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German Pages 354 Year 2020
Wissenschaftlicher Beirat: Klaus von Beyme, Heidelberg Horst Bredekamp, Berlin Norbert Campagna, Luxemburg Herfried Münkler, Berlin Henning Ottmann, München Walter Pauly, Jena Wolfram Pyta, Stuttgart Volker Reinhardt, Fribourg Tine Stein, Göttingen Kazuhiro Takii, Kyoto Pedro Hermilio Villas Bôas Castelo Branco, Rio de Janeiro Loïc Wacquant, Berkeley Barbara Zehnpfennig, Passau
Staatsverständnisse | Understanding the State herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 138
Tobias Herbst | Sabrina Zucca-Soest [Hrsg.]
Legitimität des Staates
Titelbild: Möbiusband, © Colourbox.com / picoStudio.
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-6140-1 (Print) ISBN 978-3-7489-0263-8 (ePDF)
1. Auflage 2020 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2020. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Editorial
Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Verände‐ rungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die „Entgrenzung der Staatenwelt“ jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Umso interessanter sind die Theorien früherer und heutiger Staatsden‐ ker, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben. Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, wird unter dem Leitthema „Wiederaneignung der Klassiker“ im‐ mer wieder zurück zu kommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsver‐ ständnisse veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den zeitge‐ nössischen Staatstheoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideolo‐ gie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer voneinander zu trennen sind. Auch die Verstrickung Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusam‐ menhang nicht verzichtet werden. Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Fragestellung nicht nur an (politische) Philosophen und Philosophinnen, sondern auch an Geistes- und Sozialwissenschaftler bzw. -wissenschaftlerinnen. In den Bei‐ trägen wird daher zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräf‐ tiger Sprache – mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen. Auf diese Weise wird der Leser/die Leserin direkt mit dem Problem konfrontiert, den Staat zu verstehen. Prof. Dr. Rüdiger Voigt
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Editorial – Understanding the State
Throughout the course of history, our understanding of the state has fundamentally changed time and again. It appears as though we are witnessing a development which will culminate in the dissolution of the territorially defined nation state as we know it, for globalisation is not only leading to changes in the economy and techno‐ logy, but also, and above all, affects statehood. It is doubtful, however, whether the erosion of borders worldwide will lead to a global state, but what is perhaps of grea‐ ter interest are the ideas of state theorists, whose models, theories and utopias offer us an insight into how different understandings of the state have emerged and chan‐ ged, processes which neither began with globalisation, nor will end with it. When researchers concentrate on reappropriating traditional ideas about the state, it is inevitable that they will continuously return to those of Plato and Aristotle, upon which all reflections on the state are based. However, the works published in this se‐ ries focus on more contemporary ideas about the state, whose spectrum ranges from those of the doyen Niccolò Machiavelli, who embodies the close connection be‐ tween the theory and practice of the state more than any other thinker, to those of Thomas Hobbes, the creator of Leviathan, those of Karl Marx, who is without doubt the most influential modern state theorist, those of the Weimar state theorists Carl Schmitt, Hans Kelsen and Hermann Heller, and finally to those of contemporary theorists. Not only does the corruption of Marx’s ideas into a Marxist ideology intended to justify a repressive state underline the fact that state theory and practice cannot be permanently regarded as two separate entities, but so does Carl Schmitt’s involve‐ ment in the manipulation conducted by the National Socialists, which today tarnis‐ hes his image as the leading state theorist of his era. Therefore, we cannot forego analysing modern state practice. How does all this enable modern political science to develop a contemporary un‐ derstanding of the state? This series of publications does not only address this ques‐ tion to (political) philosophers, but also, and above all, students of humanities and social sciences. The works it contains therefore acquaint the reader with the general debate, on the one hand, and present their research findings clearly and informa‐ tively, not to mention incisively and bluntly, on the other. In this way, the reader is ushered directly into the problem of understanding the state. Prof. Dr. Rüdiger Voigt
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung Tobias Herbst, Sabrina Zucca-Soest Legitimität als Forschungsgegenstand
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Prof. em. Dr. jur. Rüdiger Voigt, Netphen Staatsverständnisse
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I.
Empirische Zugänge
Hermann Amborn Schaffung von Normen und deren Geltung durch herrschaftsfreie Diskurse am Beispiel polykephaler Gesellschaften in Afrika und Indonesien
25
Andreas Glöckner Legitimität und Rechtsbefolgung: Eine empirisch-psychologische Perspektive
47
Andreas Funke Bestrittene Legitimität: Der Umgang deutscher Gerichte mit „Reichsbürgern“
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II.
Sozialwissenschaftliche Zugänge
Eva Birkenstock, Sergio Dellavalle Legitimität im nationalen, supranationalen und internationalen Kontext
93
Ulf Kemper Repräsentation, Deliberation und Direktdemokratie als konkurrierende Legitimitätsquellen. Auf der Suche nach Legitimation in der neuen politischen Raumordnung
123
7
III.
Theoretische Zugänge
Andreas Niederberger Von der Legitimität demokratischer Selbstregierung
153
Claudia Wirsing Jenseits guter Gründe? Zur Legitimität normativer Ordnungen im Anschluss an Hegel und Habermas
175
Anna Katharina Mangold Demokratische Legitimität und Gleichheit
195
Sabrina Zucca-Soest Zur transskriptiven Begründung von Legitimität
223
Tobias Herbst Die Bedeutung konsensualer Verfasstheit für die Legitimität von Normen
251
IV.
Entwicklungsfragen
Peter Seyferth Wenn der Staat prinzipiell illegitim ist, welche politische Struktur kann dann überhaupt legitim sein? Versuch über die Legitimität eines „anarchistischen Staats“
271
Lando Kirchmair Legitimität und Realität. Vorüberlegungen zu einer interdisziplinären Legitimitätskonzeption für das EU-Rechtsstaatlichkeitsverfahren gemäß Artikel 7 EUV
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Utz Schliesky Legitimität: Ausblick in die digitale Zukunft
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Autoren/Autorinnen
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8
Einleitung
Tobias Herbst, Sabrina Zucca-Soest Legitimität als Forschungsgegenstand
Die Frage nach der Legitimität des Staates steht seit Anbeginn moderner Staatlich‐ keit im Mittelpunkt verschiedener disziplinärer Begründungsdiskurse. In Zeiten von grundlegenden gesellschaftlichen Umwälzungen wie der Globalisierung gewinnt die Frage nach tragfähigen Legitimitätskonzepten eine besondere Brisanz. So wird das Handeln des Staates heute zunehmend in Frage gestellt. Kritik wird nicht nur an ein‐ zelnen Gesetzen oder Gerichtsurteilen geübt, sondern auch in fundamentaler Weise – nämlich an Nationalstaaten wie gar der repräsentativen Demokratie schlechthin. Mit Zunahme der Globalisierungsphänomene scheint Legitimität nach innen wie nach außen zu einer prekären staatlichen Begründungsressource geworden zu sein. Die politische Klasse wird oftmals als vom Willen des demos abgekoppelte Elite wahr‐ genommen, der nicht zu trauen ist. Populistische Parteien und Bewegungen greifen solche Stimmungen auf und haben dadurch an Zulauf gewonnen. Das Erstarken von autoritären politischen Ordnungen und populistischen Strömungen kann vor diesem Hintergrund als neue Legitimitätsstiftungsversuche angesichts unüberschaubarer po‐ litisch gesteuerter wie auch nicht gesteuerter Einflussnahmen der unterschiedlichsten Akteure in nationalen, inter- wie transnationalen Arenen interpretiert werden. Über seinen klassischen Anwendungsbereich (staatliche Herrschaftsverhältnisse und Recht) hinaus findet der Legitimitätsbegriff außerdem in vielschichtiger Weise neue Verwendung. Denn Normen und Regeln können auch durch solche politischen und gesellschaftlichen Interaktionen hervorgebracht werden, die nicht staatlich orga‐ nisiert sind. Das gilt für die Verhältnisse in einem failed state ebenso wie bei nicht‐ staatlichen Organisationen und Regelwerken wie ICANN, der lex mercatoria, den Regeln einer Religionsgemeinschaft oder Regeln des sozialen Umgangs. Hier grei‐ fen die klassischen staatsrechtlichen Legitimitätskonzeptionen nicht und dennoch er‐ heben auch solche Normen und Regeln Befolgungsansprüche, sodass auch hier die Frage nach guten Gründen für eben diese Befolgung und damit nach ihrer Legitimi‐ tät gestellt werden kann. Bei nichtstaatlichen Normen und Regeln kann sich die Le‐ gitimität sogar noch direkter und umfassender auswirken, wenn es an institutionali‐ sierten Herrschaftsformen fehlt, die wie beim Staat zu einer von ethischen Ansprü‐ chen enthobenen systemischen Stabilität führen. Vor diesem Hintergrund muss Legitimität als Begründungskategorie für den Gel‐ tungsanspruch von sozialen, politischen und rechtlichen Normen analysiert werden.
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Am Beispiel des staatlichen Rechts lassen sich die dabei zu erörternden Fragen verdeutlichen: Der Staat bringt Recht hervor, das von den Bürgern befolgt werden soll. Der mit einer Rechtsnorm verbundene Befolgungsanspruch lässt sich nicht al‐ lein damit begründen, dass diese Rechtsnorm in dem in der Rechtsordnung dafür vorgesehenen Verfahren ordnungsgemäß zustande gekommen ist und auch nicht in‐ haltlich gegen andere Rechtsnormen verstößt – eine solche bloße Legalität einer Rechtsnorm genügt nicht als Antwort auf die Frage, warum die Rechtsnorm befolgt werden soll. Auf die Beantwortung dieser Frage kann auch nicht verzichtet werden mit dem Hinweis auf die Möglichkeit des Staates, die Befolgung seiner Rechtsnor‐ men notfalls mit Zwang durchzusetzen, denn eine Rechtsordnung, die allein auf Zwang beruht, ist nicht nur inakzeptabel, sondern auf Dauer nicht funktionsfähig. Es bedarf also letztlich nachvollziehbarer Gründe für die Normbefolgung, der Normbe‐ folgungsanspruch muss gerechtfertigt sein. Diese Gründe müssen von den Normad‐ ressaten mitgetragen – also verinnerlicht und anerkannt werden. Dabei geht es nicht darum, den Normbefolgungsanspruch gegenüber jedem ein‐ zelnen Normadressaten konkret zu begründen, denn ein solches konkretes Begrün‐ dungserfordernis würde nicht nur die Rechtsordnung überfordern, sondern wäre an‐ gesichts der Vielfalt von Interessen, die durch eine Norm häufig berührt werden, auch bei größter Anstrengung nicht zu erfüllen. Legitimität fragt vielmehr nach gu‐ ten Gründen für die Normbefolgung im Sinne letzter Verbindlichkeitsgründe, die aus der Sphäre der sittlich orientierten inneren Motivation menschlicher Handlungen stammen. Auf eine Kurzformel gebracht, bedeutet Legitimität einer Rechtsordnung deren Anerkennungswürdigkeit. Wird nun die Legitimität einer bestimmten Rechtsordnung untersucht, stehen da‐ für zwei verschiedene Herangehensweisen zur Verfügung. Zum einen kann unter‐ sucht werden, ob die Rechtsordnung tatsächlich von den Normadressaten anerkannt wird; eine solche Untersuchung kann auch die Gründe erfassen und auswerten, die die Normadressaten für ihre Anerkennung der Rechtsordnung jeweils angeben. Eine solche Herangehensweise stellt einen deskriptiven Zugang zur Legitimität dar. Zum anderen kann aber auch versucht werden, gute und überzeugende Gründe für die Rechtsbefolgung zu finden und zu formulieren und dann zu prüfen, ob diese Gründe für die konkret untersuchte Rechtsordnung zutreffen; das wäre ein präskriptiver Zu‐ gang zur Legitimität. Anders ausgedrückt, fragt der deskriptive Zugang nach der tat‐ sächlichen Anerkennung einer Rechtsordnung durch die Normadressaten, während der präskriptive Zugang nach ihrer Anerkennungswürdigkeit, also der rationalen Be‐ gründbarkeit, fragt. Die tatsächliche Anerkennung kann dabei ein Indiz für die Aner‐ kennungswürdigkeit sein, ist aber nicht mit ihr identisch. Die Vielschichtigkeit des Legitimitätsbegriffs und seine vielfältigen Bezüge zu verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen legen es nahe, ihn aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und zu untersuchen und diese Perspektiven zu einem
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möglichst umfassenden Gesamtbild zusammenzufügen. So ist die Idee entstanden, Vertreter verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen zu einem Austausch über „Legitimität“ einzuladen und die einzelnen Beiträge in einem Buch zusammenzu‐ führen. Im Oktober 2018 traf sich ein großer Teil der Autorinnen und Autoren zu einer öffentlichen Tagung an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg; die Er‐ gebnisse dieses interdisziplinären Gedankenaustausches sind in die Beiträge des vor‐ liegenden Bandes eingeflossen. Das disziplinäre Spektrum der an diesem Band beteiligten Autorinnen und Auto‐ ren umfasst die Ethnologie, die Psychologie, die Rechtswissenschaft, die Staatstheo‐ rie, die Politikwissenschaft und die Philosophie. Zur ersten Orientierung der Leser‐ schaft sind die Beiträge auf vier thematische Blöcke verteilt (Empirische Zugänge, Sozialwissenschaftliche Zugänge, Theoretische Zugänge und Entwicklungsfragen); es handelt sich dabei nur um eine grobe Zuordnung, da sich in vielen Beiträgen Ele‐ mente mehrerer dieser thematischen Blöcke finden. Im ersten Block (Empirische Zugänge) befasst sich Hermann Amborn aus ethno‐ logischer Sicht mit bestimmten Gemeinschaften in Afrika und Indonesien, die eige‐ ne Normen hervorbringen, die ohne Inanspruchnahme des staatlichen Gewaltmono‐ pols oder ähnlicher Durchsetzungsmittel Geltung erlangen; er geht dabei insbeson‐ dere auf die Voraussetzungen ein, die für eine solche herrschaftsfreie Normgeltung erfüllt sein müssen. Andreas Glöckner nimmt die empirisch-psychologische Per‐ spektive ein und untersucht die Abhängigkeit der wahrgenommenen Legitimität des Rechtssystems oder bestimmter Autoritäten von verschiedenen Faktoren sowie den Einfluss dieser Legitimität auf die tatsächliche Rechtsbefolgung. „Reichsbürger“ streiten der Bundesrepublik und ihrer Rechtsordnung jegliche Legitimität ab und vertreten diese Ansicht ggf. auch in Gerichtsverfahren; Andreas Funke geht anhand einer Reihe von Gerichtsurteilen der Frage nach, wie deutsche Gerichte auf solche „Argumente“ reagieren. Im zweiten Block (Sozialwissenschaftliche Zugänge) zeigen Eva Birkenstock und Sergio Dellavalle eine Reihe unterschiedlicher Legitimitätsbegründungen auf und untersuchen sie auf ihre Eignung jeweils im Kontext des Staates, der Europäischen Union und internationaler Organisationen. Ulf Kemper nimmt die von ihm konsta‐ tierte „Entgrenzung nationalstaatlicher Containerräume“ und die entstehenden neuen politischen Räume in den Blick, in denen der Nationalstaat nicht mehr die Kompe‐ tenz zur ausschließlichen Politikformulierung hat, und sucht nach den Elementen der politischen Legitimierung innerhalb eines solchen durchlässigen Mehrebenensys‐ tems. Der dritte Block (Theoretische Zugänge) beginnt mit einem Beitrag von Andreas Niederberger, der die „demokratische Selbstregierung“ als ein Legitimitätskonzept vorstellt, dessen Vorteil darin besteht, dass es die Zuschreibung von Legitimität durch alle (und nicht nur durch einige oder die Mehrheit) als möglich erscheinen
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lässt. Claudia Wirsing fragt im folgenden Beitrag aus der Perspektive von Hegel und Habermas danach, was es heißt, ein guter Grund für die Anerkennungswürdigkeit einer normativen Ordnung zu sein, und geht dabei insbesondere auf den Zusammen‐ hang zwischen der deskriptiven und der normativen Beschreibungsebene der Legiti‐ mität ein. Anna Katharina Mangold beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem Zu‐ sammenhang zwischen antidiskriminierungsrechtlichen Absicherungen im privat‐ rechtlichen Verkehr und demokratischer Legitimität; sie betrachtet privatrechtliche Gleichheit als eine Bedingung für den demokratischen Diskurs. In dem Beitrag von Sabrina Zucca-Soest wird eine theoretische Systematik vorgeschlagen, die es er‐ laubt, Legitimität in ihren jeweiligen begründungslogischen Dimensionen sichtbar zu machen. Neben einem deskriptiven und präskriptiven Zugang wird ein transskrip‐ tiver in Stellung gebracht, der die präskriptive Dimension durch Verankerung in der sozialen Wirklichkeit aus dem metaphysischen Raum zu hebeln sucht. Im Anschluss hieran und durch eine anerkennungstheoretische Begründungslogik wird Legitimität als intersubjektive Anerkennungswürdigkeit bestimmt. Mit der spezifischen Funkti‐ on von Verfassungen für die Legitimitätserzeugung befasst sich Tobias Herbst in sei‐ nem Beitrag; er untersucht dabei auch, wie sich die entsprechenden im Kontext des Rechts entwickelten Vorstellungen auf andere Normarten übertragen lassen. Peter Seyferth leitet den vierten und letzten Block (Entwicklungsfragen) ein mit dem Gedankenexperiment eines „anarchistischen Staates“; er eröffnet auf diese Wei‐ se ungewohnte Perspektiven auf die Legitimität und ihre Voraussetzungen. Lando Kirchmair nimmt sodann eine aktuelle Fallkonstellation, nämlich die von der EU ge‐ gen Polen und Ungarn eingeleiteten Rechtsstaatlichkeitsverfahren, bei denen diesen Staaten wegen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit auch das Stimmrecht im Rat ent‐ zogen werden kann, zum Anlass, angesichts unterschiedlicher Auffassungen über die Bedeutung von „Rechtsstaatlichkeit“ die Legitimität einer solchen Sanktion zu thematisieren; er schlägt vor, zur Unterstützung einer normativen Legitimitätskon‐ zeption auf empirischem Weg Informationen über die faktische Legitimität der Sanktionen in den betroffenen Ländern einzuholen. Utz Schliesky schließlich nimmt die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Legitimität der Staatsgewalt in den Blick und weist dabei auf Entwicklungen wie den Verlust von Vertrauen in den Staat oder das Schwinden demokratischer Öffentlichkeit hin, die die Legitimität bedrohen und denen – etwa mit einer staatlichen Kontrolle der von privaten Akteuren verwen‐ deten Algorithmen – entgegengesteuert werden müsse.
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Prof. em. Dr. jur. Rüdiger Voigt, Netphen Staatsverständnisse
„Eine Epoche ist zu Ende. Künftig ist alles möglich. Politik darf alles, sie steht über dem Recht“.1
Das Thema dieses Bandes rührt an ein Dilemma, mit dem wir es gerade jetzt wieder zu tun haben. Wie kann man die Legitimität politischen Handelns angesichts der all‐ gemeinen Unsicherheit sicherstellen? Max Weber hat auf das enge Abhängigkeits‐ verhältnis von Legalität und Legitimität hingewiesen. Legalität lässt sich mit Hilfe vorgeschriebener Verfahren herstellen.2 Aber erwächst daraus bereits Legitimität? Legitimität ist der Glaube an bzw. das Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit politischer Herrschaft. Mit ihr verbindet sich die Anerkennungswürdigkeit von Institutionen, Normen und Personen. Ist eine gesetzliche Maßnahme jedoch offensichtlich unge‐ recht, dann tritt der Mangel an Legitimität offen zutage.3 Kann es auch in parlamen‐ tarischen Demokratien zu Gesetzen kommen, denen die Legitimität fehlt? Wann und unter welchen Umständen ist das der Fall? Dabei steht die Frage der Gerechtigkeit im Vordergrund. Die Differenzierung nach objektiven Maßstäben zwischen „gerech‐ ten“ und „ungerechten“ Gesetzen ist allerdings oft nur schwer zu treffen. Der Be‐ griff des Gemeinwohls (Wohl der Allgemeinheit) entfaltet heute kaum noch Binde‐ kraft.
1. Was hat das alles mit dem Staat zu tun? Mit der Veränderung des Staates hat sich im Laufe der Jahrhunderte auch das Staats‐ verständnis gewandelt, wenn auch bestimmte Ideen, Fragestellungen und Erkennt‐ nisse über die Jahrhunderte hinweg aktuell geblieben sind.4 Das bedeutet allerdings nicht, dass die Entwicklung von realem Staat und Staatsdenken stets synchron ver‐ laufen müsste. Es handelt sich vielmehr um zwei klar voneinander getrennte Berei‐ che, die sich aber wechselseitig – teilweise sogar stark – beeinflussen. Zwischen dem abstrakten, also bloß vorgestellten Staat und einem konkreten, selbst erlebten Staat gibt es durchaus Verbindungen. Daher lohnt es sich, in verschiedenen Epochen 1 2 3 4
Neue Zürcher Zeitung, 25.3.2013. Weber 1976, S. 19 f., 122 ff.; Anter/Breuer (Hrsg.) 2016. Voigt (Hrsg.) 2015a. Voigt (Hrsg.) 2016.
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und unterschiedlicher Ausprägung sich damit intensiver auseinander zu setzen, wie der Staat verstanden worden ist, entweder positiv als Garant von Schutz und Freiheit des Individuums oder negativ als „Leviathan“,5 in dem die Menschen den Schutz des Staates nur durch den Verzicht auf ihre individuelle Freiheit erkaufen können.6 Zwischen diesen Polen gibt es freilich noch eine ganze Reihe von Zwischenstufen, die es verdienen, näher untersucht zu werden. Staatsverständnisse bzw. Staatsideen sind im Allgemeinen nicht so (relativ) kurz‐ lebig wie konkrete Staatsgebilde, sie „veralten“ nicht so schnell, sondern haben eine viel längere „Laufzeit“. Beispielhaft sind die staatsphilosophischen Ideen, die Pla‐ ton7 und Aristoteles8 vor fast zweitausendfünfhundert Jahren entwickelt haben, und die heute noch die Diskussion beflügeln. Die Erkenntnisse des Florentiners Niccoló Machiavelli9 und des Engländers Thomas Hobbes10 im 16. bzw. 17. Jahrhundert, aber auch die Aufklärungsphilosophie Immanuel Kants11 sowie die idealistische Staatsphilosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels12 aus dem 18. bzw. 19. Jahrhun‐ dert haben dauerhafte Spuren in der Staatsdiskussion hinterlassen. Georg Jellineks Allgemeine Staatslehre13 und Max Webers sozialwissenschaftlich fundierte Staats‐ theorie waren maßgeblich für das 20. Jahrhundert. Alle diese Theorien sind auch in den heutigen Debatten um den modernen Staat nicht wegzudenken. Gegenwärtig sind wir Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende – zumindest scheinbar – die Auf‐ lösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates steht.
2. Globalisierung Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen sowie kulturellen und sozialen Veränderungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkun‐ gen auf die Staatlichkeit. Die Regierungen verlieren einen Teil ihrer Durchsetzungs‐ macht an internationale Konzerne, vor allem aber an das algorithmengesteuerte glo‐ bale Finanzsystem, teils freiwillig, teils unfreiwillig. Die Europäisierung verstärkt diesen Trend eher noch, als dass sie dem entgegenwirken würde. Dieses Bild von einem unwiderruflichen Abschied des Staates könnte aber durchaus falsch sein. Ent‐ schlossenen Regierungen stehen nach wie vor vielfältige Handlungsmöglichkeiten zur Durchsetzung wichtiger Anliegen zur Verfügung. Der demokratische National‐ 5 6 7 8 9 10 11 12 13
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Voigt (Hrsg.) 2000. Hobbes 1986. Nitschke (Hrsg.) 2008. Zehnpfennig (Hrsg.) 2014. Reinhardt/Saracino/Voigt (Hrsg.) 2015; Münkler/Voigt/Walkenhaus (Hrsg.) 2013. Voigt (Hrsg.) 2000. Ottmann (Hrsg.) 2009. Pauly (Hrsg.) 2009. Anter (Hrsg.) 2004.
staat ist der Ort, auf den man sich rückbesinnen kann, wenn die internationale Ord‐ nung im Chaos versinkt, ein im Übrigen keineswegs fernliegender Gedanke. Angesichts ihrer partiellen Durchlässigkeit spielen dabei im Internetzeitalter Grenzen,14 die für den Territorialstaat alter Prägung unverzichtbar waren, zwar keine so große Rolle mehr. Im Zuge der Massenmigration erscheinen die früher üblichen Grenzzäune sogar eher als Relikte einer vergangenen Zeit. In Zeiten einer überbor‐ denden Migrationswelle kann aber auch auf sie nicht verzichtet werden. Auf der an‐ deren Seite ist es zweifelhaft, ob die „Entgrenzung der Staatenwelt“ jemals zu einem Weltstaat führen wird. Mit dem Kosmopolitismus hat sich jedoch in vielen Staaten insbesondere bei intellektuellen Eliten eine Strömung etabliert, die den Nationalstaat durch eine kosmopolitische Demokratie15 zugunsten von individuellen Rechten ei‐ nerseits und einer globalen Herrschaftsordnung andererseits zumindest zurückdrän‐ gen, wenn nicht ganz abschaffen will. Die Protagonisten dieser ideologischen Strö‐ mung berufen sich dabei insbesondere auf Kants kleine Schrift Zum ewigen Frie‐ den,16 die auch die Charta der Vereinten Nationen beeinflusst hat. Die Gegner unter‐ stellen den Kosmopoliten teils Naivität, teils böse Absichten.
3. Der abendländische Staat Platon und Aristoteles kannten den modernen Staat noch nicht, insofern sind ihre Ideen nicht unmittelbar auf unsere gegenwärtige Situation anwendbar. Der moderne Staat hat seinen Ursprung vielmehr in der italienischen Spätrenaissance, wo nicht nur das heutige Staatsdenken seinen Ursprung findet, sondern auch die Grundzüge des Handelskapitalismus entstehen. Verkörpert wird dieses Staatsdenken durch den Florentiner Niccolò Machiavelli, kristallisiert sich dann jedoch vor allem in den Re‐ ligionskriegen in Frankreich (Jean Bodin17) und England (Thomas Hobbes) heraus. Der Weimarer Staatsrechtslehrer Carl Schmitt18 hat diesen Staat die Krönung ok‐ zidentaler Rationalität genannt und zugleich den Untergang dieses Staates verkün‐ det. Es ist ein „säkularer“ Staat, der auf einem – allerdings ganz unterschiedlich ge‐ dachten – „Gesellschaftsvertrag“ zwischen dem Monarchen und dem Volk beruht. Es ist ein Staat, der – zumindest theoretisch – über die uneingeschränkte Souveräni‐ tät verfügt. Spätestens seit Hobbes können wir von einem modernen Staat sprechen, der dann mehr als fünfhundert Jahre die Diskussion beherrscht hat. Viele berühmte Staatsdenker haben sich an dieser Staatsdiskussion beteiligt, erwähnt seien hier – stellvertretend für viele Andere – nur Immanuel Kant und Georg Friedrich Wilhelm 14 15 16 17 18
Klose/Voigt (Hrsg.) 2017. Ottmann/Barisić (Hrsg.) 2018. Kant 2013; Hüning/Klingner (Hrsg.) 2018. Philipp (Hrsg.), 2016. Schmitt 2015; Voigt (Hrsg.) 2008; Voigt (Hrsg.) 2015a.
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Hegel, Jean-Jacques Rousseau19 und Charles de Montesquieu.20 Ob sich dieser abendländische Staat inzwischen überlebt hat oder nach wie vor die Diskussion be‐ stimmt und zumindest als Idee noch vorhanden ist, ist Gegenstand der Erörterungen in der Reihe „Staatsverständnisse“.
4. Alte und junge Klassiker des Staatsdenkens Bei den behandelten bzw. noch zu behandelnden Staatsdenkern reicht das Themen‐ spektrum von Thomas von Aquin21 und dem „Goldenen Zeitalter“ Spaniens22 – über die Renaissance, jene für das moderne Verständnis des Staates so ungeheuer wichti‐ ge Epoche, – bis hin zu Ferdinand Lassalle, dem Stammvater der Sozialdemokratie, und schließlich bis ins 20. und teilweise bis ins 21. Jahrhundert. Dabei ist zu berück‐ sichtigen, dass Mitte des 20. Jahrhunderts der Funke der Innovation im Staatsdenken die Seiten gewechselt hat. Von der rechtsrheinischen (deutschen) ist er auf die links‐ rheinische (französische) Seite übergesprungen. Seither verkörpern die französi‐ schen Staatstheoretiker der Gegenwart – wie z.B. Michel Foucault,23 Pierre Bour‐ dieu24 u.a. – gewissermaßen die Avantgarde des Staatsdenkens. Sie verdienen vor al‐ lem deshalb größte Aufmerksamkeit, weil sie sich weitgehend tabulos mit den Pro‐ blemen des modernen Staates – Demokratiedefizit, Machtballung, Korruption etc. – auseinandersetzen.
5. Denkschulen und Wirkungsgeschichte des Staatsdenkens Werden die Kerngedanken eines Staatsdenkers der eigenen Reflexion als notwendi‐ ge Voraussetzung der Erkenntnis von einer oder mehrerer Wissenschaftlergeneratio‐ nen zugrundegelegt, dann könnte man von einer Denkschule sprechen. Oft ist das Staatsdenken nicht nur durch einen Theoretiker bzw. eine Theoretikerin zu charakte‐ risieren, sondern auch dadurch, dass dieser/diese gelegentlich so stark auf sein/ihr wissenschaftliches Umfeld einwirkt, dass ein anderes Denken als falsch oder jeden‐ falls nicht adäquat bzw. nicht zeitgemäß angesehen wird. Solchen Denkschulen nachzuspüren, sieht die Reihe „Staatsverständnisse“ als eine ihrer Aufgaben an. Es versteht sich von selbst, dass die „Giganten“ Platon und Aristoteles in der Antike,
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Kersting (Hrsg.) 2003. Hidalgo/Herb (Hrsg.) 2009. Schönberger (Hrsg.) 2017. Campagna 2013. Heidenreich (Hrsg.) 2010. Hirsch/Voigt (Hrsg.) 2017.
oder Kant, Hegel und Marx in der Gegenwart solche Denkschulen begründet haben, die auch lange nach ihrem Tod Bestand haben. Solchen Besonderheiten gehen insbesondere die wirkungsgeschichtlichen Analy‐ sen der Reihe nach. Es ist die Perspektive des Betrachters, die maßgeblich ist für die Rezeption. Mit der Veränderung dieser Perspektive im Laufe der Zeit verschiebt sich auch der Blick auf den Staatsdenker. Die Erkenntnis: „Jede Zeit erschafft sich ihren eigenen Hobbes, Rousseau oder Hegel“, könnte als Motto für die Behandlung der Wirkungsgeschichte jedes großen Staatsdenkers gelten. Diese Denkrichtung wird in den „Staatsverständnissen“ mit weiteren Bänden fortgesetzt werden.
6. Staatsutopien und realer Staat Staatsdenker stellen ihre Überlegungen regelmäßig vor dem Hintergrund des Staates an, in dem sie leben, auch wenn sie diesen möglicherweise ablehnen, ihn sogar ab‐ schaffen oder zumindest gründlich reformieren wollen. Oft konfrontieren sie diesen realen Staat mit dem Idealbild eines vergangenen Staates, das der Wirklichkeit nicht unbedingt entsprechen muss („Goldenes Zeitalter“). Auf der anderen Seite stehen die in die Zukunft gerichteten Staatsutopien,25 die oft so voraussetzungsvoll (selbst‐ lose und gute Menschen; Philosophenkönige) gedacht werden, dass sie in der rauen Wirklichkeit keine Realisierungschance haben. Dementsprechend wird das Verständ‐ nis bzw. Nichtverständnis des Staates durch die Anarchisten26 ebenso behandelt wie die Utopien. Umgekehrt wird zwar selten ein Staat gegründet oder neu konstituiert, der genau dem Vorbild eines zuvor erdachten Staatsideals entspricht, das heißt aber nicht, dass nicht doch u.U. wichtige Impulse von einem solchen Staatsmodell oder Staatsideal ausgehen, die dann oft genug in der neuen Verfassung ihre Spuren hinterlassen. So sind etwa die Französische Revolution und die sich daraus entwickelnden Verfassun‐ gen ohne die Kenntnis des Staatsdenkens von Jean-Jacques Rousseau oder von Em‐ manuel Joseph Sieyès27 nur schwer zu verstehen. Auch der Einfluss der sog. Federa‐ lists28 (Alexander Hamilton, James Madison und John Jay) oder – viel früher – von John Locke29 auf die amerikanische Verfassung ist nachweisbar. Hugo Preuß hat die Weimarer Verfassung, und Hans Kelsen30 hat die Verfassung der Republik Öster‐
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Schölderle (Hrsg.) 2014. Seyferth (Hrsg.) 2015. Thiele (Hrsg.) 2009. Lhotta (Hrsg.) 2010. Salzborn (Hrsg.) 2010. Brunkhorst/Voigt (Hrsg.) 2008.
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reich nachhaltig beeinflusst. Der Einfluss Herman Hellers31 auf die Formulierung „sozialer Rechtsstaat“ ist unverkennbar.
Literatur Anter, Andreas (Hrsg.), 2020: Die normative Kraft des Faktischen. Das Staatsverständnis Ge‐ org Jellineks, 2. Aufl. Baden-Baden. Anter, Andreas/Breuer, Stefan (Hrsg.), 2016: Max Webers Staatssoziologie. Positionen und Perspektiven, 2. Aufl. Baden-Baden. Brunkhorst, Hauke/Voigt, Rüdiger (Hrsg.), 2008: Rechts-Staat. Staat, internationale Gemein‐ schaft und Völkerrecht bei Hans Kelsen, Baden-Baden. Campagna, Norbert, 2013: Staatsverständnisse im spanischen ‚siglo de oro‘, Baden-Baden. Heidenreich, Felix (Hrsg.), 2010: Technologien der Macht. Zu Michel Foucaults Staatsver‐ ständnis, Baden-Baden. Hidalgo, Oliver/Herb, Karlfriedrich (Hrsg.), 2009: Die Natur des Staates. Montesquieu zwi‐ schen Macht und Recht, Baden-Baden. Hobbes, Thomas, 1986: Leviathan, Stuttgart. Hüning, Dieter/Klingner, Stefan (Hrsg.), 2018: … jenen süßen Traum träumen. Kants Frie‐ densschrift zwischen objektiver Geltung und Utopie, Baden-Baden. Kant, Immanuel, 1986: Zum ewigen Frieden, Stuttgart. Klose, Joachim/Voigt, Rüdiger (Hrsg.), 2017: Grenzen in Zeiten der Entgrenzung, Dresden. Knoll, Manuel/Lisi, Francisco L. (Hrsg.), 2017: Platons Nomoi. Die politische Herrschaft von Vernunft und Gesetz, Baden-Baden. Lau, Thomas/Reinhardt, Volker/Voigt, Rüdiger (Hrsg.), 2017: Der sterbliche Gott. Thomas Hobbesʼ Lehre von der Allmacht des Leviathan im Spiegel der Zeit, Baden-Baden. Lhotta, Roland (Hrsg.), 2010: Die hybride Republik. Die Federalist Papers und die politische Moderne, Baden-Baden. Llanque, Marcus (Hrsg.), 2010: Souveräne Demokratie und soziale Homogenität. Das politi‐ sche Denken Hermann Hellers, Baden-Baden. Machiavelli, Niccoló, 2011: Gesammelte Werke, Erlangen. Münkler, Herfried/Voigt, Rüdiger/Walkenhaus, Ralf (Hrsg.), 2013: Demaskierung der Macht. Niccoló Machiavellis Staats- und Politikverständnis, 2. Aufl. Baden-Baden. Nitschke, Peter, 2008: Politeia. Staatliche Verfasstheit bei Platon, Baden-Baden. Ottmann, Henning, 2009: Kants Lehre von Staat und Frieden, Baden-Baden. Ottmann, Henning/Barisić, Pavo (Hrsg.), 2018: Kosmopolitische Demokratie, Baden-Baden. Pauly, Walter (Hrsg.), 2009: Der Staat – eine Hyroglyphe der Vernunft. Staat und Gesellschaft bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Baden-Baden. Philipp, Michael (Hrsg.), 2016: Debatten um die Souveränität. Jean Bodins Staatsverständnis und seine Rezeption im 17. Jahrhundert, Baden-Baden.
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I. Empirische Zugänge
Hermann Amborn Schaffung von Normen und deren Geltung durch herrschaftsfreie Diskurse am Beispiel polykephaler Gesellschaften in Afrika und Indonesien
In den herrschaftsfreien Gemeinschaften, die ich im Folgenden behandele, gehen die Ausformung von Normen und deren Geltung eine enge und untrennbare Verbindung ein, in der Begründung und Akzeptanz bereits enthalten sind. Dadurch unterscheiden sie sich grundsätzlich von modernen staatlichen Gesellschaften mit ihrem Gewalt‐ monopol, in denen Rechtssetzung und Rechtsdurchführung eigene institutionelle Rahmen bilden, die einer Legitimation bedürfen. Gibt es herrschaftsfreie Gemeinschaften überhaupt, die den uns vertrauten Mus‐ tern nicht folgen und die ohne Institution mit Erzwingungsgewalt auskommen? Im Alltagsbewusstsein der meisten westlichen Staatsbürger kommen sie, wenn über‐ haupt, nur in der Vergangenheit vor, gilt doch der moderne Staat hierzulande als das sinnvollste und vernünftigste soziopolitische Modell. In der Tat erwies sich aus westlicher Sicht eine mit gesellschaftlicher Arbeitsteilung verbundene Hierarchisie‐ rung der Gesellschaft als erfolgreich. Ihre Evolutionskette führt von der Neolithi‐ schen Revolution über Häuptlings- und Königtum sowie Despotien schließlich zum modernen Staatswesen. Westliche Denker (letztlich seit Aristoteles) konnten sich die Zeit vor dem Staat nur als Chaos vorstellen, und so mancher glaubt dies immer noch, obwohl die Urgeschichtsforschung es schon längst besser weiß.1 Bis heute prägend für diese Vorstellung ist insbesondere Thomas Hobbesʼ Levia‐ than. Darin phantasiert er (wie vor ihm schon mancher Denker seit Aristoteles) über die bestialischen ur-menschlichen Verhältnisse, in denen der Mensch des Menschen Wolf gewesen sei und der Krieg aller gegen alle herrschte; und Hobbes behauptet, dieser Zustand sei erst überwunden worden, als alle Bürger aufgrund freiwilliger Vereinbarung dem im Souverän verkörperten Staat die Gewaltausübung übertrugen, der im Gegenzug den Bürgern ein geordnetes friedliches Zusammenleben garantier‐ te. Legitimiert ist der Souverän Kraft des Vertrags.2 Die Vorstellung, nur ein staatliches Gewaltmonopol könne Chaos verhindern und Ordnung schaffen, mit der daraus folgenden Betonung der Notwendigkeit des Staa‐
1 Einen guten Überblick zur diesbezüglichen Forschungslage bietet der von Meller et al. 2018 herausgegebene Band „Überschuss ohne Staat“. 2 Hobbes 1651, S. 307. Hobbes sei hier stellvertretend für Vertreter der Vertragstheorie genannt.
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tes prägt nach wie vor das Orientierungssystem und die Bewertungsraster der Poli‐ tikwissenschaft und Soziologie.3 In meinen Ausführungen geht es in erster Linie um die Darstellung und Analyse gesellschaftlicher Konzepte und Hervorbringungen von Richtlinien, die vor einer (möglicherweise von der Gesellschaft als notwendig erachteten) Legitimitätserzeu‐ gung liegen. Darum vermeide ich zunächst den Begriff Legitimität, da er dem Wort‐ sinne nach gesetzte Reglementierungen (lex) voraussetzt, was in den hier zu behan‐ delnden Lebenswelten in der uns bekannten Form nicht der Fall ist. Dort geht es vielmehr, wie im Folgenden zu zeigen ist, um Prozesse einer zeitlich offenen ge‐ meinschaftlichen Rechtsentwicklung, die sich aus kulturspezifischen Normen und spezifischen ethischen Grundsätzen speist. Das kollektiv Erarbeitete hat Geltung und kann auf eine Durchsetzungsmacht, wie sie das Gewaltmonopol des Staates bietet, verzichten. Was zeichnet aber solche Gemeinschaften aus, die ohne einen Vollstreckungsap‐ parat auskommen und in denen dennoch Normen einschließlich deren Reglementie‐ rung sowohl Zustimmung als auch Wirksamkeit besitzen?4 Kennzeichnend für diese Gesellschaften ist die Einbeziehung aller Mitglieder in gemeinsam entwickelte Entscheidungsprozesse, denen Formen kooperativer Zusam‐ menarbeit ohne Befehlsstrukturen zugrunde liegen; und ferner verschiedene ineinan‐ dergreifende, ausbalancierte soziale Beziehungssysteme und Institutionen, die ein Leben ohne Zentralgewalt ermöglichen. Gesellschaften dieser Art sind in allen Erdteilen anzutreffen und umfassen nicht selten mehrere Millionen Menschen. Es handelt sich bei ihnen gewiss nicht um eine historische Vorstufe des Staates, vielmehr bilden sie ein Kontrastmodell zum Staat, auch wenn sie heute in der Regel nur innerhalb von Staatsgrenzen anzutreffen sind, weshalb sie sich mit staatlichen Organisationsstrukturen auseinandersetzen und bis‐ weilen arrangieren müssen. Oft totgesagt oder als Auslaufmodell abgetan, existieren sie gleichwohl heute noch, ja, es entstehen sogar immer wieder neue Formen herr‐ schaftsfreier Gesellung, so etwa im Hochland von Madagaskar oder in Südmexiko.5 Gewaltsame Konfrontationen mit der Staatsmacht sind selten, häufiger hingegen 3 So schrieb etwa Karl Jaspers nur zwei Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Zwangs‐ herrschaft, dass Gemeinsamkeit „nicht möglich ohne einen führenden Willen“ sei und „Herr‐ schaft und Unterordnung“ erzwinge (Jaspers 1947, S. 366; zitiert von Haude/Wagner 1999, S. 26). 4 Die folgenden Ausführungen basieren weitgehend auf meinem 2016 erschienenen Buch „Recht als Hort der Anarchie“, das eine ausführliche Literaturliste enthält. 5 Zu Madagaskar: Graeber 2008, S. 50–54. Südmexiko: Hier ist insbesondere auf die erfolgrei‐ chen Zapatisten (der Gemeinden in Chiapas) hinzuweisen. Sie lassen sich nicht auf Autonomie fordernde „Indios“ reduzieren. Vielmehr wiesen sie „den Gedanken der Machtergreifung zu‐ rück ... und versuchten, ein Modell demokratischer Selbstorganisation zu schaffen [sowie] ein internationales Netzwerk [zu] initiieren“ (Graeber 2008, S. 96, 240 f.). Auch in den Industrienationen flackern anarchistische Ideen immer wieder auf, z.B. in der spon‐ tanen Occupy-Bewegung oder den Aktionen der Nuit debout in Frankreich, und von anarchisti‐
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passiver Widerstand, etwa geschicktes räumliches Ausweichen, wie es immer wie‐ der von Nomaden praktiziert wird, so dass in manchen Erdteilen der Staat nicht sel‐ ten zur leeren Formel ohne Rückhalt wird.6 Für die von mir vorgestellten Gesellschaften wähle ich den Begriff polykephal. Ich ziehe diesen Begriff anderen Bezeichnungen wie segmentär, egalitär oder ake‐ phal vor, da es sich um Gesellschaften handelt, in denen viele Köpfe an der Ent‐ scheidungsfindung teilnehmen. Der Begriff polykephal ist innerhalb des semanti‐ schen Feldes von Anarchie (exakter von Sozialanarchie) zu verstehen, d.h. Anarchie nicht als Chaos, sondern im Wortsinne „ohne Herrschaft“, und damit als Gemein‐ schaft ohne Befehls- und Gehorsamsbeziehungen.7 In den folgenden Ausführungen beziehe ich mich auf das östliche Afrika, im Besonderen auf Südwestäthiopien und Nordkenia und in einem kürzeren Ausblick auf Bali.8 Idealtypisch bestehen polykephale Gesellschaften im östlichen Afrika aus einer Vielzahl miteinander vernetzter, politisch gleichrangiger Segmente, eine Gleichran‐ gigkeit, wie sie auch sozial und politisch für die einzelnen Mitglieder besteht. Diese Vielfalt und Reziprozität der Institutionen und die breite Streuung der Machtbefug‐ nisse zielen auf eine ausgeglichene Machtbalance in der Gesellschaft, wodurch ega‐ litäre Tendenzen unterstützt werden. Wichtige Institutionen sind der Territorialverband, Lineages und Klane sowie das Generationsgruppensystem. Dem Territorialverband gehören alle Menschen unab‐ hängig von Alter und Geschlecht an. Die Siedlungsgemeinschaften sind häufig in zwei Hälften geteilt, die in einem antagonistischen und zugleich voneinander abhän‐ gigen Verhältnis stehen. Sie haben ihre eigenen kommunalen Zentren, und ihre Be‐ wohner bewältigen kooperativ ihre ökonomischen, sozialen und religiösen Ver‐ pflichtungen. Die Lineages und Klane sind unilineare Deszendenzgruppen, deren Mitglieder sich als miteinander verwandt betrachten. Sie sind exogam organisiert, d.h. ihre Mit‐ glieder dürfen nicht untereinander heiraten. In der Regel gelten in segmentären Ge‐ sellschaften diese einzelnen territorial und verwandtschaftlich organisierten Subsys‐ teme als gleichwertig.
schen Entwürfen angeregte Gruppen haben heute in Globalisierungsbewegungen regen Zulauf, man denke nur an Attac oder die ¡Democracia Real YA!-Bewegung in Spanien. 6 Zu einem gewaltsamen Zwischenfall kam es während meines Aufenthaltes in Äthiopien Ende der 1970er Jahre. In einem äthiopischen Nomadengebiet bei Adi Gerko (Name von mir geän‐ dert) ist eine motorisierte und bewaffnete Polizeieinheit in Kompaniestärke spurlos verschwun‐ den. 7 Ausführlich zu Anarchie: Seyferth 2015, S. 10–36. 8 Meine Kenntnisse über das östliche Afrika verdanke ich meinen Gesprächspartnern, die mir von 1973 an während mehrerer Aufenthalte Einblicke in ihre Kultur boten. Mit einigen von ihnen stehe ich heute noch in Verbindung. Während einiger Forschungsaufenthalte 1999 und 2000 in Bali beschäftigte ich mich insbesondere mit der Sozialstruktur der sogenannten Bali-Aga.
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Darüber hinaus werden Menschen entsprechend der Generation, der sie angehö‐ ren, in „Gada“ genannte Generationsgruppensysteme integriert. Hierin durchlaufen sie in bestimmten Zeitintervallen gruppenweise eine feste Abfolge von Rangstufen, die Status, Funktion und Kompetenzen ihrer Mitglieder bestimmen. Die soziale Rei‐ fe einer Person bemisst sich in diesem System nicht nach dem biologischen Alter, wie es in Altersklassensystemen der Fall ist, sondern nach ihrer genealogischen Po‐ sition. Es ist ein kompliziertes System, das in den letzten Jahrzehnten starke Verän‐ derungen erfahren hat und in einigen Regionen nur noch rudimentär vorhanden ist. Überlebt haben aber seine egalitären Werte sowie ein mit ihm verbundenes Ethos, das innerhalb einer Gada-Gruppe z.B. im Diskussionsstil seinen Niederschlag findet sowie in der Art und Weise, wie deren Mitglieder miteinander umgehen. Diese komplexe Sozialordnung, in der die gegenseitige Achtung der Menschen eingebettet ist, beruht auf einer jahrhundertelangen historischen Entwicklung und grenzt sich ausdrücklich von benachbarten hierarchisch-zentralistischen politischen Strukturen ab.9 An ihr erweist sich, dass der Nationalstaat keineswegs das differenzierteste sozio‐ politische Ordnungsmodell ist und die universale Evolution hin zum zentralistischen Staat mit der Zwangsläufigkeit von Hierarchisierung und Herrschaft in Frage gestellt werden kann.10 Lässt sich dies auch für die Machtverhältnisse sagen? Hierzu stellte Pierre Clastres, französischer Ethnologe und Theoretiker jüngerer anarchischer Gesell‐ schaften, kategorisch fest: Wo es Gesellschaft gibt, wird es auch Machtverhältnisse geben, wobei aber „Zwangsmacht“ eine Sonderform der Macht darstellt.11 Auch po‐ lykephale Gesellschaften sind also nicht frei von Machtbeziehungen, es ist deshalb von zentraler Bedeutung, wie sie Macht und den Umgang mit Macht verstehen und handhaben. Es empfiehlt sich zur Untersuchung von Formen der Macht, Überlegungen einzu‐ beziehen, wie sie Hannah Arendt und Michel Foucault angestellt haben. In ihren Diskursen wird Macht nicht als Zwang angenommen, sondern ihr kreatives Potenzi‐ al hervorgehoben. Beide Autoren wenden sich gegen die Auffassung, Macht sei stets eine Vorstufe von Herrschaft. 9
Amborn 2006. In jüngerer Zeit gewannen in Äthiopien unter Oromo-Intellektuellen mit dem Gada-System verbundene basisdemokratische Ideale an Bedeutung. In Abgrenzung gegenüber den zentralistisch organisierten Völkern Nordäthiopiens wurde das Gada-System zum Kampf‐ begriff und Symbol der eigenen Identität dieser mit etwa 33 Millionen größten äthiopischen Volksgruppe. 10 Die Herausbildung des Staats mit dessen Herrschaftsanspruch ist nur eine von zahlreichen Op‐ tionen für die Gestaltung menschlichen Zusammenlebens. Die Vorstellung einer universalen Entwicklungskette, die von einfachen Familienverbänden, so es diese denn je gab, zu jener po‐ litischen Macht führt, die sich im Gewaltmonopol des Staats ausdrückt, entsprang dem Evolu‐ tionismus des 19. Jahrhunderts. 11 Clastres 1976, S. 23.
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Foucault versteht unter Machtverhältnissen Handlungsweisen, die auf andere ein‐ wirken, deren Handlungen aber nicht vorzeichnen, sondern ein breites Feld von Ant‐ worten ermöglichen. Die Freiheit des Gegenübers bleibt erhalten, denn der andere wird trotz beabsichtigter Einwirkung als Subjekt des Handelns anerkannt. Mit der Strukturierung von Handlungsmöglichkeiten steht Macht im Gegensatz zu Herr‐ schaft und Gewalt: „Ein Gewaltverhältnis [...] zwingt, beugt, bricht, es zerstört [...]“.12 Ähnlich argumentierte bereits Hannah Arendt.13 Sie kritisierte, dass unter dem Machtbegriff letztlich stets – wie etwa bei Max Weber – Gewaltsamkeit verstanden werde, wenn auch Unterschiedliches darunter subsumiert würde. Darum unterschei‐ det sie zwischen Macht, Stärke, Kraft, Autorität und schließlich Gewalt. Für sie ent‐ spricht Macht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einverständnis mit ihnen zu handeln. In anderen Worten: Macht ist eine kreative Kraft, kollektive Entscheidun‐ gen zu treffen und Konflikte zu lösen. Gewalt hingegen ist letztlich – wie bei Fou‐ cault – eine Bankrotterklärung. In unserem Zusammenhang sind außerdem Arendts Anmerkungen zur Autorität erhellend, genießen doch auch in polykephalen Gesellschaften Personen Autorität, deren Weisheit und kluges Urteilsvermögen geschätzt wird. Um Zustimmung zu er‐ halten, müssen sie sich ihrer Autorität als würdig erweisen, besitzen sie doch keine Befehlsgewalt. Hannah Arendt zufolge wird Autorität, da sie Gehorsam fordert, ge‐ wöhnlich für eine Form von Macht oder Gewalt gehalten. Echte Autorität schließe aber gerade den Gebrauch äußerer Zwangsmittel aus; sobald sie sich derer bedient, hat Autorität versagt. Kennzeichen von Autorität ist Anerkennung. Sie bedarf weder des Zwangs noch der Überredung, sondern des Respekts. Ihr Gegner ist nicht Feind‐ schaft, sondern Verachtung oder Lächerlichmachen.14 In der gegenwärtigen Mainstream-Ethnologie stehen staatenlose Gesellschaften – also letztlich anarchische Gesellschaften – nicht im Fokus, und dies obwohl sie mit den bahnbrechenden Arbeiten der britischen Social Anthropologists in den 1940ern ins Blickfeld der Forschung gerieten. Immerhin fand in jüngerer Zeit James Scotts Buch über anarchische Gesellschaften in den Bergländern Südostasiens Beach‐ tung.15 Dessen ungeachtet versucht die internationale Gemeinschaft hartnäckig, aber ver‐ geblich (mit Warlords) in Süd-Somalia einen Staat aufzubauen. Währenddessen ha‐ ben die Menschen im einstigen Nordsomalia aus eigener Kraft mit ihren traditionell vorhandenen Institutionen und Strategien funktionierende Gemeinwesen mit einer 12 13 14 15
Foucault 1994, S. 254. In diesem Abschnitt beziehe ich mich insbesondere auf Arendt 2009, S. 44–48. Arendt 2009, S. 45. Scott 2009. Die Besprechung neuerer Arbeiten zu selbstorganisierten Gemeinwesen ohne hier‐ archische Institutionen bieten Robinson und Tormey (Robinson/Tormey 2012).
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stabilen Sicherheitslage geschaffen.16 Die Leistung dieser Menschen wird verdrängt: Puntland und Somaliland sind international nicht anerkannt. Anstatt von Ältestenrä‐ ten zu lernen, stellt die EU stattliche Summen für NGOs zur Verfügung, um diesen „Zurückgebliebenen“ Unterricht im Aufbau eines Mehrparteiensystems zu erteilen. Ein erfolgreiches soziopolitisches System wird so mit „Entwicklungshilfe“ zerstört. Zur Ignoranz gegenüber der Entwicklung antiherrschaftlicher Gesellschaftsmodelle bemerkt David Graeber: „Die heutige Welt ist voll von [...] anarchischen Freiräu‐ men, und je erfolgreicher sie sind, um so unwahrscheinlicher ist es, dass wir von ih‐ nen hören“.17
Indigenes Recht schützt die Freiheit von Herrschaft Folgende Frage steht noch im Raum: Wie konnten diese Gesellschaften in jahrhun‐ delanger Nachbarschaft von aggressiven und u.U. auch attraktiveren zentralistischen Völkern in Ost- und Nordostafrika ihre Weltsicht in der Gesellschaft verankern und weiterentwickeln? Wir können davon ausgehen, dass sie sich bewusst von zentral‐ staatlichen Formen abgrenzten,18 was kein Einzelfall ist, wie Beispiele aus anderen Erdteilen zeigen. Das vorsätzliche Verlassen des zentralistisch-hierarchisch organi‐ sierten chinesischen Reichs durch verschiedene Volksgruppen, verbunden mit der Gründung anarchischer Gemeinwesen in den Bergregionen Südostasiens, untersuch‐ te Scott.19 In Bali hat sich Tenganan, umgeben von kriegsführenden Fürstentümern, mehrere Jahrhunderte lang bis in die Gegenwart aus allen Kämpfen herausgehalten und ein eigenverwaltetes, herrschaftsfreies System entwickelt und gepflegt (siehe unten). Welche Wege haben diese Gesellschaften gewählt, damit Macht nicht zu Zwangs‐ gewalt mutiert? Zum einen die komplementäre Vernetzung der genannten Institutio‐ nen und zum anderen – so meine These – die Entwicklung spezifischer Rechtsvor‐ stellungen und Rechtspraktiken. Dies gilt es im Folgenden für Afrika und Bali zu untersuchen. Zu diesen Überlegungen haben mich meine Gesprächspartner in Südäthiopien an‐ geregt. Als ich mich mit ihnen über ihre Rechtsauffassung unterhielt und darüber,
16 Stellvertretend für zahlreiche Arbeiten von Markus Höhne sei nur Höhne/Hagmann 2007 ge‐ nannt. 17 Graeber 2008, S. 54. 18 Was auch in der Aussage eines Mannes aus Burji deutlich wird, der sich im Jahr 2000 auf einer politischen Versammlung dagegen aussprach, einem traditionellen Würdenträger zu viele Machtbefugnisse zu gewähren: „Wir hatten nie einen König, und wir wollen auch keinen Kö‐ nig“ (persönliche Mitteilung Alexander Kellner). 19 Scott 2009.
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wer jeweils über Recht und Unrecht befinde, erzählten sie mir folgende Geschichte, die sich vor langer Zeit zugetragen habe. „Einmal war bei einer Prügelei zwischen zwei Brüdern der eine der beiden ums Leben gekommen. Der Überlebende wurde beim Klanoberhaupt des Mordes beschuldigt, wor‐ aufhin dieser seine Hinrichtung anordnete. Der Beschuldigte erfuhr von diesem Urteil in seinem Versteck. Er rief seine Freunde zusammen und schilderte ihnen den Tathergang: wie ihn sein Bruder zunächst betrogen und dann auch noch verprügelt habe. Während des Handgemenges sei der Bruder dann an seinen Verletzungen gestorben. Daraufhin be‐ schlossen die Zuhörer, ein Gremium zu bilden, das sich jetzt und in Zukunft mit solchen Vorwürfen befassen sollte. Nach Prüfung des Tatbestandes sollte es in gemeinsamer Be‐ ratung eine Lösung finden. Sie setzten fest, dass von nun an der Klanälteste nicht mehr allein entscheiden könne, vielmehr solle er fortan sogar von den Zusammenkünften aus‐ geschlossen sein. Erst nach der Urteilsfindung würde er informiert und müsse dann das Urteil sanktionieren. Das war vor langer, langer Zeit und ist unsere Tradition.“
In nur wenigen Worten wird hier ein fundamentaler gesellschaftlicher Prozess ge‐ schildert: die Übertragung der Rechtshoheit von einer Zentralinstanz auf eine Viel‐ zahl von Verantwortungsträgern. Dabei wird der bei uns geltende Grundsatz, dass al‐ le Seiten gehört werden sollen, noch dahingehend erweitert, dass alle Anwesenden in den Entscheidungsprozess einbezogen werden müssen. Außerdem wird angespro‐ chen, wie mit Unstimmigkeit in der Gesellschaft umzugehen ist. Wesentlich ist die Einschränkung der Kompetenzen der erblichen Klanältesten. In anderen Gebieten Afrikas leiten Klanälteste und Oberhäupter die Legitimation ihres Herrschaftsan‐ spruches häufig von den in Gründungsmythen genannten Urahnen ab. Aus dem Kreis der Klanältesten stammten die Monarchen der sakralen Königtümer Afrikas. Noch Kaiser Haile Selassie begründete seine dynastische absolutistische Macht im modernen äthiopischen Imperium damit, dass er der „Löwe von Juda“ sei. Die südäthiopische Erzählung enthält als Konzentrat all jene Konstellationen, die in meiner Untersuchung von Bedeutung sind: Macht und Gegenmacht, Herrschaft versus Herrschaftsvermeidung sowie Kommunikation und Rechtsvorstellungen, die zum Gemeingut werden. Schauplätze der untersuchten Prozesse sind herrschaftsfreie Gemeinschaften, in denen Gegenseitigkeit als gesellschaftliches Prinzip dominiert. In ihnen wird das einzelne Individuum im Verlauf seiner Sozialisation mit den Wertvorstellungen, die der eigenen Gesellschaft und ihren Institutionen zugrunde liegen, vertraut gemacht. Ein erwachsener Mann gehört allen drei Institutionen an – Klan, Territorialverband und Gada – und kann in allen drei Befugnisse übernehmen. Den einzelnen Institutionen liegen jedoch jeweils anders ausgerichtete Interessen zu‐ grunde – was einerseits eine Machtbalance bedeutet, andererseits aber für Individu‐ um und Personengruppen häufig Entscheidungsdilemmata mit sich bringt. Auftre‐ tende Spannungsverhältnisse und daraus resultierende Konflikte sind Ergebnis sys‐ temimmanenter Widersprüche im soziopolitischen Gefüge. Sie werden keineswegs unterdrückt – was auch, da keine Zentralmacht vorhanden ist, kaum möglich wäre. 31
Konflikte sollen thematisiert und ausgetragen werden. Dadurch bietet sich die Möglichkeit zur kreativen Modifikation nicht mehr tragfähiger Strukturen. Gemeinsame Debatten und eine gemeinsame Konfliktbewältigung fördern in po‐ lykephalen Gesellschaften den sozialen Zusammenhalt. Darüber hinaus hält das dia‐ lektische Spannungsverhältnis zwischen erblich vorgegebenem Klan und zeitlich va‐ riablem Gada- und Territorialsystem das System in Bewegung, verhindert dessen Verkrustung und wirkt dem Dominantwerden eines Sektors entgegen. Eine solcherart angelegte Gesellschaft verlangt von ihren Mitgliedern soziales und politisches Engagement. Alle, ob Mann oder Frau, müssen sich Entscheidungen stellen. Der Mensch in der polykephalen Gesellschaft ist ein homo politicus im wahrsten Sinne des Wortes. Politik ist ubiquitär. Grundsätzlich sind Erwachsene in den genannten Bereichen auf irgendeine Weise verantwortliche Entscheidungsträger. Die Tatsache, dass der Mensch in einer solchen Gesellschaft sowohl an politi‐ schen wie an rechtlichen Problemstellungen Anteil hat und diese darum mittragen kann, ist meines Erachtens einer der Gründe dafür, dass es diesen Menschen gelun‐ gen ist, die Prinzipien ihrer herrschaftsfreien Gesellschaft lebendig zu halten und ge‐ genüber Bevormundung wachsam zu sein. Mit ihren Wertvorstellungen haben sie sich nachdrücklich von benachbarten hierarchisch-zentralistischen Gesellschaften abgegrenzt. Ihre politische Unabhängigkeit wurde ihnen zwar von der übergeordneten Staats‐ macht genommen, aber es gelang ihnen, ihre eigene Normensetzung und ihre rechtli‐ che Autonomie, trotz eines staatlichen Rechtssystems, auf lokaler Ebene weitgehend zu bewahren und damit den Legitimitätsanspruch des Staates zu unterlaufen. Forum hierfür sind die unterschiedlichen Versammlungen und Gremien. Sie rei‐ chen von Versammlungen kleiner Arbeitsgruppen bis zu solchen, die die Belange einer gesamten Ethnie behandeln. Ungeachtet ihrer Komplexität unterscheiden sich politische und gerichtliche Gre‐ mien formal nur geringfügig. (Auf letztere wird weiter unten ausführlicher eingegan‐ gen.) Prinzipiell gilt die Gleichberechtigung aller erwachsenen Personen. Üblicher‐ weise wird die Organisation und Moderation einem gewählten Sprecher oder Mode‐ rator als Primus inter pares ohne Befehlsgewalt übertragen. Die Versammlungen der Abstammungsgruppen (seien es Familien, Lineages oder Klane), sind auch als Rechtsinstitution zu betrachten. Häufig ist der jeweils Älteste der Abstammungsgruppe der Moderator und Organisator. Bei Beratungen von nicht verwandtschaftlich definierten oder organisierten Gruppen werden der Moderator und dessen Vertreter und Assistenten stets von der Versammlung für einen festgeleg‐ ten Zeitraum gewählt oder aufs Neue in ihrer Funktion bestätigt. Versammlungen finden auch immer an festgelegten Orten, häufig auf Zeremonialplätzen statt. Zur Sprache kommen Alltagsprobleme sowie ökonomische, politische und juristische Angelegenheiten, doch trotz der Themenvielfalt bleibt die Zusammensetzung der
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Teilnehmer häufig gleich. Gerichtssitzungen werden als solche angekündigt, wobei für die Beschuldigten und für bestimmte Würdenträger die Anwesenheit Pflicht ist. Auch bei anderen Beratungen ist die Teilnahme für Personen, die mit den behandel‐ ten Themen in Beziehung stehen, obligatorisch. Falls notwendig, werden Personen durch Boten zur Teilnahme aufgefordert, eine Benachrichtigung, der sie sich nicht entziehen dürfen. Ich habe miterlebt, wie einer Person, die dem zuwiderhandelte, gesellschaftliche Ächtung angedroht wurde, denn jeder soll die Entscheidungen mittragen. Daher sollen möglichst viele Menschen an den Treffen teilnehmen, damit die ein‐ zelnen Personen einer Gemeinschaft die getroffenen Vereinbarungen ohne Zwangs‐ anwendung als bindend anerkennen. Die Versammlungen finden überall im Sitzen statt, doch bei großen Veranstaltun‐ gen kann ein Sprecher aufstehen, um gehört zu werden. Da er sich aber nicht über die anderen erheben darf, richtet er seine Worte an einen von der Versammlung be‐ stimmten „Zuhörer“, der stellvertretend für die Anwesenden, ebenfalls stehend, zu‐ hört. Üblicherweise wiederholt dieser bei einer Sprechpause des Sprechers dessen letzte Worte, um zum Ausdruck zu bringen, dass er und damit auch die anderen dem Sprecher aufmerksam zuhören.20 Beeindruckend sind die im achtjährigen Turnus stattfindenden All-Borana-Tref‐ fen (gumii gaayoo). Die Borana sind eine etwa 300.000 Menschen umfassende oro‐ mosprachige Gruppe in Südäthiopien und Nordkenia, die vornehmlich Viehhaltung betreibt. Auf dieser großen Zusammenkunft werden sowohl politische wie rechtliche Probleme behandelt, die seit dem letzten Treffen aufgetreten sind, Richtlinien auf ihre aktuelle Gültigkeit hin überprüft und gegebenenfalls modifiziert. Etwa einen Monat lang nehmen bis zu 3.000 Diskutanten aus allen Landesteilen daran teil. Das bisher letzte Treffen fand im Herbst 2012 statt. Ausschließlich das gumii gaayoo hat die Kompetenz, neue Gesetze zu erlassen, die im Rahmen des Borana-Rechts Gül‐ tigkeit finden und dort bindend sind. Freilich müssen auch Vorgaben der Staatsregie‐ rung behandelt werden. 2012 sind z.B. ältere Gesetze modifiziert und Bestimmun‐ gen zur Förderung der Ausbildung von Mädchen verabschiedet worden.21 Neben den überregionalen Gremien existieren auf lokaler Ebene (nicht nur bei den Borana) zahlreiche Gremien, auf denen gesellschaftlich relevante Belange jegli‐ cher Art zur Sprache kommen. Dazu gehören Probleme der äußeren und der ökono‐ mischen Sicherheit, vor allem aber kommunale Aufgaben. Bei den pastoralen Bora‐ na nehmen beispielsweise Diskussionen um Brunnenbau und Brunnennutzung, die ausschlaggebend für die Versorgung der Rinder sind, einen breiten Raum ein.22 20 Kellner 2007, S. 99. 21 Siehe den Bericht vom 18. September 2012 {https://www.ardajila.com/?p=1380}. Vgl. auch Asmarom Legesse 2006. 22 Bassi 2005, Kap. 7.
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Polykephalen Gesellschaften liegt eine spezifische Auffassung des Rechts zu‐ grunde: Das Recht ist Teil der Lebenswirklichkeit, verzahnt mit dem Wertesystem, mit Weltbild, Ethos und Religion sowie dem Politischen. Es kann darum gelten: Das Recht in polykephalen Gesellschaften ist weder ein Abstraktum noch ein Anwen‐ dungskatalog, sondern verkörpert sich in der gemeinsamen Anwendung. Damit komme ich zu der Frage, wer darüber befindet, was rechtens ist, und wie dies umgesetzt wird. Analog zum Erwerb landwirtschaftlicher Kenntnisse sind bei den hier behandel‐ ten Volksgruppen das Wertesystem, das Verhalten anderen Personen gegenüber, Ethos und Recht Teil der Sozialisation. An den Volksversammlungen soll jeder und jede teilnehmen; auch Jugendliche, die hier geltende Regeln erlernen, die sie später als Erwachsene mitgestalten. Folglich kennen alle Erwachsenen die Rechtsordnung. Es ist verständlich, dass dort, wo jeder das Recht kennt, auf eine Rechtsinstanz verzichtet werden kann. Richterliche Gewalt wird nicht in die Hände von Einzelper‐ sonen gelegt. Es gibt keinen Richter, der ein Urteil fällt. Die Macht des Rechts beruht auf dessen Unterstützung durch die Gemeinschaft. Denn es ist ein eigenes, von den Vorfahren tradiertes, in gemeinsamen Diskursen weiterentwickeltes und verwirklichtes Konzept, das keiner weiteren Legitimation bedarf. In Staatsgesellschaften ist Jurisprudenz weitgehend aus dem übrigen Sozial‐ gefüge ausgegliedert. In polykephalen Gesellschaften hingegen ist Recht nichts Äu‐ ßerliches, sondern ist den Menschen inhärent, von ihnen allen geteilt. Das von allen Erwachsenen gewünschte politische Engagement birgt aber auch Gefahren für eine herrschaftsfreie Gemeinschaft. Es ist nicht auszuschließen, dass die zur Schau gestellten Fähigkeiten für persönliche Vorteile genutzt werden. Hauptgefahren für eine auf Egalität ausgerichtete Gesellschaftsordnung bestehen im Innern seitens erblicher oder gewählter Würdenträger, die ihre Befugnisse auszu‐ weiten trachten. Ein wirkungsvolles Recht kann ihnen Schranken setzen. Besonders bei Würden‐ trägern wird darauf geachtet, dass sie ihre von der Gesellschaft zugestandenen Kom‐ petenzen nicht überschreiten. Amtsmissbrauch gehört zu den schwersten Vergehen und wird, sofern Abmahnungen nichts fruchten, ungewöhnlich hart bestraft, unter Umständen sogar mit Landesverweis, der höchstmöglichen Strafe, die verhängt wer‐ den kann. Das Verhalten der erblichen Klan- oder Lineageältesten wird aufmerksam ver‐ folgt, ist es doch Personen aus diesem Kreis mancherorts gelungen, mit Berufung auf die übernatürliche Abkunft des Urahnen ihren Herrschaftsanspruch zu legitimie‐ ren. In Burji gilt darum Folgendes: Die erblichen Lineageältesten sollen sich auf ihre sakralen Aufgaben beschränken und ihre Befähigung durch die korrekte und erfolg‐ reiche Ausführung von Zeremonien beweisen. Während ihrer Einsetzungsfeierlich‐
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keiten singen die Frauen ein Lied, das diese ermahnt, sich an die Trennung von poli‐ tischen und religiösen Aufgaben zu halten.23 Fehlen Lineageälteste darin, erhalten sie durch Versammlungsbeschluss eine Verwarnung. Fruchtet diese nicht, konnten sie beispielsweise – nur mit dem Nötigsten versorgt – so lange in die Wildnis ver‐ bannt werden, bis sie Besserung gelobten. Zu schweren antigesellschaftlichen Vergehen zählen weiterhin unterlassene Hilfe‐ leistung und Geiz. Erst dann folgen in abnehmender Reihenfolge schwerer Betrug, wiederholter Diebstahl, Landstreitigkeiten und Beleidigung. Die Verpflichtung zur Hilfeleistung ist wesentlich weiter gefasst als bei uns. Ähnliches gilt auch für Geiz. „Wohlstand verpflichtet“ ist dort keine leere Phrase. Zwar kann ein Geiziger in Ver‐ sammlungen wie alle anderen seine Meinung äußern, aber verantwortungsvolle Auf‐ gaben werden ihm nicht erteilt. Totschlag und Mord dagegen sind heutzutage Ange‐ legenheit staatlicher Gerichte. Weit aufschlussreicher als das, was verhandelt wird, ist, wie über einen Rechtsfall verhandelt wird. Je nach Problemfall werden zuständige Versammlungen einberufen. In ihnen haben alle Teilnehmer die gleichen Rechte und können unterschiedslos an den Diskussionen teilnehmen. Auch Frauen melden sich häufig selbstbewusst und energisch zu Wort. Dementsprechend sind an der Entscheidungsfindung alle Anwesenden beteiligt. Üblicherweise ist es die Aufgabe bestimmter Würdenträger, die Versammlung zu‐ sammenzurufen und zu eröffnen, doch hat dies für den weiteren Diskussionsverlauf keine Auswirkungen. Autorität besitzt, wer sein Argument, auf fundiertes Wissen gestützt, in guter Re‐ de vorzutragen weiß. Doch finden ebenso weniger Begabte Gehör. Wesentlich ist es, am Ende der Diskussion eine für alle akzeptable Lösung zu fin‐ den. Das erfordert Zeit. Kolonialherren erregten sich einst über die in Afrika übli‐ chen langen Diskussionen, weil sie solche Verfahren als ineffektiv ansahen, und machten sich über das „endlose Palavern“ lustig. Der Begriff Palaver, einst despek‐ tierlich gemeint, wird nunmehr von afrikanischen Philosophen mit Stolz verwendet. Die Betrachtung des formalen Prozedere im Palaver weckt Assoziationen mit der Diskursethik von Habermas. Bedingung – in der Diskursethik wie im Palaver – ist der herrschaftsfreie Diskurs, was auch für das jeweils gefundene Übereinkommen gilt. Habermas sagt: „Geltung darf nur beanspruchen, was die Zustimmung aller Teilnehmer finden konnte.“ Während sich die polykephalen Gesellschaften stets auf konkrete Fälle beziehen, ist es das Anliegen von Habermas, allgemein verbindliche formale Regeln für das Argumentieren aufzustellen und zu begründen. Damit soll vor allem die Chancengleichheit der Partizipanten gewährleistet sein. Oberstes Prin‐ zip ist nach Habermas: „Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskur‐
23 Kellner 2007, S. 214.
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sen teilnehmen.“ Und er ergänzt: „Jeder Sprecher darf nur behaupten, was er glaubt.“ „Jeder darf jede Behauptung problematisieren [...] [und, H.A.] jede Behaup‐ tung in den Diskurs einführen.“ Als Bedingung für die gleichberechtigte Teilnahme am Diskurs gilt: „Kein Sprecher darf durch [...] Zwang daran gehindert werden, sei‐ ne [...] Rechte wahrzunehmen“.24 Die genannten Bedingungen lassen sich 1:1 auf die in polykephalen Gesellschaften stattfindenden Diskussionen übertragen. Die Art des Miteinander-Kommunizierens in den Ratsversammlungen ist per se antiherrschaftlich und setzt ihrerseits herrschaftsfreie Strukturen voraus, um greifen zu können. Auch in Gerichtsverhandlungen wird so lange verhandelt, bis ein Konsens erzielt worden ist, so dass alle mit dem Urteil einverstanden sind und der soziale Friede wiedererlangt und besiegelt werden kann.25 Ihren Abschluss finden die Verhandlun‐ gen mit einem Versöhnungsritual – üblicherweise mit einem gemeinsamen Mahl.26 Damit ist der soziale Störfall beseitigt und die Gemeinschaft aller Beteiligten wieder hergestellt. Es kommt deshalb nicht vor, dass Unzufriedene nach „Gesetzeslücken“ suchen, um die Entscheidungen umzudeuten oder um eine Revision zu verlangen. Die Befolgung von Beschlüssen oder Anordnungen hat nichts mit dem fraglosen Gehorsam gemein, den ein Akt der Gewalt erzwingt, gibt es doch weder Polizei noch andere Vollzugsorgane. Aber es sind die gemeinsame Anwendung der Wertvor‐ stellungen und die gemeinschaftlich im Konsens gefundenen Lösungen sowie die daraus erwachsene Unterstützung durch die Gesellschaft, die ihrer Befolgung Ge‐ wicht verleihen.
Konsensfindung und ihre Bedeutung Auffallendes Merkmal der angewendeten Dialogformen ist der Wille zur Einigung, zur Konsensfindung, mit dem Ziel der Versöhnung entgegengesetzter Interessen und Ansichten. In solcher Art des gemeinsamen Konsenses gibt es weder Sieger noch Besiegte. Angestrebt wird ein Ausgleich, um die sozialen Beziehungen zwischen den Kontrahenten auch in Zukunft zu ermöglichen. Niemand muss sich wie beim westlichen demokratischen Modell einem Mehrheitsbeschluss beugen.
24 Habermas 1988, S. 97 ff. 25 In Gerichtsverhandlungen ist vorrangiges Ziel nicht die Bestrafung, sondern die Belehrung. Die Regeln, die man sich selbst gegeben hat, werden dem Abweichler als vernünftige Willens‐ äußerung dargelegt. Das im Diskurs vermittelte Unrechtsbewusstsein ist die Bedingung für Er‐ kenntnis und Anerkennung der eigenen Schuld. Auch eine eventuelle Bestrafung soll vom De‐ linquenten anerkannt werden, als Ausdruck der Einsicht in ein Fehlverhalten. 26 Eine ausführliche Beschreibung des Versöhnungsrituals nach einem Tötungsfall bei den westli‐ chen Oromo findet sich bei Bartels 1983, Kap. 22.
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Dennoch bleibt ein Problem, weil in einer im Konsens geeinten Gemeinschaft, selbst wenn alle Argumente der Teilnehmer zur Sprache gekommen sind, die Gefahr besteht, dass unter Umständen das Falsche zur Geltung kommt.27 Mit diesem Dilemma setzte sich auch Habermas in seinen Kommunikationstheo‐ rien auseinander. Wie in seiner Diskussion der Anwendungsdiskurse erläutert, lässt sich eine Zustimmung zum Falschen nicht ausschließen, sondern nur durch geeigne‐ te Prozesse so weit wie möglich vermeiden.28 Er ist überzeugt, dass auf derGrundlage begründbarer Argumente mit gleichbe‐ rechtigten Interaktionspartnern eine Einigung über die Gültigkeit ihrer Äußerungen und schließlich eine verständnisorientierte Handlungskoordination möglich werden kann,29 und zwar auf der Basis einer gemeinsamen, intersubjektiv geteilten Lebens‐ welt in Verbindung mit der Orientierung an einem Handlungsmodell, in dem „die In‐ teraktionsteilnehmer das Rationalitätspotential [...] ausschließlich für kooperativ ver‐ folgte Ziele der Verständigung mobilisieren“.30 In der Lebenswelt ist die „vorgetane Interpretationsarbeit vorangegangener Generationen“ gespeichert.31 Sie bildet die Grundfolie für jegliche Kommunikation und kann in ihrer Gesamtheit nicht hinter‐ fragt werden, würde dies doch die Auflösung einer Gesellschaft bedeuten. Der Be‐ zug zur Lebenswelt trägt zur Angemessenheit der im herrschaftsfreien Diskurs ge‐ fundenen Lösungen bei Normenkonflikten bei. Lösungen müssen mit den übrigen Normen eine kohärente Ordnung und ein sinnreiches Regelsystem bilden.32 Der Habermas’sche Universalität beanspruchende Ansatz greift auch in unserem Fall, wird aber noch um spezifische ethische Aspekte ergänzt. In den genannten an‐ archischen Gemeinschaften kann das Ringen um die je angemessene Lösung unter Berücksichtigung möglichst vieler Gesichtspunkte und neuer Einsichten in kritischer Auseinandersetzung mit Normansprüchen Monate dauern (Stichwort Palaver), vor allem, da es um intersubjektive Gültigkeit gehen soll. Grundlegend für die Vermei‐ dung des Falschen ist das Ethos einer holistischen Auffassung vom Menschen. Der Mensch wird stets in einem breiten gesellschaftlichen, zeitlichen und kosmischen Bezugsrahmen gesehen. Einen Schlüssel zum Verständnis dieses Menschenbildes und dessen Verhältnis zum Mitmenschen bietet die Seelenvorstellung in den polykephalen Gesellschaften Südäthiopiens. Sie ist eng mit der Auffassung vom eigenen Ich verbunden. Diesem 27 Hierfür findet sich bei Zygmunt Bauman ein geradezu unheimliches Gedankenspiel, das auf die normative Kraft des zu Fakten Gemachten verweist. In seiner kritischen Auseinander‐ setzung über die Verhandelbarkeit von Moral schreibt er: „Im Falle eines Sieges der Deut‐ schen“ wären die Verbrechen der Nationalsozialisten „als die Geschichte des menschlichen Aufstiegs in die Lehrbücher eingegangen“ (Baumann 1995, S. 337). 28 Habermas 1995 [1981], Bd. 1, S. 141 f. 29 Ebd. S. 148. 30 Ebd. S. 149. 31 Ebd. S. 10, 32. 32 Vgl. Amborn 2016, S. 80–94, 214–219.
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Entwurf zufolge besteht die menschliche Seele aus mehreren Bestandteilen, die in jeweils unterschiedlichem Maße in die Gegenwart und in den Fluss vergangener und zukünftiger Generationen eingefügt sind. Verantwortlich ist der Mensch nicht nur gegenüber sich selbst und seinen Zeitgenossen, sondern auch gegenüber den Ahnen und im gleichen Maß gegenüber den noch Ungeborenen. (Das einzelne Subjekt ist demzufolge nicht – wie im westlichen Denken – der Ausgangspunkt der Überlegun‐ gen.) Das Individuum ist zusammen mit seinem Gegenüber in diesen Kreislauf ein‐ gebunden. Ethisches Verhalten zielt nicht auf die Rettung und Erlösung der eigenen Seele, sondern beruht auf der Gewissheit, dass die eigene Lebensfähigkeit nur durch die Sorge um das Wohlbefinden der Seele des Anderen und der anderen möglich ist. Man könnte glauben, Südäthiopier hätten Karl Marx oder Kropotkin gelesen, wenn sie feststellen, dass der Andere nicht die Grenze, sondern die Bedingung der eigenen Freiheit und Würde ist.33 Innerhalb des damit abgesteckten Spektrums bleiben große Spielräume, sind doch Handlungen nicht im Entferntesten lediglich an gemeinschaftlich anerkannte „tradi‐ tionelle“ Werte gebunden.34 Die Betonung der Achtung des Anderen richtet sich ge‐ gen Bevormundung und beinhaltet zugleich die Forderung, Verantwortung dafür zu tragen, dass künftige Generationen ein gutes Leben haben können.35 Zudem wird Ansichten und Handlungsweisen entgegengesteuert, die nur auf partikularen Interes‐ sen beruhen oder sich negativ für die Gesellschaft auswirken könnten.36 Demgemäß schreibt der kongolesische Moraltheologe Bénézet Bujozum zum Menschenbild in der „afrikanischen Ethik“: „Charakteristikum des ethischen Han‐ delns ist, daß das Individuum sich nicht als der allein Handelnde betrachtet. [....] [Es] existiert ein ,perichoresisches‘ Verhältnis zwischen Individuum und Gemein‐ schaft in ihren drei Dimensionen von Noch-nicht-Geborenen, Lebenden und Toten, derart, dass eine sittliche Entscheidung oder ein Tugendakt ohne sie nicht richtig zu‐ stande kommen kann“.37 Sowohl Habermas’ Ausführungen wie auch die afrikanischen Überlegungen ver‐ weisen darauf, dass in der Konsenssuche keineswegs alles und jedes zur Disposition steht. Es gibt unstrittige Überzeugungen und einen Grundkonsens, aufgrund derer sich die einvernehmliche Anerkennung spezifischer Probleme erzeugen lässt. An dieser Stelle lohnt es sich, schlaglichtartig den Bogen nach Bali zu schlagen und ein Beispiel von dort anzuführen. Damit soll paradigmatisch auf die Fülle der 33 Amborn 2001, S. 55. 34 Amborn 2001, S. 52 ff. 35 Im Gegensatz hierzu steht das egozentrische Verhalten in den Hierarchien Nordäthiopiens, wo rücksichtslose Abholzungen fruchtbares Land vernichten, was zu Hungernöten führt und wo‐ durch der Lebensraum künftiger Generationen zerstört wird. 36 Die endgültige Konsensfindung bedarf, verbunden mit der dargelegten Bedeutung ethischer Motivation, des rational motivierten Einverständnisses, damit das Erreichte Tragfähigkeit ge‐ winnt. 37 Bujo 2000, S. 17, 50.
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Variationsmöglichkeiten in der Ausformung herrschaftsfreier Gemeinschaften hinge‐ wiesen werden.
Herrschaftsfreie Gemeinschaftsordnungen innerhalb Balis Innerhalb der auf Bali üblichen zentralistisch-hierarchischen Gesellschaften sind wie Inseln Gesellschaftsgruppen eingestreut, die sich in vielfacher Hinsicht von der Be‐ völkerungsmehrheit unterscheiden, und zwar insbesondere in soziopolitischer und religiöser Hinsicht. Diese Gruppen blieben weitgehend von der Hinduisierung im 14. Jahrhundert unberührt und übernahmen auch die damit verbundene vertikale Ge‐ sellschaftsordnung nicht.38 Gleichwohl fühlen sie sich in die spirituelle Welt Balis eingebettet. Unter ihnen greife ich die wissenschaftlich am umfassendsten unter‐ suchte Bali-Aga Gruppe von Tenganan heraus.39 Wir sehen uns dort einer ausgefeilten polykephalen Gesellschaftsordnung gegen‐ über, die zahleiche grundsätzliche Strukturmerkmale mit anderen herrschaftsfreien Gesellschaften teilt, als da sind: den gemeinschaftlichen diskursiven Umgang mit Normen, die kommunale Nutzung von Ressourcen, die Vermeidung von Hierarchien und die Ablehnung von Führungspersönlichkeiten. Auffallend ist, dass im Gegensatz zum übrigen Bali die patrilinearen Abstam‐ mungsgruppen zwar für die exogamen Heiratsgruppen von Bedeutung sind, nicht aber für den sozialen Status einer Person. Wesentlich ist die Zugehörigkeit zu den örtlichen Vereinigungen, die nach Kriterien des Alters, des Geschlechts und des Hei‐ ratsstatus organisiert sind. Alle Bewohner, Knaben und Männer, Mädchen und Frau‐ en, sind Mitglieder einer ihnen entsprechenden Gruppierung. Schon im Kindesalter treten Jungen wie Mädchen in Jugendvereinigungen ein, wo sie in spielerischer Ge‐ selligkeit auf ihre späteren gesellschaftlichen und rituellen Aufgaben vorbereitet werden.40 Durch das tägliche Zusammensein in den altersmäßig gestaffelten Vereini‐ gungen findet bei den Heranwachsenden eine Verinnerlichung und Prägung des Weltbilds und der Wertvorstellungen ihrer Gesellschaft statt, bis sie ihnen in zum Teil blutigen Ritualen buchstäblich in Fleisch und Blut übergehen.41 Mit der Eheschließung gehört ein Paar dem Gemeinderat (kerema desa) an, einem Gremium, das nahezu allabendlich zusammentritt. Hier werden alle Belange der Ge‐ meinde diskutiert, seien es alltägliche Probleme, die Durchführung von Riten, For‐ derungen der Regierung oder Verstöße von Gemeindemitgliedern gegen die gelten‐ 38 Im 14. Jahrhundert erfolgte die Eroberung Balis durch die javanische Majapahit-Dynastie, die bei der Hinduisierung der Insel dauerhafte Akzente setzte. Für jene Bevölkerungsteile, die den Hinduismus nicht annahmen, hat sich der Begriff Bali-Aga durchgesetzt. 39 Im Folgenden beziehe ich mich auf meinen Aufsatz von 2003. 40 Ramseyer 1985, S. 157 ff.; Ramseyer 2009, S. 60 ff.; Korn 1948, S. 333 ff. 41 Amborn 2003.
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de, mündlich und schriftlich tradierte Ordnung.42 Auch hier ist, wie in den oben be‐ handelten Ethnien, das Juridische Teil eines soziopolitisch-religiösen Gesamtkon‐ zepts.43 Die gefassten Beschlüsse sind verbindlich. Der ständig zusammentretende Rat ist in der Lage, unter Beachtung der Tradition, flexibel auf veränderte Gegeben‐ heiten zu reagieren. Im Gemeinderat finden nur verheirate Paare Aufnahme. Kommt es trotz des Tren‐ nungsverbots zur Scheidung, werden die Beteiligten ausgeschlossen. Auch beim Tod eines Partners muss der Überlebende das Gremium verlassen. Wenn verheiratete Töchter oder Söhne eines Paares in den Rat kommen, erlischt damit die Mitglied‐ schaft der Eltern.44 In einem langgestreckten Versammlungsgebäude, das zugleich Kultort ist, sitzen Ehepartner stets zusammen. Gemeinsam mit den anderen Mitglie‐ dern bilden sie zwei parallele Reihen, die, von Süd nach Nord (in Richtung des heili‐ gen Berges) aufsteigend, in vier Gruppen unterteilt sind. Diese Sitzordnung verdeutlicht in auffälliger Weise dualistische Gliederungsprin‐ zipien, die charakteristisch für Bali-Aga-Gemeinden sind. Die duale Struktur sym‐ bolisiert einen polaren Widerstreit: die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit wird als Einheit komplementärer Gegensätze gedeutet, was zugleich eine Weltsicht des Aus‐ gleichs von Oppositionen wie rechts/links, bergwärts/seewärts, männlich/weiblich zum Ausdruck bringt. Solche entgegengesetzten Pole, die auch das Geistige ein‐ schließen, sind Bestandteil der Welt und des Lebens, es geht nicht darum, das Eine über das Andere siegen zu lassen, sondern um die Harmonisierung der Polarität.45 Die vier erwähnten Untergruppen des Rates haben jeweils verschiedene Kompe‐ tenzen, Aufgaben, Privilegien und Funktionen, ähnlich wie wir sie vom ostafrikani‐ schen Gadasystem oder von Altersklassen her kennen. Idealiter kann jedes Ehepaar in seinem Leben nacheinander alle vier Gruppen durchlaufen. Die ökonomischen Verhältnisse eines Paares spielen für die Aufnahme in den Gemeinderat und dessen Sitzordnung keinerlei Rolle. Neu Hinzugekommene gehören so lange der Gruppe der Zuhörenden an, bis aus der darüber stehenden Gruppe ein Paar ausscheidet oder weiter aufrückt.46 Ökonomische, rituelle und (soweit vom Staat zugelassen) politi‐ sche Macht liegt ausschließlich beim Gemeinderat. Aufgrund der Verbindung von Heirats- und Teilnahmeregeln ist der Kreis der Entscheidungsträger eingeschränkter
42 Korn 1933, Kap. IV. 43 Ebenfalls ist hier Ausschließung die höchstmögliche Strafe: zunächst eine vorübergehende Einschränkung sozialer Kontakte, die, wenn nötig, durch Ausschluss aus dem Gemeinderat und im schlimmsten Falle durch Landesverweis gesteigert wird. 44 Von einer Gerontokratie kann also nicht die Rede sein, im Gegenteil; ihr ist mit den genannten Regelungen ein Riegel vorgeschoben. 45 Scheidung ist auch deshalb verboten, weil sie das duale Prinzip und dessen Harmonisierung durchbricht. 46 Für eine ausführliche Beschreibung dieses Gremiums siehe u.a. Ramseyer 1985, S. 260 ff.; Ramseyer 2009, S. 68 ff.; Korn 1933, Kap. II.
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und überschaubarer als in den meisten polykephalen Gesellschaften.47 Beachtung verdient, dass verheiratete Frauen (getreu dem dualistischen Prinzip) alle Entschei‐ dungen mittragen, was man von den meisten als „egalitär“ apostrophierten Gesell‐ schaften nicht behaupten kann. Machtverhältnisse im Gremium sind gewollt. Sie sind hier an ständig wechselnde Personengruppen gebunden, die ihren Rang in einem fließenden, aber geordneten System erwerben und wieder abtreten. Anarchische Gesellschaften sind nicht frei von kriegerischen Auseinandersetzun‐ gen. Indes bleiben Eroberungskriege mit dem Ziel der Unterwerfung fremder Bevöl‐ kerung, wie wir sie von Königtümern oder imperialen Staaten kennen, die Ausnah‐ me.48 Für Tenganan ist dessen besondere Friedfertigkeit hervorzuheben, nachweis‐ lich fanden seit 300 Jahren keine Kampfhandlungen mehr statt.49 Die spezifischen Ausformungen des spirituellen Bereichs sollen hier nicht behan‐ delt werden.50 Erwähnt werden muss jedoch, dass sich Tenganesen als eine auser‐ wählte Gesellschaft verstehen; für sie stellt ihr Siedlungsgebiet ein mikrokosmisches Modell der makrokosmischen Weltordnung dar. Daraus erwächst ihnen eine morali‐ sche Verantwortung für den Ort sowie ganz Bali und darüber hinaus gegenüber dem kosmischen Geschehen.51 Die Sorge um den Erhalt ihrer spirituellen Eigenheit be‐ wirkt allerdings auch eine Abgrenzung gegenüber Außenstehenden.52 Derartige Vorstellungen stehen im scharfen Kontrast zu den bei den Oromo im östlichen Afrika geltenden Regeln, wo durch Inkorporation fremder Gruppen die Anzahl der Entscheidungsträger erweitert wird. Eine weitere Eigenheit von Tengan‐ an ist, dass hier Wert darauf gelegt wird, den Zusammenhalt der eigenen Gruppe zu stärken und zu erhalten, während eine fluktuierende Gruppenzusammengehörigkeit für zahlreiche andere herrschaftsfreie Gesellschaften kennzeichnend ist. So schreibt etwa Scott von jener um die 100 Millionen Menschen umfassenden Bevölkerung, 47 Die Teilnehmerzahl wird zusätzlich kleingehalten, da Paare nur dann in den Gemeinderat kom‐ men, wenn beide Partner von Geburt an ortsansässig sind. Begründung hierfür ist die spirituel‐ le Bedeutung von Tenganan. In Tenganan handelt es sich zwar um eine polykephale Gesell‐ schaftsordnung, nicht aber um eine egalitäre, da eine (ständige) Mitgliedschaft aller erwachse‐ nen Bewohner im Gemeinderat nicht gegeben ist. 48 Im Verlauf der Oromo-Expansion (beginnend im 16. Jahrhundert) im Horn von Afrika wurden Fremdgruppen inkorporiert. Auf diese Weise stellen die Oromo im heutigen Äthiopien die größte Volksgruppe dar (Braukämper 2012, Kap. 3.4). In Äthiopien und Kenia sind es etwa 33 Millionen. 49 U.a. Amborn 2003, S. 48 f. 50 Von der reichhaltigen Fachliteratur zu diesem Thema sei nur die des Ethnologen Ramseyer 2009 genannt, der seit Jahrzehnten fachlich-freundschaftlich mit Tenganan verbunden ist. 51 Die Bewohner von Tenganan sehen sich als unmittelbare Abkommen jenes Urelternpaares an, das der Gott Indra kraft Yogameditation geschaffen hat. Zu Tenganan als mikrokosmisches Modell: Ramseyer 2009. 52 Das bekommen selbst Touristen zu spüren, wenn nach Einbruch der Dunkelheit keine Orts‐ fremden mehr anwesend sein dürfen, obwohl Tenganan heute seiner traditionellen Architektur wegen tagsüber eines der beliebtesten Touristenziele ist.
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die sich in die Bergregionen von „Zomia“ (das von Nordostindien über Vietnam bis China reicht) zurückgezogen und dort herrschaftsfreie Gesellungsformen entwickelt hat, dass bei ihnen die häufige Aufgliederung in einzelne Gruppen und das Eingehen neuer Zusammenschlüsse und Allianzen üblich ist.53 Für die Menschen im wirt‐ schaftlich prosperierenden Tenganan, die in ein ausgewogenes Sozialsystem einge‐ bunden sind und zu ihren ethischen Grundsätzen stehen, ist die Frage nach der Legi‐ timation der eigenen Normen gegenstandslos. Das ist auch deshalb so, weil sie auf deren eventuell notwendig werdende Anpassung an heutige Erfordernisse Einfluss nehmen können. Die Festigung im Eigenen erlaubt eine kritische Toleranz gegen‐ über staatlichen Anforderungen.
Vernetzte Reziprozität Kehren wir wieder nach Afrika und zu den dortigen Ratsversammlungen zurück. Die reziproke, teilweise antagonistische Verkettung von Institutionen sowie deren Verknüpfung mit der Rechtsauffassung und Rechtssetzung hemmt das Aufkommen von Emporkömmlingen und wirkt dem Übergewicht einzelner gesellschaftlicher Be‐ reiche entgegen. Für das Funktionieren einer herrschaftsfreien Gemeinschaft, die über Face-toface-Gruppen hinausgeht, ist offensichtlich die Verflechtung und Interaktion mehre‐ rer Faktoren von Belang. Bereits die Art des Miteinander-Kommunizierens in Ver‐ sammlungen erfolgt, wie gesagt, unter der Voraussetzung herrschaftsfreier Struktu‐ ren, die in den Institutionen angelegt sind, und die Sozialisation in die verschiedenen Institutionen fördert die Verinnerlichung eines egalitären Ethos. Allein genommen sind jedoch Institutionen – wie Klan, Territorialverband und Gadasystem – keine Garantie für gedeihliche polykephale Gesellschaften. Wesent‐ lich ist vielmehr, dass die Gemeinschaft aktiv an Wertsetzungsprozessen teilnimmt. Rechts- und Moralvorstellungen sowie die Reflexion darüber in freier Kommunika‐ tion sind ein wesentlicher Bestandteil der Lebenswelt dieser Menschen, was zu‐ gleich entscheidend zur Prägung ihres Habitus beiträgt. Mit Bourdieu kann man sa‐ gen, dass sich die im Laufe der Sozialisation erworbenen Wahrnehmungs-, Verhal‐ tens- und Denkmuster im Habitus eines Menschen niederschlagen und verinnerlicht werden. Dieses von den gesellschaftlichen Verhältnissen geprägte endliche Reser‐ voir strukturiert die soziale Praxis, determiniert sie aber nicht, was den Akteuren im Rahmen ihres Habitus Möglichkeiten zur Entwicklung von Strategien auf verschie‐ denen gesellschaftlichen Ebenen bietet.54
53 Scott 2009. 54 Bourdieu 1979, S. 139 ff.; Bourdieu 1998, S. 144 f.
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Erhellend sind auch Giddens’ Überlegungen zur Verinnerlichung eines gemeinsa‐ men Wissens, das ihm zufolge dem Bewusstsein der Akteure nicht direkt zugänglich und in seinem Wesen meist praktisch ist. „Es gründet in dem Vermögen der Akteure, sich innerhalb der Routinen des gesellschaftlichen Lebens zurechtzufinden. Die Trennungslinie zwischen dem diskursiven und dem praktischen Bewusstsein ist [...] gleitend und durchlässig“.55 Menschliche Handlungen setzen „eine Vertrautheit mit den in solchen Handlungen ausgedrückten Lebensformen voraus. Es ist die spezi‐ fisch reflexive Form der Bewusstheit menschlicher Akteure, die am tiefsten in die rekursive Regulierung sozialer Praktiken eingebunden ist“.56 In polykephalen Gesellschaften bilden die mit der Rechtssetzung verbundenen re‐ ziproken, in einem Gleichgewicht von Gegensätzen befindlichen Institutionen eine wirksame Gegenmacht zu Herrschaftsbestrebungen. Damit ein derartig komplexes System dauerhaft Wirkung erzielen kann, muss es in Auseinandersetzung mit der jeweiligen Gegenwart mit Leben erfüllt und gestaltet werden. Normen und Rechtsetzung sind als das gemeinsam Erarbeitete verinnerlicht und bedürfen keiner besonderen Legitimation, sondern bergen diese bereits in sich. An dieser Stelle kann ich nun auch versuchen, explizit Antworten auf Kernfragen dieses Bandes aus emischer Sicht57 der geschilderten anarchischen Ethnien zu fin‐ den: namentlich erstens auf die Frage, wann Normen bzw. Regeln legitim sind, zweitens auf die Frage, wie sich Legitimität beschreiben lässt, sowie drittens auf die Frage, welche Anforderungen an die Legitimität staatlicher Herrschaft zu stellen sind.58 Vorausschicken möchte ich, dass ich in Bezug auf die ersten beiden Fragen statt Legitimität Begriffe wie „Geltung haben“ und „Anerkennung besitzen“ vorzie‐ he.59 Zu Frage 1 und 2: Geltung hat („legitim“ ist), was aufgrund herrschaftsfreier, al‐ len zugänglicher, gemeinsamer Diskussion konsensuale Lösungen erzielt hat und da‐ mit gesamtgesellschaftlich und individuell anerkannt ist und somit Bestandteil der Lebenswelt wird. Zu Frage 3: Staatliche Legitimität wird in anarchischen Gesell‐ 55 Giddens 1988, S. 55. 56 Ebd. S. 53. 57 In den Sozialwissenschaften, insbesondere in der Ethnologie, wird in „etische“ bzw. „emische“ Vorgehens- und Betrachtungsweisen unterschieden. Etisch (abgeleitet von „Phonetik“) steht für die Darstellung einer Gesellschaft von außen, z.B. durch die quantitative Auswertung von durch vorgegebene Fragen generierten Ergebnissen. Emische Herangehensweisen (abgeleitet von „Phonem“) versuchen, auf Verstehensprozessen zwischen Forscher und Gegenüber auf‐ bauend, zu einer Innenansicht einer Gesellschaft zu gelangen. 58 In einem parallel zur Drucklegung erscheinenden Aufsatz untersucht Sabrina Zucca-Soest kri‐ tisch den klassischen und gemeinhin geltenden Begründungszusammenhang zwischen Staat und Recht einerseits und der daraus erwachsenden Legitimierung staatlicher Gewalt anderer‐ seits auf seine Gültigkeit und konfrontiert ihn mit theoretischen Überlegungen zur Anarchie als gesellschaftlicher Ordnungsidee (Zucca-Soest 2019). 59 Siehe meine Bemerkungen am Anfang dieses Beitrags.
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schaften durch Gewaltverhältnisse (Militär und Polizei) erzwungen. Darum werden staatliche Vorgaben als etwas Äußerliches und u.U. Feindliches empfunden, was zu passivem bis zu gewaltsamem Widerstand führen kann (in Bali weniger ausgeprägt). Die Mindestanforderung an die Legitimität staatlicher Herrschaft ist die Beachtung verfassungsmäßig garantierter Rechte. Anarchische Gesellschaften beweisen, dass auch ohne Gewaltmonopol gesell‐ schaftliches Handeln, Rechtssicherheit und innerer Friede gelingen können. Ganz si‐ cher lassen sich die beschriebenen Modelle nicht umstandslos auf andere Gesell‐ schaften übertragen, doch können sie neue Perspektiven eröffnen. Ethnologie kann keine Handlungsanweisungen geben, aber sehr wohl Denkanstöße bieten. Bei manchen Lesern könnte der Eindruck entstehen, meine Ausführungen würden ein zu idealistisches Bild der polykephalen Gesellschaften im Besonderen und von menschlichem Verhalten im Allgemeinen zeichnen. Wir sollten jedoch die Beobach‐ tung zulassen, dass andere Kommunikationsformen und Praktiken auch andere Wel‐ ten implizieren und es somit Gesellschaften gibt, in denen andere Paradigmen gelten als die unseren: herrschaftsfreie Formen der Gesellung, in denen die Vereinzelung der Menschen nicht den Grad erreicht hat wie bei uns im Westen, und Gemeinschaf‐ ten, in denen Profitmaximierung nicht den höchsten Wert darstellt und auch Konkur‐ renzverhalten stets die Würde des anderen respektiert. Die hier vorgestellten Gesellschaften können als Muster, wenn nicht gar als Ideal‐ typen für die Funktionsweise bevölkerungsstarker anarchischer Gemeinschaften gel‐ ten. Sie beweisen, dass auch ohne Gewaltmonopol gesellschaftliches Handeln, Rechtssicherheit und innerer Friede gelingen können. Dem Umgang mit dem Recht – dem eigenen, selbstentwickelten Recht – kommt dabei eine Schüsselstellung zu. Dementsprechend gewinnen die vorgestellten Fallbeispiele herrschaftsfreien Zu‐ sammenlebens weit über ihren geographischen Raum hinaus an Bedeutung. Sie bie‐ ten einen interpretativen Rahmen, in dem herrschaftsfreie Gesellschaften verallge‐ meinert beschrieben werden können, wobei sich Interdependenzen und Kausalver‐ hältnisse der signifikanten Charakteristika verdeutlichen lassen. In Kritik zu den existierenden hierarchischen Herrschaftsformen, die auf Gewalt basieren, entwickelten im 19. und 20. Jahrhundert Theoretiker des Anarchismus Idealmodelle einer zukünftigen staatenlosen Gesellschaft, in der Menschlichkeit und Gerechtigkeit obsiegen. Wie diese Modelle zu verwirklichen seien, blieb ein vieldis‐ kutiertes Problem und wird auch im vorliegenden Band im Beitrag von Peter Sey‐ ferth angesprochen.60 Das Scheitern anarchistischer Modelle unter den gegebenen historischen Bedingungen im Okzident erleichterte es ihren Gegnern, die Idee einer herrschaftsfreien Gesellschaft in das Reich der Utopie zu verweisen.
60 S. auch Diefenbacher 1996, S. 10 ff.
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Damit ist jedoch keineswegs bewiesen, dass der Neoliberalismus verbunden mit gegenwärtiger Staatsideologie als globales soziopolitisches Allheilmittel taugt. An‐ gesichts der bestehenden – und funktionierenden – herrschaftsfreien Gemeinschaften erscheint die immer noch ungebrochene – und häufig mit militärischer Gewalt ver‐ bundene – Fixierung auf die Durchsetzung von Staatlichkeit als Garant für innere und äußere Sicherheit nicht nur als fragwürdig, sondern auch als bedenklich.
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Andreas Glöckner Legitimität und Rechtsbefolgung: Eine empirisch-psychologische Perspektive
1. Einleitung Entscheidungen von Menschen werden von multiplen Faktoren beeinflusst, welche im Rahmen der Entscheidungsforschung systematisch untersucht werden. Gesell‐ schaftlich von besonderer Relevanz sind dabei (u.a.) menschliche Entscheidungen, sich entweder an Recht und Gesetz zu halten oder aber auch in spezifischen Situatio‐ nen das Recht zu brechen, sich deviant zu verhalten und/oder gesellschaftliche Nor‐ men zu verletzen. Solche Entscheidungen im Bereich der Rechtsbefolgung werden u.a. von Psychologen, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlern untersucht, aller‐ dings setzt jede Disziplin dabei etwas andere Schwerpunkte. So fokussiert die zen‐ trale ökonomische Theorie auf eine ausreichend starke Abschreckung durch potenzi‐ elle Strafen. Die zentrale kriminologische Theorie nimmt insbesondere den Mangel an Selbstkontrolle, einer Versuchung zu widerstehen, in den Blick. Die zur Frage der Rechtsbefolgung dominierende psychologische Theorie stellt die wahrgenommene Legitimität des Rechtssystems sowie von Autoritäten, Behörden oder Institutionen in den Mittelpunkt der Betrachtung, welche auch das verbindende Thema dieses Sammelbands darstellt. Zur umfassenden Betrachtung der Thematik Legitimität und Rechtsbefolgung werde ich im ersten Teil des Beitrags die erwähnten zentralen Theorien zur Rechts‐ befolgung vorstellen und diese basierend auf empirischen Befunden diskutieren. Da‐ bei werde ich die der psychologischen Forschung zugrundeliegende Definition der Legitimität einführen, Legitimität ins Verhältnis zu den von anderen Theorien postu‐ lierten Einflussfaktoren setzen und die in der Psychologie typische Operationalisie‐ rung von Legitimität vorstellen. Im zweiten Teil des Beitrags präsentiere ich die Er‐ gebnisse einer Re-Analyse empirischer Daten zur Verteilung von wahrgenommener Legitimität in der Bevölkerung in Deutschland sowie zum Zusammenhang von de‐ mografischen Faktoren und Legitimität. Anschließend untersuche ich, inwieweit Persönlichkeitseigenschaften sowie die Einschätzung des Rechtssystems insbeson‐ dere bezüglich prozeduraler Fairness mit empfundener Legitimität zusammenhän‐ gen. Abschließend wird der Einfluss von Legitimität auf Rechtsbefolgung untersucht und die zentralen Befunde werden zusammengefasst.
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2. Theorien und Befunde zur Rechtsbefolgung 2.1. Der ökonomische Ansatz: die Abschreckungstheorie Nach den Annahmen des klassischen ökonomischen Ansatzes1 sollten Menschen nur genau dann das Recht befolgen, sich an Regeln innerhalb einer Organisation oder Gemeinschaft halten, mit Autoritäten zusammenarbeiten und sich über deren Anwei‐ sungen auch nur informieren, wenn der erwartete persönliche Nutzen höher ist als der Nutzen der alternativen Handlungsoptionen, also bspw. Recht und Regeln zu brechen, Anweisungen von Autoritäten zu ignorieren oder auch sich gegen diese ak‐ tiv aufzulehnen. Anders ausgedrückt sollte sich der Mensch genau dann an Recht und Regeln halten, wenn es sich für sie oder ihn lohnt bzw. die alternative Handlung sich weniger lohnt, da bspw. ein potenzielle Strafe nach einem Rechtsbruch so wahr‐ scheinlich auftritt und so negative Folgen hat, dass die negativen Konsequenzen der Handlung die für das Individuum positiven Konsequenzen übersteigen.2 Nach die‐ sem auch als Abschreckungstheorie bezeichneten Ansatz sollten also neben dem aus der Straftat generierten Nutzen insbesondere die Wahrscheinlichkeit der Bestrafung und die Höhe der Strafe bestimmen, ob man sich an Regeln und Gesetze hält. Beim Treffen dieser Entscheidung, so die Annahme der Theorie, wird eine optimale An‐ zahl an relevanten Informationen gesucht (bspw. wie hoch könnte die Strafe ausfal‐ len? Wie wahrscheinlich werde ich gefasst und verurteilt?) und diese Informationen werden in optimaler Weise zu einer Entscheidung zusammengeführt.3 Ohne Zweifel beschreibt der ökonomische Ansatz damit wichtige Faktoren, die das Verhalten von Menschen beeinflussen. Forschungsergebnisse in unterschiedli‐ chen Kontexten zeigen allerdings, dass das Verhalten von Menschen komplexer de‐ terminiert ist, als dies von einer Perspektive der puren Nutzenmaximierung unter Annahme eines nur den eigenen Wohlstand maximierenden Agenten mit stabilen Präferenzen erklärt werden kann. So zeigen zahlreiche Arbeiten, dass Menschen sich selbst in Situationen vollständiger Anonymität de facto nicht in dem angenommenen Sinne rational und selbstsüchtig verhalten. Menschen verhalten sich im Gegensatz dazu mehrheitlich prosozial und legen Wert darauf (bzw. generieren persönlichen Nutzen daraus), dass andere Menschen nicht geschädigt werden.4 Diese Prosozialität von bestimmten Personen zeigt sich dabei insbesondere bei spontanen, schnellen und somit intuitiven Handlungen.5 Menschen berücksichtigen Informationen auch
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Becker 1976, S. 5 ff. Becker 1968, S. 207. Becker 1976, S. 6 ff. Vgl. etwa Van Lange 1999, S. 341. Mischkowski/Glöckner 2016, S. 5; Rand/Greene/Nowak 2012.
oft nicht in optimaler Weise und zeigen u.a. systematische Verzerrungen von Ein‐ schätzungen bezüglich Wahrscheinlichkeiten und Konsequenzen.6 Neben dieser indirekten Evidenz zeigt auch die Forschung zum direkten Einfluss der postulierten Einflussfaktoren die begrenzte Erklärungskraft der Abschreckungs‐ theorie auf. Diese Forschung, welche in einer Meta-Analyse von 40 empirischen Studien und über 200 Effekten zusammengefasst wurde7, diskutiert, welche Vorher‐ sagen der Theorie bestätigt wurden und welche nicht. Wie von der Abschreckungs‐ theorie vorhergesagt, verringert sich die Tendenz, das Recht zu brechen, mit steigen‐ der Wahrscheinlichkeit, gefasst zu werden (mittlere Effektstärke, r=-0,33)8. Es zeig‐ te sich aber auch, dass entgegen der Vorhersage der Theorie die Höhe der Strafe einen viel zu geringen und praktisch kaum relevanten Effekt auf die Wahrscheinlich‐ keit der Rechtsbefolgung hat (sehr kleine Effektstärke, r=-0,03). Zusammenfassend konnte festgestellt werden, dass die Abschreckungstheorie nicht in der Lage ist, Rechtsbefolgung umfassend vorherzusagen, aber mit der Entdeckungswahrschein‐ lichkeit mindestens einen wichtigen Einflussfaktor beschreibt.
2.2. Der Kriminologische Ansatz: Theorie der fehlenden Selbstkontrolle In ihrem Buch „A General Theory of Crime“ entwickelten Gottfredson und Hirschi9 die Theorie der fehlenden Selbstkontrolle als allgemeine Theorie zur Vorhersage der Rechtsbefolgung. Die Theorie besagt im Kern, dass Menschen mit fehlender bzw. niedriger Selbstkontrolle mit höherer Wahrscheinlichkeit das Recht brechen als Per‐ sonen mit höherer Selbstkontrolle. Dies wird nach der Theorie bedingt dadurch, dass Menschen mit fehlender Selbstkontrolle nicht in der Lage sind, der Versuchung kri‐ mineller Handlungen zu wiederstehen, weil sie die langfristigen negativen Konse‐ quenzen ihrer Handlungen nicht ausreichend berücksichtigen (können). Ähnlich wie in der im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Abschreckungstheorie werden nach der Theorie der fehlenden Selbstkontrolle Menschen prinzipiell durch Nutzen‐ maximierung und Strafandrohung beeinflusst, diese Faktoren wirken aber nicht bei allen Menschen. Der Mangel an Selbstkontrolle wird dabei als relativ stabiles und einfach messbares Merkmal einer Person angesehen, welches sich in der frühen Kindheit und stark beeinflusst durch das Verhältnis zu den Eltern entwickelt.
6 Vgl. etwa DeKay/Patino-Echeverri/Fischbeck 2009, S. 88; Tversky/Kahneman 1974. 7 Pratt/Cullen/Blevins/Daigle/Madensen 2006, S. 379. 8 Korrelationen werden mit dem Koeffizienten r abgekürzt und stellen den Zusammenhang zwi‐ schen zwei Variablen dar. Dabei bedeutet 0, dass kein Zusammenhang besteht. Ein Zusammen‐ hang von r = 1 bedeutet, dass ein perfekter Zusammenhang besteht und r = -1 bedeutet einen perfekt umgekehrten Zusammenhang. 9 Gottfredson/Hirschi 1990.
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In einer einflussreichen Studie zur Testung der zentralen Vorhersage der Theorie wurde eine aus 24 Fragen bestehende Skala zur Messung von Selbstkontrolle ent‐ wickelt.10 Der Fragebogen misst Selbstkontrolle als eindimensionales Konstrukt, welches aus 6 abhängigen Subskalen besteht: Impulsivität (bspw.: Ich handele oft aus dem Moment heraus, ohne innezuhalten, um nachzudenken), einfache Aufgaben (bspw.: Ich versuche oft, Projekte zu vermeiden, von denen ich weiß, dass sie schwierig sein werden), Risikobereitschaft (bspw.: Ich teste mich ab und zu gern selbst, indem ich etwas leicht Riskantes mache), Körperliche Aktivitäten (bspw.: Wenn ich die Wahl hätte, würde ich fast immer lieber etwas Körperliches tun als et‐ was Geistiges), egozentrisch (bspw.: Ich versuche, zuerst auf mich selbst achtzuge‐ ben, selbst wenn das bedeutet, es anderen Leuten schwer zu machen) und Tempera‐ ment (bspw.: Ich gerate ziemlich leicht in Zorn). Die umfangreiche Forschung zur Testung der zentralen Vorhersage der Theorie der fehlenden Selbstkontrolle wurde in verschiedenen Meta-Analysen zusammenge‐ fasst.11 Pratt und Cullen fanden in ihrer frühen Analyse einen Effekt mittlerer Größe von Selbstkontrolle auf deviantes Verhalten (rweighted=0,223, n=82 Datensets; nur Studien mit Einstellungsmaßen berücksichtigt). Die Schätzung der aktuellsten MetaAnalyse von Vazsonyi et al. fällt etwas höher aus (r = 0,34–0,41, Abstract). Insge‐ samt ist somit sehr gut empirisch belegt, dass eine starke Verbindung zwischen Selbstkontrolle und deviantem bzw. kriminellem Verhalten besteht.12 Allerdings wurde ebenfalls gezeigt, dass Selbstkontrolle allein deviantes Verhalten nicht erklä‐ ren kann, sondern Selbstkontrolle parallel und zusätzlich zu den Einflussfaktoren der Abschreckungstheorie bzw. Nutzentheorie wirkt.13 Zur Frage, ob Abschreckungsfak‐ toren, wie von der Theorie vorhergesagt, schwächer bei Personen mit niedriger Selbstkontrolle wirken, ist die Befundlage hingegen heterogen mit Befunden, die für den vorhergesagten Zusammenhang sprechen14, aber auch genau gegenläufigen Be‐ funden15. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass auch die Theorie der fehlenden Selbst‐ kontrolle einen wichtigen Einflussfaktor zur Vorhersage von Rechtsbefolgung bei‐ trägt, welcher aber nicht allein zur Vorhersage der systematischen Komponenten des Verhaltens ausreicht.
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Grasmick/Tittle/Bursik Jr/Arneklev 1993. Vgl. Engel 2012; Pratt/Cullen 2000; Vazsonyi/Mikuška/Kelley 2017. Vazsonyi/Mikuška/Kelley 2017. Vgl. Nagin/Paternoster 1993, S. 467. Vgl. Nagin/Pogarsky 2003. Vgl. Hirtenlehner/Pauwels/Mesko 2014.
2.3. Der Psychologische Ansatz: Die Theorie der Legitimität Die Theorie der Legitimität16 stellt einen der zentralen psychologischen Ansätze zur Vorhersage von Rechtsbefolgung dar. Legitimität wird dabei definiert als psycholo‐ gische Eigenschaft einer Autorität, Institution oder sozialen Regelung und speziell als die Überzeugung (Englisch: belief), dass diese angemessen, richtig und gerecht sind bzw. handeln.17 Die zentrale Vorhersage der Theorie der Legitimität besteht da‐ rin, dass die wahrgenommene Legitimität einer Autorität dazu führt, dass deren Re‐ geln und Entscheidungen freiwillig und aus reinem Gefühl der Verpflichtung gefolgt wird. Dieses Gefühl der Verpflichtung führt dann zu Verhalten im Sinne der Regeln und Autoritäten, auch wenn keine ausreichende Strafandrohung entsprechend den Faktoren der Abschreckungstheorie vorhanden ist.18 In einer einflussreichen Studie, an der 1575 Einwohner der Stadt Chicago teilnah‐ men, konnte Tyler nachweisen19, dass wie von der Theorie vorhergesagt Legitimität mit der Wahrscheinlichkeit der Rechtsbefolgung signifikant korreliert und ein schwacher bis mittelstarker Zusammenhang besteht (Zero-Order Korrelation: r=0,22)20. Der Einfluss von Legitimität auf Rechtsbefolgung wird um 70% abge‐ schwächt, aber bleibt dennoch überzufällig (signifikant) bestehen (Partial-Korrelati‐ on: r=0,06), wenn für Abschreckungsfaktoren, den Einfluss von sozialen Normen (in Form der wahrgenommenen Zustimmung anderer relevanter Personen zu dem Verhalten), Moralität und weitere Faktoren kontrolliert wird. Entsprechend konnte gezeigt werden, dass Legitimität, wie von der Theorie der Legitimität vorhergesagt, auch einen von anderen Faktoren unabhängigen Einfluss auf Rechtsbefolgung hat. Weitere Studien konnten den Zusammenhang zwischen Legitimität und Rechtsbefol‐ gung in unterschiedlichen Ländern bestätigen, so dass diese zentrale Vorhersage der Theorie der Legitimität als sehr gut empirisch abgesichert angesehen werden kann.21 Ein genauerer Blick auf die Methode zur Messung von Legitimität (Operationali‐ sierung) ermöglicht ein besseres Verständnis der in dieser Forschung angewandten operationalen Definition von Legitimität und somit auch der entsprechenden Ergeb‐ nisse. In der Chicago-Studie sowie in vielen nachfolgenden Studien wird Legitimität mit einem von Tyler22 entwickelten Fragebogen gemessen, welcher aus den folgen‐ den sechs Items besteht (Antwortskala: 1 – trifft überhaupt nicht zu bis 4 – trifft voll und ganz zu; Übersetzung übernommen aus re-analysierter Studie23): 16 17 18 19 20 21
Tyler 1990. Tyler 2006, S. 376. Tyler 2006, S. 375. Tyler 1990. Tyler 1990, S. 59. Zum Beispiel für Slowenien: Reisig/Tankebe/Mesko 2014; UK: Tankebe 2013, S. 122; Deutschland: Waubert de Puiseau/Glöckner/Towfigh 2018. 22 Tyler 1990, S. 46. 23 Waubert de Puiseau/Glöckner/Towfigh 2018.
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1. Menschen sollten das Gesetz selbst dann befolgen, wenn es nicht im Einklang mit dem steht, was sie für richtig halten. 2. Ich versuche immer, mich an Gesetze zu halten, selbst wenn ich denke, dass die‐ se falsch sind. 3. Gegen das Gesetz zu verstoßen ist selten gerechtfertigt. 4. Es ist schwierig, das Gesetz zu brechen und dabei die Selbstachtung zu bewah‐ ren. 5. Eine Person, die es ablehnt, Gesetze zu befolgen, ist eine Bedrohung für die Ge‐ sellschaft. 6. Gehorsam und Respekt vor Autorität sind die wichtigsten Tugenden, die Kinder lernen sollten. Zum einen wird beim Lesen des Fragebogens klar, dass das Konstrukt der Legitimi‐ tät in dieser Forschung mit einem fast ausschließlichen inhaltlichen Bezug – abgese‐ hen von dem letzten Item – auf die Legitimität von Gesetzen erhoben wird. Außer‐ dem wird deutlich, dass das in dieser Forschung gemessene Konzept der Legitimität nicht direkt die Überzeugung erfasst, dass Gesetze und Autoritäten richtig und ge‐ recht sind bzw. handeln. Es wird hingegen insbesondere die Einstellung gemessen, ob eine Person sich verpflichtet fühlt, Gesetze zu befolgen, und dies auch als wichti‐ ge allgemeine Norm für andere Personen begreift. Diese Verpflichtung sollte laut Theorie und Definition aus der grundlegenderen Überzeugung resultieren, dass Ge‐ setze richtig, angemessen und gerecht sind. Die oben berichtete Korrelation von r=0,22 aus der Chicago-Studie beschreibt den Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der so gemessenen Legitimität und der selbst eingeschätzten Häufigkeit des Begehens kleinerer Delikte und Ordnungswid‐ rigkeiten (u.a. verkehrswidriges Parken, Dinge von geringem Wert aus einem Laden mitnehmen, unter Alkoholeinfluss Auto fahren).24 Andere Studien kommen unter Verwendung anderer Maße für Rechtbefolgung, bspw. dem Einsatz hypothetischer Szenarien, zu ähnlichen Ergebnissen für den Zusammenhang mit Legitimität (siehe auch Teil 3 dieses Kapitels).25 Es handelt sich aber auch bei diesen Ergebnissen in der Regel um Zusammenhänge zwischen Legitimität und der Tendenz, kleinere De‐ likte und Ordnungswidrigkeiten zu begehen, schwerere Straftaten bleiben außen vor. Basierend auf der Theorie der Legitimität wurden in empirischen Studien weitere Faktoren untersucht, die Legitimität beeinflussen oder von Legitimität beeinflusst werden.26 So konnte gezeigt werden, dass für Personen, die Kontakt mit rechtlichen Autoritäten hatten, die empfundene prozedurale Fairness – also das Gefühl, fair be‐ handelt worden zu sein – den stärksten Einfluss auf Legitimität hatte.27 Darüber hi‐ 24 25 26 27
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Tyler 1990, S. 41. Vgl. Waubert de Puiseau/Glöckner/Towfigh 2018. Für eine Zusammenfassung siehe Tyler 2003. Tyler 2003, S. 313 ff.
naus wurde Legitimität positiv beeinflusst durch eine faire Verteilung von polizeili‐ chen Serviceleistungen (distributionale Fairness) und die Effektivität der Polizei bei der Kriminalitätsbekämpfung.28 Allerdings wurde in einer einflussreichen Arbeit ar‐ gumentiert, dass die Annahme, dass Legitimität einseitig durch Autoritäten generiert werden kann, indem diese sich prozedural gerecht verhalten, eine zu starke Vereinfa‐ chung darstellt.29 Bottoms und Tankebe integrieren in ihrer Betrachtung der Legiti‐ mität wichtige soziologische und politikwissenschaftliche Arbeiten30 und argumen‐ tieren, dass Legitimität in einem Prozess des interaktiven Dialogs zwischen Autori‐ täten (Personen mit Regelungsmacht) und Zuhörern (Personen, die von den Rege‐ lungen betroffen sind) entsteht. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass auch die Theorie der Legitimität einen wichtigen Faktor zur Erklärung von kriminellem Verhalten (als Gegenbegriff zur Rechtsbefolgung) beiträgt. Darüber hinaus wurde insbesondere mit der prozedu‐ ralen Gerechtigkeit ein zentraler Faktor identifiziert, der Legitimität nach der Theo‐ rie beeinflusst und bedingt. In einer aktuellen Forschungsarbeit zeigt sich darüber hi‐ naus, dass Legitimität einen eigenständigen Beitrag zur Vorhersage von Rechtsbefol‐ gung leistet und die Wahrscheinlichkeit der Rechtsbefolgung auch bei gleichzeitiger Kontrolle für Abschreckungsfaktoren und den Faktor der mangelnden Selbstkontrol‐ le vorhersagt.31 Gleichzeitig zeigt sich in der selben Studie, dass Legitimität keines‐ wegs die von der Abschreckungstheorie und der Theorie der mangelnden Selbstkon‐ trolle postulierten Einflussfaktoren subsumiert.
3. Empirische Analysen zu Legitimität Im folgenden Teil präsentiere ich empirische Analysen zur Legitimität, welche auf der Re-Analyse von Daten einer vorangegangenen Erhebung stammen: Diese Studie wurde in einer Kooperation mit Dr. Berenike Waubert de Puiseau und Prof. Dr. Emanuel Towfigh (EBS Law School) durchgeführt und mit einem etwas anderen Fo‐ kus ausgewertet.32 Für den vorliegenden Beitrag wurden diese Daten noch einmal mit einem besonderen Fokus auf die Determinanten von Legitimität untersucht. In der Erhebung wurden Daten von 412 Personen erfasst, welche eine nach Alter und Geschlecht für die deutsche Bevölkerung annähernd repräsentative Stichprobe von Versuchsteilnehmerinnen und Versuchsteilnehmern darstellte. Das durchschnitt‐
28 Tyler 2003, S. 315 ff. 29 Bottoms/Tankebe 2012, S. 120. 30 Zum Beispiel Max Weber, Jean-Marc Coicaud, David Beetham; vgl. Bottoms/Tankebe 2012, S. 125 ff., 169. 31 Waubert de Puiseau/Glöckner/Towfigh 2018. 32 Studie 2 in Waubert de Puiseau/Glöckner/Towfigh 2018.
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liche Alter betrug 47,4 Jahre33, 50,5% der Teilnehmer waren Frauen. Personen stammten aus allen Teilen Deutschlands und nahmen online an der Erhebung teil. Die von den Personen ausgeübten Tätigkeiten waren ebenfalls heterogen verteilt: 40% Angestellte, 12% Selbstständige, 6% Leitende Angestellte, 8% Schüler und Studenten und der Rest Sonstige. 21% der Teilnehmenden waren katholisch, 28% protestantisch, 45% konfessionslos (und der Rest Sonstiges).
3.1. Verteilung von Legitimität in der Bevölkerung und der Einfluss demographischer Faktoren Legitimität wurde mit der von Tyler entwickelten, aus sechs Fragen (Items) beste‐ henden Skala gemessen (siehe Abschnitt 2.3.). Die Messgenauigkeit (Reliabilität) der Skala war zufriedenstellend (Cronbachs alpha = 0,75). Im Durchschnitt stimm‐ ten Personen den Aussagen zur Legitimität von Gesetzen und Autoritäten stark zu, was durch den Mittelwert von 2,96 auf einer Skala von 1 (stimme ganz und gar nicht zu) bis 4 (stimme voll und ganz zu) zum Ausdruck kommt. Der Grad der empfunde‐ nen Legitimität in der Bevölkerung variierte aber stark zwischen Personen, was aus der breiten Streuung der Werte in Abbildung 1 ersichtlich wird.
Abb. 1: Verteilung der empfundenen Legitimität von Gesetzen und Autoritäten. 33 Dies liegt etwas über dem Bevölkerungsdurchschnitt.
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Abb. 2: Legitimität in Abhängigkeit von Geschlecht und Alter. Der empfundene Grad der Legitimität wird dabei von einigen demographischen Va‐ riablen in systematischer Weise beeinflusst bzw. hängt überzufällig mit diesen zu‐ sammen. Frauen schätzen die Legitimität von Gesetzen und Autoritäten signifikant (überzufällig) höher ein als Männer (MFrauen=3,06, MMänner=2,86, t(410)=3,95, p