sich dann ihres früheren Lebenswandels. Siehe: Venantius Fortunatus, Vita Sanctae Radegundis, cap. 82–3, in: Monumenta Germaniae Historica, Auctores Antiquissimi, 4. Bd., 2. Teil, Hannover: Hahn 1881, S. 47–48. Die Popularität säkularer Lieder in Klöstern bestätigte noch Otfried von Weißenburg. Er begründete seine Übersetzung der Bibel in das Althochdeutsche mit dem Argument, dass er die Mönche zur Bibellektüre anhalten und auf diese Weise davon abhalten wolle, säkulare Lieder auswendig zu lernen. Siehe: Otfrid of Weissenburg, [Epistola] ad Liutbertum, in: Epistolae, 6. Bd., Nr. 19, hg. von Ernst Dümmler, Berlin: Weidmann 1902, S. 166 (Monumenta Germaniae Historica, Epistolae in Quart. 8.). Zu diesem Text siehe: Fidel Rädle, Otfrids Brief an Liutbert, in: Kritische Bewahrung. Beiträge zur deutschen Philologie [Festschrift Werner Schröder], hg. von E.-J. Schmidt, Berlin: E. Schmidt 1975, S. 213–240. 32 Alkuin, Epistolae, Nr. 124, hg. von Ernst Dümmler, in: Epistolae Karolini Aevi, 2. Bd., Hannover: Hahn 1895, S. 183 (Monumenta Germaniae Historica, Epistolae in Quart. 4.) Alkuin nannte den skandinavischen Helden Ingeld als heidnischen Gegner Christi und belegte damit die Popularität dieses Helden. Zu Ingeld-Traditionen in Skandinavia und Britannien siehe Bibliografie Nr. 22. 33 Burchard, Libri (wie Anm. 29).

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Abbildung 3: Stein von Hornhausen, um 700. Landesamt für Archäologie Sachsen-Anhalt, Museum für Frühgeschichte Halle. Ein langhaariger Krieger reitet über eine Rampe, unter der zwei Würmer gegeneinander zu kämpfen scheinen.

Um 700 scheint ein Stein graviert worden zu sein, der einen hochrangigen oder göttlichen berittenen Krieger mit langem Haar als Sieger auf einer Rampe über feindlichen Kräften zeigt. Der oben abgebildete Stein kann kaum nach Beginn des 8. Jahrhunderts gefertigt worden sein, da er keine christlichen Symbole zeigt. Sein Fundort liegt in einer Gegend, die spätestens zu Beginn jenes Jahrhunderts unter Einfluss des Christentums geriet.34 Es ist unklar, ob er als Grabstein oder dem 34 Eine parallele Bildüberlieferung ist fassbar in Skandinavien, so im Bildstein von Sanda auf Gotland. Zum Tierstil siehe Bibliografie Nr. 23. Die Gegend um den Fundort Hornhausen geriet unter den Einfluss des Christentums in der Folge der Mission des Hl. Bonifatius. Siehe dazu neuerdings: Bonifatius. Vom angelsächsischen Missionar zum Apostel der Deutschen, hg. von Michael Imhof und Gregor K. Stasch, Petersberg: Imhof 2004. Lutz E. von Padberg, Mission und Christianisie-

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Gedenken an die dargestellte Person diente, ohne dass dieses Gedenken mit dem Totenkult verbunden gewesen wäre. Das Bild trennt scharf die Welt oberhalb der Rampe von der Unterwelt. Unterhalb der Rampe zeigt es zwei Würmern ähnelnde Tiere mit ineinander verwobenen Körpern und gegeneinander gerichteten offenen Mäulern. Sie scheinen auf ihre Unterwelt begrenzt zu sein und ihre Energien gegeneinander zu richten. Eine Bedrohung für den Reiterkrieger scheint von ihnen nicht auszugehen. Über die Rampe reitet der Krieger von rechts nach links, hält einen Schild in seiner linken und einen Speer in seiner rechten Hand, während er ein Schwert um seine Taille gegürtet hat. Der Krieger trägt sein Haar lang. Im Vergleich zu dem vorstehenden Bild des Fußkriegers, der sich eines zweiköpfigen Wurms erwehren muss, scheint der Reiterkrieger getrennt von der gefährlichen Welt der Würmer, von denen er womöglich nicht einmal Notiz nimmt. Die Unterschiede zwischen den Bildern des Fuß- und des Reiterkriegers sind deutlich. Im ersten Fall geht von dem Wurm eine potentiell tödliche Gefahr auf den Fußkrieger aus. Im zweiten Fall paradiert der Reiterkrieger durch seine Welt, die sich ihm als sicher öffnet. Im ersten Fall visualisiert das Bild eine kritische Situation, in der ein Bewaffneter möglicherweise einer drohenden Gefahr erliegt. Im zweiten Fall scheint ein siegreicher Krieger auf, der entweder die gefährlichen Würmer in die Unterwelt verbannt hat oder von ihnen gar nichts weiß. Die Haartracht des Reiterkriegers erlaubt eine Assoziation mit dem altgermanischen Kriegsgott Wodan, sei es, dass ein Held abgebildet ist, der sich der Abstammung von Wodan rühmt, oder die Gottheit selbst. Das zweite Bild demonstriert demnach Fähigkeiten einer außergewöhnlichen Person, entweder hohen Rangs und ungewöhnlich mächtig oder einer Gottheit. Die Symbolik der Sicherheit bereitstellenden und Schutz bewirkenden Macht setzte sich in die christliche Zeit fort und wurde auf die Figur Christi übertragen. Die volkssprachliche Epik35 wie auch Buchilluminationen stellten Christus nicht nur als Leidtragenden, sondern auch als siegreichen Kämpfer dar. Das folgende Bild zeigt Christus, der einem feuerspeienden Wurm ins Maul sticht, dabei mit dem rechten Fuß auf dem tödlich verwundeten Tier steht und seinen linken Fuß auf einen Löwen setzt. Die altenglischen und althochdeutschen Wörter für griechisch drÜkwn sind wyrm und wurm und bedeuten Wurm oder Schlange. Sie beziehen sich rung. Formen und Folgen bei den Angelsachsen und Franken im 7. und 8. Jahrhundert, Stuttgart: Steiner 1995, S. 190–349. Padberg, Die Christianisierung Europas im Mittelalter, Stuttgart: Reclam 1998, S. 88–108. 35 Siehe: Heliand, VV. 1211b–1278, 4198–4293, hg. von Otto Behaghel, 10. Aufl. von Burkhard Taeger, Tübingen: Niemeyer 1996, S. 49–51, 150–153 (Altdeutsche Textbibliothek. 4.).

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Abbildung 4: Christus als Sieger über einen Drachen und einen Löwen. Miniatur zu Psalm 90. 9. Jahrhundert. Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, MS Bibl. Fol. 23, fol. 107v. Bildarchiv Foto Marburg

auf gefährliche und böse Tiere, die sich üblicherweise menschlicher Kontrolle entziehen.36 Kämpfe gegen Würmer gehören beispielsweise zu den Kernelementen in dem altenglischen Epos von Beowulf. In diesem Epos tötet der Held einen Wurm, nachdem der Wurm ihn zuvor tödlich verwundet hat.37 Wenn diese Würmer ihre unterirdischen Gefilde verließen, konnten sie der Epik zufolge in der Menschenwelt schweren Schaden anrichten. Wenn Bildquellen Christus als siegreichen Kämpfer gegen Würmer zeigten, so demonstrierten sie dadurch die alle anderen Heroen überragende außergewöhnliche Kraft Christi, der Würmer töten konnte, ohne selbst von ihnen tödlich getroffen zu werden. Noch im 13. Jahrhundert findet sich in christlichem Gewand die Vorstellung von der Unterwelt als dem Lebensbereich von gefährlichen Würmern. Die folgende Weltkarte aus einer englischen Psalterhandschrift des 13. Jahrhunderts bildet die Welt ab zwischen der über ihr schwebenden göttlichen Sphäre und der unter ihr liegenden von Würmern beherrschten Sphäre. 36 Zu den Würmern siehe: N. T. Belaiew, On the „Wodan“-Monster or Dragon Series of the Anglo-Saxon Sceattas, in: Seminarium Kondakovianum 7. Jg. (1935), S. 169–184. Friedrich Wild, Drachen im Beowulf und andere Drachen, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1962 (Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Philos.-Hist. Kl., 238. Bd., Nr. 5.) Das Bild des Drachentöters findet sich noch in den Marginalien zum Luttrell-Psalter aus der Mitte des 14. Jahrhunderts, Faksimile-Ausg., London: Folio Society 2006, fol. 83v. 37 Beowulf (wie Anm. 29), VV. 3028–3155, S. 114–118.

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Abbildung 5: Weltkarte aus einer Psalterhandschrift des 13. Jahrhunderts. London, British Library, Additional Ms. 28681, fol. 9r. Reprinted by permission from The British Library Board.

Das Maß der persönlichen Macht war die Fähigkeit, Leuten, die sich den Gefahren der Umwelt selbst nicht erwehren konnten, Sicherheit bereitzustellen und Schutz zu gewähren. Macht galt als Gabe an eine Person, die von Generation zu Generation vererbt werden und auf diese Weise ein Erbcharisma begründen konnte.38 Auch in christlichem Gewand bestand die 38

Zur Sakralität von Herrschern siehe Bibliografie 24.

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Theorie fort, dass die persönliche Fähigkeit, Sicherheit bereitzustellen und Schutz zu gewähren, vererbbar sei.39 Gleichwohl galt Macht nicht als Bestandteil eines Herrscheramts. Herrscher mussten ihre Nachfolgefähigkeit aus der Zugehörigkeit zu einer mit Erbcharisma ausgestatteten herrscherlichen Dynastie begründen.40 Sicherheit und Schutz waren zudem Lebensbedingungen, die nicht nur in Zeiten der Not und existentieller Bedrohungen unabdingbar waren. Vielmehr manifestierten sie sich im Alltagsleben, wenn Gruppen angehalten waren, ihre Angehörigen gegen übel wollende Leute41 sowie auch gegen förmliche Anklagen Außenstehender vor Gericht42 zu verteidigen. Diese Pflicht galt insbesondere für Herrscher, ein39 Siehe dazu: De XII abusivis saeculi, hg. von Siegmund Hellmann, Leipzig: Hinrichs 1909, S. 43–44 (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur. 34.). Zur Aufnahme dieser Theorie in das Kirchenrecht siehe: Karl Schmitz, Ursprung und Geschichte der Devotionsformel bis zu ihrer Aufnahme in die fränkische Königsurkunde, Stuttgart: Enke 1913 (Kirchenrechtliche Abhandlungen. 81.). 40 So zum Beispiel gab die Frankfurter Synode vom Jahr 794 dem fränkischen König Karl auf, die Gläubigen gegen unsichtbare Feinde mit Waffen zu verteidigen: Paulinus von Aquileia, Libellus sacrosyllabus episcoporum Italiae, Nr. 19, in: Concilia aevi Karolini, 1. Bd., hg. von Albert Werminghoff, Hannover: Hahn 1906, S. 142 (Monumenta Germaniae Historica, Legum Sectio IV: Concilia, 2. Bd., 1. Teil). Zu Einzelheiten siehe: Harald Kleinschmidt, The Nemesis of Power, London: Reaktion Books 2000, Einleitung und Kapitel I. 41 Zum Beispiel siehe: Edictum Chlotarii II (18. Oktober 614), in: Capitularia, 1. Bd. (wie Anm. 20), Nr. 9, S. 20–23. Unter Nr. 11 schreibt das Edikt vor, dass „Frieden und Ordnung in unserem Königreich für immer mit Christi Hilfe“ bewahrt werden sollen und dass „Widerstand und Aufruhr von übelwollenden Leuten strengstens bestraft werden soll“. Capitulare (s. a. 585) (wie Anm. 20, 1. Bd.), S. 12. Capitulare (s. a. 805), cap. 1 (wie Anm. 20, 2. Bd.), S. 122. Zu Regeln gegen Streit zwischen verschiedenen Gruppen siehe die Kapitulare von Heristal, Nr. 20 (s. a. 779), Aquitanien, Nr. 24 (s. a. 789) und Diedenhofen, Nr. 44 (s. a. 805) (wie Anm. 20, 1. Bd.), S. 51, 66, 124. 42 Zum Beispiel die Lex familiae Wormatiensis ecclesie [Hofrecht des Bischofs von Worms], hg. von Heinrich Boos, Urkundenbuch der Stadt Worms, Nr. XXX, 1. Bd., Berlin: Weidmann 1886, S. 43–44 (Quellen zur Geschichte der Stadt Worms. 1.) [auch in: Monumenta Germaniae Historica, Constitutiones, 1. Bd., hg. von Ludwig Weiland, Hannover: Hahn 1893, S. 639–641]. In diesem Artikel von Burchards Gesetzbuch aus dem frühen 11. Jahrhundert wird Bezug genommen auf die Praxis der Blutrache unter Verwandtengruppen, die die Tötung eines Verwandten durch Rache an einem Angehörigen der Verwandtengruppe des Mörders vollziehen. Der Bischof versucht, den Zyklus von Tötungshandlungen zu durchbrechen, indem er alle Verwandtengruppen seiner Sicherheitsgarantie zu unterstellen versucht. Der Text zeigt damit sowohl das Bemühen der Obrigkeit um Durchsetzung eines gruppenübergreifenden Sicherheitsregimes wie die Grenzen seiner Durchsetzbarkeit an der Wende zum 11. Jahrhundert. Zu Burchard siehe: Gerold Bönner, Bischof, Stifte, Stadt, Bevölkerung. Burchard von Worms und seine Civitas am Beginn des 11. Jahrhunderts, in: Bischof Burchard von Worms. 1000–1025, hg. von Wilfried Hartmann, Trier: Bistumsarchiv Trier 2000, S. 311–348 (Quellen und Abhandlungen

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schließlich kirchlicher Stadtherren. So fand Bischof Burchard von Worms nach seiner Weihe die Stätte seines künftigen Wirkens angeblich in erbärmlichem Zustand vor.43 Trotz bestehender Regelungen, die offenbar seit dem früheren 10. Jahrhundert Gruppen von Wormser Ein- und Umwohnern Bewachungs- und Befestigungspflichten auferlegten, erschien ihm die Sicherheitslage desolat. Seine Vita erklärt dazu, erst der Bischof habe die Stadt aus einer für Menschen unbewohnbaren Höhle für Wölfe in eine Stätte der Geistlichkeit verwandelt.44 Neben Herrschaftsträgern konnten aber auch Nachbarschaftsgruppen zum Zweck der Vorbereitung und Durchführung von Aufständen als Anbieter von Sicherheit, in diesem Fall gegen die Herrschaft, auftreten. Die bekanntesten Fälle im Frühmittelalter waren der Stellingaaufstand im 9. und die Entstehung des Lutizenbunds im 10. Jahrhundert.45 Im Erfolgsfall konnten die Gruppen aus ihrer Sicherheit bereitstellenden und Schutz bringenden Rolle Reichtum ziehen, wie es militärisch tätige Gruppen als Gefolgschaften offenbar regelmäßig taten.46 Es bestand also eine Gemengelage von Personen und Gruppen, die als Bereitsteller von Sicherheit und als Schutzbringer auftreten und untereinander um die beste Fähigkeit als Sicherheitsbereitsteller und Schutzbringer konkurrierten. Rezipienten von Sicherheit und Schutz konnten in begrenztem Maß wählen, ob sie einem der Angebote dieser konkurrierenden Personen und Gruppen einerseits folgen oder andererseits auf die Gewährung göttlicher Gnade vertrauen wollten. Es bestand also Konkurrenz nicht nur unter verschiedenen menschlichen Anbietern von Sicherheit und Schutz, sondern auch zwischen diesen und Gottheiten oder anderen übernatürlichen Wesen. Rezipienten konnten also zur mittelrheinischen Kirchengeschichte. 100.). Bönner, Geschichte der Stadt Worms, Stuttgart: Theiss 2005. 43 Vita Burchardi, cap. 6, hg. von Georg Waitz, in: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores, 4. Bd., hg. von Georg Heinrich Pertz, Hannover: Hahn 1841, S. 835. 44 Der Text der nicht im Original überlieferten, sogenannten Wormser Mauerbauordnung ist ediert in: Elenchus fontium historiae urbanae, 1. Bd., hg. von Co van de Kieft, Bernhard Diestelkamp und Jan Frederick Niermeijer, Leiden: Brill 1967, S. 43–44 [auch in: Monumenta Wormatiensia. Annalen und Chroniken, hg. von Heinrich Boos, Berlin: Weidmann 1893, S. 223–224; ebenso in: Quellen zur Verfassungsgeschichte der deutschen Stadt, hg. von Bernd-Ulrich Hergemöller. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000, S. 66–69 (Freiherr-vom-Stein Gedächtnisausgabe. Ausgewählte Quellen zur Geschichte des Mittelalters. 34.)]. Zur Diskussion um die sogenannte Mauerbauordnung siehe Bibliografie Nr. 25. Zur frühmittelalterlichen Stadt als Sicherheit gewährender Ort siehe auch: Ferdinand Opll, Das Werden der mittelalterlichen Stadt, in: Historische Zeitschrift 280. Jg. (2005), S. 569–570. 45 Zum Stellingaaufstand und zum Lutitzenbund Bibliografie Nr. 26. 46 Zu den Regeln der Gefolgschaften siehe Bibliografie Nr. 27.

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Loyalitäten wechseln, je nachdem, wie sie die Fähigkeiten der jeweiligen Sicherheitsbereitsteller und Schutzbringer einzuschätzen bereit waren. Die Struktur dieses Markts für Sicherheit und Schutz brachte es mit sich, dass diejenigen Personen, Gruppen, Gottheiten oder übernatürlichen Wesen die höchste Zahl an Gefolgsleuten an sich binden konnten, deren Sicherheit bereitstellende und Schutz bringende Fähigkeiten am höchsten gewertet wurden. Aus den jeweiligen Loyalitätsbindungen konnte legitime Herrschaft erwachsen. Aus der Struktur dieses Marktes folgte also ein pluralistischer Begriff von Legitimität, demzufolge legitime Herrschaft in der Bereitstellung von Sicherheit und der Gewährung von Schutz im umfassenden, das Leben nach dem Tod einschließenden Sinn für eine Gruppe von Beherrschten in einem grob abgegrenzten Gebiet bestand. Verschiedene Typen von Gruppen bestanden unabhängig nebeneinander und warben um Angehörige. Da Personen gleichzeitig mehreren Gruppen und Typen von Gruppen angehören konnten, hatten sie die Möglichkeit, die jeweiligen Fähigkeiten der Sicherheitsbereitstellung und Schutzgewährung zu vergleichen. Das galt auch und insbesondere für Vergleiche der geglaubten Leistungen vorchristlicher Gottheiten mit denen der christlichen Trinität. Dieser pluralistische und zugleich partikularistische Rahmen frühmittelalterlicher sozialer Organisation stand dem Versuch des Oktrois allgemeiner, umfassender Rechts- und moralischer Normen unter einem weit anerkannten oder universalen Herrscher entgegen. Daher war die Wirksamkeit der universal geprägten römischen Rechtstradition im frühmittelalterlichen Okzident begrenzt. Auch die Übernahme des Christentums durch die Mission war noch über das 8. Jahrhundert hinaus zögerlich. So brachte die katholische Mission im Okzident bis ins 8. Jahrhundert, in Skandinavien und Osteuropa bis ins 12. Jahrhundert zunächst eine Erhöhung des Konkurrenzpotentials unter den Gottheiten mit sich, zwischen denen Gläubige wählen konnten. In dieser Wettbewerbssituation musste Christus sich Vergleiche zwischen der ihm zugeschriebenen Sicherheit bereitstellenden und Schutz gewährenden Fähigkeit und derjenigen der alten Gottheiten gefallen lassen. Zu Übertritten zum Christentum kam es vor allem in Situationen, wie etwa in Schlachten, in denen Christus als der bessere Bereitsteller von Sicherheit und Bringer von Schutz erschien.47 Die Sprache der Bekehrung war die Sprache des Krieges.48 47

Zu Konversionen im Zusammenhang mit Kriegshandlungen siehe den Fall von Oswald von Northumbrien nach dem Bericht in: Adomnán, Life of Columba, lib. I, cap. 1, hg. von Alan Orr Anderson und Marjorie Ogilvie Anderson, London: Nelson 1961, S. 12–14 [Neuausg., Oxford: Clarendon 1991]. Eine fast wörtliche Kopie dieses Berichts findet sich in dem Life of Saint Oswald von Reginald von Durham, hg. von Thomas Arnold, Symeonis Monachi Opera Omnia, 1. Bd., London: HMSO 1882, S. 367. Sowie auch den Fall Chlodwigs, König der Franken, nach dem Be-

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3. Der Begriff der Sicherheit Die Sicherheit Einzelner hing folglich von deren Einbindung in Gruppen oder von Unterstützung durch Gottheiten oder übernatürliche Wesen ab. Personen mussten ihre eigenen Interessen den Wünschen und Forderungen der Gruppen nachordnen, wenn sie Sicherheit und Schutz erhalten wollten. Da Personen ihre Identität von den Gruppen ableiteten, denen sie angehörten, war Persönlichkeit eine soziale und keine individualpsychologische Kategorie. Identität war also kollektiv, nicht personal. Aus der Dezentralisierung der Sicherheitsbereitstellung und Schutzgewährung in einem Markt folgte ein Mangel an Individualismus. Positiv ausgedrückt: Je intensiver der Wettbewerb in dem Markt für Sicherheit und Schutz war, desto stärker wurde der Druck, der Personen dazu bringen konnte, sich Gruppen anzuschließen, ihre Zugehörigkeit aufrechtzuerhalten und dazu sich der Disziplin der Gruppen zu unterwerfen. Deswegen standen Vergehen und Verbrechen gegen nahe stehende Gruppenangehörige unter besonders harten, insbesondere kirchlichen Strafen. So schrieb das Bußbuch Theodors von Tarsus, Erzbischof von Canterbury im späten 7. Jahrhundert, vor, dass Männer, die ihre Mutter oder Schwester vergewaltigten, fünfzehn Jahre lang Buße zu leisten hätten, wohin gegen die höchste Buße für Mord, das heißt die Buße für Mord in einem Streit, zehn Jahre betrug.49 Sicherheit war bedeutsam in richt in: Gregor von Tours, Historiarum Libri X, lib. II, cap. 29–30, hg. von Bruno Krusch und Wilhelm Levison, Hanover: Hahn 1951, S. 74–76 (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Merovingicarum. 1.). 48 Die Sprache des Krieges in Konversionsberichten wurde auch in Heiligenviten gebraucht, so die Translatio des Hl. Liborius, die feststellt, Karl der Große habe die Sachsen „mit eiserner Zunge“ bekehrt. Siehe: Translatio Sancti Liborii, cap. 5, hg. von Georg Heinrich Pertz, in: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores, 4. Bd., Hannover: Hahn 1841, S. 151. Siehe dazu: Helmut Karl Otto Beumann, Die Hagiographie „bewältigt“. Unterwerfung und Christianisierung der Sachsen durch Karl den Großen, in: Cristianizzazione ed organizzazione ecclesiastica delle campagne nell’Alto Medioevo, Spoleto: Centro Italiano 1982, S. 125–163 (Settimane di studio del Centro Italiano di studi sull’ Alto Medioevo. 28.) [wieder abgedruckt in: Beumann, Ausgewählte Aufsätze aus den Jahren 1966–1986, hg. von Jürgen Petersohn und Roderich Schmidt, Sigmaringen: Thorbecke 1988, S. 289–323]. Ulrich Nonn, Zwangsmission mit Feuer und Schwert? Zur Sachsenmission Karls des Großen, in: Bonifatius. Apostel der Deutschen. Mission und Christianisierung vom 8. bis ins 20. Jahrhundert, hg. von Franz Josef Felten, Stuttgart: Steiner 2004, S. 55–74 (Mainzer Vorträge. 9.). 49 Poenitentiale Theodori, cap. II, §§ 16, 17, cap. IV, § 2, hg. von Friedrich Wilhelm Hermann Wasserschleben, Die Bußordnungen der abendländischen Kirche nebst einer rechtsgeschichtlichen Einleitung, Halle: Graeger 1851, S. 186, 188 [Nachdruck, Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1958]. Siehe dazu: Julie Coleman, Rape in Anglo-Saxon England, in: Violence and Society in the Early Medieval West, hg. von Guy Halsall, Woodbridge: Boydell & Brewer 1998, S. 193–204.

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einem unmittelbar praktischen Sinn. Sie bezeichnete die Bedingungen, unter denen Personen ihre Rechte nutzen konnten, ohne Beeinträchtigungen von außen fürchten zu müssen, solange sie in Gruppen integriert blieben und sich der Hilfe mächtiger Bereitsteller von Sicherheit und Bringer von Schutz versichern konnten. Auch wenn die Risiken des Verlusts von Gruppenzugehörigkeit hoch waren, bestand doch in der Regel die Möglichkeit auch für Ausgewiesene, sich anderen Gruppen anzuschließen oder selbst eine Gruppe zu begründen. Es gab im Frühmittelalter nur wenige Alleingelassene. Die Möglichkeit von Herrschern und Anführern größerer Gruppen, gemäß öffentlichem Recht Ausweisungen zu verfügen, scheint begrenzt gewesen zu sein. Anders als Verwandten- oder andere Gruppen konnten Herrscher nur Personen ausweisen, die mit ihnen durch Bindungen der Verwandtschaft, Nachbarschaft oder Freundschaft verknüpft waren, oder Auswärtige, die sich irgendwie abweichend verhielten. So kam das englische Wort outlaw bereits im 11. Jahrhundert in Gebrauch, wohingegen Bezeichnungen wie englisch foreigner und deutsch Ausländer erst im 15. und 16. Jahrhundert geprägt wurden.50 Leute, die irgendwo allein im Wald lebten, galten als Wolfsfreunde, was bedeuten sollte, dass sie nur Wölfe zu Freunden hätten, denen sie auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein schienen. Leben außerhalb regulärer menschlicher Siedlungen galt folglich als sozialer Tod. Nur unter besonders mächtigen Herrschern, die die Kompetenz zur Sicherheitsgewährung auf sich konzentrieren konnten, konnte auch die Zone zwischen den menschlichen Siedlungen als sicher gelten. Deswegen konnte eine hier und da im Früh- und frühen Hochmittelalter gebrauchte Formel zur Lobpreisung von Herrschern lauten, dass zu ihren Zeiten die Lande so sicher gewesen seien, dass selbst eine Frau mit neugeborenem Kind unbelästigt durch die Lande haben ziehen können.51 Allen Joseph Frantzen, The Literature of Penance in Anglo-Saxon England, New Brunswick, NJ: Rutgers University Press 1983, S. 80. Pierre J. Payer, Sex in the Penitentials, Toronto und Buffalo: University of Toronto Press 1984 [Nachdruck, ebenda 1994]. 50 Ausweisungen aus Verwandtengruppen sind in der Dichtung belegt. Siehe: Wulf and Eadwacer, The Wife’s Lament, hg. von George Krapp und Elliott van Kirk Dobbie, The Exeter Book, New York und London: Routledge & Kegan Paul 1936, S. 170–180, 210–211 (Anglo-Saxon Poetic Records. 3.). Zur Ausweisung von Auswärtigen mit sonderbarem Verhalten siehe die Bestimmungen in den Laws of Wihtred, §§ 4, 28 und den Laws of Ine, § 20, hg. von Liebermann, Gesetze, 1. Bd. (wie Anm. 21), S. 12, 14, 98. Das englische Wort outlaw ist zuerst in den englischen Gesetzen König Knuts aus dem frühen 11. Jahrhundert belegt. Siehe: Laws of Cnut, 2. Teil, § 31, sect. 2, hg. von Liebermann, Gesetze (wie Anm. 21), S. 338. Das englische Wort foreigner (< Mittellateinisch *fora¯nus) und das deutsche Wort Ausländer kamen erst im 15. beziehungsweise 16. Jahrhundert in Gebrauch.

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Auf der anderen Seite boten die Gruppen nicht nur Sicherheit im täglichen Leben, sondern über den Tod hinaus. Die Erwartung, dass die Gruppen für die Sicherheit ihrer Angehörigen auch nach deren Tod würden sorgen können, ist belegt durch die Popularität von Kollegiatstiftungen, insbesondere während des 10. bis 12. Jahrhunderts sowie in einer Reihe von Quellen, die von den Memorialbüchern über Visionsberichte bis zu Urkundenarengen reichen, obschon, abweichend von der Antike, Verweise auf Sicherheit auf Grabsteinen selten waren.52 Zu den Forderungen, die die Gruppen an ihre Angehörigen stellen konnten, zählte auch das Gebot, für die Sache der Gruppe in den Kampf zu ziehen und dabei das eigene Leben zu opfern. Gruppen kam daher die volle Fähigkeit zur Entscheidung über Krieg und Frieden zu. Dieser Mangel an Begrenzung der Fähigkeit zum Kriegführen im frühen Mittelalter ist jedoch keineswegs als Ausdruck einer scheinbar hohen Kriegslust aufzufassen. Es war keinesfalls so, dass Krieger 51 Im Altenglischen wurden Personen, denen die Verwandtengruppen ihren Schutz entzogen hatten, als wineleas, Leute ohne Freunde, bezeichnet und als Personen beschrieben, deren einzige verbliebene Freunde die Wölfe seien. Siehe: Exeter Gnomic Verses, VV. 146–7, 173, hg. von Krapp und Dobbie (wie Anm. 50), S. 161, 162. Die altenglischen Rätsel bestimmten den Wolfskopf als den Galgen. Siehe: Old English Riddles, Nr. 55, V. 12, ebenda, S. 208. Zur Bereitstellung von Sicherheit außerhalb menschlicher Siedlungen siehe unten anderen: Beda, Historia, lib. II, cap. 16 (wie Anm. 16), S. 192. 52 Zu den Memorialbüchern siehe oben, Anm. 17. Zu den Visionsberichten siehe oben, Anm. 16. Zu den Urkundenarengen siehe das Beispiel der Schenkung von Land durch König Hlo¯ðhere von Kent an Abt Bercuald in Thanet, A.D. 679, hg. von Walter de Gray Birch, Cartularium Saxonicum, 1. Bd., London: Whiting 1885, S. 70 [Nachdruck, New York: Johnson 1964]. Die Arenga dieser Urkunde enthält die pro remedio animae meae Formel als Ausdruck der Vorstellung, dass der Schenker die Schenkung veranlasste in der Hoffnung, dass die Rezipienten ihm ein sicheres Leben nach dem Tod gewährleisten würden. Weitere Belege für diese Formel finden sich in St. Galler Urkunden. Siehe dazu: Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen, hg. von Hermann Wartmann, 1. Bd., Nrn. 37 (10. Okt. 762), 47 (25. Februar 765), 238 (24. Okt. 818), 241 (6. April 819), 242 (8. April 819), 244 (16. Juni 819), 251 (12. Mai 820), 252 (15. Mai 820) (Zürich: Höhr, 1863), S. 39, 48, 230, 233, 235, 241, Bd. 2, Nrn. 502 (10. August 864), 507 (11. März 865), 508 (16. März 865), 509 (11. Juni 865), 510 (11. Juni 865), 728 (2. November 903), 729 (12. Dezember 903), 747 (13. August 905), Zürich: Höhr 1866, S. 116, 121–3, 331, und andere [Nachdruck, Frankfurt: Minerva 1981]. Zu Einzelheiten siehe: Arnold Angenendt, Thomas Braucks, Rolf Busch, Thomas Lentes und Hubertus Lutterbach, Gezählte Frömmigkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 29. Jg. (1995), S. 26–30, 36–38. Michael Borgolte, Gedenkstiftungen in St. Galler Urkunden, in: Memoria, hg. von Karl Schmid und Joachim Wollasch, München: Fink 1984, S. 578–602 (Münsterische Mittelalter-Schriften. 48.). Kleinschmidt, Perception (wie Anm. 22), S. 112–114. Zu nichtchristlichen römischen Grabsteininschriften, die um „ewige Sicherheit“ bitten, siehe: Emil Winkler, Sécurité, Berlin: Verlag der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1939, S. 5 (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Kl. Nr. 10.).

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im frühen Mittelalter jede Chance genutzt hätten, um kämpfen zu können. Im Gegenteil hatte die Friedenstheologie des heiligen Augustinus beträchtliche Wirkung, obwohl es, anders als in der römischen Antike, keinen universalen Herrscher mehr gab, der als alleiniger Bereitsteller von Sicherheit und Bringer von Schutz auftreten konnte. Augustin band den Frieden an das Fortbestehen des Römischen Reiches als christliches Universalreich und definierte sechs Dimensionen des Friedens: die Dimensionen des Körpers, der Seele und der Beziehung zwischen Körper und Seele, weiterhin die Dimensionen des Hauses, des Staates und des Himmels. Er bestimmte Frieden als gottgewollten Zustand der Welt und stellte diesen Zustand dem durch menschliches Handeln bedingten Zustand des Krieges entgegen. In Augustinus’ Theologie galt die Welt als göttlich vorgegebene Friedensordnung, gegen die die Menschen verstoßen und dann im Zustand der Sünde Krieg führen konnten, die sie aber nicht grundsätzlich aufheben konnten. Krieg war daher eine Unterbrechung des Friedens. Auf jeden Krieg würde ein neuer Friede folgen. Obschon der Apostel Paulus schwere Kritik an der mit dem römischen Kaisertum verbundenen Friedens- und Sicherheitspropaganda geübt (1. Thess. 5,3) und die Kaiser des vorsätzlich falschen Versprechens der Bereitstellung von Sicherheit bezichtigt hatte, folgte die römische Kirche den Vorgaben Augustinus’ und übernahm von den weltlichen Herrschern der römischen Antike die Aufgabe, Frieden in die Welt zu tragen. Frühchristliche Gebetsbücher folgten dieser Bestimmung und gaben Texte vor, mit denen Fürbitte von der Gottheit für Sicherheit und die Bewahrung des „römischen Friedens“ und des „christlichen Glaubens“ ausgesprochen werden sollte.53 Augustinus und die auf ihn folgende Friedenstheologie ließen Krieg nur zum Zweck der Herstellung eines dauerhafteren Friedens zu. Er postulierte eine Sequenz von Frieden – Krieg – Frieden und die Bestimmung von Krieg als die zeitlich begrenzte Phase zwischen Epochen des Friedens. 53 Augustin, De civitate Dei, lib. XIX, cap. 3, 7, 11–14, hg. von Bernard Dombart und Alphons Kalb, 2. Bd., Turnhout: Brepols 1955, S. 663, 671–672, 674–682 (Corpvs Christianorvm Series Latina. 48.). Augustin, Contra Faustum Manichaeum, lib. XXII, cap. 74, in: Patrologiae cursus completus. Series Latina, hg. von JacquesPaul Migne, 42. Bd., Sp. 447–448. Sakramentarium Leonianum [= Sacramentarium Veronense], hg. von C. L. Feltore, Rom: s. n. 1896, Nrn. 352, 369, 375 [Facsimileausgabe, hg. von Franz Sauer, Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1960 (Codices selecti. 1.)] Sakramentar von Gellone, Hs. Paris, Bibliothèque nationale de France, fonds lat. 12048, fol. 231v; hg. von Gerd Tellenbach, Römischer und christlicher Reichsgedanke in der Liturgie des frühen Mittelalters, Heidelberg: Winter 1934, S. 59 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.Hist. Kl. 1934/35, 25. Bd., Nr. 1.). Sacramentarium Gelasianum, Nrn. 727, 729, 731, 732, hg. von Henry Austin Wilson, The Gelasian Sacramentary. Liber Sacramentorum Romanae ecclesiae, Oxford: Clarendon 1894. Tellenbach druckt weitere Gebete ab, ebenda, S. 59–61, 71.

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Im Gefolge der augustinischen Friedenstheologie entstand eine auffällig häufige Kritik an vermeintlich kriegslüsternem Verhalten von Herrschern und Helden, denen vorgeworfen wurde, sie hätten sich nicht hinreichend um die Sicherheit der ihnen anvertrauten Kämpfer bemüht.54 Es gibt zudem hinreichend Quellen, die belegen, dass vor Beginn von Kriegen sowie auch noch in deren Verlauf Schlichtungsversuche unternommen wurden, die durchaus erfolgreich sein konnten.55 Auch diejenigen, die in der Schlacht obsiegten, betrachteten ihren militärischen Erfolg selten als dauerhaft und schrieben ihn mitunter dem Einfluss der Gottheit zu.56 Krieg führende Herrscher konnten von ihren Untergebenen Disziplin und Gehorsam während der Kampfhandlungen erwarten, wenn sie ihnen Sicherheit gewährleisteten und Schutz brachten. Sie verfolgten aber in der Regel nicht das Ziel, den Besiegten ihre kollektive Identität aufzudrücken. Kein Geringerer als Karl der Große selbst, der für seine militärischen Langzeitunternehmen berühmt war, griff, nachdem er nach ungefähr dreißig Jahren seinen Krieg gegen die Sachsen mit deren Unterwerfung abgeschlossen hatte, zu drakonischen Maßnahmen. Er exilierte einige ihrer jüngeren Anführer und zwang andere in die Flucht,57 ließ aber die sächsische kollektive Identität seiner Gegner unangetastet.58 Karls weniger kriegsbereite Nachfolger im 9. Jahrhundert 54 Anglo-Saxon Chronicle, Ms A, s. a. 757, hg. von Janet Margaret Bately, MS A, Cambridge: Brewer 1986, S. 36–38 (The Anglo-Saxon Chronicle. A Collaborative Edition. 3.). Zu einer Studie über mittelalterliche Kritik am Heroismus von Herrschern siehe: John Leyerle, Beowulf, the Hero and the King, in: Medium Aevum 34. Jg. (1965), S. 89–102. 55 Zu Vermittlungs- und Schlichtungsverfahren vor und während der Kriegführung siehe Bibliografie Nr. 28. Zur niedrigen Zahl der regulären Kampftruppen siehe oben, Anm. 21. 56 Zum Beispiel siehe den Bericht Adomnáns über Oswald von Northumbrien aus dem 8. Jahrhundert in: Life of Columba, lib. I, cap. 1 (wie Anm. 47), S. 12–14. 57 Siehe: Einhard, Vita Caroli Magni, cap. 8–9, hg. von Oswald Holder-Egger, Berlin: Weidmann 1911, S. 11–13 (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatism editi. [25.]) Zum sächsischen Geiselverzeichnis von ca 805 siehe: Monumenta Germaniae Historica, Leges, 1. Bd., hg. von Georg Heinrich Pertz, Hannover: Hahn 1835, S. 89–90. Zu Karls Kriegsführung siehe neuerdings zusammenfassend: Dieter Hägermann, Karl der Große, Berlin und München Ullstein, 2000, S. 476. Ein Bericht über das Schicksal eines Kollaborateurs liegt vor in dem Brief eines Richart, ca 824, hg. von Ernst Dümmler, Karl Hampe u. a., in: Epistolae Karolini Aevi, 3. Bd., Berlin: Weidmann 1898–1899, S. 301–302 (Monumenta Germaniae Historica, Epistolae. 5.). Zu den sächsischen Geiseln siehe: Wilhelm Schlaug, Die altsächsischen Personennamen vor dem Jahre 1000, Lund: Gleerup; Copenhagen: Munksgaard 1962, S. 148. Reinhard Wenskus, Sächsischer Stammesadel und fränkischer Reichsadel, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1976, S. 179 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philol.-Hist. Kl. 3. F., 93. Bd.). 58 So bemerkte schon Sabine Krüger, Studien zur sächsischen Grafschaftsverfassung im 9. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1950 (Studien und

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machten dann erhebliche Anstrengungen, ihre Fähigkeit als Bereitsteller von Sicherheit und Bringer von Schutz unter Beweis zu stellen, indem sie Urkunden unterzeichneten, durch die Klöster und Kaufmannssiedlungen ihrem Schutz unterstellt wurden und dafür zu sorgen versprachen, diesen Gruppen ein Leben in Sicherheit und Frieden zu garantieren.59 Der frühmittelalterliche Begriff der Sicherheit war umfassend und eng gebunden an die Legitimität der Sicherheit bereitstellenden und Schutz gewährenden Macht hochrangiger Personen. Personen, die in diesem Sinn über Macht verfügten, konnten Loyalität von ihren Untergebenen erwarten. Personen erhielten Sicherheit und Schutz als Angehörige von Gruppen, die sie gegen die Unbilden der natürlichen und sozialen Umwelt verteidigen konnten und sollten. Tod bedeutete nicht das Ende der Gruppenzugehörigkeit. Somit erhielten Personen das stärkste mögliche Motiv, in Gruppen einzutreten und zu verbleiben. Die heterodynamische Verhaltensweise zeitigte ein engmaschiges, den Tod transzendierendes Netz von Beziehungen von Personen in Gruppen, orientierte Herrschaft auf die Nöte der Einzelnen und verwischte die Grenzen zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre. Da der Tod nicht notwendig den Ausschluss aus Gruppen, insbesondere aus Verwandtengruppen, zur Folge hatte, lässt sich die an das Seelenheil geknüpfte Sorge für die Sicherheit auf dem Weg ins Jenseits begrifflich nicht von einem säkularen Sicherheitsbegriff abtrennen. In der europäischen Tradition hatte der Sicherheitsbegriff seine weiteste Ausdehnung im frühen Mittelalter.

III. Leben in Mauern. Bereitstellung von Sicherheit und Bringen von Schutz als Zeugnis institutioneller Macht 1. Der raumbezogene Begriff von Herrschaft Der grundlegende Wandel, der die europäische Kultur zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert erfasste, zog neben vielem anderen eine Veränderung des begrifflichen Verhältnisses zwischen der öffentlichen und der priVorarbeiten zum Historischen Atlas Niedersachsens. 19.), zu Recht die Kontinuität der sächsischen Identität, obschon ihr Werk in Bezug auf manche Einzelheiten von Schlaug, Personennamen (wie Anm. 57) und Wenskus, Stammesadel (wie Anm. 57) scharf kritisiert wurde. 59 Siehe: Hubert Mordek und Gerhard Schmitz, Neue Kapitularien und Kapitulariensammlungen, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 43. Jg. (1987), S. 399, 414. Die Urkunden Karls III., hg. von Paul Kehr, Nr. 6 (13. Januar 878) für das Kloster Reichenau, Berlin: Weidmann 1936–1937, S. 10 (Monumenta Germaniae Historica, Die Urkunden der deutschen Karolinger. 2.). Ebenda, Nr. 77 (10. Mai 883 für den Dogen von Venedig), S. 126.

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vaten Sphäre sowie zudem der Begriffe von Legitimität und Sicherheit nach sich. Da die Einzelheiten dieses Wandels nicht zur Fragestellung dieser Untersuchung gehören, genügt es, seine hier zentralen Ergebnisse kurz zu benennen: Der personenbezogene Begriff der Herrschaft ging über in den raumbezogenen Begriff der Herrschaft, und die Stadt ersetzte das bäuerliche Gehöft als Modell guter Herrschaft.60 An die Stelle von Migrationen von Gruppen über lange Zeiten und große Entfernungen traten Einzelmigration und Reisen professioneller Kaufleute, Handwerker, Krieger, Studenten und Gelehrter.61 Verwandtschafts-, Nachbarschafts- und Vertragsgruppen verloren an Autonomie und politischem Einfluss gegenüber territorial bestimmten politischen Gruppen wie Franzosen, Engländern, Flamen, Polen, Wenden, Venetianern, Genuesen, Aragonesen, Asturiern, Portugiesen, Hessen und Tirolern, um nur einige zu nennen. Diese Namen traten neben einige wenige Gruppennamen, die aus dem frühen Mittelalter stammten und weiter benutzt wurden, wie zum Beispiel Dänen, Schweden, Sachsen, Friesen, Ungarn, Böhmen, Bayern und Schwaben. Überdies bildete sich ein geburtsständisch abgegrenzter Adel heraus, der sich als soziale Gruppe definierte und aus zusammen wohnenden Verwandtschaftsgruppen zusammengesetzt war. Diese Adelsgruppen schränkten die Nachfolgefähigkeit kollateraler Verwandter ein und markierten die soziale Distanz zu anderen Gruppen dadurch, dass sie auf Höhenburgen oberhalb landwirtschaftlich geprägter Siedlungen wohnten. Die Höhenburgen waren zumeist aus Stein gebaut, ummauert und als Herrschaftszentren von weit her sichtbar. Wo die Landschaft die Errichtung von Höhenburgen nicht erlaubte, schüttete man künstliche Hügel auf, die Motten genannt wurden und den erhobenen Rang der dort siedelnden Bewohner markieren sollten.62 Viele hoch- und spätmittelalterliche Städte waren ausgedehnte Burgen, Oasen aus Stein, oft auf Anhöhen gebaut, ummauert, von weit her sichtbar, 60 Beispielsweise stellte ein sächsisches Stadtrecht aus der Mitte des 14. Jahrhunderts die Gerichte unter göttliche Kontrolle und schrieb vor, dass die Gerichtssäle mit Bildern des Jüngsten Gerichts ausgestattet werden sollten. Dadurch sollten die Richter an ihre Pflicht erinnert werden, gerechte Urteile zu fällen. Auch wenn einige dieser Bilder während der Reformation zerstört oder übermalt wurden, blieb die Forderung, dass man solche Bilder malen sollte, andernorts bis ins 16. Jahrhundert bestehen. Siehe dazu: Das sächsische Weichbildrecht. Jus Municipale Saxonicum, Art. XVI, 1. Bd., hg. von Alexander von Daniels und Franz Freiherr von Gruben, Berlin: Hempel 1858, Sp. 256. Ulrich Tengler, Layenspiegel, Straßburg: Knobloch 1530, fol. XVIIr [zuerst gedruckt u. d. T.: Layen Spiegel. Von rechtmässigen ordnungen in Bürgerlichen und peinlichen regimenten, Augsburg: Rynmann 1509]. 61 Zu Einzelheiten über den Wandel der Typen migrierender Gruppen im frühen und hohen Mittelalter siehe: Harald Kleinschmidt, Menschen in Bewegung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, S. 45–56. 62 Dazu mehr in: Kleinschmidt, Perception (wie Anm. 22), S. 21–32.

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und wurden auch so dargestellt.63 Ihre Bewohner kamen von überall her und waren unterschiedlicher sozialer Herkunft. Mit ihrer Immigration in die Stadt hatten sie sich entschieden, die sozialen Bindungen an die Gruppen und Orte ihrer Herkunft zu kappen und neue Lebensformen mit ihren Mitbewohnern in der Stadt zu suchen. Die Gewährung des Bürgerrechts war ein Rechtsakt, der in vielen Städten vollzogen werden konnte, wenn die Immigranten ein Jahr und einen Tag – ohne Widerspruch zu erregen – in der Stadt gewohnt und sich nichts zu Schulden hatten kommen lassen.64 Die Bürger einer Stadt konstituierten sich als Vertragsgruppe, deren soziale Bindungen und politische Rechte gemäß dem Stadtrecht geregelt waren. Nicht alle Bewohner einer Stadt und ihrer Vorstädte hatten Bürgerrecht, und nicht alle Bürger hatten den gleichen Zugang zu und Anteil an den politischen Geschäften, dem Reichtum und sozialen Status der Bewohner der Stadt. Aber die Stadt machte ihre Bürger, wie Bartolus von Sassoferato im 14. Jahrhundert formulierte, und die Bewohner der Stadt, wie auch die Insassen der Burgen, leiteten ihre kollektive Identität eher ab von dem Ort, an dem sie siedelten, als von den verwandtschaftlichen Bindungen, über die sie verfügten oder bis zum Einzug in die Stadt verfügt hatten. Unbeschwert von den traditionalen Verpflichtungen, die aus verwandtschaftlichen Bindungen erwachsen konnten, mussten die Stadtbewohner sich auf ihre eigenen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kräfte verlassen, wenn sie erfolgreich sein wollten. Personen, die in den Städten lebten, mussten mehr als die Landbevölkerung dazu bereit sein, ihre eigenen Interessen denjenigen der Gruppen überzuordnen, denen sie angehörten oder angehören wollten. Sie mussten in der Lage sein, ihre physischen und mentalen Energien zu mobilisieren, anstatt sich darauf zu verlassen, dass ihnen außenstehende Mächte oder übernatürliche Wesenheiten behilflich sein würden. Die historische An63

Zu dem Begriff siehe: Das Bild der Stadt in der Neuzeit. 1400–1800, hg. von Wolfgang Behringer und Bernd Roeck, München: Beck 1999. Ulf Dirlmeier, Öffentliches Bauen in Mittelalter und früher Neuzeit, St. Katharinen: Scripta Mercaturae Verlag 1991 (Sachüberlieferung und Geschichte. 9.). Gerhard Fouquet, Bauen für die Stadt, Köln, Weimar und Wien: Böhlau 1999 (Städteforschung. Reihe A, 48. Bd.). Britta Padberg, Die Oase aus Stein. Humanökologische Aspekte des Lebens in mittelalterlichen Städten (Berlin: Akademie-Verlag 1994. Heiko Steuer, Überlegungen zum Stadtbegriff aus der Sicht der Archäologie des Mittelalters, in: Vielerlei Städte, hg. von Peter Johanek und Franz-Joseph Post, Köln, Weimar und Wien: Böhlau 2004, S. 47, 50 (Städteforschung. Reihe A, Bd. 61.). Einige frühmittelalterliche Siedlungen in Italien wurden bereits auf Anhöhen angelegt. Siehe: Riccardo Frankovich, Villa to Village. The Transformation of the Roman Countryside in Italy. c. 400–1000, London: Duckworth, 2003). 64 Siehe dazu: Ernst Werner, Stadtluft macht frei. Frühscholastik und bürgerliche Emanzipation in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, Berlin: Akademie-Verlag 1976 (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Philol.-Hist. Kl., 118. Bd., Nr. 5.).

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thropologie hat für diese Verhaltensweisen den Begriff der Autodynamik geprägt, der besagt, dass Personen ihre eigene Bereitschaft und Fähigkeit zu autonomem Handeln als Maßstab des Erfolgs anerkennen würden.65 Die Städte waren die Geburtsorte der autodynamischen Verhaltensweise und, aus ihr folgend, des Individualismus. Die Kontrolle über die Stadt und ihre Bewohner oblag den Räten, in die üblicherweise hochrangige und reiche Bürger berufen wurden. In einigen Fällen waren die Stadträte bereits im 12. Jahrhundert autonome Körperschaften in dem Sinn, dass sie der Herrschaft der adligen und kirchlichen Territorialherren in der Umgebung nicht unterstanden. Wenngleich viele Städte unter der Herrschaft dieser Territorialherren im hohen und späten Mittelalter verblieben, dehnte die städtische Autonomie sich in räumlicher und sachlicher Hinsicht aus. Immer mehr Städte in Zentral- und Südeuropa erreichten den Status freier Einungen mit dem Privileg der Selbstverwaltung ihrer inneren Angelegenheiten, Autonomie der Haushaltsführung und dem Recht, nach eigenem Gutdünken Beziehungen zu anderen Städten sowie anderen Machtträgern zu pflegen. Der oberste Grundsatz autonomer städtischer Herrschaft war die Anerkennung der Gültigkeit des für die Stadt gesetzten Rechts, dem auch die städtischen Obrigkeiten unterworfen waren. Je mehr die Beachtung des Rechts zur Richtlinie politischen Handelns in den Städten erhoben wurde, desto mehr verfestigte sich das Bild der Stadt als der ideale Ort der guten Regierung in der politischen Theorie des späten Mittelalters.66 Stadtrechte errichteten eine Art Gewaltmonopol für städtische Amtsleute oder verboten das Waffentragen innerhalb der Stadtmauern und verpflichteten somit die Stadträte zur Bereitstellung von Sicherheit für die Bewohner. Städtische Regierung war legitim, sofern und so lange die Obrigkeiten für die unbewaffneten Bewohner Sicherheit bereitstellen und Schutz bringen konnten. Diese Aufgaben umfassten zudem die Bereitstellung von Lebensmitteln, Energie, den Rohstoffen, die für die Produktion erforderlich waren, sowie ein Netzwerk politischer Beziehungen, das es den städtischen Handwerkern und Kaufleuten erlaubte, ihre Geschäfte zu fördern. Gerieten Streitigkeiten unter Bewohnern der Städte außer Kontrolle und kam es, in Verlet65 Bartolus von Sassoferato, In secundam Digesti noui partem, Venedig: Iuntae 1615, fol. 217v (b) (Bartolus, Commentaria, Bd. 6.). Zum Stadtbegriff von Bartolus und anderer Juristen des 14. Jahrhunderts siehe Bibliografie Nr. 30. Zu dem Begriff Autodynamik siehe: Nitschke, Kunst (wie Anm. 8). 66 Unter anderen definierte an der Wende zum 16. Jahrhundert der Musiker, Arzt, Politiktheoretiker und Schulmann Johann von Soest, Bürgerspiegel, cap. I, in: Johann von Soest, Wie man wol eyn statt regyrn sol. Didaktische Literatur und berufliche Schreiben des Johann von Soest gen. Steinwart, hg. von Heinz-Dieter Heimann, Soest: Mocker & Jahn 1986, S. 23 (Soester Forschungen. 48.), die Stadt als die Gemeinschaft von Menschen. Zur Reflektion der Stadtverfassungen in der politischen Theorie des Spätmittelalters siehe Bibliografie Nr. 30.

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zung des Verbots des Waffentragens, doch zum Einsatz von Waffen in der Stadt, so entstanden daraus für die städtischen Obrigkeiten Legitimitätsprobleme. Dies war bekanntlich in den hochmittelalterlichen Städten Oberitaliens des Öfteren der Fall und führte schon im 13. Jahrhundert zu Vorschlägen für Notariatsinstrumente, durch die die Ausübung von Gewalt in den Städten grundsätzlich unterbunden werden sollte.67 Stadtherrschaft war „konsensgestützte Herrschaft“ (Klaus Schreiner) über ein Gebiet und dessen Bewohner. Diese Gebiete gaben die räumliche Basis ab für die kollektiven Identitäten, die die Bewohner zu tragen bereit sein sollten. Nicht allein Stadtherrschaft war in diesem Sinn gute Herrschaft. Rechtsordnungen wie das Reichsweistum von 1231 und die Theoretiker der Politik des späten Mittelalters bestimmten im weiteren Sinn gute Regierung als Herrschaft über Land und die darauf sitzenden Leute nicht allein mit Bezug auf die Stadt, sondern auch auf diejenigen zumeist ländlichen Territorien, die der Herrschaft kirchlicher oder weltlicher Herren unterstanden, sowie auch ganze Herzogtümer und Königreiche. In Nord-, West- und Südwesteuropa bildeten sich großräumige Territorien unter der Kontrolle der Könige von Dänemark, Schweden, England, Schottland, Frankreich, Portugal, Aragón und Kastilien aus, die Herren über Stadt und Land wurden und blieben. In anderen Teilen des Kontinents entstanden mehrschichtige Herrschaftssysteme, insbesondere in Zentral-, Süd- und Südosteuropa, wo Städte und örtliche Territorialherren um Kontrolle über Land und die darauf sit67 Zu einen Verbot des Waffentragens in der Stadt siehe die Nürnberger Stadtrechtssatzungen, hg. von Joseph Baader, Nürnberger Polizeiordnungen aus dem XIII bis XV Jahrhundert, Stuttgart: Litterarischer Verein 1861, S. 38–39, 51–54 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart. 63.) [Nachdruck, Amsterdam: Rodopi, 1966]. Claudius Sieber-Lehmann, Spätmittelalterlicher Nationalismus. Die Burgunderkriege am Oberrhein und in der Eidgenossenschaft, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995, S. 378 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. 116.). Zu den materiellen Lebensbedingungen in Städten siehe: Ulf Dirlmeier, Zu den materiellen Lebensbedingungen in deutschen Städten des späten Mittelalters, in: Dirlmeier und Gerhard Fouquet, Lebensbedingungen im Mittelalter in Deutschland, Siegen: Universität 1985, S. 1–51 (Diskussionsbeiträge. Universität-Gesamthochschule Siegen. Forschungsschwerpunkt Historische Mobilität und Normenwandel. 31.). Zu den Notariatsinstrumenten, die ein generelles Gewaltverbot vorschlugen siehe: Rainerius Perusinus, Die ars notariae, Nr. 51, hg. von Ludwig Wahrmund, Innsbruck: Wagner 1917, S. 54–55 (Quellen zur Geschichte des römisch-kanonischen Prozesses im Mittelalter, 3. Bd., 2. Heft) [Nachdruck, Aalen: Scientia 1962]. Gulielmus Durantis, Speculum iuris, IV. Theil, 1. Abschnitt: De treuga et pace, Basel: Frobenius 1574, S. 107. Karl-Heinz Ziegler, The Influence of Medieval Roman Law on Peace Treaties, in: Peace Treaties and International Law in European History, hrsg. von Randall Lesaffer, Cambridge: Cambridge University Press 2004, S. 153 [wieder abgedruckt in: Ziegler, Fata iuris gentium. Kleine Schriften zur Geschichte des europäischen Völkerrechts, Baden-Baden: Nomos 2008, S. 197–210 (Studien zur Geschichte des Völkerrechts. 15.)].

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zenden Leute konkurrierten. In diesen Teilen des Kontinents führte die Konkurrenz örtlicher Herrschaftsträger zu einer großen Zahl an Auseinandersetzungen, die oft, aber keinesfalls stets zu Kriegen führten. Ziele der Auseinandersetzungen waren häufig die Bestimmung oder Veränderung von Grenzen. Bereits im 13. Jahrhundert begann man damit, Grenzen durch Grenzsteine auch in unbesiedelten Wäldern festzulegen. Die Errichtung und Befestigung von Grenzen geronn zu einer der wichtigsten Tätigkeiten von Herrschern und Regierungen. In den Städten nahmen diese Tätigkeiten Gestalt an in Maßnahmen der Stadträte zum Bau und zur Erhaltung von Stadtmauern. Anderswo fingen Herrscher damit an, die Grenzen auf Karten festzuschreiben, weiteten die Praxis des Anlegens von Bewohnerregistern aus und konnten so besser ermitteln, wer wo in den ihnen unterstellten Gebieten wohnte.68 Gleichwohl war nicht nur die Demarkation von städtischen und ländlichen Gebieten als herrschaftlich geordneten Räumen eine wichtige Dimension von Herrschaft im hohen und späten Mittelalter, sondern Herrscher mussten auch mit der Möglichkeit gewaltsamer Auseinandersetzungen über die ihnen unterstellten Gebiete und Bewohner rechnen. Während im frühen Mittelalter Kriege überwiegend über die Frage geführt worden waren, ob Veränderungen des Status und der persönlichen Macht von Herrschern als Bereitsteller von Sicherheit und Bringer von Schutz geduldet werden sollten oder nicht, entstand im hohen und späten Mittelalter die Eroberung von Land, dessen natürliche und menschliche Ressourcen als hauptsächliches Kriegsziel.69 Eroberungskriege mussten auf längere Sicht zur Erhöhung der eingesetzten Mittel führen, insbesondere derjenigen Finanzmittel, die zur 68

Reichsweistum von 1231, hg. von Karl Zeumer, Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, 2. Aufl., Tübingen: Mohr 1913, Nr. 47. (Quellensammlungen zum Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht. 2.) [zuerst, Leipzig: Hirschfeld 1904]. Zum Begriff der konsensgestützten Herrschaft siehe Bibliografie Nr. 31. Zur Übersicht über Quellen zur Territorialisierung in Stadt und Land siehe: Rainer Christoph Schwinges, Neubürger und Bürgerbücher im Reich des späten Mittelalters, in: Neubürger im späten Mittelalter. Migration und Austausch in der Städtelandschaft des alten Reiches (1250–1550), hg. von Rainer Christoph Schwinges, Berlin: Duncker & Humblot 2002, S. 17–50 (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 30.). Siehe dazu die Fallstudien von: Claudine Billot, L’assimilation des étrangers dans le royaume de France aux XIVe et XVe siècles, in: Revue historique 107. Jg. (1983), S. 273–96. Billot, Le migrant en France à la fin du Moyen Age, in: Medieval Lives and the Historian, hg. von Neithard Bulst und Philippe Genet, Kalamazoo: Medieval Institute Publications 1986, S. 235–242. Zur Geschichte des Grenzbegriffs siehe Bibliografie Nr. 32. 69 Dazu mehr in: Harald Kleinschmidt, „Fighting for Land – Fighting for Power. War Aim Making in Renaissance Europe“, in: Knight and Samurai. Actions and Images of Elite Warriors in Europe and East Asia, hg. von Rosemarie Deist, Göppingen: Kümmerle, 2003, S. 139–154 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 707.).

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Beschaffung technisch ausgefeilter Waffen erforderlich waren. Zudem wuchs die Zahl der in Schlachten geführten Krieger. Während im frühen Mittelalter die üblichen Kriegerzahlen nach Hunderten gemessen worden waren,70 war im 14. und 15. Jahrhundert eine Stärke von 10.000 Mann für die Armee eines Herrschers keineswegs ungewöhnlich.71 Die bei weitem höchsten Aufwendungen waren jedoch für Bau, Unterhaltung und Bewachung der Stadtmauern zu entrichten. Mitunter mussten die Stadträte Söldner aus der Umgegend anwerben, wenn sie vermeiden wollten, dass zu viele Bürger, die gerade in Kriegszeiten die Mauern zu verteidigen und instand zuhalten hatten, zum Kampf in einer Schlacht abkommandiert werden mussten.72 Das Brechen von Stadtmauern geriet zu einem der aufwendigsten und schwierigen Unternehmen in Kriegen des Mittelalters.73 Die Umorientierung der Kriegsziele und die daraus folgenden Wandlungen der militärischen Organisation hatten ihrerseits zur Folge, dass die öffentliche und die private Sphäre sich weiter von einander trennten. Während die Demonstration von persönlicher Macht zur Bereitstellung von Sicherheit und zum Bringen von Schutz das herausragendste Merkmal des Erfolges in den Rangstreitigkeiten des frühen Mittelalters gewesen war, war beim Kampf um Kontrolle über Land die Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen Einzelner nicht mehr unbedingt möglich. Im Gegenteil, der Kampf um Land konnte konstruiert werden als Handlung, die den Sicherheitsinteressen Einzelner als Kombattanten wie Nicht-Kombattanten entgegenstand.74 Kriegführung als Kampf um Land konnte daher wahrgenommen werden als Herrschaftsakt, der mit den Statuten des Stadtrechts und mit den Grundsätzen der Legitimität von Herrschaft unvereinbar war. Kriege konnten allein dann noch als gerecht anerkannt werden, wenn sie öffentliche Akte waren, das heißt, alle betrafen, und in dieser Eigenschaft 70

Siehe dazu: Halsall, Warfare (wie Anm. 21), S. 58–59. Siehe dazu: Michael R. Prestwich, Armies and Warfare in the Middle Ages. The English Experience, New Haven und London: Yale University Press 1996, S. 312. 72 Siehe dazu: Harald Kleinschmidt, Logistik im städtischen Militärwesen des späten Mittelalters. Dargestellt an Beispielen aus süddeutschen Städten im Vergleich mit dem Ordensland Preußen, in: Mediaevalia historica Bohemica 4. Jg. (1995), S. 232–263. 73 Siehe dazu: Jim Bradley, The Medieval Siege, Woodbridge: Boydell Press 1992, S. 241–295. Heinrich Koller, Die mittelalterliche Stadtmauer als Grundlage städtischen Selbstbewußtseins, in: Stadt und Krieg, hg. von Bernhard Kirchgässner und Günter Scholz, Sigmaringen: Thorbecke 1989, S. 9–25 (Stadt in der Geschichte. 15.). Michael Toch, The Medieval German City under Siege, in: The Medieval City under Siege, hg. von Ivy A. Corfis und Michael Wolfe, Woodbridge: Boydell Press 1995, S. 45–46 [Nachdruck, ebenda 1999]. 74 Zu kriegskritischen Texten siehe Bibliografie Nr. 41. 71

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getrennt werden konnten von den privaten Zielen, die einzelne Träger von Herrschaft verfolgen mochten. Anders ausgedrückt: Das private Streben eines Herrschers oder der städtischen Obrigkeit nach Maximierung von Reichtum und Macht konnte nicht mehr als Grund für einen öffentlichen Krieg anerkannt werden, durch den Leben und Eigentum Einzelner gefährdet werden konnten. Folglich trug die politische Theorie, die in den Städten des späten Mittelalters gepflegt wurde, wesentlich dazu bei, dass die Stadt als Hort des Friedens zum Vorbild für politische Herrschaft überhaupt werden konnte.75 Innerhalb der Stadtmauern konnte Frieden erhalten werden, wenn die Regierung Recht und Gebrauch folgte und die Bewohner wechselseitig ihre Rechte, Pflichten und ihr Eigentum respektierten. Folglich musste Eigentum an Grund und Boden sorgsam registriert werden, und die Stadträte unternahmen es, die Rechte und Pflichten der Bewohner durch gesetztes Recht zu regeln.76 Jenseits der Stadtmauern gingen die Stadträte dazu über, mit ihren Nachbarn Abkommen über freies Geleit und die Garantie der Sicherheit auf den Straßen zu schließen.77 Auch verabredeten sie ebenso wie auch mindermächtige Reichsstände Bündnisse zur Bewahrung von Frieden und Recht.78 Zudem entwickelte die Kirche spezifische Kontrollinstanzen wie etwa die Inquisition, die das tägliche Verhalten der Gläubigen überwachten. Alle diese Strategien waren öffentlich in dem Sinn, dass sie von den privaten Bestrebungen Einzelner getrennt waren und als diesen widersprechend wahrgenommen werden konnten. Sie waren öffentlich im Sinn John Deweys, solange sie für alle von Bedeutung waren.79 75 So bestand der Ulmer Chronist Sebastian Fischer aus der Mitte des 16. Jahrhunderts darauf, dass die Stadt Ulm in ihrer gesamten Geschichte niemals einen Krieg geführt habe außer in vermeintlichen Notstandssituationen. Siehe: Sebastian Fischer, Chronik besonders von Ulmischen Sachen [München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 3091, fol. 267], hg. von Karl Gustav Veesenmeyer, Ulm: Nübling 1896, S. 141 (Ulm und Oberschwaben. 5–8.). 76 Zu den Grundstücksregistern der City of London siehe: Lena Cowen Orlin, Boundary Disputes in Early Modern London, in: Material London. ca. 1600, hg. von Lena Cowen Orlin, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2000, S. 345–376. Zu dem Häuserregister von Regensburg siehe: Helmut Wolff, Regensburgs Häuserbestand im späten Mittelalter, in: Studien und Quellen zur Geschichte Regensburgs, 3. Bd. Regensburg: Mittelbayerische Druckerei- und Verlags-Gesellschaft 1985, S. 91–298. Zur nürnbergischen Gesetzgebung zu Durchgangsrechten siehe: Baader, Nürnberger Polizeiordnungen (wie Anm. 67), S. 290–291. 77 Zum Beispiel erlaubte die Pax Bavarica vom Jahr 1244 freies Geleit zum Gerichtsort für einen Gebannten. Siehe: Monumenta Germaniae Historica, Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, hg. von Ludwig Weiland, 2. Bd., Hannover: Hahn 1896, Nr. 427, S. 570. Zur Geschichte des freien Geleits in Bezug auf Städte siehe Bibliografie Nr. 33. 78 Zu Bündnissen unter Reichsständen siehe Bibliografie Nr. 34. 79 John Dewey, The Public and Its Problems, Denver: Swallow 1927, S. 12–13.

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2. Die Legitimität von Herrschaft Gegen den anfänglichen Argwohn von Seiten der Theologie und der Kirchenrechtslehre war der Vertrag das in den Städten am meisten verwendete Instrument zur Regelung von Rechtsverhältnissen. Kaufleute und Handwerker benutzten Verträge zur Festlegung oder gar Festschreibung der Bedingungen, unter denen sie Geschäfte untereinander eingingen. Gilden und Handelskompanien bildeten Vertragsgruppen oder Einungen. Solche Einungen hatten zwar schon im frühen Mittelalter bestanden, damals aber ein hohes Maß an Autonomie gehabt. Nunmehr waren auch die städtischen Vertragsguppen dem Stadtrecht und den speziellen Satzungen der Obrigkeiten unterworfen. Religiöse Gemeinschaften, Ordensleute, Studenten und Gelehrte bildeten weitere Vertragsgruppen, die das Leben in den Städten prägten. Auch sie unterlagen nunmehr gesetztem Recht. Schließlich legte man das Rechtsinstrument des allgemeinen Vertrags auch der formalen Bestimmung der Beziehungen zwischen Obrigkeit und Bürgern zugrunde und erhob damit die Stadt zur Schwurgemeinschaft ihrer am politischen Prozess teilnehmenden Bewohner. Nach dieser Bestimmung entstanden Städte aus dem Willen ihrer Bewohner als von Menschen gewollte politische Gemeinschaften.80 Die Arena des Politischen war die Sphäre des Öffentlichen in den Städten. Stadträte galten als Eigner uneingeschränkt zugänglicher und in diesem Sinn öffentlicher Straßen und Plätze. Die öffentliche Sphäre wurde somit territorialisiert, die „Freiheit“ zum Namen für öffentliche Straßen und Plätze. Diese wurden über Handelsplätze hinaus zu Räumen der regulären Kommunikation erweitert. 80 Zum Beispiel das Freiburger Gründungsprivileg, Präambel, Art. 1, Art 5, hg. von Friedrich Keutgen, Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte, Berlin: Felber 1899), Nr. 133, S. 117, 118 (Ausgewählte Urkunden zur deutschen Verfassungsgeschichte. 1.) [Neuausg., ebenda 1901; Nachdruck, Aalen: Scientia 1965]. Und das Wormser Stadtrecht vom Jahr 1190, in: ebenda, S. 109. Für Freiburg versprach der Stadtgründer Konrad von Zähringen die Gewährung von Frieden und Sicherheit des Wegs [Art. 1] gegen Treue der Bürger [Art. 5]. Für die Konstitution der Stadt als Schwurgemeinschaft ihrer Bewohner siehe als Beispiel den Verbundbrief der Stadt Köln vom 14. Sepember 1396, insbes. Art. 5, hg. von Manfred Huiskens, Kölns Verfassung für 400 Jahre. Der Verbundbrief vom 14. September 1394, in: Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, 2. Bd.: Spätes Mittelalter und Frühe Neuzeit, hg. von Joachim Deeters und Johannes Helmrath, Köln: Bachem 1996, S. 14. Zu weiteren Belegen für Verfahren der Konstitution von Städten siehe Bibliografie Nr. 35. Zum Widerstand von Theologen und Kanonisten gegen die städtischen Verträge, die sie illegitimen Verschwörungen gleichsetzten siehe: Richard von Devizes, De rebus Ricardi primi, hg. von John Tate Appleby, London: HMSO 1886, S. 436 (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores. 82. = Chronicle of the Reigns of Stephen, 3. Bd.) [zuerst hg. von Joseph Stevenson, London: English Historical Society 1838); Nachdruck dieser Ausg., Vaduz: Kraus 1964; Neuausg. der Ausg. von Appleby u. d. T. De tempore Richardi primi, London: Nelson 1963].

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Mit der Rezeption der aristotelischen politischen Philosophie im Abendland seit dem 14. Jahrhundert begannen Theoretiker diese städtischen Verträge auch als Modell der Gestaltung der Beziehungen zwischen Herrschern und Beherrschten in den ländlichen Territorien sowie größeren Herrschaftsgebieten zu verwenden. Für die Theoretiker wurden diese Beziehungen zum Problem, seitdem die Städte faktisch als Schwurgemeinschaften aus menschlichem Willen bestanden. Seither bestand keine Möglichkeit mehr, die Entstehung politischer Gemeinschaften ausschließlich aus dem Ratschluss der Gottheit abzuleiten. Wenn aber de facto Menschen politische Gemeinschaften aus eigenem Willen errichten konnten, konnte dieser Wille nicht allein auf die Errichtung von Städten begrenzt werden, sondern musste allgemeine Gültigkeit für alle Sorten politischer Gemeinschaften erhalten. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts bemühte sich der gelehrte Abt Engelbert von Admont in der Steiermark, die letztlich an Rom anknüpfende Theorie der gottgewollten Herrschaft von Menschen über Menschen mit dem aristotelischen Postulat zu vereinbaren, dass Menschen aus eigenem Willen politische Gemeinschaften als Institutionen von Herrschaft würden errichten können, wenn sie dies wollten. Er griff dafür auf das Argument zurück, dass die Gottheit den Menschen die Möglichkeit gegeben habe, eigene politische Gemeinschaften als Herrschaftsinstitutionen mit Hilfe eines Vertrags (pactum) zu errichten. In solchen hypothetischen Verträgen seien die Bedingungen festgelegt, unter denen die Beherrschten dem Willen der von ihnen beauftragten Herrscher folgen müssten. Die Hauptbedingung, unter der Engelbert zufolge die Menschen einen solchen Vertrag zu schließen bereit gewesen sein konnten, sei ihr Bedürfnis nach Sicherheit.81 Entgegen der älteren Begründung von Herrschaft aus dem Mythos vom Sündenfall sowie auch gegen die seit dem frühen 13. Jahrhundert bestehende Praxis von Vereinbarungen zwischen Herrschern und landständischem Adel zur Sicherung der Privilegien der letzteren bestimmte Engelberts Herrschaftsvertragslehre die Sicherheit bereitstellende und Schutz gewährende Herrschaft als legitime Herrschaft.82 Da Herrschaft häufig auf Bevölke81

Engelbert, De ortu (wie Anm. 5), S. 755. Beispielsweise in den Konstitutionen von Melfi Friedrichs II. vom September 1231, Prooemium, hg. von Wolfgang Stürner, Die Konstitutionen Friedrichs II. für das Königreich Sizilien, Hannover: Hahn 1996, S. 147 (Monumenta Germaniae Historica, Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, Bd. 2, Supplementum.). Zu den Konstitutionen siehe: Arno Buschmann, Mainzer Landfreide und Konstitutionen von Melfi, in: Festschrift für Rudolf Gmür zum 70. Geburtstag, hg. von Arno Buschmann, Franz-Ludwig Knemeyer, Gerhard Otte und Werner Schubert, Bielefeld: Gieseking 1983, S. 369–382. Gert Melville, Ein Exkurs über die Präsens der Gewalt im Mittelalter, in: Königliche Gewalt – Gewalt gegen Könige. Macht und Mord im spätmittelalterlichen Europa, hg. von Martin Kintzinger und Jörg Rogge, Berlin: Duncker & Humblot 2004), S. 126 (Zeitschrift für Historische For82

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rungsgruppen bezogen war, die in einem mehr oder weniger deutlich abgegrenzten Raum lebten, erzeugte die Herrschaftsvertragslehre ihrerseits ein Bild von der Welt, das eine Vielzahl partikularistisch nebeneinander bestehender politischer Gemeinschaften zeichnete. Diese Theorie trat von Anbeginn an in zwei Varianten auf. Einerseits nahmen Theoretiker wie Engelbert an, dass der Vertrag, einmal abgeschlossen, nicht wieder kündbar sei, dass mithin eine einmal eingesetzte Regierung auf Dauer Bestand haben müsse.83 Andererseits argumentierten Theoretiker wie John Quidort von Paris, dass der Vertrag auflösbar sei, wenn die Regierung ihren Pflichten aus dem Vertrag nicht nachkomme.84 Anhänger jedweder Variante der Herrschaftsvertragslehre unterschieden nunmehr streng zwischen Amt und Amtsträger.85 Die Folge war, dass der hypothetische Herrschaftsvertrag nicht mehr beim Tod jedes Herrschers oder dem Ende einer Regierung neu geschlossen zu werden brauchte, auch wenn es üblich war, dass die Beherrschten einem neu ins Amt gekommenen Herrscher zu huldigen hatten.86 In den Städten begrenzte man die Amtszeit der Bürgermeister und schuf Regeln für die Wiederwahl, sofern sie überhaupt möglich war. Städtische Herrschaft begann, sich über die Stadtmauern hinaus auf das Land auszudehnen, indem die Räte größerer Städte zu Herren über Dörfer und kleiner Städte im Umland aufstiegen. Immer mehr Städte trugen daher Herrschaft über Territorien. Die Macht territorialer Herrscher schung. Beiheft 33.). Zur Ableitung weltlicher Herrschaft aus dem Sündenfall siehe: Wolfgang Stürner, Peccatum und Potestas. Der Sündenfall und die Entstehung der herrschaftlichen Gewalt im mittelalterlichen Staatsdenken, Sigmaringen: Thorbecke 1986 (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters. 11.). Bernhard Töpfer, Urzustand und Sündenfall in der mittelalterlichen Gesellschafts- und Staatstheorie, Stuttgart: Hiersemann 1999, S. 353–415 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters. 45.). Zu den herrscherlich-landständischen Vereinbarungen siehe: Herrschaftsverträge des Spätmittelalters. Die Goldene Bulle Andreas’ II. von Ungarn 1222. Die aragonesischen Privilegien von 1283 und 1287. Die Joyeuse Entrée von Brabant 1356. Der Vergleich des Markgrafen Albrecht von Brandenburg 1472. Der Tübinger Vertrag 1514, hg. von Werner Näf, Bern: Lang 1951 (Quellen zur neueren Geschichte. 17.) [2. Aufl., Bern: Lang 1975]. Inge-Maren Peters, Der Ripener Vertrag und die Ausbildung der landständischen Verfassung in Schleswig-Holstein, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 109. Jg. (1973), S. 306–349, 111. Jg. (1975), S. 189–208. Zur Herrschaftsvertragslehre des Mittelalters siehe Bibliografie Nr. 36. 83 Engelbert, De ortu (wie Anm. 5), S. 755. 84 Johann von Quidort, De potestate (wie Anm. 5), S. 75–78. 85 Staubach, quasi semper in publico (wie Anm. 23), S. 590, hob zu Recht hervor, dass im frühen 9. Jahrhundert die Trennung von Amt und Amtsträger lediglich in negativen Bestimmungen vorkam, die Rechtfertigungen zur Amtsenthebung unfähiger Herrscher enthielten, nicht aber positiv die Handlungsmöglichkeiten der Herrscher einschränkten. 86 Siehe dazu: André Holenstein, Die Huldigung der Untertanen, Stuttgart: Fischer 1991 (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte. 36.).

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wie auch städtischer Obrigkeiten war weder göttliches Geschenk an die Herrschaft tragende Person oder Gruppe noch notwendigerweise über ein Erbcharisma vermittelt, sondern hing am Amt.87 In der Folge der Veramtlichung der Macht trennte sich die öffentliche Sphäre als Gemeiner Nutzen zunehmend schärfer von der privaten Sphäre. Öffentliches Eigentum und Privateigentum wurden strikt getrennt und die Rechte am öffentlichen Eigentum nach Maßgabe des römischen Rechts eingegrenzt. Im 14. Jahrhundert verband Marsilius von Padua die Trennung von Öffentlichem und Privatem mit der Zuschreibung unterschiedlicher Grade von Vollkommenheit. Marsilius zufolge ist die Privatsphäre (das Haus) das Unvollkommene, da sie exklusiv sei und keinen anderen Herrrn als den Ältesten als Haushaltsvorstand erlaube. Das Dorf bilde eine Zwischenstufe. Der Dorfälteste leite die Dorfbewohnerschaft nicht mit dem privaten Anspruch auf Exklusivität des Hausherrn, wie mit väterlicher Willkür, sondern inklusiv nach Billigkeit und Vernunft. Die staatliche Herrschaft finde über größere Gesellungen statt und sei deswegen vollkommen. Sie dürfe nicht aus privater Willkür folgen. Der Herrscher müsse inklusiv die sufficientia vitae bereitstellen.88 Die Wirkungen der bürokratischen Regierung von Städten gingen über die Stadtmauern hinaus. Städte wurden im Abendland vorbildhaft für die Ausgestaltung von Herrschaft überhaupt. So versuchten auch weltliche und kirchliche Herrscher, die römische Kurie eingeschlossen, die Kontrolle über die ihnen unterstehenden Bevölkerungsgruppen zu bürokratisieren. Die Voraussetzung der Herrschaftsvertragslehre, dass Herrschaft auf der Zustimmung der Beherrschten beruhe, fand schon im 14. Jahrhundert allgemeine Gültigkeit. Abzulesen ist letztere insbesondere an den Revolten, die im 14. und 15. Jahrhundert vielerorts zur politischen Realität gehörten und zumeist aus der Unzufriedenheit mit der Herrschaft erwuchsen und Protest gegen 87

Für hier einschlägige Studien zur politischen Theorie des Spätmittelalters siehe Bibliografie Nr. 37. Zur Stadtherrschaft über ländliches Umland siehe: Rudolf Kießling, Die Stadt und ihr Land. Umlandpolitik, Bürgerbesitz und Wirtschaftsgefüge in Ostschwaben vom 14. bis 16. Jahrhundert, Köln und Wien: Böhlau 1989, S. 266–529 (Städteforschung, Reihe A, Bd. 29.). 88 Marsilius von Padua, Defensor Pacis, Dictio I, Kap. 3, Ziff. 4, (wie Anm. 5), S. 12–16. Zu Marsilius siehe: Cary J. Nederman, Community and Consent. The Secular Political Theory of Marsiglio of Padova’s Defensor Pacis, Lanham: University Press of America 1995, S. 38. Gernot Wieland, Politik und Religion. Das Friedenskonzept des Marsilius von Padua, in: Friedensethik im Spätmittelalter, hg. von Gerhard Beestermöller und Heinz-Gerhard Justenhoven, Stuttgart, Berlin und Köln: Kohlhammer 1999, S. 86–87 (Beiträge zur Friedensethik. 30.). Zur frühneuzeitlichen Diskussion über die Abgrenzung von privaten Eigentum gegen öffentlichen Besitz siehe: Andreas Knichen, De jure territorii, Hannover: Wechel 1613, S. 11–12. Zum Begriff des Gemeinen Nutzens siehe Bibliografie Nr. 38.

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die Herrschaft in Stadt und Land mit der Begründung artikulierten, die Träger von Herrschaft hätten bestehende Privilegien ignoriert oder gar zerstört.89 Eingang in die Praxis der kirchlichen Organisation fand darüber hinaus in derselben Zeit die römischrechtliche Theorie, derzufolge, was immer alle betrifft, auch von allen approbiert sein müsse.90 Diese Theorie geronn zur Ideologie der Konzilienbewegung und errichtete eine öffentliche Sphäre in der Kirche.91 Dagegen entwickelten Herrscher über größere Staaten wie die Könige von England, Frankreich oder Sizilien, Strategien zur Zentralisierung ihrer Herrschaft und bauten ihre Pfalzorte zu veritablen Hauptstädten aus. In den dort entstehenden Zentralverwaltungen waren hauptamtliche Juristen tätig, die ihre Ausbildung in den Universitäten erhalten hatten und sich eher am Vorbild des römischen Rechts orientierten als auf überkommene Privilegien der Beherrschten zu achten.92 Die Professionalisierung und Bürokratisierung der weltlichen und kirchlichen Verwaltung trug zur Verbreitung des römischen Rechts im Abendland bei, das sich als überörtliche Norm über die partikularen Gewohnheiten legte.93 3. Der Begriff der Sicherheit Die Entstehung der autodynamischen Verhaltensweise und des Individualismus veränderte den Begriff der Sicherheit. Da Macht nicht länger ausschließlich als persönliche Gabe aufgefasst werden konnte, die außergewöhnliche Personen oder übermenschliche Wesen allein über sonst hilfund schutzlose Menschen ausübten, waren die Einzelnen nunmehr öfter an89 Eine Zusammenfassung mittelalterlicher Theorien der Rebellion liegt vor in: Peter Blickle, Kommunalismus, 1. Bd., München: Oldenbourg 2000, S. 163–167. Zu Protestzeremonien siehe Bibliografie Nr. 39. Zur Vertragsrechtslehre siehe Bibliografie Nr. 40. 90 Zu Literatur über den Quod omnes tangit ab omnibus consentire debet-Grundsatz siehe Bibliografie Nr. 36. Alois Dempf, Sacrum imperium. Geschichts- und Staatsphilosophie des Mittelalters und der politischen Renaissance, München: Oldenbourg 1929, S. 31 [Nachdrucke, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1954; ebenda 1973], wandte diesen Grundsatz an zur Bestimmung der öffentlichen Sphäre im Mittelalter. 91 Zum Konziliarismus siehe die Artikelsammlungen von: Francis Oakley, Natural Law, Conciliarism and Consent in the Late Middle Ages, London: Variorum 1984; und von: Brian Tierney, Church Law and Constitutional Thought in the Middle Ages, London: Variorum 1979. 92 Siehe: Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, hg. von Roman Schnur, Berlin: Duncker & Humblot 1986. 93 Siehe: Paul Koschaker, Europa und das Römische Recht, München: Biederstein 1947. Dieter Wyduckel, Ius Publicum. Grundlagen und Entwicklung des öffentlichen Rechts und der deutschen Staatswissenschaft, Berlin: Duncker & Humblot 1984 (Schriften zum öffentlichen Recht. 471.).

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gehalten, die ihnen wichtige Sicherheit selbst bereitzustellen und den ihnen notwendigen Schutz selbst zu bringen. Sie waren zudem aufgefordert, selbst für ihr Wohlergehen zu sorgen und den Erfolg ihres Handelns am Grad der Zufriedenheit mit ihrer Sicherheit, ihrem Schutz und ihrem Wohlstand zu messen. Die Sicherheit bereitstellende und Schutz bringende Macht der Herrscher und Regierungen beschränkte sich zunehmend darauf, den rechtlichen und politischen Rahmen für erfolgreiches Handeln der Einzelnen zu gewährleisten. Mit der abnehmenden Autonomie der Verwandtschafts-, Nachbarschafts- und Vertragsgruppen gingen immer öfter kirchliche Einrichtungen dazu über, für die eschatologische Dimension des Sicherheitsbegriffs zu sorgen. Theoretiker der Erziehung stellten Argumente dafür bereit, dass Personen als Individuen sich selbst um die Erfüllung ihrer Sicherheits- und Schutzbedürfnisse zu bemühen hätten, anstatt um Hilfe von außen nachzusuchen.94 Sie forderten, dass die Einzelnen ihre Körper trainieren sollten, damit sie physisch stark würden, und dass Eltern ihre Kinder dazu anhalten sollten, ihre eigene Individualität auszubilden.95 Nichts desto weniger blieb der Begriff der Sicherheit umfassend und galt als zu komplex, als dass Einzelne erwarten konnten, ausschließlich selbst für ihre Sicherheit und ihren Schutz sorgen zu können. So bestimmte im 12. Jahrhundert Bischof Johann von Salisbury das Militär als die „bewaffnete Hand des Staates“, die eng mit den Institutionen des Gerichtswesens als der „unbewaffneten Hand des Staates“ kooperieren solle. Diese Kooperation solle dazu beitragen, dass „Schutz für das Leben, die Hoffnungen und die Nachwelt der arbeitenden Menschen gegen Feinde“ erbracht werden könne.96 Der Markt für die Bereitstellung von Sicherheit und Schutz erlaubte weiterhin Wettbewerb unter verschiedenen Sicherheitsanbietern. 94 Zu Quellen für diese autodynamische Erziehungstheorie siehe: Egidio Colonna [Aegidius Romanus], De regimine principum libri I–III, lib. II, cap. 2,5, Rom: s. n. 1607 [Nachdruck, Aalen: Scientia 1967; auch hg. von Klaus Arnold, Kind und Gesellschaft im Mittelalter, Paderborn: Schöningh 1980, S. 140]. Aeneas Sylvius Piccolomini [Papst Pius II], [Brief an König Ladislaus V. Postumus von Ungarn, 1450], in: Piccolomini, Der Briefwechsel, Nr. 40, hg. von Rudolph Wolkan, Wien: Hölder 1912, S. 103–158 (Fontes rerum Austriacarum, Abteilung II, Bd. 67.). Leon Battista Alberti, Della famiglia, hg. von Arnold (wie oben), S. 147. 95 Siehe insbesondere: Alberti, Della famiglia, hg. von Arnold (wie Anm. 94), S. 147. Dazu siehe: Mathias Beer, Eltern und Kinder des späten Mittelalters in ihren Briefen, Nürnberg: Stadtarchiv 1990 (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte. 44.). Hans Bischlager, Umwelterfahrung und Körpererfahrung, Frankfurt: Lang 1984 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 22, Bd. 93.). 96 Johann von Salisbury, Policraticus, lib. V, cap. 6, lib. VI, cap. 1–21, hg. von Clement Charles Julian Webb, Oxford: Clarendon 1909, S. 548d–54a, 587d–620a [Nachdrucke, Frankfurt: Minerva 1965; New York: AMS Press 1979]. Siehe dazu: Anton-Hermann Chroust, The Corporate Idea and the Body Politic in the Middle Ages, in: Review of Politics 9. Jg. (1947), S. 438, 448.

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In diesem Sicherheitsmarkt boten kirchliche Einrichtungen Sicherheit im Leben nach dem Tod durch Abhaltung von Gottesdiensten, durch blühenden Ablasshandel und, unter Berücksichtigung ganz praktischer Belange, mit der Sammlung von Kollekten zum Bau von Brücken. Brücken als Bauwerke sollten sinnbildlich stehen für die Brücke zum Paradies im Jenseits. Man gab vor, dass die Seelen von Menschen, die zu Lebzeiten eifrig für den Bau von Brücken gespendet hatten, die gefährlich enge Jenseitsbrücke einfacher würden überqueren können.97 Stifte betonten ihre Immunität gegenüber den Stadträten und begannen innerstädtische religiöse Aufgaben zu übernehmen, meist als adlige oder bischöfliche Gründungen.98 Hospitäler verwandelten sich in Stätten der Pflege von Kranken und Alten.99 Hinzu traten im weltlichen Bereich Versicherungen, die privatrechtlich firmierende Kompanien von Kaufleuten einrichteten, um das Geschäftsrisiko im Fernhandel zu mindern. Insbesondere gefragt waren Versicherungen für den Fall, dass Handelsschiffe verloren gehen sollten.100 Handwerkergilden setzten Regeln um, die unfairem Wettbewerb unter den Produzenten in einer Stadt entgegenwirken sollten, und richteten Sterbehäuser ein.101 Im 15. Jahrhundert wartete der Basler Kirchenrechtslehrer Hermann Peter von Andlau mit der Forderung auf, dass der Kaiser für die Sicherheit der Benutzer von Reichsstraßen verantwortlich sei. Denn die Sicherheit auf den Straßen sei ein Schmuck für den Frieden, da sie diejenigen befriede, die das öffentliche Leben störten. Öffentliche Straßen seien allen zugänglich, meinte Peter von Andlau, nicht nur nach den Gesetzen der Nationen, sondern auch nach dem Naturrecht. Denn keiner dürfe öffentliche Straßen allein für sich in Anspruch nehmen.102 Die Trennung der Sicherheitsregime für öffentliche und 97 Siehe dazu: David Campbell, Writing Security, Minneapolis: University of Minnesota Press 1998, S. 43–51. Peter Dinzelbacher und Harald Kleinschmidt, Seelenbrücke und Brückenbau im mittelalterlichen England, in: Numen 32. Jg. (1984), S. 242–287. 98 Siehe Bibliografie Nr. 18. 99 Zur Medizinalisierung von Hospitälern siehe: Sozialgeschichte mittelalterlicher Hospitäler, hg. von Neithard Bulst und Karl-Heinz Spieß, Ostfildern: Thorbecke 2007 (Vorträge und Forschungen, herausgegeben vom Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte. 65.). Dieter Jetter, Das europäische Hospital, Köln: DuMont 1986, S. 34–82. 100 Zu diesen Versicherungen siehe: Florence Edler de Roover, Early Examples of Marine Insurance, in: Journal of Economic History 5. Jg. (1945), S. 172–200. 101 Siehe: Rudolf Wissell, Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit, 2. Aufl., hg. von Ernst Schraepler und Harald Reissig, 6 Bde., Berlin: Colloquium 1971–1988 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin. 7.) [zuerst, Berlin: Wasmuth, 1929]. 102 Hermann Peter von Andlau, Libellus de Caesarea monarchia, Tit. XVIII, hg. von Joseph Hürbin, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtgeschichte, Germanistische Abteilung 13. Jg. (1892), S. 212–213. Ähnlich: Antonio de Rosellis, Mo-

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private Räume als gegensätzliche Sphären war in dieser Zeit bereits anerkanntes Gemeingut der Rechtslehre geworden. Im Rahmen dieser Sicherheitsregime spielte Krieg eine wichtige, aber keineswegs die alles andere beherrschende Rolle. Mit der Zunahme der Zahl der Kombattanten und dem häufiger werdenden Einsatz teurer, technisch ausgefeilter und daher für die Krieger gefährlicherer Waffen nahm auch die Zahl der Kriegstoten zu. Die steigenden Kosten der Kriege und die Zunahme der Zahl der Kriegsopfer unter den Kombattanten ließ unter Theoretikern und Theoretikerinnen des Militärs und der Politik kritische Stimmen laut werden.103 Sie vertraten ein neues Bild des Krieges. War im frühen Mittelalter Krieg ein Kampf um Macht über konkurrierende Gruppen gewesen, der von den Gruppenangehörigen im eigenen Interesse zu unternehmen war, erschien Krieg nunmehr den Kritikern im 14. und 15. Jahrhundert als Handlung, die dem Sicherheitsbedürfnis der Einzelnen als Kombattanten und Nicht-Kombattanten entgegenstand.104 Das neue literarische Genus der Friedensklage wurde im 15. Jahrhundert populär und beschwor die Schrecken des Krieges.105 Schon zuvor hatten weltliche Herrscher und narchia siue tractatus de potesta imperatoris et Papae, Pars I, cap. 32. 56, hg. von Melchior Goldast von Haiminsfeld, Monarchia Sancti Romani imperii, Hannover: s. n., 1611, S. 268, 282–284 [Nachdruck, Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1960]. 103 Zur kriegskritischen Literatur siehe Bibliografie Nr. 41. 104 Ein besonders strenger Kritiker war Honoré Bonet [Bouvet], L’arbre des batailles, Ms Paris, Bibliothèque nationale de France, Fonds franç. 1274. Erstdruck, Paris: Du Pré 1493 [Neudruck, hg. von Ernest Nys, Brüssel, London, Leipzig und New York: Merzbach 1883; weitere Ausg. von George W. Coopland, Liverpool: Liverpool University Press 1949; englische Fassung: Bonet, Gilbert of the Haye’s Prose Manuscript. The Buke of the Law of Armys or Buke of Battalis. Translated from the French l’Arbre des battailes, 1. Bd., hg. von John Horne Stevenson, Edinburg und London: Blackwood 1901 (Scottish Text Society. 44.)]. Bonet wertete die Schrift von Giovanni di Legnano, Tractatus de bello, de repressaliis et de duello, hg. von Thomas Erskine Holland, Oxford: Oxford University Press 1917 (Classics of International Law. 8.) aus. Siehe aber auch die häufig unterschätzte Kriegskritikerin Christine de Pizan, The „Livre de la Paix“, hg. von Charity Cannon Willard, Part III, Den Haag: Mouton 1958, S. 37–39. Zu Christine de Pizan siehe Bibliografie Nr. 64. 105 Zu diesem literarischen Genus siehe: Otto Herding, Humanistische Friedensideen. Am Beispiel zweier „Friedensklagen“, in: Die Humanisten in ihrer politischen und sozialen Umwelt, hg. von Otto Herding und Robert Stupperich, Boppard: Boldt 1976, S. 7–34 (Deutsche Forschungsgemeinschaft. Kommission für Humanismusforschung. Mitteilung 5.). Dietrich Kurze, Zeitgenossen über Krieg und Frieden anläßlich der Pax Paolina (röm. Frieden) von 1468, in: Krieg und Frieden im Horizont des Renaissancehumanismus, hg. von Franz Josef Worstbrock, Weinheim: Acta humaniora 1986, S. 69–103 (Deutsche Forschungsgemeinschaft. Kommission für Humanismusforschung. Mitteilung 13.). Kurze, Krieg und Frieden im mittelalterlichen Denken, in: Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher

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kirchliche Würdenträger die Not erkannt und versucht, die Kriegsbereitschaft einzelner Kombattanten und den Gebrauch exzessiv letaler Waffen durch Kriegsartikel und Verlautbarungen kirchlicher Konzilien einzugrenzen. So erließen Herrscher bereits im 12. Jahrhundert öffentlich-rechtliche Regeln für den Kampf in der Schlacht und verlangten, dass die Kombattanten ihre Bereitschaft zur Einhaltung dieser Regeln beschwören sollten.106 Zur selben Zeit erließen kirchliche Konzilien Verbote des Einsatzes bestimmter Waffengattungen, wie zum Beispiel Armbrüste, da man glaubte, diese Waffen führten zu unvertretbaren, da schwer heilenden Verletzungen unter den Kombattanten.107 Obschon keine dieser Maßnahmen tatsächlich dazu führte, dass Kriege weniger brutal ausgefochten wurden und die Zahl der Kriegstoten zurückging, trugen sie doch dazu bei, dass die Notwendigkeit der Bereitstellung von Sicherheit und der Gewährung von Schutz für die Kombattanten und Nicht-Kombattanten aller beteiligten Parteien als Grundlage der Bemessung der Legitimität von Herrschaft im allgemeinen und des Kriegführens im besonderen heranzuziehen war. In der dieses Bewusstsein reflektierenden Debatte kam die augustinische Theorie des gerechten Krieges erneut zu hohem Ansehen,108 da sie diejenigen Kategorien bereitstellte, nach denen Kriegsdienst angesichts der Wahrscheinlichkeit letaler Folgen für die Kombattanten auf legitime Weise eingefordert werden konnte. Der Sicherheitsbegriff blieb weiterhin umfassend.109 Seit dem Neuzeit, hg. von Heinz Duchhardt, Köln und Wien: Böhlau 1991, S. 1–44 (Münsterische Historische Forschungen. 1.). Zur Geschichte des Irenismus im späten Mittelalter und im 16. Jahrhundert siehe Bibliografie Nr. 42. 106 Siehe dazu die Textsammlung von: Wilhelm Beck, Die aeltesten Artikelsbriefe für das deutsche Fußvolk, München: Lindauer 1908. 107 Das Zweite Laterankonzil (can. 29) erließ im Jahr 1139 ein Verbot der Armbrüste mit eben dieser Begründung. Abdruck in: Carl Joseph Hefele, Histoire de conciles d’après les documents originaux, 1. Bd., Paris: Letouzey et Ané 1907, S. 442 [Nachdruck, Hildesheim und New York: Olms, 1973)]. Später fand das Verbot seinen Weg in die Decretalia Papst Gregors IX. von 1234 und wurde dadurch Bestandteil des Kirchenrechts. Selbst wenn das Verbot sein Ziel verfehlte, die Ausbreitung des Gebrauchs der Armbrüste nicht einzuschränken vermochte, belegte es doch die Absicht und Anstrengungen kirchlicher Instanzen, den Krieg zu begrenzen und für die Kombattanten Schutz zu gewährleisten. Siehe dazu: James Turner Johnson, Just War Tradition and the Restraint of War. A Moral and Historical Inquiry, Princeton: Princeton University Press 1981, S. 128. Kurze, Krieg (wie Anm. 105), S. 35. Theo Reintges, Ursprung und Wesen der spätmittelalterlichen Schützengilden, Bonn: Röhrscheid 1963, S. 45–46 (Rheinisches Archiv. 58.). 108 Thomas von Aquin, Summa theologiae, Secundae secunda, cap. 2, qu 40, ar 1–4, hg. von Roberto Busa, SJ, Sancti Thomas Aquinatis opera omnia, 2. Bd. (Stuttgart: Frommann-Holzboog, 1980), S. 579–580. 109 Zu mittelalterlichen Theorien über den gerechten Krieg siehe Bibliografie Nr. 43. In seiner Theorie der Institutionalisierung der souveränen Staates behauptet mit Blick auf Frankreich unter den Kapetingern Hendrik Spruyt, The Sovereign

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12. Jahrhundert verbanden sich Friede und Stabilität (tranquillitas) mit Sicherheit und Schutz nicht allein in den Traktaten der Theoretiker, sondern auch in Rechtstexten. So bestätigte Kaiser Konrad III. einer Reihe von Klöstern Sicherheit und ewigen Frieden in der Nutzung ihrer Rechte und sein Nachfolger Friedrich I. tat es ihm gleich.110

State and Its Competitors, Princeton: Princeton University Press 1996, S. 84–86 [zuerst, ebenda 1994], dass Souveränität nicht aus der Kompetenz des französischen Königs als Schutzgewährer abgeleitet werden könne. Dies sei nicht möglich, da unter den Kapetingern die Streitkräfte nicht hinreichend institutionalisiert gewesen seien. Er verblieb bei dieser Argumentation ganz im Bereich des militärischen Sicherheitsbegriffs des 19. und 20. Jahrhunderts. 110 Die Urkunden Konrads III. und seines Sohnes Heinrich, Nr. 249 (April/Mai 1151) für das Kloster Liesborn und das Kloster St. Maria Überwasser in Münster, hg. von Friedrich Hausmann, Wien, Köln und Graz: Böhlau 1969, S. 433. Die Urkunden Friedrichs I., Nr. 130 (18. Dezember 1155) für das Kloster Hördt, 1. Bd., hg. von Heinrich Appelt, Hannover: Hahn 1975, S. 218 (Monumenta Germaniae Historica, Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser. 9.). Siehe auch: ebenda, Nr. 7 (April 1152) für das Kloster Liesborn und das Kloster St. Maria Überwasser in Münster, S. 14. Ebenda, Nr. 71 (24. Februar 1154) an das Kloster Schaffhausen, S. 132. Friedrich I. stellte ebenso die Besucher des Markts in Locarno unter seinen Schutz, in: Urkunden, 2. Bd. (wie oben, 1979), Nr. 469 (9. Oktober 1164), S. 381, und versprach in seinem Diplom für das Kloster Borgo S. Sepolcro (6. November 1163), er wolle die „res publica“ reformieren, um für den „status imperialis“ zu sorgen unter dem Gebot „nostre tranquillitatis“, in: Urkunden, 2. Bd. (wie oben, 1979), Nr. 409, S. 290. Weitere Zeugnis zu Formeln von Frieden und Sicherheit sind erschlossen in: Friedrich Hausmann und Alfred Gawlik, Arengenverzeichnis zu den Königs- und Kaiserurkunden von den Merowingern bis zu Heinrich VI., München: Monumenta Germaniae Historica 1987, s. v. pax (Monumenta Germaniae Historica. Hilfsmittel. 9.). Heinrich Fichtenau, Arenga, Graz und Köln: Böhlau 1957, S. 69–71, 75 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband 18.). Ähnliche Vorschriften sind nachgewiesen in den Landfrieden, die seit dem 14. Jahrhundert belegt sind. Siehe: Landfriedensbündniß (7. Februar 1393), in: Codex diplomaticus Saxoniae regiae, 1. Haupttheil, Abteilung B, 1. Bd.: Urkunden der Markgrafen von Meißen und Landgrafen von Thüringen. 1381–1395, hg. von Hubert Ermisch, Leipzig: Teubner 1899, S. 351. Zur Terminologie siehe: Hans Hattenhauer, Pax et iustitia, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987, S. 48–51 (Berichte aus den Sitzungen der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e.V. Hamburg. Heft 3.). Ulrich Meier, Pax et tranquillitas. Friedensidee, Friedenswahrung und Staatsbildung im spätmittelalterlichen Florenz, in: Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter, hg. von Johannes Fried, Sigmaringen: Thorbecke 1996, S. 489–523 (Vorträge und Forschungen, herausgegeben vom Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte. 43.). Dolf Sternberger, Die Stadt und das Reich in der Verfassungslehre des Marsilius von Padua, Wiesbaden: Steiner 1981, S. 91 (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt am Main, 18. Bd., Nr. 3.).

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IV. Leben in Territorien. Der Erfolg in der Bereitstellung von Sicherheit und im Bringen von Schutz als Zeugnis institutioneller Macht 1. Das Wachstum der Bürokratien Im späten Mittelalter war der Okzident ein Nachzügler in der Bürokratisierung und Territorialisierung von Herrschaft. Seit dem 13. Jahrhundert ging die päpstliche Kurie voran, indem sie an römische Verwaltungsverfahren der Spätantike anknüpfte, und steigerte die Rationalisierung und Wirksamkeit der Erhebung ihrer Einkünfte.111 Im 14. und 15. Jahrhundert folgten die königlichen Verwaltungen in England, Frankreich und Skandinavien,112 im 15. und 16. Jahrhundert schlossen sich die Herrscher nachrangiger Territorien in Zentral- und Südosteuropa113 sowie die kaiserliche Verwaltung an.114 Im östlichen Mittelmeerraum hingegen führte die byzantinische Herrschaft die spätantik-römische Verwaltungspraxis bis zum Ende des Mittelalters fort. Obschon die territoriale Reichweite der byzantinischen Herrschaft seit den Kreuzzügen schrumpfte und letztendlich im Wesentlichen auf die Stadt Byzanz begrenzt war, blieb Byzanz als Zentrum und Repräsentant des Römischen Reiches als Vorbild über die Grenzen der byzantinischen Herrschaft hinweg einflussreich. Dieser Einfluss zeigte sich in der Übernahme byzantinischer Verwaltungspraxis und militärischer Organisation durch muslimische Herrscher im östlichen Mittelmeerraum,115 die die Territorialisierung ihrer Herrschaft frühzeitig vorantrieben.116

111 Siehe: Margaret Levi, Of Rule and Revenue, Berkeley, Los Angeles und London: University of California Press 1988, S. 95–121. Brigide Schwarz, Römische Kurie und Pfründenmarkt im Spätmittelalter, Berlin: Duncker & Humblot 1993. 112 Siehe: Histoire comparée de l’administration, hg. von Werner Paravicini und Karl Ferdinand Werner, München und Zürich: Artemis 1980 (Beihefte der Francia. 9.). Deutsche Verwaltungsgeschichte, 1. Bd., hg. von Kurt G. A. Jeserich, Hans Pohl und Georg-Christoph von Unruh, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1983. 113 Siehe: A la cour de Bourgogne. Le duc, son entourage, son train, hg. von Jean-Marie Cauchies, Turnhout: Brepols 1999. Landesherrliche Kanzleien im Spätmittelalter, hg. von Gabriel Silagi, München: Arbeo-Gesellschaft 1984 (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung. 35.). 114 Siehe: Kaiser Friedrich III. (1440–1493) in seiner Zeit, hg. von Paul-Joachim Heinig, Köln, Weimar und Wien: Böhlau 1993 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. 12.). Heinig, Kaiser Friedrich III. (1440–1493). Hof, Regierung und Politik, 3 Bde., Köln, Weimar und Wien: Böhlau 1997 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. 17.). 115 Siehe: Bernhard Rathgen, Das Geschütz im Mittelalter, Berlin: VDI-Verlag 1928, S. 601–609 [Nachdruck, hg. von Volker Schmidtchen, Düsseldorf: VDI-Verlag 1987].

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Kap. 2: Sicherheit in der Tradition des Mittelalters und der Neuzeit

Seit der Wende zum 16. Jahrhundert nutzten abendländische Herrscher die Infrastruktur ihrer Residenzstädte, wie etwa London oder Paris, um die bürokratische Kontrolle der ihnen unterstehenden Bevölkerungsgruppen zu erweitern. Zugleich begannen sie, bislang nur wenig regulierte Landstriche wie Waldungen oder die offene Landschaft stärker in die herrscherliche Verwaltung einzubeziehen. Ein Mittel dieses Ziel zu erreichen war es, Herrschaftszentren in Form von Schlössern inmitten weitschweifiger Gartenanlagen in der offenen Landschaft, das heißt außerhalb der größeren Städte, bauen zu lassen. In Frankreich ging König Franz I. mit Schlössern wie Fontainebleau voran, in England folgte Heinrich VIII. mit Hampton Court. Bald zogen die Herrscher kleinerer Territorien wie etwa der Landgraf von Hessen-Kassel mit Schloss Weißenstein bei Kassel nach. Auch reichere Adelsherren und Angehörige des städtischen Patriziats ließen sich prächtige Villen außerhalb der Städte errichten, wie etwa die Villa d’Este vor den Toren Roms. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts entwickelten sich diese Paläste zu Arenen öffentlichen Vollzugs der Herrschaft durch die Herrscher und das ihnen nahestehende mediatisierte aristokratische Gefolge. Die Wirksamkeit bürokratischer Kontrolle hing von dem Grad der Zustimmung seitens der Beherrschten ab. Herrscher auf der einen Seite, Stadträte und die Beherrschten auf der anderen konnten darüber rechten, ob die Herrscher im Rahmen legitimen Handelns verfuhren, und Meinungsverschiedenheiten konnten in gewalttätigem Protest seitens der Beherrschten ihren Ausdruck finden. Diese Proteste fanden vornehmlich in den Räumen statt, die als öffentliche, das heißt allgemein zugängliche Räume galten.117 Zudem verstärkten die Kirchen ihre Überwachung des täglichen Verhaltens sowohl durch die Inquisition auf katholischer wie durch Visitationen auf protestantischer Seite. Es war nicht leicht, die Zustimmung der Beherrschten zu Maßnahmen zu erwirken, die Herrschaft bürokratisieren sollten. Dies war vor allem deswegen der Fall, da die Beherrschten, insbesondere in vielen größeren Reichen 116 Siehe: Olivia Remie Constable, Housing the Stranger in the Mediterranean World, Cambridge: Cambridge University Press 2003, S. 40–67. 117 Zur Genese von Residenzorten siehe: Fürstliche Residenzen im spätmittelalterlichen Europa, hg. von Hans Patze, Sigmaringen: Thorbecke 1991 (Vorträge und Forschungen, herausgegeben vom Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte. 36.). Zur Mediatisierung des Adels und zur ständischen Differenzierung siehe insbesondere die Studien von: Jean Bérenger, Die Geburt des modernen Staates in Frankreich unter Heinrich IV., in: Die Bildung des frühmodernen Staates – Stände und Konfessionen, hg. von Heiner Timmermann, Saarbrücken: Dadder 1989, S. 87–108 (Forum Politik. 6. = Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen. 62.). Roland Mousnier, Les hiérarchies sociales de 1450 à nos jours, Paris: PUF 1969. Zu Protestzeremonien im Kontext öffentlicher Rituale siehe Bibliografie Nr. 39.

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und Staaten, eine Vielzahl partikularistischer kollektiver Identitäten trugen, auch und gerade wenn sie der Kontrolle eines und desselben Herrschers unterstellt waren. Die Herrscher trafen keine nachhaltigen Maßnahmen, die hätten geeignet sein können, diesen Pluralismus partikularistischer kollektiver Identitäten zu überwinden. Folglich blieben die Gruppen der Beherrschten in vielen Reichen, Staaten und Territorien bis zum Ende des 18. Jahrhunderts divers, was zur Folge hatte, dass dort verschiedene Rechtssysteme in Anwendung blieben. Insbesondere reklamierte der Adel, auch wenn er insbesondere in Frankreich, aber auch in England, immer mehr in die räumliche Nähe der territorialen Herrscher und in Abhängigkeit von diesen geriet, in der Regel Sonderprivilegien für sich selbst, von der andere Bevölkerungsgruppen ausgeschlossen bleiben sollten. 2. Die Legitimität von Herrschaft Wie der heilige Thomas von Aquin und andere Theologen des Mittelalters akzeptierten auch weltliche Theoretiker im 16. Jahrhundert die Prämisse, dass Handeln nach der Vernunft identisch sei mit dem Streben nach Zielen, die nach Maßgabe göttlichen Rechts moralisch gerechtfertigt werden konnten. Im 16. Jahrhundert gingen Theoretiker jedoch über ihre mittelalterlichen Vorläufer darin hinaus, dass sie forderten, das alles, was im Einklang mit dem Naturrecht stehe, durch Denken und nicht durch Glauben zu ermitteln sein solle. Diese Forderung gründeten sie auf die Ethik der Antike. Unter diesen Theoretikern war der Leidener Philologe Justus Lipsius am Ende des 16. Jahrhunderts einer der populärsten.118 Nach Studien über das Werk des Tacitus wandte er sich den philosophischen Schriften Senecas zu, den er als den berühmtesten Moralisten der Antike beschrieb. Aber Lipsius gab sich nicht mit bloßer Arbeit an Texten zufrieden, sondern wollte seine aus dieser Arbeit gewonnenen philosophischen Einsichten in der Politik seiner Zeit zur Geltung bringen. Er verstand demnach seine Wissenschaft auch als Mittel der Beratung von Herrschern und Regierungen und hatte bis in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts beträchtlichen Einfluss nicht nur auf die Gestaltung der politischen Theorie der Aufständischen in den Niederlanden, sondern weit in katholische Territorien hinein, insbesondere nach Frankreich und Spanien. Als Ratgeber für militärisches Handeln schrieb Lipsius: „Niemals sollt Ihr einen Angriff machen, der nicht durch Herkommen und Vernunft erlaubt ist. Denn Krieg, wie auch Frieden, hat seine Gesetze. Und Ihr müsst Krieg führen mit nicht weniger Gerechtigkeit als Mut. Und in der Tat müssen in 118

Zu Lipsius allgemein siehe Bibliografie Nr. 44.

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jedem Staat die Gesetze des Kriegs besondere Beachtung finden. Denn hastig in den Krieg zu rennen und gegen den Gegner eine Schlacht zu schlagen ist etwas Verderbliches, in der Nähe tierischen Verhaltens. Und wenn wir dieses Verhalten zulassen, kann es etwas anderes als Krieg aller Nationen geben? Und sollen wir etwa, in der Art der Barbaren, Töten mit Töten und Blut mit Blut vergelten? Wir sollten dies nicht tun. Und der folgende Gedanke möge nie in Euren Kopf dringen, dass Gerechtigkeit eine Frage der Waffen sei und dem gehöre, der Stärke besitze.“119

Mit seiner Forderung, die Herrscher mögen sich selbst unter Kontrolle haben und nicht in jeder möglichen Situation zu den Waffen greifen, begründete Lipsius eine Ethik der Mäßigung und stellte sich mit ihr den ihm zeitgenössischen Theorien der Staatsräson entgegen, die die Herrscher von den Fesseln der sonst allgemein verbindlichen Moral zu eximieren zu suchen schienen. Gegen diese Versuche vertrat Lipsius die These, dass Herrscher sich selbst einer strengeren moralischen Kontrolle unterwerfen müssten als die allgemeine Bevölkerung, da sie in besonderer Weise Verantwortung trügen. Zur Bezeichnung dieser Pflicht wählte er das für die Zeit um 1600 in dieser Bedeutung bereits altmodisch gewordene, an der klassischen Latinität orientierte Wort „majestas“, als deren „innere Größe“ er die „virtus“ bestimmte. Würden sie ihrer Verantwortung als Träger von „majestas“ in diesem spezifischen Sinn nicht gerecht, hätten nicht sie selbst, sondern andere, insbesondere die ihnen unterstellten Bevölkerungsgruppen, zu leiden.120 Dies gelte insbesondere für Kriege. Wie Thomas von Aquin forderte Lipsius die Einhaltung von Regeln in Zeiten der Kriegführung, die die Wahrscheinlichkeit von Kriegen und die Schadenswirkung von Kampfhandlungen zu reduzieren in der Lage sein konnten. Wie die Vertreter des Völkerrechts im 16. Jahrhundert positionierte auch Lipsius diese Regeln in einer metaphysischen Ebene oberhalb der Vielzahl der einzelnen Reiche, Staaten und Territorien als allgemeines, für die Menschheit als ganze ver119

Justus Lipsius, Politicorum sive de doctrina civilis libri sex, Leiden: Plantin 1589 [Nachdruck der Ausgabe von 1704, hg. von Wolfgang Weber, Hildesheim: Olms 1998; neu hg. von Jan Waszink, Assen: van Gorcum 2004, S. 540; englische Fassung: Six Bookes of Politickes or Civil Doctrine, hg. von W. Jones, London: Ponsonby 1594, S. 128; Nachdruck, Amsterdam und New York: Orbis Terrarum 1970 (The English Experience. 287.)]. 120 Niccolò Machiavelli, Il principe [1513], cap. 17, 18, in: Machiavelli, Opere, 1. Bd., Verona: Mondadori 1968, S. 51–56. Giovanni Botero, Della ragion di stato, Venedig: Gioliti 1589 [englische Fassung: The Reason of State and the Creation of Cities, New Haven: Yale University Press 1956]. Dagegen: Justus Lipsius, Monita et exempla, qui virtutes et vita principum spectant [1605], in: Lipsius, Opera omnia, 3. Bd., Wesel: Hoogenhuysen 1675, S. 298–299 [Nachdruck, Hildesheim: Olms 2003]. Ebenso: Hermann Conring, Dissertatio de majestate imperantium [1648], in: Conring, Opera, hg. von Johann Wilhelm von Göbel, 3. Bd., Braunschweig: Meyer 1730, S. 898–908 [Nachdruck, Aalen: Scientia 1970].

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bindliches System von Normen und glaubte, dieses System werde sich nach den Regeln der Vernunft letztendlich ohne Zwang von selbst durchsetzen: „Wenn wir die Natur des Menschen insgesamt in Betracht ziehen, werden alle diese einzelnen irdischen Länder unwichtig, es sei denn in Bezug auf den Körper und nicht auf den Geist oder die Seele. Denn diese lassen die ganze irdische Welt als Gefängnis erscheinen, da sie aus den höchsten Gefilden auf uns herabkommen. Aber der Himmel ist unser wahres und rechtmäßiges Land, auf das wir unser ganzes Denken ausrichten sollen, damit wir frei nach Anaxagoras denen antworten können, die uns töricht fragen, ob wir keinen Bezug zu unserem eigenen Land haben: Ja, sehr sogar, aber dort ist unser Land, und wir heben den Finger und zeigen zum Himmel.“121

In diesem Absatz benutzte Lipsius eine Reihe von Konventionen. Auf die griechische Philosophie bezog er sich, indem er Körper und Seele gegenüber stellte und mit dem Bild von Himmel und Erde verband. Aber anders als die griechischen Autoren interessierte sich Lipsius nicht für Ontologie, sondern versetzte die Lehrsätze der griechischen Philosophie aus der Ontologie in die Theorie der internationalen Beziehungen. In diesem Zusammenhang erhielten diese Lehrsätze eine völlig neue Bedeutung. Denn sie gaben nunmehr der Ansicht Ausdruck, dass es jenseits des Pluralismus der einzelnen untereinander rivalisierenden Reiche, Staaten, Territorien und Städte eine höhere Ordnung gab, die die Menschheit als ganze umfasste. Wenn Lipsius’ Diktion von der Verbindung platonischer Seelenlehre mit der anaxagoreischen Dichomotie von Himmel und Erde gelöst wird, bringt sie eine Theorie der internationalen Beziehungen zum Ausdruck, die auf die Menschheit als ganze orientiert ist und diese als moralische Einheit setzt, die den antagonistischen Reichen, Staaten, Territorien und Städten übergeordnet ist. Lipsius begründete dieses Postulat mit Verweis auf die Vernunft. Vernunft galt ihm metaphorisch als „ein wahrer Sinn von menschlichen und göttlichen Dingen“.122 Er sah die Vernunft als die letzte Quelle derjenigen Grundsätze, die die Menschheit als Ganze betreffen konnten. Seiner Meinung nach führte die Vernunft zu „Geduld“, der „wahren Mutter der Be121 Justus Lipsius, De constancia libri duo, Antwerpen: Plantin 1584 [englische Fassung: Two Bookes of Constancie, hg. von John Stradling, London 1595: Richard Iohnes, S. 98; Neuausg. der englischen Fassung, hg. von Rudolf Kirk und Clayton Morris Hall, New Brunswick: Rutgers University Press 1939; Nachdruck der Ausgabe von Stradling, hg. von John Sellars, Exeter: Bristol Phoenix Press 2006]. An diesem wie auch an den folgenden Zitaten wird ersichtlich, dass Lipsius sich keinesfalls auf das Sammeln von Sentenzen aus antiken Klassikern beschränkte, sondern antike Textstellen zu eigenständigen Argumentationsgängen verwob. So schon: Robert C. Evans, Jonson, Lipsius and the Politics of Renaissance Stoicism, Durango, CO: Longwood 1992, S. 19, contra: Kenneth C. Schellhase, Tacitus in Renaissance Political Thought, Chicago: University of Chicago Press 1976, S. 137. 122 Lipsius, Constancie (wie Anm. 121), S. 79.

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ständigkeit“. Beständigkeit mahnte er von den Herrschern an als „rechte und unbewegliche Stärke des Geists, die von äußeren oder zufälligen Begebenheiten weder aufgerichtet noch heruntergedrückt werden kann“. Wenn nötig, solle der Herrscher „seinen Sinn ändern, nicht seinen Standort“.123 Von dieser Grundlage ausgehend konnte Lipsius zu dem Schluss kommen, dass nur ein Handeln nach der Vernunft diejenige Beständigkeit hervorbringen könne, die ihrerseits zu Wohlstand und guter Ordnung in den Reichen, Staaten, Territorien und Städten dieser Welt führen könne. Obschon Lipsius Flexibilität politischen Handelns einforderte, setzte er doch seinen Begriff der Beständigkeit gleich sowohl mit der stabilitas loci, das heißt dem Willen zu bleiben, wo man ist, als auch mit der tranquillitas animi, das heißt, der Ruhe des Geistes, die er mit dem Modell der Waagschale zum Ausdruck brachte. Im Kontext der internationalen Beziehungen bezeichnete Beständigkeit dann eine politische Konstellation, in der mehrere Herrscher von Reichen, Staaten und Territorien sich darauf verpflichten konnten, den Status quo als Maßstab der Stabilität und des Friedens bewahren zu wollen, wenn und solange sie den Geboten der Vernunft folgten. Lipsius war gleichwohl bewusst, dass Herrscher die Möglichkeit hatten, unvernünftig zu handeln, und dass sie, wenn sie gegen die Vernunft entscheiden wollten, daran nicht würden gehindert werden können. Die Herrscher, die sich gegen die Vernunft entschieden, handelten entgegen den Interessen der Menschheit als moralische Einheit in missverstandener Fürsorge für die ihnen unterstellten Reiche, Staaten, Territorien und Städte. Den Pluralismus der nebeneinander bestehenden konkurrierenden Reiche, Staaten, Territorien und Städte musste Lipsius mit der Menschheit als moralische Einheit verbinden. Dazu zog er die Herrschaftsvertragstheorie heran: „Ich bekenne, sage ich, dass jeder von uns eine Zuneigung und guten Willen für sein eigenes unwichtiges Land hat. Die Gründe dafür sind, wie ich annehme, Euch unbekannt. Ihr werdet glauben, sie seien durch die Natur gegeben. In Wahrheit aber entstehen sie aus Herkommen oder einem Erlass oder Anordnung. Denn nach dem Naturzustand haben die Menschen ihre wilde Lebensweise aufgegeben und begonnen, Häuser zu bauen und ummauerte Städte, sich in Gesellschaft zusammenzufinden und offensive wie auch defensive Mittel einzusetzen. Sie teilten die Erde unter sich auf mit genauen Grenzen. Sie besitzen aber auch gemeinschaftlich Tempel, wie auch Marktplätze, Schatzhäuser und Gerichtssitze. Und ebenso allgemein gültige Zeremonien, Riten und Gesetze. Alle diese Dingen 123

Lipsius, Constancie (wie Anm. 121), S. 77–79. Ebenso in seinem Brief über das Reisen. Siehe: Justus Lipsius, De ratione cum fructu peregrinandi et praesertim in Italia. Epiostola ad Ph. Lanyum, in: Lipsius, Epistolarum selectarum tres centuriae, Antwerpen: Plantin 1691, No XXII, S. 23–29 [zuerst, Antwerpen: Plantin 1581; englische Fassung, hrsg. von John Stradling, London: Burbie 1592; Nachdruck der englischen Fassung, Amsterdam: Theatrum Orbis Terrarum und New York: Johnson 1977 (The English Experience. 878.)].

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schätzte unsere Gier allmählich sehr hoch ein und bewertete sie, als wären sie jeweils alleiniges Eigentum Einzelner. Und in gewisser Weise sind sie es sogar, denn jeder einzelne Bürger hat ein eigenes Interesse an ihnen, und sie unterschieden sich von Privateigentum nur in der Hinsicht, dass sie nicht allein in der Gewalt eines Einzelnen standen. Dieses Zusammensein [consociatio] und diese Verbundenheit gab die Form weise für einen neu errichteten Staat ab, den wir nun zutreffend als Gemeinwohl oder unser Land bezeichnen. Darin sahen die Menschen die hauptsächliche Stütze ihrer eigenen Sicherheit und erließen Gesetze für die Bereitstellung und Verteidigung dieser Sicherheit. Zumindest aber gab es überlieferte Handlungsmuster, die als Traditionen von den Ahnen an die Nachkommen weitergereicht wurden und eine gesetzesähnliche Geltungskraft erhielten. So kam es dazu, dass wir uns des Guten des Gemeinwohls erfreuen und Schaden an ihm betrauern. Denn unsere eigenen privaten Güter sind nur sicher, wenn auch das Gemeinwohl sicher ist und sind verloren, wenn dieses verloren geht.“124

Lipsius verwandte die Herrschaftsvertragslehre,125 um die Grenze zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre zu bestimmen, und bot zugleich eine Begründung dafür, dass er die Sicherheit der öffentlichen Sphäre als Bedingung der Sicherheit der privaten Sphäre zumaß. Dieses Argument diente ihm zur Rechtfertigung der Reiche, Staaten, Territorien und Städte als Institutionen des legitimen Schutzes des Privateigentums. Zudem betonte er den Voluntarismus, mit dem die Menschen den Herrschaftsvertrag geschlossen und ihre natürliche Freiheit aufgegeben hätten. Obschon Lipsius nicht die gesamte Phraseologie der Herrschaftsvertragslehre übernahm, die wenig später Juan de Mariana,126 Francisco Suarez,127 Richard Hooker128 und Johannes Althusius129 gebrauchten, war doch der Voluntaris124

Lipsius, Constancie (wie Anm. 121), S. 95–96. Zu Bezugnahmen auf die Herrschaftsvertragslehre im früheren 16. Jahrhundert siehe: Francisco de Vitoria, Relectio de potestate civili [1528], in: Vitoria, Relectiones morales, Köln: Boethius 1696, S. 5. Marius Salamonius, De principatu libri septem, Rom: s. n. 1544, S. 38. Zur Geschichte der Herrschaftsvertragslehre im 16. Jahrhundert Bibliografie Nr. 40. Zur bildlichen Darstellung des Topos von Frieden und Gerechtigkeit siehe: Rainer Wohlfeil, Pax antwerpiensis. Eine Fallstudie zur Verbildlichung der Friedensidee im 16. Jahrhundert am Beispiel der Allegorie „Kuss von Gerechtigkeit und Friede“, in: Historische Bildkunde, hg. von Brigitte Tolkemitt und Rainer Wohlfeil, Berlin: Duncker & Humblot 1991, S. 211–258 (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 12.). 126 Juan de Mariana, De rege et regis institutione libri III, lib. I, cap. 1, Toledo: Roderico 1599, S. 21–22 [Nachdruck, Aalen: Scientia 1969; spanische Fassung u. d. T.: Del Rey y de la institución real, lib. I, cap. 1, in: Mariana, Obras, 2. Bd., Madrid: Atlas 1950, S. 467–468]. 127 Francisco Suarez, De legibus (III 1–16): de civili potestate, lib. III/ii, cap. 4–6, hg. von Luciano Peren˜a Vicente und Vidal Abril, Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Cientificas 1975, S. 24–27 (Corpus Hispanorum de Pace. 15.). 128 Richard Hooker, Of the Lawes of Ecclesiasticall Politie. Eyght Bookes, London: Windet 1594, S. 70–73 [Nachdruck, Amsterdam and New York: Orbis Terrarum 1971]. 125

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mus der Kern seines Begriffs der consociatio, den Althusius von ihm übernahm. Von diesem Begriff der consociatio leitete Lipsius den Gemeinen Nutzen als Gemeinwohl durch herkömmliche Handlungsmuster wie durch Verordnungen ab und nicht, wie seine dem Aristotelismus anhängenden Zeitgenossen, von einer scheinbar gottgewollten Neigung der Menschen zum Zusammenleben. Der Begriff der consociatio enthüllt Lipsius’ Bemühen um begriffliche Differenzierung zwischen Gewohnheits- und gesetztem Recht als wesentliche Merkmale eines jeden Reiches, Staates, Territoriums und einer Stadt einerseits und den für die gesamte Menschheit gültigen moralischen Normen andererseits.130 Da Lipsius seine Theorie der internationalen Beziehungen in den Niederlanden konzipierte, war es angemessen, dass er auf die Herrschaftsvertragslehre rekurrierte. Denn anders als in den meisten Gegenden Europas lag dort zu der Zeit, als Lipsius seine theoretischen Werke veröffentlichte, ein veritabler Herrschaftsvertrag in der Form einer Urkunde vor. Diese war von 129 Johannes Althusius [praes.], Hugo Pelletarius [resp.], Disputatio politica de regno recte instituendo et administrando, Herborn: Hohe Schule 1602, Thesen 6–56. Althusius, Politica, lib. 1, cap. 2, lib. I, cap. 7, lib. IX, cap. 12, lib. XIX, cap. 12 (wie Anm. 4), hg. von Friedrich, S. 15, 16, 90, 161. Zu neueren Studien über Althusius siehe Bibliografie Nr. 45. 130 Zum Konsozialismus (ohne Rekurs auf Lipsius) siehe Bibliografie Nr. 46. Zum nicht-Lipsianischen politischen Aristotelianismus im 17. Jahrhundert siehe: Horst Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat (Wiesbaden: Steiner 1970) (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung Universalgeschichte. 55.). Dreitzel, Der Aristotelismus in der politischen Philosophie Deutschlands im 17. Jahrhundert, in: Aristotelismus und Renaissance. In memoriam Charles B[ernard] Schmitt, hg. von Eckhard Keßler, Charles H. Lohr und Walter Sparn (Wiesbaden: Reichert 1988), S. 163–192 (Wolfenbütteler Forschungen. 40.). Ulrich P. Scheuner, Nicht-monarchische Staatsformen in der juristischen und politischen Lehre Deutschlands im 16. und 17. Jahrhundert, in: Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, hg. von Roman Schnur, Berlin: Duncker & Humblot 1986, S. 764. Thomas Otto Hueglin, Early Modern Concepts for a Late Modern World. Althusius on Community and Federalism, Waterloo, Ont.: Wilfrid Laurier University Press 1999, S. 86, der ebenso wie Scheuner die Abhängigkeit des Althusius von Lipsius übersieht, fordert, dass Althusius als „der erste große Theoretiker des Sozialvertrags“ anerkannt werden solle (loc. cit.) In der Tat verwandte Althusius das Wort pactum (Vertrag), als er den Prozess beschrieb, durch den Konsoziationen begründet werden konnten. Er trennte ebenso zwischen diesem Vertrag und den Verträgen, die bestehende Konsoziationen mit Regierungen schließen konnten. Aber Althusius positionierte die Kompetenz zur Bereitstellung von Sicherheit und zum Bringen von Schutz ausschließlich bei den Regierungen und nicht bei den Konsoziationen. Daraus folgt, dass Althusius die Konsoziationen nicht als autonome Gruppen konstituierte und darin ganz im Einklang war mit den spätmittelalterlichen und frühneuzeitichen Bemühungen um Einhegung der Kompetenz dieser Gruppen zum Bereitstellen von Sicherheit und zum Bringen von Schutz.

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den niederländischen Städten im Jahr 1579 zu Utrecht unterzeichnet worden und hatte die Form eines Einungsvertrags zwischen den Räten der niederländischen Städte und den aristokratischen Herrschaftsträgern, deren gemeinsames Ziel die Befreiung von spanischer Herrschaft war. Für einen solchen Einungsvertrag gaben die Verfassungen der Städte das beste Beispiel ab und stellten dadurch die empirische Basis für die politische Theorie bereit, die Lipsius formulierte.131 Mit Hilfe der Herrschaftsvertragslehre gelang es Lipsius, gleichzeitig die Sicherheit der einzelnen Personen als Rechtspflicht legitimer Herrschaft zu begründen und den Pluralismus der antagonistischen, konkurrierenden, aber doch dem Gesetz unterworfenen Reiche, Staaten, Territorien und Städte mit dem Postulat der in allgemeinen moralischen Normen gründenden Einheit der Menschheit zu vereinbaren. Da Lipsius durchaus skeptisch war, ob die Herrscher davon abgehalten werden könnten, sich unmoralischen Handlungen zu verschreiben, musste er diejenigen Bedingungen spezifizieren, unter denen Handlungen bestraft 131

Abdruck in: Texts Concerning the Revolt of the Netherlands, hrsg. von Ernst Heinrich Kossman[n] und Albert Fredrik Mellink, Cambridge: Cambridge University Press 1974, S. 165–173. Copie eens sendtbriefs der Ridderschap, Edelen ende Steden van Holland, Dordrecht: s. n. 1573, S. A III. Discours contenant le vray entendement de la Pacification de Gand, s. l.: s. n., 1579, S. 23. Jacques van Wesenbeke, De beschryvinge van den geschiedenissen in den Religion saken treghedragen in den Nederlanden, s. l.: s. n., 1567, S. 39. Wesenbeke, De bewijsinghe van de ontschult van mijn here Philips baenheere van Montmorency, graaf van Hoorne, s. l.: s. n. 1568. Hugo Grotius vertrat, wohl am Ende des ersten Jahrzehnts des 17. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der Waffenstillstandsverhandlungen zwischen den Aufständischen und dem spanischen König die Rechtsauffassung, dass der Aufstand der Niederländer als Akt der Bewahrung der Souveränität rechtens sei. Grotius nahm jedoch, anders als älteren Ideologen des Aufstands, nicht Bezug auf ein gewissermaßen naturrechtliches Widerstandsrecht, sondern postulierte, dass der spanische König ohne Rechtstitel von den niederländischen Ständen Steuern erhoben habe. Der Widerstand gegen diesen, in Grotius’ Sicht illegitimen Eingriff in die Souveränitätsrechte der niederländischen Stände war daher auch mit militärischen Mitteln nicht nur möglich, sondern sogar geboten. Nach Grotius erlangten die niederländischen Stände die Souveränität demnach nicht erst durch den Aufstand, sondern besaßen diese bereits aus altem Recht. Siehe: Hugo Grotius, Commentarius in Theses XI. An Early Treatise on Sovereignty, the Just War and the Legitimacy of the Dutch Revolt, hg. von Peter Borscheid, Bern: Lang 1994, S. 282. Zur Revolte in den Niederlanden siehe Bibliografie Nr. 47. Da die Revolte der Niederländer deren Freiheit von spanischer Herrschaft erzielen sollte, nicht aber, einen unabhängigen Staat zu begründen, ist es falsch zu behaupten, es habe bereits im Jahr 1581 eine „Unabhängigkeitserklärung der Niederlande“ gegeben. So: James Crawford, The Creation of States in International Law, 2. Aufl., Oxford: Clarendon Press 2006, S. 10–11 [zuerst, Oxford: Oxford University Press 1979]. Ebenso: Christian Hillgruber, Die Aufnahme neuer Staaten in die Völkerrechtsgemeinschaft, Frankfurt: Lang 1998, S. 5 (Kölner Schriften zu Recht und Staat. 6.). Edward Keene, Beyond the Anarchical Society. Grotius, Colonialism and Order in World Politics, Cambridge: Cambridge University Press 2002, S. 47.

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werden konnten, die gegen das Interesse der Menschheit gerichtet waren. Derartige Strafaktionen konnten, da sie über die Grenzen der einzelnen Reiche, Staaten, Territorien und Städte hinweg stattzufinden hatten, nur auf der Ebene der internationalen Beziehungen durchgeführt werden und konnten folglich nicht aus dem Recht eines einzelnen Reichs, Staats, Territoriums oder einer Stadt begründet werden. Lipsius forderte diese Strafaktionen als Zwangsmaßnahmen zur Verteidigung der moralischen Integrität der Menschheit insgesamt gegen diejenigen, die gewillt zu sein schienen, gegen die Regeln der Ethik der Mäßigung zu verstoßen. In der Ebene der internationalen Beziehungen sah Lipsius den Krieg als einziges Mittel, das die Durchführung der Strafaktionen erlaubte. Auch hierfür gab die Unionsakte von Utrecht vom Jahr 1579 das Modell ab, die in Artikel VIII die wehrhafte Bevölkerung der Union zur Verteidigung des Lands gegen Unrecht verpflichtete. Da Lipsius, anders als die Vertreter der Herrschaftsvertragslehre des 14. Jahrhunderts, seine Theorie der internationalen Beziehungen ohne Rekurs auf eine Institution universaler Herrschaft konzipierte, war dieser Schluss konsequent. Immerhin setzte Lipsius auf diese Weise eine neue Bedingung für die Anerkennung eines gerechten Krieges, den er nur zuließ, sofern seine Notwendigkeit damit begründet werden konnte, dass nachweislich das Handeln eines Herrschers gegen die Regeln der Vernunft und gegen die moralische Integrität der Menschheit gerichtet war. Um diese Theorie des gerechten Krieges zu begründen, schrieb Lipsius zwei umfangreiche, an Herrscher wie auch Heerführer gerichtete Werke über das Kriegswesen und stellte in seinem Buch über die Politik den Krieg ganz in das Zentrum des Kapitels über die internationalen Beziehungen.132 In der Mitte des 18. Jahrhunderts verlagerten einige Vertreter der Herrschaftsvertragslehre den Blick von der Entstehung legitimer Herrschaft auf die Bedingungen, unter denen politisch aktive Gruppen zustande kommen konnten. Francis Hutcheson zum Beispiel behandelte Prozesse der Entstehung politischer Ordnungen und ging dabei von der Lipsianischen Erwartung aus, dass es keinen natürlichen Zwang gebe, der die Angehörigen von Gruppen zur Anerkennung einer politischen Ordnung veranlassen könne. Hingegen nahm Hutcheson an, dass Menschen aus vernünftiger Einschät132 Feije Cornelis Spits, Unie en milities, in: De Unie van Utrecht. Wording en werking van een verbond en een verbondsacte, hg. von Simon Groenveld und H. L. Ph. Leeuwenberg, Den Haag: Nijhoff 1979, S. 190 (Geschiedenis in veelvoud. 6.). Lipsius, Politicorum (wie Anm. 119), hg. von Waszink, S. 557–639. Lipsius, De militia Romana, Antwerpen: Plantin 1595–1596 [Nachdruck der Ausgaben von 1602 und 1605, hg. von Wolfgang Weber, Hildesheim und New York: Olms 2002]. Lipsius, Poliorceticon, Antwerpen: Plantin 1596. Zum Leserkreis von Lipsius’ militärtheoretischen Werken siehe: Franciscus Raphelengius, [Brief an Lipsius vom 24. August 1595], in: Sylloges epistolarum a viris illustribus scriptarum, hg. von Petrus Burmannus, 1. Bd., Leiden: Luchtmans 1724, S. 206.

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zung ihrer Bedürfnisse freiwillig zu der Überzeugung gelangen würden, dass die Anerkennung einer solchen Ordnung für sie die beste Garantie ihrer Sicherheit sei. Aber auch Hutcheson blieb skeptisch, dass es gelingen könne, alle Gruppenangehörigen ohne Ausnahme zu dieser Erkenntnis zu bewegen. So griff er auf die Vorbildrolle zurück, die er weisen Einzelpersonen zuerkannte, die die Gefahren des Lebens in der angeblichen Vereinzelung des Naturzustands für sich erkannt haben sollten: „Indem sie diese Gefahren erkennen und bereits erfahren haben, werden weise Menschen sie anderen gegenüber vertreten und auf diese Weise viele andere dazu gebracht haben, sich mit ihnen gegen diese Gefahren zusammenzufinden. Das heißt, einige Menschen mit nachgewiesener Weisheit und Gerechtigkeit wurden als Schiedsleute aller Anschauungsunterschiede unter den Gruppenangehörigen eingesetzt und zu Leitern aller Maßnahmen, die für die Sicherheit und das Wohlergehen der Gesamtheit erforderlich sind. Sie versehen diejenigen Herrscher mit Macht, die ausreicht zur Durchsetzung ihrer Entscheidungen und Verordnungen.“133

So argumentierte Hutcheson, dass es die Aufgabe der Herrscher sei, für die Beherrschten Sicherheit bereitzustellen und in ihren Reichen, Staaten, Territorien und Städten für Ordnung und Stabilität zu sorgen. Seine Schlussfolgerung war, dass diejenigen Herrscher, die als Bereitsteller von Sicherheit und Schutz und als Garanten von Ordnung und Stabilität erfolgreich waren, eine zunehmend größere Zahl einzelner Personen davon überzeugen könnten, dass es am besten für sie selbst sei, legitime Herrschaft für ihre eigene Sicherheit anzuerkennen. Dasselbe Argument benutzten im 18. Jahrhundert auch diejenigen Theoretiker, die Förderung von Sicherheit und Stabilität als Voraussetzung für eine aktive Bevölkerungspolitik,134 für die Akkumulation privaten und öffentlichen Reichtums135 und für persönliches Glück136 bestimmten. Auch diese Theoretiker trugen dazu bei, dass sich das Interesse der Anhänger der Vertragslehre vom Herrschaftsvertrag auf den Gesellschaftsvertrag verschob. 133 Francis Hutcheson, A System of Moral Philosophy, 2. Bd., Glasgow: Fontis 1755, S. 216 [Nachdruck, hg. von Daniel Carey, Bristol: Thoemmes Press 2000]. 134 Johann Peter Süßmilch, Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen, 1. Bd., 3. Aufl., Berlin: Buchhandlung der Realschule 1765, S. 396–397 [Nachdruck, hg. von Jürgen Cromm, Göttingen: Cromm 1988]. 135 Johann Heinrich Gottlob von Justi, Grundsätze der Policeywissenschaft, Göttingen: Vandenhoeck 1782, S. 76–85 [Nachdruck, Frankfurt: Keip 1969]. 136 Christian Gottfried Hoffmann, Entwurff einer Einleitung zu dem Erkäntniß des gegenwärtigen Zustandes von Europa, Leipzig: Lanckisch 1720, S. 10–11. Johann Heinrich Gottlob von Justi, Der Grundriß einer guten Regierung, Frankfurt und Leipzig: Garbe 1759, S. 74–85. Karl Theodor von Dalberg, Kurfürst von Mainz, Von Erhaltung der Staatsverfassungen, Erfurt: Keyser 1795, S. 6–7.

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Diese Verschiebung war wesentlich als Indiz für die zunehmende Bedeutung, die die Begründung herrschaftlicher Privilegien in der politischen Theorie des so genannten aufgeklärten Absolutismus einnahm. Physiokraten waren insbesondere damit beschäftigt, Gesellschaft und Herrschaft mit Nützlichkeitsüberlegungen zu begründen, und forderten, Herrschaft solle in erster Linie dem Nutzen der Beherrschten zuträglich sein. Unter anderen verlangte François Quesnay, die Beherrschten sollten ihrem Herrscher gegenüber gehorsam sein, da dieser nur unter dieser Bedingung in der Lage sei, die Natur zu kontrollieren, die Stabilität der Welt zu erhalten und auf diese Weise zum Wohlergehen und Glück der Beherrschten beizutragen.137 Andere Physiokraten wie Johann Heinrich Gottlieb Justi und Johann Peter Süßmilch fügten die Forderung hinzu, dass die Herrscher dadurch eine aktive Bevölkerungspolitik betreiben sollten, dass sie den Beherrschten umfassende Sicherheit bereitstellten, die Gesundheitsfürsorge einschloss und vorzeitigen Todesfällen entgegenwirken sollte, während Adam Smith unter Berufung auf Grotius verlangte, Herrscher sollten sich dem Naturrecht unterwerfen und ihre Kompetenz und Fähigkeit zum Kriegführen einschränken.138 Kritiker wie Justi, denen das Erreichte nicht weit genug ging und die ein Mehr an Stabilität forderten, hielten ihren europäischen Lesern Berichte über die „Verfassungen“ „asiatischer Reiche“ vor und zogen den Schluss, dass „Barbaren“ nicht in Asien, sondern in Europa zu finden seien. Justi wusste insbesondere zu berichten, dass im Königreich Siam die Generale Order erhielten, nicht direkt auf den Feind, sondern in die Luft zu schießen, damit so wenige Gegner wie möglich getötet würden, und lobte die chinesische Regierung für die Strenge, mit der sie im Militär und in der Zivilbevölkerung Verstöße gegen Gesetze ahnden ließ, auch und gerade weil er mit den dort angeblich getroffenen Strafmaßnahmen nicht einverstanden war. Die Bereitstellung von Sicherheit wurde auf diese Weise Bestandteil der Beherrschung der Natur als Aufgabe legitimer Herrschaft.139 137 François Quesnay, Maximes générales, in: Quesnay, Œuvres, hg. von Eugène Daire, Paris: Guillaumin 1846, S. 81 [Nachdruck, Osnabrück: Zeller 1966]. 138 Justi, Policeywissenschaft (wie Anm. 135), S. 76–85. Justi, Vergleichungen der Europäischen mit den Asiatischen und andern Barbarischen Regierungen, Berlin, Stettin und Leipzig: Rüdigers 1762. Süßmilch, Göttliche Ordnung (wie Anm. 134), 1. Bd., S. 311–420. Adam Smith, Lectures on Justice, Police, Revenue and Arms. Delivered in the University of Glasgow. Reported by a Student 1763, hg. von Edwin Cannan, Oxford: Clarendon Press 1896, S. 1, 265–280. Hugo Grotius, De jure belli ac pacis libri tres [Paris: Buon 1625], lib. II, cap. XIX, XX, XXI [Nachdruck der Ausgabe Amsterdam: Jansson Waesberg 1646, Washington: Carnegie Institution 1913; Neudruck, hg. von B. J. A. de Kanter van Hettings Tromp, Leiden: Brill 1939; Nachdruck dieser Ausgabe, Aalen: Scientia 1993; weiterer Nachdruck, hg. von Richard Tuck, The Rights of War and Peace. Hugo Grotius from the Edition by Jean Barbeyrac, Indianapolis: Liberty Fund 2005].

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Darüber hinaus bestand in den Programmen für den ewigen Frieden ein wichtiges Genus politischer Theorie. Diese Programme definierten Frieden im weiteren Sinn als vertragliche Vereinbarung über unbefristete Versöhnung durch Amnestie, Freundschaft und die Existenz gutnachbarlicher Beziehungen zwischen den vertragsschließenden Parteien. Dieser weite Begriff des Friedens stand in scharfem Gegensatz zu den zumeist befristeten Waffenstillständen, die lediglich die Beendigung militärischer Gewaltmaßnahmen festschrieben. Einerseits betrachteten die Theoretiker den Frieden als Resultat spezieller vertraglicher Vereinbarungen in der Regel auf bilateraler Basis. Andererseits jedoch bestanden sie darauf, dass ein wachsendes Netzwerk von Friedensverträgen umso schneller in einen allgemeinen, ewigen Frieden umschlagen werde, je öfter einzelne Friedensverträge geschlossen würden.140 Der Erhalt des Friedens erwuchs als öffentliches Bedürfnis, dem die Herrscher einzelner Reiche, Staaten, Territorien und Städte im Interesse der ganzen Menschheit gerecht zu werden hatten, wenn sie als Träger legitimer Herrschaft Anerkennung finden wollten. 3. Der Begriff der Sicherheit Lipsius’ Ethik der Mäßigung hatte einen wesentlichen Einfluss auf den Begriff der Sicherheit. Dieser Einfluss betraf die Theorie der inneren Politik der Reiche, Staaten, Territorien und Städte, denn sie verstärkte die Herrschaftsvertragslehre als wichtigste Theorie legitimer Herrschaft. Aber Lipsius’ Ethik hatte auch Wirkungen auf die internationalen Beziehungen, da sie ältere Strategien zur Durchsetzung internationaler Verträge als Basis der Beziehungen zwischen Herrschern förderte und somit der Neigung zum Waffengebrauch entgegenwirkte. Aber die Ethik veränderte auch die Kriegführung, zumindest in der zweiten Hälfte des 17. und im 18. Jahrhundert, 139 Justi, Vergleichungen (wie Anm. 138), S. 218–219, 237–240, 257, 269–270. Justi berief sich für seine Berichte auf: Jean-Baptiste Du Halde, SJ, Ausführliche Beschreibung des chinesischen Reiches und der großen Tartarey, 2. Bd., Rostock: Koppe 1748, S. 63–54 [zuerst, Paris: LeMercier 1735]; weitere Ausg., Den Haag: Scheurleer 1736; Amsterdam: Henry und Boom 1700]. Simon de La Loubère, Du Royaume de Siam, Paris: Coignard 1691 [andere Ausg., Amsterdam: Wolfgang 1691]. Charles Rollin, Neuere Geschichte der Chineser, Japaner, Indianer, Persianer, Türken und Russen, 3. Bd., Berlin: Voss 1756, S. 213–214 [zuerst, Paris: Desaint und Saillant 1755]. 140 Zur Geschichte der Friedensschlussverfahren siehe: Jörg Fisch, Krieg und Frieden im Friedensvertrag, Stuttgart: Klett-Cotta 1979 (Sprache und Geschichte. 3.) Robert Francis Randle, The Origins of Peace. A Study of Peacemaking and the Structure of Peace Settlements, New York und London: Collier-Macmillan 1973. Francis Stephen Ruddy, International Law in the Enlightenment. The Background of Emmerich der Vattel’s Le Droit des Gens, Dobbs Ferry: Oceana 1975, S. 259–280.

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Kap. 2: Sicherheit in der Tradition des Mittelalters und der Neuzeit

da sie die legale Fähigkeit von Herrschern zum Führen von Kriegen einschränken und Maßnahmen zum Schutz von Leben und Gesundheit von Kombattanten und Nicht-Kombattanten fördern konnte. Solange Herrscher sich als Bereitsteller von Sicherheit und Bringer von Schutz im Inneren ihrer Reiche, Staaten, Territorien und Städte profilieren konnten, durften sie gerechterweise nach den Bedingungen der hypothetischen Herrschaftsverträge Loyalität von den Beherrschten einfordern. Auf dieser Basis entstanden die zahlreichen Policeyordnungen seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts.141 Diese setzten ausgebildete Überwachungsanstalten voraus, wenn die Chance ihrer Umsetzung gegeben sein sollte, waren aber auch bei Vorhandensein solcher Anstalten nur dann wirkungsvoll, wenn die Beherrschten den Grundsätzen der Ethik der Mäßigung folgten und sich selbst überwachten. Diesem Zweck dienten die zahlreichen kirchlichen Kontrollinstanzen, die zwar auf die Überwachung von Glaubensdingen beschränkt waren, aber dafür umso wirksamer die private Sphäre der einzelnen Gläubigen durchleuchten konnten. Für Althusius war Schutz „die legitime Verteidigung gegen Verletzungen und Gewalt“ und sollte von den Herrschern den Beherrschten erbracht werden. Althusius schloss ausdrücklich den Schutz der körperlichen Unversehrtheit, die Garantie der Bewegungsfreiheit und der öffentlichen Ruhe, das Führen nur von gerechten Kriegen und die Bereitstellung aller notwendigen Güter in seinen Begriff des Schutzes ein. Er bestand auch darauf, dass Herrscher als Bereitsteller von Sicherheit agieren sollten, worunter er „die Bewahrung von Gerechtigkeit, Frieden, Ruhe und Disziplin“ unter den Beherrschten subsummierte, während er gerechten Krieg als Mittel zur Bewahrung von Stabilität in den Beziehungen zwischen Herrschern zuließ. In Althusius’ Sprache galt Schutz als Begriff für die Bewahrung der Integrität der einzelnen Privatpersonen, wohingegen Sicherheit auf die öffentliche Sphäre bezogen war.142 141 Ein umfassendes Verzeichnis dieser Quellen ist in Arbeit. Siehe: Repertorium der Policeyordnungen, hg. von Karl Härter und Michael Stolleis, bisher 8 Bde. in 13 Teilen, Frankfurt: Klostermann 1996–2008 (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte. 84. 111.116.139.204.218.239.). 142 Althusius, Politica (wie Anm. 4), lib. XVI, cap. 4–9, 13, lib. XXXI, cap. 1, hg. von Friedrich, S. 119–121, 291. Insbesondere Althusius in seiner Eigenschaft als Emdener Ratssyndikus setzte Kirchenvisitationen als Mittel zur Kontrolle der Stadtbevölkerung ein. Siehe: Heinz Antholz, Die politische Wirksamkeit des Johannes Althusius in Emden, Aurich: Verlag Ostfriesische Landschaft 1955, S. 75–85 (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands. 32.). Michael Behnen, „Status regiminis provinciae“. Althusius und die „freie Republik Emden“ in Ostfriesland, in: Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus, hg. von Giuseppe Duso, Werner Krawietz und Dieter Wyduckel, Berlin: Duncker & Humblot 1997, S. 139–158 (Rechtstheorie. Beiheft 16.). Zur Forderung

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Althusius sowie die Theoretiker der legitimen Herrschaft im 17. und 18. Jahrhundert behaupteten genau wie Lipsius, Salamonius und Mariana als ihre Vorläufer im 16. Jahrhundert, dass die Bereitstellung von Sicherheit und das Bringen von Schutz Akte öffentlicher Herrschaft seien, solange Herrscher nach den Grundsätzen der Herrschaftsverträge handelten. Christoph Besold, der Tübinger Politiktheoretiker, schloss, dass die Respublica die „res populi“ sei, „da sie gut und gerecht, das heißt, zum öffentlichen Nutzen“ geführt werde. Dementsprechend vertraten andere Autoren seit der Zeit um 1600 die These, dass Kriege öffentlich und nur legitime Souveräne dazu berechtigt seien, sie zu führen. Erst im 18. Jahrhundert karikierte Voltaire diese Bestimmung, indem er generell „den Krieg“ zum „öffentlichen Feind Nr. 1“ deklarierte.143 nach Disziplin siehe außer Althusius: Balthasar Ayala, De iure et officijs bellicis et disciplina militari libri III, Antwerpen: Nihus 1597, 15–16 [zuerst, 1582; Nachdruck, hg. von John Westlake, Washington: Carnegie Institute 1912 (Classics of International Law. 2. Bd., 1. Teil)]. Robert de Balsac, La nef des princes et des batailles de noblesse avec autres enseignements utilz et profitables, Lyon: s. n. 1502, s. p. [Guy Humfredi Hoyd], Institution de la discipline militaire au royaume de France, Lyon: s. n. 1559, S. 54. Giulio Ferretti, De re et disciplina militari aureus tractatus, Venedig: Bolognino 1575. Georg Obrecht [praes.] und Jan Skumyn [resp.], Disputatio de militari disciplina. Diss. Jur., Straßburg 1592. Martin Tancke [praes.] und John Albert Moll [resp.], Dispvtatio de disciplina militari et privilegii militvm. Diss. Jur., Rostock 1599. Imperiale Cinuzzi, La vera militar disciplina antica e moderna, lib. I, cap. 1, Siena: Marchetti 1604, S. 4 [andere Ausg., Siena: Bonetti 1620]. Christoph Binder, Theses theologicae de bello publico, de bello subditorum etc., Tübingen: Berner 1616. Georg Engelhardt von Löhneiß [Löhneysen], Aulico-politica. Oder Hof-, Staats- und Regier-Kunst, Frankfurt: s. n. 1679, S. 93 [zuerst, Remlingen: Selbstverlag 1622; Neuausg., Frankfurt: Ambries 1625]. Zur Bedeutung des Begriffs der Disziplin für die juristische und politische Theorie siehe: Karl Härter, Disciplinamento sociale e ordinanze di polizia nella prima età moderna, in: Disciplina dell’anima, disciplina del corpo, disciplina dell società tra medioevo ed età moderna, hg. von Paolo Prodi, Bologna: Il Mulino, 1994, S. 635–658 (Annali dell’Istituto Storico Italo-Germanico. Quaderno 40.). André Holenstein, „Gute Policey“ und lokalen Gesellschaft im Staat des Ancien Régime, 1. Bd., Tübingen: Bibliotheca Academica Verlag 2003, S. 47 (Frühneuzeit-Forschungen. 9.). Johannes Kunisch, Friedensidee und Kriegshandwerk im Zeitalter der Aufklärung, in: Der Staat 27. Jg. (1988), S. 555 [wieder abgedruckt in: Kunisch, Fürst – Gesellschaft – Krieg, Köln und Wien: Böhlau 1992, S. 131–159]. Milos Vec, Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation, Frankfurt: Klostermann 1998 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. 106.). 143 Christoph Besold, Discursus politici, Nr. 5: De reipublicae formarum inter sese comparatione, cap. I, Straßburg: Zetzner 1624, S. 239. Ebenso: Hugo Grotius, De iure praedae commentarius, lib. I, cap. 12 [1604], hg. von Hendrik Gerard Hamaker, Den Haag: Nijhoff 1868, S. 237 [Nachdruck, Dobbs Ferry: Oceana 1964; Mikrofiche-Ausg., Leiden: IDC 1995 (The Grotius Collection. International Law on Microfiche GRI–112.)] Frei Serafim Freitas, De iusto imperio Lusitanorum Asiatico, cap. 11, Valladolid: Morillo 1625 [Nachdruck, hg. von Miguel Pinto de Meneses,

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Ein zusätzlicher Faktor der Trennung der privaten von der öffentlichen Sphäre im Kontext der Sicherheitsdiskussion bestand in der allmählichen Einführung volkssprachlicher Varianten des Lateinischen securitas im Englischen und Französischen zwischen dem späten 16. und dem frühen 18. Jahrhundert. Im Französischen trat der Neologismus sécurité in Wettstreit mit dem älteren sûreté, das über das Vulgärlateinische aus derselben Wurzel stammte. Im Englischen standen sure, aus französisch sûre, und safe bzw. safety gegen den Neologismus security. In beiden Sprachen kam es so zu einem Pluralismus von Sicherheitswörtern, der die Grammatiker der Zeit dazu ermunterte, den verschiedenen Wörtern unterschiedliche Bedeutungen zuzuschreiben. Die Debatte unter Theologen und Philosophen führte zu der – freilich nicht unumstrittenen – Differenzierung zwischen certitude, tranquillity of mind und sécurité als Bezeichnungen für mehr oder weniger begründetes Gottvertrauen oder Vertrauen in die menschliche Erkenntnisfähigkeit einerseits sowie certainty und sûreté als Bezeichnungen für Festigkeit des Glaubens andererseits. Im Bereich der Politik ergab sich die Unterscheidung zwischen dem privaten Bedürfnis nach Schutz als Bedeutung von safety, sûreté oder insurance von der öffentlichen Bereitstellung von Sicherheit durch Herrscher als Bedeutung von security.144 2. Bd., Lissabon: Instituto Nacional de Investigação Cientifica 1983, S. 134]. Sowohl Grotius als auch Freitas bestimmten die res publicae als offen für alle, unterschieden sich jedoch in der Bemessung der Reichweite der Offenheit. Während Grotius Offenheit für die gesamte Menschheit postulierte, wollte Freitas sie auf das Territorium des Staats und die ihm zugeordneten Seewege begrenzen. Ähnlich wie Besold zur Bestimmung der res publicae schon: Thomas Becon, Polecy of War [wieder aufgelegt u. d. T.: The True Defense of Peace; zuerst 1542], in: Becon, The Early Works, hg. von John Ayre, Cambridge: Cambridge University Press 1843, S. 251–252. Kriege privater Personen konnten danach nur im „Naturzustand“ stattfinden. So: Johannes Ihre [praes.] und Paulus Nöring [resp.], Dissertatio politica de bello privato. Phil. Diss., Uppsala 1751. Andreas Weiß, De bello hominis privati. Phil. Diss., Basel 1742. Zu Voltaire siehe: Henry Meyer, Voltaire on War and Peace, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 144. Jg. (1976), S. 94. 144 Le grand vocabulaire français, 3. Bd., Paris: Panckoucke 1768, S. 200; ebenda, 5. Bd., 1768, S. 246; ebenda, 26. Bd., 1773, S. 156; ebenda, 27. Bd., 1773, S. 200. Artikel Assurance, Certitude, Sécurité, Sureté, in: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, hg. von Dénis Diderot und Jean LeRond d’Alembert, 1. Bd., Paris: Bisarion, David, Le Breton und Durand 1751, S. 774, 2. Bd., ebenda 1751, S. 845–62, 14. Bd., Neuchâtel: Faulche 1765, S. 884, 15. Bd., ebenda 1765, S. 688 [Nachdruck, Stuttgart: Frommann-Holzboog 1966–1967]. Artikel Sicherheit, in: Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, 37. Bd., Leipzig und Halle: Zedler 1743, Sp. 909–910 [Nachdruck, Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1962]. Siehe dazu Bibliografie Nr. 9, dort insbesondere Schrimm-Heins und Winkler. Zu den Grammatikern siehe: Jeanne Streicher, Commentaires sur remarques de Vaugelas, 1. Bd., Paris: Droz 1936, S. 91–92 [Nachdruck, Genf: Slatkine 1970].

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Weniger genau als Althusius war Thomas Hobbes in seiner Terminologie, als er den Staat umfassend als „politischen Körper oder bürgerliche Gesellschaft“ definierte und als „eine Menge von Menschen, die durch eine gemeinsame Macht für ihren gemeinsamen Frieden, ihre gemeinsame Verteidigung und ihr gemeinsames Wohlergehen in einer Person vereinigt sind“, ausgab.145 Er positionierte Herrscher und Regierungen als Bereitsteller umfassender Sicherheit für die Beherrschten unter ihrer Kontrolle und behauptete, dass Herrscher dem Naturrecht verpflichtet sei müssten, wenn sie die Bereitstellung von Sicherheit als das Hauptziel ihrer Herrschertätigkeit zu leisten in der Lage sein wollten. Der Herrschaftsvertrag komme zustande durch ausdrücklichen Verzicht der Beherrschten auf ihr naturrechtlich gegebenes Recht auf Selbstregierung.146 Folglich standen Kriege „dem Naturrecht entgegen, dessen Summe im Schließen von Frieden besteht“.147 Hobbes schloss, dass die Sorge für die „Sicherheit der Beherrschten das Höchste Gesetz der Herrschaft sei“. Hobbes stimmte Althusius in der Forderung zu, dass Kriege nur geführt werden dürften, wenn sie moralisch gerechtfertigt werden könnten sowie unter den Bedingungen, die Thomas von Aquin und Lipsius beschrieben hatten.148 Samuel Pufendorf sowie Natur145

Thomas Hobbes, De Cive. The English Version Entitled in the First Edition Philosophicall Rudiments Concerning Government and Society [zuerst, London: Royston 1651], hg. von Howard Warrender, Oxford: Clarendon 1983, S. 157. Hobbes, De Corpore politico. Or the Elements of Law, Moral and Politic, Part I, chap. 6, Nr. 8, London: Martin & Ridley 1650, neu hg. von William Molesworth, The English Works of Thomas Hobbes, 4. Bd., London: Bohn 1840, S. 122 [Nachdruck der Ausg. von Molesworth, London: Routledge 1997]. 146 Hobbes, De Cive (wie Anm. 145), S. 170–171. Zu diesem Aspekt von Hobbes’ internationaler Theorie siehe: Kinji Akashi, Hobbes’s Relevance to the Modern Law of Nations, in: Journal of the History of International Law 2. Jg. (2000), S. 199–216. Donald W. Hanson, Thomas Hobbes’s „Highway to Peace“, in: International Organization 38. Jg. (1984), S. 329–354. Stanley Harry Hoffmann, Rousseau on War and Peace, in: Hoffmann, The State of War, New York: Praeger 1965, S. 61. David Runciman, What Kind of Person is Hobbes’ State?, in: Journal of Political Philosophy 8. Jg. (2000), S. 268–278. Manfred Walther, Kommunalismus und Vertragstheorie. Althusius – Hobbes – Spinoza – Rousseau. Oder Tradition und Gestaltwandel einer politischen Erfahrung, in: Theorien kommunaler Ordnung in Europa, hg. von Peter Blickle, München: Oldenbourg 1996, S. 137–142 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 36.). Michael C. Williams, Hobbes and International Relations, in: International Organization 50. Jg. (1996), S. 213–236. 147 Hobbes, De Corpore politico (wie Anm. 145), Part I, chap. 2, Nr. 2, S. 87. 148 Thomas Hobbes, Leviathan, Part II, chap. XXX, London: Crooke 1651, S. 185 [neu hg. von Richard Tuck, Cambridge: Cambridge University Press 1991, S. 244]. David Boucher, Political Theories of International Relations, Oxford: Oxford University Press 1998, S. 145, 149, 157, verwies zu Recht darauf, dass auch in Hobbes’ Leviathan nirgends der Naturzustand gleichgesetzt wird mit dem permanenten Zustand des Krieges aller gegen alle. So auch: Beate Jahn, IR and the State of Nature. The Cultural Origins of a Ruling Ideology, in: Review of International Studies

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rechtslehrer des 18. Jahrhunderts folgten Hobbes, indem sie darauf bestanden, dass Staaten Institutionen zur Bereitstellung von Sicherheit seien und dass Herrscher die internationalen Beziehungen in guter Ordnung auch ohne Gesetze und in einem unveränderbaren systemischen Rahmen unveränderbarer Regeln führen sollten, die dem Naturrecht zu entnehmen seien.149 John Locke wiederum ging einen Schritt über Hobbes hinaus, indem er darstellte, dass Einzelpersonen „wechselseitige“ Sicherheit erwerben könnten, indem sie sich mit anderen zu einer wohl geordneten „bürgerlichen Gesellschaft“ zusammenschlössen.150 Die Ethik der Mäßigung sowie 25. Jg. (1999), S. 417–425. Gegen Murray Forsyth, Thomas Hobbes and the External Relations of States, in: British Journal of International Studies 5. Jg. (1979), S. 207–209. Alexander Wendt, Social Theory of International Politics, Cambridge: Cambridge University Press 1999, S. 256–259 (Cambridge Studies in International Relations. 67.). In ihrer Darstellung der Tradition des Gesellschaftsvertrags, die auf Hobbes gewirkt haben sollen, geht Jean Hampton, Hobbes and the Social Contract Tradition, Cambridge: Cambridge University Press 1986, S. 132–188, auf den Sicherheitsbegriff nicht ein, sondern folgt Hobbes’ zeitgenössischen Kritikern, die, ebenfalls unter Umgehung des Sicherheitsbegriffs, keinen Grund sahen, warum nach Hobbes die Vertragsschließenden sich an den Vertrag gebunden fühlen sollten. 149 Samuel von Pufendorf, De statu hominum naturali, § 6, in: Pufendorf, Dissertationes academicae selectiores, Lund: Junghans 1675, S. 597. Pufendorf, De jure naturae et gentium libri octo, lib. VII, cap. 5, §§ 17–8, Amsterdam: Hoogenhuysen 1688 [Nachdruck, Oxford und London: Oxford University Press 1934, S. 714–715; auch hg. von Frank Böhling, Berlin: Akademie-Verlag 1998, S. 690–693 (Pufendorf, Gesammelte Werke. 4.)] Nicolaus Hieronymus Gundling, Jus naturae et gentium, 2. Aufl., Halle; Renger 1728, S. 40 [1. Aufl., ebenda 1715; 3. Aufl., ebenda 1736]. Christian Wolff, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, Halle Renger 1754, § 84 [Nachdruck, Hildesheim: Olms 1980 (Wolff, Gesammelte Schriften. Abt. 1, 19. Bd.)]. Gottfried Achenwall, Ius naturae in usum auditorum, 5. Aufl., Göttingen: Bossiegel 1763, S. 63–64 [zuerst, ebenda 1755]. Gottlob August Tittel, Erläuterungen der theoretischen und praktischen Philosophie nach Herrn Feders Ordnung, 5. Bd.: Natur- und Völkerrecht, Frankfurt: Garbe 1786, S. 57–58 [Nachdruck der 9. Aufl. von 1799, Aalen: Scientia 1970]. Johann Michael von Loën, Bedencken von der Schädlichkeit der Festungen und dem wider das Natur- und Völcker-Recht laufenden Gebrauch des Pulvers. Bey Gelegeheit der neulich übergangenen Festung Bergen-op-Zoom, Frankfurt: Fleischer 1748 [dasselbe auch u. d. T.: Von dem Mißbrauch der Festungen, in: Loën, Der Soldat, neue Aufl., Frankfurt und Leipzig: Fleischer 1752, S. 241–272], argumentierte sogar, dass Festungsstädte als Ziele feindlicher Kriegshandlungen die Bewohnerschaft unvertretbaren Sicherheitsrisiken aussetzten und deshalb rechtwidrig seien. Zu Pufendorfs Sicherheitsbegriff siehe: Hans Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1973, S. 40–63 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. 5.) [2. Aufl., ebenda 1981]. Andrea Schrimm-Heins, Gewißheit und Sicherheit. Geschichte und Bedeutungswandel der Begriffe certitudo und securitas, in: Archiv für Begriffsgeschichte 35. Jg. (1992), S. 154–171. 150 John Locke, Two Treatises of Government [Oxford: Churchill 1689], Treatise II, § 123, hg. von Peter Laslett, 2. Aufl., Cambridge: Cambridge University Press 1970, S. 368 [zuerst, ebenda 1960; Nachdruck, ebenda 1980].

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die in der Annahme von Herrschaftsverträgen gründende Legitimitätstheorie verhalfen dem umfassenden Begriff der Sicherheit zu weitreichender Wirkung. Der Respekt vor dem Naturrecht verpflichtete Herrscher und Regierungen darauf, sich für die Bewahrung des Friedens, die Bereitstellung von Sicherheit und das Bringen von Schutz so viel und so lange wie möglich einzusetzen. Krieg galt nach wie vor als unvereinbar mit dem Gebot der Bereitstellung von Sicherheit und dem Bringen von Schutz und konnte nur im Sinn Augustins gerechtfertigt werden, wenn er als Beitrag zur Verfestigung des Friedens ausgegeben werden konnte.151 So positionierte Christian Wolff Gemeinen Nutzen und Sicherheit als die „höchsten und letzten Gesetze des Staats“. Daher sei die allgemeine Frage, nach der alles im Staat entschieden werden müsse, wie der Gemeine Nutzen verbessert und die Sicherheit bewahrt werde. Und Jean-Jacques Rousseau setzte sowohl die Ordnung der Natur als auch die mit ihr korrespondierende moralische Ordnung unter den Menschen als gottgewollt voraus.152 Eher praktisch argumentierte der Berliner Prediger und Demograf Johann Peter Süßmilch in seiner Friedrich II. dedizierten umfangreichen Studie über die Bevölkerungsentwicklung. Den Herrschern wies er die Aufgabe zu, für die Peuplierung der ihnen unterstellten Territorien zu sorgen. Zu diesem Zweck benannte er vier Grundregeln, die das Wachstum der Bevölkerung fördern sollten: die Er151 So schon ausdrücklich: Francisco de Vitoria, De Indis sive de iure belli Hispanorum in barbaros relectio posterior, Sectio II, tit. I, hg. von Ernest Nys, Washington: Carnegie Institution 1917, S. 234 [Nachdrucke, New York: Oceana 1964; Buffalo: Hein 1995]. Lazarus von Schwendi, Diskurs und Bedenken über den jetzigen stand und wesen des heutigen reiches, unseres lieben vaterlands [1570], hg. von Eugen von Frauenholz, Lazarus von Schwendi, Hamburg: Hanseatische VerlagsAnstalt 1939, S. 186. Zu Vitoria siehe Bibliografie Nr. 67. 152 Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken Von dem Gesellschaftlichen Leben der Menschen Und insonderheit dem gemeinen Wesen Zu Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechtes, § 215, 4. Aufl., Frankfurt und Leipzig: Renger 1736, S. 163 [Nachdruck, hg. von Hans Werner Arndt, Hildesheim und New York: Olms 1975 (Wolff, Gesammelte Werke, Abteilung I, 5. Bd.)]. Wolff, Institutiones juris naturae et gentium, § 89, Halle und Magdeburg: Renger 1750, S. 47 [Nachdruck, hg. von Marcel Thomann, Hildesheim und New York: Olms 1969 (Wolff, Gesammelte Werke, Abteilung II, 26. Bd.)]. Jean-Jacques Rousseau, Les Rêveries du Promeneur Solitaire, in: Rousseau, Œuvres complètes, hg. von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, 1. Bd., Paris: Gallimard 1959, S. 1018–1019 (Bibliothèque de la Pléiade. 4.). Zu Rousseau siehe: Maurizio Viroli, La théorie de la société bien ordonée chez Jean-Jacques Rousseau, Berlin und New York: de Gruyter 1988, S. 22 (European University Institute Series C, Bd. 11.). Den umfassenden Charakter des Sicherheitsbegriffs in der politischen Theorie noch des 18. Jahrhunderts übersieht völlig: Daniel Deudney, Publius before Kant. Federal-Republican Security and Democratic Peace, in: European Journal of International Relations 10. Jg. (2004), S. 315–356, der Sicherheit ausschließlich in Bezug auf Militärisches in Betracht zieht und den Theoretikern der US-Verfassung Innovationen der Sicherheitstheorie zuschreibt, die bereits im 16. Jahrhundert nachweisbar sind.

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laubnis zur frühen Eheschließung, die Gewährung von Hilfen zur Kindererziehung, Maßnahmen zur Erhaltung des Lebens und eine gerechte Regierung, damit Emigration vermieden werde. Damit benannte Süßmilch, wie schon vor ihm im 17. Jahrhundert der englische Demograf John Graunt, die Bereitstellung von Sicherheit als zentrale Herrscheraufgabe. Der Politiktheoretiker Jacob Friedrich von Bielfeld sekundierte und bestimmte als „erste Tugend der Regierung“ die Bereitstellung von Sicherheit für Leben und Personen der Bürger, deren Ehre und Vermögen.153 Bis an das Ende des 18. Jahrhunderts galt Sicherheit somit als Hauptzweck des Staates. Der Anspruch auf Gewährung von Sicherheit wurde sogar aus dem Naturrecht abgeleitet.154 Aber nicht nur Herrscher handelten als Bereitsteller von Sicherheit und Schutz. Nach wie vor waren private Anbieter von Sicherheit und Schutz zugelassen und erfreuten sich seit Ende des 17. Jahrhunderts der besonderen Beachtung aufklärerisch gesinnter Gelehrter. Private Unternehmungen entstanden, die sich auf das Geschäft mit dem einen oder anderen Bereich der Sicherheit spezialisierten. Auch öffentliche Unternehmen erhielten herrscherliche Privilegien zur Bereitstellung von Sicherheit und Schutz. Bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sowie noch einmal in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verlangten Gottfried Wilhelm Leibniz155 und Johann Heinrich Gottlob Justi,156 über die spätmittelalterlichen privaten Risikoversicherungen für die Schifffahrt hinausgehend, den Ausbau herr153 John Graunt, Natural and Political Observations Made Upon the Bills of Mortality, London: Martin 1662 [Neuausg., Baltimore: Johns Hopkins University Press 1939, S. 78; Online-Ausg., Farmington Hills, MI: Thomson Gale 2006]. Süßmilch, göttliche Ordnung, 1. Bd., 3. Aufl. (wie Anm. 134), S. 416–417. Jacob Friedrich von Bielfeld, Lehrbegriff des Staatskunst, 1. Bd., 3. Aufl., Breslau und Leipzig: Korn 1777, S. 192 [zuerst, Den Haag: Gosse 1760]. 154 Johann Stephan Pütter, Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reiches, 2. Aufl., 3. Bd., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1787, S. 234–235 [3. Aufl., ebenda 1798; Nachdruck der 3. Aufl., Hildesheim, Zürich und New York: Olms 2001]. Johann Adam Bergk, Untersuchungen aus dem Natur/Staats/ und Völkerrecht mit einer Kritik der neuesten Konstitution der französischen Republik, Leipzig: s. n. 1796, S. 26 [Nachdruck, Kronberg: Skriptor 1975]. Zu Pütter siehe: Manfred Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, Berlin: Duncker & Humblot 1997 (Schriften zur Verfassungsgeschichte. 50.). Ulrich Schlie, Johann Stephan Pütters Reichsbegriff, Göttingen: Schwartz 1961, S. 33–55 (Göttinger Rechtswissenschaftliche Studien 38.). 155 Gottfried Wilhelm Leibniz, Assekuranzen [1678], in: Leibniz, Politische Schriften, 3. Bd., Berlin: Akademie-Verlag 1986, S. 423–432 (Leibniz. Sämtliche Schriften, Abteilung IV, Bd. 3.). Zu den Schifffahrtsverträgen siehe oben, Anm. 100. 156 Johann Heinrich Gottlob von Justi, Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten, §§ 879, 881, 1. Bd., Königsberg und Leipzig: Hartung 1760, S. 764, 766 [Nachdruck, Aalen: Scientia 1965].

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scherlich kontrollierter wie auch privater Versicherungssysteme, die Schäden in Folge von Tod oder Feuer begleichen sollten, von denen Familien betroffen sein konnten. Obrigkeitlich kontrollierte Feuerversicherungen kamen in einigen Städten wie zum Beispiel Hamburg in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sowie in den Territorien nach städtischem Vorbild im 18. Jahrhundert tatsächlich zustande,157 und private Gesellschaften begannen das Geschäft mit Lebensversicherungen als Altersvorsorgesystemen.158 Jenseits der scheinbar wohl geordneten „bürgerlichen Gesellschaften“, in Gegenden und Gruppen also, die die Ordnungs- und Überwachungsmacht der weltlichen und kirchlichen Herrschaft nicht oder nicht ganz erfasste, bestanden autonome Gruppen fort. Zumeist fanden sich Vaganten und Bettler in ihnen zusammen, die die weltlichen und kirchlichen Instanzen zu kriminalisieren trachteten und aus den wohl geordneten Siedlungen auswiesen. Einige dieser Vagantengruppen bildeten eine Art Unterweltkultur aus mit eigenen Regelsystemen, exklusiven Sprachnormen, strikter Kontrolle, unbedingter Erzwingung von Loyalität und autonomen Mechanismen der Bereitstellung von Sicherheit.159 Bemerkenswert ist, dass bis ans Ende des 157

Zur seit 1676 bestehenden Hamburger Feuerkasse, hessischen Brandversicherung sowie zu weiteren Feuerversicherungen siehe Bibliografie Nr. 48. Die außerdem seit dem Spätmittelalter bestehenden privaten Risiko-Versicherungen (siehe oben, Anm. 100) wurden im 17. Jahrhundert als „assecuratio“ bezeichnet und waren Gegenstand der Handels- und Völkerrechtswissenschaft. Siehe: Grotius, De jure, lib. II, cap. 2, § 13 (wie Anm. 139). Johann Marquardt, Tractatus politico-juridicus De jure mercatorium et commerciorum, lib. II, cap. 13, Nr. 34, Frankfurt: Goetzius 1662. Pufendorf, De iure gentium, lib. V, cap. 9, § 8 (wie Anm. 149). Artikel Assecuratio, in: Johann Heinrich Zedler, Grosses Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, 2. Bd., Leipzig und Halle: Zedler 1732, Sp. 1899–1901 [Nachdruck, Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1962]. 158 Zu den Lebensversicherungen siehe: Peter Borscheid, Die Entstehung der deutschen Lebensversicherungswirtschaft im 19. Jahrhundert, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 70. Jg. (1983), S. 305–330. Arthur Henry John, Insurance Investment and the London Money Market of the Eighteenth Century, in: Economica 20. Jg. (1953), S. 137–158. Alfred Manes, Outlines of a General Economic History of Insurance, in: Journal of Business of the University of Chicago (1942), S. 30–48. Albert Rosin, Lebensversicherung und ihre geistesgeschichtlichen Grundlagen. Diss. rer. pol., Köln 1932. 159 Zur älteren Literatur über die Randgruppen siehe: Friedrich Christian Benedict Avé-Lallemant, Das deutsche Gaunerthum, 3 Bde., Leipzig: Brockhaus 1858–1862 [neu hg. in 2 Bden., München und Berlin: Georg Müller 1914; Nachdruck in 1 Bd., Wiesbaden: Fournier 1998, bes. 1. Bd., S. 11]. Otto Benecke, Von unehrlichen Leuten, Hamburg; Selbstverlag 1863. Charles James Ribton-Turner, A History of Vagrants and Vagrancy, London: Chapman 1887. Das Vorurteil, dass permanente Migranten abweichendes Verhalten zeigen und der Kriminalität zuneigen, wurde von den Nazis mit rassistischen Scheinargumenten bestärkt und setzte sich bis in die Nachkriegszeit fort. Siehe: Robert Ritter, Ein Menschenschlag. Erbärztliche und erbgeschichtliche Untersuchungen über die – durch 10 Geschlechterfolgen erforschten

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18. Jahrhunderts weltliche und kirchliche Institutionen von Herrschaft kaum Maßnahmen zur Unterdrückung dieser autonomen Gruppen trafen.160 In Bezug auf die internationalen Beziehungen blieben die Bewahrung des Friedens und die Bereitstellung umfassender Sicherheit die am häufigsten erklärten Ziele auswärtiger Politik. Avant la lettre hatte Erasmus von Rotterdam bereits im Jahr 1517 Bemühungen um einen stabileren Frieden durch Mäßigung seitens der Herrscher seiner Zeit eingefordert und vorgeschlagen, dass die mächtigeren unter ihnen einen multilateralen Vertrag zur Beförderung eines allgemeinen Friedens in Europa schließen sollten. Er legte diesen Vorschlag in einem Traktat nieder, den er wohl auf Veranlassung der burgundischen Kanzlei Herzog Karls II., des 1516 gewählten Königs Karl I. von Aragon und späteren Kaisers Karl V., verfasst hatte.161 Die Kanzlei griff den Vorschlag in der Tat auf und startete Vorbereitungen für den Abschluss eines solchen Vertrags. Die den Vertrag schließenden Parteien sollten auf Krieg als Mittel des Austragens von Streitigkeiten feierlich verzichten und sich darauf verpflichten, für die Sicherheit den ihnen unterstellten Beherrschten zu sorgen. Der Vertrag trat schließlich im Jahr 1518 in Kraft und blieb Gegenstand außenpolitischer Verhandlungen bis zum Jahr 1525.162 Obschon der Vertrag schließlich durch den neuerlichen Krieg – Nachkommen von „Vagabunden, Jaunern und Räubern“, Leipzig: Thieme 1937. Hermann Arnold, Vaganten, Komödianten, Fieranten und Briganten. Untersuchungen zum Vagantenproblem an vagabundierenden Bevölkerungsgruppen vorwiegend in der Pfalz, Stuttgart: Thieme 1958 (Schriften aus dem Gebiete des öffentlichen Gesundheitswesens. 9.). Rudolf Endres, Das Armenproblem im Zeitalter des Absolutismus, in: Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland, hg. von Franklin Kopitzsch, München: Nymphenburger Verlagshandlung 1976, S. 229. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 1. Bd., München: Beck 1987, S. 174–176. Zur Kritik der Kriminalisierung von permanenten Migranten in der neuren Forschung siehe Bibliografie Nr. 49. Selbst im frühen 20. Jahrhundert zeigte die Arbeiterin Lucy Luck in ihrem Lebensbericht beträchtlichen Stolz über die Tatsache, dass es ihr auch unter Bedingungen von Migration in ihren Jugendjahren gelungen war, straffrei zu bleiben. Siehe: Lucy Luck, A Little of My Life, in: London Mercury 13. Jg. (1925/26), S. 354–373. 160 Siehe: Carsten Küther, Räuber und Gauner in Deutschland. Das organisierte Bandenwesen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1976 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. 20.). Küther, Menschen auf der Straße. Vagierende Unterschichten in Bayern, Franken und Schwaben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1983 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. 56.). 161 Erasmus Desiderius Erasmus, Querela pacis, in: Erasmus, Opera omnia, 4. Bd., Leiden: Van der Aa 1723, Sp. 625–642 [Nachdruck, Hildesheim: Olms 1962]. Zur Friedenstheologie des Erasmus siehe Bibliografie Nr. 65. 162 Der Text des Vertrags vom Jahr 1518 liegt gedruckt vor in: Foedera, conventiones, litterae et cujusque generis acta publica inter reges Angliae et alios quosvius imperatores, reges, pontifices, principes vel communitates, hg. von Thomas Rymer,

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zwischen Frankreich und Spanien um Kontrolle Italiens obsolet wurde, blieben seine wesentlichen Bestimmungen auf der Agenda der internationalen Beziehungen und gaben die Plattform ab für Einzelregelungen in bilateralen Verträgen mit dem Versprechen, künftig den Frieden in stabilerer Form bewahren zu wollen. Im Sinn der Theologie des Hl. Augustinus und des späteren Mittelalters galt auch im 16. Jahrhundert Krieg als gerechtes Mittel der Strafe gegen Übeltäter und wurde dem Frieden als extremes Gegenstück gegenübergestellt. In einigen Friedensverträgen zeigten die Signatarmächte Bereitschaft, künftig für Stabilität eintreten zu wollen, und deklarierten Stabilität als Bedingung für Sicherheit. Wörter wie Ruhe, repos, tranquillity und balance und Bestimmungen über die Sicherheit von Untertanen in Gebieten unter der Kontrolle anderer Herrscher fanden Eingang in die Sicherheitsdebatte163 und kamen als Rechtsbegriffe ohne Bewehrung durch militä13. Bd., London: Churchill 1714, S. 624–649 [Nachdruck, Farnborough: Gregg 1967]. Auch in: Corps diplomatique universel de droit des gens, hg. von Jean Dumont, Baron de Carels-Croon, 4. Bd., 1. Teil, Den Haag: Husson et Levier; Amsterdam: Brunel 1726, Nr. 125, S. 269–275. Zum Vertrag und den politischen Kontroversen über ihn siehe: Harald Kleinschmidt, Charles V. The World Emperor, Stroud: Sutton 2005, S. 94–102. Garrett Mattingly, An Early Non-Aggression Pact, in: Journal of Modern History 10. Jg. (1938), S. 1–30. Mattingly, Renaissance Diplomacy, London: Cape; Boston: Houghton Mifflin 1955) [weitere Ausg., New York: Russel & Russell 1970; Harmondsworth: Penguin 1973; New York: Dover 1988]. 163 Heinrich Rantzau, Commentarius bellicus, lib. VI, cap. 12, Frankfurt: Palthen 1595, S. 343–344. Bereits im Jahr 1591 hatte Heinrich Rantzau seinen Friedensplan mit der von ihm postulierten Notwendigkeit begründet, das Reich „wiederumb zu bestendiger Ruhe und Frieden“ zu bringen. Siehe: Heinrich Rantzau, [Briefe an Herzog Ulrich von Mecklenburg und an Graf Karl von Arenberg, 4.7.1591 und 13.7. X 27.7.1591], Staatsarchiv Schwerin, Altes Archiv. Internum, Correspondentia ducum, Herzog Ulrich 1 B 21, Teildruck in: Reimer Hansen, Heinrich Rantzau und das Problem des europäischen Friedens in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Heinz Duchhardt, Köln und Wien: Böhlau 1991, S. 104 (Münsterische Historische Forschungen. 1.). Zu Rantzau siehe: Reimer Hansen, Der Friedensplan Heinrich Rantzaus und die Irenik in der zweiten Reformation, in: Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland. Das Problem der „Zweiten Reformation“, hg. von Heinz Schilling, Gütersloh: Mohn 1986, S. 360–361. Hansen, Krieg und Frieden im Denken und Handeln Heinrich Rantzaus (1526–1598), in: Krieg und Frieden im Horizont des Renaissance-Humanismus, hg. von Franz-Josef Worstbrock, Weinheim: Acta Humanica 1986, S. 125–138 (Deutsche Forschungsgemeinschaft. Kommission für Humanismusforschung. Mitteilung 13.). Friedrich Lammert, Heinrich Rantzau und sein Kriegsbuch, in: Nordelbingen 14. Jg. (1938), S. 302–334. Zur Sicherheitsdebatte unter Intellektuellen siehe: Samuel Rachel [praes.], Nicolaus Boye [resp.], De securitate publica. Diss. Jur., Kiel 1666. Gottfried Wilhelm Leibniz, Bedenken welchergestalt Securitas Publica interna et externa und Status praesens im Reich iezigen Umständen nach auf festen Fuß zu stellen [1670], in: Leibniz, Politische Schriften, 1. Bd., Berlin: Akademie-Verlag 1983, S. 140 (Leibniz. Sämtliche Schriften und Briefe, III. Abteilung, 1. Bd.). Sebastian Almers, Die Grund-Seule der dem

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rische Zwangsmittel in Gebrauch für Stabilität und ein internationales System, das als Rahmen zur Friedensbewahrung ausgegeben wurde.164 Auch das Gleichgewicht wandelte sich von einer Richtschnur für politisches Entscheiden in einen Rechtsgrundsatz, dessen Verletzung als Grund für einen gerechten Krieg gegen einen Herrscher anerkannt wurde, der sich gegen die Ethik der Mäßigung gestellt haben sollte. Kontroversen über gerechte Kriege fanden während des 18. Jahrhunderts in der Sprache der Bereitstellung von Sicherheit statt.165 Heil[igen] Röm[ischen] Reiche Teutscher Nation höchstzuträglichen Sicherheit, Frankfurt/Oder: Schrey 1697. Leibniz griff die Unterscheidung zwischen „innerer und äußerer Sicherheit“ auf, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eingeführt wurde. Der beide Bereiche der Bereitstellung von Sicherheit umfassende Oberbegriff blieb aber der der „Öffentlichen Sicherheit“. Siehe dazu: Karl Härter, Sicherheit und Frieden im frühneuzeitlichen Alten Reich, in: Zeitschrift für Historische Forschung 30. Jg. (2003), S. 413–431. Notker Hammerstein, Leibniz und das Heilige Römische Reich deutscher Nation, in: Nassauische Annalen 85. Jg. (1974), S. 87–102. Kirsten Hauser, „Securitas Publica“ und „Status Praesens“. Das Sekuritätsgutachten von Gottfried Wilhelm Leibniz (1670), in: Formen internationaler Beziehungen in der Frühen Neuzeit. Frankreich und das Alte Reich im europäischen Staatensystem. Festschrift für Klaus Malettke zum 65. Geburtstag, hg. von Sven Externbrink und Jörg Ulbert, Berlin: Duncker & Humblot 2001, S. 443–466 (Historische Forschungen. 71.). Klaus Malettke, Konzeptionen und Verfahrensweisen französischer Außenpolitik, in: Malettke, Frankreich, Deutschland und Europa im 17. und 18. Jahrhundert, Marburg: Hitzeroth 1994, S. 263–285 (Marburger Studien zur Neueren Geschichte. 4.) [zuerst in: Der Europa-Gedanke, hg. von August Buck, Tübingen: Niemeyer 1992, S. 83–106 (Reihe Villa Vigoni. 7.)]. Emil Winkler, Sécurité, Berlin: Verlag der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1939, S. 14–5 (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Kl., Nr. 10.). 164 Zu Rechtstexten siehe den Vertrag zwischen Dänemark und Frankreich, vertreten durch König Christian IV. und Mazarin, vom 12. November 1645, Art. 12, in: Corps (wie Anm. 162), 6. Bd., 1726, S. 329. Friedensvertrag von Rijkswijk, 20. September 1697, in: Consolidated Treaty Series, hg. von Clive Parry, 21. Bd., Dobbs Ferry: Oceana 1969, S. 413 (lateinische Fassung), S. 456 (französische Fassung). Friedensvertrag zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich von Utrecht, 11. April 1713, Präambel, in: Parry (wie oben), 27. Bd., S. 478. Friedensvertrag zwischen Spanien und dem Vereinigten Königreich von Utrecht, 13. Juli 1713, Art. 2, in: Parry (wie oben), 28. Bd., S. 299–300 (lateinische Fassung), S. 325–326 (englische Fassung). Der Vertrag von Rijkswijk und der britisch-französische Vertrag von 1713 gebrauchten das Wort tranquillité. Der britisch-spanische Vertrag von 1713 setzte das Ziel der Wiedererrichtung und Erhaltung des Gleichgewichts. Beide Verträge zusammen belegen, dass tranquillité ein Gleichgewichtsterminus war. Zu Bestimmungen über die Sicherheit britischer Untertanen, insbesondere Kaufleuten, im Osmanischen Reich siehe den ersten schriftlich überlieferten britisch-türkischen Vertrag von 1675, in: Corps (wie Anm. 162), 7. Bd., 1. Teil, 1726, S. 297–305. Zur Diskussion dieser Verträge siehe: Heinz Duchhardt, Gleichgewicht der Kräfte, Convenance, europäisches Konzert. Friedenskongresse und Friedensschlüsse vom Zeitalter Ludwigs XIV. bis zum Wiener Kongreß, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, S. 5–125 (Erträge der Forschung. 56.).

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Vor dem Hintergrund des Konfessionsstreits in der zweiten Hälfte des 16. und 17. Jahrhunderts politisierten die Konfliktparteien das Wort Schutz als Propagandamittel im Dienst der Vorbereitung von Kriegen. Schon Jean Bodin griff diesen Missbrauch auf und wies darauf hin, dass mächtige souveräne Herrscher von Schutz reden könnten, den sie weniger mächtigen souveränen Herrschern angedeihen lassen wollten. Dabei handelte es sich Bodin zufolge aber nicht um echten Schutz, sondern tatsächlich um das Streben nach Herrschaft, das heißt der Zerstörung der Souveränität des schwächeren Herrschers.166 Bodin zog daraus den fundamentalistischen Schluss, dass das Annehmen von Schutz mit der Souveränität von Herrschaft grundsätzlich unvereinbar sei, und nahm mit dieser Stellungnahme die Kontroverse um die französische Kriegspropaganda unter Ludwig XIV. vorweg.167 Gleichwohl hatte die Ethik der Mäßigung nicht zuletzt in der zweiten Hälfte des 17. und in wesentlichen Abschnitten des 18. Jahrhunderts starken disziplinierenden Einfluss auf die Politik wie auch die Organisation des Militärs. In den Niederlanden, wo die Wirkung von Lipsius’ Werk am größten war, verließ sich die Regierung schon ab Ende des 16. Jahrhunderts nicht mehr auf professionelle Kriegerverbände des landsknechtischen Typs, sondern traf ab 1594 Maßnahmen, um das ihr für den Krieg gegen Spanien 165 Emer[ich] de Vattel, Le droit des gens. Ou principes de la loi naturelle appliqués à la conduite et aux affairs des nations et souverains, 1. Bd., London: s. n. [recte: Neuchâtel], 1758), S. 71–72, 241–252 [Nachdruck, hg. von Charles G. Fenwick, Washington: Carnegie Institution 1916; Nachdruck des Nachdrucks, Genf: Slatkine 1983; Nachdruck der englischen Fassung, Indianapolis: Liberty Fund 2008]. Zu einer Kriegsdeduktion, in der Gleichgewichtstermini verwandt wurden, siehe: Staats-Betrachtungen über gegenwärtigen Preußischen Krieg in Teutschland in wie fern solcher das allgemeine Europäische, vornehmlich aber das besondere Teutsche Interesse betrifft, Wien: Kaliwoda 1761. Mit Anmerkungen wieder aufgelegt, Berlin: Rüdiger 1761. Hg., ohne die „Anmerkungen“, von Johannes Kunisch, Das Mirakel des Hauses Brandenburg, München und Wien: Oldenbourg 1978, S. 102–141. Zu Debatten um die Friedenspolitik im 18. Jahrhundert siehe Bibliografie Nr. 50. 166 Jean Bodin, Les six livres de la République, lib. I, cap. 7 [Paris: Du Puy 1576], Neudruck, hg. von Christiane Frémont, Marie-Dominique Couzinet und Alain Rochais, 1. Bd., Paris: Fayard 1986, S. 151–157. 167 Zur französischen Außenpolitik unter Richelieu siehe: Klaus Malettke, Frankreich, Deutschland und Europa im 17. und 18. Jahrhundert. Beiträge zum Einfluß französischer politischer Theorie, Verfassung und Außenpolitik in der frühen Neuzeit, Marburg: Hitzeroth 1994 (Marburger Studien zur Neueren Geschichte. 4.), S. 169–261. Malettke, Konzeptionen (wie Anm. 163). Malettke, Les relations entre la France et le Saint-Empire au XVII siècle, Paris: Champion 2001 (Bibliothèque d’histoire moderne et contemporaine. 5.) Jeffrey K. Sawyer, Printed Poison. Propaganda, Faction Politics and the Public Sphere in Early Seventeenth-Century France, Berkeley und Los Angeles: University of California Press 1990. Wolfgang Hans Stein, Protection royale, Münster: Aschendorff 1978 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte. 9.).

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verfügbare Aufgebot an Milizionären im Gebrauch der Waffen zu exerzieren. Darin folgte die Regierung Lipsius’ Ratschlag und anderer zeitgenössischer Theoretiker, die ihre Grundsätze des militärischen Exerzierens von griechischen und römischen Vorbildern ableiteten.168 Die niederländische Regierung variierte Lipsius’ Vorschläge, indem sie zusätzlich zu der klassisch-antiken auch noch mittelalterliche Traditionen des Waffenübens aufgriff, und unterstellte ihr Milizaufgebot dem Kommando ihrer Offiziere. Die Milizionäre wurden in der Handhabung ihrer Waffen geübt und waren zudem gehalten, sich selbst zu kontrollieren und nur erteilte Befehle bedingungslos und ohne Räsonieren auszuführen.169 Die Organisation des niederländischen Militärs beruhte auf dem Drill der Milizionäre und diente dem Ziel, die Handlungen der kämpfenden Truppe zu begrenzen und die einzelnen Krieger in einheitliche und geschlossene Einheiten zu integrieren. Obschon die niederländische Milizorganisation, die die Bündnispartner der Oranier im deutschen Sprachraum übernahmen, während des Dreißigjährigen Krieges gegen die professionellen Söldnerhaufen außerhalb der Niederlande fast durchweg Niederlagen hinnehmen musste, gab sie doch das Modell ab für die militärischen Reformen, die nach Beendigung dieses Krieges in vielen Teilen Europas durchgeführt wurden. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde Drill in den europäischen Armeen ubiquitär als Mittel zur Erzwingung von Disziplin und Erlernen des Waffengebrauchs.170 Das Drillen von Milizionären wie auch Soldaten aber kostete Zeit. Gut gedrillte Kombattanten waren daher von großem taktischen Wert, schwer zu ersetzen und zu teuer als bloßes Kanonenfutter. Militärführer mussten sich daher bemühen, Schlachten, so gut es ging, zu vermeiden und, wo sie Schlachten für unausweichlich hielten, die Zahl der Kriegstoten zu minimieren. Schlachtvermeidung geronn zur hohen Kunst der Kriegsführung, und der Erfolg in der Minimierung der Zahl von Kriegstoten brachte Kommandeuren wie dem Prinzen Eugen von Savoyen unsterblichen Kriegsruhm. Kriege wurden zu einer öffentlichen Sache und einem ausufernden System von Regeln des internationalen Rechts unterworfen, die, auch wenn sie nicht erzwingbar waren, doch als politische Kampfmittel gegen Herr168 Die Hauptquelle zu den niederländischen Militärreformen ist: Die Heeresreform der Oranier. Das Kriegstagebuch des Grafen Johann von Nassau-Siegen, hg. von Werner Hahlweg, Wiesbaden: Historische Kommission für Nassau 1973 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau. 20.). Zu Lipsius’ Arbeiten über militärische Angelegenheiten siehe oben, Anm. 132. Zu den Militärreformen der Oranier in den Niederlanden, Nassau und unter ihren Verbündeten im Reich siehe Bibliografie Nr. 51. 169 Eine Liste der Exerzierreglements ist in: Harald Kleinschmidt, Tyrocinium militare, Stuttgart: Autorenverlag 1989, S. 358–384. 170 Zu einem Überblick siehe Kleinschmidt, Tyrocinium (wie Anm. 169), S. 150–195.

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scher verwendet werden konnten, die im Ruf standen, sich dem internationalen Recht nicht beugen zu wollen.171 Ein europäischer Klub von Kommandeuren entstand, die ziemlich frei zwischen den Armeen migrierten und immer wieder in die Dienste anderer Herrscher traten. Sie konstituierten die „militärische Aufklärung“ als eine europaweite Bühne, auf der sie im Medium der Schrift öffentlich und kontrovers über militärische Dinge debattierten.172 Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts blieb Sicherheit umfassend definiert, obschon die eschatologische Dimension dem Begriffs völlig abhanden kam. Zumal protestantische Theologen, zu allererst Luther selbst klassifizierten, das Bemühen um Sicherheit sogar als ein Übel und brachten es mit der mittelalterlichen Todsünde der Trägheit und Sorglosigkeit (acedia) in Verbindung. Sie befürchteten, dass der Glauben an die Sicherheit gegen das Böse die Furcht vor Gottesstrafen bei sündigem Verhalten vermindern könnte, und warnten davor, dass auf Sicherheit vertrauende Christen das Evangelium vergessen und den Versuchungen des Teufels erliegen könnten. Die eschatologische Dimension des Sicherheitsbegriffs war somit in der protestantischen Theologie schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts negativ belegt. Im 18. Jahrhundert konnte Voltaire den Abbé de Saint-Pierre des Antiintellektualismus dafür zeihen, dass er es gewagt hatte, auf einen „ewigen Frieden“ zu hoffen. Diese Hoffnung, zeterte Voltaire, ruhe im Glauben an übernatürliche Mächte und sei daher rational nicht begründbar. Zudem habe der Abbé die Ordnungsgrundsätze des Hauses auf die Beziehungen zwischen Herrschern und Staaten ausdehnen wollen. Das aber sei 171 Grotius sowie Wolff und Vattel verwandten den Begriff des bellum publicum zur Abgrenzung gegen die Fehde. Siehe dazu oben, Anm. 143, sowie Mónica Brito Vieira, Mare Liberum vs Mare Clausum. Grotius, Freitas and Selden’s Debate on Dominium over the Seas, in: Journal of the History of Ideas 64. Jg. (2003), S. 373–374. Heinhard Steiger, Die Träger des ius belli ac pacis. 1648–1806, in: Staat und Krieg, hg. von Werner Rösener, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 118–120. Bekanntlich versuchte Friedrich II., post factum Kriegsgründe für seine Invasion Schlesiens im Jahr 1740 zu konstruieren. Diese Deduktionen überzeugten aber mögliche Bündnispartner nicht mit dem Ergebnis, dass Preußen in den Schlesischen Kriegen weitestgehend auf sich selbst gestellt war und nur bedingt britische Subsidien erhalten konnte, nicht aber direkte Waffenhilfe. Siehe: Lord Philip Dormer Stanhope, Fourth Earl of Chesterfield, Natural Reflections on the Present Conduct of His Prussian Majesty [1744], hg. von Reinhold Koser, Preußische Staatsschriften aus der Regierungszeit König Friedrichs II. 1740–1745, 1. Bd., Berlin: Duncker 1877, S. 597–617. Juristische und politische Briefe von Bedenklichkeiten bey Jetzigem Kriege, Altdorf: s. n. 1758, S. 19. Zur Kontroverse über die Invasion siehe Bibliografie Nr. 52. 172 Siehe dazu: Daniel Hohrath, Die Bildung des Offiziers in der Aufklärung. Ferdinand Friedrich von Nicolai (1740–1814) und seine enzyklopädischen Sammlungen, Stuttgart: Württembergische Landesbibliothek 1990.

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utopisch.173 Während einige Autoren wie Justus Lipsius und Johannes Althusius damit begannen, die private von der öffentlichen Sphäre in ihren Aussagen über Sicherheit und Schutz zu trennen, änderte sich wenig an der Institutionalisierung der Dichotomie der öffentlichen und der privaten Sphäre und der Markt der im Wettbewerb stehenden Bereitsteller von Sicherheit und Bringer von Schutz blieb bestehen.

V. Leben in Staaten. Die Militarisierung der Sicherheit 1. Staatsentstehung als Absorption kollektiver Identitäten und Nationalisierung des politischen Raums Die Kehrseite des Bemühens um Bewahrung der Stabilität und Sicherheit unter dem Ancien Régime des späteren 17. und des 18. Jahrhunderts war die mangelnde Flexibilität der politischen und Verwaltungsinstitutionen in den Reichen, Staaten, Territorien und Städten. Das rigide System von Ordnung und Kontrolle konnte entweder nur erhalten oder zerstört werden; es war nicht reformfähig. Die Revolutionen in Amerika und Frankreich sagten Zerstörung an. Während der Epoche der Revolutions- und Napoleonischen Kriege zwischen 1792 und 1815 entstand eine neue politische Landschaft, in der nur noch wenige der vorrevolutionären Reiche, Staaten, Territorien und Städte als selbständig und souverän weiter bestanden. Die Zugehörigkeit zu den neuen Staaten als kollektive Identität bestimmte sich in der Form der Nationalität oder der als Indigenat verstandenen Staatsangehörigkeit. Militärdienst erwuchs als zentrales Merkmal der Bestimmung der kollektiven Identität und legte die Grundpflichten der Staatsbürger fest. Die nicht in Kraft gesetzte französische Verfassung von 1793 schrieb sogar militärisches Exerzieren als allgemeine Pflicht für die männliche Bevölkerung der Republik vor.174 Nationen wurden begriffen als „Völker in Waffen“.175 173 Martin Luther, Vorlesung über den 1. Brief des Johannes [1527], in: Luther, Werke, 20. Bd., Weimar: Böhlau 1904, S. 706 [Nachdruck, ebenda 1964]. Luther, Thesen gegen die Antinomer [1538], These 45, in: ebenda, 39. Bd., 1926, S. 61. Luthers Tischreden, Nr. 6579, 6. Bd., Weimar: Böhlau 1921, S. 53 [Nachdruck, ebenda 1964]. Siehe dazu Bibliografie Nr. 9, insbesondere Schrimm-Heins, Gewissheit (wie Anm. 149), Teil I, S. 190–213. Winkler, Sécurité (wie Anm. 163), S. 11–12. Zu Voltaire siehe: Merle Lester Perkins, Voltaire’s Concept of International Order, in: Studies in Voltaire and the Eighteenth Century 36. Jg. (1965), S. 94, 108. 174 Les constitutions de la France, hg. von Jacques Léon Godechot, Paris: Garnier-Flammarion 1970, S. 90. 175 Abgeleitet von: Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Teil II, Buch VI, Kap. 26, Frankfurt, Berlin und Wien: Ullstein 1980, S. 521 [zuerst posthum erschienen, Ber-

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Nationen als Gruppen von Kriegerbürgern manifestierten sich nicht nur in obligatorischem Militärdienst, sondern auch in der im Verlauf des 19. Jahrhunderts schnell wachsenden sozialen Akzeptanz des Militärs durch die städtischen Mittelschichten. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts waren bürgerliche Ideologen damit beschäftigt, für den Staat als „Verkörperung“ der Sittlichkeit und Institution zur Durchsetzung des Rechts zu werben. Ethik sollte nicht mehr auf die gesamte Menschheit bezogen, sondern an die Nation gebunden sein. Im deutschen Sprachraum traten Friedrich Ludwig Jahn und die von ihm maßgeblich beeinflusste Turnerbewegung an, den Sport zu militarisieren und zumal unter jungen Leuten für den Staat als Nationalstaat zu werben.176 In dieselbe Richtung argumentierte Johann Gottlieb Fichte, indem er forderte, die Regierungen sollte die unter ihrer Kontrolle stehenden Bevölkerungsgruppen zur Nationalität erziehen, und behauptete, die persönliche Sicherheit aller Angehörigen einer Nation könne nur gewährleistet werden, wenn die Nation als ganze sicher vor militärischer Bedrohung von außen sei. Allein legitimer Bereitsteller von Sicherheit sei der Staat. Der Staat war in Fichtes Idealvorstellung der „geschloßne Handelsstaat“. Dieser Staat könne militärisch nur sicher sein, wenn und solange alle Angehörigen loyal seien und die Regierung unterstützten. Im Ernstfall sei für die militärische Sicherheit des Staates Voraussetzung, dass jeder Staatsangehörige für den Staat zu sterben bereit sei. Die persönliche Identität aller Staatsangehörigen sei von der kollektiven Identität der Nation abgeleitet und die kollektive Identität der Nation müsse alle sonstigen, partikularen kollektiven Identitäten, wie etwa Familien, Nachbarschaftsgruppen, lokale politische Gemeinschaften, in sich absorbieren, die Einzelpersonen für sich würden in Anspruch nehmen können.177 Der maßgebliche Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt unterstützte Fichte, indem er im lin: Dümmler 1832; auch hg. von Werner Hahlweg, Bonn: Dümmler 1952; 19. Aufl. dieser Ausgabe, Bonn: Dümmler 1980)]. Zu Clausewitz’ Theorie des Krieges siehe: Raymond Aron, Penser la guerre. Clausewitz, 2 Bde., Paris: Gallimard 1976 [englische Fassung, London: Routledge & Kegan Paul 1983]. Azar Gat, The Origins of Military Thought. From the Enlightenment to Clausewitz, Oxford: Clarendon Press 1989. Jehuda Lothar Wallach, The Dogma of the Battle of Annihilation, Westport, CT, und London: Greenwood 1986. 176 Siehe: Friedrich Ludwig Jahn und Ernst Eiselen, Die deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplätze, Berlin: Selbstverlag 1816 [Nachdruck, Fellbach: Conradi 1967; neu hrsg. u. d. T.: Die deutsche Turnkunst, von Wilhelm Beier, Berlin, DDR: Sportverlag 1960]. 177 Johann Gottlieb Fichte, Der geschloßne Handels-Staat, Tübingen: Cotta 1800 [wieder abgedruckt in: Fichte, Werke 1800–1801, hg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky, Stuttgart: Frommann-Holzboog 1988, S. 1–141 (J. G. Fichte Gesamtausgabe. 7. Werkband)]. Fichte, Reden an die deutsche Nation [1807/08], hg. von Immanuel Hermann Fichte, Berlin: Veit 1846, S. 264–279 (Fichte, Werke. 7.) [Nachdruck, Berlin: de Gruyter 1971].

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Jahr 1809 den Plan zur Begründung einer preußischen Universität in Berlin vorlegte, die er als höchste Anstalt zu Bildung der deutschen Nation beschrieb.178 Der schottische Rechtsanwalt Henry Peter Lord Brougham and Vaux schrieb im Jahr 1803 diesen Nationen ein Merkmal zu, das er „Bewegungen“ (movements) nannte. Nationen, meinte er, handelten wie Einzelpersonen aus unkalkulierbaren „Leidenschaften“, und das internationale System habe die Aufgabe, die Folgen dieser „Leidenschaften“ auszutarieren. Nationen würden wie die Individuen, aus denen sie zusammengesetzt seien, „durch plötzliche Erregung bewegt, durch Leidenschaften zum Handeln gebracht, durch Neid und Hass erregt“.179 Das internationale System, so meinte er, könne durch Anwendung der Grundsätze der Gleichgewichtspolitik den „Bewegungen“ der Nationen entgegenwirken: „Das große und herausragende Element der Gleichgewichtstheorie besteht in der systematischen Form, auf die sie jene einfachen und selbstverständlichen Grundsätze nationalen Verhaltens reduziert; nämlich die unaufhörliche Beachtung auswärtiger Angelegenheit, die sie erzwingt; die dauerhafte Achtsamkeit, die sie gegenüber jeder Bewegung in allen Teilen des Systems vorschreibt; die Unterwerfung aller nationalen Leidenschaften und Antipathien unter den Blickwinkel fern liegenden Nutzens, die sie auferlegt; die unablässige Sorge, die sie auch weit entfernt liegenden und mit uns scheinbar unverbundenen Nationen angedeihen lässt; die allgemeine Vereinigung in ein zusammenhängendes System, die sie für alle europäischen Mächte bewirkt hat – durch Beachtung gewisser Gesetze und umgesetzt, für den größten Teil, durch ein allgemeines Prinzip [politischen Handelns]; schließlich, als Folge aus alledem, das Recht der wechselseitigen Kontrolle der Akkreditierung diplomatischer Gesandter und Residenten, die jetzt in allen zivilisierten Staaten anerkannt ist. Dies ist die Gleichgewichtstheorie.“180

Brougham vertrat eine globale Perspektive. Sein internationales System war weltumspannend. Er wies der Gleichgewichtspolitik die Aufgabe zu, die nationalen „Leidenschaften“ zu absorbieren. Dass es diese „Leidenschaften“ gab, dass sie nicht berechenbar seien und auch nicht einer allgemeinen, für die Menschheit als ganze gültige Ethik der Mäßigung unterworfen werden könnten, setzte er als selbstverständlich voraus. Das internationale System hatte die Aufgabe, diesen „Leidenschaften“ Grenzen 178 Wilhelm von Humboldt, [Antrag auf Errichtung der Universität Berlin, 12. Mai 1809], in: Humboldt, Politische Denkschriften, hg. von Bruno Gebhardt, 1. Bd., Berlin: Behr 1903, S. 140 (Humboldt, Gesammelte Schriften. 10.) [Nachdruck, Berlin: de Gruyter 1968]. 179 Henry Peter Lord Brougham and Vaux, Balance of Power, in: Brougham, The Works, 1. Bd., London und Glasgow: Griffin 1855, S. 2–3 [zuerst anonym gedruckt in: Edinburgh Review 1. Jg. (1803), S. 346]. 180 Brougham, Balance of Power (wie Anm. 179), S. 12–13 [Edinburgh Review 1. Jg. (1803), S. 353–354].

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zu setzen, wozu es Brougham zufolge spezieller Rechtsnormen bedurfte. Dieses neue internationale System, wie Brougham es konzipierte, war nicht mehr Instrument zur Bewahrung berechenbarer Stabilität, sondern ein dynamisches Mittel zur Zähmung der plötzlichen „Bewegungen“ und zum Abbau der Spannungen, die die nationalen „Leidenschaften“ bewirken konnten. Einige Jahre später goss Friedrich von Gentz, Metternichs Gehilfe während des Wiener Kongresses, diese Beobachtungen in politische Begriffe. Er griff die Kritik auf, die in der politischen Debatte um das Gleichgewicht im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gelegentlich zu vernehmen gewesen war, und verschrie das alte Gleichgewicht des 18. Jahrhunderts als „Chimäre“. Dieses sei nichts weiter gewesen als der Grundsatz, dass unter den Herrschern benachbarter Staaten keiner es habe wagen dürfen, die Unabhängigkeit oder weitere wesentlichen Rechte eines anderen zu verletzen, ohne Gefahr laufen zu müssen, Widerstand zu erhalten.181 Mit dieser Bestimmung erteilte Gentz den Bemühungen des 18. Jahrhunderts um multilaterale Sicherung von Frieden und Sicherheit retrospektiv eine Absage und unterwarf die Gleichgewichtspolitik den Zwängen des Machtausgleichs unter gleich starken benachbarten Rivalen. Wie Brougham ging Gentz davon aus, dass Rivalitäten unter den Herrschern benachbarter Staaten durch Systemzwänge unterdrückt werden müssten, nicht aber durch eine allgemein für die Menschheit als verbindlich vorausgesetzte Ethik der Mäßigung eingeschränkt werden könnten. In Gentz’ Rückblick auf das 18. Jahrhundert schien die Gleichgewichtspolitik wirkungslos gewesen zu sein. Dies demonstrierte er am Beispiel der Teilungen Polens, durch die das Gleichgewicht aus den Angeln gehoben worden sei. Während in der Natur ein Gleichgewicht zwischen gleich schweren Gewichten herrsche, die sich nicht selbst verändern könnten, herrsche in der Menschenwelt die Möglichkeit freien politischen Handelns, und folglich könnten sich Gewichte selbst bewegen, Allianzen zu Lasten Dritter schließen, ganze Staaten zerstören und auf diesem Weg das Gleichgewicht ruinieren.182 Die Dynamik, die Gentz den Akteuren mit dem Gebrauch des Worts Freiheit zuerkannte, setzte dieses internationale System in Gegensatz zu dessen Vorläufer im Ancien Régime. Gentz bemerkte diesen Gegensatz und schloss, dass jenes ältere internationale System zerstört worden sei. Folglich war es in seiner Sicht die Aufgabe des Wiener Kongresses, ein neues internationales System zu schaffen.183 Das Gleichgewicht übte jedoch immer 181 Friedrich von Gentz, Fragmente aus der neuesten Geschichte des politischen Gleichgewichts in Europa, 2. Aufl., St. Petersburg [recte: Riga]: Hartknoch 1806, S. XXIV, 1 [Nachdrucke, Osnabrück: Biblio 1967; Hildesheim: Olms 1997]. 182 Gentz, Fragmente (wie Anm. 181), S. 16.

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noch große Anziehungskraft auf die Delegierten des Kongresses aus, obschon sie darüber stritten, wie es beschaffen sein und wie weit es reichen solle. Die Vertreter Preußens und Österreichs forderten, dass wesentliche Elemente des früheren Systems nicht wiederhergestellt werden sollten, und bezogen sich dabei insbesondere auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und die Vielfalt der in ihm bestehenden Staatenwelt. Daher solle, meinte Karl August Freiherr von Hardenberg, der Chefdelegierte Preußens, sich die „zukünftige Ruhe und Balance Europas“ von der früheren unterscheiden und in dem neuen System die Macht Deutschlands unter der Führung Österreichs und Preußens die eigentliche Basis des neuen Systems werden.184 Die Formulierungen der Delegierten legen Zeugnis vom Einfluss Fichte’scher Rhetorik ab. Ein neues Modell für das internationale System sollte gefunden werden. Es bestand im menschlichen Körper. Wilhelm von Humboldt, der sich im Jahr 1813 über eine neue Verfassung für Deutschland Gedanken machte, bemerkte dazu, dass sich Individuen auf natürliche Weise zu Nationen vereinigten und die Menschheit in Nationen aufgeteilt werde. Alle Politik habe den Diktaten der Natur zu folgen.185 Mit seiner Behauptung, dass Nationen von der Natur gewollt seien, stimmte Humboldt Brougham zu. Beide Theoretiker benutzten die Bildsprache des Biologismus, die die politische Theorie des 19. Jahrhunderts beherrschen sollte.186 Das Paradigma des Biologismus führte zu der Forderung, dass Staaten als Nationalstaaten nur dann als souveräne, quasi-personale Akteure in den internationalen Beziehungen würden anerkannt werden können, wenn sie in der Trias der Einheiten von Volk, Gebiet und Regierung definierbar waren. Die Umsetzung dieser Forderung hatte zur Folge, dass der Markt zur Bereitstellung von Sicherheit und zum Bringen von Schutz zusammenbrach, als die Herrscher der souveränen Staaten sich als allein legitime Bereitstel183 Gentz, Fragmente (wie Anm. 181), S. 21, explizierte seine Theorie mit Bezug auf die Teilungen Polens. Dadurch war seiner Meinung nach das Gleichgewicht vernichtet worden, da sich Preußen, Österreich und Russland zusammengetan hätten, um einen anderen Staat zu zerstören. Er beobachtete zutreffend, dass dies ein Verstoß gegen die Regeln der Gleichgewichtspolitik gewesen war. 184 Karl August Freiherr von Hardenberg, [Bemerkungen zur Entstehung seines Verfassungsplans, 3. September 1814, dem Fürsten Metternich zugeleitet], hg. von Klaus Müller, Quellen zur Geschichte des Wiener Kongresses, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1986, S. 338 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit. 23.). 185 Wilhelm von Humboldt, Denkschrift über die deutsche Verfassung [Dezember 1813], in: Humboldt, Politische Denkschriften, hg. von Bruno Gebhardt, 2. Bd., Berlin: Behr 1903, S. 97–98 [Nachdruck, Berlin: de Gruyter 1968]. 186 Siehe dazu unter vielen: Johann Caspar Bluntschli, Artikel Gleichgewicht, in: Staatswörterbuch, hg. von Johann Caspar Bluntschli, 2. Aufl., 2. Bd., Zürich: Schultheiss 1871, S. 81.

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ler von Sicherheit und Bringer von Schutz nach innen und außen positionieren konnten. Die Bereitstellung von Sicherheit wurde zur ausschließlich öffentlichen Aufgabe, die in Begriffen des Militärischen definiert und den privaten Schutzbedürfnissen der Einzelpersonen vorgeordnet wurde. Wann immer die Bezeichnung Sicherheit für nichtmilitärische Belange in der Sprache der Öffentlichkeit gebraucht wurde, war sie durch die Attribute des „Inneren“ und des „Sozialen“ einzugrenzen. Die Polizei als staatliche Institution übernahm die Kontrolle des täglichen Verhaltens. Für den Schutz gegen Verbrechen waren die staatlichen Polizeiorgane allein zuständig. Das Versicherungsprinzip wurde auf die Sozialfürsorge ausgedehnt und zugleich staatlicher Gesetzgebung und Aufsicht unterstellt. Sicherheit ohne attributive Eingrenzung hingegen wurde seither im öffentlichen Sprachgebrauch als militärische Sicherheit verstanden. Die Bereitstellung von Sicherheit galt als hauptsächliches Instrument zur „Bildung“ von Nationen unter der Kontrolle der Herrscher souveräner Staaten, die deswegen privaten Anbietern von Schutz wie Lebensversicherungen nur eng umgrenzte Tätigkeitssegmente einräumten und staatlicher Gesetzgebung unterwarfen. Bezeichnenderweise übernahmen einige der wenigen privaten Anbieter von Schutz, wie zum Beispiel die Heilsarmee, das Militär als Modell ihrer eigenen Organisation. Die öffentliche Sphäre objektivierte die Beherrschten, obschon die Theorie der Legitimität nach wie vor die Beherrschten als die alleinigen Organisatoren der öffentliche Sphäre betrachtete.187 2. Die Legitimität von Herrschaft Im 19. Jahrhundert fand der Biologismus auch Eingang in die soziologische Theoriebildung. Gesellschaftstheoretiker widmeten sich der Erforschung der Bedingungen, unter denen soziale Gerechtigkeit und Sozialfürsorge als Lösungen der sozialen Frage im Interesse der Einheit der Nationen gefördert werden konnten. Diesen Theoretikern ging es nicht mehr in erster Linie darum, Kriterien zur Bestimmung der Legitimität von Herrschaft bereitzustellen, sondern sie strebten Lösungen der Sozialen Frage durch Institutionen des Staates an. Diese Lösungen schnitten sie entweder auf einzelne Nationen zu oder passten sie, die Nationen übergreifend, der internationalen Arbeiterklasse an. Die Gesellschaftstheoretiker begriffen den Staat als „Kollektivwesen“ und beschrieben es mit unterschiedlichen Be187 Zur Definition des Staates als Einheitentrias siehe oben, Anm. 2. Zur Geschichte der Sozialversicherung siehe: Gerhard Albert Ritter Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, 2. Aufl., München: Oldenbourg 1991 [zuerst, ebenda 1989]. Habermas, Strukturwandel (wie Anm. 1), S. 121, sah die Okjektivierung der Beherrschten zutreffend, ohne den Sicherheitsaspekt zu berücksichtigen. Anders schon: Stein (wie Anm. 7).

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zeichnungen als Nation, „sozialen Körper“, Gesellschaft oder „moralischen Organismus“, der den Staat begründe oder erhalte.188 Den Staat selbst bestimmten sie als Serviceinstitution und „funktionales“ Derivat der Nation.189 Diese Theoretiker als Funktionalisten glaubten, dass die Staaten im Wettbewerb mit Kirchen und privaten Sicherheitsanbietern stünden und ihren Vorrang als Anbieter von Sicherheit beweisen müssten, damit sie auf legitime Weise die „sozialen Körper“ unter ihrer Kontrolle zu nationaler Einheit würden führen können. Auch die Funktionalisten standen also ganz im Bann des Biologismus.190 Die Theorie der Funktionalisten blieb nicht auf innenpolitische Belange begrenzt, sondern fand auch in der Außenpolitik Anwendung. Regierungen souveräner Staaten sollten sich verpflichten, als Bereitsteller von Sicherheit und Bringer von Schutz für die Angehörigen „ihrer“ Nation auch in anderen Staaten zuständig sein und diese Pflicht zum Gegenstand zwischenstaatlicher vertraglicher Vereinbarungen machen zu wollen. Insbesondere sollten europäische Regierungen diese Aufgabe gegenüber Regierungen in anderen Teilen der Welt wahrnehmen und, wenn möglich, mit der Forderung nach Exterritorialität durchsetzen.191 Schon in den Jahren 1852 und 1853 wartete der Arzt und Japankenner Philipp Franz von Siebold mit dem Vorschlag auf, die niederländische und die russische Regierung sollten mit Japan bilaterale ungleiche Verträge schließen, die unter Bewehrung mit militärischen Zwangsmitteln die körperliche Sicherheit niederländischer Bürger und russischer Untertanen sowie den Schutz deren Eigentums in Japan bewirken und sicherstellen sollten, dass Schiffbrüchige als Freie behandelt würden.192 188

Schäffle, Bau (wie Anm. 2), 4. Bd., 2. Teil, S. 216–219. Siehe: George Catlin, The Science and Method of Politics, London: Kegan Paul 1927, S. 181–183. Charles Pentland, International Theory and European Integration, London: Faber & Faber, 1973, S. 64–99. Trevor Taylor, Approaches and Theories in International Relations, London: Longman 1978, S. 239. 190 Schäffle, Bau (wie Anm. 2), 4. Bd., 2. Teil, S. 217–218. Zum Biologismus der Theorien von Staat und Gesellschaft des 19. Jahrhunderts siehe Bibliografie Nr. 74. 191 Zur Exterritorialität siehe: James Hoare, Extraterritoriality in Japan, in: Transactions of the Asiatic Society of Japan, Third Series, 18. Bd. (1983), S. 71–97. Francis Clifford Jones, Extraterritoriality in Japan and the Diplomatic Relations Resulting from Its Abolition. 1853–1899, hg. von Jerome D. Green, New Haven: Yale University Press; London: H. Milford und Oxford University Press 1931 [Nachdruck, New York: AMS Press 1970]. 192 Schäffle, Bau (wie Anm. 2), 4. Bd., 2. Teil, S. 219. Zu Siebolds Vertragsentwurf siehe: Algemeen Riksarchief, Den Haag, Kolonien, Geheim Verbaal, 5831, Nr. 129. Teilfaksimile in: Nobukado Kutsuzawa, The Activities of Philipp Franz von Siebold during His Second Stay in Japan, in: Philipp Franz von Siebold, hg. von Arnulf Thiede, Yoshiki Hiki und Gundolf Keil, Berlin und Tokyo: Springer 2000, S. 104. Eine englische Fassung wurde veröffentlicht von: Edgar Franz, Phi189

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In diesem Bestreben, den Nationalstaat zu stärken, trafen sich die Funktionalisten mit den Vertretern der imperialistischen „Weltpolitik“ als ihren ideologischen Gegnern. Dieser Begriff bezeichnete um 1900 Großmachtpolitik innerhalb des damals entstehenden globalen Staatensystems, das seinerseits als erweitertes europäisches System zustande gekommen sei.193 Imperialisten glaubten, dass in diesem System ein Pluralismus von Mächten bestehe, die sich gegenseitig anerkannt hätten und ihre Unabhängigkeit und Gleichheit respektierten und zwischen denen ein Gleichgewicht durch alle größeren und kleineren Störungen auch dann bestehe, wenn es labil sei und oft erschüttert werde.194 Sie behaupteten zudem, dass in Folge der Expansion des europäischen Staatensystems seit dem 15. Jahrhundert eine Weltgesellschaft von Staaten mit einer korporativen Struktur entstanden sei, die von wenigen Großmächten beherrscht werde. Nach dieser Konzeption bestand das internationale System ohne eigene Institutionen allein durch die Interdependenz der Entscheidungen der Regierungen der Großmächte.195 Diese Regierungen handelten nach der Maxime, dass alle ihre Entscheidungen wechselseitig relevant seien ohne Rücksicht darauf, welcher Weltteil gerade von der einen oder anderen Entscheidung betroffen sein würde.196 „Weltpolitik“ um 1900 wurde demnach wahrgenommen als Instrument zur Stärkung der souveränen Staaten, insbesondere der selbst erwählten „Großmächte“. Obwohl die Funktionalisten diesen Begriff der Weltpolitik als Ideologie des Kolonialismus ablehnten,197 unterstützten sie doch die imperialistische Forderung, dass Staaten – jedenfalls in Europa – als Nationalstaaten bestehen und als alleinig legitime Akteure in den internationalen Beziehungen anerkannt sein sollten.198 lipp Franz von Siebold and Russian Policy and Action on Opening Japan to the West in the Middle of the Nineteenth Century, München: Iudicium 2005, S. 154–161. Dasselbe schon im britisch-türkischen Vertrag von 1675, Art. IV, V, VI (wie Anm. 164), jedoch ohne Bewehrung mit militärischen Zwangsmitteln. 193 Otto Hintze, Imperialismus und Weltpolitik, in: Die deutsche Freiheit (1917), S. 117. 194 Otto Hintze, Imperialismus und Weltpolitik [1907], in: Hintze, Staat und Verfassung, hg. von Fritz Hartung, Leipzig: Koehler & Amelang 1941, S. 459 [3. Aufl., hg. von Gerhard Oestreich, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; Leipzig: Koehler & Amelang 1970 (Hintze, Gesammelte Abhandlungen. 1.)]. 195 Hintze, Imperialismus (wie Anm. 193), S. 118. 196 Kaiser Wilhelm II. bekannte sich zu diesem Begriff von „Weltpolitik“ in seiner öffentlichen Ansprache aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Deutschen Reichs am 18. Januar 1896. Siehe dazu: Akira Iikura, Iero¯ periru no shinwa. Teikoku Nihon to „ko¯ka“ no gyakusetsu, Tokyo: Sairyu¯sha 2004. 197 Als Beispiel einer frühen Kritik an diesem Begriff von „Weltpolitik“ siehe: Max Huber, Beiträge zur Kenntnis der soziologischen Grundlagen des Völkerrechts und der Staatengesellschaft, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts 4. Jg. (1910), S. 70.

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3. Der Begriff der Sicherheit Trotz der großen Zahl von Schriften, die aus der Zeit bis 1800 über viele Bereiche von Kriegführung und militärischer Organisation überliefert sind,199 blieb es dem 19. Jahrhundert vorbehalten, eine allgemeine Theorie des Krieges zu liefern. Zu den wichtigsten Beiträgern zu dieser Theorie gehörte Carl von Clausewitz mit seinem unvollendet gebliebenen opus magnum Vom Kriege. Darin bestimmte er den Krieg als Kampf zwischen Völkern in Waffen und behauptete, militärisch entscheidende Schlachten könnten nur gewonnen werden, wenn sie im Zustand der „Spannung“ ausgetragen würden. Dazu sei es erforderlich, dass alle Streitkräfte in die hinter ihnen stehenden Völker in Waffen vollständig integriert seien.200 Die politische Einheit der Nation galt ihm als hauptsächliche Voraussetzung für militärischen Erfolg. Folglich begrenzte auch Clausewitz den Begriff der Sicherheit auf militärische Belange und forderte, die Regierungen der souveränen Staaten sollten als alleinige legitime Bereitsteller von Sicherheit für die als Einheit postulierte Nation anerkannt sein. Die Sorge für die öffentliche Sicherheit der Nation stellte er dem Bemühen um den privaten Schutz der Einzelpersonen entgegen. Schließlich verkehrte Clausewitz die augustinische Abfolge von Frieden, Krieg und wieder Frieden in ihr genaues Gegenteil. Während noch im 18. Jahrhundert der Abbé de Saint-Pierre201 und 198

Zum Beispiel siehe Lassa Francis Lawrence Oppenheim, International Law, 1. Bd., 4. Aufl., hg. von Arnold D. McNaire, London: Longman, Green & Co 1928, S. 101 [zuerst, Cambridge: Cambridge University Press 1909]. 199 Max Jähns, Geschichte der Kriegswissenschaften vornehmlich in Deutschland, 3 Bde., München: Oldenbourg 1889–1891 (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. 21.) [Nachdruck, New York: Johnson, und Hildesheim: Olms 1971]. 200 Clausewitz, Vom Kriege (wie Anm. 175), Teil I, Buch IV, Kap. 10, S. 238–239. Zu Clausewitz’ Theorie der Spannung siehe: Harald Kleinschmidt, Spannung. Zur Entstehung eines militärischen Begriffs des 19. Jahrhunderts, in: Archiv für Kulturgeschichte 74. Jg. (1992), S. 387–414. 201 Charles Irénée Castel de Saint-Pierre, Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe, Utrecht: Schouten 1713 [Nachdruck, hg. von Simone Goyard-Fabre, Paris: Garnier 1981; deutsche Fassung, hg. von Wolfgang Michael, Berlin: Hobbing 1922 (Klassiker der Politik. 4.); zuerst u. d. T.: Mémoires pour rendre la paix perpétuelle en Europe, Köln: Jacques le Pacifique 1712; Kurzfassung u. d. T.: Abrégé du projet de paix perpétuellement inventé pa le roi Henri le Grand approprié à l’état présent des affaires générales de l’Europe, Rotterdam: Beman 1729]. Der vom Abbé de Saint-Pierre vertretene Gedanke der Friedenssicherung durch einen Bund der Herrscher oder Staaten stieß zu Anfang des 18. Jahrhunderts auf heftigen Widerstand durch Herrrschaftsträger in Frankreich. So nahm der Historiker Jacques Hardion, Librairie. Censure du projet de paix perpétuelle par M. L’abbé de Saint-Pierre. 1728, hg. von Septime Gorceix, Du nouveau sur un vieux projet de paix perpétuelle, in: Mercure de France 251. Bd. (1934), S. 534–536, im Auftrag des Siegelbewahrers als Zensurbehörde Stellung gegen den Antrag des Abbé auf Imprimatur für die

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Rousseau202 an dem augustinischen Paradigma festgehalten und erwartet hatten, dass in absehbarer Zeit aus dem enger werdenden Netz der bi- und multilateralen Friedensverträge ein ewiger Friede entstehen werde, setzte Clausewitz mit seiner Forderung, dass die Völker in Waffen auf den nächsten Krieg vorbereitet sein müssten, die Abfolge von Krieg, Frieden und wieder Krieg voraus und verpflichtete politische Entscheidungsträger und Militärplaner darauf, diese Abfolge zur Grundlage ihrer Überlegungen zu erheben.203 Clausewitz’ Revision des augustinischen Paradigmas hatte wichtige Konsequenzen für den Begriff der Sicherheit. Wenn nach der politischen Theorie Fichtes die Angehörigen einer Nation ihre Loyalität durch das Bekenntnis auszudrücken hatten, für die Nation sterben zu wollen, stand das Bedürfnis nach Schutz der Personen nicht allein mehr der Verpflichtung entgegen, für die Sicherheit der Nation sorgen zu wollen, sondern die Erhaltung der nunmehr ausschließlich militärisch definierten Sicherheit musste als politisches Ziel den legitimen Bedürfnissen der Einzelpersonen nach Schutz vorangestellt werden. Indem sie den Sicherheitsbegriff militarisierten, schufen politische und Militärtheoretiker des 19. Jahrhunderts das Dilemma, dass der persönliche Schutz der Einzelnen nur erreichbar zu sein schien, wenn diese Einzelpersonen sich für die militärische Sicherheit ihres Staates und ihrer Nation zu opfern bereit waren. Dieses Dilemma erschwerte die Akzeptanz der Vertragslehre als der bis in das 19. Jahrhundert wichtigsten Theorie der Legitimität von Herrschaft. Denn die Herrschaftsvertragslehre hatte die Bereitstellung von umfassender Sicherheit als Grundbedingung der Anerkennung der Legitimität der Herrscher durch die Beherrschten gesetzt. In der Tat geriet die Herrschaftsvertragslehre besonders im deutschen Sprachraum zunehmend in Vergessenheit204 und wurde dort ersetzt durch das Postulat, Kurzfassung seines Friedensprojekts durch die französische Krone mit der Begründung, das Projekt sei auf Illusionen gegenüber den Handlungen der Herrscher gegründet und könne daher nicht befürwortet werden. Die Kurzfassung erschien dann im Jahr 1729 wie zuvor bereits die Langfassung in den Niederlanden. Zum Friedensplan des Abbé siehe Bibliografie Nr. 53 und zu weiteren Friedensplänen unten, Kap. 3, Anm. 80, 81. 202 Jean-Jacques Rousseau, A Lasting Peace Through the Federation of Europe and The State of War, hg. von Charles Edwyn Vaughan, London: Constable 1917. Auch in: Rousseau, The Political Writings, hg. von Charles Edwyn Vaughan, 1. Bd., Cambridge: Cambridge University Press 1915, S. 370–371 [Nachdruck, Oxford: Oxford University Press 1962]. 203 Clausewitz, Vom Kriege (wie Anm. 175), Teil I, Buch I, Kap. 9, S. 24: „Endlich ist selbst die Totalentscheidung eines ganzen Krieges nicht immer für eine absolute anzusehen, sondern der erliegende Staat sieht darin oft nur ein vorübergehendes Übel, für welches in den politischen Verhältnissen späterer Zeiten noch eine Abhilfe gewonnen werden kann. Wie sehr auch dies die Gewaltsamkeit der Spannung und die Heftigkeit der Kraftanstrengung mäßigen muß, versteht sich von selbst.“

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dass die Nation das Ziel der vermeintlichen Evolution menschlicher Gesellungen und ein scheinbar selbstverständlicher Typus von politischer Gruppe sei, der keiner Rechtfertigung zu bedürfen schien.205 Diese Theorie der Legitimität war von Grund an illiberal in ihrer Forderung, dass Einzelpersonen sich den vorgeblichen Bedürfnissen der Nation unterzuordnen hätten, in die sie zufällig hineingeboren worden waren.206 Die Militarisierung des Begriffes von Sicherheit, die einseitig nur jeweils einem Volk in Waffen zukommen sollte, resultierte zudem in dem weiteren Dilemma, dass die Sicherheit eines „Volkes in Waffen“ nur dann erreicht sein konnte, wenn alle anderen „Völker in Waffen“ unsicher waren. Bereits zu Beginn des Ersten Weltkrieges legten Angehörige der internationalen Friedensbewegung dieses Dilemma offen207 und antizipierten damit ähnliche Beobachtungen aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg.208 Des Wei204 Infolge der Ablösung der Herrschaftsvertragslehre als Theorie der Legitimität durch Theorien des Nationalismus im deutschen Sprachraum. Diese Theorien setzten Nationen als metaphysisch errichtete politische Gruppen, die scheinbar keiner Legitimierung bedurften. Früh belegt bei: Arnold Hermann Ludwig Heeren, Ueber Mittel zur Erhaltung der Nationalität besiegter Völker [1810], in: Heeren, Historische Werke, 2. Bd., Göttingen: Röwer 1821, S. 3–32. Karl Follen, Grundzüge für eine künftige teutsche Reichsverfassung [1819], hg. von Hartwig Brandt, Restauration und Frühliberalismus. 1814–1848, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1979, S. 121–131 (Quellen zum politischen Denken der Deutschen. 3.). Zur Genese des Nationalismus in Deutschland siehe Bibliografie Nr. 54. 205 Unter anderen siehe: Johann Baptist [Giovanni Battista] Fallati, Die Genesis der Völkergesellschaft, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1. Jg. (1844), S. 160–189, 260–328, 558–608. Paul Achatz Pfizer, Über die Entwicklung des öffentlichen Rechts in Deutschland durch die Verfassung des Bundes, Stuttgart: Liesching 1835. Carl Theodor von Welcker, Die Vervollkommung der organischen Entwicklung des deutschen Bundes zur bestmöglichen Förderung deutscher Nationaleinheit und deutscher staatsbürgerlicher Freiheit, Karlsruhe: Gross 1831. 206 Vorgeprägt bei dem Popularphilosophen Thomas Abbt, Vom Tode für das Vaterland, Berlin: Nicolai 1770, S. [6] (Abbt, Vermischte Schriften. Theil 2.) [zuerst, ebenda 1761; weitere Ausg., Frankfurt und Leipzig: s. n. 1783, S. [8]]. Abbt band jedoch seine Forderung, die Untertanen mögen Bereitschaft bekunden, für den Herrscher zu sterben, an den Mechanizismus. Denn er beschrieb die „Vaterlandsliebe“ als die wichtigste „Treibfeder, welche die politische Maschine im Gang erhalten“ werde (Abbt, wie oben, 1770, S. 76; 1783, S. 95). Überblicke über die einschlägigen Quellen bieten: Zwi Batscha, Thomas Abbts politische Philosophie, in: Batscha, „Despotismus jeder Art reizt zu Widersetzlichkeit“. Die französische Revolution in der deutschen Popularphilosophie, Frankfurt: Suhrkamp 1989, S. 126–168. Ulrich Bröckling, Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion, München: Fink 1997, S. 95–100. Wolfgang Wippermann, Das Blutrecht der Blutsnation, in: Jochen Baumann, Andreas Dietl und Wolfgang Wippermann, Blut oder Boden. Doppelpaß, Staatsbürgerrecht und Nationsverständnis, Berlin: Elefantenpress 1999, S. 10–48. 207 Otfried Nippold, „Die Wahrheit über die Ursachen des Europäischen Krieges“. Japan, der Beginn des Ersten Weltkrieges und die völkerrechtliche Friedenswahrung, hg. von Harald Kleinschmidt, München: Iudicium 2005, S. 236.

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teren antwortete die internationale Friedensbewegung auf dieses Dilemma, indem sie nach internationalen Organisationen rief, die den Frieden erhalten sollten, und aus der Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen der Regierungen der Staaten die Annahme der Unvermeidbarkeit der Ausbildung einer „Weltinnenpolitik“ ableitete. Aber die internationale Friedensbewegung sprach mehr Intellektuelle an als politische Entscheidungsträger und Militärplaner.209 Da sich die Regierungen der souveränen Staaten als ausschließliche Organisatoren der öffentlichen Sphäre positionierten, für sich das Monopol der Bereitstellung von Sicherheit reklamierten und erfolgreich den Sicherheitsbegriff auf das Militärische begrenzten, wurden Weltkriege eine manifeste Realität. Wenn der Sicherheitsbegriff dennoch im umfassenden Sinn gebraucht wurde, dann geschah dies in der biologistischen Terminologie der Krankheit. Beispielsweise formulierte der Völkerrechtslehrer Friedrich August von der Heydte mit Blick auf den so genannten „Bolschewismus“ im Jahr 1955: „heute [sind] allzu viele bereit, um der Sicherheit willen . . . die ganze Freiheit hinzugeben . . ., weil sie ein bißchen Sicherheit – wirtschaftliche Sicherheit, politische Sicherheit, soziale Sicherheit – höher werten als jede Freiheit. Dieses Sicherheitsdenken und dieses Sicherheitsstreben ist die große Krankheit, das Rückenmarksleiden unserer Zeit. Jedes totalitäre System, das wir erlebt haben und noch erleben, jede moderne Despotie ist nichts anderes als die Frucht, die furchtbare Frucht dieser Krankheit.“ Die Konstruktion einer Risikogesellschaft avant la lettre leistete der Militarisierung der Politik Vorschub.210 208 Zur Neubestimmung des Sicherheitsdilemmas nach dem Zweiten Weltkrieg siehe John Hermann Herz, Idealist Internationalism and the Security Dilemma, in: World Politics 2. Jg. (1949/50), S. 157–180. Herz, Political Realism and Political Idealism (Chicago: University of Chicago Press 1951). Joseph A. Camilleri und Jim Falk, The End of Sovereignty? The Politics of a Shrinking and Fragmenting World, Aldershot und Brookfield, VT: Elgar 1992, S. 139–169. 209 Insbesondere: Walther Max Adrian Schücking, Die Organisation der Welt, in: Staatsrechtliche Abhandlungen. Festgabe für Paul Laband, Tübingen: Mohr 1908, S. 594–595. Zu Schückings Programm einer „Weltinnenpolitik“ siehe: Martti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870–1960, Cambridge: Cambridge University Press 2002, S. 213–222 [5. Aufl., ebenda 2008]. Francis Stewart Leland Lyons, Internationalism in Europe. 1815–1914, Leiden: Sythoff 1963, S. 43–47 (European Aspects, Series C, Bd. 14.). John F. Sly, The Genesis of the Universal Postal Union, in: International Conciliation (1927), S. 393–436. R. H. Turkel, International Postal Congress, in: British Yearbook of International Law (1929), S. 171–180. F. H. Williamson, The International Postal Service and the Universal Postal Union, in: Journal of the Royal Institute of International Affairs 9. Jg. (1930), S. 68–80. Zu zeitgenössischen Darstellungen der Ziele und Mittel der internationalen Friedensbewegung siehe unten, Kap. 3, Anm. 100. 210 Friedrich August von der Heydte, Vom Heiligen Reich zur geheiligten Volkssouveränität, in: Volkssouveränität und Staatssouveränität, hg. von Hanns Kurz,

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VI. Schluss Die drei miteinander verwobenen Geschichten der Begriffe der Dichotomie der öffentlichen und der privaten Sphäre, der Legitimität von Herrschaft und der Sicherheit zeigen einige Überlappungen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. So weitete sich die Schere zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre, wobei die öffentliche Sphäre vom Interface mehrerer privater Sphären in die Arena verwandelt wurde, in der staatliche Institutionen Einzelpersonen kollektive Identitäten angedeihen ließen. Dabei ging ein Markt der Bereitstellung von Sicherheit und des Bringens von Schutz durch konkurrierende Anbieter schließlich im 19. Jahrhundert zu Bruch. Als Regierungen der Staaten die Fähigkeit zur alleinigen Organisation der öffentlichen Sphäre beanspruchen konnten, mussten sie Maßnahmen treffen, die rivalisierende Bereitsteller von Sicherheit und Bringer von Schutz ausschalten oder staatlicher Gesetzgebung unterwerfen konnten. Dazu war die Herrschaftsvertragslehre als Theorie der Legitimität von Herrschaft nicht geeignet. Während diese Theorie seit dem Mittelalter die wichtigste Quelle derjenigen Forderung war, derzufolge Träger legitimer Herrschaft für Erfolg in der Bereitstellung umfassender Sicherheit als essentielles Element des Begriffs der Menschlichen Sicherheit Anerkennung zu finden hatten, entstand im 19. Jahrhundert eine Theorie der legitimen Herrschaft, die darauf abhob, Maßnahmen zur Erhaltung der Kriegsbereitschaft von Bewohnern souveräner Staaten zu rechtfertigen. Theoretiker des Militärs und der Politik sekundierten, indem sie forderten, die Angehörigen einer Nation sollten ihre Loyalität durch das Bekenntnis unter Beweis stellen, für die Nation sterben zu wollen. Nur unter dieser Bedingung, behaupteten sie, sei das Bringen von Schutz für die Angehörigen der Nation möglich. Folglich wurde der bis an das Ende des 18. Jahrhundert umfassend definierte Begriff der Sicherheit auf militärische Belange verengt und das Bringen von Schutz für Einzelpersonen der Bereitstellung von Sicherheit für die Nation als Ganze nachgeordnet. Der Zusammenbruch des Marktes der Sicherheitsgewährung, im Zusammenhang mit der Verengung des Sicherheitsbegriffs auf das Militärische hatte folglich Auswirkungen auf die Bestimmung von Frieden und Sicherheit im zwischenstaatlichen Bereich. Diese Wandlungen sollen Gegenstand des folgenden Kapitels sein.

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970, S. 372 (Wege der Forschung. 28.) [zuerst in: Geschichte und Politik 19. Jg. (1955), S. 5–33].

Kapitel 3

Europäische und japanische Friedenslehren der Frühen Neuzeit im Vergleich I. Einleitung Über Krieg und Frieden pflegen wir in Metaphern zu reden und in Modellen zu denken: Krieg lassen wir ausbrechen, als wäre er ein Gefangener, oder meinen, er würde entfesselt, als wäre er ein Halbgott. Frieden schließen wir, als wäre er eine Tür, oder brechen ihn, als wäre er ein Stück Holz. Die Metaphern der Sprache übertragen Sinn und erzeugen Modelle des Denkens. Krieg erscheint uns als etwas Lebendiges, Frieden als tote Materie. Die Metaphorik ist alt, geht auf antike Vorbilder zurück und ist daher gemeineuropäisch. Kriege könne nur gewinnen, meinte Carl von Clausewitz zu Anfang des 19. Jahrhunderts,1 wer die vermeintliche Hauptschlacht in der Lebensform der höchsten Spannung austrage. Die scheinbar bevorstehende Friedenszeit, die ihm eine Horrorvision war, erschien Francis Fukuyama am Ende des 20. Jahrhunderts so tot wie das „Ende der Geschichte“.2 Wer Krieg mit Leben und Bewegung, Frieden aber mit Tod und Stillstand verbindet, geht von der Voraussetzung aus, dass Krieg und Frieden mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Handlungsformen assoziiert werden müssen. Diese Voraussetzung gilt auch dann, wenn immer wieder beteuert wird, Frieden sei mehr als bloße Abwesenheit von Krieg und bestehe anders als Krieg in einem „geregelten Zusammenwirken oder der fortschreitenden Integration“ von Gruppen und Einheiten.3 Sie ist aber alles 1 Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Berlin: Dümmler 1832 [neu hg. von Werner Hahlweg, Bonn: Dümmler 1952; 19. Aufl. dieser Ausgabe, Bonn: Dümmler 1980; weitere Neuausg., Berlin: Ullstein 1980, S. 199–200]. Zu Clausewitz’s Kriegsbegriff siehe oben, Kap. 2, Anm. 175. 2 Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, London: Hamilton 1992. 3 So Karl Dietrich Bracher, Frieden und Krieg, in: Das Fischer Lexikon, 7. Bd., hg. von Karl Dietrich Bracher und Ernst Fraenkel, Frankfurt: Fischer 1969, S. 110. Ähnlich argumentierten: Johan Galtung, Frieden mit friedlichen Mitteln, Opladen: Leske + Budrich 1998), S. 1 (Friedens- und Konfliktforschung. 4.) [2. Aufl., Münster: Agenda-Verlag 2007; zuerst, Oslo: PRIO; London: Sage 1996]. Dieter Henrich, Ethik zum nuklearen Krieg, Frankfurt: Suhrkamp 1990, S. 228. Frieden Denken. Si vis pacem, para pacem, hg. von Dieter Senghaas, Frankfurt: Suhrkamp 1995,

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Kap. 3: Europäische und japanische Friedenslehren der Neuzeit im Vergleich

andere als selbstverständlich und daher möchte ich sie historisch-kritisch hinterfragen. Um zu einer Antwort beizutragen, vergleiche ich die auf den Frieden bezogenen Handlungsformen im frühneuzeitlichen Europa mit zeitgleichen Handlungsformen in Ostasien. Aus dem Vergleich möchte ich die Bedingungen erhellen, unter denen Krieg und Frieden mit gegensätzlichen Handlungsformen assoziiert wurden. Schon das Unterfangen selbst erscheint jedoch problematisch. Dass es eine europäische Tradition der Friedenslehren gibt, ist unstrittig. Sie nistet im Gewand des zunächst theologisch-eschatologisch, dann philosophisch-teleologisch geprägten Universalismus. Vom heiligen Augustinus bis zum Internationalismus und Pazifismus des 20. Jahrhunderts betrachteten Theoretiker den Frieden stets als unteilbar und waren bestrebt, zunächst im Mittelalter durch Schaffung von Institutionen, danach durch institutionsferne Regelsysteme, wie zum Beispiel des Völkerrechts der Frühneuzeit, die Bedingungen dafür zu bestimmen, dass die Welt als ganze für ewig und alle Zeiten dem Frieden unterworfen werden könne. Da diese Bestrebungen ohne Erfolg blieben, waren die Friedenslehren umstritten und schienen sich als Geschwätz eitler Theoretiker zu entlarven, ohne Bedeutung für die politische Praxis.4 Für Ostasien hingegen meint man, die Existenz von Friedenslehren überhaupt bestreiten zu können. Seit dem 19. Jahrhundert gilt China als Hort der Kriegstheorie und als Geburtsstube revolutionärer Waffentechnik, wie etwa der Feuerwaffen.5 Ebenfalls seit dem 19. Jahrhundert gilt Japan als Motor der Ästhetisierung des Krieges durch Verbindung von S. 447–449. Senghaas, Zum irdischen Frieden. Erkenntnisse und Vermutungen, Frankfurt: Suhrkamp 2004, S. 17–24. Michael Howard, Die Erfindung des Friedens. Über den Krieg und die Ordnung der Welt, Lüneburg: Klampen 2001, S. 15 [zuerst, London: Profile Books 2000]. Zur Übersicht der Geschichte der Friedensbegriffe siehe Bibliografie Nr. 55. 4 Die heute noch leicht zugänglichen Textsammlungen sind: Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, hg. von Kurt von Raumer, Freiburg: Alber 1953. Inevitable Peace, hg. von Carl Joachim Friedrich, New York: Greenwood 1969 [zuerst, Cambridge, MA: Harvard University Press 1948]. Die Idee des ewigen Friedens, hg. von Hans-Jürgen Schlochauer, Bonn: Röhrscheid 1953. Ewiger Friede? Dokumente einer deutschen Diskussion um 1800, hg. von Anita Dietze und Walter Dietze, Leipzig und Weimar: Kiepenheuer; München: Beck 1989. Zur Geschichte des Pazifismus siehe Bibliografie Nr. 56. 5 Siehe: Chinese Ways of Warfare, hg. von John King Fairbank und F. A. Kierman, Cambridge, MA: Harvard University Press 1974. David Graff, Medieval Chinese Warfare. 300–900, London: Routledge 2002. Zur jüngeren Kritik, insbesondere an Kant, siehe: Sabine Jaberg, Kants Friedensschrift und die Idee kollektiver Sicherheit, Hamburg: Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik 2002, S. 10–27 (Hamburger Beiträge zur Friedens- und Scherheitspolitik. 129.). Zur zeitgenössischen Kritik an den Friedensprogrammen insbesondere des 18. Jahrhunderts siehe unten, Anm. 80, 81.

I. Einleitung

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Zen mit Kampftechnik.6 Friede, so meint man, resultiere in Ostasien durch Ausübung von Macht oder ad-hoc-Akkommodation nach Vereinbarung, ohne dass es dazu einer eigenen Theorie bedurft habe.7 Frieden entstehe in Ostasien durch Vermittlung angesehener Personen, ohne Druck übergeordneter Institutionen und ohne globale, eschatologische oder teleologische Perspektive. Ich halte beide Formen der Infragestellung von Friedenslehren für falsch. Die Bedeutung von Friedenslehren erlischt nicht dadurch, dass das in ihnen oft proklamierte Ziel, der ewige Frieden, nicht erreicht worden ist. Ebenso wenig ist es angebracht, den Bestand von Friedenslehren dann zu bestreiten, wenn kein literarisches Genus von Friedenstraktaten besteht, in denen Friedenslehren als solche gesondert zur Darstellung kommen. Denn Friedenslehren werden weder dadurch unsinnig, dass sie an bestimmte Zielsetzungen und Handlungsformen gebunden sind, noch lassen sie sich dadurch ableugnen, dass sie nicht in bestimmten Darstellungsformen niedergelegt sind. Das Nachdenken über den Frieden, selbst die Forderung, er solle ewig sein, sind von Belang, auch wenn sie utopisch erscheinen oder in anderen, nicht allein den Frieden thematisierenden Diskursen kontextualisiert sind. So wurde im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa in den zahlreichen Friedenstraktaten, Friedensklagen und Programmen für den ewigen Frieden von Dante und Bardi bis zu Rousseau und Kant ein zentraler Teil dessen niedergelegt, was wir heute Theorie der internationalen Beziehungen nennen.8 Dies war deswegen sinnvoll, da die internationalen Theorien dieses Zeitraums darauf angelegt waren, die Bedingungen für die Bewahrung der Stabilität der Welt aufzuzeigen. Diese Theorien konnten den ewigen Frieden propagieren, da sie, anders als ihre Nachfolger im 19. und 20. Jahrhundert, nicht eingebunden waren in Diskurse über den Krieg als – zumeist gewünschten – Faktor des Wandels der Welt. Den Friedenslehren kam also in der europäischen Tradition, unabhängig von Zielsetzungen und Behauptungen im Einzelnen, ein Aussagewert als Theorem der internationalen Beziehungen zu. Soll heißen: Wichtiger als darüber zu streiten, ob ein Programm für den ewigen Frieden normativ sinnvoll ist oder naiv, ist es zu verstehen, welche Wirkungen die Forderung, politisches Handeln solle auf das den Menschen vorgegebene Ziel der Erlangung des ewigen Friedens als kriegsloser Zustand ausgerichtet sein, in ihrer jeweiligen Zeit hatte. 6 Eugen Herrigel, Zen in der Kunst des Bogenschießens, Konstanz: Weller 1948 [45. Aufl., Frankfurt: Barth 2004]. George Cameron Hurst III, Armed Martial Arts of Japan. Swordsmanship and Archery, New Haven und London: Yale University Press 1998. Zum weiteren militärgeschichtlichen Kontext siehe Bibliografie Nr. 58. 7 Siehe dazu: Senso ¯ to heiwa no chu¯kinsei-shi, Tokyo: Daigakukyo¯iku Shinko¯kai 2001 (Rekishigaku no genzai. 7.). 8 Zu Friedensklagen und Friedensprogrammen siehe Bibliografie Nr. 42.

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Kap. 3: Europäische und japanische Friedenslehren der Neuzeit im Vergleich

In Ostasien hingegen sind Friedenslehren seit langem in Traktaten zur Theorie des Krieges verortet. Sie demonstrieren schon durch diese Formalie, dass die in Europa geläufige Annahme eines begrifflichen und Handlungsgegensatzes zwischen Krieg und Frieden jedenfalls nicht von vornherein als allgemeine Wahrheit postuliert werden darf, sondern durch die Erwartung ergänzt werden muss, Krieg und Frieden könnten ununterscheidbar sein. Europäische Friedenslehren setzten Frieden als Ziel des Handelns. Die europäische Vorstellung, Frieden sei etwas grundsätzlich anderes als Krieg, mit letzterem stets unvereinbar, erweist sich schon im ersten Hinsehen als gebunden an spezifische Handlungsformen und die hinter ihnen stehenden Handlungstheorien, denenzufolge Handeln auf das Erreichen von Zielen bezogen sein müsse, wenn es als rational anerkannt werden solle.9 In Ostasien ging man jedoch nicht davon aus, dass Krieg als Prozess dem Frieden als Zustand diametral entgegengesetzt sei, sondern betrachtete Krieg und Frieden als Resultate ablauforientierten Handelns. Der Vergleich europäischer und ostasiatischer Handlungstheorien offenbart also, ob überhaupt rationales Handeln als zielorientiert begriffen wurde und, sofern es der Fall war, an welche Arten von Zielen dasjenige Handeln gebunden war, das zum Frieden führen sollte. Der ins Einzelne gehende Vergleich der europäischen und ostasiatischen Handlungstheorien soll hier auf Vergangenes und nicht unbedingt Naheliegendes gerichtet werden. Denn die Frage, ob Frieden aus ablauforientiertem 9 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Buch I, Paragr. 1, Sektion 1–2, 5. Aufl., Studienausg., hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr 1980, S. 1–2. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 2. Aufl., Tübingen: Mohr 1951, S. 528. Siehe dazu: Helmut Girndt, Das soziale Handeln als Grundkategorie erfahrungswissenschaftlicher Soziologie, Tübingen: Mohr 1967, S. 22–23, 58–64 (Veröffentlichungen des Max Weber Instituts der Universität München. 1.). Aristoteles [Politik, 230a, 250b–252a, 258b–259b] setzte bekanntlich eine Abhängigkeit von Bewegung und Ruhe voraus, die derjenigen der buddhistischen Ontologie ähnlich ist. Desgleichen konzipierte er die höchste Instanz als unbewegt. Aber er zog aus diesen Bestimmungen keine Konsequenzen für die Ethik. Siehe dazu: Clemens Kauffmann, Ontologie und Handlung, Freiburg: Alber 1993 (Reihe Praktische Philosophie. 47.). Noch im 15. Jahrhundert beschrieb Nikolaus von Kues das Denken als kontinuierliche Bewegung zwischen „Quid est“ und „Quod est“ und forderte, es solle das Ziel jeglichen intellektuellen Bemühens sein, diese Bewegung durch Festlegung von Kausalitäten zu beenden. Doch er beschränkte diese Aussage auf die Metaphysik und zog ebenfalls keine Schlussfolgerungen für die Ethik. Zu Kusanus siehe: Kurt Flasch, Die Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues, Leiden: Brill 1973 (Studien zur Problemgeschichte der antiken und mittelalterlichen Philosophie. 7.) Flasch, Nicolaus Cusanus, München: Beck 2001. Zur Geschichte des Handelns im allgemeinen siehe: Harald Kleinschmidt, Wege und Ziele. Zur Geschichte des Handelns im Mittelalter, in: European Studies 3. Jg. (2003), S. 1–22. Kleinschmidt, Perception and Action in the Middle Ages, Woodbridge: The Boydell Press, 2005, Kap. IV.

II. Allgemeine Theorien des Handelns

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Handeln hervorgehen kann, scheint vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Handlungstheorie absurd. Wer der Meinung ist, Frieden könne oder müsse durch militärisches Handeln erzwungen werden, muss von der Voraussetzung ausgehen, dass jede Form rationalen Handelns diejenigen Ziele verfolgen muss, die die Handelnden sich selbst setzen. Ich habe schon gezeigt, dass in den Friedenslehren der europäischen Frühneuzeit und in den zeitgleichen ostasiatischen Friedenslehren von Voraussetzungen auszugehen ist, die diesem Diktat der Handlungstheorie des 19. und 20. Jahrhunderts widersprechen. Durch den Vergleich der frühneuzeitlichen europäischen und ostasiatischen Handlungstheorien möchte ich auch zeigen, welche Relevanz die aus ihnen erwachsenen Friedenslehren angesichts ihrer Alterität für heute haben können. Für das frühneuzeitliche Europa ist daher zu fragen, welche Handlungstheorien denjenigen Friedenslehren zugrunde liegen, die die Bestimmung des Friedens als gottgegebene Bedingung und Merkmal der Stabilität der Welt formulierten. Für Ostasien ist zu fragen, welche Handlungstheorien hinter der Vorstellung stehen, Frieden und Krieg seien nicht nur keine Gegensätze, sondern situationsbedingt als Abläufe ununterscheidbar. Beide Fragen haben, wie ich belegen zu können hoffe, nicht nur theoretische, sondern auch eminent praktische Bedeutung. Denn Antworten auf sie erscheinen an die Entscheidung gebunden, ob Handeln rational sein kann, wenn es nicht auf vorgegebene Ziele bezogen ist, und unter welchen Bedingungen der Frieden dennoch aus solchem Handeln folgen kann.

II. Allgemeine Theorien des Handelns Die Theoretiker des Handelns des 20. Jahrhunderts definierten die Handlung als vorsätzliches und auf das Erreichen von Zielen gerichtetes Tun. Denjenigen, die handeln, schrieben diese Theoretiker folglich Motive zu, die als Stimuli zum Erreichen der zuvor gesteckten Ziele galten. Diese Bestimmung der Handlung war nur sinnvoll, wenn die Forderung eingeschlossen war, der Erfolg des Erreichens der Ziele solle messbar sein. Da Erfolgskontrolle nur durch die Handelnden selbst im Bereich der subjektiven Wahrnehmung verbleiben musste, waren Außenstehende in die Erfolgskontrolle einzubeziehen. Der Wille und die Fähigkeit zur Unterwerfung unter die Erfolgskontrolle galten als Merkmal der Rationalität des Handelns im sozialen Kontext. Handeln war als soziales Handeln bestimmt.10 Soziales Handeln konnte also für die Theoretiker nur dann rationales Handeln sein, 10

Talcott Parsons und Edward A. Shils, A General Theory of Action, Cambridge, MA: Harvard University Press 1951, S. 53–69 [4. Aufl., Cambridge, MA: Harvard University Press 1959].

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Kap. 3: Europäische und japanische Friedenslehren der Neuzeit im Vergleich

wenn und solange die Handelnden sich der Erfolgskontrolle durch Außenstehende unterwarfen und mit dem subjektiven Streben, die gesetzten Ziele zu erreichen, die Anerkennung der Notwendigkeit verbanden, ihr Handeln in soziale Kontexte einzubinden. Für diesen Begriff prägte Max Weber die Bezeichnung „zweckrationales Handeln“.11 Das Problem, welche Gültigkeit diese Theorien beanspruchen dürfen, will ich hier nicht erörtern, sondern mit der einer Hinterfragung würdigen Beobachtung beginnen, dass die Handlungstheoretiker des 20. Jahrhunderts für ihren Begriff des rationalen Handelns universale Gültigkeit postulierten. Sie vertraten also die These, dass der von ihnen definierte Begriff des rationalen Handelns überall und durch alle Zeiten hinweg gegolten habe. Damit erhoben sie Zweckrationalität zur ahistorischen Norm des Handelns.12 Die Erwartung, dass Handeln ahistorisch definiert werden könne, ist aber lediglich ein Postulat sozialwissenschaftlicher Theorie. Denn nicht allein haben Kognitionsethnologen die universale Anwendbarkeit der Weberschen Rationalitätskriterien in Zweifel gezogen. Selbst die Grundvoraussetzung Webers ist fragwürdig, dass Rationalität des Handelns mit dem Willen der Handelnden identisch sein müsse, gesetzte Ziele zu erreichen. Diese Identifikation wirft hingegen eine Reihe komplexer Fragen auf, darunter die folgenden: Warum muss die Rationalität einer Handlung bestimmt werden nach Maßgabe des Erreichens von Zielen? Warum müssen hingegen Handlungen irrational sein, wenn die Handelnden die Wahl der Wege und der Mittel für wichtiger einstufen als das Erreichen von Zielen? Max Weber scheint sich diese Fragen bereits gestellt zu haben, bezeichnete er doch in seiner Studie über Konfuzianismus und Taoismus dasjenige Problem als die allererste Frage, „von woher im einzelnen Falle der ethische Wert eines Handelns bestimmt werden soll: ob vom Erfolg oder von einem – irgendetwas ethisch bestimmenden – Eigenwert dieses Tuns an sich aus“.13 Doch hängte er diese Frage im Kontext der Bemessung der Verantwortung für die Handlungsfolgen auf und spezifizierte, es sei zu entscheiden, „ob und inwieweit die Verantwortung des Handelnden für die Folgen die Mittel heiligen oder umgekehrt der Wert der Gesinnung, welche die Handlung trägt, ihn berechtigen soll, die Verantwortung für die Folgen abzulehnen, sie Gott oder der von Gott zugelassenen Verderbtheit und Torheit 11

Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 9). Am radikalsten: Arthur Coleman Danto, Analytical Philosophy of Action, Cambridge: Cambridge University Press 1973. Gegen derlei Fundamentalismus argumentierte schon: Christopher Robert Hallpike, Die Grundlagen primitiven Denkens, München: Dtv 1990 [zuerst, Oxford: Clarendon Press 1979]. 13 Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus, hg. von Helwig Schmidt-Glintzer und Petra Kolonko, Tübingen: Mohr 1989, S. 497 (Weber, Gesamtausgabe. 19. Bd.). 12

II. Allgemeine Theorien des Handelns

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der Welt zuzuschreiben“.14 Um diese Entscheidung zwischen ethiktheoretischer Deontologie und Teleologie geht es im hier vorliegenden Zusammenhang nicht. Sie ist für das Verständnis der Friedenslehren irrelevant. Denn die für den Frieden als Ziel handelnden Personen können in jedem Fall als moralisch gerechtfertigt erscheinen, auch dann, wenn sie wegen der scheinbaren Torheit der Welt den Krieg als Mittel zur Erreichung des Friedens zu führen vorgeben. Die Frage, um die es hier geht, setzt tiefer an und problematisiert die Annahme, dass zielorientiertes, in diesem Sinn zweckrationales Handeln als Voraussetzung für die Bewahrung oder Herstellung des Friedens bestimmt werden muss. Die sozialwissenschaftliche und philosophische Handlungstheorie hat diese Frage, soweit ich sehe, weder allgemein noch in bezug auf Friedenslehren gestellt. Das geschah deswegen nicht, da man davon ausging, dass Max Weber Recht hatte mit seiner Behauptung, allein zielorientiertes Handeln könne zweckrationales Handeln sein. Doch diese Annahme kann nicht aufrecht erhalten, wer nach Ostasien blickt. In seinen Schriften über Konfuzianismus, Daoismus, Buddhismus und Hinduismus gab Weber selbst seine handlungstheoretische Voreingenommenheit zu erkennen. In einer Art Zusammenfassung, die er als „Zwischenbetrachtung“ zwischen seinen Studien über Konfuzianismus und Taoismus einerseits, Buddhismus und Hinduismus andererseits einschob, beschrieb Weber die Konsequenzen der in seiner Sicht gegebenen „Weltferne“ (Akosmismus) ostasiatischer Religionen und kritisierte deren Ethik als defektiv. Ihr Mangel bestehe darin, dass ihnen, vom Standpunkt der innerweltlichen Askese aus gesehen, der innere Antrieb zu einer ethischen Durchrationalisierung des individuellen Lebens abgehe. Folglich fehle ihnen „eine Prämie für die rationale methodische Gestaltung des Lebens der einzelnen durch diesen selbst im Interesse des eigenen Heils“.15 Dieser „höchst antirationalen Welt des universellen Zaubers“ gehöre, so führte Weber in seiner Studie über Buddhismus und Hinduismus weiter aus, auch „der ökonomische Alltag“ an.16 Weber schloss: „Eine rationale praktische Ethik und Lebensmethodik, welche aus diesen Zaubergärten allen Lebens innerhalb der ‚Welt‘ herausgeführt hätte, gab es nicht. . . . Die schrankenlose Erwerbsgier 14

Ebenda. Zur Unterscheidung zwischen Deontologie und Teleologie im Sinn der Ethik siehe: Charlie Dunbar Broad, Five Types of Ethical Theory, London: Paul, Trench and Trubner 1930, S. 206 [9. Aufl., ebenda 1967; Nachdruck des Originaldrucks, London: Routledge 2002 (The International Library of Philosophy. 17.)]. Jörg Schroth, Deontologie und die moralische Relevanz der Handlungskonsequenzen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 63. Jg. (2009), S. 55–75. 15 Weber, Wirtschaftsethik (wie Anm. 13), S. 497. 16 Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus, hg. von Helwig Schmidt-Glintzer und Karl-Heinz Golzio, Tübingen: Mohr 1996, S. 534 (Weber. Gesamtausgabe. 20. Bd.).

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Kap. 3: Europäische und japanische Friedenslehren der Neuzeit im Vergleich

des Asiaten im Großen und Kleinen ist in aller Welt als unerreicht berüchtigt, und im Allgemeinen wohl mit Recht. Aber sie ist eben ‚Erwerbstrieb‘, dem mit allen Mitteln der List und unter Zuhilfenahme des Universalmittels Magie nachgegangen wird. Es fehlte gerade das für die Ökonomik des Occidents Entscheidende: die Brechung und rationelle Versachlichung dieses Triebcharakters des Erwerbsstrebens und seiner Eingliederung in ein System rationaler innerweltlicher Handlungen, wie es die ‚innerweltliche Askese‘ des Protestantismus im Abendland, wenige innerlich verwandte Vorläufer fortsetzend, vollbracht hat.“17 Vordergründig und mit unüberhörbaren Anleihen beim zeittypischen Rassismus formulieren diese Aussagen das Paradigma des Orientalismus. Es umschließt, neben manch anderem, die Behauptung, in „Asien“ bestehe kein endogenes Veränderungspotential. Die Konstituierung „Asiens“ als Hort der Tradition im orientalistischen Diskurs ist keineswegs Max Webers Erfindung, sondern liegt bekanntlich bereits Marx’ Äußerungen über die so genannte „Asiatische Produktionsweise“ zugrunde.18 Sie hat, worauf kürzlich Eun-Jeung Lee nochmals hinwies, die Konsequenz gehabt, dass die auf Veränderung drängenden chinesischen und südostasiatischen Intellektuellen und Revolutionsbefürworter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts glaubten, sich von den indigenen Traditionen politischen Denkens lossagen zu müssen, um Veränderungen in Ost- und Südostasien herbeiführen zu können.19 Ohne auf das Paradigma des Orientalismus hier genauer eingehen zu wollen, möchte ich behaupten, dass, entgegen heutiger soziologischer Orthodoxie,20 Max Webers Aussagen zur Ethik ostasiatischer Religionen nicht 17

Ebenda, S. 534, 535. Karl Marx, Revolution in China and in Europe, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke. Artikel. Entwürfe. Januar bis Dezember 1853, Berlin: Dietz 1984, S. 147–153 (Marx Engels Gesamtausgabe. Erste Abteilung, 12. Bd., Textband.) [zuerst in: New York Daily Tribune (14.6.1853)]. Marx, The British Rule in India, ebenda, S. 166–173 [zuerst in: New York Daily Tribune (25.6.1853)]. Ebenso noch wurde, Marx Interpretation kanonisierend, das endogene Veränderungspotential in China während der 1970er Jahre in Abrede gestellt. Siehe: Ingolf Ahlers u. a., Die vorkapitalistischen Produktionsweisen, Erlangen: Verlag Politladen 1973, S. 10–11. 19 Siehe dazu neuerdings: Eun-Jeung Lee, „Anti-Europa“. Die Geschichte der Rezeption des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft seit der frühen Aufklärung, Münster und Hamburg: Lit 2003 (Politica et ars. 6.). Lee, Vom „konfuzianischen Idealstaat“ zum „konfuzianischen Kapitalismus“. Zum Wandel des westlichen Konfuzianismusbildes, Tokyo: Deutsche Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens 2004 (OAG-Taschenbuch. 83.). Lee ergänzte und radikalisierte die bekannten Thesen von Edward W. Said, Orientalism, New York: Pantheon Books 1978) [25th Anniversary Edition, London: Penguin 2003]. 20 Sie ist dokumentiert in der Exegese Weberscher Schriften durch: Wolfgang Schluchter, Rationalismus und Weltbeherrschung, Frankfurt: Suhrkamp 1980. Schluchter, Hg., Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus, Frankfurt: 18

II. Allgemeine Theorien des Handelns

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nur hinsichtlich einiger Verzerrungen aus europäischer Perspektive problematisch, sondern wegen der ihnen zugrundeliegenden Handlungstheorie falsch sind. Dies, so meine ich, ist nicht allein deswegen der Fall, da Max Weber die handlungstheoretischen Positionen des esoterischen Protestantismus des 16. Jahrhunderts zum okzidentalen Standard verabsolutierte. Er tat dies, obschon er hätte wissen können, dass die Vorläufer dieses Protestantismus keineswegs nur „wenige“ waren, sondern im Kernbereich der um „innerweltliche Askese“ bemühten spätmittelalterlichen Ethik des Katholizismus nisteten.21 Max Webers Aussagen sind hingegen deswegen falsch, da er die handlungstheoretischen Positionen des Okzidents zum Maßstab für rationales Handeln insgesamt erhob. Er postulierte folglich ein universales ethisches Prinzip, demzufolge generell rationales Handelns zielorientiert sein müsse und jegliches, nicht auf ein Ziel orientiertes Handeln in Zauberei und Mystik aufzuspüren sei, die ihrerseits dem Setzen von Zielen und folglich der Rationalisierung des Handelns entgegenstünden. Max Weber hätte durch einen Blick in die buddhologische Literatur seiner Zeit ermitteln können, dass dieses Postulat unbegründet ist.22 Denn Suhrkamp 1983. Schluchter, Hg., Max Webers Studie über Hinduismus und Buddhismus, Frankfurt: Suhrkamp 1984. Schluchter, Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie, Frankfurt: Suhrkamp, 1988) (Schluchter, Religion und Lebensführung. 2.) [Nachdruck (Frankfurt: Suhrkamp 1991]. Schluchter, Die Entstehung des modernen Rationalismus, Frankfurt: Suhrkamp 1998. 21 Siehe dazu: Jacques Le Goff, Für ein anderes Mittelalter, Weingarten: Drumlin-Verlag 1987 [zuerst, Paris: Gallimard 1977]. Le Goff, Kaufleute und Bankiers im Mittelalter, Frankfurt: Fischer 1993 [zuerst, Paris: PUF 1956; 7. Aufl., ebenda 1986 (Que sais-je?. 699.)]. 22 Siehe unter anderen: Richard Garbe, Die Sãmkhya-Philosophie. Eine Darstellung des indischen Rationalismus, Leipzig: Haessel 1894; 2. Aufl., ebenda 1917. Garbe, The Philosophy of Ancient India, Chicago: Open Court Publishing Company 1899 [Nachdruck, hg. von K. N. Mishra, Varanasi: Ashutosh Prakashansansthan 1988]. Caroline Augusta Foley Rhys Davids, A Buddhist Manual of Psychological Ethics of the Fourth Century B. C., London: Royal Asiatic Society 1900 (Oriental Translation Fund. 12.) [2. Aufl., ebenda 1923; 3. Aufl., London: Pali Text Society 1974 (Pali Text Society Translation Series. 41.); Nachdruck der 3. Aufl., Oxford: Pali Text Society 1997]. Friedrich Otto Schrader, Über den Stand der indischen Philosophie zur Zeit Mahaviras und Buddhas, Leipzig: Kreysing 1902 [= Diss. Phil. Straßburg 1902]. Max Walleser, Die buddhistische Philosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung, 1. Bd.: Die philosophische Grundlage des älteren Buddhismus, Heidelberg: Winter 1904; 2. Bd.: Die Mittlere Lehre Mãdhyamika-sãstra des Nãgãrjuna; nach der tibetischen Version übertragen, Heidelberg: Winter 1911; 3. Bd.: Die Mittlere Lehre Mãdhyamika-sãstra des Nãgãrjuna; nach der chinesischen Version übertragen, Heidelberg: Winter 1912. Walleser, Der ältere Vedanta, Heidelberg: Winter 1910. Louis de la Vallée Poussin, Bouddhisme. Études et matériaux. ffidikarmapradipa, Brüssel: Académie Impériale et Royale 1896–1898 (Mémoires couronnés et mémoires des savants étrangers publiés par l’Académie Royale des Sciences de Belgique, 55. Bd., Nr. 5.). Poussin, Bouddhisme. Études et matériaux. Théorie

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Kap. 3: Europäische und japanische Friedenslehren der Neuzeit im Vergleich

schon an der Wende zum 20. Jahrhundert stellte die Buddhologie klar, dass die in Süd-, Südost- und Ostasien gängige philosophische Tradition des Buddhismus auf anderen handlungstheoretischen Prämissen beruhte als diejenigen, die Weber bei seinen Studien über die asiatischen Religionen unterstellte. Weber ging bei seinen Studien von der Annahme aus, dass rationales Handeln auf das Erreichen vorbestimmter Ziele orientiert sein müsse, wobei er die Ziele als Objekte konzipierte. Diese Objekte betrachtete er so, als wären sie den handelnden Subjekten gegenüberstehende Gegenstände, die die Subjekte gewissermaßen zu erfassen sich zu bemühen hätten, wenn sie Webers Kriterien des rationalen Handelns erfüllen wollten. Gemessen an dieser Richtschnur erschien ihm in „Asien“ traditionales Handeln im Zwischenbereich von Mystik und Zauberei stattzufinden, also in scheinbar irrationalen Welten. Die philosophischen Traditionen des Buddhismus hingegen gingen davon aus, dass zwischen Subjekt und Objekt kein notwendiger Gegensatz bestehe.23 Diese Annahme galt sowohl in erkenntnis- wie auch handlungstheoretischer Hinsicht. In erkenntnistheoretischer Hinsicht führte sie zu der These, dass die die Menschen umgebende, scheinbar gegenständliche Umwelt nicht aus festen Objekten bestehe, sondern dass deren scheinbare Festigkeit aus dem Umstand resultiere, dass in ihnen sehr schnelle und kurzzeitige Bewegungsabläufe stattfänden. Da diese Bewegungen für die Menschen nicht wahrnehmbar seien, konstruierten sie die ihnen gegenüberstehende Umwelt als scheinbar feste Objekte. Diese Vergegenständlichung sei daher Ergebnis menschlicher Wahrnehmung und nicht Bestandteil der die Menschen umgebenden Welt. Die Schnelligkeit dieser Bewegungen bestimmte man unterschiedlich, mal mit dem 75. Teil einer Sekunde (wegen der von buddhistischen Philosophen angenommenen 75 Materien), mal mit dem millionsten Teil eines Blitzes. In der Folge der tatsächlichen Prozesshaftigkeit alles Seienden gebe es keinen Gegensatz von Subjekt und Objekt, sondern die Welt bestehe nur aus handelnden Subjekten, die wechselweise aufeinander wirkten. Deshalb sei die Erkenntnis eines Gegenstands erst recht dann möglich, wenn es in der Erkenntnis keine Gestalt des Gegendes douze causes, Ghent: Van Goethem; London: Luzac 1913 (Recueil de travaux, publiés par la Faculté de Philosophie et Lettres. 42.). 23 Karmasiddhiprakaran a. The Treatise on Action by Vasubandhu, hg. von , Etienne Lamotte [englische Fassung von Leo M. Pruden, Berkeley: University of California Press 1988, S. 41–44, 72–77, 78–82]. Otto Rosenberg, Die Probleme der buddhistischen Philosophie, Heidelberg: Winter 1924, S. 78–119. (Materialien zur Kunde des Buddhismus. 7/8.). Vgl. auch die neuere Publikation von Christopher Kaplonski, Truth, History and Politics in Mongolia. The Memory of Heroes, London und New York: RoutledgeCurzon 2004, mit der Rezension dieses Werks von Irina Morozova, in: IIAS [International Institute of Asian Studies] Newsletter 34. Jg. (2004), S. 33.

II. Allgemeine Theorien des Handelns

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stands gebe. Denn die Erkenntnis des Gegenstands könne von dem Gegenstand selbst nicht geschieden werden. In handlungstheoretischer Hinsicht folgte aus dieser erkenntnistheoretischen These, dass das Tun handelnder Subjekte nicht auf ein Ziel gerichtet sein, also keine Resultate produzieren könne. Hingegen entstünden Resultate des bereits abgeschlossenen Tuns handelnder Subjekte nicht als Objekte dieses Tuns, sondern seien Teil des fortlaufenden Tuns. Folglich könne kein Mensch als handelndes Subjekt tatsächlich sein Handeln auf ein Ziel orientieren, mithin dürfe zwischen Handeln als Prozess und einem Handlungsziel nicht unterschieden werden, sondern jedes Subjekt stehe in Interaktionen mit anderen Subjekten, die stets in Bewegung seien.24 Diese Tradition der buddhistischen Philosophie begründete nun eine Ethik, die die permanente Bewegtheit alles Seienden negativ beurteilte und ihr das Ideal der Bewegungslosigkeit entgegenstellte. Diesem Ideal konnten nur diejenigen gerecht werden, die ihre Bedürfnisse auf das Minimum des Lebensnotwendigen reduzierten und sich vom Getriebe der Welt so weit wie möglich fernhielten. Dies zu wollen war innerhalb der buddhistischen Erkenntnis- und Handlungstheorie weder mit Glauben an Zauberkräfte noch an Weissagungen der Mystik gebunden, sondern folgte als völlig rationale Lebensmethodik. Bewegung als Faktor der Angst war alternativ zur Ruhe als Träger der Hoffnung. Die europäische Erkenntnistheorie und Ethik, zwar nicht der Antike und des Mittelalters,25 wohl aber des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, kamen zu dem genau entgegengesetzten Schluss: Ihnen galt Ruhe als Faktor der Angst, Bewegung aber als Träger von Hoffnung. Daran, so scheint es, hat sich auch an der Wende zum 21. Jahrhunderts nichts geändert.

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Takashi Iwata, [Dharmakı¯rti und seine Schule, Ausschließlich-ZusammenWahrgenommenwerden, Prama¯nva¯rttikan, Kap. III] Sahopalam bhanizama. Struktur und Entwicklung des Schlusses von der Tatsache, dass Erkenntnis und Gegenstand ausschließlich zusammen wahrgenommen werden, auf deren Nichtverschiedenheit, Ziff. 298a4–7, 1. Bd., Stuttgart: Steiner 1991, S. 281 (Alt- und Neuindische Studien. 29.). James Duerlinger, A Translation of Vasubandhu’s Refutation of the Theory of Selfhood, Nr. 4.9, in: Journal of Indian Philosophy 17. Jg. (1989), S. 178. Duerlinger, Indian Buddhist Theories of Persons. Vasubandhu’s Refutation of the Theory of a Self, London: RoutledgeCurzon 2003, S. 73. Siehe dazu auch: James Duerlinger, Vasubandhu’s Philosophical Critique of the Va¯tsiputriyas’ Theory of Person, in: Journal of Indian Philosophy 25. Jg. (1997), S. 307–335, 26. Jg. (1998), S. 573–605, 28. Jg. (2000), S. 1–46. Duerlinger, Vasubandhu’s Theory of Persons and the Basic Problem of the Self, in: Indian Journal of Buddhist Studies 5. Jg. (1993), S. 22–42. Rosenberg, Probleme (wie Anm. 23), S. 61–119. 25 Siehe oben, Anm. 9.

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Kap. 3: Europäische und japanische Friedenslehren der Neuzeit im Vergleich

III. Die Anwendung der europäischen Handlungstheorie in den Friedenslehren und der Praxis des Friedensschließens Für die europäischen Friedenslehren des Mittelalters und der frühen Neuzeit war die Friedenstheologie des heiligen Augustinus grundlegend. Augustinus kannte sechs Ausprägungen des Friedens, die des Leibes, die der Seele, die zwischen Leib und Seele bestehende, die des Hauses, die der irdischen Politien und die des Himmels. Er bestimmte den Frieden als den gottgewollten Normalzustand der Welt, den Krieg hingegen als die durch menschliches Handeln verursachte Abweichung vom Frieden. Die Welt erschien als geordnete Schöpfung, auf die die Gottheit den Menschen nur begrenzte Einflussund Gestaltungsmöglichkeiten zugewiesen zu haben schien. Die Menschen hätten die Freiheit, gegen die Ordnung verstoßen zu wollen, könnten deswegen sündigen, folglich auch den Frieden brechen und Krieg führen. Aber so wenig wie die Menschen nach Augustinus’ Theologie in der Lage waren, die gottgewollte Ordnung zu zerstören, konnten sie mit ihren Kriegen den Friedenszustand auf Dauer vernichten.26 Auf jeden Krieg würde daher ein Frieden folgen. Augustinus positionierte also den Krieg als befristete Unterbrechung des Friedenszustands und folgerte aus der von ihm angenommenen Sequenz von Frieden, Krieg und wieder Frieden, dass es die Aufgabe ethisch zu rechtfertigenden politischen Handelns sei, die kriegerischen Unterbrechungen des Friedenszustands immer kürzer zu gestalten und immer seltener werden zu lassen. Krieg sei daher moralisch nur zu rechtfertigen, wenn er der zunehmenden Festigung des Friedens diene, sich letztlich selbst aus der Welt schaffe. Der Frieden aller Dinge sei die Stabilität der Ordnung in der Welt. Bis ins 12. Jahrhundert folgten die römischen Kaiser sowie andere Herrscher des Okzidents in der Regel dieser Setzung und verliehen der Hoffnung auf die Bewahrung von Frieden und Ruhe sowie Frieden und Sicherheit in den Arengen der in ihrem Namen ausgestellten Urkunden Ausdruck.27 Die Sicherheit der Einzelnen und ihres Eigentums schien gebunden 26 Augustin, De civitate Dei, lib. XIX, cap. 3, 11–4, hg. von Bernard Dombart und Alphons Kalb, 2. Bd., Turnhout: Brepols 1955, S. 663, 674–682 (Corpvs Christianorvm Series Latina. 48.). Augustin, Epistola 189 ad Bonifatium, in: Patrologiae cursus completus. Series Latina, hg. von Jacques-Paul Migne, 33. Bd., Sp. 856. Zur Friedenstheologie der Hl. Augustinus siehe Bibliografie Nr. 59. 27 Augustin, De civitate Dei, lib. XIX, cap. 7, 13 (wie Anm. 26), S. 671–672, 679. Augustin, Contra Faustum Manichaeum, lib. XXII, cap. 74, in Patrologiae cursus completus. Series Latina, hg. von Jacques-Paul Migne, 42. Bd., Sp. 447–448. Zu den Urkundenarengen siehe das Verzeichnis von Friedrich Hausmann und Alfred Gawlik, Arengenverzeichnis zu den Königs- und Kaiserurkunden von den Merowingern bis Heinrich VI., München: MGH 1987, s. v. pax tranquilla, tranquilla pax, pax et securitas, pax et stabilitas, pax et tranquillitas, pax, concordia et tranquillitas

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an die Befolgung des Willens der Herrscher als Repräsentanten der Gottheit. Unsicherheit und Tod durch insgeheim verübte Verbrechen sowie durch Krieg waren Folgen des sündigen Handelns der Menschen, die so Opfer ihrer eigenen Unvernunft wurden.28 Die Menschen konnten nach Augustinus sich selbst zerstören wollen, nicht aber die Welt. Das christlich gewordene Römische Reich als Universalreich erschien als Garant des Fortbestehens der Welt bis zum Jüngsten Gericht.29 Der Aquinat fügte dem einige konkrete Bedingungen der Kriegführung hinzu, die bis heute gültig geblieben sind. Es sind dies die drei Bedingungen, dass ein gerechter Krieg nur durch eine legitime Regierung, nach erfolgter Erklärung und in Verfolgung moralischer Kriegsgründe führbar sei.30 Vordergründig waren diese Bemühungen um Begrenzung des Rechts auf Kriegsführung und um Spezifizierung der Bedingungen eines gerechten Krieges darauf gerichtet, das Gewaltmonopol der Landesherren zu legitimieren.31 Dieser Begriff des Trägers von Herrschaft über ein oder mehrere begrenzte Territorien trat im Verlauf des 11. und 12. Jahrhunderts an die Stelle des älteren, irgendwo auf Land sitzenden Leute bezogen gewesenen (Monumenta Germaniae Historica. Hilfsmittel 9.). Hubert Mordek und Gerhard Schmitz, Neue Kapitularien und Kapitulariensammlungen, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 43. Jg. (1987), S. 399, 414. Zur Terminologie von Frieden und Sicherheit siehe Bibliografie Nr. 60. 28 Edictum Chlotarii II, 18. Oktober 614, hg. von Alfred Boretius, Capitularia regum Francorum, 1. Bd., Hannover: Hahn 1883, Nr. 9, S. 20–23 (Monumenta Germaniae Historica, Legum section II, Capitularia, 1. Bd.). Hlo¯ðhere, König von Kent, [Schenkung an Abt Bercuald, über Land auf der Insel Thanet, an dem Ort Westanæ, AD 679], hg. von Walter de Gray Birch, Cartularium Saxonicum, 1. Bd., London: Whiting 1885, Nr. 45, S. 70–71 [Nachdruck, New York: Johnson 1964]. Gesetze Ines von Wessex, Art. 12, 13,1 14, 15, 15,2, 16, hg. von Felix Liebermann, Die Gesetze der Angelsachsen, 1. Bd., Halle: Niemeyer 1903, S. 94–97. Burchard von Worms, Lex familie Wormatiensis ecclesie [Hofrecht], cap. 30, hg. von Heinrich Boos, Urkundenbuch der Stadt Worms, Nr. XXX, 1. Bd., Berlin: Weidmann 1886, S. 43–44 (Quellen zur Geschichte der Stadt Worms. 1.) [auch in: Monumenta Germaniae Historica, Constitutiones, 1. Bd., hg. von Ludwig Weiland, Hannover: Hahn 1893, S. 639–641]. De XII abusivis saeculi, hg. von Siegmund Hellmann, Leipzig: Hinrichs 1909, S. 43–44 (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur. 34.). Zur Friedenswahrung im früheren Mittelalter siehe Bibliografie Nr. 61. 29 Zur mittelalterlichen Universalismustheorie siehe Bibliografie N. 62. 30 Decretalia, pars II, causa XXIII, qu. I, cap. 3–7, hg. von Emil Ludwig Richter, Corpus iuris canonici, II. Teil: Decretalium collectiones, 2. Aufl. von Emil Friedberg, Leipzig: Tauchnitz 1881, S. 892–893 [Nachdruck, Graz: Akademische Druckund Verlagsanstalt 1995]. Thomas von Aquin, Summa theologiae, Secundae secunda, qu. 29 a.1 ad 1, qu. 40, ar 1–4, hg. von Roberto Busa, SJ, Sancti Thomae Aquinatis Opera omnia, 2. Bd., Stuttgart: Frommann-Holzboog 1980, S. 566, 579–580. Zur Theorie des gerechten Kriegs siehe Bibliografie Nr. 43. 31 Zur mittelalterlichen Kriegführung siehe Bibliografie Nr. 63.

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Herrschaftsbegriffs. Dieser Wandel war verbunden mit der im späten 10. Jahrhundert aufkommenden Vorstellung, dass Sicherheit in der Regel nicht durch Demonstrationen der Fähigkeit und Bereitschaft zum Kampf kleinerer Gruppen oder der in sie eingebundenen Personen zu gewährleisten sei, sondern durch die für die Bewohner eines Territoriums oder einer Stadt zunächst nur befristet und für bestimmte Streitfälle gültigen Friedensgebote der Obrigkeiten.32 Diese Friedensgebote erzwangen den Gerichtsweg zur Schlichtung von Streitfällen unter den Bewohnern in Stadt und Land und unterwarfen Täter wie Opfer von Verbrechen der Gerichtsbarkeit der Obrigkeiten. Demzufolge wurden Adlige mitunter als Räuber bezeichnet, wenn sie weder zu Landesherren aufstiegen noch ihr älteres Privileg aufgeben wollten, zur Durchsetzung von Herrschaftsansprüchen in eigener Verantwortung über Krieg und Frieden entscheiden zu können.33 Auch Theoretiker wie Thomas von Aquin setzten das militärische Handeln von Herrschaftsträgern, die keine Obrigkeiten waren, mit dem Tun von Räubern gleich.34 Die Anerkennung der Friedensgebote der Landes- und Stadtherren verlief ungleichmäßig in den verschiedenen Territorien. In den Städten ordneten sich die Bewohner schon im 12. Jahrhundert den Friedensgeboten unter, die die ihnen vorstehenden Räte erlassen konnten, wenn die Städte das Selbstregierungsrecht erlangt hatten. In England galt während des 14. Jahrhunderts das Führen von Privatfehden als Vergehen, das den Verlust von Eigentum und Leben nach sich ziehen konnte.35 Im Römischen Reich als Ganzem hingegen kam erst im Jahr 1495 mit der Verkündung des „Ewigen Landfriedens“ ein umfassendes, durch den Kaiser promulgiertes Friedensgebot zustande.36 32

Zu den Gottesfrieden siehe Bibliografie Nr. 42. Zur Einschränkung der Kriegsführungsfähigkeit siehe Bibliografie Nr. 64. 34 Thomas, Summa (wie Anm. 30), S. 579. 35 Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte, hg. von Friedrich Keutgen, Berlin: Felber 1899 (Ausgewählte Urkunden zur deutschen Verfassungsgeschichte. 1.) [Neudruck, ebenda 1901, S. 109, 117–118; Nachdruck, Aalen: Scientia 1965]. Nürnberger Polizeiordnungen aus dem XIII. bis XV. Jahrhundert, hg. von Joseph Baader, Stuttgart: Litterarischer Verein 1861, S. 25–26; Nachdruck, Amsterdam und Atlanta; Rodopi 1966 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart. 63.). Wynnere and Wastoure, in: Alliterative Poetry of the Late Middle Ages, VV 128–9, 131–133, hg. von Thorlac Turville-Petre, London: Routledge 1989, S. 47–48. Zur Begrenzung des ius ad bellum auf Souveränitätsträger siehe Bibliografie Nr. 64. 36 Kaiser Maximilian I., Der [sogenannte Ewige] Landfriede, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, hg. von Karl Zeumer, Tübingen: Mohr 1904, S. 281–285 (Quellensammlungen zum Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht. 2.) [2. Aufl., ebenda 1913; Nachdruck, Aalen: Scientia 1987]. Auch in: Quellen zum Verfassungsorganismus des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. 1495–1815, hg. von Hanns Hubert Hofmann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, S. 2–6 (Ausgewählte Quellen 33

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Die Wurzeln der mittelalterlichen Friedenstheologie reichen somit tief in Perzeptionen der Weltordnung. Mittelalterliche Bemühungen um den Frieden waren mit ritterlicher Kriegsethik vereinbar, nicht nur Ausdruck einer Reaktion der davon vermeintlich oder tatsächlich betroffenen Zivilbevölkerung auf eskalierenden Waffengebrauch. Die von Augustinus kanonisierte Doktrin blieb bestehen, dass die Gottheit die Welt als stabile Größe geschaffen und den Menschen die Pflicht auferlegt habe, durch Bewahrung oder Restitution des gottgewollten Friedens die Stabilität der Welt zu stärken. In diesem Sinn stellte um die Mitte des 15. Jahrhunderts, analog zu Dante, der anonyme Tractatus de regimine principum ad regem Henricum sextum dem König die Aufgabe, den Frieden zu bringen, und der Mystiker Nikolaus von Flüe ließ um 1481 den Rat der Stadt Bern wissen: „Frid ist allwegen in got; wan got, da ist der frid; und frid mag nit zerstört werden; unfrid wurt aber zerstört“. Diese Doktrin wurde auf verschiedene Weise in Wort und Bild während des 13. bis 16. Jahrhunderts zum Ausdruck gebracht, sei es durch die großformatigen Weltkarten des 13. Jahrhunderts,37 die Kirchenrechtssetzungen und Kriegskritiken des 13. und 14. Jahrhunderts,38 die Friedenstraktate und Friedensklagen des 15. und frühen 16. Jahrzur deutschen Geschichte der Neuzeit. 13.) [Nachdruck, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983 (Texte zur Forschung. 43.)]. 37 Die das Fortwirken des Augustinismus in Frage stellende Doktrin von der angeblich zunehmenden Betroffenheit der Zivilbevölkerung durch die Kriegführung im Spätmittelalter und im 16. Jahrhundert wurde wiederholt von: John Rigby Hale, The Direct Impact of War on Civilians, in: Hale, War and Society in Renaissance Europe, London: Fontana Press 1985, S. 179–208. Aber diese Doktrin gründet sich auf Quellen, die propagandistischen Charakter tragen und vermeintliche Kriegsgräuel zu überzeichnen scheinen. Siehe dazu: Krieg und Frieden im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, hg. von Heinz Duchhardt und Patrice Veit, Mainz; Zabern 2000 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Universalgeschichte. 52.). Gabriela Signori, Frauen, Kinder, Greise und Tyrannen. Geschlecht und Krieg in der Bilderwelt des späten Mittelalters, in: Bilder, Texte, Rituale, hg. von Klaus Schreiner und Gabriela Signori, Berlin: Duncker & Humblot 2000, S. 158–159 (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 24.). Tractatus de regimine principum ad regem Henricum sextum, cap. 3, hg. von JeanPhilippe Genet, Four English Political Tracts of the Later Middle Ages, London: Royal Historical Society 1977, S. 67–71 (Camden Fourth Series. 18.). Das Zitat aus Nikloaus von Flües Schreiben an Bern ist abgedruckt in: Der selige Nikolaus von der Flüe und die Eidgenossenschaft auf dem Tage zu Stanz, hg. von Guido Görres, München: Rösl 1831, S. 38 (Gott in der Geschichte. 1.). Auch in: Klaus Arnold, Mittelalterliche Volksbewegungen für den Frieden, Stuttgart, Berlin und Köln: Kohlhammer 1996, S. 24 (Beiträge zur Friedensethik. 23.). Zur neueren Literatur über die Weltkarten siehe Bibliografie Nr. 62. 38 Zu Kriegskritiken siehe insbesondere: Giovanni di Legnano, Tractatus de bello, de repressaliis et de duello, hg. von Thomas Erskine Holland, Oxford: Oxford University Press 1917 (Classics of International Law. 8.). Honoré Bonet (Bouvet), L’Arbre de bataille. Erstdruck, Paris: Du Pré 1493 [Neudruck, hg. von Ernest Nys,

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hunderts.39 Aber die Theoretiker des Spätmittelalters und des 16. Jahrhunderts reagierten auf andere Problemstellungen als Augustinus und seine Nachfolger bis ins 12. Jahrhundert. Einerseits führte die Intensivierung des Fernhandels in der trikontinentalen Ökumene zur Orientierung der Wirtschaftsorganisation auf die Aufrechterhaltung von Produktmärkten und die Bereitstellung von Warenangeboten anstelle des früheren Vorrangs der Nachfragebefriedigung.40 Die Umstellung der Wirtschaftsweisen trug bei Brüssel, London, Leipzig und New York: Merzbach 1883; weitere Ausgabe von George W. Coopland, Liverpool: Liverpool University Press 1949; englische Fassung u. d. T. Gilbert of the Haye’s Prose Manuscript. The Buke of the Law of Armys or Buke of Battalis. Translated from the French l’Arbre des battailes, 1. Bd., hg. von John Horne Stevenson, Edinburg und London: Blackwood 1901 (Scottish Text Society. 44.)]. Alain Chartier, Le quadrilogue invectif, hg. von Eugénie Droz, Paris: Champion 1923 [englische Fassung, hg. von Margaret S. Blayley, FifteenthCentury English Translations of Alain Chartier, Oxford: Early English Text Society 1974–1980 (Early English Text Society. Original Series 270. 281.)]. Jean de Bueil, Le Jouvencel, hg. von Camille Favre, Léon Lecestre und Guillaume Tringant, Paris: Renouard 1888 [Nachdruck, Genf: Slatkine 1996]. Christine de Pizan, The „Livre de la Paix“, hg. von Charity Cannon Willard, Den Haag: Mouton 1958. Thomas Hoccleve, The Regement of Princes, in: Hoccleve’s Works, 2. Bd., hg. von Frederick James Furnivall, VV. 5195–5201, 5335–5341, 5363–5366, 5386–5390, London: Paul, Trench and Trubner 1897, S. 187, 192–194 (Early English Text Society. Extra Series 73.) [Nachdrucke, London: Oxford University Press 1937; New York: Kraus 1973; Woodbridge: Boydell & Brewer 1997]. Zu den Kriegskritiken siehe Bibliografie Nr. 41. 39 Andrea Biglia, Querellae pacis, um 1423/24, Ms., Mailand, Biblioteca Ambrosiana, Cod. Ambr. N 280, sup. Siehe dazu: Otto Herding, Humanistische Friedensideen. Am Beispiel zweier „Friedensklagen“, in: Die Humanisten in ihrer politischen und sozialen Umwelt, hg. von Otto Herding und Robert Stupperich, Boppard: Boldt 1976, S. 7–34 (Deutsche Forschungsgemeinschaft. Kommission für Humanismusforschung. Mitteilung 5.). Sebastian Brant, Klage des Friedens. Gedrucktes Flugblatt. 1499, hg. von John Rigby Hale, Artists and Warfare in the Renaissance, New Haven: Yale University Press 1991, S. 208–209, Abb. 261. Siehe dazu: Klaus Arnold, Bilder des Krieges – Bilder des Friedens, in: Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter, hg. von Johannes Fried, Sigmaringen: Thorbecke 1996, S. 561–586 (Vorträge und Forschungen, herausgegeben vom Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte. 43.). Arnold, Friedensallegorien und bildliche Friedensappelle im späteren Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Krieg und Frieden im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, hg. von Heinz Duchhardt und Patrice Veit, Mainz: Zabern 2000), S. 28–29 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Universalgeschichte. Beiheft 52.). Zum Werk des Erasmus von Rotterdam siehe unten, Anm. 50. 40 Siehe dazu: Harald Kleinschmidt, Understanding the Middle Ages (Woodbridge: Boydell & Brewer 2000), S. 152–161. Dieter Seiffert, Kompagnons und Konkurrenten. Holland und die Hanse im späten Mittelalter, Köln, Weimar und Wien: Böhlau 1997 (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte. N. F., 43. Bd.). The Rise of the Merchant Empires, hg. von James D. Tracy, Cambridge: Cambridge University Press 1990.

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zur Rationalisierung der Beschaffung und Verwertung von Rohstoffen, der effizienteren Gestaltung von Produktion und Vertrieb sowie zur Durchsetzung eines teils von den Räten vieler Städte sowie einigen Landesherren kontrollierten, teils von Produzenten und Händlerorganisationen autonom gesteuerten Systems von Normen und Regeln zur Gestaltung des Wettbewerbs, der Sicherung der Handelswege, der Verminderung der Risiken von Produktion und Vertrieb, der Erhaltung von Qualitätsstandards für die Produkte sowie der Einhaltung der Anforderungen für die Gewerbezulassung. Alle diese Veränderungen erforderten stabile politische Rahmenbedingungen und erhöhten dadurch gleichzeitig den Willen zum Frieden und die Kritik an denjenigen, deren Beruf das Kriegführen war. Andererseits erhöhte die Territorialisierung von Herrschaft jedoch die Anreize zum Kriegführen. Denn parallel zur Durchsetzung des obrigkeitlichen Friedensgebots in den Städten und Territorien wuchs die Rivalität der Stadträte und Landesherren untereinander. Diese zunehmende Rivalität erhöhte die Bereitschaft zum Einsatz immer stärkerer Machtmittel im Krieg und erzwang dadurch die strengere Ausbeutung der für die Kriegführung erforderlichen Ressourcen in Stadt und Land. Die Zunahme militärischer Machtmittel war erkennbar an der Verlängerung der Kriegsdauer, der Erweiterung und Differenzierung der Waffenarsenale und besonders der Erhöhung der Mannzahlen in den kämpfenden Truppen. Die Intensivierung der auf Eroberung von Territorien, die Ausbeutung von Rohstoffen und die Unterwerfung von Bevölkerungsgruppen zielenden Kriegführung ging einher mit einer stärkeren Ausprägung des Gefälles zwischen Herrschern und Beherrschten einerseits sowie zwischen Herrschaftsträgern unterschiedlichen Rangs andererseits.41 Denn die zunehmende Bereitschaft zum Einsatz immer höherer Machtmittel für den Krieg erzwang faktisch die Beschränkung der Befähigung zum Kriegführen auf die Herren größerer Territorien und die Räte wohlhabendere Städte.42 Der Zusammenhang von Militarisierung der politischen Ordnungen und Politisierung des Krieges trug dazu bei, dass die Herrschaft tragenden 41 Kleinschmidt, Understanding (wie Anm. 40), S. 177–191. Dies gegen James Campbell, der diese Arten von Kriegszielen ohne Quellenbefund bereits für das 7. Jahrhundert annahm. Siehe: The Anglo-Saxons, hg. von James Campbell, Eric John und Patrick Wormald, Oxford: Oxford University Press 1982, S. 54. 42 Siehe dazu: Öffentliches Bauen in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Gerhard Fouquet, Ulf Dirlmeier und Rainer S. Elkar, St. Katharinen: Scripta Mercaturae Verlag 1991 (Scripta mercaturae. 9.). Gerhard Fouquet, Bauen für die Stadt. Finanzen, Organisation und Arbeit in kommunalen Baubetrieben des Spätmittelalters, Köln, Weimar und Wien: Böhlau 1999 (Städteforschung. Reihe A, Bd. 48.). Kelly Robert DeVries, Medieval Military Technology, Peterborough, Ont.: Broadview Press 1992. DeVries., Infantry Warfare in the Early Fourteenth Century, Woodbridge: Boydell & Brewer 1996.

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Obrigkeiten in Legitimationsaporien gerieten, da sie ihre Untertanen auf die Beachtung des Friedensgebots verpflichteten, für sich selbst aber das Recht der Kriegsführung reklamierten und damit im Sinn Augustinus’ die Stabilität der Welt beeinträchtigten. Folglich konnte Herrschaft, besonders in den auf wirtschaftlichen Wettbewerb orientierten Städten, nicht länger wie bis in das 12. und 13. Jahrhundert als Bestandteil der gottgewollten Weltordnung ausgegeben, sondern musste als Resultat menschengemachter Satzungen begründet werden. Dies geschah in der Praxis der Städtegründungen schon seit dem 12. Jahrhundert durch Gründungsprivilegien, die das Entstehen städtischer Siedlungen als Ergebnis von Vertragsschlüssen zwischen Stadtherr und Stadtbewohnern festschrieben.43 An derartige Satzungen sowie an die politische Theorie des Aristoteles44 knüpften im frühen 14. Jahrhundert diejenigen Theoretiker an, die die Bedingungen des Entstehens von Herrschaft zu bestimmen suchten. Einer von ihnen, der gelehrte Abt Engelbert von Admont, gelangte dabei zu der Zweiteilung aller Herrschaften. Einerseits führte er das Römische Reich als Universalreich auf den Ratsschluss der Gottheit zurück, die zur Erhaltung der Stabilität der Welt alle Menschen der Kontrolle nur eines Herrschers habe unterstellen wollen. Andererseits schrieb Engelbert den Menschen die Fähigkeit zu, unabhängig vom Römischen Reich durch eigene Willensentscheidung und kraft vertraglicher Vereinbarungen zur Bewahrung des Friedens Herrschaft entstehen zu lassen, und kategorisierte diese Fähigkeit ebenso als Bestandteil der gottgewollten Weltordnung. Von dieser Möglichkeit hätten Menschen überall dort Gebrauch gemacht, wo die Herrschaft des Kaisers als Repräsentant des Römischen Reichs nicht zur Geltung komme oder gekommen sei. Für diese Territorien formulierte Engelbert den Gedanken, dass Herrschaft durch freien Vertrag (pactum) zustande gekommen sei und die Obrigkeit auf die Bewahrung des Friedens und der Sicherheit der Untertanen innerhalb eines Territoriums verpflichte.45 In Engelberts politischer 43 Keutgen, Urkunden (wie Anm. 35), S. 109, 117–118. Vgl. dazu das Kölner Statut von 1396, hg. von Walter Stein, Verbundbrief, in: Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert, Bonn: Behrendt 1893, S. 187–198 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde. Bd. 10, Nr. 1.) [Nachduck, Düsseldorf: Droste 1993]. 44 Zur Aristoteles-Rezeption im 12.–14. Jahrhundert siehe Bibliografie Nr. 4. 45 Engelbert von Admont, De ortu, progressu et fine regnorum et praecipue regni seu imperii Romani, cap. 2, hg. von Melchior Goldast von Haiminsfeld, Politica imperialia, Frankfurt: Bringer 1614, S. 755. Zur Engelbert siehe: Bibliografie Nr. 6. Bei seiner Bestimmung des Herrschaftsvertrags als Grundlage der Friedenspflicht für Herrscher kam Engelbert die, auch nach neueren Grundsätzen der Etymologie haltbare Ableitung des lateinischen Worts pax von der Wurzel pactum durch Isidor von Sevilla, Etymologiarvm sive originvm libri XX, lib. 18, hg. von Wallace Martin Lindsay, Oxford: Oxford University Press 1911, s. p., zugute. Siehe dazu: Dietrich Kurze, Krieg und Frieden im mittelalterlichen Denken, in: Zwischenstaatliche Frie-

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Theorie war nur noch das gottgewollte Universalreich per se ein Garant für den Frieden, nicht aber die Pluralität der menschengemachten Politien. Frieden ergab sich nicht mehr allein aus der Anerkennung der Universalherrschaft, sondern, wenn überhaupt, als bewusste, planvolle Restauration des gottgewollten Zustands der Welt. Zwar war Frieden immer noch ein gottgewollter Zustand der Welt, aber er konnte auch in Beschränkung auf bestimmte Orte, Territorien und Gruppen, beispielsweise kirchliche Gemeinschaften, gedacht werden.46 Folglich ergab sich auch die Sicherheit des Einzelnen nicht mehr als Ergebnis gottgefälligen Handelns wie im frühen Mittelalter, sondern folgte aus herrscherlichem Willen, der auf bestimmte Orte, zum Beispiel Straßen und Plätze, orientiert und in speziellen Ge- und Verbotsmandaten zum Ausdruck gebracht werden musste.47 Aus derselben Zusammenschau von spekulativem Universalismus und einem den Gegebenheiten der Welt angepassten Partikularismus48 begründete der spanische Dominikaner Francisco de Vitoria in den 1530er Jahren seine Theorie, dass Krieg legitimes Mittel zur Bestrafung von Unruhestiftern außerhalb des Herrschaftsbereichs einer Obrigkeit sei. Die Sicherheit eines Territoriums stand im Vordergrund seiner Theologie, die den Frieden nicht durch Anbindung an Träger universaler Herrschaft, sondern aus einer universalen Herrscherethik zu begründen versuchte.49 Ebenso verfuhren schon denswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Heinz Duchhardt, Köln und Wien: Böhlau 1991, S. 18–19 (Münsterische Historische Forschungen. 1.). 46 Zur Vertragstheorie siehe Bibliografie Nr. 40 und oben, Kapitel 2, Anm. 82. 47 Für den städtischen Bereich: Verbot des Waffentragens innerhalb der Stadtmauern, in: Nürnberger Polizeiordnungen (wie Anm. 35), S. 38–39. Für öffentliche Wege, insbesondere Straßen unter der Kontrolle des Kaisers siehe: Der „Libellus de Caesarea monarchia“ von Hermann Peter aus Andlau, hg. von Joseph Hürblin, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 13. Jg. (1892), S. 212–213. Antonio de Rosellis, Monarchia siue tractatus de potesta imperatoris et Papae, Pars I, cap. 32 und 56, hg. von Melchior Goldast von Haiminsfeld, Monarchia Sancti Romani Imperii, Hanau: Bierman 1611, S. 268, 282–284 [Nachdruck, Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1960]. 48 So ausdrücklich: Miguel de Ulcurrum, Catholicum opus imperiale regiminis mundi, Saragossa 1525: Cocci), fol. XXV, XXVIII, XXXI, XXXIII, XXXVIII. Excerpte in: Tractatus universi iuris, 1. Bd., 1584, fol. XXIIv. Luciano Peren˜a Vicente, Miguel de Ulcurrun. El emperador organo y garantia del derecho de gentes positivo, in: Revista Espan˜ola de Derecho Internacional 6. Jg. (1953), S. 320–321. Jacob de Antonisz, De praecellentia potestatis Imperatoriae, Antwerpen: Mertens [1503], fol. C2, D5, E6. Siehe dazu: Franz Bosbach, Monarchia universalis, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 32.). Gennaro Maria Monti, In torno a Marino da Caramanico e alla formula „Rex est imperator in regno suo“, in: Annali del Seminario Guiridico Economico della R[eale] Università di Bari 6. Jg. (1933), S. 3–17. 49 Francisco de Vitoria, Relectio de potestate civili [1528], in: Vitoria, Relectiones morales, Köln: Boethius 1696, S. 5. Siehe dazu Bibliografie Nr. 67.

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zu Beginn des 16. Jahrhunderts diejenigen Herrscher, die sich der von Erasmus von Rotterdam50 ausgehenden Initiative zur Begründung eines Friedens durch völkerrechtlichen Vertrag unter Herrschern anschlossen. So setzten Kaiser Maximilian I., König Karl I. von Spanien (dessen Enkel und als Karl V. späterer Nachfolger im Reich), König Heinrich VIII. von England und König Franz I. von Frankreich diese Initiative um und begründeten im Jahr 1518 einen ewigen Friedenspakt, die die gerichtliche Streitbeilegung unter Souveränen völkerrechtlich verbindlich vorschrieb.51 Ausdrücklich aus der Vertragslehre leiteten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Theoretiker Marius Salamonius,52 Justus Lipsius53 und Juan de Mariana54 50 Erasmus Desiderius Erasmus, Querela pacis, in: Erasmus, Opera omnia, 4. Bd., Leiden: van der Aa 1723, Sp. 625–642 [Nachdrucke, London: Gregg 1962; Hildesheim: Olms 1962; anonym gedruckte englische Fassung u. d. T.: Pretye Complaynt of Peace That was Banyshed out of Dyvers Countreys & Brought by welth in to England & Than Fearing Both to be This Exiled, Made Great Mone, Untyl Prudence Retayned them Agayne, London: Bydell 1538]. Mit seiner theoretischen Grundlegung der Erreichbarkeit von Frieden durch Vertrag erteilte Erasmus den älteren universalistischen Friedenstheorien etwa Dantes eine Absage, die in der Hoffnung auf das friedensbringende Wirken eines Universalherrschers gründeten. In literarischer Gestaltung erschien Erasmus’ Friedenstheorie bei: François Rabelais, La vie très horrifique du Grand Gargantua, père de Pantagruel, lib. I, cap. 28–37, 47–51 [1534], in: Rabelais, Œuvres complètes, hg. von Guy Demeron, Paris: Seuil 1973, S. 130–151, 178–190. Rabelais selbst bezeichnete Erasmus als seinen geistigen Vater und zugleich als seine geistige Mutter. Siehe: Rabelais, [Brief an Erasmus aus Lyon vom Jahr 1532], in: Rabelais, Ouevres complètes, 2,Bd., hg. von Pierre Jourda, Paris: Gallimard 1962, S. 497–498. Zur Friedenstheorie des Erasmus siehe Bibliografie Nr. 65. 51 Der Text des Friedens von 1518 ist abgedruckt in: Foedera, conventiones, litterae et cujusque generis acta publica inter reges Angliae et alios quosvius imperatores, reges, pontifices, principes vel communitates, hg. von Thomas Rymer, 13. Bd., London: Churchill 1714, S. 624–649 [Nachdruck, Farnborough: Gregg 1967]. Auch in: Corps diplomatique universel de droit des gens, hg. von Jean Dumont, Baron von Carels-Croon, 4. Bd., 1. Teil, Den Haag: Brunel 1726, Nr. 125, S. 269–275. Siehe dazu oben, Kapitel 2, Anm. 162. 52 Marius Salamonius, De principatu libri septem, Rom: Cartolari 1544, S. 38. Zu Salamonius siehe: Carl Joachim Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk im Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, Berlin: Duncker & Humblot 1975. 53 Justus Lipsius, De constantia libri duo, Antwerpen: Plantin 1584 [englische Fassung: Two Bookes of Constancie, hg. von John Stradling, London 1595: Richard Iohnes, S. 77–79, 95–96, 98; neu hg. von R. Kirk und C. M. Hall, New Brunswick: Rutgers University Press 1939]. Lipsius, Politicorum sive de doctrina civilis libri sex, Leiden: Plantin 1589 [Nachdruck der Ausgabe von 1704, hg. von Wolfgang Weber, Hildesheim: Olms 1998; neu hg. von Jan Waszink (Assen: van Gorcum, 2004); englische Fassung: Six Bookes of Politickes or Civil Doctrine, hg. von W. Jones, London: Ponsonby 1594, S. 128; Nachdruck, Amsterdam und New York: Orbis Terrarum 1970 (The English Experience. 287.)].

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ihre Ethik der Selbstkontrolle ab, die sie als universale Größe den Rechtssatzungen der Obrigkeiten überordneten. Lipsius insbesondere verpflichtete die Obrigkeiten darauf, die Herrschaftsverträge einzuhalten. Aus der Annahme solcher hypothetischer Herrschaftsverträge leitete Lipsius die Forderung ab, dass die Obrigkeiten Sicherheit und Frieden für ihre Untertanen garantieren müssten und deshalb Kriege nicht im falschen Glauben an die eigene Machtfülle führen dürften, sondern forderte wie Vitoria, dass Gewalt mit militärischen Mitteln ausschließlich zur Wiederherstellung des Friedens nach erlittenem Unrecht Gewalt über das unter ihrem Gebot stehende Territorium nach außen hin angewendet werden solle.55 Obwohl die Friedenstheoretiker des Spätmittelalters und des 16. Jahrhunderts auf andere Probleme antworteten als Augustinus, bestimmten sie doch den Schutz des Einzelnen vor innerer und äußerer Gewalt als Hauptinhalt des Friedensbegriffs. Für die europäischen Friedenslehren des Mittelalters und des 16. Jahrhunderts war somit charakteristisch, dass Theoretiker Krieg als Folge menschlichen Handelns, Frieden hingegen als unvermeidlichen, unabänderlichen und zwar verletzlichen, aber letztlich unzerstörbaren gottgewollten Zustand der Welt ausgaben. Diese theoretische Bestimmung des Friedens war als solche nichts weiter als eine Anwendung der mittelalterlichen Sündenlehre auf die politische Praxis. Spätestens Abälard hatte diesbezüglich klargestellt, dass der Begriff der Sünde die Freiheit zu sündigen voraussetze. Niemand, behauptete er, könne sündigen, wenn die einzelnen Menschen keine Freiheit hätten zu entscheiden, ob sie Gutes oder Schlechtes tun wollten. Zwar gebe die Gottheit das Gebot vor, Gutes zu tun. Aber sündhaft könnten nur diejenigen handeln, die sich entschieden hätten, dem Gebot der Gottheit zuwiderzuhandeln.56 Vorgegeben war dieser Theologie zufolge das Gute, wohingegen das Böse aus vorsätzlichem menschlichen Verstoß gegen die gottgewollte Weltordnung entstand. Abälard wies dem menschlichen Gewissen zwar eine entscheidende Rolle in der Wahl von Gut und Böse als Handlungsziel zu und ging hierin über Augustinus hinaus, änderte aber nichts an der Bestimmung des Guten als Element der gottgewollten Weltordnung.57 54 Juan de Mariana, De rege et regis institutione libri III, lib. I, cap. 1, Toledo: Roderico 1599, S. 21–22 [Nachdruck, Aalen: Scientia 1969; spanische Fassung u. d. T.: Del Rey y de la institución real, lib. I, cap. 1, in: Mariana, Obras, 2. Bd., Madrid: Atlas 1950, S. 467–468]. 55 Zur Geschichte der Vertragsrechtslehre im 16. und 17. Jahrhundert siehe Bibliografie Nr. 40. 56 Peter Abälard, Liber dictus scito te ipsum, cap. III, in: Patrologiae cursus completus. Series Latina, hg. von Jacques-Paul Migne, 178. Bd., Sp. 636. 57 Zur Position des Werks Abälards in der Geschichte der mittelalterlichen Sündenlehre siehe: Caroline Walker Bynum, Did the Twelfth Century Discover the Individual?, in: Journal of Ecclesiastical History 31. Jg. (1980), S. 1–17. Janet Cole-

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Vor dem Hintergrund dieser Ethik speisten im Mittelalter und im 16. Jahrhundert zwei Faktoren die friedenstheoretische Kritik der Kriegsführungspraxis. Kritiker bezichtigten einerseits kriegführende Herrscher der mangelnden Fürsorge für ihre Untertanen durch Zerstörung der Bedingungen der Sicherheit des Lebens und wiesen damit auf die mangelnde Legitimität von offensiven Kriegshandlungen hin.58 Andererseits äußerten sie die Warnung, dass weder extensive Kriegsrüstungen noch gar das Führen von Kriegen ohne gerechten, das heißt die Restitution zuvor erlittenen Unrechts belegenden Grund, ohne Legimität und ohne Begrenzung der zum Einsatz kommenden Kriegsmittel mit dem augustinischen Gebot der Orientierung des Kriegsführens auf die zu vermehrende Festigkeit des Friedens vereinbar und daher moralisch nicht zu rechtfertigen seien.59 Diese Kritik war also eingebunden in die Ethik des Mittelalters, die dem Menschen nur begrenzte Wirkungsmöglichkeiten in der gottgewollten Weltordnung zuerkannte. Die Behauptung mangelhaften Friedenswillens konnte die Legitimität von partikularen Herrschern in Frage stellen, nicht aber die gottgewollte, auf Frieden gegründete Weltordnung selbst. Krieg war verwerflich als Handeln, das gegen die göttlichen Gebote verstieß. Dieser Beobachtung steht scheinbar das praktische Handeln einiger Herrscher des 15. und 16. Jahrhunderts entgegen. Denn einige der bekannteren Protagonisten in den internationalen Beziehungen im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert, wie etwa Karl der Kühne, Ludwig XI., Maximilian I., Lodovico il Moro, Lorenzo de’ Medici, Karl V., Franz I. und Heinrich VIII., scheinen Verhaltensweisen und techniques du corps praktiziert zu haben, die auf Wettbewerb ausgerichtet waren, die Durchsetzung des Willens der Handelnden anstrebten, eine Hochschätzung körperlicher Bewegungsfähigkeit demonstrierten und somit gebunden erschienen an die optimistische Anthropologie, die in dieser Zeit die Nutzung der dem Körper eigenen man, The Individual and the Medieval State, in: The Individual in Political Theory and Practice, hg. von Janet Coleman, Oxford und New York: Oxford University Press 1996, S. 1–34. Samuel Martin Deutsch, Peter Abälard, ein kritischer Theologe des 12. Jahrhunderts, Leipzig: Hirzel 1883. Bruno Hiller, Abälard als Ethiker. Phil. Diss., Erlangen 1900. Mary McLaughlin, Abelard as Autobiographer. The Motives and Meaning of His „Story of Calamities“, in: Speculum 42. Jg. (1967), S. 463–488. John Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, Cambridge: Cambridge University Press 1997. Josef Schiller, Abälards Ethik im Vergleich zur Ethik seiner Zeit. Theol. Diss., München 1906. 58 Desiderius Erasmus, Querela pacis (wie Anm. 50), Sp. 641c. 59 Matthew Sutcliffe, The Practice, Proceedings and Lawes of Armes, London: Barker 1593, S. 9. Siehe dazu: James Turner Johnson, Ideology, Reason and the Limitation of War. Religious and Secular Concepts. 1200–1740, Princeton: Princeton University Press 1975, S. 174–175, der irrig annimmt, Sutcliffe ginge in den von ihm spezifizierten Begrenzungen der Kriegführungsfähigkeit über Thomas von Aquin hinaus.

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Kräfte zur Überwindung von Widerständen nahelegte.60 Mit diesen Einstellungen ließen sich vielerlei kriegerische Maßnahmen, sogar Angriffs- und Präventivkriege, rechtfertigen. Besonders in der Zeit um 1500 zeigten sich Maximilian I. und Karl V., die Repräsentanten des Römischen Reichs als Institution universaler Herrschaft, nicht so weit beeindruckt von den Friedenslehren ihrer Zeit, dass sie gegenüber der Vorbereitung und Durchführung ihrer Kriege dem der römisch-universalen Herrschaft theologisch mitgegebenen Gebot der unbedingten Friedenswahrung Vorrang gewährt hätten. Maximilian ging 1513 sogar so weit, die Kaiserwürde für Kriegssubsidien feilzubieten,61 und Karl V. ließ sich nach der Flucht des unter türkischer Hoheit operierenden Flottenkommandanten Chair-ed-Din aus Tunis 1535 als friedensbringender Weltenherrscher feiern, obschon die aufständische Bevölkerung in Tunis und nicht Karls Truppen Chair-ed-Dins Flucht aus der Stadt erzwungen hatten.62 Der Weltfrieden und die Sorge für ihn waren 60

Paradigmatisch zum Ausdruck gebracht durch: Giovanni Pico della Mirandola, Oratio de hominis dignitate, in: Pico della Mirandola, Opera omnia, Basel: Petri 1557, S. 315 ff. [Nachdruck, Hildesheim und New York: Olms 1969]. Andere Ausg. von Gerd von der Gönna, Stuttgart: Reclam 1997, S. 42–48. Siehe dazu: Beate Hentschel, Zur Genese einer optimistischen Anthropologie in der Renaissance oder die Wiederentdeckung des menschlichen Körpers, in: Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. von Klaus Schreiner und Norbert Schnitzler, München: Fink 1992, S. 85–105. Paul Oskar Kristeller, Renaissance Concepts of Man, Teil 1: The Dignity of Man, in: Kristeller, Renaissance Thought, New York: Harper & Row 1982, S. 1–21. Marcel Mauss, Les techniques du corps, in: Journal de psychologie normale 32. Jg. (1935), S. 271–293. Franz-Joachim Verspohl, Entdeckung der Schönheit des Körpers, in: Erfindung des Menschen, hg. von Richard van Dülmen, Wien, Köln und Weimar. Böhlau 1998, S. 139–158. 61 Zum Angebot Maximilians I., Heinrich VIII. gegen Kriegskontributionen als seinen Nachfolger im Kaiseramt zu designieren siehe: Robert Wingfield, [Brief an Thomas Kardinal Wolsey, 10. Januar 1516]; Pace, [Brief an Thomas Kardinal Wolsey, 12. Mai 1516]; Robert Wingfield, [Brief an König Heinrich VIII., 17. Mai 1516]; König Heinrich VIII., [Brief an Thomas Kardinal Wolsey, 27. Juli 1516]; Vertrag zwischen Maximilian und Heinrich VIII., Art. 5, Oktober 1516; alle in: Letters and Papers, Foreign and Domestic, Relating to the Reign of Henry VIII, hg. von John Sherren Brewer, 2. Bd., Nrn. 1398, 1878, 1902, 2218, 2463, S. 386–387, 539–5340, 549–550, 675–676, 767–768. 62 Die hauptsächlichen Quellen zum Tunis-Unternehmen Karls V. liegen vor in: Luis de Avila y Zun˜iga, La Conquista de la Goletta y Tunez an˜o de 1535, in: Colección de documentos inéditos para la historia de la Espan˜a, hg. von Martin Fernandez de Navarrete, 1. Bd., Madrid: Academia de la Historia 1842, S. 159 [Nachdruck, Washington: Microcard Eds 1967]. Guillaume de Montoiche, Voyage et expedition de Charles-Quint au Pays de Tunis, de 1535, in: Collection des voyages des souverains des Pays-Bas, hg. von Louis Prosper Gachard, 3. Bd., Brüssel: Commission Royale d’Histoire, 1875, S. 317–403. Zur Propaganda Karls nach der Beendigung des Kriegszugs siehe: C[hristoph] S[cheurl von Defersdorf], Römischer Kayserlicher Maiestat Christenliche Kriegs Rüsstung wider die Vnglaubigen / anzu˚g in

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längst zu Gegenständen diplomatischen Feilschens und politischer Propaganda geworden, fielen also teilweise in den Bereich menschlicher Willensentscheidungen. Gleichwohl und obschon der Begriff der Universalmonarchie sich allmählich von einem veritablen Langzeitziel zu einem politischen Kampfbegriff wandelte, bestanden auch im 16. Jahrhundert die Fundamente der augustinischen Friedenstheologie auch ohne Anbindung an eine Institution universaler Herrschaft fort. In den 1530er Jahren hielt Vitoria an der Universität Salamanca, Vorlesungen über das Kriegsrecht, insbesondere dessen Anwendung auf die Bewohner von „neu gefundenen indianischen Inseln“.63 Er bezog sich damit auf die Bewohner des in das Blickfeld der Europäer tretenden amerikanischen Kontinents. Auf die Frage, ob die spanische Eroberung Amerikas gerecht sei und unter welchen Umständen überhaupt ein gerechter Krieg möglich sei, führte er zunächst drei Gründe an, die er, der Tradition der scholastischen Argumentationsweise folgend, sämtlich zurückwies. Demnach seien die Verschiedenheit der Religion, die Erweiterung der Herrschaft und die Steigerung des Ruhms der Herrscher keine gerechten Kriegsgründe. Die Verschiedenheit der Religion könne kein gerechter Kriegsgrund sein, da die Kriterien der Gerechtigkeit des Krieges aus allHispanien vnd Sardinien / Ankunfft in Africa / vnd eroberung des Ports zu˚ Thunis / im Monat Junio / Anno 1535, s. l.: s. n., 1535. La conquête de Tunis en 1535, racontée par deux écrivains franç-comtois, hg. von Auguste Castan, Besançon: s. n. 1891. Tunesi. Spedizione di Carlo V imperatore, hg. von Damiano Muoni, Mailand: Bernardoni 1876. Newe zeytung / von der Römischen Kay[serlichen] May[estät] zug / vnd erorberung des Künigsreyches Thunesse (s. l.: s. n., 1535). Verteuscht Schreiben von Kayserlicher Majestat wunderbarlicher Eroberung der Statt Tunis in Africa doselbst den XXIII Julij 1535, Nürnberg: s. n. 1535. La felice vitoria de Tunis i Goletta fatta de la Cesarea Maiesta de Carlo V. imperatore ([Mailand]: s. n. 1535. Der Kriegszug Kaiser Karls V. gegen Tunis. Kartons und Tapisserien, hg. von Wilfried Seipel, Wien: Kunsthistorisches Museum 2000. Eine Edition von Texten zu den Bildwerken auf den Tunis-Tapisserien liegt vor in: Jules Houdoy, Tapisseries représentantes la conqueste du royaulme de Thunes, Lille: Danel 1873. Siehe dazu: Heinz Duchhardt, Das Tunis-Unternehmen Karls V. 1535, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 37. Jg. (1984), S. 35–72. Zur Wiedergabe von Kriegsszenen in der Kunst des 16. Jahrhunderts siehe neuerdings: Matthias Rogge, Landsknechte und Reisläufer. Bilder vom Soldaten. Ein Stand in der Kunst des 16. Jahrhunderts, Paderborn, München, Wien und Zürich Schöningh 2002 (Krieg in der Geschichte. 5.). 63 Francisco de Vitoria, De Indis sive de iure belli Hispanorum in barbaros relectio posterior, Sectio II, tit. I, hg. von Ernest Nys, Washington: Carnegie Institution 1917, S. 234 [Nachdrucke, New York: Oceana 1964; Buffalo: Hein 1995; weitere Ausg., hg. von Ulrich Horst u. a., Vitoria, Vorlesungen, 2 Bde., Stuttgart: Kohlhammer 1995–1997; Facsimile-Ausgabe des Palencia Kodex von 1539 in: Vitoria, Relectio de Indis. Carta magna de los Indios, Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Scientificas 1989]. Zur De-Institutionalisierung des Universalismus siehe Bibliografie Nr. 67.

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gemeinen Bedingungen der menschlichen Existenz abzuleiten und daher den Religionen übergeordnet seien. Das Streben nach Erweiterung der Herrschaft mit militärischen Mitteln könne ebenso wenig ein gerechter Kriegsgrund sein, da dieses Ziel jeder der kriegführenden Parteien zuzubilligen sei und folglich nicht dazu tauge festzustellen, welcher Krieg gerecht sei und welcher nicht. Das Streben nach Ruhm schließlich könne auch kein gerechter Kriegsgrund sein, da dies ein auf die Person des Herrschers bezogenes Handlungsziel sei und demzufolge die Interessen der Beherrschten nicht beschädigen dürfe. Da kriegführende Parteien aber mit letalen Konsequenzen rechnen müssten, dürfe das persönliche Streben eines Herrschers nicht zu Kriegen führen. Sodann wandte sich Vitoria dem Kriegsgrund zu, den er allein anzuerkennen bereit war. Diesen Kriegsgrund sah er in Restitution und Wiedergutmachung zuvor erlittenen Unrechts. Dazu seien auch die Bestrafung des für selbiges Unrecht verantwortlichen Gegners sowie die Beschlagnahmung dessen Eigentums im Umfang des eingetretenen Schadens statthaft. Diese These begründete Vitoria mit Rekurs auf das Naturrecht. Im Rahmen der gottgewollten Weltordnung hätten die Herrscher das Recht, Gewalt zu üben gegen Rechtsbrecher nicht allein unter ihren Untertanen, sondern auch unter Leuten, die nicht unter ihrer Herrschaft stünden. Dieser Grundsatz gelte überall auf der Welt, damit Abschreckung gegenüber jeglichen Rechtsbrechern gewährleistet werden könne. Sicherheit vor Rechtsbruch sei Voraussetzung für die Bewahrung der Ruhe unter den Untertanen eines jeden Herrschers sowie des Friedens in der Welt. Sicherheit und Frieden seien allgemein menschliche Güter, und selbst die höchsten Güter brächten ohne Sicherheit keinen Glückszustand hervor. Vitoria begriff folglich den Frieden als Voraussetzung für die Ruhe in der Welt und die Sicherheit der Menschen. Deren Glück könne nur durch Frieden und Sicherheit erreicht werden, die durch Rechtsbrecher als Unruhestifter im Innern der Herrschaft wie auch von außen bedroht würde. Den Herrschern wies Vitoria die Pflicht zu, die Sicherheit der Menschen zu schützen und, wo sie verletzt worden war, wiederherzustellen. Als letztes Mittel dazu akzeptierte Vitoria auch den Krieg gegen Unruhestifter außerhalb des Machtbereichs eines Herrschers. Für seine eigene Zeit zog Vitoria aus diesen Überlegungen den Schluss, dass die spanische Eroberung Amerikas ungerecht sei. Denn die Bewohner Amerikas hätten in keiner Weise die Ruhe irgendeines europäischen Herrschers bedroht oder die Sicherheit irgendeines Untertanen gefährdet. Wie schon die Päpste des 15. Jahrhunderts64 erklärte auch Vitoria den Eroberungskrieg gegen Nichtchristen für unrechtmäßig.65 64 Beispielsweise Papst Eugen IV., Bulle Romanus Pontifex [15. September 1436], hg. von Charles-Martial de Witte, OSB, Les bulles pontificales et l’expansion

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Der Versuch der Änderung der gottgewollten Weltordnung war also nach Vitoria illegitim. Vitoria verwandte den auf die Einzelnen bezogenen Sicherheitsbegriff zur Begründung seiner Erklärung der Unrechtmäßigkeit der spanischen Eroberung Amerikas. Lipsius folgte ihm und erhob das in den Herrschaftsverträgen eingeschlossene Gebot zur Erhaltung der Sicherheit des Einzelnen zur Hauptbedingung der Friedens in der Welt. Derlei Mahnungen verhinderten nicht die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges, der im europäischen Kontext nurmehr die Schlussphase des Achtzigjährigen Krieges um die Anerkennung der Autonomie der Niederlande war. Die Hartnäckigkeit, mit der diese Auseinandersetzungen um Änderungen der Weltordnung militärisch geführt wurden, verdeutlicht das zugrunde liegende politische Grundproblem, wie begründete Forderungen nach politischen Veränderungen, wie zum Beispiel die Zurückweisung spanischer Herrschaft durch die Generalstaaten der Niederlande, mit dem Gebot der Bewahrung der gottgewollten Stabilität der Weltordnung vereinbart werden konnten. Die Lösung des Problems suchte man nicht nur in einer in Handelspolitik gründenden Friedenspolitik, sondern auch und insbesondere in der Begrenzung und Verregelung des Krieges.66 Versuche in dieser Richportugaise au XVe siècle, in: Revue d’histoire ecclésiastique 48. Jg. (1963), S. 717–718. 65 Ebenso: Bartolomé de Las Casas, [In Defence of the Indians], Ms. Paris, Bibliothèque Nationale de France, Nouveaux Fonds Latin, no. 12926, hg. von Stafford Poole, In Defence of the Indians, DeKalb: Northern Illinois University Press 1974, S. 54–70, 262–266, 326–329. Las Casas, Aqui se contiene vna disputa o controuersia entre el Obispo dom fray Bartholome de las Casas o Causas obispo que fue dela cuidad Real de Chiapa que es en las Indias parte de la nueua Espana y el doctor Gines de Sepulueda Coronista del Emperador nuestro senor sobre que el doctor contendia que las conquistas de las Indias contra los Indios eran lícitas y el obispo por el contrario defendio y affirmo euer si do y ser imposibile no serlo tiranicas injustas y iniquas, Sevilla: s. n. 1552 [Neuausg. in: Las Casas, Tratados, hg. von Lewis Hanke und Manuel Giménez Fernández, 1. Bd., Mexiko: Fondo di Cultura Economico 1965, S. 217–459 (Biblioteca Americana. 41.); deutsche Ausgabe in: Las Casas Werkauswahl, hg. von Mariano Delgado, 1. Bd., Paderborn, München, Wien und Zürich: Schöningh 1994, S. 347–436]. 66 Texts Concerning the Revolt of the Netherlands, hg. von Ernst Heinrich Kossman[n] und Albert Fredrik Meilink, Cambridge: Cambridge University Press 1974, S. 165–173. Pieter de la Court, The Interest of Holland as to Their Alliances with France, Spain and England, London: John Baker 1712 [Mikrofilm-Nachdruck, Woodbridge, CT: Research Books 1986 (The Eighteenth Century. Reel 3977, Nr. 10.)]. Siehe dazu Bibliografie Nr. 47. Zur handelspolitisch begründeten Friedenspolitik der Niederlande siehe: Leopold Auer, Konfliktverhütung und Sicherheit. Versuche zwischenstaatlicher Friedenswahrung in Europa zwischen den Friedensschlüssen von Oliva und Aachen 1660–1668, in: Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Heinz Duchhardt, Köln und Wien: Böhlau 1991, S. 153–183 (Münsterische Historische Forschungen. 1.) Helmut Gabel

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tung sind schon während des Achtzigjährigen Krieges erkennbar. Sie waren zunächst eher rührend unbeholfen. Einer ihrer Vorreiter war der Hauptmann Johann Jakobi von Wallhausen, der neben vielerlei Kriegsbüchern im Jahr 1616 ein Curriculum für die von ihm geleitete und von seinem Landesherrn Graf Johann VII. von Nassau-Siegen 1613 gegründete Kriegsschule zu Siegen entwarf.67 Darin schrieb Wallhausen seinen zumeist adligen Eleven vor, was sie zu lernen hätten, damit sie den Krieg planen könnten. Auch das Exerzieren gehörte dazu. Wallhausens Landesherr stand seinem Schuldirektor nicht nach und verfasste umfangreiche Manuskripte zu einer Art obrigkeitlicher Kriegsordnung, die sich in Grundregeln für das Exerzieren und Aufstellungsparadigmata für die kämpfende Truppe niederschlug.68 Die schon von Machiavelli entworfenen Ordnungstabellen für Fußkämpfer69 gediehen in Johanns und Wallhausens Kriegsbüchern zu komplexen mathematischen Aggregaten, die das Exerzieren und den planmäßigen Einsatz flexibler Formationen in der Schlacht ermöglichen sollten. Die oranischen Verwandten der Nassauer in den Niederlanden sowie deren kalvinistische Verbündete in Hessen und der Pfalz steuerten Details zum Exerzieren der einzelnen Kämpfer sowie ganzer Verbände bei und legten komplexe Handlungsfolgen im Umgang mit Piken und Handfeuerwaffen fest.70 Dicke Büund Volker Jarren, Kaufleute und Fürsten. Außenpolitik und politisch-kulturelle Perzeption im Spiegel niederländisch-deutscher Beziehungen. 1648–1748, Münster, New York, München und Berlin: Waxmann 1998), S. 355–672 (Niederlande-Studien. 18.). Holger Th. Gräf, Die Außenpolitik der Republik im werdenden Mächteeuropa, in: Krieg und Kultur, hg. von Horst Lademacher und Simon Groenveld, Münster, New York, München und Berlin: Waxmann 1998, S. 488–490. Herbert Harvey Rowen, Johann de Witt. Grand Pensionary of Holland. 1625–1672, Princeton: Princeton University Press 1978, S. 252–256, S. 391–398. 67 Johann Jakobi von Wallhausen, Programma scolae militaris, s.l.: s. n. 1616. Siehe auch: Johannes Althusius, Politica methodice digesta, cap. 30, 3. Aufl., Herborn: Corvinus 1614, S. 420 [zuerst, ebenda 1603; neu hg. von Carl Joachim Friedrich, Cambridge: Cambridge University Press 1932; Nachdruck der Originalausg., Aalen: Scientia 1981; Nachdruck von Friedrichs Ausg., New York: Arno Press 1979]. Philipp-Heinrich Hoenon [praes.] und Christophorus Theodorus [resp.], Disputatio de administratione bellica, in: Hoenon, Disputationum politicorum, Nr. VII, 1. Bd., Herborn: Corvinus 1615, S. 351. Zu den Kriegsschulen siehe Bibliografie Nr. 68. 68 Den Haag, Koninklijke Bibliotheek, Dok. 8, 10, 13, 26–37. Die Heeresreform der Oranier. Das Kriegsbuch des Grafen Johann von Nassau-Siegen, hg. von Werner Hahlweg, Wiesbaden: Historische Kommission 1973 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau. 20.). Zu den Reformen der Oranier in den Niederlanden und in Nassau sowie den Verbündeten der Oranier im Heiligen Römischen Reich siehe Bibliografie Nr. 51. 69 Justus Lipsius, De milicia Romana libri quinque, Antwerpen: Plantin 1595 [Nachdruck der Ausgaben von 1602 und 1605, hg. von Wolfgang Weber, Hildesheim und New York: Olms 2002]. Niccolò Machiavelli, L’arte della Guerra, Verona: Valdonega 1979 (Machiavelli, Opere. 2.).

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cher mit aufwendigen Abbildungen der Stellungen der einzelnen Kämpfer und der Verbände wurden gedruckt und bildeten die Grundlage der Ausbildung für den Krieg.71 Wallhausen erweiterte diese Vorlagen in ganze Systeme, die den Krieg in allen seinen Facetten von Anfang bis Ende vor Augen führen sollten. Über seine Schreibwut geriet er in einen Streit mit Graf Johann, der befürchtete, die Produkte seines Schuldirektors könnten in die Hände der feindlichen Papisten gelangen. Wallhausen quittierte darauf hin seinen Dienst, um weiter schreiben zu können, und die Schule schloss 1621 aus Mangel an Kundschaft. Gleichwohl gediehen die Reformen der Oranier und ihrer Verbündeten nach Ende des Achtzigjährigen Krieges zur Grundlage militärischer Reformen in allen europäischen Armeen. Überall wurde exerziert. Man begann damit, den Krieg zu planen und kalkulierbar zu machen in der Hoffnung, die wilde Kriegsgöttin Bellona zähmen zu können. Der wohlexerzierte Soldat blieb Sinnbild des regulierten Krieges bis ans Ende des 1780er Jahre. Militärakademien entstanden an vielen Orten in Europa und eine militärische Öffentlichkeit gedieh,72 in der über die Einzelheiten der Kriegsplanung kontrovers diskutiert wurde. Kaum eine größere Armee kam ohne gedruckte Exerzierreglements aus. Dabei kannte die Phan70 Landgraf Moritz der Gelehrte von Hessen Kassel, Instruction. Was sich unsere bestellte Kriegsräthe und Diener verhalten sollen. 1600. Ms. Kassel: Murhard’sche Bibliothek der Stadt Kassel und Landesbibliothek – Gesamthochschulbibliothek, Ms. hass. qu. 73. Teilabschrift: Stuttgart: Württembergische Landesbibliothek, Cod. Mil. fol. 65. Druck, Kassel: s. n. 1600. 71 Zusammengestellt in: Harald Kleinschmidt, Tyrocinium militare, Stuttgart: Autorenverlag 1989, S. 358–413. Speziell aus dem Umkreis der Oranier stammten Jabob de Gheyn, Wapenhandelinghe van roers, musketen ende spiessen, Den Haag: s. n. 1607 [Nachdruck, hg. von Johannes Bas Kist, Lochem: Tijdstroom 1971; Nachdruck der englischen Fassung von 1608, hg. von Johannes Bas Kist, Mineola, NY: Dover 1999]. Adam van Breen, De nassauische wapen-handelige van schilt, spies, parrier ende targe, Den Haag: Meuris 1618. Johann Jakobi von Wallhausen, Kriegskunst zu Fuß, Oppenheim: de Bry 1615 [Nachdruck, Graz: Akademische Druckund Verlags-Anstalt 1971]. Wallhausen, Kriegskunst zu Pferdt, Frankfurt: Jacobi; Oppenheim: de Bry 1616 [Nachdruck, Graz: Akademische Druck- und Verlags-Anstalt 1971]. Wallhausen, Manuale militare. Oder KriegßManual, Frankfurt: Jacobi 1616. Wallhausen, Ritterkunst, Frankfurt: Jennis 1616 [Nachdruck, hg. von Walter Hummelberger, Graz: Akademische Druck- und Verlags-Anstalt 1969]. Wallhausen, Romanische Kriegskunst, Frankfurt: Jacobi 1616. Wallhausen, Archiley Kriegskunst, Hanau: Selbstverlag 1617. Wallhausen, Corpus militare, Hanau: Selbstverlag 1617. Wallhausen, Künstliche Picquen-Handlung, Hanau: Selbstverlag 1617. Wallhausen, Defensio patriae. Oder Landtrettung, Frankfurt: Aubrius und Schleicher 1621. 72 Zu diesem Begriff siehe: Daniel Hohrath, Die Bildung des Offiziers in der Aufklärung. Ferdinand Friedrich von Nicolai (1740–1814) und seine enzyklopäischen Sammlungen, Stuttgart: Württembergische Landesbibliothek 1990. Die Kriegskunst im Lichte der Vernunft, 2 Bde., hg. von Daniel Hohrath und Klaus Gerteis, Hamburg: Meiner 1999–2000 (Aufklärung. 11.12.). Zum Wandel des Begriffs der Öffentlichkeit siehe Bibliografie Nr. 3.

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tasie im Vorschreiben von Regeln zur Bewegung der einzelnen Soldaten und ganzer Bataillone kaum obere Grenzen. Ein hessisches Infanteriereglement aus dem frühen 18. Jahrhundert schrieb allein für die Stellungen des einzelnen Manns mit und ohne Gewehr mehr als 200 Griffe vor. Kriege wurden in der Regel nicht auf einzelne Hauptschlachten als alles entscheidende Ereignisse ausgerichtet, sondern wie Manöver geführt. So konnte Montesquieu argumentieren, dass die Römer nur dann ausnahmsweise einen ganzen Krieg durch eine einzige Schlacht hätten gewinnen können, wenn allgemeine, vom Menschen nicht beeinflussbare Bedingungen gegeben gewesen wären, die einen solchen Kriegsverlauf erst hätten ermöglichen können. Das Zustandekommen einer Entscheidungsschlacht, die einen Staat zerstören oder bestehen lassen konnte, war also weder vorgegebenes noch planbares Element des Kriegsverlaufs, sondern gewissermaßen schicksalhaft. Friedrich II., der Montesquieus Schrift wohl mehrfach las, notierte zu dieser Stelle, dass alle Ereignisse ihre Ursachen in der Vergangenheit hätten.73 Die Ethik der Mäßigung verband sich mit der Forderung nach externer Kontrolle über das Militär zu einem wirksamen Mittel der Einhegung des Krieges. Die Krieger sollten ihre Kraft einsetzen, um möglichst lange kontrolliert bewegungslos zu bleiben. Zur Kriegsmathematik trat das Kriegsrecht hinzu. Mitten in den Wirren des Achtzigjährigen Krieges trat der in Ungnade gefallene Starjurist der Niederländischen Ostindischen Kompagnie Hugo Grotius mit seinen „Drei Büchern über das Recht von Krieg und Frieden“ an die gelehrte und politische Öffentlichkeit. Sie lesen sich wie eine in zahlreiche Einzelheiten aufgedröselte Explikation von Lipsius’ Ethik der Mäßigung. In Buch I legte Grotius in epischer Breite all diejenigen Gräueltaten dar, die in einem Krieg verübt werden können, möglich sind. In Buch II beschrieb er mit kaum geringerer Ausführlichkeit, warum vernünftige Obrigkeiten von diesen Handlungsmöglichkeiten tunlichst keinen Gebrauch machen sollten. Und in Buch 73 Erneuertes Reglement. Wornach es bey Unser . . . in Unserem Fürstenthum und Landen reglirten Land-Militz künfftig hin gehalten werden solle. 30.12.1712. Ms. Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, E 8 B, 138/1. Charles-Louis de Secondat de la Brède, Baron de Montesquieu, Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence’, cap. XVIII, in: Montesquieu, Œuvres completes, 1. Bd., Paris: Hachette 1892, S. 86 [auch hg. von Roger Callois, in: Montesquieu, Œuvres completes, 2. Bd., Paris: Gallimard 1973, S. 475 (Bibliothèque de la Pléiade. 86.); deutsche Fassung mit Randbemerkungen Friedrichs des Großen, hg. von Lothar Schuckart, Frankfurt: Fischer 1980, S. 120, 168]. Zu den Randbemerkungen Friedrichs II. siehe: Maximilian Posner, Die Montesquieu-Noten Friedrichs II., in: Historische Zeitschrift 47. Bd. (1882), S. 193–288. Die Studie von Vanessa de Senarciens, Montesquieu, historien de Rome. Un tournant pour la réflexion sur le statut de l’histoire au XVIIIe siècle, Genf: Droz 2003 (Bibliothèques des Lumières. 62.), enthält nichts zu dieser Aussage Montesquieus.

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III skizzierte Grotius die Bedingungen und Formen des Friedensschlusses.74 Man kann mit Fug und Recht einwenden, dass die kriegführenden Obrigkeiten Grotius’ Lehren zu dessen Lebzeiten nicht zur Richtschnur ihres Handelns erhoben, was schon zeitgenössisch kritisiert wurde. Aber es ist ebenso wahr, dass die nach mehrjährigen Verhandlungen am 24. Oktober 1648 beschworenen Friedensverträge von Münster und Osnabrück sowie der Spanisch-Niederländische Vertrag über die Anerkennung der Autonomie der Niederlande vom 30. Januar 1648 eine europäische Friedensordnung bildeten, die bis ans Ende des 18. Jahrhunderts Bestand hatte. Das in diesen Verträgen festgeschriebene Friedensgebot wurde zwar in den nachfolgenden 150 Jahren oftmals missachtet. Und es fehlte weder an Kritik mangelnden Friedenswillens der Herrscher noch an Versuchen, unter dem Etikett der Staatsräson unmoralisches Handeln der Obrigkeiten zu rechtfertigen.75 Aber die Missachtungen des Friedensgebots führten nach mitunter langwierigen Kriegen in der Regel zu Friedensverträgen, in denen der Status quo ante restituiert wurde.76 Und die auch im 18. Jahrhundert nicht selten explizit 74 Hugo Grotius, De jure belli ac pacis libri tres, Paris: Buon 1625 [Nachdruck der Ausgabe Amsterdam: Jansson Waesberg, 1646, Washington: Carnegie Institution 1913; Neudruck, hg. von B. J. A. de Kanter van Hettings Tromp, Leiden: Brill 1939; Nachdruck dieser Ausgabe, Aalen: Scientia 1993]. Zu Grotius siehe Bibliografie Nr. 66. 75 Zur Edition der Verträge siehe: Instrumentum Pacis Monasteriense und Instrumentum Pacis Osnabrugense, in: Kaiser und Reich, hg. von Arno Buschmann, München: Dtv 1984). Jetzt auch: Der Westfälische Frieden. Das Münsteraner Exemplar des Vertrags zwischen Kaiser/Reich und Frankreich vom 24. Oktober 1648, hg. von Heinz Duchhardt und Franz-Josef Jakobi, Wiesbaden: Reichert 1996. Um die Frage, ob die durch die westfälischen Verträge geschaffene Friedensordnung das europäische Völkerrecht grundlegend neu gestalteten oder lediglich bereits bestehende Ansätze weiterentwickelten, wird in jüngster Zeit gestritten. Siehe dazu Bibliografie Nr. 69. Unstrittig ist in der Debatte, dass die Verträge eine Friedensordnung begründeten. So wurde häufig in späteren Friedensverträgen auf die Westfälischen Verträge Bezug genommen. Siehe dazu: Heinz Duchhardt, Westfälischer Friede und internationales System im Ancien Régime, in: Historische Zeitschrift 249. Bd. (1989), S. 536. Kritik der mangelnden Regelhaftigkeit politischen Geschehens in: Considerationes politicae super praesenti statu Europae. Sive dissertatio de causis imminentium bellorum, Frankfurt: Serlin 1672, S. 3. Kritik an mangelndem Friedenswillen bei Johann Jacob Moser, Grund-Sätze des jetzt üblichen Europäischen VölckerRechts in Friedens-Zeiten, Frankfurt: Raspe 1755, S. 587 [zuerst, Hanau: s. n. 1750; weitere Ausg., Frankfurt: Raspe 1763]. Beispiele des Gebrauchs der Staatsräson: Friedrich II., König in Preußen, Politisches Testament [1768], hg. von Richard Dietrich, Politische Testamente der Hohenzollern, München: Dtv 1981, S. 368. Philip Dormer Stanhope, Fourth Earl of Chesterfield, Natural Reflections on the Present Conduct of His Prussian Majesty [1744], hg. von Reinhold Koser, Preußische Staatsschriften aus der Regierungszeit König Friedrichs II. 1740–1745, 1. Bd., Berlin: Duncker 1877, S. 597–617. Siehe dazu oben, Kap. II, Anm. 171, und Bibliografie Nr. 52.

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formulierten Machtlehren77 fanden ihr Gegengewicht in Systemen des im Naturrecht gründenden Völkerrechts, das neben Disziplinen wie „Sittenlehre“, Geschichte, Staatenkunde, Ökonomie, Mathematik, Französisch und Latein zu den „Wissenschaften eines Soldaten“ gehören sollte,78 und in den fortdauernden Debatten über das nicht eindeutig klassifizierbare, aber mitunter auch als Instrument der Streitschlichtung unter den Ständen beschriebene Verfassungsrecht des Heiligen Römischen Reichs.79 Die in den Frie76 Siehe dazu: Jörg Fisch, Krieg und Frieden im Friedensvertrag, Stuttgart: Klett 1979 (Sprache und Geschichte. 3.). 77 Siehe dazu: Jutta Brückner, Staatswissenschaft, Kameralistik und Naturrecht, München: Beck 1977 (Münchner Studien zur Politik. 27.). Harm Klüting, Die Lehre von der Macht der Staaten, Berlin: Duncker & Humblot 1986 (Historische Forschungen. 29.). Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. Aufl., München: Beck 1980 [zuerst, Neuwied: Luchterhand 1962]. Wolfgang Weber, Prudentia gubernatoria in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts, Tübingen: Niemeyer 1992 (Studia Augustana. 4.). 78 Samuel von Pufendorf, De jure naturae et gentium libri octo, lib. VII, cap. 5, §§ 17–18, Amsterdam: Hoogenhuysen 1688, S. 714–715 [Nachdruck, Oxford und London: Oxford University Press 1934; auch hg. von Frank Böhling, Berlin: Akademie-Verlag 1998, S. 690–693 (Pufendorf, Gesammelte Werke. 4.)] Christian Wolff, Jus gentium methodo scientifica pertractatum, Halle: Renger 1759 [Nachdruck, hg. von Marcel Thomann, Hildesheim und New York: Olms 1972], insbes. S. 763–764 (Wolff, Gesammelte Werke, II. Abt., 25. Bd.)]. Emer[ich] de Vattel, Le droit des gens. Ou principes de la loi naturelle appliqués à la conduite et aux affairs des nations et souverains, London [recte Neuchâtel: s. n.] 1758), Original, insbes. 1. Bd., S. 9–10 [Nachdruck, hg. von Charles G. Fenwick, Washington: Carnegie Institution 1916; Nachdruck des Nachdrucks, Genf: Slatkine 1983; Nachdruck der englischen Fassung, Indianapolis: Liberty Fund 2008]. Zu den „Wissenschaften eines Soldaten“ siehe: Johann Michael von Loën, Der Soldat, angebunden an: Eosander von Göthe, Wohl unterwiesener deutscher Soldat, Frankfurt: Varrentrapp 1739, S. 13–14. 79 Bogislaw von Chemnitz [Hippolytus a Lapide], Dissertatio de ratione status imperii nostro Romano-Germanico, Freistadt: s. n. 1647, insbesondere S. 25, 40, 50, vertrat die Behauptung, das Reich sei eine Art Adelsrepublik. Samuel von Pufendorf, De statu imperii Germanici [1667], hg. von Fritz Salomon, Weimar: Böhlau 1910, argumentierte, das Reich habe eine, gemessen an der antiken Staatslehre, irreguläre Mischverfassung. Dominicus Arumaeus [praes.] und Daniel Otto [resp.], Discursus de questione illa an princps legibus sit solutus, in: Discursus Academicorum de jure publico, hg. von Dominicus Arumaeus, 2. Bd., Nr. XIV, Jena: Beithmann 1621, S. 520, behaupteten, der Kaiser sei absolut. Arumaeus [praes.] und Reinhard König [resp.], Discursus de statu imperii Romani et imperatore, ejusque electione et coronatione, in: Discursus (ebenda), 2. Bd., Nr. XVI, S. 530, begründeten die Universalität der Reichs aus der Prophetie Daniels. Arumaeus und König, Discursus de statibus et membris Imperii Romani, in: Discursus (ebenda), 2. Bd., Nr. XVIII, S. 563, gingen davon aus, dass die Reichsstände Glieder des Reichs folglich und dem Kaiser unterworfen seien. Johann Franz von Palthen, Projekt, einen immerwährenden Frieden von Europa zu unterhalten, in: Palthen, Versuche zu vergnügen. Erste Sammlung, Rostock: Berger; Wismar: Boedner 1758, S. 71–84, schlug ein all-

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densverträgen oft wiederholten Versicherungen der Vertragspartner, nach einem langen, teuren und grausamen Krieg künftig zur Festigung des Friedens beitragen zu wollen, war keineswegs nur hohle Propaganda. Wurde doch bereits kurz vor Beginn und auch während des Dreißigjährigen Krieges, in der zweiten Hälfte des 17. sowie praktisch im ganzen 18. Jahrhundert80 die Theorie der Beziehungen zwischen den Obrigkeiten gemeines europäisches Parlament als Gesandtenkongress nach Vorbild des Reichstags vor und wollte den Reichshofrat sowie das Reichskammergericht in ein internationales Tribunal umwandeln. Dagegen bedauerte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Reichsrechtler Moser das Drängen der Stände nach Souveränität. Siehe: Johann Jacob Moser, Von der Landeshoheit derer teutschen Reichsstände überhaupt, Frankfurt und Leipzig: s. n. 1773, S. 16–17 [Nachdruck, Osnabrück: Biblio 1968]. Siehe auch unten, Kap. 4, Anm. 59, 63. Zur Diskussion siehe Bibliografie Nr. 70. 80 Heinrich Rantzau, [Briefe an Herzog Ulrich von Mecklenburg und an Graf Karl von Arenberg, 4.7.1591 und 13.7. X 27.7.1591], Staatsarchiv Schwerin, Altes Archiv. Internum, Correspondentia ducum, Herzog Ulrich 1 B 21, Teildruck in: Reimer Hansen, Heinrich Rantzau und das Problem des europäischen Friedens in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Heinz Duchhardt, Köln und Wien: Böhlau 1991, S. 104 (Münsterische Historische Forschungen. 1.). Pieter Cornelis van Brederode, Repraesentatio pacis generalis inter orbis Christiani Reges et status, Pontificum & sedis Romanae sollicitudine procuratae, s. l.: s. n. 1607 [weitere Ausg., 1608; 1609; u. d. T.: Idea pacis generalis inter orbis Christiani Reges et status, Pontificum & sedis Romanae sollicitudine procuratae, 1644]. Maximilien de Béthune de Sully, Sully’s Grand Design of Henry IV [1607], hg. von David Ogg, London: Sweet & Maxwell 1921 (Grotian Society Publications. Texts for Students of International Relations. 2.) [siehe dazu: Moritz Ritter, Die Memoiren Sullys und der große Plan Heinrichs IV., München: Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1871 (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philol.-Hist. Kl., 11. Bd., 1. Abth.)]. Emeric de Crucé, Le nouveau Cynée [1623], Paris: Edition d’Histoire Sociale 1976 [englische Fassung: The New Cineas, Philadelphia: Allen, Lane and Scott 1909; auch hg. von C. Frederick Farrell und Edith R. Farrell, New York: Garland 1972]. Europa wirstu denn des Kriegs nicht müde, Leipzig: Lanck 1685. William Penn, Plan for a League of Nations [1693], hg. von William I. Hull, Philadelphia: American Friends’ Service Committee 1919 [auch in: Peace Projects of the Seventeenth Century, hg. von J. R. Jacob und M. C. Jacob, New York: Garland 1972]. John Bellers, Some Reasons for an European State, in: John Bellers. His Life, Times and Writings, hg. von George Clarke, London: Routledge and Kegan Paul 1987, S. 141. Charles Irénée Castel de Saint-Pierre, Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe, Utrecht: Schouten 1713 [Nachdruck, hg. von Simone Goyard-Fabre, Paris: Garnier 1981]. Johann Michael von Loën, Von einem beständigen Frieden in Europa, in: Loën, Entwurf einer Staatskunst, Frankfurt: Fleischer 1747, S. 245–248. Ange Goudar, La paix de l’Europe ne put s’établir qu’ à la suite d’une longue trêve. Ou Projet de la pacification générale, Amsterdam: Châtelain 1757. Jean-Jacques Rousseau, A Lasting Peace Through the Federation of Europe and The State of War, hg. von Cyril Edwyn Vaughan, London: Constable 1917 [auch in: Rousseau, The Political Writings, hg. von Cyril Edwyn Vaughan, 1. Bd., Cambridge: Cambridge University Press 1915, S. 370–371; Nachdruck, Oxford: Ox-

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zumeist in Traktaten über die Möglichkeit eines ewigen Friedens dargelegt, der in der scheinbar gottgewollten und naturrechtlich gegebenen Stabilität des europäischen Staatensystems gegründet zu sein und mitunter in der Form eines Bunds zwischen Herrschern oder Staaten realisiert werden zu können schien. Die Aussagen der vorliegenden Quellen stehen der These entgegen, dass zu Beginn des 17. Jahrhunderts sowie während des Dreißigjährigen Kriegs wegen der Spaltung der Konfessionen in Europa keine auf einen allgemeinen Frieden gerichtete Außenpolitik möglich gewesen sei. Ausgangspunkt der dieser Annahme entgegen stehenden Theorie, dass ein ewiger Friede möglich sei, war die Erwartung, dass durch immer öfter geschlossene und stets zahlreicher werdende, Vertragsparteien vereinende Friedensschlüsse sowie durch den Ausbau von Handelsbeziehungen der Frieden als naturrechtlich vorzusetzender Normalzustand der Welt immer stabiler und der Krieg schon in absehbarer Zeit unführbar werden könne. Nach eher zaghaften Versuchen der Kritik an Theorien des ewigen Friedens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bedachte der durch die Französische Revolution skeptisch gewordene Immanuel Kant nunmehr diese Bemühungen mit Spott und betrachtete den Krieg als Faktor der Ausbildung moralischer Tugenden. Er wies auf die Doppelbödigkeit der Formel „Zum ewigen Frieden“ hin, die nicht nur den scheinbar ewigen Frieden bedeuten, sondern auch als Hinweisschild für einen Friedhof dienen und folglich auf die Apokalypse vordeuten könne. Zuvor hatte bereits im Jahr 1752 der Historiker ford University Press 1962]. Palthen, Projekt (wie Anm. 79). Jakob Heinrich von Lilienfeld, Neues Staats-Gebäude, Leipzig: Breitkopf 1767, mit Vorschlag eines europäischen Staatenkongresses. Idee von der Möglichkeit eines allgemeinen und ewigen Friedens in der Welt, in: Niederelbisches historisch-politisch-litterarisches Magazin 1. Jg., 2. Bd. (1787), 12. Stück, S. 935–965 mit Vorschag einer bundesstaatlichen Organisation. Jeremy Bentham, Plan for an Universal and Perpetual Peace [1789], in: Bentham, The Works, hg. von John Bowring, 2. Bd., Edinburg: Tait 1838, S. 552–554 [Nachdruck, New York: Russell & Russell 1962; dazu auch: Ernest Nys, Les „Bentham Papers“ du British Museum, in: Nys, Etudes de droit international et de droit politique, 2. Bd., Brüssel: Castaigne; Paris: Fontemoing 1901, S. 291–333; zuerst in: Revue de droit international et de legislation comparée 23. Jg. (1891)]. Johann August Schlettwein, Die wichtigste Angelegenheit für Europa. Oder System eines festen Friedens unter den europäischen Staaten nebst einem Anhang über einen besonderen Frieden zwischen Rußland und der Pforte, Leipzig: Jacobäer 1791. Georg Friedrich von Martens, Über die Erneuerung der Verträge in den Friedensschlüssen der Europäischen Geschichte, Göttingen: Rosenbusch 1797, S. 9. Zu Martens siehe unten, Kap. 4, Anm. 141. Zum Friedensprojekt des Georg von Podiebrad siehe unten, Kap. 4, Anm. 45. Schilling (Bibliografie Nr. 55), geht auf den niederländischen Gesandten im Reich van Brederode ein, ohne auf dessen Friedenstraktat Bezug zu nehmen. Zur Friedensdebatte in Frankreich zu Beginn des 17. Jahrhunderts siehe Bibliografie Nr. 55 (Bitton). Zur Friedenstheorie Lilienfelds siehe Bibliografie Nr. 55 (Kunisch, S. 564–7). Zum Abbé de Saint-Pierre siehe oben, Kap. 2, Anm. 201.

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und Staatswissenschaftler Eobald Toze kritisch zu den Plänen Sullys und des Abbé de Saint-Pierre Stellung bezogen und in einer anonym publizierten Schrift für den Fall eines europäischen „ewigen Friedens“ die Gefahr der Eroberung Europas durch „eine neue Völkerwanderung“ prognostiziert. Auch Voltaire hatte überhaupt keine hohe Meinung von Autoren wie Grotius und Pufendorf gehabt, die er für schlechte Denker hielt. Insbesondere aber den Abbé de Saint-Pierre übergoss er mit Spott in der Form eines Epigramms. Darin erfand er eine Szene, in der er vor einer Statue des Abbé steht, die so gut geschaffen ist, dass sie wie das Original aussieht. In der Szene überlegt Voltaire eine Weile, ob er vielleicht doch das Original vor sich habe, und kommt dann zu dem Schluss, dass nicht der Abbé, sondern dessen Abguss vor ihm stehe. Denn, so begründet Voltaire seinen Schluss, das Original hätte etwas Dummes gesagt. Auch über Rousseau fand Voltaire keine freundlichen Worte. Bei ihm erscheint Rousseau als naiver Adept des Abbé. Anstatt den Abbé dafür zu kritisieren, dass er den geografischen Rahmen seines Plans für einen allgemeinen Frieden auf Europa begrenzte, habe Rousseau es versäumt darauf hinzuweisen, dass in einen allgemeinen Friedensplan die außereuropäischen Rivalitäten sowie die außereuropäischen Mächte wie China einbezogen werden müssten. Später, in den 1770er Jahren, hatte ein in seiner Zeit sehr umstrittener Autor, Johann Valentin Embser, in einer anonym publizierten Streitschrift den ewigen Frieden als Machenschaft gerissener Ideologen zu kategorisieren und dagegen den Krieg als Quelle der Kultur zu etablieren versucht. Allem Spott und aller hohlen Kritik zum Trotz formulierte Kant seinen Friedenstraktat jedoch in der Form eines Vertrags, für den er keinen rechtlich-institutionellen Rahmen voraussetzte. Auch wenn Kant zugestand, dass Institutionen zur Friedenswahrung erforderlich seien, konnte und sollte Frieden in seiner Perspektive allein aus der nicht erzwingbaren Ethik der Mäßigung der Herrscher und Regierungen fließen. Auch Kant hielt somit an der Erwartung des letztendlich ewigen Friedens fest, obschon er ihn aus der Naherwartung in die Fernperspektive der unergründbaren Zukunft verschob. Trotz der aus Kants Friedenstraktat sprechenden und die Erfahrungen der revolutionären Veränderungen am Ende des 18. Jahrhunderts verarbeitenden Skepsis gegenüber dem Postulat einer auf Frieden als Ziel hin ausgelegten Weltgeschichte konnte das im Naturrecht gründende Völkerrecht die nicht-institutionsbezogene Ethik der Mäßigung in sich aufnehmen.81 81 Zur Auffassung des Friedens als Normalzustand der Welt siehe für das 18. Jahrhundert: François de Salignac de la Mothe Fénelon, Directions pour la conscience d’un roi, Paris: Estienne 1775, Directions VII, XXIV, S. 10–11, 61–62 [andere Ausg., Den Haag: Neaulme 1748; wieder abgedruckt in: Fénelon, Œuvres, 4. Bd., neue Ausg., Paris: Hachette 1881, S. 340–366]. Ludwig Julius Friedrich Höpfner, Naturrecht des einzelnen Menschen und der Völker, 2. Aufl., Gießen:

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Das Völkerrecht wurde zudem um Regeln und Theorien der praktischen Politik erweitert. Das galt insbesondere für die auf Stabilität oder Restauration des Status quo ausgerichtete Gleichgewichtspolitik, deren Für und Wider in einer kaum überschaubaren Fülle von akademischen Dissertationen und Traktätchenliteratur debattiert wurde. Die Bewahrung des Gleichgewichts galt zwar bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts mitunter als Krieger 1783, S. 114 [zuerst, ebenda 1780]. Auch Pufendorf, Jus naturae (wie Anm. 78), lib VIII, cap. VI, § 2 [hg. von Böhling, S. 842–844], fasste den Frieden als naturgegebenen Rahmen menschlicher Existenz auf. [Eobald Toze], Die allgemeine christliche Republik in Europa, nach Entwürfen Heinrichs des Vierten, Königs von Frankreich, des Abtes von St. Pierre und anderer vorgestellt, Göttingen: Vandenhoeck 1752, S. 347. François Marie Arouet de Voltaire, Rescrit de l’Empereur de la Chine [1761], in: Voltaire, Œuvres, 40. Bd., hg. von Adrien Jean Quentin Beuchot, Paris: Lefèvre 1830, S. 307–311. [Johann Valentin Embser], Die Abgötterei unseres philosophischen Jahrhunderts, Erster Abgott: Ewiger Friede, Mannheim: Schwan 1779, S. 199 [Mikrofiche-Nachdruck, München: Saur 1994 (Bibliothek der deutschen Literatur. 13452.)]. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden [1795], hg. von Wilhelm Weischedel, in: Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Frankfurt: Suhrkamp 1968, S. 193–251 (Kant, Werke in zwölf Bänden. 11.). Bereits in seiner Kritik der Urteilskraft hatte Kant jedoch den Krieg als Bestandteil der Weltgeschichte anerkannt. Siehe: Kant, Kritik der Urteilskraft [1790], hg. von Wilhelm Weischedel (wie oben), 10. Bd., S. 351, 555–556. Im Sinn von Kant trugen einige Theoretiker den Gedanken des ewigen Friedens ins frühe 19. Jahrhundert. Siehe insbesondere aus der Zeit des Wiener Kongresses: Wilhelm Traugott Krug, Allgemeine Uebersicht und Beurtheilung der Mittel, die Völker zum ewigen Frieden zu führen, in: Leipziger Literatur-Zeitung (1812), Sp. 33. Alexander Lips, Der allgemeine Weltfrieden. Oder Wie heißt die Basis, über welche allein ein dauernder Weltfriede gegründet werden kan, Erlangen: Heyder 1814. Materialien zum bevorstehenden allgemeinen Frieden. Oder Ideen über das politische Gleichgewicht von Europa, Leipzig: s. n. 1814. Karl Theodor Traitteur von Luzberg, Europa im Frieden für itzt und in Zukunft. Die Völker vereint nach Natur und Sprache, Mannheim: Schwan & Götz 1815. Vorschläge zu einer organischen Gesetzgebung für den Europäischen Staatenverein zur Begründung eines dauerhaften Weltfriedens, Leipzig: s. n. 1814. Diese Texte sind nicht berücksichtigt in der Sammlung von Dietze, Friede (wie Anm. 4). In abgeschwächter Fassung vertrat der sächsische Jurist Karl Salomo Zachariä von Lingenthal, Janus, Leipzig: Fischer 1802, Kants Idee eines „Föderalism“ der Staaten, den er in der Form eines Gesandtenkongresses institutionalisiert wissen wollte. Die Gesandten sollten für die von ihnen vertretenen Herrscher Verträge schließen, die das Recht zum Kriegführen ausschlossen. Das so entstehende Recht des Bunds sollte auf das innerstaatliche Recht rückwirken und die Bedingungen zur Erhaltung des Friedens schaffen. Kurz nach dem Wiener Kongress wartete hingegen, schon aus der Perspektive des Biologismus, Carl Ludwig von Haller, Restauration der Staats-Wissenschaft, 3. Bd.: Makrobiotik der Patrimonial-Staaten, Hauptstück 2: Von den unabhängigen Feldherren oder den militairischen Staaten, 2. Aufl., Winterthur: Steiner 1821, S. 150 [zuerst, ebenda 1818; Nachdruck, Aalen: Scientia 1964], mit dem kritischen Kommentar auf, die „Worte ewiger Friede – beständige Freundschaft – innige Verbindung – vollkommenes Einverständnis“ seien „Blumen unter denen die Schlange der Beherrschung verborgen liegt“. Siehe auch Bibliografie Nr. 55.

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Maxime politischen Entscheidens über den Beginn von Kriegen und die Bedingungen von Friedensabschlüssen, geronn aber, insbesondere im 18. Jahrhundert, sowohl in der akademischen Theorie der Politik als auch in der Praxis der Diplomatie zunehmend zur Voraussetzung für die Erhaltung von Frieden und Sicherheit sowie der Stabilität der Welt.82 Die Sorge für die 82 Zur Pamphletliteratur über das Gleichgewicht im 18. Jahrhundert siehe: Die Zeit-curieuse Staats-Balance über den jetzt weilenden Krieg in denen europäischen Ländern, Köln: Marteua 1704. Daniel Defoe, The Ballance of Europe. On An Enquiry into the Respective Dangers of Giving the Spanish Monarchy to the Emperor as well as King Philip, London: Baker 1711. Jonathan Swift, The Conduct of the Allies, in: Swift, Political Tracts 1711–1713, hg. von Herbert Davis, Oxford: Blackwell 1973, S. 7. Nicolaus Hieronymus Gundling, Erörterung der Frage, ob wegen der anwachsenden Macht der Nachbarn man den Degen entblössen könne, in: Gundlingiana, 5. Teil, Halle: Renger 1716 [Separatdruck, Frankfurt und Leipzig: Spring 1757, S. 3, 5, 24]. Gundling, Ausführlicher Discours über den ietzigen Zustand der Europäischen Staaten, Frankfurt und Leipzig: Spring 1734, II. Teil, S. 47. Réflexions touchant l’équilibre, s. l.: s. n. 1741, S. 10–15. Johann Jacob Lehmann, Trutina vulgo Evropae norma belli pacisqve hactenus a svmmis imperantibus habita. Phil. Diss., Jena 1716. Johann Friedrich Kayser [praes.] und Eberhard Georg Wittich [resp.], Dissertatio ivris gentivm et pvblici de tvendo aeqvilibrio Evropae, Gießen 1723. Joachim Lange [praes.] und Joachim Jakob Morgenstein [resp.], De aequilibrio morali. Diss. Theol., Halle: Henckel 1731. Henry St John Viscount Bolingbroke, Letters on the Study and Use of History [1735], in: Bolingbroke, Works, hg. von David Mallet, 2. Bd., London: s. n. 1754, S. 74–78 [Nachdruck, hg. von Bernhard Fabian, Hildesheim: Olms 1968]. Bolingbroke, The Idea of a Patriot King, hg. von Sydney W. Jackman, Indianapolis, New York und Kansas City: Bobbs-Merrill 1965, S. 74–78. Johann Georg Wagner, Dissertatio juris gentium de aequilibrio potestatum, Liegnitz: s. n. 1737. Betrachtungen über das Gleichgewicht von Europa, s. l.: s. n. 1741, S. 9 [Microfiche-Ausgabe. Flugschriftensammlung Gustav Freytag, Nr. 6203, München: Saur o. J.]. Johann Jacob Schmauss, Historie der Balance von Europa, Leipzig: Gleditsch 1741. Ludwig Martin Kahle, La balance de l’Europe considerée comme la règle de la paix et de la guerre, Berlin und Göttingen: Selbstverlag 1744. Christian Friedrich Stisser, Freymuthige und bescheidene Erinnerungen wider des berühmten Göttingischen Professors, Herrn Doctor Kahle, Abhandlung von der Balance Europens als der vornehmsten Richtschnur des Krieges und Friedens, Leipzig: s. n. 1745. Stisser, Fortsetzung [. . .], Leipzig: s. n. 1756. Johann Georg Neureuter [praes.] und J. C. Benzel, Jr [resp.], Specimen Juris Naturae de justis aequilibrii finibus. Jur. Diss., Mainz 1746, S. 19–23. David Georg Strube, Eine Prüfung der ans Licht getretenen Réflexions touchant d’équilibre, in: Strube, Nebenstunden, 2. Bd., Hannover: J. W. Schmidt 1747, S. 281–284. Georg Ludwig Erasmus von Huldenberg, De Aequilibrio alioqve legali juris gentium arbitrio, Phil. Diss., Helmstedt 1748. David Hume, Of the Balance of Power [1752], in: Hume, Essays Moral, Political, and Literary, hg. von Thomas Hill Green und Thomas Hodge Grose, 1. Bd., London: Longman, Green & Co 1882, S. 348–356 [Nachdruck, Aalen: Scientia 1964]. Toze, Republik (wie Anm. 81), S. 25–26. Antoine Pecquet, L’esprit des maximes politiques, Paris: Prault 1757, S. 15. Johann Heinrich Gottlob Justi, Die Chimäre des Gleichgewichts von Europa, Altona: Iversen 1758. Jacob Friedrich von Bielfeld, Institutions politiques, Den Haag: Gosse 1760, S. 87–88. Staats-Betrachtungen über gegenwärtigen Preußischen Krieg in Teutsch-

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Stabilität der Welt konnte die Garantie der territorialen Integrität durch die Vertragsparteien einschließen, die beispielsweise im Vertrag von Belgrad 1739 zwischen dem Osmanischen Sultan und christlichen Herrschern vereinbart wurde. Verletzungen des Gleichgewichts konnten als gerechte Kriegsgründe anerkannt werden.83 Des Weiteren gedieh die Herrschaftsvertragslehre im 17. und 18. Jahrhundert zum wichtigsten Mittel der Rechtfertigung legitimer Herrschaft und zur Richtschnur des politischen Handelns der Obrigkeiten. Selbst einzelne Politikfelder wie die Migrationspolitik wurden im Licht des Kontraktualismus konzipiert.84 So galt Immigrationsförderung nicht nur als legitimes Mittel der Bevölkerungsvermehrung, sondern auch, wo sie erfolgreich war, als Nachweis der Abstimmung mit den Füssen zugunsten einer den Herrschaftsvertrag zum Wohl ihrer Untertanen umsetzenden Obrigkeit.85 Kurzum, das Urbild des Krieges war die Maschine mit programmierten Abläufen in einem festen Rahmen von Regeln.86 Armeen wurden kompliland in wie fern solcher das allgemeine Europäische, vornehmlich aber das besondere Teutsche Interesse betrift, Wien: Kaliwoda 1761. Mit Anmerkungen wieder aufgelegt, Berlin 1761. Hg., ohne die „Anmerkungen“, von Johannes Kunisch, Das Mirakel des Hauses Brandenburg, München und Wien: Oldenbourg 1978, S. 102–141. Johann Christoph Muhrbeck [praes.] und Karl Friedrich von Bering [resp.], Dissertatio de bilance gentium. Phil. Diss., Greifswald 1772. Wenzel Anton Kaunitz-Rietberg, Denkschriften, in: Archiv für Österreichische Geschichte 48. Jg. (1872), S. 75–77. Gottlob August Tittel, Erläuterungen der theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt: Brönner 1786, S. 200–202, 204 [Nachdrucke, Brüssel: Culture et civilisation 1973; Frankfurt: Brönner-Umschau-Gruppe 1993]. Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France [1790], in: Burke, The Works, 3. Bd., London: Nimmo 1899, S. 457. Adam Christian Gaspari, Versuch über das politische Gleichgewicht der europäischen Staaten, Hamburg: Bohn 1790, S. 18–21. Franz Josias von Hendrich, Historischer Versuch über das Gleichgewicht der Macht bei den alten und neuen Staaten, Leipzig: s. n. 1796. Nicolaus Vogt, System des Gleichgewichts und der Gerechtigkeit, Frankfurt: Andreä 1802, S. 41–42. Zu den Gleichgewichtstheorien des 18. Jahrhunderts siehe Bibliografie Nr. 72. 83 Druck in: Gabriel Effendi Noradounghian, Recueil d’actes internationaux de l’Empire Ottoman, 1. Bd., Paris: Pichon; Leipzig: Breitkopf & Härtel; und Neuchâtel: Attlinger 1897, Nrn. 24, 25, 28, 29 [Nachdruck, Nendeln: Kraus 1978]. Vattel, Droit (wie Anm. 78), 1. Bd., S. 71–72, 241–252. Ebenso: Günther Heinrich von Berg, Betrachtungen ueber die Wiederherstellung des politischen Gleichgewichts in Europa, Leipzig: Teubner, und Hannover: Hahn 1814, S. 102–103, 109–110. Karl Gottlob Günther, Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten, 1. Teil, Altenburg: Richter 1787, S. 198. Daniel Nettelbladt, Erörterungen einiger einzelner Lehren des deutschen Staatsrechts, Halle: Renger 1773, S. 39–49. Delisle de Sales [d. i. Jean Baptiste Claude Isoard], De la paix de L’Europe et de ses bases, Paris: Maradan an IX [1800], S. 360–368. 84 Zum Kontraktualismus der frühen Neuzeit siehe Bibliografie Nr. 40. 85 Johann Heinrich Gottlob von Justi, Grundsätze der Policeywissenschaft, Göttingen: Dieterich 1782, S. 76–85 [Nachdruck, Frankfurt: Keip 1969].

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zierten Uhrwerken gleichgestellt wie auch einzelne Soldaten Hobbes’schen Automaten.87 In der Maschine wurde die Bellona gezähmt zur Sicherheit von Nicht-Kombattanten wie auch Kombattanten. Obrigkeiten, die die Vertragspflicht der Garantie der Sicherheit ihrer Untertanen vernachlässigten, wurden, wie etwa Ludwig XIV., mit gezielten Maßnahmen zur Abwerbung der ihnen unterstellten Bevölkerung abgestraft. Auch wenn Kritiker wie Voltaire, einer literarischen Konvention folgend, den Krieg neben Pest und Hunger als die dritte große Geißel der Menschheit darstellten, war doch jeder wohl exerzierte, seine Bewegungen kontrollierende Soldat viel zu teuer, um nur als Kanonenfutter zu dienen. Schlachtvermeidung galt als hohe Kunst des Betriebs der Kriegsmaschine und brachte den diese Kunst beherrschenden Heerführern wie dem Prinzen Eugen von Savoyen unsterblichen Ruhm. Ruhe wurde zu einem Lieblingswort der Gleichgewichtstheoretiker und fand neben Sicherheit in Friedenverträgen seit dem Ende des 17. Jahrhunderts als Rechtsbegriff Verwendung.88 Noch am Ende des 86

Zum Mechanismus des 18. Jahrhunderts siehe Bibliografie Nr. 73. Thomas Hobbes, Leviathan, London: Crooke 1651, S. 1 [neu hg. von Richard Tuck, Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 9]. 88 Voltaire, Dictionnaire philosophique [1764], s. v. Guerre, in: Voltaire, The Complete Works, hg. von Theodore Besterman, 36. Bd., Oxford: Voltaire Foundation 1994, S. 186. Zur literarischen Konvention des Vergleichs zwischen Krieg, Hunger und Pest siehe: Thomas Becon, The Polecy of Warre [1542], in: Becon, The Early Works of Thomas Becon, S. T. P., hg. von John Ayre, Cambridge: Cambridge University Press 1843, S. 248 (The Parker Society. 9.). Gottfried Wilhelm Leibniz, Bedenken welchergestalt Securitas Publica interna et externa und Status præsens im Reich iezigen Umständen nach auf festen Fuß zu stellen [6.8.1670], in: Leibniz, Politische Schriften, 1. Bd., 3. Aufl., Berlin: Akademie-Verlag 1983, S. 140 (Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe, III. Reihe, 1. Bd.). Actes & Mémoires des négotiations de la paix de Nimègue, hg. von Johann Leonhard Sauter, Leipzig: Kirchner 1680, S. 29. Friedensvertrag zwischen dem Heiligen Römischen Reich und Frankreich, Rijswijk, am 30.10.1697, hg. von Clive Parry, Consolidated Treaty Series, 22. Bd., Dobbs Ferry, NY: Oceana 1969, S. 8. Zum Reichsbegriff Leibniz’ siehe: Francis Harry Hinsley, Power and the Pursuit of Peace. Theory and Practice in the History of Relations between States, Cambridge: Cambridge University Press 1963, S. 29–30. Hansjakob Stehle, Der Reichsgedanke im politischen Weltbild von Leibniz. Phil. Diss., Masch., Frankfurt 1950. Zum Nimwegener Frieden siehe: The Peace of Nijmegen. 1676–1678/79. International Congress of the Tricentennial. Nijmegen, 14.–16. September 1978, hg. von Johannes Alphonsus Henricus G. M. Bots, Amsterdam: APA – Holland University Press 1980. Zum Rijkswijker Frieden siehe: Der Friede von Rijkswijk 1697, hg. von Heinz Duchhardt, Mainz: Zabern 1998 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte. Beihefte 47.). In den Utrechter Verträgen fanden Bezeichnungen für Sicherheit häufig Verwendung. Dabei bedeutete Sicherheit die Sicherstellung der Ausführung der Verträge und die Einrichtung von Sicherheitsbarrieren. Siehe: Heinz Duchhardt, Gleichgewicht der Kräfte, Convenance, europäisches Konzert. Friedenskongresse und Friedensschlüsse vom Zeitalter Ludwigs XIV. bis zum Wiener Kongreß, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, S. 5–89, ins87

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18. Jahrhunderts konnte Carl Theodor von Dalberg, Erzbischof von Mainz, Reichskanzler und führender Reformer, ganz wie Vitoria die Bewahrung des Gleichgewichts und die mangelnde Notwendigkeit von Veränderungen als Zustand des höchsten Glücks bezeichnen.89 Im Überblick über die Zeit zwischen dem frühen Mittelalter und dem späten 18. Jahrhundert zeigen sich die von Augustin beeinflussten Friedenstheorien eingebunden in eine Handlungstheorie, die den einzelnen Menschen eine zwar allmählich zunehmende, aber stets begrenzt bleibende Möglichkeit zur Veränderung der gottgewollten Weltordnung einräumte. Das Handeln sollte innerhalb der von der Gottheit geschaffenen Weltordnung vonstatten gehen, die nicht nur als natürliche, sondern auch als politisch-soziale Umwelt definiert und im 17. und 18. Jahrhundert im Bild der Maschine beschrieben wurde. Darin geronnen die Friedenslehren zu Ideologien des Konservatismus und stellten Argumente bereit, die die Verteidigung des Status quo gegen revolutionäre Forderungen nach Innovationen erlauben und Widerstand gegen stattfindende Veränderungen begründen helfen sollten. Im Kontext dieser mechanistischen Handlungstheorie war Krieg Produkt menschlichen Handelns, Frieden Bestandteil der gottgewollten Weltordnung. Man konnte demnach meinen, dass der Krieg wie eine Maschine machbar sei, nicht aber der Frieden. Frieden hingegen war nur vorstellbar als Resultat erfolgreichen Anhaltens der Kriegsmaschine. Frieden wurde nicht gemacht, sondern restituiert. Er konnte nicht Ziel menschlichen Handelns werden, sondern blieb als Bestandteil der Weltordnung vorgegeben. Bis in die Wirren der Französischen Revolution fand Krieg Erklärung als Handlung, die gewissermaßen aus einer Lust aufs Böse folgte. Diese Bestimmung ließ zwei Möglichkeiten der Festlegung der Motive für die Kriegführung zu: Die Menschen konnten Krieg führen wollen aus willkürlicher Entscheidung für das Böse. Dann musste ihr militärisches Handeln besondere S. 73–76 (Erträge der Forschung. 56.). Werner Hahlweg, Barriere – Gleichgewicht – Sicherheit, in: Historische Zeitschrift 187. Bd. (1959), S. 54–89. Zur Kriegsführungspraxis des Prinzen Eugen siehe: Max Braubach, Prinz Eugen von Savoyen, 1. Bd., München: Oldenbourg 1963, S. 354–355. Christoph Kampmann, Eine Biographie „alter Stils“. Prinz Eugen und seine Zeit in der historischen Forschung seit 1965, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 202. Bd. (1999), S. 52. 89 Carl Theodor von Dalberg, Kurfürst von Mainz, Von Erhaltung der Staatsverfassungen, Erfurt: Keyser 1795, S. 6–7. Über Dalberg siehe: Heinz Duchhardt, „Einzig hoffe ich noch auf Buonaparte, der ein grosser Mann ist!“. Napoleons und Dalbergs Mainzer Treffen im September 1804, Stuttgart: Steiner 2004 (Schriftenreihe des Landtags Rheinland-Pfalz. 23.) Rudolf Vierhaus, Überstaat und Staatenbund. Wirklichkeit und Ideen internationaler Ordnung im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons, in: Archiv für Kulturgeschichte 43. Jg. (1961), S. 342–343. Zum Friedensdenken der Aufklärung, das nicht nur zur Grundlegung des Völkerrechts, sondern auch der Theorie der Politik beitrug, siehe Bibliografie Nr. 55.

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früher oder später säkulare oder göttliche Strafen nach sich ziehen. Oder die Menschen wollten Krieg führen gegen die Bösewichte in ihren eigenen Reihen, um dem Friedensgebot der gottgegebenen Weltordnung zu folgen. Dann war der Krieg letztlich gerecht und ein Weg zum Frieden. Vor dem Hintergrund dieser Friedenslehren musste der Gedanke, Frieden könne durch menschliches Handeln erzwungen werden, abstrus erscheinen. Er ist deswegen vor 1800 nicht belegt. Hingegen war der Frieden gleich mit dem Stillstand der Kriegsmaschine. Bezeichnenderweise war Ruhe der erstrebenswerte Zustand für Gleichgewichtspolitiker und Friedenstheoretiker. Die Wahrnehmung von Krieg als Mittel der Veränderung kam erst mit dem 19. Jahrhundert auf. In seiner Schrift zur Verteidigung der Französischen Revolution unterzog Johann Gottlieb Fichte den Betrieb der Kriegsmaschinen einer beißenden Kritik. Die Obrigkeiten, meinte er, nützten schamlos die Leidensfähigkeit der ihnen unterstellten Bevölkerungen zu selbstsüchtigen Ränkespielen um den eigenen Ruhm aus. Keineswegs seien sie um die Sicherheit ihrer Untertanen bemüht, und die Kriegsmaschinen seien leblose Gehäuse obrigkeitlicher Eitelkeiten. Das Gleichgewicht sei eine Chimäre, über deren Fratze diejenigen, die es lauthals propagierten, selbst nur schallend lachten.90 Weitere Kritiker des Gleichgewichts und der Theorie des Zähmung der Bellona zogen bald nach. Keineswegs sei die Gleichgewichtspolitik je Stabilitätspolitik gewesen. Die Teilungen Polens, vollzogen im Namen der Erhaltung des Gleichgewichts, bewiesen, dass Obrigkeiten sich darauf hätten verständigen können, die Selbständigkeit bestehender Herrschaften zu zerstören. Bei den schwächlichen Versuchen, Gleichgewicht zu definieren und zu erhalten, ätzte ein Schüler Kants, würden nur Herrschaftsträger hin- und hergeschoben und die Interessen der Bevölkerungen missachtet, und es gebe „keinen Plan zum ewigen Frieden, der auch nur in der Idee und ohne noch an die Schwierigkeiten der Ausführung zu denken, Stich hielte“.91 Mit derlei Länderschacher sei kein Staat zu machen. Ein zusammengewürfelter Haufen von Herrschaftsträgern sei eben kein Staat, behauptete Hegel, wohl 1802.92 90 Johann Gottlieb Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution [(Danzig: s. n., 1793)], in: Fichte, Schriften zur Französischen Revolution, Leipzig: Reclam 1988, S. 93–94 [Mikroficheausgabe des Originaldrucks, München: Saur 1990; auch hg. von Reinhard Strecker, Leipzig: Meiner 1922]. 91 Friedrich von Gentz, Fragmente aus der neuesten Geschichte des politischen Gleichgewichts in Europa, 2. Aufl. (St. Petersburg [recte: Riga]: Hartknoch 1806, S. XXIV, 1, 21 [Nachdrucke, Osnabrück: Biblio 1967; Hildesheim: Olms 1997]. Gentz, Über den ewigen Frieden, hg. von Raumer, Frieden (wie Anm. 4), S. 483. 92 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Frühe Schriften, Frankfurt: Suhrkamp 1971, S. 477–479.

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Was aber war ein Staat? Der Göttinger Historiker und Staatswissenschaftler August Ludwig von Schlözer bekannte noch 1804, er wisse nicht einmal, woher dieses Wort komme, obschon dessen lateinische Wurzel eigentlich leicht erkennbar ist.93 Doch nicht allein wortgeschichtliche Quisquilien waren unklar. Man stritt über das „Wesen“ des Staates, seinen Zweck und die Aufgaben der Obrigkeiten. Für den deutschen Sprachraum war charakteristisch an dieser Debatte, dass der ältere Kontraktualismus verworfen wurde. Schon Fichte begann damit. In seiner politischen Analyse der Gegenwart von 1806 und mehr noch in seinen Reden an die deutsche Nation vom Winter 1807/08 ging er weit über Hegels Klage der vermeintlichen Entstaatlichung Deutschlands hinaus und konzipierte den Begriff des Staates als der politischen Organisation des Volkes.94 Den Obrigkeiten wies er die Aufgabe zu, das Volk zu bilden. Die nunmehr als Regierungen des Staates kategorisierten Obrigkeiten hätten die Pflicht, dieser Aufgabe nachzukommen, da Sicherheit und Wohlergehen des Einzelnen außerhalb des Volkes und seines Staates nicht gewährleitet werden könne. Daher gebührten der Sicherheit des Staates Vorrang vor der Sicherheit des Einzelnen. Im deutschen Sprachraum war Fichtes Begriff des Nationalstaates nicht allein gegen die französische Besatzung Preußens gerichtet, sondern auch, und nicht in geringerem Maß, gegen die noch bestehenden territorialen Obrigkeiten innerhalb des Römisch-Deutschen Reichs, soweit sie nach dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 noch Träger souveräner Herrschaftsrechte waren. Fichte definierte den Staat als Institution für eine als homogen vorgestellte und mit einem vermeintlich konformen politischen Willen ausgestattete Bevölkerungsgruppe, die sich als Genogruppe in der ferneren Vergangenheit konstituiert zu haben schien. Er stellte mit dieser Definition des Staates eine Hierarchie politischer Werte auf, die derjenigen der früheren Jahrhunderte diametral entgegengesetzt war. Nunmehr sollte die Sicherheit des Staates Voraussetzung für die Sicherheit des Einzelnen sein, und die Einzelnen sollten ihr Bekenntnis der Treue zum Volk durch 93 August Ludwig von Schlözer, Theorie der Statistik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1804, S. 3. Zu Schlözer siehe: Hans Erich Bödeker, Prozesse und Strukturen politischer Bewußtseinsbildung der deutschen Aufklärung, in: Aufklärung als Politisierung – Politisierung der Aufklärung, hg. von Hans Erich Bödeker und Ulrch Herrmann, Hamburg: Meiner 1987, S. 12–14 (Studien zum 18. Jahrhundert. 8.). Johannes Kunisch, Friedensidee und Kriegshandwerk im Zeitalter der Aufklärung, in: Der Staat 27. Jg. (1988), S. 560 [wieder abgedruckt in: Kunisch, Fürst – Gesellschaft – Krieg, Köln und Wien: Böhlau 1992, S. 131–159]. Bernd Warlich, August Ludwig von Schlözer 1735–1908 zwischen Reform und Revolution. Ein Beitrag zur Pathogenese frühliberalen Staatsdenkens im späten 18. Jahrhundert. Phil. Diss., Masch., Erlangen 1972, S. 143–176. 94 Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation [1807/1808], hg. von Immanuel Hermann Fichte, Berlin: Veit 1846, S. 264–279 (Fichte, Werke. 7.) [Nachdruck, Berlin: de Gruyter 1971].

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ihre Bereitschaft demonstrieren, ihr Leben für die Verteidigung des Staates zu opfern. Der Staat erschien als vergrößerter menschlicher Körper und die einzelnen Staatsangehörigen konnten mit Teilen dieses Körpers verglichen werden. So wie die einzelnen Körperteile ohne den Körper als ganzen nicht lebensfähig sind, sollte der einzelne Angehörige des Staates ohne den Schutz des Staates nicht existenzfähig sein. Da die Einzelnen somit des Schutzes des Staates bedürften, sei das Verlangen gerechtfertigt, dass die Einzelnen ihre persönliche Sicherheit der Sicherheit des Staates nachordneten. „Ein gesundes staatsprinzip . . . erfrischt den blutumlauf im ganzen volkskörper“ formulierte 1845 der liberale Historiker Friedrich Christoph Dahlmann in seiner Geschichte der Französischen Revolution.95 Derartiger Biologismus96 wurde prägend für die militärische, politische und staatsrechtliche Theorie des 19. und früheren 20. Jahrhunderts. Er war nicht auf den deutschen Sprachraum begrenzt, wenngleich er dort schon im 19. Jahrhundert seine radikalsten Vertreter finden sollte. Carl von Clausewitz setzte in seiner allgemeinen Theorie des Krieges Fichtes Staatsbegriff in die Pragmatik der militärischen Organisation um. Anders als für Montesquieu waren Kriege für ihn Kämpfe unter Nationen in Waffen, zwischen denen es eine Dynamik der Spannung gebe, die sich in der Hauptschlacht als dem alles entscheidenden Höhepunkt des Kriegs gewissermaßen entlade.97 Im Verlauf des 19. und früheren 20. Jahrhunderts hatte diese Form der staatlichen Organisation gravierende politische Folgen. Das Volk musste die 95 Friedrich Christoph Dahlmann, Geschichte der französischen Revolution bis auf die Stiftung der Republik, Leipzig: Weidmann 1845, S. 13. 96 Zum Biologismus des 19. Jahrhunderts siehe: Bibliografie Nr. 74. Zur Verschiedenheit des Biologismus des 19. Jahrhunderts von früheren Organismusvergleichen siehe: Tilman Struve, Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter, Stuttgart: Hiersemann 1978 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters. 16.) Struve, Bedeutung und Funktion des Organismusvergleichs in den mittelalterlichen Theorien von Staat und Gesellschaft, in: Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters, 1. Bd., Berlin und New York: de Gruyter 1979, S. 144–161 (Miscellanea mediaevalia. 12.) [wieder abgedruckt in: Struve, Staat und Gesellschaft im Mittelalter, Berlin: Duncker & Humblot 2004, S. 12–28 (Historische Forschungen. 80.)]. 97 Clausewitz, Krieg (wie Anm. 1). Ebenso: Heinrich Gottlieb Tzschirner, Ueber den Krieg, Leipzig: Barth 1815. Carl August Eschenmayer, Normal-Recht, 2. Bd., Stuttgart und Tübingen: Cotta 1820, S. 428. Julius Schmelzing, Systematischer Grundriß des praktischen europäischen Völker-Rechtes, §§ 216, 217, 3. Bd., Rudolstadt: Hof-Buch- und Kunsthandlung 1820, S. 110 [Mikrofiche-Nachdruck, Zug: Inter Documentation 1985]. Zu Tzschirner und Eschenmayer siehe: Diethelm Klippel und Michael Zwanziger, Krieg und Frieden im Naturrecht des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Staat und Krieg, hg. von Werner Rösener, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 154. Zu Montesquieu siehe oben, Anm. 73.

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Staatlichkeit seiner Existenz erfahren durch das geltende Verfassungsrecht, die Subordination der Institutionen des Staates unter Diktate postulierter militärischer Notwendigkeiten, die Verfestigung der internationalen Beziehungen durch scheinbar langfristig wirkende, als historisch wie geographisch bedingt ausgegebene Freund-Feind-Verhältnisse, politische Strategien zur Abgrenzung gegen „artfremde“ Gruppen und deren Staaten sowie die bedingungslose Unterordnung der Bedürfnisse der einzelnen Angehörigen des „Volkskörpers“ unter die auf die Erhaltung der militärischen Sicherheit orientierten Interessen des Staates. Die Grenze des Staates wurde der Haut des Volkskörpers gleichgesetzt,98 der selbst als hierarchisch geordnete Einheit seiner Glieder begriffen wurde. Die Sicherheit der Einzelnen verschwand aus der Thematik der internationalen Beziehungen und der Theorie der Politik und wurde in den Zusammenhang von internen Maßnahmen der polizeilichen Verbrechensbekämpfung hinabgestuft. So stellte sich die Welt als Aggregat politisch begrenzter Räume dar. Militarisierung und Etatisierung waren die wichtigsten Merkmale des Sicherheitsbegriffs im „langen“ 19. Jahrhundert. Obzwar unterschiedlich stark ausgeprägt, waren sie gesamteuropäisch verbreitet. Zwar gab es auch Bekundungen der Forderung, den Sicherheitsbedürfnissen der Einzelnen gebühre Anerkennung als höchstes politisches Gut. Sie fanden im MuravievMemorandum von 1898 und der es verstärkenden internationalen Friedensbewegung ihren beredtsten Ausdruck.99 Diese Bekundungen blieben politisch nicht folgenlos, wie sich am Zustandekommen und den Beschlüssen der Haager Konferenzen von 1899 und 1907 sowie an der Völkerrechtskodifikation und der zunehmenden Verflechtung der internationalen Organisationen erkennen lässt.100 Dennoch blieb der gemeineuropäische Sicher98 Friedrich Ratzel, Politische Geographie, 3. Aufl., hg. von Eugen Oberhummer, München und Berlin: Oldenbourg 1923, S. 434 [zuerst, ebenda 1897]. 99 Kaiserliches Reskript [Mai 1898], in: The Future of War, hg. von Gwyn Prins und Hylke Tromp, Den Haag, Boston und London: Kluwer Law International 2000, S. 59–60. 100 Siehe dazu zeitgenössisch: Léon Bourgeois, Pour la Société des Nations, Paris: Fasquelle 1910. Alfred Hermann Fried, Die Haager Conferenz, ihre Bedeutung und ihre Ergebnisse, Berlin: Bermühler 1900. Fried, Handbuch der Friedensbewegung, Wien und Leipzig: Verlag der Österreichischen Friedensgesellschaft 1905. Fried, Die Grundlagen des revolutionären Pazifismus, Tübingen: Mohr 1908. Fried, Die zweite Haager Konferenz, ihre Arbeiten, ihre Ergebnisse und ihre Bedeutung, Leipzig: Elischer 1908. Max Huber, Beiträge zur Kenntnis der soziologischen Grundlagen des Völkerrechts und der Staatengesellschaft, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts 4. Jg. (1910), insbesondere S. 70 [Neudruck als Monografie, Berlin: Rothschild 1928 (Internationalrechtliche Beiträge. 10.)]. Christian Louis Lange und August Schon, Histoire de l’Internationalisme, 3 Bde., Oslo: Aschehoug 1919–1954. Theodor Marburg, League of Nations, 2 Bde., New York: Macmillan 1917–1918. Jakob ter Meulen, Der Gedanke der internationalen Organisation, 2 Bde. in 3 Tei-

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Kap. 3: Europäische und japanische Friedenslehren der Neuzeit im Vergleich

heitsdiskurs von Militarisierung und Etatisierung beherrscht. Die Katastrophe des Ersten Weltkrieges war daher ebenso programmiert wie die Legitimitätskrise, die die europäische Staatenwelt in den 1920er Jahren erfasste. Die internationale Friedensbewegung kämpfte gegen die Kompartmentalisierung der Welt an und forderte internationale Organisationen als Instrumente der Erzwingung des Friedens gegenüber den auf Autonomie und Unabhängigkeit pochenden Regierungen der souveränen Staaten. Sie konstruierte die Weltpolitik der Zukunft nicht als Machtkampf unter gleichberechtigten Souveränen, sondern als Weltinnenpolitik unter dem Dach vernetzter globaler internationaler Organisationen und bestimmte das Völkerrecht als Recht des Weltverkehrs unter der Kontrolle der internationalen Organisationen.101 Voller Optimismus ermittelte sie eine zunehmende Neigung der Regierungen der souveränen Staaten, sich im eigenen Interesse völkerrechtlichen Verfahren zu unterwerfen.102 Der Erste Weltkrieg jedoch entzog diesem Optimismus die handlungstheoretische Basis. Er verschärfte bei den sich vor und während des Krieges zum Pazifismus bekennenden Theoretikern die Forderung, dass letztendlich der Frieden nur kommen könne, wenn er durch menschliches Handeln erzwungen werde.103 Der len, Den Haag: Nijhoff 1929–1940 [Bd. 1 erschien zuerst als Zürcher Dissertation 1917; Nachdrucke der beiden Bände, Den Haag: Nijhoff 1968]. Otfried Nippold, „Die Ursachen des Europäischen Krieges“, hg. von Harald Kleinschmidt und eingeleitet von Akio Nakai, München: Iudicium 2005. Albert Frederick Pollard, The League of Nations in History, London und New York: Oxford University Press 1918. Walther Max Adrian Schücking, Die Organisation der Welt, in: Staatsrechtliche Abhandlungen. Festgabe für Paul Laband, Tübingen: Mohr 1908, S. 594–595. Schücking, Der Bund der Völker, Leipzig: Der Neue Geist Verlag 1918. James Brown Scott, The Hague Peace Conferences of 1899 and 1907, Baltimore: Johns Hopkins Press 1909. Veit Valentin, Geschichte des Völkerbundsgedankens in Deutschland, Berlin: Engelmann 1920. Karl Vorländer, Kant und der Gedanke des Völkerbunds, Leipzig: Meiner 1919, S. 40 (Philosophische Zeitfragen. 3.) Hans Wehberg, Die internationale Friedensbewegung, Mönchengladbach: Volksvereins-Verlag 1911. Elizabeth York [d. i., Lottie Elizabeth Bracher], Leagues of Nations, London: Swarthmore Press 1919. 101 Siehe dazu Bibliografie Nr. 56. 102 Beispielsweise: Otfried Nippold, Die Fortbildung des Verfahrens in völkerrechtlichen Streitigkeiten. Ein völkerrechtliches Problem der Gegenwart speziell im Hinblick auf die Haager Friedenskonferenzen, Leipzig: Duncker & Humblot 1907. Walther Max Adrian Schücking, Der Verband für Internationale Verständigung, in: März 7. Jg. (1913), S. 471–474. Zur Tätigkeit der deutschen Völkerrechtslehrer auf den Friedenskonferenzen und in der internationalen Friedensbewegung siehe Bibliografie Nr. 56. 103 Henry Noel Brailsford, The War of Steel and Gold, 10. Aufl., London: Bell 1918, S. 28–29 [zuerst, ebenda 1914; Nachdruck, New York: Garland 1971]. David Jayne Hill, World Organization as Affected by the Nature of the Modern State, New York: Columbia University Press 1911, S. 131–132. Huber, Beiträge (wie Anm. 100), S. 56–134. Huber, Die Gleichheit der Staaten, in: Rechtswissenschaftliche

IV. Die Umsetzung der buddhistischen Handlungstheorie

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Erste Weltkrieg hebelte somit in die Agenda der Menschheit die Herstellung des Friedens mit Mitteln der Politik.

IV. Die Umsetzung der buddhistischen Handlungstheorie in japanischen Friedenslehren und der Praxis der internationalen Beziehungen Das Problem der Umsetzung der buddhistischen Handlungstheorie in die Friedenslehren und ihre Anwendung in der Praxis der internationalen Beziehungen in den vom Buddhismus beeinflussten Kulturen lässt sich kondensieren in die Frage, ob Krieg als militärisches Handeln in Vorbereitung auf Frieden als Nicht-Handeln denkbar ist. Wäre dem so, ergäbe sich eine Alternative zum Aktionismus der neueren europäischen Friedenslehren. Die Frage lässt sich am einfachsten in Bezug auf Japan beantworten, da nur dort zwischen der Mitte des 17. und der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Periode stabilen inneren und äußeren Friedens bestand, die verbunden war mit der Ästhetisierung kriegerischer Handlungsweisen sowie der Bestimmung derjenigen, deren Beruf der Krieg war, als Träger höchster politischer Macht. Die scheinbar paradoxe Zusammenführung von Friedenssicherungspolitik und kultureller sowie politischer Hochschätzung kriegerischen Handelns lässt sich leicht begreifen als Zeugnis dafür, dass im frühneuzeitlichen, das heißt Edo-zeitlichen Japan Krieg und Frieden nicht als Gegensätze, sondern einander bedingend gedacht wurden. In Japan sind Einstellungen gegenüber Krieg und Kriegskunst lange und gut belegt, da dort wiederholt zwischen dem 11. und dem 19. Jahrhundert Gruppen von Berufskriegern in hohe Ämter aufstiegen und sich danach in Gruppen ziviler Amtsträger, intellektuelle Eliten und wirtschaftliche Führungskräfte umgestalteten. Dabei kam es schon seit dem 14. Jahrhundert zu einer Verbindung von militärischer Professionalität und buddhistischer AsBeiträge. Festgabe des Auslandes zu Joseph Kohlers 60. Geburtstag, hg. von Fritz Berolzheimer, Stuttgart: Enke 1909, S. 88–108. Lassa Francis Lawrence Oppenheim, International Law, 1. Bd., 4. Aufl., hg. von Arnold D. McNair, London: Longman 1928, S. 99 [zuerst, London: Longman, Green & Co 1905–1906]. So auch im Rückblick: Hermann von Grauert, Zur Geschichte des Weltfriedens, des Völkerrechts und der Idee einer Liga der Nationen, in: Historisches Jahrbuch 39. Jg. (1920), S. 115–243, 557–673. Hans Wehberg, Ideen und Projekte betr[effend] die Vereinigten Staaten von Europa in den letzten 100 Jahren, in: Die Friedens-Warte 51. Jg. (1941), S. 11–82 [Neudruck, hg. von Frank Boldt und Karl Holl, Bremen: Timmermann 1984]. Siehe dazu: Wolf Dieter Gruner, Völkerbund, Europäische Föderation oder Internationales Schiedsgericht?, in: Gruner, Deutschland mitten in Europa, Hamburg: Krämer 1992, S. 173–224 (Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte. 5.) [zuerst kurzgefasst in: Europa um 1900, hg. von Karl Otmar von Aretin und Fritz Klein, Berlin: Akademie-Verlag 1989, S. 203–220].

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Kap. 3: Europäische und japanische Friedenslehren der Neuzeit im Vergleich

kese, die auf die Ausbildung der Krieger und die Gestaltung ihres täglichen Lebens wirkte.104 Ein weiteres Mal vollzog sich dieser Prozess in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, nachdem Japan der Samtherrschaft eines Militärführers, Ieyasu Tokugawa, unterstellt worden war. Ieyasu setzte eine Politik durch, die schon am Ende des 16. Jahrhunderts eingeleitet worden war, derzufolge Besitz und Gebrauch von Waffen streng kontrolliert und auf die oberste Kriegerkaste begrenzt wurde. Ganze Waffengattungen, wie zum Beispiel die Feuerwaffen,105 wurden als Kriegswaffen weitgehend tabuisiert, obschon sie als Jagdwaffen im Einsatz blieben.106 Durch die strenge Kontrolle des Waffengebrauchs zogen sich Krieger aus dem Kriegshandwerk zurück und verzichteten seit Mitte des 17. Jahrhunderts auf unmittelbare Kampfeinsätze. An deren Stelle trat eine Kriegerethik, die die Verbindung von Professionalität in Handhabung von Kampfkünsten mit Erfolg in Verwaltungstätigkeiten oder wissenschaftlicher Arbeit nahelegte. Diese Ethik verlieh den Kriegern einen hohen Status, ohne direkt an den Einsatz im Kampf gebunden zu sein. Sie enthielt nicht nur Verhaltensvorschriften, sondern bestimmte auch Theorien des Verhältnisses von Krieg und Frieden. Dabei erschienen Krieg und Frieden aufeinander bezogen, ja voneinander abhängig. So stellte im 16. Jahrhundert Nagamasa Kuroda (1568–1623) fest: „Die Friedenskünste und die Kriegskünste sind wie zwei Räder eines Wagens, der, wenn ihm eines fehlt, nur mit Schwierigkeit stehen kann.“107 Mit einem anderen Bild drückten die Gesetze über Kriegerhaushalte aus dem Jahr 1615 dasselbe aus: „Seit alters her hat die Regel bestanden, dass die ‚Friedenskünste mit der linken, die Kriegskünste mit 104 Zu den Kriegereliten in Japan zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert siehe Bibliografie Nr. 58. 105 Eine Übersicht über den Stand der Diskussion bieten: Tomio Hora, Teppo ¯. Denrai to so no eikyo¯, Kyoto: Shibunkaku Shuppan 1991. Masashi Kubota, Nihon no ju¯hei no kunren to jo¯bi heika, in: Gunji-shigaku 38. Jg., Nr. 3 = 151. Bd. (2002), S. 4–32. Masaya Suzuki, Teppo¯ to Nihonjin. „Teppo¯ shinwa“ ga kakushite kita koto, Tokyo: Yo¯sensha 1997. Takehisa Udagawa, Teppo¯ denrai. Heiki ga kataru kinsei no tanjo¯, Tokyo: Yoshikawa Ko¯bunkan 1990. Die einzige größere Arbeit zu dem Thema in westlichen Sprachen gründet nicht auf japanische Quellen. Siehe: Noel Perrin, Keine Feuerwaffen mehr. Japans Rückkehr zum Schwert. 1543–1879, Frankfurt: Syndikat 1982 [Nachdrucke der deutschen Ausg., Frankfurt: Athenäum 1989; Stuttgart: Klett-Cotta 1996; zuerst, Boston: Hall 1979]. Dasselbe gilt für die vergleichende Studie von Geoffrey Parker, The Military Revolution. Military Innovation and the Rise of the West. 1500–1800, Cambridge: Cambridge University Press 1988 [2. Aufl., ebenda 1996], der zwar japanische Quellen zitiert, sie aber nur aus zweiter Hand benutzte. Zur Debatte um Parkers Buch siehe Bibliografie Nr. 75. 106 Siehe: Fritz Opitz, Die Lehensformen des Tokugawa Nariaki nach dem „Hitachi Obi“ des Fujita To¯ko. Phil. Diss., München 1965, S. 46. Sakai Teppo¯, Sakai: Sakai-shi Hakubutsukan 1990, S. 38. 107 Hurst, Arts (wie Anm. 6), S. 68. William Scott Wilson, Ideals of the Samurai, Burbank, CA: Ohara 1982, S. 136.

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der rechten Hand geübt werden sollen. Beide müssen beherrscht werden‘.“108 In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts sagte Razan [wirklicher Vorname Nobukatsu] Hayashi (1583–1657) dasselbe in direkter Sprache unter Berufung auf Konfuzius: „Die Friedenskünste zu beherrschen ohne die Kriegskünste, zeugt von mangelndem Mut, die Kriegskünste zu beherrschen ohne die Friedenskünste von mangelnder Weisheit. Heerführer müssen beide Künste berücksichtigen, wenn sie Truppen einsetzen oder verteilen und vorrücken oder sich zurückziehen. Dies ist der Weg des Heerführers.“109 Krieger setzten diese Ethik in die Praxis um, indem sie sich militärischem Drill und Kampfübungen als Weg zur Selbst-Reinigung unterwarfen. Sie verbanden auf diese Weise die Traditionen des Berufskriegertums mit den im Wesentlichen pazifistischen Lehren von Shinto¯ und Buddhismus. Durch die Askese wollten die Krieger ihr Selbst reinigen und auf diese Weise vervollkommnen. Dies sollte geschehen durch, nicht gegen die militärischen Pflichten und durch Übungen in militärischen Bewegungsweisen. Shinto¯ und Buddhismus bildeten also keinen Widerpart gegen das Kriegertum, sondern vermittelten das Ideal des durch Askese und NichtHandeln vollkommen gewordenen Kriegers. Militärische Professionalität und Friedensbewahrung waren miteinander identisch. Das Aufeinanderbezogensein von Krieg und Frieden gestattet es zudem, das Nicht-Handeln begrifflich zu unterscheiden von Nichts-Tun, Trägheit, Faulheit oder anderen, aus der europäischen Sicht Max Webers negativ zu bewertenden oder scheinbar irrationalen Verhaltensweisen. Nicht-Handeln ist gegen die Weberschen Kategorien zu begreifen als bewusste Entscheidung zur Bewegungslosigkeit, als bewusstes Aufschieben des Handelns und als bewusster Verzicht. Das Prinzip des Nicht-Handelns setzt Ziellosigkeit als Ziel. Eine Tierfabel aus dem frühen 18. Jahrhundert veranschaulicht diesen Grundsatz. Der gelehrte Samurai Tanba Ju¯ro¯ Saemon Tadaaki, genannt Chozan Issai (1659–1741), verfasste im Jahr 1727 folgende Erzählung: Im Haus des Kriegers Sho¯ken trieb eine Ratte schreckliches Unwesen und brachte den Eigentümer an den Rand des Ruins. Bei mehreren Versuchen, das Tier zu erschlagen, zerstörte er Einrichtungen seines Hauses, ohne dass die Ratte Schaden nahm. In der Not rief er seine Katze zu Hilfe, die er bat, die Ratte zu beseitigen. Sho¯kens Hauskatze tat ihr Bestes, doch konnte sie gegen die Ratte nichts ausrichten. Auch andere Katzen blieben ohne Erfolg. 108 Buke shohatto, in: Kinsei buke shiso ¯ = Nihon shiso¯ taikei, 27. Bd., Tokyo: Iwanami Shoten 1974, S. 454 [englische Fassung in: Sources of Japanese Tradition, hg. von Ryu¯saku Tsunoda, William Theodore de Bary und Donald Keene, 1. Bd., New York und London: Columbia University Press 1964, S. 327]. 109 Hayashi Razan [Nobukatsu Hayashi] bunshu ¯ , Osaka und Tokyo: Ko¯bunsha 1930, S. 310. Tsunoda, Sources (wie Anm. 108), S. 347.

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Schließlich erinnerte Sho¯ken sich daran, dass im Nachbarort eine Katze lebte, die für ihre Fangtechnik überall berühmt war. Sho¯ken holte die Katze und setzte sie in sein Haus. Plötzlich verharrte die Ratte bewegungslos. Die Katze ging behutsam auf sie zu, packte sie und zog sie mit sich fort. Am Abend desselben Tages fand ein Parlament statt, zu dem sich die Katzen des Orts mit der berühmten Rattenfängerin versammelten, um über die Sensation zu beraten. Einige der sprechenden Katzen stellten ihre Fangtechniken dar. Sho¯kens Hauskatze prahlte damit, stark und schnell zu sein. Doch die Ratte war stärker und schneller. Diese Fähigkeiten waren also nichts anderes als die Grundvoraussetzung für den Rattenfang, führten aber allein zu keinem Ergebnis. Eine andere Katze stellte eine höhere Qualifikationsstufe vor, indem sie beschrieb, wie sie Finten und allerlei Taktiken anwenden könne, um Ratten in die Enge zu treiben. Doch im vorliegenden Fall fruchteten keine Finten. Denn die Ratte kannte sie alle ebenso. Die dritte Katze vertrat eine eher spirituelle Zuwendung, übte sich im richtigen Atmen und bezwang ihre Feinde mit der Kraft ihres Geistes. Doch die Ratte hatte mindestens genau so starke Geisteskräfte. Einer Lösung nahezukommen schien die vierte Katze. Sie gab an, zwischen ihr und den Gegnern eine spirituelle Harmonie herzustellen, auf Stärke der Gegner mit Ruhe zu antworten. Sie umgarne die Aggressivität der Gegner wie ein Vorhang, der sich um einen Stein hüllt, der in ihn hineingeworfen wird. Dennoch konnte auch diese Katze gegen die Ratte nichts ausrichten. Sodann sprach die Meisterfängerin und löste das Rätsel. Nach Auffassung dieser Katze hatte die Ratte einen Kampfgeist, der der stärksten Lebenskraft einer Katze gleichkam. Im Angesicht tödlicher Gefahr würde diese Ratte ihre ganze Kraft mobilisieren, sogar ihren Wunsch zu leben vergessen und sich nur auf den Kampf konzentrieren. Diese Ratte, meinte die Meisterfängerin, würde ihren Körper überhaupt nicht spüren und habe einen eisernen Willen. In einem solchen Kampf führe es zu nichts, wenn nur die Lebenskraft zur Anwendung komme. Ein Ergebnis könne nur erzielt werden, wenn Harmonie mit den Gegnern zustande komme. Doch müsse diese Harmonie aus echter Gesinnung und nicht aus taktischem Kalkül entstehen. Denn jedes taktische Kalkül enthalte Hintergedanken und unausgesprochene Ziele. Aber wirkliche Harmonie könne nicht als Element der Strategie entstehen, sondern nur aus der Intuition, ohne zielorientiertes Handeln. Nur wenn der Geist sich von jeder Fixierung auf Ziele freimache, könne das Bewusstsein der eigenen Existenz ohne das Bewusstsein der Existenz eines Gegenübers da sein. Der wirkliche Krieger müsse daher selbstlos sein und handeln ohne Nachdenken sowie ohne den Willen, etwas erreichen zu wollen: „Es gibt einen Gegner, weil es ein Selbst gibt. Wo es kein Selbst gibt, gibt es keinen Gegner. Das Wort ‚Gegner‘ ist einfach nur eine Bezeichnung für ein Ge-

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genüber, wie Yin und Yang oder Feuer und Wasser. . . . Wenn man das Selbst und den Anderen vergisst und wie die ungestörte Tiefe des Ozeans wird, ist man in Harmonie und eins mit allen.“110

Die Katzen in Issais Fabel entsprachen also den Berufskriegern der Menschenwelt. Mit Hilfe der Fabel bestimmte er den Mangel an Notwendigkeit zum Kampf als höchsten Wert des Berufskriegertums. Die ideale Katze hielt dadurch ein Haus frei von Ratten, dass sie einfach da war. Sie brauchte keine Gewalt anzuwenden, da sie mit den Ratten in Harmonie lebte. Ebenso sollte der perfekte Berufskrieger den Frieden dadurch sichern, dass er die Waffen ablegte und Harmonie anstrebte, aber gleichzeitig seine Fähigkeit und Bereitschaft zum Kampf erkennen ließ. Die Grenzen der Aussagefähigkeit der Fabel sind evident. Der Störenfried, vertreten durch die Ratte, ist da. Handlungsbedarf ist vorhanden. Ein Ziel ist vorgegeben, nämlich den Störenfried zu beseitigen. Die Meisterfängerin handelt zielorientiert. Der in der Fabel vorgegebene Handlungsablauf korrespondiert also nicht direkt mit der buddhistischen Ethik des NichtHandelns. Gleichwohl sind deren Grundsätze auf einer tieferen Ebene erkennbar, die die Maßstäbe lieferte, nach denen ideales Kriegertum definiert werden konnte. In diesen Maßstäben verschmolz der höchste denkbare Grad militärischer Professionalität mit Willenlosigkeit und Intuition zur Bestimmung des künftigen Erreichens der Bedingungen für die Ziellosigkeit des Handelns als ideales Handlungsziel. Dieses Ideal bestand unabhängig von der Möglichkeit, ihm im täglichen Leben gerecht werden zu können. Nur ausnahmsweise mochten Krieger es erreichen können. In der Exzeptionalität des Handelns der Meisterfängerin und dem Ideal des nur durch sein Dasein Frieden stiftenden Kriegers liegt die Aussage von Issais Fabel. Issai war kein Pazifist. Er befand sich mit seinen Zeitgenossen in vollständiger Übereinstimmung darin, dass er die Krieger dazu aufforderte, ihren Berufspflichten nachzukommen, sich zu üben und kampfbereit zu sein.111 Im frühneuzeitlichen Japan gaben die in die Kriegstheorie einge110 Issai Chozan, Neko no myo ¯ jutsu [das außergewöhnliche Geschick der Katze], ¯ raisha 1979, hg. von Ichiro¯ Watanabe, Budo¯ no meicho, Tokyo: Shinjinbutsu O S. 10–16. Zu dem Text siehe: Karl Friday, Beyond Valor and Bloodshed. The Arts of War as a Path to Serenity, in: Knight and Samurai, hg. von Rosemarie Deist, Göppingen: Kümmerle 2003, S. 1–13 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 707.). Daitetsu T. Suzuki, Zen and Japanese Culture, Princeton: Princeton University Press 1973. S. 428–435. Im deutschen Sprachraum liegt der Text vor in der Bearbeitung durch Karlfried Graf Dürckheim, Wunderbare Katze und andere Zen-Texte, 8. Aufl., Bern: Barth 1989 [zuerst, ebenda 1964]. Neuerdings wieder hrsg. u. d. T.: Zen und Schwert in der Kunst des Kampfes. Tengu geijutsu + Neko no myojutsu, Frankfurt: Angkor Verlag Keller 2006. Jenseits des deutschsprachigen esoterischen Schrifttums hat er bislang kaum Beachtung gefunden.

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wobenen Friedenslehren die Erwartung vor, dass Krieger den Frieden sichern sollten durch ihr Dasein, nicht durch kämpferisches Handeln. Kampfbereitschaft galt demnach als Voraussetzung für den Frieden, nicht der Kampf selbst. Krieg resultierte nach dieser Lehre aus der mangelnden Vollkommenheit derjenigen Krieger, deren kampflose Kampfbereitschaft nicht ausgeprägt genug war. Das bedeutete nichts anderes als zu fordern, dass die philosophische Handlungstheorie des klassischen Buddhismus in die Praxis der Nicht-Kriegführung als Friedensbewahrung umzusetzen sei. Die buddhistische Lehre, dass das Seiende keine objektive, vom Betrachter trennbare Existenz haben könne, bildete nicht nur die Basis für Chozan Issais Katzenparlament, sondern auch die Grundlage für die ständische Ordnung im frühneuzeitlichen Japan. Denn wenn allen Kriegern die Pflicht und Aufgabe zukam, durch ihr Dasein den Frieden zu bewahren, war es nur konsequent, ihnen einen hohen Rang in dieser ständischen Ordnung zuzuweisen. Bereits am Ende des 16. Jahrhunderts beobachtete der Jesuit Luís Fróis (1532–1597), europäische Krieger kämpften um Kontrolle von Festungen mit allen zu deren Zerstörung erforderlichen Waffen, um den Erwerb von Reichtum und um Erweiterung der Kontrolle über Land und Leute; japanische Krieger hingegen genüge es, Weizen, Reis und Hafer wegzunehmen. Folglich gebe es in Japan zwar Festungen, aber keine Kanonen, und viele Festungen fielen durch Frontenwechsel, nicht im Kampf.112 Bezeichnenderweise goss man Kanonen erst im der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als die meisten Feuerwaffen aus der Arsenalen verdrängt worden waren.113 Der im Auftrag des Lehnsherrn von Sendai nach Europa entsandte Tsunenaga Hasekura (1571–1622) erfuhr die Unterschiedlichkeit japanischer und europäischer Kriegerideale bei seinem Besuch in Rom im 111 Siehe auch: Shinji Nakabayashi, „Kendo ¯ shi“, in: Nihon budo¯ taikei, 10. Bd., Kyoto: Do¯ho¯sha Shuppan 1982, S. 72–73. Hurst, Arts (wie Anm. 6), S. 77 (mit Verweis auf Ogyu¯ Sorai). 112 Luís Fróis, Européens & Japonais. Traité sur les contradictions & différences de mœurs, écrit par le R. P. Luís Fróis au Japon, l’an 1585, cap. VII, Paris: Chandeigne 1998, S. 20, 39. Siehe dazu: Engelbert Jorissen, Das Japanbild im „Traktat“ (1585) des Luis Frois, Münster: Aschendorff 1988, S. 42 (Portugiesische Forschungen der Görres-Gesellschaft. Reihe II, Bd. 7.). Zum Waffengebrauch im 16. und 17. Jahrhundert siehe Bibliografie Nr. 75. 113 Um 1639 soll Hans Wolfgang Braun aus Ulm in Japan ein Feldgeschütz gegossen haben, das nicht zum Einsatz kam und noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Museum des Yasukuni-Schreins erhalten war. Eine Fotografie des Geschützes ist im Besitz des Stadtmuseums Ulm. Zu Braun siehe: Josef Kreiner, Deutschland – Japan. Die frühen Jahrhunderte, in: Deutschland – Japan. Historische Kontakte, hg. von Josef Kreiner, Bonn: Bouvier 1984, S. 14–17 (Studium universale. 3.). Friedrich Maximilian Trautz, Hans Wolfgang Braun von Ulm, in: Nachrichten der Deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens 32. Jg. (1933), S. 27.

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Oktober 1615 am eigenen Leib. Die römische Verwaltung wollte nicht zulassen, dass der exotische Krieger, seinem Selbstverständnis und Berufsethos folgend, in der Heiligen Stadt sein Schwert trug, und verlangte, dass er es ablege. Hasekura folgte widerstrebend dem Ansinnen, da er nicht in der Absicht gekommen war, von der Waffe Gebrauch zu machen. Seine Gastgeber ahnten nicht, dass er in der Tradition japanischer Kriegerethik durchaus in der Lage war, auch ohne Waffen wirksam zu kämpfen.114 Es war in Japan also konsequent zu fordern, dass die Krieger nicht als Kämpfer handeln, sondern ihren hohen Rang durch Meisterschaft auf andere Weise als durch Kampf dokumentieren sollten. Die Forderung, Krieger sollten sich als Verwalter und Gelehrte hervortun, war daher ein Ergebnis der Anwendung der buddhistischen Handlungstheorie auf den Krieg. Das war eine Forderung, die von dem in der klassisch-römischen Tradition gründenden Grundsatz „Si vis pacem para bellum“ dadurch verschieden war, dass sie dem Aktionismus und der Zielorientierung klassisch-römischer Kriegstheorie die Verpflichtung auf Nicht-Handeln entgegenstellte.115 Ein weiteres Resultat war die oft bemerkte Ästhetisierung der militärischen Bewegungskultur in Form der Kampfsportarten. Obschon sehr vielfältig und nicht spezifisch japanisch bestand in Japan der größte gemeinsame Nenner unter den verschiedenen Techniken in der Forderung, dass Meisterschaft gebunden sein müsse an Verzicht auf ein Handlungsziel. Danach konnte der Bogenschütze nur unter der Bedingung in die Lage kommen, sein Ziel über große Entfernung zu erreichen, wenn er nicht handelte in dem Sinn, dass er anstrebte, ins Schwarze zu treffen. Hingegen sollte sich der Pfeil wie von selbst lösen und treffen, nachdem der Schütze mit dem Ziel eins geworden war.116 Ebenso war der perfekte Schwertkämpfer dazu angehalten, dadurch schnell und zielsicher zu schlagen, dass er zu seinen Gegnern Harmonie ausbildete und deren Lebenskraft für sich nutzte. Issais Lehren gründeten daher in der Praxis der Krieger und waren folglich mehr als spekulative Theorie. Handeln ohne Willen und ohne Bezugnahme auf das Selbst war das Wesentliche der Kampfsportarten wie auch der Tugen114 Zu Hasekura siehe: Ro ¯ ma no Hasekura Tsunenaga to Nanban Bunka. Nichi-o¯ ko¯ryu¯. 16–17 seiki, Sendai: Sendai-shi Hakubutsukan 1989. 115 Letztere Bestimmung ergibt sich aus den gegenwärtigen Positionen von Völkerrechtslehrern. Als Beispiel siehe: Otto Kimminich, Das Völkerrecht und die friedliche Streitschlichtung, in: Den Frieden denken, hg. von Dieter Senghaas, Frankfurt: Suhrkamp 1995, S. 159 [zuerst in: Konflikte in der Weltgesellschaft, Baden-Baden: Koerner 1989 (Schriftenreihe der AFK. 16.)]. 116 Siehe Bibliografie Nr. 57. Übungen dieser Art sind noch in der großen JapanBeschreibung Siebolds nachgewiesen. Siehe: Philipp Franz Balthasar von Siebold, Nippon. Archiv zur Beschreibung von Japan, 1. Tafelband, Leiden: Selbstverlag 1832, Taf. XXII, XXIII [Nachdruck, Tokyo: Ko¯dansha 1975].

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den der Krieger. Deswegen schrieben bereits die Regeln zur Verwaltung militärischer Grundherrschaften aus dem Jahr 1615 vor, dass die Krieger sich im Bogenschießen und im Schwertkampf zu üben hätten.117 Die erkenntnistheoretische These, dass Subjekt und Objekt nicht getrennt werden können, ist keineswegs allein Grundlage der buddhistischen Ethik. So soll bereits vor etwa 2300 Jahren der chinesische Arzt Tsou Yen die Ansicht vertreten haben, Krankheiten entstünden aus einem Gegensatz, der sich zwischen Mensch und Umwelt aufgetan habe, und Heilung sei nur möglich, wenn dieser Gegensatz überwunden werden könne. Damit forderte Tsou Yen, Ärzte sollten Therapien wählen, die die Menschen mit ihrer Umwelt versöhnen und in eins bringen könnten.118 In dieselbe Richtung ging die Bestimmung des altchinesischen Traktates Tai Kung’s Six Secret Teachings (11. Jahrhundert v. Chr.), dass ein General, der eine Schlacht schlagen müsse, unbrauchbar als Krieger sei.119 Gleichwohl ergab sich nur aus der Philosophie des Buddhismus eine Ethik, die die Abkehr von Zielen als Grundlage ethisch vollkommenen Handelns forderte. Die Frage, die abschließend zu beantworten ist, lautet, wie diese Forderung im frühneuzeitlichen Japan in der praktischen Gestaltung der internationalen Beziehungen zur Aufrechterhaltung des Friedens angewandt wurde. Denn daran besteht kein Zweifel, dass die japanische Regierung zwischen der Mitte des 17. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts weder in militärische Auseinandersetzungen mit einer anderen Regierung verwickelt war noch im Innern bewaffnete Konflikte zu überwinden hatte. Die Betonung liegt daher auf „bewaffnet“. Denn Konflikte gab es reichlich, die sich immer wieder in Bauernunruhen äußerten.120 Es herrschte keineswegs Friedhofsruhe oder politische Apathie, wie man aus der Perspektive Habermas’scher Lehren über die Öffentlichkeitsgeschichte121 vermuten könnte, 117

Buke sho hatto (wie Anm. 108). Siehe: Paul U. Unschuld, Medizin in China, München: Beck 1980, S. 52. 119 Siehe: Ralph D. Sawyer, The Art of the Warrior, Boston und London: Shambala 1996, S. 101–102. 120 Zu Bauernaufständen siehe: David L. Davis, Ikki in Late Medieval Japan, in: Medieval Japan, hg. von Jeffrey P. Mass, New Haven: Yale University Press 1988, S. 221–247. Karl Ulrich Wolfgang Pauly, Ikko¯-Ikki. Die Ikko¯-Aufstände und ihre Entwicklung aus den Aufständen der bündischen Bauern und Provinzialen des japanischen Mittelalters. Phil. Diss., Masch., Bonn 1985. Carol Richmond Tsang, The Development of Ikko¯ Ikki. 1500–1570, Ph.D. Diss., Masch., Cambridge, MA: Harvard University 1995. Yoshio Yasumaru: Rebellion and Peasant Consciousness in the Edo Period, in: History and Peasant Consciousness in South East Asia, hg. von Andrew Turton und Shigeharu Tanabe, Suita: National Museum of Ethnology 1984, S. 401–420 (Senri Ethnological Studies. 13.). 121 Zur Diskussion um Habermas’ Begriff der Öffentlichkeit in der Sicht der Geschichtswissenschaft siehe Bibliografie Nr. 1. 118

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sondern Wettbewerb um Ressourcen und politische Ansichten. Gleichwohl blieben die Krieger eine Gruppe von Nicht-Handelnden und bewiesen damit, dass sie den inneren Frieden ohne Anwendung militärischer Gewalt zu bewahren in der Lage waren. Wie dies möglich war, ist in der westlichen Forschung seit der Wende zum 18. Jahrhundert oft und kontrovers beantwortet worden. Die Meinungen konvergieren heute in die Richtung, das Herrschaftssystem der Krieger als im Recht und im Grundsatz der Befolgung moralischer Pflichten gegründet zu sehen.122 Aus dieser Sicht kann die Annahme begründet werden, dass, anders als in den voraufgegangenen Jahrhunderten, im 17., 18. und frühen 19. Jahrhundert die Krieger auf die buddhistische Handlungstheorie verpflichtet werden konnten, weil und solange die Kriegerherrschaft als legitim anerkannt und folglich unumstritten war. Ob diese Annahme zutrifft oder nicht, will ich hier nicht untersuchen; denn sie ist für die Fragestellung nicht zentral. Wichtig ist zu ermitteln, wie es gelingen konnte, die Krieger auf die buddhistische Ethik des Nicht-Handelns nach außen hin zu verpflichten, obschon in den internationalen Beziehungen keine als legitim anerkannte Herrschaftsordnung bestehen konnte. Folglich konnten japanische Krieger keine Ordnung erwarten oder gar erzwingen wollen, in der sie ihre Gegner als Krieger von anderswo her ebenso auf die Einhaltung der buddhistischen Ethik des Nicht-Handelns verpflichten konnten. Konkret gesprochen: Japanische Krieger konnten sich ihrer eigenen Regierung gegenüber an einen Verhaltenskodex binden, aber nicht zugleich darauf rechnen, dass sich chinesische, koreanische oder südpazifische und südostasiatische Krieger an denselben Kodex hielten. Wie aber konnten japanische Krieger gleichwohl durch Nicht-Handeln nicht nur den inneren, sondern auch den äußeren Frieden über knapp zweihundert Jahre hinweg bewahren? Die Antwort liegt in dem, was Samir Amin als Theoretiker des 20. Jahrhunderts mit „Delinking“,123 Engelbert Kaempfer als zeitgenössischer Beobachter als „Abschließung“124 bezeichnet hat. Damit ist in beiden Fällen dasselbe gemeint, nämlich der Einsatz politischer Mittel zur Kontrolle und Reduktion der internationalen Beziehungen. Amin gründete seinen Vorschlag auf Beobachtungen zur internationalen politischen Ökonomie, die an 122 Siehe dazu: Conrad D. Totman, Early Modern Japan, Berkeley und London: University of California Press 1993 [weiterer Druck, ebenda 1995]. Totman, Politics in the Tokugawa Bakufu. 1600–1843, Cambridge, MA: Harvard University Press 1967 (Harvard East Asian Series. 30.) [2. Aufl., Berkeley: University of California Press 1988]. Die Diskussion beginnt mit dem Werk von Engelbert Kaempfer, Heutiges Japan, hg. von Wolfgang Michel und Barend J. Terwiel, 1. Bd., München: Iudicium 2001 (Kaempfer. Werke. I/1.). 123 Samir Amin, Delinking, London: Verso 1990. 124 Kaempfer, Japan (wie Anm. 122), S. 255.

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eine Variante der Dependencia-Theorie gebunden waren. Seiner Ansicht nach bedingte die durch die europäischen Kolonialmächte an der Wende zum 20. Jahrhundert erzwungene Weltmarktintegration die Zerstörung lokaler und regionaler Wirtschaftssysteme, besonders in Afrika, Süd- und Südostasien sowie dem Südpazifik, und er hoffte, der von der Weltmarktintegration ausgehenden Bedrohung der wirtschaftlichen Subsistenz durch kontrollierte Desintegration aus dem Weltmarkt begegnen zu können. An der Wende zum 18. Jahrhundert verfasste Engelbert Kaempfer, der in den Diensten der holländischen Ostindischen Kompagnie von 1690 bis 1692 in Japan weilte, eine Beschreibung des Landes, in der er neben manch anderem auch die internationale Politik der Regierung besprach. Kaempfer beschrieb das Land, so wie es sich ihm darstellte, als „abgeschlossenes“ Territorium, in das Nichtjapaner nur nach eng gefassten Regeln und unter strengen Auflagen Zutritt hätten. Kaempfer machte sich zwar über einige der Auflagen lustig, z. B. diejenige, dass er selbst am Hof der Regierung in Edo als Possenreißer auftreten musste; aber er ließ keinen Zweifel an seiner Bereitschaft aufkommen, dass er die Regeln und Auflagen für sich und seine europäischen Zeitgenossen akzeptierte. Er pries sie sogar als Modell, das europäische Herrscher übernehmen sollten, wenn sie, wie die japanische Regierung, sich an das Recht binden und im Einvernehmen mit ihren Untertanen für Reichtum, Ordnung, Stabilität und Frieden sorgten. Japan galt Kaempfer als Muster einer wohlgeordneten Politie, so wie sie die politische Theorie der Aufklärung postulierte.125 Kaempfer beurteilte Japan daher überaus positiv, gerade nicht aus wirtschaftlichen, sondern aus politischen Überlegungen. Dass Kaempfer keine Betrachtungen über die Weltwirtschaft anstellte, versteht sich einfach als Folge der Tatsache, dass es zu seiner Zeit keinen Weltmarkt gab und niemand einen solchen Markt für notwendig oder zweckmäßig hielt.126 Über Kaempfers Darstellung der „Abschließung“ des Landes ist seit dem 19. Jahrhundert manches Missverständnis aufgekommen, in Japan selbst wie auch anderswo. In der Regel wurde die Bezeichnung so verstanden, als sei Japan im 17. und 18. Jahrhundert ein gegenüber dem Rest der Welt hermetisch abgeriegelter Staat gewesen, dessen Außengrenzen von einem tyrannischen Herrscher rücksichtslos überwacht wurden mit dem Ziel, jeglichen unerlaubten Verkehr zu unterdrücken. Das frühneuzeitliche Japan 125 Siehe dazu: Mary E. Berry, Public Peace and Private Attachment. The Goals and Conduct of Power in Early Tokugawa, in: Journal of Japanese Studies 12. Jg. (1986), S. 237–271. Marc Raeff, The Well-Ordered Police State. Social and Institutional Change through Law in the Germanies and Russia. 1600–1800, New Haven: Yale University Press 1983. 126 Zu Kaempfer siehe Bibliografie Nr. 76.

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rückte so in die Nähe bekannter isolationistischer Überwachungsstaaten des 20. Jahrhunderts, wie etwa Albanien, Myanmar oder auch der DDR.127 Diese Bilder gehören aber in das Reich der wissenschaftlichen Mythologie. Sie haben weder etwas mit den Bedingungen zu tun, unter denen in der Frühen Neuzeit die japanische Regierung die internationalen Beziehungen zu gestalten versuchte, noch etwas mit der Bedeutung derjenigen Vokabeln, mit denen Kaempfer diese internationalen Beziehungen beschrieb. Das, was Kaempfer mit „Abschließung“ bezeichnete, bestand als Summe aus fünf Edikten, die die japanische Regierung in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts durchsetzte.128 Im Jahr 1633 verfügte die Regierung unter Androhung der Todesstrafe bei Zuwiderhandlung, dass es ihren Untertanen verboten sei, auf anderen als autorisierten Schiffen ins Ausland zu fahren 127 Zum Beispiel siehe: Karl Wolfgang Deutsch, The Analysis of International Relations, 3. Aufl., Englewood Cliffs: Prentice-Hall 1988, S. 195 [zuerst, ebenda 1968]. Kalevi Jaako Holsti, International Politics. A Framework for Analysis, 6. Aufl., Englewood Cliffs: Prentice-Hall 1992, S. 86 [zuerst, ebenda 1967]. Ebenso noch neuerdings von geschichtswissenschaftlicher Seite: Thomas Schleich, Vom Warenumschlag zum Wissenstransfer. Die Anfänge der japanischen Öffnung zum Westen in der Phase des verschlossenenen Landes (1640–1853), in: Kolumbus’ Erben. Europäische Expansion und überseeische Ethnien im ersten Kolonialzeitalter, hg. von Thomas Beck, Annerose Menninger und Thomas Schleich, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992, S. 217–245; und: Wolfgang Schwentker, Staatliche Ordnungen und Staatstheorien im neuzeitlichen Japan, in: Verstaatlichung der Welt?, hg. von Wolfgang Reinhard und Elisabeth Müller-Luckner, München: Oldenbourg 1999, S. 117 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien. 47.). Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts waren solche Vorstellungen fremd. Sie beschrieben im Sinn Kaempfers Japan als Rechtsstaat. Einer von ihnen, der aufgeklärte Kritiker Europas Jean-Louis Castilhon, befand, Japan habe „nos droits et notre liberté“, und setzte Japaner mit „Anglais de l’Asie“ gleich. Siehe: Jean-Louis Castilhon, Considérations sur les causes physiques et morales de la diversité du genie, des moeurs et du government des nations, Bouillon: Société typographique 1769, S. 244–248 [deutsche Fassung, Leipzig: Holle 1770]. Ebenso auch: Carl Peter Thunberg, Reise durch einen Teil von Europa, Afrika und Asien, hauptsächlich in Japan in den Jahren 1770–1779, 2. Bd., Berlin: Hancke & Spener 1794, S. 21, 44 [Nachdruck, Heidelberg: Manitius 1994; zuerst, Uppsala: Edman 1791; französische Ausg., hg. von L. Langlès, Paris: Dandré 1796; Nachdrucke dieser Ausg., Hildesheim und New York: Olms 1994–1998; Nachdruck der 3. englischen Ausg. London: Rivington, 1795–1796, hg. von Timon Screech, Japan Extolled and Decried. Carl Peter Thunberg and the Shogun’s Realm. 1775–1796, London: RoutledgeCurzon 2005]. Siehe dazu ohne Hinweise auf Abhängigkeit der europäischen Japanliteratur des 18. Jahrhunderts von Kaempfer: Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens, München: Beck 1998, S. 83, 167, 191, 196, 342–343. 128 Siehe dazu: Reinhard Zöllner, Verschlossen wider Wissen. Was Japan von Kaempfer über sich lernte, in: Engelbert Kaempfer (1651–1716) und die kulturelle Begegnung zwischen Europa und Asien, hg. von Sabine Klocke-Daffa, Jürgen Scheffer und Gisela Wilbertz, Lemgo: Landesverband Lippe. Institut für Lippische Landeskunde 2003, S. 192–193 (Lippische Studien. 18.).

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und dort den Wohnsitz zu nehmen. Sie ordnete ebenfalls an, dass christliche Missionare aufzuspüren und Portugiesen, die auf einlaufenden Schiffen gefunden wurden, zu verhaften seien. Ausländische Schiffe, die Nagasaki anliefen, sollten ihre Fracht erklären und den Hafen nach fünfzig Tagen wieder verlassen. Diese Anordnung wurde im folgenden Jahr wiederholt. Im Jahr 1635 wurde das Verbot der Ausreise auf alle Schiffe ausgedehnt. Alle ausländischen Schiffe, außer denen der Holländer, die auf der Insel Hirado saßen, mussten den Hafen von Nagasaki anlaufen. Im Jahr 1636 wurden sämtliche Kinder aus japanisch-portugiesischen Mischehen aus dem Land verwiesen und ihnen die Rückkehr unter Androhung der Todesstrafe verboten. Schließlich folgte im Jahr 1639 ein allgemeiner Befehl, der allen portugiesischen Schiffen das Anlanden in Japan verbot, da wiederholt auf portugiesischen Schiffen christliche Missionare gefunden worden waren. Die Befehle betrafen somit drei Bereiche: Sie unterbanden die Tätigkeit christlicher Missionare in Japan, verboten die Ausreise japanischer Untertanen und regulierten Warenimport. Detailregelungen kamen hinzu. Bereits im Jahr 1624 brach die Regierung den diplomatischen Verkehr mit dem katholischen Spanien ab und untersagte ihren Untertanen, in die spanischen Philippinen zu reisen. Seit 1641 durften auch die Holländer nur noch in Nagasaki Handel treiben. Aber das Land war nicht abgeriegelt. Warenverkehr ohne Import christlicher religiöser Literatur war nicht nur möglich, sondern erwünscht. Keineswegs war es allen Ausländern verboten, nach Japan zu kommen, sondern nur Portugiesen sowie später auch Spanier. Die Regierung misstraute Untertanen der damals expansiven katholischen Mächte und schloss ihre eigenen Untertanen vom Fernhandel aus. Außer Holländern und Chinesen, die im Hafen von Nagasaki Handel trieben, hätten durchaus Händler anderer Nationen kommen können, zeigten sich aber, wie die Engländer, am Japanhandel uninteressiert. Die Regierung beschränkte sich darauf, diejenigen Häfen zu benennen, in denen Schiffe mit nichtjapanischen Besatzungen anlanden konnten, und legte die Bedingungen fest, unter denen in den Hafenorten Handel zu treiben war. Weder gab es so etwas wie ein allgemeines Einreiseverbot noch hielt die Regierung es für geboten, die Küsten gegen mögliche Eindringlinge hinreichend zu befestigen. Die Regierung handelte in der Hoffnung, fortan nicht mehr handeln zu müssen. Aus dem Umstand, dass die holländische Ostindische Kompagnie als einziger europäischer Handelspartner die Bedingungen akzeptierte, folgte keineswegs, dass nur den Angehörigen dieser Kompagnie und keinen anderen Europäern der Handel in Japan gestattet werden konnte. Im Gegenteil: Die Regierung hätte zumindest gegen Ende des 17. Jahrhunderts europäische Konkurrenten der Holländer gern, jedoch nur unter den gegebenen Bedingungen, zugelassen. Überdies wurden die Regelungen, besonders im 18. Jahrhundert, flexibel gehandhabt. Neue Warenkategorien, wie zum Bei-

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spiel Bücher europäischen Ursprungs, wurden als Handelsgüter genehmigt. Man trieb so etwas wie „Auslandswissenschaft“ und versuchte, Kenntnisse über die Welt zu gewinnen und zu systematisieren.129 Bei alledem wird sofort deutlich: die vermeintliche „Abschließung“ trieb Japan keineswegs in die Isolation. Die Krieger und ihre Regierung handelten keineswegs mit dem Ziel, durch Kappung der internationalen Beziehungen den äußeren Frieden zu bewahren oder gar zu erzwingen. Im Gegenteil: Japans Außengrenzen blieben praktisch ungeschützt. Die wenigen Überwachungsmaßnahmen dienten eher der Kontrolle des Ausreiseverbots für die japanischen Untertanen als der Abwehr möglicher Eindringlinge. Hatte Kaempfer also einen falschen Eindruck kolportiert, eine unzutreffende Interpretation gegeben, einen Mythos geschaffen? Dies sind Kaempfers Worte, soweit sie rekonstruierbar sind: Die Stadt Nagasaki „hat ihre Situation zwischen rauhen gebirgen auf schlechtem Grunde der Insel Kjusju und an deren westlichsten Enden gefunden; ist an diesem eüssersten winckel des Reichs von dem volckreichen Nipon, und dessen einheimischer Nahrung verschoben; Daneben von der frey¨en Zufuhr und commercien der frembden nuhn mehro gleichsam abgeschlossen: Dahero von Kauffleüten, Herbergieren, Krähmern, Manufacteuren, Rentenierern und reichen leüten gar spahrsam versehen, und grösten teils nur mit gemeinen Einwohnern und Tagelöhnern verfüllt, die ihr brodt mit der Schulter zu verdienen wissen. Jedoch dient sie wegen des bequähmen und wohlgeschlossenen hafens zu einer algemeinen anfuhrt derer zugelassenen ausländischen Schiffen und frembdlingen, die ihre angebrachte unverbotene wahren an Ey¨nländische Kauffleüte oder Factoren verhandelen, so zu bestimter Zeit aus verschiedenen Städten und Landschafften alhier verscheinen. In massen dieser Ort zur Zeit der letzten Massacre und austilgung der Christen, im Jahre Christ 1638 bey¨ der Neüen Reichs constitution, der frembdlingen tractament betreffende, angestelt worden, mit sothanen Ernst, das anderswo kein frembder, auch wehre Er durch Unglück verfallen, mag aufgenommen sondern anhero mus geführet werden. Wannenhero auch bey¨de zugelassene Völcker, als Sinesen oder die unter derer Nahmen sortiren, und die Holländer nirgends dan alhier sich einzuhafenen vermügen, und fals Sie die Noht eines ineluctabelen Sturms einen anderen ancker platz zur behaltung ihres Schiffes und Leibes angewiesen, sie desfals Suffisanten wahrschein, so bald sie anhero begleitet, bey¨ zubringen haben.“130 129 Zu diesem Aspekt der Außenhandelsbeziehungen in der Tokugawa Zeit siehe Bibliografie Nr. 77. 130 Kaempfer, Japan (wie Anm. 122), 1. Bd., S. 208. Ausführliche Fassung in: Engelbert Kaempfer, Beweis, daß im Japanischen Reiche aus sehr guten Gründen den Eingebornen der Ausgang, fremden Nationen der Eingang, und alle Gemeinschaft dieses Landes mit der übrigen Welt untersagt sey, in: Kaempfer, Geschichte und Beschreibung von Japan, hg. von Christian Wilhelm Dohm, 2. Bd., Lemgo: Meyer 1779, S. 393–414 [Nachdruck, hg. von Hanno Beck, Stuttgart: Brockhaus 1964 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Geographie und der Reisen. 2.)], von Herausgeber Dohm formuliert nach Engelbert Kaempfer, Amoenitatum

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Verständlich ist diese Beschreibung des „Abgeschlossen“-Seins der Stadt Nagasaki nur vor dem Hintergrund der zeitgenössischen europäischen mechanistischen Wahrnehmung des internationalen Systems, nicht jedoch aus der Retrospektive der Staatenwelt des 19. und des größten Teils des 20. Jahrhunderts. Letztere Wahrnehmung konstituierte das internationale System als globalen Ordnungsrahmen für souveräne Staaten als Trias der Einheiten von Gebiet, Bevölkerung und Regierung und definierte diese Einheitentrias als Ensemble von Organen innerhalb von Grenzen,131 die als Haut des politischen Körpers bestimmt wurden.132 Man schwelgte in biologischen Metaphern, die den Staat als menschlichen Körper und das internationale System als Überstaat erscheinen ließen. Erst in dieser Perspektive konnten die Reise- und Handelsbeschränkungen, die die frühneuzeitliche japanische Regierung verfügt hatte, als Versuch der Ausgrenzung Japans aus dem vermeintlich globalen internationalen System, das heißt, als Resultat einer zielstrebigen und konsequent vollzogenen Isolationspolitik betrachtet werden. Nichts davon jedoch findet sich bei Kaempfer. Er beschrieb Japan nicht als Staat, sondern als „Reich“, das heißt, als Politie mit polykratischer Herrschaftsstruktur und regionaler Diversität. Das japanische „Reich“ war nach außen hin dadurch „abgeschlossen“, dass die Regierung die Portugiesen und Spanier als Prediger der christlichen Religion aus dem Land gewiesen und ihren Untertanen die Fahrt nach Übersee untersagt hatte: „Wie Taiko [d. i. Hideyoshi Toyotomi] eines durch falsches angeben einen jehen Zorn auf die Patres fassete, hiesse Er dieselbe zwahr innerhalb 20 tagen das Reich raumen; kurtz darnach aber erlaubte er ihnen eine Kirche bey¨ Miaco [d. i. Kyoto] zu bauen, aber nicht darin zu predigen; womit er den seinen Unwillen gegen die religion nicht gegen die nation erweisen wollen. So ist auch dieselbe zu quitieren derer nachfolgende Kaisere Vorsatz nicht gewesen, weil man derer jährlichen anhero gebrachten wahren, zum wolleben nicht entbrechen konte. Zumahl man noch bey¨ der letzten und schon zum Ende lauffenden Vertilgung der Christen und aller Portugiesischen und Castilianischen lehren man doch die weltliche Kauffleüte noch bey¨ behalten und vor Ihnen das obbenandte verschlossene Deshima [im Hafen von Nagasaki] erbauet, umb den Kauffhandel als eine von Religions affaire abgesonderte Sache ferner mit ihnen zu setzen. Es gabe ihr aber exoticarum politico-physico-medicarum fasciculi V, Lemgo: Meyer 1712, 2. Fasc., 14. Relation, S. 478 ff. [Nachdruck, Teheran: Imperial Organization for Social Services 1976]. Ebenso noch: Thunberg, Reise (wie Anm. 127), 2. Bd., S. 21, 44. 131 Zur Geschichte der Grenzbegriffe siehe Bibliografie Nr. 33. 132 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 7. Nachdruck der 3. Aufl., Bad Homburg vor der Höhe: Gentner 1960, S. 394–434 [zuerst, Berlin: Häring 1900]. Zu zeitgenössischen Begriffen der Staatsgrenze siehe: Wilhelm Rüstow, Die Grenzen der Staaten, Zürich: Schultheiss 1868, S. 1–5. Ratzel, Geographie (wie Anm. 98), 3. Aufl., S. 434.

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den letzten hertzens stoß die fatale entdeckung eines gefährlichen Vorhabens Ihrer und derer einländischen Christen wieder die Persohn des Kay¨sers, als einen heidnischen regenten.“133

Es folgt eine abenteuerliche Erzählung von einem Brief, den die Holländer auf einem portugiesischen Schiff entdeckten, der von einer Verschwörung berichtet habe und den die Holländer den japanischen Behörden übereigneten. Dieser Brief bewirkte, Kaempfer zufolge, die Ausweisung der Portugiesen und das Verbot ihrer Wiedereinreise. Danach bringt Kaempfer eine Version des an die japanischen Untertanen gerichteten Ausreiseverbots. Kaempfers Systembegriff war nicht derjenige des Biologismus des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern derjenige des Mechanismus des 17. und 18. Jahrhunderts. Seine politische Theorie knüpfte an Vorstellungen an, die die Mechanisten des 17. Jahrhunderts formuliert hatten.134 Kaempfer nahm das internationale System daher nicht als globalen, souveräne Staaten übergreifenden Ordnungsrahmen wahr, sondern als Raum, in dem Herrscher und Regierungen häufig Beziehungen untereinander unterhielten und Untertanen sich ebenso häufig von Ort zu Ort über Grenzen hinweg bewegten. Für Kaempfers Zeitgenossen und diejenigen Gelehrten, die seine Werke im 18. Jahrhundert ausschrieben, waren diese Räume häufiger Interaktionen gegeneinander abgegrenzt. So wurde derjenige Raum, in dem Europäer vorzugsweise interagierten, mitunter als „Europäisches System“ bezeichnet. Innerhalb dieser Systeme, die beschrieben wurden, als wären sie Maschinen, ließen sich die Herrscher wechselseitig durch residente Botschafter vertreten. Es gab Informationsnetze und Presseagenturen, die Nachrichten europaweit verbreiteten.135 Die Netze standen für politische Propaganda offen, die Agenten zogen oft Nachrichten mit Hilfe von Spionage ans Licht. Die Außengrenzen des „Europäischen Systems“ waren nicht überall klar bestimmt und wandelten sich überdies. So verfügte erst Zar Peter I. für den internen 133

Kaempfer, Japan (wie Anm. 122), Bd. 1, S. 254. Siehe: Christoph Besold, Dissertatio politico-juridica de foederum jure, Straßburg: Zetzner 1622, S. 12. Samuel Pufendorf [praes.] und Daniel Christiernin [resp.], De systematibus civitatum, in: Dissertationes academicae selectiores, hg. von Samuel Pufendorf, Frankfurt: Weidmann 1678, S. 228. Pufendorf, De jure (wie Anm. 78), S. 714–715. Johann Erdmann Schmidt [praes.] und Cratus Wilhelm von Schell [resp.], De civitatis origine civitatvmqve systematibus exemplo Reipvblicae Batavorvum illvstratis. Phil. Diss., Jena 1745. Ernst Carl Wieland [praes.] und Gottlob Friedrich Schmerbauch [resp.], De systemate civitatvm. Phil. Diss., Leipzig 1777. Wolff, Jus (wie Anm. 78), S. 763–764. Siehe dazu: Martin Wight, De systematibus civitatum, in: Wight, Systems of States, hg. von Hedley Bull, Leicester: Leicester University Press 1977, S. 21. 135 Zum Begriff des „Europäischen Systems“ siehe, stellvertretend für viele: Vattel, Droit (wie Anm. 78), 2. Bd., S. 39. Zu den Netzwerken zwischen Diplomaten und den Nachrichtendiensten siehe Bibliografie Nr. 78. 134

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Sprachgebrauch innerhalb Russlands, dass der Ural als Grenze zwischen Europa und Asien zu betrachten sei.136 Zuvor hatte man sich in der Regel an der aus dem Mittelalter überkommenen Bestimmung orientiert, dass das Flussgebiet von Don, Dnjepr und Wolga die Ostgrenze Europas markiere. Infolge dieser Bestimmung lag Moskau in Asien, und Russland trat erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts in das „Europäische System“ ein.137 Die sehr wohl bekannten, also auch konzipierbaren Beziehungen zwischen Europa und anderen Weltteilen, mithin in andere Systeme, hatten daher intersystemischen Charakter und waren folglich kontingentiell, das heißt, sie folgten aus bestimmten Anlässen und waren gebunden an spezifische, zeitlich begrenzte Bedürfnisse. Diesem mechanistischen Systembegriff entsprach die Praxis der politisch-diplomatischen Beziehungen, die die Herrscher und Regierungen der größeren europäischen Politien während des 17. und 18. Jahrhunderts in andere Teile der Welt unterhielten. Mit Ausnahme des Osmanischen Reiches, mit dem seit dem 16. Jahrhundert feste politisch-diplomatische Beziehungen und seit dem beginnenden 17. Jahrhundert völkerrechtliche Verträge bestanden,138 hatten europäische Herrscher und Regierungen nur zwei Arten von Beziehungen nach Afrika, Asien und Amerika. Die „Neue Welt“ betrachteten sie als Zielgebiet herrschaftlicher Expansion. Mit Politien in Afrika und Asien hingegen unterhielten sie nur gelegentlich und jeweils nur für kurze Zeit diplomatische Beziehungen.139 Der russische Zar schloss erstmals im Jahr 1689 ein Abkommen mit dem chinesischen Kaiser.140 Er sandte um dieselbe Zeit zwei 136 Siehe: Mark Bassin, Russia between Europe and Asia. The Ideological Construction of Geographical Space, in: Slavic Review 50. Jg. (1991), S. 1–17. W. H. Parker, Europe. How Far?, in: Geographical Journal 126. Jg. (1960), S. 278–297. 137 Siehe dazu: Manfred Hellmann, Die Friedensschlüsse von Nystad (1721) und Teschen (1779) als Etappen des Vordringens Rußlands nach Europa, in: Historisches Jahrbuch 97/98. Jg. (1978), S. 270–288. Walther Mediger, Moskaus Weg nach Europa, Braunschweig: Westermann 1952. 138 Zu den westeuropäisch-türkischen Beziehungen siehe: Negociations de la France dans le Levant, hg. von Ernest Charrière, 1. Bd., Paris: Imprimerie Nationale 1848, S. 116–129 [Nachdruck, New York: Franklin 1965]. Ogier Ghiselin de Busbecq, The Turkish Letters of Ogier Ghiselin der Busbecq, Imperial Ambassador at Constantinople. 1554–1562, Oxford: Clarendon Press 1968 [zuerst, ebenda 1927; Nachdruck, Baton Rouge: Louisiana State University Press 2005]. Benedikt Kuripesˇicˇ, Itinerarium der Gesandtschaft König Ferdinands I. von Ungarn nach Konstantinopel 1530 [Augsburg: s. n. 1531], Nachdruck, hg. von Srecko M. Dzˇaja und Jozo Dzˇambo, Bochum: Brockmeyer 1983 (Materalia Turcica. Beiheft 6.). Zur Forschungsliteratur siehe Bibliografie Nr. 93. 139 Siehe dazu: Jörg Fisch, The Globalization of International Law in the Nineteenth Century, in: International Political Economy 15. Bd. (2005), S. 1–11. 140 Vertrag zwischen China und Russland, Nertschinsk, 7. September 1689, in: Georg [sic!; recte: Gottfried] Wilhelm Leibniz, Das Neueste von China (1697). No-

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Gesandtschaften an den persischen Schah mit dem Ziel der Regelung von Transithandelsbeziehungen.141 Wesentlich weniger aktiv als die Zaren des 17. Jahrhunderts war man in Europa. Die einzige offizielle Mission eines europäischen Herrschers nach Asien war die von Ludwig XIV. befohlene Gesandtschaft nach Siam, wo für einige Jahre am Ende des 17. Jahrhunderts mit anfänglicher Billigung des siamesischen Königs ein Kontingent französischer Truppen stationiert war.142 Diese Mission traf in einer Zeit in Siam ein, als dort der griechischstämmige Konstantin Faulkon als leitender Minister des Königs in Ayuttaya figurierte und Siam sich seinen Nachbarn und Europa gegenüber öffnete. Zudem bestand in Macau seit 1557 eine kleine portugiesische Handelsniederlassung und jesuitische Missionare waren gelegentlich am Hof des chinesischen Kaisers tätig.143 Im Übrigen aber vissima Sinica, hg. von Heinz Günther Nesselrath und Hermann Reinbothe, Bonn und Köln: Deutsche China-Gesellschaft 1979, S. 108–118 (Deutsche China-Gesellschaft. 2.). Auch hg. von Clive Parry, Consolidated Treaty Series, 18. Bd., Dobbs Ferry, NY: Oceana 1969, S. 503–507 (französische Fassung). Er regelte Grenzfragen, den Bau russischer Festungen im Grenzgebiet nach China (in Nertschinsk war im Jahr 1654 eine russische Festung errichtet worden), die Verfolgung straffällig gewordener Personen, eine allgemeine Amnestie, die Sicherheit von Untertanen beider Vertragsparteien in den Territorien unter der Kontrolle der jeweils anderen Seite sowie Handelsfragen. Erstdruck in: Jean-Baptiste Du Halde, Description géographique, historique, chronologique, politique et physique de l’Empire de la Chine et de la Tartarie chinoise, 4. Bd., Den Haag: Scheurleer 1736, S. 242. Siehe dazu: Joseph Sebes, The Jesuits and the Sino-Russian Treaty of Nertschinsk (1689). The Diary of Thomas Pereira, S. J., Rom: Institutum Historicum Societatis Jesu 1961 (Bibliotheca Instituti Historici I. Serie, 18. Bd.). Vertrag von Kiachta zwischen China und Russland von 1727, in Parry (wie oben), 33. Bd., S. 25–32. Geändert durch Vertrag vom 18. Oktober 1768, in Parry (wie oben), 44. Bd., S. 229–231. Dieser Vertrag regelte Grenzfragen und gestattete der russischen Regierung den Bau einer orthodoxen Kirche in Beijing sowie die Entsendung einer Gesandtschaft nach dorthin. Auch der im Original lateinisch abgefasste Vertrag von Kiachta kam durch Übersetzungsleistungen in chinesischen Diensten stehender Jesuiten zustande. Zu den chinesisch-russischen Beziehungen siehe Bibliografie Nr. 79. 141 Einen Augenzeugenbericht der russisch-persischen Beziehungen um die Mitte des 17. Jahrhunderts liefert Adam Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung der Muscowitischen und Persischen Reyse, Schleswig: Holwein 1656 [Nachdruck, hg. von Dietrich Lohmeier, Tübingen: Niemeyer 1971; weitere Nachdrucke, Stuttgart: Thienemann 1986; Frankfurt: Institut für Geschichte der islamisch-arabischen Wissenschaft der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität 1994 (The Islamic World in Foreign Travel Accouts. 4.); Mikrofiche-Ausg., Hamburg 1969]. Jürgen Andersen und Volquard Iversen, Orientalische Reisebeschreibungen, Schleswig: Holwein 1669 [Nachdruck, Tübingen: Niemeyer 1980 (Deutsche Neudrucke. Reihe Barock, Bd. 27.)]. Zu den Beziehungen zwischen Russland und Persien im 17. Jahrhundert siehe Bibliografie Nr. 80. 142 Darüber berichtete als Augenzeuge Simon de La Loubère, Du Royaume de Siam, Paris: Coignard 1691 [andere Ausg., Amsterdam: Wolfgang 1691]. Zu den französisch-siamesischen Beziehungen siehe Bibliografie Nr. 81.

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überließen die europäischen Herrscher und Regierungen die Fernbeziehungen nach Afrika und Asien den von ihnen privilegierten Fernhandelsgesellschaften, die befugt waren, in eigenem Recht und auf eigene Verantwortung Verträge mit Herrschern vor Ort zu schließen. Kaempfer kannte wahrscheinlich nicht den russisch-chinesischen Vertrag von 1689, aber er war Mitglied der zweiten russischen Gesandtschaft nach Persien, und er weilte im Jahr 1690 für einige Wochen in Siam und berichtete über Faulkon.144 In seiner Perspektive waren Persien, Siam und China demnach offen in dem Sinn, dass politisch-diplomatische Beziehungen bestanden oder sich anzubahnen schienen. Mit Japan hingegen unterhielten in dieser Zeit kein europäischer Herrscher und keine europäische Regierung politisch-diplomatische Beziehungen, sondern nur die holländische Ostindische Kompagnie. Obzwar diese Gesellschaft von japanischer Seite als Repräsentantin eines holländischen Herrschers angesehen und anerkannt wurde, trat sie in Japan in eigenem Recht auf und schloss die Verträge mit der japanischen Regierung ohne Rücksprache mit der holländischen Regierung.145 Als Diener dieser Handelsgesellschaft war Kaempfer mit den Rechtsverhältnissen bestens vertraut. „Abschließung“ bedeutete daher für ihn keineswegs Isolation. Hingegen war für ihn Japan „abgeschlossen“ als „Reich“, das in sich selbst ruhte, außerhalb des europäischen Systems stand und mit dem, anders als mit Persien, Siam und China, europäische Herrscher und Regierungen keine politisch-diplomatischen Beziehungen unterhielten. Japan erschien Kaempfer als „abgeschlossen“ im Vergleich zu Persien, Siam und China nicht zuletzt deshalb, weil manchen, aber nicht allen, Europäern der Zutritt und japanischen Untertanen der Weggang verboten war. Kaempfers Aussage, Japan „muste . . . auf immer und ewig verschlossen, und von jedem Fremdling gereinigt werden“,146 bezieht sich in ihrer Radikalität auf die gegen die Portugiesen gerichtete Politik der Ausweisung im frühen 17. Jahrhundert und wird schon durch den von Kaempfer selbst zugestandenen Befund, dass Holländer und Chinesen von dieser Regelung ausgenommen wurden, in ihrer kategorialen Bedeutung eingeschränkt. Kaempfers Deutung der „Abgeschlossenheit“ Japans stand damit in voller 143 Siehe dazu: Leibniz korrespondiert mit China. Der Briefwechsel mit den Jesuitenmissionaren, hg. von Rita Widmaier, Frankfurt: Klostermann 1990 (Veröffentlichungen des Leibniz-Archivs. 11.). 144 Kaempfer, Japan (wie Anm. 122), 1. Bd., S. 8–30. 145 Gemäß dem [Gründungs-] Privileg der Generalstaaten der Niederlande vom 20. März 1602, in: VOC 1602–2002. 400 Years of Company Law, hg. von Ella Gepken-Jager, Gerard van Solinge und Levinus Timmermann, Deventer: Kluwer 2005, S. 23–24 (Law of Business and Finance. 6.). Zur Niederländischen Ostindischen Kompagnie siehe Bibliografie Nr. 82. 146 Kaempfer, Geschichte (wie Anm. 128), 2. Bd., S. 410.

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Übereinstimmung mit den Rechtstexten, die das Nicht-Handeln als Mittel ihrer internationalen Politik der japanischen Regierung formulierten. Dass politisch denkende und militärisch ausgebildete Intellektuelle in Japan die Gestaltung der Außenbeziehungen durch die Regierung trotz kritischer Distanz ebenso beurteilten, bezeugt das militärtheoretische Werk des Verwandten des Daimyo¯ von Sendai in Nordjapan, Shihei Hayashi, das im Jahr 1786 abgeschlossen und unter dem Titel Kaikoku Heidan (Diskurs über militärische Angelegenheiten eines vom Meer umgebenen Lands) gedruckt wurde.147 In seinem Werk postulierte Hayashi im grotianischen Sinn die Offenheit des Meers148 und empfahl der Regierung dringend den Aufbau einer Kriegsflotte sowie die Befestigung der Küstenlinien, da er es für aussichtslos hielt, dass Japan gegen einen Seeangriff ohne Rüstungen verteidigt werden könne. Hayashi hatte Kontakt mit den Holländern in Nagasaki und studierte europäische Schriften. Er setzte sich mit seinen Ratschlägen nicht allein der Kritik, sondern auch der Verfolgung durch die Behörden aus, hielt aber an seinen Ansichten fest. Denn es sei jederzeit möglich, dass Kriegsschiffe nach Japan kämen, das Land zu annektieren; der Seeraum von 200 bis 300 Meilen, der den Archipel vom Festland trenne, sei in ein bis zwei Tagen zu überwinden; das Meer sei ein grenzenloser Verbindungsweg nach überall hin. Zur Sicherung eines dauernden Frieden sei es daher unabdingbar, die Häfen und Küstenlinien zu bewehren.149 Hayashis Ziel war es also, durch Handeln zu erreichen, dass die Krieger nicht handeln müssen. Er wandte damit strikt die buddhistische Ethik des Handelns auf die Gestaltung der Außenbeziehungen an. Er empfahl der Regierung keineswegs, die Beziehungen nach außen zu kappen oder mit militärischen Mitteln zu unterbinden, sondern wollte nur gerüstet sein für den Fall, dass fremde Herrscher oder Krieger sich nicht an die Regeln der buddhistischen Ethik halten und versuchen sollten, Japan zu erobern. Dabei 147 Shihei Hayashi, Kaikoku Heidan [nicht vor 1786], mehrere Neudrucke, zuletzt, Tokyo: Iwanami Shoten 1976. Ein Original der Ausgabe von 1856 befindet sich in der Bayerischen Staatsbibliothek München (4° L. jap. E59). Teilübersetzt und hg. von Friedrich Lederer, Diskurs über die Wehrhaftigkeit einer Seenation, München: Iudicium 2003. Teilübersetzungen auch in: Donald Keene, The Japanese Discovery of Europe. 1720–1830, 2. Aufl., Stanford: Stanford University Press 1969, S. 39–45, 321–322 [zuerst, London: Routledge 1952]. 148 Hugo Grotius, Mare liberum. Sive De iure quod Batavis competit ad Indicana commercia [verfasst 1604], Leiden: s. n. 1618, S. 15, 61–64 [Nachdruck, hg. von James Brown Scott, Grotius, The Freedom of the Seas. Or the Right Which Belongs to the Dutch to Take Part in the East Indian Trade, New York: Carnegie Institution 1916, S. 24–25, 87–91]. 149 Hayashi, Tokyo: Tonansha 1916, getr. Pag. Vorwort S. 1; Buch 1, S. 1–3. (Übersetzung von Lederer), S. 100, 123, 125, 127, 251. Siehe dazu: Yoshihiko Amino, Les Japonais et la mer, in: Annales ESC 50. Jg. (1995), S. 235–258.

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ließ er offen, welche Herrscher oder Krieger er als Aggressoren ausmachen wollte. Möglicherweise unter westlichem Einfluss gelangte er zu einer grotianischen Beschreibung des Meers als offenem Seeweg. Die Regierung aber schlug Hayashis Rat aus, zeigte sich am Ende des 18. Jahrhundert also mehr noch als ihr Kritiker davon überzeugt, dass es aller Offenheit des Meers zum Trotz zu Verstößen gegen die Grundsätze der buddhistischen Handlungsethik auch in den internationalen Beziehungen Japans nicht kommen werde. Entsprechend stellte sie sich auch gegen Bestrebungen eines Angehörigen der Dynastie der Tokugawa, des Daimyo¯ von Mito, Nariaki Tokugawa. In den Jahren zwischen 1837 und 1842 ließ Nariaki Maßnahmen zur Küstenverteidigung mit der Begründung treffen, dass die Gefahr einer Invasion über See gegeben sei. Gegen diese Gefahr seien Verteidigungsmaßnahmen zu treffen. Er ließ die Küstenwache mit den im Daimyat von Mito verfügbaren tragbaren Feuerwaffen ausrüsten und ordnete an, neue Kanonen zu gießen. Im Jahr 1842 erfuhr Nariaki vorläufige Unterstützung durch die Regierung in Edo, die anordnete, die Küstenbefestigungen gegen Invasoren dürften nicht vernachlässigt werden. Doch Nariaki ging im Sinn Hayashis über dieses Edikt hinaus und beließ es nicht bei Instandsetzungsmaßnahmen. Er ordnete an, kupferne Buddhastatuen und Glocken einzuschmelzen, damit ohne Steuererhöhungen Kanonen gegossen werden konnten. Die betroffenen buddhistischen Klöster beschwerten sich in Edo und erwirkten 1844 die Absetzung Nariakis, der unter Hausarrest gestellt wurde.150 Die Regierung hielt somit bis in die 1840er Jahre an den Grundlagen der buddhistischen Handlungsethik fest. Diese Interpretation der Ansichten Kaempfers und Hayashis steht jedoch derjenigen Auffassung entgegen, die sich in Japan selbst bereits zu Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte. Schon im Jahr 1801 begann Tadao Shizuki (1760–1806), eine gedruckte Ausgabe von Kaempfers Werk ins Japanische zu übersetzen. Dabei stieß er auf das „Abschließungs“-Kapitel151 150 To ¯ bi, in: Mitogaku Zenshu, 1. Bd., Tokyo: Nitto¯ Shoin ¯ ko Fujita, Hitacho O 1933, S. 386–392. Zusammenfassende deutsche Version in: Opitz, Lehensreformen (wie Anm. 106), S. 47–48. Siehe dazu neben der Studie Opitz’ auch: Richard T. Chang, From Prejudice to Tolerance. A Study of Japanese Images of the West. 1826–1864, Tokyo: Sophia University Press 1970, S. 21–97, insbesondere S. 28. Hiroshi Mitani, Escape from Impasse. The Decision to Open Japan, Tokyo: I House Press 2006, S. 74–84 (LTCB International Library Selection. 20.) [erweiterte Ausg., Tokyo: I House Press 2008; zuerst, Tokyo: To¯kyo¯ Daigaku Shuppankai 2000]. 151 Engelbert Kaempfer, Beweis (wie Anm. 130). Obzwar der Herausgeber Dohm an anderen Stellen häufig mit Kaempfers preisenden Rechtfertigungen kritisch umging, stimmte er in dieser Aussage Kaempfer ausdrücklich zu (wie Anm. 130, S. 420–421). In seiner Schrift über den ewigen Frieden vom Jahr 1795 stellte auch Kant (wie Anm. 81), S. 215–216, wohl nach Kaempfer, klar, dass die japanische

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und übertrug Kaempfers Bezeichnung mit sakoku, mithin „Schließung des Lands“. Er prägte damit ein Wort, das seither als Eigenbezeichnung für die Gestaltung der internationalen Beziehungen in der Frühen Neuzeit im Gebrauch geblieben ist.152 Sie kam zu dem Zeitpunkt auf, als die japanische Regierung sowie die ihr unterstehenden Krieger sich gezwungen sahen, ihre Politik des Nicht-Handelns zu überdenken und durch Maßnahmen der aktiven Landesverteidigung und Grenzziehung gegen Eindringlinge von außen zu ersetzen. Diese kamen seit Ende des 18. Jahrhunderts aus Russland,153 seit Beginn des 19. Jahrhunderts auch aus dem Vereinigten Königreich auf Befehl oder mit Billigung ihrer Herrscher. Diese Leute hatten nicht nur keine Vorstellung von der buddhistischen Ethik des Nicht-Handelns, sondern missverstanden auch die Politik des Nicht-Handelns als Zeichen politischer Schwäche oder gar – im Sinn des westlichen Orientalismus – als Ausdruck von Faulheit oder mangelnder Entschlussfähigkeit.154 Aber auch im Innern Japans gerieten die Krieger unter Druck, da es ihnen nicht mehr gelang, durch ihr Dasein allein langfristig für Reichtum, Ordnung, Stabilität und Frieden zu sorgen. Ein Bewusstsein der Unsicherheit und Verletzbarkeit kam auf und führte zu Rufen nach Strukturveränderungen. Das aggressive Auftreten zumal von Vertretern des Vereinigten Königreichs in Ostasien, besonders in China, trug zur Verstärkung dieses Bewusstseins bei, zumal deutlich wurde, dass die chinesische Regierung die europäischen Eindringlinge nicht wirksam und auf Dauer zurückweisen konnte und, insbesondere nach Ende des ersten Opiumkriegs im Jahr 1842, ihre Stellung als militärische Vormacht Ostasiens preisgeben musste. Als dann japanische Krieger in den 1850er Jahren von außen zum Handeln gezwungen wurden, versagten sie. Ihr Versagen kam der Aufgabe der buddhistischen Handlungsethik gleich und zog seit Beginn der 1860er Jahre aggressive Militarisierung zur Kompensation für das zunehmende Unsicherheitsbewusstsein nach sich.155 Regierung in Anbetracht des Gebarens der europäischen Mächte jede Rechtfertigung dazu gehabt habe, sie vom Handel auszuschließen. 152 Wiedergabe der Textseite im Werk Shizuki’s in: Josef Kreiner, Kaempfer und das europäische Japanbild, in: Engelbert Kaempfer (1651–1716) und die kulturelle Begegnung zwischen Europa und Asien, hg. von Sabine Klocke-Daffa, Jürgen Scheffer und Gisela Wilbertz, Lemgo: Landesverband Lippe. Institut für Lippische Landeskunde 2003, S. 259 (Lippische Studien. 18.). 153 Siehe dazu Bibliografie Nr. 98. 154 Rutherford Alcock, Extracts from the Narrative of a Journey through the Interior of Japan, in: Journal of the Royal Geographical Society (1861), S. 201–202. 155 Zur Darstellung des politisch-diplomatischen Hintergrunds siehe: Conrad D. Totman, The Collapse of the Tokugawa Bakufu, Honolulu: University of Hawaii Press 1980. Totman, From Sakoku to Kaikoku, in: Monumenta Nipponica 35. Jg. (1980), S. 1–19.

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Kap. 3: Europäische und japanische Friedenslehren der Neuzeit im Vergleich

Die neuere europäische japanologische Forschung hat aus diesem Befund den Schluss gezogen, dass die Entstehung von Wort und Begriff des „Abgeschlossen“-Seins des Landes in Japan Ergebnis der Rezeption des Werks Kaempfers sei.156 Dieser Schluss ist jedoch, ebenso wie die Behauptung des „Abgeschlossen“-Seins selbst, wiederum in den Bereich der wissenschaftlichen Mythologie zu verweisen. Weder missverstand Kaempfer die japanische Politik des Nicht-Handelns noch missverstanden Kaempfers japanische Übersetzer seine Aussagen. Diese erhielten nur angesichts der von Europa ausgehenden Bedrohungen eine andere Bedeutung. Japan als erkennbar schlecht bewehrtes Land157 erweckte Begehrlichkeit, zumal Kaempfer und seine Rezipienten es als reich beschrieben hatten.158 In dem sich in Europa herausbildenden biologistischen, den Globus als ganzen umspannenden Begriff des internationalen Systems hatte Japan als wie auch immer „abgeschlossenes“ Reich keinen Platz. Die Europäer in Europa und Nordamerika klassifizierten Japan als Staat und forderten dessen „Öffnung“ für den von ihnen kontrollierten Weltmarkt. Aber auch die internen Kritiker des Herrschaftssystems der Krieger begannen, diese Forderung ernst zu 156

Zöllner, Verschlossen (wie Anm. 128), S. 185–209. Dies war das Urteil des russischen Expeditionsteilnehmers Vassilij Mikhailovicˇ Golovnin, der zwischen 1811 und 1813 einige Monate in Hokkaido gefangen gesetzt worden war. Siehe: Golovnin, Japan and the Japanese. Comprising the Narrative of a Captivity in Japan and An Account of British Commercial Intercourse with That Country, 2. Aufl., 2. Bd., London: Colburn 1852, S. 187–192 [zuerst erschienen u. d. T.: Narrative of My Captivity in Japan, London: Colburn 1818 [Nachdruck dieser Ausg., Richmond, Sy: Japan Library 2000; weitere Ausg. u. d. T.: Memoirs of a Captivity in Japan, London: Colburn 1824; Nachdruck dieser Ausg., Hong Kong und Tokyo: Oxford University Press 1973]. So auch noch das Urteil Max von Brandts, des preußisch-deutschen Gesandten in Edo/Tokyo, am Ende der 1860er Jahre. Siehe: Rolf-Harald Wippich, Japan als Kolonie? Max von Brandts Hokkaido¯-Projekt 1865/67, Hamburg: Abera-Verlag Meyer 1997, S. 34–37 (Übersee. 31.). Brandt wiederholte seine Auffassung in seinen Memoiren. Siehe: Max August Scipio von Brandt, Dreiunddreißig Jahre in Ostasien, 2. Bd., Leipzig: Wigand 1901, S. 257 [Nachdruck, hg. von Catharina Blomberg, Richmond, Sy: Japan Library 2000]. 158 Bester Beleg für derlei Begehrlichkeit ist das offizielle Schreiben des US-Präsidenten Millard Fillmore an den „Emperor of Japan“ (womit der Sho¯gun gemeint war). In diesem Brief, der von Daniel Webster, damals Secretary of State, verfasst worden war, gab der US-Präsident seiner Meinung Ausdruck, Japan habe so reichhaltige Bodenschätze, dass es sie allein gar nicht verbrauchen könne und es deswegen möglich sei, den USA einiges davon zu verkaufen. Siehe: The Papers of Daniel Webster, hg. von Kenneth E. Shewmaker und Kenneth R. Stevens, 3. Serie: Diplomatic Papers, 2. Bd., Hanover, NH, und London: Northeastern University Press 1983, S. 289. Siehe dazu: Harald Kleinschmidt, Demands for Free Trade and European Images of Japan up to the End of the 19th Century, in: Europe and Japan, hg. von Harald Kleinschmidt, Charles Covell, Mikiko Iwasaki und Mieko Kaburaki, Stuttgart: Fay 1997, S. 34–82. 157

IV. Die Umsetzung der buddhistischen Handlungstheorie

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nehmen, und formulierten zwei gegensätzliche Positionen, entweder Japan so stark zu bewehren, dass die an die Regierung herangetragene Forderung nach „Öffnung“ überzeugend und langfristig abgewiesen werden konnte; oder aber Japan zu öffnen. Beide Forderungen waren mit der Politik und der Ethik des Nicht-Handelns unvereinbar. Zur entschiedenen „Abschließung“ des Landes wie zu seiner „Öffnung“ bedurfte es ebenso zielorientierten wie koordinierten Handelns. Die japanische Vorstellung, Japan sei ein „abgeschlossenes“ Land oder solle es werden, war also Antwort auf die von Europa und Nordamerika ausgehende Bedrohung, nicht Ergebnis der Rezeption von Ansichten Kaempfers. Vor dem Hintergrund der buddhistischen Handlungstheorie ist die Frage also nicht, ob Japan in der Frühen Neuzeit ein „abgeschlossenes“ Land war oder nicht, sondern mit welchen Mitteln internationale Beziehungen nach den Grundsätzen der Ethik des Nicht-Handelns gestaltet werden konnten. Dabei lassen sich zwei aufeinander folgende Gestaltungsweisen unterscheiden. In der ersten Phase, die von der Mitte des 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts reichte, waren die Krieger bemüht, durch Kontrolle des überseeischen Verkehrs das Potential an inneren und äußeren Konflikten so weit zu reduzieren, dass die Umsetzung der Ethik des Nicht-Handelns politisch wie militärisch möglich und sinnvoll erscheinen konnte. Zwar übten buddhistische Schulen schon seit dem 13. Jahrhundert beträchtlichen Einfluss auf die Kriegerelite aus, bedingten aber nicht sofort auch die Umsetzung der Ethik des Nicht-Handelns in Politik und Krieg. Denn bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts betrieben die Kriegerherrscher eine aktive, bisweilen sogar aggressive Außenpolitik, die auch zu zwei Versuchen militärischer Intervention in Korea führte, wie auch umgekehrt Kriegerherrscher in China mehrfach versuchten, Japan zu erobern. Japanische Schiffsbesatzungen konnten zwischen dem 13. und dem frühen 17. Jahrhundert als „Piraten“ nicht nur die Küsten Koreas und Chinas verheeren, sondern auch bis nach Südostasien und in die Philippinen vordringen und durch ihr Tun militärischen Widerstand der Herrschaftsträger in den betroffenen Küstenstrichen sowie küstennahen Gegenden provozieren. Die Regierung in Edo war sich des Umstands bewusst, dass sie zwar die politischen, wirtschaftlichen, möglicherweise auch militärischen Konsequenzen rechtswidrigen Handelns ihrer Untertanen in Übersee würde tragen müssen, gleichzeitig aber mit eigenen Maßnahmen zur Verhinderung solchen Handelns nur dann würde Erfolg haben können, wenn sie die Abreise ihrer Untertanen in das offene Meer unterband. Sie würde nur dann in Zukunft Frieden gewährleisten können, wenn sie das Nicht-Handeln den Kriegern als Pflicht vorgab. Der Einsatz der buddhistischen Ethik des Nicht-Handelns als Mittel der Friedenspolitik stellte demnach im 17. und 18. Jahrhundert einen bewussten, vorsätzlichen Entschluss dar, der wohl auch durch die Hinwendung zu

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Kap. 3: Europäische und japanische Friedenslehren der Neuzeit im Vergleich

ähnlichen ontologischen Annahmen und ethischen Grundsätzen des Konfuzianismus befördert wurde. Der Einsatz dieser Ethik konnte erfolgreich erscheinen, solange die Nachbarn und andere zeitweise Interaktionspartner diesen Entschluss respektierten.159 Das konnten auch Herrscher und Regierungen in Europa tun, da sie die internationalen Systeme wie Maschinen dachten, die nebeneinander bestanden und nur kontingentiell, nicht aber essentiell miteinander vernetzt waren. Auf die zweite Gestaltungsweise mussten die Krieger zurückgreifen, als um 1800 klar wurde, dass Europäer in Europa und Nordamerika es an diesem Respekt mangeln ließen. Sie gaben die Ethik des Nicht-Handelns als Grundlage der Gestaltung der internationalen Beziehungen preis und versuchten, mit bürokratischen Mitteln den Zugang zum Land zu verhindern. Zur „Abschließung“ des Lands in der Form der Befestigung der gesamten Küste kam es jedoch auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht. Die Krieger verzichteten auch dann noch auf gründliche Bewehrung der Außengrenzen keineswegs aus Mangel an Kenntnis der Befestigungstechnik, sondern weil sie sich nach innen weiterhin an die Ethik des Nicht-Handelns gebunden fühlten. Sie verzichteten damit zugleich darauf, wirksame Vorkehrungen zu treffen gegen die bevorstehende und als Gefahr wahrgenommene Zwangsintegration Japans in das von Europäern konzipierte globale internationale System.

V. Schluss: Die Bedeutung frühneuzeitlicher europäischer und ostasiatischer Friedenslehren für die Gegenwart Ich schließe mit einer kurzen Antwort auf die Frage, was uns die frühneuzeitlichen Friedenslehren heute zu sagen haben. Die europäischen Friedenslehren dieses Zeitraums basierten auf der Erwartung, dass vorsätzliches Handeln mit dem Ziel der Bewahrung der Stabilität der Bewahrung oder Wiederherstellung des Friedens dienen könne und endlich zum ewigen Frieden führen werde. In einer Welt, die als gottgewollte Ordnung und wie eine Maschine konstruiert erschien, galt Stabilität als Wert an sich. Am Ende des 18. Jahrhunderts jedoch war das Maschinenmodell längst zum Gespött derjenigen Intellektuellen geworden, die die Französische Revolution wohlwollend beobachteten. Diese Intellektuellen waren die ersten und lautstärksten Befürworter eines neuen Modells zur Beschreibung der Welt, das sie 159

Siehe oben, Anm. 108, und vgl.: Klaus Kracht, Studien zur Geschichte des Denkens im Japan des 17. bis 19. Jahrhunderts. Chu-Shi-konfuzianische Geist-Diskurse, Wiesbaden: Harrassowitz 1986 (Veröffentlichungen des Ostasien-Instituts der Ruhr-Universität Bochum. 31.). Zu außenpolitischen Strategien im China der MingZeit siehe Bibliografie Nr. 83.

V. Schluss

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vom lebenden Körper abstrahierten. Der Abschied von der Programmatik des ewigen Friedens destabilisierte das internationale System und erhöhte das Unsicherheitsbewusstein nicht nur der einzelnen, sondern auch der Herrschaft tragenden Eliten. In der Sicht dieses Biologismus schienen auch die Institutionen des Staates sowie das internationale System als Organe eines Körpers und den Gesetzen des Lebens und Sterbens unterworfen. Anstatt ihr Interesse auf die Möglichkeit eines, wenn nicht ewigen, so doch dauerhaften Friedens zu werfen, erwarteten Theoretiker des Kriegs und der internationalen Beziehungen sowie auch praktische politische Entscheidungsträger den nächsten Krieg. Dieser Biologismus hat nicht nur während des 19. Jahrhunderts, sondern bis in die 1980er Jahre die Theorie der internationalen Beziehungen und mit ihr die Friedenslehren bestimmt. Im Rahmen des globalen, nach den Vorgaben des Biologismus perzipierten internationalen Systems wurde Frieden nicht als Zustand, sondern als dynamischer, über die Kriegsvermeidung hinausgehender Prozess der internationalen Beziehungen aufgefasst und blieb nur in Kombination von rechtsstaatlichen innenpolitischen Ordnungs- und Verfahrensweisen und der Institutionalisierung globaler internationaler Organisationen denkbar. Die Sicherheitsinteressen der Einzelnen blieben dabei unberücksichtigt. Angesichts dieser Strukturveränderungen der internationalen Beziehungen und der aus ihnen folgenden globalen Interdependenzen gibt es keinen Weg zurück in die scheinbare Idylle der mechanistischen Friedenslehren. Die Metaphorik des Lebens und die mit ihr einhergehende Perzeption von Dynamik sind seit Beginn des 19. Jahrhunderts so tief in die europäische, ja „westliche“, politische Theorie und Verwaltungspraxis eingedrungen, dass jeder Versuch lächerlich wäre, Frieden als gleichsam fossilen Stabilitätszustand in einer aus begrenzten Räumen aggregierten Welt auszugeben und zu fordern, Energien auf die Bewahrung von Stabilität und die Gewährung von Sicherheit, nicht aber die Beschleunigung von Veränderungen zu verwenden. Spätestens seit der erzkonservative Berner Patrizier Carl Ludwig von Haller den Staat als ein Lebewesen auffasste und einen langen Frieden als „das schleichende Gift der Staaten“ bestimmte, trat in den europäischen Friedenslehren das Bewusstsein der Notwendigkeit von Unsicherheit und Wandel an die Stelle des Vertrauens in die gottgewollte Stabilität der Welt. Seither haben europäische Theoretiker selbst das Maschinenmodell zu Grabe getragen und es ersetzt durch den Glauben und die Forderung, Frieden könne und müsse weltweit durch systemveränderndes, auch Unsicherheit erzeugendes menschliches Handeln erzwungen werden.160 160 Haller, Restauration (wie Anm. 81), S. 110: „Glückliche Kriege schaffen und erhalten zwar die Staaten, sie bewirken am Ende was man gesucht hat, einen soliden ungestörten Frieden. Aber gerade dieser vollkommene, durch lauter Kriege errungene, und lange Zeit hindurch genossene, ungestörte Friede ist hinwieder, wie

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Kap. 3: Europäische und japanische Friedenslehren der Neuzeit im Vergleich

Die an Chozan Issais Katzenfabel anknüpfenden Friedenslehren stehen hingegen weiterhin zur Verfügung. Denn die buddhistische Ethik des NichtHandelns überwand sich nicht aus sich selbst heraus, sondern wurde von außen unterdrückt. Sie konnte im 17. und 18. Jahrhundert angewandt werden als Grundlage der Gestaltung der internationalen Beziehungen, da sie andernorts in der Welt entweder respektiert oder die Welt im Sinn des Maschinenmodells als Aggregat politisch begrenzter, nicht integrierter Räume bestimmt wurde. Die Zeitgleichheit des Katzen- und des Maschinenmodells war kontingentiell, folgte also nicht aus irgendeinem vorsätzlichen Handeln. Aber die Kontingentialität der beiden Modelle spricht nicht von vornherein gegen die These, dass die buddhistische Ethik des Nicht-Handelns als Grundlage der Friedenslehren auch unter den Bedingungen eines globalen, biologistisch perzipierten internationalen Systems anwendbar ist. Voraussetzung dafür ist lediglich, dass wir uns der Tatsache bewusst bleiben, dass es kulturspezifische Handlungstheorien gibt und dass Max Weber eine nur für den Okzident gültige Orthodoxie schuf, derzufolge rationales Handeln stets zielorientiertes Handeln sein müsse.

der Stillstand des Wachsens im menschlichen Leben, das wahre schleichende Gift der Staaten, welches am Ende nothwendig und unvermeidlich ihren Untergang herbey führt. Nicht daß ein solcher Friede nicht zu wünschen sey; er ist vielmehr die Epoche des höchsten Glücks, der lezte Zweck aller Kriege; denn wozu soll man am Ende kämpfen, wenn man keine Feinde mehr hat. Allein gleich wie der höchste Gipfel des Glücks allemal der Anfang der Verfalls ist, so befördert auch eine solch’ lange ununterbrochene Ruhe nicht mehr Tugenden oder Kraft-Äußerungen, sondern leitet den Geist des Menschen nur auf den Genuß und erhebt die sinnlichen Güter zu einem Gözen, über welchem man nichts höheres, nichts heiliges mehr erkennt.“ Embser, Abgötterei (wie Anm. 81). Zur Forderung nach systemveränderndem menschlichen Handeln für den Frieden siehe neuerdings wieder: Michael W. Doyle und Nicholas Sambanis, Making War and Building Peace. United Nations Peace Operations, Princeton und Oxford: Princeton University Press 2006, S. 6–10.

Kapitel 4

Völkerrecht, Freihandel und Kolonialismus. Ungleiche Verträge, europäische Expansion und Staatensukzession im 19. und frühen 20. Jahrhundert Die Konzeptionalisierung und Umsetzung einer globalen Friedenspolitik setzt nach dem Verständnis des 21. Jahrhunderts die Wahrnehmung eines internationalen Systems voraus, das die Welt umspannt. Nach dieser Wahrnehmung ist Friede unteilbar, muss gewollt sein und gesetzt werden. Wenn es einen Akteur geben muss, der den Frieden will und setzt, wer kann dieser Akteur sein? Auf der Basis welcher Grundsätze soll der Frieden errichtet werden? Das Postulat, dass Frieden unteilbar sei, mag vernünftig sein. Aber es führt zu der Frage nach der kulturellen Herkunft derjenigen Grundsätze, nach denen der Friede errichtet werden soll. Folglich kann dieses Postulat nicht für alle Zeiten als selbstverständlich anerkannt werden. Es hat sich im Gegenteil erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt. Dieser Vorgang war eng gebunden an die von europäischen Regierungen und der Regierung der USA seither mit zunehmender Entschlossenheit betriebenen Ausweitung des europäischen internationalen Systems bis an die Grenzen des Globus. Die amerikanische und einige europäischen Regierungen verfolgten dabei zwei Strategien. Zum einen verlautbarten sie die Forderung, die europäischen Grundsätze des Freihandels sowie die Regeln des europäischen internationalen öffentlichen Rechts, insbesondere des Rechts zwischenstaatlicher Verträge, sollten überall in der Welt zur Geltung gebracht werden. Die zweite Strategie war die Ausdehnung ihrer kolonialen Herrschaft. Die gemeinsame Folge beider Strategien war die Steigerung des Unsicherheitsbewusstseins außerhalb Europas und Nordamerikas. Die Verbindung von Friedenspolitik und Friedensschließen mit dem Oktroi von Regeln des Freihandels und von Normen des internationalen öffentlichen Rechts und des Völkerrechts mag als Widerspruch erscheinen. Wenn Kants Behauptung zutrifft, dass Frieden nicht erzwungen werden kann, sondern gewollt sein muss,1 dann muss jeder Versuch des Einsatzes 1 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt [1795], hg. von Wilhelm Weischedel, in: Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Frankfurt: Suhrkamp 1964, S. 203 (Kant, Werke in zwölf Bänden. 11.).

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Kap. 4: Völkerrecht, Freihandel und Kolonialismus

von militärischer Macht oder diplomatischem Druck zum Zweck der Erzwingung von Frieden kontraproduktiv sein. Gleichwohl haben in den etwas mehr als 200 Jahren, die seit der Veröffentlichung von Kants Friedenstraktat vergangen sind, verschiedene Versuche stattgefunden, Frieden mit dem Einsatz von Gewalt zu erzwingen. Nicht allein sind aus dem späten 20. Jahrhundert mehrere internationale militärische Interventionen bezeugt, die unter der Bezeichnung „Peace Enforcement Operations“ standen,2 sondern schon die aus der Mitte des 19. Jahrhunderts belegten Versuche zur Durchsetzung von Freihandelsregeln und Normen des internationalen öffentlichen Rechts belegen in Europa und Nordamerika die Absicht, Frieden erforderlichenfalls mit Gewalt herstellen zu wollen. Insbesondere gegenüber Ostasien traten die amerikanische und einige europäische Regierungen mit dem durch Einsatz militärischer Kräfte bewehrten Anspruch auf, Frieden schließen zu wollen, auch und gerade gegenüber Regierungen, mit denen sie zuvor gar nicht im Kriegszustand gewesen waren. In anderen Teilen der Welt, insbesondere in Afrika, fand das europäische Recht zwischenstaatlicher Verträge sogar Anwendung im Zusammenhang mit Vorgängen, an deren Ende die Zerstörung bestehender Staaten stand. In dem folgenden Kapitel möchte ich denjenigen historischen Kontext beschreiben, in dem diese speziellen Formen des Vertragsschließens zustande kamen und bestehen blieben. Auch möchte ich diejenigen moralischen und politischen Auswirkungen untersuchen, die die Verwendung des Formulars der Friedensverträge auf die Akzeptanz von Freihandelsregeln und Normen des internationalen öffentlichen Rechts außerhalb Europas und Nordamerikas bis heute hatten. Ein weiteres inhaltliches Element einiger Friedensverträge, die Garantie der Freiheit der Religionsausübung und der Missionierung, insbesondere der Tätigkeiten katholischer und protestantischer Missionare, soll in der Untersuchung nur gestreift werden. Zwar ist während des ganzen 19. Jahrhunderts das Bestreben europäischer Regierungen gut dokumentiert, diese religionspolitischen Ziele in ihrer jeweiligen Außenpolitik zumal gegenüber dem Osmanischen Reich, Staaten in Südost- und Ostasien sowie in Afrika zu verfolgen. Aber europäische Regierungen, insbesondere die britische und die preußisch-deutsche, reagierten damit in erster Linie auf Forderungen bestimmter Kirchenorganisationen wie etwa protestantischen Missionsvereinen, nicht aber auf breites öffentliches Interesse. Zudem blieb außerhalb Afrikas und des Südpazifiks die Wirkung der europäischen Mission in der Regel gering. 2

Siehe dazu: Gary Domke und Jenny Solon, Handbook 93–8. Operations Other Than War, 4. Bd.: Peace Operations, Fort Leavenworth, KS: Center for Army Lessons Learned 1993. Zur Diskussion siehe: Thomas M. Menk, Gewalt für den Frieden. Die Idee der kollektiven Sicherheit und die Pathognomie des Krieges im 20. Jahrhundert, Berlin: Duncker & Humblot 1992.

I. Einleitung: Freihandel, Völkerrecht, Kolonialismus

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I. Einleitung: Freihandel, Völkerrecht, Kolonialismus und Staatensukzession Gut klingt die Forderung nach freiem Handel. Er sei die Basis selbstbestimmten wirtschaftlichen Agierens und bringe daher die Wirtschaft in Schwung, heißt es in den globalen Zentren des Welthandels.3 Aber wieso gibt es zunehmend mehr Gegner des Freihandels? Die Antwort der Kritiker der internationalen Wirtschaftsordnung lautet: weil auch der Freihandel Regeln zu folgen hat, die die Regierungen von Staaten in ihrem eigenen, auch militärischen Interesse manipulieren können. Diese Regeln werden gesetzt als Normen des internationalen öffentlichen Rechts und Völkerrechts. Auch Völkerrecht und internationales öffentliches Recht haben einen guten Namen. Sie gelten als neutral, jedenfalls im Westen. Warum aber ist es seit mehr als einhundertundfünfzig Jahren schwierig, Völkerrecht und internationalem öffentlichen Recht Geltung zu verschaffen? Woher begründet sich der Widerstand gegen sie? Die Antwort der Kritiker der internationalen Politik lautet: weil Völkerrecht und internationales öffentliches Recht ein System von Normen sind, das nicht von Staatsinteressen und militärischen Strategien abzutrennen ist, sondern nur in europäischer Eigenperspektive neutral und ideologiefern erscheint. Die Regeln des Freihandels und die Normen des internationalen öffentlichen und des Völkerrechts sind europäischen Ursprungs und verbreiteten sich weder von selbst, gleichsam wie ein von unsichtbarer Hand gesteuerter Prozess, noch allein durch amorphe soziale Kräfte.4 Seit mehr als einhundertundfünfzig Jahren stehen diese Regeln hingegen im Zentrum von Debatten um Gerechtigkeit des Handelns 3

So beispielsweise: Richard Cobden, Political Writings, 2 Bde., Nachdruck, London: Routledge/Thoemmes Press 1995 [zuerst, London: Ridgway 1867, insbes. S. 269; weitere Ausg., London: Cassell 1886; London: Fisher Unwin 1903; Nachdruck dieser Ausg., New York: Kraus 1969; auch hg. von Naomi Churgin Miller, New York: Garland 1973]. Cobden, Speeches on Free Trade, London: Macmillan 1903. Commercial Treaties. Free Trade and Internationalism. Four Letters by a Disciple of Richard Cobden, London: Macmillan; Manchester: Alexander Ireland and Co. 1870. Reginald Earle Welby und Louis Mallett, Cobden’s Work and Opinions, London: Cobden Club 1904, S. 18. 4 Das war die Hegemoniethese von Antonio Gramsci, Selections from the Prison Notebooks, hg. von Quintin Hoare und Geoffrey Nowell-Smith, London: Lawrence & Wishart; New York: International Publisher 1971, S. 116, 117, 176, 181–182, 261, 264. Neuerdings mit stärkerer Betonung auf die internationalen Beziehungen wiederholt von: Robert Cox, Gramsci, Hegemony and International Relations, in: Millennium 12. Jg. (1983), S. 162–175 [wieder abgedruckt in: Gramsci, Historical Materialism and International Relations, hg. von Stephen Gill, Cambridge: Cambridge University Press 1993, S. 49–66; auch in: Cox, Approaches to World Order, Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 124–143; Nachdruck dieser Ausg., ebenda 1999].

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Kap. 4: Völkerrecht, Freihandel und Kolonialismus

von Regierungen in den Beziehungen zwischen Staaten. Dieses Kapitel erschließt die Ursprünge der Kritik an Freihandel sowie an internationalem und Völkerrecht während des europäischen Kolonialismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der den Begriff des europäischen Staatensystems zu dem des Weltstaatensystems aufblies. Kolonialismus, politische und militärische Bedrohung sowie Krieg waren untrennbar verbunden mit der globalen Expansion des europäischen Welthandelsmarkts und des europäischen internationalen öffentlichen und Völkerrechts. Die Geschichte der Globalisierung von Freihandel sowie internationalem öffentlichen und Völkerrecht war verzahnt mit dem Kolonialismus, der eine kriegerische Erblast schuf, welche nicht vergehen kann. Diese Erblast hat nicht nur die von der amerikanischen und einigen europäischen Regierungen ausgehende Friedenspolitik nachhaltig beeinflusst, sondern auch das Nachdenken über die Ambivalenz des Verhältnisses von Staat und Krieg. Vor mehr dreißig Jahren wartete der amerikanische Soziologe Charles Tilly mit der damals ketzerischen, aber keineswegs der Sache nach neuen,5 am Gedankengut des klassischen Realismus orientierten These auf, dass zwischen Staatsentstehung und Kriegführung eine reziproke Kausalbeziehung bestehe, dass also „Kriege Staaten machen und Staaten Kriege machen“; mithin die souveränen Staaten Europas durch Akte „organisierten Verbrechens“ und durch Ausübung militärischer Gewalt entstanden seien. In ideologiekritischer Absicht und mit kräftigen Seitenhieben auf seine Sicht der Hegelschen Staatstheorie zog Tilly alle ihm verfügbaren Register sozialwissenschaftlicher Methode, um dem Glauben an die „Sittlichkeit“ des Staates den Garaus zu machen. Zunächst erfasste er nur Prozesse der Staatsentstehung seit dem 17. Jahrhundert. Dabei folgte er selbst damals dem in den Sozialwissenschaften verbreiteten Glauben, die Westfälischen Verträge hätten den systemischen Rahmen für die Institutionalisierung souveräner Staaten als hauptsächlicher „Akteure“ in den internationalen Beziehungen festgezurrt.6 Seither seien in Europa souveräne Staaten nicht nur in der Folge des Dreißigjährigen Kriegs, sondern schlechthin durch Anwendung militärischer Gewalt entstanden. Die Stabilität des so genannten 5 Insbesondere schon: Carl Schmitt, Der Nomos der Erde, Köln: Greven 1950, S. 3–67 [Nachdrucke, Berlin: Duncker & Humblot 1974; 1988; 1998]. Schmitt, Nomos – Nahme – Name, in: Der beständige Aufbruch. Festschrift für Erich Przywara, hg. von Siegfried Behn, Nürnberg: Glock und Lutz 1959, S. 92–105 [wieder abgedruckt in: Schmitt, Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969, hg. von Günter Maschke, Berlin: Duncker & Humblot 1995, S. 573–591]. 6 Zur Kritik an dieser Doktrin siehe: Andreas Osiander, The States System of Europe. 1640–1990, Oxford: Clarendon Press 1994. Osiander, Sovereignty, International Relations and the Westphalian Myth, in: International Organization 55. Jg. (2001), S. 251–287. Sowie schon: Walther Kienast, Die Anfänge des europäischen Staatensystems, in: Historische Zeitschrift 153. Bd. (1936), S. 229–271.

I. Einleitung: Freihandel, Völkerrecht, Kolonialismus

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„Westfälischen Staatensystems“ sei mit Krieg, das heißt Unsicherheit, erkauft worden.7 In den 1990er Jahren dehnte Tilly seine These rückwärtig in die europäische Vergangenheit bis ins 10. Jahrhundert aus und bezog wirtschaftsgeschichtliche Daten ein. Er legte eine beschreibende Übersicht über Prozesse vor, von denen er vorgab, sie hätten zur Entstehung von Staaten durch Verquickung von wirtschaftlichem und politisch-administrativem Zwang geführt. Dazu seien, seiner Darstellung zufolge, die Zusammenballung furchterregender militärischer Machtmittel und die Kontrolle über kapitalistische Produktions- und Distributionsverfahren8 seit dem 15. Jahrhundert die wichtigsten Mittel gewesen.9 Zu gleicher Zeit erweiterte der amerikanische Politikwissenschaftler Robert H. Jackson den geografischen Horizont von Tillys These in ihrer ursprünglichen Fassung und wandte sie 7 Charles Tilly, Reflections on the History of European State-Making, in: The Formation of National States in Western Europe, hg. von Charles Tilly, Princeton: Princeton University Press 1975, S. 42. Tilly, War Making and State Making as Organized Crime, in: Bringing the State Back In, hg. von Peter B. Evans, Dieter Rueschemeyer und Theda Skocpol, Cambridge: Cambridge University Press 1985, S. 169–191 [Nachdruck, ebenda 1999; wieder abgedruckt in: The State, hg. von John A. Hall, 1. Bd., London und New York: Routledge 1994, S. 508–529]. Als Belege zur Verbreitung dieser Vorstellung als geglaubte Tatsache in den Sozialwissenschaften siehe beispielsweise: Richard Bean, War and the Birth of the British Nation-State, in: Journal of Economic History 33. Jg. (1973), S. 203–222. Anthony Giddens, The Nation State and Violence, Cambridge: Polity Press 1985. Jürgen Habermas, Der europäische Nationalstaat – Zu Vergangenheit und Zukunft von Souveränität und Staatsbürgerschaft, in: Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt: Suhrkamp 1996, S. 128 [zuerst in: Ratio Juris 9. Jg. (Juni 1996)]. Fred Halliday, The Middle East in International Relations, Cambridge: Cambridge University Press 2005, S. 36. Janice E. Thomson, Mercenaries, Pirates and Sovereigns. State-Building and Exterritorial Violence in Early Modern Europe, Princeton: Princeton University Press 1994. Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg als moderner Staatsbildungskrieg, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 45. Jg. (1994), S. 487–499, argumentiert ebenso, jedoch nicht unter Verweis auf die Studien Tillys. Eine Variante dieses Gedankens bot Aristide Zolberg, The Formation of New States as a Refugee Generating Problem, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science 467. Bd. (1983), S. 24–38 [wieder abgedruckt in: Refugees and World Politics, hg. von Elizabeth Ferris, New York: Praeger 1985, S. 33–45], der die Wirkung von Staatsbildung auf Zwangsemigration untersuchte. 8 Auf die Bedeutung wirtschaftlicher Machtmittel, insbesondere der wirksamen Kontrolle öffentlicher Einkünfte als Voraussetzung für die Reduktion von Transaktionskosten und der Beschleunigung von Staatsentstehung hatte bereits zuvor Margaret Levi in einer ausführlichen, auf das Mittelalter bezogenen Studie hingewiesen. Siehe: Margaret Levi, Of Rule and Revenue, Berkeley, Los Angeles und London: University of California Press 1988. 9 Charles Tilly, Coercion, Capital, and European States, AD 990–1990, Cambridge, MA und Oxford: Blackwell 1992, insbes. S. 68–69, 76–77.

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Kap. 4: Völkerrecht, Freihandel und Kolonialismus

an auf die postkolonialen Staaten Afrikas. Jackson diagnostizierte bei diesen Staaten ein Legitimitätsdefizit, das als Folge des europäischen Kolonialismus entstanden sei. Jackson zufolge hätten die europäischen Kolonialmächte das „Westfälische Staatensystem“ mit dem ihm inhärenten Staatsbegriff in Afrika oktroyiert und folglich die europäische Methode der Staatsentstehung in Afrika zur Anwendung gebracht. Während in Europa jedoch Staaten durch Kriege im Zusammenhang mit Friedensverträgen, Verhandlungen und Vermittlungen und anderen Elementen der internationalen Beziehungen durch Jahrhunderte hindurch entstanden seien, hätten die europäischen Kolonialregierungen in Afrika dieselben gewaltsamen Staatsentstehungsprozesse auf wenige Jahre zusammengedrängt. Auch in Afrika habe sich jedenfalls die Vorstellung durchgesetzt, Staaten seien mit Hilfe militärischer Gewalt zu errichten und zu erhalten, zunächst in der Form von antikolonialen Befreiungskriegen, sodann durch Militärputsche, Bürgerkriege, separatistische Bewegungen sowie zwischenstaatliche Kriege. Gegenüber Tilly kam Jackson zu dem Schluss, dass Staatsentstehung durch militärische Gewalt Unfreiheit, die institutionelle Schwäche der bestehenden postkolonialen Staaten Afrikas und die Instabilität des afrikanischen Staatensystems bedinge. Mangelnde Freiheit bilde eine Barriere gegen Unabhängigkeit. Die Staaten dieses Systems seien schwach, da sie nur der Befriedigung des Herrschaftswillens postkolonialer Eliten dienten, die sich die Staaten wie ihren Privatbesitz anzueignen gedächten. Die Folge sei die Ausbreitung von Unsicherheit durch staatlich verordneter Gewalt nach innen und militärische Konflikte nach außen.10 Beiden Theorien zugrunde liegt ein Staatsbegriff, der erst im 19. Jahrhundert in Europa entstand und von den Sozialwissenschaften seither unbesehen auf die Frühe Neuzeit Europas sowie Staaten anderswo in der Welt projiziert wird. Nach diesem Begriff sind Staaten Anstalten, die das Monopol zur Anwendung legitimer Gewalt über eine homogene Bevölkerung auf einheitlichem Gebiet unter nur einer Regierung besitzen.11 Wird diese Einheitentrias nicht oder nicht zur Zufriedenheit der Theoretiker erreicht, gelten die so beschriebenen Staaten als „schwach“ oder sie werden unter Vorenthaltung der Bezeichnung Staat als Politien abqualifiziert. Dabei machten sowohl Jackson als auch Tilly viel Aufhebens um territoriale Aspekte der Staatsentstehung, insbesondere die Errichtung, Verteidigung und Verschiebung der Staatsgrenzen durch Anwendung militärischer Gewalt. Sie berücksichtigten jedoch nicht, dass nach der europäischen Auffassung von Staatsrecht im Zeitraum zwischen dem 16. und dem Ende des 10

Zur Theorie der „schwachen Staaten“ siehe Bibliografie Nr. 84. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 7. Nachdruck der 3. Aufl. von 1913, Bad Homburg: Gentner 1960, S. 394–434 [zuerst, Berlin: Häring 1900]. Zu Jellinek siehe Bibliografie Nr. 2. 11

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18. Jahrhunderts der Begriff der Staatsentstehung als Prozess der Ersetzung bestehender Staaten durch andere ein Widerspruch in sich selbst gewesen war, da Staaten entweder als Bestandteile der gottgewollten Weltordnung galten oder ihre Entstehung in der fernen Vergangenheit auf Wirkungen menschlichen Vertragshandelns, also nicht auf Wirkungen von Krieg, zurückgeführt wurden. Dementsprechend bestand die Rechtsfigur der Unabhängigkeit von Staaten erst seit 1776 und dann auch nicht in Europa selbst, sondern zunächst nur in Nordamerika. Von der politisch-juristischen Begrifflichkeit her gesehen war die vorsätzliche Herbeiführung von Staatsentstehung durch Anwendung militärischer Gewalt also vor Beginn des 19. Jahrhunderts nicht denkbar.12 Folglich wurden im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts Kriege üblicherweise nicht um die Änderungen der Grenzen von Staaten oder gar die Errichtung neuer Staaten, sondern um Erbfolgerechte, das heißt Herrschaftstitel in bestehenden Staaten, geführt.13 Hinzukommt, dass bereits seit dem 19. Jahrhundert den politisch-militärischen Bestrebungen nach Markierung und Befestigung von Grenzen Bemühungen um Globalisierung und Entgrenzung der Staatenwelt entgegenstanden, die sich manifestierten in der Etablierung multilateraler Institutionen,14 der Durchführung internationaler Kongresse zur Implementierung völkerrechtlicher Beschlüsse15 und in Programmen für regionale Integration.16 Der von Tilly und Jackson ihren Thesen zugrundegelegte Staatsbegriff war also selbst im 19. und frühen 20. Jahrhundert keineswegs der allein herrschende, sondern konkurrierte mit mehr oder wenig radikal formulierten Gegenbegriffen. Indem Tilly und Jackson den Prozess der Staatsentstehung nur aus der Innenperspektive der entstehenden Staaten betrachteten, übersahen sie die 12 Selbst in den Programmschriften und Rechtstexten, die die Forderungen der Anführer der niederländischen Revolte zwischen 1576 und 1581 zum Ausdruck brachten, fehlt der Begriff der Staatsentstehung. Siehe: Texts Concerning the Revolt of the Netherlands, hg. von Ernst Heinrich Kossman[n] und Albert Fredrik Mellink, Cambridge: Cambridge University Press 1974, S. 126–135, 165–173, 211–228; und Bibliografie Nr. 47. 13 Siehe dazu: Jörg Fisch, Krieg und Frieden im Friedensvertrag, Stuttgart: KlettCotta, 1979, S. 451 (Sprache und Geschichte. 3.). 14 Siehe dazu Bibliografie Nr. 56. 15 Siehe dazu: Konrad Bünzli, Der Beitrag der Schweiz zum Zustandekommen universeller Kodifikationen des Völkerrechts, Zürich: Konrad 1984 (Schweizer Studien zum internationalen Recht. 37.). Madeleine Herren, Hintertüren zur Macht. Internationalismus und modernisierungsorientierte Außenpolitik in Belgien, der Schweiz und den USA. 1865–1914, München: Oldenbourg 2000 (Studien zur internationalen Geschichte. 9.). 16 Siehe: Option Europa. Deutsche, polnische und ungarische Europapläne des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von Heinz Duchhardt, 3. Bde., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005.

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Einflüsse, die Völkerrecht, Handel und internationale Politik als überstaatliche Faktoren auf die Genese und den Wandel von Staaten ausgeübt haben. Tilly und Jackson verengten überdies ihre an sich lohnende Betrachtung der Wandlungen des Verhältnisses von Recht und Gewalt in der internationalen Politik auf diejenigen Vorgänge, die im Licht der europäischen Staatengeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als Staatsentstehungsprozesse definierbar waren. Sie fielen also einer europazentrischen Perspektive zum Opfer, die sie mit minimalem Aufwand durch Blick in diejenigen völkerrechtlichen Vertragswerke hätten vermeiden können, die in dieser Zeit die Rechtsgrundlage der europäischen Expansion im Zeichen von Kolonialismus und Imperialismus abgaben. Denn diese zu Hunderten vorliegenden Verträge belegen, dass die Zerstörung lokaler Staaten und Politien insbesondere in Afrika, aber auch in West-, Süd- und Südostasien sowie Ozeanien durch Regierungen des Vereinigten Königreichs, Frankreichs, des Deutschen Reichs, der Niederlande, Belgiens, Spaniens, Portugals und der USA durch vorsätzlichen und gewaltsamen Bruch dieser bereits ungleichen Verträge seitens der europäischen Kolonialmächte zustande kam und auf dieser Seite als kompatibel verstanden wurde mit der Durchsetzung völkerrechtlicher Normen des internationalen Handels und Verkehrs sowie der Verrechtung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Die Verbindung von Staatsentstehung und Staatszerstörung als Faktoren der Unsicherheit im Kontext von Völkerrecht und internationaler Politik konnte aber in verschiedenen Verfahren stattfinden. Als Historiker möchte ich diesen Unterschieden in der Weise nachgehen, dass ich Beobachtungen zu Wandlungen von Rechtsnormen mit Beschreibungen von Wandlungen des politischen Handelns in Prozessen von Staatsentstehung und Staatszerstörung kontextualisiere. Es handelt sich um eine genuin historische Fragestellung in dem Sinn, dass Staatsentstehung ausschließlich mit den Mitteln der Staatstheorie nicht begreifbar ist. Jedenfalls ist dies die Auffassung, die in der deutschen Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts seit Carl Friedrich von Gerber vorherrschte17 und bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts nachwirkte.18 Die Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts ging von der Voraussetzung aus, dass der Begriff des Staates nur vom Staatswillen her definierbar und demnach Staatsentstehung, also der Vorgang der Staatswillensbildung, sozialen Charakters und folglich mit Rechtsbegriffen nicht fassbar sei. Nach dieser Lehre setzte jede Form von Staatsrecht den Staat als Institution voraus, weswegen Juristen die Staatsentstehung als kontingente Prozesse den Bereichen von Geschichtswissenschaft und Philosophie zuwiesen.19 Gleichwohl 17 Carl Friedrich Wilhelm von Gerber, Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 2. Aufl., Leipzig: Tauchnitz 1869, S. 1–3, 16–17 [zuerst, ebenda 1865; 3. Aufl., ebenda 1880; Nachdruck der 3. Aufl., Aalen: Scientia 1969]. 18 Heinrich Triepel, Staatsrecht und Politik, Berlin: de Gruyter 1927, insbes. S. 9.

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konnte die Staatsrechtslehre die Verfahren bestimmen, unter denen Staaten – in jedweder Definition – entstehen konnten, und postulierte lediglich zwei solcher Verfahren, entweder die Neugründung von Staaten ab ovo auf terrae nullius, oder Staatenverbindung und Staatensukzession.20 Man nahm an, das Verfahren der Neugründung setze als Bedingung voraus, dass es auf der bewohnbaren Erdoberfläche Gegenden gebe, in denen niemand lebe oder die Bewohner nicht in Staaten, sondern anderen Arten von Politien organisiert seien. Problematisch wurde diese Annahme angesichts des Umstands, dass es für Staatengründungen ab ovo weltweit keinen empirischen oder schriftlich überlieferten Beleg gibt.21 Staatensukzession konnte in praxi also nur dann eintreten, wenn Staatsentstehung als Neustrukturierung früherer Staaten oder Politien definiert wurde. Staatsentstehung setzte demnach Staatszerstörung voraus. Einen einzigen Ausweg schien die völkerrechtliche Theorie seit dem 16. Jahrhundert zu bieten. Es war die Lehre von dem so genannten „herrenlosen Land“. Diese wohl zuerst durch Francisco de Vitoria vertretene und durch Hugo Grotius wie auch Emerich de Vattel wiederholte Lehre ruhte auf der Voraussetzung, dass jedes Land überall auf der Erdoberfläche der Besiedlung durch Menschen von überall her offen sei. Da es kein irgendwie ableitbares Vorrecht auf Benutzung von Land gebe, könne Land nur im Eigentum seiner tatsächlichen Nutzer stehen. Eigentum 19 So schon im 18. Jahrhundert. Siehe: Veit Ludwig von Seckendorff, Teutscher Fürsten-Staat, 1. Theil, Kap. 1, § 2, neueste Aufl., Jena: Meyer 1737, S. 6–7 [zuerst, Frankfurt: Götze 1656; Nachdrucke, Aalen: Scientia 1972; Glashütten: Auvermann 1976]. 20 Georg Jellinek, Zur Lehre von den Staatenverbindungen, Wien: Hölder 1882. Siegfried Brie, Zur Lehre von den Staatenverbindungen, in: Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart 11. Jg. (1884), S. 85–159. Brie, Theorie der Staatenverbindungen. Festschrift zur Fünfhundertjährigen Jubelfeier der Universität Heidelberg im Namen und Auftrage der Universität Breslau, Stuttgart: Enke 1886. Josef Laurenz Kunz, Die Staatenverbindungen, Berlin, Stuttgart und Leipzig: Kohlhammer 1929 (Handbuch des Völkerrechts. Abteilung 4, Bd. 2.). Unter dem Begriff der Staatensukzession hat die Völkerrechtslehre zwei Vorgänge zusammengefasst, zum einen die Übertragung der staatsrechtlichen Kontrolle über ein Gebiet von einer Regierung auf eine andere („Sukzession = Substitution + Kontinuation“) sowie andererseits die Ersetzung eines Staates durch einen oder mehrere andere in den Formen von „Einverleibung“ oder Teilung. Zu ersterem Begriff siehe: Max Huber, Die Staatensuccession. Völkerrechtliche und staatsrechtliche Praxis im 19. Jahrhundert, Leipzig: Duncker & Humblot 1898, S. 8–17. Walter Schönborn, Staatensukzessionen, Berlin, Stuttgart und Leipzig: Kolhammer 1913, S. 3 (Handbuch des Völkerrechts, Abteilung 3, Bd. 2.). Zu letzterem Begriff siehe: Johann Caspar Bluntschli, Das Moderne Völkerrecht der civilisirten Staten, § 52, Nördlingen: Beck 1868, S. 78–79 [2. Aufl., ebenda 1872; 3. Aufl., ebenda 1878]. 21 Siehe dazu: Jörg Fisch, Africa as terra nullius. The Berlin Conference and International Law, in: Bismarck, Europe, and Africa. The Berlin Africa Conference 1884–1885 and the Onset of Partition, hg. von Stig Förster, Wolfgang Justin Mommsen und Ronald Robinson, Oxford: Oxford University Press 1988, S. 354.

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an Land könne nur denjenigen Personen und Gruppen zugestanden werden, die es tatsächlich okkupierten. Nicht okkupiertes Land sei „herrenlos“. Mit diesem argumentativen Trick versuchte Vitoria, die aus seiner Sicht sonst nicht begründbare spanische militärische Eroberung Amerikas zu rechtfertigen, indem er behauptete, die Native Americans hätten Land nicht okkupiert und sich damit gegen das von ihm auf Basis des Schöpfungsberichts konstruierte göttliche Gebot zur Kultivierung des Lands gestellt.22 Locke bestimmte zusätzlich die Arbeit an der Sache als das Ergreifen von Besitz und Voraussetzung für Eigentumsbegründung. Grotius fügte der Theorie die Forderung zu, dass Land nur dann im Sinn des Privatrechts als okkupiert anerkannt werden könne, wenn es klar durch lineare Grenzen definiert sei.23 22 Francisco de Vitoria, De Indis, sive de iure belli Hispanorum in barbaros, relectio posterior, lib. I, cap. 1, Ziff. 4–9, 24, cap. 2, Ziff. 15–16, cap. 3, Ziff. 3–4, hg. von Walter Schaetzel, Klassiker des Völkerrechts, 2. Bd., Tübingen: Mohr 1954. Auch hg. von Ernest Nys, Francisci di Victoria De Indis et de ivre belli relectiones, Washington: Carnegie Institution 1917, S. 222–227, 232, 250–255, 259–260 [Nachdruck, New York: Hein 1995]; weitere Ausg., hg. von Ulrich Horst u. a., Vitoria, Vorlesungen, 2 Bde., Stuttgart: Kohlhammer 1995–1997; Facsimile-Ausgabe des Palencia Kodex von 1539 in: Vitoria, Relectio de Indis. Carta magna de los Indios, Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Scientificas 1989. Ebenso: Justus Lipsius, Admiranda sive de magnitudine Romana libri IV, Paris: Orry 1598 [deutsche Fassung: Straßburg: Zetzner 1620; Nachdruck dieser Ausg., Hildesheim und New York: Olms-Weidmann 2007]. Zu Vitorias Ablehnung der Gerechtigkeit der spanischen Eroberungen Amerikas siehe oben, Kapitel 3, Anm. 63. Auch Lipsius hielt Eroberungskriege für illegitim, da sie Mittel zur Machtsteigerung seien. Vitoria berief sich also nicht auf die päpstlichen Investituredikte der Kanzlei Alexanders VI., wie es zur selben Zeit die spanische Krone und auch Bartolomé de Las Casas taten. Von letzterem siehe: Las Casas, Tratado comprobatorio del imperio sobrano y principado universal que los Reyes de Castilla y León tienen sobre las Indias, in: Las Casas, Obras escogidas, hg. von Juan Pérez de Tudela Buesco, 5. Bd., Madrid: Atlas 1958, S. 351–352. Zur Anwendung der Okkupationsheorie als Rechtfertigung für die spanische Eroberung Lateinamerikas siehe Bibliografie Nr. 85. 23 John Locke, Two Treatises of Government, lib. II, cap. V, § 32, [London: Awsnham and John Churchill 1689], hg. von Peter Laslett, 2. Aufl., Cambridge: Cambridge University Press 1967, S. 308–309 [zuerst, ebenda 1960]. Hugo Grotius, De jure belli ac pacis libri tres [Paris: Buon 1625, lib. II, cap. 2, § 3, Ziff. 2, lib. II, cap 3 [Nachdruck der Ausg. Amsterdam: Jansson Waesberg, 1646, Washington: Carnegie Institution 1913; Neudruck, hg. von B. J. A. de Kanter van Hettings Tromp, Leiden: Brill 1939; Nachdruck dieser Ausg., Aalen: Scientia 1993; weiterer Nachdruck, hrg. von Richard Tuck, The Rights of War and Peace. Hugo Grotius from the Edition by Jean Barbeyrac, Indianapolis: Liberty Fund 2005]. Frei Serafim Freitas, De iusto imperio Lusitanorum Asiatico, cap. 11, Valladolid: Morillo 1625 [Nachdruck, hg. von Miguel Pinto de Meneses, 2. Bd., Lissabon: Instituto Nacional de Investigação Cientifica 1983, S. 134]. Gleichwohl begrenzte Grotius im folgenden Abschnitt III desselben Kapitels, anders als Vitoria und Vattel (siehe unten, Anm. 24), die Befugnis zur Inbesitznahme nicht-okkupierten Landes auf das dominium, das heißt auf privatrechtliche Eigentumsverhältnisse. Deswegen sind die Überlegungen des Grotius nicht, wie Edward Keene, Beyond the Anarchical

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Vattel schließlich brachte das utilitaristische Argument bei, dass die Menschheit insgesamt stark wachse und es deshalb notwendig sei, alles Land so gut wie möglich zu nutzen. Angesichts knapper Ressourcen könne die Menschheit sich Vagabundieren nicht leisten. Deswegen sei es Gebot der Natur, okkupiertes Land zu bebauen, und es sei folglich rechtmäßig, wenn nicht-okkupiertes Land unter die Herrschaft derjenigen gestellt werde, die es okkupieren könnten.24 Da Vattel ausdrücklich den Begriff der Okkupation an den der effizienten Nutzung band, formulierte er mit seiner Okkupationstheorie ein Mittel für die Rechtfertigung kolonialer Expansion. Beide Voraussetzungen der juristischen Theorie, dass nicht-okkupiertes Land herrenlos sei, also der Beherrschung von außen freistehe, oder dass die Neugründung von Staaten der Zerstörung vorher bestehender Staaten folgen müsse, blieben jedoch nicht nur in der Phase der europäischen kolonialen Expansion des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ohne Bestätigung durch die Praxis, da, wie im folgenden gezeigt werden wird, herrschaftliche wie nicht-herrschaftliche europäische Kolonialexpansion in der Regel keine Society. Grotius, Colonialism and Order in World Politics, Cambridge: Cambridge University Press 2002, S. 40–59, behauptet, eo ipso anwendbar auf das Völkerrecht. Zur Okkupationstheorie siehe Bibliografie Nr. 86. 24 Emer[ich] de Vattel, Le droit des gens. Ou principes de la loi naturelle appliqués à la conduite et aux affairs des nations et souverains, lib. I, cap. VII, § 81, lib. I, cap. XVIII, § 209, London [recte: Neuchâtel]: s. n. 1758, Originalfassung, 1. Bd., S. 78–79, 195 [Nachdruck, hg. von Charles G. Fenwick, Washington: Carnegie Institution 1916; Nachdruck des Nachdrucks, Genf: Slatkine 1983; Nachdruck der englischen Fassung, Indianapolis: Liberty Fund 2008]. Ebenso: Gottfried Achenwall, Ius naturae, § 124, 1. Bd., Göttingen: Bossiegel 1755 [8. Aufl., ebenda 1781]. Gottlieb Konrad Pfeffel, Principes du droit naturel, lib. III, cap. 4, § 21, Colmar: Neukirch 1781. Theodor Anton Heinrich Schmalz, Das europäische Völkerrecht, Berlin: Duncker & Humblot 1817, S. 137. Julius Schmelzing, Systematischer Grundriß des praktischen europäischen Völker-Rechtes, §§ 216, 217, 2. Bd., Rudolstadt: HofBuch- und Kunsthandlung 1819, S. 5–8 [Mikrofiche-Nachdruck, Zug: Inter Documentation 1985]. Gegen diese Theorie postulierte Adam Friedrich Glafey, Vernunftund Völker-Recht, lib. IV, cap. 3, §§ 124, 126, Frankfurt und Leipzig: Riegel 1723, S. 615–616, ein weder alienierbares noch an effektive Landnutzung gebundenes Okkupationsrecht aller Menschen an Grund und Boden. Von diesem Naturrecht wollte Glafey nur völlig unbewohnte Inseln im „grossen Welt-Meer“ als res nullius ausnehmen und kennzeichnete daher die spanische Eroberung Amerikas als unrechtmäßig. Zu diesem Aspekt der Völkerrechtslehren Vattels und Glafeys siehe Bibliografie Nr. 86. In einer seltsamen, von jeglicher Kenntnis der Theorie- und der Kolonialgeschichte unbeeinflussten Wendung der Bedeutung des Begriffs terra nullius glaubte Christopher Clapham, Sovereignty and the Third World State, in: Sovereignty at the Millennium, hg. von Robert H. Jackson, Oxford und Malden, MA: Blackwell 1999, S. 115, feststellen zu müssen, dass Staaten, deren Regierungen nicht zur effizienten Ausübung von Herrschaft über ein Territorium in der Lage seien, zu einer terra nullius revertierten und somit unter die Kontrolle von Warlords gerieten.

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völkerrechtliche Staatszerstörung nach sich zog. Im Gegenteil mussten Ideologen kolonialer Expansion im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu dem politischen Argument greifen, dass die Opfer ihrer Expansion sich weder als Staaten organisiert noch die kulturellen Voraussetzungen für die effiziente Nutzung von Land nach dem Maßstab der Kolonialregierungen erfüllt hätten. Da sie aber einerseits, wie zu zeigen sein wird, mit den Opfern ihrer Expansion zwischenstaatliche Verträge schlossen, mithin vom Bestehen von Staaten ausgingen, andererseits die Behauptung, die Expansion beträfe „herrenloses Land“, nicht auf Recht, sondern auf rassistisch konnotierte politische Behauptungen gegründet war, fand entgegen der kolonialen Propaganda keine Staatensukzession statt. Die militärischen Konflikte, mit denen Bevölkerungsgruppen im 19. und frühen 20. Jahrhundert zumal in Afrika, West-, Süd- und Südostasien sowie Ozeanien auf die europäische Kolonialexpansion antworteten, waren also gegen Jacksons Theorie keine Staatensukzessionskriege, sondern völkerrechtlich sanktionierte Abwehrkriege gegen Interventionen von außen. Auch während der politischen Dekolonisierung der 1950er, 1960er und 1970er Jahre widersprach Jacksons Theorie dem gut belegten, wenn auch zumeist erfolglos gebliebenen Bemühen vieler antikolonialer Befreiungsbewegungen, die die Restitution der in ihrer Sicht weiter bestehenden vorkolonialen Staaten zu erreichen suchten.25 Die Aussagen der völkerrechtsgeschichtlichen Quellen stehen daher der Voraussetzung der Theorie Jacksons entgegen, dass während europäischer Kolonialherrschaft Staatensukzession stattgefunden habe. Hinzu kommt, dass die Anwendung militärischer Gewalt bei der Inbesitznahme eines Staates durch die Regierung eines anderen26 sowie bei der Änderung politischer Strukturen, insbesondere Teilung oder Integration27 nicht 25

Für Ostafrika siehe Bibliografie Nr. 87. Dazu siehe die seit dem 19. Jahrhundert fortgeschriebene, aber vom Naturrecht entkoppelte Diskussion um die Okkupationstheorie Vattels bei: Robert Adam, Völkerrechtliche Okkupation und deutsches Kolonialstaatsrecht, in: Archiv für öffentliches Recht 6. Jg. (1901), S. 198. Karl Heimburger, Der Erwerb der Gebietshoheit, 1. Bd., Karlsruhe: Braun 1888. Friedrich August Freiherr von der Heydte, Discovery, Symbolic Annexation and Virtual Effectiveness in International Law, in: American Journal of International Law 29. Jg. (1935), S. 448–471. John Macdonnel, Occupation and res nullius, in: Journal of the Society of Comparative Legislation, N. S., 1. Bd. (1899), S. 276–286. Zur Begriffsbildung siehe: Martti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870–1960, Cambridge: Cambridge University Press 2002, S. 98–178 [5. Aufl., ebenda 2008]. Keene, Society (wie Anm. 23), S. 60–96, hingegen übergeht in seiner Diskussion des Kolonialismus die gesamte Debatte um die Okkupation als angeblichen völkerrechtlichen Rechtstitel. 27 Georg Jellinek, Ueber Staatsfragmente, in: Festgabe zur Feier des Siebzigsten Geburtstages Seiner Königlichen Hoheit des Großherzogs Friedrich von Baden. Dargebracht von Mitgliedern der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg, Hei26

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auf die Führung zwischenstaatlicher Kriege begrenzt sein muss. Schon das Beispiel der Teilungen Polens 1772, 1793 und 1795 verdeutlicht, dass die polnische Bevölkerung keinen Krieg gegen die Aufteilung ihres Staates in Besatzungszonen führte, die österreichischer, preußischer und russischer Kontrolle unterstellt wurden. Sie erreichte die Wiedergründung ihres Staates 1918/19 ebenso ohne Anwendung von Krieg, auch wenn sie gegen die Besetzung Widerstand leistete und sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts dreimal in Revolutionen erhob, die blutig niedergeschlagen wurden.28 Es wäre also falsch zu behaupten, die Zerstörung und Wiedererrichtung des polnischen Staates seien gewaltfrei verlaufen. In weit größerem Umfang setzten die europäischen Kolonialmächte sowie die USA bei der Unterdrückung Afrikas, West-, Süd- und Südostasiens sowie Ozeaniens militärische wie nichtmilitärische Gewalt ein, beispielsweise die Drohung mit Einsätzen schwerer Waffen gegen zivile Ziele29 oder die Deportation von Herrschaftsträgern.30 Prozesse der Unterdrückung konnten von unterschiedlichen Formen der Anwendung von Gewalt sowie von diplomatischem und wirtschaftlichem Druck begleitet sein. Deswegen gab es unterschiedliche Formen des Widerstands gegen europäische und amerikanische koloniale Expansion, die die Voraussetzung für Kriegführung im Rahmen des Völkerrechts dann einschließen konnten, wenn in der Sicht der Opfer europäischer und amerikanischer kolonialer Expansion Staatensukzession überhaupt nicht stattdelberg: Koester 1896, S. 261–310. Godehard Josef Ebers, Die Lehre vom Staatenbunde, Breslau: Marcus 1910 (Abhandlungen aus dem Staats- und Verwaltungsrecht. 22.) [Nachdruck, Aalen: Scientia 1966]. 28 Der Widerstand begann schon mit der ersten Teilung im Jahr 1772 und setzte sich bis ans Ende des 18. Jahrhunderts fort. Die Presse nahm sich sofort des Gegenstands an, insbesondere im Vereinigten Königreich. Regierungen bekräftigten öffentlich die Kritik in der Zeit der Vorbereitung der zweiten Teilung. Siehe: John Lind, Letters Concerning the Present State of Poland, London: Payne 1773, S. 186–187, 303–304, 314–315. Nicolas Baudeau, Lettres historiques sur l’état de la Pologne et sur l’origine des ses malheurs, Amsterdam: Didot 1772. [Gustav III, König von Schweden,] The Danger of the Political Balance of Europe, 2. Aufl., London: Becket 1791, S. 126–143 [zuerst, London: Jeffery 1790]. Zur Diskussion um die Teilungen Polens siehe Bibliografie Nr. 88. 29 So zum Beispiel während des Boxeraufstands in China 1900. Siehe dazu: Susanne Kuß, Das Deutsche Reich und der Boxeraufstand, München: Iudicium 2002 (Erfurter Reihe zur Geschichte Asiens. 2.). 30 Zum Beispiel des Herrschers der Ashanti Prempeh I. Siehe dazu: George Edgar Metcalfe, Great Britain and Ghana. Documents of Ghana History. 1807–1967, London: Nelson 1964, S. 448–451 [Nachdruck, hg. von J. G. Darwin, Aldershot: Gregg 1994]. Ivor Agyeman-Duah und J. P. Mahoune, The Asante Monarchy in Exile. Sojourn of King Prempeh and Nana Yaa Asantewaa in Seychelles, Kumasi: Centre for Intellectual Renewal und Ausapp Printing House 2000. Zum gleich gelagerten und zeitgleichen Fall des bugandischen Königs Mwanga siehe unten, Anm. 288 und 289.

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gefunden hatte. Die Geschichtswissenschaft muss aus der Retrospektive den politischen Kontext der Völkerrechtsquellen rekonstruieren. Zudem muss die Geschichtswissenschaft einen Staatsbegriff anwenden, der aus den Anschauungen der handelnden Akteure abgeleitet ist, also nicht aus einer allgemeinen Theorie retrospektiv vorgegeben wird. Es geht der Geschichtswissenschaft nicht darüber zu befinden, ob im Sinn der europäischen Staatsrechtslehre oder einer westlichen Politikwissenschaft irgendwo Staaten vorhanden waren oder sind, sondern ob die von Staatszerstörung betroffenen oder daran beteiligten Akteure außerhalb Europas ihr Tun im Rahmen der Begrifflichkeit der europäischen Staatstheorie konzipierten oder nicht. Für viele der antikolonialen Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts sind Staatsbegriffe nachweisbar, die an der örtlichen Vergangenheit orientiert und von denen der europäisch geprägten Staatsrechtslehre verschieden waren.31 Das heißt, es gab Staaten, ohne dass es dabei um Institutionen im Sinn der europäischen Staatslehre gehandelt haben muss. Ich beantworte die Frage nach den Bedingungen der Staatszerstörung in fünf Schritten. Zunächst beschreibe ich die Genese der juristischen Fiktion der Gleichheit der souveränen Staaten als ein vernachlässigtes Element der Theorie der Staatensukzession. Diese, unter anderem im Werk Jean Bodins belegte und im 18. Jahrhundert aus dem Naturrecht abgeleitete Fiktion32 besagt, dass souveräne Herrscher oder Institutionen, die als souveräne Staaten anerkannt seien, unabhängig von der Größe der Territorien, der Bevölkerungszahl und der Machtmittel, die ihrer Herrschaft unterstehen, untereinan31

George Padmore, Africa and World Peace, London: Secker 1937. Siehe dazu auch: Writing African History, hg. von John Edward Philips, Rochester: University of Rochester Press 2005. Zum Kontext siehe: George Louis Beer, African Questions on the Paris Peace Conference, New York: Macmillan 1923 [Nachdruck, London: Dawsons 1968]. Philip Quincy Wright, Mandates under the League of Nations, Chicago: University of Chicago Press 1930, S. 3–23. Heinz Gollwitzer, Völkerbund und afro-asiatische Emanzipation, in: Gollwitzer, Weltpolitik und deutsche Geschichte, hg. von Hans-Christof Kraus, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 164, 168–169, 170–175 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 77.) [zuerst in: Dritte Welt – Historische Prägung und politische Herausforderung. Festschrift zum 60. Geburtstag von Rudolf von Albertini, hg. von Peter Halblützel, Hans Werner Tobler und Albert Wirz, Wiesbaden: Steiner 1983, S. 95–120]. N. G. Levin, Woodrow Wilson and World Politics, New York und London: Oxford University Press 1968, S. 164 [ebook, ACLS Humanities Ebook o. J.]. 32 Jean Bodin, Les six livres de la République, lib. I, cap. 10 [Paris: Du Puis 1576], Neudruck, hg. von Christiane Frémont, Marie-Dominique Couzinet und Alain Rochais, 1. Bd., Paris: Fayard 1986, S. 306. Christian Wolff, Jus gentium methodo scientifica pertractatum, §§ 16–18, Halle: Renger 1749, S. 12–14 [Nachdruck, hg. von Marcel Thomann, Hildesheim und New York: Olms 1972 (Wolff, Gesammelte Werke. II. Abteilung, 25. Bd.)].

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der gleiche Rechte und Pflichten hätten.33 Nur unter dieser Fiktion ist nach völkerrechtstheoretischer Lehre der Abschluss zwischenstaatlicher Verträge als Abkommen zwischen Souveränen auf der Basis der Freiwilligkeit möglich. Alle anderen Verträge ohne Bezug auf die juristische Fiktion der Gleichheit der Souveräne wären demnach nicht völkerrechtlicher, sondern staatsrechtlicher Art. Demnach ist Staatsentstehung durch Staatensukzession nur durch Abkehr von der juristischen Fiktion der Gleichheit der Souveräne möglich. Denn Staatensukzession ist praktisch identisch mit einem Vorgang, in dessen Verlauf ein Staat durch einen anderen ersetzt wird. Im Vollzug dieses Vorgangs kann die juristische Fiktion der Gleichheit der Souveräne als Vertragspartner nicht zur Anwendung gebracht werden. Ich untersuche dann im zweiten Schritt einige politische Entscheidungen der europäischen Kolonialregierungen in Bezug auf die Expansion ihres wirtschaftlichen, diplomatischen und militärischen Einflusses im Pazifik an den Beispielen europäischer Interventionen in China, im Gebiet der Ma¯ori und in Japan um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Dabei versuche ich zu zeigen, dass europäische Kolonialregierungen sich ihre militärische Option, das heißt, die Anwendung militärischer Gewalt zur Etablierung kolonialer Herrschaft in diesen Weltteilen, stets offenhielten, ohne von dieser Option immer Gebrauch zu machen. Aus der Untersuchung ergibt sich, dass in europäischer Sicht kein Widerspruch zwischen der Wahl der militärischen Option mit dem Ziel der Staatszerstörung und der Einleitung nicht-herrschaftlicher Expansionsprozesse bestand. Hingegen verfolgten die europäischen Regierungen in der Praxis ihrer Diplomatie überall im Pazifik das Ziel, die juristische Fiktion der Gleichheit der Souveräne als Richtschnur ihres politischen Entscheidens gegenüber den Opfern ihrer Expansion ignorieren zu können, auch wenn sie, in scheinbar paradoxer Weise, dieses Ziel mit dem Abschluss völkerrechtlicher Verträge zu verbinden suchten. Mitunter resultierten aus diesem Paradoxon völkerrechtliche Staatszerstörungsverträge, auch ohne dass zuvor Kriege geführt worden waren. Koloniale Expansion bestand im völkerrechtlichen Oktroi des Regimes der Ungleichheit. Drittens befrage ich diejenigen zwischenstaatlichen Verträge, die die britische und andere, koloniale Expansion betreibende europäische Regierungen mit den Opfern ihrer Expansionspolitik in Afrika in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts abschlossen, darauf, ob diese Verträge Staatszerstörungsprozesse einleiteten oder nicht. Die Antwort auf diese Frage offenbart eine Gegensätzlichkeit der Wahrnehmungen zwischen Kolonialregierungen und Opfern der Kolonialherrschaft. Während auf europäischer Seite die Durchsetzung europäischer Kolonialherrschaft als Staatszer33 Siehe dazu auch unten, Anm. 108. Zur Geschichte und Theorie der Gleichheit der Staaten siehe Bibliografie Nr. 89.

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störung aufgefasst und beschrieben wurde, betrachteten die meisten der weiter existierenden afrikanischen Regierungen die unter ihrer Herrschaft verbleibenden Staaten fürderhin als souverän und forderten die Respektierung der juristischen Fiktion der Staatengleichheit von den europäischen Kolonialregierungen ein. Ob in diesen Fällen im Übergang von 19. zum 20. Jahrhunderts Staatszerstörung stattfand oder nicht, war demnach Gegenstand diplomatischer Kontroversen auch und gerade dort, wo die europäische Expansion unter Anwendung militärischer Gewalt durchgeführt wurde und auf heftige Gegenwehr ihrer Opfer stieß. Analoge Vorgänge fanden in West-, Süd- und Südostasien sowie Ozeanien statt. Der gemeinsame Wille der europäischen Kolonialregierungen zur Ausweitung ihrer überseeischen Herrschaftsbereiche und zur Unterdrückung nichteuropäischer Bevölkerungsgruppen in Afrika, West-, Süd- und Südostasien sowie Ozeanien gab zwar die Grundlage ab für die Konzeptionalisierung und Durchführung global interdependenter Weltpolitik,34 führte aber nur selten zu unstrittigen, allseitig anerkannten Staatszerstörungen.35 Im vierten Schritt kategorisiere ich die Globalisierung des europäischen zwischenstaatlichen Vertragsrechts als Faktor der Ausweitung des überseeischen Einflusses der europäischen Kolonialregierungen im Vollzug ihrer global interdependenten Weltpolitik. Im Vollzug dieses Globalisierungsprozesses folgten diese Regierungen dem ihnen geläufigen Staatsbegriff36 und errichteten eine Wertehierarchie, derzufolge nur diejenigen Politien das Prädikat der Staatlichkeit zuerkannt bekommen sollten, die nach dem europäischen Staatsbegriff als souveräne Staaten anerkannt werden konnten.37 Die 34

Siehe: Otto Hintze, Imperialismus und Weltpolitik, in: Die deutsche Freiheit (1917), S. 117. Hintze, Imperialismus und Weltpolitik [1907], in: Hintze, Staat und Verfassung, hg. von Fritz Hartung, Leipzig: Koehler & Amelang 1941, S. 459 (Hintze. Gesaamelte Abhandlungen. 1.) [3. Aufl., hg. von Gerhard Oestreich, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; Leipzig: Koehler & Amelang 1970]. 35 Zu den Ma ¯ ori siehe unten, Anm. 71, 242, 243. Die vorgeblich freiwillige Abdankung von Liliuokalani, der 19. und letzten Königin von Hawaii, im Jahr 1898 könnte als Ausnahme gelten. Dies ist aber nur scheinbar der Fall. Denn zum einen wurde Hawaii zeitgleich mit Liliuokalani’s Rücktritt von den USA annektiert. Es fand also keine Staatensukzession statt. Zum anderen trat Liliuokalani nicht freiwillig zurück, sondern wurde unter Hausarrest gezwungen, eine Abdankungsurkunde zu unterschreiben mit der Drohung, sechs ihrer Untertanen würden hingerichtet, wenn sie die Unterschrift verweigere. Siehe: Liliuokalani, Hawaii’s Story, Rutland und Tokyo: Tuttle 1964, S. 273–279 [29. Aufl., ebenda 1990; zuerst, Boston: Lee & Shepard 1898]. 36 Nach Jellinek (siehe oben, Anm. 11). Siehe dazu auch: Jörg Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht. Die Auseinandersetzungen um den Status der überseeischen Gebiete vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart: Steiner 1984, S. 38–43 (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte. 26.). 37 Fisch, Expansion (wie Anm. 36), S. 297–311.

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Bevorzugung souveräner Staaten in dieser Wertehierarchie begründete die Maßstäbe, nach denen die europäischen Kolonialregierungen die juristische Fiktion der Gleichheit souveräner Staaten anwenden oder vorenthalten zu können glaubten. Diese Entscheidung folgte aus der Wahrnehmung der Distanz zwischen dem Staatsbegriff, den diese Regierungen als gegeben voraussetzten, und den politischen Prozessen und Institutionen, die sie vor Ort in Afrika, West-, Süd- und Südostasien sowie Ozeanien vorfanden. Insbesondere in Afrika kategorisierten sie politische Prozesse und Institutionen als unvereinbar mit dem europäischen Staatsbegriff, und verweigerten folglich die Anerkennung der dortigen Politien als souveräne Staaten auch und gerade dann, wenn sie mit den Regierungen dieser vermeintlich nichtstaatlichen Politien zuvor zwischenstaatliche Verträge abgeschlossen hatten. In europäischer Sicht waren diese Verträge dann gegenstandslos geworden und sollten ignoriert werden.38 Obzwar die europäischen Kolonialregierungen sowie die Regierung der USA gegenüber China, Japan und Siam zur Anerkennung der dort bestehenden Regierungen als Regierungen souveräner Staaten bereit waren, dort folglich auch in europäischer Sicht keine Staatensukzession stattfand, hielten sie sich doch auch hier wie in Afrika, WestSüd- und Südostasien sowie in Ozeanien dazu legitimiert, trotz des Zugeständnisses der juristischen Fiktion der Gleichheit der Souveräne in die inneren Angelegenheiten der Staaten zu intervenieren. Das Ergebnis der Untersuchung ist – um es vorweg zu nehmen –, dass durch die empirisch belegte Militarisierung der Politik, die unter den Opfern der europäischen Kolonialherrschaft aus der Zwangsveränderung traditionaler politischer Prozesse und Institutionen folgte, deren Zerstörung im Verlauf des 19. Jahrhunderts – aller Kolonialpropaganda zum Trotz – nahezu keine, aus endogenen Quellen fließenden Neuanfänge im Verlauf des 20. Jahrhunderts zeitigen konnte, sondern zum Oktroi des europäischen Staatsmodells führen musste. Die europäische Kolonialherrschaft und die Formen europäischer nicht-herrschaftlicher Intervention hinterließen scheinbar „schwache“ Staaten, weil die Herrschaft ausübenden oder sonst intervenierenden europäischen Regierungen bei den Opfern ihrer Unterdrückung zunächst weder Staatsentstehungsprozesse nach endogenen Modellen einleiten noch – wie in Siam, im Chinesischen und im Osmanischen Reich – die dort laufenden Bestrebungen der Veränderung der Herrschaftsformen fördern wollten. Hingegen zerstörten sie in Ozeanien, in Teilen West-, Südund Südostasiens sowie in Afrika bestehende Staaten, um an deren Stelle Herrschaftszonen zu errichten, aus denen nach ursprünglicher Absicht keine Staaten entstehen sollten. Kolonialherrschaft geronn zum System organisier38 So die ausdrückliche Empfehlung des Juristen Hermann Hesse, Die Schutzverträge in Südwestafrika, Berlin: Süsserott 1905, S. 91.

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ter Unsicherheit. Dann jedoch änderten die europäischen Regierungen während ihrer Kolonialherrschaft ihre Strategie. In den meisten Fällen durften schließlich die Regierungen vor Ort für die kolonialen Herrschaftszonen im Zeichen ihrer formal völkerrechtlichen „Unabhängigkeit“ nach Ende der europäischen Kolonialherrschaft die juristische Fiktion der Gleichheit souveräner Staaten dann für sich reklamieren, wenn sie zur Umwandlung der kolonialen Herrschaftszonen in Staaten und zur Fortführung der von den europäischen Kolonialregierungen geprägten politischen Prozesse und Institutionen bereit waren. Diesen so entstandenen Staaten das Prädikat „schwach“ aufzudrücken, heißt, sie für die Last ihres kolonialen Erbes auch noch zu diskriminieren. In Japan hingegen kam es zwar zu nur kurzzeitigen tatsächlich ausgeführten militärischen Interventionen europäischer Regierungen, gleichwohl zu einer tiefgreifenden, nicht nur aus endogenen Quellen fließenden, sondern auch europäischen Modellen folgenden Veränderungen von Herrschaft. Soweit diese Veränderungen durch Druck von außen herbeigeführt wurden, spielten ungleiche völkerrechtliche Verträge sowie das völkerrechtliche Vertragsrecht eine zentrale Rolle als Instrumente der Einflussnahme.

II. Souveränität, Reziprozität und Moral. Entstehung und Wandlungen der juristischen Fiktion der Gleichheit der souveränen Staaten Die juristische Fiktion der Gleichheit der souveränen Staaten war nicht überall vorgegeben. Soweit erkennbar, scheint sie in Afrika,39 dem Südpazifik,40 in Südasien,41 in Ostasien42 sowie in Teilen Nordamerikas43 nicht 39 Das bis in die 1880er Jahre bestehende ostafrikanische internationale System war tributär. So schon: George Kyndon Baskerville, Die Waganda, in: Rechtsverhältnisse von eingeborenen Völkern in Afrika und Ozeanien, hg. von Sebald Rudolf Steinmetz, Berlin: Springer 1903, S. 182–202. Das so genannte „Uganda Agreement“ zwischen dem Königreich Buganda in Ostafrika und dem Vereinigten Königreich vom Jahr 1900 bestimmte in Artikel II, dass Daudi Chwa II., der König von Buganda, jeglichen Anspruch auf „Tribut“ an Königin Viktoria abzutreten habe. Dadurch kennzeichnete der Vertrag die bis dahin bestehenden Beziehungen Bugandas zu seinen Nachbarn als tributär. Der Text des Uganda Agreement liegt vor in: Laws of the Uganda Protectorate, hg. von Arthur W. Lewey und Charles Mathew, 6. Bd., Entebbe: Government Printer 1937, S. 1371–1385 [auch in: John Vernon Wild, The Story of the Uganda Agreement, London: Macmillan 1965, S. 95–110; zuerst, Nairobi: Eagle Press 1950]. Donald Anthony Low und Robert Cranford Pratt, Buganda and British Overrule, Nairobi und London: Oxford University Press 1960, S. 350–366. Consolidated Treaty Series, hg. von Clive Parry [= CTS], 188. Bd., Dobbs Ferry: Oceana, 1969, S. 314–227 (Art. II, S. 316). 40 Soweit rekonstruierbar, scheint dieses System auf der Basis vertraglicher Austauschbeziehungen bestanden zu haben. Siehe dazu die Beschreibung durch: Bronis-

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zum Bestand traditionaler, vorkolonialer politischer Ordnungsvorstellungen gehört zu haben. In Europa hingegen entstand sie erst im Rahmen der Kreuzzugsrhetorik des 15. und 16. Jahrhunderts als Instrument zur Restitution christlicher Universalherrschaft.44 Kreuzzüge konnten ohne Ansehen law Malinowski, Argonauts of the Western Pacific, London: Routledge 1922, S. 81–104 [Nachdrucke, New York: Dutton 1961; London: Routledge 1964; Prospect Heights: Waveland Press 1984; London: Routledge 1992 (Studies in Economics and Political Science. 65.); Abingdon: Routledge 2002; ebook, London: Taylor & Francis 2004]. Neu interpretiert durch: J. P. Singh Uberoi, Politics of the Kula Ring. An Analysis of the Findings of Bronislaw Malinowski, Manchester: Manchester University Press 1962, S. 148–157. 41 Das südasiatische internationale System unter den Mogulen in Indien war tributär. Siehe dazu im Überblick: Dietmar Rothermund, Südasien in der „Neuzeit“, in: Südasien in der Neuzeit, hg. von Karin Preisendanz und Dietmar Rothermund, Wien: Promedia 2003, S. 14–15 (Edition Weltregionen. 5.). 42 Das ostasiatische internationale System war tributär. Siehe dazu im Überblick: Margareta Grießler, Außenbeziehungen Chinas zwischen 1600 und 1900, in: Ostasien 1600–1900, hg. von Sepp Linhart und Susanne Weigelin-Schwiedrzik, Wien: Promedia 2004, S. 99–114 (Edition Weltregionen. 10.). Yasuaki Onuma, When was the Law of International Society Born? An Inquiry into the History of International Law from an Intercivilizational Perspective, in: Journal of the History of International Law 2. Jg. (2000), S. 8–18. 43 Soweit rekonstruierbar, scheint dieses System hierarchisch gewesen zu sein und auf der Basis vertraglicher Beziehungen bestanden zu haben. Siehe dazu: Daniel P. Barr, Unconquered. The Iroquois League at War in Colonial America, Westport, CT: Greenwood 2006. Francis Jennings, The History and Culture of Iroquois Diplomacy. An Interdisciplinary Guide to the Treaties of the Six Nations and Their League, Syracuse: Syracuse University Press 1985 [Neuausg., ebenda 1995]. 44 Zuvor fanden im sogenannten Konstanzer Vertrag zwischen dem gerade neu gewählten König und designierten Kaiser Friedrich Barbarossa und Papst Eugen III. von 1152 Vertragsbezeichnungen Anwendung wie zum Beispiel concordia und conventio. Siehe: Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser, 10. Bd., 1. Teil: Die Urkunden Friedrichs I., 1. Bd., Nr. 51 [Niederschrift von Ergebnissen königlichpäpstlicher Verhandlungen im Jahr 1152 im Codex Wibalds von Stablo, Staatsarchiv Lüttich, fol. 140], Nr. 52 [Ratifikationsurkunde Friedrichs vom Jahr 1152 oder 1153], Nr. 98 [Erneuerung des Vertrags gegenüber Papst Hadrian IV., Januar 1155], hg. von Heinrich Appelt, Hannover: Hahn 1975, S. 86, 88–89, 166–167 (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata. 10. Bd., 1. Teil). Diese Bezeichnungen scheinen einen neueren Herausgeber des Texts dazu veranlasst zu haben, das Abkommen als einen „zwischen gleichberechtigten Parteien abgeschlossenen, streng bilateral aufgebauten“ Vertrag zu bezeichnen (Appelt, wie oben, S. 85). Diese Bezeichnung ist jedoch unrichtig. Denn der Text liegt vor in der Form einer objektiv formulierten Niederschrift der Ergebnisse von Verhandlungen zwischen Unterhändlern Friedrichs und Eugens, die die Bedingungen der Krönung Friedrichs zum Kaiser der Römer durch den Papst festschrieben. Die Rechtsform, der die Niederschrift der Verhandlungsergebnisse folgt, ist die der promissio, des förmlichen Versprechens, das Bestandteil der Krönungszeremoniells war. In diesem Fall wurde, anders als im frühen Mittelalter, die promissio vor der Krönung ausgehandelt und als wechselseitige Verpflichtung zwischen coronator und coronandus gestaltet. Der-

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des Rangs von jedem Adligen angeführt werden, obschon dem Kaiser als Beschützer der katholischen Kirche eine besondere Pflicht zur Führung eines Kreuzzugs oblag. Umgekehrt bestand jedoch keine ausdrückliche Verpflichtung anderer Herrscher und Adliger, einem Kreuzzugsaufruf allein deswegen zu folgen, weil er von kaiserlicher Seite erging. Die Kreuzzugsrhetorik sollte also bewirken, dass die christlichen Herrscher des Okzidents untereinander durch gegenseitige Anerkennung der Gleichheit ihres Rangs Frieden schließen konnten. Ein allgemeiner Friede unter Gleichen erschien den Kreuzzugspropagandisten als die hauptsächliche Voraussetzung für die Gewinnung militärischer Vorherrschaft über Muslime in Westasien. Nach der Eroberung von Byzanz durch osmanische Truppen 1453 nahm im Okzident die Akzeptanz dieser Propaganda zu. So schlug in den 1460er Jahren der böhmische König Georg von Podiebrad, wie schon Pierre Dubois im 13. Jahrhundert, einen Bund christlicher Herrscher zum Zweck der Durchführung eines Kreuzzugs nach Palästina vor. Im Jahr 1495 setzte Kaiser Maximilian I. für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation einen allgemeinen Landfrieden durch mit der Begründung, dieser sei notwendige Voraussetzung für einen Kreuzzug gegen das Osmanische Reich.45 Dieser ordnete zwar die Reichszufolge verpflichtete sich der Papst, neben anderem die Krönung durchzuführen, der künftige Kaiser zur Unterstützung des Papsts. Die wechselseitigen Verpflichtungen mögen seitens der Verhandlungsführer als äquivalent betrachtet worden sein, reziprok jedoch konnten sie im Rahmen des Krönungszeremoniells nicht sein. Gleich waren die Parteien nur im Blick auf die zuvor im Wormser Konkordat von 1122 festgeschriebene formal-grundsätzliche Gleichsetzung von geistlicher (sacerdotium) und weltlicher (regnum) Herrschaft, nicht aber als Personen. Denn der Papst bezeichnete Friedrich ausdrücklich als filius beati Petri, den er in Ehren halten und krönen wolle. Die Verwendung der Sohnes-Metapher mit Billigung Friedrichs schließt dessen Bewusstsein rechtlicher Gleichheit mit dem Papst im Zusammenhang mit dem Krönungsgeschehen, das heißt vor seiner Weihe als Kaiser, aus. Friedrich bestätigte die Niederschrift in Diplomform gegenüber Eugen III., eine Gegenbestätigung durch den Papst liegt nicht vor. Friedrich erneuerte seine Bestätigung gegenüber Eugens Nachfolger Hadrian IV. im Jahr 1155. Zum Abkommen siehe: Odilo Engels, Der Konstanzer Vertrag, in: Deus qui mutat tempora. Menschen und und Institutionen im Mittelalter. Festschrift für Alfons Becker zu seinem 65. Geburtstag, Sigmaringen: Thorbecke 1987, S. 235–258. 45 Georg von Podiebrad [Jir ˇi z Podeˇbrad], The Universal Peace Organization of King George of Bohemia. A Fifteenth Century Plan for World Peace 1462/1464, Artikel I, hg. von Frederick George Heymann, New York und London: Garland 1972, S. 70–71 (The Garland Library of War and Peace. 126.). Zu dem Friedensprojekt Georgs von Podiebrad siehe Bibliografie Nr. 90. Maximilian I, Verordnung und vermanung zu der ritterschaft in die bruderschaft sant Jorgen wider die unmenschliche that und geschicht der Turgkken, in: Historisch-literarisch-bibliographisches Magazin 3. Jg. (1791), S. 39. Die Wiederholung dieses Mandats wurde gedruckt von: Johann Philipp Datt, Volumen rerum Germanicarum novum, Ulm: Kühn 1698, S. 214–215. Georg von Podiebrad wie auch Maximilian verwandten die Bezeich-

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stände dem Kaiser insoweit unter, als ihre Fähigkeit zur autonomen Entscheidung über Krieg und Frieden in gleicher Weise eingeschränkt wurde. Dennoch konnte auch der Kaiser seine Kompetenz zur Kriegführung nur mit Zustimmung der Reichsstände wahrnehmen. Die Ungleichheit der Reichsstände gegenüber dem Kaiser wurde durch dieses Zustimmungsrecht reduziert. Am Plan eines Kreuzzugs unter seiner Führung hielt Maximilian trotz aller Bemühungen um Stärkung seiner Position als Kaiser bis an sein Lebensende fest.46 Im Jahr 1518 kam es tatsächlich zum Abschluss eines multilateralen Friedensvertrags zwischen Kaiser Maximilian I., König Heinrich VIII. von England, König Franz I. von Frankreich sowie einigen anderen christlichen Herrschern, die sich als gleichrangig anerkannten und übereinkamen, einen Kreuzzug nach Palästina vorbereiten zu wollen.47 Im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts säkularisierte Jean Bodin die Fiktion der Gleichheit der Staaten und ihrer Herrscher und band sie an den Grundsatz der Souveränität.48 Indem der Jurist Bodin voraussetzte, dass ein Pluralisnungen fraternitas und bruderschaft als Gleichheitsausdruck. Noch gegen Ende seines Lebens machte Maximilian umfangreiche strategische Pläne für einen Kreuzzug, insbesondere in seinem Memorandum vom Jahr 1517: Kayser Maximilian Anslag wider die Türcken, Wien, Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Maximiliana, Fz 30b (1517) 2, fol. 131r–140v. Auch in: Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I., 5. Bd., 1. Teil, hg. von Heinz Angermeier, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1981, S. 89–116 (Deutsche Reichstagsakten Mittlere Reihe. 5.). Quellen zum Verfassungsorganismus des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. 1495–1815, hg. von Hanns Hubert Hofmann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, S. 15 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit. 13.). Quellen zur Geschichte Maximilians I. und seiner Zeit, hg. von Hermann Wiesflecker und Inge Wiesflecker-Friedhuber, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, S. 268–279 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit. 14.). Noch am Anfang des 18. Jahrhundert griff Kardinal Alberoni den Plan wieder auf und verband ihn mit Strategien zur Aufteilung des Osmanischen Reichs unter christliche Herrscher. Siehe: Giulio Alberoni, [Système de pacification générale]. Des weltberühmbten Cardinals Alberoni Vorschlag, das Türckische Reich unter der Christlichen Potentaten Botmäßigkeit zu bringen. Samt der Art und Weise wie dasselbe nach der Ueberwindung unter Sie zu verteilen sei, Frankfurt und Leipzig: s. n. 1736 [Nachdruck der englischen Fassung von 1736, Farmington Hills: Gale 2004]. 46 Zu Maximilians Kreuzzugsplänen siehe Bibliografie Nr. 91. 47 Siehe: Thomas Rymer, Foedera, conventiones, litterae et cujusque generis acta publica inter reges Angliae et alios quosvius imperatores, reges, pontifices, principes vel communitates, 13. Bd., London: Bettesworth u. a. 1714, S. 624–249 [Nachdruck, Farnborough: Gregg 1967]. Jean Dumont, Baron von Carels-Croon, Corps diplomatique universel de dreoit des gens, 4. Bd., 1. Teil, Den Haag: Brunel 1726, Nr. 125, S. 269–275. 48 Bodin, République (wie Anm. 32), lib. I, cap. 9, Neudruck, 1. Bd., S. 238. Siehe dazu: Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, 1. Bd., Frankfurt: Athenäum 1970, S. 50.

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mus souveräner Herrscher bestand, verschmolz er zwei an sich nicht zu vereinbarende politische Grundsätze. Denn in der Tradition mittelalterlichen Souveränitätsdenkens, das an die Forderung nach Anerkennung universaler Herrschaft gebunden gewesen war, konnte es nur einen Träger souveräner Herrschaft geben, und dieser Herrscher konnte im Kontext des Christentums nur der Kaiser oder der Papst sein.49 Bodin jedoch postulierte die Pluralität von Staaten, für die er die in Frankreich seit dem 13. Jahrhundert gepflegte Doktrin als gültig voraussetzte, dass jeder souveräne Herrscher der höchste Herr in dem ihm untergeordneten Staat sei.50 Auf der Basis der Fusion der Fiktion der Gleichheit der Staaten und ihrer Herrscher mit der Wahrnehmung der Pluralität der koexistierenden Staaten bestimmte Bodin die Grenzen der Kompetenzen eines Souveräns in der Anerkennung der Gleichheit der Kompetenzen aller anderen Souveräne.51 In Amerika setzte sich die Fiktion der Gleichheit der souveränen Staaten überall dort durch, wo die britischen, portugiesischen und spanischen Kolonisten sich als Herrschaftsträger etablierten und am Ende des 18. sowie zu Beginn des 19. Jahrhunderts neue Staaten gründeten. Die dort aus den europäischen Kolonien hervorgehenden Staaten sollten denjenigen Staaten gleich sein, deren Regierungen zuvor Kolonialherrschaft in Amerika ausgeübt hatten. Das Mittel zur Gründung dieser Staaten war Revolution, in Nordamerika gebunden an Ausübung militärischer Gewalt. In Ostasien kam die Fiktion der Gleichheit der souveränen Staaten erst nach der Zerstörung des tributären chinesischen Herrschaftssystems durch europäische Intervention seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Geltung.52 In Südasien ersetzte die britische Regierung das tributäre Herrschaftssystem der Mogule durch ihre Kolonialherrschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zerstörte also die Souveränität dort bestehender Staaten.53 In Südostasien und Afrika fand keine Staatensukzession im Zusammenhang mit europäischer Kolonial49

Zum mittelalterlichen Souveränitätsdenken siehe Bibliografie Nr. 92. Charles de Grassaille, Regalium Franciae libri duo, Lyon: Saint Vincent 1538, S. 1. Siehe dazu: Georges Weill, Les théories sur le pouvoir royal en France pendant les guerres de religion, Paris: Hachette 1891, S. 48 [Nachdruck, Genf: Slatkine 1971]. Helmut Quaritsch, Souveränität, Berlin: Duncker & Humblot 1986, S. 30 (Schriften zur Verfassungsgeschichte. 38.). 51 Bodin, République (wie Anm. 32), lib. I, cap. 10, Neudruck, 1. Bd., S. 295–341. 52 Susanne Weigelin-Schwiedrzik, Zentrum und Peripherie in China und Ostasien, in: Ostasien 1600–1900, hg. von Sepp Linhart und Susanne Weigelin-Schwiedrzik, Wien: Promedia 2004, S. 88–92 (Edition Weltregionen. 10.). 53 Margret Franz, „Clash of Sovereignty“. Britische und indigene Herrschaftskonzepte am Beispiel Südindien, in: Südasien in der Neuzeit, hg. von Karin Preisendanz und Dietmar Rothermund, Wien: Promedia 2003, S. 29–46 (Edition Weltregionen. 5.). 50

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expansion statt, da die europäischen Regierungen die Souveränität ihrer Vertragspartner auch dann anerkannten, wenn sie ungleiche Verträge schlossen und Herrschaftsrechte ausüben wollten. Im Europa der Frühen Neuzeit verzögerte der instrumentale Charakter der Fiktion der Gleichheit souveräner Staaten zunächst deren allgemeine Anerkennung. Denn der Römische Kaiser als damals scheinbar alleiniger Träger vorgeblich universaler Herrschaft war bis 1606 nicht und zwischen 1648 und 1714 nur zögerlich bereit, andere Herrscher und die ihnen untergebenen Staaten als ihm und dem Römischen Reich gleich anzuerkennen. Bezeichnenderweise fand der seit dem 16. Jahrhundert geläufige Begriff des Gleichgewichts der Macht54 nicht vor Mitte des 17. Jahrhunderts Erwähnung in völkerrechtlichen Verträgen55 und wurde erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts zum rechtlich relevanten Kriegsgrund formalisiert.56 Die Souveränitätstheorie erschwerte zusätzlich die kaiserliche Anerkennung der juristischen Fiktion der Gleichheit der Souveräne. Da Souveränität bis ins 18. Jahrhundert häufig personal gefasst war,57 musste die Anerkennung die54 Siehe beispielsweise: William DeBritaine, The Interest of England in the Present War with Holland, London: Edwin 1672. Robert MacWard, The English Ballance. Weighing the Reason of Englandes Present Conjunction with France against the Dutch, London: s. n. 1672. Zur Gleichgewichtspolitik des 17. und 18. Jahrhunderts siehe Bibliografie Nr. 72. 55 Vertrag zwischen Dänemark und Frankreich, vertreten durch König Christian IV. und Mazarin, vom 12. November 1645, Art. 12, in: Corps universel (wie Anm. 47), 6. Bd., S. 329. Friede von Rijkswijk vom 20. September 1697, in: CTS, 21. Bd., S. 413 (lateinische Fassung), S. 456 (französische Fassung). Friedensvertrag zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich, Utrecht, 11. April 1713, Präambel, in: CTS, 27. Bd., S. 478. Friedensvertrag zwischen Spanien und dem Vereinigten Königreich, Utrecht 13. Juli 1713, Art. 2, in: CTS, 28. Bd., S. 299–300 (lateinische Fassung), S. 325–326 (englische Fassung). Im Rijkswijker Frieden und im britisch-französischen Vertrag von 1713 wird das Wort tranquillité gebraucht, das im britisch-spanischen Vertrag von 1713 als Ziel der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der Macht bezeichnet wird. Dadurch wird belegt, dass tranquillité eine völkerrechtliche Gleichgewichtsbezeichnung war. 56 Zu den Quellen siehe oben, Kap. 3, Anm. 82. Zu Debatten um die Friedenspolitik siehe Bibliografie Nr. 50. 57 Schon im frühen 16. Jahrhundert wiesen auch Protestanten auf die Schwierigkeiten hin, die der Position des Kaisers nach der Reichsverfassung aus der Anerkennung des Status von Obrigkeiten an die Reichsstände zuwachsen würden. Siehe: Martin Luther, Ob Kriegs leut auch im seligen Stande seyn künden, Straßburg: Knobloch; Augsburg: Steiner 1527), s. p. Lazarus Spengler, Verantwurtung und Auflösung etlicher vermaynter Argument und Ursachen, so zu˚ Widerstandt und Verdruckung des Wort Gottes und hayligen Evangeliums von denen, die nitt Christen sein und sich doch Christennamens rümen, täglich gepraucht werden [Augsburg: Ulhart 1524], hg. von Berndt Hamm und Wolfgang Huber, Spengler, Schriften der Jahre 1508 bis Juni 1525, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1995, S. 381 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschcihte. 61.) Spengler, Bedenken [um

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ser Fiktion durch den Kaiser gebunden sein an das Zugeständnis der Souveränität an andere Herrscher innerhalb wie außerhalb des Reichs. Zumal die Habsburger als gewissermaßen kaiserliche Dynastie taten sich aber schwer mit dem Verzicht auf ihren Führungsanspruch im Kampf gegen das Osmanische Reich, der im 17. und 18. Jahrhundert als Krieg um Herrschaft in Südosteuropa zwischen den Habsburgern und dem osmanischen Sultan ausgetragen wurde. Zuerst im Jahr 1606 fand sich der Kaiser dazu bereit, einen völkerrechtlichen Vertrag mit dem Sultan zu schließen und damit dessen Gleichheit als Vertragspartner rechtlich bindend anzuerkennen.58 Auf breiter 1529], in: Deutsche Reichstagsakten. Jüngere Reihe, 8. Bd., hg. von Wolfgang Steglich, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1970, S. 502–503. Später: Bodin, République (wie Anm. 32), lib. I, cap. 10, Neudruck, 1. Bd., S. 306–307. Obrigkeit und Souveränität waren in diesen Aussagen personal gefasst. Hingegen ist in den Obrigkeitslehren, die zur Legitimation städtischer Herrschaft dienten, Souveränität stets an Institutionen gebunden. Im Jahr 1545 beispielsweise definierte Martin Bucer den Begriff oberkayt in Bezug auf die Stadt Hamburg als „die gantze verwaltigung . . . in den drei stucken, jn macht gesetze der stat zumachen, gebott unnd verbott zuthun, in freier Jurisdiction zu richten“. Siehe: Martin Bucer, Consilium causae Hamburgensis [1545], hg. von Hans von Schubert, Die Beteiligung der dänisch-holsteinischen Landesfürsten am hamburgischen Kapitelstreit und das Gutachten Martin Bucers von 1545, Preetz: Verein für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte 1904, S. 34–35 (Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte, 2. Reihe, Bd. 3.). 58 Das im Schreiben Sultan Süleymans des Prächtigen vom Jahr 1547 erwähnte Friedensabkommen mit König Ferdinand I., in das auch dessen Bruder Karl einbezogen war, bleibt hier außer Betracht, da Karl dem Bündnis in seiner Eigenschaft als spanischer König beitrat. In: Regesten der osmanischen Dokumente im Österreichischen Staatsarchiv, Nr. 95, hg. von Ernst Dieter Petritsch, Wien: Generaldirektion des Österreichischen Staatsarchivs 1991, S. 52 (Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. Ergänzungsband 10,1.). Anton Kornelius Schaendlinger, Das Schreiben Süleymans des Prächtigen an Karl V., Ferdinand I. und Maximilian II. aus dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1983 (Denkschriften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Philos.-Hist. Kl. 163.). Kaiser Karl V. (1500–1558), hg. von Petra Kruse, Bonn: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland 2000, S. 209–210. Friedensvertrag von Zsitvatorok zwischen Kaiser Rudolf II. und Sultan Ahmed I., 1606, Art. II, in: Recueil d’actes internationaux de l’Empire Ottoman, hg. von Gabriel Noradounghian, 1. Bd., Paris: Pichon; und Leipzig: Breitkopf & Härtel 1897, S. 107–108 [Nachdruck, Nendeln: Kraus 1978]. Art. II (in lateinischer Fassung) legte fest, dass beide Vertragsparteien sich wechselseitig als „Caesar“ titulierten. Die türkische Fassung wich aber in anderen Formulierungen von der lateinischen ab. Der Frieden wurde 1615/16 erneuert (ebenda, S. 113–4). Am 26. Januar 1699 wurde dann in dem Grenzort Carlowitz eine Serie von Verträgen geschlossen. Die Serie besteht aus eine Friedensvertrag zwischen dem Kaiser und dem Sultan, in: CTS, 22. Bd., S. 221–235; einem Friedensvertrag zwischen dem König von Polen und dem Sultan, in: CTS, 22. Bd., S. 249–256; einem Friedensvertrag zwischen dem Sultan und Venedig, in: CTS, 22. Bd., S. 267–278; und einem Abkommen zwischen dem Kaiser und dem König von Polen über die Beziehungen Ve-

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Front gingen die Habsburger erst nach dem Spanischen Erbfolgekrieg dazu über, die juristische Fiktion der Gleichheit der Herrscher als Souveräne und der ihnen unterstellten Staaten von politischen Langzeitzielen zu trennen und als Wert an sich zu kategorisieren. Erst dann wurde es möglich, das Römische Reich in den Kategorien des Staatsrechts zu beschreiben.59 Gelehrte wandten den Grundsatz der Gleichheit der Souveräne auch außerhalb Europas an. So bezeichnete an der Wende zum 18. Jahrhundert der Lemgoer Arzt Engelbert Kaempfer, der von 1690 bis 1692 in holländischen Diensten in Japan tätig gewesen war, den Sho¯gun von Japan mit dem Titel „Kaiser“ und wies Japan damit eine China gleiche völkerrechtliche Position zu, dessen Herrscher in der europäischen Terminologie ebenfalls den Kaisertitel trug. Konsequent wies Kaempfer die aus dem 16. Jahrhundert überkommene Auffassung der Jesuiten zurück, die die Abstammung der Japaner von den Chinesen und damit deren Vorrang vor den Japanern postuliert hatten.60 Als die Theorie des Völkerrechts im 18. Jahrhundert dazu überging, Gleichheit aus dem Naturrecht abzuleiten, hatte die aus der Ableitung folnedigs zum Osmanischen Reich, in: CTS, 22. Bd., S. 289–293. Die portugiesischen Könige hingegen verwandten in ihren frühen Verträgen mit Herrschern in Süd- und Südostasien lehnsrechtliche Abhängigkeitsformeln, mit deren Hilfe sie sich selbst als Oberherren über ihre Vertragspartner darstellen konnten. Vor Bodin waren demnach Verträge zwischen Herrschern nicht gebunden an die Anerkennung der Gleichheit der Vertragspartner. Siehe: Julio Firmino Judice Biker, Colleção de tratados, 1. Bd., Lissabon: Imprensa nacional 1881, Nrn. I/1, I/9 [Nachdruck, New Delhi und Madras: Asian Educational Services 1995]. Zu den kaiserlich-osmanischen Beziehungen siehe Bibliografie Nr. 93. 59 Johann Jacob Moser, Von der Landeshoheit derer teutschen Reichsstände überhaupt, Frankfurt und Leipzig: Mezler 1773, S. 16–17 (Neues Staatsrecht. 14.) [Nachdruck, Osnabrück: Biblio-Verlag 1968]. Georg Friedrich Martens, Einleitung in das positive Europäische Völkerrecht auf Verträge und Herkommen gegründet, Göttingen: Dieterich 1796, 1. Bd., 1. Hpst, § 12, 2. Hpst, §§ 15–17. Johann Stephan Pütter, Beyträge zur näheren Erläuterung und richtigen Bestimmung einiger Lehren des teutschen Staats- und Fürstenrechts, I. Teil, Göttingen: Vandenhoeck 1777, S. 30–32. Zur Diskussion um das Streben nach Souveränität der Reichsstände siehe: Heinz Duchhardt, Das Reich in der Mitte des Staatensystems, in: Das europäische Staatensystem im Wandel, hg. von Peter Krüger, München: Oldenbourg 1996, S. 1–9 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 35.). Bernd Matthias Kremer, Der Westfälische Friede in der Deutung der Aufklärung, Tübingen: Mohr 1989, S. 72–75, 88–95 (Ius ecclesiasticum. 37.). Erwin Schömbs, Das Staatsrecht Johann Jakob Mosers (1701–1785), Berlin: Duncker & Humblot 1968 (Schriften zur Verfassungsgeschichte. 8.). Heinhard Steiger, Die Träger des ius belli ac pacis. 1648–1806, in: Staat und Krieg, hg. von Werner Rösener, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 124–125. Mack Walker, Johann Jakob Moser and the Holy Roman Empire of the German Nation, Chapel Hill; University of North Carolina Press 1981. 60 Engelbert Kaempfer, Von dem Uhr sprung der Einwohner, in: Kaempfer, Heutiges Japan, hg. von Wolfgang Michel und Barend J. Terwiel, München: Iudicium 2001, S. 67–78 (Kaempfer, Werke. 1. Bd.).

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gende Anerkennung der juristischen Fiktion der Gleichheit der personalen Souveräne und der ihnen unterstellten Staaten gravierende Folgen für die Praxis der internationalen Beziehungen. Einerseits gestattete die Fiktion den Ausbau der Schiedsgerichtsbarkeit als Bestandteil des europäischen Völkerrechts.61 Andererseits bedeutete sie neben manch Anderem, dass Verträge formal, das heißt mindestens in den nichtdispositiven Teilen, reziprok zwischen denjenigen Herrschern sein mussten, die sich als Souveräne anzuerkennen bereit waren.62 Umgekehrt musste nunmehr unausweichlich aus der Reziprozität völkerrechtlicher Verträge leicht auf die implizite Anerkennung 61 Zur Ableitung der Gleichheit aus dem Naturrecht siehe: Gottfried Achenwall, Ius naturae in usum auditorum, 5. Aufl., Göttingen: Bossiegel 1763, S. 63–64 [zuerst, ebenda 1755]. Karl Anton Freiherr von Martini, Lehrbegriff des Naturrechts, 2. Aufl., Wien: Hörling 1781, S. 44 [zuerst u. d. T.: De lege naturali positiones, Wien: Kaliwoda 1764]. Gottlob August Tittel, Erläuterungen der theoretischen und praktischen Philosophie nach Herrn Feders Ordnung, 5. Bd.: Natur- und Völkerrecht, Frankfurt: Garbe 1786, S. 8 [Nachdruck der 9. Aufl. von 1799, Aalen: Scientia 1970]. Wolff, Jus (wie Anm. 32). Die neuere Forschung hat klargestellt, dass, entgegen der Annahmen der älteren Literatur, auch im 17. und 18. Jahrhundert Schiedsgerichtsbarkeit zur Regelung von Konflikten, auch während Kriege geführt wurden, üblich war. Zur Diskussion um die frühneuzeitliche Schiedsgerichtsbarkeit siehe Bibliografie Nr. 94. 62 In den Verträgen von Münster und Osnabrück von 1648 kam allen vertragschließenden Monarchen der Titel „Majestät“ zu, was die Anerkennung von Ranggleichheit zum Ausdruck brachte. Die völkerrechtliche Theorie zog seit dem späten 17. Jahrhundert nach und verband den Abschluss von Verträgen zwischen Souveränen mit der Anerkennung von Gleichheit unter den vertragschließenden Parteien. Siehe: Samuel von Pufendorf, De jure naturae et gentium, lib. V, cap. 3, Amsterdam: Hoogenhuysen 1688 [Nachdruck, Oxford: Clarendon Press 1934; auch hg. von Frank Böhling, Berlin: Akademie-Verlag 1998, S. 467–474 (Pufendorf, Gesammelte Werke. 4.)] Gabriel Bonnot, Abbé de Mably, Droit public de l’Europe fondé sur les traits [1748], in: Bonnot, Œuvres complètes, 5. Bd., Lyon: Delamollière 1792, S. 201. August Wilhelm Heffter, Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart, §§ 82–83, 4. Aufl., Berlin: Schröder 1861, S. 155–156 [zuerst, Berlin: Schröder 1844, 6. Aufl., hg. von Heinrich Geffken, Berlin: Schröder 1881, 8. Aufl., Berlin: Müller 1888; Mikrofiche-Nachdruck der 1. Aufl., Zug: Inter Documentation 1982]. Der Osmanische Sultan akzeptierte die in der Majestätsbezeichnung mitklingende Anerkennung der Gleichrangigkeit der Vertragsparteien in dem für ihn wenig vorteilhaften Vertragswerk von Carlowitz 1699 (wie Anm. 58). Siehe dazu: Heinz Duchhardt, Friedenswahrung im 18. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 240. Bd. (1985), S. 265–282, insbes. S. 275. Helmut Gabel, Altes Reich und europäische Friedensordnung. Aspekte der Friedenssicherung zwischen 1648 und dem Beginn des Holländischen Krieges, in: Krieg und Kultur. Die Rezeption von Frieden in der Niederländische Republik und im Deutschen Reich. 1568–1548, hg. von Horst Lademacher und Simon Groenveld, Münster, New York, München und Berlin: Waxmann 1998, S. 467–468. Die im Vertragswerk von Carlowitz manifeste Einbeziehung des Osmanischen Reichs in das Sicherheitsgarantien umfsssende internationale System Europas hatte bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts der Theoretiker Crucé gefordert. Siehe dazu: Francis Harry Hinsley, Power and the Pursuit of Peace.

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von Souveränität geschlossen werden. Die Möglichkeit dieses Schlusses hatten Theodor Reinkingk und Hugo Grotius in der juristischen Debatte um die staats- und völkerrechtliche Stellung des Römischen Reiches bereits angedeutet.63 Der Abschluss formal reziproker völkerrechtlicher Verträge trug also Bedeutung über deren jeweiligen Rechtsinhalt hinaus und konnte somit Element internationaler Politik sein. So war der Kaiser gehalten, den Abschluss von Verträgen zu vermeiden, wo er nicht Gefahr laufen wollte, die Souveränität seiner Vertragspartner implicite anzuerkennen.64 Theory and Practice in the History of Relations between States, Cambridge: Cambridge University Press 1963, S. 20–21. Zu Crucé siehe oben, Kap. 3, Anm. 80. 63 Theodor Reinkingk, Tractatus de regimine seculari vel ecclesiastico, lib. I, cl. 2, cap. 1, Gießen: Hampel 1619, S. 14, 17 [3. Aufl., Marburg: Hampel 1641, S. 25–26]. Grotius, De Jure, lib. II, cap. XV, § 7 (wie Anm. 23). Bogislaus von Chemnitz [i. e., Hippolitus a Lapide], Dissertatio de ratione status in imperio nostro Romano-Germanico, Freistadt: s. n. 1647, S. 25, 40, 50. Ludolf Hugo, De statu regionum et regimine principum summae Imperii reipublicae aemulo, cap. 3, §§ 1–4, cap. 4, §§ 11–2, 15, Gießen: Karger 1689, S. 52–57, 144–148, 152 [zuerst, Helmstedt: Müller 1670; weitere Ausg., Helmstedt: Hamm 1708; Leipzig: s. n. 1736]. Pufendorf, Ius, lib. VII, cap. 5, § 17–8; lib. VII, cap. 6, § 1, S. 715–717, 722 [Neudruck (1998), S. 690–692, 696]. In seiner Schrift über die Reichsverfassung, De statu imperii Germanici [1667], hg. von Fritz Salomon, Weimar: Böhlau 1910, beschrieb Pufendorf, der Hobbes’s Souveränitätslehre übernahm, gegen Reinkingk die Reichsverfassung als „irregulär“, das heißt, nicht eindeutig im Sinn des Aristotelismus als monarchisch oder republikanisch bestimmbar, und legte sich folglich nicht auf eine eindeutige Aussage zur Allokation von Souveränität im Reich fest, betrachtete gleichwohl das Reich als aus vollsouveränen Staaten mit einem beamtenähnlichen Haupt an der Spitze zusammengesetzt, das kein Herrscher sei. Zum Weiterwirken dieser Souveränitätslehre in das 19. Jahrhundert siehe: Henry Wheaton, Elements of International Law, § 252, 3., englische Aufl., hg. von Alexander Charles Boyd, London: Stevens 1889, S. 356 [zuerst, London und Philadelphia: Lea & Blanchard 1836; 8. Aufl., hg. von Richard Henry Dana, London: Low 1866; 1. Aufl. von Boyd, 1878; Nachdruck der Originalausgabe, New York: Da Capo 1972; Nachdruck der Ausgabe von Dana, hg. von George Grafton Wilson, Oxford: Clarendon Press 1936]. Siehe auch oben, Kap. 3, Anm. 79. Zu den Gleichheit der Vertragsparteien suggerierenden Verträgen zwischen Reichsständen siehe: Steiger, Träger (wie Anm. 59), S. 120–132. Zur Debatte um die Verfassungsstruktur des Reichs in der politischen Theorie des 18. Jahrhunderts, der Bewertung der Vorbildlichkeit des Reichsverfassung sowie zur Schwierigkeit, für die Beschreibung der Reichsverfassung adäquate juristische Begriffe zu finden, siehe Bibliografie Nr. 70. 64 Da Teile der nördlichen Niederlande seit 1548 zum Burgundischen Reichskreis gehörten, verweigerte der Kaiser die Anerkennung der Niederlande als Staat und trat folglich dem am 30. Januar 1648 zu Münster geschlossenen niederländisch-spanischen Vertrag nicht bei. In diesem Vertrag gestand König Philipp IV. von Spanien den nördlichen Niederlanden zu, sie seien „freye und niemandem unterworffene Staten“. Siehe: Tractatus pacis trigesimo Januarii, anno supra millesimum sexcentesimo quadragesimo octavo, Monasterii Westfalorum inter Serenissimum et potentissimum Principem Philippum, Regem Hispaniarum, etc. ab una; et Celsos Potentesque Dominos Ordines Generales Foederatum Belgii Provinciarum ab altera parte

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Im Verlauf der europäischen Expansion des 19. Jahrhunderts ging nicht nur der personale Charakter des Souveränitätsbegriffs verloren und wurde durch den Grundsatz der Souveränität der Staaten ersetzt, sondern die Bedeutung der politischen Komponente steigerte sich zunehmend in den Entscheidungen der europäischen Kolonialregierungen sowie der Regierung der USA über die Vermeidung der Reziprozität völkerrechtlicher Verträge. Insbesondere seit der Westexpansion der USA in den 1820er und 1830er Jahren sowie seit den Opiumkriegen in den 1830er und 1840er Jahren zeigten die hauptsächlichen europäischen Kolonialregierungen und die Regierung der USA zunehmend weniger Bereitschaft zum Abschluss materiell, das heißt die dispositiven Teile betreffender, reziproker völkerrechtlicher Verträge mit den Opfern ihrer Expansion. Dabei blieb die Forderung bestehen, dass Verträge unter Souveränen in ihren nichtdispositiven Teilen reziprok sein sollten.65 In europäischer Sicht geronn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Verweigerung materieller Reziprozität zum juristischen Ausdruck kolonialer Herrschaft und zur politischen Manifestation der Ungleichheit der Beziehungen, in Bezug auf die USA, mit den auf dem Territorium der USA lebenden Native Americans,66 in Bezug auf die europäiconclusae, Stadtarchiv Münster, 2 EUR 300-046. In: CTS, 1. Bd., S. 1–69. Teilediert in: Harald Kleinschmidt, Geschichte der internationalen Beziehungen, Stuttgart: Reclam 1998, S. 414–418. Zum Verhältnis der Niederlande zum Reich in der Zeit des Achtzigjährigen Kriegs siehe: Johannes Arndt, Das Heilige Römische Reich und die Niederlande. Politisch-konfessionelle Verflechtung und Publizistik im Achtzigjährigen Krieg, Köln, Weimar und Wien: Böhlau 1998 (Münsterische Historische Forschungen. 13.). Horst Lademacher, Die Souveränität, der Frieden und die Friedlosigkeit. Überlegungen zur außenpolitischen Position der niederländischen Republik im europäischen Mächteverband im Jahrhundert des Westfälischen Friedens, in: Lademacher, Der europäische Nordwesten. Historische Prägungen und Beziehungen. Ausgewählte Aufsätze, hg. von Nicole Eversdijk, Helmut Gabel, Georg Mölich und Ulrich Tiedau, Münster, New York, München und Berlin: Waxmann 2001, S. 71–107, insbes. S. 75–76 [zuerst in: Jahrbuch des Zentrums für Niederlande-Studien 9. Jg. (1998), S. 9–51]. Sowie Bibliografie Nr. 47. 65 So schon: Fisch, Expansion (wie Anm. 36), S. 42–43. Zur völkerrechtlichen Vertragslehre des späten 18. und des 19. Jahrhunderts siehe: Heffter, Völkerrecht, §§ 81–99 (wie Anm. 62), S. 153–184. Johann Ludwig Klüber, Europäisches Völkerrecht, §§ 141–165, 2. Aufl., hg. von Carl Eduard Morstadt, Schaffhausen: Hurter 1851, S. 158–191 [zuerst, Stuttgart: Cotta 1819]. Johann Christoph Wilhelm von Steck, Versuch über Handels- und Schiffahrtsverträge, Halle: Gebauer 1782. Wheaton, Elements (wie Anm. 63), S. 356. 66 Siehe zum Beispiel noch die Serie von Zessionsverträgen zwischen der Regierung der USA und Gruppen von Native Americans im Jahr 1854, in: CTS, 112. Bd., S. 318–374. Alle diese Verträge stipulierten Staatszerstörung zu Lasten der Native Americans. Im völkerrechtstheoretischen Schrifttum figurierte Zession als Wegfall von Völkerrechtssubjektivität, in deren Konsequenz zwischenstaatliche Verträge wegen Wegfalls einer vertragschließenden Seite für wirkungslos erklärt wurden. So: Schönborn, Staatensukzessionen (wie Anm. 20), S. 2–3.

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schen Kolonialregierungen, mit Staaten in Afrika,67 West-,68 Süd-69 und Südostasien70 sowie auch in Nordamerika außerhalb der USA und im Südpazifik.71 Unter Beibehaltung formaler Gleichheit geronnen die in der Phase der europäischen Kolonialexpansion abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge in europäischer Sicht – und nur in dieser – zu Instrumenten der Legalisierung militärischer, politischer und wirtschaftlicher Machtausübung. Die europäischen Kolonialregierungen verfolgten aber weiterhin häufig die aus dem 18. Jahrhundert überkommene Praxis, die Verweigerung materieller Reziprozität in einem Vertragsformular zum Ausdruck zu bringen, das reziproke Elemente im Proto- und Eschatokoll enthielt und dadurch Gleichheit zum Ausdruck brachte. Den Opfern europäischer Kolonialexpansion konnte die so verhüllte Rechtsgrundlage dieser Machtausübung nicht unmittelbar sofort bewusst werden. Darüber hinaus hatten Reziprozität völkerrechtlicher Verträge und die juristische Fiktion der Gleichheit souveräner Staaten die wesentliche Kon67 Siehe zum Beispiel den Freundschafts- und Handelsvertrag zwischen dem König von Bonny und dem Vereinigten Königreich, 9. April 1837, in: CTS, 86. Bd., S. 420–423. 68 Zum Beispiel siehe den Vertrag zwischen Muskat und dem Vereinigten Königreich zur Abschaffung des Sklavenhandels vom 14. April 1873, in: CTS, 146. Bd., S. 118–119. 69 In Bezug auf den indischen Subkontinent endete die Praxis des Abschlusses von Verträgen mit ohnehin nur rudimentär ausgebildetem reziprokem Protokoll bereits an der Wende zum 19. Jahrhundert. Zum Beispiel siehe den Bündnis- und Freundschaftsvertrag zwischen der englischen Ostindischen Kompagnie und der Herrscherin von Cannonore vom 8. Januar 1784, in: CTS, 49. Bd., S. 18–19. Abkommen zwischen der Kompagnie oder, nachfolgend der britischen Regierung, einerseits sowie indischen Regierungen andererseits waren dagegen im 19. Jahrhundert oft Zessionsverträge. Siehe zum Beispiel den Vertrag der Kompagnie mit Maharajah Duleep Singh von Lahore vom 29. März 1849, in: CTS, 103. Bd., S. 17–19. Hier handelte es sich um Staatszerstörung durch Vertrag zu Lasten des Maharajah. 70 Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag zwischen Frankreich und Thailand, 15. August 1856, in: CTS, 114. Bd., S. 392–403. 71 Im Vereinigten Königreich schlug das Parlament noch in den 1830er Jahren die Anwendung des Prinzips der Treuhänderschaft vor als Rechtsgrundlage für die als „Zivilisationsmission“ ausgegebene Herrschaft über die Native Americans vor. Siehe: Report of the Parliamentary Select Committee on Aboriginal Tribes (British Settlements), London: Aboriginal Protection Society 1837 [Nachdruck, Kapstadt: Struik 1966]. Im Südpazifik geronn der sogenannte „Vertrag“ von Waitangi zwischen Ma¯ori und dem Vereinigten Königreich vom 5./6. Februar 1840, in: CTS, 89. Bd., S. 475, zu einer Rechtsquelle für Staatszerstörung. Zu dem Parlamentsbericht siehe: S. James Anaya, Indigenous Peoples in International Law, 2. Aufl., Oxford: Oxford University Press 2004 [zuerst, ebenda 2000], S. 23–27. Russel Lawrence Barsh und James Youngblood Henderson, The Road. Indian Tribes and Political Liberty, Berkeley und London: University of California Press 1980, S. 86. Zu dem „Vertrag“ von Waitangi siehe unten, Anm. 242 und 243.

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sequenz, dass die Staatensukzession, wo sie denn stattfand, nicht selbst Gegenstand völkerrechtlicher Verträge sein konnte. Da Staatsentstehung nur als Folge von Staatszerstörung aufgefasst werden und Staatszerstörung nicht Gegenstand reziproker völkerrechtlicher Verträge sein konnte, war Staatensukzession kein Gegenstand völkerrechtlicher Verfahren. Sie figurierte daher nicht in den Standardwerken der Völkerrechtstheorie des 16., 17. und 18. Jahrhunderts. Für den spanischen Spätscholastiker Francisco de Vitoria waren zwar die spanischen Eroberungen in Amerika zentrales Thema. Aber von Staatensukzession war bei ihm keine Rede.72 Im 17. Jahrhundert bot Grotius eine breit gefächerte Kasuistik von Übeltaten, die im Krieg möglich, ja zulässig sein sollten. Aber den Fall der Zerstörung und Neubildung von Staaten sah er nicht vor.73 Auch die Völkerrechtstheoretiker des 18. Jahrhunderts gingen nicht nur auf Staatensukzession nicht ein, sondern legten ausdrücklich fest, dass auch okkupierte Staaten unter der Souveränität externer Herrscher weiterhin Staaten seien und deren Bevölkerung alle in der Staatlichkeit ihrer Politie gründenden Rechte nutzen könne.74 Selbst die Bezeichnung Unabhängigkeit trat zuerst mit der amerikanischen „Unabhängigkeitserklärung“ von 1776 in die juristisch formulierte politische Programmatik ein. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es in Europa nicht nur keinen Begriff der Unabhängigkeit neuer Staaten, sondern es fanden auch keine Verfahren statt, in deren Verlauf neue, unabhängige Staaten allseitig anerkannt worden wären. Weder die Niederlande75 noch die Schweiz76 erreichten vor dem 19. Jahrhundert eine allseitige Anerkennung ihrer „Unabhängigkeit“ als Staaten. 72

Francisco de Vitoria, De Indis (wie Anm. 22, Ausg. von Schaetzel), S. 118–171 Siehe auch: Vitoria, De justitia, lib. 2, cap. 2, Nr. 52,1,28, hg. von Vicente Beltrán de Heredia, 1. Bd., Salamanca: Spartado 1934, S. 81–82 (Biblioteca de teólogos espan˜oles. 5.) [Neuausgabe, hg. von Luis Frayle Delgado, Madrid: Tecnos 2003 (Clásicos del pensiamento. 147.)]. 73 Grotius, De jure, lib. II, cap. 8: De acquisitionibus quæ vulgo dicuntur juris gentium, Neuausgabe (wie Anm. 23), S. 195–205 [Neudruck, hg. von Kanter van Hettings Tromp, S. 295–308]. 74 Vattel, Droit, lib. III, cap. 13, § 201 (wie Anm. 24), 2. Bd., S. 177–182. 75 Zum niederländisch-spanischen Vertrag vom 30. Januar 1648 siehe oben, Anm. 64. Der Begriff der Unabhängigkeit scheint weder in ihm noch in den Texten auf, die die Rechtfertigung der niederländischen Revolution in den Jahren 1579 und 1581 enthalten (siehe oben, Anm. 12, und Kapitel 2, Anm. 131). Zudem galt der Vertrag nicht für diejenigen Territorien der Niederlande, die nach Reichsrecht Bestandteile des Römischen Reichs waren. Die Niederlande waren nicht Gegenstand von Vereinbarungen im Vertragswerk von Münster und Osnabrück. Erst nach Beendigung der Napoleonischen Kriege erreichten die Niederlande ihre völkerrechtliche Anerkennung als souveräner Staat. Siehe zum Beispiel den Frankfurter Vertrag zwischen dem Haus Oranje und dem Haus Nassau vom 26. November 1813, in: CTS, 62. Bd., S. 493–498.

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Die politische Theorie sekundierte. Von Engelbert von Admont77 über Salamonius,78 Lipsius,79 Mariana80 und Hobbes81 ließ man Menschen Herrschaft tragende Institutionen in einem hypothetisch in fern vergangenen Zeiten geschlossenen Vertrag gründen, durch die Bevölkerungsgruppen einmalig und unwiderruflich ihr angeblich naturrechtlich gegebenes Privileg der Selbstregierung einer Herrschaft tragenden Person oder Institution über76 Instrumentum Pacis Monasteriense, § 61 = Instrumentum Pacis Osnabrugense, Art. VI., in: Kaiser und Reich, hg. von Arno Buschmann, München: Dtv, 1984), S. 336, 387. Hier bestätigten die Westfälischen Verträge gegenüber dem Vertreter des Kantons Basel lediglich das von Kaiser Maximilian I. im Basler Vertrag vom 22. September 1499 der Eidgenossenschaft faktisch zugestandene Introitusverbot und schrieben das Ausscheiden der Stadt Basel und der mit ihr verbündeten eidgenössischen Orte aus dem Zuständigkeitsbereich der Reichsgerichte sowie die Exemtion der Stadt Basel und der mit ihr verbündeten eidgenössischen Orte vom Reich fest. Auch ohne dass diese Festschreibung ausdrücklich auf die gesamte Eidgenossenschaft bezogen war, ging man davon aus, dass die im Vertragswerk zugestandenen Privilegien für die Eidgenossenschaft insgesamt gelten sollten. Gleichwohl ist von Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft im Vertragswerk nicht die Rede, die erst auf dem Wiener Kongress 1815 völkerrechtlich anerkannt wurde. Siehe: CTS, 64. Bd., S. 7–12. Der Basler Vertrag ist ungedruckt. Original: Wien, Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv. Kopien u. a. in: Stuttgart, Württembergisches Hauptstaatsarchiv, A 602 WR 14952. Regest in: Ausgewählte Regesten des Kaiserreiches unter Maximilian I., hg. von Hermann Wiesflecker u. a., 3. Bd., 2. Teil, Wien: Böhlau 1998, Nr. 13766, S. 788–789 (Regesta Imperii. 14.). Zur Stellung der Schweiz im frühneuzeitlichen Europa siehe Bibliografie Nr. 95. Dagegen behauptete James Crawford, The Creation of States in International Law, 2. Aufl., Oxford: Clarendon Press 2006, S. 10–11 [zuerst, Oxford: Oxford University Press 1979], die Schweiz insgesamt habe durch die Westfälischen Verträge „complete independence“ erlangt. 77 Engelbert von Admont, De ortu et fine Romani imperii, cap. 2, hg. von Melchior Goldast von Haiminsfeld, Politica imperialia, Frankfurt: Bringer 1614, S. 755. 78 Marius Salamonius, De principatu libri septem, Rom: Cartolari 1544, S. 38 [weitere Ausg., Paris: DuVal 1578; Nachdruck der Originalausgabe, Mailand: Giuffrè 1955 (Pubblicazioni del’ Istituto del Diritto Publlico e di Diritto dello Stato dell’ Università di Roma, 4. Serie, 5. Bd.)]. 79 Justus Lipsius, Two Bookes of Constancie, übersetzt von John Stradling, London 1595: Richard Iohnes [hg. von Rudolf Kirk und Clayton Morris Hall, New Brunswick, NJ: Rutgers University Press 1939, S. 95–96; zuerst, Antwerpen: Plantin 1584; Nachdruck der Ausgabe von Stradling, hg. von John Sellars, Exeter: Bristol Phoenix Press 2006]. 80 Juan de Mariana, De rege ac Regis institutione libri tres, lib. I, cap. 2, 5, 9, Toledo: Roderico 1599, S. 16–22 [Nachdruck, Aalen: Scientia 1969; spanische Fassung u. d. T.: Del Rey y de la institución real, lib. I, cap. 1, in: Mariana, Obras, 2. Bd., Madrid: Atlas 1950, S. 463–468]. 81 Thomas Hobbes, Leviathan, lib. I, cap. 14, London: Crooke 1651, S. 66–70 [Neudruck, hrg. von Richard Tuck, Cambridge: Cambridge University Press 1991, S. 91–100].

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antworten konnten. Alternativ dazu erkannten Johann Quidort von Paris,82 Althusius83 und Locke84 die Widerrufbarkeit dieser hypothetischen Verträge an. Aber von der Revidierbarkeit des Staatensystems verlautete bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nichts. Im Gegenteil, im Begriff des Staates schwang weiterhin ein Stück der Bedeutung des lateinischen Etymons des Worts Staat mit, das Statik, Stabilität, etwas für sich Stehendes oder Be-Stehendes suggerierte. In der Sprache der Politik der Zeit dominierte die mechanistische Metaphorik des Maschinellen, die Kontinuität und Wohlgeordnetsein evozierte.85 Unter dieser Bedingung der vorausgesetzten Kontinuität der Staaten wurde die juristische Fiktion der Gleichheit der Souveräne und der ihnen unterstellten Staaten konzipierbar und zugleich praktikabel. Die zwar nicht einklagbare, aber doch von der politischen Theorie vorausgesetzte faktische Garantie des Fortbestands der europäischen Staaten als Subjekten des Völkerrechts,86 so wie diese sich bis in das 16. Jahrhundert formiert hatten, ermöglichte die Wahrnehmung ungleich mächtiger Akteure als gleichberechtigte Herrschaftsträger. Völkerrechtssubjektivität galt als nicht manipulierbar. Das änderte sich im Gefolge der Französischen Revolution von 1789, die das mechanistische, statische Staatensystem des Ancien Régime dynamisierte.87 Die neue, an der Metapher des Lebens orientierte Dynamik erfasste innen- wie außenpolitische Debatten. Im innenpolitischen Bereich setzte 82

Johann Quidort von Paris, De potestati regia et papali, cap. 1, hg. von Fritz Bleienstein, Stuttgart: Kohlhammer 1969, S. 75–78 (Frankfurter Studien zur Wissenschaft von der Politik. 4.). 83 Johannes Althusius, Politica methodice digesta [Herborn: Corvinus 1603, 3. Aufl., ebenda 1614], hg. von Carl Joachim Friedrich, cap. 1, Rz 2, Cambridge, MA: Harvard University Press 1932, S. 17 [Nachdruck der 3. Aufl. der Originalausgabe, Aalen: Scientia 1981; Nachdruck der Ausg. Friedrichs, New York: Arno Press 1979]. 84 Locke, Treatises (wie Anm. 23), lib. II, cap. 8, §§ 95–99, hrsg. von Laslett, S. 346–355. 85 Reinhart Koselleck, Die Geschichte der Begriffe und Begriffe der Geschichte, in: Herausforderungen der Begriffsgeschichte, hg. von Carsten Dutt, Heidelberg: Winter 2003, S. 7–12 (Beiträge zur Philosophie. N. F.) Paul-Ludwig Weinacht, Staat. Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert, Berlin: Duncker & Humblot 1968 (Beiträge zur politischen Wissenschaft. 2.). Insbesondere zur kontraktualistischen Staatstheorie des 17. und 18. Jahrhunderts siehe Bibliografie Nr. 40. 86 Ludwig Martin Kahle, La balance de l’Europe considerée comme la règle de la paix et de la guerre, Berlin und Göttingen: Selbstverlag 1744, S. 14–17, 67–70, 144–145, 155–156. Jacob Friedrich von Bielfeld, Institutions politiques, Den Haag: Gosse 1760, S. 87–88, 94–95. 87 Zum Gegensatz zwischen Mechanismus und Biologismus siehe Bibliografie Nrn. 73, 74.

II. Souveränität, Reziprozität und Moral

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sich die Doktrin durch, dass die Staaten nach den vermeintlich tradierten kollektiven Identitäten nur eines bestimmten Typs von Bevölkerungsgruppe, nämlich der Nation, zu formieren seien. Im 18. Jahrhundert hingegen war die Erwartung gängig gewesen, dass die beobachteten Unterschiede der kollektiven Identitäten der Bevölkerungsgruppen nicht primär durch Klimata, sondern in erster Linie durch die Herrschaftspraxis in den Staaten geprägt seien.88 Die Durchsetzung des Nationalitätsprinzips als Richtschnur für den Umbau des europäischen Staatensystems am Ende der Napoleonischen Kriege entzündete einen Revisionismus, der keine Tabus kannte. An der Wende zum 19. Jahrhundert verschwanden Staaten mit mehr als tausendjähriger Bestandsdauer, wie etwa Venedig, während neue Institutionen, wie etwa das Königreich der Niederlande errichtet oder einige bereits bestehende Institutionen, wie etwa das Königreich Bayern, nach außen substantiell erweitert und nach innen zentralisiert wurden. Diese Staatensukzessionen fanden vor dem Hintergrund der Anwendung militärischer Gewalt in bis dato unbekanntem Ausmaß statt. Sie führten, wie etwa im deutschen Sprachraum, zwar nicht sofort zu dem oft gewünschten Ergebnis der Errichtung neuer Nationalstaaten. Gleichwohl büßten nur relativ wenige Staaten des Ancien Régimes durch militärische Eroberung ihre Völkerrechtssubjektivität ein. Zumeist geschah dies auf der italienischen Halbinsel, wo Venedig, Genua und der Kirchenstaat Opfer der Truppen Napoleons und nur letzterer Staat restituiert wurde. In den meisten Fällen vollzogen Diplomaten die Staatensukzession auf dem kalten Weg der Einverleibung kleinerer, militärisch, politisch und wirtschaftlich vermeintlich bedeutungsloser Staaten in größere Staaten. Langfristig, das heißt über das 19. Jahrhundert hinaus, erhielten sich unter den europäischen Kleinstaaten und anderen Institutionen ihre aus dem Ancien Régime stammende Völkerrechtssubjektivität unangefochten nur Andorra, Liechtenstein, Monaco, San Marino, die Katholische Kirche, der Malteser Orden und, nach seiner Restitution, der Kirchenstaat. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu regelrechten Einigungskriegen, an deren Ende das Deutsche Reich und das 88 David Hume, Of National Characters, in: Hume, Essays Moral, Political, and Literary [Edinburgh: s. n. 1741; 3. Aufl., London: s. n. 1748], hg. von Thomas Hill Green und Thomas Hodge Grose, 1. Bd., London: Longman & Green 1882, S. 244–258 [Nachdruck, Aalen: Scientia 1964; erweiterte Ausgabe, hg. von Eugene F. Miller, Indianapolis: Liberty Classics 1987]. Zum Begriff des „Nationalcharakters“ im 18. Jahrhundert siehe: Franz Karl Stanzel, Schemata und Klischees der Völkerbeschreibung in David Hume’s Essay „Of National Characters“, in: Studien zur englischen und amerikanischen Literatur. Festschrift für Helmut Papajewski, hg. von Paul Gerhard Buchloh, Inge Leimberg und Herbert Rauter, Neumünster: Wachholtz 1974, S. 363–383 (Kieler Beiträge zur Anglistik und Amerikanistik. 10.). Stanzel, Europäer, Heidelberg: Winter 1997, S. 28–32 [2. Aufl., ebenda 1998]. Stanzel, Zur literarischen Imagologie, in: Europäischer Völkerspiegel, hg. von Franz Karl Stanzel, Heidelberg: Winter 1999, S. 22–23.

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Kap. 4: Völkerrecht, Freihandel und Kolonialismus

Königreich Italien entstanden. Durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch führten Kriege zur Begründung der Balkanstaaten. Keiner dieser Staatensukzessionsverfahren war mit der juristischen Fiktion der Gleichheit souveräner Staaten vereinbar. Zur Legitimation dieser Verfahren brandmarkten deren Propagandisten insbesondere im deutschen Sprachraum seit Ende des 18. Jahrhunderts das aus dem Ancien Régime überkommene europäische Staatensystem als ungerecht und forderten dessen Abschaffung.89 Die Forderung, dass kleinere, mit wenig militärischer, politischer und wirtschaftlicher Macht ausgestattete Staaten in größeren Staaten aufzugehen hätten oder aber ihnen die Anerkennung als juristisch gleiche Souveräne zu verweigern sei, bedeutete, dass für Staaten keine Bestandsgarantie mehr gegeben war und die juristische Fiktion der Gleichheit souveräner Staaten Gegenstand politisch-militärischer Dispositionen werden konnte. Demnach sollten militärisch, politisch und wirtschaftlich mächtige Staaten autonome politische Körper mit ihren Staatsgrenzen als Haut sein.90 Das in der Tradition gründende Recht der Staaten sollte sich Kategorien der Macht beugen. Die probaten Mittel zur Durchsetzung des Machtprinzips sollten Fähigkeit zur Kriegführung, politischer Druck und wirtschaftliches Übergewicht sein. Theoretiker wie etwa Konstantin Frantz billigten nur großen, territorial geschlossenen Weltreichen wie etwa Russland und den USA dieses Potential zu.91 Erst im Verlauf dieser Dynamisierung des Staatensystems während des 19. Jahrhunderts fand die Forderung nach Freihandel in die Politik der europäischen Regierungen Eingang.92 Die Anerkennung von Freihandels89 Johann Gottlieb Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution [Danzig: s. n. 1793], in: Fichte, Schriften zur Französischen Revolution, Leipzig: Reclam 1988, S. 93–94 [Mikrofiche-Nachdruck, München: Saur 1994 (Bibliothek der deutschen Literatur. 4559/4560.)]. Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters [Berlin: Veit, 1806], in: Fichte, Werke 1801–1806, hg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzki, Stuttgart: Fromman-Holzboog 1991, S. 357 (J. G. Fichte Gesamtausgabe. 8. Werkband). Friedrich von Gentz, Fragmente aus der neuesten Geschichte des politischen Gleichgewichts in Europa, 2. Aufl., St Petersburg [recte Riga]: Hartknoch 1806, S. XXIV, 1, 16, 21 [Nachdruck, Osnabrück: Biblio-Verlag 1967]. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, [Die Verfassung Deutschlands, um 1802], in: Hegel, Frühe Schriften, Frankfurt: Suhrkamp 1971, S. 461. 90 Zur Disponibilität der Staaten siehe ausdrücklich: Wilhelm Rüstow, Die Grenzen der Staaten, Zürich: Schultheiss 1868, S. 3–5. Zur Grenze als Haut des Staates siehe: Friedrich Ratzel, Politische Geographie, 3. Aufl., hg. von Eugen Oberhummer, München und Berlin: Duncker & Humblot 1923 [zuerst, ebenda 1897], S. 434. Ähnliche Bilder finden sich auch bei: Nathaniel Curzon, Frontiers, Oxford: Clarendon Press 1907, S. 42. Karl Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, Berlin: Vowinckel 1927. 91 Konstantin Frantz, Die Weltpolitik unter besonderer Berücksichtigung auf Deutschland, 1. Bd., Chemnitz: Schmeitzner 1882, S. 102–124 [Nachdruck, Osnabrück: Biblio-Verlag 1966].

II. Souveränität, Reziprozität und Moral

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regimen war aber nur auf der Basis der juristischen Fiktion der Gleichheit der Staaten denkbar. Aus der europäischen Erfahrung des 19. Jahrhunderts – und erst aus ihr – konnte die Wahrnehmung resultieren, dass Staaten durch Kriege entstehen. Diese Erfahrung war aber begrenzt auf Europa und das 19. Jahrhundert, in dessen Verlauf ab 1815/20 in der Tat in Europa kein Staat ohne Einwirkung militärischen Handelns begründet wurde. Nimmt man Nordamerika hinzu, so erstreckt sich diese Erfahrung bis in das letzte Viertel das 18. Jahrhunderts rückwärts. Außerhalb Europas sind im 19. Jahrhundert Staatsentstehungsprozesse in Anbindung an die Anwendung militärischer Gewalt nicht belegt, obschon Staatszerstörungen durch europäische Regierungen mit militärischen Mitteln erzwungen wurden. Schon die lateinamerikanischen Staatsentstehungsprozesse des frühen 19. Jahrhunderts bestätigten die europäische Erfahrung von Staatsentstehungsprozessen nicht, da sie in der Regel durch Revolution, nicht durch Krieg zustande kamen. Im 20. Jahrhundert waren Staatsentstehungsprozesse während des Ersten Weltkrieges sowie während der formalen Dekolonisation nach dem Zweiten Weltkrieg von Kriegshandlungen begleitet, wenn nicht verursacht. Aber andere Erfahrungen gab es auch, wie die Staatensukzession nach Zerfall der Sowjetunion 1988–1991 belegt. Diese Staatensukzession ging einher mit teils auch gewaltsamen Veränderungen politisch-wirtschaftlicher Strukturen, nicht jedoch mit Kriegen. Eine allgemeine Theorie, die die europäische Erfahrung mit Staatensukzessionen im 19. Jahrhundert verallgemeinert und globalisiert, ist aus historischen Quellen nicht begründbar. Bekanntlich fand die Dynamisierung der europäischen Staatenwelt zeitgleich mit der europäischen Kolonialexpansion statt.93 Es ist daher nicht verwunderlich, dass die an der Expansion beteiligten Regierungen auch außerhalb der Grenzen Europas Staaten sowohl als dynamische Größen auffassten wie auch nach dem Modell des Lebens begriffen. Das hatte gravierende Folgen für die Anwendung der juristischen Fiktion der Gleichheit der souveränen Staaten über Europa hinaus. Diese Folgen sollen in den beiden folgenden Abschnitten thematisiert werden, zunächst in bezug auf Ostasien und Ozeanien, sodann in bezug auf Afrika und wiederum auf Ozeanien.

92 Noch Fichte konzipierte einen Idealstaat in der Form des autarken, nach außen abgeriegelten Staats. Siehe: Johann Gottlieb Fichte, Der geschloßne Handels-Staat, Tübingen: Cotta 1800 [wieder abgedruckt in: Fichte, Werke 1800–1801, hg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky, Stuttgart: Frommann-Holzboog 1988, S. 1–141 (J. G. Fichte Gesamtausgabe. 7. Werkband)]. 93 Die sich aufdrängende Frage nach kausalen Zusammenhängen wird hier nicht gestellt.

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Kap. 4: Völkerrecht, Freihandel und Kolonialismus

III. Europäische Expansion und völkerrechtliche Ungleichheit. Wandlungen des Verhältnisses der Ziele von Freihandelszwang und Kolonialherrschaft am Beispiel ungleicher völkerrechtlicher Verträge zwischen den USA und europäischen Staaten einerseits, China, Japan und Ozeanien andererseits 1. Freihandel und Kolonialismus um die Mitte des 19. Jahrhunderts Bevor Tilly in der erweiterten Fassung seiner Theorie militärische und wirtschaftliche Machtmittel als Faktoren der Staatsentstehung verband, hatte eine in der Wirtschaftsgeschichte und der historisch orientierten Politikwissenschaft gängige Theorie für das 19. und frühe 20. Jahrhundert im Handeln europäischer Regierungen einen Gegensatz zwischen herrschaftlicher Kolonialexpansion unter Anwendung militärischer Gewalt und dem Einsatz wirtschaftlicher Macht zur Durchsetzung von Grundsätzen des Freihandels konstruiert.94 Die Theorie fußt auf der Beobachtung, dass seit dem 94

Desmond Christopher St Martin Platt, The Imperialism of Free Trade. Some Reservations, in: Economic History Review. Second Series, 21. Jg. (1968), S. 292–306. Platt, Further Objections to an „Imperialism of Free Trade“ (1830–1860), in: Economic History Review. Second Series, 26. Jg. (1973), S. 77–91. Platt, Finance, Trade and Politics in British Foreign Policy, Oxford: Clarendon Press 1968, S. 263–265, 367–368. Platt trat Einwänden entgegen, die John Gallagher und Ronald Edward Robinson, The Imperialism of Free Trade, in: Economic History Review 6. Jg. (1953), S. 1–15 [deutsche Fassung in: Imperialismus, hg. von HansUlrich Wehler, Köln und Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 183–200], gegen die Theorie vorgebracht hatten. Gegenüber Ostasien konnte die Theorie auf die Instruktion des britischen Foreign Office vom 20. April 1857 gestützt werden, derzufolge die zweite britische Mission nach Japan nur die Durchsetzung eines Freihandelsregimes zu allgemeinem Nutzen bewirken, jedoch weder Prärogativen für britische Kaufleute erreichen noch der Errichtung von Kolonialherrschaft dienen sollte. Siehe: National Archives (Public Record Office), FO 405/2, S. 23 = fol. 19r. Da zu dieser Zeit freilich außer britischen kaum Schiffe anderer europäischer Staaten im Pazifik kreuzten, kam die Durchsetzung eines Freihandelsregimes praktisch einem Privileg für britische Kaufleute gleich. Obwohl Gallagher und Robinson die Auffassung vertraten, die globale Durchsetzung von Freihandelsregeln durch Kolonialregierungen in Europa und den USA sei Imperialismus mit Mitteln wirtschaftlicher Macht gewesen, teilten sie mit ihren Gegnern doch die Prämisse, dass um die Mitte des 19. Jahrhunderts keine nennenswerte herrschaftliche Expansion von Europa oder den USA ausgegangen sei. Zur Debatte um die Theorie siehe: Richard Koebner, The Concept of Economic Imperialism, in: Economic History Review. Second Series, 2. Jg. (1949), S. 1–29. Charles P. Kindleberger, Foreign Trade and Economic Growth. Lessons from Britain and France. 1850 to 1913, in: Economic History Review. Second Series, 14. Jg. (1961), S. 189–305. Oliver MacDonagh, The Anti-Imperialism of Free Trade, in: Economic History Review. Second Series,

III. Europäische Expansion und völkerrechtliche Ungleichheit

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15. Jahrhundert die Errichtung von Kolonialregimen oft verbunden war mit der Einführung tarifärer wie auch nichttarifärer Handelshemmnisse und dem Versuch, Überseemigration aus Europa in bestimmte Zielgegenden zu lenken. Aus dieser Beobachtung leiteten die der Theorie anhängenden Wirtschaftshistoriker eine Abfolge von Phasen europäischer Kolonialexpansion ab. Nach dieser Abfolge sollte bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts die ältere, wesentlich auf den amerikanischen Kontinent gerichtete Expansion fortgedauert haben, aber um die Jahrhundertmitte durch eine Phase abgelöst worden sein, in der die führenden europäischen Wirtschaftsmächte, insbesondere die britische Regierung, die weltweite Förderung des Freihandels als oberstes Ziel ihrer internationalen Politik festgeschrieben haben sollten. Diese Phase der angeblichen Mid-Victorian Free Trade Policy sei in den 1880er Jahren mit der Rückkehr zur Politik der Kolonialexpansion, der Respektierung von Trademarks und Erhöhung von Schutzzöllen beendet worden.95 Die Gültigkeit dieser durch ihre Schlichtheit beeindruckenden Theorie hängt davon ab, wie um die Mitte des 19. Jahrhunderts Freihandelsregeln global durchgesetzt wurden. Die Befunde der Quellen sprechen dafür, dass dies nur unter Druck der an der Ausweitung des Freihandelsregimes interessierten Regierungen möglich war. Selbst die Befürworter der Theorie, dass um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Errichtung eines Freihandelsregimes vorrangiges Ziel der internationalen Politik europäischer Regierungen gewesen sei, erkannten den Umstand, dass die Grundsätze des Freihandels sich nicht gewissermaßen von selbst durchsetzten, sondern nur durch Oktroi von Regeln, die mitunter erst nach Bewehrung mit politisch-militärischem 14. Jg. (1962), S. 489–501. William Roger Louis (Hg.), Imperialism. The Robinson and Gallagher Controversy, New York: New Viewpoints 1976. Neuerdings wurden die Argumente Platts wiederholt von: Herfried Münkler, Imperien, Reinbek: Rowohlt 2005, S. 230. Zur Diskussion um die Freihandelstheorien im 19. Jahrhundert siehe: George Armitage-Smith, The Free Trade Movement and Its Results, London: Blackie 1898 [2. Aufl., London, Glasgow und Dublin: Blackie 1903; Nachdruck, ebenda 1907; Nachdruck, New York: Books for Librarians Press 1969; MikroficheNachdruck, Cambridge: s. n. 1991]. Charles P. Kindleberger, The Rise of Free Trade in Western Europe. 1820–1875, in: Journal of Economic History 35. Jg. (1975), S. 20–55. Francis Valentine Moulder, Japan, China and the Modern World Economy, Cambridge: Cambridge University Press 1977. Bernard Semmel, The Rise of Free Trade Imperialism, Cambridge: Cambridge University Press 1970. Richard F. Teichgraeber, Free Trade and Moral Philosophy. Rethinking the Sources of Adam Smith’s Wealth of Nations, Durham: Duke University Press 1986. 95 Zur Schutzzollpolitik siehe: Helmut Böhme, Bismarcks Schutzzollpolitik und die Festigung des konservativen Staates, in: Probleme der Reichsgründungszeit, Köln und Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1968, S. 328–352. Ursula Fechter, Schutzzoll und Goldstandard im Deutschen Reich, Köln und Wien: Böhlau 1974 (Neue Wirtschaftsgeschichte. 11.).

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Kap. 4: Völkerrecht, Freihandel und Kolonialismus

Druck Anerkennung fanden. Aber sie unterließen es, die politischen Bedingungen des Oktroi dieser Regeln genau zu untersuchen. War somit die Verregelung des Welthandels nur durch Regierungshandeln möglich, mithin durch legitime Vertreter souveräner Staaten als Völkerrechtsubjekte. bedeutete dies, dass privatrechtlich firmierende Produzenten und Händler zwar die Durchsetzung von Freihandelsregeln von Regierungen fordern, aber nach den Völkerrechtsdoktrinen des 19. Jahrhunderts nicht selbst als Regulatoren in den internationalen Beziehungen tätig werden konnten.96 Folglich war die Fähigkeit zur Erzwingung von Freihandelsregeln wesentlich nichtherrschaftliches Machtmerkmal eines Regime-Kolonialismus und sollte durch Regierungen souveräner Staaten ausgeübt werden. Dasselbe gilt für die diplomatisch-militärischen Vorgehensweisen der amerikanischen und einiger europäischer Regierungen mit dem Ziel, das europäische Recht der zwischenstaatlichen Beziehungen weltweit zur Anwendung zu bringen. Insbesondere europäische Regierungen traten an, zwischenstaatliches Recht auf die Menschheit insgesamt zu beziehen. Sie forderten die weltweite Anerkennung der Normen europäischen zwischenstaatlichen Rechts primär zum Schutz ihrer in Übersee agierenden Bürger und Untertanen und betrachteten es überdies als Merkmal ihres Prestiges als selbsternannte Großmächte, ihre Vorstellungen von zwischenstaatlichem Recht als Grundlage der zwischenstaatlichen Beziehungen durchsetzen zu können. Als Kernbereiche des zwischenstaatlichen Rechts galten das Recht der zwischenstaatlichen Verträge und die ihm immanente Begrifflichkeit der Souveränität. Die amerikanische und einige europäische Regierungen handelten diesbezüglich ebenso wie in Bezug auf die Freihandelsregeln in dem 96 Adolf Beer, Geschichte des Welthandels im 19. Jahrhundert, Wien: Braumüller 1864, S. 25 (Beer, Allgemeine Geschichte des Welthandels, Abt. 3, Bd. 1.). Wheaton, Elements (Anm. 63), S. 356. Siehe dazu: Niels P. Petersson, Eine Welt des (Un-)Rechts. Globalisierung und das Problem der Verrechtlichung internationaler Wirtschaftsbeziehungen vor dem Ersten Weltkrieg, in: Geschichte der internationalen Beziehungen, hg. von Eckart Conze, Ulrich Lappenküper und Guido Müller, Köln, Weimar und Wien: Böhlau 2004, S. 96–97. David Strang, Anomaly and Commonplace in European Political Expansion, in: International Organization 45. Jg. (1991), S. 143–162. Strang, Contested Sovereignty. The Social Construction of Colonial Imperialism, in: State Sovereignty as a Social Construct, hg. von Thomas Biersteker und Cynthia Weber, Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 22–49. Zu Forderungen nach Durchsetzung von Freihandelsregeln an die Regierungen souveräner Staaten siehe: Cobden, Writings (wie Anm. 3), S. 285–339. Deswegen ist die in der Theorie der Internationalen Beziehungen gängige Annahme unhaltbar, zwischenstaatliche Verträge würden unter wechselseitiger Zustimmung der souveränen Vertragspartner zu beider- oder allseitigem Nutzen geschlossen, wohingegen Interventionen einseitige Verletzungen der Souveränität darstellten. Diese Theorie vertritt Stephen D. Krasner, Sovereignty. Organized Hypocricy, Princeton: Princeton University Press 1999, S. 33–37. Entgegen dieser Annahme können Interventionen durchaus im Rahmen von Verträgen stattfinden.

III. Europäische Expansion und völkerrechtliche Ungleichheit

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Bewusstsein, dass die Fähigkeit zur Durchsetzung eines Rechtssystems nicht-herrschaftliches Machtmerkmal eines Regime-Kolonialismus sei. Der Oktroi von Freihandelsregeln und Normen des zwischenstaatlichen Rechts nach europäischem Modell war mitunter in der Wahrnehmung europäischer Regierungen der Kolonialexpansion ähnlich und verfolgte dasselbe Ziel der Ausweitung des militärischen, politischen und wirtschaftlichen Einflusses der an der Expansion beteiligten europäischen Regierungen, ohne zur Übernahme direkter oder indirekter Herrschaft zu führen. Insbesondere die britische Regierung hielt sich – auch und gerade um die Mitte des 19. Jahrhunderts sowie gegenüber Staaten in Ostasien – nicht allein die Option militärischer Intervention, sondern auch die Option der Errichtung direkter kolonialer Herrschaft ausdrücklich offen, die in Willenserklärungen oder Ratschlägen seitens ihrer Emissäre manifest ist.97 In einigen Fällen blieb es nicht bei bloßen Erklärungen, sondern Vertreter der europäischen Regierungen ließen militärisch handeln. So kam es im Jahr 1855 zur kurzzeitigen Besetzung der Kurileninsel Urup durch ein britisch-französisches Truppenkontingent,98 und die preußische Regierung plante die Besetzung und Kolonisierung Taiwans während ihrer Ostasienexpedition von 1859 bis 1862.99 Zwar verfestigten sich diese Kurzzeitexpeditionen nicht zu dauernder Kolonialherrschaft, dokumentieren aber, dass im Bewusstsein auch der in Ostasien agierenden Vertreter europäischer Regierungen Kolonialherrschaft mindestens als Gedanke präsent war. Deswegen sollten diese Kurzzeitexpeditionen nicht unterschätzt werden. Noch im Jahr 1867 schlug der preußische Geschäftsträger in Japan Max von Brandt seiner Regierung die Besetzung und Kolonisierung Hokkaido¯s vor und drückte nach Ende seiner aktiven Dienstzeit als preußisch-deutscher Diplomat und Experte für Ostasienpolitik sein Bedauern darüber aus, dass seine Regierung damals seinem Vorschlag nicht Folge geleistet hatte.100 Entgegen der wirtschaftshistorischen Theorie der Abfolge von Kolonialexpansion und Freihandelsregimen 97 Laurence Oliphant, Narrative of the Earl of Elgin’s Mission to China and Japan in the Years 1857, ’58, ’59, 2. Bd., Edinburg: Blackwood 1859, S. 248–249 [Nachdruck, New York: Kelley 1969]. 98 Über diesen wenig bekannten Zwischenfall siehe: Thierry Mormanne, La prise de possession d’Urup par la flotte anglo-française en 1855, in: Cipango 11. Jg. (2004), S. 209–236. 99 Siehe dazu: Bruno Siemers, Preußische Kolonialpolitik 1861–62, in: Nippon 3. Jg. (1937), S. 20–26. 100 Maximilian August Scipio von Brandt, [Denkschrift betreffend Kolonien in Ostasien], Januar 1867, hg. von Rolf-Harald Wippich, Japan als Kolonie? Max von Brandts Hokkaido¯-Projekt 1865/67, Hamburg: Abera 1997, S. 29–42 (Übersee. 31.). Brandt, Dreiunddreißig Jahre in Ostasien, 2. Bd., Leipzig: Wigand 1901, S. 148. Siehe dazu auch: Bernd Martin, Fatal Affinities, in: Martin, Japan and Germany in the Modern World, Oxford und Providence, RI: Berghahn 1995, S. 25.

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Kap. 4: Völkerrecht, Freihandel und Kolonialismus

ist also davon auszugehen, dass in der Perzeption europäischer Regierungen Freihandelszwang und Kolonialexpansion durch das 19. Jahrhundert hindurch nicht gegensätzliche, sondern alternative Strategien waren, die beide dem Ziel globaler Expansion dienten. Die um die Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen amerikanischen und europäischen Regierungen einerseits sowie ostasiatischen Regierungen andererseits geschlossenen völkerrechtlichen Verträge erscheinen in einem anderen Licht, wenn der Oktroi von Freihandelsregeln als nicht-herrschaftliche Alternative der Kolonialexpansion verstanden wird. Es handelt sich insbesondere um Verträge, die 1842 zwischen der britischen und der chinesischen Regierung sowie von 1854 bis 1869 zwischen verschiedenen europäischen Regierungen, der Regierung der USA auf der einen Seite und der japanischen Regierung auf der anderen geschlossen wurden. In vielen dieser Verträge fand das Formular des Friedensvertrags auch dann Anwendung, selbst wenn dem Vertragsabschluss keinerlei Kriege zwischen den vertragsschließenden Parteien vorangegangen waren und die Verträge selbst oft als „Freundschaftsverträge“ bezeichnet wurden. Das Formular des Friedensvertrags ist dennoch erkennbar am Wortlaut von Präambeln und allgemeinen Artikeln, die die Herstellung eines dauerhaften Friedens festschrieben. 2. Der britisch-chinesische Vertrag von Nanjing und das Formular des Friedensvertrags Der britisch-chinesische Vertrag von Nanjing vom 29. August 1842101 war ein Friedensvertrag aus Anlass der Beendigung des ersten Opiumkriegs.102 Die vertragsschließenden Parteien erkennen sich im Proto101 Vertrag von Nanjing zwischen China und dem Vereinigten Königreich vom 29. August 1842, in: CTS, 93. Bd., S. 466–475. Siehe dazu: John King Fairbank, Chinese Diplomacy and the Treaty of Nanking, 1842, in: Journal of Modern History 12. Jg. (1940), S. 1–30. Fairbank, Trade and Diplomacy on the China Coast. The Opening of the Treaty Ports. 1842–1854, Cambridge, MA: Harvard University Press 1954. Fairbank, The Early Treaty System in the Chinese World Order, in: The Chinese World Order. Traditional China’s Foreign Relations, hg. von John King Fairbank, Cambridge, MA: Harvard University Press 1968, S. 257–275 (Harvard East Asian Series. 32.) [Nachdruck, ebenda 1970; Neuausg., ebenda, 1974 (Harvard Paperbacks. 54.)]. Fairbank vertrat die damals allerorten verbreitete, orientalistische Annahme, die chinesische Regierung habe auf das britische Vordringen nicht angemessen reagieren können, da sie sich nur in den Traditionen des Konfuzianismus bewegt habe. Außerdem glaubte er, dass die chinesische Regierung bis in das Jahr 1894 kein Opfer ungleicher Verträge gewesen sei und dass deswegen der Anspruch der Kommunistischen Partei Chinas, sie kämpfe gegen „Hundert Jahre der Erniedrigung“, als Propaganda zurückgewiesen werden müsse. 102 Zu den Opiumkriegen siehe: Jack Beeching, The Chinese Opium Wars, London: Hutchinson; New York: Harcourt Brace Jovanovich 1975). Harry Gregor Gel-

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koll103 wechselseitig als Souveräne an und geben in Artikel I an, nach Beendigung der Kampfhandlungen, das heißt ohne ausdrücklichen Verweis auf einen zu beendigenden Krieg, einen beständigen Frieden schließen und künftig ihre Beziehungen freundschaftlich gestalten zu wollen.104 Der weitere, dispositive Teil umfasst Bestimmungen, die diese Beziehungen durch Verzicht auf Reziprozität als ungleich festschreiben. Die britische Seite folgte mit dem Formular den Konventionen des europäischen Rechts zwischenstaatlicher Verträge. Demzufolge herrschte für Friedensschlüsse Vertragsfreiheit unter den beteiligten Souveränen, was die Möglichkeit einschloss, punktuelle militärische Siege in völkerrechtlich auf Dauer verbindliche Rechtspositionen zu überführen.105 Die bekanntesten dieser im Nanjing-Vertrag festgeschriebenen Rechtspositionen waren die Zulassung freien Handels sowie die unbefristete Übertragung der Insel Hong Kong aus chinesischer in britische Herrschaft (Artikel III). Der Vertrag enthielt aber weitere Regelungen, die, anders als die von britischer Seite aufgedrückte Forderung nach Zahlung von Kriegskontributionen in Höhe von zusammen 21 Millionen Dollar, auf Dauer China als Staat im Verhältnis der Ungleichheit gegenüber dem Vereinigten Königreich positionierten. Zu diesen Regelungen zählten insbesondere das Niederlassungsrecht für britische Untertanen in Guangzhou, Xiamen, Fuzhou, Ningbo und Shanghai (Artikel II), die Freilassung aller inhaftierter chinesischer Untertanen, die wegen ihrer Beziehungen zu britischen Untertanen festgesetzt worden waren (Artikel IX) und die Einschränkung der Zollhoheit für chinesisches Gebiet (Artikel X).106 ber, Opium, Soldiers and Evangelicals. Britain’s 1840–42 War with China and its Aftermath, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2004. Brian Inglis, The Opium War, London: Hodder and Stoughton 1976. Yangwen Zheng, The Social Life of Opium in China, Cambridge: Cambridge University Press 2005, S. 87–115. 103 Ich verwende die Begriffe Protokoll, Eschatokoll und Disposition im Sinn der Diplomatik. Danach stehen die Bezeichnungen Protokoll und Eschatokoll für die Präambel und die Schlussbestimmungen, die Bezeichnung Disposition für diejenigen Vertragsteile, in denen die zwischenstaatlichen Vereinbarungen festgeschrieben sind. 104 Nanjing-Vertrag (wie Anm. 101), Art. I, in: CTS, 93. Bd., S. 466. 105 So schon: Grotius, De jure (wie Anm. 23), lib. III, cap. 20, Ziff. 4–10, Ausg. von 1913. Julius Schmelzing, Systematischer Grundriß des praktischen Europäischen Völker-Rechtes, 3. Bd., §§ 548–59, Rudolstadt: Hof-Buch- und Kunsthandlung 1820, S. 339–367 [Mikrofiche-Nachdruck, Zug: Inter Documentation 1985]. Heffter, Völkerrecht, § 179 (wie Anm. 62), S. 318–320. 106 Nanjing-Vertrag (wie Anm. 101), Art. III, in: CTS, 93. Bd., S. 467. Er wurde ergänzt durch den Zusatzvertrag von Hu-mun Chase zwischen China und dem Vereinigten Königreich vom 8. Oktober 1843, der (Art. VII) britischen Untertanen Residenzfreiheit in den Vertragshäfen unter Aufsicht britischer Konsuln zugestand. Siehe: CTS, 95. Bd., S. 325. Die Insel Hong Kong, der Provinz Guangdong vorgelagert, entwickelte sich schnell zu einem Piratennest, durch das wesentliche Teile des Opiums nach China gelangten. Guangdong war bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert eines der Zentren chinesischer Piraterie gewesen. Im Jahr 1860 trat

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Diese Regelungen waren ungleich, da sie nur die chinesische Seite betrafen.107 Im Rahmen des europäischen Völkerrechts war es für die britische Regierung konsequent, das Prinzip der Gleichheit der souveränen Staaten im Protokoll anzuwenden, da sie nach europäischem Verständnis nur auf dieser Basis überhaupt mit der chinesischen Regierung einen völkerrechtlichen Vertrag schließen konnte. Die britische Regierung folgte ebenso den Konventionen des europäischen Völkerrechts, indem sie gemäß dem Formular des Friedensvertrags darauf bestand, die Reziprozität der meisten im dispositiven Teil getroffenen Regeln zu verweigern.108 Um letzteres zu wollen, musste ersteres als notwendig erscheinen. Aus britischer Sicht war es konsequent, Reziprozität zu verweigern, da die britische Seite im Opiumkrieg militärisch obsiegt und die chinesische Seite um einen Waffenstillstand nachgesucht hatte. Auch Friedensverträge unter europäischen Regierungen waren dementsprechend ungleich.109 Die Fusion des Gleichheit der Souvedie chinesische Regierung die Siedlung Kowloon (Kan Lung Gai) auf dem Festland gegenüber der Insel Hong Kong an die britische Regierung ab, die danach auch auf dem Festland Fuß fassen konnte. Siehe dazu: Peter Wesley-Smith, Unequal Treaty. China, Britain and Hong Kong’s New Territories, Hong Kong und New York: Oxford University Press 1986, S. 11. 107 Der Vertrag wurde in chinesischer und englischer Fassung erstellt und unterzeichnet. Da niemand im britischen Foreign Office Chinesisch schreiben konnte, ließ das Amt bereits im Jahr 1843 eine Kalotyp-Fotografie von der chinesischen Fassung anfertigen. Wahrscheinlich war dies die erste Gelegenheit, bei der diese Reproduktionstechnik bei einem Regierungsdokument in Europa angewendet wurde. Siehe: Larry Schaaf, Henry Collen and the Treaty of Nanking, in: History of Photography, 6. Jg. (1982), S. 353–366, 7. Jg. (1983), S. 163–65. R. Derek Wood, Photocopying the Treaty of Nanking in January 1843 [http://www.midley.co.uk/Nan king/Nanking.htm] (eingesehen am 22. Mai 2008). Wood, Photocopying in January 1843. The Treaty of Nanking, in: Darkness and Light. The Proceedings of the Oslo Symposium, 25–28 August 1994, Oslo: Norsk Fotohistorisk Forening 1995, S. 145–150. Wood, The Treaty of Nanking, in: Journal of Imperial and Commonwealth History 24. Jg. (1996), S. 181–196. 108 So beispielweise schon: Schmelzing, Grundriß, § 390 (wie Anm. 105), 2. Bd., 1819, S. 325. Später ebenso: Erich Kaufmann, Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sic stantibus, Tübingen: Mohr 1911, S. 195. Alfred Verdross, Gleichberechtigung der Staaten, in: Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, hg. von Karl Strupp, 1. Bd., Berlin und Leipzig: de Gruyter 1924, S. 423–424. Gerhard Leibholz, Gleichheit der Staaten, in: Wörterbuch des Völkerrechts, hg. von Karl Strupp und Hans-Jürgen Schlochauer, 1. Bd., Berlin: de Gruyter 1960, S. 695–696. 109 Fisch, Krieg (wie Anm. 13), S. 15–16. Erik Goldstein, Wars and Peace Treaties. 1816–1991, London: Routledge 1992. Randall Lesaffer, The Westphalia Peace Treaties and the Development of the Tradition of Great European Peace Settlements Prior to 1648, in: Grotiana 18. Jg. (1997), S. 88–89. Heinhard Steiger, Konkreter Friede und allgemeine Ordnung. Zur rechtlichen Bedeutung der Verträge vom 24. Oktober 1648, in: 1648. Krieg und Frieden in Europa, 1. Textband: Poli-

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räne ausdrückenden Protokolls mit ungleichen Bestimmungen des dispositiven Teils war sinnvoll, da nur bei Anerkennung ihrer Souveränität die militärisch unterlegene Seite dazu gezwungen werden konnte, für sie abträgliche Friedensbedingungen bindend zu akzeptieren und umzusetzen. Andernfalls hätte die britische Regierung ihren Krieg bis zur Zerstörung Chinas fortführen, China also direkter britischer Herrschaft unterwerfen müssen. Aber die Zerstörung Chinas war weder britisches Kriegsziel noch reichten die eingesetzten militärischen Mittel aus, um ein solches Ziel überhaupt projizieren zu können. Die britische Regierung handelte also weitgehend im Rahmen der europäischen Konventionen des völkerrechtlichen Vertragsrechts. Neu war aber die britische Forderung, China möge sich dem weltweiten Freihandel „öffnen“. Diese Forderung war nicht auf die bilateralen britisch-chinesischen Beziehungen begrenzt, sondern hatte Wirkungen auf die gesamten chinesischen Außenbeziehungen. Die Durchsetzung von Freihandelsregeln gegenüber China im Vertrag von Nanjing folgte militärischem Regierungshandeln. Die britische Regierung zwang die chinesische Regierung zur Anerkennung der Regeln des Freihandels, ohne sich selbst gegenüber der chinesischen Regierung denselben Regeln zu unterwerfen. Von Äquivalenz kann ohnehin im Vertrag von Nanjing keine Rede sein. Denn zwischen Reziprozität und Äquivalenz der Vertragsinhalte muss sorgfältig unterschieden werden. Reziprozität galt als formale juristische Kategorie im Sinn ausdrücklicher, rechtlich bindender Formulierungen in den Artikeln eines Vertrags. Äquivalenz hingegen konnte die politische Entscheidung bezeichnen, auch nichtreziproke Bestimmungen gegen einander aufzurechnen und in der Summe als gleichwertig anzuerkennen. In chinesischer Perspektive freilich sah das Verfahren anders aus. Dort gab es keine Traditionen europäischen Völkerrechts, auch wenn bereits in den Jahren 1689 und 1727 völkerrechtliche Verträge zwischen China und tik, Religion, Recht und Gesellschaft, hg. von Klaus Bußmann und Heinz Schilling, Münster: Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte 1999, S. 437–446. Steiger, Friedensschluß und Amnestie in den Verträgen von Münster und Osnabrück, in: Krieg und Frieden im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, hg. von Heinz Duchhardt und Patrice Veit, Mainz: Zabern 2000, S. 226–241 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Universalgeschichte. Beiheft 51.). Steiger, Peace Treaties from Paris to Versailles, in: Peace Treaties and International Law in European History, hg. von Randall Lesaffer, Cambridge: Cambridge University Press 2004, S. 59–99, insbesondere S. 79–96. Die Studie Fischs ist, selbst angesichts ihrer Begrenzung auf die Problemgeschichte der Amnestie, auch für das 19. Jahrhundert bislang die einzige umfassende Arbeit über das Formular der völkerrechtlichen Verträge. In der Regel behandelt die Forschung die zwischenstaatlichen Verträge, die westliche Regierungen mit Regierungen in China und Japan im 19. Jahrhundert schlossen, im Kontext der jeweils bilateralen Beziehungen.

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Russland abgeschlossen worden waren.110 Gleichwohl war China im chinesischen Selbstverständnis kein Staat wie jeder andere, sondern ein Universalreich mit lediglich befristet bestehenden Außengrenzen. In der chinesischen Fassung des Nanjing-Vertrages folgte die chinesische Regierung ihrer Tradition, indem sie, abweichend von der englischen Fassung desselben Vertrags, sich selbst nicht mit einem Staatsnamen bezeichnete, sondern mit dem Namen der Dynastie. In der chinesischen Fassung schien China also nicht auf als „Reich der Mitte“, sondern als Ching. Die britische Forderung nach Gebietsabtretung auf immer war folglich in den Kategorien des chinesischen Rechts und der chinesischen politischen Tradition nicht fassbar. Es konnte sich danach nur um befristete Tolerierung britischer Herrschaftsträger unter den Ching handeln, auch wenn der Text des Nanjing-Vertrags materiell abweichende Aussagen enthielt. Hinzukam, dass der Begriff der Souveränität in der chinesischen Tradition keine Rechtsqualität besaß. Denn die chinesische Regierung war gehalten, die Beziehungen zu anderen Regierungen tributär zu gestalten, mithin auf Beachtung und Bewahrung von Rangunterschieden zu achten. Zeremonien waren daher Mittel der rechtlichen Gestaltung der Beziehungen zwischen der chinesischen und anderen Regierungen. Bis 1861 umfasste folglich die chinesische Regierung kein für die Außenpolitik zuständiges Amt, sondern ordnete den Vollzug der Außenbeziehungen der Behörde für die Zeremonien zu. Nicht die mangelnde Reziprozität der Bestimmungen des Nanjing-Vertrags bereitete der chinesischen Regierung somit Probleme, sondern die Verbindung dieser Bestimmungen mit einem die Gleichheit der souveränen Vertragspartner stipulierenden Protokoll. Vollends unerträglich wurde der Vertrag für die chinesische Seite dadurch, dass die britische Seite Regelungen für den Freihandel durchsetzte mit besonderem Bezug auf Handelsgüter, deren negative Wirkungen auf die chinesische Bevölkerung der chinesischen Regierung bewusst waren. Der Vertrag zwang sie gleichwohl, die Schutz- und Ordnungskompetenz gegenüber der ihr unterstellten Bevölkerung einzugrenzen, mithin ihre Macht zur Einschränkung ihrer Befugnisse einzusetzen. Dadurch war der Nanjing-Vertrag innenpolitisch nicht vermittelbar. Mit dem Nanjing-Vertrag schränkte die chinesische Regierung jedoch nicht nur ihre innenpolitischen Kompetenzen ein, sondern sie gab gleich zwei, seit langem praktizierte außenpolitische Grundsätze preis. Zum einen gestand sie in der Folge der militärischen Niederlage im Opiumkrieg einer anderen Regierung den gleichen Rang zu wie ihr selbst. Allein dieses Zugeständnis hatte schwerwiegende Folgen für die Gestaltung der Beziehungen 110 Vertrag von Nertschinsk zwischen China und Russland vom Oktober 1689, in: CTS, 18. Bd., S. 505–507. Vertrag von Kiachta zwischen China und Russland von 1727, in: CTS, 33. Bd., S. 25–32. Geändert durch Vertrag vom 18. Oktober 1768, in: CTS, 44. Bd., S. 229–231. Siehe dazu auch oben, Kap. 3, Anm. 140.

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zwischen der chinesischen und anderen Regierungen in Ost- und Südostasien. Denn die chinesische Regierung büßte durch den Nanjing-Vertrag ihre Position als Schutzmacht für Ost- und Südostasien ein und musste dadurch diese Region militärischem Druck von außen öffnen. Zumal in Japan erregte dieser Vorgang große Besorgnis, die König Wilhelm II. der Niederlande im Jahr 1844 mit der Warnung zu steigern versuchte, die britische Regierung könne angesichts des zunehmenden interkontinentalen Seeverkehrs die Öffnung Japans erzwingen wollen. Die Regierung in Edo antwortete mit dem Hinweis, sie sei durch alte Gesetze gebunden, und ließ den König der Niederlande wissen, sie werde auf weitere Äußerungen nicht antworten.111 Zum zweiten anerkannte die chinesische Regierung notgedrungen den allgemeinen Grundsatz der Souveränität, worin nach Bodin die Wahrnehmung der Pluralität untereinander gleicher Souveräne eingeschlossen war. Selbst wenn es möglich gewesen wäre, die Ungleichheit der dispositiven Bestimmungen des Nanjing-Vertrags durch einen überlegenen militärischen Sieg der chinesischen Seite über das Vereinigte Königreich wettzumachen, schloss das Protokoll des Vertrags immer noch eine Rückkehr zum System der traditionalen tributären Beziehungen aus. Im Gefolge des Nanjing-Vertrags war China nicht nur mit dem Vereinigten Königreich gleich in seiner Qualität als souveräner Staat, sondern auch mit einigen seiner Nachbarn, beispielsweise Japan. Der Oktroi europäischen Völkerrechts und von Grundsätzen des Freihandels zerstörte ein damals seit mehr als 1500 Jahren in Ost- und Südostasien bestehendes internationales System. Die chinesische Regierung versuchte, dieses Manko durch rasche Übernahme der europäischen Völkerrechtslehren wettzumachen. So ließ sie im Jahr 1864 eine chinesische Version von Henry Wheatons Elements of International Law veröffentlichen, für die zum ersten Mal westliche Standardtermini wie Souveränität sinisiert wurden. Doch weder in China selbst noch anderswo in Ostasien setzten sich diese frühen Versuche der Indigenisierung des europäischen Völkerrechts durch, sondern die wenig später geprägten japanischen Versionen.112 111 Zur China-Politik Japans in der Bakumatsu-Zeit siehe: Marius B. Jansen, China in the Tokugawa World, Cambridge, MA: Harvard University Press 1992. Ronald P. Toby, State and Diplomacy in Early Modern Japan. Asia in the Development of the Tokugawa Bakufu, Princeton: Princeton University Press 1984. Bob Tadashi Wakabayashi, Opium, Expulsion, Sovereignty. China’s Lessons for Bakumatsu Japan, in: Monumenta Nipponica 47. Jg. (1992), S. 1–25. Das Schreiben König Wilhelms II. und die Antwort der Regierung in Edo liegen vor in den Editionen von: Daniel Crosby Greene, Correspondence between William II of Holland and the Shogun [Tokugawa Ieyoshi] of Japan, A. D. 1844, in: Transactions of the Asiatic Society of Japan. First Series, 34. Bd. (1907), S. 106–107, 122. Und in: Meiji Japan through Contemporary Sources, 2. Bd., Tokyo: To¯yo¯ Bunko¯ 1970, S. 1–8.

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3. Anwendung des europäischen Rechts zwischenstaatlicher Verträge in Ostasien Zwischen 1854 und 1869 schlossen die Regierungen der USA und einiger europäischer Staaten Friedensabkommen in der erklärten Absicht, mit Japan in freundschaftliche Beziehungen zu treten und die Grundlagen des Handels vertraglich zu regeln. Sie verbanden somit Friedens- oder Friedens- und Freundschaftsverträge mit Handelsverträgen. Zwischen 1854 und 1869 kamen zwischenstaatliche Verträge zustande, die, sofern sie ein Protokoll enthielten, Frieden und Freundschaft zwischen Japan und dessen jeweiligen Vertragspartnern auf amerikanischer und europäischer Seite und zugleich Japan weltweit für Handelsbeziehungen „öffnen“ sollten. Dabei erschien letzterer Zweck aus amerikanischer und europäischer Sicht ableitbar aus der darin weit verbreiteten Annahme, Japan sei für den allgemeinen Handelsverkehr „geschlossen“, obschon dies aus japanischer Sicht, jedenfalls verfassungsrechtlich, nicht der Fall war.113 Die ohne aktuellen Anlass voll112 Kaibo ¯ gakari, o¯metsuke, metsuke jo¯shinsho [Feb. 1857], hg. von Seizaburo¯ Sato¯ und Tsunekichi Yoshida, Bakumatsu seiji ronshu¯, Tokyo: Iwanami Shoten 1976, S. 45. In diesem amtlichen Memorandum wird davor gewarnt, die Politik der Ching-Dynastie während des ersten Opiumkrieges angesichts des Auftretens diplomatischer Vertreter der US- und europäischer Regierungen zu wiederholen, sondern gefordert, deren Drängen auf „Öffnung“ des Landes nachzugeben. Siehe dazu und zu Kommunikationsproblemen: Douglas R. Howland, Translating the West. Language and Political Reason in Nineteenth-Century Japan, Honolulu: University of Hawaii Press 2002, S. 64–66. Keun-Gwan Lee, La traduction et la circulation des termes de droit international en Asie Orientale, in: Ebisu 33. Jg. (2004), S. 178–207. Rune Svarvernd, International Law as World Order in Late Imperial China. Translation, Reception and Discuourse. 1847–1911, Leiden: Brill 2007 (Sinica Leidensia. 78.). 113 Zur Diskussion dieser Wahrnehmungsgegensätze siehe: Reinhard Zöllner, Verschlossen wider Wissen – was Japan über sich von Engelbert Kaempfer lernte, in: Engelbert Kaempfer (1651–1716) und die kulturelle Begegnung zwischen Europa und Asien, hg. von Sabine Klocke-Daffa, Jürgen Scheffler und Gisela Wilbertz, Lemgo: Landesverband Lippe. Institut für Lippische Landeskunde 2003, S. 185–209 (Lippische Studien. 18.). Erst ab 1825 bestand eine landesweit gültige Anweisung des Direktors der Finanzbehörde Tadaakira Mizuno, derzufolge alle auswärtigen Schiffe abzuweisen waren, die nicht die Zulassung zur Benutzung des Hafens von Nagasaki hatten. Auch diese Schiffe durften nur in Nagasaki anlanden. Siehe: Chu¯kai injun roku’, in Nihon kaibo¯ shiryo¯ so¯sho, 4. Bd., Tokyo: Kaibo¯ Shiryo¯, 1932, S. 113–122. Dem entsprechend war im Jahr 1846 die Expedition des amerikanischen Commodore James Biddle gescheitert, dessen Ansinnen, Japan für den Handel zu „öffnen“ von den japanischen Behörden zurückgewiesen wurde. In ihrem Insistieren auf Abschluss schriftlicher Verträge mag die US-Regierung von der seit Beginn des 19. Jahrhunderts gegenüber den Native Americans oft befolgten Praxis beeinflusst worden sein, Handelsbeziehungen auf Beziehungen rechtlicher Art zu gründen und dieses Bestreben als Ausdruck von „Zivilisiertheit“ auszugeben. So stellte bereits Präsident Thomas Jefferson in seiner Botschaft an den Congress vom 18. Januar 1803 fest: „In leading them [das sind die Native Americans] thus to agricul-

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zogene Verknüpfung von Friedens- mit Handelsverträgen führte dazu, dass unvereinbare Grundsätze des Rechts, die eigentlich in unterschiedlichen Sorten zwischenstaatlicher Verträge festzuschreiben gewesen wären, in jeweils einen Text zusammengeführt werden mussten. Während Friedensverträge die Gleichheit der Allgemeinen Bestimmungen mit der Ungleichheit der Besonderen Bestimmungen in Protokoll und Disposition vereinbaren müssen, müssen Verträge, die freien Handel allgemein begründen sollen, reziproke und damit gleiche Allgemeine und Besondere Bestimmungen enthalten. Gleichwohl folgten die Verträge, die die amerikanische und einige europäische Regierungen zwischen 1854 und 1869 mit Japan abschlossen, dem Formular der Friedensverträge und waren somit sämtlich in ihren besonderen Bestimmungen ungleich. Das Formularhafte der Friedensverträge ist aus dem Umstand erkennbar, dass auch in die Folgeverträge zwischen Japan, den USA, dem Vereinigten Königreich, Russland und den Niederlanden von 1858 Friedensschlussbestimmungen Eingang fanden, nachdem jeweils in den Erstverträgen von 1854, 1855 und 1856 ein Friede als bestehend bekundet worden war.114 Einige europäische Regierungen verbanden überdies im Sinn der von ihnen betriebenen Großmachtpolitik ausdrücklich die Verweigerung von Reziprozität und Gleichheit in den mit Japan geschlossenen Verträgen mit dem Ziel, Rangunterschiede zwischen der japanischen Regierung und ihren Vertragspartnern zu deren Gunsten festzuschreiben.115 Die Wahl des Formulars des Friedensvertrags in Verbindung mit dem Abschluss von Handelsabkommen folgte europäischen Konventionen. Unter diesen Konventionen waren für die Ausbreitung des Formulars zwischenstaatlicher Verträge insbesondere zwei Kernelemente folgenreich. Diese Elemente waren das Schriftlichkeitsprinzip und, daran gebunden, der Rechtssatz Pacta sunt servanda. Das Schriftlichkeitsprinzip ist seit der Wiener ture, to manufactures, and civilization, in bringing together their and our sentiment, and in preparing them ultimately to participate in the benefits of our Government, I trust and believe we are acting for their greatest good.“ Siehe: Original Letters of the Lewis and Clark Expedition. 1804–1806, hg. von Reuben Gold Thwaites, 7. Bd., New York: Dodd & Mead 1905, S. 207 [Nachdruck, hg. von Bernard De Voto, New York: Arno Press 1969]. In seiner Botschaft forderte Jefferson die Gewährung von Mitteln zur Durchführung einer transkontinentalen Expedition an die Küsten des Pazifik und verband damit die Hoffnung, die wachsende Militarisierung der Beziehungen zwischen der US-Regierung und den Native Americans, die der territorialen Expansion der USA entgegenzutreten versuchten, könne durch vertragliche Handelsbeziehungen unterlaufen werden. Schon damals standen Handelsbeziehungen also aus der Sicht des US-Präsidenten im Dienst der Konsolidierung und Erweiterung politischer Herrschaft. 114 Zu den Folgeverträgen siehe unten Anm. 179–182. 115 Zur Verweigerung von Reziprozität und Gleichheit als Mittel von Großmachtpolitik siehe: Oliphant, Narrative (wie Anm. 97), 2. Bd., S. 248–249.

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Konvention von 1969 als völkerrechtliche Norm festgeschrieben, gleichwohl unter anderen von Frankreich und den USA nicht anerkannt.116 Für die Ausgestaltung des Formulars zwischenstaatlicher Verträge war das Schriftlichkeitsprinzip nicht nur insoweit bedeutsam, als es die Schriftform für Verträge zum Maßstab für deren Beweiskraft erhob und damit die Verschriftung zwischenstaatlicher Abkommen erzwang, sondern mehr noch dadurch, dass nach Verpflichtung der Vertragsparteien auf das Schriftlichkeitsprinzip Inhalte nur dann als Bestandteile von Verträgen anerkannt werden konnten, wenn sie ausdrücklich in Schriftform niedergelegt worden waren. Zwar hat das Schriftlichkeitsprinzip bis heute das Vorhandensein impliziter Inhalte von Verträgen, zum Beispiel die Ableitung des Willens einer vertragsschließenden Partei, aus anderen Quellen als dem Vertrag selbst, nicht ausgeschlossen.117 Gleichwohl sind der Auslegung durch Heranziehung vertragsfremder Gesichtspunkte in Rechtsprechung und Völkerrechtstheorie enge Grenzen gesetzt.118 Also kann im Zweifelsfall nach den Konventionen des europäischen Rechts zwischenstaatlicher Verträge der Schluss gezogen werden, dass im Vertrag nicht Geschriebenes nicht vereinbart sei und folglich die Erfüllungsmöglichkeit als Voraussetzung der Vertragsgültigkeit nicht gegeben sei.119 Es ist also bei Anwendung des Schriftlichkeitsprinzips nicht immer möglich gewesen, die Inhalte allgemeiner Vertragsbestimmungen einfach auch dann auf die Inhalte jeder Einzelbestimmung zu beziehen, wenn die Inhalte allgemeiner Vertragsbestimmungen nicht in jeder in Betracht kommenden Einzelbestimmung explizit niedergelegt waren. Folglich könnte der Rechtssatz Pacta sunt servanda in Verbindung mit dem Schriftlichkeitsprinzip nur insoweit Anwendung finden, als er auf explizit in Schriftform festgelegte Inhalte bezogen werden kann. Diese Bin116

Wiener Konvention von 1969, Art. 2, Ziff. 1(a). Siehe dazu z. B.: Antony Aust, The Theory and Practice of Informal International Instruments, in: International and Comparative Law Quarterly 35. Jg. (1986), S. 794. James E. S. Fawcett, The Legal Character of International Agreements, in: British Yearbook of International Law 30. Jg. (1953), S. 387–390. Gerald Fitzmaurice, Fourth Special Report [on the Making of the Vienna Convention on the Law of Treaties], in: Yearbook of the International Law Commission (1959, Part II), S. 53. Jan Klabbers, The Concept of Treaty in International Law, Leiden und Boston: Nijhoff 1996, S. 12, 249 (Developments in International Law. 22.). Kal Raustiala, Form and Substance in International Agreements, in: American Journal of International Law 99. Jg. (2005), S. 581. 118 So: Martti Koskenniemi, Theory. Implications for the Practitioner, in: Theory and International Law, hg. von Philip Allott, London: British Institute of International and Comparative Law 1991, S. 20. Klabbers, Concept (wie Anm. 117), S. 11. 119 Klüber, Völkerrecht (wie Anm. 65), S. 234–235. Georg Friedrich von Martens, Einleitung in das positive Völkerrecht, auf Verträge und Herkommen gegründet, Göttingen: Dieterich 1796, S. 59. Schmelzing, Grundriß, §§ 373–383 (wie Anm. 105), S. 294–315. 117

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dung des Rechtssatzes Pacta sunt servanda an Aussagen in Schriftform führt jedoch zu dem empirischen Problem, dass der Rechtssatz selbst in der Regel weder Bestandteil vertraglicher Vereinbarungen gewesen noch irgendwo im positiven Völkerrecht als Norm festgeschrieben ist. Aus diesem empirischen Befund ist der Schluss gezogen worden, dass generell von zwischenstaatlichen Verträgen nur dann ausgegangen werden könne, wenn bei Vertragsabschluss eine Einigung der Vertragsparteien über die Qualität der Bindewirkung erzielt worden sei, mithin Abkommen ohne diese Einigung gar keine Verträge seien.120 Demnach wurde der Rechtssatz Pacta sunt servanda vom völkerrechtlichen Gebot der Niederlegung von Vertragsinhalten in Schriftform eximiert. Der Grund für diese Exemtion liegt in der Genese des Rechtsatzes, der zuerst in der klassisch-römischen Moralphilosophie121 sowie dann im spätrömischen Privatrecht belegt ist.122 Als Rechtssatz des Privatrechts ist Pacta sunt servanda erforderlichenfalls vor den staatlichen Erzwingungsinstitutionen auch dann einklagbar, wenn er nicht in privatrechtlichen Verträgen ausdrücklich festgeschrieben ist. Da ohnehin das Schriftlichkeitsprinzip im privaten Rechtsverkehr nie die grundsätzliche Bedeutung erlangt hat, die ihm im Recht der zwischenstaatlichen Verträge beigemessen worden ist, entsteht im Bereich der privatrechtlichen Anwendung des Rechtssatzes Pacta sunt servanda seltener als im zwischenstaatlichen Vertragsrecht der Konflikt zwischen der Schriftform von Verträgen und dem Anspruch auf Erfüllbarkeit nicht schriftlich fixierter Vertragsinhalte. Im privatrechtlichen Streitfall können Gerichte autoritativ darüber entscheiden, ob dieser Rechtssatz Anwendung finden soll oder nicht. Das Recht der zwischenstaatlichen Verträge sieht hingegen Schiedsinstitutionen für Streit über die Anwendung des Rechtssatzes Pacta sunt servanda nicht vor.123 So kamen Theoretiker schon im frühen 19. Jahrhundert zu dem Schluss, dass zwischenstaatliche Verträge nicht nach dem Privatrecht beurteilt werden könnten.124 Aus diesem Manko resultierte eine seit langem andauernde Debatte darüber, welche Bedeutung dem Rechtssatz Pacta sunt servanda im zwischen120

Fitzmaurice, Report (wie Anm. 117), S. 95. Wolfgang Hensel, „Weiches“ Völkerrecht, Baden-Baden: Nomos 1991, S. 316 (Völkerrecht und Außenpolitik. 44.). 121 Cicero, De officiis, lib.I, cap. VII, Ziff. 23, lib. III, cap. 92, Ziff. 31 [verschiedene Ausgaben]. 122 Digesta Iustiniani Augusti, hg. von Theodor Mommsen, lib. II, cap. 14, Ziff. 1 [Meinung Ulpians], Berlin: Weidmann 1868, 1. Bd., S. 62 [Nachdruck, Berlin: Weidmann 1962; weiterer Nachdruck, Goldbach: Keip 2001 (100 Jahre Bürgerliches Gesetzbuch. Pandektenrecht. 61.)]. Siehe dazu schon: Heffter, Völkerrecht, § 81 (wie Anm. 62), S. 153. 123 Fitzmaurice, Report (wie Anm. 117), S. 53. 124 Schmelzing, Grundriß, § 371 (wie Anm. 105), 2. Bd., S, 291.

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staatlichen Vertragsrecht zukommt. Unumstritten ist, dass der Rechtssatz Pacta sunt servanda nicht aus positivem Völkerrecht folgt und daher im Recht zwischenstaatlicher Verträge kein ius cogens ist, sondern eher die Voraussetzung abgibt für das Zustandekommen zwischenstaatlicher Verträge.125 Im Zentrum der Debatte steht hingegen die Frage, ob der Rechtssatz Pacta sunt servanda als Bestandteil des völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts126 bestehe oder eine naturrechtlich gegebene „Grundnorm“ sei.127 Viele Beiträger zu dieser Debatte seit Grotius sind davon ausgegangen, dass das Recht zwischenstaatlicher Verträge säkularen Charakters sei und somit ohne Bindungen an religiöse Normen und Vorstellungen bestehe.128 Die Voraussetzungen und Auswirkungen der seit dem 17. Jahrhundert vollzogenen Säkularisierung der völkerrechtlichen Theorie auf die Debatte um den Rechtssatz Pacta sunt servanda sind hingegen kaum zur Sprache gekommen. Gleichwohl ist dieser Vorgang essentiell für das Verständnis des Rechtssatzes. Denn solange das Völkerrecht als ius inter gentes eingebunden blieb in das göttliche Recht, bestand weder Notwendigkeit noch Gelegenheit, den Rechtssatz Pacta sunt servanda aus dem römischen Privatrecht in das Recht der Verträge zwischen Herrschern zu übertragen. Diese Notwendigkeit bestand nicht angesichts des vorgegebenen Glaubens, 125 Fawcett, Character (wie Anm. 117), S. 383, 396. Fitzmaurice, Report (wie Anm. 117), S. 53. Klabbers, Concept (wie Anm. 117), S. 11–12. Wilhelm Wengler, Die Wirkung nichtrechtlicher Verträge zwischen Staaten, in: Archiv des Völkerrechts 22 (1984), S. 312. 126 So insbesondere: Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Wien: Springer 1925, S. 123 [Nachdrucke, Bad Homburg vor der Höhe: Gehlen 1966; Wien: Österreichische Staatsdruckerei 1993]. John B. Whitton, La règle pacta sunt servanda, in: Recueil des cours 3. Jg. (1934), S. 159–160. Whitton, La sainteté des traités, in: Revue de droit international 18. Jg. (1936), S. 440–480, insbes. S. 443. Dagegen: Roberto Lavalle, About the Alleged Customary Law Nature of the Rule Pacta Sunt Servanda, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht 33. Jg. (1982), S. 9–28. 127 So: Torsten Gihl, The Legal Character and Sources of International Law, in: Scandinavian Studies in Law 1. Jg. (1957), S. 75 Joseph Laurenz Kunz, The Meaning and the Range of the Norm „Pacta sunt servanda“, in: The Changing Law of Nations. Essays on International Law, Columbus, OH: Ohio State University Press 1968, S. 347–374 [zuerst in: American Journal of International Law 39. Jg. (1945)]. Ernst Reibstein, Völkerrecht, 2. Bd., Freiburg: Alber 1958, S. 569. Johannes G. Spiropoulos, Die allgemeinen Rechtsgrundsätze im Völkerrecht, Kiel: Institut für Internationales Recht an der Universität 1928 (Aus dem Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel. 7.). Alfred Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, Wien und Berlin: Springer 1926, S. 32–33. 128 Aus dem 19. und 20. Jahrhundert sind die gegenteiligen Äußerungen von Klüber, Völkerrecht (wie Anm. 65), S. 234–5, und Whitton, Règle (wie Anm. 126), sowie Whitton, Sainteté (wie Anm. 126), bekannt. Siehe dazu: Hans Wehberg, Pacta sunt servanda, in: American Journal of International Law 53. Jg. (1959), S. 786, 780.

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dass Verstöße gegen göttliches Recht von der Gottheit geahndet werden würden. Insofern hatten Verträge zwischen Herrschern wie manche anderen herrscherlichen Akte den Charakter von Eiden als Versprechen mit bedingter Selbstverfluchung.129 Einem Bruch dieser Verträge stand daher die Angst vor göttlichen und Jenseitsstrafen entgegen. Außerdem brauchte das Recht von Verträgen zwischen Herrschern nicht als gesetztes oder setzbares Recht, sondern musste als gottgewolltes Recht angesehen werden, das unabhängig von menschlichem Handeln gelten würde. Der Umstand, dass für Verträge zwischen mittelalterlichen Herrschern, wie auch heute noch für zwischenstaatliche Verträge, die Diplomform verwendet wurde,130 bezeugt die Vorstellung, dass Vereinbarungen unter Herrschern, als nicht erzwingbares Recht, ebenso als der Kontrolle der Gottheit unterworfen gedacht werden sollten wie alle anderen urkundlichen Herrscherakte, jedenfalls solange das ius inter gentes Bestandteil des göttlichen Rechts blieb. Spätmittelalterliche Theologen, insbesondere Thomas von Aquin, verorteten nicht allein das ius inter gentes im göttlichen Recht, sondern bestanden auch darauf, dass das göttliche Recht für alle Menschen als göttliche Geschöpfe gültig sei.131 Sie konstruierten damit göttliches Recht als universales Recht auf der Basis christlicher Theologie. Für die seit dem ersten Kreuzzug überlieferte Praxis des Abschlusses von Abkommen zwischen Muslimen und Christen in Palästina132 entstand aus dieser theologischen Grundlegung des ius inter gentes im christlichen Glauben das Problem, wie die Gültigkeit von Abkommen über Religionsgrenzen hinweg sicher gestellt werden konnte. Die Antwort ließ lange auf sich warten. Noch in den 1530er Jahren erhielt König Franz I. von Frankreich viel Kritik, insbesondere aus dem Heiligen Römischen Reich, für seinen Entschluss, mit der Hohen 129 Isidor von Sevilla, Etymologiarvm sive Originvm libri XX, lib. V, cap. 6, hg. von Wallace Martin Lindsay, 1. Bd., Oxford: Clarendon Press, 1911, s. p. [Nachdruck, ebenda 1990]. Thomas von Aquin, Summa theologiae. Secundae Secunda, qu. 57, ar 1, hg. von Roberto Busa, SJ, Sancti Thomae Quinatis Opera omnia, 2. Bd., Stuttgart: Frommann-Holzboog 1977, S. 599. Siehe dazu: Gerhard Beestermöller, Thomas von Aquin und der gerechte Krieg, Köln: Bachem 1990, S. 85–165 (Theologie und Frieden. 4.). Evangelos Chrysos, Perceptions of the International Community of States during the Middle Ages, in: Ethnographie und Überlieferung, hg. von Karl Brunner und Brigitte Merta, Wien und München: Oldenbourg 1994), S. 300 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. 31.). 130 Siehe dazu: Ludwig Bittner, Die Lehre von den völkerrechtlichen Vertragsurkunden, Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt 1924. Steiger, Peace Treaties (wie Anm. 109), S. 79–96. 131 Thomas von Aquin, Summa (wie Anm. 129), qu. 57, ar 3, S. 599. 132 Siehe dazu: Michael A. Köhler, Allianzen und Verträge zwischen fränkischen und islamischen Herrschern im Vorderen Orient, Berlin: de Gruyter 1991 (Studien zur Sprache, Geschichte und Kultur des islamischen Orients, N. F., 12. Bd.).

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Pforte Verträge zu schließen.133 Auch der Jurist Martinus Garatus ging davon aus, dass die Normen des zwischenstaatlichen Rechts religiösen Ursprungs sein müssten, und ließ um die Mitte des 15. Jahrhunderts einen Friedenstraktat erscheinen, in dem er auf der Basis spätmittelalterlicher Rechtstheorie dem Papst die Befugnis zugestand, Herrscher zur Einhaltung von Verträgen zu zwingen. Und noch der Theologe Francisco de Vitoria verankerte im frühen 16. Jahrhundert das ius inter gentes im Christentum.134 Erst an der Wende zum 17. Jahrhundert setzte sich, auch wenn dem Bemühen um Festigung der res publica Christiana als ganze in den Präambeln zu den Verträgen von Münster und Osnabrück sowie späteren Verträgen noch Ausdruck verliehen wurde, die Auffassung durch, dass das ius inter gentes auf der Basis säkularer juristischer oder philosophischer Theorien zu formulieren sei.135 Innerhalb dieses Prozesses brachte Hugo Grotius mit 133 Recueil de traités de la Porte Ottomane, hg. von Ignace de Testa, 1. Bd., Paris: Amyot 1864, S. 15–21. Zu den französisch-türkischen Beziehungen in der Zeit König Franz I. siehe: Négociations de la France dans le Levant, hg. von Ernest Charrière, 1. Bd., Paris: Imprimerie Nationale 1848, S. 116–129. 134 Martinus Garatus Laudensis [Martino Garrato; Martinus de Caratis], Tractatus de confederatione, pace et conventionibus Principum, qu. 4, hg. von Alain Wijffels, in: Peace Treaties and International Law in European History, hg. von Randall Lesaffer, Cambridge: Cambridge University Press 2004, S. 421 [zuerst, Venedig: s. n. 1584]. Über Garatus siehe: Alain Wijffels, Martinus Garatus Laudensis on Treaties, in: Peace Treaties (wie oben), S. 184–197. Karl-Heinz Ziegler, The Influence of Medieval Roman Law on Peace Treaties, in: ebenda, S. 147–161, insbes. S. 155–157 [wieder abgedruckt in: Ziegler, Fata iuris gentium. Kleine Schriften zur Geschichte des europäischen Völkerrechts, Baden-Baden: Nomos 2008, S. 197–210 (Studien zur Geschichte des Völkerrechts. 15.)]. Vitoria, De Indis (wie Anm. 22), S. 118–171. Zu diesem Aspekt von Vitorias Völkerrechtslehre siehe: Randall Lesaffer, Peace Treaties from Lodi to Westphalia, in: Peace Treaties (wie oben), S. 21–44, insbes. S. 32. 135 Siehe dazu insbesondere das Werk des Ethikers Justus Lipsius, oben in Kap. 2, Anm. 118–124. Zum Fortschleppen des Ausdrucks des Bemühens um Festigung der res publica Christiana in Friedensverträgen siehe: Heinz Duchhardt, La guerre et le droit des gens dans l’Europe du XVIe au XVIIIe siècles, in: Guerre et concurrence entre les états européens du XVIe au XVIIIe siècle, hg. von Philippe Contamine, Paris: PUF 1998, S. 339–364. Im Jahr 1606 urteilte gleichwohl der englische Richter Sir Edward Coke, dass Eroberungen, die unter christlichen Herrschern durchgeführt wurden, eine andere Rechtsqualität hätten als Eroberungen, die „heidnische“ Herrscher unternommen hätten. Siehe: Edward Coke, Le sept part des reports, London: Atkyns 1697, S. 17 [zuerst, London: Stationers 1608; Nachdruck der Ausg. von 1697, Ann Arbor, MI: University Microfilms International o. J.)]. Und noch im Jahr 1664 urteilte gegen Grotius der Jurist Johann Friedrich Horn, Politicorum pars architectonica de civitate, Utrecht: Klerck 1664, S. 202, die Verpflichtungswirkung völkerrechtlicher Übereinkünfte entstehe nicht durch Konsens, sondern durch den Willen der Herrschaftsträger. Siehe dazu: Heinrich de Wall, Die Staatslehre Johann Friedrich Horns, Aalen: Scientia 1992, S. 20–21 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte. N. F., 30. Bd.).

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ausdrücklicher Wendung gegen eine Behauptung Bodins den Grundsatz zum Ausdruck, dass Verträge zwischen Herrschern, anders als mittelalterliche Diplome, auch für Nachfolger verbindlich seien.136 Trotz seiner Anerkennung theologischer Grundsätze für das Völkerrecht setzte Grotius also keine religiöse, sondern eine rechtliche Verpflichtung zur Einhaltung geschlossener Verträge und suchte folgerichtig ein Mittel, dieser Verpflichtung Geltung zu verschaffen. Er fand es im Gebot zum Austausch von Geiseln. Diese Verpflichtung sollte unbedingt gelten, also nicht unter die Clausula de rebus sic stantibus gestellt sein.137 Das bedeutete, dass seit dem frühen 17. Jahrhundert der Prozess der Säkularisierung des ius inter gentes zum positiven Völkerrecht einherging mit der begrifflichen Trennung von Herrscherperson und Herrscheramt. Der Rechtssatz Pacta sunt servanda fand also im Bereich des Rechts zwischenstaatlicher Verträge zuerst Anwendung im Rahmen der Bemühungen von Juristen, die Gültigkeit bestehender zwischenstaatlicher Verträge von den Personen derjenigen Herrscher zu trennen, in deren Namen sie abgeschlossenen worden waren. Insoweit fand der Rechtssatz Pacta sunt servanda Anwendung wie eine Bestimmung des Nachfolgerechts, das auch schon bei Jean Bodin nicht abänderbare Grundnormen („lois fondamentales“) umfasst hatte.138 Zugleich formulierte Gro136 Grotius, De iure, lib. II, cap. XVI, Ziff. 4 (wie Anm. 23). Gegen Bodin, Livres, lib. V, cap. 6 (wie Anm. 32), Neudruck, 5. Bd., S. 165–166, der an dieser Stelle Klage führte über die begrenzte Sicherheit in der Umsetzbarkeit von Verträgen zwischen Herrschern. Ebenso wie Grotius noch Gerald Fitzmaurice, Report [I, on the Making of the Vienna Convention on the Law of Treaties], in: Yearbook of the International Law Commission (1956, 2. Bd.), S. 108. 137 Die Rechtstheoretiker des späten 20. Jahrhunderts wie etwa Klabbers, Concept (wie Anm. 117), passim, führten Grotius’ Lehre nicht fort. Die Verpflichtung zum Stellen von Geiseln verschwand aus der Praxis der Friedensschlüsse und wurde im 18. Jahrhundert unter anderem durch die Bestellung gemeinsamer Kommissionen zur Überwachung der Einhaltung der Vereinbarungen ersetzt. Siehe dazu: Heinz Duchhardt, Peace Treaties from Westphalia to the Revolutionary Era, in: Peace Treaties and International Law in European History, hg. von Randall Lesaffer, Cambridge: Cambridge University Press 2004, S. 48–49. Armin Reese, Den Krieg verschieben – verkürzen – ersetzen? Die französisch-englischen „gemeinsamen Kommissionen“ vor dem Siebenjährigen Krieg, in: Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Heinz Duchhardt, Köln und Wien: Böhlau 1991, S. 245–260 (Münsterische Historische Forschungen. 1.). 138 Bodin, Livres, lib. I, cap. 8 (wie Anm. 32), Neudruck, 1. Bd., S. 212–217. Siehe dazu: Arlette Jouanna, Die Debatte um die absolute Gewalt im Frankreich der Religionskriege, in: Der Absolutismus – ein Mythos, hg. von Ronald G. Asch und Heinz Duchhardt, Köln und Wien: Böhlau 1996, S. 57–78 (Münsterische Historische Forschungen. 9.) Heinz Mohnhaupt, Die Lehre von der „Lex Fundamentalis“ und die Hausgesetzgebung europäischer Dynastien, in: Der dynastische Fürstenstaat. Zur Bedeutung von Sukzessionsordnungen für die Entstehung des frühmodernen Staates, hg. von Johannes Kunisch, Berlin: Duncker & Humblot 1982, S. 3–33 (Historische Forschungen. 21.). Dieter Wyduckel, Recht, Staat und Frieden im Jus Pu-

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tius auch Bedingungen, unter denen der Rechtssatz Pacta sunt servanda keine Anwendung finden sollte. Wichtigste dieser Bedingungen war der Verstoß gegen das schon im spätrömischen Privatrecht festgelegte Gebot der Freiwilligkeit des Vertragsabschlusses.139 Grotius zufolge waren zwischenstaatliche Verträge, die durch Zwang zustande gekommen waren, vom Rechtssatz Pacta sunt servanda eximiert. Das Schicksal des Madrider Vertrags zwischen Kaiser Karl V. und König Franz I. von Frankreich, der dem Vertrag 1526 in Gefangenschaft zugestimmt und ihn nach seiner Freilassung verworfen hatte, war empirische Basis.140 Die Säkularisierung des ius inter gentes zum positiven Völkerrecht bedingte also die Ausformulierung von Theorien über die Bedingungen der Gültigkeit zwischenstaatlicher Verträge und startete die Debatte über die Anwendbarkeit des Rechtssatzes Pacta sunt servanda. Bis in das frühe 20. Jahrhundert gestaltete sich diese Debatte als Disput zwischen Theoretikern, die als Privatleute Regeln des zwischenstaatlichen Verkehrs zu formulieren versuchten,141 und Diplomaten sowie Organisatoren der Außenpolitik, blicum Europeum, in: Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Heinz Duchhardt, Köln und Wien: Böhlau 1991, S. 187–188 (Münsterische Historische Forschungen. 1.). 139 Grotius, De iure, lib. I, cap. 1, Ziff. 14 (wie Anm. 23), an dieser Stelle eingebunden in Grotius’ Bestimmung, dass das staatliche Recht dem menschlichen Willen unterworfen ist. Mit seiner Festlegung, dass nur freiwillige Verträge rechtswirksam, erzwungene Verträge hingegen unwirksam seien, knüpfte Grotius an die Naturrechtslehre der Legisten des späten Mittelalters an und trennte zugleich das Recht der zwischenstaatlichen Verträge als ius gentium voluntarium ab von ius gentium naturale. Siehe dazu: Dieter Wyduckel, Princeps legibus solutus, Berlin: Duncker & Humblot 1979, S. 82–87. (Schriften zur Verfassungsgeschichte. 30.). Wyduckel, Recht (wie Anm. 138), S. 193–194, 197. Grotius’ Festlegung folgten im 19. Jahrhundert Schmelzing, Grundriss, §§ 373–383 (wie Anm. 105), S. 294–315. Heffter, Völkerrecht, § 81 (wie Anm. 62), S. 153. Der ausdrückliche Verweis auf das innerstaatliche Vertragsrecht findet sich wieder in Gerald Fitzmaurice, Third Report [on the Making of the Vienna Convention on the Law of Treaties], in: Yearbook of the International Law Commission (1958, 2. Bd.), S. 23. Paul Vinogradoff, Historical Types of International Law, in: Bibliotheca Visseriana 1. Jg. (1923), S. 53–54, unterschob gleichwohl Grotius die Ansicht, dass das Recht zwischenstaatlicher Verträge im Naturrecht gründe. 140 Siehe dazu: Harald Kleinschmidt, Charles V. The World Emperor, Stroud: Sutton 2004, S. 102–108. 141 So etwa: Philipp-Heinrich Hoenon [praes.] und Kuno Christiani [resp.], Disputatio de confoederatione, in: Hoenon, Disputationum politicorum, Nr. XIII, 1. Bd., Herborn: Corvinus 1615, S. 551. Christian Gottfried Hoffmann, Entwurff einer Einleitung zu dem Erkäntniß des gegenwärtigen Zustandes von Europa, Leipzig: Lanckisch 1720, S. 12. Cornelius Bynkershoek, Quaestionum juris publici libri duo, lib. II, cap. 9, Leiden: s. n. 1737 [Nachdruck, Oxford: Clarendon Press 1930]. Martens, Einleitung (wie Anm. 59), S. 297, 377. Anders als die meisten anderen Theoretiker glaubte Martens, dass für zwischenstaatliche Verträge, die während eines Kriegsver-

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die unter Verweis auf eine Staatsräson die Notwendigkeit solcher Regeln nicht immer oder oft nur zögerlich anzuerkennen bereit waren. Die letztere Seite konnte sich zumal im 19. Jahrhundert auf die positivistische Rechtslehre stützen, derzufolge die in gesetztem Recht festgelegten Normen höchsten Anspruch auf Gültigkeit besaßen, und postulierte, zumindest in Europa, dass die Übernahme zwischenstaatlicher Verträge in innerstaatliches Recht eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Übernahme völkerrechtlicher Bestimmungen oder einen spezifischen staatlichen Willensakt voraussetze. Gegenüber Souveränen könne der Vollzug dieses Willensakts von außen nicht erzwungen werden.142 Da der Rechtssatz Pacta sunt servanda nirgends laufs geschlossen worden seien, der Rechtssatz Pacta sunt servanda keine Gültigkeit habe. Zu Martens siehe: Walter Habenicht, Georg Friedrich von Martens, Professor des Natur- und Völkerrechts in Göttingen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1934 (Vorarbeiten zur Geschichte der Göttinger Universität und Bibliothek. 14.). Martti Koskenniemi, Georg Friedrich von Martens (1756–1821) and the Origins of Modern International Law, in: Von der Diplomatie zum kodifizierten Völkerrecht. 75 Jahre Institut für Völkerrecht der Universität Göttingen, hg. von Christian Calliess, Georg Nolte und Peter-Tobias Stoll, Köln, Berlin und München: Heymann 2006, S. 13–29 (Göttinger Studien zum Völker- und Europarecht. 5.). Dietrich Rauschning, Georg Friedrich Martens (1756–1821). Lehrer des praktischen Europäischen Völkerrechts und der Diplomatie zu Göttingen, in: Rechtswissenschaften in Göttingen, hg. von Fritz Loos, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987, S. 123–145 (Göttinger Universitätsschriften. Reihe A, Bd. 6.). Zu Hoffmann siehe: Heinz Mohnhaupt, „Europa“ und „ius publicum“ im 17. und 18. Jahrhundert, in: Aspekte europäischer Rechtsgeschichte. Festgabe für Helmut Coing, hg. von Christoph Bergfeld, Frankfurt: Klostermann 1982, S. 220–221 (Ius Commune. Sonderheft 17.). 142 Beispielsweise: Max von Seydel, Grundzüge einer allgemeinen Staatslehre, Würzburg: Stuber 1873, S. 31–32: „Zwischen Staaten ist aber eine Rechtsordnung nicht möglich; denn diese setzt einen höchsten Herrscherwillen als Rechtsquelle voraus. . . . Zwischen den Staaten kann mithin kein Recht sein, zwischen ihnen gilt nur Gewalt. Es gibt kein Völkerrecht.“ Zur Kritik dieser Lehre und zur Verteidigung der Gültigkeit des Rechtssatzes Pacta sunt servanda auch ohne Rekurs auf positives Recht siehe schon: Hersch Lauterpacht, Private Law Sources and Analogues of International Law, London und New York: Long, Green & Co 1927, S. 58 [Nachdruck, Hamden, CT: Archon Books 1970]. Zur Bedeutung Lauterpachts für die Geschichte der Völkerrechtstheorie siehe: Martti Koskenniemi, Lauterpacht. The Victorian Tradition in International Law, in: European Journal of International Law 8. Jg. (1997), S. 215–263. Koskenniemi, Civilizer (wie Anm. 26), S. 353–412. Bei Kenntnis der Kritik Lauterpachts ist es folglich nicht möglich, die Inkonsequenzen in der Umsetzung zwischenstaatlicher Verträge zwischen christlichen und nicht-christlichen Herrschern mit dem Argument zu entschuldigen, die christlichen Herrscher hätten die Verträge guten Glaubens umgesetzt. Für diese Behauptung siehe, noch in jüngster Zeit: Leslie C. Green, Claims to Territory in Colonial America, in: The Law of Nations and the New World, hg. von Leslie C. Green und Olive Patricia Dickason, Edmonton: University of Alberta Press 1989, S. 14–20 [Nachdruck, ebenda 1993]. Lediglich in den USA fand seit dem Urteil des Supreme Court vom Jahr 1829 der Grundsatz Anwendung, dass völkerrechtliche Verträge „self-executing“ seien, sofern

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als positives Recht niedergelegt war, neigten im 19. und frühen 20. Jahrhundert Rechtstheoretiker wie auch politische Entscheidungsträger mit Verantwortung für Außenpolitik immer wieder dazu, die Gültigkeit bestehender zwischenstaatlicher Verträge nicht nur unter den Vorbehalt der Clausula de rebus sic stantibus zu stellen, sondern glaubten auch, zwischenstaatliche Verträge unter Verweis auf angebliche Gebote einer Staatsräson verletzen oder schlicht ignorieren zu können.143 Bekanntlich gipfelte diese Verfahrensweise in der Entgegnung des deutschen Reichskanzlers Theobald von Bethmann-Hollweg, der gegenüber dem britischen Botschafter Sir William Edward Goschen die britische Regierung nach Vorliegen der Kriegserklärung am 4. August 1914 ohne jegliche Skrupel direkt beschuldigte, sie basiere die Entscheidung zum Krieg auf ein Stück Papier.144 Gleichwohl hielten dieselben Entscheidungsträger in der Außenpolitik, ungeachtet der Ambivalenz ihrer eigenen Einstellungen gegenüber dem Rechtssatz Pacta sunt servanda, an der aus dem mittelalterlichen ius inter gentes abgeleiteten Erwartung fest, dass derselbe Rechtssatz außerhalb Europas und der Christenheit nur unter Einhaltung der Konventionen des europäischen Rechts zwischenstaatlicher Verträge durchsetzbar sei. Sie erzwangen daher die Anwendung des Formulars europäischer zwischenstaatlicher Verträge in Abkommen mit Partnerregierungen in Afrika, Asien und Ozeanien. Die Folge war, dass diplomatische Emissäre europäischer Regierungen sowie auch privat agierende Leiter so genannter Expeditionen gegenüber Regierungen in Afrika, Asien und Ozeanien stets die Forderung geltend machten, dass Verträge in Schriftform abzuschließen seien. Aus derselben Einstellung folgte das kompromisslose Festhalten der europäischen Vertragsparteien an ihrer Forderung, dass nur diejenigen Inhalte als vertraglich vereinbart gelten sollten, welche ausdrücklich in den Vertragsbestimmungen ihren schriftlichen Niederschlag gefunden hatten. Schließlich schritten disie die Anwendung im Rahmen der Gültigkeit innerstaatlichen Rechts „by their terms“ und „from their nature“ gestatteten. Siehe dazu: Carl Friedrich Ophüls, Staatshoheit und Gemeinschaftshoheit. Wandlungen des Souveränitätsbegriffs, in: Recht im Wandel. Beiträge zu Strömungen und Fragen im heutigen Recht, Köln: Heymann 1965, S. 529. 143 So die ausdrückliche Empfehlung von Hesse, Schutzverträge (wie Anm. 38). 144 Er bezog sich dabei auf den Londoner Vertrag von 1839, der die Sicherheit der Grenzen Belgiens garantierte. Neben der britischen hatte auch die preußische Regierung den Vertrag unterschrieben. Siehe: British Documents on the Origins of the War. 1898–1914, hg. von George Peabody Gooch und Harold Temperley, 11. Bd., London: HMSO 1926, Nr. 671, S. 350–354 [Nachdruck, New York: Johnson 1967]. Zur Debatte um die Äußerung des Reichskanzlers siehe schon: Otfried Nippold, „Die Wahrheit über die Ursachen des Europäischen Krieges“. Japan, der Beginn des Ersten Weltkriegs und die völkerrechtliche Friedenswahrung, hg. von Harald Kleinschmidt, München: Iudicium 2005, S. 162–164. Eine Anspielung auf die Äußerung findet sich noch in Fitzmaurice, Report (wie Anm. 139), S. 29.

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plomatische Vertreter europäischer Regierungen wie auch privat agierende Abenteurer bei Streit über die Auslegung von Verträgen schnell und oft ohne Verifizierung von Tatbeständen zu dem Schluss, dass die Gegenseite Verträge gebrochen habe, und drohten nicht nur mit sofortiger militärischer Vergeltung, sondern setzten militärische Machtmittel auch ein. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wandelte sich mit der im Völkerbund manifest gewordenen Globalisierung des europäischen positiven Völkerrechts die Einstellung politischer Entscheidungsträger zum Rechtssatz Pacta sunt servanda. In den 1920er Jahren entstand die Theorie, dass der Rechtssatz eine vom Willen der Regierungen souveräner Staaten unabhängige objektive Norm sei, die von den Partnern zwischenstaatlicher Verträge kraft ihres Eintritts in die Völkerrechtsgemeinschaft angewendet werden müsse.145 Denn mit dem Eintritt in die Völkerrechtsgemeinschaft hätten die Regierungen souveräner Staaten sich verpflichtet, die Gültigkeit des Rechtssatzes Pacta sunt servanda nicht mehr von ihrem eigenen Willen, sondern von den Grundsätzen des Völkerrechts abhängig zu machen.146 Die Theorie erhöhte nicht allein die Bereitschaft, zwischenstaatliche Verträge so zu verfassen, dass sie nach Abschluss veröffentlicht werden konnten, sondern förderte auch deren Multilateralisierung und erweiterte den Rahmen derjenigen Normen, die als völkerrechtlich fixierbar anerkannt wurden, bis hin zur Kriegsächtung. Völkerrecht konnte somit Auswirkungen bis ins Strafrecht erhalten. Das Internationale Militärtribunal für den Fernen Osten verurteilte einige Angeklagte als Kriegsverbrecher, da sie als Angehörige der japanischen Regierung gegen den Briand-Kellogg-Pakt von 1928 zur Ächtung von Kriegen verstoßen hatten, den Japan unterzeichnet hatte. Gleichwohl ist die theoretische Bestimmung des Rechtssatzes Pacta sunt servanda als gewohnheitsrechtliche oder „Grundnorm“ des Völkerrechts umstritten geblieben. Gegner der These, dass der Rechtssatz gegenüber dem Willen von Regierungen souveräner Staaten objektiv sei, wandten ein, dass der Rechtssatz letztlich moralische Qualität besitze und folglich nicht allein aus rechtlichen Quellen ableitbar sei.147 Damit führt die Debatte um die Bedingungen der Einhaltung zwischenstaatlicher Verträge zurück auf die beiden Aporien, dass weder die Anerkennung zwischenstaatlicher Verträge 145 Kelsen, Staatslehre (wie Anm. 126), S. 123. Lauterpacht, Law (wie Anm. 142), S. 56. Verdross, Verfassung (wie Anm. 127), S. 32. 146 Noch nach dem Zweiten Weltkrieg war jedoch der Begriff der Völkerrechtsgemeinschaft so sehr mit europäischen Konventionen angefüllt, dass Völkerrechtler im Verlauf der Verhandlungen über die Wiener Konvention über das völkerrechtliche Vertragsrecht wie im 19. Jahrhundert wertend davon ausgehen konnten, dass völkerrechtliche Grundnormen als „principles of law recognized by civilized nations“ bestünden. Siehe: Fawcett, Character (wie Anm. 117), S. 383, 396. 147 Siehe Klabbers, Concept (wie Anm. 117). Wengler, Wirkung (wie Anm. 125).

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nur mit Mitteln des Völkerrechts erzwungen noch ausschließlich mit juristischen Mitteln erklärt werden kann, warum die meisten Normen des gesetzten Völkerrechts fast immer eingehalten worden sind. Indem die in Ostasien um die Mitte des 19. Jahrhunderts auftretenden diplomatischen Emissäre europäischer Regierungen glaubten, der Abschluss zwischenstaatlicher Verträge sei nur in den Konventionen des europäischen Völkerrechts möglich, machten sie sich zu Agenten nicht-herrschaftlicher kolonialer Expansion. Die amerikanische und einige europäische Regierungen hatten diese Konventionen seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Verträgen mit Regierungen in West- und Südostasien angewandt. Zudem hatten einige europäische Regierungen dieselben Konventionen in Verträgen mit Regierungen in Nordafrika bereits seit dem 18. Jahrhundert benutzt. So enthielt Artikel I des amerikanisch-siamesischen Vertrags vom 20. März 1833 die allgemeine reziproke Bestimmung, dass zwischen Siam und den USA ewiger Friede bestehen solle, wobei die folgenden ungleichen Artikel Handelsbeziehungen aus amerikanischer Sicht, die Versorgung amerikanischer Schiffbrüchiger und die Niederlassung amerikanischer Bürger in Siam regelten. Bereits am 20. Mai 1604 schlossen König Heinrich IV. von Frankreich und Sultan Ahmed einen Handelsvertrag, der die türkische Seite zur Rettung in Seenot geratener französischer Schiffe verpflichtete. Und am 10. August 1746 schlossen der König von Dänemark-Norwegen und der Bey von Algier einen Vertrag zur Regelung des Besuchs dänischer Schiffe im Hafen von Algier. Artikel I auch dieses Vertrags errichtet einen „ewigen und aufrichtigen Frieden“, wohingegen die folgenden Artikel ungleiche Regelungen zu den Rechten dänischer Schiffsbesatzungen in Algier trafen.148 Die Verbindung der Formulare von Friedensverträgen oder Friedens- und Freundschaftsverträgen mit Handelsverträgen scheint der letztlich mittelalterlich-europäischen Vorstellung zu entstammen, dass rechtliche Regelungen zwischen Herrschern verschiedener Religionsgemeinschaften ohne ausdrückliches Friedensgebot wegen der vorausgesetzten mangelnden Universalität völkerrechtlicher Friedensgebote nicht möglich seien. Die juristischen Laien, die in der Regel die Verträge zwischen amerikanischen und europäischen Regierungen auf der einen, Regierungen in Asien und Afrika auf der anderen Seite im 18. und den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts schlossen, scheinen demnach der traditionalistischen Auffassung angehangen zu haben, 148 Französisch-türkischer Vertrag vom 20. Mai 1604, in: Corps (wie Anm. 47), 5. Bd., 2. Teil, Nr. 21, S. 39–43. Vertrag zwischen Algier und Dänemark vom 10. April 1746, in: CTS, 38. Bd., S. 27–35. Vertrag zwischen Thailand und den USA vom 20. März 1833, in: CTS, 83. Bd., S. 211–215, insbes. Art. I. Ebenso Vertrag zwischen Muskat und den USA vom 21. September 1833, in: CTS, 84. Bd., S. 38–40.

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dass für Handelsverträge das Formular des Friedensvertrags grundsätzlich zur Anwendung zu bringen sei, obschon die zeitgenössische Völkerrechtstheorie bereits die Universalität und Säkularität des zwischenstaatlichen Vertragsrechts voraussetzte und zwischen Friedensverträgen auf der einen sowie Handels- und Freundschaftsverträgen auf der anderen Seite scharf unterschied.149 Der Umstand, dass der Arzt Philipp Franz Balthasar von Siebold in seinen offenbar privaten Initiativen zur „Öffnung“ Japans Anfang der 1850er Jahre dasselbe Formular verwendete, kann die Vermutung stützen, dass unter juristischen Laien zu dieser Zeit die Vorstellung herrschte, dass das Formular des Friedensvertrags das gegebene sei.150 Jedenfalls findet sich in Instruktionen an die Verhandlungsführer weder der amerikanischen noch der beteiligten europäischen Regierungen die Vorgabe, den Abschluss eines Friedensvertrags anstreben zu sollen. Auch in der Korrespondenz der Verhandlungsführer ist von Frieden nicht die Rede.151 149

So bereits Grotius, De iure (wie Anm. 23), lib. II, cap. XX, XXI. Schmelzing, Grundriß, §§ 548–559 (wie Anm. 105), S. 339–367. 150 Zu Vorformen dieser Verträge im Mittelalter siehe: Fisch, Krieg (wie Anm. 13), S. 533, 539, 651, 674. Zum Vertragsrecht siehe: Klüber, Völkerrecht (wie Anm. 65), §§ 149–151, S. 169–172. Georg Friedrich von Martens, Über die Erneuerung der Verträge in den Friedensschlüssen der Europäischen Geschichte, Göttingen: Rosenbusch 1799. Wheaton, Elements (wie Anm 63), §§ 252–255, S. 356–358. Randall Lesaffer, The Medieval Canon Law of Contract and Early Modern Treaty Law, in: Journal of the History of International Law 2. Jg. (2000), S. 178–198. Zu Siebold siehe unten, Anm. 172. Gegenüber Japan wurden die Formulare des Friedens- und des Handelsvertrags auch bei wiederholtem Abschluss aneinander gebunden, wohingegen in Verträgen mit dem Osmanischen Reich die britische Regierung und sogar die Regierung der USA auf die Verwendung des Friedensvertragsformulars verzichteten. Sie scheinen dabei in dem Bewusstsein gehandelt zu haben, dass durch die Vorverträge zwischen dem türkischen Sultan und europäischen Herrschern das Osmanische Reich bereits in das europäische Friedensvertragssystem einbezogen worden war. Siehe die Verträge zwischen der Türkei und dem Vereinigten Königreich vom 16. August 1838, in: CTS, 88. Bd., S. 77–84, und zwischen der Türkei und den USA vom 7. Mai 1830, in: CTS, 81. Bd., S. 7–24. Friedens- und Handelsverträge schloss die Republik Venedig bereits in den Jahren 1540, 1573 und 1579 mit dem türkischen Sultan. Siehe: Corps (wie Anm. 47), 4. Bd., 2. Teil, S. 197, 5. Bd., 1. Teil, S. 218, 244. Eine Übersicht über diese Verträge bot schon: Johann Christoph Wilhelm von Steck, Von den Handlungsverträgen der osmanischen Pforte, in: Steck, Versuche über einige erhebliche Gegenstände, welche auf den Dienst des Staats Einfluß haben, Frankfurt und Leipzig: s. n. 1772, 10. Nr., S. 86–118. 151 Der britisch-siamesische Vertrag vom 18. April 1856 ging über die Festschreibung einseitiger Regelungen der Handelsbeziehungen, der Versorgung Schiffbrüchiger und der Rechte britischer Untertanen hinaus, indem er Konsulargerichtsbarkeit für britische Untertanen in Siam festschrieb, ohne selbiges für Siamesen in britischen Territorien zuzugestehen. Siehe: Vertrag zwischen Siam und dem Vereinigten Königreich vom 18. April 1856, in: CTS, 113. Bd., S. 84–92. Dieser Vertrag gab das Modell ab für den amerikanisch-siamesischen Vertrag vom 29. Mai 1865, in: CTS, 115. Bd., S. 112–122 und für den französisch-siamesischen Vertrag vom

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Jedenfalls war die aus der Wahl des Formulars des Friedensvertrags folgende Diskrepanz zwischen dem Protokoll, das jeweils die Gleichheit der beteiligten Souveräne festschrieb, und der Disposition, die nichtreziproke und in dieser Hinsicht ungleiche Regelungen traf, in allen Verträgen, die die japanische Seite während des Zeitraums zwischen 1854 und 1869 zu schließen hatte, mehr oder weniger stark ausgeprägt. Die Diskrepanz brachte es mit sich, dass in den Verhandlungen zwischen Vertretern der japanischen Regierung und den Emissären aus den USA sowie einigen europäischen Staaten des Öfteren Kommunikationsprobleme auftraten, die über die technischen Schwierigkeiten des Übersetzens hinausgingen. Da auf japanischer Seite nur das Chinesische und das Niederländische als Verkehrssprachen in Betracht kamen, mussten die Verhandlungen mit den Emissären aus den USA, dem Vereinigten Königreich sowie Russland, die seit 1853 und 1854 in Japan anlandeten, über das Chinesische und das Niederländische geführt werden. Die jeweils notwendigen Mehrfachübersetzungen verlängerten nicht nur die Verhandlungen, sondern erforderten auch die Herstellung von Einverständnis über die Gleichheit der Inhalte der einzelnen Vertragsartikel sowie die Äquivalenz von Rechtsbegriffen der jeweiligen Verkehrs- und Vertragssprachen. Die Erfüllung dieser Forderung war schwierig, da die Begrifflichkeit der europäischen Emissäre in den Medien der europäischen Sprachen zum Ausdruck kam und nicht ohne weiteres in 15. August 1856 (wie Anm. 70). Bemerkenswert ist, dass dieser amerikanisch-siamesische Vertrag auf Seiten der USA durch Townsend Harris unterzeichnet wurde, der den Vertrag auf seinem Weg nach Japan als dortiger Geschäftsträger der USA abschloss. Siehe: Townsend Harris, The Complete Journal, 2. Aufl., Rutland: Tuttle 1959, S. 130–131, 156. Fisch, Krieg (wie Anm. 13), S. 11, nimmt an, dass der Freundschaftsvertrag keine spezifische Klasse zwischenstaatlicher Verträge, sondern eine Variante der Friedensverträge gewesen sei. Dem steht entgegen, dass, wie sich aus dem Vergleich zwischen dem britisch-chinesischen Nanjing-Vertrag einerseits sowie den Japan-Verträgen andererseits ergibt, Friedensverträge im einzelnen die Bedingungen des Abschlusses und der Bewahrung eines Friedens, wie zum Beispiel die Verpflichtung zur friedlichen Streitbeilegung, festschrieben, wohingegen, in einer auf das frühe Mittelalter zurückehenden Tradition, Freundschaftsverträge den Frieden pauschal setzten sowie darauf folgend die Modalitäten der zwischenstaatlichen Beziehungen regelten. Die Anwendung des Formulars des Friedensvertrags schloss also nicht notwendigerweise die Absicht ein, die einzelnen Bedingungen des Abschlusses und der Bewahrung des Friedens zu bestimmen. Siehe dazu auch die Studien von: Gerd Althoff, Amicitiae und pacta. Bündnis, Einung, Politik und Gebetsgedenken im beginnenden 10. Jahrhundert, Hannover: Hahn 1992, S. 61–68 (Schriften der Monumenta Germaniae Historica. 37.); sowie: Olivier Christin, Pactes d’amitié et républicanisme urbain. Quelques villes françaises devant la biconfessionalité; und: Heinhard Steiger, Friedensschluss und Amnestie in den Verträgen von Münster und Osnabrück, beide in: Krieg und Frieden im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, hg. von Heinz Duchhardt und Patrice Veit, Mainz: Zabern 2000, S. 157–166, 207–245, insbes. S. 223–225 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Universalgeschichte. Beiheft 52.).

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das Japanische übertragbar waren. Insbesondere führte der Umstand zu Unverträglichkeiten, dass die amerikanischen und europäischen Emissäre die ihnen geläufige staatsrechtlich-politische Terminologie sowie das europäische Recht der zwischenstaatlichen Verträge als universal gültig voraussetzten und jedwede Verhandlung darüber verweigerten, mit welchen Begriffen und in welchen Formen Abkommen mit der japanischen Regierung zu schließen seien. Während aber diese Schwierigkeiten den Verhandlungspartnern schnell bewusst wurden, war ihnen nicht von Anfang an die Notwendigkeit klar, die jeweils beschlossenen Vertragstexte in den rechtlich bindenden sprachlichen Fassungen genau abzugleichen. Zuerst vor Abschluss des japanisch-russischen Vertrages vom Jahr 1855 einigte man sich darauf, dass die bereits paraphierten Vertragstexte einem gesonderten Redaktionsverfahren unterzogen werden sollten. Auch wurde in den frühen Verträgen darauf verzichtet, eine Fassung in einer dritten Sprache, beispielsweise dem Niederländischen, als gültige Fassung festzuschreiben für den Fall, dass zwischen den verschiedensprachigen Vertragsfassungen Unterschiede erkennbar würden. Trotz ihrer Benachteiligung durch die Vertreter der europäischen und der amerikanischen Regierungen verfuhr die japanische Regierung hinsichtlich der Zulassung von Handelsprivilegien an Angehörige ihrer Vertragspartner zunächst wesentlich zögernder als die Regierungen von Muskat und Siam zwanzig Jahre zuvor. Sie tat dies trotz der eklatanten militärischen Bedrohung durch westliche Kriegsschiffe, die vor oder in der Bucht von Edo sowie andernorts an den Küsten des Japanischen Archipels vor Anker gingen. Sie unternahm trotz einiger im Jahr 1851 getroffener Maßnahmen zum Bau von Festungseinrichtungen an den Küsten auch angesichts der militärischen Bedrohung keinen Versuch, die Zufahrt zur Bucht von Edo militärisch abzusichern. Dies ergibt sich noch aus dem Umstand, dass das Kriegsschiff Ancona mit dem preußischen Gesandten Friedrich Graf zu Eulenburg an Bord im September 1860 unbemerkt bis zur Reede vor Edo gelangen konnte. Aus der demonstrativen Gelassenheit der Regierung in Edo gegenüber dem forschen Auftreten der Vertreter der westlichen Mächte spricht nicht das schon von Zeitgenossen postulierte und oft in der Forschung vorausgesetzte Bewusstsein militärischer Schwäche.152 152 Siehe beispielsweise: George Henry Preble, The Opening of Japan. A Diary of Discovery in the Far East. 1853–1856, hg. von Boleslaw Szcezesniak, Norman: University of Oklahoma Press 1962, S. 116–117. Samuel Wells Williams, A Journal of the Perry Expedition to Japan, hg. von Frederick Wells Williams, in: Transactions of the Asiatic Society of Japan. First Series, 37. Bd., II. Teil (1910), S. 223 [Nachdruck, hg. von William Gerald Beasley, Richmond, SY: Japan Library 2002 (The Perry Mission to Japan 1853–1854, 6. Bd.)]. Zur Forschung siehe: William Gerald Beasley, Great Britain and the Opening of Japan. 1834–1858, London: Luzac 1951,

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4. Der amerikanisch-japanische Vertrag von Kanagawa Die US-Regierung stellte ihre Expedition unter das Kommando des erfahrenen Seemanns Commodore Matthew Calbraith Perry, der im Jahr 1852 zunächst den Atlantik überquerte, um dann durch den Indischen Ozean und den westlichen Pazifik Japan zu erreichen. Die Regierung in Edo, die von der US-Expedition unterrichtet war, war bemüht, Perry nach Nagasaki zu lenken, nicht zuletzt in der Absicht, direkte Verhandlungen mit dem USEmissär in Edo zu vermeiden. Doch Perry hatte ein Schreiben des US-Präsidenten Millard Fillmore an den „Emperor of Japan“ bei sich und sah sich dadurch beauftragt, in direkte Verhandlungen mit der zentralen Regierung einzutreten, die er in Edo verortete. So landete die Expedition vor der Küste von Uraga im Hafen Kurihama an der Außenseite der Bucht von Edo am 8. Juli 1853. Im Verlauf der Verhandlungen über die Frage, wo das Schreiben des US-Präsidenten abzugeben sei, ließ Perry sich weder von der Annahme abbringen, dass die Regierung in Edo die zuständige Institution für die Gestaltung der Außenbeziehungen Japans sei, noch wollte er auf die Forderung verzichten, mindestens einen Hafen an der Pazifikküste von Honshu¯ für US-Schiffe „öffnen“ zu lassen. Denn das Hauptziel der Expedition war es aus amerikanischer Sicht, einen Hafen in Japan für US-Schiffe zu finden, die die neu einzurichtende, transpazifische Route von Kalifornien nach China bedienen würden. Für diese Route schien Nagasaki ungünstig gelegen und folglich ungeeignet. In diesen beiden Punkten setzte Perry Präzedenzien. Auf japanischer Seite führte in der Regel die Regierung in Edo die Verhandlungen, die sie nur gegenüber der ersten britischen Mission im Jahr 1854 der nachgeordneten Dienststelle in Nagasaki als Vermittler übertrug. Alle Verträge zwischen 1854 und 1867 wurden im Namen des Sho¯gun S. 104 [Nachdruck, Folkestone: Japan Library 1995]. Hiroshi Mitani, Escape from Impasse. The Decision to Open Japan, Tokyo: I House Press 2006, S. 109 (LTCB International Library Selection. 20.) [erweiterte Ausg., Tokyo: I House Press 2008; zuerst, Tokyo: To¯kyo¯ Daigaku Shuppankai 2000]. William W. McOwie, The Opening of Japan. 1853–1855. A Comparative Study of the American, British, Dutch and Russian Naval Expeditions to Compel the Tokugawa Shogunate to Conclude Treaties and Open Ports to Their Ships, Folkestone: Global Oriental 2006, S. 228. Zu den Festungsbaumaßnahmen, die auch die Errichtung kanonenbewehrter Forts auf steinbeladenen versenkten Schiffen im Bereich der Mündung des Sumidaflusses in die Bucht von Edo umfassten, siehe: Naozo¯ Yamazaki, L’action de la civilisation européenne sur la vie japonaise avant l’arrivée du Commodore Perry. Thèse Phil., Paris-Sorbonne 1910, S. 114. Eine weitere Beschreibung einer befestigter Stellung an der Küste nahe Uraga findet sich bei: Bayard Taylor, A Visit to India, China and Japan in the Year 1853, hg. von George Frederick Pardon, London: Sampson Low; Edinburg: Blackwood 1859, S. 211 [zuerst, New York: Putnam; London: Sampson Low 1856; Nachdruck, Tokyo: Ganesha 2002 (Japan in English. Key NineteenthCentury Sources on Japan. 1850–59. First Series, 2. Bd.)].

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geschlossen, obschon nach damaliger japanischer Auffassung der Tenno¯ für die Außenbeziehungen zuständig war. Hauptsächliches Ergebnis aller Verhandlungen, die die Regierung in Edo mit den verschiedenen, auf Perry folgenden Emissären aus Europa zu führen hatte, war die Öffnung von Häfen in Honshu¯ und Hokkaido¯, die vom Pazifik her leicht zugänglich waren. Perry verweigerte jegliches Eingehen auf japanische Wünsche hinsichtlich des Verfahrens zum Abschluss eines Abkommens, setzte das Mittel gezielter Provokation der Behörden in Edo ein, indem er die Hafenbucht von Edo ohne Erlaubnis erkundete, trotz gegenteiliger Aufforderung der Regierung in Edo die Bucht von Edo nicht räumte sowie die Weiterfahrt nach Nagasaki strikt verweigerte. Auch bestand er darauf, dass amerikanische Vorstellungen von Menschenrechten als universale Grundsätze Anerkennung finden müssten. Ohne diese Anerkennung durch die japanische Regierung könne keine „Freundschaft“ zwischen Japan und den USA bestehen. Im Rückblick ließ er sein harsches Vorgehen mit der Begründung rechtfertigen, gegenüber der japanischen Regierung, die seit langem, wie er meinte, das Land der Welt gegenüber abschließe, sei die Einnahme fester Standpunkte geboten gewesen. Diese Rechtfertigung konnte als notwendig erscheinen angesichts der Vorgabe des US-Marineministeriums, dass Perrys Mission auf defensive Weise auszuführen sei. Anders als Perry waren einige Angehörige der Expedition der Ansicht, dass Perry mit seiner wenig flexiblen Verhandlungstaktik zur Verhärtung der japanischen Haltung beitrage. Auf japanischer Seite erregte Perrys Verhalten dann auch beträchtlichen Unmut, der die schon bestehenden Forderungen nach militärischer Aufrüstung verstärkte. Nachdem er der Regierung die Übergabe des Schreibens des USPräsidenten in Edo abgerungen hatte, setzte Perry seine Expedition zunächst mit einem Besuch im Königreich Ryu¯kyu¯ fort. Nach Perrys Rückkehr in die Bucht von Edo stellte er die Forderung, dass die japanische Regierung einen förmlichen Vertrag mit ihm als Vertreter der USA zu schließen hätte. Auf Perrys Drängen hin kam ein Vertrag zwischen Japan und den USA zustande, der am 31. März 1854 in Kanagawa geschlossen wurde.153 Dieser 153 Zu Perrys imperialistischer Verhandlungstaktik siehe: Francis Lister Hawks, Narrative of the Expedition of an American Squadron to the China Seas and Japan under the Commodore M[atthew] C[albraith] Perry, United States Navy, Washington: Beverly Tucker; New York: Applteton 1856, S. 239–240, 244, 256–257, 259–260 [Neudruck, New York: Appleton 1857; Nachdrucke, New York: CowardMcCann 1952; New York: AMS Press 1967; Stroud: Nonsuch 2005]. The Japan Expedition. 1852–1854. The Personal Journal of Commodore Matthew [Calbraith] Perry, hg. von Roger Pineau, Washington: Smithsonian Institution Press 1968, S. 105, 168–169 (Smithsonian Institution Publication. 4743.) [Nachdruck, Richmond, SY: Japan Library 2002]. Taylor, Visit (wie Anm. 152), S. 197, 211. Williams, Journal (wie Anm. 152), S. 129. Die Vorgabe defensiver Vorgehensweise formulierte der Marineminister J. C. Dobbin in seinem Schreiben an Perry vom

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Vertrag enthielt die wenigsten ungleichen Bestimmungen im Vergleich zu allen Folgeverträgen bis 1869. Die Präambel nennt in der japanischen wie 14. November 1853, in: United States 33rd Congress, Second Session, Senate, Correspondence Relative to the Naval Expedition to Japan, Document Nr. 34, Washington, DC: Senate Printer 1853, S. 57. Zu Reaktionen auf Perrys Vorgehensweise siehe die Stellungnahmen der damals in Edo führenden Regierungsberater Nariaki Tokugawa (vom 14. August 1853) und Naosuke Ii (vom 7. Oktober 1853), in: Select Documents on Japanese Foreign Policy. 1853–1868, hg. von William Gerald Beasley, London: Oxford University Press 1955, S. 102–103, 106, 118–119 [Nachdrucke, ebenda 1967; Richmond, SY: Japan Library 2002 (The Perry Mission to Japan 1854–1854. 2. Bd.)]. Zur Kritik an Perry siehe die Stellungnahme von Commander John Rodgers in: Yankee Surveyors in the Shogun’s Seas, hg. von Allan Burnett Cole, Princeton: Princeton University Press 1947, S. 61–62 [Nachdruck, New York: Greenwood 1968]. Williams, Journal (wie Anm. 152), S. 129, 158. Zur ersten Vorlage eines Vertragstexts durch Perry siehe: Hawks, Narrative, (wie oben), S. 409–410. Dai Nihon Ishin Shiryo¯, 2. Bd., 3. Teil, Tokyo: s. n. 1882, S. 402 [Mikrofiche-Nachdruck, Tokyo: Maruzen 1997]. Zur Geschichte der Verhandlungen siehe: Mitani, Escape (Anm. 152), S. 182–198. Mitani, The Transformation of Diplomatic Norms in East Asia during the Nineteenth Century. From Ambiguity to Singularity, in: Acta Asiatica 93. Jg. (2007), S. 92–95. McOwie, Opening (wie Anm. 152), S. 90–134, 228–279. Conrad D. Totman, Political Reconciliation in the Tokugawa Bakufu. Abe Masahiro and Tokugawa Nariaki. 1844–1852, in: Personality in Japanese History, hg. von Albert M. Craig und Donald Howard Shively, Berkeley und Los Angeles: University of California Press 1970, S. 180–208. Die Aufnahme von Handelsbeziehungen mit China war bereits seit Ende der 1820er Jahre Fernziel der Politik der transkontinentalen Expansion der US-Regierung. Man hoffte auf US-Seiten, den Handel zwischen Europa und Ostasien von dem Seeweg um das Kap der Guten Hoffnung auf den Landweg durch Nordamerika verlagern und so daran profitieren zu können. Siehe dazu: Caleb Atwater, Remarks Made on a Tour to Prairie du Chien, Thence to Washington City, in 1829, in: Atwater, The Writings of Caleb Atwater, Columbus, OH: Selbstverlag 1833, S. 202. Bereits im Tagebuch der Lewis-and-Clark-Expedition findet sich unter dem Datum des 15. Februar 1806 ein Eintrag, der die Erwartung der Nutzung des Pazifik als Handelsweg für die Bedienung südostasiatischer und darüber hinaus wohl auch europäischer Märkte, in diesem Fall mit Pelzen nordamerikanischer anstelle sibirischer Herkunft: „This abundance and cheapness of horses will be extremely advantageous to those who may hereafter attem[p]t the fir [recte fur] trade to the East Indies by way of the Columbia river and the Pacific Ocean.“ Siehe: Letters (wie Anm. 113), 4. Bd., S. 74. Insbesondere in den 1840er und 1850er Jahren landeten wiederholt Besatzungen amerikanischer Schiffe in Japan an, zumeist als schiffbrüchige Walfänger, aber auch als Abenteurer sowie – mit Wissen ihrer Regierungen – amerikanische und britische Marineoffiziere mit dem erklärten Ziel, die „Öffnung Japans“ zu erreichen. Zu anderen amerikanischen und britischen Versuchen einer Kontaktaufnahme mit der Regierung in Edo siehe: Ernest Wilson Clement, British Seamen and Mito Samurai in 1824, in: Transactions of the Asiatic Society in Japan. First Series, 33. Bd. (1906), S. 86–132. Richard A. Doenhoff, Biddle, Perry and Japan, in: US Naval Institute Proceedings 42. Jg. (1966), S. 79–87. Foster Rhea Dulles, Yankees and Samurai. America’s Role in the Emergence of Modern Japan. 1791–1900, New York: Harper & Row 1965. Stephen Bleeker Luce, Commodore Biddle’s Visit to Japan in 1846, in: US Naval Institute Proceedings 31. Jg. (1905), S. 555–563. McOwie, Opening

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auch der amerikanischen Fassung die USA als Staat zuerst als Vertragspartei und dann den Sho¯gun ohne Kaisertitel mit der umschreibenden Formel „August Sovereign of Japan“ (Japanisch Nihon Kun’o¯). Aus der Beibehaltung der Abfolge der Nennung der vertragsschließenden Parteien in der englischen und der japanischen Fassung lässt sich begründen, dass die japanische Fassung als Bearbeitung der von Perry zunächst vorgelegten englischen Fassung entstand. Die Regierung in Edo hatte demnach kein Formular, auf das sie nach eigener Tradition zurückgreifen konnte. Das Formular des schriftlich fixierten zwischenstaatlichen Vertrags wurde somit aus der europäischen Tradition adaptiert. Gleichwohl verstand die japanische Regierung die Logik dieses Formulars sehr schnell. Denn schon im nächsten Vertrag, den sie mit dem Vereinigten Königreich abschloss, wurde in der japanischen Fassung zuerst Japan, in der englischen Fassung zuerst das Vereinigte Königreich genannt. Im amerikanisch-japanischen Vertrag folgte auf die Präambel die Erklärung, beide Vertragsparteien wollten hinfort ihre Beziehungen in Frieden und Freundschaft gestalten.154 Dazu versicherte man sich gegenseitig der (wie Am. 152), S. 39–42. Die US-Expedition bot den Anlass zur Übersetzung einer älteren Darstellung zur Geschichte der Handelsbeziehungen zwischen Europa und Japan; siehe: Germain Felix Meylan, Geschichte des Handels der Europäer in Japan, Leipzig: Voigt und Günther 1861 [zuerst in: Verhandelingen van het Bataviaasch Genootschap van Kunsten en Wetenschappen als 14. Bd., 1. Nr., Batavia: Genootschap 1833], sowie zur Abfassung eines auf Sekundärquellen gegründeten Abrisses der Geschichte der europäisch-japanischen Beziehungen durch: Charles MacFarlane, Japan. An Account Geographical and Historical. From the Earliest Period at which the Islands Composing this Empire were Known to Europeans, New York: Putnam 1852, S. 9–115 [Nachdruck, Tokyo: Ganesha 2002 (Japan in English. Key Nineteenth-Century Sources on Japan. 1850–59. First Series. 1. Bd.)]. 154 Vertrag zwischen Japan und den USA vom 31. März 1854 [Kanagawa-Vertrag], Präambel und Art. I, in: Treaties and Conventions Concluded Between Empire of Japan and Foreign Nations, Tokyo: s. n. 1874, S. 1. Auch in: CTS, 111. Bd., S. 378–387. Die Ausgabe von 1874 ist amtlichen Charakters und bringt die Verträge jeweils in japanischer und einer europäischsprachigen Fassung. Eine Zusammenstellung der frühen Verträge, die die japanische Regierung mit anderen Regierungen schloss, bietet: Yorikadzu [Yorikazu] von Matsudaira, Die Völkerrechtlichen Verträge des Kaiserthums Japan, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1890, S. 394–406. Die niederländische Regierung, die bei der Vorbereitung der Expedition mit der Bereitstellung von Karten aus dem Besitz Siebolds half, unterstützte das Unternehmen mit dem Vorbehalt, dass es nach den erklärten Vorgaben der US-Regierung tatsächlich ein „friendly visit“ werde. Siehe: Charles-Ferdinand Pahud, [Brief an Duymaer van Twist vom 17. Juli 1852], in: The Papers of Daniel Webster, hg. von Kenneth E. Shewmaker und Kenneth R. Stevens, 3. Serie: Diplomatic Papers, 2. Bd., Hanover, NH, und London: University Press of New England 1983, S. 304. Die Karten durfte der amerikanische Geschäftsträger in den Niederlanden George Folsom im Jahr 1852 im Haag einsehen. Siehe die Briefe Folsoms an Daniel Webster vom 20. März 1852 und vom 14. Juni 1852, in: ebenda, S. 299–301, 301–302. Zu Folsom

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Absicht, Schiffbrüchige retten und versorgen zu wollen. Der Einschluss dieser Artikel mag auf der Kenntnis der Affäre um die Morrison beruhen. Die Besatzung des Schiffs war, aus China kommend, im Jahr 1837 mit dem Versuch gescheitert, sieben japanische Schiffbrüchige, von denen drei zuvor nach eineinhalbjähriger Irrfahrt über den Pazifik in die USA gelangt waren, nach Japan zurückzubringen. Auch waren, entgegen westlicher Propaganda, einige amerikanische Schiffbrüchige in den Jahren 1846 bis 1847 in Japan versorgt worden, ohne dass Menschenrechte verletzt worden wären. Auf amerikanischer Seite brachte der Geschäftsmann Charles W. King die Morrison Affäre zu breiter publizistischer Darstellung, auf deutscher Seite der Missionar Karl Gützlaff.155 Gleichwohl galt damals noch das für Japan im siehe: McOwie, Opening (wie Anm. 152), S. 657. Manfred C. Vernon, The Dutch and the Opening of Japan by the United States, in: Pacific Historical Review 28. Jg. (1959), S. 39–48. Eine Ausgabe von Siebolds Nippon-Buch war damals für die USRegierung nicht zugänglich. Hingegen zirkulierte in den USA eine englischsprachige Zusammenfassung der wichtigsten Thesen aus Siebolds Nippon-Buch u. d. T.: Manners and Customs of the Japanese in the Nineteenth Century, New York: Harper; London: Murray 1841 [Nachdruck, hg. von Terence Barrow, Rutland und Tokyo: Tuttle 1973]. 155 Kanagawa-Vertrag, in: Treaties (wie Anm. 154), Art. III, IV, V, VIII und X, ebenda, S. 2–3. Siehe dazu: Charles W. King, The Claims of Japan and Malaysia upon Christendom, New York: French 1839. Zu den drei nach Amerika gelangten Schiffbrüchigen siehe oben, Kapitel 1. Philipp Franz Balthasar von Siebold nahm zu der Morrison Affäre Stellung in der Zeitschrift Le Moniteur des Indes-Orientales et Occidentales 1. Jg. (1846), S. 85. Andere Berichte über das Problem der Schiffbrüchigen in Japan erschienen in der Zeitung Javasche Courant (22.12.1847, 10.1.1849, 23.6.1849, 5.1.1850), und in der Zeitung Singapore Free Press (6.1.1848). Zu den amerikanischen Schiffbrüchigen siehe: Joseph Henrij Levyssohn, Bladen over Japan, Den Haag: Belinfante 1852, S. 40–42, 46–58, 60–63. Bereits im Jahr 1842 erließ die Regierung in Edo ein Mandat, dass Schiffbrüchige zu versorgen seien. Zu einem Abenteurer, der Japan erreichte, siehe: Ranald Macdonald, The Narrative of His Life. 1824–1894, hg von William S. Lewis und Naojiro Murakami, Spokane: Eastern Washington State Historical Society 1923, S. 54 [Nachdruck, Portland: Oregon Historical Society Press 1990]. Zu den Schiffbrüchigen siehe auch Bibliografie Nr. 96. In seinem Schreiben an Sho¯gun Ieyoshi Tokugawa vom 15. Februar 1844 hatte der niederländische König Wilhelm II. bereits die Versorgung Schiffbrüchiger als Problem der Diplomatie angesprochen. Der König wusste von dem Mandat des Sho¯gun zur Versorgung Schiffbrüchiger vom 24.7.1842, gab aber zu bedenken, dass dieses Mandat nicht ausreichen werde, um die Interessen der britischen Seemacht zufriedenzustellen. Siehe Green, Correspondence (wie Anm. 111), S. 107. Auch der für die Außenbeziehungen zuständige Secretary of State Daniel Webster hob in seiner diplomatischen Korrespondenz zur Vorbereitung der Perry-Expedition im Jahr 1851 hervor, ihm sei geraten worden, die Versorgung Schiffbrüchiger zum Gegenstand amerikanischer Forderungen an die Regierung in Edo zu machen. Siehe: Daniel Webster, [Brief an William Alexander Graham vom 9. Mai 1851], in: Papers of Daniel Webster (wie Anm. 154), S. 288. In den Verhandlungen mit der Regierung in Edo sprach Perry den Streit um die Morrison an und brachte das Argument vor, Menschenrechte müssten geschützt werden. Siehe: Hawks, Narrative (wie Anm.

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Jahr 1633 verfügte allgemeine Verbot der Ausreise über See.156 Die japanische Seite gestand den Besatzungen US-amerikanischer Schiffe ausdrücklich nur den Besuch der Häfen von Shimoda und Hakodate zu, wo die Besatzungen Proviant für sich und Treibstoffe für ihre Dampfschiffe erwerben durften (Artikel II und X). Artikel VI und VII bestimmen, dass jede weitere Handelstätigkeit von US-Bürgern in Japan nur nach besonderer Genehmigung durch japanische Behörden sowie unter Beachtung noch zu erlassener Gesetze erlaubt ist. Zudem findet sich die Bestimmung, dass die Regierung der USA konsularische Vertreter nach Japan entsenden könne (Artikel XI). Schließlich akzeptierte die japanische Seite die Meistbegünstigungsklausel (Artikel IX). Die US-Seite gestand hingegen gestand Japan keines dieser drei Privilegien ausdrücklich zu. Dies ist besonders bemerkenswert im Hinblick auf die Meistbegünstigungsklausel. Denn sie erwuchs aus dem spätmittelalterlichen Streben nach Schaffung gleicher Bedingungen für die Teilnahme von Kaufleuten aus den Vertragsparteien und wurde noch im britisch-französischen Vertrag von Utrecht aus dem Jahr 1713 in dieser Weise festgeschrieben. Die ungleiche Festschreibung der Meistbegünstigungsklausel benachteiligte somit nicht nur japanische Kaufleute in dem Fall, dass sie irgendwann in den USA würden Handel treiben wollen, sondern stellte einen Bruch der bestehenden völkerrechtlichen Konventionen Europas dar. Der Vertrag von Kanagawa eximierte zwar US-Bürger nicht von japanischem Recht. Gleichwohl schrieb Artikel V dieses Vertrags ausdrücklich 152), S. 361. Perrys Brief an den „Emperor of Japan“ vom 7. Juli 1853, in: Pineau, Hg., Expedition (wie Anm. 153), S. 105. Ebenso J. W. Spalding, The Japan Expedition, New York: Redfield; London: Sampson Low 1856), S. 9 [Nachdruck, hg. von William Gerald Beasley, Richmond, SY: Japan Library 2002 (The Perry Mission to Japan 1853–1854. 3. Bd.); weiterer Nachdruck, Tokyo: Synapse 2007 (Japan in English. Key Nineteenth-Century Sources on Japan. 1850–59. Second Series, 42. Bd.)]. Auch wenn das Ro¯ju nach außen hin mehrdeutig zu erkennen gab, die Zunahme des Welthandels könnte eine Modifikation althergebrachter Gesetze erforderlich werden lassen [dies nach: Voin Andreevicˇ Rimsky-Korsakov, Iz Dnevnika, hg. von F. Rimsky-Korsakov, in: Morskoj Sbornik 6. Bd. (1896), S. 193–194], reagierten Vertreter der japanischen Regierung intern mit der Feststellung, Menschen¯ setsu rechte würden in Japan seit eh und je geschützt. Siehe: [Bericht des Amerika O an das Ro¯ju vom 2. April 1854], in: Bakumatsu Gaikoku Kankei Monjo, 5. Bd., Tokyo: To¯kyo¯ Teikoku Daigaku Bunka Daigaku Shiryo¯ Hensangakari, 1927), S. 478–485 [Nachdruck, Tokyo: To¯kyo¯ Daigaku Shuppankai 1972; englische Fassung in: Select Documents (wie Anm. 152), S. 122–127]. Ebenso auch der Verhandlungsführer auf japanischer Seite: Akira Hayashi, Diary of an Official of the Bakufu, in: Transactions of the Asiatic Society of Japan. Second Series, 7. Bd. (1930), S. 104–5, nach eigenem Zeugnis in seinen Verhandlungen mit Perry. 156 Das Verbot wurde im Jahr 1866 aufgehoben. Schon vorher hatten Delegationen der japanischen Regierung die USA im Jahr 1860, im Jahr 1862 Frankreich, die Niederlande, Preußen, Russland sowie das Vereinigte Königreich und im Jahr 1863 Ägypten und Frankreich besucht.

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fest, dass US-Bürger nicht den strengen Verhaltensregeln unterworfen sein sollten, die für Chinesen und Niederländer in Nagasaki Anwendung zu finden scheinen. Der Status der US-Bürger scheint gegenüber demjenigen der Chinesen und Niederländer dadurch gehoben, dass ihnen auf Drängen Perrys ein größeres Gebiet zugestanden wird, in dem sie sich „frei“ bewegen können.157 Von der Öffnung Japans ist in dem Vertrag dennoch keine Rede. Auch in den Vertragshäfen war freier Handel jenseits des Erwerbs von Proviant und Treibstoff nicht erlaubt.158 Die Zugeständnisse der japanischen 157

Kanagawa-Vertrag, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 2–4. Zur Geschichte der Meistbegünstigungsklausel siehe: Boris Nolde, La clause de la nation la plus favorisée et les tariffs préférentiels, in: Recueil des cours, 39. Bd., I. Teil (1932), S. 24–31. Perry pries sich ausdrücklich dafür, von der japanischen Seite dieses Zugeständnis erhalten zu haben (siehe: Perry, Japan Expedition, hg. von Pineau, wie Anm. 153, S. 201), obschon er ausdrücklich auf die Zulassung gewinnbringenden Handels verzichtet hatte (siehe dazu: Hayashi, Diary, wie Anm. 155, S. 106, 112). Perry hatte während der Verhandlungen mit Hayashi auch verlangt, ein Gebiet im Umfang von zehn japanischen Meilen (ri) zuzulassen, in dem US-Bürger sich „frei“ würden bewegen können. Hayashi jedoch bestand auf einem Gebiet im Umfang von sieben ri, das dann auch vertraglich festgeschrieben wurde. Der Gang der Verhandlungen ist aus der Sicht der Regierung der USA wiedergegeben in: Hawks, Narrative (wie Anm. 153), S. 362–363. Aus der dort in Dialogform abgedruckten Unterredung Perrys mit den Verhandlungsführern auf japanischer Seite, insbesondere Hayashi, geht hervor, dass Perry die Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten der in Shimoda und Hakodate anlandenden US-Bewohner auf Nicht-Außenhandelstätigkeiten ausdrücklich zugestand, dafür die japanische Seite auf ihre Forderung verzichtete, dass die in Hakodate und Shimoda anlandenden US-Bewohner gleiche Rechte wie die in Nagasaki lebenden Chinesen und Holländer haben sollten. Grundsätzlich war nicht nur die Regierung der USA zur Anerkennung von Begrenzungen der Reisemöglichkeiten in einem souveränen Staat bereit, sondern auch europäische Regierungen, wie etwa die britische, nahmen derlei Begrenzungen, beispielsweise gegenüber dem Osmanischen Reich und Siam in Verträgen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hin. 158 Der geringe Umfang japanischer Zugeständnisse ergibt sich aus Hayashi’s Aufzeichnungen. Siehe: Hayashi, Diary (wie Anm. 155), S. 102. Desgleichen in: Hawks, Narrative (wie Anm. 152), S. 361. Perry folgte mit der Annahme dieser Bedingungen zwar den Vorgaben Websters, stellte aber auch Forderungen, zu denen er nicht mandatiert worden war, so die Öffnung von mehr als einem Hafen und die Festschreibung der Zugeständnisse seitens der japanischen Regierung in einem schriftlichen Vertrag. Siehe dazu: Williams, Journal (wie Anm. 152), S. 129. In seinem Brief an John H. Aulick, Kommandeur der US East India Squadron, der zunächst als Leiter der Expedition vorgesehen war, gab Webster das Ziel vor, die Expedition solle nur die Möglichkeit des Ankaufs von Kohle durch die Besatzung amerikanischer Dampfschiffe sicherstellen. Siehe: Daniel Webster, [Brief an John H. Aulick vom 10. Juni 1851], in: Papers of Daniel Webster (wie Anm. 154), S. 290–291. So dann auch: Williams, Journal (wie Anm. 152), S. 69. Dagegen äußerte John Glynn, der Oberkommandierende der US-Flotte, unter Umgehung Websters die Erwartung, die amerikanische Bevölkerung werde bald den Abschluss eines allgemeinen Handelsvertrags verlangen, und proklamierte die Öffnung Japans für

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Seite in bezug auf den Schiffsverkehr mit den USA blieben im Rahmen des allgemeinen Gastrechts für Seeleute. Die japanische Seite widerstand im Jahr 1854 dem westlichen Drängen auf Zulassung des allgemeinen Freihandels erfolgreich. Im Sinn der japanischen Forschung handelt es sich um einen Freundschafts- aber nicht um einen Handels- und Freundschaftsvertrag. Zu Streit kam es über Unterschiede in der japanischen und der chinesischen Fassung auf der einen, der englischen und der niederländischen Fassung auf der anderen Seite hinsichtlich der Regelung über die Niederlassung eines konsularischen Vertreters der amerikanischen Regierung in Japan. Die ostasiatischsprachigen Fassungen bestimmten, dass „die Regierungen beider Staaten“ (japanisch: ryo¯goku seifu) zustimmen müssten, wenn achtzehn Monate nach Vertragsabschluss die US-Regierung einen konsularischen Vertreter nach Shimoda entsenden wolle. Hingegen schrieben die europäischsprachigen Fassungen fest, dass die US-Regierung einen konsularischen Vertreter achtzehn Monate nach Vertragsabschluss entsenden könne, „provided that either of the two governments deem such arrangement necessary“. Aus der englischen Fassung leitete die amerikanische Seite in der zweiten Hälfte des Jahrs 1854 den Anspruch ab, einen konsularischen Vertreter auch ohne Zustimmung der japanischen Seite entsenden zu können. Dieser Anspruch widersprach nicht nur der japanischen und der chinesischen Fassung, sondern auch der Logik der Vereinbarung selbst. Denn die Vereinbarung nach der englisch-niederländischen Fassung, der zufolge – wörtlich verstanden – nicht allein der US-Regierung, sondern auch der japanischen Regierung jeweils einseitig das Recht zugestanden wurde, die Entsendung nur eines amerikanischen konsularischen Vertreters verlangen zu können, ergab überhaupt keinen Sinn. Eine einseitige Vereinbarung zugunsten der Regierung der USA hätte lauten müssen, beide Seiten seien den „freien Handel“ als Expeditionsziel. Er glaubte, die Forderung nach allgemeiner Öffnung Japans für den Welthandel werde zugleich möglicher Kritik an der amerikanischen Expedition von Seiten der in China tätigen britischen Kaufleute vorbeugen. Siehe: John Glynn, [Brief an Präsident Millard Fillmore vom 10. Juni 1851], in: Papers of Daniel Webster (wie Anm. 154), S. 292–293. Glynns Position kam offenbar derjenigen Perrys näher als diejenige Websters. Denn Perry gab in seinem Tagebuch zu erkennen, dass er es für möglich halte, die Stadt Edo durch einige mit schweren Kanonen ausgerüstete Dampfschiffe vollständig zerstören zu können. Perry erprobte also die Chancen aggressiven Auftretens gegenüber der japanischen Regierung. Siehe: Perry, Japan Expedition, hg. von Pineau (wie Anm. 153), S. 198. Siehe dazu auch: Edgar Franz, Philipp Franz von Siebold and Russian Policy and Action on Opening Japan to the West in the Middle of the Nineteenth Century, München: Iudicium 2005, S. 74–81. Edward Morley Barrows, Great Commodore, Indianapolis und New York: Bobbs-Merrill 1935, S. 223–224 [Nachdruck, Freeport: Books for Libraries 1972]. Siebold bemühte sich um Teilnahme an der amerikanischen Expedition, wurde aber abgewiesen. Siehe: Samuel Eliot Morison, „Old Bruin“, Boston: Little, Brown & Co 1967, S. 276.

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übereingekommen, dass die US-Regierung einen konsularischen Vertreter nach Japan entsenden könne, wenn sie es für nötig halte. Folglich hat nicht nur eine sprachliche Ungenauigkeit einer wohl oberflächlich gehandhabten Prüfung der chinesischen Fassung durch den US-Dolmetscher Samuel Wells Williams und dessen Chinesischlehrer Luo Shen getrotzt, sondern den Verhandlungsführern auf beiden Seiten war die rechtliche Basis der Abfassung von Regelungen über die Zustimmung zur Entsendung konsularischer Vertreter nur mangelhaft vertraut.159 159 Kanagawa-Vertrag, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 4. Williams, Journal (wie Anm. 152), S. 152. Hayashi, Diary (wie Anm. 155), S. 113–114. Nach Hayashi’s Aufzeichnungen könnte der Unterschied der Formulierungen dadurch zustande gekommen sein, dass Hayashi, seiner Darstellung zufolge, es ablehnte, sofort Perrys Drängen auf Zulassung eines diplomatischen Vertreters der USA in Japan zuzustimmen. Denn außer Chinesen und Niederländern dürfe sich kein Ausländer dauerhaft in Japan aufhalten. Da Perry auf dem Recht zur Entsendung bestand und drohte, bei Streitfällen werde die Regierung der USA sowieso auch ohne vertragliche Zusicherung einen Vertreter entsenden, sagte Hayashi zu, die Forderung nach Ablauf von 18 Monaten erneut prüfen lassen zu wollen. Zur US-Expedition liegen unter anderen die folgenden zeitgenössischen gedruckten Berichte vor: Japan Opened. Compiled Chiefly from the Narrative of the American Expedition to Japan in the Years 1852–3–4, London: Religious Tract Society 1858 [2. Aufl., ebenda 1861; Nachdruck, Tokyo: Synapse 2008 (Japan in English. Key Nineteenth-Century Sources on Japan. 1850–59. First Series, 3. Bd.)]. Henry Franklin Graff, Hg., Bluejackets with Perry in Japan. A Day to Day Account Kept by Masters Mate John R. C. Lewison and Cabin Boy William B. Allen, New York: New York Public Library 1952 [Nachdruck, hg. von William Gerald Beasley, Richmond, SY: Japan Library 2002 (The Perry Mission to Japan 1854–1854. 4. Bd.)]. Wilhelm Heine, Reise um die Erde nach Japan, Leipzig: Purfürst 1856 [englische Fassung, hg. von Frederic Trautmann, Honolulu: University of Hawaii Press 1990]. Henry Heusken, Japan Journal 1855–1861, hg. von Jeannett C. van der Corput und Robert Arden Wilson, New Brunswick: Rutgers University Press 1964 [Nachdruck, Ann Arbor: University Microfilms International 1988]. Richard Hildreth, Japan as it is and was, Boston: Phillips & Sampson 1855 [Neudruck, hg. von Ernest Wilson Clement, London: Kegan, Paul & Co 1907; Nachdruck des Originaldrucks, Wilmington: Scholarly Resources 1973]. Hawks, Narrative (wie Anm. 153). Levyssohn, Bladen (wie Anm. 155), S. 66–124. Pineau, Hg., Expedition (wie Anm. 153). Edward Yorke McCawley, With Perry in Japan. The Diary, hg. von Allan Burnett Cole, Princeton: Princeton University Press 1942. James Morrow, A Scientist with Perry in Japan. The Journal, hg. von Allan Burnett Cole, Chapel Hill: University of North Carolina Press 1947. Documents and Facts Illustrating the Origin of the Mission to Japan, hg. von Aaron Haight Palmer, Washington, DC: Polkinhorn 1857 [Nachdruck, Wilmington: Scholarly Resources 1973; weiterer Nachdruck, hg. von William Gerald Beasley, Richmond, SY: Japan Library 2002 (The Perry Mission to Japan 1853–1854. 2. Bd.)]. Preble, Opening (wie Anm. 152). John Sewall, The Logbook of the Captain’s Clerk. Adventures in thre China Seas, Bangor, ME: Glass 1905. Spalding, Expedition (wie Anm. 155). John Glendy Sproston, A Private Journal, hg. von Shio Sakanishi, Tokyo: Sophia University Press 1968 [Nachdruck, hg. von William Gerald Beasley, Richmond, SY: Japan Library 2002 (The Perry Mission to Japan 1853–1854.

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5. Der britisch-japanische Vertrag von Nagasaki Nach Maßgabe der zeitgenössischen Völkerrechtslehre war das britischjapanische Abkommen von Nagasaki vom 14. Oktober 1854 weder ein förmlicher Vertrag noch ein sonstwie rechtskräftiges zwischenstaatliches Abkommen. Denn entgegen dem europäischen Verständnis des Rechts zwischenstaatlicher Verträge schloss der Vertreter der britischen Regierung das Abkommen ohne Bevollmächtigung.160 Gleichwohl markiert der Vertrag das Ende einer in den 1820er Jahren beginnenden langen Reihe von Versuchen der britischen Regierung, die japanische Regierung zur „Öffnung des Landes“ zu bewegen. Die japanische Regierung hatte diese Versuche stets zurückgewiesen. Davon unbeeindruckt reklamierte die britische Admiralität bereits im Jahr 1827 die Ogasawara („Bonin“)-Inseln für das Vereinigte Königreich und entsandte im Jahr 1849 nochmals eine Flotte zur Erkundung japanischer Gewässer, dieses Mal mit Otokichi als Übersetzer an Bord. Die japanische Regierung beharrte gegenüber der britischen Regierung auf ihrer Politik nicht allein wegen des 1825 erlassenen Gebots der Zurückweisung aller ausländischen Schiffe außer chinesischen und niederländischen, sondern auch wegen der besonderen Erfahrungen, die die Behörden in Nagasaki mit dem britischen Schiff Phaeton gemacht hatten. Die Besatzung dieses Schiffs hatte sich im Jahr 1808 Zugang zum Hafen von Nagasaki verschaffen wollen und dabei Gewalt angewandt. Hintergrund für das Erscheinen der Phaeton war die Übertragung der überseeischen Stützpunkte der niederländischen Ostindischen Kompagnie in britische Herrschaft im Jahr 1794 nach der französischen Eroberung der Niederlande. Demnach stand auch Batavia unter britischer Herrschaft. Anders als andere Besatzungen, die seit 1798 von Batavia aus nach Dejima unter holländischer Flagge eingefahren waren, nannte die Besatzung der Phaeton die Überstellung Batavias unter britische Herrschaft als Grund für ihre Forderung, in Nagasaki unter britischer Flagge anlanden und dort das Kommando übernehmen zu dürfen. Sie nahm die auf Dejima wohnenden Niederländer gefangen, da sie sich unter dem Befehl des Opperhoofd Hendrik Doeff den Befehlen der britischen Besatzung widersetzten, und beschossen den Hafen, als die japanischen Behörden die Phaeton mit der Begründung zur Rück5. Bd.)]. Taylor, Visit (wie Anm. 152). Robert Tomes, The Americans in Japan. An Abridgment of the Government Narrative of the US Expedition to Japan under Commodore Perry, New York: Appleton 1857 [Nachdrucke, Wilmington: Scholarly Resources 1993; Richmond, SY: Japan Library 2002]. Zur Expedition siehe Bibliografie Nr. 96. Einen ähnlichen Vertrag schloss Perry im Namen der Regierung der USA mit der Regierung des Königreichs Ryu¯kyu¯ am 11. Juli 1854, in: CTS, 112. Bd., S. 78–79. 160 Zur Notwendigkeit der ausdrücklichen Bevollmächtigung siehe schon: Schmelzing, Grundriß, §§ 373–383 (wie Anm. 105), S. 294–315.

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kehr aufforderten, der Zusammenbruch der Niederlande sei ihnen nicht bekannt. Als japanische Streitkräfte herbeigerufen wurden, kehrte die Phaeton schließlich unverrichteter Dinge nach Batavia zurück. Als nach 1815 wieder niederländische Schiffe in Nagasaki erschienen, fühlte sich der Nagasaki Bugyo¯ (Gouverneur) in seiner Einstellung bestätigt, dass die britische Crew falsche Angaben gemacht hatte. Gleichwohl strafte die Regierung in Edo das zuständige Daimyat von Saga wegen Mangels an Vorsorge für die Sicherheit des Hafens Nagasaki ab.161 Die Erinnerung an diesen Zwischenfall, der die Stellung Sagas gegenüber der Regierung in Edo stark belastete, war auch in den 1850er Jahren noch präsent, als nach Abschluss des Nanjing-Vertrages die britische Regierung auch die Öffnung japanischer Häfen für britische Schiffe anstrebte, die im Pazifik kreuzten.162 Dabei kam dem Schutz der britischen Kolonie Hong Kong vor den ebenfalls im Pazifik operierenden russischen Schiffen eine zunehmende Bedeutung zu. Zu Beginn der 1850er Jahre überwogen bei britischen Strategen und Politikern jedoch die Sorgen um die Sicherheit Hong 161 Zu dem Zwischenfall siehe: Hendrik Doeff, Herinneringen uit Japan, Haarlem: Bohn 1833, S. 171–174 [Nachdruck, Tenri: Tenri Central Library; Tokyo: Yu¯shodo¯, 1973 (Classica Japonica, 3. Sektion, I. Serie, 6. Bd.)]. William George Aston, H.M.S. Phaeton at Nagasaki, in: Transactions of the Asiatic Society of Japan. First Series, 7. Bd. (1879), S. 323–336 [wieder abgedruckt in: Aston, Collected Works, hg. von Peter Francis Kornicki, 1. Bd., Bristol: Ganesha; Tokyo: Oxford University Press 1997, S. 105–120]. Montague Paske-Smith, Western Barbarians in Japan and Formosa in Tokugawa Days. 1603–1868, Kobe: Thompson 1930, S. 137. Zu früheren Besuchen aus Batavia kommender Schiffe in Dejima siehe: Jan Feenstra Kuiper, Some Notes on the Foreign Relations of Japan in the Early Napoleonic Period (1798–1805), in: Transactions of the Asiatic Society of Japan. Second Series, 1. Bd. (1924), S. 55–82. 162 Williams, Journal (wie Anm. 152), S. 220. Mitani, Escape (wie Anm. 152), S. 225. Siehe dazu: Bob Tadashi Wakabayashi, Anti-Foreignism and Western Learning in Early-Modern Japan. The New Theses of 1825, Cambridge, MA, und London: Harvard University Press 1986. Das britische Streben nach „Öffnung“ Japans in den 1840er Jahren ist bezeugt in der Debatte über Handelsbeziehungen zu China im House of Commons vom Jahr 1847. Bei dieser Debatte zogen Befürworter der Ausweitung der Handelsbeziehungen das Privileg Ieyasu Tokugawas für die Englische Ostindische Kompagnie vom Jahr 1613 als Beleg dafür heran, dass Japan für Handel mit dem Vereinigten Königreich „offen“ sei. Siehe: Report of the Select Committee of the House of Commons on Commercial Relations with China, London: HMSO 1847, Minutes of Evidence. Das Privileg ist wieder abgedruckt in: Thomas Rundall, Memorials of the Empire of Japan, London: Hakluyt Society 1850, Notes, s. p. (Works Issued by the Hakluyt Society. First Series, 8. Bd.) [Nachdruck, New York: Franklin 1963]. Die Annahme von Derek Massarella und Izumi K. Tytler, The Japonian Charters: The English and Dutch Shuinjo, in: Monumenta Nipponica 45. Jg. (1990), S. 189–205, dass das Privileg im Vereinigten Königreich bei der Planung von Expeditionen in den 1840er und 1850er Jahren unbekannt gewesen sei, ist daher unbegründet.

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Kongs das Streben nach „Öffnung“ Japans für britische Schiffe. Als die britische Regierung sich entschied, gemeinsam mit der französischen Regierung im Schwarzen Meer gegen Russland Krieg zu führen, den später so genannten Krimkrieg (1853–1856), gab sie Weisung an die Verwaltung der Kolonie Hong Kong, die Bemühungen um „Öffnung“ Japans vorerst zurückzustellen. Denn man wollte im Pazifik keine weitere Front eröffnen, solange dieser Krieg im Schwarzen Meer dauerte. Der Sicherheit Hong Kongs gegen mögliche Repressalien durch Besatzungen russischer Schiffe sei Vorrang zu gewähren. Entgegen dieser Weisung fuhr jedoch der Konteradmiral James Stirling, der von der Expedition Perrys wusste, im Jahr 1854 nach Nagasaki in der post factum erklärten Absicht, die japanische Regierung auf ihre Haltung im britischen Konflikt mit Russland zu befragen. Welche Stirlings wirkliche Absicht vor Beginn der Aktion war, lässt sich nicht mehr ermitteln. Jedenfalls erreichte Stirling Nagasaki im September 1854 und übergab dort ein förmliches, an den Gouverneur von Nagasaki (Nagasaki Bugyo¯) gerichtetes Schreiben. Darin stellte er die Frage, wie die japanische Regierung zu entscheiden gedenke, falls sie aufgefordert würde, japanische Häfen für die im Schwarzen Meer Krieg führenden Parteien zu öffnen. Dieses auf Englisch vorgelegte Schreiben wurde unter Beteiligung von Jan Hendrick Donker Curtius, dem niederländischen Geschäftsträger in Dejima (Opperhoofd), ins Niederländische und aus dem Niederländischen ins Japanische übersetzt. Die Regierung in Edo war zuvor von Donker Curtius davon unterrichtet worden, dass von Hong Kong aus Vorbereitungen für eine Expedition nach Japan getroffen würden. In der japanischen Fassung trug Stirlings Anfrage die Gestalt einer Forderung nach Öffnung japanischer Häfen für britische Kriegsschiffe. Stirling aber hatte seine förmliche Anfrage mit der Begründung versehen, es müsse sichergestellt werden, dass russische Schiffe nicht zum Nachteil des Vereinigten Königreiches japanische Häfen benutzten. Daraus zog die vom Nagasaki Bugyo¯ unterrichtete Regierung in Edo den Schluss, Stirling wolle Japan zur Parteinahme für das Vereinigte Königreich in dem britischen Krieg gegen Russland gewinnen. Sie lehnte zwar die generelle Öffnung japanischer Häfen für britische Schiffe ab mit der Begründung, in japanischen Häfen dürfe zwischen Russland und dem Vereinigten Königreich kein Krieg stattfinden, beantwortete aber die Anfrage mit dem Zugeständnis an Stirling, britische Schiffe könnten die Häfen Nagasaki und Hakodate, erforderlichenfalls auch Shimoda, zu den Bedingungen nutzen, die Perry eingeräumt worden waren. Sie war bemüht, die seit 1853 laufenden Verhandlungen mit Russland nicht dadurch zu erschweren, dass sie der britischen Seite Zugeständnisse machte, die die russische Regierung als Affront würde verstehen müssen. Da Stirling ohne Bevollmächtigung seiner Regierung gereist war, musste er mit einem Ergebnis zurückkehren, wollte

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er sich nicht der Gefahr disziplinarrechtlicher Verfolgung aussetzen. Er ging daher ohne längeres Zögern auf das Angebot der japanischen Seite ein, falls russischen Kriegsschiffen ebenfalls die allgemeine Benutzung japanischer Häfen verweigert werde. Der schließlich am 14. Oktober 1854 in Nagasaki geschlossene britisch-japanische Vertrag trägt noch in sich das Zeugnis der großen Eile seiner Abfassung, indem er keine seinen Zweck bestimmende Präambel besitzt. Die englische Fassung beginnt mit einem nur rudimentären, die Bevollmächtigten, nicht aber die Vertragsparteien nennenden Protokoll. Dabei steht in der englischen Fassung der Name Stirlings zuerst, während die Namen der japanischen Unterhändler folgen. Die japanische Fassung hingegen bezeichnet die Namen der den Vertrag schließenden Herrscher und nennt den Sho¯gun unter der Bezeichnung Nihon Taikun zuerst. Die japanischen Bearbeiter des Vertragstextes lernten also innerhalb von weniger als einem halben Jahr einen der europäischen Grundsätze der Souveränität, dass nämlich Gleichheit des Rangs der vertragschließenden Parteien auch dadurch Ausdruck finden kann, dass die Abfolge der Namen in den verschiedensprachigen Fassungen desselben Vertrags variieren kann.163 163

Die wichtigsten Quellen zu Stirlings Verhandlungen sind: Correspondence Respecting the Late Negotiations with Japan, London: HMSO 1856, S. 220–221, 225 (Parliamentary Papers 1856, 61. Bd. = Command Paper 2077). Dai Nihon Komonjo. Bakumatsu Gaikoku Kankei Monjo, 7. Bd., Tokyo: s. n. 1915, Nr. 18, S. 39–63, Nr. 55, S. 147–150, Nr. 79, S. 214–217, Nr. 85, S. 247–253, Nr. 133, S. 374–383, Nr. 137, S. 385–390, Nr. 141, S. 408–410, Nr. 142, S. 410–418, Nr. 148, S. 425–427, Nr. 151, S. 439–441. Bakumatsu Dejima miko¯kai monjo. Donkeru Ku¯ raisha ruchiusu oboegaki, hg. von Miyako Vos [-Kobayashi], Tokyo: Shin Jinbutsu O 1992, S. 90–100. Die Forschung hat die Unterschiedlichkeit der englischen und der japanischen Fassung von Stirlings Schreiben auf die mangelnde Sprachfähigkeit des einzigen, damals in Nagasaki anwesenden Japaners zurückgeführt, der des Englischen mächtig war. Es handelte sich um Otokichi, einen der überlebenden Schiffbrüchigen, die die Morrison nach Japan bringen sollte. Otokichi war von der britischen Regierung in Shanghai in Dienst gestellt worden. Bereits im Jahr 1849 hatte ein britisches Schiff Otokichi in die Bucht von Uraga gebracht, wo er sich als des Japanischen mächtiger Chinese ausgab und als Dolmetscher die „Öffnung“ des Hafens erwirken sollte. Damals hatten Otokichis Dienste nicht den gewünschten Erfolg. Nun, im Jahr 1854, traf er in Nagasaki auf Stirlings Schiff für einen zweiten Versuch ein. Siehe dazu: Beasley, Great Britain (wie Anm. 152), S. 116. Mitani, Escape (wie Anm. 152), S. 223–226. Das Postulat, die Divergenzen zwischen den beiden Fassungen von Stirlings Schreiben seien auf mangelnde Sprachkenntnisse Otokichis zurückzuführen, ist nicht beweisbar. Deutlich hingegen ist, dass sowohl der Nagasaki Bugyo¯ als auch die Regierung in Edo die Gefahr sahen, in einen Konflikt hineingezogen zu werden, der Japan nicht betraf. Da Stirlings ursprüngliche Absicht unbekannt ist, bleibt die Möglichkeit bestehen, dass die japanische Seite Recht hatte in ihrer Annahme, Stirling wolle ein Bündnis zwischen Japan und dem Vereinigten Königreich gegen Russland schließen. Zeitgenössische Berichte über die britischen Japanexpeditionen liegen vor von: Oliphant, Narrative (wie Anm. 97).

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Im Vertrag von Kanagawa überwog die Zahl der reziproken dispositiven Bestimmungen diejenige der nichtreziproken. Hingegen wurden in den britisch-japanischen Nagasaki-Vertrag gar keine reziproken Bestimmungen aufgenommen. Der dispositive Teil bleibt also vollständig ungleich, wiewohl das nur rudimentäre Vertragsprotokoll wie im Kanagawa-Vertrag die Gleichheit der Parteien als souveräne Staaten festschrieb.164 Auch in diesem Vertrag, der als erster den europäischsprachigen Kaisertitel „His Imperial Highness the Emperor of Japan“ als bevollmächtigenden Herrscher auf japanischer Seite gibt (Präambel, japanisch Taikun wie im Kanagawa-Vertrag), blieb es jedoch auf japanischer Seite bei dem Zugeständnis der allgemeinen Regeln des Gastrechts für Seeleute (Artikel III), der Meistbegünstigungsklausel (Artikel V) sowie die Öffnung zweier spezifizierter Vertragshäfen in Hakodate und Nagasaki für den Erwerb von Proviant und Treibstoff durch die Besatzungen britischer Schiffe (Artikel I, III). Überdies wurden britische Untertanen nunmehr ausdrücklich japanischem Recht unterworfen (Artikel IV). Verstöße gegen den Vertrag durch höhere Offiziere und Schiffskommandeure sollten zur Schließung der Häfen für britische Schiffe führen. Obzwar die britische Regierung mit mehr Nachdruck als die Sherard Osborn, A Cruise in Japanese Waters, Edinburg und London: Blackwood 1859 [Nachdruck, Tokyo: Ganesha 2002 (Japan in English. Key Nineteenth-Century Sources on Japan. 1850–59. First Series, 6. Bd.)]. Osborn, Japanese Fragments, London: Bradbury & Evans 1861 [Nachdruck, Tokyo: Ganesha 2002 (Japan in English. Key Nineteenth-Century Sources on Japan. 1860–69. First Series, 10. Bd.)]. David Field Rennie, The British Arms in North China and Japan, London: Murray 1864. Andrew Steinmetz, Japan and Her People, London: Routledge 1859, S. 432–440 [Nachdruck, Tokyo: Ganesha 2002 (Japan in English. Key Nineteenth-Century Sources on Japan. 1850–59. First Series, 7. Bd.)]. Henry Arthur Tilley, Japan, the Amoor and the Pacific, London: Smith, Elder & Co 1861 [Mikrofiche-Nachdruck, Cambridge: Chadwyck-Healey 2000; weiterer Nachdruck, Tokyo: Ganesha 2002 (Japan in English. Key Nineteenth-Century Sources on Japan. 1960–69. First Series, 12. Bd.)]. John M. Tronson, Personal Narrative of a Voyage to Japan, Kamtschatka, Siberia, Tartary, and Various Parts of the Coast of China. In H. M. S. Barracouta, London: Smith, Elder & Co 1859 [Mikrofiche-Nachdruck, Cambridge: ChadwyckHealey 1996]. Thomas Clark Westfield, The Japanese, Their Manners and Customs, London: Photographic News Office 1862. Zu den britisch-japanischen Beziehungen in den 1850er Jahren siehe Bibliografie Nr. 97. Entgegen den von Beasley, Eckel, Mitani und Stephan (Bibliografie Nr. 97) vorgetragenen Ansichten ergeben die Quellen zu Stirlings Expedition auf britischer Seite keinen Hinweis darauf, dass aus der Sicht der britischen Regierung, insbesondere der Admiralität, die „Öffnung“ Japans im Rahmen der strategischen Planungen für den Krimkrieg angestrebt wurde. Lediglich das negative Argument ist belegbar, dass die britische Regierung in Zeiten des Konflikts mit Russland ein weiteres potentielles Konfliktfeld vermeiden wollte. 164 Vertrag zwischen Japan und dem Vereinigten Königreich vom 14. Oktober 1854 [Nagasaki-Vertrag], Präambel, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 6–7. Auch in: CTS, 112. Bd., S. 246–250. Die Artikel des dispositiven Teils regeln ausschließlich Belange britischer Untertanen in Japan.

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US-Regierung darauf bestanden zu haben scheint, die Grundsätze des Nanjing-Vertrags gegenüber Japan auch ohne den Einsatz militärischer Mittel durchsetzen zu wollen, war sie – gemessen am Nanjing-Vertrag – nur begrenzt erfolgreich. Nicht einmal die Möglichkeit zur Entsendung eines diplomatischen Vertreters wurde der britischen Seite schriftlich zugestanden. Sie kam in den Genuss dieses Privilegs durch die Meistbegünstigungsklausel (Artikel V), da dieses Privileg der US-Regierung zugestanden worden war. Diese Klausel wurde aber, anders als im Kanagawa-Vertrag, im britisch-japanischen Vertrag eingeschränkt durch die Bestimmung, dass die Privilegien, die die Chinesen und Niederländer in Nagasaki hatten, für Briten keinesfalls gelten sollten.165 Briten erschienen daher gegenüber Chinesen und Niederländern in einer schwächeren Position. Die japanische Seite widerstand nicht nur gegenüber der US-Regierung, sondern auch gegenüber der britischen Regierung dem Druck auf Anerkennung allgemeiner Freihandelsregeln. Die britische Regierung war folglich mit der Expedition Stirlings unzufrieden und unternahm nach Abschluss des Krimkrieges einen neuen Versuch. Dieser sollte nach der Instruktion von George William Frederick Villiers, Fourth Earl of Clarendon, Secretary of State for Foreign Affairs, an den Leiter der Expedition, den Earl of Elgin, darin bestehen, mit der japanischen Regierung einen Vertrag zu schließen, der dieselben Grundsätze festschreibe, die mit der chinesischen Regierung vereinbart worden seien. Darin schloss Clarendon ausdrücklich das Ziel ein, mit der japanischen Seite Handelsbeziehungen zu vereinbaren, die für die britische Seite mindestens so vorteilhaft seien wie die mit der chinesischen Regierung vereinbarten. Damit war die „Öffnung“ Japans für den allgemeinen, das heißt nicht nur britische Kaufleute begünstigenden, Freihandel gemeint. Für die britische Regierung sei die Förderung der in der Anerkennung von Freihandelsregeln manifesten „Zivilisation“ zum allgemeinen Nutzen vorrangig. Elgin, der sich vom 17. bis 31. August 1858 in Japan aufhielt, antwortete in seinem Bericht nach Abschluss der Mission, er habe seinen Auftrag erfüllen können, wenngleich auch ihm nur die „Öffnung“ weniger weiterer Vertragshäfen gelang. „Die Tür zur allmählichen Einrichtung von Handels- und Freundschaftsbeziehungen zwischen den Völkern des Westens und Japans“ sei dennoch geöffnet, und er sei geneigt zu glauben, dass die Beziehungen herzlichst und innigst werden würden, sofern der Westen sich nicht durch ungerechte und aggressive Akte Feinde unter den „Eingeborenen“ verschaffe.166 165 Beasley, Great Britain (wie Anm. 152), S. 127, behauptet zu Unrecht, diese Bestimmung finde sich nur in der englischen, nicht aber in der japanischen Fassung. Tatsächlich steht sie in beiden Fassungen. Siehe: Nagasaki-Vertrag, Art. V, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 7.

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Der gleichwohl vorwaltenden Unzufriedenheit der britischen Seite verlieh der schottische Sekretär Laurence Oliphant vehementen Ausdruck. Oliphant gehörte Elgins Expedition an und wurde während seines zweiten Japanaufenthalts im Jahr 1861 Opfer eines Attentats, an dessen Folgen er lebenslang litt.167 Aber schon bevor sein Leiden begann und noch fünf Jahre nach dem Abschluss des Nagasaki-Vertrages, beklagte er in seinem offiziösen Bericht über die zweite britische Ostasienexpedition den Umstand, dass Japan für den Freihandel nicht hatte geöffnet werden können. Die britische Regierung möge sich die militärische Option zur Errichtung direkter Kolonialherrschaft offenhalten, sofern die friedliche Durchsetzung allgemeiner Freihandelsregeln nicht doch noch möglich werde.168 Die Wahl der militärischen Option gegenüber Japan konnte in der Sicht der europäischen Kolonialregierungen durchaus realistisch erscheinen: Im Jahr 1855 befanden sich 31 ausländische Schiffe, darunter 19 westliche Kriegsschiffe, auf Reede vor Hakodate und 1862 immerhin ungefähr 15 im Hafen von Yokohama.169 Oliphant ließ jedoch keine Zweifel an seiner Zuversicht, dass der Japanhandel für britische Kaufleute lohnend sein und dass die britische Regierung keinesfalls von ihren Zielen abgehen, sondern für sich die Kompetenz zum Bestimmen der Regeln des Freihandels, der Grundsätze des Völkerrechts und der Agenda der Diplomatie in ihren Beziehungen mit Ostasien werde reklamieren können. Skeptischer als Oliphant war Rutherfod Alcock, der erste britische Ministerresident in Japan. Während eines Heimaturlaubs 1861 hielt er vor der Royal Geographical Society in London einen Vortrag und gab darin seine Stellungnahme zu den Aussichten für den Japanhandel ab. Alcocks Ein166 Instruktion des Earl of Clarendon an den Earl of Elgin, 20. April 1857, London, National Archives, FO 405/2, S. 23. Bericht Elgins an den Earl of Malmesbury, 20. August 1858, ebenda, S. 630. Der Vertrag liegt vor in: Treaties (wie Anm. 154), S. 111–129. Auch in: CTS, 119. Bd., S. 402–412. 167 Er erlitt einen Schwertschnitt am Arm, wodurch drei Finger gelähmt blieben. Er kehrte im selben Jahr 1861 mit einem an Königin Viktoria gerichteten Entschuldigungsschreiben des Sho¯gun nach England zurück, zog dann aber weiter in die USA. Über den Zwischenfall berichtete er in einer Sammlung autobiografischer Texte. Siehe: Laurence Oliphant, Episodes in a Life of Adventure. Or Moss from a Rolling Stone (Edinburg und London: Blackwood 1887, S. 185–211 [Nachdruck, hg. von Catharina Blomberg, Richmond, SY: Japan Library 2000]. Zu Oliphant siehe: Margaret Oliphant, Memoir of the Life of Laurence Oliphant and of Alice Oliphant his Wife, Neuausg., Edinburg: Blackwood 1892. 168 Oliphants kolonialstrategische Positionen sind niedergelegt in: Oliphant, Narrative (wie Anm. 97), S. 248–249. Nicht weniger optimistisch äußerte sich: Osborn, Cruise (wie Anm. 163), S. 47. 169 Mormanne, La prise (wie Anm. 98), S. 209–210. Caspar Brennwald, [Tagebuch], hg. von Thomas Immoos, Wie die Eidgenossen Japan entdeckten, Tokyo: Deutsche Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens 1982, S. 35–36.

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schätzung wich grundsätzlich von dem zuvor allerorts geübten Optimismus ab. Er prognostizierte geringe Exportaussichten für britische Hersteller, da Japan über ein leistungsfähiges Handwerk und einen gut organisierten Markt verfüge. Gleichzeitig schöpfe aber eine traditional legitimierte Kriegerkaste so viel Kaufkraft aus dem Markt, dass der allgemeinen Bevölkerung wenig Möglichkeit zum Erwerb ausländischer Produkte bleibe. Auch sah Alcock politische Instabilität voraus und meinte, dem sozialen Ordnungsgefüge, das ihm als japanischer Feudalismus erschien, stehe ein gewaltsamer Umbruch im Stil einer bürgerlichen Revolution bevor. Es lohne sich also für britische Produzenten kaum, in den japanischen Markt zu investieren. Das Ziel, Japan in das weltweite Freihandelsregime zu integrieren, sei zweitrangig.170 6. Der japanisch-russische und der japanisch-niederländische Vertrag Die russische Regierung hatte seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wiederholt Versuche unternommen, mit der japanischen Regierung Beziehungen aufzunehmen.171 Bereits in den Jahren 1851 und 1852 sind abermalige Bemühungen belegt, die niederländische und die russische Regierung zur „Öffnung“ Japans zu veranlassen. Sie scheinen von Philipp Franz Balthasar von Siebold ausgegangen zu sein, der zunächst die niederländische Regierung zum Abschluss eines Handels- und Schifffahrtsvertrags drängte und nach dem einstweiligen Scheitern dieser Initiative sich mit zwei Vertragsentwürfen an die russische Regierung wandte.172 In der Tradition dieser Versuche stand die Expedition des Marine-Kommandeurs Evfimii Vasilevicˇ Putiatin, der Anfang 1853 von Petersburg nach Japan aufbrach, wegen der Notwendigkeit von Reparaturen an seinem Schiff aber erst nach Perry am 21. August 1853 dort eintraf. Die Verhandlungen gestalteten sich schwierig, da die japanische Regierung es zur selben Zeit mit der amerikanischen und der britischen Delegation zu tun hatte. Insbesondere die zeitgleiche Anwe170 Rutherford Alcock, Extracts from the Narrative of a Journey through the Interior of Japan, in: Journal of the Royal Geographical Society (1861), S. 201–202. Alcock, The Capital of the Tycoon, 1. Bd., London: Longman 1863, S. 282–283 [Nachdruck, New York: Greenwood 1969]. 171 Zur Vorgeschichte des japanisch-russischen Vertrags siehe Bibliografie Nr. 98. 172 Siebolds Entwürfe sind erhalten in Den Haag, Algemeen Rijksarchief, Kolonien Geheim Verbaal 5831 # 38, in Schloss Brandenstein, Privatarchiv Brandenstein-Zeppelin, Ms 5, Ms 40, Ms 45 und in St. Petersburg, Zentrales Archiv der Russischen Marine, 296 f. 75a, fol. 1566r-v. Japanische Versionen der Korrespondenz Siebolds sind herausgegeben von Masahide Miyasaka, in: Narutaki Kiyo¯, 4. Bd. und 5. Bd., Nagasaki: s. n. 1994–1995. Franz, Siebold (wie Anm. 158), S. 154–161, bietet englische Versionen der deutschsprachigen Texte Siebolds. Zu den Aktivitäten Siebolds siehe Bibliografie Nr. 98.

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senheit der britischen und der russischen Delegation brachte für die japanische Seite wegen des Krimkrieges Probleme der Verhandlungsführung mit sich. Sie führten dazu, dass die zunächst in Nagasaki geführten Verhandlungen mit Putiatin abgebrochen und erst Ende 1854 in Shimoda wieder aufgenommen wurden. Da in der Zwischenzeit bereits zwei Verträge geschlossen worden waren, konnten die Verhandlungsführer auf japanischer Seite an Präzedenzien anknüpfen. Der japanisch-russische Vertrag vom 7. Februar 1855 liegt in niederländischer Sprache vor, da er auf der Basis der Vorschläge Siebolds abgefasst wurde. Der Vertrag titulierte den Sho¯gun als „Zyne Majesteit de Groote Heerscheer van geheel Japan“ (Präambel, japanisch Taikun), was eine Variante der im Kanagawa-Vertrag gebrauchten Titulatur ist. Gleichwohl enthält dieser Vertrag eine Reihe von neuen Abmachungen. Erstmalig in diesem Vertrag ist in allgemeinen Bestimmungen von Handel die Rede. Das Formular des Friedensvertrags geronn so zum Protokoll eines umfassenden Friedens-, Handels- und Freundschaftsvertrags.173 Artikel IV schrieb wechselseitig die Pflicht zur Rettung Schiffbrüchiger vor und Artikel VIII bestimmte die Freizügigkeit von Russen in Japan und Japanern in Russland, gestattete die Festnahme von Rechtsbrechern durch örtliche Behörden, sah aber die Aburteilung nach dem Recht des Herkunftslands vor. Zivilrechtliche Regelungen blieben ausgeklammert, woraus folgt, dass für diese Belange territoriales Recht galt. Die Reziprozität dieser Regelungen ergab sich aus dem Umstand, dass beide Staaten über eine im Vertrag selbst geregelte gemeinsame Grenze verfügten, die die Wahrscheinlichkeit des Aufenthalts von Untertanen auf dem Territorium des jeweilig anderen Staates bedingte (Artikel II, VIII). Darüber hinaus jedoch kam mit diesem Vertrag der Gegensatz von reziprokem Protokoll und überwiegend nichtreziproker Disposition voll zum Austrag. Die Implementierung der von der russischen Seite diktierten Regeln des allgemeinen Freihandels war zur ausschließlich japanischen Angelegenheit geworden, die von einem russischen Konsul kontrolliert werden konnte. (Artikel VI, VII). Die Entsendung eines japanischen Konsuls nach Russland hingegen sah der Vertrag nicht vor. Zwar blieb die japanische Regierung auch gegenüber Russland hart und öffnete nur die drei Häfen Shimoda, Hakodate und Nagasaki für den Besuch russischer Schiffe. Aber die Besatzungen und andere an Bord befindliche Personen durften in den Häfen Shimoda, Hakodate und Nagasaki über den Erwerb von Proviant und Treibstoff hinaus uneingeschränkt Handel treiben (Artikel III, V). Eine Zusatzbestimmung zu Artikel VI erläuterte, dass Russen im 173

Vertrag zwischen Japan und Russland vom 7. Februar 1855 [Shimoda-Vertrag], Präambel und Art. I, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 9–10. Auch in: CTS, 112. Bd., S. 468–471. Zu den Verhandlungen siehe Bibliografie Nr. 98.

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Konsulatsgebäude nach ihren eigenen Gewohnheiten und Gesetzen leben könnten. Aus dieser Formulierung konnte das Zugeständnis der Exterritorialität an Russland abgeleitet werden. Über die zuvor zugestandene Meistbegünstigungsklausel kamen nunmehr auch US-Amerikaner und Briten in den Genuss dieser Zugeständnisse (Artikel IX).174 Bei dem japanisch-russischen Abkommen handelt es sich um einen in das Formular des Friedens-, Handels- und Freundschaftsvertrags gekleideten Grenzvertrag. Der japanisch-niederländische Vertrag vom 30. Januar 1856 hat insoweit eine Sonderstellung, als er zwischen Parteien geschlossen wurde, die bereits seit dem 17. Jahrhundert Handelsbeziehungen unterhielten. Seit der Entstehung des Königreiches der Niederlande zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren diese Beziehungen in der Sicht beider Seiten zwischenstaatlichen Charakters gewesen.175 In diesem Vertrag wurde nunmehr der Grundsatz der Anerkennung der Gleichheit der vertragsschließenden Parteien ausdrücklich festgeschrieben, zugleich aber auf das Formular des umfassenden Friedensund Freundschaftsvertrags verzichtet.176 Hingegen enthielt dieser Vertrag als erster in seinem Hauptteil Bestimmungen zur Konsulargerichtsbarkeit, die einseitig den Niederlanden zugestanden wurde.177 Ebenso einseitig gestand 174 Shimoda-Vertrag, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 10–12. Zur Personalität des Rechts siehe: Franz, Siebold (wie Anm. 158), S. 160–161. Mitani, Escape (Anm. 152), S. 251, setzt irrtümlich Personalität des Rechts und Exterritorialität gleich. Seine Behauptung, in diesem Vertrag sei Exterritorialität reziprok vereinbart worden, ist daher falsch. 175 Im Zeitraum des Bestehens der Niederländischen Ostindischen Kompagnie gestalteten sich diese Beziehungen unterschiedlich nach niederländischer und japanischer Perspektive. Während sie in japanischer Sicht zwischenstaatlich waren, unterhielten nach niederländischer Auffassung die privatrechtlich organisierte und mit Privileg ausgestattete Kompagnie, nicht aber die Generalstaaten selbst Beziehungen nach Japan. Zu den japanisch-niederländischen Beziehungen siehe Bibliografie Nr. 99. Aus Anlass der erzwungenen Integration Japans in den europäisch kontrollierten Weltmarkt erschien eine Reihe von Darstellungen, die sowohl die historische Tiefe der japanisch-niederländischen Handelsbeziehungen als auch die Bemühungen der niederländischen Regierung um „Öffnung“ Japans dokumentieren sollten. Siehe: J. H. C. Bley, Die Politik der Niederländer in ihren Beziehungen zu Japan, Oldenburg: Berndt 1855 [Mikrofiche-Nachdruck, München: Saur 2000 (German Books on Japan 1477 to 1965)]. Johan Baptist Jozef van der Chijs, Neêrlands streven tot openstelling van Japan voor den wereldhandel, Amsterdam: Muller 1867. Jan Baptist Josef van Doren, De openstelling van Japan vor vremde natiën, Amsterdam: Sybrandi 1861. Johannes Lijdius Catherinus Pompe van Meerdervoort, Vijf jaren in Japan, 2 Bde., Leiden: van den Heuvell & van Santen 1867–1868). Philipp Franz Balthasar von Siebold, Geschichte der Entdeckungen im Seegebiete von Japan nebst Erklärung des Atlas von Land- und Seekarten vom Japanischen Reiche und dessen Neben- und Schutzländern, Leiden: Selbstverlag 1852. Siebold, Urkundliche Darstellung der Bestrebungen von Niederland und Russland zur Eröffnung Japans für die Schiffahrt und den Seehandel aller Nationen, Bonn: Selbstverlag 1854 [Mikrofiche-Nachdruck, München: Saur 2003 (German Books on Japan 1477 to 1965)].

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die japanische Regierung den Niederlanden die Privilegien der Freiheit der Bewegung und des Handels mit Japanern und Angehörigen anderer Nationen in der Stadt Nagasaki sowie des Waffentragens zu, solange die Niederländer sich in Stadt und Bucht von Nagasaki aufhielten (Artikel I, V, XII, XXII und XXIII). Im Übrigen bestätigte der Vertrag frühere Regelungen, die aus der Zeit der niederländischen Handelstätigkeit in Japan seit dem 17. Jahrhundert getroffen worden waren (Artikel XII – bauliche Veränderungen an Wohn- und Lagerhäusern in Deshima –, Artikel XIX – Aufbewahrung der Handelsgüter in Deshima –, Artikel XXVI – Geschenke).178 7. Die Ansei-Verträge Zwischen Juli und Oktober 1858 kam es zu einer Serie von fünf Verträgen, die die Regierung in Edo in schneller Abfolge und nach jeweils kurzer Verhandlungsdauer schloss. Es handelt sich um den zweiten Vertrag mit den USA vom 29. Juli 1858,179 den zweiten Vertrag mit den Niederlanden vom 18. August 1858,180 den zweiten Vertrag mit Russland vom 19. August 1858,181 den zweiten Vertrag mit dem Vereinigten Königreich vom 26. August 1858182 und den ersten französisch-japanischen Vertrag vom 9. Oktober 1858.183 Alle fünf Verträge haben ein ähnliches Formular, enthalten jeweils beigeschlossene Handelsregulative und sind ähnlichen Inhalts. Es handelte sich wiederum um Freundschafts- und Handelsverträge, für deren 176 Vertrag zwischen Japan und den Niederlanden vom 30. Januar 1856, Präambel, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 15. Auch in: CTS, 114. Bd., S. 226–229 (Niederländische Fassung), S. 230–233 (Englische Fassung). 177 Japanisch-niederländischer Vertrag, in: Treaties (wie Anm. 154), Art. II und III, S. 16. Zur Konsulargerichtsbarkeit in Japan siehe: Richard T. Chang, The Justice of Western Consular Courts in Nineteenth-Century Japan, Westport, CT: Greenwood 1984. Daniel Crosby Greene, Extraterritoriality in Japan, Yokohama: Japan Mail Office 1884. James Hoare, Extraterritoriality in Japan. 1858–1899, in: Transactions of the Asiatic Society of Japan. Third Series, 18. Bd. (1983), S. 71–97. Francis Clifford Jones, Extraterritoriality in Japan and the Diplomatic Relations Resulting in Its Abolition. 1853–1899, New Haven und London: Yale University Press 1931 [Nachdruck, hg. von Jerome D. Green, New York: AMS Press 1970]. 178 Japanisch-niederländischer Vertrag, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 16, 18, 20, 21. Die niederländische Seite legte die Bestimmung von Art. XIX. als Garantie einer Freihandelszone auf Deshima aus und bestand in den Verhandlungen für den Folgevertrag im Jahr 1858 auf Beibehaltung dieses scheinbaren Privilegs. Siehe dazu: MacLean, Siebold (Bibliografie Nr. 98), S. 64. 179 Treaties (wie Anm. 154), S. 52–70. Auch in: CTS, 119. Bd., S. 254–280. 180 Treaties (wie Anm. 154), S. 71–89. Auch in: CTS, 119. Bd., S. 314–332. 181 Treaties (wie Anm. 154), S. 90–110. Auch in: CTS, 119. Bd., S. 338–347. 182 Treaties (wie Anm. 154), S. 111–129. Auch in: CTS, 119. Bd., S. 402–412. 183 Treaties (wie Anm. 154), S. 130–150. Auch in: CTS, 120. Bd., S. 8–20.

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Gestaltung das Formular des Friedensvertrags Anwendung fand. Da sie nach damals in Japan gebräuchlicher Jahreszählung in der Ansei-Periode (1854–1860) geschlossen wurden, werden sie auch als Ansei-Verträge bezeichnet.184 Der von Townsend Harris als Geschäftsträger auf amerikanischer Seite ausgehandelte Vertrag vom 29. Juli 1858 setzte den Rahmen, der auf die weiteren Verträge Anwendung fand. Er bezeichnet als erster europäischsprachiger Vertragstext den Herrscher Japans unter Verwendung der japanischen Titulatur als „Tycoon of Japan“, bestätigt gegenüber den USA diejenigen Privilegien, die die japanische Regierung zwischenzeitlich anderen Partnern zugestanden hatte, insbesondere die Konsulargerichtsbarkeit für Straftaten unter US-Bürgern in Japan, für gemischte Strafrechtsfälle, in denen US-Bürger Straftaten gegen japanische Untertanen begingen, sowie zivilrechtlichen Fällen, in denen japanische Untertanen gegen US-Bürger schuldrechtliche Forderungen erhoben (Artikel VI); erlaubt die wechselseitige Bestellung diplomatischer Vertreter im jeweiligen Vertragspartnerstaat (Artikel I); fügt das Zugeständnis hinzu, dass in Japan alle Sorten ausländischer Münzen zirkulieren dürfen (Artikel V); gestattet US-Bürgern den Zuzug in die Hauptstadt Edo mit Wirkung vom 1. Januar 1862 sowie in die Stadt Osaka mit Wirkung vom 1. Januar 1863 und fügt die Orte Kanagawa [= Yokohama], Nagasaki, Niigata und Kobe als Vertragshäfen zu (Artikel III). Das Handelsregulativ spezifiziert die Bedingungen, unter denen zwischen den vertragsschließenden Parteien Handel betrieben werden soll und setzt den Zoll von fünf Prozent für die Ausfuhr aller japanischen Erzeugnisse fest. Zugleich dürfen Gold, Silber und wesentliche Konsumartikel wie Kleidungsstücke, Hausgeräte, Hausrat und Bücher zollfrei nach Japan eingeführt werden.185 184

Siehe dazu: Michael R. Auslin, Negotiating with Imperialism. The Unequal Treaties and the Culture of Japanese Diplomacy, Cambridge, MA: Harvard University Press 2004. Auslin, S. 7, irrt jedoch in der Annahme, die westlichen Regierungen seien in Übereinstimmung darin gewesen, Japan nicht zu kolonisieren. Siehe dazu oben, Anm. 100, 168. 185 Japan-USA-Vertrag (wie Anm. 179), Präambel, Art. III, V, VI. Die Häfen Kobe und Niigata wurden tatsächlich erst am 1. Januar 1868 geöffnet. Handelsregulativ, Art. VII, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 69–70. Nur in Art. II wurde eine für diesen Vertrag spezifische Regelung getroffen. Derzufolge wird dem Geschäftsträger der USA in Japan auf Antrag der japanischen Regierung die Befugnis eingeräumt, als Vermittler zwischen Japan und jedweder europäischen Macht zu handeln. Harris nahm diese Vermittlerrolle allein jedoch nur in den 1850er Jahren wahr. Bei den Verträgen, die in den früheren 1860er Jahren mit Preußen und der Schweiz geschlossen wurden, traten neben Harris hingegen der niederländische Geschäftsträger Polsbroek und der französische Geschäftsträger de Bellecourt als Vermittler hervor. Siehe: Freiburg, Bundesarchiv-Militärarchiv, RM 1/2877, fol. 46r–46v, 44r–44v. Mitani, Escape (wie Anm. 152), S. 290–291, vertritt die apologetische Meinung, die Festschreibung der Konsulargerichtsbarkeit sei reziprok, da die japanische Seite die Gerichtsbarkeit für Straftaten, die japanische Untertanen an US-Bürgern sowie Un-

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Da der französisch-japanische Vertrag als letzter in dieser Serie zugleich das erste Abkommen war, das die japanische Regierung mit Frankreich schloss, soll er hier ausführlicher zur Sprache kommen.186 Das Protokoll des französisch-japanischen Vertrags folgte der etablierten Praxis und drückt die Gleichheit der vertragsschließenden Souveräne aus. Wie sein britisch-japanischer Vorläufer, aber abweichend von den übrigen Ansei-Verträgen, spezifizierte dieser Vertrag in seiner französischen Fassung den Titel des Souveräns von Japan wieder mit der europäischsprachigen Titelbezeichnung „Empereur du Japon“. Außerdem weicht der Vertrag von seinen Vorgängern darin ab, dass er die Reziprozität der Beziehungen zwischen beiden vertragsschließenden Parteien ausdrücklich stipulierte mit der Aussage, es werde geschlossen „un Traité de paix, d’amitié et de commerce basé sur l’intérêt réciproque des deux pays“.187 Dem Gebrauch einer europäischsprachigen Titelbezeichnung folgte im Zeitraum bis 1869 nur noch der japanisch-portugiesische Vertrag und die ausdrückliche Festschreibung der Reziprozität der mit dem Vertrag verbundenen Interessen fand in späteren Vertertanen der vertragsschließenden europäischen Regierungen ebenso behalten habe wie die Zuständigkeit für die Regelung zivilrechtlicher Schuldansprüche von USBürgern sowie Untertanen europäischer Vertragspartner gegen japanische Untertanen. Das ist zwar zutreffend. Gleichwohl sind die Ansei-Verträge ungleich, da der japanischen Regierung entsprechende Kompetenzen in den Staaten unter der Kontrolle ihrer Vertragspartner nicht eingeräumt wurden. 186 Den europäischen Kenntnisstand vor Beginn der Expedition fasste für Frankreich zusammen: Adolphe Philibert Dubois de Jancigny, Japon, Indo-Chine, Empire Birman (ou Ava), Siam, Annam (ou Cochinchine), Péninsule Malaise etc. Ceylan, Paris: Didot 1850. Bereits im Jahr 1846 hatte eine französische Fregatte unter dem Kommando von Konteradmiral Cécille Nagasaki aufgesucht und dort das Verlangen gestellt, die japanische Regierung möge die Versorgung schiffbrüchiger französischer Walfänger gestatten [abgedruckt in: Levyssohn, Bladen (wie Anm. 155), S. 41–42]. Zeitgenössische gedruckte Berichte zu der französischen Expedition liegen vor von: Charles-Gustave Martin Baron de Chassiron, Notes sur le Japon, la Chine et l’Inde. 1858–1859–1860, Paris: Dentu 1861, S. 3–183 [Nachdruck, Paris: INLCO 1974]. Edouard Fraissinet, Le Japon, 2 Bde., Paris: Bertrand 1864. Alfred Marquis de Moges, Souvenirs d’une ambassade au Chine et au Japon en 1857 et 1858, Paris: Hachette 1860 [englische Fassung, London und Glasgow: Griffin 1860; Neuaufl. der englischen Fassung, London und Glasgow: Griggin und Bohn 1863; Nachdrucke der englischen Fassung, Shannon: Irish University Press 1972; Tokyo: Ganesha 2002 (Japan in English. Key Nineteenth-Century Sources on Japan. 1860–69. First Series, 8. Bd.)]. Charles Comte de Montblanc, Le Japon, Paris: Bertrand 1867. Léon de Rosny, La civilisation japonaise, in: Bulletin de la Société de Géographie, 5e Série, 1. Jg. (1861), S. 283–306. Zu den französisch-japanischen Beziehungen siehe Bibliografie Nr. 100. 187 Französisch-japanischer Vertrag, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 130. Derselbe Titel steht im britisch-japanischen Vertrag, während in den in niederländischer Sprache abgefassten Verträgen mit Russland und den Niederlanden der Titel „Taikoen“ lautet. Treaties (wie Anm. 154), S. 52–53, 71–2, 90–91, 111–112. Sonderbar ist, dass auch in der japanischen Fassung Frankreich zuerst genannt wird.

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trägen keine weitere Anwendung. Zudem belegt der französisch-japanische Vertrag, dass der japanischen Seite der Begriff des Interesses von Staaten vertraut war und folglich der Souveränitätsbegriff nicht allein personal, sondern auch in Anbindung an Institutionen des Staates aufgefasst wurde.188 Die Reziprozität wird in den beiden allgemeinen Artikeln des dispositiven Teils beibehalten, die bestimmen, dass zwischen den Parteien ewiger Friede herrschen soll und diplomatische Vertreter ausgetauscht werden können (Artikel I und II). Wie in den voraufgehenden Ansei-Verträgen beginnen mit Artikel III die ungleichen Bestimmungen, die einseitig nur diejenigen Rechte und Pflichten festschreiben, die die französischen Untertanen in Japan betreffen. So bestimmt Artikel III die von japanischer Seite für Franzosen zu öffnenden Vertragshäfen und nennt wie im amerikanisch-japanischen Vertrag von 1858 Hakodate, Kanagawa [= Yokohama] und Nagasaki, die ab 15. August 1859 zugänglich sein, sowie Niigata und Kobe, die jeweils mit Wirkung vom 1. Januar 1860 und 1. Januar 1863 offenstehen sollen.189 Es folgen Regelungen zur Freiheit der Religionsausübung (Artikel IV) und der Jurisdiktion (Artikel V und VI). In Artikel VII räumt die japanische Regierung einseitig die gemischte Konsulargerichtsbarkeit ein und gesteht in Artikel VIII ebenso einseitig allgemeine Handelsfreiheit zu. Artikel IX bis XIII regeln Handelsfragen, Artikel XIV gestattet den freien Verkehr mit ausländischen Münzen. Artikel XV bis XVIII betreffen Zoll- und Schifffahrtsangelegenheiten, Artikel XIX enthält die Meistbegünstigungsklausel, Artikel XX bestimmt den Zeitpunkt, zu dem frühestens Revisionsverhandlungen beginnen können, und zwar wie die Vorgängerverträge der AnseiPeriode mit dem 15. August 1872, und Artikel XXI schreibt das Französische als Verkehrssprache in den Verhandlungen zwischen der französischen und der japanischen Regierung vor. Lediglich für eine Übergangsfrist von fünf Jahren wird zugestanden, dass die französische Seite japanische Übersetzungen ihren Schriftsätzen beigeben werde. Artikel XXII formuliert die Schlussbestimmungen. Die Ansei-Verträge, insbesondere die Zulassung ausländischer Schiffe in weiteren Vertragshäfen, brachten die Regierung in Edo in erhebliche Bedrängnis. Der Widerstand einiger Daimyo¯ führte nicht nur dazu, dass der 188 Dies gegen: Bernd Martin, Die Preußische Ostasienexpedition und der Vertrag über Freundschaft, Handel und Schiffahrt mit Japan (24. Januar 1861), in: Japan und Preußen, hg. von Gerhard Krebs, München: Iudicium 2002, S. 77 (Monographien aus dem Deutschen Institut für Japanforschung der Philipp Franz von SieboldStiftung. 32.), der behauptet, nach „japanischen staatspolitischen Vorstellungen“ sei nur ein Vertrag „von Herrscher zu Herrscher“ denkbar gewesen. 189 Französisch-japanischer Vertrag, Art. III, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 131–133. Für die Häfen Niigata und Kobe gilt die oben in Anm. 185 erwähnte Einschränkung.

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Tenno¯ schließlich den Sho¯gun nach Kyoto zitierte, die Anerkennung der Verträge verweigerte und den Sho¯gun zu deren Annullierung verpflichtete, sondern auch zu militärischen Aktionen gegen ausländische Schiffe. Am 10. Mai 1863 beschoss die Besatzung der neu errichteten Festung Shimonoseki vorbeifahrende ausländische Schiffe, woraufhin britische Schiffe im Jahr 1864 die Festung bombardierten. Der von nachgeordneten Herrschaftsträgern ausgehende militärische Widerstand gegen ausländische Schiffe nötigte die Regierung in Edo dazu, die verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten, die der Ratifizierung der Verträge entgegenstanden, den Vertragspartnern zu offenbaren. Die Vertreter, die die Regierung in Edo nach Maßgabe der Ansei-Verträge nach London entsandt hatte, wurden deswegen bei der britischen Regierung vorstellig und verlangten einen Aufschub der vertraglich vorgesehenen Frist zur Zulassung weiterer Häfen für den internationalen Handelsverkehr. Ergebnis war das Londoner Protokoll vom 6. Juni 1862, in dem die britische Regierung diesem Begehren zwar zustimmte, im Gegenzug aber die Aufhebung aller noch bestehenden internen Handelshemmnisse verlangte. Das Protokoll zeitigte indes nicht nur nicht die von japanischer Seite beabsichtigte Wirkung, sondern zog sogar die vorläufige bilaterale Pariser Konvention vom 25. Juni 1864 zwischen Frankreich und Japan nach sich und die endgültige quadrilaterale Shimonoseki-Konvention vom 22. Oktober 1864 zwischen Japan einerseits, Frankreich, den Niederlanden, den USA und dem Vereinigten Königreich andererseits. Alle Konventionen schrieben jeweils hohe Ersatzzahlungen für Schäden fest, die amerikanischen, britischen, französischen und niederländischen Schiffen durch Beschuss von der Festung Shimonoseki zugefügt worden waren. Die Pariser Konvention bezifferte diese Zahlungen zunächst auf 140.000 mexikanische Dollar, während die Konvention von Shimonoseki die Gesamtforderung an alle beteiligten westlichen Regierungen auf 3 Millionen Dollar festsetzte, in denen der in der Pariser Konvention bezifferte Betrag eingeschlossen war. Die Regierung in Edo konnte die Zahlung nur vermeiden, wenn sie den Hafen von Shimonoseki für den allgemeinen Handel öffnete. Obschon in der Präambel zur Konvention von Shimonoseki von „indemnities of war“ die Rede ist, wird nicht der Regierung in Edo, sondern dem Daimyo¯ von Nagato und Suwo die direkte Verantwortlichkeit für die militärischen Aktionen zugeschrieben. Japan befand sich demnach nicht im Kriegszustand und der Beschuss war keine Verletzung der bestehenden Verträge durch die Regierung in Edo gewesen. Sie widerstand auch jetzt noch der Forderung nach „Öffnung“ von Shimonoseki als zusätzlichem Vertragshafen.190 190

Londoner Protokoll vom 6. Juni 1862, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 223–226. Konvention von Paris vom 25. Juni 1864, in: ebenda, S. 227–229. Konvention von Shimonoseki vom 22. Oktober 1864, in: ebenda, S. 230–233.

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Der auf die Ansei-Verträge folgende nächste Vertrag kam zwischenzeitlich dennoch am 3. August 1860 zwischen Japan und Portugal zustande. Er folgt in allen wesentlichen Einzelheiten dem französisch-japanischen Vertrag, unter Einschluss der Verwendung der europäischsprachigen Bezeichnung „Imperado do Japaõ“ als Titel für den Sho¯gun.191 Bemerkenswert ist, dass das Formular der Vorgängerverträge auch in Bezug auf die Zusicherung der Religionsfreiheit angewendet wurde, obschon zu Beginn der Edo-Zeit Portugiesen wegen ihrer missionarischen Tätigkeit aus Japan ausgewiesen worden waren (Artikel IX). Für die völkerrechtliche Gestaltung der zwischenstaatlichen Beziehungen spielten also in japanischer Sicht zu diesem Zeitpunkt Erinnerungen an die Vergangenheit keine rechtsrelevante Rolle. 8. Der japanisch-preußische Vertrag Die nachfolgenden Verträge gestalteten das Modell der Ansei-Verträge weiter aus. Der zwischen Japan und Preußen am 24. Januar 1861 geschlossene Friedens-, Handels- und Freundschaftsvertrag192 eröffnet mit der Bezeichnung der durch ihn verbundenen Parteien und folgt darin präzise dem Gebot der Festschreibung der Gleichheit der vertragsschließenden Souveräne. Wie in den frühen Abkommen seit dem britisch-japanischen Vertrag erstreckte sich die Präzision, mit der beide Seiten das Gleichheitsprinzip beachteten, bis in die Abfolge der Nennung der offiziellen Namen der beteiligten Souveräne. Während in der deutschen Fassung der König von Preußen zuerst genannt ist, steht in der japanischen Fassung der Sho¯gun unter dem Titel Taikun zuerst. Ungewöhnlich ist, dass als regierender Herrscher auf preußischer Seite König Friedrich Wilhelm IV. erscheint, der bereits am 2. Januar 1861 verstorben war.193 Die den Vertrag in Japan paraphierenden Vertreter Preußens konnten von dem Todesfall zwar nichts wissen. Gleichwohl blieb die Fehlbezeichnung auch im späteren Ratifizierungsprozess unkorrigiert, da sich im 19. Jahrhundert die Trennung von Amt und Amtsträger bereits so weit durchgesetzt hatte, dass die Nennung eines Toten als Repräsentant eines Staates keine juristischen Probleme bezüglich der Gültigkeit des Vertragswerkes mehr aufwarf. Die japanische Seite scheint von der Kalamität nicht unterrichtet worden zu sein. 191

Vertrag zwischen Japan und Portugal vom 3. August 1860, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 151–170. Auch in: CTS, 122. Bd., S. 306–316. Zu den japanisch-portugiesischen Beziehungen siehe Bibliografie Nr. 101. 192 Zu den deutsch-japanischen Beziehungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts siehe Bibliografie Nr. 102. 193 Vertrag zwischen Japan und Preußen vom 21. Januar 1861, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 186–206. Auch in: CTS, 123. Bd., S. 448–458. Präambel, Treaties (wie Anm. 154), S. 186.

III. Europäische Expansion und völkerrechtliche Ungleichheit

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Hingegen spielte bei den Verhandlungen der Umstand eine Rolle, dass der regierende König Friedrich Wilhelm IV. krankheitshalber durch seinen Bruder Wilhelm als Regenten vertreten wurde, der die Vollmacht des preußischen Gesandten Friedrich Graf zu Eulenburg unterschrieben hatte. Auf die Einlassung des Gesandten, der König sei krank, fragten seine Gesprächspartner, die Bugyo¯ Hori Oribe no Kami, Takemoto Jusho no Kami und Sachu¯ Kurokawa, warum der König dann nicht abdanke. Der Einwand konnte nach einem Vortrag Eulenburgs über das preußische Staatsrecht so weit entkräftet werden, dass sich die japanische Seite mit der Unterschrift des Regenten abfand. Unnachgiebig zeigte sich die Regierung in Edo in einem weiteren Streitpunkt. Die preußische Seite strebte an, den Vertrag gemeinsam mit ihren Partnern im Zollverein, das heißt unter Ausschluss Österreichs, zu schließen. Sie wollte dadurch erreichen, dass für alle Angehörigen des Zollvereins in Japan Rechtssicherheit insoweit gewährleistet würde, dass die japanische Regierung durch Vertrag gezwungen sein sollte, Untertanen aller Staaten des Zollvereins auf ihrem Territorium zu dulden. Eben diese Rechtssicherheit schien der preußischen Seite ohne ausdrücklichen Vertrag nicht gegeben. In den ab 13. Dezember 1860 geführten förmlichen Verhandlungen wies die japanische Seite, sehr zum Verdruss des Leiters der preußischen Expedition, dieses Ansinnen zurück und lehnte den Abschluss eines Vertrages mit Preußen und dem Zollverein ab. Hauptgrund dafür war die japanische Auffassung, dass die Verfassung des Zollvereins derjenigen der USA ähnlich sei und die preußische Regierung mit einem bilateralen Vertrag ebenso zufrieden sein müsse wie es die amerikanische sei. Eulenburgs Einwand, dies sei wegen der Souveränität der Angehörigen des Zollvereins nicht möglich, fruchtete nichts.194 Den deutschen Text charakterisiert überdies eine Tendenz zum Exotismus. So wird die Titulatur Sho¯gun mit dem japanischen Original, jedoch in der Schreibung „Taikuhn“ wiedergegeben.195 Das inlautende -h- nach dem -u- soll sprachliche Länge indizieren, wo ein kurzer Vokal zu sprechen war. So steigerten die falsch platzierten Diakritika die Länge des Titels und verfestigten ein fremdartig wirkendes Schriftbild. Bemerkenswert ist überdies, 194 Tagebücher der preußischen Gesandtschaft haben sich erhalten in Freiburg, Bundesarchiv – Militärarchiv, BA-MA RM 1/2350, und RM 1/2877, dort insbes. fol. 171r–176r. Die Verhandlungen beschrieb im Einzelnen: E. Ohrt, Die preußische Expedition nach Japan. 1860–61, in: Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens 13. Bd. (1911), S. 227–235, ohne Angabe von Quellen, aber wohl auf der Basis der Tagebücher. 195 Ebenso in den Tagebüchern der Expedition (wie Anm. 194) nach anfänglicher Unsicherheit in der Schreibung des Titels, wohl nach Vorbild von englisch Tycoon, das von Rutherford Alcock popularisiert wurde. Siehe: Alcock, Tycoon (wie Anm. 170), Titel. Zuvor gebrauchte Osborn, Cruise (wie Anm. 163), S. 31, die japanische Bezeichnung in der Form „Tai-koon“, die er mit „Temporal Emperor“ glossierte.

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dass der Titel in diesem Vertrag wieder in originalsprachiger Fassung gegeben wird und nicht mit der aus der älteren europäischen Japanliteratur überkommenen Bezeichnung Emperor oder Kaiser.196 Wichtiger aber ist, dass der japanisch-preußische Vertrag wie seine Vorläuferverträge den Sho¯gun als Souverän auf japanischer Seite nennt. Die preußische wie andere Regierungen in Europa und den USA hielt damals den Tenno¯ für politisch unwichtig, obschon dessen auch politische Bedeutung in der Forschung längst beschrieben worden war.197 Völlig unbeeindruckt von wissenschaftlichen Quisquilien dirigierten sämtliche Regierungen in Europa und den USA zwischen 1853 und 1868 ihre Expeditionen in die Bucht von Edo, nicht aber in das Kansaigebiet. Im dispositiven Teil behält der allgemeine Artikel I des japanisch-preußischen Vertrags die Reziprozität der Bestimmungen bei. Der Tradition der Friedensvertragsformulars folgend stipuliert dieser Artikel einen beständigen Frieden und eine ebenso beständige Freundschaft zwischen Japan und 196 So schon: Bernhard Varen, Descriptio regni Japoniae, Amsterdam: Elsevier, 1649, Kap. IV. Deutsche Fassung, u. d. T.: Beschreibung des japanischen Reiches, hg. von Martin Schwind und Horst Hammitzsch, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974, S. 51. In Umschreibung („onzen Vriend, den zeer Verhevenen, zeer Doorluchtigen, Grootmagtigen Beheerscher van het groote rijk Japan, die zijnen zetel houdt in het Keizerlijke Paleis te Jedo“) angewandt im Schreiben König Wilhelms II. der Niederlande an den Sho¯gun vom 15. Februar 1844, hg. von Greene, Correspondence (wie Anm. 111), S. 104–105. 197 Das Urteil, dass der Tenno ¯ politisch bedeutungslos sei, resultierte aus Engelbert Kaempfers Interpretation des Machtverhältnisses zwischen Sho¯gun und Tenno¯. Nach Kaempfer war der Tenno¯ der für Kanonisierungen zuständige „presente pontificiale Abgott“ [Kaempfer, Heutiges Japan, hg. von Wolfgang Michel und Barend J. Terwiel (wie Anm. 60), S. 174], woraus Kaempfers Übersetzer Johann Gaspar Scheuchzer die Bezeichnung „Japanese Pope“ ableitete [Engelbert Kaempfer, The History of Japan, 1. Bd., London: Woodward & Davis 1727, S. 206; Nachdrucke, Kyoto: Ko¯se Kaku 1929; Tokyo: Yu¯shodo¯, 1977; Neudruck, Glasgow: Maclehose 1906; Nachdrucke der Ausgabe von 1906, New York: AMS Press 1971; Richmond, SY: Curzon 1993]. Ebenso noch: Vassilij Mikhailovicˇ Golovnin, Japan and the Japanese. Comprising the Narative of a Captivity in Japan and An Account of British Commercial Intercourse with that Country, 2. Bd., London: Colburn 1852, S. 118 [zuerst, London: Colburn 1818; 2. Aufl., ebenda 1824; Nachdruck der 2. Aufl., Hong Kong und Tokyo: Oxford University Press 1973]. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts wies Klaproth Kaempfers Bezug des Kaisertitels auf den Sho¯gun zurück und stellte den Tenno¯ als Kaiser und alleinig legitimen Herrscher Japans dar. Siehe: Julius Heinrich Klaproth, Account of Japan, in: Asiatic Journal N.S., 6. Jg. (1831), S. 196. Klaproth, Notice sur le Japon, in: Nouvelles annales des voyages, 2. Sér., 29. Jg. [= 59. Jg. der Gesamtreihe] (1833), S. 95–96. Zum Problem der westlichen Darstellung der japanischen Verfassung in der Edo-Zeit siehe: Kaoru Matsumoto, Die Beziehungen zwischen Mikado und Schogun vor 1868 im Spiegel der europäischen Schriftsteller. Phil. Diss., Heidelberg 1931. C. H. Powles, The Myth of the Two Emperors, in: Pacific Historical Review 37. Jg. (1968), S. 35–56.

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Preußen. Auch Artikel II signalisiert Reziprozität, indem er die Einsetzung diplomatischer Vertretungen auf beiden Seiten zulässt. Danach jedoch beginnen spezielle Bestimmungen, die sämtlich nichtreziprok sind und nur Rechte und Pflichten preußischer Untertanen in Japan betreffen. Die hauptsächlichen dieser speziellen Bestimmungen beinhalten die Öffnung von drei Vertragshäfen in Hakodate, Kanagawa [= Yokohama] und Nagasaki für preußische Schiffe (Artikel III, XII, XIII, XIV und XVI), das Zugeständnis der Konsulargerichtsbarkeit an Preußen auf japanischem Boden (Artikel V, VI und VII)198 und die Festschreibung derselben Zollregelungen wie die Ansei-Verträge.199 Weitere Bestimmungen regeln jeweils nichtreziprok die Freiheit der Religionsausübung und die Freiheit des Handels in den Vertragshäfen für Preußen, das Recht preußischer Untertanen, japanische Untertanen in Dienst zu nehmen, die Verpflichtung japanischer Behörden zur Verhinderung von Schmuggel, die Bestellung von Lotsen für einfahrende preußische Schiffe, die Aufhebung des Münzprivilegs der japanischen Regierung, die Versorgung von preußischen Schiffbrüchigen, das Recht, preußische Kriegsschiffe in Japan mit Proviant versorgen zu lassen, die Zusicherung der Meistbegünstigung für Preußen, die Vereinbarung, Revisionen des Vertrages erst ab 1. Juli 1872 zur Verhandlung zuzulassen, und die Einräumung des Rechts, die amtliche Korrespondenz Preußens mit japanischen Behörden in deutscher Sprache führen zu können (letzteres mit der Maßgabe, dass die preußische Seite fünf Jahre lang ihren Schriftsätzen japanische Versionen beifügen werde; Artikel IV, VII, IX, XI, XV, XVII, XVIII, XIX, XX und XXI). Die Vorstellungen, die viele Angehörige der preußischen wie auch früherer westlicher Ostasienexpeditionen von Japan hegten, folgten in wichtigen Aspekten den Konventionen, die letztlich auf Marco Polo zurückgingen. Diesen Konventionen zufolge war Japan (oder Zipangu in Marco Polos Toponomastik) ein mit paradiesischen Reichtümern gesegnetes, wohl geordnetes Land mit Aussichten für gewinnträchtigen Handel.200 Während der Aspekt der wohl geordneten Herrschaft bis in das frühe 19. Jahrhundert – von gelegentlicher Kritik gegen Ende des 18. Jahrhunderts abgesehen201 – 198 Japanisch-Preußischer Vertrag, Art. I, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 187–189, 190–195. 199 Ebenda, Handels-Regulativ, Art. VII, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 204–205. Ebenso in den Ansei-Verträgen. 200 Siehe: Harald Kleinschmidt, Demands for Free Trade and European Images of Japan up to the End of the 19th Century, in: Europe and Japan, hg. von Harald Kleinschmidt, Charles Covell, Mikiko Iwasaki und Mieko Kaburaki, Stuttgart: Fay 1997, S. 34–82. 201 Pierre-Claude Lejeune, Observations critiques et philosophiques sur le Japon et sur les Japonais, Amsterdam: Knapen 1780, S. 1–11 [deutsche Fassung, Breslau: Löwe 1782]. Siehe dazu: Thomas Baty, The Literary Introduction of Japan to Eu-

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vorherrschte, gewannen die hoch eingeschätzten Handelsaussichten die Oberhand im Zug der seit Beginn der 1850er Jahre bekannt werdenden regierungsamtlichen Vorbereitungen in den USA für eine Ostasienexpedition mit dem Ziel der Öffnung Japans für den Weltmarkt.202 Sie führten beispielsweise die Organisatoren der US-Expedition zu der Ansicht, Japan sei mit Bodenschätzen reich ausgestattet.203 Gerade im Jahr 1853 erschien in den Niederlanden der Abdruck eines Berichts des Generalgouverneurs der Niederländischen Ostindischen Kompagnie, Baron G. W. van Imhoff, aus dem Jahr 1744. Darin hatte sich Imhoff positiv über die Aussichten des Japanhandels auch unter den von der Regierung in Edo damals verfügten Hemmnissen geäußert.204 Europäische Kaufleute brachten von ihren ersten Japanbesuchen euphorische Berichte mit, in denen sie japanische wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, die Qualität der dort hergestellten Produkte und der vorhandenen oder postulierten Rohstoffe sowie die Höhe der im Handel mit Japan erzielbaren Gewinne über den grünen Klee lobten. Stellvertretend hierfür sei aufgeführt, was der Bremer Kaufmann Friedrich August Lühdorf in seinem 1857 erschienenen Reisebericht von Japan zu berichten wusste. Dort, so meinte er, gebe es Gold überall in höchster Qualität, ebenso Silber in reichen Lagern mit höchster Qualität, noch mehr Kupfer, Blei sei ebenso vorhanden, Zinn in sehr guter Qualität, aber nicht in großer Menge, drei Eisenminen seien bekannt, weitere zweifelsfrei vorhanden, desgleichen viele und rope, in: Monumenta Nipponica 7. Jg. (1951), S. 24–39, 8. Jg. (1952), S. 15–46. Robert Shakleton, Asia as Seen by the French Enlightenment, in: The Glass Curtain between Asia and Europe, hrsg. von Raghavan Narasimhan Iyer, London: Oxford University Press 1965, S. 175–187 [deutsche Fassung, München: Callwey 1968]. Reinhard Zöllner, Die preußische Japan-Rezeption bis Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Japan und Preußen, hg. von Gerhard Krebs, München: Iudicium 2002, S. 62–63 (Monographien aus dem Deutschen Institut fur Japanstudien der Philipp Franz von Siebold-Stiftung. 32.). 202 Georg Kerst, Die Anfänge der Erschließung Japans im Spiegel der zeitgenössischen Publizistik, Hamburg: Übersee-Verlag 1953, S. 15 (Überseeschriften. 2.). 203 In seinem Entwurf eines Schreibens des amerikanischen Präsidenten Millard Fillmore an den „Japanese Emperor“ [gemeint war der Sho¯gun] vom 10. Mai 1851 begründete Daniel Webster das amerikanische Drängen auf „Öffnung“ Japans mit dem Satz „Your Empire has a great abundance of coal; this is an article which our Steamships, in going from California to China, must use.“ Siehe: Webster, Papers of Daniel Webster (wie Anm 154), S. 289. Ebenso in Pineau, Hg., Expedition (Anm. 153), S. 221. Ebenso noch im Rückblick auf die Ziele der Perry-Expedition der Geograf und Befürworter US-amerikanischer Kolonialexpansion an der Wende zum 20. Jahrhundert: Archibald Ross Colquhoun, Greater America, New York und London: Harper 1904, S. 412. 204 G. W. van Imhoff, Het ordeel van den Gouverneur-Generaal G. W. Baron van Imhoff over den handel met Japan, in 1744, in: Tijdschrift voor Nederlandsch Indië 15. Bd., 5. Nr. (1853), S. 317–342.

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reiche Kohleminen, Schwefel sei in unaussprechlicher Menge verfügbar, wertvolles Gestein wie Marmor gebe es, von Diamanten habe er zwar nichts gehört, aber keinen Zweifel, dass sie in hoher Zahl vorhanden seien, und schließlich werde überall an den Küsten Perlenfischerei betrieben. Zudem bestehe ein reiches Angebot an Holz- und Lackwaren, Metallwaren, Papier, Seidenstoffen, Töpfer-, Glas- und Strohwaren.205 Auch Laurence Oliphant zeigte grundsätzliche Bereitschaft, der japanischen Regierung Liberalität und Toleranz in Handelsfragen zuzuerkennen, und machte das schädliche Auftreten früherer europäischer Kaufleute für die Verzögerungen in der Eingliederung Japans in den europäisch dominierten Weltmarkt verantwortlich.206 Eulenburg schließlich, der eine der vielen Verhandlungspausen während seines Aufenthalts in Edo zu einem Ausritt nach Yokohama nutzte, pries die Leistungsfähigkeit japanischer Landwirtschaft.207 Gleich205 Friedrich August Lühdorf, Acht Monate in Japan nach Abschluß des Vertrages von Kanagawa, Bremen: Strack 1857, S. 198–200, 202–204 [Nachdruck, ErlangenNürnberg: s. n. 1981; weiterer Nachdruck, hg. von Jürgen Schneider, Stuttgart: Steiner 1983 (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte. 21.); Nachdruck dieser Ausg., ebenda 1987]. Ebenso: Das Kaiserreich Japan, Karlsruhe: Kunstverlag 1860, S. 72–79, 85–96, 207–121 (Die außereuropäische Welt. 2.). Zu Lühdorf siehe Bibliografie Nr. 102. Ebenso der Münchner Orientalist Neumann, der den Reichtum Japans an Mineralien und die Qualität japanischen Handwerks pries. Siehe: Karl Friedrich Neumann, Das Reich Japan und seine Stellung in der westöstlichen Weltbegegnung, in: Historisches Taschenbuch, 3. F., 9. Jg. (1858), S. 533–538. 206 Oliphant, Narrative (wie Anm. 88), S. 48. Desgleichen noch: Kinahan Cornwallis, Two Journeys to Japan. 1856–7, 2 Bde., London: Cauthey 1859 [Nachdruck, Tokyo: Ganesha 2002 (Japan in English. Key Nineteenth-Century Sources on Japan. 1850–59. First Series, 4. Bd., 5. Bd.)]. Seiner Reisebeschreibung stellte Cornwallis eine Art Hymnus über Japan voran (1. Bd., S. 3). Dessen Anfangsverse lauten: „Far in the east a wondrous people dwell: / Behold yon islands! There their empire lies – / Land of Japan – whose lengthy annals tell / Tales of deep wonder, and whose glory vies / with nations that that have triumphed their fame; / But these, no idle vaunters, long have dwelt / secluded from the world – known scarce by name / Enlightened in their own creative light.“ Cornwallis gab derselben Verbindung von Reichtum und Abgeschlossenheit Ausdruck wie Kaempfer im 17. Jahrhundert. 207 Bericht über den Ritt nach Kanagawa und Yokohama vom 22. bis 24. September 1860. Ms., Freiburg, Bundesarchiv-Militärarchiv, RM 1/2877, fol. 105v–108v [eingeschlossen in das Tagebuch der Expedition, nach dem Eintrag zum 24. September 1860]. Noch im Jahr 1863 riet der in Venedig gebürtige, aber in Triest tätige Unternehmer Revoltella der k. u. k. Regierung, den österreich-ungarischen Handel mit Japan vertraglich zu regeln, damit österreichisch-ungarische Kaufleute ebenso wie ihre Konkurrenten einen Teil des angeblichen hohen Gewinns abschöpfen könnten. Siehe: Pasquale von Revoltella, Österreichs Betheiligung am Welthandel. Betrachtungen und Vorschläge, 2. Aufl., Triest: Münster 1864, S. 16 [zuerst, Triest: Oesterreichischer Lloyd 1863]. Er folgte darin der Ansicht des k. u. k. Admirals Bernhard Freiherr von Wüllerstorf-Urbair, Mittheilungen über den Handel in den verschiedenen von S. M. Fregatte „Novara“ berührten Ländern der Erde, Wien: Gerold 1861 [wieder abgedruckt in: Wüllerstorf-Urbair, Vermischte Schriften,

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wohl dürfte Eulenburgs Bericht zu den letzten dieser langen Serie von positiven Äußerungen über Japan gehören. Denn seit Anfang der 1860er Jahre geronn japanische wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im Urteil nicht nur Alcocks, sondern auch anderer europäischer Beobachter zum Fluch und die nunmehr zögerliche Führung der Vertragsverhandlungen durch die japanische Seite nahmen europäische Berichterstatter zunehmend oft zum Anlass für harsche Kritik an der vermeintlich mangelnden Vertragstreue der japanischen Regierung.208 Die preußischen Unterhändler kehrten aus Edo zwar mit einem Vertrag, aber keineswegs mit Zufriedenheit zurück.209 Aus preußischer Sicht zeigte Graz: Leykam 1889, S. 178–207]. Die Fregatte Novara hatte 1859 während einer Weltumseglung in Japan Station gemacht. Zur Expedition der Fregatte und deren wissenschaftlichen Ergebnissen siehe: Wüllerstorf-Urbair, Reise der österreichischen Fregatte Novara u die Erde in den Jahren 1857, 1858, 1859 unter den Befehlen des Commodore B. von Wüllerstorf-Urbair, 49 Bde., Wien: Gerold 1861–1875. Johann Spitzka, Übersichtliche Darstellung der unter dem Titel „Reise der oesterreichischen Fregatte Novara um die Erde in den Jahren 1857, 1858, 1859 unter den Befehlen des Commodore B. von Wüllerstorf-Urbair“ erschienenen Publikationen im Auftrage der Novara-Commission der Kaiserlichen Akademie zusammengestellt zur Orientierung für die Käufer und zur Erleichterung der Ordnung für die Besitzer des ganzen Werkes, Wien: Gerold 1877. 208 Professor Eduard Hildebrandt’s Reise um die Erde, hg. von Ernst Kossak, 3. Aufl., Berlin: Janke 1872, 2. Bd., S. 87–88 [7. Aufl., ebenda 1888; zuerst, ebenda 1867]. J. Kreyher, Die preußische Expedition nach Ostasien in den Jahren 1859–1862, Hamburg: Rauhes Haus 1863, S. 140–142, 144. Gustav Spieß, Die preußische Expedition nach Ostasien, Berlin und Leipzig: Spamer 1864, S. 159–160. Ebenso Eulenburg in seinem Ankunftsbericht, Ms., Freiburg, Bundesarchiv-Militärarchiv, RM 1/2877, fol. 43r–43v. Oliphant, Narrative (wie Anm. 97), S. 249. Neuere Mitteilungen über Japan und über die Ermordung des Regenten in Jeddo, in: Das Ausland (1861), S. 352 [Besprechung von Veröffentlichungen Alcocks und Oliphants]. Zum Wandel des europäischen Japanbilds siehe auch: Adolf Freitag, Die Japaner im Urteil der Meiji-Deutschen, Tokyo: Deutsche Gesellschaft für Naturund Völkerkunde Ostasiens 1939 (Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens. 31C.). Jean-Pierre Lehmann, The Image of Japan. From Feudal Isolation to World Power. 1850–1905, London: Allen & Unwin 1978. 209 Unverhohlene Polemik übte Brandt, Dreiunddreißig Jahre (wie Anm. 100), 1. Bd., S. 135–136. Auch der österreichische Untertan Freiherr Raimund von Stillfried-Ratenicz machte noch im Jahr 1868 gegenüber der k. u. k. Regierung deutlich, dass er als Österreicher in Japan nur geduldet werde, wenn er sich dem Schutz einer Vertragsmacht unterstelle. Stilfried ließ sich durch Max von Brandt in der preußischen Gesandtschaft anstellen. Siehe den Bericht Stillfrieds, Ms., Wien, Haus-, Hofund Staatsarchiv, Adminstrative Registratur, S. R. 1868–1872, 69/5. Siehe zur preußischen Expedition die folgenden gedruckt vorliegenden monografischen Berichte und Briefsammlungen: Die Preußische Expedition nach Ostasien nach amtlichen Quellen, 1. Bd. und 2. Bd., hg. von Albert Berg, Berlin: Decker 1864, insbes. 2. Bd., S. 164–167 [Nachdrucke, Tokyo: Tenri Daigaku Shuppankai 1975 (Classica Japonica, 7. Section, III. Teil, 1. Bd.); Tokyo: Edition Synapse 2001], insbesondere die

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sich die Regierung in Edo als ausgesprochen spröder Verhandlungspartner. Die Folge war, dass sich die Ratifizierung des Vertrages auf der preußischdeutschen Seite schwierig gestaltete und bis 1864 dauerte, obwohl im Vertrag (Artikel XXIII) der 1. Januar 1863 als Tag des Inkrafttretens festgeschrieben worden war. Es kam hinzu, dass Vertreter von Handelskammern der neben Preußen beteiligten deutschen Staaten die Aussichten des Handels mit Japan skeptisch beurteilten.210 Gleichwohl bestanden die preußischen Unterhändler darauf, dass die japanische Seite Preußen dieselben Bedingungen gewährte, die sie in früheren Verträgen ihren Partnern bereits zugestanden hatte. Der rechtlichen Ungleichbehandlung Japans stand der politische Anspruch der Gleichbehandlung aller westlichen Staaten durch die japanische Regierung gegenüber. 9. Der japanisch-schweizerische Vertrag Über die Hintergründe des Abschlusses des japanisch-schweizerischen Handelsvertrags, der dem japanisch-preußischen am 6. Februar 1864 folgte, sind wir vergleichsweise gut unterrichtet.211 Der Anstoß zu einer schweizeBehauptung, die Expedition sei erforderlich gewesen, um diplomatischen Schutz für Untertanen der Staaten des Zollvereins zu gewährleisten. Karl Eisendecher, [Brief von der Expedition], hg. von Friedrich Maximilian Trautz, Deutsche Seekadettenbriefe aus Jedo 1860–1861, in: Nippon 7. Jg. (1941), S. 147–151, 162. Ost-Asien 1860–1862 in Briefen des Grafen Fritz zu Eulenburg, hg. von Philipp zu EulenburgHertefeld, Berlin: Mittler 1900. Wilhelm Heine, Japan und seine Bewohner, Leipzig: Purfürst 1860 [Mikrofiche-Nachdruck, München: Saur 2002 (German Books on Japan. 1477 to 1945)]. Heine, Reise (wie Anm. 159). Kreyher, Expedition (wie Anm. 208), insbes. S. 91, 97, 125. Hermann Maron, Japan und China. Reiseskizzen entworfen während der Preußischen Expedition nach Ost-Asien, Berlin: Janke, 1863, insbes. S. 25–27. J. A. H. C. Ratzeburg, Skizzen aus dem Privat-Tagebuche eines Seeoffiziers, Berlin: Nicolai 1864. Spieß, Expedition (wie Anm. 208). Reinhold Werner, Die preußische Expedition nach China, Japan und Siam in den Jahren 1860, 1861 und 1862, 2. Aufl., Leipzig: Brockhaus 1873 [zuerst, Leipzig: Brockhaus 1863, insbes. S. 167–170]. Die wesentlichen Texte zur preußischen Ostasienexpedition sind zusammengestellt in: Preußens Weg nach Japan. Japan in den Berichten von Mitgliedern der preußischen Ostasienexpedition 1860–61, hg. von Holmer Stahncke, München: Iudicium 2000. 210 C. Jacob, Bericht über die Handels-Verhältnisse von Japan. Als Manuskript gedruckt. 30. Juni 1861. Stuttgart, Württembergisches Hauptstaatsarchiv Bestand E 50/01, Bü 1684. Kreyher, Expedition (wie Anm. 208), S. 124–125. Osborn, Fragments (wie Anm. 163), S. 136. 211 Quellen zur Vorbereitung und Durchführung der schweizerischen Japanexpedition liegen vor in Bern, Schweizerisches Bundesarchiv, Bestand E 6, Bd. 36 und in Neuchâtel, Kantonsarchiv Neuchâtel, Nachlass Humbert, Dossiers 11–13. Siehe auch: Documents diplomatiques suisses, 1. Bd., hg. von Jean Charles Biaudet, Martin Graf und Françoise Nicol, Bern: Benteli 1990, S. 809–827. Zur Geschichte der japanisch-schweizerischen Beziehungen siehe Bibliografie Nr. 103.

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rischen Japanexpedition mit dem Ziel, einen Handelsvertrag abzuschließen, kam von der Uhrenindustrie in den Kantonen Genf und Neuchâtel. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts waren Schweizer Uhren in China im Handel und wurden dort auf ausdrückliche Bitte der chinesischen Regierung hergestellt. Sie gelangten schon am Ende der 1850er Jahre zunächst über holländische, später auch über chinesische Mittelsmänner nach Japan. Dieser Umstand veranlasste Aimé Humbert als Vorsitzenden der Union Horlogère dazu, Schweizer Uhren in Japan direkt vertreiben und den Vertrieb auf der Basis eines Handelsvertrags organisieren zu wollen. Das Eidgenössische Handels- und Zolldepartement entsandte zunächst den preußischen Hauslehrer und Literaten Rudolph Lindau 1859 nach Japan und beauftragte ihn, mit der Regierung in Edo einen Handelsvertrag abzuschließen. Die Union gründete zudem ein „Asiatisches Bureau“ mit Lindau als Direktor und dem Uhrmacher François Perregaux als Berater. Lindau erreichte Japan als Privatmann auf einem Handelsschiff am 28. April 1859 und zeichnete bald ein günstiges Bild von den Aussichten für den europäischen Handel. Er spezifizierte eine Reihe von Waren, die mit Gewinn nach Japan exportiert werden könnten, darunter Textilien, Glaswaren, Zink, Blei, Zinn, Bücher, Karten und Bilder. Die Chancen für den Uhrenexport beurteilte er verhalten optimistisch. Taschenuhren könnten Absatz finden, wenn die Verkaufspreise nicht zu hoch seien. Er empfahl somit den Export von billiger Ware. Was Lindau nicht berichtete, war der Umstand, dass Schweizer Uhren damals bereits in Japan im Handel waren, zunächst offenbar ohne beträchtlichen Erfolg.212 Denn Japan verfüge über eine eigene leistungsfähige Produktion mechanischer Uhren auch europäischen Stils, die von hoher Qualität seien und mit den Schweizer Uhren erfolgreich konkurrieren konnten. In seinem Bericht an das Eidgenössische Handels- und Zolldepartement vom Jahr 1865 bestätigte dann der Kaufmann Caspar Brennwald gegen Lindau das skeptische Urteil seines Kollegen Jacob von 1861.213 Lindau traf in Japan auf ungünstige politische Verhältnisse, die dem Vertragsabschluss entgegenwirkten. Die innenpolitische Empörung über die Eigenmächtigkeit der Regierung des Sho¯gun und die daraus resultierenden Zugeständnisse an die fremden Mächte wurden geschürt durch das mitunter wenig sensible Auftreten einiger der seit den 1850er Jahren in Japan weilenden Europäer und Amerikaner. Lindau beobachtete das Verhalten der 212 Jacob, Bericht (wie Anm. 210), S. 18. Ebenso: Gustav Spiess, [Bericht über den Japanhandel], in: La Feuille Fédérale de la Confédération Suisse 1. Bd. (1861), S. 439–465. 213 Caspar Brennwald, Schweizerische Misson nach Japan, Bern: Handels- und Zolldepartement 1864. Brennwald, Generalbericht betreffend den kommerziellen Theil der schweizerischen Abordnung nach Japan, Bern: Weingart 1865, S. 45–48.

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Ausländer genau und resümierte in seinem Bericht an das Kaufmännische Direktorium in St. Gallen von 1862 kritisch: „Die fremden Kaufleute, die unterdessen große Summen Geldes aus China und Europa erhalten hatten, wollten und konnten nicht warten, daß es der japanischen Regierung gefalle, ihren Ansprüchen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und da sie Itzibu [ein Bu, Silbermünze] gebrauchten, um japanische Produkte kaufen zu können (die japanesischen Kaufleute weigerten sich nämlich, Dollars zum vollen Werthe anzunehmen), so standen sie nicht mehr an, den ungesetzmäßigen Maßregeln des Gorodjo [Ro¯ju, des Staatsrats in Edo] ungesetzmäßige Handlungen entgegenzustellen und zu versuchen, sich auf jede Weise japanisches Geld gegen Einzahlung von mexikanischen Dollars zu verschaffen. Dies führte zu mannigfachen Streitigkeiten zwischen fremden Kaufleuten und japanesischen Beamten und erzeugte in kurzer Zeit eine gereizte Stimmung zwischen diesen und jenen. Von Yokohama und Nagasacki pflanzte sich dieselbe weiter fort und drang in alle Theile von Japan und gegen Ende des Jahres 1859 bereits, sechs Monate nur nachdem die obgenannten Häfen dem fremden Handel geöffnet worden waren, standen sich Japanesen und Fremde im Allgemeinen feindlich gegenüber. Es kan nicht geleugnet werden, daß Europäer und Amerikaner wenig thaten, um die Japanesen wieder mit sich auszusöhnen und im Gegenteil vom Höchsten bis zum Niedrigsten mit nur höchst seltenen Ausnahmen, eine Politik befolgten, welche ausschließlich darauf berechnet war, Furcht und Achtung einzuflößen und sich wenig darum kümmerte, ob sie Zuneigung und Vertrauen gewann oder nicht.“214

Kurz gesagt: Lindaus Mission scheiterte, und er begründete sein Scheitern mit der mangelhaften Sensibilität seiner europäischen und amerikanischen Zeitgenossen. Er hielt sich vom Sommer 1860 bis August 1861 in Schanghai auf und kehrte Ende 1862 nach Europa zurück. Ein Jahr später finden wir ihn jedoch wieder in Japan, wo er neben Humbert Schweizer diplomatische Interessen zu vertreten versuchte. Er diente von Januar bis Juni 1864 als Schweizer Konsul in Yokohama, nominell unter Dirk de Graeff Polsbroek. Der Schweizer Bundesrat hatte Polsbroek als Generalkonsul bevollmächtigt, da Humbert seinen japanischen Verhandlungspartnern zugesichert hatte, dass die Eidgenossenschaft nicht auf der Benennung eines eigenen diplomatischen Vertreters bestehen werde. Lindau vermochte sich ebenso wenig Anerkennung unter den Vertretern anderer europäischer Staaten in Japan Anerkennung zu verschaffen und zog sich schließlich im Streit mit Caspar Brennwald aus dem Schweizer diplomatischen Dienst zurück. Gleichwohl blieb er noch bis 1869 in Japan, wo er als Geschäftsmann tätig war und als Journalist die Japan Times mitbegründete.215 Später trat er in 214 Rudolph Lindau, Handelsbericht über Japan. Dem Kaufmännischen Direktorium in St. Gallen erstattet, 3 Abtheilungen, St. Gallen: Kaufmännische Korporation 1862–1863, Erste und Zweite Abtheilung, S. 2–3. 215 Diese landesweit verbreitete englischsprachige Tageszeitung wurde im Jahr 1865 gegründet und besteht nach Umstrukturierung des Verlagshauses im Jahr 1896

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preußische diplomatische Dienste, wo er von 1878 bis 1892 im Pressereferat des Auswärtigen Amts tätig war. Danach ging er bis 1902 nach Istanbul und kehrte von dort nach Paris zurück, wo er 1910 starb. Rudolph Lindau gab im Februar 1862, angesichts des Scheiterns seiner Mission, von Yokohama aus sein Gesamturteil über den Handel mit Japan ab. Es fiel negativ aus und bestätigte, dass in der Sicht einiger Zeitgenossen die Öffnung Japans für den Welthandel nicht durch den Kanagawa-Vertrag, sondern zum Zeitpunkt der Verhandlungen über die Ansei-Verträge erfolgt war: „Japan ist, kraft der mit den Westmächten abgeschlossenen Verträge, dem fremden Handel seit Juli 1859 geöffnet worden und europäische und amerikanische Kaufleute haben sich in Folge dessen in Yokohama, Nagasacki und Hakodate angesiedelt. Der Verkehr zwischen dem Westen und Japan, der dadurch geweckt worden ist, hat zwar in kurzer Zeit eine ziemlich bedeutende Ausdehnung erreicht, aber keineswegs die großen Erwartungen erfüllt, die man vor 2 1/2 Jahren zu hegen berechtigt war.“216 noch heute. Das genaue Verhältnis zwischen Polsbroek, Lindau und Brennwald war kompliziert. Polsbroek war offenkundig mit Lindau in persönlicher Freundschaft verbunden, die ihn dazu veranlasst haben könnte, seine durch den Schweizer Bundesrat vollzogene und von der niederländischen Regierung befürwortete Ernennung zum Generalkonsul der Eidgenossenschaft in Japan abzulehnen und Lindau als Geschäftsührenden Generalkonsul vorzuschlagen. Lindau scheint neben seiner Bevollmächtigung als Schweizer Konsul in Yokohama auch als Geschäftsführender Generalkonsul aufgetreten zu sein, obschon Vertretungen anderer europäischer Mächte wie des Vereinigten Königreichs und Frankreichs ihn in diesem Aufgabenbereich nicht anerkannten. Der Bundesrat löste dieses Problem dadurch, dass er 1864 Brennwald als Generalkonsul bevollmächtigte, worauf Lindau nicht nur als Geschäftsführender Generalkonsul, sondern auch als Konsul für Yokohama zurücktrat. Da ihm zwischenzeitlich die japanische Regierung aber ein Grundstück in Yokohama zur Nutzung überlassen hatte, kam es nach Lindaus Rücktritt zu einem langwierigen Rechtsstreit zwischen Brennwald und Lindau über die Nutzungsrechte an dem Grundstück, das Lindau für sich als Privatmann beanspruchte. Der Rechtsstreit wurde gelöst durch den Brand von Yokohama vom Jahr 1866, der auch das auf dem Grundstück Lindaus stehende Gebäude zerstörte. Die japanische Regierung wies schließlich der Eidgenossenschaft ein anderes Grundstück an und entzog Lindau die Nutzungsrechte. Lindaus politische und literarische Korrespondenz liegt vor in der Ausgabe von: Rainer Hillenbrand, Die politische und literarische Korrespondenz Rudolf Lindaus, 1. Bd., Frankfurt und Bern: Lang 2007, S. 45–47, 50–52, 58, 78–80, 98–99, 103–110, 118–135, 144–145, 201–204, 214–224. Siehe dazu: Rainer Hillenbrand, Das erzählerische Werk Rudolf Lindaus, Frankfurt und Bern: Lang 2005, S. 18–27. 216 Lindau, Handelsbericht (wie Anm. 214), Erste und Zweite Abtheilung, S. 1. Lindau folgte damit Oliphant, Narrative (wie Anm. 168) und widersprach zugleich indirekt der aus dem Umkreis der Perry-Expedition stammenden Behauptung, Japan sei durch Eingreifen der US-Regierung im Jahr 1854 „geöffnet“ worden. Zu dieser Behauptung siehe: Taylor, Visit (wie Anm. 152), S. 213. Japan Opened (wie Anm. 159).

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Aimé Humbert indes ließ sich von der neu gewonnenen Skepsis Lindaus nicht einschüchtern. Im Gegenteil, er forcierte seine Bemühungen um Entsendung einer weiteren Mission, dieses Mal mit Mandat der Schweizer Bundesregierung und mit ihm selbst als Gesandten. Die Regierung in Edo signalisierte bereits im Jahr 1861 über das niederländische Außenministerium, dass die Verhandlungen über einen Handelsvertrag mit der Schweiz wieder aufgenommen werden könnten. Er erreichte auch die Zustimmung der niederländischen Regierung, der Schweiz bei dem Abschluss eines Vertrags mit Japan auf diplomatischem Weg helfen zu wollen.217 So gelang es Humbert, die Berner Regierung, die Uhrenproduzenten des Kantons Neuchâtel und die Seidenindustriellen des Kantons Zürich für seine Initiative zu gewinnen. Die Regierung stellte 100.000 Franken bereit, durch die die Kosten der Mission teilweise gedeckt werden konnten. Humbert als Gesandter und Caspar Brennwald aus Männedorf (Kanton Zürich) als dessen Sekretär und für den kommerziellen Teil zuständiger Vertreter reisten auf Staatskosten, vier weitere Herren hingegen begleiteten die Gesandtschaft als „Attachés“ privatgeschäftlich und daher auf eigene Kosten: der Major im Generalstab John Bringolf aus Unterneuhaus (Kanton Schaffhausen), der Ingenieur Iwan Kaiser aus Zug, der Kaufmann Edouard Bavier aus Chur und der Uhrmacher James Favre-Brandt aus Le Locle im Kanton Neuchâtel. Von Anbeginn der Vorbereitungen zu seiner Mission an war Aimé Humbert entschlossen, seinem Wunsch nach Abschluss eines Handelsvertrags mehr Nachdruck zu verleihen als sein Vorgänger Rudolph Lindau. Deswegen wählte er für die Reise von Nagasaki nach Yokohama das niederländische Kriegsschiff Medusa. Er fuhr allein auf der Medusa, während die anderen Angehörigen der Mission vor ihm mit anderen Mitteln nach Yokohama und Edo gelangten. Die Ankunft geriet dann auch zum militärischen Zeremoniell: Die Medusa feuerte 17 Schuss Salut, die in derselben Zahl erwidert wurden. Brennwald, eben aus Edo nach Yokohama zurückgekehrt, und Favre-Brandt begrüßten ihren Vorgesetzten am Hafen von Yokohama und geleiteten ihn zur Residenz des niederländischen Generalkonsuls Dirk de Graeff Polsbroek, der wie Townsend Harris in den 1850er Jahren, jedoch aus eigenem Bestreben und ohne vertragsrechtliche Bevollmächtigung, die Position eines Vermittlers zwischen der japanischen Regierung und den neu ankommenden Delegationen übernehmen wollte. Brennwald erzählte von 217

Bern, Schweizerisches Bundesarchiv, Bestand E 61, Bd. 36, Fasz. 168: Die Schweizer Direktion der Finanzen und die Handelskammer des Kantons Zürich an das Schweizerische Handels- und Zolldepartement, ohne Datum [Anfang Mai 1858]. Das Handels- und Zolldepartement erhielt die Empfehlung, die Vorbereitungen für den Vertragsabschluss voranzutreiben durch die Vermittlung der niederländischen Regierung. Unter diesen Bedingungen empfahl das Departement dem Schweizerischen Uhrenverband die Entsendung einer Abordnung am 23. August 1858.

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seiner Erkundungsreise nach Edo und bestätigte die zuvor erhaltene Warnung des Nagasaki Bugyo¯, dass die Vertragsverhandlungen zunächst gar nicht stattfinden und dann längere Zeit in Anspruch nehmen würden. Humbert beeindruckten diese Warnungen nicht. Er entschied, möglichst bald selbst nach Edo zu fahren. Am Donnerstag, dem 28. Mai 1863, war es so weit. Die Medusa dampfte mit 18 Kanonen bestückt von Yokohama nach Edo und traf dort um 11 Uhr vormittags ein. Um 15 Uhr betrat Humbert mit Pauken, Trompeten und Posaunen die Stadt, eskortiert von 100 bewaffneten Matrosen und Marinesoldaten, die von Offizieren kommandiert wurden, allen voran die schweizerische und die niederländische Flagge. Dutzende von Bewohnern der Stadt, schrieb Kapitän de Casembroot,218 beobachteten hinter einer Wache aus „Säbelträgern“ das Spektakel, waren aber wohl eher belustigt als geängstigt von den Männern, die daher stolzierten mit bemerkenswert großen Nasen, atemberaubend knappen Röcken und abenteuerlich engen, knittrigen Beinkleidern. Das seltsame Outfit ließ den Umstand vergessen, dass nicht nur Marinesoldaten, sondern auch einige der Zivilisten geladene Handfeuerwaffen mit sich führten. Die Bewaffnung kam nicht von ungefähr. Wie Lindau kam auch Humbert zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt nach Edo. Während Sho¯gun Iemochi Tokugawa in Kyoto beriet, herrschte in Edo und Yokohama eine aufgeregte Stimmung. Anstatt das Land nach außen zu verteidigen, hatte die Regierung die Fremden ins Land gelassen. Das erzeugte Widerstand. Erst am 30. Juni 1863 kehrte der Sho¯gun nach Edo zurück, nunmehr mit dem Mandat des Tenno¯, die Verträge zu revozieren und die fremden Barbaren zu vertreiben. Also war die Beratung kurz, zu der Humbert den für die Außenbeziehungen zuständigen Beamten (gaikoku bugyo¯) Muragaki Awaji-no-Kami am 29. Mai 1863 traf. Muragaki machte nochmals klar, dass vorerst keine Verhandlungen über den Vertrag geführt werden könnten, und verlangte, dass Humbert zu seiner eigenen Sicherheit unverzüglich nach Yokohama zurückkehre. Als Humbert sich weigerte, dem Rat Muragakis zu folgen, einigte man sich, dass Humbert sich tagsüber in Edo bewegen könne, die Nächte aber auf dem auf Reede liegenden Schiff Emperor (Geschenk Königin Viktorias an den Sho¯gun) verbringen müsse. So zog Humbert hin und her und nutzte die Tage zu ausgiebigen Fotoexkursionen in die Stadt und zum Ankauf von allerlei Material, aus dem er nach der Rückkehr ein reich bebil218 François de Casembroot, De Medusa in de wateren van Japan in 1863 en 1864, Den Haag: van Cleef 1865, S. 29–31. Das Tagebuch Eulenburg-Mission berichtete von einer ähnlichen Parade [Ms., Freiburg, Bundesarchiv – Militarärchiv, RM 1/2877, fol. 152v–153r (am 19. November 1860)].

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dertes Japanbuch zusammenstellte.219 Erst am 8. Juni 1863 war er dazu bereit, nach Yokohama zurückzukehren, um dort weiter zu warten. Gleichwohl erschien ihm das Warten wie Krieg mit der Regierung in Edo. Ungeduldig schrieb er seiner Frau bereits am 18. September 1863, er werde seinen Aufenthalt in Japan bald beenden und sei glücklich, heimkehren zu können. Auch der Bundesrat wurde ungeduldig und mahnte Humbert zur Eile. Dem Bundesrat gegenüber antwortete er jedoch hinhaltend, er werde nicht vor Ende Februar 1864 die Heimreise antreten. Während dessen versuchte Lindau von Europa aus, als Schweizer Generalkonsul nach Japan zurückzukehren. Polsbroek kümmerte sich derweil um Humberts Wohlbefinden und den Fortgang der Verhandlungen. Er riet der Regierung in Edo am 20. Dezember 1863, die Verhandlungen mit Humbert zum Abschluss zu bringen. Als die Regierung zögerte, drohte er am 2. Januar 1864 damit, den bereits verabredeten Besuch einer japanischen Gesandtschaft in den Niederlanden abzusagen, falls der Vertrag mit der Schweiz nicht umgehend zustande käme. So blieb Humberts Warten nicht umsonst. Gleichwohl wählte die japanische Regierung dieselbe Verhandlungstaktik Humbert gegenüber, die sie zuvor anderen westlichen Regierungen seit 1853 praktiziert hatte. Was Humbert als Ausdruck der Missgunst gegenüber der Schweiz wahrnahm, scheint auch in seinem Fall Ausfluss strategischer Überlegungen gewesen zu sein, deren Ziel es war, Verzögerungen zu bewirken und dadurch die Vertreter 219 Aimé Humbert, Le Japon, in: Le Tour du Monde, 14. Bd. (1867), S. 1–80, 305–352, 15. Bd. (1867), S. 289–336, 16. Bd. (1868), S. 369–416, 18. Bd. (1869), S. 65–112, 19. Bd. (1869), S. 353–417. Humbert, Le Japon illustré, 2 Bde., Paris: Hachette 1870 [Mikrofilmausgabe, Paris: Orientalistes de France 1975; englische Fassung, New York: Appleton; London: Bentley 1875; gekürzte Neuausgabe u. d. T.: Voyage au Japon, Paris: Stock 1981; davon spanische Fassung, Madrid: Anja Ediciones 1983; japanische Fassung, Tokyo: Omatsudo¯ Shoten 1969; Nachdruck der französischen Originalausgabe, Genf: Slatkine 2005]. Neben Humbert publizierte Lindau über seine Japanerfahrungen in: Revue des deux mondes, 36. Bd. (1.12.1861), S. 764–776, 43. Bd. (1.1.1863), S. 246–250, 45. Bd. (1.5.1863), S. 73–103, 46. Bd. (1.7.1863), S. 155–186, 46. Bd. (1.8.1863), S. 597–626, 46. Bd. (15.8.1863), S. 1007–1011, 47. Bd. (1.9.1863), S. 140–169, 47. Bd. (15.10.1863), S. 898–921; sowie in: Westermanns Monatshefte, 50. Bd., 295. Nr. (April 1881), S. 67–78, 50. Bd., 299. Nr. (August 1881), S. 587–612. Lindau ließ diese Berichte auch als Monografien erscheinen. Siehe: Rudolph Lindau, Un voyage au tour du Japon, Paris: Hachette 1864. Lindau, Aus China und Japan. Reise-Erinnerungen, Berlin: Fontane 1896. Lindau, Die kleine Welt, Berlin: Paetel 1880 [wieder abgedruckt in: Lindau, Gesammelte Romane und Novellen, 4. Bd., Berlin: Fleischel 1909; Mikrofiche-Nachdruck des Originaldrucks, München: Saur 2004 (German Books on Japan 1477 to 1945.)]. Zu Lindaus literarischem Werk siehe: Hillenbrand, Werk (wie Anm. 215), S. 421–422, 427–432. Zur Geschichte der Fotografie in Japan und der europäischen Japan-Fotografie siehe Bibliografie Nr. 104.

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westlicher Regierungen zum Abzug oder zum Einlenken in kontroversen Fragen zu bewegen. Am 26. Januar 1864 wurde Humbert aus Edo über die niederländische Gesandtschaft signalisiert, dass die Verhandlungen zu dem von der Schweiz gewünschten Abschluss kommen könnten. Humbert kehrte nach Edo zurück. In der Tat verliefen die Verhandlungen nunmehr schnell und harmonisch, und am 30. Januar 1864 konnte Humbert seiner Frau mitteilen, dass der Vertrag beschlossene Sache sei. Ohne viel Umschweife unterschrieben der für die Außenbeziehungen zuständige Minister (gaikoku bugyo¯) Takemoto Kai-no-Kami, zwei weitere Beamte auf japanischer Seite sowie Humbert auf schweizerischer Seite am 6. Februar 1864 die japanischen, französischen und niederländischen Fassungen. Humbert nahm zwei japanische Fassungen, eine französische sowie eine niederländische Fassung mit, letztere für den Fall, dass über die Auslegung des japanischen oder französischen Texts Dissens entstehen sollte, und reiste am folgenden Tag ab. Beide Vertragsparteien ratifizierten den Vertrag schon im Juli 1864. Abgesehen vom Protokoll und von den Schlussteilen folgte der japanischschweizerische Vertrag220 dem am 24. Januar 1861 abgeschlossenen japanisch-preußischen Vertrag. Im Protokoll ist Gleichheit der vertragsschließenden Souveräne vereinbart, Seiner Majestät dem „Taïkun“ von Japan einerseits, dem Schweizer „Bundesrath“ andererseits, wobei in der japanischen Fassung der Taikun zuerst genannt ist, in der französischen Fassung 220 Vertrag zwischen Japan und der Schweiz vom 6. Februar 1864, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 207–22. Auch in: CTS, 129. Bd., S. 44–49. Die Hinhaltetaktik ist auf japanischer Seite gut bezeugt. Anfangs wurde sie mit militärischen Überlegungen begründet. Es sei angemessen, die ausländischen Emissäre hinzuhalten, damit man Zeit aur Aufrüstung der Streitkräfte und zur Befestigung des Landes gewinnen könne, proklamierte der Sho¯gun am 1. Dezember 1853. Siehe: George Alexander Lensen, The Russian Push Toward Japan. Russo-Japanese Relations. 1697–1875, Princeton: Princeton University Press 1959, S. 318–319 [Nachdruck, New York: Octagon Books 1971]. Der Berater Nariakira Shimazu hatte bereits am 2. September der Regierung empfohlen, die Verhandlungen für drei Jahre hinauszuzögern, damit die Küsten in der Zwischenzeit befestigt werden könnten (siehe: Beasley, Documents, wie Anm. 153, S. 113). Am 7. Oktober äußerte sich Naosuke Ii in dieselbe Richtung (ebenda, S. 118–119). Auf amerikanischer wie auf russischer Seite bemerkten die Verhandlungsführer die Hinhaltetaktik der Gegenseite, fanden aber außer der Androhung von Gewalt keine Abhilfe. Siehe: Perry, Japan Expedition, hg. von Pineau (wie Anm. 153), S. 211. Evfimi Vassilevicˇ Putiatin, Vsepodarnneishij otchyot general-adiutanta grafa Putiatina, o plavanij otriada voennyh sudov nasˇih i Iaponiiu i Kitai. 1852–1855 god’, in: Morskoj Sbornik, 24. Bd., 10. Nr., 1. Teil (1856), S. 42. Ivan Alexandrovicˇ Goncˇarov, Fregat Pallada, Leningrad: Nauka 1986, S. 275 [englische Fassung, hg. von N. W. Wilson, London: MacKay 1965; weitere Fassung, hg. von Klaus Goetze, New York: St Martin’s Press 1987]. Nikolai G. Schilling, Iz vospominanii starago motyaka, in: Russkii Arhiv 5. Jg. (1892), S. 147.

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hingegen der „Conseil fédéral de la Confédération Suisse“. Wie auch im japanisch-preußischen Vertrag versicherte man sich gegenseitig des Willens, beständigen Frieden und Freundschaft wahren und diplomatische Vertreter austauschen zu wollen. Aber in den dispositiven Artikeln zeigte sich wiederum Einseitiges. So regelte der Vertrag die Rechte und Pflichten der in Japan weilenden Schweizer, traf aber keine Regelungen für Japaner, die sich in der Schweiz aufhalten würden. Die japanische Seite gestand Exterritorialität und Konsulargerichtsbarkeit zu, ohne dass die schweizerische Seite Japan gegenüber dieselben Zugeständnisse gemacht hätte. Japan musste wiederum den Exportzolltarif von 5% hinnehmen, während über Exportzölle auf schweizerischer Seite nichts vereinbart wurde. Lediglich die Formulierung von Artikel III, der die Öffnung von Vertragshäfen regelt, wich von der Vorlage im japanisch-preußischen Vertrag ab, indem sie zusätzlich zur Meistbegünstigungsklausel ausdrücklich pauschal Schweizer Bürgern den Handel in allen Häfen gestattete, die auch anderen Ausländern vertraglich geöffnet wurden. Diese Formulierung wurde bis 1869 nur noch ein weiteres Mal gebraucht. Da für den japanisch-schweizerischen Vertrag fast alle Regelungen festgeschrieben waren, die auch in die früheren Verträge Eingang gefunden hatten, erschien es Humbert, als würde die Schweiz in Japan als Großmacht wahrgenommen werden. Gleichwohl vermochte Humberts Mission keinen neuen Markt in Ostasien zu erschließen. Die Union Horlogère liquidierte schon am 24. März 1864 ihr „Asiatisches Bureau“ und stellte die Förderung der Exporte nach China und Japan ein. 10. Die Folgeverträge von 1866 bis 1869 Die dann folgenden Verträge schloss die japanische Regierung mit Belgien am 1. August 1866,221 mit Italien am 28. August 1866,222 mit Dänemark am 12. Januar 1867,223 mit Schweden-Norwegen am 11. Januar 1868224 und mit Spanien am 12. November 1868.225 Obschon in diesem Zeitraum die mit der Meiji-Restauration verbundenen grundlegenden Wandlungen der Verfassungsstruktur vollzogen wurden, zeigen die Verträge ein 221 Vertrag zwischen Belgien und Japan vom 1. August 1866, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 297–316. Auch in: CTS, 132. Bd., S. 490–506. 222 Vertrag zwischen Italien und Japan vom 25. August 1866, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 317–341. Auch in: CTS, 133. Bd., S. 94–122 (Italienische Fassung), S. 122–134 (Englische Fassung). 223 Vertrag zwischen Dänemark und Japan vom 12. Januar 1867, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 342–368. Auch in: CTS, 134. Bd., S. 214–231 (Englische Fassung). 224 Vertrag zwischen Japan und Schweden-Norwegen vom 11. Januar 1868, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 419–442.

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erstaunlich einheitliches Formular. Unterschiede betreffen lediglich die Titulatur des Staatsoberhaupts Japans, den Grad der Detailliertheit einer Regelung und Verfahrensfragen. Der japanisch-spanische Vertrag scheint der erste zwischenstaatliche Vertrag zu sein, in dessen Präambel auf japanischer Seite der Tenno¯ als Souverän genannt ist. Nur im japanisch-spanischen Vertrag (Artikel III) wird die Formel des japanisch-schweizerischen Vertrages aufgegriffen, derzufolge die spanischen Untertanen Zugang zu denselben Vertragshäfen haben sollen, die allen anderen Angehörigen von Vertragsstaaten auch offenstehen. In den übrigen Verträgen schreibt jeweils Artikel III die Öffnung von Hakodate, Kanagawa [= Yokohama] und Nagasaki als Vertragshäfen fest, wohingegen Niigata, Kobe und Osaka unerwähnt bleiben. Im dänisch-japanischen und im japanisch-schwedischen Vertrag (Artikel XXI) wird das Französische als Verkehrssprache festgelegt, wohingegen im italienisch-japanischen Vertrag (Artikel XXI) die Möglichkeit der Wahl zwischen Französisch und Italienisch gestattet wird. Erst mit dem selten berücksichtigten Vertrag zwischen Japan und dem Norddeutschen Bund vom 20. Februar 1869 traten wesentliche Neuerungen ein.226 In der Präambel auch dieses Vertrages scheint ohne Bezug auf den Kaisertitel das Staatsoberhaupt auf japanischer Seite unter der deutschsprachigen Formel „Seine Majestät der Tenno von Japan“ auf, während auf preußisch-deutscher Seite umständlich der König von Preußen als Souverän genannt ist, der „im Namen des Norddeutschen Bundes und der zu diesem Bunde nicht gehörenden Mitglieder des Deutschen Zoll- und Handelsvereins“ den Vertrag schließt. Max August Scipio von Brandt, der auf preußisch-deutscher Seite den Vertrag aushandelte und unterzeichnete, hatte damit vordergründig das Ziel erreicht, das die japanische Regierung der Eulenburg-Mission zuzugestehen sich geweigert hatte. Gleichwohl blieb die Nennung der Mitglieder des Zollvereins auf die Präambel beschränkt. Artikel I und II sind wie in allen Vorläuferverträgen reziprok, stipulieren einen ewigen Frieden und regeln den Austausch diplomatischer Vertreter. Artikel III definiert die Vertragshäfen und öffnet nunmehr für die deutsche Seite Hakodate, Kobe, Yokohama, Nagasaki, Niigata, Osaka und – erstmalig für uneingeschränkten Zugang – Edo. Die weiteren Bestimmungen weichen in zwei Punkten von denen der vorigen Verträge ab. Artikel XV beschränkt die zuvor allgemein gültige Münzfreiheit auf den Zeitraum, bis die japanische Regierung eine staatliche Münzanstalt eingerichtet hat, die eigene 225 Vertrag zwischen Japan und Spanien vom 12. November 1868, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 443–461. Auch in: CTS, 138. Bd., S. 246–263 (Französische Version). 226 Vertrag zwischen Japan und dem Norddeutschen Bund vom 20. Februar 1869, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 474–500. Auch in: CTS, 139. Bd. S. 92–105. Der gedruckte Text des Originals am Ende des Satzes lautet „nach Deutschen“.

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Münzen zum Austausch gegen fremde Währungen prägt. Die wichtigste Abweichung birgt Artikel VIII, der zum ersten Mal die Reziprozität aufenthaltsrechtlicher Regelungen festschreibt. Demnach dürfen „Japanische Fürsten oder Leute in Diensten derselben sich unter den allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen nach Deutschland“ begeben, wie es auch „allen Japanern erlaubt sein [soll], sich behufs ihrer Ausbildung oder in Handelszwecken nach Deutsch[land] zu begeben.“ Die Vereinbarung ist ergänzt durch den Vermerk, dass die japanischen Reisenden „mit vorschriftsmaessigen Paessen ihrer Behörden nach Massgabe der Bekanntmachung der Japanischen Regierung vom 23ten Mai 1866 versehen“ sein sollen. Hier wird also erstmalig eine Vereinbarung völkerrechtlicher Art über den Aufenthalt von japanischen Untertanen im Ausland getroffen. Bei der Bekanntmachung handelt es sich um die Aufhebung des Ausreiseverbots aus dem 17. Jahrhundert. Diese Vereinbarung ist in mehrfacher Hinsicht von großem Interesse. Erstens belegt sie, dass die japanische Regierung die Problematik der mangelnden Reziprozität der meisten dispositiven Bestimmungen erkannt hatte und sich bemüht zeigte, bei Abschluss neuer Verträge mehr Reziprozität zu erreichen. Zweitens fällt auf, dass die Aufhebung des Ausreiseverbots bereits im Jahr 1866 erfolgte, gleichwohl die bis zum Herbst 1868 abgeschlossenen zwischenstaatlichen Verträge keinen Bezug auf die geänderten Ausreisebedingungen nahmen. Das bedeutet, dass sich nicht bis 1867, sondern erst mit der Änderung der Verfassungsstrukturen im Vollzug der Meiji-Restauration eine Umorientierung der Zielsetzungen auf Seiten der japanischen Verhandlungspartner ergab. Die neue Meiji-Regierung scheint von Anfang an mehr Gewicht darauf gelegt zu haben, Reziprozität auch in die dispositiven Teile der zwischenstaatlichen Verträge einzubringen. Wesentlich bei dieser Feststellung ist, dass das Streben nach Erweiterung der Zahl reziproker Regelungen in diesen Verträgen unabhängig von dem Termin war, der in allen Verträgen seit 1858 (einschließlich des Vertrags mit dem Norddeutschen Bund) stets für den Beginn der Revisionsverhandlungen gesetzt wurde, nämlich dem 1. Juli 1872. Schon lange vor Ablauf dieser Frist war die Meiji-Regierung bestrebt, ihren Anspruch auf souveräne Gleichheit so weit wie möglich in den dispositiven Teilen der Verträge durchzusetzen.227 Zum Dritten enthält ein Exemplar der amtlichen japanischen Ausgabe der Verträge, das die Universität Tokyo aufbewahrt, einige Durch- und Anstreichungen sowie anonyme handschriftliche Marginalien, die von Deutsch mit Tinte, Blei- und Buntstift schreibenden Händen der zweiten Hälfte des 227

Dies gegen: Auslin, Negotiating (wie Anm. 184), insbes. S. 174, der davon ausgeht, die Revisionsbestrebungen hätten erst ab 1871 im Blick auf das vertraglich geregelte Datum des Beginns von förmlichen Revisionsverhandlungen eingesetzt.

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19. Jahrhunderts stammen und sich, außer zu der allgemeinen Zollkonvention vom 25. Juni 1866, nur bei dem Vertrag mit dem Norddeutschen Bund finden.228 Es muss sich also um ein Exemplar handeln, dessen Vorbesitzer zum deutschen diplomatischen Dienst gehörte. Zum großen Teil bestehen die Marginalien aus Textkorrekturen und Inhaltsbestimmungen. Neben Artikel II jedoch, der den Austausch diplomatischer Vertreter regelt (S. 476), steht in Tinte „[ein]zige Gegenseitigkeit“. Konsequent sind die die Aufenthaltsmöglichkeiten japanischer Untertanen im Norddeutschen Bund enthaltenden Bestimmungen von Artikel VIII durchgestrichen (S. 481). Die deutsche Seite, nach dem Text des Vertrags vertreten durch Max von Brandt, war also nicht gewillt, die von ihr eingegangenen vertraglichen Abmachungen zu honorieren, sondern behielt sich vor, die zugestandene Reziprozität dispositiver Bestimmungen zu ignorieren. Das Zugeständnis der über die formalen Regelungen hinausgehenden Reziprozität auf deutscher Seite war Lippenbekenntnis. Der von amerikanischer und europäischer Seite immer wieder zur Geltung gebrachte Rechtssatz Pacta sunt servanda hatte zumindest auf deutscher Seite dann keine ausschließliche Gültigkeit, wenn er deutschen Zielen entgegen zu stehen schien. Offenbar wurde das Problem der Revidierbarkeit der Verträge für die japanische Regierung gewichtiger als die Einstellungen ihrer Vertragspartner. Aus dem Umstand, dass erstmals die Ansei-Verträge den Termin für den Beginn möglicher Revisionsverhandlungen festsetzten, ergibt sich, dass zu der Frage der Revidierbarkeit der Abkommen zuvor kein Regelungsbedarf erkannt worden war. Interesse daran, bestehende Abkommen zu novellieren, konnte im Jahr 1858 nur bei den Regierungen der USA und des Vereinigten Königreiches bestehen, die bestrebt waren, die in den Verträgen mit Russland und den Niederlanden zugestandenen erweiterten Privilegien für alle westlichen Vertragspartner verbindlich festzuschreiben. Vier der fünf AnseiVerträge revidierten indes nicht nur ihre jeweiligen Vorgänger, sondern enthielten wie auch der fünfte, mit Frankreich geschlossene Vertrag ein neues verfahrensrechtliches Element mit der Revisionsklausel, die Novellierungen für den Zeitraum bis zum 15. August 1872 ausschloss. Die vom Jahr 1858 aus gesehen lange Bindung der Verträge über vierzehn Jahre sowie der Umstand, dass seit dem japanisch-portugiesischen Vertrag bis 1868 sämtliche Folgeverträge stets dasselbe Datum 1. Juli 1872 als Termin für den Beginn von Revisionsverhandlungen vorsahen, erlauben den Schluss, dass die Initiative zu dieser Klausel von den westlichen Regierungen ausging, aber die 228

Universität Tokyo, Keizaigakubu [Abteilung für Wirtschaftswissenschaften], 3-A:1111, S. 476–87. Der Band befindet sich dort laut Besitzstempel seit 1924. Er wurde kürzlich neu gebunden und wahrscheinlich aus diesem Anlass an den vertikalen Rändern beschnitten. Dem Beschnitt fielen einige als Marginalien handschriftlich notierte Wortteile zum Opfer.

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japanische Seite später auf der einmal vereinbarten Frist beharrte. Denn die japanische Regierung musste gegen ihre westlichen Verhandlungspartner ein Interesse daran haben, die ihr bewusste Ungleichheit der bestehenden Verträge möglichst rasch revidieren zu können. Nur aus diesem japanischen Interesse heraus ist zu erklären, dass an der einmal im Jahr 1858 vereinbarten Frist in allen Folgeverträgen bis 1869 festgehalten wurde, so dass sie zuletzt nur noch drei Jahre umfasste. Zudem ergibt sich aus den Veränderungen der dispositiven Teile der zwischen Japan einerseits und Preußen sowie dem Norddeutschen Bund andererseits geschlossenen Verträge, dass die japanische Seite die in diesem Fall in gegenseitigem Einverständnis vorgenommene Revision dazu nutzte, reziproke Bestimmungen in den dispositiven Teil des revidierten Vertrags einzubringen. Dem Drängen der MeijiRegierung auf Zulassung reziproker dispositiver Bestimmungen kam der Umstand zugute, dass die Initiative zur Revision von deutscher Seite ausging. Max von Brandt betrachtete mit Gründung des Norddeutschen Bundes Preußen nicht mehr als Völkerrechtssubjekt und sah sich folglich zur Neuverhandlung des Vertrags von 1861 gezwungen. Der Vertrag von 1869 zeigt somit, dass die japanische Regierung es verstand, schon vor dem festgelegten frühesten Beginn der Revisionsverhandlungen und ebenso vor den Vorbereitungen für die Iwakura-Mission229 in der ihr gegebenen Situation gegen den kaum verhohlenen Widerwillen der deutschen Seite reziproke dispositive Regelungen mit Blick auf die seit der Meiji-Restauration ebenso geänderte japanische Rechtslage durchzusetzen.230 229 Die Iwakura-Mission verließ Japan im Dezember 1871 mit dem Ziel der Beschaffung zusätzlicher Informationen der Regierung über ihre neuen Verhandlungspartner. Die Mission ist wiederholt als Ferment für die Revisionsverhandlungen auf japanischer Seite angeführt worden. Siehe: Akira Tanaka, Introduction, in: Kunitake Kume, The Iwakura Embassy 1871–73, 1. Bd. (Matsudo: The Japan Documents 2002, S. XVI. Kume hatte beobachtet, dass, obwohl die Iwakura-Mission die Revision der Verträge vorantreiben sollte, die Angehörigen der Mission tatsächlich wenig unternahmen, um über die Revision zu sprechen, während sie auf Reise waren. Dagegen: Marlene Mayo, A Catechism of Diplomacy. The Japanese and Hamilton Fish. 1872, in: Journal of Asian Studies 26. Jg. (1967), S. 389–390, 397–402, und Alistair Swale, America. 15 January–6 August 1872, in: The Iwakura Mission in America and Europe. A New Assessment, hg. von Ian Nish, Richmond, SY: Japan Library 1998, Sp. 19–21 (Meiji Japan Series. 6.). Beide Autoren gehen von der Annahme aus, dass die Mission wenigstens in den USA ihren Auftrag tatsächlich ausführte. Dazu kritisch: Takashi Ishii, Meiji sho¯ki kokusai kankei, Tokyo: Yoshikawa Ko¯bunkan 1977, S. 51. Fujio Shimomura, Meiji sho¯ki jo¯yaku kaiseishi no kenkyu¯, Tokyo: Yoshikawa Ko¯bunkan 1962. Kazuhiro Takii, The Meiji Constitution, Tokyo: I-House 2007, S. 20. Auf europäischer Seite gehörte der an den Verhandlungen beteiligte Heinrich von Siebold zu den frühen entschiedenen Befürwortern der Revision. Siehe Tafel 2 in: Reinhold Lorenz, Japan und Mitteleuropa. Von Solferino bis zur Wiener Weltausstellung (1859–1873), Brünn: Rohrer 1944, die Abbildung einer Sitzung, in der in Anwesenheit Heinrich von Siebolds Revisionsverhandlungen geführt wurden.

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Die japanische Regierung schloss den letzten ungleichen Vertrag mit Österreich-Ungarn.231 Dieser Vertrag datierte vom 18. Oktober 1869 und folgte dem Vertrag zwischen Japan und dem Norddeutschen Bund auch in Bezug auf die Reiseregelungen. Die gedruckte englische Fassung wurde wohl vom englischen Ministerresidenten Harry Parkes abgefasst, der die österreichisch-ungarischen Bemühungen um einen Vertragsabschluss unterstützte. In der k. u. k. Monarchie hatte im Jahr 1863 eine öffentliche Debatte über die Frage nach der Aufnahme von Handelsbeziehungen mit Japan begonnen.232 In dieser Debatte, die zunächst um handelspolitische Vorteile geführt wurde, gedieh zunehmend die machtpolitischen Sorge, Österreich-Ungarn könnte, insbesondere nach Abschluss von Verträgen mit Preußen und der Schweiz, auch in Europa Nachteile erleiden, wenn es als europäische Großmacht keine völkerrechtlichen Beziehungen zu den ostasiatischen Staaten unterhalte. Gegen die machtpolitischen Bestrebungen wurde vorgebracht, dass die k. u. k. Flottenstärke zu Machtdemonstrationen in fernen Gewässern nicht ausgerüstet sei.

230 Dieser Aspekt blieb bislang in der Literatur über die Revision der ungleichen Verträge unberücksichtigt. Siehe: Tadao Johannes Araki, Geschichte der Entstehung und Revision der ungleichen Vertrage mit Japan (1853–1894). Phil. Diss., Masch., Marburg 1959. Auslin, Negotiating (wie Anm. 184), S. 146–175. Hugh Cortazzi, The Revision of Japan’s Early Commercial Treaties, London: Suntory Centre, Suntory-Toyota International Centres for Economics and Related Disciplines and London School of Economics and Political Science 1999 (International Studies. Discussion Paper IS/99/377.). 231 Vertrag zwischen dem Norddeutschen Bund und Japan, Art. VIII, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 481, 482. Die handschriftlichen japanischen und deutschen Fassungen sind die gesiegelten Originale. 232 Zur Vorbereitung und Durchführung der österreichisch-ungarischen Expedition siehe: Wüllerstorf, Mittheilungen (wie Anm. 207). Revoltella, Betheiligung (wie Anm. 207), insbes. S. 16–32. Bericht ueber Österreichs ungünstige Stellung im Welthandel und die Mittel ihrer Abhilfe [Revoltella-Kommission], Triest: Münster 1865. Alfred Freiherr von Kremer [-Auenrode], Ein Wort über Österreichs Beteiligung am Welthandel, Wien: Gerold 1864, S. 49. Carl Ritter von Scherzer, Die österreichische Ostasien-Expedition, in: Österreichische Revue (Oktober 1866), S. 123. Scherzer, Fächmännische Berichte über die österreichisch-ungarische Expedition nach Siam, China und Japan (1868–1871), Stuttgart: Maier 1872. Lorenz, Japan (wie Anm. 229), S. 51–67, 118–140. Peter Pantzer, Japan und Österreich-Ungarn, Wien: Institut für Japanologie 1973 (Beiträge zur Japanologie. 11.) Gert Rosenberg, Wilhelm Burger. Ein Welt- und Forschungsreisender mit der Kamera. 1844–1920, Wien und München: Brandstätter 1968, S. 15–30.

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11. Zusammenfassung zu den Verträgen zwischen Japan und Staaten in Europa sowie den USA Innerhalb der Geschichte des Abschlusses der ungleichen Verträge, die die japanische Regierung zwischen 1854 und 1869 zu unterzeichnen gezwungen war, stellten also die Ansei-Verträge keine wichtige Wendemarke dar.233 Alle Verträge folgten dem Friedensvertragsformular mehr oder weniger ausdrücklich, selbst diejenigen, die auf Abkommen folgten, welche ihrerseits bereits Frieden begründet hatten. Hingegen markierten die ersten Abkommen mit Russland 1855 und den Niederlanden 1856 einerseits, die Abkommen mit dem Norddeutschen Bund und Österreich-Ungarn andererseits Bruchlinien. Während die frühen Verträge mit den USA und dem Vereinigten Königreich unter Verwendung des Friedensvertragsformulars im Grundsatz Abkommen zur Rettung Schiffbrüchiger und der Regelung der Versorgung von ausländischen Schiffsbesatzungen in Japan darstellten, waren alle Abkommen außer dem ersten britisch-japanischen Vertrag seit 233 Dies nimmt an ohne weitere Begründung: Auslin, Negotiating (wie Anm. 184), S. 6–8. Die Vorstellung geht schon in die mittlere Meiji-Zeit zurück, als sie der Kritiker der Edo-Zeit und Zivilisationstheoretiker Saburo¯ Shimada vertrat. Siehe: Shimada, Kaikoku Shimatsu, Tokyo: To¯kyo¯ Daigaku Shuppankai 1978 [zuerst 1887]. Zu Shimada siehe: Carol Gluck, Japan’s Modern Myths, Princeton: Princeton University Press 1985, S. 319, Anm. 13. Die neueste Monografie zu den Verträgen, die Studie von McOwie, Opening (wie Anm. 152), insbes. S. 456–465, geht hingegen wie schon einige der Zeitgenossen wieder von der Voraussetzung aus, dass schon im Jahr 1853 ein Vorgang begonnen habe, in dessen Verlauf Japan „geöffnet“ wurde, und behandelt folglich die Ansei-Verträge nicht. Desgl.: Bernd Martin, Verhängnisvolle Wahlverwandtschaft Deutsche Einflüsse auf die Entstehung des modernen Japan, in: Deutschland in Europa. Gedenkschrift für Andreas Hillgruber, hg. von Jost Dülffer, Bernd Martin und Günter Wollstein, Frankfurt und Berlin: Propyläen 1990, S. 97. Wolfgang Schwentker, Staatliche Ordnungen und Staatstheorien im neuzeitlichen Japan, in: Verstaatlichung der Welt?, hg. von Wolfgang Reinhard und Elisabeth Müller-Luckner, München: Oldenbourg 1999, S. 113 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 47.). McOwie stellt im Abschluss seiner Studie die eher ins 19. als ins 21. Jahrhundert passende Frage, wer die „Öffnung“ vollzogen habe, und glaubt, zwischen Perry und Putiatin entscheiden zu sollen. Mit seiner Entscheidung versucht er, beiden Seiten gerecht zu werden, indem er den Vorgang der vermeintlichen „Öffnung“ auf Aspekte aufteilt und dann auf die beiden Akteure verteilt. So habe Perry Japan durch die Formalität des Vertragsabschlusses „geöffnet“, Putiatin hingegen durch Herstellung von Kontakten. Bei der Hervorhebung der russischen Aktionen stützt McOwie sich hauptsächlich auf das Zeugnis der gedruckten Darstellung Siebolds, ohne zu berücksichtigen, dass Siebold selbst der russischen Regierung Vertragsentwürfe vorgelegt hatte, folglich in seinem Urteil pro domo sprach. Dass Zeitgenossen wie Lindau davon ausgingen, Japan sei erst nach den Ansei-Verträgen „geöffnet“ worden, bleibt bei McOwie unerwähnt. McOwies Darstellung der ersten vier Verträge (S. 440–455), obschon als „close look“ (S. 440) ausgegeben, ist begrenzt auf eine tabellarische Übersicht der wesentlichen Vertragsinhalte. Eine völkerrechtsgeschichtliche Analyse fehlt.

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1854 in ein Formular gekleidet, das die Gleichheit der formalrechtlichen Vertragsteile mit der Ungleichheit der materiellrechtlichen, zunächst Schifffahrt, sodann Schifffahrt und Handel betreffenden dispositiven Vertragsteile verschmolz. Für das lange Zögern der japanischen Seite, die erst ab 1868 auf die Anwendung des Grundsatzes der Reziprozität in den dispositiven Vertragsteilen drängte, kommt also das Argument nicht in Betracht, für reziproke Regelungen in den dispositiven Vertragsteilen habe auf japanischer Seite kein Bedarf bestanden. Schon der Kanagawa-Vertrag von 1854 gab vor, dass japanische Seeleute in den Gewässern der USA dasselbe Gastrecht erhielten wie amerikanische Seeleute in japanischen, und zwar, obwohl zu diesem Zeitpunkt keinerlei legaler, von Japan ausgehender pazifischer Seeverkehr möglich war. Spätestens mit der Aufhebung des Ausreiseverbots im Jahr 1866 war auch aus japanischer Sicht die Notwendigkeit von aufenthaltsrechtlichen Regelungen für japanische Untertanen in den Vertragsstaaten gegeben. Zudem war sich die japanische Regierung auch vor 1868 der völkerrechtlichen Bedeutung der Gleichheit souveräner Staaten und dem davon abgeleiteten Grundsatz der Reziprozität bewusst. Das ergibt sich aus der Änderung der Präzedenz der Namen der vertragsschließenden Parteien in den Präambeln der Verträge, die in ihren jeweiligen Fassungen denjenigen Landesnamen zuerst nennen, der der Sprache des Vertragstexts oder einer dieser verwandten Sprache entstammte, und der Durchsetzung der Reziprozität der Regelung des Rechts zur wechselseitigen Entsendung diplomatischer Vertreter seit den Ansei-Verträgen. Da dennoch die japanische Regierung bis 1868 noch neue Verträge abschloss, die nichtreziprok nur das Aufenthaltsrecht von Ausländern aus Vertragsstaaten in Japan regelten, kann sie insbesondere seit 1866 nur in der Erwartung gehandelt haben, dass die die Gleichheit der souveränen Vertragspartner stipulierenden reziproken formalrechtlichen Regelungen in den Protokollen die Reziprozität von Regelungen auch der dispositiven Teile zugunsten der japanischen Seite auch dann garantierten, wenn die Reziprozität nicht für jeden einzelnen dispositiven Artikel ausdrücklich in den Verträgen selbst festgeschrieben war. Erst die Meiji-Regierung musste aus Anlass der Verhandlungen mit der deutschen Seite zur Kenntnis nehmen, dass die Erwartung trog. Aus der Geschichte des Abschlusses dieser Verträge ergibt sich also, dass für die japanische Seite mangelnde Reziprozität erst zu dem Zeitpunkt zum Problem wurde, als sie gegenüber ihren Vertragspartnern die Revision der speziellen Bestimmungen gemäß dem Gleichheit festschreibenden Protokoll und den allgemeinen Bestimmungen erreichen wollte. Erst nachdem die Vertragspartner auf amerikanischer und europäischer Seite die Anpassung spezieller dispositiver Bestimmungen an das allgemeine Formular verwei-

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gerten, empfand die japanische Regierung die Ungleichheit der speziellen dispositiven Vertragsbestimmungen als Diskriminierung gegen sie selbst. So meinte beispielsweise der Leiter der österreichisch-ungarischen Expedition, Ritter von Scherzer, schon bei Beginn der Vorbereitungen zu dieser Expedition im Jahr 1866, Demonstrationen einer gewissen „Machtstellung“ auf europäischer Seite seien geboten im diplomatischen Verkehr mit Staaten auf „niedriger Civilisationsstufe“ und gegenüber Regierungen, die kein „allgemeines, aus den Begriffen der Humanität resultierendes internationales Recht“ anerkennen wollten. Er riet der k. u. k. Regierung, gegenüber Japan ihr Ansehen mit diplomatischem Druck und Demonstrationen militärischen Potentials zur Geltung zu bringen.234 Damit verlieh er der im Westen weit verbreiteten Ansicht Ausdruck, dass die Durchsetzung des europäischen Rechts internationaler Verträge ein Instrument der Machtpolitik gegenüber Regierungen in Asien, Afrika und dem Südpazifik sei. Ungleichheit der Verträge war nunmehr Fundament nicht-herrschaftlicher Expansion. Völkerrecht und Freihandelsregime dienten als Vehikel für die Machtpolitik eines nicht-herrschaftlichen Regime-Kolonialismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Dieser führte zu beträchtlicher Konsternation auf japanischer Seite, die den festen Willen ihrer Vertragspartner, die Verträge buchstabenmäßig eng auszulegen, unerklärlich fand. Diese Konsternation musste aus der Lesung der Verträge als textliche Einheiten resultieren, die die reziproken allgemeinen Bestimmungen als Rahmen für die nichtreziproken speziellen Bestimmungen vorgaben. Aus der Reziprozität der allgemeinen Bestimmungen insbesondere des Protokolls folgte gerade bei strenger juristischer Auslegung die Reziprozität auch der dispositiven Bestimmungen selbst dann, wenn diese Reziprozität nicht in jedem Artikel eigens zum Ausdruck gebracht wurde. Es musste also aus japanischer Sicht möglich sein, die nichtreziproken Bestimmungen zu ergänzen, sobald auf japanischer Seite dafür ein Bedarf bestand. Das Insistieren der europäischen und amerikanischen Regierungen auf der Einhaltung des Rechtssatzes Pacta sunt servanda und, darauf folgend, dem Festhalten an dem exakten Wortlaut der Texte musste vor diesem Hintergrund auf japanischer Seite als materieller Vertragsbruch erscheinen. In den seit 1869 angestrengten und bis 1894 andauernden Revisionsverhandlungen zeigte sich, je länger desto deutlicher, dass in der Sicht der amerikanischen und europäischen Signatarmächte die Ungleichheit der Verträge Ausdruck von Machtverhältnissen geworden war, die die Vertragspartner der japanischen Regierung nicht zu revidieren bereit waren. Insbesondere pochten die amerikanischen und europäischen Signatarmächte auf Beibehaltung nichtreziproker Exterritorialität sowie der Exportzölle als Mittel zur Demonstration des Vorrangs der amerikanischen 234

Siehe: Scherzer, Expedition (wie Anm. 232), S. 123–124.

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und der beteiligten europäischen Regierungen über ihrem japanischem Vertragspartner.235 Erst durch die Erkenntnis, dass die amerikanische und die europäischen Regierungen Völkerrecht und Freihandelsregime als Mittel zur Machtdemonstration einsetzten, erfuhr die japanische Seite die nichtreziproken Bestimmungen der Verträge als Ausdruck ihrer politischen Diskriminierung. Die ungleichen Verträge resultierten somit aus dem Widerspruch von Macht und Recht in der Verschränkung der kolonialen Expansion Europas mit der Durchsetzung von allgemeinen Regeln des Freihandels sowie der Globalisierung des europäischen Völkerrechts. Nicht mangelndes Verständnis der Logik der Vertragstexte führte auf japanischer Seite zu Verdruss über den Abschluss der ungleichen Verträge, sondern die planmäßige Indienststellung von Lippenbekenntnissen und juristischen Kautelen in die Machtpolitik der amerikanischen und der europäischen Regierungen. Die Anwendung von Normen des europäischen Völkerrechts auf globaler Ebene zog Ungleichbehandlung und Regime-Kolonialismus auch dort nach sich, wo die amerikanische und die europäischen Regierungen die Errichtung von dauerhafter Kolonialherrschaft nicht anstrebten. Neben das Bewusstsein des Diskriminiertwerdens in rechtlicher Hinsicht trat auf japanischer Seite die Erfahrung, dass die seit den Ansei-Verträgen getroffenen ungleichen zollpolitischen Regelungen zu gravierenden Nachteilen in der japanischen Außenhandelspolitik beitrugen. Insbesondere die einseitige Festschreibung von Exportzöllen für japanische Produkte bestärkte die Erfahrung von Regierung und Produzenten in Japan, dass die amerikanische und die europäischen Regierungen an Beziehungen auf der Basis von Gleichheit nicht interessiert waren, sondern Gleichbehandlung zuzugestehen sich ausdrücklich weigerten. 12. Verträge zwischen Japan einerseits, China und Hawaii andererseits im Licht des europäischen Völkerrechts Da die japanische Regierung spätestens ab 1868 das Bewusstsein des Diskriminiertwerdens durch die aus mangelnder Reziprozität folgende Ungleichheit ihrer Verträge mit den USA und den europäischen Staaten entwickelte, achtete sie genau darauf, dass in völkerrechtlichen Verträgen, die 235

Zu den Revisionsbemühungen siehe: Araki, Geschichte (wie Anm. 230). Cortazzi, Revision (wie Anm. 230). Tomio Hora, Bakumatsu ishinki no gaiatsu to teiko¯ (Tokyo: Ko¯gura, 1977). Sekai shijo¯ to bakumatsu kaiko¯, hg. von Kanji Ishii und Hisashi Sekiguchi, Tokyo: To¯kyo¯ Daigaku Shuppankai 1982. Alexander Freiherr von Siebold, Der Eintritt Japans in das europäische Völkerrecht, Berlin: Tamai 1900, S. 1–5, 40–48 [die Kenntnis dieser Studie verdanke ich einem Hinweis von Heinrich Menkhaus, Tokyo].

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sie mit nichtwestlichen Staaten schloss, Reziprozität weitest möglich festgeschrieben wurde. Dieses Bemühen ist im hawaiisch-japanischen Vertrag von 1870 und im chinesisch-japanischen Vertrag von 1872 dokumentiert.236 Der Vertrag, der die Indienststellung japanischer Arbeitskräfte auf den USamerikanischen Plantagen in Hawaii ermöglichen sollte, bekundet bereits in seiner Präambel geradezu plakativ seine Eigenschaft als gleiches und reziprokes Abkommen durch Verwendung dieser beiden Bezeichnungen und umfasst mit zwei Ausnahmen nur reziproke Bestimmungen. Die erste Ausnahme betrifft die Meistbegünstigungsklausel, die Japan Hawaii gewährte, ohne sie umgekehrt von Hawaii zu fordern (Artikel IV). Der Verzicht auf Gewährung der Meistbegünstigungsklausel mag begründet sein im Widerstand der zumeist aus den USA stammenden Plantagenbesitzer, die in der Regierung des Königreiches vertreten waren. Sie waren der Meinung, dass die Klausel im Fall einer Annexion Hawaiis Japan Zugang zum US-Markt verschaffen könne. Die Hoffnung auf Rekrutierung von Plantagenarbeitern aus Japan erfüllte sich zunächst jedoch nicht.237 Die zweite Ausnahme betrifft die Reisefreiheit, die die japanische Seite ihren Untertanen gewährte, ohne zu verlangen, dass die Regierung von Hawaii für ihre Untertanen eine entsprechende Verfügung traf (Artikel V). Der chinesisch-japanische Vertrag verzichtet auf Nennung der Herstellung von Frieden als Vertragsziel, bestätigt aber neben anderem Freundschaft zwischen beiden Parteien (Artikel I), enthält Regelungen für Verfahren zum Ausgleich von Rangunterschieden (Artikel V) sowie den Austausch diplomatischer Vertreter (Artikel VIII) 236 Vertrag zwischen China und Japan vom Jahr 1872, in: CTS, 144. Bd., S. 140–143. Vertrag zwischen Hawaii und Japan vom 19. August 1870, in: Treaties (wie Anm. 154), S. 550–3. Auch in: CTS, 141. Bd., S. 448–450. Der Eingangssatz der Präambel lautet: „His Majesty the Tenno¯ and his Majesty the King of the Hawaiian Islands being equally animated by the desire to establish relations of friendship between the two countries, have resolved to conclude a Treaty reciprocally advantageous . . .“ (S. 550/S. 448). 237 Zu den Anfängen der Migration von Japanern nach Hawaii siehe: Edward Joesting, Hawaii. An Uncommon History, New York: Norton 1972, S. 193–196. Zur Geschichte der Vertragsbeziehungen zwischen Hawaii und den USA siehe: John Schofield, Forty-Six Years in the Army, New York: The Century Co. 1897. Ein förmlicher Vertrag zwischen Hawaii und den USA bestand seit 1826. Dieser Vertrag war ungleich, bestätigte Frieden und Freundschaft zwischen Hawaii und den USA und regelte die Rechte US-amerikanischer See- und Kaufleute in Hawaii. Ein weiterer Vertrag wurde im Jahr 1849 geschlossen, war zumeist reziprok, gestand aber einseitig den USA die Meistbegünstigung zu und räumte Privilegien für Walfänger ein. Siehe: Vertrag zwischen Hawaii und den USA vom 23. Dezember 1826; Vertrag zwischen Hawaii und den USA vom 20. Dezember 1849, in: Treaties and Other International Agreements of the United States of America, hg. von Charles I. Bevans, Washington: Government Printing Office 1971, S. 861–863, 864–8671 (Department of State Publication. 8590.). Auch in: CTS, 77. Bd., S. 33–37, CTS, 103. Bd., S. 391–400.

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und öffnet wechselseitig Häfen (Artikel X). Das japanische Bemühen um Reziprozität war sowohl im Vertrag mit Hawaii als auch im Vertrag mit China erkennbar. Aus dem Vergleich der Verträge, die die Regierungen der USA und einiger europäischer Staaten zwischen 1842 und 1869 mit den Regierungen Chinas und Japans schlossen, mit den Abkommen, die die Regierungen Japans, Chinas und Hawaiis untereinander schlossen, ergibt sich, dass die Durchsetzung von allgemeinen Freihandelsbestimmungen und Normen des völkerrechtlichen Vertragsrechts in amerikanischer und europäischer Sicht gekoppelt war sowohl an die Ausübung und Androhung militärischer Gewalt als auch an diplomatischen Druck zum wirtschaftlichen und politischen Vorteil der amerikanischen und europäischen Seite. Die Summe der militärisch-diplomatischen Gewaltakte transformierten den Pazifik trotz der Walfang- und anderen kommerziellen Aktivitäten US-amerikanischer Schiffe um die Mitte des 19. Jahrhunderts in ein britisches Binnenmeer, in dem zwar Schiffe anderer Nationen kreuzen und ihre Besatzungen Handel treiben konnten, aber nur nach Regeln, die letztlich die britische Regierung unter Rückgriff auf europäische Rechtskonventionen formulierte und durchsetzte. Daraus ergibt sich, dass Zwang zur Übernahme von allgemeinen Regeln des Freihandels, der Anerkennung europäischer Grundsätze des Völkerrechts und Oktroi kolonialer Herrschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts Strategien bildeten, zwischen denen die Regierungen in den USA und Europa glaubten wählen zu dürfen. Es kann also keine Rede davon sein, dass Strategien der Errichtung europäischer Kolonialherrschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht verfolgt worden wären. Im Gegenteil, die herrschaftliche Expansion Europas in Süd- und Südostasien sowie den Südpazifik, die in dieser Zeit stattfand, war keine Ausnahmeerscheinung, sondern Resultat einer strategischen Entscheidung gegen die Durchsetzung des Freihandels in diesem Weltteil. 13. Verträge zwischen europäischen Regierungen und Regierungen in Südostasien sowie Ozeanien Gegenüber Staaten in Südostasien konstituierten und erweiterten europäische Regierungen zumindest gelegentlich auch ihre koloniale Herrschaft mit dem Mittel der zwischenstaatlichen Verträge, deren Protokolle die Vertragspartner als Souveräne anerkannten.238 Zudem kam es zu zahlreichen ungleichen Verträgen zwischen europäischen Regierungen und dem als souveränem Staat bestehenden Königreich Siam.239 Darüber hinaus schloss die 238 Vertrag zwischen Perak und dem Vereinigten Königreich, vom 20. Januar 1874, in: CTS, 147. Bd., S. 196–199.

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britische Regierung mindestens einen ungleichen Vertrag mit Siam über andere, als souverän anerkannte Staaten in Südostasien mit dem Ziel der Erweiterung ihrer Kolonialherrschaft. Dabei handelt es sich um den britischsiamesischen Vertrag vom 10. März 1909, der neben anderem die Übertragung der Herrschaftsrechte über die malaiischen Sultanate Kelantan, Tringganu, Kedah, Perlis und nahegelegene Inseln von der siamesischen an die britische Regierung regelte. Im selben Vertrag werden aber diese Staaten unter dem Namen Federated Malay States als Souveräne anerkannt, die heute an der Grenze mit Thailand gelegenen Teile der Malaysischen Union sind.240 Die malaiischen Sultanate waren also Objekte des britisch-siamesischen Vertrages und zu gleicher Zeit Subjekte des Völkerrechts. Um die an sich wechselseitig ausgeschlossene gleichzeitige Anerkennung völkerrechtlicher Subjektivität und Objektivität in Vertragsform gießen zu können, behalf sich die britische Regierung mit dem aus dem Mittelalter überkommenen Begriff der „suzerainty“ (Oberherrschaft), der spätestens seit dem 16. Jahrhundert mit dem Grundsatz der Gleichheit souveräner Staaten als unvereinbar anerkannt wurde.241 Vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Souveränitätstheorie war dieser Vertrag also völkerrechtlicher Unsinn. Er manifestierte den Willen einer europäischen Kolonialregierung, die Formulare und die Sprache des Völkerrechts zum Zweck der Erweiterung ihres herrschaftlichen Einflusses zu missbrauchen. Aber es gab auch Beispiele rigoroseren, bis zu Perversion reichenden Missbrauchs des völkerrechtlichen Gleichheitsgrundsatzes. Wie die Regierung der USA gegenüber einigen Gruppen von Native Americans verfuhr, so handelte die britische Regierung gegenüber den Ma¯ori in der Weise, dass sie einen Text fertigte, demzufolge die Ma¯ori ihre Souveränität vollständig widerrufen haben sollten. Der sogenannte „Vertrag von Waitangi“ vom 5./6. Februar 1840 liegt vor im Formular eines herrscherlichen Dekrets. In dessen dispositivem Teil verkündet Königin Viktoria von Großbritannien ihren Entschluss, in Neuseeland ein „civil government“ zu errichten, um die notwendigen Gesetze erlassen und Institutionen des Staates errichten zu können „ebenso für die eingeborene Bevölkerung wie für ihre Untertanen“. Das Dekret berichtet 239 Verträge zwischen Thailand und dem Vereinigten Königreich vom 18. April 1855, in: CTS, 113. Bd., S. 84–92; vom 3. September 1883, in: CTS, 162. Bd., S. 378–384; vom 6. April 1897, in: CTS, 184. Bd., S. 343; vom 20. September 1900, in: CTS, 189. Bd., S. 90. 240 Vertrag zwischen Thailand und dem Vereinigten Königreich vom 10. März 1909, Art. I–IV, in: CTS, 208. Bd., S. 367–368. Tringganu, Kedah und Kelantan standen bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert unter dem starken Einfluss britischer Kaufleute, wie sich aus Privilegien ergibt, die die thailändische der britischen Regierung bereits im Jahr 1826 zugestand. Siehe den Vertrag zwischen Siam und dem Vereinigten Königreich vom 20. Juni 1826, Art. 12., 13., in: CTS, 76. Bd., S. 307. 241 Bodin, Livres (wie Anm. 32), lib. I., cap. 9, Neudruck, 1. Bd., S. 292.

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dann davon, dass die „chiefs“ der Ma¯ori sämtlich und ohne Einschränkung auf ihre souveränen Rechte und Befugnisse zugunsten Viktorias verzichtet hätten, und erklärt, dass Viktoria unter Beibehaltung anerkannter Eigentumsrechte an Grund und Boden das Vorkaufsrecht für alles in Kollektivoder Individualeigentum stehende sowie zum Verkauf freigegebene Land erhalten habe. Schließlich errichtet Viktoria ihren königlichen Schutz über die „Eingeborenen von Neuseeland“. Im Eschatokoll bekunden die „chiefs“ ihre Zustimmung zu dem vorstehenden Dekret.242 Der so genannte „Vertrag von Waitangi“ ist ein Dokument der Staatszerstörung per Dekret und durch juristischen Unfug. Da der Text nur Königin Viktoria als Souverän nannte, war das Dekret kein Vertrag im Sinn des europäischen Rechts zwischenstaatlicher Verträge, obschon im Text selbst das Wort „Treaty“ Verwendung finden konnte. Von den Ma¯ori war im dispositiven Teil nur als Objekten britischer Herrschaft die Rede. Ihr Gruppenname wurde ihnen vorenthalten, und so schienen sie im Text des Edikts nur als anonyme „aborigines“ oder „natives“ im eigenen Land auf. Obwohl der dispositive Teil den Akt des angeblich zuvor vollzogenen Souveränitätsverzichts referierte, erklärten im Eschatokoll die „chiefs“ der Ma¯ori, die angeblich zuvor ihre Souveränität auf Viktoria übertragen hatten, ihre Zustimmung zu eben dieser Übertragung. Abgesehen davon, dass in der Ma¯ori-Fassung ein den europäischen Begriff der Souveränität repräsentierendes Wort fehlt, diese folglich nach dem Verständnis der Ma¯ori auch nicht hatte abgetreten werden können, sollten dem englischen Wortlaut des Dekrets zufolge die „chiefs“ Souveränität haben, einem Dekret zustimmen, demzufolge sie auf ihre Souveränität bereits verzichtet hatten. In britischer Sicht waren die Ma¯ori bereits zu Objekten des Völkerrechts degradiert worden, bevor sie ihre Souveränität zur Bestätigung ihres Souveränitätsverzichts einsetzen sollten. Diese seltsame, juristisch unhaltbare Formulierung des Dekrets ist historisch zu erklären aus dem Umstand, dass die britische Regierung im Jahr 1839 die Unabhängigkeit eines britisch regierten Staates New Zealand anerkannt und Königin Viktoria auf Drängen des Koloniallobbyisten Edward Gibbon Wakefield über den Kolonialminister Lord Normandy ihren Vertreter William Hobson ausdrücklich instruiert hatte, die Errichtung britischer Kolonialherrschaft nur unter klar erkennbarer Zustimmung der Ma¯ori zu vollziehen. Gleichwohl ging der durch das Dekret 242

„Vertrag“ von Waitangi (wie Anm. 71), insbesondere S. 475. Zum „Vertrag“ siehe: Peter Adams, Fatal Necessity. British Intervention in New Zealand. 1830–1847, Auckland: Auckland University Press 1977. Ernst Laubach, Der Vertrag von Waitangi und seine Bedeutung in der neuseeländischen Geschichte und Politik, in: Saeculum 51. Jg. (2000), S. 228–249. Zur frühen Immigration aus dem Vereinigten Königreich nach Neuseeland siehe: Paul Hudson, English Emigration to New Zealand. 1839–1850, in: Economic History Review 54. Jg. (2001), S. 680–698.

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lediglich referierten, nicht jedoch direkt stipulierten Zerstörung der Staatenwelt der Ma¯ori die durch selbiges Dekret verkündete britische Kolonialherrschaft voraus. Das Dekret vermengte Notifikations- und Dispositionsurkunde und setzte europäisches Völkerrecht ein zum Zweck der Legitimierung von Staatszerstörung sowie des Oktroi britischer Herrschaft. Das Dekret stand damit sogar im Widerspruch zum Formular der so genannten Zessionsverträge, von dem die Regierung der USA gegenüber den Native Americans sowie einige europäische Regierungen gegenüber Gruppen in Westafrika seit Beginn des 19. Jahrhunderts Gebrauch gemacht hatten. In diesen Zessionsverträgen fand Bilateralität durch Nennung der Vertragspartner ihren Ausdruck und ein Souveränitätsverzicht, so er Gegenstand der Verabredungen gewesen sein sollte, sollte erst mit den Verträgen wirksam werden. Die mangelnde Legitimität dieser Verfahrensweise war Ursache für nachfolgende militärische Konflikte, die im Fall der Ma¯ori bis 1881 andauerten. Krieg war hier Folge von Staatszerstörung, nicht umgekehrt Staatsentstehung Folge von Krieg. Die Staatszerstörung begründete ihrerseits das Legitimitätsdefizit des neuseeländischen Staates, das bis in jüngste Zeit anhält.243 243

Zur so genannten „Unabhängigkeitserklärung“ von 1839 und zur Vorbereitung von Hobsons Mission siehe: Danderson Coates, [Ansprache im britischen Unterhaus, 1835], hg. von William David McIntyre und W. J. Gardner, Speeches and Documents in New Zealand History, Oxford: Clarendon Press 1971, S. 7. Königin Viktoria, Instruction to Captain William Hobson [14. August 1839; Ms., London, British National Archive, CO 209/4], in: Historical Records of New Zealand, hg. von Robert McNab, 1. Bd., Wellington: MacKay 1908, S. 731. Zur Koloniallobby siehe: [Edward Gibbon Wakefield], The British Colonization of New Zealand. Being an Account of the Principles, Objects and Plans of the New Zealand Association, London: Parker 1837. Die Ma¯ori-Formulierung des die Souveränität betreffenden Artikels lautet: „te Kawanatanga katoa“ [Kontrolle über Land], wohingegen die englische Fassung „all rights and powers of sovereignty“ lautet. Entsprechend der Formulierung in der Ma¯ori-Sprache gelangte ein „chief“ zu der Überzeugung, nur der „Schatten des Lands“ sei zu Königin Viktoria gegangen, wohingegen die „Substanz des Lands“ bei den Ma¯ori geblieben sei. Siehe zu Äußerungen von seiten der Ma¯ori zu dem Vertrag: Thomas Linsays Buick, The Treaty of Waitangi, 2. Aufl., New Plymouth: Avery 1933 [Ms., 1916]. William Colenso, The Authentic and Genuine History of the Signing of the Treaty of Waitangi, Wellington: Government Printer 1890, S. 27 [Nachdruck, Christchurch, NZ: Capper 1971]. Claudia Orange, The Story of a Treaty, Wellington: Allen & Unwin 1898 [Nachdruck, ebenda 1990]. Ian Wards, The Shadow of the Land, Wellington: Department of International Affairs. Historical Publications Branch 1968, S. VII. Zu William Hobson siehe: John Cawte Beaglehole, Captain Hobson and the New Zealand Company, Northampton, MA: Smith College. Department of History 1928 (Smith College Studies in History, 13. Bd., Nr. 1–3.) Guy Hardy Scholefield, Captain William Hobson, London: Oxford University Press 1934. Alexander Hare McLintock, Crown Colony Government in New Zealand, Wellington: Owen 1958. Zur Diskussion um den Begriff der Souveränität aus der Sicht der Ma¯ori siehe: Donna Awatere, Ma¯ori Sovereignty, Auck-

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Die europäischen Kolonialregierungen verfuhren in ähnlich rigoroser Weise in anderen Teilen des Südpazifiks.244 Dort wie in Ost- und Südostasien war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht Staatsbildung Ursache von Kriegen, sondern Staatszerstörung neben anderen Formen der illegitimen herrschaftlichen Einflussnahme sowie diplomatischer Druck und die Oktroi wirtschaftlicher und Völkerrechtsnormen führten zu militärischen Konflikten.

IV. Völkerrechtliche Verträge und militärische Gewalt in der Kolonialisierung Afrikas In der Phase des Hochimperialismus an der Wende zum 20. Jahrhundert245 stieg der Anteil derjenigen europäischen Interventionen an, die in europäischer Wahrnehmung zur vorsätzlichen Zerstörung von Politien führten, die zuvor von europäischen Regierungen als souveräne Staaten anerkannt gewesen waren. Dabei hielten die europäischen Kolonialregierungen jedoch gleichzeitig an der Praxis des Abschlusses zwischenstaatlicher Verträge mit land: Broadsheet 1984. Zu den aus dem so genannten „Waitangi-Vertrag“ resultierenden Ma¯ori-Kriegen siehe: James Belich, Paradise Reforged, Auckland und London: Allen Lane 2001. Angus John Harrop, England and the Maori Wars, London: The New Zealand News 1937 [Nachdruck, Freeport: Books for Libraries Press 1971]. Keith Sinclair, The Origins of the Maori Wars, Nachdruck der 2. Aufl., Auckland: Auckland University Press; London: Oxford University Press 1974 [2. Aufl., Wellington: New Zealand Universty Press 1961; zuerst, ebenda 1957]. Zu Kompensationen für Unrecht, das aus dem „Waitangi-Vertrag“ auf Seiten der Ma¯ori folgte, siehe: A Guide to Completing a Claim to the Waitangi Tribunal, Wellington: Information Section, Waitangi Tribunal Division, Department of Justice, Government of New Zealand 1990 [Nachdruck, ebenda 1992]. Zum Waitangi Tribunal siehe: Giselle Byrnes, The Waitangi Tribunal and New Zealand History, South Melbourne und Oxford: Oxford University Press 2004. Geoff Melvin, The Jurisdiction of the Waitangi Tribunal, in: The Waitangi Tribunal, hg. von Janine Hayward und Nicola R. Wheel, Wellington: Bridget Williams Books 2004, S. 15–28. William Hosking Oliver, Claims to the Waitangi Tribunal, Wellington: Department of Justice. Waitangi Tribunal Division und Daphne Brasell Associates 1991. Die Tätigkeit des Tribunals wurde im September 2008 für abgeschlossen erklärt. Christian Hillgruber, Die Aufnahme neuer Staaten in die Völkerrechtsgemeinschaft, Frankfurt: Lang 1998 (Kölner Schriften zu Recht und Staat. 6.), berücksichtigt diesen Fall von Staatensukzession ebenso wenig wie die aus den zwischenstaatlichen Verträgen bekannten afrikanischen Verhältnisse des 19. Jahrhunderts. Zu den frühen Zessionsverträgen siehe beispielsweise den Vertrag zwischen dem König von Sherbro (Gambia) und dem Vereinigten Königreich vom 24. September 1825, in: CTS, 75. Bd., S. 379–384. 244 Für Samoa siehe unten Anm. 338. 245 Dazu siehe: Wolfgang Justin Mommsen, Imperialismustheorien, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1977. Jürgen Osterhammel, Kolonialismus, München: Beck 1995 [5. Aufl., ebenda 2006].

IV. Völkerrechtliche Verträge und militärische Gewalt

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den Opfern ihrer Aggressionen fest. Diese Verbindung sich gegenseitig ausschließender Strategien der Herbeiführung von Staatszerstörung durch Anwendung militärischer Gewalt und diplomatischen Druck einerseits sowie völkerrechtlicher Festschreibung der Anerkennung des Grundsatzes der Gleichheit souveräner Staaten andererseits resultierte in einem bis dahin ungebräuchlichen Zynismus europäischer Politik gegenüber Regierungen in Afrika. Anders gesagt: die europäischen Kolonialregierungen schlossen mit Regierungen afrikanischer Staaten Verträge in der kaum verhohlenen Absicht ab, diese Verträge nicht einhalten zu wollen.246 Die Folge war ein in Europa wie auch in Afrika, Asien und dem Südpazifik wachsendes Misstrauen gegenüber der Gültigkeit zwischenvertraglicher Abmachungen bis in den Beginn des Ersten Weltkrieges hinein.247 Aus diesem Widerspruch von Macht und Recht ergab sich eine Perspektive, derzufolge die Opfer von Aggressionen europäischer Regierungen ein Bewusstsein der Diskriminierung entwickelten, das sich in gewaltsamem Widerstand gegen den fortschreitenden europäischen Einfluss manifestierte. Dafür sind der Große Indische Aufstand von 1857/58 und der Genozid an afrikanischen Bevölkerungsgruppen im heutigen Tansania und Namibia durch die deutsche Kolonialregierung die bedeutendsten Belege. In diesen wie in anderen ähnlich gelagerten, wenn auch weniger dramatischen Fällen gingen die europäischen Kolonialregierungen mit beispielloser Brutalität vor und wurden dabei von Ideologen unterstützt, die den europäischen Regierungen Freiheit zur einseitigen Erklärung der Nichtigkeit bestehender Verträge zuerkannten.248 Der 246 Adam, Okkupation (wie Anm. 26), S. 302–303. Adams Theorie war in ihrer Zeit umstritten. Andere Juristen meinten, völkerrechtliche Verträge, die europäische Regierungen mit Partnern in Afrika, West-, Süd- und Südostasien sowie dem Südpazifik geschlossen hätten, müssten bindend sein, da die europäischen Regierungen mittels solcher Verträge die Souveränität ihrer Partner anerkannt hätten. Siehe: Ludwig Bendix, Kolonialjuristische und -politische Studien, Berlin: Deutscher KolonialVerlag 1903, S. 25. Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl., 2. Bd., Tübingen: Mohr 1912, S. 282–283 [zuerst, Freiburg: Mohr 1882; Nachdrucke der 5. Aufl., Aalen: Scientia 1964; Goldbach: Keip 1997]. Charles Salomo, L’occupation des territoires sans maîtres, Paris: Giard 1889, S. 68, 83–84, 197. Aber diese Einwände hatten keine Wirkung auf die Praxis der Expansion europäischer Kolonialherrschaft. Siehe dazu auch: Koskenniemi, Civilizer (wie Anm. 26), S. 132, 145. 247 Siehe oben, Anm. 144. Der britische Gouverneur von Nigeria, Lord Lugard, hatte bereits die Stellungnahme abgegeben, die britische Regierung sei nicht gebunden an die Verträge, die sie mit afrikanischen Regierungen geschlossen hatte. Siehe: Frederick John Dealtry Lugard, The Diaries of Lord Lugard, hg. von Margery Perham und Mary Bull, 2. Bd., London: Faber & Faber 1959, S. 27–45. 248 Stellvertretend für diese Ansicht siehe: Hesse, Schutzverträge (wie Anm. 38), S. 159. Thomas Joseph Lawrence, The Principles of International Law, §§ 1, 90, London: Macmillan 1895, S. 1, 136 [ebook, Farmington Hills: Thomson Gale 2004]. Bereits Bluntschli, Völkerrecht (wie Anm. 20), § 76, S. 90, hatte den von

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Zynismus, mit dem die europäischen Kolonialregierungen im Verlauf ihrer Expansion das völkerrechtliche Vertragsrecht anwandten, verhinderte auf lange Zeit die Globalisierung des Völkerrechts, das unter den von europäischen Aggressionen betroffenen Bevölkerungsgruppen als aus Europa importiertes Unrechtssystem erkannt werden musste. Die Ideologen des Kolonialismus erfanden den sogenannten „Kulturfortschritt“ als Scheinbegründung für den Zynismus der europäischen Regierungen im Umgang mit dem völkerrechtlichen Vertragsrecht. Nach dieser Logik waren die europäischen Regierungen darin gerechtfertigt, geltende Verträge zu brechen, wenn auf diesem Weg der nebulöse „Kulturfortschritt“ befördert werden konnte.249 Diese Ideologie diskriminierte Staaten und Bevölkerungsgruppen, deren Angehörige darauf bestanden, nach ihren überkommenen Normen und Werten leben zu wollen. Eine der wichtigsten Normen, die die Europäer durchzusetzen sich bemühten, war der Grundsatz, dass Verträge in Schriftform niedergelegt sein sollten, wenn sie Gültigkeit beanspruchen sollten. Somit geronn unter dem Signum des „Kulturfortschritts“ schon die schlichte Praxis des europäischen Vertragsrechts zum Mittel der Durchsetzung von Normen europäischer Provenienz gegenüber den Opfern europäischer Kolonialexpansion. Die Praxis des Abschlusses zwischenstaatlicher Verträge zwischen afrikanischen und europäischen Regierungen begann im frühen 19. Jahrhundert auf der Basis der wechselseitigen Anerkennung der souveränen Gleichheit. Bei vielen Gelegenheiten kam zunächst das Formular der Friedensverträge zur Anwendung, und zwar auch in Fällen, in denen vor Vertragsabschluss kein Krieg geführt worden war. Das erklärte allgemeine Ziel dieser Verträge war es jeweils, einen beständigen Frieden, Freundschaft und Handelsbeziehungen zu begründen, und zwar auch dann, wenn die Abtretung von Besitzrechten an Land und die Übertragung von Souveränitätsrechten an europäische Regierungen Gegenstände der dispositiven Teile der Verträge waren. In nicht wenigen Verträgen ist die Meistbegünstigungsklausel für beide vertragsschließende Parteien festgeschrieben.250 Obwohl in diesen Verträgen ihm so genannten „Colonialstaten“ die völkerrechtliche Subjektivität genommen und sie ohne weitere Spezifizierung als „halbsouveräne“ Staaten mit besonderen völkerrechtlichen Beziehungen kategorisiert. Siehe dazu: Trutz von Trotha, Koloniale Herrschaft. Zur soziologischen Theorie der Staatsentstehung am Beispiel des „Schutzgebiets“ Togo, Tübingen: Mohr 1994. 249 Fisch, Expansion (wie Anm. 36), S. 284–345. 250 Beispiele für Abkommen mit Friedensvertragsformular sind der Vertrag zwischen den „Kafir“ [Zulu]-Gruppen der Gaika, T’Slambie, Congo and Fingo und dem Vereinigten Königreich vom 10. Dezember 1836, Art. I, in: CTS, 86. Bd., S. 292; der Vertrag zwischen Madagaskar und dem Vereinigten Königreich vom 27. Juni 1865, in: CTS, 131. Bd., S. 266–272; der Vertrag zwischen Imperay und Bagroo sowie dem Vereinigten Königreich vom 21/22. Februar 1872, Art. I, in: CTS,

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die meisten speziellen materiellen Bestimmungen ihres dispositiven Teils nichtreziprok und damit ungleich waren, verfolgten die europäischen Regierungen durch die Verträge bis in die 1870er Jahre weder Strategien der Herbeiführung von Staatensukzession noch das Ziel der Staatszerstörung. Hingegen dienten sie in der Regel der Erhaltung des Status quo sowie der Festschreibung bestimmter, in der Regel auf den Handel bezogener Privilegien, die die vertragsschließenden afrikanischen Regierungen europäischen Händlern eingeräumt hatten. Weiterer Hauptinhalt vieler Verträge zumal zwischen afrikanischen Regierungen und der britischen Regierung war die Durchsetzung des auf dem Wiener Kongress beschlossenen allgemeinen, völkerrechtlichen Verbots des Sklavenhandels.251 Dieser konnte nach britischem Verständnis nur unterbunden werden, wenn die Regierungen der afrikanischen Küstenstaaten sich auf Vertragsbasis dazu bereitfanden, militärisch-politische Maßnahmen zur Beendigung des Sklavenhandels zu unterstützen.252 Die bri144. Bd., S. 259. der Vertrag zwischen Ashanti und dem Vereinigten Königreich vom 13. Februar 1874, Art. I, in: CTS, 147. Bd., S. 272; der Vertrag zwischen Samo und dem Vereinigten Königreich vom 19. April 1875, Art. I, in: CTS, 149. Bd., S. 154; der Vertrag zwischen Dahomey und dem Vereinigten Königreich vom 12. Mai 1877, Art. I, in: CTS, 151. Bd., S. 480; der Vertrag zwischen Dahomey und Frankreich vom 19. April 1878, Art. I, in: CTS, 152. Bd., S. 494; die Verträge zwischen Italien und Shoa [Abessinien] vom 15. März 1883, Art. I, in: CTS, 161. Bd., S. 406, vom 21. Mai 1883, Art. I, in: CTS, 162. Bd., S. 112, und vom 2. Mai 1889, in: CTS, 172. Bd., S. 96; die Verträge zwischen Gohad und Italien vom 17. März 1884, Art. I, in: CTS, 163. Bd., S. 404, und vom November 1884, Art. I, in: CTS, 164. Bd., S. 324; der Vertrag zwischen Sheikh Ali von Wadelai und dem Vereinigten Königreich vom 4. Februar 1894, Art. I, in: CTS, 179. Bd., S. 370. Beispiel für einen Zessionsvertrag, der im Formular des Friedensvertrags gestaltet ist, jedoch nicht auf einen Frieden zwischen der vertragsschließenden Parteien, sondern auf die Erzwingung eines Friedens zwischen afrikanischen Bevölkerungsgruppen gerichtet war: Sherbro-Vertrag (wie Anm. 243). Belege für die wechselseitige Anerkennung der Meistbegünstigung liegen vor in den Verträgen zwischen Madagaskar und dem Vereinigten Königreich vom 27. Juni 1865, Art. I (wie oben), S. 267–268; zwischen Madagaskar und den USA vom 13. Mai 1881 Art. I, Art. IV, no 3, in: CTS, 158. Bd., S. 233, 236. Die von den USA gestützte Regierung von Liberia verwandte das Formular des Friedensvertrags in einem Vertrag mit Nachbarstaaten, der mit dem Ende eines Krieges am 1. März 1876 geschlossen wurde. Siehe: CTS, 150. Bd., S. 356. 251 Declaration Relating to the Universal Abolition of the Slave Trade vom 8. Februar 1815, in: CTS, 63. Bd., S. 473–475. Das Abkommen wurde umgesetzt auf bilateraler Ebene durch Spezialverträge zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich vom 30. November 1831, in: CTS, 82. Bd., S. 271–275; vom 22. März 1833, in: CTS, 83. Bd., S. 259–275; zwischen Portugal und dem Vereinigten Königreich vom 3. Juli 1842, in: CTS, 93. Bd., S. 255–355; sowie in einem weiteren multilateralen Vertrag in der Form der Schlussakte der Brüsseler Konferenz über den afrikanischen Sklavenhandel vom 2. Juli 1890, in: CTS, 173. Bd., S. 293–324. 252 Als späte Beispiele siehe die Verträge zwischen dem Vereinigten Königreich und Sansibar vom 5. Juni 1873, in: CTS, 146. Bd., S. 209–212; und vom 14. Juli

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tische Regierung ging – wie auch andere europäische Regierungen – von der Erwartung aus, dass der Abschluss zwischenstaatlicher Verträge ein wesentliches Mittel sei, um politische Ziele auf längere Frist erreichen zu können. Die europäischen Regierungen gaben bis in die 1870er Jahre hinein der Strategie der Kooperation mit afrikanischen Regierungen den Vorrang gegenüber militärischer Intervention.253 Nicht-herrschaftliche Formen europäischer Einflussnahme galten als „Kulturdünger“.254 Die Frage ist schwer zu beantworten, warum diese Option seit Beginn der 1880er Jahre jenem kaum verhohlenen, mitunter sogar von Zeitgenossen kritisierten255 Zynismus wich, durch den zwischenstaatliche Verträge als „Stück Papier“ abqualifiziert werden konnten, warum mithin auf europäischer Seite der Bereitschaft zur Kooperation die durch zwischenstaatliche, im Protokoll gleicher Verträge leicht bemäntelte militärische Intervention fast überall in Afrika folgte.256 Die Frage ist aber hier weniger zentral als das Resultat des durch sie thematisierten Wandels. Deswegen soll hier das Resultat, nicht die Ursache des Wandels der Einstellungen europäischer Kolonialregierungen gegenüber afrikanischen Staaten am Beispiel Bugandas im ostafrikanischen Zwischenseengebiet untersucht werden. Das Königreich Buganda bestand wohl seit der Wende zum 16. Jahrhundert im Verbund mit anderen Staaten im Innern Ostafrikas und bildete mit diesen ein eigenes internationales System mit regularisierten wirtschaftlichen und politischen Beziehungen.257 Im Gegensatz zum Indischen Ozean, der seit dem Mittelalter ein integriertes Handelssystem darstellte,258 blieb 1875, in: CTS, 149. Bd., S. 339–340; verschiedene Gruppen am Südufer des Kongoflusses und dem Vereinigten Königreich vom 27. März 1876, in: CTS, 150. Bd., S. 403–408 sowie Anizanza und dem Vereinigten Königreich vom 19. April 1876, in: CTS, 150. Bd., S. 413–416. 253 Die einzige bemerkenswerte Ausnahme ist die französische Intervention in Algier im Jahr 1830. 254 Dieses Wort prägte Karl Florenz, Deutschland und Japan, Hamburg: Friederichsen 1911, S. 6 (Deutsche Vorträge hamburgischer Professoren. 6.). 255 Siehe: Joseph Hornung, Civilisés et barbares, in: Revue de droit international et de législation comparée, 17. Jg. (1885), S. 5–18, 447–470, 539–560, 18. Jg. (1886), S. 188–206, 281–298. 256 Fisch, Expansion (wie Anm. 36), S. 332–337, 365–369. Siba N’Zatioula Grovogui, Sovereigns, Quasi-Sovereigns and Africans. Race and Self-Determination in International Law, Minneapolis: University of Minnesota Press 1996, S. 43–76 (Borderlines. 3.). 257 Zu Buganda siehe Bibliografie Nr. 87. 258 Zur arabischen und chinesischen Seefahrt im Indischen Ozean siehe Bibliografie Nr. 105. Zur Darstellung des Indischen Ozeans als Verkehrsnetzwerk siehe: Der Indische Ozean, hg. von Dietmar Rothermund und Susanne Weigelin-Schwiedrzik, Wien: Promedia 2004 (Edition Weltregionen. 9.).

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das innerostafrikanische System von der Küstenzone weitgehend isoliert, war mit dieser nur mehr durch ein von Händlern benutztes Wegenetz verbunden und in seinen Bezügen auf das Binnenland des Zwischenseengebiets begrenzt. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts geriet dieses System jedoch zunehmend unter den Einfluss von zunächst arabischen Kaufleuten, später auch europäischen Abenteurern, Forschungsreisenden, Missionaren und Händlern.259 Seit den 1880er Jahren gewannen die Europäer die Oberhand 259 Zu ihren Berichten siehe: Robert Pickering Ashe, Two Kings of Uganda. Or Life by the Shores of Victoria Nyanza, London: Hodder and Stoughton 1889 [Nachdruck, hg. von John Allan Rowe, London: Cass 1970]. Herbert Henry Austin, With MacDonald in Uganda, London: Edward Arnold 1903 [Nachdruck, hg. von A. T. Matson, Folkestone und London: Dawsons 1973 (Colonial History Series. 84.)]. Verney Lovett Cameron, Across Africa, 2 Bde., London: Daldy, Isbister & Co.; Leipzig: Tauchnitz 1877 [Neuaufl., London: Philip 1885; Nachdrucke der 1. Aufl., New York: Negro University Press 1969; Findon: Ripping Yarns 2004]. Charles ChailléLong, Mission to King M’tesa, in: Proceedings of the Royal Geographical Society. O. S., 19. Jg. (1875), S. 107–111. Chaillé-Long, Uganda and the White Nile, in: Journal of the American Geographical Society 8. Jg. (1876), S. 285–304. ChailléLong, My Life in Four Continents, London: Hutchinson 1912. James Augustus Grant, A Walk across Africa, Edinburg und London: Blackwood 1864 [Nachdruck, Whitefish, MT: Kessinger 2007]. Grant, Papers of James Augustus Grant (1827–92) and John Hanning Speke (1827–64) from the National Library of Scotland, 17 Mikrofilme, Marlborough: Matthew 2003 (Colonial Discourses, Series 2: Imperial Adventurers and Explorers. 2.). Frederick John Dealtry Lugard, The Rise of Our East African Empire, 2. Bd., Edinburg und London: Blackwood 1893 [Nachdruck, London: Cass 1978 (Cass Library on African Studies. 71.)]. Lugard, Travels from the East Coast to Uganda, in: Proceedings of the Royal Geographical Society. N. S., 14. Jg. (1892), S. 817–841. Lugard, The Story of the Uganda Protectorate, London: Horace Marshall 1900 [auch in: The Story of the Empire, hg. von Howard Angus Kennedy, London: Marshall 1901]. James Ronald Leslie MacDonald, Soldiering and Surveying in British East Africa, London: Edward Arnold 1897 [Nachdruck, hg. von A. T. Matson, Folkestone und London: Dawsons 1973]. John Hanning Speke, Journal of the Discovery of the Source of the Nile (Edinburg und London: Blackwood 1863 [2. Aufl., ebenda 1864; Neudruck, London: Dent 1906 (Everyman’s Library. 1050.); Nachdruck dieser Ausg., hg. von John Norman Leonard Baker, London: Dent 1969; weiterer Nachdruck, hg. von John Norman Leonard Baker, London: Dent 1975; weitere Nachdrucke, Amsterdam: Time-Life Books 1982; Mineola, NY: Dover 1996; Eugene, OR: Resource Publications 2007; MikroficheNachdruck, Cambridge: Chadwyck-Healey 1990]. Speke, The Upper Basin of the Nile from Inspection and Information, in: Journal of the Royal Geographical Society 33. Jg. (1863), S. 322–334. Speke, What Led to the Discovery of the Source of the Nile, Edinburg und London: Blackwood 1864 [Nachdruck, London: Cass 1967 (Cass Library of African Studies. Travels and Narratives 18.); Mikrofiche-Nachdruck, Cambridge: Chadwyck-Healey 1990; deutsche Fassung, Leipzig: Brockhaus 1864; auch hg. von Walter Rusch, 2 Bde., Berlin: Ed. Ost 1995 (Cognoscere. 3.); weitere Ausg. u. d. T.: Richard Francis Burton und John Hanning Speke, Der Nil und seine Quellen. Reisen nach den Binnenseen Afrikas und Entdeckung der Quellen des Nils. 1857–1863, Berlin: Hasselberg 1864; französische Fassungen, Paris: Hachette 1864; 1865; 1867]. Henry Morton Stanley, Letters on His Journey to the

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über die Araber und beschleunigten den Prozess der wirtschaftlichen Integration des Systems mit der Küstenzone und darüber hinaus in das europäisch kontrollierte Welthandelssystem. Zudem erwies sich die Missionstätigkeit der Katholischen Kirche wie auch der verschiedenen untereinander konkurrierenden protestantischen Sekten260 als wirksames Bollwerk gegenüber dem von Norden und Nordosten her vordringenden Islam und zugleich als Mittel zum Kampf gegen traditionelle Religionen. Das Zwischenseegebiet geriet so zum Schlachtfeld gegnerischer missionarischer Bestrebungen, die sich gegenseitig zu neutralisieren, wenn nicht auszuschalten trachteten.261 Die Folge war die Entstehung und Verfestigung rivalisierender Konvertitengruppen unter der afrikanischen Bevölkerung. Unter den entstehenden Rivalitäten litt die Legitimität der afrikanischen Herrscher, die sich aus Gründen der Bildung und Erhaltung von Klientelen mal für die eine, mal für die andere Religion oder Sekte entscheiden mussten und dadurch die Gegnerschaft der Angehörigen der jeweils nicht gewählten Religionen oder Sekten heraufbeschworen. Im Ergebnis kam es zu militärischen Konfrontationen, die auch die im Gebiet tätigen europäischen Missionare in Mitleidenschaft zogen und eine Intensivierung der Handelsbeziehungen mit Europa in Frage stellten. Die Kämpfe schienen daher das Vordringen der europäischen Missionare und Kaufleute zu behindern, die nach Schutz durch europäische Regierungen riefen. Hinzu trat die Konkurrenz der europäischen Kolonialregierungen untereinander, die nicht nur jeweils nationale Handelsorganisationen wie die Imperial British East Africa Company oder die Deutsche Afrika-Gesellschaft unterstützten, sondern auch Missionarsgruppen der ihnen nahestehenden Sekten. So förderte die französische Regierung die Tätigkeit katholischer Missionare, die britische Regierung diejenige der Anglikanischen Kirche und die deutsche Regierung diejenige deutscher protestantischer Sekten. Jede der beteiligten europäischen Kolonialregierungen war bestrebt, das Gebiet insgesamt für sich zu reklamieren. Seit der Berliner Afrikakonferenz von 1884/85 waren Verträge die juristische Basis für koloniale Expansionsbestrebungen. Verträge mussten aus europäischer Sicht nicht allein mit afrikanischen Regierungen geschlossen werden, um die wechselseitige Anerkennung der souveränen Gleichheit Victoria Nyanza and Circumnavigation of the Lake, in: Proceedings of the Royal Geographical Society, O. S., 29. Jg. (1876), S. 134–153. Stanley, Through the Dark Continent, London: Sampson Low, Marston, Searle & Rivington 1878 [weitere Ausg., ebenda 1887; ebenda 1890; London: Newnes, 1899; Nachdruck (New York: Dover; London: Constable 1988; Mikrofiche-Nachdruck, Toronto: Magurn; Yarmouth, NS: Killam o. J.)]. 260 Zum Einfluss der Missionen siehe Bibliografie Nr. 106. 261 Zum Islam in Ostafrika siehe Bibliografie Nr. 107.

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festzuschreiben, sondern um Rechtstitel für die Entsendung zivilen und militärischen Personals in die Zielgebiete der europäischen Expansion bereitzustellen.262 Nach der Schlussakte der Berliner Konferenz war jede beteiligte Partei, die „an den Küsten des afrikanischen Kontinents Besitzungen“ zusätzlich zu dort bereits unter ihrer Kontrolle stehenden Landstrichen errichten wollte, verpflichtet, die übrigen Konferenzparteien von dieser ihrer Absicht zu unterrichten. Die Okkupation oder Inbesitznahme afrikanischen Territoriums sollte nicht auf papierne Rechtstitel begrenzt, sondern auf erkennbares Handeln gestützt sein. Als solches sollte die Anwesenheit zivilen und militärischen Personals der okkupierenden oder in Besitz nehmenden europäischen Kolonialregierung gelten. Die Okkupation sollte, Artikel VI der Schlussakte zufolge, die Kolonialregierungen dazu verpflichten, die „Eingeborenen zu belehren und zu ihnen die Segnungen der Zivilisation zu bringen“.263 Obschon die Teilnehmer der Berliner Konferenz die Bedeutung der dort getroffenen Absprachen niedrig hängten und darin unter späteren Historikern Zustimmung fanden, trug die Konferenz tatsächlich dazu bei, das Prinzip zur Anerkennung zu bringen, dass europäische Expansion auf den afrikanischen Kontinent in der Form manifester Herrschaftsausübung mit zivilen und militärischen Mitteln stattzufinden habe.264 Die Regierungen Frankreichs und des Deutschen Reiches erwarteten, dass dieser Grundsatz der Praxis der papiernen Rechtstitel entgegenwirken werde. Insbesondere Bismarck, der der Konferenz vorstand, sowie die Vertreter Frankreichs glaubten, auf diesem Weg das weitere Vordringen des Vereinigten Königreiches in Afrika und darüber hinaus die weitere Ausdehnung des britischen 262 Zur Explikation der relevanten rechtlichen Belange siehe: Jörg Fisch, Africa (wie Anm. 21), S. 347–345. W. Ross Johnston, Sovereignty and Protection. A Study of British Jurisdictional Imperialism in the Late Nineteenth Century, Durham, NC: Duke University Press 1973, S. 167–225 (Duke University Commonwealth-Studies Center Series. 51.). Korman, Right (wie Anm. 22), S. 44, 56–66. Koskenniemi, Civilizer (wie Anm. 26), S. 116–127. Ronald Robinson und John Gallagher, Africa and the Victorians, London: Macmillan; New York: St Martin’s Press 1961 [Nachdrucke, ebenda, 1965; 1966; 1967; 1974); 2. Aufl., ebenda 1981]. Saadia Touval, Treaties, Borders, and the Partition of Africa, in: Journal of African History 7. Jg. (1966), S. 279–292. 263 Schlussakte der Berliner Konferenz, Art. XXXV, Art. XXXIV, Art. VI., in: CTS, 165. Bd., S. 499, 501. The Scramble for Africa. Documents on the Berlin African Conference and Related Subjects. 1884–1885, hg. von Robert J. Gavin und J. A. Betley, Ibadan: Ibadan University Press 1973. Siehe dazu: Anaya, Peoples (wie Anm. 71), S. 25. 264 So fasste der britische Botschafter bei der Konferenz Sir Edward Malet die Ergebnisse dahingehend zusammen, dass „international duties on the African coast remain such as they have been hitherto understood“. Zitiert nach: Johnston, Sovereignty (wie Anm. 262), S. 185. Siehe auch: Sybil Eyre Crowe, The Berlin West African Conference. 1884–1885, London und New York: Longman, Green & Co. 1942, S. 190–191 [Nachdruck, Westport, CT: Greenwood Press 1970].

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Welthandelsnetzes verhindern zu können. Bismarck erreichte indessen nur den minimalen Kompromiss, dass die beteiligten Regierungen sich darauf verständigten, ihre Absicht, weitere „Besitzungen“ zu errichten, öffentlich kundzutun. Selbst dieser von Bismarck eingeforderte Grundsatz blieb aber ohne rechtliche Bindung. Die Konferenz brachte zwar keine völkerrechtlich bindende Übereinstimmung darüber zustande, wie die europäische Inbesitznahme oder Okkupation Afrikas zu regeln sei. Deutlich wurde nur, dass Inbesitznahme und Okkupation nicht mehr, wie im Kriegsvölkerrecht des 17. Jahrhunderts, militärisch definierte Begriffe waren, die auf Kriegszeit begrenzte Kontrolle bestimmter Teile gegnerischen Landes durch Streitkräfte bezeichneten. Zwar fand diese Bedeutung des Begriffs der Okkupation noch im Nanjing-Vertrag von 1842 gegenüber China Anwendung, gegenüber Afrika jedoch setzte sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts unter den europäischen Kolonialregierungen die Vorstellung durch, dass Inbesitznahme oder Okkupation mit zivilen und militärischen Mitteln als effektive Kontrolle von Land und dessen Bewohnern unabhängig davon vorgenommen werden könne, ob Kriegszustand bestehe oder nicht. Das Formular des Friedensvertrags diente daher in Afrika der Legitimation von Staatszerstörung. In der Praxis aber setzte sich die Rechtsform des „Protektorats“ weitgehend durch, obwohl unklar blieb, wodurch der Rechtsbegriff der Inbesitznahme oder Okkupation von dem des „Protektorats“ unterschieden sein sollte. Denn beide Begriffe wurden in der Folgezeit unterschiedslos verwendet.265 Gleichwohl verhielten sich die europäischen Kolonialregierungen in den folgenden 20 Jahren erstaunlich kooperativ und taten alles, um ihre Rivalitäten auf dem afrikanischen Kontinent nicht in offene militärische Gegnerschaft entwickeln zu lassen. Gelegentlich kam es vor, dass eine europäische Regierung einen Vertrag mit einem afrikanischen Herrscher abschloss, der bereits zuvor mit einer anderen europäischen Regierung vertraglich verbunden war. In diesem Fall löste man das Problem auf europäischer Seite mit Hilfe der Diplomatie. So gab die deutsche Regierung nach, als sie mit der britischen Regierung über einen Küstenstrich im heutigen Nigeria in Konflikt geriet.266 In einigen anderen Fällen sagte eine 265 Declaration Respecting the Taking of Possession by France of Madagascar, 18. Januar 1896, in: CTS, 182. Bd., S. 275–276. Im Deutschen setzte sich gegen Ende des 19. Jahrhundert das aus dem Englischen entlehnte Wort „Schutzgebiet“ durch. So: Erich Dietzel, Der Erwerb der Schutzgewalt über die deutschen Schutzgebiete. Jur. Diss., Leipzig 1909, S. 76. Heribert, Schwörbel, Die staats- und völkerrechtliche Stellung der deutschen Schutzgebiete. Jur. Diss., Erlangen 1906, S. 18–20. Zur Terminologie siehe: Jörn Axel Kämmerer, Das Völkerrecht des Kolonialismus. Genese, Bedeutung und Nachwirkungen, in: Verfassung und Recht in Übersee 39. Jg. (2006), S. 404–409. 266 Vertrag zwischen Mahin und dem Vereinigten Königreich vom 24. Oktober 1885, in: CTS, 165. Bd., S. 70–72.

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europäische Regierung zu, zuvor geschlossene Verträge mit anderen Regierungen zu respektieren.267 Hingegen erlegten seit der Berliner Afrikakonferenz viele Verträge afrikanischen Regierungen die Verpflichtung auf, ohne Zustimmung ihres europäischen Vertragspartners keine Verträge mit anderen ausländischen Regierungen zu schließen.268 Die Wahl des zwischenstaatlichen Vertrags als Rechtsform kolonialer Expansion hatte zur Voraussetzung, dass Staatensukzession von europäischer Seite in der Regel nicht angestrebt werden sollte, sondern die „Protektorate“ auf der Basis von Verträgen unter souveränen Staaten und unter Beibehaltung der Souveränität der afrikanischen Staaten zustande kommen mussten. Zu gleicher Zeit aber mussten die expandierenden europäischen Kolonialregierungen bestrebt sein, ihre eigenen souveränen Herrschaftsansprüche denen der Regierungen der afrikanischen Staaten überzuordnen. Der Widerspruch zwischen Form und Inhalt vieler Verträge führte wiederum dazu, dass die die Gleichheit der souveränen Vertragspartner betonenden Protokolle mit ungleichen dispositiven Teilen kombiniert werden mussten. In anderen Fällen wandte die europäische Seite sogar dasselbe Formular an, um die Abtretung der Souveränität durch die beteiligten afrikanischen Regierungen zu stipulieren.269 In einigen weiteren Fällen ging man so weit, die Souveränität afrikanischer Vertragspartner zu vernichten, deren Souveränität man zuvor völkerrechtlich anerkannt hatte.270 In dem Maß, in dem die Verträge die Souveränität der afrikanischen Vertragspartner auslöschten, fand Staatszerstörung statt, ohne dass neue Staaten sofort errichtet wurden. Ohne Staatensukzession herbeizuführen, ersetzten die Verträge ehemalige Staaten durch neue Zonen europäischer Kolonialherrschaft. Hingegen blieben in den vielen Fällen, in denen „Protektorate“ zustande kamen, die afrikanischen Staaten als Völkerrechtssubjekte bestehen, und Staatensukzession fand ebenfalls nicht statt. Da die europäischen Kolonialregierungen zugleich bestrebt waren, sich selbst als Träger von Oberherrschaft in Afrika zu etablieren, musste jede von ihnen sicherstellen, dass ihre Rivalen in derselben Zone ausgeschaltet wurden.271 Deswegen wurde Afrika in 267 Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und Togo vom 15. Juli 1884, in: CTS, 164. Bd., S. 213–215. 268 Zum Beispiel der Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und Manasse vom 2. September 1885, in: CTS, 165. Bd., S. 11–12. 269 Vertrag zwischen den Herrschern am Scarcies River und dem Vereinigten Königreich vom 10. Juni 1876, Art. II, in: CTS, 150. Bd., S. 463. 270 Vertrag zwischen Frankreich und Samo vom 3. April 1879, Art. I, in: CTS, 155. Bd., S. 33, der den Vertrag zwischen Samo und dem Vereinigten Königreich vom 19. April 1875, in: CTS, 149. Bd., S. 154–157, ersetzte. 271 Vertrag zwischen Frankreich und Madagaskar vom 1. Oktober 1895, in: CTS, 182. Bd., S. 74–76, durch den die früheren gleichen Verträge nichtig wurden (siehe oben, Anm. 250). Im Fall Madagaskars verpflichtete sich die französische Regie-

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Zonen europäischer Kolonialherrschaft auch dort aufgeteilt, wo „Protektorate“ entstanden. Der Rechtsinhalt der Verträge und die politischen Intentionen der europäischen Kolonialregierungen waren unvereinbar mit dem gewählten, die Souveränität der Vertragsparteien ausdrückenden und aus der Tradition der Friedensverträge stammenden Formular. In Ostafrika fand dieser Vorgang nach der Berliner Afrikakonferenz in den 1890er Jahren statt und war im Jahr 1901 de facto abgeschlossen. Die britische Regierung entschied sich zur Errichtung eines Kenya Protectorate im Jahr 1895, wohin britische Emigranten als Siedler gelenkt werden sollten. Diese sollten dort den Aufbau einer dem Vereinigten Königreich verfügbaren Plantagenwirtschaft leisten und für den Absatz britischer Industrieprodukte sorgen. Die britische Inbesitznahme Kenias kam dem Ausschluss aller europäischen Mitbewerber gleich. Folglich errichtete die britische Regierung ihre Herrschaft in Kenia ohne zwischenstaatliche Verträge.272 Die öffentlichen Besitzrechte der afrikanischen Bevölkerungsgruppen in allen Teilen des Gebiets sowie deren private Besitzrechte in denjenigen Teilen, die für die Plantagenwirtschaft als geeignet befunden wurden, wurden mit rassistischen Begründungen unterdrückt. Diesen Begründungen zufolge hatten in britischer Sicht die im Gebiet des „Protektorats“ zuvor bestehenden Politien keinen Staatscharakter, waren daher unzivilisiert und standen dem Oktroi britischer Herrschaft und der Enteignung der afrikanischen Bevölkerungsgruppen ohne weiteres offen.273 Der Vorgang der Errichtung des britischen „Protektorats“ Kenia vollzog sich ohne Einsprüche anderer europäirung nicht einmal dazu, Verträge zu respektieren, die zuvor von anderen Regierungen in Europa und Amerika mit der Regierung von Madagaskar geschlossen worden waren. 272 Edward Hertslet, The Map of Africa by Treaty, 3. Aufl., 1. Bd., London: HMSO 1909, S. 380, 383 [zuerst, London: HMSO 1895; Nachdruck, London: Cass 1967]. Siehe auch: Marjorie Ruth Dilley, British Policy in Kenya, New York: Nelson 1937 [Nachdruck, London: Cass 1966]. Zur sogenannten dualen Wirtschaft siehe: Roger Maurice Arthur van Zwanenberg und Anne King, An Economic History of Kenya and Uganda, London: Macmillan 1975. Zur Imperial British East Africa Company siehe: Marie J. de Kiewiet Hemphill, History of the Imperial British East Africa Company. 1876–1894. Phil. Diss., Masch., University of London 1953. 273 James Lorimer, The Institutes of the Law of Nations. A Treatise of the Jural Relations of Separate Political Communities, 1. Bd., Edinburg und London: Blackwood 1883, S. 227–228, 2. Bd., ebenda 1884, S. 28 [Nachdruck, Clark, NJ: Lawbook Exchange 2005; Mikrofiche-Nachdruck, Cambridge: Chadwyck-Healey 2002]. Spätere und radikalere Versionen dieses Arguments konnten sogar ein „Recht“ auf Staatszerstörung postulieren. Siehe: Pasquale Fiore, Du protectorat colonial et de la sphère d’influence (hinterland), in: Revue général de droit international publique 14. Jg. (1907), S. 150. Vico Mantegazza, Tripoli e i diritti della civiltà, Mailand: Treves 1912, S. 23. Zu diesen Argumenten siehe: Fisch, Expansion (wie Anm. 36), S. 292–295.

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scher Kolonialregierungen. Er hatte zur Folge, dass ein Teil des früher geschlossen gewesenen innerostafrikanischen internationalen Systems mit dem Küstenstreifen des Indischen Ozeans in das europäische Welthandelssystem integriert wurde, soweit die britische Regierung diese Integration gestattete. Im gleichen Stil verfuhr zur selben Zeit die deutsche Regierung mit der Errichtung ihres „Protektorats“ im Gebiet Tanganyika in Ostafrika, ohne Aufsehen in Europa zu erregen. Das geschah selbst dann nicht, als die deutsche Regierung einseitig ihr „Protektorat“ in den Status einer Kronkolonie änderte. Wiederum wurde ein Teil des innerostafrikanischen internationalen Systems mit der Küstenzone am Indischen Ozean in das europäische System des Welthandels integriert. Die Grenzen zu den benachbarten Gebieten unter britischer Kontrolle wurden einvernehmlich auf dem Reißbrett abgesteckt.274 Der britisch-deutsche Helgoland-Sansibar-Vertrag bestätigte die ohnehin unbestritten gewesene deutsche Herrschaft in Tanganyika, beendete aber den britisch-deutschen Streit über die Kontrolle Sansibars, indem beiden Seiten ein Tauschgeschäft vereinbarten. Das bis dato britische Helgoland sollte unter deutsche Herrschaft gestellt werden, während Sansibar unter britische Herrschaft kam. Da der Helgoland-Sansibar-Vertrag ohne Mitwirkung afrikanischer Bevölkerungsgruppen und deren Regierungen zustande kam, reduzierte er die betroffenen Staaten zu Objekten des Völkerrechts. Ohne ausdrückliche Erklärung kamen die beiden Regierungen überein, die zuvor zugestandene Souveränität des Sultanats Sansibar zu ignorieren. In der Folgezeit tolerierten beide Regierungen die brutale Unterdrückung von Widerstandsbewegungen in den Zonen des jeweiligen Partners, wie etwa in Sansibar im Jahr 1896 und in Tanganyika zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Abschluss völkerrechtlicher Verträge wurde zum Instrument der Staatszerstörung.275 274

Hertslet, Map (wie Anm. 272), 3. Bd., S. 882–890. Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und dem Vereinigten Königreich über Sansibar, Helgoland und die Einflusssphären der beiden Staaten in Africa vom 1. Juli 1890, Art. XI, XII, in: CTS, 173. Bd., S. 271–284. Der Vertrag regelte zudem die Grenzen der deutschen „Protektorate“ in Südwest- und Westafrika. Die umfassendste Korrespondenz zu dem Abkommen liegt vor in: Die Große Politik der Europäischen Kabinette. 1871–1914, hg. von Johannes Lepsius, Albrecht Mendelssohn Bartholdy und Friedrich Thimme, 4. Bd., Berlin: Deutsche Verlags-Gesellschaft für Politik und Geschichte 1927, S. 131–178. Schwörbel, Stellung (wie Anm. 265), S. 16–17, ging davon aus, dass es Tatsache sei, dass der Sultan von Sansibar vor dem Vertrag als Souverän anerkennt gewesen sei. Zu dem britisch-deutschen Rapprochement über Sansibar siehe: Jack Richard Dukes, Helgoland, Zanzibar, East Africa. Colonialism in German Politics. 1884–1890. Ph.D. Diss., Masch., Urbana: University of Illinois 1970. John Milner Gray, Anglo-German Relations in Uganda. 1890–1892, in: Journal of African History 1. Jg. (1960), S. 281–297. Heinrich Loth, Griff nach Ostafrika. Politik des deutschen Imperialismus und antikolonialer Kampf, Berlin [DDR]: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1968. Koskenniemi, Civilizer (wie 275

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Die übrigen Teile Ostafrikas hatten ein anderes Schicksal. Die Hochebenen zwischen den großen Seen und dem zentralen afrikanischen Gebirgsmassiv zogen seit den 1850er Jahren die Aufmerksamkeit europäischer Abenteurer und Forschungsreisender auf sich, die dort die Quellen des Nils vermuteten und aufzufinden bestrebt waren.276 Sie standen untereinander im Wettbewerb um den Ruhm, als erste Europäer die Nilquellen aufgesucht zu haben. Mit Unterstützung aus öffentlichen Mitteln bereiteten nationale geografische Gesellschaften in einigen europäischen Staaten Expeditionen in das Innere Ostafrikas vor.277 Den Wettbewerb gewann – wenn auch zunächst umstritten – im Jahr 1862 die Royal Geographical Society in LonAnm. 26), S. 116–121. William Roger Louis, The Anglo-German Hinterland Settlement of 1890 and Uganda, in: Uganda Journal 27. Jg. (1963), S. 71–83. Es ist deswegen unbegründet, wenn David Strong, Contested Sovereignty. The Social Construction of Colonial Imperialism, in: State Sovereignty as a Social Construct, hg. von Thomas J. Biersteker und Cynthia Weber, Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 35, apologetisch behauptet, die europäische Expansion während des Imperialismus „occurred on private initiative, with only formal state sponsorship“. 276 Die Berichte sind von: Samuel White Baker, Account of the Discovery of the Second Great Lake of the Nile, in: Proceedings of the Royal Geographical Society. O. S., 10. Jg. (1865), S. 6–27. Baker, Circumnavigation of the Albert Nyanza, in: Proceedings of the Royal Geographical Society. O. S., 20. Jg. (1870), S. 471–473. Baker, The Albert Nyanza, Great Basin of the Nile, and Exploration of the Nile Sources, 2 Bde., London: Macmillan; Philadelphia: Lippincott 1866 [weitere Ausg., London: Macmillan 1867; 1869; Neuausg., ebenda 1872; weitere Ausg., ebenda 1877; 1883; 1892; 1898; Nachdrucke, London: Sidgwick & Jackson 1962; Boston: Indypublish 2008; Mikrofiche-Nachdruck, Cambridge: Chadwyck-Healey 1990]. Richard Francis Burton, The Lake Regions of Central Africa, 2 Bde., London: Longman 1860 [zuerst in: Journal of the Royal Geographical Society of London (1859); Nachdruck, hg. von Alan Moorehead, London: Sidgwick & Jackson 1961; weitere Nachdrucke, London: Folio Society 1993; New York: Dover 1995; Santa Barbara, CA: Narrative Press 2001; ebook, Palto, CA: ebrary 2003]. Burton, Lake Tanganyika, Ptolemy’s Western Lake-Reservoir of the Nile, in: Proceedings of the Royal Geographical Society. O. S., 9. Jg. (1864), S. 6–14. Burton, The Search for the Source of the Nile. Correspondence between Captain Richard Burton, Captain John Speke and Others, from Burton’s Unpublished East African Letter Book. Together with the Related Letters and Papers in the Collection of Quentin Keynes, Esq., Now Printed for the First Time, hg. von Donald Young, London: Roxburghe Club 1999. Robert William Felkin, Journey to Victoria Nyanza and Back viâ the Nile, in: Proceedings of the Royal Geographical Society. N.S., 2. Jg. (1880), S. 357–363. Speke (wie Anm. 259). Siehe dazu: Edward A. Alpers, Charles Chaillé-Long’s Mission to Mutesa of Buganda, in: Uganda Journal 29. Jg. (1964), S. 1–11. John Norman Leonard Baker, Sir Richard Burton and the Nile Sources, in: Uganda Journal 12. Jg. (1948), S. 61–71 [zuerst in: English Historical Review 59. Jg. (1944), S. 49–61]. Egidio Bellorini, Miani e Speke alla scoperta delle sorgenti del Nilo, Turin: Paravia 1932. Robert I. Rotberg, Africa and Its Explorers, Cambridge, MA, und London: Harvard University Press 1970. 277 Zur Rezeption der Ergebnisse der frühen Expeditionen siehe Bibliografie Nr. 87.

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don, als ihre zweite Expedition von der Küste des Indischen Ozeans aus nach Informationen arabischer Kaufleute sowie unter Verwendung von Kenntnissen und unter Anleitung von Sachkennern aus der einheimischen Bevölkerung den größten ostafrikanischen Binnensee erreichte und als Nilquelle definierte.278 In der Folgezeit verbreitete sich der Name Lake Victoria (Viktoriasee) für dieses Gewässer, während die Royal Geographical Society die weitere Erschließung des umliegenden Gebiets unter britischer Führung betrieb. Im Jahr 1876 trafen Missionare der Church Missionary Society der Anglikanischen Kirche ein.279 Doch schon zuvor waren Rivalen aus Italien,280 Belgien,281 dem Deutschen Reich282 Frankreich283 und Ägyp278 Zur Beteiligung ostafrikanischer Sachkenner an den Expedition Spekes siehe: Donald Herbert Simpson, Dark Companions. The African Contribution to the European Exploration of East Africa, London: Elek 1975. 279 Zur Mission der Anglikanischen Kirche siehe: George Knyton Baskerville und George Lovett Pilkington, The Gospel in Uganda, London Church Missionary Society 1896. Edwin Collas Dawson, James Hannington. A History of His Life and Work. 1847–1885, London: Seeley 1887. Robert William Felkin and Charles Thomas Wilson, Uganda and the Egyptian Soudan, 2 Bde., London: Sampson Low 1882 [Nachdruck, Boston: Adamant Media 2005]. Edward Hutchinson, The Victoria Nyanza, a Field for Missionary Enterprise, London: Murray 1876. Alexina Harrison (Mackay), Alexander M. Mackay. Pioneer Missionary for the Church Missionary Society to Uganda, London: Hodder & Stoughton 1892 [Nachdruck, hg. von Donald Anthony Low, London: Cass 1970 (Cass Library of Africa Studies. Missionary Researches and Travels 14.); deutsche Fassung, Leipzig: Hinrichs 1902]. Charles Thomas Wilson, Missionär Wilson bei König Mtesa in Uganda, in: Globus 34. Jg. (1878), S. 380–381. Wilson, Account of Events on the Victoria Nyanza as Reported by C. T. Wilson, in: Proceedings of the Royal Geographical Society. N. S., 1. Jg. (1879), S. 136. Wilson, Uganda and the Victoria Lake, in: Proceedings of the Royal Geographical Society. N. S., 2. Jg. (1880), S. 353–357. 280 Giovanni Miani, [Karte] Esplorazione verso le originie del Nilo seguita da Giovanni Miani 1859–60, hg. von Victor-Adolphe Malte-Brun, Kairo: s. n. 1864. Miani, Diari e carteggi, hg. von Gabriele Rossi-Osmida, Mailand: Longanesi 1973. Zu Miani siehe: Roberto Almiagià, Il viaggiatore G. Miani e le sue raccolte etnografiche, in: Venezia (1927), S. 511–531. Egidio Bellorini, Miani e Speke alla scoperta delle sorgenti del Nilo, Turin: Paravia 1932. Sofia van Matre Bompiani, Italian Explorers in Africa, London: Religious Tract Society 1891 (Leisure Hour Library. N. S., 3. Bd.) [Mikrofiche-Nachdruck, Cambridge: Chadwyck-Healey 1999]. Harold Beken Thomas, Giovanni Miani and the White Nile, in: Uganda Journal 5. Jg. (1939), S. 176–194. 281 Ernest Linant de Bellefonds, Account of Stanley’s Visit to King M’TESE’s Capital, in: Journal of the American Geographical Society 7. Jg. (1875), S. 283–289. Linant de Bellefonds, Voyage de service fait entre le porte militaire de Fatiko et la capitale de M’tesa roi d’Uganda, in: Bulletin trimestriel de la Société Khédiviale de Géographie du Caire, 1. Série (1876/77), S. 1–104. Zu Linant de Bellefonds siehe: John Milner Gray, Ernest Linant de Bellefonds, in: Uganda Journal 28. Jg. (1964), S. 31–54. Harold Beken Thomas, Ernest Linant de Bellefonds and Stanley’s Letter to the Daily Telegraph, in: Uganda Journal 2. Jg. (1934), S. 7–13.

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ten284 auf den Plan getreten. Zahlreiche Verträge wurden geschlossen.285 Insbesondere Carl Peters versuchte seit 1884, die deutsche Öffentlichkeit 282

Zu Peters siehe: Henry Martin Bair, Jr, Carl Peters and German Colonialism. A Study in the Ideas and Actions of Imperialism. Ph. D. Diss., Masch., Stanford University 1968. Zu den Missionen, die vom Deutschen Reich aus unterstützt wurden siehe: Johannes Baumgarten, Ostafrika, der Sudan und das Seengebiet. Land und Leute. Naturschilderungen, charakteristische Reisebilder und Scenen aus dem Volksleben. Aufgaben und Kulturerfolge der christlichen Miussion, Sklavenhandel. Die Antisklavereibewegung, ihre Ziele und ihr Ausgang, Gotha: Perthes 1890. Julius Richter, Uganda. Ein Blatt aus der Geschichte der evangelischen Mission und der Kolonialpolitik in Centralafrika, Gütersloh: Bertelsmann 1893. 283 Zu Reisenden aus Frankreich und den Pères Blancs, die als katholische Missionare in Uganda stationiert waren, siehe: Joseph Bouniol, The White Fathers and Their Missions, London: Sands 1928. Julien L. Gorju, Entre le Victoria, l’Albert, et l’Edouard, Rennes: Oberthür 1920. J. Mercui, L’Ouganda, la mission Catholique et les agents de la Compagnie Anglaise, Paris: Procure des missions d’Afrique 1893. Augustin Nicq, La vie du Père Siméon Lourdel, Paris: Poussielgue 1866 [Neuausg., Algier: Maison-Carée 1906]. 284 Der deutsche Abenteurer Eduard Schnitzer drang unter dem Namen Emin Pascha als Gouverneur der ägyptischen Provinz Äquatoria in das Gebiet vor, trat aber 1889 in deutsche Dienste über. Zu seinen Aktivitäten siehe: Mehmed Emin Pascha [d. i. Eduard Schnitzer], Eine Sammlung von Reisebriefen und Berichten, hg. von Georg Schweinfurth und Friedrich Ratzel, Leipzig: Brockhaus 1888 [englische Fassung, London: Philip 1888]. Emin, Die Tagebücher, 4 Bde., hg. von Franz Stuhlmann, Hamburg: Westermann 1916–1927. John Milner Gray, Hg., The Diaries of Emin Pascha, in: Uganda Journal 25. Jg. (1961), S. 1–12, 149–165, 26. Jg. (1962), S. 72–96, 121–37, 27. Jg. (1963), S. 1–9, 143–161, 28. Jg. (1964), S. 76–93, 201–216, 29. Jg. (1965), S. 75–83, 201–214. Arthur Jeremy Mounteney Jephson, Emin Pascha and the Rebellion at the Equator, London: Sampson Low, Marston, Searle & Rivingston; New York: Scribner 1890. Georg Schweitzer, Emin Pascha. Eine Darstellung seines Lebens und Wirkens mit Benutzung seiner Tagebücher, Briefe und wissenschaftlichen Aufzeichnungen, Berlin: Walther 1898. Henry Morton Stanley, In Darkest Africa. Or The Quest, Rescue and Retreat of Emin, Governor of Equatoria, 2 Bde., London: Sampson Low 1890) [Neuausg., London: Sampson Low, Marston & Co. 1893; weitere Ausg., ebenda 1897; 1904; Nachdruck, Santa Barbara, CA: Narrative Press 2001; Mikrofiche-Nachdruck, Cambridge: Chadwyck-Healey 1990; ebook, Palo Alto: ebrary 2005]. Stanley, Geographical Results of the Emin-Pascha Relief Expedition, in: Proceedings of the Royal Geographical Society. N. S., 12. Jg. (1890), S. 313–331, 372. Franz Stuhlmann, Mit Emin Pascha ins Herz von Afrika, Berlin: Reimer 1894. Zum Treiben Emin Paschas siehe: Archibald Ranulph Dunbar, Emin Pascha and Bunyoro-Kitara. 1877 to 1889, in: Uganda Journal 24. Jg. (1960), S. 71–83. Robert William Felkin, The Position of Dr Emin Bey, in: Scottish Geographical Magazine 2. Jg. (1886), S. 705–717. John Milner Gray, Dr. Emin and Mutesa of Buganda, in: Uganda Journal 28. Jg. (1964), S. 123–125. 285 John Milner Gray, Early Treaties in Uganda. 1888–1891, in: Uganda Journal 12. Jg. (1948), S. 25–42. Harold Beken Thomas, More Early Treaties in Uganda. 1891–96, in: Uganda Journal 13. Jg. (1959), S. 171–176. Provisional Agreement between King Mwanga of Uganda and Sir G[erald] Portal vom 29. Mai 1893, in:

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und insbesondere Reichskanzler Bismarck für die Eroberung von Kolonien zu gewinnen.286 In einer Phase der Krise britischen Einflusses in Buganda schloss er im Jahr 1889 einen Vertrag mit dem König von Buganda ab. Bismarck kassierte diesen Vertrag und ging im folgenden Jahr das Tauschgeschäft zwischen Sansibar und Helgoland mit der britischen Regierung ein. Während dessen gedieh die Konkurrenz unter den beteiligten europäischen Regierungen zu handfesten Unruhen unter Konvertitenparteien. Die Jahre zwischen 1888 und 1893 waren gekennzeichnet von Bürgerkrieg unter afrikanischen Bevölkerungsgruppen im Nordwesten des Sees, insbesondere dem Königreich Buganda unter Kabaka („König“) Mwanga als Herrscher. Der Bürgerkrieg erregte das Interesse der Tagespresse in Europa, in der Forderungen nach Eingreifen der beteiligten Regierungen laut wurden.287 Die britische Presse stieß das Thema an mit Berichten über die angeblich haarsträubende Brutalität, mit der die Konflikte unter Konvertitengruppen in Buganda ausgetragen worden sein sollten. Den Kabaka von Buganda akzeptierten europäische Forscher, Missionare und Regierungen als denjenigen Machtträger, der den Nordausfluss des Viktoriasees und damit die vermeintliche Nilquelle kontrollierte. Die britische Regierung antwortete auf die in die Öffentlichkeit lancierte Aufregung, indem sie ein Truppenkontingent, zunächst unter Federführung der Imperial British East Africa Company mit Lord Frederick Lugard als Kommandeur, entsandte und im Jahr 1894 dort ihr „Protektorat“ errichtete.288 Darüber hinaus kam dem Gebiet aus europäischer Sicht strategische Bedeutung zu, da es ein wesentliches Bindeglied der Route Kap-Kairo war, die die britische Regierung ihrer Kontrolle unterwerfen und als durchgehende Achse von Territorien zum Bau einer Eisenbahnlinie durch den afrikanischen Kontinent nutzen wollte. Hertslet, Map (wie Anm. 272), 1. Bd., S. 393–395. Die Notifikation vom 18. Juni 1894 findet sich ebenda, S. 395–396. Desgleichen der Vertrag zwischen Buganda und dem Vereinigten Königreich vom 27. August 1894, in: CTS, 179. Bd., S. 374–376. 286 Carl Friedrich Hubert Peters, Die deutsche Emin-Pascha-Expedition, München und Leipzig: Oldenbourg 1891. Peters, Deutsch-National. Kolonialpolitische Aufsätze, Berlin: Walther & Apolant 1887, S. 59–63. 287 Zur so genannten „Uganda Question“ siehe: Matia Semakula M. Kiwanuka, Kabaka Mwanga and His Political Parties, in: Uganda Journal 33. Jg. (1969), S. 1–16. Donald Anthony Low, British Public Opinion and the Uganda Question, in: Uganda Journal 18. Jg. (1954), S. 81–100. J. Guiness Rogers, Shall Uganda be Retained?, in: Nineteenth Century 33. Jg. (1893), S. 219–234. Joseph Thomson, The Uganda Problem, in: Contemporary Review 62. Jg. (1892), S. 786–796. John Vernon Wild, The Uganda Mutiny 1897, London: Macmillan 1954. P. W. H. Williams, Uganda, in: Proceedings of the Royal Colonial Institute 25. Jg. (1893/94), S. 105–136. 288 Gerald Herbert Portal, The British Mission to Uganda in 1893, London: Edward Arnold 1894 [Nachdruck, Santa Barbara: Elibron Classics 2005].

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Nachdem sich die Imperial British East Africa Company als wenig wirksames Instrument zur Errichtung von Kolonialherrschaft erwiesen hatte, bestimmte die britische Regierung Lugard als ihren Vertreter. Aber Kabaka Mwanga verweigerte die Anerkennung britischer Oberherrschaft. Lugard beantwortete den Widerstand der afrikanischen Seite, indem er kurzerhand Mwanga im Jahr 1898 auf die Seychellen deportieren und dessen knapp zweijährigen, unmündigen Sohn Daudi Chwa II. auf den Thron des Kabaka setzen ließ. Zwei Jahre später schlossen die britische und die bugandische Regierung das so genannte Uganda Agreement im Namen von Daudi Chwa und Königin Viktoria.289 Die deutsche Regierung erkannte den fait accompli an und kooperierte in einer gemischten Kommission zur Festlegung der Grenze. Im Ergebnis der Arbeit der Kommission kamen die westlich Bugandas gelegenen Königreiche Rwanda und Burundi unter deutsche Kontrolle.290 Schon zuvor hatten beide Regierungen in der Erwartung, Portugal werde wegen Staatsbankrotts seines Kolonialreiches verlustig gehen, im Jahr 1898 einen Vertrag über die Aufteilung der portugiesischen „Besitzungen“ in Afrika geschlossen.291 Aber das an der Wende zum 20. Jahrhundert noch bestehende portugiesische Kolonialreich brach erst 1975 zusammen. Die britische Regierung erhielt um 1900 freie Hand zur Festschreibung ihrer Position im Zwischenseegebiet. Zwar gelang es ihr bis zum Ende des Ersten Weltkrieges zwar nicht, die Route Kap-Kairo ihrer Kontrolle zu unterstellen, sie konnte aber den größten Teil Nordost-, Ost-, Südost- und Südafrikas beherrschen. Sie entschied, das Zwischenseegebiet einer einheitlichen Verwaltungsstruktur zu unterwerfen und als „Protektorat“ unter dem Namen Uganda zu behandeln. Dieser Entschluss führte zum Abschluss von Verträgen mit den Regierungen von zwei weiteren Staaten nach Buganda, nämlich Toro292 und Ankole293 in den Jahren 1900 und 1901. Das nördlich 289

Uganda Agreement (wie Anm. 39). Zur Genese und Implementation des Vertrags siehe Bibliografie Nr. 87. 290 C. Delmé-Radcliffe, Extracts from Lieutenant-Colonel C. Delmé-Radcliffe’s Typescript Diary Report on the Delimitation of the Anglo-German Boundary, Uganda, 1902–1904, hg. von Rennie Montague Bere, in: Uganda Journal 11. Jg. (1947), S. 9–46. Lazarus Hangula, Die Grenzziehungen in den afrikanischen Kolonien Englands, Deutschlands und Portugals im Zeitalter des Imperialismus. 1880–1914, Frankfurt und Bern: Lang 1991 (Europäische Hochschulschriften, Reihe III, Bd. 493.). A. C. McEwen, International Boundaries in East Africa, Oxford: Clarendon Press 1971, S. 265–282, 291–301. 291 Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und dem Vereinigten Königreich über Angola vom 30. August 1898, in: Grosse Politik (wie Anm. 275), 14. Bd., 1. Teil, Nr. 3872, S. 347–355. 292 Der Text des Toro Agreement liegt vor in: Laws (wie Anm. 39), 6. Bd., S. 1419–1425. 293 Der Text des Ankole Agreement liegt vor in: Laws (wie Anm. 39), 6. Bd., S. 1365–1372.

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an Buganda anschließende Königreich Bunyoro wurde zwar bereits im Jahr 1900 in das „Protektorat“ eingegliedert, blieb aber bis 1933 ohne förmlichen Vertrag.294 Mit dem östlich Bugandas gelegenen Staat Busoga schloss die britische Regierung ebenso wenig Verträge wie mit den meisten nördlich gegen Sudan, nordöstlich gegen Kenia und nordwestlich gegen Kongo wohnenden Bevölkerungsgruppen der Langi, Acholi, Kakwa und Karamojong, von denen einige bis zum Ende der 1880er Jahre unter der Herrschaft des ägyptischen Vizekönigs gestanden hatten.295 Als Name für das „Protektorat“ wurde die Swahili-Bezeichnung für Buganda, Uganda, gewählt. Die Namengebung brachte einen Vorrang von Buganda im gesamten „Protektorat“ zum Ausdruck, der sich in der Wahl von Kampala (Mengo), der Residenzstadt des Kabaka, als Zentralort der britischen Kolonialregierung spiegelte. Der britisch-bugandische Vertrag von 1900 gab folglich das Modell für die übrigen Verträge ab. Alle vier Verträge mit Staaten im „Uganda Protectorate“ sind Abkommen zwischen souveränen Staaten. Die britische Regierung ging also wie die Völkerrechtslehrer des frühen wie des späten296 19. Jahrhunderts297 auch in diesen Fällen von der Souveränität der afrikanischen Staaten aus, auch nachdem sie bereits europäischer Kolonialherrschaft unterworfen worden waren. Dies zeigt sich insbesondere am Fall von Bunyoro, dessen Vertrag mit dem Vereinigten Königreich erst mehr als dreißig Jahre nach faktischer Errichtung des britischen „Protektorats“ zustande kam. Der britisch-bugandische Vertrag liegt in einer ungewöhnlichen, unprofessionellen Fassung vor. Das Protokoll deklariert die Absicht, „the government and administration of the Kingdom of Uganda [ = Buganda]“ zu regeln, fährt dann aber mit der Beschreibung der Grenzen des gesamten britischen „Protektorats“ fort.298 Der dispositive Teil verbindet das Bekenntnis zur Anerkennung der Souveränität der vertragschließenden Parteien mit der Festschreibung ungleicher spezieller Bestimmungen. So musste der Kabaka wesentliche Herrschaftsrechte an die britische Kolonialregierung abtreten, insbesondere sich verpflichten, die Gestaltung der Außenbeziehungen Bugandas ganz der bri294

Der Text des Bunyoro Agreement von 1933 liegt vor in: Laws (wie Anm. 39), 6. Bd., S. 1412–1418. 295 Die britische Regierung schloss Verträge mit den Herrschern von Wadelai am 4. Februar 1894, von Maswa am 24. März 1894 und mit „Chief“ Kavalli am 18. April 1894, in CTS, Bd. 179, S. 370–374. 296 Wheaton, Elements (wie Anm. 63), § 152, S. 232. 297 Travers Twiss, The Law of Nations Considered as Independent Political Communities, 1. Bd.: On the Right and Duties of Nations in Time of Peace, Oxford und London: Oxford University Press 1861, S. 26. Zu Twiss siehe: Koskenniemi, Civilizer (wie Anm. 26), S. 108. 298 Uganda Agreement (wie Anm. 39), in: CTS, 188. Bd., S. 315.

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tischen Seite zu überantworten und der Übertragung der Besitzrechte über große Teile des Gebiets des Königreiches zur Nutzung durch Immigranten aus Europa zustimmen. Der Vertrag schrieb weiterhin vor, dass der Kabaka zur Eintreibung von Steuern in Auftrag und Namen der britischen Kolonialregierung zuständig sein sollte, und sich zur Treue gegenüber Königin Viktoria zu verpflichten hatte. Viktoria ihrerseits erhielt das Recht, die Regelung der Herrschernachfolge im Königreich zu approbieren.299 Wegen der Minderjährigkeit des Kabaka wurde der Vertrag auf bugandischer Seite durch den Regenten unterzeichnet. Anders als die ungleichen Verträge, die europäische Regierungen ostasiatischen Regierungen oktroyierten, bestand die Ungleichheit der dem britisch-bugandischen Modell folgenden ostafrikanischen Abkommen nicht nur in der mangelnden Reziprozität der den Europäern eingeräumten Privilegien, sondern zusätzlich in der vertraglichen Festschreibung einer hierarchischen Ordnung unter den durch die Verträge verbundenen Parteien. Diese hierarchische Ordnung war nicht völker-, sondern staatsrechtlicher Art und bestand in der politischen Begrenzung der Tätigkeit afrikanischer Regierungen auf Belange der Innenpolitik. Da in vielen Teilen Afrikas europäische Kolonialherrschaft in der Form des „Protektorats“ errichtet wurde, blieb zwar die Souveränität afrikanischer Staaten formell bestehen. Gleichwohl wurden deren Regierungen dem Herrschaftswillen europäischer Regierungen unterworfen. Auffällig ist an dem für die Kolonialverträge des Hochimperialismus gewählten Formular der Verzicht auf den Frieden als die den rechtlichen Rahmen abgebende Größe. So enthielten viele Verträge wie das britisch-bugandische Abkommen Passagen, nach denen afrikanische Regierungen bei den Europäern um „Schutz“ nachgesucht haben sollen.300 Einige Verträge spezifizierten das „Recht“ der „beschützenden Macht“, die „beschützte Seite“ nach außen allein zu vertreten.301 Andere Verträge enthielten die Behauptung, dass die afrikanischen Regierungen in Wahrnehmung ihrer Unabhängigkeit ihr Gesuch um „Schutz“ geäußert hätten.302 Es kam ebenso vor, dass afrikanische Regierungen nach dem Wortlaut ihrer Verträge mit europäischen Regierungen „Schutz“ zur Bewahrung ihrer „Unabhängigkeit“ erbeten haben sollten.303 Seit Ende des 19. Jahrhunderts gin299

Ebenda, S. 316–317. Unter vielen siehe die Verträge zwischen den „Kafir“ und dem Vereinigten Königreich (wie Anm. 250); zwischen Opobo und dem Vereinigten Königreich vom 1. Juli 1884, in: CTS, 163. Bd., S. 158–159; New Calabar und dem Vereinigten Königreich vom 4. Juli 1884, in: CTS, 163. Bd., S. 159–160. 301 Vertrag zwischen Frankreich und Madagaskar (wie Anm. 271). 302 Vertrag zwischen den Herrschern von Beteadougou, Farimboula und Mekhadougou einerseits und Frankreich andererseits vom 3. April 1880, Art. I, in: CTS, 156. Bd., S. 330. 300

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gen jedoch nicht nur die britische304 und die deutsche Regierung,305 sondern auch weitere europäische Kolonialregierungen immer öfter zu der Praxis über, untereinander Verträge über afrikanische Vertragspartner zu schließen.306 An die Stelle wechselseitiger Bekundungen des Friedenswillens, die in den afrikanisch-europäischen Verträgen des frühen 19. Jahrhunderts anzutreffen gewesen waren, traten Erklärungen des einseitigen Herrschaftswillens der europäischen Seite.307 Die wechselseitige rechtliche Anerkennung der Souveränität war daher logisch unvereinbar mit dem politischen Ziel der Degradierung afrikanischer Staaten zu Objekten der Herrschaft der europäischen Kolonialregierungen. Die Unvereinbarkeit von Form und Inhalt der afrikanisch-europäischen Kolonialverträge des Hochimperialismus hatte die Beugung von Recht durch Politik zur Folge und war mit dem Abschluss der jeweiligen Verträge keinesfalls beendet. Hingegen fand sie ihre Fortsetzung in der einseitigen Umwandlung des völkerrechtlichen Status, den die europäischen Kolonialregierungen ihren afrikanischen Vertragspartnern zuzugestehen bereit waren, und der folgenden Aberkennung von Völkerrechtssubjektivität sowie auch von Souveränität. Die europäischen Kolonialregierungen nahmen seit den 1890er Jahren die afrikanischen Staaten nicht mehr als Völkerrechtssubjekte 303 Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und Togo vom 15. Juli 1884, Art. I, in: CTS, 164. Bd., S. 214. 304 Vertrag zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich über den Golf von Tajourra vom 2./9. Februar 1888, in: CTS, 170. Bd., S. 475–479 [mit Bezug auf Abessinien]. Sansibar-Vertrag (wie Anm. 275). Vertrag zwischen der Südafrikanischen Republik [Transvaal] und dem Vereinigten Königreich über Swaziland vom 10. Dezember 1894, in: CTS, 180. Bd., S. 437–443. Vertrag zwischen Ägypten und dem Vereinigten Königreich über die künftige Verwaltung des Sudan vom 18. Januar 1898, in: CTS, 187. Bd., S. 155–157. 305 Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und dem Vereinigten Königreich über Angola (wie Anm. 291). 306 Entente cordiale zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich vom 8. April 1904 [vier Kolonialverträge über Ägypten, Marokko, Neufundland, Westand Zentralafrika, Siam, Madagaskar sowie die Neuen Hebriden], in: CTS, 195. Bd., S. 198–216. 307 Autoren von Lehrbüchern des Völkerrechts rechtfertigten diese Praxis durch Rückgriff auf die Theorie der „herrenlosen Souveränität“. Damit war ein Typus von Souveränität gemeint, die Herrscher oder Regierungen über „wilde oder nomadisierende Barbaren“ ausüben können sollten, die aber keinen Hinderungsgrund für völkerrechtliche Okkupation abgeben sollte. So: Franz von Holtzendorff, Handbuch des Völkerrechts, 2. Bd., Berlin: Habel 1887, S. 256–257. Lawrence, Principles, § 90 (wie Anm. 248), S. 136. So auch noch: Wilhelm Georg Grewe, The Epochs of International Law, Berlin and New York: de Gruyter 2000, S. 550 [Manuskript vollendet 1941; erste Druckausg., Baden-Baden 1954; 2. Aufl., ebenda 1988]. Siehe dazu kritisch: Fisch, Expansion (wie Anm. 36), S. 305–306. Koskenniemi, Civilizer (wie Anm. 26), S. 127–132, 143–152.

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wahr, sondern als Objekte innereuropäischer völkerrechtlicher Abkommen. Sie vollzogen die Statusänderung einseitig und folglich unter Verletzung der bestehenden Verträge. Die Völkerrechtslehre sekundierte mit der Behauptung, die „Souveränität eines europäischen Staates über eine unzivilisierte Gegend müsse ihre Rechtfertigung nicht in Verträgen mit Eingeborenen finden, sondern in der Natur des Falls und in der Beachtung der Bedingungen, die die zivilisierten Staaten anerkannten“. Die bestehenden Verträge somit ausdrücklich und vorsätzlich brechende Aberkennung von Völkerrechtssubjektivität und Souveränität kam deswegen der rechtlichen Begründung europäischer Kolonialherrschaft in Afrika gleich. Sie fand ihren bürokratischen Ausdruck darin, dass die europäischen Kolonialregierungen die Kompetenz zur Regelung ihrer Beziehungen mit afrikanischen Staaten Afrikas einseitig aus ihren Außenministerien ausgrenzten und ihren Kolonialministerien zuwiesen. In Bezug auf Buganda vollzog die britische Regierung diesen Schritt im Jahr 1907.308 Die bugandische Regierung verstand die Unrechtmäßigkeit des Vorgehens der britischen Regierung genau. Sie protestierte in London ohne Wirkung. Indem die britische Regierung die bugandische Reaktion ignorierte, zog sie freilich nicht in Betracht, dass sie durch ihr Vorgehen ihren Vertragspartner in ihren Gegner verwandelte. Anders als in anderen Teilen Afrikas zog diese Gegnerschaft in Buganda nicht sogleich gewaltsamen öffentlichen Widerstand nach sich. Im Gegenteil blieb Buganda bis in die 1920er Jahre ruhig. Dann jedoch versuchte die britische Regierung, der im Jahr 1920 der Völkerbund das Mandat für Tanganyika übertragen hatte, ihre Herrschaftsgebiete in Ost- und Südostafrika enger aneinander zu binden in der Hoffnung, auf diese Weise die Kosten der Kolonialverwaltung senken zu können. Sie bildete zwei Kommissionen des Colonial Office, die nacheinander die Gebiete bereisen und Empfehlungen für das „Closer Union“ genannte Integrationsprojekt ausarbeiten sollten.309 Bevor die zweite Kommission in 308 John Westlake, Chapters on the Principles of International Law, Cambridge: Cambridge University Press 1894), S. 145 [Nachdruck, Boston: Elibron Classics 2005]. Die apologetische Behauptung Jacksons, die europäischen Kolonialmächte hätten ihre Expansion auf den afrikanischen Kontinent selten außerhalb des rechtlichen Rahmens vollzogen, ist daher auch im Blick auf das europäische Völkerrecht unbegründet. Siehe Jackson, Weight (Bibliografie Nr. 84), S. 115. 309 William George Arthur Ormsby-Gore, East Africa. Report of the East Africa Commission, London: HMSO 1925 (Cmd. 2387.). Edward Hilton Young, Report of the Commission of the Dependencies in Eastern and Central Africa, London: HMSO 1929 (Cmd. 3234.). Teilediert in: Politics of Integration. An East African Documentary, hg. von Donald Sylvester Rothchild, Nairobi: East African Publishing House 1968, S. 20–21, 26–30 (EAPH Political Studies. 4.). Siehe dazu: Robert I. Rotberg, The Federation Movement in British East and Central Africa. 1889–1953, in: Journal of Commonwealth Political Studies 2. Jg. (1964), S. 144–148.

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Ostafrika eintraf, sandte der nunmehr selbst regierende Kabaka Daudi Chwa eine Protestnote an das Colonial Office. Darin berief er sich auf den Vertrag vom Jahr 1900 und unterstrich die Souveränität seiner Herrschaft. Als Souverän müsse er zu dem Integrationsprojekt befragt werden, und er sei nicht gewillt, das Aufgehen Bugandas in einer größeren Einheit als dem „Uganda Protectorate“ hinzunehmen.310 Mit dieser Position befand sich der Kabaka zufällig im Einklang mit europäischen Siedlergruppen, die sich zwischenzeitlich in Kenia festgesetzt hatten und die Errichtung einer regionalen ost- und südostafrikanischen Zwischenbehörde ebenfalls ablehnten, da sie befürchteten, an Einfluss zu verlieren. Vor dem massiv, wenn auch friedlich bekundeten Widerstand schreckte die britische Regierung zurück und vertagte das Projekt.311 Zu gewaltsamen Auseinandersetzungen hingegen kam es schließlich, nachdem die britische Regierung im Jahr 1948 die Initiative ergriff und eine regionale Zwischenbehörde unter dem Namen East Africa High Commission einrichtete. Sie sollte die allgemeinen Belange in Britisch-Ostafrika regeln (die britischen Territorien in Südostafrika wurden ausgeklammert). Mutesa II., der im Jahr 1939 seinem Vater im Amt des Kabaka nachgefolgt war, fand sich mit dieser wiederum einseitig getroffenen Regelung nicht ab. Zwar wurde er zur Krönung Elisabeths II. 1953 als souveräner Herrscher eingeladen, aber die Spannungen mit Sir Andrew Cohen, dem britischen Gouverneur des Uganda Protectorate, spitzten sich zu. Noch im selben Jahr 1953 sah Cohen sich veranlasst, Mutesa seines Amts zu entheben und nach London ins Exil zu schicken. Dieser Akt zog gewaltsame Proteste nach sich, die andauerten, bis die britische Regierung im Jahr 1955 Mutesa gestattete, im Triumph nach Buganda zurückzukehren.312 Von da ab wurde Mutesa zur Führungsfigur der antikolonialen Befreiungsbewegung in Gesamtostafrika. 310 Daudi Chwa II, Kabaka of Buganda, [Brief vom 29. Oktober 1927 an W. Ormsby-Gore], in: Papers Relating to the Question of Closer Union of Kenya, Uganda and the Tanganyika Territory, London: HMSO 1931, S. 81–82 (Colonial. 57.). Teilediert in: Rothchild, Politics (wie Anm. 309), S. 21–22. 311 Samuel Wilson, Report of Sir Samuel Wilson on His Visit to East Africa, 1929, London: HMSO 1929 (Cmd. 3378.). Teilediert in: Rothchild, Politics (wie Anm. 309), S. 34–35. 312 Zum Tod von Daudi Chwa siehe: F. Lykyn Williams, The Kabaka of Buganda. Death of His Highness Sir Daudi Chwa II, K.G.M., K.B.E., and Accession of Edward Mutesa II, in: Uganda Journal 7 (1940), S. 176–187. Zu den Nachfolgeregeln in Buganda siehe: Martin Southwold, Succession to the Throne in Buganda, in: Succession to High Office, hg. von Jack Goody, Cambridge: Cambridge University Press 1966, S. 82–126 (Cambridge Papers in Social Anthropology. 4.). Zur Buganda-Krise siehe die Texte in: Uganda Protectorate. Withdrawal of Recognition from Kabaka Mutesa II of Buganda, London: HMSO 1953 (Colonial. 9028.). Teilediert in: Rothchild, Politics (wie Anm. 309), S. 56–59. Reform in Buganda. Background of the Hancock Commission, in: Round Table 45. Jg., Nr. 177 (1954),

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Für Mutesa bestand das Ziel der Befreiung von britischer Kolonialherrschaft selbstverständlich darin, den Vertrag von 1900 mit allen Folgeregelungen aufzuheben und die volle Souveränität des Königreiches wiederherzustellen. Mit dieser Forderung stieß Mutesa jedoch auf den entschiedenen Widerstand der britischen Regierung, die entschlossen war, wenn überhaupt, nur das Uganda Protectorate als neuen souveränen Staat anzuerkennen.313 In dem bis 1962 andauernden Konflikt setzte sich schließlich die britische Regierung durch. Das „Uganda Protectorate“ erreichte als Republic of Uganda am 9. Oktober 1962 die Unabhängigkeit. Gleichwohl zahlte die britische Regierung für ihre Sturheit einen hohen Preis. Er bestand darin, dass Mutesa Präsident der neuen Republik wurde. Damit war er in Personalunion Kabaka der traditionellen Monarchie Buganda und Präsident der neuen Republik Uganda. Dieses instabile Arrangement dauerte nur vier Jahre. 1966 wurde Mutesa wieder vertrieben und musste nach London ins Exil gehen, wo er im Jahr 1969 unter ungeklärt gebliebenen Umständen starb. Das Beispiel Buganda weist viele Parallelen mit dem Schicksal anderer afrikanischer Staaten unter europäischer Kolonialherrschaft auf. Die wichtigste Parallele ist, dass ein Widerspruch zwischen europäischer und afrikanischer Wahrnehmung der völkerrechtlichen Grundlagen europäischer Kolonialherrschaft bestand. Während in europäischer Sicht die einseitige Umwandlung der Völkerrechtssubjektivität afrikanischer Staaten in deren Völkerrechtsobjektivität die Herrschaft europäischer Kolonialregierungen über weite Teile Afrikas konstituierte, bestanden in afrikanischer Perspektive Souveränität und Völkerrechtssubjektivität nach Maßgabe der bestehenden Verträge fort. In dieser Perspektive brachen die europäischen Kolonialregierungen die geschlossenen Verträge. Während in europäischer Sicht Staatszerstörung in der Form der Überlagerung präkolonialer Staaten durch oktroyierte europäische Herrschaft stattfand, gab es in afrikanischer Sicht keine Änderung der präkolonialen Völkerrechtsbeziehungen. Da in afrikanischer Sicht die präkolonialen Staaten, wo es Verträge gab, fortbestanden, fand bis auf wenige Ausnahmen, die von Burundi, Rwanda, Lesotho und Swaziland gebildet werden, Staatensukzession in der Form der Zerstörung der präkolonialen Staaten erst zu dem Zeitpunkt statt, als die kolonialen S. 36–43. Zur Darstellung der Buganda-Krise aus der Sicht der britischen Kolonialverwaltung siehe Bibliografie Nr. 108. 313 Das Schlüsseldokument mit der Forderung nach Wiederherstellung Bugandas in seinen vorkolonialen Status als souveräner Staat ist das Memorandum to Her Majesty Queen Elizabeth II. Submitted by Members of the Lukiiko of the Kingdom of Buganda [1960], hg. von David Ernest Apter, The Political Kingdom in Uganda, Princeton: Princeton University Press 1961, S. 479–488. Auch in: Donald Anthony Low, The Mind of Buganda, London: Heineman Educational 1971, S. 200–210. Zum Buganda Boycott von 1960, der aus der Zurückweisung von Mutesas Forderungen resultierte, siehe Bibliografie Nr. 109.

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Herrschaftszonen als neue Staaten die Unabhängigkeit in den meisten Fällen nur nach militärischem Widerstand erlangten.314 Im Rückblick auf die völkerrechtsgeschichtlichen Aspekte europäischer Kolonialherrschaft in Afrika erweist sich die These Jacksons nicht nur als unhaltbar, sondern zudem als apologetisch. Sie verdeckt die auf Seiten der europäischen Regierungen vorsätzlich begangenen Vertragsbrüche. Jacksons These verschiebt die Verantwortung für die Anwendung militärischer Gewalt im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit der kolonialen Herrschaftszonen von den europäischen Regierungen auf die Führer der antikolonialen Befreiungsbewegungen. Diese aber antworteten nur auf die zuvor vollzogenen Unrechtsakte der europäischen Kolonialregierungen. Nicht irgendein metaphysischer Zusammenhang zwischen Staatensukzession und Anwendung militärischer Gewalt ist demnach die Ursache für die Instabilität gegenwärtiger afrikanischer Staaten, sondern die Erblast des Unrechts kolonialer Herrschaft.315 Die Verantwortung für diese Instabilität liegt in der 314 Walker Connor, Nation-Building or Nation-Destroying?, in: Connor, Ethnonationalism. The Quest for Understanding, Princeton: Princeton University Press 1994, S. 28–65 [zuerst in: World Politics 24. Jg (1972)], wies auf diesen Punkt hin, ohne jedoch die vertragsrechtlichen Grundlagen und die einseitigen Änderungen des Status der afrikanischen Staaten durch die europäischen Kolonialregierungen zu berücksichtigen. 315 Wie wenig die Faktizität der vertragsrechtswidrigen Verfahrensweisen in der Errichtung europäischer Kolonialherrschaft im Bewusstein heutiger Sozialwissenschaftler verfügbar ist, zeigen die Beiträge zum „Staatstod“ von: Tanisha M. Fazal, State Death in the International System, in: International Organzation 58. Jg. (2004), S. 311–334. Fazal, State Death. The Politics and Geography of Conquest, Occupation, and Annexation, Princeton: Princeton University Press 2007. Fazal nutzt das im „Correlates of War“-Projekt der University of Michigan zusammengestellte Datenmaterial und grenzt unkritisch die Staatensukzession in den von Kolonialismus betroffenen Teilen der Welt, insbesondere in Afrika, völlig aus. Das geschieht unter Berufung auf die Praxis der Datensammler von Michigan, die Zugehörigkeit zum internationalen System nicht in Kategorien des Rechts, sondern der diplomatischen Praxis zu bestimmen. Demzufolge fallen alle Staaten aus der Sammlung heraus, deren Regierungen untereinander keine diplomatischen Vertreter austauschen. Die Verfahrensweise führt aber zu Ergebnissen, die nichts darüber aussagen, ob im Verständnis der Akteure Staaten vorhanden sind oder nicht. Das Ergebnis ist, dass die These Fazals, von Staatentod seien zu allererst Pufferstaaten betroffen, durch nichts zu begründen ist. Ebenso wenig befriedigend sind die Listen, die die Datensammlung des „Correlates of War Project“ zu aktualisieren und zu verbessern suchen. Siehe: Kristian Skrede Gleditsch und Michael D. Ward, A Revised List of Independent States since the Congress of Vienna, in: International Interactions 25. Jg. (1999), S. 393–413. Gleditsch und Ward, System Membership Case Description List (http://privatewww.essex.ac. uk/~ksg/data/iisyst_casedesc.pdf [2007]). Auch diese Listen basieren auf sekundären Quellen. So kommt es, dass Gleditsch und Ward (System Membership, S. 26) auf der Malaiischen Halbinsel und im Nordteil der Insel Kalimantan (Borneo) zuerst mit Malaysia einen unabhängigen Staat ab

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Hauptsache bei den Nachfolgern der europäischen Kolonialregierungen in Europa, bei den afrikanischen Regierungen hingegen nur insoweit, als sie die europäischen Begriffe der Staatlichkeit und die aus ihnen folgenden Herrschaftstechniken zum Nachteil der betroffenen Bevölkerungsgruppen internalisiert haben.

V. Globalisierung der amerikanisch-europäischen Rechtssysteme, insbesondere des europäischen Völkerrechts Die Politik der Durchsetzung rechtlicher Normen auf dem Weg des Abschlusses völkerrechtlicher Verträge in Schriftform war nicht begrenzt auf den Oktroi von europäischem Regime-Kolonialismus in Ostasien sowie die Errichtung europäischer Kolonialherrschaft in Afrika, West-, Süd- und Südostasien sowie dem Südpazifik, sondern erstreckte sich schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch auf das europäische Völkerrecht und dessen Inkraftsetzung mittels multilateraler Verträge zwischen den Staaten. Einige dieser Abkommen mögen aus praktischen Bedürfnissen entstanden sein, unter denen die Regelung des zwischenstaatlichen Verkehrs, der internationale Umweltschutz, die grenzüberschreitende Verbrechensbekämpfung, die Versorgung Verwundeter im Kriegsfall sowie die Regelung des Schiffverkehrs auf offener See schon damals eine Rolle spielten. So kam es zum 1957 notieren, obschon die meisten der malaiischen Sultanate bis in das 20. Jahrhundert unabhängige Staaten gewesen waren. Ebenso wenig weiter führt die neuere Studie von Philip G. Roeder, Where Nation-States Come From. Institutional Change in the Age of Nationalism, Princeton: Princeton University Press 2007, über die Erfolgsaussichten von separatistischen Bewegungen, die das Ziel der Errichtung souveräner Staaten (als vermeintliche Nationalstaaten) anstreben. Diese Studie bringt nichts mehr als die Prognose, dass nationalistische Bewegungen, die bereits von einer historisch gegebenen Tradition von Eigenstaatlichkeit oder irgendeiner Form institutionalisierter Autonomie ausgehen, höhere Erfolgschancen hätten als Bewegungen, die keine solche Basis haben. Aus der Sicht der Geschichtswissenschaft ist diese Aussage nicht nur tautologisch, sondern führt auch zu sachlich falschen Analysen. So z. B. (S. 357) Roeders Behauptung, Buganda sei innerhalb Ugandas ein separatistischer Staat gewesen. Roeder missdeutet hier das Streben nach Souveränitätserhaltung als Versuch der Souveränitätsgewinnung. Zur Kritik an der Methode der Datensammlung innerhalb des „Correlates of War Project“ siehe: Robert William Bennett und Joseph Zitomerksy, The Delimitation of International Diplomatic Systems. 1816–1970, in: On Making Use of History. Research and Reflections from Lund, hg. von Joseph Zitomersky, Solna: Esselte Studium 1982, S. 67–129 (Lund Studies in International History. 15.). Stuart A. Bremer und Faten Ghosn, Defining States. Reconsiderations and Recommendations, in: Conflict Management and Peace Science 20. Jg. (2003), S. 21–41. Harald Kleinschmidt, Historical Method and the History of International Relations, in: Das Andere wahrnehmen. August Nitschke zum 65. Geburtstag, hg. von Martin Kintzinger, Wolfgang Stürner und Johannes Zahlten, Köln, Weimar und Wien: Böhlau 1991, S. 653–670.

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Abschluss der Metrischen Konventionen in den Jahren 1875 und 1907,316 der Internationalen Geodätischen Konvention 1895,317 der Internationalen Konvention zur Beendigung des Frauenhandels 1904,318 den verschiedenen Haager und Genfer Konventionen,319 der Konvention über den Betrieb von Automobilen 1909, dem Vertrag über die Gründung einer Internationalen Beratenden Kommission für den Naturschutz 1913,320 der Konvention zur Vereinheitlichung von Regeln über Kollisionen auf offener See 1910 und der Internationalen Konvention über die Sicherheit des Verkehrs auf offener See 1914.321 Hingegen ergaben sich andere multilaterale Abkommen, wie die verschiedenen Telegrafenkonventionen,322 die Verträge zur Errichtung der Universal Postal Union von 1874 und 1878 sowie die Universal Postal Convention von 1897,323 die Konventionen zum Schutz industriellen Eigentums von 1883 und 1886,324 die Internationale Konvention über die Veröffentlichung von Zolltarifen von 1890325 sowie die Berner Übereinkunft über das Urheberrecht von 1886 und die Konvention über das Urheberrecht von 1896326 aus dem Bemühen, allgemeine, global wirksame Regeln der Postdienste, zur Durchsetzung des Patentschutzes sowie intellektueller Eigentumsrechte einzuführen. Europäische und amerikanische Regierungen beanspruchten für sich, die Einhaltung dieser Regeln weltweit fordern zu können, und postulierten, dass die Anerkennung dieser Regeln als Nachweis 316

CTS, 148. Bd., S. 237–248. CTS, 205. Bd., S. 212–215. CTS, 182. Bd., S. 82–87. 318 Erschienen u. d. T.: International Agreement for the Suppression of the White Slave Traffic vom 18. Mai 1904, in: CTS, 195. Bd., S. 326–333. 319 Convention for the Amelioration of the Condition of the Wounded in Armies in the Field, signed at Geneva vom 22. August 1864, in: CTS, 129. Bd., S. 361–367. Convention for the Amelioration of the Condition of the Wounded and Sick in Armies in the Field, signed at Geneva vom 6. Juli 1906, in: CTS, 202. Bd., S. 144–162. International Convention for the Pacific Settlement of International Disputes, signed at The Hague vom 29. Juli 1899, in: CTS, 187. Bd., S. 410–461. Final Act of the Second International Peace Conference, signed at The Hague vom 18. Oktober 1907, in: CTS, 205. Bd., S. 216–408. 320 CTS, 219. Bd., S. 32–36. 321 CTS, 212. Bd., S. 178–186; 219. Bd., S. 177–255. 322 Telegrafenkonventionen vom 17. Mai 1865, in: CTS, 130. Bd., S. 198–225; vom 17. Mai 1865, in: CTS, 133. Bd., S. 468–470; vom 1. Juli 1872, in: CTS, 143. Bd., S. 415–469; vom 10./22. Juni 1875, in: CTS, 148. Bd., S. 416–484; vom 14. März 1884, in: CTS, 163. Bd., S. 391–402; vom 17. September 1885, in: CTS, 165. Bd. 165, S. 212–282; vom 22. Juli 1896, in: CTS, 183. Bd., S. 159–257; vom 10. Juli 1903, in: CTS, 193. Bd., S. 327–458. 323 CTS, 147. Bd., S. 136–160; CTS, 152. Bd., S. 235–300; CTS, 185. Bd., S. 59–226. 324 CTS, 161. Bd., S. 409–417; CTS, 167. Bd., S. 477–483. 325 CTS, 173. Bd., S. 329–340. 326 CTS, 168. Bd., S. 185–198; CTS, 182. Bd., S. 441–449. 317

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Kap. 4: Völkerrecht, Freihandel und Kolonialismus

des „Kulturfortschritts“ der europäischen und amerikanischen Regierungen gegenüber anderen Regierungen in der Welt diene. Ideologen der europäischen Expansion erhoben die Durchsetzung dieses „Kulturfortschritts“ überall in der Welt zum erklärten Ziel des Kolonialismus.327 Einige Wissenschaftler gingen sogar so weit, die Regeln des „Kulturfortschritts“ ganz wörtlich zu verstehen und die Einhaltung allgemeiner Hygienevorschriften weltweit zu fordern.328 Europäische Kolonialregierungen waren dafür entschlossen, nicht allein Staaten zu zerstören oder ihnen das Prädikat der Staatlichkeit abzuerkennen, sondern auch das Potential indigenen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Wandels in den von ihnen beherrschten Teilen Afrikas, West-, Süd- und Südostasiens wie des Südpazifik zu arretieren, und ließen damit den Opfern ihrer Kolonialherrschaft nur die Wahl zwischen Anpassung und Widerstand. Die Strategie der Anpassung führte zu Abhängigkeit, während die Strategie des Widerstands im Genozid enden konnte. In beiden Fällen trug das Festhalten an der Durchsetzung von „Kulturfortschritt“ als Ziel kolonialer Unterdrückung dazu bei, unter den Opfern der europäischen Kolonialherrschaft die Perspektive zu bestätigen, dass der Kolonialismus mit allen seinen Institutionen ausschließlich europäischen Interessen diene. Diese Perspektive schloss das Völkerrecht ein, da es als Mittel zur Legitimation des Kolonialismus missbraucht wurde. Selbst die sehr kritischen Angehörigen und Befürworter der internationalen Friedensbewegung konzipierten an der Wende zum 20. Jahrhundert internationale Organisationen nach ausschließlich europäischen Modellen der Staatlichkeit und zogen einen Pluralismus von Staatsauffassungen als Basis für den Aufbau internationaler Organisationen nicht in Betracht. Sie legten damit selbst einen Grundstein für das Scheitern ihrer institutionellen Modelle, die auf der Voraussetzung beruhten, dass das Völkerrecht europäischen Ursprungs sei und es den europäischen Regierungen obliege, es global zur Anwendung zu bringen.329 Der 327 Unter anderen beklagte Max von Brandt, der an der Wende zum 20. Jahrhundert führende deutsche Ostasiendiplomat, noch 1895 den Mangel an Zwangsmitteln zur Durchsetzung intellektueller Eigentumsrechte in Ostasien. Siehe: Maximilian August Scipio von Brandt, Der chinesisch-japanische Konflikt, in: Brandt, Ostasiatische Fragen, Berlin: Paetel 1897, S. 265 [Nachdruck, Seoul: s. n. 2001; Mikrofiche-Nachdruck, München: Saur 2002 (German Books on Japan 1477–1945); zuerst in: Deutsche Rundschau (Februar 1895)]. 328 Siehe: Albrecht Ludwig Agathon Wernich, Geographisch-medicinische Studien nach den Erlebnissen einer Reise um die Erde, Berlin: Hirschwald 1878, S. 241–242. Tatsächlich wurde die Gesundheitskonvention am 17. Januar 1912 als völkerrechtlicher Vertrag unterzeichnet. In: CTS, 215. Bd., S. 223–277. 329 Siehe: Walther Max Adrian Schücking, Die Organisation der Welt, in: Staatsrechtliche Abhandlungen. Festgabe für Paul Laband, Tübingen: Mohr 1908, S. 594–595. Zu Schücking siehe Bibliografie Nr. 56.

V. Globalisierung der amerikanisch-europäischen Rechtssysteme

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Umstand, dass beispielsweise Japan an der Wende zum 20. Jahrhundert einen wesentlichen Beitrag zur Konzeption eines „cultural internationalism“ leistete, blieb in Europa weitgehend unbekannt.330 Die japanische Erfahrung weist auf die weitere Dimension nicht-herrschaftlicher kolonialer Expansion hin, die in der vertraglichen Erzwingung der pauschalen Übernahme europäischer Rechtssysteme bestand. So begründeten die europäischen Kolonialregierungen ihr Bestreben nach Einrichtung internationaler Gerichtshöfe oder Anerkennung ihres exterritorialen Status mit dem Argument, dass außerhalb Europas kein scheinbar adäquates oder kein kompatibles Rechtssystem vorhanden sei. Internationale Gerichtshöfe sollten diesem Argument zufolge für Ausländer zuständig sein, die sich auf dem Territorium eines außereuropäischen Staates aufhielten. Diese Ausländer waren von der lokalen Gerichtsbarkeit eximiert. Exterritorialer Status hatte die Konsequenz, dass Ausländer der Gerichtsbarkeit der Konsularbehörden des Staates unterworfen waren, dessen Staatsangehörigkeit sie besaßen und dem exterritorialer Status völkerrechtlich zugestanden worden war. Im ersten Fall, der beispielsweise für Siam festgeschrieben wurde, sollten internationale Gerichtshöfe so lange zuständig bleiben, bis ein europäisches Rechtssystem übernommen worden sein würde, was der britisch-siamesische Vertrag vom 10. März 1909 ausdrücklich bestimmte.331 Im anderen Fall, für den Japan das beste Beispiel abgab, wurde die pauschale Übernahme europäischer Rechtssysteme auf dem Weg diplomatischen Drucks und der Weigerung der Aufgabe des exterritorialen Status erzwungen. Gleichwohl gelang es der japanischen Regierung im Zeitraum zwischen 1868 und dem Ende des 19. Jahrhunderts, die konkurrierenden europäischen Kolonialmächte gegeneinander auszuspielen, indem sie nicht ein einziges Rechtssystem insgesamt übernahm, sondern Regelungen verschiedener Rechtsbereiche nach unterschiedlichen amerikanischen und europäischen Vorbildern traf. Dabei jedoch musste sie einen Pluralismus unterschiedlich konzipierter und begründeter Rechtsnormen in Kauf nehmen, der das Rechtssystem veruneinheitlichte.332 330

Siehe: Akira Iriye, Cultural Internationalism and World Order, Baltimore und London: Johns Hopkins University Press 1997, S. 36–46. 331 Vertrag zwischen Siam und dem Vereinigten Königreich vom 10. März 1909, Art. V, in: CTS, 208. Bd., S. 368. 332 Siehe dazu die neuere Überblicksdarstellung von: Paul-Christian Schenck, Der deutsche Anteil an der Gestaltung des modernen japanischen Rechts- und Verfassungswesens, Stuttgart: Steiner 1997 (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte. 68.). Sowie: Ram Prakesh Anand, Family of „Civilized“ States and Japan. A Story of Humiliation, Assimilation, Defiance and Confrontation, in: Journal of the History of International Law 5. Jg. (2003), S. 1–75. Anna Bartels-Ishikawa, Hg., Hermann Roesler. Dokumente zu seinem Leben und Werk, Berlin: Duncker & Humblot 2007 (Schriften zur Rechtsgeschichte. 135.).

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Kap. 4: Völkerrecht, Freihandel und Kolonialismus

Die zumal im Deutschen Reich stark ausgeprägte Staatsrechtslehre tat ein Übriges, um der vom Grundsatz der Gleichheit der souveränen Staaten her gebotenen Anerkennung des Pluralismus der Staatsauffassungen entgegen zu wirken. Sie förderte die Verbreitung eines Staatsbegriffs in enger Anbindung an den Begriff der Souveränität und bestritt die Möglichkeit, ein zwischenstaatliches Recht zu konzipieren. Sowohl der bayerische Staatsrechtslehrer Max von Seydel, der die Souveränität des Königreiches Bayern zu begründen suchte und das Deutsche Reich lediglich als Staatenbund anerkennen wollte,333 als auch der in Heidelberg lehrende österreichische Staatsrechtler Georg Jellinek, der den Begriff des Staates als Verbund der Einheiten von Gebiet, Volk und Regierung vertrat,334 sprachen die von vielen zeitgenössischen Autoren geteilte Ansicht aus, dass es kein zwischenstaatliches Recht geben könne, da die Beziehungen zwischen Staaten ausschließlich in der Anwendung militärischer Gewalt beruhten und zwischen Staaten keine Recht setzenden und erzwingenden Institutionen bestehen könnten. Gebe es solche, wären sie Staaten zuzuordnen, nicht aber überstaatlich. Diese Theorie vermittelte also der Anwendung militärischer Gewalt nicht allein Legitimität, sondern erhob sie zum allein wirkmächtigen Instrument der internationalen Beziehungen. Erst vor dem Hintergrund dieser Theorie konnte Krieg als Mittel der Staatsentstehung hingestellt werden. Nur die Regierungen souveräner, das heißt untereinander gleicher Staaten, sollten als „Akteure“ in den internationalen Beziehungen zugelassen sein, da sie allein rechtmäßig über Krieg und Frieden zu entscheiden befugt sein sollten. Diesem Verständnis zufolge waren die so genannten „Kolonialkriege“ keine Kriege, sondern Mittel zur Niederwerfung von Aufruhr.335 Eine auf Recht gegründete Weltpolitik war demnach theoretisch unmöglich. Reichskanzler Otto von Bismarck verlieh dieser Ansicht in seiner diplomatischen Korrespondenz Ausdruck, als er seinen Botschafter in London im 333 Max von Seydel, Der Bundesstaatsbegriff, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 28. Jg. (1872), S. 185–256 [Neudruck in: Seydel, Staatsrechtliche und politische Abhandlungen, Freiburg: Mohr 1893, S. 1–89]. Seydel, Commentar zur Verfassungsurkunde für das Deutsche Reich, 2. Aufl., Freiburg und Leipzig Mohr 1897, S. 1–11 [zuerst (ebda 1873]. 334 Jellinek, Staatslehre (wie Anm. 11). 335 So ausdrücklich: Westlake, Chapters (wie Anm. 308), S. 142–143, der „uncivilized native inhabitants“ als unfähig zur Selbstregierung vom Völkerrecht ausschließt mit der Konsequenz, dass militärische Konflikte zwischen den Kolonialregierungen und den Opfern kolonialer Expansion nicht als Krieg im Sinn des Völkerrechts galten. Ebenso: William Edward Hall, A Treatise on International Law, 5. Aufl., hg. von James Beresford Atlay, Oxford: Oxford University Press 1904, S. 126 [zuerst, ebenda 1880; Nachdruck der 8. Aufl. [ebenda 1924], Aalen: Scientia 1979]. Lawrence, Principles, § 90 (wie Anm. 248), S. 136. Sowie noch: Quincy Wright, A Study of War, Nachdruck in einem Band, Chicago: University of Chicago Press 1965), S. 695 [zuerst, 2 Bde., ebenda 1942].

V. Globalisierung der amerikanisch-europäischen Rechtssysteme

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Jahr 1885 anwies, ein Bündnisprojekt zwischen dem Deutschen Reich und dem Vereinigten Königreich nicht weiter zu verfolgen. Bismarck argumentierte, dass ein Bündnis nach britischem Recht nur die eingehende Regierung, nicht aber ihre Nachfolgerinnen binde, somit ein Bündnis längstenfalls bis zur nächsten allgemeinen Wahl bestehen könne. Danach sei es ohne Zustimmung der britischen Regierung wertlos.336 Bismarck reproduzierte mit dieser Begründung die Theorie, dass Völkerrecht aus Mangel an Erzwingungsmitteln keine Basis für außenpolitisches Entscheiden abgeben könne. In den 1920er Jahren trug Carl Schmitt die umgekehrte Behauptung vor, eine vermeintliche Einschränkung der souveränen Fähigkeit zur Entscheidung über Krieg und Frieden sei Element eines „diskriminierenden“ Völkerrechts und folglich gerechter Kriegsgrund.337 Jede europäische Kolonialregierung befand diejenigen Maßnahmen für geeignet und rechtens, die nicht auf Widerstand seitens einer der konkurrierenden Kolonialregierungen stieß, und ignorierte folglich die legitimen Interessen der von der europäischen Expansion betroffenen Bevölkerungsgruppen. „Welcher nigger chief sich König von Samoa nenne, würde den Neuseeländern einerlei sein, solange politisch alles beim alten bleibe“, meinte Herbert von Bismarck, Staatssekretär im Auswärtigen Amt und Sohn des eisernen Kanzlers, im Jahr 1887.338 Länderschacher zwischen den europäischen Kolonialregierungen gehörte zum Alltagsgeschäft der Diplomaten. Die betroffenen Bevölkerungsgruppen geronnen so zu Objekten diplomatischen Gezänks. Die Meinung des deutschen Diplomaten enthüllte die Grundsätze der außenpolitischen Entscheidungen und der Gestaltung der internationalen Beziehungen unter den europäischen Regierungen in der Phase des Hochimperialismus. Sie setzten bindende völkerrechtliche Abkommen, das heißt Verträge zwischen Souveränen, auf den Prüfstein diplomatischer Nützlichkeit und positionierten aktuelle politische Bedürfnisse, oder was sie dafür hielten, über die Verpflichtung zur Vertragstreue. Bismarck und seine Kollegen handelten in den Kategorien des Realismus.339 Der Realismus erwies sich als die alleinige Basis der Rechtfertigung von expansivem Regierungshan336 Große Politik (wie Anm. 275), 4. Bd., Nr. 789, S. 141. Siehe dazu: Kämmerer, Völkerrecht (wie Anm. 265), S. 400. 337 Carl Schmitt, Die Kernfrage des Völkerbundes, Berlin: Dümmler 1926, S. 11, 15–7, 19–21 (Völkerrechtsfragen. 18.). 338 Grosse Politik (wie Anm. 275), 4. Bd., Nr. 818, S. 177. Siehe die Verträge zwischen dem Deutschen Reich und Samoa vom 15./23. Dezember 1879, in: CTS, 155. Bd., S. 455–462; 24. März 1880, in: CTS, 156. Bd., S. 305–308; 24. Januar 1888, in: CTS, 170. Bd., S. 443–446. 339 Zur Geschichte des Realismus siehe: Harald Kleinschmidt, Die ungesicherten Quellen des Realismus. Anmerkungen zur Theoriegeschichte der internationalen Be-

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Kap. 4: Völkerrecht, Freihandel und Kolonialismus

deln in Afrika, Asien und dem Südpazifik, nachdem bestehende Verträge nur unter der Bedingung ihrer Nützlichkeit verbindlich bleiben sollten. Internationale Politik gestaltete sich in dieser Perspektive als Netzwerk aus dem interdependenten diplomatischen und militärischen Handeln der europäischen Kolonialregierungen, die jeweils einzeln darauf bedacht sein mussten, jede ihre Entscheidungen nach Maßgabe von Vermutungen über gegebene Motive und mögliche Reaktionen ihrer Konkurrentinnen zu treffen.340 Manchmal kam man darin überein, Regeln der Intervention zu formulieren, wie auf der Berliner Afrikakonferenz 1884/85 oder auf der Algeciras-Konferenz 1906.341 Die Praxis der einseitigen Aberkennung von Völkerrechtssubjektivität sowie mitunter zusätzlich auch der Souveränität der afrikanischen, west-, süd- und südostasiatischen sowie südpazifischen Vertragspartner der europäischen Kolonialregierungen gedieh so zum sanktionierten Instrument kolonialer Herrschaft und wurde von der Regierung der USA sowie in der Form des Subimperialismus sogar von den britischen Kolonialverwaltungen in Australien, Neuseeland und Südafrika imitiert. Die Globalisierung des europäischen Staats- und Völkerrechts, einschließlich des europäischen Rechts zwischenstaatlicher Verträge, wirkte somit spaltend, indem sie Bevölkerungsgruppen scheinbar ungleicher Partizipation am sogenannten „Kulturfortschritt“ schuf.342 Die Befürworter des internationalen öffentlichen Rechts als einer Art Weltverkehrsrecht in Politik und Wissenschaft taten sich selbst nichts Gutes, indem sie daran festhielten, dass internationale Organisationen wenn möglich dem „Kulturfortschritt“343, jedenfalls aber der Globalisierung der europäischen Rechtssysteme, insbesondere des europäischen Völkerrechts,344 zu dienen hätten. Die Opfer der europäischen Kolonialherrschaft konnten daraus nur den Schluss ziehen, dass auch die Förderer des Völkerrechts allein pro domo sprächen. Außerhalb Europas und Nordamerikas konnten sich Völkerrecht und interziehungen, in: Zeitschrift für internationale Beziehungen 6. Jg. (1999), S. 129–146. Kleinschmidt, The Nemesis of Power, London: Reaktion Books 2000, Kap. IX. 340 Hintze, Imperialismus (wie Anm. 34). 341 Schlussakte der Internationalen Konferenz in Algeciras über die Angelegenheiten Marokkos vom 7. April 1906, in: CTS, 201. Bd., S. 39–69. Fisch, Africa (wie Anm. 21). 342 Zu den Wirkungen der Globalisierung des europäischen Völkerrechts siehe Bibliografie Nr. 110. 343 Unter anderen siehe: Westlake, Chapters (wie Anm. 308), S. 141. 344 Otfried Nippold, Die Fortbildung des Verfahrens in völkerrechtlichen Streitigkeiten, Leipzig: Duncker & Humblot 1907. Zum Kontext siehe: Ingo Hueck, Peace, Security and International Organisations. The German International Lawyers and the Hague Conference, in: Peace Treaties and Internaional Law in European History, hg. von Randall Lesaffer, Cambridge: Cambridge University Press 2004, S. 254–269.

V. Globalisierung der amerikanisch-europäischen Rechtssysteme

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nationales öffentliches Recht erst durchsetzen, nachdem sie von ihren diskriminierenden formellen und materiellen Bestandteilen gereinigt worden waren. Solange dies nicht geschah – und es geschah erst nach der formalen Dekolonisation –, musste die Durchsetzung von Völkerrecht und internationalem öffentlichen Recht weltweit in Konflikten enden. Darüberhinaus verblieb das Bestreben nach weltweiter Anerkennung völkerrechtlicher Normen in starkem Widerspruch zum politischen und wirtschaftlichen Expansionswillen der europäischen Kolonialregierungen, die sich öfter der Anwendung militärischen und diplomatischen Druckes bedienten als dem von ihnen selbst geschaffenen Recht unterwarfen. Die Völkerrechtslehrer des 19. Jahrhunderts passten ihre Theorien der politischen Praxis nach und nach an und schufen sich auf diesem Weg offene Flanken. Um die Mitte des Jahrhunderts gestand Travers Twiss, der später als Berater der britischen Regierung und inoffizielles Mitglied an der Berliner Afrikakonferenz teilnahm, in seinem zuerst 1861 publizierten Lehrbuch des Völkerrechts allen „Nationen“ „absolute Unabhängigkeit“ zu. Damit bewegte er sich in der Tradition des europäischen Völkerrechtsdoktrinen des 18. Jahrhunderts.345 Twiss ging damals davon aus, dass die „Unabhängigkeit“ der „Nationen“ keinerlei Einschränkungen unterliege, dass alle „Nationen“ untereinander gleich und dass ihre Rechte wechselseitig reziprok seien.346 Twiss zufolge konnten „Nationen“ nur selbst ihre „Unabhängigkeit“ durch Verträge einschränken, so wie nur Souveräne die Kompetenz zur Einschränkung ihrer Kompetenz haben konnten.347 „Protektorate“, worunter Twiss „Nationen“ mit eingeschränkter Unabhängigkeit verstand, waren damit nicht vom Naturrecht her gegeben, sondern konnten nur auf der Basis von Verträgen entstehen.348 Indem Twiss nicht berücksichtigte, dass solche Verträge zwischen der Regierung der USA und Native Americans geschlossen worden waren,349 lokalisierte er diese „Protektorate“ in Europa und nannte Andorra, Knyphausen, Monaco und San Marino als Beispiele. Twiss gab zu, dass „Protektorate“ nur auf dem Weg ungleicher Verträge Zu345

Vattel, Droit (wie Anm. 24), lib. I, cap. 2, § 18, Original, S. 26. Christian Wolff, Ius gentium methodo scientifica pertractatum, § 16, Halle: Renger 1749, S. 12–13 [Nachdruck, hg. von Marcel Thomann, Hildesheim und New York: Olms 1972 (Wolff. Gesammelte Schriften, II.Abteilung, 25. Bd.)]. 346 Twiss, Law (wie Anm. 297), S. 11. 347 Albert Haenel, Studien zum deutschen Staatsrechte, 1. Bd., Leipzig: Duncker & Humblot 1873. 348 Twiss, Law (wie Anm. 297), S. 26. Wheaton, Elements (wie Anm. 63), § 16, S. 29. Nach Grotius, De iure (wie Anm. 23), lib. I, cap. 3, Sect. 21, Nr. 3, S. 131–132. 349 Als Beispiel eines Vertrags zwischen Native Americans in Nordamerika und der US-Regierung siehe den Vertrag zwischen den Choctaw und den USA vom 27. September 1830, in: CTS, 81. Bd., S. 121–130.

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Kap. 4: Völkerrecht, Freihandel und Kolonialismus

standekommen könnten, da diese nicht reziprok sein könnten.350 Er ließ in dieser Zeit aber keinen Zweifel daran, dass es einen grundlegenden begrifflichen Gegensatz gab zwischen „Protektoraten“ und besetzten Gebieten. Während „Protektorate“ in seiner Terminologie unabhängige Staaten waren, obschon ihre „Unabhängigkeit“ vertraglich eingeschränkt worden war, hatten besetzte Gebiete keinerlei „Unabhängigkeit“. Aber die Praktiker der Berliner Afrikakonferenz kümmerten sich nicht um die Kategorien des Völkerrechtslehrers. Nicht allein der deutsche Reichskanzler, sondern sogar Angehörige der britischen Delegation sprachen ohne Unterschied von „Protektoraten“ und „besetzten Gebieten“. Sie gaben dadurch ihrem Verständnis Ausdruck, dass „Protektorate“ keinerlei „Unabhängigkeit“ besäßen.351 Auf Beharren der britischen Regierung verabschiedete die Konferenz zwar letztlich einen Beschluss, demzufolge „Protektorate“ einen anderen Status erhalten sollten als „besetzte Gebiete“.352 Aber die Praxis der Aufteilung Afrikas ebnete diese Unterschiede wieder ein. Anders als in der Jahrhundertmitte ließen sie in der Phase des Hochimperialismus keine Alternative zwischen globalem Oktroi von Regime- und herrschaftlichem Kolonialismus mehr zu, sondern pervertierten das Völkerrecht zum Mittel der Exekution globaler Machtpolitik. An der Wende zum 20. Jahrhundert analysierten dann die Völkerrechtslehrer John Westlake und William Edward Hall, damals im Vereinigten Königreich die einflussreichsten Stimmen des Fachs, die Diktion der Delegierten der Berliner Afrikakonferenz. Westlake behauptete, das „Eindringen der weißen Rasse“ könne nicht gestoppt werden, wo es „Land zu bebauen, Erze zu gewinnen, Handel zu fördern, Sport zu genießen und Neugier zu befriedigen“ gebe. Selbst wenn „ein fanatischer Bewunderer wilden Lebens verlange, dass die Weißen fern zu halten seien, wäre er zu derselben Schlussfolgerung auf einem anderen Weg gezwungen, denn eine Regierung vor Ort wäre nötig, um sie fern zu halten“. Also müsse „das Völkerrecht solche Eingeborenen als unzivilisiert behandeln“. Demzufolge bestritten er und Hall, dass „Protektorate“ irgendeine „Unabhängigkeit“ haben könnten, da sie keine selbständige Außenpolitik betreiben könnten oder in den interna350

Twiss, Law (wie Anm. 297), S. 27, 361–363. Unter den britischen Delegierten, die die Bezeichnung „Protektorat“ in ihrer untechnischen Bedeutung bevorzugten, war Sir John Pauncefort, nach: Johnston, Sovereignty (wie Anm. 262), S. 206. 352 Zur Debatte über den Begriff des Protektorats siehe die Protokolle der Berliner Afrikakonferenz in: Nouveau Recueil general de traits et autres actes relatifs aux rapports de droit international, Deuxième Série, 10. Bd., hg. von Georg Friedrich Martens und Jules Hopf, Leipzig: Weicher 1885, S. 333–334, 341–348. Zur Diskussion des unterschiedlichen Wortgebrauchs siehe: Crowe, Berlin (wie Anm. 264), S. 178–190. Fisch, Africa (wie Anm. 21), S. 354–360. Grovogiu, Sovereigns (wie Anm. 256), S. 77–85. 351

V. Globalisierung der amerikanisch-europäischen Rechtssysteme

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tionalen Beziehungen vollständig durch eine „Schutzmacht“ vertreten seien.353 Die Schlussakte der Berliner Konferenz könne daher keinesfalls dahingehend aufgefasst werden, als stelle sie Rechtstitel bereit, durch die die Souveränität von den „Protektoraten“ auf eine „Schutzmacht“ übertragen werde. Darin bestand nach Westlake ein grober Defekt der Vereinbarung. Er gestand nur zu, dass die Schlussakte dazu dienen könne, rivalisierende Ansprüche verschiedener europäischer Kolonialregierungen dadurch auszuschließen, dass eben niemand rechtlich die Souveränität über „Protektorate“ erwerben könne. In Westlakes Theorie besaßen die „Protektorate“ zwar Souveränität, aber keine „Unabhängigkeit“, weswegen ihre Souveränität für sie rechtlich ohne Bedeutung blieb. Mit „Unabhängigkeit“ meinte er Völkerrechtssubjektivität.354 Überdies stand Westlake ganz im Bann der Theorie des „Kulturfortschritts“, die er kritiklos übernahm. Im Jahr 1894 rechtfertigte er die Errichtung von „Protektoraten“ mit dem Argument, dass ohne „Protektorate“ kein gedeihlicher Verkehr zwischen europäischen Regierungen und angeblich „unzivilisierten Stämmen“ irgendwo sonst in der Welt zustande kommen könne. Nur nach Errichtung von „Protektoraten“ könnten europäische Regierungen in der ihnen gewohnten Weise mit diesen „Stämmen“ interagieren.355 Im Jahr 1904 wurde Westlake deutlicher. In dem Völkerrechtslehrbuch, das er in diesem Jahr veröffentlichte, stellte er klar, dass „koloniale Protektorate“ sich nicht nennenswert von „Annexionen“ unterschieden, „insbesondere in bezug auf die Verantwortlichkeiten, die sich aus den Protektoraten ergeben“. Damit meinte er, dass die selbst ernannten europäischen „Schutzmächte“ ohnehin die volle herrschaftliche Verantwortung übernehmen müssten, gleichgültig, welcher völkerrechtlicher Status den Opfern ihrer Expansion zuerkannt worden sei. Er machte damit deutlich, dass in der Theorie des Völkerrechts zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Begriffe „Protektorat“, „besetztes Gebiet“ und „annektiertes Gebiet“ in mindestens politischer Hinsicht ohne Unterschied gebraucht werden sollten, und dass die so genannten „Schutzmächte“ sich selbst weitreichende Herrschaftsbefugnisse zuschreiben konnten. Zur selben Zeit meinte Westlakes Kollege Hall, durch „Inbesitznahme“ von Gebieten außerhalb von Besitzungen eines „zivilisierten Staats“ erwerbe ein „zivilisierter Staat“ den Rechtstitel der „Okkupation“ im Augenblick der faktischen Ausübung von Herrschaft. In diesen vermeintlichen Rechtstitel schloss Hall, wie schon Westlake, die Protektoratsbestimmungen nach Artikel 34 und 35 der Schlussakte der Berliner Afrikakonferenz ein. 353

Westlake, Chapters (wie Anm. 308), S. 144. Hall, Treatise (wie Anm. 335), S. 126. Zu Westlake siehe: Grovogiu, Sovereigns (wie Anm. 256), S. 51–52. 354 Ebenda, S. 177–178. 355 Ebenda, S. 141.

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Kap. 4: Völkerrecht, Freihandel und Kolonialismus

Als einziges Kriterium zur Unterscheidung zwischen „Okkupation“ in der Form einer Kolonie und „Okkupation“ in der Form eines Protektorats ließ Hall zwar die Reichweite des Staatsrechts des okkupierenden Staates zu, demzufolge nur Kolonien, nicht aber Protektorate, integrale Bestandteile des Staatsgebiets des „okkupierenden“ Staates seien. Doch der nahe liegenden Schlussfolgerung, dass die Beziehungen zwischen dem „okkupierenden“ Staat und dem Protektorat dann völkerrechtlicher Art sein mussten, verweigerte Hall sich mit der Feststellung, die Protektorate hätten herrenlose Souveränität und seien daher keine Subjekte des Völkerrechts. Folglich könnten die Protektorate lediglich Objekte völkerrechtlicher Regelungen unter den „okkupierenden“ Staaten sein. Den Protektoraten könne zwar Staatlichkeit eignen, aber keine Völkerrechtssubjektivität zukommen, da ihre Regierungen nicht „reif für die Ausübung europäischen Rechts“ seien.356 Theorien des Völkerrechts wurden so zu Ideologien des Kolonialismus.357 Damit wurde im frühen 20. Jahrhundert rückwirkend Okkupation der Siedlungsgebiete vermeintlich „unzivilisierter“ Bevölkerungsgruppen durch angebliche „Schutzmächte“ zu einem Herrschaftsbefugnisse und -verpflichtungen konstituierenden Rechtstitel. Dieser konnte nach dem ersten Weltkrieg sogar durch den Völkerbund „treuhänderisch“ von einer sogenannten „Schutzmacht“ auf eine andere übertragen werden.358 An die Stelle der völkerrechtlich festgeschriebenen Anerkennung von Völkerrechtssubjektivität und Souveränität trat die Praxis der einseitig durch die europäischen Kolonialmächte vollzogenen Aberkennung von Völkerrechtssubjektivität. Nicht allein wurden die Opfer europäischer herrschaftlicher wie nichtherrschaftlicher Kolonialexpansion den Normen europäischen Völkerrechts unterworfen, sondern dieses wurde mit seiner praktischen Handhabung durch die europäischen Kolonialmächte pervertiert.

356 Hall, Treatise (wie Anm. 335), S. 100, 114–115, 125–126, 127. John Westlake, International Law, 1. Bd.: Peace, Cambridge: Cambridge University Press 1904, S. 128 [2. Aufl., ebenda 1910]. 357 Siehe: Fisch, Expansion (wie Anm. 36), S. 293–295, 304–311. Grogoviu, Sovereigns (wie Anm. 256), S. 13, 69–110, zu weiteren Quellen für diese Ideologie. 358 So noch: Mark Frank Lindley, The Acquisition and Government of Backward Territory in International Law, London: Longman, Green & Co. 1926, S. 20–22, 325–377 [Nachdruck, New York: Negro University Press 1969]. Jackson, Weight (Bibliografie Nr. 84), konstruierte daraus einen Rechtstitel zur Eroberung. Richard A. Falk, The Status of Law in International Society, Princeton: Princeton University Press 1970, S. 130–145, suchte das Erbe des Kolonialismus zu umgehen, indem er die Kolonialverträge und die Diskussion der Fachleute über sie aus dem Völkerrecht ausgrenzte. Zur Kritik dieser Annahmen siehe: Anaya, Peoples (wie Anm. 71), S. 25. Grogoviu, Sovereigns (wie Anm. 256), S. 13. Koskenniemi, Civilizer (wie Anm. 26), S. 140.

VI. Schluss

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VI. Schluss Der Überblick über ungleiche zwischenstaatliche Verträge und Freihandelsregime offenbart die Strategien der europäischen Regierungen und der Regierung der USA in der Phase ihrer herrschaftlichen wie nicht-herrschaftlichen Kolonialexpansion nach Afrika, Asien und Ozeanien. Die europäischen Kolonialregierungen und die Regierung der USA betrachteten Expansion als nicht weiter zu begründende, gewissermaßen apriorisch gesetzte Aufgabe, an der sie im Verlauf des 19. Jahrhunderts unverändert festhielten. Ebenso wenig änderten diese Regierungen an der Nutzung zwischenstaatlicher ungleicher Verträge zur Legitimation ihrer Expansion. Lediglich das Formular der Friedensverträge und die Option für den Freihandel gerieten im Verlauf des 19. Jahrhunderts außer Gebrauch. Sie wurden durch ein Formular ersetzt, das Interventionen der europäischen Regierungen in die inneren Angelegenheiten ihrer Vertragspartner zu rechtfertigen in der Lage sein sollte. Soweit die Abkommen reine Zessionsverträge waren, was in der Regel in Nordamerika und in Ozeanien hin und wieder der Fall war, wurden die Vertragspartner der europäischen Regierungen und der Regierung der USA zerstört. Andernfalls blieben sie trotz ungleicher Beziehungen als souveräne Staaten bestehen. Herrschaftliche wie nichtherrschaftliche Kolonialexpansion ließ somit bis ins frühe 20. Jahrhundert viele bestehende Staaten unangetastet. Gleichwohl brachen die europäischen Kolonialregierungen und die Regierung der USA vorsätzlich diese Verträge, indem sie einseitig den Völkerrechtsstatus ihrer Vertragspartner änderten und deren Völkerrechtssubjektivität aberkannten. Damit trat zwar in der Sicht der europäischen Kolonialregierungen Staatszerstörung ein, die jedoch auf Seiten ihrer Vertragspartner nicht anerkannt wurde, da die Verträge fortbestanden. Die Einseitigkeit der Änderung des Völkerrechtsstatus hatte nicht nur deren Illegitimität zur Folge, sondern zog auch Widerstand seitens der benachteiligten Bevölkerungsgruppen nach sich. Auch wo Völkerrechtssubjektivität erhalten blieb, wie in Ostasien, legten die europäischen Kolonialregierungen und die Regierung der USA die bestehenden ungleichen Verträge in der Weise aus, dass ihre diesbezüglich nicht-herrschaftliche Kolonialexpansion als gedeckt ausgegeben werden konnte, deren wesentlichste Elemente die Durchsetzung von Grundsätzen des Freihandels und des völkerrechtlichen Vertragsrechts waren. Die Folge dieser Manipulationen war ebenfalls Widerstand der betroffenen Vertragspartner der europäischen Regierungen und der Regierung der USA. Der Widerstand sowohl gegen herrschaftliche als auch gegen nicht-herrschaftliche Kolonialexpansion war häufig militärisch. Staaten kamen dabei nicht durch Krieg zustande, sondern die Indienststellung des Völkerrechts als Vehikel zur Legitimierung kolonialer Expansion führte zu Krieg. Der Missbrauch des Völkerrechts stellte Staaten zur Dis-

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Kap. 4: Völkerrecht, Freihandel und Kolonialismus

position der Diplomaten und Militärs. Europäische Kolonialexpansion dynamisierte und destabilisierte die Staatenwelt. Es ist heute unbestritten, dass europäische Kolonialexpansion unrechtmäßig war und nicht gerechtfertigt werden kann. Kritik an der kolonialen Expansion begann bereits in den 1920er Jahren359 und wurde in den 1970er Jahren lauter.360 Was man sich heute mehr als je zuvor vergegenwärtigen muss, ist die Unrechtmäßigkeit nicht allein der Kolonialherrschaft selbst, sondern auch der Prozesse, durch die die Kolonialherrschaft errichtet wurde. Diese Vorgänge umfassten nicht allein die Anwendung militärischer Gewalt durch europäische Kolonialregierungen, obschon davon oft Gebrauch gemacht wurde. Wichtiger war, dass die europäischen Kolonialregierungen neben starkem diplomatischen und wirtschaftlichen Druck auch die Strategien der unerklärten taktischen Vorbehalte und des vorsätzlichen Bruchs geltender zwischenstaatlicher Verträge zu verfolgen sich vorbehielten. Diese Strategien führten zu einem Widerspruch zwischen Macht und Recht, der durch die Gesamtzeit europäischer Kolonialherrschaft im 19. und 20. Jahrhundert bestehen blieb. Während die europäischen Kolonialregierungen bestrebt waren, ihre Vertragsbrüche mit Rekurs auf Staatsräson zu übertünchen, hielten die Opfer der europäischen Expansion in Afrika, Asien und Ozeanien an dem Grundsatz der Gültigkeit der geschlossenen Verträge fest. Diese Perzeptionen blieben auch in Staaten unvereinbar, die nicht europäischer oder amerikanischer Kolonialherrschaft unterworfen wurden. Auch in diesen Staaten hatten oktroyierte Freihandelsregeln, erzwungene Integration in das europäische Welthandelssystem, die Ausübung starken diplomatischen Drucks und wirtschaftlicher Macht sowie die Durchsetzung des europäischen völkerrechtlichen Vertragsrechts in Verschränkung mit militärischer Bedrohung die Wirkung, dass das Handeln der Kolonialregierungen als Serie von Unrechtsakten aufgefasst werden musste. Obschon die Genozide, beispielsweise die durch die deutsche Regierung im heutigen Namibia und Tansania verübten, und andere militärische Gewaltakte wie die britischen Kriege gegen die Ashanti für die Betroffenen langfristige und irreparable Nachteile nach sich zogen, war die Anwendung militärischer Gewalt doch langfristig weniger dramatisch als der andauernde Konflikt zwischen Macht und Recht. Dies deswegen, da die europäischen Kolonialregierungen und die Regierung der USA in Afrika, Asien und Ozeanien die Errichtung von Institutionen erzwangen, deren Träger darauf verpflichtet wurden, gegenüber den ihnen unterstellten Bevölkerungsgruppen die Interessen der Kolonialregierungen durchzuset359

Lindley, Acquisition (wie Anm. 358), S. 11, 20–23. Charles Henry Alexandrowicz, The European-African Confrontation. A Study in Treaty Making, Leiden: Sijthoff 1973, S. 3–5. 360

VI. Schluss

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zen. Infolgedessen konnten die Opfer von Kolonialherrschaft sowie nichtherrschaftlicher Einflussnahme die von diesem hinterlassenen Institutionen nicht ohne weiteres als legitim anerkennen. Die Erblast der europäischen Kolonialexpansion ist überdies nicht auf den institutionellen Aspekt begrenzt. Denn die europäischen Kolonialregierungen und die Regierung der USA hinterließen auch dort, wo sie ihren Einfluss mit nicht-herrschaftlichen Mitteln auszudehnen verstanden, den Kolonialismus als Ideologie der Expansion. Diese Ideologie fand zusammen mit dem europäischen Staatsbegriff schließlich auch Anwendung in Japan. Kolonialexpansion resultierte daher in nachhaltiger Korruption der indigenen herrschenden Eliten. Die europäischen Kolonialregierungen taten nichts zur Überwindung des Widerspruchs zwischen machtpolitisch motiviertem Vertragsbruch und juristisch motiviertem Festhalten an geschlossenen Verträgen, sondern überließen schließlich den Regierungen der neu unabhängig gewordenen postkolonialen Staaten die Aufgabe, ihre Bevölkerungen mit der Erblast des Kolonialismus zu versöhnen. Staatszerstörung fand daher nur ausnahmsweise im Vollzug der Errichtung europäischer Kolonialherrschaft statt, sondern in großem Umfang erst nach dem Oktroi des europäischen Staatsbegriffs in dem Moment, als die europäischen Herrschaftszonen die Unabhängigkeit erlangten und die präkolonialen Staaten unter sich verschütteten. Der europäische Kolonialismus schuf damit nicht zuletzt diejenige Einstellung, die die vorkolonialen Perioden idyllisierte als gute alte Zeit, und verursachte damit den bis in die Gegenwart reichenden Konflikt zwischen gewolltem Traditionalismus und erzwungener Modernität. Die Prozesse der Staatszerstörung, die aus dem Handeln der europäischen Kolonialregierungen folgten, steigerten das Unsicherheitsbewusstsein in den von Kolonialherrschaft betroffenen Bevölkerungsgruppen. Mit den vorkolonialen politischen und administrativen Institutionen gingen auch die etablierten Systeme rechtlicher und politischer Normen zu Bruch. An die Stelle der präkolonialen Normensysteme traten die unter Kolonialherrschaft oktroyierten, die gebunden waren an neue Institutionen. Auch gegenüber Bevölkerungsgruppen, die Kolonialherrschaft abwehren konnten, setzten die amerikanische und einige europäische Regierungen neue rechtliche und politische Normen sowie neue administrative und politische Institutionen ohne irgendwelche Rechtstitel im späteren 19. und früheren 20. Jahrhundert durch. Auch diese Vorgänge zogen eine Erhöhung des Unsicherheitsbewusstseins nach sich, nunmehr in weiten Teilen der Welt. Die Theorie des „herrenlosen Lands“ und ein korrumpiertes, zur Ideologie kolonialer Herrschaft zerronnenes Völkerrecht schufen die scheinbaren Rechtstitel für Vertreibungen und die Mediatisierung oder Ausschaltung vorkolonialer, Herrschaft tragender Eliten. Die oft gewaltsame Durchsetzung neuer administrativer und politischer Institutionen zertrennte bestehende und erzwang

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Kap. 4: Völkerrecht, Freihandel und Kolonialismus

die „Bildung“ neuer politischer Gruppen, die in postkolonialer Zeit als „Nationen“ verrechtlicht wurden. Kolonialismus hinterließ Unsicherheitsbewusstsein als sein schwierigstes Erbe. Das Bemühen um Menschliche Sicherheit, zumal in Afrika, Asien, Ozeanien und Lateinamerika, ist gekoppelt an Kolonialismuskritik.

Kapitel 5

Ausblick Die Geschichte des Begriffs der Menschlichen Sicherheit in Europa ist lang. Bis an das Ende des 20. Jahrhunderts zeigte sie die Tendenz zur Verengung des Sicherheitsbegriffs. Je weiter der Sicherheitsbegriff gefasst ist und je mehr Bereiche des täglichen Lebens demzufolge sekuritisiert werden können oder müssen, desto größer wird der Zwang zur Zulassung einer Pluralität von Sicherheitsanbietern, die nicht nur in der Form staatlicher Institutionen wie Armee und Polizei sowie kirchlicher und kommunaler sozialer Dienste bestehen können, sondern auch in einer Fülle privatrechtlich firmierender Unternehmen sowie als lokale, nationale wie internationale zivilgesellschaftliche Organisationen. Erst seit Ende des 20. Jahrhunderts wird eine zögerliche Erweiterung des Sicherheitsbegriffs bemerkbar, ohne dass dieser seine frühere Breite bisher wieder erreicht hätte. Durch die ihr zugrunde liegenden Prozesse der Verengung und Erweiterung offenbart die Geschichte des Sicherheitsbegriffs somit die Möglichkeit der Delegitimierung staatlicher Institutionen, die nur als ausschließliche Anbieter eng spezifizierter Formen von Sicherheit bestimmt werden. Diese Folge tritt in zwei entgegengesetzten Dimensionen auf. Je weiter der Sicherheitsbegriff gefasst wird, desto mehr Bereiche des täglichen Lebens müssen sekuritisiert sein. Je mehr Bereiche des täglichen Lebens sekuritisiert sind, desto größer muss die Pluralität der Sicherheitsanbieter sein, die mit den staatlichen Institutionen der Sicherheitsbereitstellung konkurrieren. Umgekehrt führt die Verengung des Sicherheitsbegriffs auf militärische Belange zur Bevorzugung der äußeren Sicherheit der Staaten gegenüber der inneren Sicherheit für die einzelnen Bewohner dieser Staaten. Im ersten Fall können Institutionen des Staates delegitimiert werden, wenn ihre Kompetenz der Sicherheitsgewährung als geringer wahrgenommen wird als diejenige nicht-staatlicher Institutionen. Im zweiten Fall werden die Staaten selbst delegitimiert, da sie von den einzelnen Bewohnern die Bereitschaft verlangen, notfalls für die Sicherheit der Staaten ihre eigene Unsicherheit in Kauf zu nehmen. Unter diesen politischen Bedingungen lässt sich die Legitimität staatlicher Institutionen wie auch der Staaten insgesamt weder allein, wie im frühen 19. sowie dann wieder in den ersten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts, mit dem Pathos nationalistischer Ideologien begründen noch mit den konventionellen Mitteln der rationalistischen Herrschaftsvertragslehre aus dem

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Kap. 5: Ausblick

Postulat ableiten, dass „konsensgestützte Herrschaft“ bereits als solche legitim sei. Mit anderen Worten: Welche Institutionen als legitim anerkannt werden, bestimmt sich nicht mehr mit Selbstverständlichkeit aus der Akzeptanz von Ideologien oder den Grundsätzen von Verfassungen, sondern aus der Praxis einer Sicherheitsgewährung, die in der Sicht der Empfänger erfolgreich ist. Dass Krieg, seine Vorbereitung und seine Folgen im Zusammenhang mit menschlicher Sicherheit zum Problem für die Legitimitätstheorie werden, ist nur scheinbar selbstverständlich angesichts der militärischen Katastrophen in den „totalen“ Kriegen des 20. Jahrhunderts. Eher war umgekehrt ein auf militärische Belange eingegrenzter Sicherheitsbegriff Bedingung der Möglichkeit eben dieser Katastrophen. Wie die Geschichte des Sicherheitsbegriffs in der europäischen Tradition zeigt, hatte ein bis zum 18. Jahrhundert weiter gefasster Sicherheitsbegriff gemeinsam mit einer wenig ausgeprägten Trennung öffentlicher und privater Rechtsbereiche erheblich einhegende Wirkung auf die Fähigkeit von Herrschaftsträgern zur Vorbereitung von Kriegen sowie auf den Einsatz militärischer Machtmittel in der Kriegführung. Der Grund war, wie gezeigt werden konnte, die enge Anbindung eines umfassenden Sicherheitsbegriffs an die Legitimität von Herrschaft, sei es in Anbindung an die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Herrschaftsvertragslehre, sei es durch die noch ältere Vorstellung, der Herrscher sei der Vertreter der Beherrschten vor der Gottheit. Die aus dem Einbezug eines umfassenden Sicherheitsbegriffs in die Theorie der Legitimität von Herrschaft folgende Verpflichtung der als legitim anerkannten Herrschaftsträger auf die Gewährung von umfassender Sicherheit grenzte den Krieg aus den Pflichten der Herrschaftsträger unter allen Bedingungen aus, unter denen ein Konflikt sich nicht als Kampf pro aris et focis erweisen ließ. Denn unter diesen Bedingungen konnten Herrschaftsträger nicht gleichzeitig auf die Gewährung umfassender Sicherheit für die Bevölkerungen in den ihnen unterstellten Staaten oder Territorien verpflichtet sein und ihre Legitimität dafür einsetzen, die Sicherheit derselben Bevölkerungen durch Kriege zu gefährden, die in der Sicht der Bevölkerungen illegitim waren. Umgekehrt folgte aus demselben Zusammenhang, dass erst die Verengung der Sicherheitsbegriffs auf militärische Belange die Fähigkeit von Herrschaftsträgern zur Vorbereitung und Führung von Kriegen mit Einsatz hoher militärischer Mittel auch unter Bewahrung ihrer Legitimität ermöglichte. Die Fähigkeit von Herrschaftsträgern zum Führen „totaler“ Kriege setzt mithin die Militarisierung der Sicherheitsbegriffs voraus. Denn nur unter dieser Bedingung ist das Argument denkbar, dass der Einsatz großer militärischer Mittel zur Gewährung von Sicherheit erforderlich sei. Und nur auf der Basis eines militarisierten Sicherheitsbegriffs kann aus diesem Argument die Forderung folgen, die Bevölkerungen sollten sich verpflichten,

Kap. 5: Ausblick

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ihre persönliche Sicherheit zu opfern, um die Sicherheit des Staats, des Territoriums oder der Nation oder welchen Kollektivs auch immer zu gewährleisten. Aus dieser Bedingung folgt auch die oft wiederholte Beobachtung, dass der Sicherheitsbegriff am einfachsten in Staaten mit diktatorischen oder nicht repräsentativ-demokratischen Verfassungen zu militarisieren ist. Insofern gründet die Ende des 20. Jahrhunderts vorgeschlagene, auf Kant und die internationale Friedensbewegung zurückgehende Theorie des demokratischen Friedens weniger in dem rein theoretisch, das heißt empirisch nur ex negativo belegbaren Postulat, dass Staaten mit repräsentativ-demokratischen Verfassungen untereinander keine Kriege führten, da diese Kriege keine Legitimität erhalten könnten. Hingegen tritt der von der Theorie postulierte Effekt nur dann ein, wenn Herrschaftsträger ihre Legitimität aus der erfolgreichen Sicherheitsgewährung ableiten, was nach der vielen repräsentativ-demokratischen Verfassungen zugrunde liegenden Herrschaftsvertragslehre in deren Fassung des 20. Jahrhunderts mehr oder weniger ausdrücklich geschieht. Gleichwohl ergibt sich diese Art der Friedenswahrung nicht aus der Form der Regierung, kantisch gesprochen, das heißt, nicht aus den Grundsätzen, nach denen die Anerkennung der Legitimität der Regierungen durch die Bevölkerungen förmlich artikuliert wird, sondern aus der der Regierungsform zugrunde liegenden Legitimitätstheorie und dem mit dieser verbundenen Sicherheitsbegriff. Die Beschränkung der Fähigkeit zur Kriegsführung ist also primär innenpolitisch bestimmt und folgt weniger aus der Struktur des internationalen Systems. Deswegen ist die Theorie des demokratischen Friedens, solange sie in den Debatten der Neorealisten und der neoliberalen Institutionalisten über Theorien der internationalen Beziehungen figuriert, an der verkehrten Stelle aufgehängt. Diese Schlussfolgerung bestätigt sich, wenn die Trennung von privatem und öffentlichem Rechtsbereich einbezogen wird. Diese Trennung brachte die Möglichkeit der Definition des Gewaltmonopols des Staates durch Georg Jellinek und Max Weber im frühen 20. Jahrhundert mit sich. Sie bekräftigte die Forderung, dass nur diejenigen Kriege als legitim anerkannt werden sollten, die durch legitime staatliche Institutionen geführt würden, und ermöglichte es an der Wende zum 20. Jahrhundert, diese Forderung in Völkerrechtstexten festzuschreiben. Die Verringerung der Trennung von privatem und öffentlichem Rechtsbereich birgt daher die Gefahr der Privatisierung von Kriegen. Nicht nur das mittelalterliche Fehderecht, sondern auch rezente Formen des Privatkrieges sowie des Einsatzes privater Sicherheitsdienste deuten an, dass der Einbezug eines umfassenden Sicherheitsbegriffs in die Legitimitätstheorie nicht notwendigerweise zur Reduktion der Häufigkeit von militärischen Konflikten führt. Gleichwohl bedingt er die Reduktion des Einsatzes verfügbarer militärischer Mittel und dementsprechend die Begrenzung der Schadenswirkung. Kurz: der umfassende

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Kap. 5: Ausblick

Sicherheitsbegriff schließt Krieg nicht aus, aber die Enttotalisierung des Krieges ein. Überdies schränkt ein weiter Sicherheitsbegriff in Verbindung mit der Legitimitätstheorie die Handlungsfreiheit von Herrschaftsträgern auch außerhalb der Kriegführung ein. Dies zeigt die Migration. Da menschliche Sicherheit unteilbar ist, kann ihr Empfang weder auf Territorien von Staaten begrenzt noch auf Gruppen registrierter Bewohner dieser Territorien eingeschränkt werden. Durch Migration wird der Markt der Sicherheitsgewährung transnational und die verschiedenen Typen der Sicherheitsanbieter konkurrieren nicht nur innerstaatlich, sondern über Staatsgrenzen hinweg. Wenn staatliche Institutionen Migranten die Gewährung menschlicher Sicherheit verweigern, indem sie Migranten aus den ihnen unterstellten Territorien auszugrenzen, oder wenn sie die Sicherheitsgewährung an politische Integration zu binden versuchen, treten nicht-staatliche Sicherheitsanbieter in den transnationalen Markt der Sicherheitsgewährung ein und beschleunigen dadurch die Erosion der Legitimität staatlicher Institutionen. Die Legitimitätstheorie des späten 20. Jahrhunderts hat bisher auf die Herausforderungen der Diskussionen über den Sicherheitsbegriff nicht geantwortet, sondern verharrt auf den Positionen, die Jürgen Habermas in den 1960er Jahren und John Rawls in den 1970er Jahren festgeschrieben haben. Diese Positionen sind gegründet auf das kantische Axiom, dass die Anerkennung der Herrschaft des Rechts die Bedingung von Gerechtigkeit und damit jeder legitimen Staatlichkeit sei. Der Einbezug der menschlichen Sicherheit in die Legitimitätstheorie unterwirft dieses Axiom jedoch der Frage, wie viel Unsicherheit für den einzelnen Menschen die Anerkennung der Herrschaft des Rechts bedeuten darf. Politisch relevant wird diese Frage im Zusammenhang mit einer als extensiv wahrgenommenen Migrationstätigkeit, Krieg und revolutionären Umbrüchen sozialer und politischer Ordnungen sowie den damit verbundenen Wandlungen der Strukturen des Rechtssystems. Enttotalisierung des Krieges und Aufbau transnationaler Märkte der Sicherheitsgewährung wirken über sich hinaus als wichtige Faktoren der Herbeiführung und Festigung des Friedens. Schon Lipsius und Grotius erkannten, dass die Einhegung des Krieges möglich ist, wenn die kriegführenden Parteien in Verfolgung wohl verstandener eigener Interessen sich dazu entschließen können, die von Lipsius als universale Ethik der Mäßigung und von Grotius als Naturrecht kategorisierten Normen der Kriegführung anzuerkennen. Grotius benannte insbesondere das Recht auf reguläre Bestattung der Toten, auch der gefallenen Feinde, sowie den Schutz diplomatischer Emissäre. Die Verbindung von Frieden und Sicherheit fand seit der Spätantike in der Zusammenfügung von pax et securitas ihren Ausdruck und ist

Kap. 5: Ausblick

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heute wieder manifest in der Rede von der Menschlichen Sicherheit. Dieser empirischen Verbindung in der Sprache von Recht und Politik liegt die Untrennbarkeit von Friedens- und Sicherheitstheorie zugrunde. Sie war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts problemlos. Denn sowohl Frieden als auch Sicherheit gründeten ihrerseits in dem theologisch begründeten Glauben an die gottgewollte Stabilität der Welt, auf deren Geschicke den Menschen nur wenig Einfluss gegeben zu sein schien. Folglich war Frieden gedacht als Bedingung der Möglichkeit zum Handeln im Einklang mit vorgegebenen Normen, ebenso wie Sicherheit umfassend erfahren wurde als Bedingung der Möglichkeit zum Planen künftigen Handelns. Sowohl Frieden als auch Sicherheit waren also definiert in Kategorien des Handelns, nicht von Institutionen. Die grundlegenden Veränderungen der Gruppenstrukturen und politischen Ordnungen, des rechtlichen und ethischen Normensystems sowie der Grundlagen der Wirtschaftsordnung in Europa um 1800 zogen auch die Begrenzung der Zahl der Sicherheitsanbieter durch Bevorrechtigung staatlicher Dienststellen, die Militarisierung des Sicherheitsbegriffs und die Erweiterung der Trennung von privatem und öffentlichem Rechtsbereich in scharf gegen einander abgetrennten Nationalstaaten nach sich. Die Trennung ist bis in das 21. Jahrhundert so bedeutend gewesen, dass das System, das seit 2000 den Global Compact der Vereinten Nationen bildet und mit dem sich privatrechtlich firmierende Unternehmen verpflichten, zehn die Menschenrechte, das Arbeitsrecht, den Umweltschutz und den Kampf gegen Korruption umfassende Normen einzuhalten, weder Frieden noch Sicherheit umschließt, obschon die benannten Normen teils Bestandteile menschlicher Sicherheit bilden, teils dieser nahestehen. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts ist also, von Europa ausgehend, die bis dahin übliche Selbstverständlichkeit der Verbindung von Frieden und Sicherheit zum Problem geraten, je mehr die politische Theorie die Sicherheit von Staat und Nation zur Voraussetzung für die persönliche Sicherheit der einzelnen Bewohner von Staaten erhob. Nicht mehr Sicherheit insgesamt, sondern nur noch die Sicherheit von Staat und Nation war folglich mit Frieden assoziierbar. Aber selbst dies geschah in der Praxis des zwischenstaatlichen Verkehrs nur selten. Den Regelfall von Verträgen, die als Friedensverträge ohne Anbindung an voraufgegangene Kriegshandlungen im 19. Jahrhundert zwischen europäischen Regierungen und Regierungen in Afrika und Asien geschlossen wurden, bildeten Abkommen, in denen Frieden nicht mit Sicherheit, sondern mit Freundschaft zwischen Staaten verknüpft war. Frieden geronn zur alleinigen Angelegenheit staatlicher Dienststellen und überstaatlicher Organisationen. Das wichtigste Normensystem, das dem Frieden als zwischen- oder überstaatlichem Zustand dienen soll, ist seit fast zweihundert Jahren das Völ-

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kerrecht. Das Völkerrecht wandelte sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert vom Recht des Kriegs, das ungesetzt sein und im Naturrecht gründen sollte, zum Recht des Friedens, das aus Setzungen oder aus Gewohnheit folgen sollte. Frieden ergab sich nach diesem in Europa vollzogenen Wandel der Auffassung des Völkerrechts folglich nicht mehr aus göttlichem Ratschluss, den nachzuvollziehen Aufgabe der Menschen sein sollte, sondern aus menschengemachten Setzungen. Also war Frieden ohne gesetztes Friedensvertragsrecht nicht mehr denkbar. Die Folge war, dass Frieden nunmehr auch theoretisch als Rechtszustand definiert werden musste, der von Vorgängen des Krieges begrifflich zu trennen war. Begriffsbestimmungen des Friedens müssen jedoch kulturspezifischen Theorien der Politik entnommen werden. Es hat sich bisher kein Begriff von Frieden von den spezifischen kulturellen Kontexten isolieren lassen, in denen er gebildet wurde. Die Bestimmung des Völkerrechts als Recht des Friedens ruhte in der europäischen Tradition auf dem Postulat, dass nicht nur unter bestimmten Konfliktparteien, sondern in der Welt als ganzer ein allen Völkerrechtsubjekten gemeinsamer Begriff des Friedens verfügbar sein müsse. Den europäischen Begriff des Friedens überall in der Welt mit dem Mittel des europäischen öffentlichen Rechts zwischenstaatlicher Verträge durchzusetzen war erklärtes Ziel derjenigen militärischen Missionen, die die Regierung der USA sowie einige europäische Regierungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts nach Ostasien entsandten. Sie verfehlten ihr Ziel, da die betroffenen Regierungen und Bevölkerungen den Oktroi europäischer Normen als Surrogat kolonialer Herrschaft erfuhren. Da das öffentliche Recht zwischenstaatlicher Verträge im Besonderen wie auch das Völkerrecht insgesamt nach europäischer Auffassung nur Staaten als Subjekte kannten, waren nichtstaatliche Akteure von der Mitwirkung an völkerrechtlichen Setzungen ex definitione ausgeschlossen. Da das Völkerrecht Staaten privilegierte, musste es gegen nichtstaatliche Akteure diskriminieren. Diese Auffassung des Völkerrechts blieb unproblematisch, solange sie in ihrer Anwendung auf das Ius Europeum Publicum begrenzt blieb. Doch schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts ergaben sich im Ius Europeum Publicum nicht bekannte Probleme, die aus der Forderung nach Anerkennung zwischenstaatlicher Rechtsnormen sowie, darauf folgend, der Errichtung überstaatlicher Institutionen und Organisationen und deren Anerkennung als Akteure im Sinn des Völkerrechts mit nunmehr globaler Reichweite resultierten. Für die überstaatlichen Institutionen und Organisationen, wie etwa den Weltpostverein, behalf man sich bis zum Ersten Weltkrieg mit der Konstruktion, dass diese Institutionen und Organisationen auf der Basis von Handlungen entstünden, die durch souveräne Regierungen vollzogen worden seien, und somit ihrerseits zur Durchsetzung völkerrechtlicher Normen legitimiert seien. Doch nach dem Ersten Weltkrieg erforderte die Er-

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richtung des Völkerbunds mehr als diese rein vertragsrechtliche Konstruktion, nämlich die Zulassung der Kompetenz zur Normsetzungkraft eigenen Rechts durch den Völkerbund selbst. Diese Kompetenz musste in einer höherrangigen Urkunde gesetzt sein, die als Covenant bezeichnet wurde. Dass mit der Inkraftsetzung dieser Urkunde juristisches Neuland betreten wurde, beweist der paradoxe Umstand, dass diese Rechtssetzungskompetenz setzende Urkunde in den bilateralen Vertrag zwischen den Kriegsalliierten und dem Deutschen Reich inseriert, gleichwohl das Deutsche Reich durch diese Urkunde nicht in den Völkerbund aufgenommen wurde. Das Friedensvertragsrecht gab also auch im Jahr 1919 noch den Rahmen ab für die Setzung neuen Völkerrechts. Erst bei der Gründung der Vereinten Nationen hat man diesen Widerspruch beseitigt. Diese Probleme wuchsen auch dadurch, dass das Ius Europeum Publicum bis zum Ersten Weltkrieg andernorts in der Welt als Vehikel zur Durchsetzung europäischer Rechtsnormen im zwischenstaatlichen Bereich diente, die in völkerrechtlichen Verträgen festgeschrieben werden sollten. Viele dieser Vertragswerke, insbesondere die zwischen Regierungen in Nordamerika und Europa einerseits, Staaten sowie, in europäischer Sicht, nichtstaatlich organisierten Gruppen in Nordamerika, Afrika und Ozeanien geschlossenen Abkommen, folgten dem europäischen öffentlichen Recht der zwischenstaatlichen Verträge auch dann, wenn die für dieses Recht notwendige wechselseitige Anerkennung der Souveränität der vertragsschließenden Parteien zum Zweck der Zerstörung von Staaten und anderen Formen von Politien in Nordamerika, Afrika und Ozeanien missbraucht wurde. Die zahlreichen Fälle, in denen das europäische öffentliche Recht der zwischenstaatlichen Verträge zum Zweck der Staatszerstörung Anwendung fand, pervertierten das Völkerrecht zur Ideologie kolonialer Herrschaft. Die Expansion des Ius Europeum Publicum zog indes nicht nur die Globalisierung einiger formaler Grundsätze des Abschlusses zwischenstaatlicher Verträge nach sich, sondern auch den Wandel der Grundsätze internationaler Politik. In formaler Hinsicht war die Durchsetzung des Schriftlichkeitsprinzips die für die Gestaltung des Völkerrechts folgenreichste Wirkung der europäischen Expansion. Da das geschriebene Wort zum alleinigen Träger verbindlicher Abkommen zwischen Staaten erhoben wurde, musste das Völkerrecht umgewandelt werden aus einem naturrechtlich vorgegebenen Normensystem in ein System von Satzungen menschlichen Ursprungs. Innerhalb Europas begann dieser Vorgang bereits um 1700 und wurde zuerst manifest in den großen Sammlungen völkerrechtlicher Urkunden, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gedruckt erschienen. Diese Sammlungen konnten nur Abkommen enthalten, die selbst in Schriftform vorlagen. Innerhalb Europas bedeutete dieser Schritt kein Problem, da

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sich dort die Schriftlichkeit als Faktor der Verbindlichkeit in gerichtsrelevanten Vereinbarungen längst durchgesetzt hatte. Auch die Regierungen untereinander hatten den Grundsatz praktisch anerkannt, dass förmliche Vereinbarungen unter ihnen in Schriftform fixiert sein sollten. Die Sammlungen völkerrechtlicher Abkommen waren also zugleich Resultate und Mittel der Umformung des Ius Europeum Publicum aus Naturrecht in gesetztes Recht. Dennoch war dieser Prozess eingegrenzt auf das europäische internationale System und zunächst gebunden an den christlichen Glauben. Nur zögerlich hingegen fand das Recht zwischenstaatlicher Verträge Anwendung auf Abkommen europäischer Herrscher mit dem türkischen Sultan. Nur zwei zwischenstaatliche Verträge, in die Herrschaftsträger östlich des Osmanischen Reiches einbezogen waren, kamen vor Ende des 18. Jahrhunderts zustande. Es waren die beiden chinesisch-russischen Verträge von Nertschinsk 1689 und Kiachta 1727. Bei diesen Verträgen ist aber in Betracht zu ziehen, dass bei ihrem Abschluss die meisten europäischen Herrscher den russischen Zaren nicht als europäischen Herrscher anerkannt hatten. Folglich war mit Ausnahme des Osmanischen Reiches die Welt außerhalb von Europa und Nordamerika von den Wandlungen des Ius Europeum Publicum unbeeinflusst. Mit dem von ihr erzwungenen Vertrag von Nanjing verfolgte die britische Regierung nicht nur das Ziel, einen augenblicklichen militärischen Erfolg in eine rechtlich bindende Ordnung ihrer Beziehungen zu China zu gießen, sondern suchte auch, den Gültigkeitsbereich der Regeln des europäischen Rechts zwischenstaatlicher Verträge auf Ostasien auszuweiten. Wie auch andere Regierungen in Ostasien hatte die chinesische Regierung damals kein Modell, auf das sie in ihrer eigenen Tradition für Abkommen hätte zurückgreifen können. Denn die mit dem russischen Zaren geschlossenen Abkommen waren Grenz-, keine Friedensverträge gewesen. Der Vertrag von Nanjing hatte aus chinesischer Perspektive eine gravierende Änderung des bis 1842 bestehenden hierarchisch geordneten, tributären, ost- und südostasiatischen internationalen Systems zu Folge, an dessen Spitze sich die chinesische Regierung wähnen konnte. Denn sie war bis dahin die Tribut erhaltende Seite gewesen. Mit dem Vertrag von Nanjing setzte die britische Regierung die Anerkennung des Grundsatzes der Gleichheit der souveränen Vertragsparteien durch, der neben dem Grundsatz der Schriftlichkeit Bestandteil des europäischen Formulars zwischenstaatlicher Verträge war. Der Grundsatz der souveränen Gleichheit der Vertragsparteien widersprach diametral der politischen Praxis, auf die das chinesisch kontrollierte internationale System gegründet gewesen war. Mit dem Vertrag von Nanjing setzte also der Prozess der Eingliederung des ostasiatischen internationalen Systems in das sich globalisierende internationale System Europas ein. Dem Prozess unterlagen nacheinander auch Japan zwischen 1854 und 1869 sowie

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die nichtkolonialisierten südostasiatischen Staaten zwischen den 1830er und den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts. In den beiden letzteren Fällen fand das Formular der Friedensverträge auch in Situationen Anwendung, in denen kein Krieg beendet wurde. Auch wenn die Wahl dieses Formulars selbst keine rechtlichen Folgen nach sich zog, trug sie doch bedeutende politische Botschaften. Denn die Friedensverträge schrieben die Auffassung fest, dass Frieden nicht als Bestandteil der gegebenen Weltordnung existiere, sondern in schriftlichen Urkunden geschaffen werden müsse. Erst dadurch wurde das Paradoxon möglich, die Setzung von Frieden mit besonderen Bestimmungen über die Gewährung der naturrechtlich gegebenen Fürsorge für Schiffbrüchige sowie nachfolgend auch für umfassendere Regelungen des „freien“ Handels zu verknüpfen. Die Friedensverträge im besonderen und das Völkerrecht im allgemeinen wurden so zu Vehikeln der Durchsetzung europäischen Regime-Kolonialismus in Ost- und Südostasien. Anders gesagt: das Völkerrecht geronn zum Instrument der Legitimierung politischer und wirtschaftlicher Diskriminierung der Regierungen in Ostund Südostasien. Europäischen Regierungen galt Regime-Kolonialismus als die billigere Alternative zu direkter oder indirekter Kolonialherrschaft. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ersetzten europäische Regierungen den Regime-Kolonialismus immer öfter durch direkte oder indirekte Kolonialherrschaft, insbesondere in Ozeanien und Afrika. Einerseits ignorierten oder verwarfen sie bestehende bilaterale zwischenstaatliche Verträge auf der Basis der Anerkennung der souveränen Gleichheit der vertragsschließenden Parteien, andererseits schlossen sie weiterhin neue zwischenstaatliche Verträge, deren Gegenstand nicht mehr die Aufrechterhaltung bilateraler Beziehungen zwischen den vertragsschließenden Parteien, sondern die Scheinlegitimierung gravierender Eingriffe in die Souveränität der Vertragspartner in Ozeanien und in Afrika bis hin zur Staatszerstörung war. Frühes Beispiel für diese Praxis ist der so genannte „Vertrag“ von Waitangi, den die britische Regierung mit den „Chiefs“ der Ma¯ori im Jahr 1840 schloss und der die Zerstörung der Staaten der Ma¯ori in dem nachmalig so genannten Neuseeland beurkundete. Im späteren 19. Jahrhundert vollzogen insbesondere die britische, deutsche und französische Regierung Akte der Staatszerstörung auf der Basis zwischenstaatlicher Verträge in Afrika und Ozeanien. Die Gruppen, die Opfer europäischer kolonialer Expansion in Afrika und Ozeanien wurden, mussten folglich das pervertierte Völkerrecht als Ideologie europäischer Kolonialherrschaft wahrnehmen. Hinzukam, dass das Völkerrecht nicht nur bei den Opfern europäischer Expansion als Ideologie kolonialer Herrschaft wahrgenommen wurde, sondern auch bei den Opfern des europäischen Regime-Kolonialismus als politischer Indikator für Großmachtstatus. Insbesondere in Ostasien hatte die Einbindung von Freihandels- und anderen Regimen in das Völkerrecht

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die Folge, dass Regierungen in China und Japan wettbewerblich ihre Fähigkeit zur Durchsetzung solcher Regime gegenüber anderen Regierungen zu demonstrieren trachteten. In diesem Wettbewerb mussten kriegerische Konflikte zwischen China und Japan entstehen, die seit dem 13. Jahrhundert nicht mehr stattgefunden hatten. Die Niederlage Chinas im Chinesisch-Japanischen Krieg von 1894/95 schrieb die japanische Regierung als Sieger in diesem Wettbewerb fest und schien ihr die Durchsetzung eigener kolonialer Ansprüche zu gestatten. Die Nutzung der Insel Taiwan als Labor für japanische Kolonialpolitik, die zwischen 1895 und 1945 bis in Einzelheiten britischem Vorbild folgte, sowie die Annexion Koreas im Jahr 1910, für die ausgebliebene Schuldentilgung als Vorwand diente, waren furchtbare Konsequenzen der japanischen Emulation europäischer Kolonialherrschaft als demonstratives Zeichen von Großmachtpolitik. Dem Zwang zur großmachtpolitischen imitatio europaea konnte sich auch die Regierung der USA nicht entziehen, als sich im Jahr 1898 die Chance bot, die spanische Kolonialherrschaft in Südostasien zu beseitigen und durch amerikanische Kolonialherrschaft zu ersetzen. Die Perversion des Völkerrechts zum Rechtsmittel der Errichtung und Festigung europäischer direkter und indirekter Kolonialherrschaft hat die Akzeptanz der Völkerrechts auch nach der formalen Dekolonialisierung beeinträchtigt. Darüber hinaus hat sich insbesondere gegen Ende des 19. Jahrhunderts gezeigt, dass das Völkerrecht nicht nur gegenüber internationalen Akteuren sperrig ist, sondern auch nur bedingt und mit Schwierigkeiten den Forderungen des seit den 1980er Jahren wieder erweiterten Sicherheitsbegriffs angepasst werden kann. Hauptproblem ist auch für dieses Problem die Privilegierung der Staaten durch das Völkerrecht. Insofern als mit der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs die Pluralisierung der Typen von Sicherheitsanbietern auch im über- und zwischenstaatlichen Bereich verbunden ist, könnten nichtstaatliche Akteure wie transnationale zivilgesellschaftliche und andere nichtstaatliche Organisationen nur mit Zustimmung der Regierungen souveräner Staaten als völkerrechtliche Akteure zugelassen werden. Bisher gibt es keinerlei Anzeichen, dass unter den Regierungen souveräner Staaten dazu Bereitschaft besteht. Im Gegenteil, für wesentliche Bereiche der Gewährung umfassender Sicherheit, wie etwa für Migranten, insbesondere Zwangsmigranten ohne Möglichkeit ihrer Anerkennung als Flüchtlinge nach den Genfer Konventionen, für die transnationale Verbrechensbekämpfung oder die Regelung zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche erweist sich das Völkerrecht in der Regel als stumpf. Die Kritik oder gar Delegitimierung völkerrechtlich inzwischen zugelassener internationaler Organisationen wie der Vereinten Nationen oder Institutionen wie der Weltbank oder des IWF wegen mangelnder Fähigkeit der Sicherheitsgewährung ist schon heute erkennbar.

Kap. 5: Ausblick

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Mit diesen Hinweisen sind einige der Konsequenzen angesprochen, die aus der Geschichte von Legitimität, Frieden und Völkerrecht für die politische Praxis der internationalen Beziehungen von heute folgen. Die wichtigste dieser Konsequenzen ist, dass Institutionen des Staates nur begrenzt als Adressaten für Forderungen nach Gewährung von Sicherheit im umfassenden Sinn taugen. Wer unter Sicherheitsgewährung mehr versteht als staatliche Kontrolle von der Wiege bis zur Bahre, kommt nicht umhin, einen Pluralismus von Sicherheitsanbietern in einem wettbewerblich organisierten Markt national wie transnational zuzulassen. Das mag für Institutionen staatlicher Herrschaft misslich erscheinen und kurzfristig auch sein; langfristig aber haben auch Institutionen des Staates nur dann Chancen auf Anerkennung ihrer Legitimität, wenn sie im Wettbewerb mit anderen Sicherheitsanbietern höhere Kompetenz und ein Mehr an Transparenzfähigkeit unter Beweis stellen. Da repräsentativ-demokratische Legitimität nach Maßgabe der Herrschaftsvertragslehre von wahrgenommenem Erfolg der Sicherheitsgewährung nicht trennbar ist, kommt den nationalen wie transnationalen Märkten der Sicherheitsgewährung die zentrale Rolle in der Enttotalisierung des Krieges und damit der Verstetigung des Friedenswillens zu. Wer Frieden will, muss nicht nur innerstaatliches Recht, sondern auch Völkerrecht dem Bedürfnis nach umfassender Sicherheit anpassen wollen.

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50. Zu Debatten um die Friedenspolitik im 18. Jahrhundert (Kap. 2, Anm. 165, Kap. 4, Anm. 56): Aretin, Karl Otmar Freiherr von: Reichssystem, Friedensgarantie und europäisches Gleichgewicht, in: Aretin, Das Reich. Friedensgarantie und europäisches Gleichgewicht. 1648–1806, Stuttgart: Klett-Cotta 1986, S. 55–75. Burkhardt, Johannes: Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: Zeitschrift für Historische Forschung 24. Jg. (1997), S. 509–574. Duchhardt, Heinz: Friedenswahrung im 18. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 240. Bd. (1980), S. 265–282. – Zwischenstaatliche Friedens- und Ordnungskonzepte im Ancien Régime, in: Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit, hg. von Ronald G. Asch, Wulf Eckart Voß und Martin Wrede, München: Fink 2001, S. 37–45 (Der Frieden. 2.). Garber, Klaus/Held, Jutta (Hg.): Der Frieden, 1. Bd., München: Fink 2001. Kampmann, Christoph: Arbiter und Friedensstiftung. Die Auseinandersetzung um den politischen Schiedsrichter im Europa der frühen Neuzeit, Paderborn: Schöningh 2001, S. 26–36 (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte. N. F., 21. Bd.). – Die englische Krone als „Arbiter of Christendom“?. Die „Balance of Power“ in der politischen Diskussion der späten Stuart-Ära (1660–1714), in: Historisches Jahrbuch 116. Jg. (1996), S. 321–366. Schatz, Jürgen: Imperium, pax et iustitia. Das Reich – Friedensstiftung zwischen Ordo, Regnum und Staatlichkeit, Berlin: Duncker & Humblot 2000 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft. 114.). Schindling, Anton: Reichsinstitution und Friedenswahrung nach 1648, in: Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Die europäische Staatenordnung und die außereuropäische Welt, hg. von Ronald G. Asch, Wulf E. Voß und Martin Wrede, München: Fink 2001, S. 259–291 (Der Frieden. 2.).

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110. Zu den Wirkungen der Globalisierung des europäischen Völkerrechts (Kap. 4, Anm. 342): Fisch, Jörg: Die europäische Expansion und das Völkerrecht. Die Auseinandersetzungen um den Status der überseeischen Gebiete vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart: Steiner 1984, S. 284–348 (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte. 26.). – The Globalization of International Law in the Nineteenth Century, in: International Political Economy 15. Bd. (2005), S. 1–11. Gong, Gerrit W.: The Standard of „Civilisation“ and the Entry of Non-European Countries into International Society. The Cases of China, Japan, and Siam. Ph. D. Diss., Masch., Oxford, 1980, Bl. 113–149. – China’s Entry into International Society, in: The Expansion of International Society, hg. von Hedley Bull und Adam Watson, Oxford: Clarendon Press 1984, S. 171–183 [Nachdruck, ebenda 1992]. Kämmerer, Jörn Axel: Das Völkerrecht des Kolonialismus. Genese, Bedeutung und Nachwirkungen, in: Verfassung und Recht in Übersee 39. Jg. (2006), S. 397–424. Koskenniemi, Martti: The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870–1960, Cambridge: Cambridge University Press 2002 [5. Aufl., ebenda 2008]. Steiger, Heinhard: From the International Law of Christianity to the International Law of the World Citizen, in: Journal of the History of International Law 3. Jg. (2001), S. 180–193, insbes. S. 187–190. – Peace Treaties from Paris to Versailles, in: Peace Treaties and International Law in European History, hg. von Randall Lesaffer, Cambridge: Cambridge University Press 2004, S. 59–99, insbes. S. 66–67. Suginami, Hidemi: Japan’s Entry into International Society, in: The Expansion of International Society, hg. von Hedley Bull und Adam Watson, Oxford: Clarendon Press 1984, S. 185–199 [Nachdruck, ebenda 1992].

Sachwortverzeichnis Abessinien, Außenbeziehungen nach Italien 293 Ablass 61 Aboriginal Protection Society 207 Abschließung (Begriff) 157–169, 220, 241 Acedia 91 Adel 66 Ägypten, Außenbeziehungen nach Buganda 303–304 Äquatoria (Provinz) 303 f. Äquivalenz siehe Reziprozität Äthiopien siehe Abessinien Afrika-Konferenz (1884–85) 296–300, 320–323 Akosmismus (Begriff) 111 Algericas-Konferenz (1906) 320 Algier, Außenbeziehungen nach Dänemark 232 Amerika, Eroberung von 128, 184 f., 204 Amnestie (Begriff) 77, 212 Ancona (Schiff) 235 Angola-Vertrag siehe Vertrag Deutsches Reich – Vereinigtes Königreich (1898) Anizanza, Außenbeziehungen zum Vereinigten Königreich 294 Ankole, Außenbeziehungen zum Vereinigten Königreich 306 Annexion (Begriff) 323 Ansei-Verträge 255–260 Antikolonialismus 186–187, 311 Aquitanien 39 Arengen 64, 116 f. Aristotelismus 20 f., 122 Armbrüste 63

Armee (Begriff) 30, 141 f. Ars notariae 51 Artikelsbriefe 63 Arumaeus, Dominicus 135 Ashanti, Außenbeziehungen zum Vereinigten Königreich 187, 293 Asiatische Produktionsweise 112 Asiatisches Bureau 268, 275 Askese 111, 151 Aufstellungsparadigmata 131 Ausfuhrzölle 256, 275, 284 Ausgewiesene 315 Ausländer (Wort) 43 Autodynamik (Begriff) 49 f., 60, 126 Automobile 315 Bagroo, Außenbeziehung zum Vereinigten Königreich 292 f. Balance (Wort) 87, 96 Balance Europas (Begriff) 96 Barriere (Begriff) 142 f. Befestigungen 40, 154, 165, 168, 181, 170, 235 Belagerung 53 Belgien, Außenbeziehungen nach Buganda 303 – nach Japan 275 Bellum publicum (Begriff) 91 Berner Übereinkunft 315 Bestattung 30 f. Beteadougou, Außenbeziehungen nach Frankreich 308 Bevölkerungspolitik 75, 83, 141 Bibelübersetzung 34 Bildung (politischer Begriff) 97 Biologismus 96–99, 103, 145–147, 162 f., 173, 206–209

Sachwortverzeichnis Blutrache 39 Bogenschießen 107, 155 Bonifatius, Hl. 35 f. Bonny, Außenbeziehungen zum Vereinigten Königreich 203 Book of Kells 25–27 Boxeraufstand 61 Briand-Kellogg-Pakt 231 Brückenbau 61 Brüsseler Konferenz über den afrikanischen Sklavenhandel 293 Buddhismus, Handlungstheorie 114 f., 149–156, 171 f. Buddhologie 113 f. Bündnisse 54 Bürgerliche Gesellschaft (Begriff) 82 f., 85 Bürokratisierung 65 f. Buganda, Außenbeziehungen nach Ägypten 303 f. – nach Belgien 303 – zum Deutschen Reich 303–305 – nach Frankreich 303 – nach Italien 303 – zum Vereinigten Königreich 192, 294–296, 302–328, 310–312 Buganda Crisis 311 Bunyoro, Außenbeziehungen zum Vereinigten Königreich 307 Burgundischer Reichskreis 201 f. Bußbuch siehe Pönitentiale Certitude (Wort) 80 China, Außenbeziehungen allgemein 76, 138, 189 – nach Japan 219, 284–286 – nach Portugal 165 – nach Russland 164, 227 f. – zum Vereinigten Königreich 169, 214–219, 234, 246 China-Handel 9–11, 238, 246 Church Missionary Society 303 f.

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Clausula de rebus sic stantibus 227, 230 Closer Union 310 f. Commission on Human Security 22 Committee on Commercial Relations with China 246 Congo siehe Zulu Consociatio (Begriff) 72 Correlates of War (Projekt) 313 f. Correspondence Respecting the Late Negotiations with Japan 248 Dänemark, Außenbeziehungen nach Algiers 232 – nach Japan 275 Dahomey, Außenbeziehungen nach Frankreich 293 – zum Vereinigten Königreich 293 Demarkation 52, 54, 181 Deontologie 111 Desertion 142 Designation 127 Deutsche Afrika-Gesellschaft 296, 305 Deutsches Reich, Außenbeziehungen nach Buganda 303–305 – nach Manasse 299 – nach Samoa 319 – nach Tanganyika 301 f., 326 – nach Togo 299, 308 – zum Vereinigten Königreich 230, 301 f., 305 f., 318 f. Devotionsformel 39 Disziplin (Begriff) 46, 78, 85, 90, 150 Dominium (Begriff) 20, 184 Drachen siehe Würmer Dreißigjähriger Krieg 178 f. Drill siehe Exerzieren Duale Wirtschaft 300 EIC siehe Ostindische Kompanie, Englische Eide 224

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Sachwortverzeichnis

Eidgenossenschaft 204 f. Eigentum 54, 48, 71, 98, 183 f. Emperor (Schiff) 272 Encyclopédie 80 Entente Cordiale siehe Verträge Frankreich – Vereinigtes Königreich Entscheidungsschlacht siehe Hauptschlacht Erbcharisma 39 Erbschaftsregel 27 f., 39 Erkenntnistheorie 114 f. Erziehung 60 Ethik der Mäßigung 68 f., 76–78, 82–84, 124 f., 133 Europäisches System (Wort) 163, 200 f. Ewiger Friede (Programm) 77, 86 f., 91 f., 106 f., 136–138 Ewiger Landfriede 118 f., 194 f. Exerzieren 90–92, 131–133, 151 Exerzierreglements 132 f. Exotismus 261–262 Exterritorialität 98, 254–258, 263, 275–277, 283 f., 316–318 Farimbouta, Außenbeziehungen nach Frankreich 308 Fehderecht 118 Fernhandel 120 f., 164–166, 202, 220, 263 f. Feuerversicherungen 85 Feuerwaffen 150, 154 *Fora¯nus (Wort) 43 Foreigner (Wort) 43 Fotografie 216, 272 f. Franken (Gruppe) 27 f., 32, 39, 46 Frankfurt, Synode von (794) 39 Frankreich, Außenbeziehungen nach Beteadougou 308 – nach Buganda 303 – nach Dahomey 293 – nach Farimboula 308 – nach Japan 256–259

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nach Madagaskar 298 f., 300, 308 nach Makhadougou 308 nach Samo 299 nach Siam 76, 165, 203, 235 zum Osmanischen Reich 225 f., 232 – zum Vereinigten Königreich 309 Französische Verfassung (1793) 92 Frauenhandel 315 Freiburg (Breisgau) 55 Freies Geleit 54 Freihandel (Theorie) 176–178, 182, 210–214, 217, 220, 242 f.–253 f., 258, 283 f., 296 f. Freihandelsimperialismus (Theorie) 210 f. Freiheit (Begriff) 49 f., 95 Freiheit (Wort) 95 Freundschaftsverträge 214, 220, 233, 237, 254–257, 274 f.; siehe auch Friedensverträge, Handelsverträge Verträge, zwischenstaatliche Frieden (Begriff, Europa) 16 f., 45 f., 61, 63 f., 70 f., 83, 87 f., 91 f., 95, 111, 125 f., 137–139, 172, 174 Frieden (Begriff, Japan) 108 f., 129, 149–172 Friedensbewegung, internationale 102 f., 106, 147–149, 316 f. Friedensgebote 118, 134 Friedensklage 72 f., 86 f., 107, 119 f. Friedenspolitik 130 f., 175 f. Friedensschluss siehe Friedensverträge Friedenstheologie 46, 63, 116, 119, 125 f., 128 Friedensverträge 17 f., 77, 81, 87, 133–137, 140, 142, 175 f., 214, 216, 221, 234, 239–258, 274 f., 281 siehe auch Freundschaftsverträge, Handelsverträge, Verträge, zwischenstaatliche Friedensverträge von Münster und Osnabrück (1648) 134, 204 f., 226 f.

Sachwortverzeichnis Friedensverträge von Nimwegen (1678/79) 142 Friedensverträge von Utrecht (1713) 88, 197 Friedensvertrag, allgemein (1518) 86 f., 124, 195 Friedensvertrag, Liberia (1876) 293 Friedensvertrag, niederländisch-spanischer, von Münster (1648) 134, 204 Friedensvertrag von Belgrad (1739) 141 Friedensvertrag von Rijkswijk (1697) 88, 142, 197 Friedensvertrag von Zsitvatorok (1606) 198 Fundamentalgesetze 227 Funktionalisten 98 f. Fußkrieger 24 f., 35, 89 f. Ganzes Haus (Begriff) 27 Geduld (Begriff) 69 f. Gefangennahme Christi 25 f. Gefolgschaften 40 Gehorsam (Begriff) 46, 76 Geiselverzeichnis, sächsisches 46 „Gelbe Gefahr“ (Schlagwort) 99 Gemeiner Nutzen (Begriff) 58, 83 Genealogien 27 f., 31 f. Genozid 291, 316, 326 Geodätische Konvention 315 Gerechter Krieg (Theorie) 63, 67 f., 117, 119 f., 128 f., 143 Geschloßne Handelsstaat, Der 93, 209 Gesellschaftsvertrag 72, 75 Gesetze Ines’ von Wessex 30, 117 Gesetze Knuts von England 43 Gesetze Wihtre¯ds von Kent 43 Gesundheitskonvention 316 Gewaltmonopol (Begriff) 117 Gilden 55, 63 Gleichgewicht (Theorie) 87 f., 94–96, 139–142, 144, 197

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Gleichheit (Begriff) 17, 148, 189–209, 216 f., 221, 239, 254, 282, 292, 296 f. Göttliches Recht 225 Gohad, Außenbeziehungen nach Italien 293 Gottesfrieden 118 Grenze (Begriff) 52, 54, 147, 162–164, 181, 184, 208, 306 Großbritannien siehe Vereinigtes Königreich Grundstücksregister 54 Gruppenstrukturen 29 f., 32 f., 39–41, 43, 47–49, 55, 50, 118 Haager Konferenzen 147 f., 315 Häuserregister 54 Handelskompanien 55, 61, 120, 130 f., 133, 137, 165 f., 203 Handelsverträge 202, 220, 233, 241 f., 252; siehe auch Freundschaftsverträge, Friedensverträge, Verträge, zwischenstaatliche Handlungstheorien 108–115, 125, 143, 150–152, 169–171, 174 Hauptschlacht (Theorie) 133, 146 Hawaii, Annexion von 190 Hawaii, Außenbeziehungen nach Japan 284–286 – zu den USA 190, 285 Heiligenverehrung 33 Helgoland-Vertrag siehe Vertrag Deutsches Reich – Vereinigtes Königreich Herrenloses Land (Begriff) 184, 186, 309 Herrschaft (Begriff) 32–42, 48, 51, 66, 79 Herrschaftsvertragslehre siehe Kontraktualismus Heterodynamik (Begriff) 23 f. Höhenburgen 48 Hornhausen, Reiterstein von 35 Hospitäler 61 Hudson Bay Company 9

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Sachwortverzeichnis

„Hundert Jahre der Erniedrigung“ 214 Hygiene 316 Identität, kollektive 46 f., 49, 66 f., 85 f., 97 f., 266 f. Ikki 156 f. Imperay, Außenbeziehungen zum Vereinigten Königreich 292 f. Imperial British East Africa Company 296, 305 Imperialismus 210, 243, 290, 308 f., 322 Imperium (Begriff) 20 Indian Mutiny 291 Indischer Ozean 294, 303 Inquisition 54 Insurance (Wort) 80 Integration (Begriff) 186 f. International Commission on Intervention and State Sovereignty 22 International Development Centre 22 Internationale Organisationen 15, 315, 320 Internationales Militärtribunal für den Fernen Osten 231 Internationalismus siehe Friedensbewegung, Kultureller Internationalismus Intervention (Begriff) 22, 212, 294 Italien, Außenbeziehungen nach Abessinien 293 – nach Buganda 303 – nach Gohad 293 – nach Japan 275 Ius ad bellum 30, 117 f., 122 Ius in bello 133 f., 314 Ius inter gentes (Begriff) 128–130 Ius Municipale Saxonicum 48 Iwakura-Mission 279 Japan, Außenbeziehungen allgemein 157–172, 189, 220, 234, 241, 255–260, 275 f., 281–284 – nach Belgien 275

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nach China 219, 284–286 nach Frankreich 256–259 nach Hawaii 184–186 nach Italien 275 nach Österreich-Ungarn 265 f., 280 nach Portugal 260 nach Preußen 260–267 nach Russland 221, 235, 239 f., 247, 252–255 – zu den Niederlanden 219, 221, 254 f. – zu den USA 10, 16, 221, 236–246, 255 f. – zum Norddeutschen Bund 276–280 – zum Vereinigten Königreich 10, 210, 221, 245–252, 255, 258 f. – zur Schweiz 267–275 Japankarten 239 Japonian Charters 246 Kaikoku siehe Öffnung Kaikoku Heidan 167 Kaiser (Titel) 199 f., 239, 248 f., 253, 260–262, 264 Kalotypie 216 Kalvinismus 131 f. Kampfsport 107, 155 f. Kanonen (Feuerwaffen) 154 Kap-Kairo (Route) 305 Kapetinger 63 f. Kapitularien 30, 39, 47, 117 Kavalli, Außenbeziehungen zum Vereinigten Königreich 307 Kendo¯ 155 f. Kenya Protectorate 300 Kirchenstaat 207 Kirchenvisitationen 78 Kirchhöfe 30 f. Kognitionsethnologie 110 Kollektivwesen (Wort) 97 f. Kolonialherrschaft 182, 185–190, 196 f., 202 f., 213 f., 291 f., 296 f., 299–320, 322–328

Sachwortverzeichnis Kolonialismus, nicht-herschaftlicher siehe Regime-Kolonialismus Kolonialkrieg (Begriff) 318 Kombattanten (Status) 62 f., 78 Kompanien siehe Handelskompanien Konfuzianismus 214 Konsens-gestützte Herrschaft (Begriff) 51 Konsozialismus 72 Konstanzer Vertrag 193 f. Konstitutionen von Melfi 56 Konsulargerichtsbarkeit siehe Exterritorialität Konsularische Vertretung 243 f., 269 f. Kontraktualismus 21 f., 56–58, 67 f., 70–75, 101 f., 122 f., 141, 205 f. Konversion 41 f. Konzilienbewegung 59 Kreuzzüge 193–195, 225 Krieg (Begriff) 17 f., 45 f., 52 f., 62, 74, 78, 80 f., 91, 100 f., 126, 141 f., 173 f., 179, 181, 186, 209, 290, 308 Krieger 24 f., 30, 33, 35 f., 50, 53, 60, 78, 89 f., 149–172 Kriegsächtungspakt 231 Kriegsbücher 90, 131 Kriegsdeduktionen 89 Kriegskritiker 62 f., 119 f., 126, 134 Kriegsmathematik 131–133 Kriegsrecht siehe ius ad bellum, ius in bello Kriegstheorie (chinesische) 106 f., 156 Kriegstheorie (europäische) 74, 79, 86 f., 89, 92 f., 116, 146, 178 f. Kriegstheorie (japanische) 106–108, 149–172 Kriegsverbrecher (Begriff) 231 Kriegsziele 52–54, 121, 186 Krimkrieg 11, 247, 253 Kula Ring 192 f. „Kulturdünger“ (Wort) 294 Kultureller Internationalismus 316 f.

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„Kulturfortschritt“ (Begriff) 292, 315 f., 320, 323 Kun’o¯ (Titel) 239 Kyu¯do¯ 107, 155 Länderschacher 310 f., 305 f., 309, 319 Lahore, Außenbeziehungen zum Vereinigten Königreich 203 Landfrieden 64 Landsknechte 89 f., 118 f. Lebensversicherungen 85 Legitimität (Begriff) 13 f., 21, 47 f., 55–59, 63, 67–77, 79, 83, 97–99, 126, 180, 318 Legitimitätstheorie 19, 22, 83, 102 f., 121 f. Lehnsrecht 199 Leidenschaften (politischer Begriff) 94 f. Lewis-and-Clarke-Expedition 238 Libri memoriales 29, 44 Londoner Protokoll (1862) 259 Lutitzen 40 Macau 10, 165 Machtlehren 134 f. Machtprinzip 208 Madagaskar, Außenbeziehungen nach Frankreich 298–300, 308 – zu den USA 293 – zum Vereinigten Königreich 292 f. Mahin, Außenbeziehungen zum Vereinigten Königreich 298 Majestät (Titel) 200 Majestas (Wort) 68 Malteser Orden 207 Manasse, Außenbeziehungen zum Deutschen Reich 299 Ma¯ori 199, 203, 298–299 Mare liberum (Theorie) 79 f., 167 Mariner (Schiff) 10

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Sachwortverzeichnis

Maswa, Außenbeziehungen zum Vereinigten Königreich 307 Mauerbauordnung (Worms) 40 Mechanizismus 141–144, 162, 173, 206 Mediatisierung 66 Medizinalisierung 61 Medusa (Schiff) 271 f. Meistbegünstigungsklausel 241 f., 285, 292 f. Mekhadougou, Außenbeziehungen nach Frankreich 308 Memorialbücher siehe Libri memoriales Metrische Konvention 315 Migration 23, 48, 52, 75, 83, 111, 285 Militärakademien 131 f., 135 Militärische Aufklärung (Begriff) 99, 132 Militarisierung 14, 102 f., 121 f., 169, 191, 221 Milizionäre 90 Mission 39, 41, 160, 165, 296, 303 f. Morrison (Schiff) 10 f., 240 Motte (Bauwerk) 48 Muraviev-Memorandum 147 Muskat, Außenbeziehungen zum Vereinigten Königreich 203, 235 Nachfolgeregel 27 f., 31 Nation (Begriff) 207 Nationalismus 16, 96 f., 100–102, 145 f., 206 f. Native Americans 9, 184, 202, 220, 321 Naturrecht 81, 83 f., 135, 185, 188, 199 f. Naturzustand 75, 80 Nicht-Kombattanten (Status) 62 f. Niederdollendorf, Stein von 24 f., 27 Niederlande, Aufstand 67 f., 72 f., 89–91, 130, 132, 134, 181, 204

Niederlande, Außenbeziehungen nach Japan 219, 221, 239 f., 254 f. Nilquellen 302 f. Norddeutscher Bund, Außenbeziehungen nach Japan 276–280 Notariatsinstrumente 50 f. Novara (Schiff) 265 f. Oberkayt (Begriff) 198 Öffentlichkeit (Begriff) 19 f., 30, 54, 58, 61 f., 66, 71, 75, 80, 91 f., 103, 156 f. „Öffnung“ (Begriff) 11, 16, 170 f., 238, 241, 246 f., 249 f., 252, 254, 259, 264, 270 f. Österreich-Ungarn, Außenbeziehungen nach Japan 265 f., 280 Okkupation (Begriff) 183 f., 185 f., 291, 297 f., 300, 323 f. Ontologie 114 f. Opiumkrieg (Erster) 169, 214–217 Opobo, Außenbeziehungen zum Vereinigten Königreich 308 Orale Traditionen 33 f. Organismusvergleich siehe Biologismus Orientalismus 112 f., 169, 214 Osmanisches Reich, Außenbeziehungen nach Frankreich 225 f., 232 – nach Polen 198 f. – nach Venedig 198 f. – zum Römischen Reich 198 – zum Vereinigten Königreich 233 Ostindische Kompanie, Englische 203, 246 Ostindische Kompanie, Niederländische 133 f., 160, 166, 254, 264 Outlaw (Wort) 43 Pacta sunt servanda (Grundnorm) 220–235, 278, 283 Pactum (Begriff) 21, 56, 72, 122 Pallada (Schiff) 274 Pariser Konvention (1864) 259

Sachwortverzeichnis Patentschutz 315 Pazifismus siehe Friedensbewegung Peace Enforcement Operations 176 Perak, Außenbeziehungn zum Vereinigten Königreich 286 f. Pères Blancs 303 f. Persien, Außenbeziehung zu Russland 164 f. Peuplierung 75, 83, 141 Phaeton (Schiff) 127 Physiokratismus 76 Piraten 171, 215 f. Pönitentiale 42 Polen, Außenbeziehungen zum Osmanischen Reich 198 f. Polen, Teilungen von 95, 144, 186 f. Policeyordnungen 78 Politische Theorie des 16. Jahrhunderts 67–69 Politische Theorie des 17./18. Jahrhunderts 80–82, 139 f. Politische Theorie des 19. Jahrhunderts 93–97 Politische Theorie im Spätmittelalter 20 f., 50, 56–58, 122 Polizei (Begriff) 78, 97 „Pontificale Abgott“, der 262 „Pope, Japanese“ 262 Portugal, Außenbeziehungen allgemein 199 – zu China 165 – zu Japan 260 Postdienste 315 Presseagenturen 163 Preußen, Außenbeziehungen nach Japan 2607 Protektorat (Begriff) 298–301, 306, 308, 311, 322 f. Proteste 66–68, 72 f., 89–91, 130, 132, 134, 156 f., 181, 204, Psalterkarte 37 f. Quod omnes tangit 59

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Rang 200 Rangaku 167 Realismus (Theorie) 319 f. Regime-Kolonialismus 16, 185 f., 191, 210–213, 283, 314–322, 325 Regulierter Krieg (Begriff) 132 f. Reichsverfassung (Heliges Römisches Reich) 118, 127, 136 f., 194–202 Reichsweistum (1231) 51 f. Reisen 43, 61, 277 Reiterkrieger 35 f. Repos (Wort) 87 Res nullius siehe terrae nullius Res publicae (Begriff) 79 f. Residenzstadt 66 Revision (Begriff) 277–279, 283 Revolution (Begriff) 112 f. Reziprozität (Begriff) 201 f., 217, 249, 253, 262 f., 276–278, 282, 284 f., 292 Ripener Vertrag 57 Riukiu siehe Ryu¯kyu¯ Römisches Recht 223 Römisches Reich, Heiliges, Außenbeziehungen zum Osmanischen Reich 198 Romanus Pontifex (Bulle) 129 Rotes Kreuz 23 Royal Geographical Society 302 f. Ruhe (Begriff) 116 f., 142 f. Ruhe (Wort) 87, 142 Ruhe Europas (Begriff) 96 Russland, Außenbeziehungen nach China 164, 217 f. – nach Japan 11, 221, 235, 247, 252–255 – nach Persien 164 f. – zum Vereinigten Königreich 247 f. Sachsen (Gruppe) 46 f. Safe (Wort) 80 Safety (Wort) 80 Sagrera 30 f.

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Sachwortverzeichnis

Sakoku (Wort) 168 f. Sakralität (Begriff) 38 Samo, Außenbeziehungen nach Frankreich 299 Samoa, Außenbeziehungen zum Deutschen Reich 319 Sanda (Bildstein von) 35 Sansibar-Vertrag siehe Vertrag Deutsches Reich – Vereinigtes Königreich Schiedsgerichtsbarkeit siehe Schlichtung Schiffbrüchige 9 f., 15, 98, 239–241, 249, 253, 263, 281 f. Schifffahrt 61, 80, 84, 294, 303 Schifffahrtsverträge 202, 314 f. Schiffsgrab (Sutton Hoo) 26 f. Schlichtung 46, 135, 200 f., 223, 234 Schriftlichkeitsprinzip 221 f. Schützen 63 Schutz siehe Protektorat; Sicherheit (Begriff) Schutzzollpolitik 211 Schwache Staaten (Theorie) 179 f. Schweiz, Außenbeziehungen nach Japan 267–275 Schwertkampf 155 f. Schwurgemeinschaft 55 Securitas (Wort) 80 Sécurité (Wort) 80 Seelenheil (Begriff) 30, 47 Seidenindustrie 271 Sekuritisierung 12 f. Shimonoseki, Zwischenfall von 259 Shoa siehe Abessinien Sho¯gun (Titel) 199, 236 f., 239, 248, 253, 260–262, 264, 274 Siam, Außenbeziehungen nach Frankreich 76, 165, 203, 235 – zu den USA 232–235 – zum Vereinigten Königreich 286 f., 317 Sicherheit (Begriff) 11–16, 21, 30, 34–36, 38–40, 50, 54, 59–64, 71,

77–92, 95, 97, 102, 116 f., 123, 125, 129, 140, 142, 145 f. Sicherheit (Bereitstellung) 40–48, 60 f., 79 f., 84 f., 89 Sicherheit (Wort) 80 Sicherheitsdilemma 102 f. Singen (Musik) 33 f. Sklavenhandel 293 f. Sorglosigkeit (Sünde) 91 Souveränität (Begriff) 89, 118, 188–209, 216 f., 219, 257 f., 292, 296 f., 299, 310, 312 Soziale Frage 97 f. Sozialer Körper (Begriff) 98 Soziales Handeln (Begriff) 108–111 Staat (Begriff) 14 f., 17, 32 f., 144–146, 162, 179–182, 190 f., 257 f., 318 Staatenintegration (Begriff) 186 f. Staatensukzession (Begriff) 92–97, 177, 183, 185 f., 188, 190 f., 196 f., 203 f., 207–209, 299, 313 Staats-Betrachtungen 89, 140 f. Staatsentstehung (Theorie) 178–183, 185, 204, 209, 318 Staatsräson (Begriff) 68, 134 f. Staatsrecht 182 f., 229 Staatsteilung (Begriff) 95, 144, 186 f. Staatstheorie 14–16, 68, 79, 93, 97 f., 166, 170, 178–183, 186, 188, 318–320 Staatstod (Begriff) 313 Staatszerstörung (Begriff) 95, 144, 176, 182, 187–190, 202–204, 207, 288–291, 299, 325 f. Stabilität (Begriff) 63 f., 87 f., 92, 95, 116, 140, 178 f. Stadtmauern 40, 53 f., 57 f. Stadträte 50 f., 55, 58, 72 f. Stadtrecht, Sächsisches 48 Stadtrecht, von Freiburg 55 Stadtrecht, von Köln 122 Stadtrecht, von Worms 55 Stellinga 40

Sachwortverzeichnis Sterbehäuser 61 Stifter (Institutionen) 61 Straßen 61 Strategie 16, 181, 185 f., 191, 208, 210–213, 283 Südafrikanische Republik siehe Transvaal Sünde (Begriff) 125 Sündenfall 56 f. Sultan (Titel) 200 Sure (Wort) 80 Sûreté (Wort) 80 Sutton Hoo (Schiffsgrab) 26 f. Suwo 259 System, internationales (Begriff) 163 f., 192 f., 196 f. Taikun (Titel) 248 f., 253, 256–258, 260 f., 274 Taiwan 213 Tanganyika, Außenbeziehungen zum Deutschen Reich 301 f., 326 Techniques du corps 126 Telegrafenkonventionen 315 Teleologie 111 Tenno¯ (Titel) 262, 276 Terrae nullius (Begriff) 183, 186 Territorialisierung 51 f., 57–59, 65–92, 77 f., 83, 117, 121–124, 208 Thailand siehe Siam Tiere, als Feinde der Menschen 24–27, 35–38 Togo, Außenbeziehungen zum Deutschen Reich 299, 309 Toro, Außenbeziehungen zum Vereinigten Königreich 306 Totenmemoria 27–30, 44 Tranquillitas (Wort) 64, 87, 197 Tranquillity (Wort) 80, 87 Transvaal, Außenbeziehungen zum Vereinigten Königreich 309 Treuhänderschaft 203 Troja 28

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Turnbewegung 93 Tycoon siehe Taikun Uganda siehe Buganda Uganda, Republic of 312 Uganda Agreement siehe Vertrag Buganda – Vereinigtes Königreich Uganda Protectorate 192, 307 f., 311 f. Uganda Question 305 Uhrenhandel 268–272 Uhrwerk 141 f. Ulm 154 Umweltschutzkonvention 314 f. Unabhängigkeit (Begriff) 73, 181, 204, 308, 312 f., 322 f. Unabhängigkeitserklärung (1776) 204 Union Horlogère 268, 275 United Nations Development Program 22 Universal Postal Union 315 Urheberrecht 315 f. USA, Außenbeziehungen nach Hawaii 190 – nach Japan 10 f., 16, 221, 236–246, 255 f. – nach Madagaskar 293 – nach Siam 232–235 Vaganten 85 f. Venedig, Außenbeziehungen zum Osmanischen Reich 198 f. Vereinigtes Königreich, Außenbeziehungen nach Ankole 306 – nach Anizanza 294 – nach Ashanti 293 – nach Bagroo 292 f. – nach Bonny 203 – nach Buganda 192, 204–206, 302–308, 310–312 – nach Bunyoro 306 – nach China 214–219, 234, 246, 250, 256 f.

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Sachwortverzeichnis

– nach Dahomey 293 – zum Deutschen Reich 301 f., 205 f., 230, 318 f. – nach Frankreich 309 – nach Imperay 292 f. – nach Japan 10 f., 210, 221, 245–252, 255 – nach Kavalli 307 – nach Lahore 203 – nach Madagaskar 292 f. – nach Mahin 298 – nach Maswa 307 – nach Muskat 203, 235 – nach New Calabar 308 – nach Opobo 308 – zum Osmanischen Reich 233 – nach Perak 286 f. – nach Russland 247 f. – nach Siam 286 f., 317 – nach Toro 306 – nach Transvaal 309 – nach Wadelai 307 – nach Zulu 292 f., 308 Vergangenheitswahrnehmung 112 f., 214 Verkehrssprache 258 Versicherungen 61, 80, 84 f. Verträge, hypothetische 21, 56 f., 72 f., 83, 122 Verträge, multilaterale 259, 314–320 Verträge, ungleiche 197, 214, 219, 221, 239–284, 292–294, 298 f., 306–308 Verträge, zwischenstaatliche 17, 77, 186, 189 f., 193 f., 197, 202–204, 212, 220–235, 239–286, 291–294, 306 f., 309; siehe auch Freundschaftsverträge; Friedensverträge Verträge Frankreich – Vereinigtes Königreich (1904) 309 Verträge von Münster und Osnabrück (1648) 205 Vertrag Abessinien – Italien (1883) 293

Vertrag Ahsanti – Vereinigtes Königreich (1874) 293 Vertrag Aninanza – Vereinigtes Königreich (1876) 294 Vertrag Ankole – Vereinigtes Königreich (1901) 306 Vertrag Bagroo – Vereinigtes Königreich (1872) 292 f. Vertrag Belgien – Japan (1866) 275 Vertrag Beteadougou – Frankreich (1880) 308 Vertrag Bonny – Vereinigtes Königreich (1837) 203 Vertrag Buganda – Vereinigtes Königreich (1900) 306 Vertrag Bunyoro – Vereinigtes Königreich (1933) 307 Vertrag China – Russland (1689) 164 f. Vertrag China – Russland (1727) 165, 217 f. Vertrag China – Vereinigtes Königreich (1842) 10, 214–219, 234, 246, 250, 298 Vertrag Dänemark – Algier (1746) 232 Vertrag Dänemark – Frankreich (1645) 88, 197 Vertrag Dänemark – Japan (1867) 275 Vertrag Dahomey – Frankreich (1878) 293 Vertrag Dahomey – Vereinigtes Königreich (1877) 293 Vertrag Deutsches Reich – Manasse (1885) 299 Vertrag Deutsches Reich – Samoa (1879) 319 Vertrag Deutsches Reich – Samoa (1880) 319 Vertrag Deutsches Reich – Samoa (1888) 319 Vertrag Deutsches Reich – Togo (1884) 299, 309

Sachwortverzeichnis Vertrag Deutsches Reich – Vereinigtes Königreich (1890) 301 f., 305 Vertrag Deutsches Reich – Vereinigtes Königreich (1898) 306, 309 Vertrag Farimboula – Frankreich (1880) 308 Vertrag Frankreich – Japan (1858) 257 f. Vertrag Frankreich – Madagaskar (1895) 399 f., 308 Vertrag Frankreich – Mekhadougou (1880) 304 Vertrag Frankreich – Römisches Reich (1526) 228 Vertrag Frankreich – Samo (1879) 299 Vertrag Frankreich – Siam (1837) 203 Vertrag Frankreich – Siam (1856) 203 Vertrag Gohad – Italien (Okt. 1884) 293 Vertrag Gohad – Italien (Nov. 1884) 293 Vertrag Imperay – Vereinigtes Königreich (1872) 292 f. Vertrag Italien – Japan (1866) 275 Vertrag Japan – Niederlande (1856) 254 f. Vertrag Japan – Niederlande (1858) 255 Vertrag Japan – Norddeutscher Bund (1869) 276–280 Vertrag Japan – Österreich-Ungarn (1869) 280 Vertrag Japan – Portugal (1860) 260 Vertrag Japan – Preußen (1861) 260–267 Vertrag Japan – Russland (1855) 235, 252–254 Vertrag Japan – Russland (1858) 255 Vertrag Japan – Schweden (1868) 275 Vertrag Japan – Schweiz (1864) 267–275 Vertrag Japan – USA (1854) 239–246 Vertrag Japan – USA (1858) 255 f.

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Vertrag Japan – Vereinigtes Königreich (1854) 245–252 Vertrag Japan – Vereinigtes Königreich (1858) 255 Vertrag Kavalli – Vereinigtes Königreich (1894) 307 Vertrag Lahore – Vereinigtes Königreich (1849) 203 Vertrag Madagaskar – USA (1881) 293 Vertrag Madagaskar – Vereinigtes Königreich (1865) 292 f. Vertrag Mahin – Vereinigtes Königreich (1885) 298 Vertrag Maswa – Vereinigtes Königreich (1894) 307 Vertrag Muskat – Vereinigtes Königreich (1873) 203 Vertrag Nassau – Oranje (1813) 204 Vertrag New Calabar – Vereinigtes Königreich (1884) 308 Vertrag Opobo – Vereinigtes Königreich (1884) 308 Vertrag Perak – Vereinigtes Königreich (1874) 286 f. Vertrag Römisches Reich – Eidgenossenschaft (1499) 205 Vertrag Ryu¯kyu¯ – USA (1854) 237 Vertrag Sansibar – Vereinigtes Königreich (1873) 293 f. Vertrag Sherbro – Vereinigtes Königreich (1825) 290, 293 Vertrag Siam – USA (1833) 232 Vertrag Siam – Vereinigtes Königreich (1909) 287, 317 Vertrag Toro – Vereinigtes Königreich (1901) 306 Vertrag Transvaal – Vereinigtes Königreich (1894) 309 Vertrag Vereinigtes Königreich – Wadelai (1894) 307 Vertrag Vereinigtes Königreich – Zulu (1836) 292, 308 Vertrag von London (1839) 230

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Sachwortverzeichnis

Vertrag von Madrid (1526) 228 „Vertrag“ von Waitangi (1840) 203, 287–289 Vertragsrecht 213, 220–235, 277–279, 281–284, 291 f., 326 Vier Freiheiten 23 VOC siehe Ostindische Kompanie, Niederländische Völkerbund 147 f. Völkerrechtssubjektivität 206 f., 299, 309, 312, 317, 323 f. Völkertafeln 207 Volk in Waffen (Begriff) 92, 100 f. Volkskörper (Wort) 147 Voluntarismus 71 f., 189, 298 Wadelai, Außenbeziehungen zum Vereinigten Königreich 307 Waffengebrauch 52 f., 63 Waffentechnik 106 f., 150 Waffentragen, Verbot von 50 f. Waitangi 203, 287 f. Waitangi Tribunal 290 Wako¯ siehe Piraten Walfänger 257 Wallhausen, Johann Jakobi von siehe Jakobi von Wallhausen Washington (State) 9

Weichbildrecht, Sächsisches 48 Weltinnenpolitik (Begriff) 103 Weltkarten 57 f., 119 Weltpolitik (Begriff) 99 Weltverkehrsrecht (Begriff) 320 Wessex 28, 117 Wiener Kongress (1814/15) 95 f., 205, 293 Wiener Konvention (1969) 222 Wikinger 34 Wineleas (Wort) 44 Wissenschaften eines Soldaten (Begriff) 135 Wodan 35 f. Wolfsfreunde 43 f. Wolfskopf 44 Wormser Stadtrecht 55 Würmer 24–26, 36–38 Zessionsverträge 202, 289, 293, 321 „Zivilisiertheit“ (Begriff) 220 f., 250, 283, 292, 294, 310, 316–317, 320, 323 f. Zollverein, Deutscher 261, 266 f. Zulu, Außenbeziehungen zum Vereinigten Königreich 292 f., 308 Zweckrationalität 109–111