Lebenserwartungen in Deutschland, Norwegen und Schweden <br>im 19. und 20. Jahrhundert [Reprint 2018 ed.] 9783050069616, 9783050024516


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German Pages 725 [728] Year 1994

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I. Einführung
Die neuen Überlebenden: gestern - heute - morgen, in Deutschland, Europa, weltweit
II. Quellen und Methoden
Die Quellen und Methoden der Mortalitätsuntersuchung
Lebensverlängerungsprozeß und Veränderung der Todesursachenstruktur in Deutschland
Generationensterblichkeit in Norwegen 1846-1980. Datengrundlage und Methode
III. Untersuchungsgebiete
Deutschland
Norwegen
Schweden
IV Dokumentation
Leitfaden zu den Tabellen und Graphiken
Tabellenschlüssel
Todesursachenstruktur
Glossar
Graphiken
Tabellen
V. Anhang
Literatur und Abbildungsnachweise
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Lebenserwartungen in Deutschland, Norwegen und Schweden <br>im 19. und 20. Jahrhundert [Reprint 2018 ed.]
 9783050069616, 9783050024516

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Lebenserwartungen in Deutschland, Norwegen und Schweden im 19. und 20. Jahrhundert

Arthur E. Imhof (Hrsg.) Lebenserwartungen in Deutschland, Norwegen und Schweden im 19. und 20. Jahrhundert unter Mitwirkung von Hans-Ulrich Kamke, Eva Wedel-Schaper und Jens-Kristian Borgan, Anders Brändström Inez Egerbladh, 0 i v i n d Larsen Rembrandt D. Scholz, Carin Sjöström Lars-Göran Tedebrand Redaktion: Gesine Asmus

Akademie Verlag

Das dieser Veröffentlichung zugrunde liegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Forschung und Technologie/Bundesministeriums für Familie und Senioren unter dem Zeichen 314-1722-102/12 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren. Einbandbild: Das Stufenalter der Frau um 1900, Museum für Volkskunde Berlin SMB-PK (© Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz) und Balkendiagramm zu den restlichen Lebenserwartungen 50jähriger Frauen um 1990 in der D D R (2^78 Jahre), in der BRD (30,31 Jahre), in Norwegen (31,66 Jahre) und in Schweden (32,06 Jahre).

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Lebenserwartungen in Deutschland, Norwegen und Schweden im 19. und 20. Jahrhundert / Arthur E. Imhof (Hrsg.). Unter Mitw. von Hans-Ulrich Kamke ... - Berlin : Akad. Verl., 1994 ISBN 3-05-002451-8 NE: Imhof, Arthur E. [Hrsg.]; Kamke, Hans-Ulrich

© Akademie Verlag G m b H , Berlin 1994 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf säurefreiem Papier. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). N o part of this book may be reproduced in any form - by photoprinting, microfilm, or any other means - nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Druck: GAM Media, Berlin Bindung: D. Mikolai, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Vorwort (Arthur E. Imhof)

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I. Einführung Die neuen Überlebenden: gestern - heute - morgen, in Deutschland, Europa, weltweit (Arthur E. Imhof)

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II. Quellen und Methoden Die Quellen und Methoden der Mortalitätsuntersuchung (Hans-Ulrich Kamke) Das Material aus den Ortssippenbüchern Das Material aus den Standesämtern Das Material aus der amtlichen Statistik Die Art der Datenbearbeitung

117 119 124 133 137

Lebensverlängerungsprozeß und Veränderung der Todesursachenstruktur in Deutschland (Rembrandt D. Scholz) Methodik Quellenkritik und Material Ergebnisse

141 141 143 146

Generationensterblichkeit in Norwegen 1846-1980 Datengrundlage und Methode (Jens-Kristian Borgan) Datengrundlage Die angewandte Methode bei der Berechnung der Sterblichkeitstabellen für Perioden und Kohorten

159 159 161

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Inhalt

III. Untersuchungsgebiete Deutschland Deutsches Reich 1871-1945 Karte Zeittafel Deutsches Reich (Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittes Reich) (Eva Wedel-Schaper) Grundzüge der politischen Entwicklung Bevölkerungsentwicklung Bildung, Erziehung und Gesundheit Wirtschaft und Gesellschaft im Wandel Exkurs: Herrenberg Karte Zeittafel Exkurs: Herrenberg - ein Beispiel aus Südwestdeutschland Mitte des 19. Jahrhunderts (Eva Wedel-Schaper) Deutschland nach 1945: Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik Karte Zeittafel Deutschland nach 1945 - zwei Modelle: Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik (Eva Wedel-Schaper) Grundzüge der politischen Entwicklung Bevölkerungsentwicklung Bildung, Erziehung und Gesundheit Wirtschaft und Gesellschaft

168 169 170 173 175 190 208 226 250 251 252 255

263 264 265 269 269 280 290 299

Norwegen Karte Zeittafel Sterblichkeit, Krankheit und Gesellschaft in Norwegen vom Ende des 18. Jahrhunderts bis heute (0ivind Larsen) Mortalität als Spiegel der Gesundheit Geburtsjahr und Lebensaussichten Die Sterblichkeit als Erklärungsfaktor

316 317 318 321 321 322 328

Schweden Karte Zeittafel

330 331 332

Inhalt

Lebenserwartung in Schweden 1750-1900 (Anders Brändström, Inez Egerbladh, Carin Sjöström, Lars-Göran Tedebrand) Einleitung Lebenserwartung in Schweden 1750-1900 Der Aufbau der Bevölkerungsdatenbank (POPUM) Die Regionen Sundsvall und Skellefteä Geschlecht, Wirtschaft und Sterblichkeit

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335 335 338 341 343 354

IV Dokumentation Leitfaden zu den Tabellen und Graphiken (Hans-Ulrich Kamke) Tabellenschlüssel Todesursachen Glossar Graphiken (Hans-Ulrich Kamke) Tabellen (Hans-Ulrich Kamke) 1. Zusammenschau - 300 Jahre Entwicklung in Deutschland 2. Herrenberg - ein Beispiel aus Südwestdeutschland 3. Norwegen 4. Schweden 5. Deutschland regional 6. Todesursachenstrukturen in Deutschland

367 369 370 371 372 393 394 430 460 484 514 634

X. Anhang Literatur und Abbildungsnachweise I. Einführung II. Quellen und Methoden Hans-Ulrich Kamke: Die Quellen und Methoden der Mortalitätsuntersuchung Rembrandt Scholz: Lebensverlängerungsprozeß und Veränderung der Todesursachenstruktur in Deutschland III. Untersuchungsgebiete Eva Wedel-Schaper: Deutschland 0ivind Larsen: Sterblichkeit, Krankheit und Gesellschaft in Norwegen vom Ende des 18. Jahrhunderts bis heute Anders Brändström u.a.: Lebenserwartung in Schweden 1750-1900 . . .

667 667 685 685 691 692 692 724 725

Vorwort

Von Mitte 1990 bis Mitte 1994 förderten die Bundesministerien für Forschung und Technologie bzw. für Familie und Senioren am Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin ein Vorhaben mit dem Titel »Die Zunahme der Lebensspanne seit 300 Jahren und die Folgen. Oder: Gewonnene Jahre - verlorene Welten: Wie erreichen wir ein neues Gleichgewicht?« Das Projekt gliederte sich in drei Teile. Die Liste am Schluß des Vorworts weist die in jedem Bereich entstandenen Buchpublikationen nach. Die Aufgabe des ersten Teils bestand darin, in Ergänzung zu dem 1990 publizierten Werk »Lebenserwartungen in Deutschland vom 17. bis 19. Jahrhundert« den Anschluß zur Gegenwart herzustellen. Dieser zweite Band liegt hiermit vor. Wie im ersten Band sind auch diesmal die alters- und geschlechtsspezifischen Lebenserwartungen, Sterbewahrscheinlichkeiten usw. sowohl nach dem Kohorten- als auch, wegen der leichteren Vergleichbarkeit mit modernen demographisch-statistischen Arbeiten, dem Periodentafelmodus in zahlreichen Überblickstabellen dargestellt. Den räumlichen Bezugsrahmen bilden hauptsächlich das Deutsche Reich, die ehemalige Bundesrepublik Deutschland sowie die ehemalige Deutsche Demokratische Republik. Da die skandinavischen Staaten bekanntlich über den weltweit besten historischdemographischen Quellenbestand verfügen - der Vorgänger des ersten Statistischen Zentralbüros, das sogenannte Tabellenwerk, nahm seine Tätigkeit in Stockholm bereits 1749 auf -, wurde den deutschen Lebenserwartungsberechnungen eine Reihe komparativer Materialien für Norwegen und Schweden zur Seite gestellt, die ebenfalls durchgehend gemäß dem Kohorten- und dem Periodentafelmodus angelegt sind. Allerdings durften gewisse Unzulänglichkeiten vor allem in den ersten Jahrzehnten der schwedischen Registrierung hierbei nicht unberücksichtigt bleiben, weshalb von Anfang an eine enge Kooperation mit sachkundigen Skandinaviern angestrebt wurde (vgl. die Beiträge der Norweger Borgan und Larsen sowie der Schweden Brändström u. a. in diesem Band). So ist in unserem Zusammenhang eine anfänglich erhebliche Unterregistrierung im Bereich der Säuglings- und Kindersterblichkeit offenkundig (vgl. hierzu quellenkritisch auch Stenflo 1994). Dieser Umstand führte im vorliegenden Band zu einer vergleichsweise summarischen Anordnung der schwedischen Tafeln. Wer das weitgehend maschinenlesbar aufbereitete skandinavische Material im Detail verwenden will, sei direkt an die Demographische Datenbank der nordschwedischen Universität Umeä und die dortigen Fachleute verwiesen (Brändström u. a. 1993; Nilsdotter Jeub 1993; Stenflo 1994).

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Vorwort

Da die norwegischen und schwedischen Tafeln hier hauptsächlich Vergleichszwecken dienen, sind die historisch-geographischen Hintergründe zu den beiden Ländern nur knapp durch je eine Karte und eine Zeittafel angedeutet (Zusätzliches in den Beiträgen von Borgan und Larsen bzw. Brändström u. a. in diesem Band). Die Charakterisierung deutscher Gebiete ist dagegen umfassender; Wedel-Schaper lehnt sich dabei - soweit möglich und sinnvoll - an den Vorgängerband an. Analog zur früheren Publikation erscheint die zitierte Literatur am Schluß des Buches, auch diesmal wieder nach Beiträgen geordnet. Eine Anzahl statistischer und graphischer Auswertungen nimmt Bezug auf das Material beider Werke. Um eine bessere Benutzbarkeit zu gewährleisten, wurden jeweils die schon 1990 publizierten Teile für das 17. bis 19. Jahrhundert übernommen und den nunmehr bis in die Jetztzeit führenden Teilen vorangestellt. Auf diese Weise liegen, in Übereinstimmung mit dem Titel des Vorhabens, erstmals vollständige alters- und geschlechtsspezifische Lebenserwartungsentwicklungen vom 17. Jahrhundert bis heute vor. Selbst für Fachleute, wie es die Interessenten dieses Buches durchweg sein dürften, mag es aufschlußreich sein, daß zum Beispiel die heute um Jahre höhere Lebenserwartung von Frauen, trotz ihrer vielfach nach wie vor bestehenden Benachteiligungen, kein bloß biologisch determiniertes, sondern ein gesellschaftlich überformtes, historisch gewachsenes und somit auch wieder reversibles Phänomen ist. Gegen rein biologistische Erklärungsansätze spricht zum einen, daß die Historische Demographie auch für vergangene Jahrhunderte große Unterschiede selbst in den durch keine Schwangerschaften gefährdeten Altern unter 15 und über 45 Jahren nachweisen kann, und daß zum anderen neuere Daten aus den demographisch und gesellschaftlich fortgeschritteneren skandinavischen Ländern eine Rückbildung der geschlechtsspezifischen Lebenserwartungsunterschiede erkennen lassen. Ein umfassenderes Erklärungsmodell geht hier somit von der Überlegung aus, daß jedem Individuum innerhalb eines zeitlich wie räumlich für Männer und Frauen unterschiedlich vorformulierten kulturellen Kontextes bestimmte Möglichkeiten gegeben sind, Gesundheit zu erreichen (= »positive Freiheiten«) bzw. Ungesundheit zu riskieren (= »negative Freiheiten«), Die weitgehende Vorenthaltung letzterer schlug und schlägt in traditionellen Gesellschaften bei Frauen hinsichtlich ihrer Lebenserwartung deutlich positiv zu Buche, wohingegen sich im Zuge auch diesbezüglich größerer Gleichberechtigung der Abstand wieder mindert. Verifiziert bzw. falsifiziert werden könn(t)en diese Thesen nun einerseits anhand demographischen Materials für Deutschland vom 17. Jahrhundert bis heute (an Generationen gleichzeitig geborener Männer und Frauen), andererseits in vergleichenden Parallelstudien auf Grund des einzigartigen demographischen Materials aus Skandinavien. Abgesehen von der Ausformulierung solch neuer Forschungsproblematiken war es jedoch nicht die Absicht des ersten Vorhabensbereichs, neben der Erstellung und Dokumentation der Datenbank gleichzeitig eine Interpretation der sich dabei abzeichnenden Lebenserwartungsentwicklungen zu liefern. Im Auftrag des geförderten Pro-

Vorwort

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jekts ist ausschließlich von den Folgen der zunehmenden Lebensspanne während der letzten 300 Jahre die Rede, nicht von den Ursachen. Wer trotzdem mehr über die Beweggründe wissen möchte, erhält in zwei Symposiumsbänden Auskunft. Die Veranstaltungen vom November 1991 (»Leben wir zu lange?«) und November 1993 (»Erfüllt leben - in Gelassenheit sterben«) bildeten gemeinsam den zweiten Teilbereich des Vorhabens. An diesen Konferenzen nahmen neben Historiker-Demographen auch mehrere (inklusive schwedische und norwegische) Allgemein-, Medizin-, Sozial- und Wirtschaftshistoriker teil, die mit ihren spezifischen Beiträgen in den Sammelpublikationen vertreten sind. Der Sachverstand von Spezialisten aus ganz unterschiedlichen Disziplinen war unerläßlich, um das eigene Datenmaterial seiner Entstehung und Struktur nach besser verstehen sowie die sich daraus ergebenden Fragen nach den Folgen richtig stellen zu können. So verfügen zum Beispiel heutige Epidemiologen über ungleich größere Kompetenz hinsichtlich seuchenbildender Infektionskrankheiten, deren Erreger und Ausbreitungswege, deren Inkubations- und Latenzzeiten, deren Immunitätsbildung und Letalität als Historiker. Auf ihr Wissen waren wir im Berliner Team angewiesen, wenn wir das Sterbegeschehen vergangener Zeiten verstehen wollten, bildeten doch infektiöse und parasitäre Krankheiten bei uns lange die weitaus häufigsten Todesursachen. Zum Handwerkszeug jedes heutigen Demographen dagegen gehört es, altersund geschlechts spezifische Lebenserwartungen fehlerfrei sowohl nach dem Perioden- wie nach dem Kohortentafelmodus zu berechnen. An diese Modalitäten hatten auch wir uns im Datenbereich des Vorhabens zu halten. Die beiden stark interdisziplinär geprägten Veranstaltungen waren integrative Bestandteile des Gesamtvorhabens. Es kamen folgende Disziplinen zu Wort (in Klammern die Zahl der jeweiligen Repräsentanten): Sozial- und Präventivmedizin sowie Epidemiologie (9); Soziologie und Soziodemographie (8); Gerontologie und Psychologie (7); Theologie (4); Demographie (3); Volkswirtschaftslehre und Gesundheitsökonomie (2); Pädagogik und Sozialpädagogik (2); Philosophie (2); Indologie und Koreanistik (2); Kunstgeschichte (1); Thanatologie (1); Medizinische Ethik (1). Außerdem waren 9 Historiker verschiedener Subdisziplinen (Alltagsgeschichte, Oral History, Historische Demographie, Mentalitäts- und Medizingeschichte usw.) sowie 13 Referenten unterschiedlicher Print- und elektronischer Medien vertreten. Schon diese Zusammenstellung sowie die zahlenmäßige Gewichtung der Disziplinen lassen erkennen, daß bei den erörterten Themen keineswegs bloß Handwerkszeugliches im Zentrum stand, etwa die demographisch korrekte Berechnung von Überlebenswahrscheinlichkeiten oder die epidemiologisch einwandfreie Deutung historischer Todesursachen. Es ging aber auch nicht nur um die - sicherlich notwendige - Abrundung, Vertiefung und Ausweitung eigener Vorhabensinhalte durch Historiker, deren Anliegen, anders als bei uns, die Beschreibung und Interpretation von »wie es gekommen«- oder »wie es gewesen«-Zuständen war, oder durch Soziodemographen, die verschiedene Szenarien der zahlenmäßigen Altersanteile unter kommenden Generationen und als Konsequenz daraus ein mehr oder weniger harmonisches

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Vorwort

oder aber konfliktgeladenes Zusammenleben von Jüngeren und Älteren bis etwa ins Jahr 2025 entwarfen, oder durch Präventivmediziner, Ökonomen, Pädagogen und Gerontologen, die uns schon für die allernächste Zukunft wesentlich gesündere, finanziell unabhängigere, besser gebildete und somit breiter interessierte neue Alte prognostizierten. Es handelte sich vielmehr - weit darüber hinaus - immer auch um das Aufzeigen von grundsätzlich neuen, unerwarteten, augenöffnenden Perspektiven durch zusätzliche Fachleute mit einem prinzipiell anderen disziplinaren Zugang zur Gesamtthematik. Warum zum Beispiel nicht einmal bei einem Indologen oder einem anderen Kenner jahrtausendealter süd- und südostasiatischer Kulturen nachfragen, wie denn jene Völker mit dem Thema »Lebensplanung« umgingen? Zum Erstaunen vieler (Europäer) kennt man im Hinduismus seit zweieinhalbtausend Jahren eine sich geziemende Einteilung des Lebens in vier Altersstufen (sog. Varna-asrama-dharma-Lehre), wogegen unsere eigene, nicht unähnliche Gliederung in Erstes, Zweites, Drittes, Viertes Alter vielleicht gerade eine Generation alt ist. Jede dieser vier Stufen umfaßt idealiter 25 Jahre, und auf jeder wird gemäß einem Langzeitentwurf zu phasenangepaßt unterschiedlichem physischem, sozialem, kulturellem und spirituellem Verhalten geraten. Oder warum nicht die kunsthistorisch versierte Betreuerin der in ganz Deutschland und darüber hinaus einzigartigen Graphiksammlung »Mensch und Tod« (Düsseldorf) bitten, uns anhand ausgewählter Beispiele Einblick in die in Geschichte und Gegenwart vor sich gegangene und vor sich gehende Auseinandersetzung von Künstlern mit der menschlichen Vergänglichkeit zu gewähren? Und warum nicht, gerade vor dem Hintergrund des zuletzt angeführten Beispiels künstlerischer Aufarbeitung des Themas »Mensch und Tod«, einer Anzahl erfahrener Vertreter der Print- und elektronischen Medien zuhören, inwiefern wir Wissenschaftler uns ihrer Ansicht nach anders ausdrücken, überhaupt vermehrt öffnen müßten, um von einer breiteren Öffentlichkeit gehört, gelesen, beachtet zu werden und mit unserer Botschaft dort anzukommen, wo wir glauben, daß sie am nötigsten wäre? Gewiß taten sich an den beiden Symposien in vielen dieser Bereiche, wie erhofft, neue Perspektiven auf (vgl. die beiden Sammelbände mit den Referaten). Und selbstverständlich schloß sich jeweils sofort die naheliegende Frage an: Können wir daraus für uns heute etwas lernen? Was können wir daraus lernen? Was aus dem vielhundertjährigen Leben nach einem Lebensplan in Indien? Was aus der intensiven künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema »Mensch und Tod«, etwa bei Nikiaus Manuel Deutsch (1484-1530), bei Hans Baidung Grien (1484-1545), bei Hans Holbein dem Jüngeren (1497/98-1543) e tutti quanti bis hin zu derjenigen bei Arnold Böcklin (1827-1901), bei Hans Thoma (1839-1924), bei Lovis Corinth (1858-1925), bei Käthe Kollwitz (1867-1945), bei Ernst Barlach (1870-1938), bei Alfred Kubin (1877-1959) oder neuerdings bei HAP (Helmut Andreas Paul) Grieshaber (19091981), bei Walter Ritzenhofen (geb. 1920), bei Robert Hammerstiel (geb. 1933)? Die Antworten auf die Frage waren ebenso enttäuschend, wie sie anspornend waren.

Vorwort

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Schon beim hinduistischen Varna-asrama-dharma-Beispiel regten sich Zweifel. Zwar sei, wie uns glaubhaft versichert wurde, jene Vierstufenlehre in Indien heute durchaus noch lebendig. Doch das war bei uns im Abendland die Vorstellung von einer einteilend-ordnenden Lebenstreppe über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte auch: »Mit zehen Jahr ein Kind, mit zwanzig Jahr ein Jüngeling, mit dreißig Jahr ein Mann, ..., mit fünfzig Jahre stille stahn, mit sechzig Jahr geht's Alter an, ..., mit hundert Jahre Gnade bei Gott.« Als es bei uns mit der in der Lebenstreppe vorgesehenen Standardspanne von hundert Jahren jedoch allmählich ernst wurde und mehr Menschen denn je bis annähernd zum hundertsten Altersjahr am Leben blieben bzw. bleiben, geriet die Einteilung außer Mode. Mittlerweile haben wir sie weitgehend vergessen; wir möchten mit ihr nichts mehr zu tun haben. Ob sich Ähnliches, so fragt man sich, nicht auch unter der hinduistischen Bevölkerung Indiens in absehbarer Zeit wiederholen könnte? Ob die dortigen Vorstellungen vom beruflichen, familiären und gesellschaftlichen Loslassen auf der Dritten, von weltlichem Verzicht und völliger Konzentration auf Spiritualität auf der Vierten Stufe auch dann noch tragfähig bleiben werden, wenn in Indien eine Großzahl und nicht bloß ein paar Ausnahmemenschen die Dritte und Vierte Stufe erreichen? Massenhafter Zugewinn von Lebensjahren bedeutet auch in Indien nicht nur einen quantitativen Lebensspannenzuwachs für die Mehrheit der Bevölkerung; eine Entwicklung in diese Richtung setzt dort genauso eine qualitative Verbesserung in vielen Bereichen voraus, wie das bei uns der Fall war: zunehmenden materiellen Wohlstand, bessere und gesichertere Ernährung, komfortableres Wohnen, gehobenere öffentliche und private Hygiene sowie ein effektiveres Gesundheitswesen für alle. Auch in Indien werden sich die Folgen des Wandels von der unsicheren zur sichereren Lebenszeit aller Voraussicht nach nur schlecht mit weltlichem Verzicht und Konzentration auf Spiritualität vertragen. Was aber die intensive Auseinandersetzung so mancher abendländischer Künstler mit menschlicher Vergänglichkeit, mit Sterben und Tod betrifft, so genügt ein nochmaliger Blick auf deren oben vermerkte Lebensdaten, um zu erkennen, daß alle diese Kunstschaffenden noch durch die mißlichen äußeren Umstände gezwungen waren, sich in ihrer Sensibilität mit unserer uralten Geißeltrias »Pest, Hunger und Krieg« auseinanderzusetzen: Sie lebten und wirkten samt und sonders noch zu Zeiten der während Jahrhunderten blindlings wütenden drei Furien. Ihre Bilder, Zeichnungen, Graphiken sind für uns Zeugnisse historischer Auseinandersetzungen. Ihre Aussagen betreffen historische, nicht heutige und damit nicht unsere Zustände. Wer würde sich denn heute in der Blüte seiner Jugend vom Tod in einer Weise anfauchen lassen, wie es uns ein Hans Baidung Grien immer aufs neue zeigt: »Hie mußt Du in!«, nämlich in die ausgehobene Grube, basta. Wer würde in seinen besten Mannesjahren auf das kratzende Gefiedel eines fleischverdorrten Gerippes hinter sich hören (müssen) wie Arnold Böcklin in seinem berühmten Selbstbildnis von 1872? Wozu leisten wir uns denn einen kostspieligen Gesundheitsapparat auf Topniveau und leasen stets die

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Vorwort

neuesten Apparate in der High-Tech-Medizin? Dürfen wir uns nicht bereits »ein bißchen unsterblich« fühlen? Zumindest »in den besten Jahren«? Niemand möge aus dieser Konstatierung ironische Töne heraushören. Doch nützt es wenig, von verbreiteten Einstellungen unter heutigen Zeitgenossen abzusehen, wenn man in einer breiteren Öffentlichkeit etwas bewegen will. Die »breitere Öffentlichkeit« aber, oder sagen wir konkreter: die Mehrheit der heutigen Bevölkerung, kennt erstmals »Pest, Hunger und Krieg« nicht mehr aus eigener Erfahrung. Laut Statistischem Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland (1992, 61) waren 1990 von den insgesamt 79,75 Millionen Deutschen 42,53 Millionen jünger als 40 Jahre. Mehr als die Hälfte (53,3%) kam somit nicht vor 1950 auf die Welt. Historische Wochenschauen, Fernsehreportagen über Kriegswirren anderswo, Hiobsbotschaften aus dem Radio über Dutzende von Verkehrstoten oder Katastrophenmeldungen in der Presse über Hunderte von Choleraopfern in Lateinamerika sind für eigene Erfahrungen kein Ersatz. Es geht dabei immer um das Leid und den Tod anderer. In die Zukunft projizierte Horrorvisionen sind auch kein Äquivalent für Selbstdurchgemachtes, obwohl sie zugegebenermaßen den Wandel von der unsicheren zur sichereren Lebenszeit für viele Menschen relativieren und in ihnen eine schwer zu bewältigende frei flottierende Angst heraufzubeschwören vermögen. Wer sich dadurch lähmen läßt, ist jedoch schlecht beraten. Der Tod unserer Tage ist für uns bescheidener geworden. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges lebt die große Mehrheit unter uns - nicht nur die nach 1950 Geborenen - in einer Glashausatmosphäre ohne »Pest, Hunger und Krieg«. Wie also eine breitere Öffentlichkeit darauf aufmerksam machen bzw. behutsam daran erinnern, daß Sterben und Tod nicht nur »die anderen« betrifft? Daß Werden und Vergehen jeden von uns angeht? Daß unserer Jahre zwar mehr geworden, ihre Zahl aber dennoch endlich geblieben ist? Trotz intensiven Suchens dauerte es lange, bis ich auf einen Künstler stieß, der uns mit diesem bescheidener gewordenen Tod versöhnen kann. In Dutzenden von meist nur kleinformatigen Arbeiten hat er ihn visionär vorweggenommen: der hierzulande beinahe unbekannte Finne Hugo Simberg (18731917). Die Umschläge von drei vorhabenbezogenen Publikationen wurden daraufhin programmatisch mit je einem seiner Werke geschmückt: der erste Band mit dem Bild »Im Garten des Todes« von 1896, das Büchlein »Ars moriendi« mit »Der Bauer und der Tod an der Pforte des Himmels« von 1897 und der erste Symposiumsband »Leben wir zu lange?« mit dem Aquarell »Der Tod hört zu« (sie! - bei Böcklin war es noch umgekehrt), ebenfalls von 1897. Nur wenn es gelingt, heutige Zeitgenossen auf ebenso unaufdringliche Weise mit ihrer - trotz ausgedehnterer Lebensspanne - endlich gebliebenen Existenz zu konfrontieren und gleichzeitig damit zu versöhnen, wird es auch gelingen, das weiter unten knapp skizzierte Konzept vom Lebensplan mit Aussicht auf Erfolg umzusetzen und möglichst viele Zeitgenossen dem Ziel (des zweiten Symposiums) »Erfüllt leben - in Gelassenheit sterben« näherzubringen.

Vorwort

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Genau hierin liegt der Ansporn, von dem weiter oben die Rede war. Uns Heutigen ist eine völlig neue Aufgabe gestellt. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges konnten und können bei uns mehr Menschen denn jemals zuvor während eines dermaßen langen Zeitraums ihre Leben so gut wie zu Ende leben. Haben wir unsere Lebensgestaltung dieser neuen Situation jedoch bereits angepaßt? Sind wir des Privilegs wert, daß der uralte Menschheitstraum für uns als erste und bislang einzige auf der Welt fast vollständig in Erfüllung geht? Ist es gerechtfertigt, daß wir wie unsere Vorfahren weiterhin einfach in den Tag hineinleben? Was heißt heutzutage »nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen«, wo das Leben von Erwachsenen nicht länger mit durchschnittlich 60, sondern mit 70, 80 und noch mehr Jahren zu Ende geht? Wo sind die Curricula unserer Schulen, Hochschulen, Universitäten, die darauf reagiert hätten? Wir tun noch zu häufig so, als ob das Leben am Ende des beruflichen oder familiären Lebens zu Ende wäre. Eigentlich sollte man meinen, daß die gut vier Jahrzehnte zur Anpassung bereits hätten ausreichen müssen. Das stimmt so jedoch nicht, denn erst für uns, die wir heute im Ersten bzw. Zweiten Alter stehen, ist die Situation eine grundlegend neue. Sie betrifft aber bereits die Mehrheit der Bevölkerung. Erst wir können von Anfang an mit einem langen Leben rechnen. Erst für uns lohnt es sich, auf jede erdenkliche Weise in dieses Leben zu investieren: intellektuell, geistig, musisch, körperlich und natürlich auch ökonomisch. Wir sind die allerersten, die das Leben sozusagen von seinem Ende her leben können. Für uns ist es kalkulierbarer denn je, auch wenn dieses noch lange nicht dasselbe heißt wie garantiert. Frauen und Männer dagegen, die heute schon im Dritten und Vierten Alter stehen, hatten ähnliche Chancen nie, weder was die relative Gewißheit eines langen Lebens von 70, 80 und noch mehr Jahren betrifft noch die Möglichkeiten einer angemessenen Vorbereitung darauf. Als Angehörige der Jahrgänge von etwa 1890 bis etwa 1930 kamen sie noch vor dem grundlegenden Wandel von der unsicheren zur sichereren Lebenszeit zur Welt. Sie wuchsen während des Ersten und Zweiten Weltkrieges auf, erlebten den Kohlrübenwinter, die Grippepandemie, Zeiten größter Depression in der Weltwirtschaftskrise, setzten in den späten 1940em auf den Trümmern zerbombter Städte das Wirtschaftswunder in Gang. Unsere Dankesschuld ihnen gegenüber gründet in dem Umstand, daß sie mit ihrem imposanten »Lebenswerk trotz allem« dem massenhaften Dritten und Vierten Alter zum Durchbruch verhalfen. Wir sind nur noch deren Aufrechterhalter und Mehrer. Es ist nicht unsere Sache, ihnen zu »raten«, wie sie ihre unerwartet gewonnenen Jahre nun zu gestalten hätten. Wenn und wo sie es wünschen, stehen wir ihnen zur Verfügung. Wenn und wo nicht, haben wir uns ihnen nicht aufzudrängen. Die neue Aufgabe, die sie uns übertragen haben, besteht darin, die vielen, mit größerer Wahrscheinlichkeit denn je vor uns liegenden Jahre von Anfang an so zu gestalten, daß wir des Privilegs dieser bislang einmaligen Situation auch wert sind. Der Lebensplan ist ein in die Zukunft weisendes Konzept. Er richtet sich vor allem an jene Menschen, die heute von Anfang an ein langes Leben vor sich haben, und die

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Vorwort

morgen und übermorgen in den späten Jahren ankommen werden. Der Lebensplan ist keineswegs als ein ein- für allemal festgelegtes Lebenslaufskorsett gedacht. Leben vom Ende her meint, Stärken und Schwächen einer jeden Lebensstufe etwas vorauszubedenken, in einem grundsätzlich offenen und nur dadurch realisierbaren Langzeitentwurf aufeinander abzustimmen und dabei Geschmack an jeder der Lebensstufen zu finden (ähnlich Wieland 1992, bes. 152-153). Neu und wichtig hierbei ist, daß »Lebenserwartung«, gemessen in Lebensjahren, und »Lebenserwartung bei guter Gesundheit« bzw. »behinderungsfreie Lebenserwartung« - in Übersetzung von »Health expectancy« neuerdings auch »Gesundheitserwartung« genannt - zwei verschiedene Dinge sind. Je älter wir werden, um so größer wird die Wahrscheinlichkeit, daß wir zuerst hilfs- und dann pflegebedürftig werden, alles noch bevor man uns gegebenenfalls institutionalisiert und wir dann endlich sterben. Vor allem bei Erreichen des Vierten Alters ist es häufig - nicht immer - der Fall, daß körperliche Funktionen früher nachlassen als die geistigen. Wer deshalb in seinem Lebensplan nicht mitbedacht hat, ab den frühen Erwachsenenjahren neben körperlichen Interessen auch geistig-musische zu pflegen, läuft Gefahr, in eine geistige Leere zu stürzen. Das braucht nicht zu sein. Wenn wir uns fragen, weshalb wir mehr Jahre zu leben haben als unsere Vorfahren und als Menschen anderswo auf der Welt, ist die Antwort die gleiche, die wir oben für die Zukunft in Indien prognostiziert haben: Die Zunahme der Quantität hing auch bei uns aufs engste mit der Zunahme der Qualität zusammen. Quantitativ mehr Jahre zu bekommen, ohne gleichzeitig bessere Jahre zu haben, ist nicht möglich. Die Chancen, alle gewonnenen Jahre zu erfüllten zu machen, waren jedoch noch nie für so viele so gut wie bei uns heute. Wir haben samt und sonders Zugang zu Bildung und Ausbildung, zu Wissen über alles und jedes, zu Informationen jeglicher Art, zu kulturellen Hervorbringungen für jeden Geschmack, und zwar weltweit. Wir haben außerdem nicht nur die ökonomischen Möglichkeiten wie nie zuvor, sie zu nutzen, sondern angesichts der völlig neuen Verteilung unseres Zeitbudgets - weniger Arbeit, mehr Freiraum - auch die Muße dazu. Wer all das nicht schätzt und gemäß einem Langzeitentwurf nicht angemessen wahrnimmt, ist selber schuld, wenn er sich am späten Ende fragen (lassen) muß: »Leben wir zu lange?« Zum zentralen Anliegen des gesamten vierjährigen Vorhabens wurde somit fast zwangsläufig der dritte Aufgabenbereich: die Eruierung der Folgen einer 300jährigen Lebensspannenzunahme und der Möglichkeiten ihrer Bewältigung. Ihnen widmete ich als Projektleiter die größte Aufmerksamkeit. Fünf nach und nach entstandene kleinere Monographien geben jede auf ihre Art eine Antwort auf die Frage im Untertitel des geförderten Vorhabens, die bislang noch gar nicht zur Sprache gebracht wurde: »Gewonnene Jahre - verlorene Welten: Wie erreichen wir ein neues Gleichgewicht?« Im Kompositum »Gewonnene Jahre - verlorene Welten« beziehen sich die »gewonnenen Jahre« auf die Quintessenz des Dokumentationsteils, nämlich die sukzessive Bündelung und Anhebung des durchschnittlichen Sterbealters auf ein nie zuvor

Vorwort

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von so vielen Menschen gleichzeitig erreichtes Niveau. Während sich die uns Menschen von Natur aus »zustehende« Lebenszeit, die sogenannte physiologische Lebenserwartung, während der letzten Jahrhunderte nur geringfügig nach oben entwickelt hat und das mittlere Maximum stets bei etwa 85-90 Jahren lag und liegt, können nach der erfolgreichen Zurückdrängung und derzeit weitgehenden Beherrschung von »Pest, Hunger und Krieg« (zumindest bei uns) immer mehr Menschen ein immer größeres Stück ihres Lebens zu Ende leben. Viele stoßen bereits bis gegen die Lebenshülse vor oder erzwingen gar ein Darüberhinausleben. Eine Verhinderung des Todes auf Zeit durch High-Tech-Intervention ist nicht länger unmöglich. Was dagegen mit den »verlorenen Welten« gemeint ist, wurde schon wiederholt angedeutet. Zum einen reduzierte sich - gegenläufig zur Zunahme des durchschnittlichen Sterbealters - die ehedem unendliche Lebensspanne (d. h. die Summe aus Diesseits und Jenseits) auf den vergleichsweise kümmerlichen irdischen Teil. Damit verbunden war der Verlust einer zuvor allumfassenden Welt- und Jenseitsanschauung. Wir sind nicht länger in den Armen eines Schöpfers aufgehoben. Zum anderen lockerten sich mit dem Wandel von der unsicheren zur sichereren irdischen Existenz die früher überlebensnotwendigen (Zwangs-) Gemeinschaftsbande im Rahmen einer Familie, eines Haushalts, eines Klosters oder des Militärs. Aus den freigesetzten Individuen entwickelten sich zunehmend Einzelgänger bzw. - zur Befriedigung spezifischer Wünsche - Teilzeitgemeinschafter und -gemeinschafterinnen. Während unsere Vorfahren also gleich doppelt eingebunden und abgesichert waren, wird von uns nach dem Wegfall beider Integrationen nun eine doppelte Selbständigkeit verlangt. Ob wir alle ihr gewachsen sind, scheint fraglich. Psychiater haben Zulauf, Sekten auch. Was lag für einen Historiker näher, als in der Geschichte nachzusehen, wie unsere Vorfahren mit ähnlich schwierigen und jedermann und jedefrau betreffenden existentiellen Problemen umgegangen sind und ob wir gegebenenfalls aus den seinerzeitigen Lösungen etwas lernen könnten. Wir können! Die zuerst herangereifte Monographie erhielt den Titel: »Ars moriendi. Die Kunst des Sterbens - einst und heute«. Im 15. und 16. Jahrhundert erlebte eine schmale Broschüre mit 11 großformatigen Holzschnitten, genannt »Ars (bene) moriendi«, das ist »Die Kunst des (guten) Sterbens«, eine ungeahnte Folge immer neuer Auflagen. Nicht unähnlich den heutigen Comics wurde unseren leseunkundigen Vorfahren darin vorgeführt, wie sie sich diese »Kunst« schon in jungen Jahren selbst aneignen könnten. Wer sie erst einmal erlernt hatte, brauchte sich vor dem in jenen Seuchenzeiten keineswegs seltenen Alleinsterben nicht länger zu fürchten. Selbstverständlich ging es in jener Bilder-Ars, der damaligen Welt- bzw. Jenseitsanschauung entsprechend, vor allem um das Seelenheil, konkret um das Überwinden von teuflischen Versuchungen in letzter Minute. Für die angemessene Interpretation eines solchen, Gott wohlgefälligen Sterbens ist gewiß der Theologe zuständig. Ein entsprechender Fach Vertreter war beim ersten Berliner Symposium denn auch anwesend und behandelte die Thematik von seiner Warte aus. Zuständig ist der Theologe

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jedoch nicht allein. Vielmehr sind wir alle es, denn früher oder später wird die Beherrschung dieser Kunst von uns allen verlangt. Erstaunlicherweise eignet sie sich heutzutage jedoch kaum noch jemand an. Und dies, obwohl die Situation wieder eine ähnliche ist wie damals. Gestorben wird auch in unseren Tagen keineswegs selten allein, fernab aller Angehörigen - falls wir noch welche haben -, ohne Beistand. Doch selbst - oder vielleicht gerade - als Nichttheologen können wir noch heute fundamentale Einsichten aus der alten Ars moriendi gewinnen. Da beeindruckt besonders die Überzeugung, daß sterben zu lernen nicht nur für jedermann eine Notwendigkeit darstellt, sondern daß auch jedermann dazu fähig ist. Zudem fallen die didaktisch-pädagogischen Aspekte auf. Der in jedem der 11 Holzschnitte wiederkehrende Moribundus ist ein »gewöhnlicher Zeitgenosse«. Mit diesem Jedermann konnten sich viele problemlos identifizieren. Die ganze Bilder-Ars beschränkte sich auf 11, allerdings höchst aussagekräftige und einprägsame Bilder. Sie waren verständlich für jeden, der in der damaligen christlichen Weltanschauung wurzelte. Fußnoten, Exkurse, gelehrte Hinweise fehlten. Spezialkenntnisse waren zum Erwerb dieser Kunst nicht erforderlich. Wären sie es heute? Meine Frage kann nur rhetorisch gemeint sein. Die damalige Ars moriendi war kurz, bündig, auf den Punkt gebracht und somit äußerst geeignet zum Auswendiglernen. Was denn auch die Absicht war. Soll eine zeitgemäße neue Ars moriendi Chancen auf Erfolg haben, tut sie gut daran, sich diese Vorgaben zum Maßstab zu nehmen. Auch sie hat allgemeinverständlich, kurz und bündig zu sein; auch sie muß ihr Anliegen auf den Punkt bringen können; auch sie soll sich an jedermann richten und muß der heutigen Welt- und (fehlenden) Jenseitsanschauung entsprechen. Daraus folgte fast zwangsläufig, daß sich an die erste Monographie, bei der es um eine Auseinandersetzung mit dem seinerzeitigen Ars-moriendi-Erfolg und den daraus zu lernenden Lektionen ging, eine ergänzende zweite anschloß. Ihr Titel war Programm: »Ars vivendi. Von der Kunst, das Paradies auf Erden zu finden«. Da für die meisten von uns die irdische Lebensspanne zwar stark zugenommen hat, das Leben insgesamt jedoch um den ewigen Teil auf die Jahre hienieden verkürzt ist, kann eine heutige Ars moriendi als Ars vivendi das Paradies selbstverständlich nur noch zu Lebzeiten auf Erden finden. Doch gerade wenn wir von den heutigen Realitäten ausgehen, stehen die Aussichten so schlecht nicht, das gesuchte Paradies tatsächlich auf Erden zu finden. Wie bereits erwähnt, liegen die Gründe für die größere Quantität unserer Lebensjahre in deren ungleich besseren Qualität. Es gilt, die Chancen zu nutzen, damit alle gewonnenen Jahre auch erfüllte werden. Will jemand jedoch andere hierzu anleiten - und gemäß den obigen Ausführungen zielten alle fünf Monographien auf jene breitere Öffentlichkeit, die heute ein langes Leben von 70, 80 und mehr Jahren erwarten kann und die morgen mit großer Wahrscheinlichkeit im Dritten und übermorgen im Vierten Alter stehen wird -, dann sollte er sich ebenfalls überlegen, ob wir in den heutigen Menschen mit ihrer durchschnittlich doppelten Lebensspanne nicht nur länger, weil besser lebende Menschen vor uns haben, sondern im Vergleich zu früher auch »andere« (nicht »bessere«) Menschen?

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Die positive Entwicklung in all den aufgezählten Teilbereichen führte kumulativ zu einer Reihe von qualitativen Veränderungen, so bezüglich unserer Wertvorstellungen, unseres Zusammenlebens, unserer Einstellungen und Haltungen und generell unserer Realisierungsmöglichkeiten. Gemeint sind damit Aspekte wie Wertepluralismus, Säkularisierung, Demokratisierung, Individualisierung, größere Verfügbarkeit über Wissen und Kultur sowie materielle Güter bei angewachsenem und völlig anders strukturiertem Zeitbudget, globale Instantinformationen sowie weltweite Mobilität und damit eine nie zuvor dagewesene aktive und passive Mundialisierung. All dies wollte in der zweiten Monographie mit in Betracht gezogen sein. Sie zeigt denn auch an Beispielen, die aus den eben genannten Gründen aus unterschiedlichen Zeiten und Weltgegenden ausgewählt sind, wie eine solche Ars vivendi gemäß einem Lebensplan heutzutage konzipiert und realisiert werden kann. Unter Einhaltung von Augenmaß sollte die Erlernung der Kunst, das Paradies auf Erden zu finden, nicht unmöglich sein. Dem gleichen Ziel dienen zwei weitere Monographien: »Im Bildersaal der Geschichte oder Ein Historiker schaut Bilder an« und »Das unfertige Individuum. Sind wir auf halbem Wege stehen geblieben? Neun Bilder aus der Geschichte geben zu denken«. Beide Male ließ ich mich von der Erwägung leiten, daß bildgewordene, visualisierte Probleme bei heutigen Menschen eine größere Chance haben anzukommen, als dies über jedes andere Medium und jeden anderen unserer Sinne möglich ist. Warum also nicht diese pädagogisch-didaktischen Überlegungen mit dem Konzept vom Lebensplan verbinden und einen herausragenden Bereich unseres kulturellen Erbes, nämlich Bilder, wie sie zu Hunderten in unseren Museen und Galerien landauf landab hängen, im Hinblick auf das Erreichen eines erfüllten langen Lebens neu heben und fruchtbar machen? Beide Bücher leiten gezielt zum Sehenlernen vor diesem Hintergrund und in diesem Kontext an. Im zuletzt genannten Band gerät zudem ein Aspekt ins Zentrum, der im Rahmen des gesamten Vorhabens als eine der wesentlichsten Folgen des Wandels von der unsicheren zur sichereren Lebenszeit zu bezeichnen ist: die zunehmende Individualisierung als Konsequenz der möglich gewordenen Freisetzung des Menschen aus alten Zwangsgemeinschaften. Früher war die Integration in eine der erwähnten üblichen Gemeinschaftsformen - Familie, Haushalt, Kloster, Militär usw. - existentiell notwendig. Heute ist sie das nicht länger. Singles überleben nicht schlechter als Nicht-Singles. Allerdings bleiben überzeugte Singles auch dann Single, wenn sie in die Jahre kommen, wenn's ans Sterben geht, oder auch vorher schon, wenn sie schlechte Zeiten erleben. Im Buch mit dem Titel »Das unfertige Individuum« wird die Frage gestellt, ob wir abendländische Menschen diesbezüglich nicht »auf halbem Wege stehengeblieben« sind. Zumindest seit der Renaissance strebten wir das Ausbrechen aus traditionellen Weltanschauungen, aus alten Glaubensvorstellungen, aus überkommenen Zwangsgemeinschaften an. Bis vor kurzem erlaubten die permanenten »Pest, Hunger und Krieg«-Zeiten derlei Freiheiten indes immer nur einer Minderheit von besonders Privilegierten. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges jedoch

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haben erstmals mehr Menschen denn je eine Chance, diesen alten Traum von der Selbstverwirklichung zu realisieren. Folgerichtig tun das denn auch mehr und mehr. Was aber, wenn für sie die »besten« Jahre aussetzen oder gar zu Ende gehen? Hören wir dann nicht oft den Hilferuf nach »wieder mehr Gemeinschaft!«? Manche scheinen den Weg zur Selbständigkeit erst zur Hälfte zurückgelegt zu haben. Was in der Ars-vivendi-Monographie punktuell vorweggenommen ist, wird in einem weiteren schmalen Büchlein als Antwort auf das »unfertige Individuum« nochmals aufgegriffen und vertieft. Sein Titel lautet: »>Sis humilis!< - Die Kunst des Sterbens als Grundlage für ein besseres Leben«. Es dürfte kaum zu übersehen sein, daß es sich hierbei auch um das Thema des zweiten Symposiums handelt: »Erfüllt leben - in Gelassenheit sterben«. Was dort unter verschiedensten Aspekten von pluridisziplinären Standpunkten aus facettenreich betrachtet wurde, ist hier aus dem alleinigen Blickwinkel eines Autors zu Papier gebracht. Nochmals wird vom »Lebensplan« ausgegangen, der zum Ziel hat, das heute berechenbarer gewordene lange Leben von seinem Ende her zu gestalten. Wer als »neuer« Mensch - und dazu rechnen nicht zuletzt viele Singles - die im Ars-vivendiBuch erwähnten unzähligen Möglichkeiten nutzt, das Paradies auf Erden zu finden, könnte nur allzu leicht in Euphorie verfallen. Genau hiervon wird »ein Leben vom Ende her« jedoch abhalten. Wer sich seiner Endlichkeit bewußt ist, träumt keine Träume von ewigem Frühling. Der appellative Titel »Sis humilis!« ist zwar der alten Ars moriendi entliehen und war dort die Antwort auf die teuflische Versuchung zu Maßlosigkeit, Überheblichkeit, Hochmut und Stolz. Auf die heutige Zeit übertragen meint der Aufruf zur Bescheidung nichts anderes, als Augenmaß zu wahren, globalisiert wie wir sind, die Realitäten auf unserer ganzen Welt zur Kenntnis zu nehmen und nicht für sich selbst immer noch mehr haben zu wollen, wenn möglich gleich noch eine ganze Ewigkeit dazu. Wir verfügen jetzt schon über erheblich mehr Jahre als der Rest der Welt, weil wir erheblich bessere Jahre haben. Ist das so wenig? Auch wer den Glauben an die Ewigkeit verloren hat, kann damit doch höchst komfortabel leben. Es geht darum, sich der vielen guten Jahre wie auch der paar weniger guten zu freuen und das Beste aus ihnen allen zu machen, dabei die Endlichkeit der menschlichen Existenz aber nie aus den Augen zu verlieren. Es gilt vielmehr, sie als naturgegeben zu akzeptieren und in den Lebensplan aufzunehmen, kurzum die Spannung von Leben, Sterben und Tod zuzulassen, auszuhalten und aushaltend zu gestalten und den Tod zur rechten Zeit auf sich zu nehmen. Wer das in jungen Jahren gelernt hat und ein Leben lang ausübt, der braucht dem programmatischen Titel des zweiten Symposiums »Erfüllt leben - in Gelassenheit sterben« kaum noch viel hinzuzufügen. Hätten die vorhabenbezogenen Publikationen, Symposien und all die weiteren damit verknüpften Aktivitäten Menschen da und dort geneigter gemacht, sich vermehrt nach diesem Motto auszurichten, oder sollten sie es in Zukunft noch tun, dann wäre das gesamte Vorhaben seinem Hauptziel ein großes Stück näher gekommen: »Die Zunahme der Lebensspanne seit 300 Jahren

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und die Folgen. Oder: Gewonnene Jahre - verlorene Welten: Wie erreichen wir ein neues Gleichgewicht?« Wer dabei am liebsten von »harten Daten« ausgeht, findet im vorliegenden Werk Material in Fülle. Es bleibt noch ein gebührendes Wort des Dankes. Vorab richtet er sich an die fördernden Bundesministerien für Forschung und Technologie bzw. für Familie und Senioren sowie nochmals an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, deren 1986 bis 1990 finanzierte Erstellung einer Datenbank über deutsche Lebenserwartungen vom 17. bis zum 19. Jahrhundert dem Vorhaben als Ausgangsbasis von größtem Nutzen war. Dank gebührt sodann allen Beiträgern des Bandes, sei es, daß sie eigenverantwortlich Teile beisteuerten, sei es, daß sie uns Datenmaterialien zur Weiterbearbeitung überließen. Es sind dies Dr. Rembrandt D. Scholz vom Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Epidemiologie (Charité) der Humboldt-Universität zu Berlin, Jens-Kristian Borgan vom Norwegischen Statistischen Zentralbüro, Professor 0ivind Larsen vom Institut für Geschichte der Medizin an der Universität Oslo, Professor Lars-Göran Tedebrand und Dr. Anders Brändström vom Zentrum für Bevölkerungsstudien und Historische Demographie an der nordschwedischen Universität Umeâ, Dr. Inez Egerbladh und Carin Sjöström von der Demographischen Datenbank ebenda sowie Hans-Ulrich Kamke und Eva Wedel-Schaper, die zur Zeit an der Freien Universität tätig sind. Ein weiteres Wort des Dankes gilt den Mitgliedern meiner Berliner Arbeitsgruppe. Hans-Ulrich Kamke war für die gesamte Datenbearbeitung und -dokumentation verantwortlich. Eva Wedel-Schaper betreute das Projekt organisatorisch und verwaltungstechnisch, nachdem Marion Eichhorn im Frühjahr 1993 ausgeschieden war. Monika Appmann und Barbara Schwarz waren für die Bearbeitung des Anhangs zuständig. Robert Bonca, Alexander Laudan und Rita Weinknecht fertigten die Graphiken an. Die Textredaktion lag in den Händen von Gesine Asmus, die den gesamten Band darüber hinaus für die Drucklegung vorbereitete. Nicht zuletzt ist für eine reibungslose Zusammenarbeit dem Lektoratsleiter Neue Geschichte beim Akademie Verlag, Günter Hertel, zu danken sowie dem Verlagsleiter Dr. Gerd Giesler, der schon den Vorgängerband in ebenso zufriedenstellender Weise verlegerisch betreut hat.

Freie Universität Berlin, im Frühjahr 1994

A.E.I.

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Vorwort Liste der vorhabenbezogenen Buchpublikationen

Grundlegende Werke* Arthur E. Imhof unter Mitwirkung von Rolf Gehrmann, Ines E. Kloke, Maureen Roycroft und Herbert Wintrich: Lebenserwartungen in Deutschland vom 17. bis 19. Jahrhundert. Life Expectancies in Germany from the 17th to the 19th Century. Weinheim: VCH - Acta Humaniora 1990. Arthur E. Imhof (Hrsg.) unter Mitwirkung von Hans-Ulrich Kamke, Eva WedelSchaper und Jens-Kristian Borgan, Anders Brändström, Inez Egerbladh, 0ivind Larsen, Rembrandt D. Scholz, Carin Sjöström, Lars-Göran Tedebrand. Redaktion Gesine Asmus: Lebenserwartungen in Deutschland, Norwegen und Schweden im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin: Akademie Verlag 1994. Symposiums-Sammelbände Arthur E. Imhof (Hrsg.): Leben wir zu lange? Die Zunahme unserer Lebensspanne seit 300 Jahren - und die Folgen. Beiträge eines Symposiums vom 27.-29. November 1991 an der Freien Universität Berlin. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1992. Arthur E. Imhof und Rita Weinknecht (Hrsg.): Erfüllt leben - in Gelassenheit sterben. Geschichte und Gegenwart. Beiträge eines interdisziplinären Symposiums vom 23.25. November 1993 an der Freien Universität Berlin. Berlin: Duncker & Humblot 1994 (im Druck). Monographien vom Leiter des Vorhabens (Arthur E. Imhof) Im Bildersaal der Geschichte oder Ein Historiker schaut Bilder an. München: Beck 1991. Ars moriendi. Die Kunst des Sterbens - einst und heute. Wien/Köln: Böhlau 1991. Ars vivendi. Von der Kunst, das Paradies auf Erden zu finden. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1992. »Sis humilis!« - Die Kunst des Sterbens als Grundlage für ein besseres Leben. Wien: Picus 1992. Das unfertige Individuum. Sind wir auf halbem Wege stehen geblieben? Neun Bilder aus der Geschichte geben zu denken. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1992.

Das vollständige, durchgehend maschinenlesbare Datenmaterial, das umfangmäßig weit über das für die beiden grundlegenden Werke ausgewählte hinausgeht, steht im Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung in Köln zur allgemeinen Verfügung. Es kann dort von jedermann für eigene Zwecke auf den üblichen Datenträgern bezogen werden. Anfragen sind ausschließlich an die zuständige Archivadministration zu richten (Anschrift: Liliencronstraße 6, D-50931 Köln).

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Die neuen Überlebenden: gestern - heute - morgen, in Deutschland, Europa, weltweit Arthur E. Imhof

Mit dem Titel wende ich mich gegen jede Einengung der Lebenserwartungsthematik auf den einzigen Aspekt des Alters. »Alter« ist im Lebenslauf nur ein Abschnitt, nämlich der am weitesten von der Geburt entfernte. Dazwischen gibt es Kindheit und Jugend, gibt es verschiedene Phasen des Erwachsenendaseins. Wenn in unseren Tagen mehr Menschen als früher länger leben, heißt das zuerst einmal, daß heute mehr praktisch alle - eine Kindheit und eine Jugend haben, und daß die meisten darüber hinaus auch noch die unterschiedlichen Erwachsenenphasen durchleben können, bevor sie das »Alter« erreichen. Erst in unseren Tagen gilt, daß »Zunahme der Lebenserwartung« und »Alter« verwandte, in den Augen mancher Zeitgenossen fast auswechselbare Themen sind. Steigt eine durchschnittlich hohe Lebenserwartung wie die unsrige noch weiter an, dann werden viele an sich schon alte Menschen noch etwas älter. Und einige andere, die es in früheren Zeiten nicht bis dahin geschafft hatten, erreichen nun die späten Jahre ebenfalls. Unsere Medien sorgen dafür, diesen einmaligen Zusammenhang nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Fernsehen und Hörfunk quellen über von Themen aus dem Alter(n)sbereich, ganz zu schweigen von den Publikationen auf dem Bücher- und Zeitschriftenmarkt. Viel Düsteres wird uns darin vorausgesagt: Pflegenotstand, Unbezahlbarkeit der Renten, Krieg der Generationen. »Alter« hat Konjunktur. Es kommt einem so vor, als ob das Thema wie eine Flut über uns hereingebrochen wäre, und als ob wir uns nun wieder freischwimmen müßten. Entsprechende Orientierungsveranstaltungen tragen oft unsäglich hilflose Titel wie: »Droht ein Krieg der Jungen gegen die Alten? (Un)absehbare Probleme eines neuartigen Generationenkonflikts. Eine interdisziplinäre Konsultation für Fachleute aus Wissenschaft und Praxis der Jugend- und Altenarbeit bzw. -forschung, Politikerinnen und Politiker, Medienleute und andere Interessierte« (Tagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll vom 20. bis 22. März 1991; vgl. Stark u. a. 1991). Bei uns gab es diese Situation noch nie, und es gibt sie außerhalb unserer industrialisierten Welt auch sonst nirgendwo. Wir können folglich an keiner Stelle nachsehen, wie die damit verbundenen Probleme am besten zu lösen sind. Natürlich wurden schon immer ein paar Menschen alt, und sie werden das auch heute selbst in der Dritten und Vierten Welt. Und selbstverständlich dachten Menschen zu allen Zeiten und in allen Kulturen darüber nach, wie ein langes Leben - wenn man es denn hätte - eigentlich aussehen würde, sollte, müßte, dürfte. Nur haben solche Gedankenspiele, so klug auch immer sie daherkommen mögen, mit der Realität wenig oder nichts zu tun. Wer erinnert sich nicht an die Lebeasstufen-Einteilungen unserer Vor-

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I. Einßhrung

fahren, in denen die Menschen in Zehnerschritten altem und erst mit 100 Jahren ins Grab sinken? Ganz so, als ob eine Lebensspanne von 100 Jahren damals die Norm und nicht die allerungewöhnlichste Ausnahme gewesen wäre! Für derlei Konstrukte in denen das Alter mal ein besonderes Ansehen genoß, dann wieder besonders verachtet wurde - hat ein auf unserem Gebiet weise gewordener Fachmann wie Peter Laslett nur Hohn übrig: »How on earth can our ancestors possibly have believed in such a load of rubbish?« Ernüchtert vom Studium all der gekünstelten Dreier-, Vierer-, Fünfer-, Siebener-, Neuner-, Zehner-Einteilungsschemata samt der dazugehörigen Lebensphilosophien meint der Gelehrte aus Cambridge trocken: »There is precious little for us in the way of guidance or wisdom to be learned from our ancestors as to ageing, important as it is that we should be aware of what has gone before« (Laslett 1987,103,104 f.). Die zweifache Kapiteleinteilung macht zudem deutlich, daß der rein demographische Aspekt der Lebenserwartungsthematik - wieviele Menschen wurden oder werden wie alt? - für mich weder der einzige noch der allein wichtige ist. Zwar sah der bundesministerielle Forschungsauftrag, in dessen Rahmen diese Publikation erfolgt, von Anfang an vor, die 1990 erschienene Dokumentation »Lebenserwartungen in Deutschland vom 17. bis 19. Jahrhundert« bis in die Gegenwart fortzuführen und eine Reihe tabellarischer wie graphischer Auswertungen für den Zeitraum vom 17. bis zum 20. Jahrhundert der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Und mit dem vorliegenden Band soll dieser Forderung - unter Beiziehung von zusätzlichem europäischem, aus Quellengründen hauptsächlich skandinavischem Vergleichsmaterial auch Genüge getan werden. Ebenso wichtig ist mir jedoch, jenseits der bloßen Zahlendokumentation zumindest in diesem Beitrag auch auf die menschlichen Aspekte der durch die Zahlen belegten fundamentalen Lebensspannenveränderungen zu sprechen zu kommen sowie eine Reihe globaler Aspekte in Betracht zu ziehen. Um hierbei keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Selbstverständlich stünde es einem Historiker schlecht an, diesbezüglich der bessere Soziologe, Politiker, Psychologe, Epidemiologe, Gerontologe, Ökonom oder was für ein Fachmann auch immer sein zu wollen. All diese und weitere Experten nehmen in ihren Sparten laufend Untersuchungen in großer Zahl vor. Sie orientieren über den Gesundheitszustand älterer, alter und sehr alter Menschen, über deren soziale und wirtschaftliche Lage, ihre Partnerschaftsverhältnisse und emotionalen Bedürfnisse, ihre Integration oder Isolation, den Wandel hinsichtlich des Renteneintrittsalters, über Altenlastquoten (wieviele jüngere Menschen einen älteren zu tragen haben), über die Notwendigkeit, den Generationenvertrag zu erneuern, über die Zweckmäßigkeit einer weiteren Untergliederung von Angehörigen des Dritten Alters in junge Alte, alte Alte und Greise bzw. in Drittes, Viertes, Fünftes Alter und dergleichen mehr. Ihre Befunde sind oft alarmierend. Der massenhafte Übertritt ins höhere Alter scheint noch immer eine zu junge Erscheinung zu sein (vgl. Abb. 8), als daß wir schon angemessen mit ihm umgehen könnten. Vielen mag es nach wie vor so scheinen, als ob wir es dabei mit einem - wie es der

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Belgier Jean Vogel drastisch formulierte - »âge en trop«, einem »überflüssigen Alter« zu tun hätten (Vogel 1990). Jedenfalls würden nicht wenige unter uns, so doppelte sein Landsmann Michel Loriaux in der Sprache des Sozioökonomen nach, die »personnes âgées« noch immer als »un capital obsolète« betrachten (Loriaux 1991,1). Alte Menschen: ein nutzloses Kapital? Meine Aufgabe als Historiker und Historiker-Demograph sehe ich in etwas anderem, womit im übrigen auch jedes falsche Wetteifern mit den erwähnten Disziplinen ausgeschlossen wird. Dieser Beitrag versucht klarzumachen, was sich im Verlauf weniger Generationen bezüglich unserer Lebenserwartungen grundlegend geändert hat. »Wenige Generationen« meint den Zeitraum der letzten 200 bis 300 Jahre. Nur dafür stehen aussagekräftige Quellen in genügender Dichte zur Verfügung. Obwohl die diesbezügliche Forschung seit Jahren zu meinem Alltag gehört, fällt es mir noch heute oft schwer zu begreifen, was sich wirklich abgespielt hat. Immer wieder kommt es mir so vor, als ob sich Fundamentales hinter unserem Rücken vollzogen habe. Wir halten die derzeitigen Lebenserwartungsgegebenheiten für völlig selbstverständlich. Nur selten jedenfalls bin ich auf einen Menschen gestoßen, der darüber nachgedacht hat, was es bedeutet, heute im Vergleich zu noch vor gar nicht langer Zeit zwei Leben zur Verfügung zu haben. »Leben ist das höchste Gut« ist eine altbekannte Redewendung. Was bedeutet sie nun, wo wir durchschnittlich zwei Leben zur Verfügung haben? Dieser lange Zeit außergewöhnliche Zustand hat sich im Verlauf weniger Generationen eingestellt, und zwar nicht vereinzelt, sondern vielhunderttausendfach. In Deutschland betrug die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt 1855 37,2, 1985 74,6 Jahre - eine glatte Verdoppelung. Muß man sich vor diesem Hintergrund nicht fragen, wie es im Zusammenhang mit Abbildung 17 geschieht, ob wir heute im Vergleich zu früher nicht auch einen »anderen«, einen »neuen« Menschen vor uns haben? Eine Verdoppelung der Lebenserwartung meint ja nicht bloß, zwei statt ein Leben zu haben. Den vielen heute quantitativ doppelt so lange Lebenden geht es auch in qualitativer Hinsicht meist doppelt so gut. Die höhere Qualität unserer Lebensjahre ist schließlich die wesentlichste Ursache für deren größere Quantität. Weitaus mehr Leben können heute bis zu ihrer vollen Reife gelangen. Nun ist es nicht etwa so, daß sich Historiker noch nie Gedanken darüber gemacht hätten, worauf diese unerhörten Veränderungen zurückzuführen sind. Ich nenne einige Sammelbände aus den letzten Jahren und Jahrzehnten. Darin findet jeder Interessierte Dutzende von Ursachen-Studien: über den Wandel in der Ernährung zum Beispiel, beim Wohnen, in der öffentlichen und privaten Hygiene, im Bereich des Gesundheitswesens, der medizinischen Therapie und Prävention, im Hinblick auf Arbeit und Freizeit, bezüglich der Einstellung zu Gesundheit und Krankheit. Meine Auswahl umfaßt: Harsin, Paul und Etienne Hélin (Hrsg.) (1965): Problèmes de Mortalité. Méthodes, sources et bibliographie en démographie historique. Paris: Société de démographie historique. - Charbonneau, Hubert und André Larose (Hrsg.) (1979): Les grandes mortalités: Etudes méthodologiques des crises démographiques du

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passé. Liège: Ordina. - Boulanger, Paul-Marie und Dominique Tabutin (Hrsg.) (1980): La mortalité des enfants dans le monde et dans l'histoire. Liège: Ordina. Bengtsson, Tommy u. a. (Hrsg.) (1984): Pre-Industrial Population Change. The Mortality Decline and Short-Term Population Movements. Stockholm: Almqvist & Wiksell. - Vallin, Jacques u. a. (Hrsg.) (1985): La lutte contre la mort. Influence des politiques sociales et des politiques de santé sur l'évolution de la mortalité. Paris: Institut National d'Etudes Démographiques - Presses Universitaires de France. Brändström, Anders und Lars-Göran Tedebrand (Hrsg.) (1988): Society, Health and Population during the Demographic Transition. Stockholm: Almqvist & Wikseil. Ruzicka, Lado u. a. (Hrsg.) (1989): Differential Mortality. Methodological Issues and Biosocial Factors. Oxford: Clarendon. - Caldwell, John C. u. a. (Hrsg.) (1990): What we know about Health Transition: The Cultural, Social and Behavioural Determinants of Health. Canberra: Health Transition Centre, The Australian National University. - Schofield, Roger u. a. (Hrsg.) (1991): The Decline of Mortality in Europe. Oxford: Clarendon. Alle diese Sammelbände gehen auf internationale Veranstaltungen zurück, an denen in der Regel neben den Historikern und Historiker-Demographen herausragende Fachleute verschiedener relevanter Disziplinen teilnahmen. Um so erstaunter lesen wir in der Einleitung zum letztgenannten Band, daß wir nach all den Jahren und Jahrzehnten intensiven Forschens, Konferierens, Diskutierens, Publizierens eigentlich noch immer am Anfang stünden, jedenfalls unser diesbezügliches Wissen und Verstehen noch »in den Kinderschuhen« stecke: »It would be only a small exaggeration to say that our understanding of historical mortality patterns, and of their causes and implications, is still in its infancy« (Schofield/Reher 1991, 2). Weiter wird uns da mitgeteilt - was auch nicht gerade zur größeren Klärung beiträgt -: »In recent years, theories which explain secular mortality change have become the hotbed of controversy, far from clear. - In sum, mortality reduction seems to have been the result of several, often disconnected, factors. - There may well have been multiple paths to mortality transition which have yet to be unearthed by scholars. - Disentangling the weights of different factors is a recurrent problem when attempting to understand mortality and its transition in Europe. - The conclusions which can be derived from reading the papers included in this volume is that there was no simple or unilateral road to low mortality, but rather a combination of many different elements ranging from improved nutrition to improved education« (a. a. 0., 2, 5, 7,12,17). Lassen wir uns durch solche Statements nicht kopfscheu machen! Es ist nicht die Absicht dieses Buches, einen weiteren Beitrag zum verwickelten Ursachenkomplex zu leisten oder Stellung im Gelehrtenstreit zu nehmen. Im vorliegenden Zusammenhang genügt es, beim Lesen die in Abbildung 15 (Rückgang der Säuglingssterblichkeit und Zunahme der Lebenserwartung) dargestellte komplizierte Ursachenverkettung nicht außer acht und die mit ihr verknüpften Schwierigkeiten nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Im übrigen frage ich mich, ob es wirklich zu den vordring-

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lichsten Aufgaben eines Historikers gehört, immer noch weiter im Ursachenbündel zu wühlen. Diese Frage aufwerfen heißt nicht, die Relevanz solcher Forschung im Hinblick auf die uns nachfolgenden Entwicklungs- und Schwellenländer in Abrede zu stellen. Schließlich unterrichte ich das Fach Historische Demographie, mit inbegriffen die Behandlung der eben angesprochenen Zirkularkausation, selbst regelmäßig in Ländern wie Brasilien, Indien oder Bangladesh. Und dort nehme ich jeweils, wie aus den Abbildungen 18 bis 20 hervorgeht, durchaus eine entschiedene Gewichtung vor. Besonders in der Initialphase kommt bzw. kam der »Female (Maternal) Education« zweifelsohne eine Schlüsselrolle zu. Anders verhält es sich in fortgeschritteneren Stadien, wo zusätzliche Kettenglieder wirtschaftlicher, politischer, (high-tech-) medizinischer Art usw. eine ebenso wichtige, wenn nicht wichtigere Rolle spielen können (vgl. hierzu die Diskussion bei Cleland u. a. 1992, wo insbesondere eine gut ausgebaute Infrastruktur des staatlichen Gesundheitswesens in den Vordergrund rückt). Doch hierzulande, in Europa, scheint es mir ebenso wichtig, statt immer weiter nur nach den Ursachen zu fragen, die Folgen dieser Entwicklung zu bedenken, wenn nicht gar, sie in den Mittelpunkt zu stellen, wie dies in einem weiteren Buch geschieht, das gleichzeitig mit dem hier vorliegenden entsteht, und von dem am Ende dieses Beitrags noch näher die Rede sein wird. Denn auch diesbezüglich folgen uns die anderen Länder nach und möchten aus unseren Erfahrungen lernen. Abgesehen von prinzipiellen Überlegungen dieser Art werde ich mit einem solchen Vorgehen auch meinem Drittmittel-Auftraggeber am ehesten gerecht. Das bundesministeriell geförderte Forschungsprojekt trägt den Titel: »Die Zunahme der Lebensspanne seit 300 Jahren und die Folgen«. Von Ursachen steht da nichts. Redlicherweise müssen sich Historiker und Historiker-Demographen zudem eingestehen, daß sie keine Allgemeinpraktiker der Vergangenheit sind und nicht für alles und jedes in der Geschichte die exklusive Zuständigkeit haben. Sollen - wie es meist der Fall ist interdisziplinäre Aspekte historischer Bevölkerungsvorgänge analysiert werden, dann geschieht dies am besten in fächerübergreifender Zusammenarbeit und nicht im Alleingang, schon gar nicht nach dem Motto: »Wenn Historiker-Demographen ihre eigenen Basisdaten nicht selbst interpretieren, wer soll es dann?« (vgl. diesbezüglich den Tagungsband »Leben wir zu lange? Die Zunahme unserer Lebensspanne seit 300 Jahren - und die Folgen« [1992] mit Beteiligung der Disziplinen Geschichte, Soziologie, Suizidologie, Kunstgeschichte, Theologie, Caritaswissenschaft, Demographie, Historische Demographie, Statistik, Ökonomie, Volkswirtschaftslehre, Sozial- und Präventivmedizin, Epidemiologie, Gerontologie, perimortale Forschung, Sozialpädagogik und Medienwissenschaften). Vergessen wir schließlich auch nicht, daß es kaum noch Länder gibt, wo die epidemiologische Transition nicht eingesetzt und sie nicht bereits ein gutes Stück Wegs zurückgelegt hat. Je ausgeprägter im Todesursachenspektrum jedoch die Ablösung der alten Infektionskrankheiten durch chronische Leiden ist, um so länger bleiben auch dort die Menschen am Leben und um so mehr rücken die Folgen des Älterwerdens und nicht die Ursachen ins Zentrum.

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/. Einßhrung

Gäbe es in Deutschland Historiker-Demographen in Fülle, möchte es angehen, daß sich der eine oder andere von ihnen der reinen Ursachenforschung widmete. Diese Fachleute aber gibt es nicht. Bislang existiert nicht einmal eine Professur für Historische Demographie, geschweige denn ein Institut oder ähnliches - im Gegensatz zu Frankreich, Großbritannien oder Skandinavien. (Meine eigene Professur an der Freien Universität Berlin ist mit »Sozialgeschichte der Neuzeit in Europa« umschrieben.) Daß man mir seit Jahren trotzdem immer wieder Spielraum für »Historische Demographie in Forschung und Lehre« gewährt, hat mit der schieren Größe des Fachbereichs Geschichtswissenschaften an dieser Universität zu tun. Die beachtliche Zahl von Professuren sichert auch bei Spezialisierung des einen oder anderen Kollegen ein kontinuierliches Lehrangebot auf sämtlichen Teilgebieten. Nimmt man aus all den erwähnten Gründen Abstand von der reinen Forschung um der Forschung willen, gehen einem auch eher die Augen dafür auf, wie engstirnig bisweilen im Bereich der einseitigen Ursachendiskussion vorgegangen wird. So entbrannte im Anschluß an die Publikationen des britischen Mediziners, Historikers und Demographen Thomas McKeown in den 1970er Jahren, insbesondere nach dem Erscheinen von »The Modern Rise of Population« (1976), eine heftige Debatte darüber, ob eher eine bessere Ernährung (so McKeown), oder aber erfolgreiche Interventionen von Seiten der Medizin (so viele seiner Kritiker) eine entscheidende Rolle beim Rückgang der Sterblichkeit in Europa seit dem 18. Jahrhundert gespielt hätten. Bei einem nachdenklichen Rückblick will uns heute scheinen, daß damals vielfach Positionen der aktuellen Gegenwart verständnislos in die Vergangenheit rückprojiziert wurden. Wieso überhaupt die Frage dermaßen zugespitzt formulieren und - je nach Standort - beleidigt reagieren, wenn sich herausstellt, daß eine heute hocheffektive und dafür berühmte Medizin bis vor wenigen Jahrzehnten mangels wirksamer Möglichkeiten keineswegs entscheidend zum Rückgang der Mortalität beigetragen haben kann? War es denn, so vielleicht die wichtigere Frage, dermaßen wenig, was die seinerzeitigen Ärzte trotz oder gerade wegen ihrer therapeutischen Macht- und Hilflosigkeit für die leidenden Menschen taten? Und könnten nicht viele unter uns therapeutisch nunmehr erfolgsverwöhnte Mediziner mit inbegriffen - von einem Nachdenken hierüber lernen? Man lese nochmals beim zitierten, apostrophierten McKeown nach, wenn nötig zwischen den Zeilen, worin er die Rolle der Medizin sieht: »I suggest that it (the role of medicine) should be interpreted as follows: To assist us to come safely into the world and comfortably out of it, and during life to protect the well and care for the Sick and disabled« (McKeown 1979,192). McKeown spricht von »care for the sick«; von »eure« steht dort nichts. »Cure« jedoch ist, was die Medizin unserer Tage so glänzend beherrscht: chemotherapeutisch, chirurgisch, unter Einsatz von High-Tech. Was häufig dabei auf der Strecke bleibt, ist »care«. Solange die Medizin während Jahrhunderten »eure« noch nicht gleichermaßen virtuos beherrschte, blieb ihren Vertretern oft kaum etwas anderes übrig als »care«. Ich frage nochmals: War das so wenig? Und obwohl Historiker, möchte ich die Frage keineswegs nur historisch verstanden wissen. Ich stelle sie

Die neuen Überlebenden

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vielmehr auch mit Blick auf die heutige Situation. Sind wir derzeit nicht weit entfernt von einem ausgewogenen Verhältnis zwischen »eure« und »care«, zwischen Heilen und Pflegen? In unseren Krankenhäusern? In unseren Kliniken? In unseren Spezialärzte-Praxen? In unserer Pharmazie? Ich frage; ich klage nicht an. Wir haben die Situation, die wir uns selbst geschaffen haben. Somit liegt es auch an uns, sie wieder zu ändern, falls wir das wollen. Und ich frage weiter. In historischer Zeit hatten Krankheiten, zumindest für gläubige Vorfahren, einen Sinn. Sie wurden als Fingerzeig Gottes aufgefaßt, rechtzeitig in sich zu gehen und auf dem sündigen Weg umzukehren. Nichts weniger als das ewige Seelenheil stand auf dem Spiel. Heute haben Krankheiten biologische Ursachen, und viele können entsprechend kuriert werden. Was für einen Sinn sollten Gesundheitseinbußen folglich noch machen? Den ehemaligen jedenfalls schon gar nicht mehr, säkularisiert wie die meisten von uns nunmehr sind. Doch wieder beschleicht mich beim Nachdenken die Frage: War es so wenig und so abwegig, in Krankheiten einen Sinn zu sehen? Könnten, sollten, müßten wir solches heute nicht erneut lernen? Schließlich werden es körperliche Defizite sein, die am Ende auch bei uns die Oberhand behalten. Wäre es nicht besser, sich beizeiten hierauf einzustellen? Die Kunst des Sterbens besteht zu einem guten Teil darin, loslassen zu können. Krankheiten böten eine Chance, sich hierin zu üben. Sie brauchten auch heute nicht sinnlos zu sein.

Die demographische Dimension: mehr Jahre Um zu vermehrtem Nachdenken in derlei Bahnen anzuregen, habe ich für dieses einleitende Kapitel eine Reihe von Abbildungen anfertigen lassen. Es geht dabei nirgends darum, alle Einzelheiten zu vertiefen. Das kann jeder Leser im Zusammenhang mit den folgenden Beiträgen, die voll von Daten sind, nach Lust und Laune selbst tun. Wichtiger ist hier, die grundlegenden Veränderungen darzustellen. Bemühen wir uns überdies, die eurozentrische Betrachtungsweise etwas abzustreifen und einen globaleren Standpunkt einzunehmen, dann interessiert zum Beispiel wenig, ob sich die folgenden Ausführungen etwa zum Rückgang der Säuglingssterblichkeit oder zum Anstieg der Lebenserwartung auf Bayern oder auf Schleswig-Holstein beziehen. Weltweit gesehen ist von größerem Interesse zu erfahren, wie diese Entwicklungen »in Europa« - im Vergleich zum Beispiel zu Lateinamerika oder Südostasien verliefen. Deshalb wurden nach Möglichkeit geographisch größere Einheiten wie das Deutsche Reich, nach dem Zweiten Weltkrieg die BRD und die DDR sowie Norwegen und Schweden gewählt. Ebenso wenig interessiert im allgemeinen dieses oder jenes spezielle Jahr oder Jahrzehnt, sondern der langfristige Ablauf. Eine solch weit ausholende Zeitspanne ist schon den ersten Graphiken zugrunde gelegt. In Abbildung 1 sehen wir zwei Sterblichkeitsentwicklungen, die von 1721 bis heute reichen. Die eine betrifft Schweden, d. h. jenes Land, das auf Grund des

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I. Einführung

Sterblichkeit in Berlin 1721 - 1 9 9 0 je 1000 Einwohner 1740

1772

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1950 1975 1990

Abb. 1: Anzahl Gestorbene j e 1000 Einwohner in Berlin und in Schweden, 1721 - 1990

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Überlebenden

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ältesten Statistischen Zentralbüros der Welt (eröffnet 1749, mit Vorläufern seit den 1720er Jahren) über ein lückenloses Quellenmaterial vom 18. Jahrhundert bis heute verfügt. Zum anderen geht es um Berlin, das ich in einer früheren Studie selbst untersucht habe, die ich hier nun bis heute ergänze. Beide Darstellungen sind in ihrer Art gleich. Hier wie dort bringen die Kurven die jährliche Anzahl Sterbefälle auf 1000 Einwohner zum Ausdruck. Beginnen wir mit Berlin. Ich kann jeden Leser gut verstehen, der spontan fragt: Wieso zeichnen sich in den Bildern immer wieder diese schwarzen Zacken ab, die jeweils einen Sprung in der Sterblichkeit um das Doppelte, das Drei- oder Vierfache bedeuteten und zwecks besonderer Hervorhebung auch noch mit Jahreszahlen versehen sind: 1740 - 1758/63 - 1772 - 1808 - 1866 - 1917/18 bis hin zu 1945? Womit wir bei der Frage nach den Ursachen wären, die wir doch eigentlich gar nicht in den Vordergrund rücken wollten. In meiner oben erwähnten »früheren Studie« heißt es dazu: »Es fällt nirgends schwer, den jeweiligen Mortalitätsanstieg auf eine der drei klassischen Ursachen oder deren Zusammenwirken zurückzufuhren: Krieg, Hunger, Seuchen. Die Katastrophe am Ende des Zweiten Weltkrieges prägte die Berliner Bevölkerung ebenso wie die Kombination der Auswirkungen von Krieg, Hunger und pandemischer Grippe 1917/18. Wo die eigenen Erinnerungen oder die Kenntnisse vom Hörensagen nicht mehr ausreichen, sind bei derartigen Sterblichkeitsmaxima die zur Interpretation notwendigen Quellen im Überfluß vorhanden. Katastrophen jeder Art sind seit alters quellenfreundliche Ereignisse und erleichtern dem Historiker die Arbeit. Die hohe Mortalität in den frühen 1740er und 1770er Jahren hängt eng mit Mißernten von europäischem Ausmaß zusammen. (Die diesbezüglichen Spitzen zeichnen sich im unteren Grafikteil in Schweden tatsächlich genauso ab.) Während des Siebenjährigen Krieges (1756-63) wurde Berlin 1757 von den Österreichern und 1760 von den Russen besetzt; 1806 bis 1808 hatte die Stadt eine französische Besatzung zu erdulden. 1866 schließlich stellte den Höhepunkt einer Reihe von Cholerawellen seit den 1830er Jahren dar« (Berliner Statistik 31,1977,138). Doch anders als im damaligen Veröffentlichungsjahr 1977 soll es hier nicht mehr um Punktuelles, um Ereignisse besonderer Art und deren Ursachen gehen, sondern um Grundsätzliches, um tiefgreifende, entscheidende Veränderungen. Was läßt sich hierzu anhand von Abbildung 1 aussagen? Überblickt man die fast 300jährige Berliner Sterblichkeitsentwicklung insgesamt, erkennt man unschwer vier unterschiedliche Phasen. In einer ersten Phase, die bis gegen 1810 dauerte, lag die Mortalität generell hoch und betrug etwa 40 je 1000. Charakteristisch waren damals zudem die schwarzen Zacken in unregelmäßigen Abständen auf Grund von »Pest, Hunger und Krieg«. Die zweite Phase, die bis in die 1870er Jahre reichte, ist gekennzeichnet durch eine Nivellierung der Sterblichkeit. Die Zacken werden deutlich kleiner. Insgesamt verharrte die Mortalität jedoch mit etwa 30 je 1000 auf einem hohen Niveau. Die anschließende dritte Phase erstreckte sich bis in die Zwischenkriegszeit. Sie führte zu einer sukzessiven Senkung der Sterblichkeitsrate um rund zwei Drittel, von etwa 30 auf etwas über 10 je 1000. Die vierte und vorläufig letzte Phase führte zu

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I. Einßhrung

einer erneuten Nivellierung und Stabilisierung, diesmal jedoch auf niedrigem Niveau. Man lasse sich durch die Ausbuchtung der Berliner Kurve während der 1970er und 1980er Jahre nicht irreführen. Wie während des gesamten Zeitraums betreffen die Angaben auch hier die »Anzahl Sterbefälle je 1000 Einwohner«. Man braucht sich nur an die »Überalterungs«-Debatte im damaligen West-Berlin zu erinnern um einzusehen, daß sich unter 1000 West-Berlinern in jenen 1970er und 1980er Jahren überdurchschnittlich viele ältere, alte und sehr alte Menschen, vor allem Frauen, mit entsprechend höherem Sterberisiko befanden, mehr als sonstwo in der Bundesrepublik. Dort kam es folglich auch nicht zu einem solchen Artefakt wie in Berlin. Vergleicht man das damalige Bundesgebiet, so oszillierte die Sterblichkeit seit den 1950er Jahren auf stabilem niedrigen Niveau zwischen etwa 10 und 12 je 1000 Einwohner (vgl. Statistisches Jahrbuch 1991,75). Wollen wir unsere Aussagen noch stärker zusammenfassen, läßt sich folgende Quintessenz festhalten: Im Verlauf der letzten 300 Jahre änderte sich das Mortalitätsmuster grundlegend. Während wir im 18. Jahrhundert noch eine Sterblichkeit vor uns haben, die selbst in »gewöhnlichen« Jahren die doppelte und dreifache Höhe gegenüber heute aufwies, und diese Raten in »ungewöhnlichen« Jahren mit Leichtigkeit nochmals verdoppelt wurden, zeigt sich die Mortalität unserer Tage auf ein Drittel einstiger Normalwerte reduziert, wobei die Schwankungen von Jahr zu Jahr innerhalb einer engen Bandbreite liegen. Werfen wir einen Blick auf die gleichzeitige Entwicklung in Schweden, stellen wir auch dort grundsätzlich denselben Wandel fest: von einer hohen Sterblichkeit mit großen Schwankungen im 18. Jahrhundert über eine Beruhigung und sukzessive Senkung im 19. zu einer ausgeglichenen niedrigen Mortalität im 20. Jahrhundert. Wichtiger als diese prinzipielle Bestätigung des Berliner Befundes scheint mir im Vergleich jedoch etwas anderes zu sein. An einer Stelle nämlich weicht die Berliner Kurve markant von der schwedischen ab: im Jahre 1945. Gäbe es diesen herausragenden Stachel im Berliner Material nicht, fielen wir beim Betrachten der Kurven womöglich voreilig einer euphorischen Stimmung anheim. Worum Generationen von Vorfahren sich vergeblich bemühten, scheint erreicht: die Kontrolle über die Sterblichkeit. Frohlocken wir nicht zu früh! Die ehemaligen Sterblichkeitsverhältnisse waren, so hörten wir, Auswirkungen von »Pest, Hunger und Krieg«. Daß diese drei Geißeln uns in Mittel-, West- und Nordeuropa seit nunmehr fast einem halben Jahrhundert in Ruhe lassen, ist äußerst ungewöhnlich, macht viele Zeitgenossen jedoch bereits vergessen, daß sie nicht vom Erdboden verschwunden sind. Es brauchen keine neuen Seuchen wie AIDS zu sein. Schon eine zu große Impfmüdigkeit könnte sich bitter rächen. Erst recht ragt 1945 wie ein Monument in den Himmel und erinnert uns daran, bezüglich aller drei Geißeln wachsam zu bleiben. Die einsame Spitze nahm sich auch damals schon wie ein Anachronismus aus und hätte, wären die Menschen ihrem eigenen Aufruf »Nie wieder Krieg!« gefolgt, nicht zu sein brauchen. So wie es sie in Schweden denn auch nicht gab. »Lessons learned and

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Abb. 2: Zunahme der Lebenserwartung bei der Geburt und Rückgang der Säuglingssterblichkeit in Schweden 1750 - 1990

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I. Einßhrung

forgotten« heißt im Englischen der bittere Kommentar zu einem solchen Geschehen (vgl. Witzlum/Solomon 1992, 585). Abbildung 2 basiert ganz auf schwedischem Material. Wiederum sind zwei Entwicklungen über einen Zeitraum von weit über 200 Jahren festgehalten. Zum einen geht es um die Lebenserwartung von Männern und Frauen bei der Geburt, zum anderen um die Säuglingssterblichkeit, gemessen in der Zahl der Gestorbenen im ersten Lebensjahr pro 1000 Geborene. Vor allem in historischen Zeiten sollten diese beiden Angaben stets gemeinsam betrachtet werden. So ergibt sich aus den schwedischen Quellen für die ganze zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts einerseits eine Säuglingssterblichkeit von rund 200 pro 1000. Andererseits lag die Lebenserwartung bei der Geburt 1750-1790 für beide Geschlechter bei 35,2 Jahren. Es versteht sich von selbst, daß die hohe Zahl verstorbener Säuglinge - jeder fünfte blieb nicht einmal bis zum Ende seines ersten Jahres am Leben - die »durchschnittliche« Lebenserwartung stark reduzierte. Wer die ersten 12 Monate hinter sich brachte, hatte wesentlich bessere Aussichten, »im Durchschnitt« länger am Leben zu bleiben. Zu Beginn des zweiten Altersjahres betrug die Gesamtlebenserwartung 44,4 Jahre. Mit 15 erreichte sie 56,9 Jahre, mit 50 68,9, mit 65 75,3 und mit 80 schließlich 84,7 Jahre (Historisk statistik för Sverige 1969, 118). Was wir bei einem Vergleich der »durchschnittlichen« Lebenserwartung zwischen früher und heute somit stets mit bedenken müssen, ist die ehedem völlig andere Verteilung der Sterbefälle. Ein mit wenigen Monaten verstorbener Säugling und ein Greis von 70 lebten »im Durchschnitt« 35,2 Jahre. 35,2 Jahre »im Durchschnitt« für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts meint somit keineswegs, daß die meisten Menschen damals nur etwa 35 Jahre alt geworden wären. Die Abbildungen 3 und 4 sowie 7 bis 9 basieren auf deutschem Quellenmaterial. Hervorgegangen sind sie aus den eigenen Forschungen der letzten Jahre. Wenn in den Abbildungslegenden nichts anderes vermerkt ist, beziehen sich die Angaben für die Zeit vor 1850 auf ein Untersuchungsgebiet, das sich aus sechs Teilregionen zusammensetzt. Es sind dies: (1) elf Kirchspiele in Ostfriesland, (2) Hartum in der norddeutschen Tiefebene mit vier Gemeinden, (3) die hessische Schwalm mit elf Ortschaften, (4) neun Kirchspiele mit einer großen Zahl von Filialorten im Saarland, (5) Herrenberg in Württemberg mit sechs sowie (6) die badische Ottenau am Oberrhein mit zwölf Gemeinden (vgl. die detaillierte Regionenbeschreibung von Kloke 1990, 85-187; die Untersuchungsergebnisse selbst in tabellarischer und graphischer Form: a. a. O., 189-464). Angaben für die Zeit danach nehmen Bezug auf das Deutsche Reich, auf die frühere Bundesrepublik und die ehemalige DDR bzw. auf das vereinte Deutschland (zu Umfang und Differenzierung vgl. den Dokumentationsteil in diesem Band). Abbildung 3 zeigt realiter, was wir oben zwecks »richtigen Lesens« von historischen Lebenserwartungsdurchschnitten gefordert hatten: die Mitberücksichtigung der Sterbealtersverteilung. Hier ist eine Aufgliederung nach Alter und Geschlecht - links Männer, rechts Frauen - für fünf ausgewählte Zeiträume zwischen 1740 und heute

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1840 - 49

Abb. 3: Verteilung der Sterbefälle nach Alter und Geschlecht in Deutschland: früherheute - und in Zukunft

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I. Einßhrung

vorgenommen, nämlich für die Jahrzehnte 1740-1749 und 1840-1849 sowie für die Jahre 1932, 1963 und 1989. In jeder Periode ergeben sämtliche Sterbefälle jeweils 100%. Die Querbalken umfassen Fünfjahresgruppen. Einzig zuunterst sind die O-ljährigen innerhalb der 0-5jährigen als Säuglingssterbefälle gesondert ausgewiesen. Die letzte Gruppe der über 85jährigen ist nach oben hin offen. Es können dort also auch Sterbefälle mit inbegriffen sein, die sich erst in einem Alter von 90, 95 oder 100 Jahren und mehr ereigneten. Beginnen wir bei der Teilgraphik für 1740-1749. Man braucht nicht lange hinzusehen, um die Fragwürdigkeit von Angaben über ein damaliges »durchschnittliches« Sterbealter oder eine »durchschnittliche« Lebenserwartung von - sagen wir auch nur vage - 30 oder 40 Jahren einzusehen. 31,1% aller Gestorbenen waren Knaben unter fünf Jahren, davon 18,6% unter einem Jahr. Bei den Mädchen waren es 26,3% und 15,0%. Insgesamt mußten im Jahrzehnt 1740-1749 somit 57,5% aller Verstorbenen in Kindersärgen auf den Friedhof getragen werden. Was für eine grausige Ernte an kaum zur Welt gekommenen Geschöpfen! Was die restlichen 42,5% Verstorbenen betrifft, verteilen sie sich erwartungsgemäß ziemlich gleichmäßig auf alle übrigen Alter. Meist waren es zwischen einem und zwei Prozent pro Altersgruppe und Geschlecht. »Mitten wir im Leben / sind vom Tod umgeben«. Diese noch heute geläufige Wendung ist nur eine unter vielen, die von jener damaligen Ungewißheit menschlicher Existenz zeugen, gleichgültig, ob sich jemand »in den besten Jahren« befand, ob davor, ob danach. Dutzende weiterer Wendungen finden sich allein in der Bibel, allesamt Belege eines über die Jahrhunderte, ja Jahrtausende bestehenden deplorablen Zustands: »Plötzlich müssen die Leute sterben« (Hiob 34, 20); »Lasset uns essen und trinken; wir sterben doch morgen!« (Jesaja 22,13); »Wahrlich, so wahr der Herr lebt und so wahr du lebst: es ist nur ein Schritt zwischen mir und dem Tode!« (1. Samuel 20, 3); »Bedenke, daß der Tod nicht auf sich warten läßt und daß du keinen Vertrag mit dem Tod hast« (Sirach 14, 12); »Darum wachet! Denn ihr wißt weder Tag noch Stunde« (Matthäus 25,13). Erst heute stimmt das so nicht mehr (zu Tod und Jenseits im [biblischen] Altertum vgl. verschiedene Beiträge in Binder/Effe 1991). Erneut fragt man sich konsterniert, wie es unter solchen Bedingungen zu einer Lebenstreppeneinteilung kommen konnte, die - zeichnerisch oder gereimt - die Menschen erst mit 100 Jahren ins Grab sinken ließ: »Zehen Jahr ein Kind, zwanzig Jahr ein Jüngeling, dreißig Jahr ein Mann ..., hundert Jahr Gnade bei Gott«. Ob wir darin eine Projektion von damals unerreichbaren Wunschvorstellungen sehen sollen? Oder ein formal normierendes Gerüst? In unseren Tagen jedenfalls, in denen wir dem alten Ziel näher denn je sind, denkt niemand mehr an 100jährige Lebenstreppen. Ihre geschwundene Popularität könnte sehr wohl mit der Verdrängung eines sich abzeichnenden Alptraums zusammenhängen (entsprechende Überlegungen bei Schuster, Mensch 1992; zur Lebenstreppe vgl. immer noch Joerißen u. a. 1983; in größerem Zusammenhang auch die einleitenden Kapitel in Conrad, Greis 1992). Die Bibel zeigt sich da jedenfalls realistischer: »Unser Leben währt siebzig Jahre, / und wenn

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es hoch kommt, sind es achtzig. Das Beste daran ist nur Mühsal und Beschwer, / rasch geht es vorbei, wir fliegen dahin« (Psalm 90,10). Ein weiteres Jahrhundert verging, ohne daß sich Entscheidendes getan hätte. Die zweite Teilgraphik in Abbildung 3 zeigt für das Jahrzehnt 1840-1849 im Prinzip noch immer dieselbe Sterbealtersverteilung wie 1740-1749. Bei genauerem Hinsehen stellt man jedoch fest, wie sich bestimmte Dinge anzubahnen beginnen. Zwar betreffen nach wie vor 41,6% aller Sterbefälle Kinder unter fünf Jahren (27,4% unter einem Jahr). Doch reichen diese Werte nicht mehr an die 57,4% (33,6%) von 100 Jahren früher heran. Auf der Zuwachsseite machen sich, wenn auch noch zaghaft, die höheren Alter bemerkbar. 5,4% der Gestorbenen erreichten 60-65 Jahre; 5,5% wurden 65-70 und 5,0% 70-75 Jahre alt. Ein Jahrhundert zuvor lagen diese Ziffern noch bei 3,4%, 2,6% und 2,1%. Da uns auch hier mehr die grundlegenden Abläufe und weniger die Details interessieren, können wir uns das Aufzählen weiterer Prozentwerte ersparen. Wer in Abbildung 3 den Blick von einer Teilgraphik zur nächsten wandern läßt, stellt die sich dabei abzeichnenden fundamentalen Veränderungen von selber fest. Der Graphikfuß wird immer schmaler und verschwindet schließlich fast ganz: Die jahrhundertealte Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit hat ausgespielt. Kindersärge sind heute nur noch in seltenen Fällen gefragt. Wahrscheinlich werden sie ausschließlich auf Bestellung angefertigt. Seinerzeit mußten sie stets vorrätig sein. Zeitgleich mit dem Verschwinden des breiten Fußes wuchs in den Teilgraphiken ein Sterbealtersbaum heran. Vor allem im Verlauf unseres Jahrhunderts wurde seine Krone immer ausladender. In der letzten Teilabbildung zeichnet sich für 1989 indes eine neue Merkwürdigkeit ab. Wie vor 250 Jahren die unterste, so zeigt nun die oberste Altersgruppe für sich allein die breitesten Balken (über 85). 1989 erreichten im vereinten Deutschland 22,3% aller Gestorbenen ein Alter von 85 und mehr Jahren. In absoluten Zahlen ausgedrückt befanden sich unter den insgesamt 903 441 damals Gestorbenen 201 773 Hochbetagte. Obschon eine solch kopfstehende Sterbealters Verteilung zuvor nie dagewesen war, endet Abbildung 3 nicht mit 1989. Vielmehr geht die Pfeilspitze bis zu einer jahreszahlenmäßig offenen Teilgraphik weiter. Es ist mir bewußt, daß Historiker beim Extrapolieren in die Zukunft vorsichtig zu sein haben. Es kann immer anders kommen als prognostiziert. Doch scheint mir hier auf Grund des kontinuierlichen Wandels, wie er sich für die 250 Jahre zwischen 1740 und 1989 abzeichnet, eine behutsame Extrapolation zumindest als Gedankenexperiment gerechtfertigt (vgl. Abb. 4). In dieser Abbildung repräsentieren die Sterbealtersverteilungen oben links und rechts den Anfangs- und den Endpunkt einer Entwicklung. Sie nehmen sich wie Spiegelbilder aus: Die rechte Graphik für den künftigen Zeitpunkt x (= ?) ist die auf den Kopf gestellte Altersverteilung von 1740-1749. Dazwischen vollzog sich, gekennzeichnet durch die Teile unten links und rechts sowie im Zentrum, sukzessive eine Drehung um 180 Grad.

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Abb. 4: Die Sterbealter auf den Kopf gestellt: Verteilung der Sterbefälle nach Alter und Geschlecht in Deutschland: früher - heute - und in Zukunft

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Betrachten wir vor diesem Hintergrund die derzeitige Gliederung der Sterbealter (für 1989), dann will uns scheinen, daß die langfristige Entwicklung noch nicht ganz an ihrem Ende angekommen ist. Sie wäre es, wenn der Sterbealtersbaum keine buschige Krone mehr aufwiese (wie noch für 1989), sondern oben in einen T-Balken mündete (wie für das Jahr x eingezeichnet). Wissenschaftler diskutieren eine solche mögliche Entwicklung schon seit Jahren. Am bekanntesten wurden in diesem Zusammenhang die umstrittenen Thesen der beiden Kalifornier James F. Fries und Lawrence M. Crapo aus den frühen 1980er Jahren. Sie sprachen von der »Rektangularisierung der Überlebenskurve« (Fries/Crapo 1981; zum Stand der Kritik vgl. verschiedene Beiträge bei Haan u. a. 1991). Damit ist gemeint, daß bei den aufeinander folgenden Generationen immer weniger Angehörige einer Kohorte vorzeitig sterben. Oder anders ausgedrückt: Sukzessive können immer mehr Menschen ihre biologische Lebenszeit zu Ende leben. Von 100 Geborenen werden 97, 98, 99, idealiter schließlich 100 - sagen wir - 85 Jahre alt. Erst dann fällt die zuvor waagrecht verlaufende Überlebenskurve steil, quasi rechtwinklig oder eben »rektangulär« ab. Praktisch alle Menschen sterben im gleichen sehr hohen Alter. Wieso »85 Jahre alt«? Oder 87 oder 90? Wer sagt, daß die kommenden Generationen dieselbe biologische Lebensspanne haben wie wir? Könnten in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten nicht Forschungsdurchbrüche bevorstehen, die zum Beispiel den genetisch vorprogrammierten Alterungsprozeß dramatisch verlangsamen? Nicht länger nur dieser oder jener Ausnahme-Mensch würde dann 120 oder 130 Jahre alt, sondern die »mittlere maximale Lebensspanne« aller Menschen würde sich auf diese Länge ausdehnen. Meine diesbezüglich angefertigte Abbildung 5 basiert auf neueren Publikationen der beiden Sozialwissenschaftler und Demographen Jacques Legare und Michel Loriaux. Sie wiederum beziehen sich auf schon früher vorgelegte Arbeiten von R. L. Walford über »Maximum Life Span« (L6gar6 1990; Loriaux 1991; Walford 1983; vgl. auch die Spezialbibliographie Bailey 1987).Jeder der vier Lebensphasen wurde schematisch ein Jahrzehnt hinzugefügt. Während derzeit Kindheit/Jugend, junges Erwachsenenalter, reifes Alter und Alter je etwa 20 Lebensjahre umfassen, wären es dann je 30, beim Alter sogar an die 40 Jahre. Entsprechend verschöben sich andere biologische Zäsuren. Da die Menopause nicht länger schon mit etwa 50, sondern erst mit etwa 80 einträte, könnten die Frauen natürlich auch bis dahin Kinder bekommen. Und Alterskrankheiten machten sich in größerem Ausmaße nicht mehr ab etwa dem sechsten Lebensjahrzehnt bemerkbar, sondern erst ab dem zehnten. Ich will mich hier weiterer Ausführungen enthalten. Wir kämen aus dem Debattieren und Spekulieren nicht mehr heraus: ob wir einen solchen Zustand überhaupt möchten, wer ihn bezahlen sollte, was wir mit den unendlich vielen Jahren (im Ruhestand?) anfangen würden? Doch selbst wenn es nicht zu einer solchen Expansion kommen und die »mittlere maximale Lebensspanne« auch fernerhin bei etwa 85 bis 90 Jahren verharren sollte: Wer wäre hauptverantwortlich für zumindest eine weitere Rektangularisierung der Überlebenskurve? Noch immer sterben nicht wenige Menschen vor ihrer Zeit. So

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waren 1989 im vereinten Deutschland 4,5% aller Verstorbenen (40 915 Personen) nicht älter als 55-60 Jahre und 9,1% ( 82 112) auch bloß 65-70. Wer also müßte in Zukunft dafür sorgen, daß auch solche Lebensläufe erst zwischen 85 und 90 enden? Die Betroffenen selbst, indem sie weniger rauchten, gesundheitsbewußter äßen, nur noch in Maßen tränken, sich mehr bewegten, disziplinierter Auto führen? Oder »die Gesellschaft«, indem sicherere Straßen und Autos gebaut, die Umweltverschmutzung drastisch reduziert, Lebensmittelzusätze noch schärfer unter die Lupe genommen, die Arbeitsplätze von Streß befreit, der Drogenanbau durch rentablere Alternativkulturen ersetzt, Gesundheitsaufklärung teilnahmepflichtig und Vorsorgeuntersuchungen für obligatorisch erklärt würden? Auf derlei Debatten soll hier nicht weiter eingegangen werden, zumal uns die Thematik im Zusammenhang mit späteren Graphiken (z. B. Abb. 15: »Rückgang der Säuglingssterblichkeit und Zunahme der Lebenserwartung: eine Verkettung von Ursachen«) nochmals einholen wird. So wie sich der obere Teil rechts in Abbildung 4 jetzt präsentiert, liest er sich für das Jahr x jedenfalls wie folgt. Der abschließende T-Balken umfaßt sämtliche Gestorbenen, die mindestens 85 Jahre alt wurden. Im Gegensatz zu allen unteren Alterssegmenten haben wir es hier nicht mit einer Fünfjahresgruppe zu tun. Sie ist, wie schon früher ausgeführt, gegen oben hin offen. Eine weitere Zunahme der gegenwärtigen »mittleren maximalen Lebensspanne« würde hier somit keinen Ausschlag ergeben, anders also, als bei einer Darstellung in Form von sich mehr und mehr ausbuchtenden Überlebenskurven (Fries/Crapo). Rechter und linker T-Balkenteil sind zudem gleich breit. Das deutet darauf hin, daß im Jahre x, im Gegensatz zu heute, gleich viele Männer wie Frauen ein Alter von mindestens 85 Jahren erreichten. 1989 waren im vereinten Deutschland 59 491 verstorbene Männer 85 Jahre und älter, dagegen 142 282 Frauen. Die T-Balken beider Geschlechter umfassen je 41,5% der Gesamtsterbefälle. Die übrigen zwei Mal 8,5% verteilen sich schematisch auf die zwei Mal 17 Fünfjahresgruppen Männer und Frauen von 0-5 bis 80-85 Jahre. Selbst unter optimalen Bedingungen werden die Menschen nie mit einer hundertprozentigen Lebensgarantie rechnen können, in welchem Alter auch immer sie stehen und welchem Geschlecht sie auch angehören. Es gibt Unfälle, es gibt Suizide, es gibt den Drogentod, es gibt neue Krankheiten, und seit Adams und Evas Zeiten gibt es Mord und Totschlag. Nach diesen ausholenden Erörterungen über den Wandel im Mortalitätsbereich ist es an der Zeit, sich Gedanken über das Geschehen auf dem Gebiet der Morbidität zu machen. Vor lauter Euphorie über den Rückgang der Sterblichkeit und die Zunahme der Lebenserwartung übersehen wir diesbezügliche Interdependenzen nur allzu gern - oder wir verdrängen sie, falls sie uns zu unangenehm sind. Schon der Titel von Abbildung 6 holt uns jedoch auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Er erinnert daran, »welcher Art die gewonnenen Jahre< sein können«, indem er auf das unterschiedliche »Mortalitäts- und Morbiditätsrisiko im Alter« hinweist. Tatsächlich ist leicht einzusehen, daß die Entwicklung von Mortalität und Morbidität keineswegs im Einklang erfolgen muß. Zu Zeiten der alten Infektionskrankheiten als hauptsächlich-

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Welcher Art die "gewonnenen Jahre" sein können: Mortalitäts- und Morbiditätsrisiko im Alter (Österreichische Bevölkerung über 60 Jahre 1987)

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tf

60-4 S5-9 70-4 75-9 80-4 8J+ Jahre

Abb. 6: Welcher Art die "gewonnenen Jahre" sein können: Mortalitäts- und Morbiditätsrisiko im Alter (Österreichische Bevölkerung über 60 Jahre 1987)

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I. Einßhrung

sten Todesursachen war eine Übereinstimmung zwischen beiden insofern eher gegeben, als jene Krankheiten alles menschliche Leben zu einer mehr oder weniger kurzen Angelegenheit machten und in der Regel auch den Sterbeprozeß auf wenige Tage beschränkten. Nach ihrer Eliminierung leben wir im allgemeinen länger, doch an den chronischen Leiden, die mittlerweile den breitesten Raum einnehmen, sterben wir häufig auch länger. Unvermittelt fragt man sich, was wir gewönnen, wenn wir einerseits zwar immer noch mehr Lebensjahre erhalten und noch älter würden, wenn andererseits aber die Schwelle der chronischen Gesundheitseinbußen, d. h. das Auftreten irreversibler Schäden oder der Ausbruch bösartiger Neubildungen, altersmäßig konstant bliebe? Ob dann nicht mancher trotz allem dem seinerzeitigen Muster kurzes Leben, kurzes Sterben - den Vorzug gäbe? Abbildung 6 ist einer Studie entnommen, die zwei österreichische Soziodemographen bei dem erwähnten Symposium über »Die Zunahme unserer Lebensspanne seit 300 Jahren - und die Folgen« 1991 in Berlin vorlegten (Kytir/Münz 1992). Zusätzlich referierte ein Sozial- und Präventivmediziner aus Bern über die analogen Verhältnisse in der Schweiz. Der Titel seiner Ausführungen lautete ähnlich: »Welcher Art ist das gewonnene Leben? Ein Beitrag zur Frage der Selbständigkeit und Abhängigkeit im Alter« (Abelin 1992). Angesichts der dieser gesamten Thematik innewohnenden Brisanz ist es heute kaum noch vorstellbar, daß eine Fachtagung auf dem Gebiet der »gewonnenen Jahre« ohne Diskussion über die divergierenden Mortalitäts- und Morbiditätsentwicklungen auskommt. Entsprechend umfangreich ist die Literatur. Interessierte finden in der Bibliographie eine Reihe neuerer Titel wie: »Lebensverlängerung und Morbidität« (Dahm 1992), »New Frontiers in Survival: The Length and Quality of Life« (Caselli/Egidi 1991), »Trading Off Longer Life for Worsening Health. The Expansion of Morbidity Hypothesis« (Olshansky u. a. 1991), »Die demographische Entwicklung und deren Auswirkungen auf Pflege-, Hilfs- und Versorgungsbedürftigkeit« (Rückert 1989), »Mortality and Health Dynamics at 01der Ages« (Myers 1989) oder - schon klassisch - »L'espérance de vie sans incapacité ä 65 ans: outil d'évaluation en santé publique« (Colvez/Robine 1983; Jean-Marie Robine von der Abteilung für »Epidémiologie, Vieillissement et Incapacités« am »Institut National de la Santé et de la Recherche Médicale« in Montpellier leitet die international aktive Forschergruppe REVES = »Réseau Espérance de Vie en Santé / Network on Health Expectancy and Disability Process«; vgl. ferner die noch immer grundlegenden Arbeiten von D. F. Sullivan (Mortality 1971, Component 1971). Wie aus Abbildung 6 hervorgeht, erreichten in Österreich 1987 mehr Frauen (links, rund 90%) als Männer (rechts, rund 80%) ein Alter von 60 Jahren und mehr. Die weibliche »Rektangularisierung der Überlebenskurve« ist somit auch hier, wie gewohnt, weiter fortgeschritten als die der Männer. Aber damit sind die Aussagen der beiden Graphikteile noch nicht erschöpft. Die diesbezüglich in der parallelen Schweizer Untersuchung nachzulesende Quintessenz ist augenöffnend genug, um nachdenklich zu stimmen. Wer (von uns Männern) hätte beim gegebenenfalls neidvollen Blick auf die größere Zahl von »gewonnenen Jahren« bei Frauen schon

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Überlebenden

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spontan daran gedacht, »daß offenbar der überwiegende Teil der bei Frauen gegenüber Männern erhöhten Lebenserwartung Jahre mit Aktivitätseinschränkung betrifft, so daß die behinderungsfreie Lebenserwartung bei beiden Geschlechtem etwa gleich groß ist«? (Abelin 1992, 104) Nicht ganz so drastisch fällt das Bild bei Kytir und Münz aus. Doch geben auch ihre Kommentare zu denken: »Ausgangspunkt aller Überlegungen ist die Überlebenskurve, die hier für das Jahr 1987 den Prozentsatz der bis zum jeweiligen Alter noch lebenden Personen eines Geburtsjahrganges zeigt. Die darunterliegende Kurve veranschaulicht, wie groß der Prozentsatz der Anstaltsbevölkerung (Volkszählung 1981) in den einzelnen Altersklassen ist. Die dritte Kurve ist die Pflegekurve. Sie veranschaulicht den Anteil derer, die nach den Ergebnissen des Mikrozensus 1987 in Privathaushalten lebten und von schweren funktionalen Behinderungen betroffen waren. Analog dazu veranschaulicht die innerste Kurve den Prozentsatz der funktional leichter behinderten, also der hilfsbedürftigen älteren Menschen. Die restliche Population sind Personen ohne funktionale Behinderungen. Schreibt man die Entwicklung der letzten 120 Jahre in die Zukunft fort, so läßt sich ein klarer Trend prognostizieren: Die Überlebenskurve nimmt immer mehr die Form eines Rechtecks an, und zwar deshalb, weil ein immer größerer Teil eines Geburtsjahres bis ins hohe Alter überlebt. Erst dann steigt die Sterbewahrscheinlichkeit stark an, und die Zahl der Überlebenden sinkt rasch. Zu fragen ist nun, ob und in welchem Ausmaß die Hilfs- und Pflegebedürftigkeit diesem Muster folgt. Vor allem im anglo-amerikanischen Raum wird die Diskussion über diese Fragen schon seit geraumer Zeit geführt, ohne daß sich befriedigende Antworten abzeichnen. Im Laufe der Debatte haben sich zwei völlig gegensätzliche Standpunkte herausgebildet. Anhand der von uns analysierten Daten lassen sich die konträren Positionen gut nachvollziehen. Kommt es auch in den unterhalb der Mortalität liegenden Bereichen zu einer Rektangularisierung, so werden die Pflegequoten - sieht man von der allerobersten Altersklasse ab - in Zukunft sinken. Die Alten der Zukunft würden gesünder, seltener morbid und damit zu einem geringeren Ausmaß von funktionalen Behinderungen betroffen sein als die Alten von heute. Diese längere Phase eines gesunden Lebens wäre, so der eine Standpunkt, die primäre Ursache einer weiterhin deutlich steigenden Lebenserwartung. Morbidität und Pflegebedürftigkeit würden unter dieser Bedingung auch in Zukunft auf das hohe Alter konzentriert bleiben. Die Vertreter der Gegenposition gehen davon aus, daß sich die Diskrepanz zwischen steigender Lebenserwartung und der Phase des gesunden Lebens vergrößern wird. Denn gerade durch die Fortschritte der Medizin bei der Behandlung akuter, unmittelbar lebensbedrohender Krankheiten vergrößerte sich die Häufigkeit späterer chronisch-degenerativer Leiden. Mit dem Zurückdrängen des Sterbens vor der Zeit und dem zunehmenden Einsatz lebensverlängernder medizinischer Maßnahmen könnte eine Verlängerung der Pflegephase vor dem Tod verbunden sein. Wir hätten dann zwar zusätzliche Lebensjahre gewonnen; aber der Preis wäre eine hohe Abhängigkeit von medizinischer Dauerintervention und eine geringere Lebensqualität

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I. Einßhrung

im letzten Lebensabschnitt. Die Pflegeproblematik würde sich damit in Zukunft gerade wegen einer durch Intensivpflege erhöhten Lebenserwartung verschärfen« (Kytir/Münz 1992,97-99). Vor allem die beiden Amerikaner George Alter und James C. Riley erinnern in diesem Zusammenhang immer wieder daran, daß medizinische Interventionen, denen wir im Verlauf unseres Lebens von Zeit zu Zeit ausgesetzt sind, keineswegs spurlos an uns vorbeigehen. Sie prägten dafür den Begriff »Insult accumulation«: »Eine Zunahme der Lebenserwartung meint nicht nur, daß mehr Menschen einer bestimmten Generation bis zu jeder Altersstufe am Leben bleiben, sondern auch, daß mehr unter diesen Überlebenden bei relativ schwacher Gesundheit sind« (Alter/Riley 1989, 31 f.). Riley nennt den zuletzt erwähnten Personenkreis »the new survivors«. Es handelt sich um Menschen, »die unter den neuen Bedingungen einer niedrigeren Sterblichkeit länger leben, als sie unter den älteren Bedingungen einer höheren Sterblichkeit gelebt hätten« (Riley 1990, 175). So kommt er zu dem Schluß, daß es eigentlich zwei »Health transitions« gegeben habe, und daß sie sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt hätten (Riley 1990, 185; entsprechend betitelte er seine Studie mit »Long-Term Morbidity and Mortality Trends: Inverse Health Transition«; vgl. diesbezüglich die Kontroverse zwischen Riley 1992 und Johansson 1992). Anschließend an ihre demographischen Darlegungen betrachten Josef Kytir und Rainer Münz die damit verbundenen menschlichen Aspekte näher: »Auch bei generell sinkender Morbidität geraten wir im höheren Alter in eine letzte Lebensphase, in der das individuelle Risiko, zum Pflegefall zu werden, immer größer wird. Offen bleibt die Frage, wer sich um die Pflegefälle von morgen kümmern wird. Gewiß ist, daß künftig in Österreich mehr alte Menschen leben werden als heute. Wir wissen somit, daß die Zahl derer stark anwachsen wird, die dem Risiko ausgesetzt sein werden, im Alter pflegebedürftig zu sein. Heute erfolgt Pflege im Regelfall in der Familie. Zukünftig werden ältere Menschen auf Grund steigender Scheidungsraten und verringerter Kinderzahlen weniger nahe Verwandte haben als die Alten von heute. Absehbar ist eine wachsende Zahl alter >Singles< ohne unmittelbare Angehörige. Ihnen bleiben, wenn sie im Alter zu Pflegefällen werden, nur drei Alternativen: das Heim, mobile Pflege- und Sozialdienste oder der Aufbau eines tragfähigen sozialen Netzes, das die Familie ersetzen kann« (Kytir/Münz 1992,101). Theodor Abelin zeigt sich in seiner Schweizer Studie zwar ähnlich skeptisch gegenüber blauäugiger »Familien«-Nostalgie, schlägt dann allerdings einen »Alternativ«-Ton an, der aufhorchen läßt: »Ob die von vielen herbeigesehnte Rückkehr zu vermehrter Betreuung hilfebedürftiger Betagter durch ihre Familien eine realistische Lösung darstellt, bleibt abzuwarten. Doch auch andere Möglichkeiten wie etwa eine allgemeine Zivildienstpflicht (für Männer und Frauen) als Alternative zur Militärdienstpflicht stehen zur Diskussion« (Abelin 1992, 115; der letzte Punkt wird entschiedener vertreten bei Fahrländer 1991 und 1992). Kommen wir nach diesen, vor zu großer Euphorie warnenden Denkanstößen nochmals auf den Wandel in der Sterbealtersverteilung während der letzten 100 Jahre

Die neuen Überlebenden

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in Deutschland zurück. Abbildung 7 weicht insofern von den früheren Darstellungen ab, als hier die Altersgruppensegmente für beide Geschlechter zusammengefaßt nach links weisen. Läßt man den Blick chronologisch von einer Teilgraphik zur nächsten wandern, erhält man den Eindruck eines harmonisch verlaufenden sukzessiven Wandels. Der Fuß der Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit wird immer kleiner, der Zugewinn in höherem Alter größer. Zieht man jedoch die angegebenen Zeitpunkte mit in Betracht, stellt man fest, daß im Laufe der Zeit eine Beschleunigung des Wandels stattgefunden hat. Am Anfang liegen die gewählten Jahre dreimal so weit auseinander wie am Schluß: 1855 - 1885 - 1905 - 1925 - 1955 - 1965 - 1975 - 1985. Dieser Sachverhalt kommt in der Teilgraphik ganz oben noch deutlicher zum Ausdruck. Dort entspricht die Zeitachse linear dem Ablauf von 1855 bis 1985. Die beiden Kurvenverläufe zeichnen einerseits den Rückgang der Säuglingssterblichkeit von 23,0% im Jahre 1855 auf 0,8% 1985 und andererseits die Zunahme der Lebenserwartung von 37,2 auf 74,6 Jahre nach. Hier wird deutlich, daß sich beide Werte noch während der ganzen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts relativ geringfügig geändert haben. Erst in unserem Jahrhundert überstürzten sich die Entwicklungen im einen wie im anderen Fall. Eine der meist zu wenig bedachten Folgen in diesem Zusammenhang wird in Abbildung 8 deutlich. Eingetragen ist für die Gebiete des Deutschen Reichs, der ehemaligen BRD (oben) und DDR (unten) der Zeitpunkt, zu welchem die zwischen 1855 und 1935 geborenen Generationen mindestens zur Hälfte ihr 60. Lebensjahr erreichten. Wie ersichtlich erfolgte in beiden Regionen ein Durchbruch nicht vor 1955 (Frauen) bzw. 1965 (Männer). Auf deren Geburtsjahrgänge zurückberechnet meint das die Frauen ab 1895 und die Männer ab 1905. Hieraus folgt nicht nur, daß der massenhafte Durchbruch des Dritten Alters - setzen wir es einmal generell mit 60 Jahren an - eine junge, eine Nachkriegserscheinung ist, sondern es heißt auch, daß dessen Zustandekommen im wesentlichen auf dem Lebenswerk von Generationen beruht, deren früheste kurz vor oder um die Jahrhundertwende und deren späteste gegen Ende der Zwischenkriegszeit geboren wurde. Zugespitzt formuliert: Es sind die Generationen des Ersten Weltkrieges sowie der Weltwirtschaftskrise, die uns den Wohlstand brachten; es sind die Trümmerfrauen, die uns das Schlaraffenland bescherten - und mit Schlaraffenland und Wohlstand die Zunahme der Lebenserwartung sowie stets bessere Aussichten auf immer mehr Jahre im Dritten Alter. Und was sind hierbei »die zu wenig bedachten Folgen«? Kehren wir für einen Augenblick an den Anfang des Kapitels zurück. Dort hieß es: »Fernsehen und Hörfunk quellen über von Themen aus dem Alter(n)sbereich, ganz zu schweigen von den Publikationen auf dem Bücher- und Zeitschriftenmarkt«. Ich frage nun: Wer sind diese Medienleute, die sich zuhauf über das Alter(n) hermachen? Wer die Autoren von Büchern und Zeitschriftenartikeln? Ich frage nach deren Alter. Die allerwenigsten unter ihnen reden, schreiben, diskutieren aus eigener Erfahrung. Vielmehr gehört der Großteil dem Zweiten Alter an, dies schon deshalb, weil die meisten ihren diesbezüglichen Aktivitäten professionell nachgehen. Es sind Medienfachleute, Poli-

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I. Einßhrung

Abb. 7: Rückgang der Säuglingssterblichkeit, Zunahme der Lebenserwartung sowie prozentuale Verteilung der Sterbefälle auf die verschiedenen Altersgruppen, beide Geschlechter gemeinsam, in Deutschland 1855 - 1985 (berechnet nach den Periodentafeln)

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tiker, Spezialisten aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen, alle in den besten Jahren, mitten im Berufsleben stehend. Müßte uns diese Einsicht nicht mit Unbehagen erfüllen? Wie kommen diese Jüngeren dazu, über all die Älteren zu befinden, ihnen »gute Ratschläge« erteilen zu wollen, wenn nicht gar ihnen Vorschriften zu machen, was sie zu tun und was zu lassen hätten? Waren nicht sie - die Älteren - es selbst, die mit ihrem Lebenswerk, wie wir eben feststellten, dem Dritten Alter zum Durchbruch verhalfen? Wir Nachgeborenen (mich als Angehöriger des Jahrgangs 1939 inbegriffen) sind nur noch Aufrechterhalter, gegebenenfalls Mehrer des neugewonnenen Zustands, sind Nutznießer der verlängerten Lebenszeit. Erneut möchte ich einen hierüber nachdenklich gewordenen Referenten beim Berliner Symposium von Ende 1991 zu Wort kommen lassen, den Zürcher Sozialpädagogen Heinrich Tuggener (Jahrgang 1924): »Ich gestehe, daß ich mit Blick auf den zeitlich markant verlängerten Lebenslauf des Menschen am Ende des 20. und kurz vor Beginn des 21. Jahrhunderts entschieden Hemmungen habe, diese vergrößerte Lebensspanne noch als focus paedagogicus zu sehen.« Skrupel regten sich in ihm allerdings nicht nur, weil »das seit rund zweitausend Jahren bestehende und für alle Pädagogik als konstitutiv gehaltene Grundverhältnis des Altersgefälles (Ältere lehren Jüngere) ins Gegenteil verkehrt wird. Der Erwachsenenbildner und zumal jener, der sich mit alten Leuten befaßt, ist an Sachkompetenz überlegen, an Lebenserfahrung sicher und an Lebensklugheit großer Wahrscheinlichkeit nach ärmer.« Wichtiger noch schien ihm: »Ich komme in diesem Zusammenhang nicht von der Vermutung los, daß gerade die gestreckte Lebensspanne und insbesondere die Bestrebungen, immer mehr Leute zu einer aktiven Gestaltung des nachberuflichen Lebens hinzuführen, gelegentlich von der Tatsache des Endes abzulenken vermögen. Jenen, denen mit dem Ausblick auf jenseitige Erfahrungen keine innere Ruhe mehr verschafft werden kann, werden wir Wege zum heiter gelassenen Dasein angesichts sich täglich verknappender Zukunft erschließen müssen« (Tuggener 1992,231-233). Sehr viel schärfer reagierte im gleichen Zusammenhang ein anderer Vertreter meiner Zunft: der schon eingangs erwähnte Brite Peter Laslett, Mitbegründer der mittlerweile weltberühmten »Cambridge Group for the History of Population and Social Structure«. Da beim gleichen Symposium die dezidierten Stellungnahmen des Engländers ebenfalls erörtert wurden, findet sich die folgende Passage, eingebettet in einen größeren Gesamtzusammenhang, in der Einleitung zum Tagungsband wieder: »1989 erschien Peter Lasletts Monographie >A Fresh Map of Life. Hie Emergence of the Third AgeResearch Unit on AgeingUniversity of the Third Age< gründen half. Wie manch andere Sozialhistoriker und Historiker-Demographen verdanke ich Peter Laslett, mit dem ich seit Jahren freundschaftlich verbunden bin, außerordentlich viel an Anregungen und Ermun-

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I. Einßhrung Anzahl Männer und Frauen der Jahrgänge 1855-1935 in Deutschland, die je 1000 mindestens ihr 60. Altersjahr erreichten je 1000

r 1855 1915

1865 1925

1875 1935

1885 r 1945 L

Jahrgänge

1895 1955

1905 1965

1915 1975

1925 1985

1935 1995

1915 1975

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1935 1995

60jährig im Jahr

je 1000

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Jahrgänge

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60jährig im Jahr

Abb. 8: Das massenhafte Dritte Alter: eine junge Erscheinung! - Anzahl Männer und Frauen der Jahrgänge 1855 - 1935 in Deutschland (in den jeweiligen Grenzen, Deutsches Reich und nach dem Zweiten Weltkrieg BRD und DDR), die je 1000 ihrer Altersgruppe das 60. Lebensjahr erreichten

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Überlebenden

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terungen. Und doch unterscheiden wir uns in einigen prinzipiellen Aspekten grundlegend. Ich erwähne dies hier nicht, um irgendwelche persönlichen Beziehungen zu offenbaren, sondern um aufzuzeigen, wie sehr es auf das eigene Alter eines jeden Historikers ankommt, der in unseren Tagen zum Thema Alter Stellung nimmt. Peter Laslett gehört dem Dritten Alter an, ich selbst dem Zweiten. Als erstes fällt auf, daß er eine Gliederung in ein Drittes und ein Viertes Alter in der mittlerweile vielfach üblichen Weise nicht gelten lassen will, wonach beide je etwa hälftig zuerst die besseren und dann die möglicherweise weniger guten Jahre des späten Lebens umfassen. Nach ihm sollte das Dritte Alter möglichst nur aus guten Jahren bestehen. Das Vierte Alter, das es in seiner Terminologie zwar auch gibt, meint bei ihm ausschließlich die letzte Lebensphase, gekennzeichnet durch völlige Abhängigkeit aus Altersschwäche: >The Fourth Age of true dependency and decrepitude< (Laslett 1989, 96-106). Entsprechend kurz sollte diese Spanne ausfallen: >Final illness - terminal morbidity - will tend to become compressed within that concluding interlude, that is within our Fourth Age< (a. a. 0., 57; andere bezeichnen dieses Laslettsche >Fourth Age< bereits als Fünftes Alter, während sie die vorangehende Unterteilung in Drittes und Viertes Alter beibehalten; so spricht Loriaux von einer concentration des maladies dégénératives de la vieillesse et des incapacités les plus débilitantes sur une petite période de la vieillesse, à la fin d'un cinquième âge assez brefRectangularization of the Survival Curve< und der damit einhergehenden Kompression of morbidity< nur gelegen kommen (Fries/Crapo 1981). Vor allem aber gehört Laslett jenem Dritten Alter seit Jahren selber an. Schon im ersten Satz der Einleitung betont er: >This book on ageing belongs wholly to the later life of its author< (Laslett 1989, 77-95). Er zählt sich selbst zu jener Generation, die das Dritte Alter als Massenphänomen herbeigeführt hat: >Those who have recently retired from careers in medicine, social services and administration have made the greatest contribution to the rise in expectation of life, and thus have helped to bring the Third Age into being< (a. a. 0., 196). Sie waren in ihren eigenen >besten Jahren< des Zweiten Alters dermaßen hiermit beschäftigt, daß ihnen für anderes, insbesondere eine Vorbereitung auf das Dritte Alter, gar keine Zeit blieb. Jetzt, wo sie endlich von ihren Alltagsverpflichtungen weitgehend befreit seien, wäre es nicht mehr als recht und billig, daß sie selbst bestimmten, was sie tun und was sie lassen wollten. Niemand habe das Recht, ihnen hierbei Vorschriften zu machen (a. a. O., 198). Mehr noch: >It is the duty of the elderly to work out and maintain a code of theory and practice in this matter, in consultation with their juniors and with professionals who will carry out the action, but final responsibility should be reserved to themselves. It is inequitable to leave

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I. Einführung

this issue entirely to the younger generation and to medical men, as seems to be the present situation. The creation of such a code is the duty of such institutions as the University of the Third Age< (a. a. O., 198). Dies betrifft ausdrücklich auch: >An even more conspicuous example of their duties which are also their rights can be illustrated by euthanasia - the purposeful ending of life when that is necessary< (a. a. O., 198). Man mag unter dem im Englischen weniger diskreditierten Begriff Euthanasie, dem deichten SterbenSterbehilfe< verstehen, andererseits aber auch das Recht, seinem eigenen Leben durch Suizid ein Ende zu setzen, ohne im nachhinein von der Umgebung dafür gebrandmarkt zu werden. Nachdem er auf diese Weise vorerst sozusagen Freiraum für das Dritte Alter geschaffen hat, sieht Laslett durchaus spezifische Aufgaben für die Angehörigen dieses Alters, so etwa die Pflege und Weitergabe traditioneller kunstgewerblicher Fertigkeiten, für die das Zweite Alter weder die Zeit habe, noch dafür - wenn professionell betrieben - bezahlt werden könnte (a. a. O., 200). Dasselbe träfe weitgehend auch zu im Hinblick auf die >Pflege des kulturellen Lebens unserer Nation. Die Menschen im Dritten Alter hätten Zeit, um Poesie zu lesen - oder zu schreiben, um Bilder anzusehen - oder solche zu malen, um Konzerte zu besuchen - oder selbst ein Instrument zu spielen. Alle diese Dinge in Muße zu tun und nicht unter Zeitdruck, wäre essentiell für die eigene wie die gesellschaftliche Kultivierung< (a. a. O., 201). Zusammenfassend meint Laslett fast euphorisch: >Those in the Third Age could come to be exponents, advancers, indeed practitioners of the humanities< (a. a. 0., 202). Zeit oder vielmehr Freizeit zu haben und sie zu nutzen, sei nicht länger das Privileg einer Elite. >It is becoming a commodity of millions of our citizens, our elderly citizens, those in the Third Age< (a. a. O., 202). So schreibt ein Historiker und Historiker-Demograph, der selbst bereits im Dritten Alter steht, der nicht nur miterlebt hat, wie es zustande kam, sondern der als Angehöriger der um oder kurz nach der Jahrhundertwende geborenen Generationen auch wesentlich zu dessen massenhafter Ausbreitung beigetragen hat und nun frustriert nicht nur die vielen unvorteilhaften Stereotypen über das Dritte Alter zur Kenntnis nehmen muß, sondern ebenso, daß andere, allermeist noch im Zweiten Alter Stehende wie ganz selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen, auch über das Dritte Alter das Sagen zu haben. Nach Laslett ist dies eine Anmaßung sondergleichen. So dreht er denn den Spieß um und plädiert für eine völlige Selbstgestaltung, mit inbegriffen die starke Betonung eigener Verantwortlichkeiten. >A Fresh Map of Life< ist ein Buch über das Dritte Alter, geschrieben von jemandem im Dritten Alter, für Angehörige des Dritten Alters - gemeint und aufzufassen auch als Warnung an andere, sich da ungebeten einmischen zu wollen. Wieviel prinzipielles Verständnis ich für das Anliegen von Laslett auch habe und ich ihm deshalb hier Platz für eine Reihe ausführlicher Zitate einräumte, so geht mein eigenes Anliegen letztlich doch in eine andere Richtung. Wenn es nicht so überheblich klänge, würde ich sagen, daß es sogar weit über dasjenige von Laslett hinausgeht. Für mich, wie für alle von uns, die wir im Zweiten Alter stehen, meint das

Die neuen Überlebenden

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Thema >Zunahme der Lebenserwartung < bereits nicht mehr, wie noch für den Briten, vor allem >Emergence of the Third Agenormal life course< is being massively reorganized« (Kohli/Rein 1991,1). Diese vermehrte Freizeit läßt sich auf verschiedene Weise nutzen. Man kann sie zum Beispiel überwiegend für »körperliche Belange« einsetzen: Tennis spielen, Ski laufen, joggen, wandern, schwimmen, schlafen, basteln, Eß- und Trinkgelage veranstalten oder an solchen teilnehmen (vgl. Abb. 28 mit den anschwellenden Kreisdiagrammen auf Bauchhöhe). Man kann die Zeit aber auch mehr geistig-kulturell

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I. Einßihrung

Lebenszeit und Freizeit: gestern - heute - morgen

370 000 ca. Stunden

ca. Stunden

Abb. 27: Lebenszeit und Freizeit: gestern - heute - morgen

Die neuen Überlebenden

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nutzen: für ein Zweit-, Neben-, Teilzeit-, Eigenstudium, für nicht berufsbezogene Weiterbildung, für schöngeistige, (populärwissenschaftliche, philosophische Lektüre, für Museums- oder Ausstellungsbesuche, für die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen oder die Ausübung einer künstlerischen Tätigkeit (vgl. Abb. 29 mit den größer werdenden Köpfen). Wer sich an den Inhalt von Abbildung 6 erinnert, wird beim Wählen nicht völlig beliebig vorgehen. Titel und Untertitel jener Graphik gaben zu bedenken, welcher Art die »gewonnenen Jahre«, insbesondere die »Mortalitäts- und Morbiditätsrisiken im Alter« sein können. So lange die Rektangularisierung der Morbiditätskurve nicht mit der Rektangularisierung der Mortalitätskurve übereinstimmt, sondern früher und stärker abfällt, so lange nehmen die Aussichten, daß wir in höherem und hohem Alter hilfs- und pflegebedürftig werden, exponentiell zu. Entsprechende Belege wurden uns oben auf Grund österreichischen Materials aus den 1980er Jahren für Frauen wie für Männer jenseits des 60. Lebensjahrs vor Augen gehalten. Jeder kann dort seine eigenen »Aussichten« ablesen, indem er die auf ihn zutreffende Lebenserwartung (Abb. 11) zugrunde legt. In Deutschland betrug sie 1990 für Männer 70,2 und für Frauen 76,8 Jahre. 2019 sollen es, je nach »Niedrig«- oder »Hoch«-Szenario, zwischen 72,5 und 78,0 bzw. zwischen 79,0 und 83,0 Jahre sein. Ob es angesichts dieser Aussichten wirklich klug ist, die vermehrte Freizeit in seinen »besten Jahren« nur für körperliche Belange einzusetzen, anstatt - wie es uns die Kombination der Abbildungen 6 und 29 in Abbildung 30 nahelegt - vorausschauend zumindest einen Teil in geistig-kulturelle Aktivitäten zu investieren? Gewiß kann eine sportliche Betätigung, maßvolles Joggen, häufigeres Zufußgehen und Treppensteigen den körperlichen Alterungsprozeß günstig beeinflussen. Aufhalten läßt er sich nicht. Ebenso mögen regelmäßige körperliche Aktivitäten das Risiko mindern, (frühzeitig) hilfs- und pflegebedürftig zu werden. Eliminieren läßt auch dieses sich nicht. Doch selbst dann, wenn die Beschwerden des Alter(n)s überhand nehmen, selbst wenn der Fall von Hilfs- oder Pflegebedürftigkeit eintreten sollte, braucht bei jenen Menschen nicht alles verloren zu sein, die auf tief verwurzelte geistig-kulturelle Interessen zurückgreifen können und einen (neuen) Halt in ihnen finden. Die Reduktion körperlicher Kapazitäten muß nicht einhergehen mit einer Abnahme geistiger Fähigkeiten. Auf tief verwurzelte Interessen sinnstiftender Art vermag allerdings nur zurückzugreifen, wer sie in jungen Erwachsenenjahren in sich geweckt und ein Leben lang gepflegt hat. Zu keinem früheren Zeitpunkt waren die Chancen, dies zu tun, gleichermaßen günstig wie heute. Wir haben nicht nur mehr Freizeit, die wir hierfür einsetzen können. Schon die Plattform, von der aus wir in jugendlichem Alter jenen Endpunkt anvisieren können, liegt angesichts einer besseren Schidung und ( A u s b i l dung auf höherem Niveau denn je zuvor. Die Nutzung unzähliger materieller und immaterieller Güter und der Zugriff auf Wissen und Kenntnisse aller Art sind uns heute in einem Ausmaß und auf eine Weise möglich, die noch vor kurzem als undenkbar galt. Säkularisierung, Demokratisierung, Individualisierung, verbunden

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I. Einfuhrung

Mehr Freizeit: Einsatz nur für körperliche Belange?

um 1900 ca. 50 Lebensjahre

um 1980 ca. 70 Lebensjahre

um?? ca. 80 Lebensjahre

Abb. 28: Mehr Freizeit: Einsatz nur für körperliche Belange?

Die neuen

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Überlebenden

Mehr Freizeit: Mehr Muße für geistig-kulturelle Belange?

um 1900 ca. 50 Lebensjahre

um 1980 ca. 70 Lebensjahre

um ? ? ca. 80 Lebensjahre

Abb. 29: Mehr Freizeit: Mehr Muße für geistig-kulturelle Belange?

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I. Einführung

mit politischer Stabilität, mit Wertepluralismus, Mobilität und Lebenssicherheit bescheren uns beinahe unbegrenzte Möglichkeiten und Freiheiten. Wann hätten mehr Menschen jemals größere Chancen gehabt, sich zu entfalten und selbst zu verwirklichen, als dies heute bei uns der Fall ist? Bei uns, ja. Doch kommen wir zum Schluß nochmals auf den Aspekt der Mundialisierung zurück, eines der wichtigen Kettenglieder in Abbildung 17. Sofern wir uns an die dortigen Ausführungen halten, meint das nichts anderes, als daß wir das, was bislang erörtert wurde, noch unter globalen Vorzeichen reflektieren sollten. Es geht bei Forschungen, die in Europa zwar »historisch« sein mögen, die anderswo aber für Millionen aktuelle Relevanz und Brisanz haben, nicht an, im Geschichtlichen zu verharren und sich so der Verantwortung für die Gegenwart zu entziehen. Die folgenden Abbildungen sind in der Absicht entstanden, diesbezüglich wachzurütteln. Sie alle basieren auf den Weltbevölkerungsprognosen der Vereinten Nationen von 1990 (United Nations, Prospects 1991). Dieses umfangreiche Zahlenmaterial enthält detaillierte Angaben zur Fruchtbarkeit, zur (Säuglings-)Sterblichkeit, zur Lebenserwartung von Männern und Frauen sowie zur Bevölkerungsgröße, und zwar sowohl für die Welt insgesamt als auch für die einzelnen Weltteile, für 22 verschiedene Großregionen und schließlich der Reihe nach für alle Länder der Erde. Berücksichtigt werden stets die 75 Jahre zwischen 1950 und 2025. Während die Zeit von 1950 bis 1985 durch »reale« Zahlen dokumentiert ist, gibt es für die Jahre von 1985 bis 2025 stets drei Entwicklungsvarianten. Ihnen liegen, wie oben den EUROSTAT-Prognosen für die Zwölfergemeinschaft, unterschiedliche Annahmen bezüglich der Fruchtbarkeit, der Sterblichkeit und der Wanderungen zugrunde. Ich selbst beziehe mich in den Graphiken durchweg auf die mittlere Variante. Aus Abbildung 31 geht hervor, daß die Weltbevölkerung Mitte 1990 5,3 Milliarden Menschen zählte. Die jährliche Zunahme beträgt derzeit 1,7%, eine Rate, die seit 1975 praktisch unverändert geblieben ist. 1965 bis 1970 hatte sie noch bei 2,1% gelegen. Die »medium variant projection« geht nun davon aus, daß sich diese 1,7%Rate noch bis 1995 unverändert halten wird. Anschließend rechnet man mit einer sukzessiven Abnahme: 1,6% für den Zeitraum 1995-2000, 1,5% für 2000-2005, 1,2% für 2010-2015 und 1,0% für 2020-2025. Gemäß dieser Mittelvariante würde die Weltbevölkerung bis zum Jahre 2000 auf 6,3 Milliarden und bis 2025 auf 8,5 Milliarden anwachsen. Bei der Hoch-Variante, die von einer langsameren Abnahme der Fruchtbarkeit ausgeht, wären es 2025 sogar 9,4 Milliarden, bei der Niedrig-Variante mit einer rascheren Abnahme zum gleichen Zeitpunkt 7,6 Milliarden. Daß es hierbei große regionale Unterschiede gibt, versteht sich von selbst. Während etwa der gesamteuropäische (also nicht bloß EUR12-)Anteil an der Weltbevölkerung zwischen 1950 und 1990 von 15,6% auf 9,4% zurückging und 2025 noch 6,1% betragen dürfte, lauten die entsprechenden Zahlen für Afrika 8,8%, 12,1% und 18,8%. Nordamerika und die ehemalige UdSSR sanken bzw. sinken fast im gleichen Takt von 6,6% und 7,2% über 5,2% und 5,4% auf 3,9% und 4,1%. Asien blieb und bleibt

Die neuen

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Überlebenden

Der Lebensplan: Die Eventualitäten der späten Jahre mitbedenken

um 1980 ca. 70 Lebensjahre

um 1900 ca. 50 Lebensjahre

eD 0

Überlebende in Anstalten

1960/64 72,6 76,8 pflegebedürftig 1990 2019 79-83

um?? ca. 80 Lebensjahre

eD 0 1960/66 67,2 1990 70,2 2019 72,5-78

hilfsbedürftig 60-4 65-9 70-4 75-9 80-4 85+ Jahre

60-4 65-9 704 75-9 80-4 85+ Jahre

Abb. 30: Der Lebensplan: Die Eventualitäten der späten Jahre mitbedenken

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I. Einßhrung

anteilmäßig relativ stabil (54,7%, 58,8% und 57,8%). Lateinamerika schließlich wuchs und wächst verhältnismäßig moderat von 6,6% über 8,5% auf 8,9%. So wichtig es ist, sich diese insgesamt explosive Zunahme der Weltbevölkerung auch ein Ergebnis zunehmender Lebenserwartung! - sowie die damit verbundenen Probleme stets aufs neue vor Augen zu führen (gemäß der »medium variant« von 2516 Millionen 1950 auf 8504 Millionen 2025 = Zunahme um das 3,4fache in 75 Jahren!), dürften doch die folgenden Graphiken für ausgewählte einzelne Länder (in alphabetischer Reihung) wegen ihrer größeren Faßlichkeit noch mehr zu denken geben. (Wer kann sich 2516 bzw. 8504 Millionen Menschen schon vorstellen?) In Anlehnung an Abbildung 2 zeigen die Abbildungen 32 bis 49 jeweils oben die Entwicklung der Lebenserwartung für Männer und Frauen von 1950/55 bis 2020/25 und unten den gleichzeitigen Rückgang der Säuglingssterblichkeit. Außerdem ist die Zunahme der Bevölkerung zwischen diesen beiden Zeitpunkten angegeben. Um hier die Extreme hervorzuheben: Die Einwohnerzahl Kenias (Abb. 40) wuchs in diesen 75 Jahren um das 12,7fache (das quasi Dreizehnfache!), in den ehemaligen Bundesländern (Abb. 36) dagegen nur um das l,lfache. Andere »explodierende« Populationen sind Malawi (Abb. 43) mit dem 8,5fachen, Madagaskar (Abb. 42) mit dem 8,lfachen und Somalia (Abb. 47) mit dem 7,8fachen. Beinahe stagnierende oder zumindest langsam wachsende Bevölkerungen haben dagegen Schweden (Abb. 46) mit dem 1,2fachen und Japan (Abb. 39) mit dem 1,5fachen. Auch die USA (hier nicht abgebildet) mit einer Verdoppelung würden hierzu rechnen. Im Mittelfeld liegen Länder wie Sri Lanka (Abb. 48) mit dem 3,2fachen, Thailand (Abb. 49) und Indien (Abb. 37) mit je dem 4fachen, Brasilien (Abb. 33) mit dem 4,6fachen und Malaysia (Abb. 44) mit dem 4,9fachen, im oberen Mittelfeld die Philippinen (Abb. 45) mit dem 5,3fachen und Bangladesh (Abb. 32) mit dem 5,6fachen. Was die Säuglingssterblichkeit betrifft, ist der Rückgang besonders spektakulär in China (Abb. 34) von 195 auf 9 je 1000 Neugeborene, in Thailand (Abb. 49) von 132 auf 9, in Malaysia (Abb. 44) von 99 auf 8, auf Kuba (Abb. 41) von 82 auf 8, in Sri Lanka (Abb. 48) von 91 auf 9, in Kenia (Abb. 40) von 150 auf 23 und auf Madagaskar (Abb. 42) von 245 auf 47. Entsprechend drastisch nahmen bzw. nehmen die Lebenserwartungen zu: in Japan (Abb. 39) von 63,9 auf 81,4 Jahre, auf Kuba (Abb. 41) von 59,4 auf 77,0, in Costa Rica (Abb. 35) von 57,3 auf 76,5, in China (Abb. 34) von 40,8 auf 76,8, auf Madagaskar (Abb. 42) von 37,7 auf 67,5, in Indonesien (Abb. 38) von 37,5 auf 72,6 Jahre. Vergleicht man diese gegenwärtigen Entwicklungen mit den historischen in Europa, wie sie in den Abbildungen 2 für Schweden 1750-1990, 7 für Deutschland 1855-1985 und 18 für die Schweiz 1880-1990 zum Ausdruck kamen, dann zeigt sich, daß manche außereuropäischen Länder ihr Ziel in der Hälfte der Zeit, wenn nicht noch rascher erreichen (wollen). In Deutschland betrug die Lebenserwartung bei der Geburt 1855 37,2 Jahre, 1985 74,6 Jahre. Für diese Verdoppelung brauchte es 130 Jahre. In Indonesien lag sie 1950/55 bei 37,5 Jahren; 2020/25 will man dort bei 72,6 Jahren angelangt sein. Das wäre fast eine Verdoppelung in 70 Jahren.

Die neuen

Überlebenden

Verteilung der Weltbevölkerung (in MIO) ehem. UdSSR Afrika Ozeanien^ Lateinamerika

1950

Europa

Nordamerika

2516 MIO =100%

'—China

Rest-Asien Indien

1990

Ozeanien

ehe

5292 MIO =100%

i m - u d S S R Afrika

Europa K— Lateinamerika

Nordamerika

Rest-Asien-

"China

Indien 2 0 2 5

OzeanienehfmUdSSR Europa^ Nordamerika

8504 MIO .Afrika

=100%

-Lateinamerika Rest-Asien-

China

Indien

Abb. 31: Verteilung der Weltbevölkerung nach Großregionen 1950, 1990 und (gemäß "medium variant") 2025, absolut und in Prozent

92

I. Einführung

Wir hatten weiter oben, vor allem im Zusammenhang mit den Abbildungen 15 bis 17, immer wieder betont, daß bei uns im Zuge dieser Verdoppelung nicht nur ein länger lebender, sondern auch ein anders lebender Mensch, ein Mensch mit einem anderen Bewußtsein herangewachsen sei. Die Frage ist, ob und in wieweit sich auch dieser Wandel andernorts in viel kürzerer Zeit und unter oft weitaus ungünstigeren Bedingungen wiederholen wird? Sollte das nicht oder nur teilweise der Fall sein, besteht die Gefahr, daß sich die dortigen Anstrengungen, einen möglichst weiten Personenkreis in den »Genuß« zusätzlicher Jahre zu bringen, vielfach kontraproduktiv auswirken. Bei manchen der mit »gewonnenen Jahren« bedachten Menschen liefe es möglicherweise auf wenig mehr als auf eine Daseinsverlängerung in Armut und Trostlosigkeit hinaus, wenn nicht gar auf ein immer ausgedehnteres elendes Dahinvegetieren. Bei uns zeigten in Abbildung 16 sämtliche Pfeile einträchtig nach oben. Doch anderswo? Zum Beispiel in Bangladesh, Somalia, Malawi, Kenia, in Brasilien, Indonesien, Thailand, wo es nur in einzelnen Bereichen aufwärts geht (z. B. bei der Lebenserwartung), während andere stagnieren oder sich gar rückläufig entwickeln (soziale Netzwerke, Wirtschaft, Arbeitsmarkt, Ernährungslage, Ausbildung, Wissenschaft, Forschung, kultureller Sektor, Sicherheit)? Schon 1985 machte der Präsident der Indischen Gesellschaft für Bevölkerungsforschung, Ashish Bose, auf die daraus resultierenden Probleme in seinem Lande aufmerksam: »From the demographic point of view, Kerala is the most modern state in India, but I do not see much future for Kerala considering the low level of per capita income. Demographic modernisation without money power can only lead to frustration« (Kerala hat traditionell die niedrigste Säuglingssterblichkeit, die höchste Lebenserwartung, die höchste Quote lesekundiger Frauen und proportional die meisten älteren Menschen aller indischen Gliedstaaten, gehört gleichzeitig aber zu den armen Regionen). Noch bedrückender sind die Prognosen, die uns aus Afrika erreichen, vor allem aus den Ländern südlich der Sahara. »Africa has gone from classical colonialism to neocolonial debt bondage. The former epoch, it must be said, constituted some form of system while the latter is a hybrid of decay and anarchy. We hope that whatever debt management programmes are adopted will truly empower the ordinary people to enable them control and live meaningful lives rather than accelerate the decline of the continent. As Africa enters the last decade before the year 2000 A. D. which holds the promise of health of all, we hope for the former development but fear for the latter« (Ogoh Alubo 1990, 647). Wie könnte man die düsteren Aussichten lapidarer zusammenfassen, als es ein zweiter Kenner tut: »The economic situation in SubSaharan Africa makes it almost impossible to think of a better tomorrow for the aged in these countries« (Oshomuvwe 1990, 661). »Gewöhnliche Menschen in die Lage versetzen, ein sinnvolles Leben zu führen«, nannte der nigerianische Soziologe Ogoh Alubo als das Ziel. Hier berühren sich die Wunschvorstellungen von Vierter Welt und Erster Welt. Doch obwohl die Voraussetzungen unterschiedlicher nicht sein könnten, haben auch bei uns viele Menschen

Die neuen Überlebenden

93

Probleme, aus ihrem Leben ein sinnvolles Leben zu machen. Schon von der Zweiten und Dritten, erst recht aber von der Vierten Welt aus gesehen befinden wir uns im Paradies. Uns steht reichlich zur Verfügung, wonach die andern vergeblich trachten: viele Lebensjahre von hoher Qualität, breitgestreute Verfügbarkeit über Güter und Dienstleistungen, allgemeiner Zugang zu Bildung, geregelte Freizeit, soziale Absicherung. Und doch sollen wir im Vergleich zu früher bzw. anderswo nur die Probleme getauscht haben? Eingangs stießen wir auf den Hinweis, daß es eine solche Situation (so viele gute Lebensjahre für so viele Menschen) bei uns zuvor noch nie gegeben hat, und daß es sie außerhalb unserer industrialisierten Welt auch sonst nirgendwo heute gibt. Wir können folglich an keiner Stelle nachsehen, wie die damit verbundenen Probleme am besten gelöst werden, sondern müssen uns selbst an diese Arbeit machen. Haben wir das getan? Haben wir auch nur ernsthaft damit begonnen? Mir kommt es in vielen Bereichen nicht so vor. Hier gilt es, zuerst bei uns Entwicklungsarbeit zu leisten. Erst dann können wir allenfalls andernorts, wenn wir danach gefragt werden, mit »guten Ratschlägen« aufwarten. Selbst will ich mich an der Bewältigung dieser Aufgabe beteiligen, indem ich gleichzeitig mit diesem Beitrag zwei einrahmende Kapitel für ein zweites Buch schreibe. Während hier die bundesministeriell geforderte Zahlendokumentation anschließt, folgt dort eine Antwort auf die gleichfalls bundesministeriell gestellte Frage: »Wie erreichen wir ein neues Gleichgewicht?« (Das Forschungsprojekt trägt insgesamt, wie schon zitiert, den Titel: »Die Zunahme der Lebensspanne seit 300 Jahren und die Folgen. Oder: Gewonnene Jahre - verlorene Welten: Wie erreichen wir ein neues Gleichgewicht?«) Anhand von zwei umfassenden Kapiteln werden zwei fundamentale Aspekte behandelt. Ihr Ziel ist es, möglichst viele Leser zum Nachdenken darüber anzuregen, wie sie selbst zu einem solchen neuen Gleichgewicht finden können. Die Überschrift des einen Kapitels lautet: »Schmunzelnd zufriedene Menschen - obwohl sie wenig zu schmunzeln hatten: Porträts des Holländers Frans Hals (1582/83-1666)«, diejenige des zweiten: »Granatäpfel in der Kunst des Abendlandes. Vom Siegeszug eines orientalischen Motivs oder: Von den Aufgaben eines Historiker-Demographen in heutiger Zeit« (Anfangs- und Schlußkapitel im zweiten Symposiumsband »Erfüllt leben - in Gelassenheit sterben«, Berlin: Duncker & Humblot 1994 [im Druck]). In den Porträts von Frans Hals begegnen wir Menschen aus den Anfängen unserer 300jährigen Untersuchungsperiode. Sie lebten alle noch in einem jener Jahrhunderte der schlechten alten Zeiten, die voll von »Pest, Hunger und Krieg« waren. Würden wir da nicht eigentlich erwarten, daß sie mit leeren Augen, verängstigt, mißtrauisch, abgehärmt, verbittert in die Welt blicken? Doch tun sie das in keiner Weise. Vielmehr sehen wir »schmunzelnd zufriedene Menschen - obwohl sie wenig zu schmunzeln hatten«. Schon eher begegnen wir heute allenthalben versteinerten Mienen, obwohl wir uns - verglichen mit jenen erbärmlichen Tagen - im Paradies wähnen müßten. Stimmt mit uns etwas nicht? Die paar ungewissen Jahre auf Erden waren

94

I. Einführung

damals ebenso wenig gleichbedeutend mit einem armselig tristen Leben, wie es unsere vielen guten Jahre heute mit einem erfüllten langen Leben sind. Wie dieses uns neu gestellte Ziel zu erreichen ist, will das »Granatapfel«-Kapitel aufzeigen. Einerseits leitet es dazu an, unser eigenes abendländisches Kulturerbe neu zu heben. Es richtet Fragen an übersehene offene wie verborgene Schätze, und zwar in einer Art und Weise, daß aus den Antworten Erfüllung erwachsen kann. Andererseits wird darin bedacht, daß unsere europäische Welt, global betrachtet, immer ungewichtiger wird (vgl. nochmals Abb. 14). Weshalb angesichts zunehmender Mobilität und Mundialisierung da nicht auch die reichen Schätze anderer Kulturen für sich fruchtbar machen und dabei zur Kenntnis nehmen, daß wir hieraus nicht nur enorm viel lernen, sondern genauso viel Erfüllung für unser eigenes langes Leben schöpfen können. Der vorliegende Beitrag richtet sich, nicht anders als die erwähnten Beiträge im zweiten Buch, an uns alle. Praktisch ohne Ausnahme gehören wir heute zu jenen »neuen Überlebenden«, von denen hier wie dort die Rede ist. Bei den vielen gewonnenen Jahren handelt es sich um unsere Jahre, die es von jedem einzelnen zu erfüllten zu machen gilt. Anhand der folgenden Kapitel kann sich ein jeder nicht nur leicht Rechenschaft darüber ablegen, wieviele Jahre er oder sie im Vergleich zu Generationen gewonnen hat, die vor 20, 50, 100, 200 Jahren lebten. Wichtiger noch ist anschließend das Reflektieren darüber, was aus diesen zusätzlichen Jahren gemacht wurde und wird, ob sich der Zugewinn gelohnt hat, ob wir die gewonnenen Jahre auch wert sind. Wie oben bereits angekündigt, folgen als Abschluß nun in alphabetischer Reihenfolge die graphischen Darstellungen von Säuglingssterblichkeit und Lebenserwartung für 18 Länder. In der oberen Hälfte wird stets die Entwicklung der Lebenserwartung bei der Geburt für Männer, Frauen sowie beide Geschlechter gemeinsam gezeigt. Die untere bringt parallel dazu die Entwicklung der Säuglingssterblichkeit zum Ausdruck. Alle Graphiken betreffen denselben Zeitraum von 1950 bis 2025. Die Entwicklung ins nächste Jahrtausend hinein basiert auf den Vorgaben der »mittleren Variante«. Ausgewählt wurden die Länder Bangladesh, Brasilien, China, Costa Rica, Deutschland (die alten Bundesländer), Indien, Indonesien, Japan, Kenia, Kuba, Madagaskar, Malawi, Malaysia, die Philippinen, Schweden, Somalia, Sri Lanka und Thailand. Gewiß gibt es auch am Ende der Periode noch immer gewaltige Unterschiede in der ILebenserwartung. Während ein Neugeborenes im Jahre 2025 zum Beispiel in Somalia mit 59 und in Malawi nur mit 61 Lebensjahren wird rechnen können, so in Deutschland mit 79,4, in Schweden mit 80,7 und in Japan gar mit 81,4 Jahren. Die Differenz beträgt zwei volle Jahrzehnte! Ich möchte den Leser in die selbständige Betrachtung der 18 abschließenden Graphiken entlassen, indem ich nochmals Titel und Kapiteleinteilungen dieses Beitrags in Erinnerung rufe: »Die neuen Überlebenden: gestern - heute - morgen, in Deutschland, Europa, weltweit. Die demographische Dimension: mehr Jahre; die menschliche Dimension: bessere Jahre«. Jeder Leser sollte nun in der Lage sein, sich

Die neuen Überlebenden

95

seine eigenen Gedanken über die unterschiedlichen Abbildungsinhalte zu machen. Demographische Entwicklungen sind getreue Spiegelbilder; sie trügen nicht. Wir haben Realitäten vor uns.

96

I. Einführung

Abb. 32: Säuglingssterblichkeit sowie Lebenserwartung bei der Geburt für Männer, Frauen und beide Geschlechter gemeinsam 1950/55-2020/25 sowie Einwohnerzahl 1950 und 2025 in Bangladesh

Die neuen Überlebenden

97

Abb. 33: Säuglingssterblichkeit sowie Lebenserwartung bei der Geburt für Männer, Frauen und beide Geschlechter gemeinsam 1950/55-2020/25 sowie Einwohnerzahl 1950 und 2025 in Brasilien

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I. Einführung

Abb. 34: Säuglingssterblichkeit sowie Lebenserwartung bei der Geburt für Männer, Frauen und beide Geschlechter gemeinsam 1950/55-2020/25 sowie Einwohnerzahl 1950 und 2025 in China

Die neuen Überlebenden

99

Abb. 35: Säuglingssterblichkeit sowie Lebenserwartung bei der Geburt für Männer, Frauen und beide Geschlechter gemeinsam 1950/55-2020/25 sowie Einwohnerzahl 1950 und 2025 in Costa Rica

100

I. Einßhrung

Abb. 36: Säuglingssterblichkeit sowie Lebenserwartung bei der Geburt für Männer, Frauen und beide Geschlechter gemeinsam 1950/55-2020/25 sowie Einwohnerzahl 1950 und 2025 in den alten Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland

Die neuen Überlebenden

101

Abb. 37: Säuglingssterblichkeit sowie Lebenserwartung bei der Geburt für Männer, Frauen und beide Geschlechter gemeinsam 1950/55-2020/25 sowie Einwohnerzahl 1950 und 2025 in Indien

102

I. Einßhrung

Lebenserwartung bei der Geburt in Indonesien 1950-2025

Säuglingssterblichkeit in Indonesien 1950-2025

Abb. 38: Säuglingssterblichkeit sowie Lebenserwartung bei der Geburt für Männer, Frauen und beide Geschlechter gemeinsam 1950/55-2020/25 sowie Einwohnerzahl 1950 und 2025 in Indonesien

Die neuen Überlebenden

103

Abb. 39: Säuglingssterblichkeit sowie Lebenserwartung bei der Geburt für Männer, Frauen und beide Geschlechter gemeinsam 1950/55-2020/25 sowie Einwohnerzahl 1950 und 2025 in Japan

104

I. Einßhrung

Abb. 40: Säuglingssterblichkeit sowie Lebenserwartung bei der Geburt für Männer, Frauen und beide Geschlechter gemeinsam 1950/55-2020/25 sowie Einwohnerzahl 1950 und 2025 in Kenia

Die neuen Überlebenden

105

Abb. 41: Säuglingssterblichkeit sowie Lebenserwartung bei der Geburt für Männer, Frauen und beide Geschlechter gemeinsam 1950/55-2020/25 sowie Einwohnerzahl 1950 und 2025 in Kuba

106

I. Einßhrung

Abb. 42: Säuglingssterblichkeit sowie Lebenserwartung bei der Geburt für Männer, Frauen und beide Geschlechter gemeinsam 1950/55-2020/25 sowie Einwohnerzahl 1950 und 2025 in Madagaskar

Die neuen Überlebenden

107

Abb. 43: Säuglingssterblichkeit sowie Lebenserwartung bei der Geburt für Männer, Frauen und beide Geschlechter gemeinsam 1950/55-2020/25 sowie Einwohnerzahl 1950 und 2025 in Malawi

108

I.

Einführung

Lebenserwartung bei der Geburt in Malaysia 1950-2025 Jahre

80

76,7

60

Gesamt

Pop. 1950: 6,1 MIO

Männer Frauen 1950

1965

1975

1985

1995

¿ T V * Pop. 2025: 30 MIO 2005

2015

2025

u

Säuglingssterblichkeit in Malaysia 1950-2025 300

200

/

99

0

1950

1965

1975

1985

1995

2005

2015

2025/

2025

Abb. 44: Säuglingssterblichkeit sowie Lebenserwartung bei der Geburt für Männer, Frauen und beide Geschlechter gemeinsam 1950/55-2020/25 sowie Einwohnerzahl 1950 und 2025 in Malaysia

Die neuen Überlebenden

109

Lebenserwartung bei der Geburt auf den Philippinen 1950-2025

Säuglingssterblichkeit auf den Philippinen 1950-2025

Abb. 45: Säuglingssterblichkeit sowie Lebenserwartung bei der Geburt für Männer, Frauen und beide Geschlechter gemeinsam 1950/55-2020/25 sowie Einwohnerzahl 1950 und 2025 auf den Philippinen

110

I. Einflhrung

Abb. 46: Säuglingssterblichkeit sowie Lebenserwartung bei der Geburt für Männer, Frauen und beide Geschlechter gemeinsam 1950/55-2020/25 sowie Einwohnerzahl 1950 und 2025 in Schweden

Die neuen Überlebenden

111

Abb. 47: Säuglingssterblichkeit sowie Lebenserwartung bei der Geburt für Männer, Frauen und beide Geschlechter gemeinsam 1950/55-2020/25 sowie Einwohnerzahl 1950 und 2025 in Somalia

112

I. Einführung

Abb. 48: Säuglingssterblichkeit sowie Lebenserwartung bei der Geburt für Männer, Frauen und beide Geschlechter gemeinsam 1950/55-2020/25 sowie Einwohnerzahl 1950 und 2025 in Sri Lanka

Die neuen

Überlebenden

113

Abb. 49: Säuglingssterblichkeit sowie Lebenserwartung bei der Geburt für Männer, Frauen und beide Geschlechter gemeinsam 1950/55-2020/25 sowie Einwohnerzahl 1950 und 2025 in Thailand

II. Quellen und Methoden

Die Quellen und Methoden der Mortalitätsuntersuchung Hans-Ulrich Kamke

Die Herkunft der Quellen, die der hier vorgelegten Datensammlung zugrunde liegen, ist im Unterschied zum Vorläuferband (Imhof u. a. 1990) regional bedeutend weiter gestreut. Dieses hängt mit mehreren Tatsachen zusammen: Zum einen war beabsichtigt, für einen kürzeren Zeitraum das Ortssippenbuchmaterial einer der alten Untersuchungsregionen, nämlich der württembergischen Region um Herrenberg, 1 weiter aufzuarbeiten, um den Anschluß an die Daten des Vorgängerprojektes herzustellen. Zum anderen sollte für die Zeit nach dem umfassenden Einsetzen der amtlichen Statistik, d. h. ab ca. 1850, gedrucktes Material aus diesem Bereich benutzt werden. Was noch zu der erheblichen räumlichen und teilweise auch zeitlichen Streuung des Datenmaterials beigetragen hat - mit dem hier herangezogenen schwedischen Material aus Umeä wird bis in das 18. Jahrhundert zurückgegriffen - ist der Umstand, daß neben außerdeutschem Material, das hauptsächlich zu Vergleichszwecken in die Sammlung einbezogen wurde, auch weiteres deutsches Datenmaterial bearbeitet und veröffentlicht werden konnte. 2 Neben den Daten, auf deren Grundlage Kohorten- und Periodensterbetafeln berechnet wurden, werden hier erstmals umfangreiche Tafeln zur Veränderung des Todesursachenspektrums im Deutschen Reich und in der DDR veröffentlicht, die wie die Daten für Deutschland in seiner Gesamtheit auf Studien von Rembrandt D. Scholz beruhen. 3 Das außerdeutsche Datenmaterial kommt aus Norwegen und Schweden. Für Norwegen ist es dem Bereich der amtlichen Statistik entnommen und deckt den Zeitraum von 1846 bis 1980 ab (Borgan 1983); für Schweden stammt es aus den umfangreichen Datensammlungen der Demographischen Datenbank in Umeä 4 (DDB = Demografiska Databasen) und umfaßt den Zeitraum von 1740 bis 1900.5 Mit diesen Be-

1

Zur Region Herrenberg vgl. den Beitrag von Wedel-Schaper in diesem Band; dort auch die weitere Literatur zu dieser Region.

2

Das Deutschland in seiner Gesamtheit abdeckende Datenmaterial stammt von Scholz; zu einer Beschreibung seiner Quellengrundlagen und Berechnungsmethoden s. u.

3

Vgl. dazu den Beitrag von Scholz in diesem Band.

4

Zu einigen Aspekten des Aufbaus der Datenbank vgl. Demographie Data Base: Retrieval. Umeä: Umeä University o. J.

5

Zum schwedischen Datenmaterial insgesamt, seiner genauen regionalen Herkunft sowie dem Aufbau der Datenbank in Umeä vgl. den Beitrag von Brändström u. a. in diesem Band sowie ergänzend die Ausführungen weiter unten.

118

II. Quellen und Methoden

ständen wird ein Zeitraum abgedeckt, der etwa dem entspricht, den die gesamte Berliner Datenbank beinhaltet,6 wobei deren Material jedoch noch ins 17. Jahrhundert zurückgeht.7 Ziel des Projektes war es, für Deutschland Sterbetafeln sowohl in Perioden- als auch in Kohortenform8 über einen längeren Zeitraum zu erstellen und damit zugleich Anschluß zu finden an Forschungen in anderen Ländern, wo bereits vor mehreren Jahren solche Tafeln erarbeitet worden sind, zum Beispiel in England mit Wales (Case u. a. 1962, 1970), in Schweden (Bolander 1970), in den USA (Moriyama/Gustavus 1972), in Finnland (Kolari 1980), in Norwegen (Borgan 1983), in Belgien (Veys 1983) und in Japan (Kobayashi/Nanjo 1985,1988). 9 Die hier veröffentlichten Kohorten- und Periodentafeln sind nach den Methoden berechnet und erstellt worden, die im Vorgängerprojekt beschrieben und angewandt worden sind, sofern sie auf vergleichbaren Quellen beruhen.10 Zusammenfassend gesagt besteht die Methode darin, durch eine Verschiebung der q x -Werte entlang der Zeitachse aus den Kohortentafeln die Periodentafeln zu bilden, um die q x -Werte in den Zeitraum zu verschieben, in dem das Sterberisiko tatsächlich auftritt.11 Dieses Verfahren fand jedoch nur Anwendung bei den uns als »Rohdaten« zur Verfügung stehenden Materialien, wo die Sterbetafeln von uns selbst berechnet wurden; die Tafeln für Norwegen und Deutschland in seiner Gesamtheit wurden von ihren Bearbeitern nach anderen, jedoch vergleichbaren Prinzipien erstellt.12 Mit den Tafeln in diesem Band und in der Veröffentlichung des Vorgängerprojektes (Imhof u. a. 1990) werden für Deutschland aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln Informationen zur Mortalitätsentwicklung geboten: mit dem »Blick von oben« Daten für Deutschland in seiner Gesamtheit, mit dem »Blick aus der Mitte« Daten auf Regierungsbezirks- und später auf Länderebene und mit dem »Blick von unten« schließlich Daten aus Ortssippenbüchern (Kirchenbüchern) und von Standesämtern,

6

Zur Berliner Datenbank vgl. auch Kamke/Scholz 1992.

7

Für den ersten Teil der Berliner Datenbank, der bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts reicht, vgl. Imhof u. a. 1990. In Berlin ausgewertet und damit, wenn auch nur indirekt, ein Teil dieser Datenbank wurden auch die Kirchenbücher von St. Nikolai in Berlin-Spandau für die Zeit von 1720 bis 1860, vgl. Gehrmann 1986. Für eine demographische Untersuchung des alten Stadtkerns von Berlin vgl. auch Schultz 1992.

8

Zu den Unterschieden zwischen Kohorten- und Periodentafeln, den methodischen Problemen und der historischen Entwicklung vgl. u. a. Gehrmann/Roycroft 1990, 51-55, sowie Esenwein-Rothe 1982, 226-230.

9

Die deutschen Forschungen besonders von Schwarz 1963, Höhn 1983, Dinkel 1984, 1992 und Bomsdorf 1993 haben bisher sonst kaum einen Niederschlag in der Veröffentlichung von Kohorten- und Perioden-tafeln gefunden.

10 Zur Berechnung von amtlichen Sterbetafeln vgl. für das Beispiel Deutschland z. B. Meyer/Rückert 1974, die Allgemeine Sterbetafel für die Bundesrepublik Deutschland 1970/72 sowie zur Berechnung von Sterbetafeln allgemein z. B. Namboodiri/Suchindran 1987. 11 Vgl. Gehrmann/Roycroft 1990, 55-57, 76, wo das Verfahren beschrieben und diskutiert wird. 12 Zu Norwegen vgl. den Beitrag von Borgan in diesem Band und Borgan 1983; für Deutschland vgl. diesen Beitrag weiter unten.

Mortalitätsuntersuchung

119

wobei das Material der letzten Gruppe einen kürzeren Zeitraum umfaßt als das der beiden anderen Gruppen. Mit dem vollständigen Datenmaterial wird nicht nur die Mortalitätsentwicklung der Zeit von etwa 1850 bis in die Gegenwart überschaubar, sondern die Entwicklung der letzten 300 Jahre, so daß dieses Material nun als Paradigma für die Sterblichkeitsentwicklung wenn nicht im nördlichen Europa so doch in Deutschland gelten kann. Auf der Grundlage des umfangreichen deutschen Quellenmaterials lassen sich jetzt »lange Reihen« der Sterblichkeitsentwicklung übersehen, wobei in Abhängigkeit von den benutzten Quellen auch Aussagen zum Beispiel zu Veränderungen der Todesursachenstruktur, zu regionalen Unterschieden sowie zur alters-, schichten- und geschlechtsspezifischen Mortalität getroffen werden können; dies gilt besonders für die Daten, die auf der Grundlage von Ortssippenbüchem gewonnen wurden.13

Das Material aus den Ortssippenbüchern Wurden im Vorgängerprojekt die Daten durchweg aus Ortssippenbüchem - für Hamburg als Sonderfall aus Geschlechterbüchern - erhoben, so stand für dieses Projekt bereits bei der Konzeption fest, nur für einen kürzeren Übergangszeitraum mit diesem Material zu arbeiten. Mit den Ortssippenbüchem sollte nur der Zeitraum bis zum breiten Einsetzen der amtlichen Statistik in den verschiedenen alten Untersuchungsregionen überbrückt werden. Wegen der guten Qualität des Materials wurde aus der Gesamtheit der für die alten Untersuchungsgebiete zur Verfügung stehenden Ortssippenbücher14 die Region Herrenberg für eine Weiterbearbeitung ausgewählt und nach den gleichen Kriterien wie im Vorgängerprojekt erschlossen.15 Die Ortssippenbücher beruhen in ihrer Quellengrundlage auf einer systematischen Auswertung und familienmäßigen Zusammenstellung von Kirchenbüchern, die in ihrem Inhalt räumlich und zeitlich begrenzt sind. Diese sind in der »vorstatistischen Zeit«, d. h. vor Einführung der flächendeckenden amtlichen Statistik, fast die einzigen Quellen, aus denen Informationen zu Geburten, Heiraten und Sterbefällen von Einzelpersonen und Personengruppen zu gewinnen sind, wenn man von Leichenpredigten16 absieht, die jedoch nur Angehörigen bestimmter Schichten gewidmet waren und für einen bestimmten Zeitraum Gültigkeit haben.

13 Zu weiteren Auswertungsmöglichkeiten des Datenmaterials vgl. die ersten Überlegungen bei Gehrmann/Roy croft 1990, 79 f. 14 Zu den bereits im Vorgängerprojekt benutzten Quellen vgl. Gehrmann/Roycroft 1990, 57-62, bes. 61, Tab. 1: Die ausgewerteten Ortssippenbücher. 15 Die Aufnahme der Daten aus diesem Bereich hatte Rita Gudermann - Mitarbeiterin am Vorgängerprojekt übernommen, wofür ihr Dank zu sagen ist. Vgl. auch die Regionenbeschreibung für die Zeit nach 1850 von Wedel-Schaper in diesem Band.

120

II. Quellen und Methoden

Obwohl für Deutschland schon eine große Anzahl von Ortssippenbüchern veröffentlicht worden ist17 und kontinuierlich weiter erscheint ist es schwierig, aus diesem umfangreichen Bestand solche Bände auszuwählen, die für eine historisch-demographische Auswertung geeignet sind, da bestimmte Kriterien erfüllt werden müssen, wenn diese Veröffentlichungen Grundlagen für die Berechnung vitalstatistischer Daten sein sollen. Ausgewählt18 wurden aus dem Bestand der bisher veröffentlichten Ortssippenbücher Orte mit solchen Populationen, die eine Teilmenge des »Typs MF« nach Louis Henry19 darstellen, d. h. es wurden nur Ehepaare in die Untersuchung einbezogen, bei denen das genaue Heiratsdatum bekannt ist, beide Eltemteile im Ort geheiratet haben und nach Ende der Verbindung der überlebende Teil weiter im jeweiligen Untersuchungsgebiet verblieb (Gehrmann/Roycroft 1990, 63). Unter Berücksichtigung dieser Auswahlkriterien versprach die Bearbeitung der Ortssippenbücher der Region Herrenberg auch für den Zeitraum 1850-1875 erfolgreich zu sein, so daß beschlossen wurde, die Ortssippenbücher gerade dieser Region noch weiter auszuwerten, um den Zeitraum bis zum vollständigen Einsetzen der amtlichen Statistik mit diesen Daten zu überbrücken.20 Die Anzahl der erfaßten Personen für diesen Bereich stieg von insgesamt 27 915 um 5858 (= 20,99%) auf 33 773 Personen. Da sich durch die Vervollständigung des Datensatzes und kleinere Korrekturen bei den bisher veröffentlichten Zahlenangaben geringfügige Verschiebungen ergeben haben, werden für Herrenberg im Dokumentationsteil auch die korrigierten Tafeln für die Zeiträume aus dem Vorgängerprojekt abgedruckt und jeweils um die zusätzlichen Untersuchungszeiträume in die Gegenwart hinein verlängert. Die Korrekturen betreffen neben dem 18. hauptsächlich das 19. Jahrhundert. In ihrer Herkunft dem deutschen Ortssippenbuchmaterial vergleichbar und deswegen auch in diesem Abschnitt genannt sind die schwedischen Datenbestände der Demographischen Datenbank der Universität Umeä.21 Durch die Herkunft des zugrunde liegenden Quellenmaterials und den Inhalt dieser Quellen ermöglichen diese

16 Zur Quellengattung »Leichenpredigten« vgl. zusammenfassend Lenz 1990. 17 Für ein Verzeichnis der bisher veröffentlichten oder bearbeiteten Kirchen- und Ortssippenbücher im deutschsprachigen Raum vgl. u. a. Eger 1993, Henning/Wegeleben 1991, Ribbe/Henning 1990, 221-234, Heinzmann 1986 sowie immer noch Böser 1985, 1-48, Imhof 1977 und Knodel 1975, 288-324. Zu den historischen Entstehungszusammenhängen der Ortssippenbücher auch kurz Gehrmann/Roycroft 1990, 59-61. 18 Zu den Auswahlkriterien vgl. Gehrmann/Roycroft 1990, 62-66. 19 Henry/Blum 1988, 69 f., und auch Imhof 1977, 104. 20 Weiter ausgewertet wurden für den Zeitraum 1850-1875 die Ortssippenbücher folgender Gemeinden: Bondorf, Mötzingen, Nebringen, Oschelbronn, Tailfingen und Unterjettingen; vgl. auch Gehrmann/Roycroft 1990,61. 21 Für weitere Informationen, u. a. zur Demographischen Datenbank in Umeä, vgl. Brändström u. a. in diesem Band.

121

Mortalitütsuntersuchung

Daten nicht nur die Betrachtung von besonderen Ereignissen wie Geburt, Heirat und Tod von Einzelpersonen, sondern sie geben auch die Möglichkeit, vollständige Einzellebensläufe und Biographien von ganzen Familien zu erschließen, über einen längeren Zeitraum zu verfolgen und so zum Beispiel Aussagen über Wanderungsbewegungen zwischen einzelnen Kirchengemeinden einer Region und innerhalb von Kirchengemeinden zu treffen. Zum Vergleich mit dem deutschen Datenmaterial wurden aus dem umfangreichen Bestand an Informationen zu den über Schweden verstreuten Untersuchungsräumen22 die beiden im nördlichen Schweden liegenden Regionen23 Sundsvall und Skellefteä ausgewählt.24 In dem uns zur Verfügung stehenden Datensatz sind Informationen zu insgesamt 82 617 Personen enthalten, die sich wie folgt auf die beiden Regionen verteilen:

Region Sundsvall Skellefteä gesamt

Personen 12 207

Prozentanteile

70 410

14,78% 85,22%

82 617

100,00%

Abb. 1: Die schwedischen Untersuchungsregionen Mit den Daten aus diesen Regionen sind jedoch mehrere Probleme verbunden, die eng mit ihren Quellengrundlagen in Zusammenhang stehen.25 So fehlen für Skellefteä die Sterberegister für die Jahre vor 1815 und zwischen 1820 und 1831; sie fehlen ebenso für die Stadt Sundsvall vor 1860. Die Sterbefälle aus dem Material der Datenbank für diese Zeiträume stammen aus den Hausverhörsregistem, die wiederum für 22 Ausgangspunkt für die Arbeit der Demographischen Datenbank waren die Untersuchungsgebiete Nedertorneä, Svinnegarn, Trosa, Gulholmen, Locknevi und Fleninge. Gegenwärtig werden die folgenden Regionen bearbeitet: Skellefteä, Sundsvall und Linköping. Aus diesem Datenbestand haben wir eine Auswahl aus Skellefteä und Sundsvall herangezogen. Vgl. zu den schwedischen Untersuchungsregionen u. a. Nilsdotter Jeub 1993, 104 f. 23 Zu den beiden Regionen Sundsvall und Skellefteä und den dazugehörigen Gemeinden vgl. den Beitrag von Brändström u. a. in diesem Band. 24 Vgl. die Karten im Beitrag Brändström u. a. in diesem Band sowie die Karte bei Nilsdotter Jeub 1993. 25 Die Informationen zur Validität dieses Datenmaterials stammen von Anders Brändström und Gun Alm Stenflo von der DDB Umeä. Besonders Stenflo, die gegenwärtig eine Veröffentlichung zu den Problemen der Datenvalidität vorbereitet, ist für ihre prompten Auskünfte und Hilfestellungenen zu danken. Auf diesen Auskünften beruhen auch die folgenden Ausführungen. Die genannte Veröffentlichung wird im Frühjahr 1994 erscheinen: Stenflo, Gun Alm (1994): Demographic Description of the Skellefteä and Sundsvall Regions during the 19th Century (= Information from the Demographic Database 1). Umeä: Umeä University - Demographic Data Base.

122

II. Quellen und Methoden

die Todesfälle keine Primärquellen sind. Es fehlt in diesen Registern auch eine größere Anzahl von Sterbefällen; dieses trifft besonders auf jüngere Kinder zu. Mit den Daten aus Skellefteä gibt es weitere Probleme, da Norsjö 1811 und Jörn 1834 als Gemeinden selbständig wurden und neue Sterberegister sowie die entsprechenden Hausverhörsregister nicht zum gleichen Zeitpunkt einsetzen. Hierdurch kam es auch zu Doppel- und Mehrfachregistrierungen von Personen in verschiedenen Gemeinden. Es ist daher schwer zu entscheiden, welche Risikopopulationen in den Registern während der entsprechenden Zeiträume gemeint waren. Aus diesen Gründen und wegen weiterer Einschränkungen bei der Personenauswahl26 für den hier benutzten Datensatz werden die entsprechenden Tabellen nicht wie gewöhnlich mit den Neugeborenen begonnen sondern weit später. Der Schnitt wurde in Übereinstimmung mit den von Sundbärg veröffentlichten Sterbetafeln für die Jahre 1816-184027 so gelegt, daß die bestehenden Abweichungen für die fernere Lebenserwartung (ex) zwischen den Datengruppen in einer akzeptablen Höhe liegen.28 Die Grenze wurde bei den 30jährigen und einer Differenz von fast 11 Jahren bei der ferneren Lebenserwartung gelegt. Die Unterschiede, die im Vergleich zu denen von Sundbärg dann immer noch bestehen, dürften in regionalen Differenzen innerhalb des Landes, möglicherweise unterschiedlichen Erhebungsmethoden und in den unterschiedlichen regionalen Bezügen zu sehen sein, auf denen die Zahlen beruhen. Für die Berechnung der Sterbetafeln mit der SPSS-Prozedur »SURVIVAL« wur29

den die in den Rohdaten zu beobachtenden Geburts- und Todesjahre zu Gruppen zusammengefaßt, die jeweils einen Zeitraum von zehn Jahren umfassen. Daher erscheinen bei den aus Rohdaten erzeugten Datensätzen jeweils nur Geburts- und »Endejahrzehnte«, die den Todesjahrzehnten oder auch den Abwanderungsjahrzehnten aus der Untersuchungsregion entsprechen. Was die schwedischen Daten betrifft, erstrecken sich die Geburtsjahrzehnte auf einen Zeitraum zwischen 1700 und 1890, die durch Tod oder Abwanderung bedingten »Endejahrzehnte« auf den Zeitraum zwischen 1700 und 1910. Für die Berechnungen der im Dokumentationsteil abgedruckten Sterbetafeln konnten insgesamt nur 44 579 Personen (= 53,96%) herangezogen werden, da 38 038 Personen (= 46,04%) durch Abwanderung aus der Untersuchungsgruppe herausgefallen sind.

26 Entsprechend den Zielen des Projektes wurden aus dem Datenbestand hauptsächlich solche Personen ausgewählt, die wenigstens 60 Jahre alt geworden sind. 27 Sundbärg 1907/1970, 152 f.; vgl. auch Historisk statistik för Sverige 1969, 118. 28

Vgl. auch die entsprechende Vergleichstabelle sowie die dazugehörige Graphik. Die mit Mittelwert überschriebene Spalte zeigt das arithmetische Mittel der Jahrzehnte 1810-1820, 1820-1830, 1830-1840 und 1840-1850 aus den von uns berechneten Daten.

29 Dies trifft sowohl für die Materialien aus Schweden als auch für die aus Herrenberg und den deutschen Regionen zu.

123

Mortalitätsuntersuchung

Unterschiede in Lebenserwartungen für Schweden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Alter

Mittelwert

Sundbärg

Differenz

0 1

57,91 62,95

39,50 47,10

18,41

2

63,63 63,29

48,45 48,84

15,18

5

62,73 62,07

48,78 48,34

10 15 20 25

58,01 53,53 49,09 45,00

45,21 41,23 37,32

13,95 13,73 12,80 12,30

30 35

40,96 36,64

30,25 26,92

40 45 50 55 60 65 70 75 80

32,41

23,66 20,52

3 4

85 90 95

27,97 23,51 19,13 14,70 11,86 9,01 6,90 4,78 3,42 1,75 0,82

33,69

17,55 14,75 12,07 9,58 7,35 5,56 4,03 2,85 2,17 0,83

15,85 14,45

11,77 11,31 10,71 9,72 8,75 7,45 5,96 4,38 2,63 2,28 1,66 1,34 0,75 0,57 -0,42 -0,01

Abb. 2: Unterschiede in Lebenserwartungen für Schweden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

124

II. Quellen und

Methoden

Vergleich berechneter und veröffentlichter Angaben der ferneren Lebenserwartung in Schweden

Alter Mittelwert

Sundbälg

Differenz

Abb. 3: Vergleich berechneter und veröffentlichter Angaben der ferneren Lebenserwartung in Schweden

Das Material aus den Standesämtern Im Gegensatz zu Daten aus Kirchen- und auch aus Ortssippenbüchern, mit denen neben Informationen zu Geburt und Tod genaue Aussagen getroffen werden können zu so wichtigen Fragen wie Wanderungsbewegungen und Illegitimität oder auch dazu, wie sich Familien zusammensetzten, fallen bei Daten aus dem Bereich der Standesämter diese Informationen nicht an. Hierin ähneln sie dem Material aus dem Bereich der amtlichen Statistik, wo uns die Person auch nur einmal, nämlich als Todesfall, entgegentritt; nach ihrem Aggregationsniveau sind sie mit Daten aus Ortssippenbüchem jedoch vergleichbar, da die Zahlen in der veröffentlichten amtlichen Statistik in der Regel nicht detailliert genug auf die Ebene von Gemeinden hinuntergehen. In der Anfangsphase des Projektes war geplant, auch die Standesämter aus den Orten der alten Untersuchungsgebiete in die Datensammlung für den Zeitraum nach 1850 einzubeziehen, um mit den Ortssippenbüchern vom Aggregationsniveau her vergleichbare Informationen zu erhalten, die über die Informationen aus der amtlichen Statistik hinausgehen und möglichst weit in die Gegenwart hineinreichen. Dieser Plan scheiterte in seiner vollständigen Umsetzung jedoch an Fragen des Daten-

125

Mortalitätsuntersuchung

schutzes. Bei einer Reihe von Standesämtern bestand die Befürchtung, daß bei kleineren Amtsbezirken aus den Daten Rückschlüsse auf Einzelpersonen gezogen werden könnten, und diese Befürchtungen waren nicht auszuräumen. Nur zwei der Standesämter erklärten sich dazu bereit, uns Material zur Verfügung zu stellen, wobei sie sich der Mühe unterzogen, selbst die Daten aus den Standesamtsunterlagen herauszuziehen und uns auf Formblättern zuzusenden.30 Die vorliegenden Daten aus Ostfriesland und dem Saarland entsprechen daher eher einer Zufallsauswahl als einer Stichprobe oder gar einer systematischen Datensammlung. Nichtsdestotrotz geben die auf dieser schwachen Grundlage berechneten Sterbetafeln einen Einblick in das Sterblichkeitsgeschehen dieser beiden Räume. Die Daten aus dem Standesamtsbezirk Großefehn in Ostfriesland - er umfaßt die ehemaligen Standesämter Aurich-Oldendorf, Holtorp und Timmel - decken den Zeitraum von Oktober 1874 bis Dezember 1900 ab und liefern Sterbedaten für insgesamt 1456 Personen, von denen 742 Männer, 707 Frauen und 7 Personen unbestimmten Geschlechts sind. Die Daten enthalten weiter Informationen zu Familienstand, Beruf, soweit notiert Hinweise zur Todesursache, genauem Todesdatum und Sterbealter in Jahren, Monaten, Wochen und Tagen sowie den Eintrag »Totgeburt«. Auf die einzelnen alten Standesämter in diesem Bezirk verteilen sich die Personen, zu denen Informationen vorliegen, auf folgende Weise:

Ort Aurich-Oldendorf Holtorp Timmel fehlende Werte gesamt

gesamt

männlich

weiblich

362 483 604 7 1456

172 257 313

190 226 291

742

707

Abb. 4: Die ostfriesische Untersuchungsregion Nach den Geburtsjahrzehnten gruppiert verteilen sich die uns bekannten Sterbefälle auf den Zeitraum zwischen 1790 und 1900, wobei die meisten Angaben aus dem Geburtsjahrzehnt 1820-1830 stammen (220 Personen = 15,2%), gefolgt von dem Jahrzehnt 1890-1900 (208 Personen = 14,4%). Die älteste Person in diesem Standesamtsbezirk erreichte ein Alter von 94 Jahren. Über den gesamten Beobachtungszeit30 Für die Überlassung der Unterlagen, die Mühe des Zusammentragens und die unkomplizierte Zusammenarbeit sei an dieser Stelle den beiden Standesämtern Großefehn (Ostfriesland) und Völklingen (Saarland) gedankt.

126

II. Quellen und Methoden

räum überlebten die meisten das Säuglingsalter nicht (328 Personen = 22,5%). Bis zum Alter von fünf Jahren starben 31,4% der Personen und 50% der Population starb bis zu einem Alter von 43 Jahren. Umfangreicher und einen längeren Zeitraum abdeckend sind die Daten, die aus dem Standesamtsbezirk Völklingen - er umfaßt die ehemaligen Standesämter Geislautern, Lauterbach und Ludweiler - stammen. Sie umfassen den Zeitraum von 1850 bis 1973 und liefern Sterbedaten für 8413 Personen. Bei diesen Daten ist es jedoch häufig sehr problematisch, das Geschlecht der Gestorbenen zu bestimmen, da in unserer Quelle keine Vornamen erscheinen und nur in den wenigsten Fällen Berufe genannt werden, über die das Geschlecht bestimmbar wäre. Unter diesen Voraussetzungen sind in der Gesamtzahl der Fälle 2215 Männer und 59 Frauen feststellbar; bei 6159 Personen oder fast Dreiviertel des Datenbestandes lassen sich hingegen diesbezüglich keine Zuordnungen treffen. Wie für Ostfriesland enthalten auch diese Daten Informationen zu Sterbealter, Sterbejahr, Familienstand und Todesursachen.31 In die Auswertung einbezogen sind diese Informationen jedoch für keinen der Datensätze. Auf die einzelnen alten Standesämter in diesem Bezirk verteilen sich die Personen, zu denen Informationen vorliegen, auf folgende Weise:32

Ort

gesamt

männlich

Geislautern Lauterbach

1944

401 127

9 4

1534 602

Ludweiler

5735 1

1687

46

4002

fehlende Werte gesamt

8413

2215

59

6138

733

weiblich

fehlende Angaben

Abb. 5: Die saarländische Untersuchungsregion Nach den Geburtsjahrzehnten gruppiert verteilen sich hier die uns bekannten Fälle auf den Zeitraum zwischen 1760 und 1970, wobei die meisten Angaben aus dem Geburtsjahrzehnt 1890-1900 stammen (1077 Personen = 12,8%), gefolgt von dem Jahrzehnt 1880-1890 (1072 Personen = 12,7%). Die älteste Person in diesem Standesamtsbezirk erreichte ein Alter von 95 Jahren. Die meisten Personen starben, über den gesamten

31 Für beide Standesamtsbezirke gilt, daß die Eintragungen für die Todesursachen relativ spärlich sind. 32 Die folgende Tabelle zeigt in den Spalten »männlich« und »weiblich« jeweils die bestimmbaren Fälle im Datensatz und unter »fehlende Angaben« die nicht bestimmbaren Fälle.

Mortalitätsuntersuchung

127

Beobachtungszeitraum betrachtet, auch hier als Säuglinge (1913 Personen = 22,7%). Bis zum Alter von fünf Jahren starben 36% der standesamtlich Registrierten und 50% starben bis zu einem Alter von 40 Jahren. Mit der Systematik des Aufbaus dieses Bandes brechend, die für die Untersuchungsregionen die erstellten Tafeln, die Quellen- und die Regionenbeschreibung voneinander trennt, sollen an dieser Stelle auch die auf der Grundlage der von den Standesämtern gelieferten Daten erstellten Kohortensterbetafeln vorgestellt werden, da mit ihnen ein besonderes Problem verbunden ist, das im historischen Bereich jedoch nicht selten ist: das »Problem der kleinen Zahlen«. Durch die geringen Fallzahlen und den relativ langen Beobachtungszeitraum ist es unmöglich, Tafeln mit einem regelmäßigen Abstand von zum Beispiel zehn Jahren zu berechnen, wie es für die anderen Bereiche gemacht wurde, da bei diesen beiden Regionen die Besetzungszahlen für die einzelnen Altersklassen zu gering sind, um korrekte Aussagen treffen zu können. Deswegen werden sie nachfolgend in zeitlich stark zusammengefaßter Form - sie umfassen jeweils den gesamten Beobachtungszeitraum im entsprechenden Gebiet - und in einem anderen Erscheinungsbild abgedruckt und in zwei Graphiken, die jeweils die restliche Lebenserwartung für beide Geschlechter darstellen, verdeutlicht. Wegen der geringen Fallzahlen (Saarland = 8413, Ostfriesland = 1456) scheint es gewagt, die Sterbetafeln als jeweils repräsentativ für die beiden Regionen zu bezeichnen; gleichwohl zeigen sie mit ihren Werten eine Tendenz an, die in diesen Räumen auch schon vor 1850 zu beobachten war.33 Wie ein Blick auf die beiden Graphiken mit Darstellungen der restlichen Lebenserwartung zeigt, ähneln beide Regionen einander in der jeweiligen Entwicklung der Lebenserwartung, wobei die Werte für Ostfriesland durchgängig höher liegen und besonders im Bereich der Säuglings- und Kindersterblichkeit weit besser sind als im Saarland. Erst in den Altersgruppen über 70 verringern sich die Unterschiede zunehmend, verschwinden jedoch nicht völlig. Die Differenzen in der weiteren Lebenserwartung lassen sich wahrscheinlich durch den Unterschied zwischen ländlich geprägter und früh industrialisierter Region sowie durch die teilweise unterschiedlichen Zeiträume, denen die Geburtskohorten angehören, begründen. Zum Vergleich seien hier die Werte beider Regionen und die absolute Differenz einander gegenübergestellt. Wenn man diese Zahlen vergleicht, sollte man berücksichtigen, daß jegliche zeitliche Differenzierung fehlt, so daß es in diesem langen Zeitraum - es werden ja von den Geburtskohorten ausgehend fast zwei Jahrhunderte umfaßt - durchaus Perioden geben kann, in denen sich bei einem detaillierten Vergleich voneinander abweichende Bilder zeigen können.

33 Für den Zeitraum bis 1850 vgl. auch Imhof u. a. 1990, Tabellen 2.6.1.3. (Ostfriesland) und 5.6.1.3. (Saarland).

128

II. Quellen und Methoden

Abb. 6: Die Untersuchungsgebiete

129

Mortalitätsuntersuchung

Sterbetafel ostfriesischer Standesamtsbezirke, beide Geschlechter, 1874-1900, Kohorten P'x

Dx

qx

lx

dx

Lx

Tx

ex

0

1456

328

0,2253

1000

225

837

40233

40,23

1

1128

55

0,0488

775

38

752

39396

50,85

2

1073

31

0,0289

737

21

726

38644

52,44

3

1042

19

0,0182

716

13

709

37918

52,98

4

1023

14

0,0137

703

10

698

37209

52,96

5

1009

33

0,0327

693

23

3401

36511

52,69

10

976

29

0,0297

670

20

3302

33109

49,39

15

947

35

0,0370

650

24

3192

29807

45,83

20

912

29

0,0318

626

20

3084

26615

42,49

25

883

46

0,0521

606

32

2955

23532

38,80

30

837

41

0,0490

575

28

2803

20576

35,79

35

796

38

0,0477

547

26

2668

17774

32,51

40

758

41

0,0541

521

28

2533

15105

29,02

45

717

44

0,0614

492

30

2386

12572

25,53

50

673

37

0,0550

462

25

2249

10186

22,04

55

636

57

0,0896

437

39

2092

7936

18,17

60

579

81

0,1399

398

56

1853

5844

14,70

65

498

84

0,1687

342

58

1573

3991

11,67

70

414

128

0,3092

284

88

1208

2418

8,50

75

286

129

0,4510

196

89

757

1210

6,16

80

157

105

0,6688

108

72

346

452

4,20

85

52

41

0,7885

36

28

95

106

2,97

90

11

11

1,0000

8

8

11

11

1,52

Alter

Abb. 7: Sterbetafel ostfriesischer Standesamtsbezirke für beide Geschlechter 18741900

130

II. Quellen und Methoden

Sterbetafel saarländischer Standesamtsbezirke, beide Geschlechter, 1850-1973, Kohorten Alter

P'x

Dx

qx

lx

dx

Lx

Tx

ex

0

8413

1913

0,2274

1000

227

835

36747

36,75

1

6500

480

0,0738

773

57

739

35912

46,48

2

6020

292

0,0485

716

35

698

35173

49,15

3

5728

170

0,0297

681

20

671

34475

50,63

4

5558

90

0,0162

661

11

655

33804

51,17

5

5468

260

0,0475

650

31

3163

33149

51,00

10

5208

133

0,0255

619

16

3053

29986

48,44

15

5075

156

0,0307

603

19

2971

26932

44,65

20

4919

173

0,0352

585

21

2873

23962

40,98

25

4746

186

0,0392

564

22

2765

21089

37,38

30

4560

176

0,0386

542

21

2657

18323

33,81

35

4384

172

0,0392

521

20

2556

15666

30,06

40

4212

235

0,0558

501

28

2435

13110

26,19

45

3977

249

0,0626

473

30

2292

10675

22,58

50

3728

349

0,0936

443

41

2116

8382

18,92

55

3379

430

0,1273

402

51

1886

6266

15,60

60

2949

591

0,2004

351

70

1582

4380

12,49

65

2358

622

0,2638

280

74

1218

2798

9,98

70

1736

647

0,3727

206

77

837

1580

7,66

75

1089

541

0,4968

129

64

480

742

5,73

80

548

373

0,6807

65

44

205

263

4,03

85

175

144

0,8229

21

17

53

58

2,77

90

31

28

0,9032

4

3

5

5

1,32

Abb. 8: Sterbetafel saarländischer Standesamtsbezirke für beide Geschlechter 18501973

131

Mortalitätsuntersuchung

Restliche Lebenserwartung in Jahren in ostfriesischen Standesamtsbezirken, beide Geschlechter, 1874-1900

/ /

\ \

\ \

1

0

2

3

4

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

55

60

65

70

75

80

85

90

85

90

95

Alter

Abb. 9: Restliche Lebenserwartung in Ostfriesland

Restliche Lebenserwartung in Jahren in saarländischen Standesamtsbezirken, beide Geschlechter, 1850-1973

/

/ •N

\ \ \

0

1

2

3

4

5

10

15

20

25

30

35

40

45

Aller

Abb. 10: Restliche Lebenserwartung im Saarland

50

55

60

65

70

75

80

132

IL Quellen und Methoden

Lebenserwartung(sdifferenzen) in zwei deutschen Regionen Geburtskohorten 1760 -1970 Alter

Saarland

Ostfriesland

absolute Differenz

0

36,75

40,23

3,48

1

46,48

50,85

4,37

2

49,15

52,44

3,29

3

50,63

52,98

2,35

4

51,17

52,96

1,79

5

51,00

52,69

1,69

10

48,44

49,39

0,95

15

44,65

45,83

1,18

20

40,98

42,49

1,51

25

37,38

38,30

1,42

30

33,81

35,79

1,98

35

30,06

32,51

2,45

40

26,19

29,02

2,83

45

22,58

25,53

2,95

50

18,92

22,04

3,12

55

15,60

18,17

2,57

60

12,49

14,70

2,21

65

9,98

11,67

1,69

70

7,66

8,50

0,84

75

5,73

6,16

0,43

80

4,03

4,20

0,17

85

2,77

2,97

0,20

90

1,32

1,52

0,20

Abb. 11: Lebenserwartung(sdifferenzen) in zwei deutschen Regionen, Geburtskohorten 1760-1970

133

Mortalitätsuntersuchung

Lebcnserwartung(sdifFerenzen) in zwei deutschen Regionen

Alter

Saailaral

Cstfriesland

absolute Etfferaz

Abb. 12: Lebenserwartung(sdifferenzen) in zwei deutschen Regionen

Das Material der amtlichen Statistik Das als Berechnungsgrundlage für die Tabellen herangezogene Material aus dem Bereich der amtlichen Statistiken hat ganz verschiedenes Aussehen und regional die unterschiedlichste Herkunft. Es stammt aus Norwegen und aus Deutschland und deckt, von geringen Abweichungen in den Anfangsjahren abgesehen, für beide Bereiche den gleichen Zeitraum ab. Borgan34 legt für seine Berechnungen der norwegischen Generationen- und Periodentafeln registrierte und berechnete Zahlen für Geborene und Gestorbene zugrunde, wobei die Bevölkerungszahlen bis 1970 auf den Volkszählungen seit 1846 beruhen; danach wurden sie dem zentralen norwegischen Personenregister entnommen. Territorialer Bezugsrahmen für die Daten ist Norwegen in seiner Gesamtheit ohne eine weitere räumliche Differenzierung. Auf der Grundlage ähnlichen Materials hat Scholz seine Berechnungen angestellt und Sterbetafeln für Deutschland erstellt. Als Datengrundlage werden sämtliche von den statistischen Ämtern des Deutschen Reiches, der BRD und der DDR veröffent-

34

Borgan 1983 und 1984 sowie ders. in diesem Band.

134

II. Quellen

und

Methoden

lichte Daten hinsichtlich des Sterbegeschehens bis 1989 berücksichtigt.35 Hierzu gehören allgemeine und abgekürzte Sterbetafeln, die ihnen zugrunde liegenden Sterbewahrscheinlichkeiten, Sterbeziffern nach Alter und Geschlecht sowie Sterbewahrscheinlichkeiten für Säuglinge. Altersspezifische Sterbewahrscheinlichkeiten wurden aus den allgemeinen Sterbetafeln für das Deutsche Reich, die BRD und die DDR entnommen, wie sie in den entsprechenden Jahrgängen der statistischen Jahrbücher veröffentlicht wurden.36 Für den mit der amtlichen Statistik weniger vertrauten Leser ist darauf hinzuweisen, daß »Allgemeine Sterbetafeln« nicht für jedes Jahr erstellt werden, sondern nur für die Jahre von Volkszählungen, da zu ihrer Berechnung genaue Angaben über die Altersgliederung der Bevölkerung nötig sind. Abgekürzte Sterbetafeln werden dagegen in der Regel jährlich in den entsprechenden statistischen Jahrbüchern abgedruckt, wobei die Angaben zur Altersgliederung hier teilweise auf Bevölkerungsvorausschätzungen beruhen. Ein grundlegendes Problem dieser Bevölkerungsvorausschätzungen besteht darin, daß sie - und damit auch die auf ihnen beruhenden Berechnungen - mit zunehmender Entfernung von Volkszählungen ungenauer werden. Für das Deutsche Reich ausgewertet wurden die »Allgemeinen Sterbetafeln« folgender Zeiträume: 1881-1891,1891-1900,1901-1910,1910-1911,1924-1926,19321934; für die DDR die Tafeln folgender Jahre: 1946-1947,37 1947-1948, 1948-1949, 1952-1953, 1953-1954, 1955-1956, 1956-1957, 1955-1958, 1963-1964, 1965-1966, 1969-1970, 1970-1971, 1980-1985, 1985-1987, 1980-1981,38 1981-1982, 19821983, 1983-1984, 1984-1985, 1985-1986, 1986-1987, 1987-1988, 1988-1989; und für die BRD: 1949-1951, 1960-1962,1970-1972,1985-1987,1986-1988. Die Sterbeziffern der Bevölkerung wurden in Fünfjahres-Altersklassen zusammengetragen, wobei für die Jahre 1900, 1910, 1911 und 1912 die Sterbeziffern aus der realen Bevölkerung berechnet wurden. Ab 1919 wurden diese Ziffern den jeweiligen statistischen Jahrbüchern entnommen: für 1919-1930 und 1930-1939 dem Statistischen Jahrbuch des Deutschen Reiches; für 1946-1954, 1955-1960, 1961-1964, 1965-1967, 1968-1970, 1971-1974 dem Statistischen Jahrbuch der DDR; für 19751976 und 1977-1978 dem Bevölkerungsstatistischen Jahrbuch der DDR und für 1980-1985 den entsprechenden Bänden aus der Reihe »Gesundheitswesen DDR«. Die Sterbeziffern für die BRD sind in den jährlichen statistischen Jahrbüchern enthalten.39

35 Für Daten aus der ehemaligen DDR konnte er auch auf unveröffentlichtes Zahlenmaterial verschiedener staatlicher Dienststellen zurückgreifen. 36 Für genauere Hinweise zu den benutzten statistischen Jahrbüchern vgl. das Literaturverzeichnis. 37 Die Sterbetafeln der Jahre 1946-1947, 1947-1948 und 1948-1949 sind nicht veröffentlicht. 38 Die Angaben zur DDR für die Zeit ab 1980 beruhen teilweise auf internem Material des ehemaligen Instituts für Medizinische Statistik. 39 Seit 1961 werden für die BRD in der Fachserie 1, Reihe 2 (Bevölkerung und Erwerbstätigkeit) jährlich verkürzte Dreijahres-Sterbetafeln veröffentlicht.

Mortalitütsuntersuchung

135

Die Angaben zur Säuglingssterblichkeit für die deutschen Staaten von 1841 bis 1899 sind von Brian R. Mitchell40 übernommen worden. Bis auf das Jahr 1945 werden die Säuglingssterblichkeiten seit 1900 dann nach Geschlecht regelmäßig für jedes Kalenderjahr in den entsprechenden statistischen Jahrbüchern ausgewiesen. Für die in den Kriegsjahren41 nicht verfügbaren Sterblichkeitsangaben in Deutschland wurden Modellrechnungen zur Rekonstruktion dieser fehlenden Angaben durchgeführt (s. u.), so daß für den gesamten Beobachtungszeitraum alters- und geschlechtsspezifische Sterbewahrscheinlichkeiten vorliegen. Räumliche Grundlage dieses Datenmaterials ist Deutschland nach seinen jeweiligen aktuellen Gebietsständen 42 Für die Zeit vor der Reichseinigung wurden Angaben aus solchen deutschen Einzelstaaten herangezogen, die in ihrer amtlichen Statistik die Säuglingssterblichkeit besonders früh berücksichtigten:43 von 1871 bis 1918 das Kaiserreich, von 1919 bis 1945 der zu den Erhebungszeitpunkten amtlich zugrunde gelegte Gebietsstand des Deutschen Reiches, von 1946 bis zur Gründung von Bundesrepublik Deutschland und Deutscher Demokratischer Republik die vier Besatzungszonen mit Berlin und dann die beiden deutschen Staaten bis zu ihrer Wiedervereinigung. Amtliche deutsche Statistiken wurden auch auf zwei weiteren Aggregationsebenen zur Berechnung von hier veröffentlichten Sterbetafeln herangezogen. Für die Zeit bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden auf der Grundlage der Veröffentlichungen in den Bänden der »Preußischen Statistik«44 die Angaben zur Altersgliederung und die Anzahl der Gestorbenen nach Altersklassen und Geschlecht für bestimmte ausgewählte Regionen aufgenommen. Die Daten wurden in Fünf- und Zehnjahresschritten zusammengestellt, wobei die Schritte denen in den Daten auf »Deutschland-Niveau« entsprechen und auch an die im Vorgängerprojekt zusammengestellten Informationen Anschluß haben. Damit können insgesamt 300 Jahre Sterblichkeitsentwicklung für deutsche Regionen und Deutschland als Gesamtes überblickt und untersucht werden. Räumliche Bezugsgrößen für diese Daten sind für die Zeit vor 1945 jeweils die preußischen Regierungsbezirke, in denen die Untersuchungsorte des Vorgängerprojektes liegen: der Regierungsbezirk Aurich in der Provinz Hannover für die Orte in Ostfriesland, der Regierungsbezirk Minden in der Provinz Westfalen für Hartum, der

40 Mitchell 1976, Tab. B7: Death of Infants under one Year old per 1,000 Life Births, 127-134. Benutzt wurden von Mitchell Statistiken folgender deutscher Staaten: Bayern 1836-1850; Bayern und Königreich Sachsen 1851-1870; Bayern, Sachsen, Baden, Württemberg 1871-1874; Bayern, Sachsen, Baden, Württemberg und Preußen 1875-1900. 41 Für den Zeitraum 1914-1918 vgl. Heinel 1927. 42 Zu den Problemen der deutschen Grenzen aus historischer und geographischer Sicht vgl. z. B. die Beiträge in Demandt 1991. 43

Vgl. Mitchell 1976, 127-134: Bayern und Sachsen.

44

Zu den benutzten Bänden vgl. die Angaben im Literaturverzeichnis.

136

II. Quellen und Methoden

Regierungsbezirk Kassel in der Provinz Hessen-Nassau für die Orte in der Schwalm und der Regierungsbezirk Trier in der preußischen Rheinprovinz für die Orte im Saarland. Da das Schwergewicht auch aus Quellengründen auf die preußischen Teile Deutschlands gelegt werden sollte (aus Ostfriesland und dem Saarland stammen auch die Standesamtsdaten), wurden die außerpreußischen Untersuchungsgebiete mit Ausnahme des württembergischen Herrenberg für die Zeit nach 1870 nicht mehr berücksichtigt.45 Trotz Unregelmäßigkeiten bei der Nachmeldung von Geburten und Sterbefällen bieten die Angaben der amtlichen Statistik in Preußen für die Zeit seit der Reichsgründung ein weit zuverlässigeres Bild der natürlichen Bevölkerungsbewegung als die aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wo selbst die Fachleute des »Königlichen Statistischen Bureaus« in Berlin bei den Volkszählungen von massiven Unterregistrierungen ausgingen (vgl. Fircks 1879, 8). Erst die Volkszählung von 1840 war vergleichsweise relativ genau.46 Die Nachmeldungen bei Geburten und Sterbefällen bewegen sich in der Regel seit 1875 weit unter 1%.47 Grundlage der Bevölkerungsstatistik waren die Meldungen der Standesämter an das »Königliche Statistische Bureau« in Berlin,48 wo auch die entsprechenden Nachmeldungen bearbeitet wurden. Für den Zeitraum ab 1945 wurden als räumliche Bezugsgrößen die auf dem Boden der preußischen Regierungsbezirke und Provinzen neu entstehenden Bundesländer gewählt, um zu vermeiden, daß bei Verschiebungen in den verwaltungsmäßigen Zuordnungen kleinerer räumlicher Einheiten diese auf die Datengrundlage in nicht berechenbarer Weise durchschlügen, obwohl auch für diese Bereiche schon Daten zur Verfügung stehen.49 Wenn man sich nicht darauf beschränken will, die Entwicklung in einzelnen Dörfern zu untersuchen (z. B. Knodel 1988, Sabean 1990), ist diese Bezugsebene am besten geeignet. Ausgewertet wurden für den Zeitraum von 1950 bis 1985 die Veröffentlichungen der Statistischen Landesämter Hessen, Niedersachsen50, Nordrhein-Westfalen und im Saarland, die sich auf die natürlichen Bevölkerungsbewegungen beziehen.51 Hierzu gehören sowohl die Veröffentlichungen, die nach heutiger Systematik zur Fach-

45 Zu Herrenberg s. o. 46 Vgl. Fircks 1879, 9. Die Fehlerquote betrug seitdem höchstens 1 %o der Bevölkerung. 47 1882 waren es bei den Geburten inkl. Totgeburten 0,07% und bei den Sterbefällen 0,03%; vgl. Preußische Statistik 74(1882). 48 Rechtsgrundlage war das preußische Gesetz über die Beurkundung des Personenstandes und der Eheschließung vom 9.3.1874 und ein damit fast identisches Reichsgesetz vom 6.3.1875. 49 Über Probleme, die durch Grenzverschiebungen in einem Datensatz auftreten können, berichteten bereits Falter/Gruner 1981. 50 Nach Auskunft des niedersächsischen Landesamtes für Statistik vom 24.8. und 13.9.1993 liegen für Niedersachsen Sterbedaten erst seit 1956 vor. 51 An dieser Stelle ist den statistischen Landesämtern in Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und im Saarland dafür zu danken, daß sie uns schnell und unbürokratisch mit uns noch fehlendem Datenmaterial unterstützt haben.

Mortalitütsuntersuchung

137

gruppe A I 3-j ([Wohn-]Bevölkerung nach Alter) zählen, als auch die der Fachgruppen A II 1 -j (Eheschließungen, Geborene und Gestorbene) und A IV 3-j (Sterbefälle nach Alter [aus der Todesursachenstatistik]).52 Verschiebungen innerhalb der Zuordnung der Altersgruppen führten dazu, daß für die Tafeln relativ grobe Einteilungen gewählt werden mußten. Auch die »Anfangsjahre« für die Tabellen sind von Untersuchungsgebiet zu Untersuchungsgebiet verschieden, da die benötigten Daten in der Regel nicht zum gleichen Zeitpunkt einsetzen. Da jedoch nicht beabsichtigt ist, mit den amtlich veröffentlichten Sterbetafeln zu konkurrieren, sondern das Material für »lange Reihen« aufzubereiten, ist dieses Vorgehen gerechtfertigt.

Die Art der Datenbearbeitung Alle Daten bis auf drei Ausnahmen - die Datensätze für Norwegen, Schweden und Deutschland in seiner Gesamtheit - wurden durch studentische Hilfskräfte aus dem gedruckt vorliegenden Quellenmaterial der amtlichen preußischen und deutschen Statistik direkt in PCs eingegeben.53 Die norwegischen Daten (Borgan 1983) wurden uns in vollem Umfang auf Magnetbändern zur Verfügung gestellt, so daß sie in unserem Rechenzentrum weiterverarbeitet werden konnten; die schwedischen Daten aus Umeä standen als Rohdaten zur Verfügung und die deutschen wurden von Scholz als direkt lesbare und weiterverarbeitbare LOTUS-Tabellen geliefert. Die norwegischen Daten wurden vom Großrechner, wo eine erste Umorganisation und Bearbeitung stattfand, zur Weiterverarbeitung auf die PC-Ebene übertragen. Zur Datenübertragung wurden sowohl eine Standleitung und das Programm Kermit benutzt als auch, bei größeren Dateien, eine schnelle Glasfaserleitung innerhalb des Rechenzentrums sowie das »File-Transfer-Protocoll« (FTP).54 Auf dem PC wurden die Daten mit Hilfe des Tabellenkalkulationsprogramms Excel so umstrukturiert, daß sie in das durch den Vorgängerband vorgegebene Layout-Schema paßten. Auf ähnliche Weise wurden auch die Daten von Scholz umstrukturiert. Weitere Berechnungen waren bei diesen beiden Datensätzen nicht mehr nötig,55 auch konnten hier Fehlerkontrollen entfallen, da diese bereits an ihrem Herkunftsort durchgeführt wurden. Die Daten aus dem Bereich der amtlichen Statistik wurden bereits während der Dateneingabe auf Eingabefehler überprüft, indem Spalten- und Zeilensummen automatisch berechnet und verglichen wurden.

52 Auf Verschiebungen innerhalb dieser Systematik und der Altersgruppen sei als methodisches Problem nur am Rande hingewiesen. 53 Zu danken ist hier Robert Bonca, bei dem der Uberwiegende Teil dieser Arbeit lag, und Barbara Schwarz. 54 Auf diesen beiden Wegen erfolgen auch alle anderen nötigen Dateiübertragungen. 55

Zu den Berechnungen für die norwegischen Daten vgl. den Beitrag von Borgan in diesem Band und ausführlich Borgan 1983.

138

II. Quellen und Methoden

Bei der Berechnung seiner Tafeln ging Scholz von dem bei Dinkel (1984), Höhn (1983) und früher schon von Schwarz (1963) und Triller (1964) beschriebenen Verfahren aus, wobei die von diesen beschriebene Methode konsequent auf alle Kalenderjahre und alle Einzelaltersgruppen von 0 bis 100 angewendet wurde. Bei der Erstellung vollständiger Zeitreihen von altersspezifischen Sterbewahrscheinlichkeiten wurde für die Zeiträume zwischen zwei Sterbetafeln systematisch mit dem Trend der Sterbeziffern interpoliert; außerdem wurden die Säuglingssterblichkeiten für alle Kalenderjahre eingetragen. Dieses Vorgehen wurde gewählt, weil zum einen von einem gleichgerichteten Trend der altersspezifischen Sterbeziffern und der Sterbewahrscheinlichkeiten ausgegangen werden kann und zum anderen ein eindeutiger Zeitbezug auf das Kalenderjahr hergestellt werden sollte. Die Sterbe Wahrscheinlichkeiten beziehen sich auf einen Zeitraum, meist auf zwei Kalenderjahre (Becker/Zeuner-Methode), während Sterbeziffern sich auf ein Kalenderjahr beziehen (analoge Sterbewahrscheinlichkeit nach Raths). Dieser eindeutige Kalenderjahrsbezug ist insbesondere bei der Kohortenbetrachtung von Bedeutung. Außerdem wird der Trend der Lebenserwartungsänderung wesentlich durch die Entwicklung der Säuglingssterblichkeit bestimmt. Die Grundidee des von Dinkel vorgestellten Verfahrens besteht nun darin, die zwischenzeitlichen Änderungen der Sterbeziffer ins Verhältnis zu ihrer Gesamtänderung im betrachteten Zeitraum zu setzen, um dann das gleiche Verhältnis bei den Sterbewahrscheinlichkeiten anzusetzen. Durch die Festlegung von Einzugsbereichen (Höhn) der Sterbetafel und die Annahme von gleitenden Übergängen von einem Einzugsbereich zum nächsten wird eine gewichtete Interpolation durchgeführt. Das bedeutet, je dichter der Interpolationspunkt an dem Basiszeitraum der Tafel liegt, desto mehr bestimmt diese Tafel den Interpolationswert, bis für die Basisjahre die Originaltafeln reproduziert werden. Durch die Umsortierung der Sterbewahrscheinlichkeiten von Kalenderjahren in Geburtsjahre (Becker-Diagramm) ist es möglich, auch ein Lexis-Diagramm der Sterbewahrscheinlichkeiten nach Geburtsjahren zu erstellen. Der für Deutschland zu beschreibende Zeitraum läßt sich durch eine Extrapolation in die Vergangenheit und in die Zukunft für die Kohortenbetrachtung erheblich verlängern. Die nicht vollständig beobachteten Geburtsjahreskohorten in dem Lexis-Diagramm werden mit den Angaben für den ersten vollständigen Geburtsjahrgang bzw. mit denen für den letzten vollständigen Geburtsjahrgang ausgefüllt. Für die Erstellung der Kohortensterbetafeln wurden die direkten Kriegswirkungen auf die Entwicklung der Sterblichkeit eliminiert. Zusätzlich zu dem oben beschriebenen Verfahren wurden die Daten der Kalenderzeiträume 1914-1919 und 1939-1949 linear interpoliert und anschließend eine zweimalige Glättung durchgeführt. Dadurch wurden sowohl zufällige Schwankungen als auch die direkten Kriegs Wirkungen auf die Sterblichkeit in der Kohortenentwicklung ausgeschlossen. Im Ergebnis liegt ein sowohl nach Geburts- als auch nach Kalenderjahren vollständig mit Sterbewahrscheinlichkeiten ausgefülltes Lexis-Diagramm vor. Damit

Mortalitätsuntersuchung

139

kann für jedes Kalenderjahr und jedes Geburtsjahr eine Sterbetafel errechnet werden. Für die Basiskalenderjahre werden mit dieser Methode wieder die Ausgangssterbetafeln reproduziert. Generell werden vollständige Sterbetafeln errechnet; die Aufstellung von verkürzten Sterbetafeln wird dann nach Greville (1943) durchgeführt. Das schon länger erprobte Eingabeschema für Datenmaterial aus Ortssippenbüchern mit den dazugehörigen Eingabeanweisungen (Codebuch für Berufe, Todesursachen usw.) wurde erneut für die Weiterarbeit mit den Herrenberg-Daten benutzt. Mit kleineren Modifikationen konnte dieses Schema auch für die Standesamtsdaten benutzt werden, wobei gleichzeitig die Codebücher für Berufsangaben und Todesursachen erweitert wurden, so daß nun auch neue Bezeichnungen von Berufen und Todesursachen in ihnen enthalten sind. Zur Eingabe der Daten wurde in beiden Fällen das Textverarbeitungsprogramm WORD als Editor zweckentfremdet.56 Da die Daten aus Umeä nur in Rohform vorlagen, mußten sie den gleichen Prozeduren unterworfen werden wie die Daten aus den Ortssippenbüchern und von den Standesämtern. Verzichtet werden konnte allerdings auf eine Fehlerkontrolle, die bereits in Umeä bei der Dateneingabe durchgeführt worden ist. Für die Fehlerkontrollen der Herrenberg-Daten wurden die im Vorgängerprojekt erstellten Prüfprogramme benutzt. Die Überprüfung der Standesamtsdaten erfolgte auf die Weise, daß mit Hilfe der SPSS-Prozeduren »FREQUENCIES« und »CROSSTABS« für bestimmte Variablen Häufigkeitsverteilungen erstellt wurden. Die Ausreißer wurden zusammen mit der Satznummer und der Nummer für den Standesamtsbezirk ausgedruckt und gegebenenfalls im Datensatz korrigiert. Die aus den amtlichen Statistiken entnommenen Zahlen konnten ohne größere Probleme in das Tabellenkalkulationsprogramm eingegeben und von dort weiter bearbeitet werden. Einen Scanner für das Einlesen zu benutzen wurde nicht in Erwägung gezogen, da die uns wichtigen Informationen jeweils nur in wenigen Zeilen standen - dies trifft für die »Preußische Statistik« zu - oder die Vorlagen von zu unterschiedlicher Qualität waren. Außerdem erübrigt das Einscannen nicht das genaue Korrekturlesen, da das Einlesen bisher nicht völlig fehlerfrei ist, was bei den vielen Zahlen besonders gravierend wäre. Die nötigen Berechnungen für die Sterbetafeln - dies betrifft die Daten aus Schweden, die Herrenberg-Daten und teilweise die deutschen Daten auf Regierungsbezirksbzw. Länderebene - wurden dann mit verschiedenen SPSS-Versionen sowohl auf dem Großrechner als auch auf dem PC unter DOS und Windows durchgeführt, wobei hauptsächlich die Prozedur »SURVIVAL« zur Anwendung kam.57 Die Prozedur »SURVIVAL« bietet nicht nur die Möglichkeit, Sterbetafeln und entsprechende Graphiken direkt auszudrucken, sondern auch die, die Inhalte der Tafeln zur Weiterverarbeitung in eine Datei zu schreiben. Beide Ausgabemöglichkeiten erzeugen identi-

56 Zum Vorgehen vgl. auch Gehrmann/Roycroft 1990, 67 f. 57 Zur Prozedur »SURVIVAL« vgl. z. B. Schubö u. a. 1990, 590-599; SPSS/PC+ 4.0, C-85-C94.

140

II. Quellen und Methoden

sehe Ergebnisse: Anfangszeit des Intervalls, Eingangspopulation (= die Zahl der Fälle, die bis zur Anfangszeit des Intervalls überlebt haben), Anzahl der im Intervall durch Erreichen eines Ersatz-Zielereignisses ausgefallenen Fälle, Risikopopulation (P'x = berechnet als Eingangsfälle - Ausfälle/2), Anzahl der im Intervall aufgetretenen Zielereignisse = Sterbefälle (Dx), die Sterbewahrscheinlichkeit (qx), die Überlebenswahrscheinlichkeit (px = berechnet als l-q x ), kumulierte Überlebenswahrscheinlichkeit vom Anfang des ersten bis zum Ende des jeweils aktuellen Intervalls (lx = berechnet als Produkt aller Überlebensanteile vom ersten bis zum vorliegenden Intervall), globale Zielereignisdichte, lokale Risikorate sowie die Standardfehler der letzten drei Werte. Außerdem wird der Median der Lebenserwartung, d. h. der Wert, der die nach ihrer Größe geordnete Reihe von Meßwerten halbiert, angegeben. Weiter ermöglicht die Prozedur, diese Berechnungen mit einer variablen Schrittweite durchzuführen, so daß die genannten Kennziffern zum Beispiel für die ersten fünf Lebensaltersstufen einzeln berechnet werden können und für die folgenden Lebensaltersstufen wie hier in Fünfjahresabständen, und nach bestimmten Auswahlkriterien, hier besonders nach Geburtsjahrzehnten und/oder Geschlecht. Neben SPSS wurde auch das Tabellenkalkulationsprogramm Excel zur Berechnung der Sterbetafeln eingesetzt. Für die Zusammenstellung der Kohortentafeln und die spätere Berechnung der Periodensterbetafeln wurden aus diesen Dateien die Werte für P'x, D x und q x herausgezogen und in Tabellen zusammengestellt, die eine längere Periode umfassen. Die P'x- und D x -Werte für beide Geschlechter lassen sich einfach addieren. Auf der Basis dieser Tabellen wurden dann auch die qx-Werte für beide Geschlechter errechnet. Wesentliche Grundlagen für die Erstellung der Kohortentafeln können also direkt aus der Prozedur »SURVIVAL« übernommen werden. Ergänzt werden müssen die auf diese Weise gewonnenen Tafeln noch durch die Werte für die mittlere Lebenserwartung in den einzelnen Altersgruppen (ex). Die Periodentafeln wurden dann auf die gleiche Weise aus den Tafeln für die Geburtskohorten abgeleitet wie bereits beschrieben. Verwendet wurde jetzt jedoch nicht mehr das Tabellenkalkulationsprogramm LOTUS, sondern das Programm Excel, mit dem auch die weitere Bearbeitung erfolgte. Für den endgültigen, d. h. reproduktionsfähigen Ausdruck wurde ein Laserdrucker benutzt.

58 Vgl. Gehrmann/Roycroft 1990, 55-57, 76.

Lebensverlängerungsprozeß und Veränderung der Todesursachenstruktur in Deutschland Rembrandt D. Scholz

Im Verlauf der letzten 100 Jahre hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung der Neugeborenen in Deutschland mehr als verdoppelt. Ihr größter Zuwachs resultiert aus der Senkung der Säuglingssterblichkeit, insbesondere bis zur Mitte dieses Jahrhunderts. In der zweiten Jahrhunderthälfte wachsen die Gewinne der Lebenserwartung im höheren Alter sowohl absolut in Jahren als auch relativ in Prozent und fallen im jüngeren Alter. Diese Entwicklung findet bei beiden Geschlechtern statt, wobei die Frauen stärker davon profitieren (Abb. 1 und 2). Mit dem Erreichen einer Lebenserwartung von etwa 70 Jahren verdanken sich die Zuwächse stärker den höheren Altersgruppen (Myers 1984). Die sich verändernde Lebenserwartung geht mit einer systematischen Veränderung der Todesursachenstruktur einher. Die Sterblichkeit vor allem im Säuglingsund Kindesalter durch Verhinderung bestimmter Todesursachen, insbesondere der Infektionskrankheiten, führt zu einer Alterung der Bevölkerung. Dabei geht die Umstrukturierung der Bevölkerung zum höheren Lebensalter mit einer Erhöhung des Anteils der Todesursachen am Sterbegeschehen einher, hinter denen Erkrankungen des mittleren und höheren Alters stehen.

Methodik Die Aufgliederung der rohen Sterblichkeit nach Todesursachen wird als Todesursachenstruktur der Bevölkerung bezeichnet. Der Quotient aus den Gestorbenen »Di« an einer Todesursache »i« und den Gestorbenen insgesamt ist eine Anteilzifferund bringt das Gewicht der Todesursache an den Gesamtgestorbenen der realen Bevölkerung zum Ausdruck. Die Bewertung der Veränderung von Anteilziffern ist schwierig, da die Senkung eines Anteils zwangsläufig die anderen Anteile erhöht, ohne daß die Gefährdungen durch die Todesursachen sich verändert hätten. Da das Gesamtgewicht von den Teilgewichten mit bestimmt wird, sagt die Todesursachenziffer über die Größe der Gefährdung durch die ihr zugrunde liegende Krankheit nichts aus. Die Todesursachenstruktur wird auch von der Altersstruktur der realen Bevölkerung beeinflußt. Eine Eliminierung der Altersstrukturänderung kann nur durch die Annahme einer Standardbevölkerung erreicht werden. Eine der möglichen Methoden

142

II. Quellen und Methoden

hierfür ist die Standardisierung auf die Sterbetafelbevölkerung, auch Todesursachentafel genannt (Scholz u. a. [im Druck]; Brückner 1993,258). Die Grundlagen für Todesursachentafeln sind verkürzte Sterbetafeln und altersspezifische Todesursachenziffern. Die Verkürzung der Sterbetafeln ist notwendig, da die Todesursachenziffern nur für bestimmte Altersklassen in der Todesursachenstatistik ausgewiesen sind. Der Todesursachenstatistik werden die altersspezifischen Todesursachenziffern Six entnommen und der verkürzten Sterbetafel die Zahl der Gestorbenen d x . Das Produkt der Gestorbenenanzahl dx und der Todesursachenziffer Six ergibt die entsprechende Anzahl Gestorbener dix an der Todesursache i dieser Altersklasse dix = Six*dx Dieses Vorgehen wird auf alle Altersgruppen ausgedehnt und somit eine Todesursachentafel mit der Todesursache i erstellt. Daraus resultieren das todesursachenspezifische Sterbealter ai und ein neuer auf die Sterbetafel standardisierter Todesursachenanteil ti (Scholz/Schott 1992). Es gelten * dix)

as =

und

ti =

Mit diesem Ansatz ergibt sich die Lebenserwartung eo als gewogenes arithmetisches Mittel der Todesursachenanteile ti (als Gewichte) und der todesursachenspezifischen Sterbealter ai c0 = X

a

'

* tl

Das Ergebnis ist die mittlere Lebenserwartung. Es ermöglicht, die Entwicklungen der mittleren Sterbealter der Todesursachenklassen quantitativ von denen in der Todesursachenstruktur zu trennen. Die Berechnungen erfolgen nach dem Konzept der direkten Standardisierung. Dabei werden die mittleren Lebenserwartungen von Todesursachentafeln verschiedener Zeiten miteinander verglichen. Die Entwicklung zeichnet sich auf drei Ebenen ab. Die reale Bevölkerung ist die erste Betrachtungsebene; sie wird von der Besetzung der einzelnen Altersklassen beeinflußt. Die Sterbetafelbevölkerung ist die zweite Betrachtungsebene; sie enthält eine Standardisierung auf einen konstanten Anfangsbestand von 100 000 Personen. Auf der dritten Ebene werden Modellberechnungen durchgeführt. Dabei wird der Einfluß von Todesursachenstruktur und Altersstruktur auf die Entwicklung der mittleren Lebenserwartung quantifiziert.

Todesursachenstruktur in Deutschland

143

Quellenkritik und Material In Deutschland begann die amtliche Todesursachenstatistik am Ende des vorigen Jahrhunderts. Seit 1877 wurden in den Gemeinden mit 15 000 und mehr Einwohnern auf zunächst freiwilliger Basis die Sterbefälle nach Todesursachen verzeichnet. Im Laufe der Zeit nahm die Zahl der Berichtsorte und die damit erfaßte Anzahl von Personen ständig zu. Die registrierten Sterbefälle wurden in mehreren Veröffentlichungsreihen vom Kaiserlichen Gesundheitsamt ausgewertet: in wöchentlichen Ausweisungen der Sterbefälle von Orten mit mehr als 40 000 Einwohnern, Monats- und Jahresberichten von Orten mit mehr als 15 000 Einwohnern und einer Statistik der Sterbefälle im Deutschen Reich. Letztere erfaßte 1900 über 98% der Bevölkerung (Mayet 1903); sie wird seit 1892 geführt. Bis 1919 wurde die Todesursachenstatistik in den Medizinalstatistischen Mitteilungen veröffentlicht. Seit 1920 erscheint sie in der Statistik der Bewegung der Bevölkerung (Prinzing 1930,430 ff.). Die ausgewiesenen Todesursachen sind bis 1904 insbesondere verschiedene Infektionskrankheiten, die auch den Hauptteil der Todesursachen in diesem Zeitraum ausmachen. Seit 1892 werden die Sterbefälle nach Todesursachen und nach Alter differenziert veröffentlicht, seit 1905 nach Alter und Geschlecht. Seit 1905 wird einheitlich nach dem »Kurzen deutschen Todesursachenverzeichnis« das Grundleiden als Todesursache verschlüsselt (Mitteilungen des Kaiserlichen Gesundheitsamtes 1905, 1293). Eine Analyse der Zeitreihen der amtlichen Todesursachenstruktur mittels Todesursachentafeln des Deutschen Reiches kann daher frühestens mit dem Kalenderjahr 1905/06 beginnen. Bei der Feststellung der Todesursachen durch die obligatorische Leichenschau ist von sehr unterschiedlichen Bedingungen in den Städten und auf dem Lande auszugehen. Besonders zuverlässig werden die Ergebnisse dort sein, wo der behandelnde Arzt die Leichenschau vornahm. Noch zu Anfang dieses Jahrhunderts wurde auf dem Lande die Todesursache jedoch häufig durch den Standesbeamten nach Befragung der Verwandten beurkundet (Müller 1926, 228-243). Die Validität der Todesursache im einzelnen Sterbefall ist nur durch Sektion zu überprüfen. Auch bei einer heute vorgenommenen ärztlichen Leichenschau ist die Übereinstimmung von Leichenschau- und Sektionsdiagnose gering. Mit zunehmendem Sterbealter und dem Vorliegen mehrerer Krankheiten zum Zeitpunkt des Todes wird das Problem noch schwieriger. Man kann aber davon ausgehen, daß die Todesursachenstruktur vor und nach der Sektion sehr ähnlich ist, da sich die vorkommenden Fehlklassifizierungen statistisch ausgleichen (Mayer/Stöhr 1992). Schwerwiegender als Fehlklassifikationen werden sich Veränderungen der Todesursachenstatistik auf die Zeitreihen auswirken. Entsprechend der großen Spanne des betrachteten Zeitraums von 1906 bis 1985 ergeben sich Veränderungen in der Todesursachenstatistik. Diese bestehen einmal in der Wandlung der Altersgruppeneinteilung. Dabei wird die Altersklasse 0-1 Jahr für die Säuglingssterblichkeit durch alle

144

II. Quellen und Methoden

Jahre geführt. Für die mittleren und höheren Alter wird die Einteilung der Altersklassen jedoch stärker differenziert. Außerdem beruhen die Veränderungen der Todesursachenstatistik auf der Einteilung der Todesursachenklassen. Diese bestehen in der Erweiterung der Diagnoseklassen, bedingt durch die Fortschritte der Medizin in der Erkennung von zum Tode führenden Erkrankungen. Bis zum Jahre 1947 sind im Deutschen Reich die Todesursachen nach dem »Verzeichnis der Krankheiten und Todesursachen mit einer Anleitung zur Aufstellung der deutschen Todesursachenstatistik« klassifiziert worden. Dabei erfolgte ab 1932 in Fortsetzung der im Jahre 1905 herausgegebenen »Alphabetischen Liste von Krankheiten und Todesursachen« die Umstellung der deutschen Todesursachenstatistik auf die Internationale Klassifikation der Krankheiten, Todesursachen und Verletzungen (ICD = International Classification of Diseases). In der DDR ist von 1952 bis 1967 das »Verzeichnis der Krankheiten und Todesursachen für Zwecke der Medizinalstatistik« gültig gewesen. Von 1968 bis 1978 sind die Todesursachen dort entsprechend der 8. Revision der ICD von 1968 verschlüsselt worden. Nach 1979 galt die 9. Revision der ICD. Die für die verschiedenen Jahre bestehenden unterschiedlichen Einteilungen der Todesursachen erfordern es, Todesursachen zu größeren Klassen zusammenzufassen, um so die Vergleichbarkeit der Jahre untereinander zu ermöglichen. In diesem Beitrag werden Todesursachenklassen zusammengefaßt, die sich mit der Zeit verändert haben, wie etwa die der Tuberkulose. Weiterhin werden die Todesursachenklassen betrachtet, die besonders für das hohe Alter charakteristisch sind, da sich die Altersstruktur zum höheren Lebensalter hin entwickelt hat. Eine wichtige Todesursachenklasse ist die der Herz-Kreislauferkrankungen. Diese enthält erst seit der 9. Revision 1979 die Klasse der Krankheiten der Arterien, Arteriolen und Kapillaren (Nr. 440448), die vorher in der Klasse der sonstigen Todesursachen aufging. Die große Zahl von Gestorbenen in dieser Klasse führte zu erheblichen Verschiebungen in der Todesursachenstruktur der realen Bevölkerung. Dementsprechend ist für den Zeitraum von 1955 bis 1975 die Anzahl der Gestorbenen mit den Diagnosenummern 440-448 der Klasse »Herz-Kreislauferkrankungen« zugeschlagen und aus der Restklasse herausgerechnet worden. Weiterhin werden zur Klasse der an Herz-Kreislauferkrankungen Gestorbenen diejenigen gezählt, bei denen Störungen der Gehirndurchblutung Ursache des Todes war. Im Zeitraum von 1906 bis 1931 gilt dieses für die eigens aufgeführte Todesursachenklasse »Gehirnschlag« und für den Zeitraum von 1932 bis 1934 für die Klasse »Hirnblutungen, Gehirnthrombose oder -embolie« (Nr. 82a). Andere das Nervensystem betreffende Krankheiten werden in die Klasse der sonstigen Todesursachen eingeordnet. Während für die Jahre 1955, 1960 und 1965 nur die Klasse »Gehirnblutung« (Nr. 314 des Todesursachenverzeichnisses) einzeln aufgeführt wird und der Klasse »Herz-Kreislauferkrankungen« zugerechnet werden kann, kann ab 1970 das gesamte Spektrum der Durchblutungsstörungen des Gehirns als Klasse der »Cerebrovaskulären Krankheiten« (Nr. 430-438 ICD) in die Klasse »Herz-Kreislauferkrankungen« übernommen werden. Die Einteilung ist so gewählt, daß alle Todesursachenklassen aller Jahre erfaßt sind und die in den speziellen To-

Todesursachenstruktur in Deutschland

145

desursachenklassen nicht enthaltenen Todesursachen als Restklasse einen Anteil von 20% der Gesamtzahl nicht übersteigen. Folgende Einteilung der Todesursachenklassen wurde verwendet (zur detaillierten Zuordnung der Klassen für die einzelnen Perioden vgl. Westphal 1992, Netzker/Arndt 1989): 1. Wesentliche Krankheiten der Säuglinge am Anfang des Jahrhunderts 2. Altersschwäche 3. Infektionskrankheiten und parasitäre Krankheiten 4. Pneumonie 5. Tuberkulose 6. Krankheiten der Atmungsorgane 7. Krankheiten des Herz-Kreislaufsystems 8. Bösartige Neubildungen 9. Krankheiten des Gastrointestinaltrakts und des Urogenitalsystems 10. Unfälle 11. Sonstige Todesursachen Es zeigt sich, daß die Todesursachenklasse »Altersschwäche«, die von 1906 bis 1934 noch einen relativ großen Anteil ausmacht, ab 1955 ständig sinkt und ab 1972 per definitionem nicht mehr geführt wird. Die unter der Todesursache »Altersschwäche« verschlüsselten Gestorbenen waren mit hoher Wahrscheinlichkeit an Grundleiden erkrankt, die den Krankheiten des hohen Alters entsprechen. Mit einer nachträglichen Eliminierung der Todesursachenklasse »Altersschwäche« für die Jahre von 1906 bis 1972 wird die Vergleichbarkeit der einzelnen Kalenderjahre erhöht. Diese Todesursachenklasse wird entfernt, indem man die Anzahl der Gestorbenen dieser Klasse entsprechend der Todesursachenstruktur der Gestorbenen 1987 verteilt (nach einem Vorschlag von Freudenberg 1962, 28). Somit erhält man eine neue Todesursachenstruktur der realen Bevölkerung mit verteilter Todesursachenklasse »Altersschwäche«. Auf die Unterschiede in der Entwicklung der Todesursachen zwischen der DDR (Gebiet der neuen Bundesländer) und der Bundesrepublik (Gebiet der alten Bundesländer) soll nicht näher eingegangen werden. Was sich an Differenzen der Lebenserwartung abzeichnet, ist vor allem dem unterschiedlichen Sterblichkeitsniveau und weniger einer anders gearteten Todesursachenstruktur geschuldet. Es ist damit zu rechnen, daß es zu einem Ausgleich der Unterschiede bei den Herz-Kreislaufkrankheiten und den bösartigen Neubildungen kommen wird, allein durch die Angleichung der Diagnostik und der Kodiergewohnheiten. Für einen Teil der Unterschiede ist aus heutiger Kenntnis die voneinander abweichende Kodierung verantwortlich (Hoffmeister/Wiesner 1993,130; Brückner 1993; Bergmann u.a. 1992). Im folgenden wird der Lebensverlängerungsprozeß im Zeitraum von 1906 bis 1985 im Deutschen Reich und in der DDR dargestellt. Grundlage ist die Entwicklung

146

II. Quellen und Methoden

der Todesursachenstruktur und der mittleren Sterbealter der einzelnen Todesursachenklassen. Außerdem wird untersucht, inwieweit Veränderungen der Todesursachenstruktur und der mittleren Sterbealter der jeweiligen Todesursachen alters- bzw. todesursachenstrukturbedingt sind.

Ergebnisse Die Todesursachenstrukturänderungen zeigen, daß sowohl in der realen Bevölkerung als auch in der Tafelbevölkerung Todesursachen des jüngeren Lebensalters wie die Tuberkulose und andere Infektionskrankheiten zurückgedrängt werden. Diese werden abgelöst durch Diagnosen des höheren Lebensalters wie Herz-Kreislauferkrankungen und Neubildungen. Insgesamt kommt es zu einer Verschiebung des Sterbens zum höheren Alter hin (Abb. 3,4, 5 und 6). Außerdem erhöhen sich die mittleren Sterbealter aller Todesursachenklassen, so daß aus dieser Entwicklung insgesamt eine Erhöhung der mittleren Lebenserwartung resultiert (Abb. 7 und 8). Die höhere mittlere Lebenserwartung des weiblichen Geschlechts ergibt sich vor allem aus dem um 10% höheren Anteil der Herz-Kreislauferkrankungen und dem fünf Jahre höheren mittleren Sterbealter der Todesursachenklasse Herz-Kreislauferkrankungen. Trotz der insgesamt positiven Entwicklung fällt auf, daß bei den männlichen Gestorbenen das mittlere Sterbealter ab 1975 bei 70 Jahren stagniert bzw. in der Tafelbevölkerung sogar etwas absinkt, was sich auch in den mittleren Sterbealtem der Herz-Kreislauferkrankungen und Neubildungen (drei Viertel aller Gestorbenen) niederschlägt. Den Einfluß der mittleren todesursachenspezifischen Sterbealter und der Todesursachenstruktur der Tafelbevölkerung auf die Entwicklung der mittleren Lebenserwartung für ausgewählte Jahre zeigen die Abbildungen 9 und 10. Dabei gibt der Abstand zwischen unterbrochener Kurve und Abszisse den prozentualen Anteil der Todesursachenstruktur an den Gesamtveränderungen der mittleren Lebenserwartung an. Es ergibt sich insgesamt eine deutliche Erhöhung der mittleren Lebenserwartung zwischen 1906 und 1985. Diese Entwicklung verläuft jedoch diskontinuierlich. Die Ursache der todesursachenstrukturbedingten Erhöhung der Lebenserwartung zwischen 1912 und 1924 bzw. zwischen 1934 und 1955 war die Zurückdrängung der besonders in den Nachkriegsjahren aufgetretenen Infektionskrankheiten. Die strukturbedingte Erhöhung der Lebenserwartung zwischen 1965 und 1975 ist vor allem in der Erhöhung des Anteils der Herz-Kreislauferkrankungen am Gesamtsterbegeschehen begründet, die zwischen 1965 und 1975 um ein Fünftel der Gesamtveränderungen zunehmen. Nach jeder Erhöhung der Lebenserwartung erfolgt eine Verschiebung des Sterbens in spätere Alters- und Kalenderjahre. Damit wird vorübergehend der Anteil der Todesursachenstruktur an der Erhöhung der Lebenserwartung zurückgehen. Die Pia-

Todesursachenstruktur

in Deutschland

147

teaus zwischen 1924 und 1934, 1955 und 1965 sowie 1975 und 1985 lassen dieses Phänomen erkennen. Unter Verwendung der direkten Standardisierung wurden zwei Modelle zur Quantifizierung des Einflusses der Todesursachenstruktur und der Altersstruktur der Tafelbevölkerung auf die Entwicklung der todesursachenspezifischen mittleren Sterbealter und der altersspezifischen Todesursachenziffern berechnet. Standardisiert wurde bei Modell 1 auf die männlichen Gestorbenen der Tafelbevölkerung von 1985 und bei Modell 2 auf die altersspezifischen Todesursachenziffern der männlichen Gestorbenen der Tafelbevökerung von 1985. Auch die Ergebnisse dieser Berechnungen verdeutlichen, daß die Entwicklung der Lebenserwartung sowohl aus der Altersstruktur als auch aus der Todesursachenstruktur resultiert. Dabei wirkt sich die Altersstruktur der Gestorbenen in entscheidendem Maße auf die Entwicklung der todesursachenspezifischen mittleren Sterbealter aus. Durch die Berechnung von Todesursachentafeln mit der Sterbetafel der männlichen Gestorbenen von 1985 (Modell 1) wurden bei den Klassen der Infektionskrankheiten, der Herz-Kreislauferkrankungen und der Neubildungen bei beiden Geschlechtern durchschnittlich 100% und bei der Todesursachenklasse Tuberkulose die Hälfte der Veränderung der mittleren Sterbealter zwischen 1906 und 1985 realisiert. Die altersspezifischen Todesursachenziffern der männlichen Tafelbevölkerung von 1985 (Modell 2) führen zu einem höheren mittleren Sterbealter von 1906 im Verleich zu 1985. Dabei wird erkennbar, daß die mittleren Sterbealter der Todesursachen vorwiegend durch die Altersstruktur der Gestorbenen bestimmt werden. Die Entwicklung der Todesursachenstruktur der Tafelbevölkerung zwischen 1906 und 1985 wird durch die altersspezifischen Todesursachenziffern der männlichen Tafelbevölkerung von 1985 realisiert. Ihr quantitativer Einfluß macht bei allen hier näher untersuchten Todesursachenklassen bei Männern und Frauen durchschnittlich drei Viertel, bei der Tuberkulose sogar 100% der Veränderung ihrer Anteile bis 1985 aus. Aber auch der Einfluß der Altersstruktur der Gestorbenen liegt für die Herz-Kreislauferkrankungen und die Klasse der Infektionskrankheiten bei der Hälfte und für die Neubildungen sowie die Tuberkulose bei einem Drittel der Gesamtveränderungen der Todesursachen im betrachteten Zeitraum (Westphal 1992). Sowohl in der realen Bevölkerung als auch in der Tafelbevölkerung ist heute mehr als die Hälfte der Gestorbenen der Todesursachenklasse Herz-Kreislauferkrankungen zuzuordnen. Zuerst ist der Einfluß der Altersstruktur der Gestorbenen der Tafelbevölkerung auf die Altersverteilung innerhalb dieser Todesursachenklasse untersucht worden. Es wurde festgestellt, daß sich durch die Berechnung der Todesursachenstruktur von 1906 mit der Sterbetafel der männlichen Gestorbenen von 1985 eine Erhöhung des mittleren Sterbealters für die Herz-Kreislauferkrankungen um 7,6 Jahre bei den männlichen bzw. 4,8 Jahre bei den weiblichen Gestorbenen ergibt. Diese Erhöhung wird durch einen größeren Anteil der an dieser Diagnoseklasse Gestorbenen jenseits des 60. Lebensjahres und durch eine Verschiebung des Dichtemittels der Altersverteilung in ein höheres Lebensalter verursacht.

148

II. Quellen und Methoden

Bei der Untersuchung des Einflusses der Todesursachenstruktur der Tafelbevölkerung auf die Altersverteilung innerhalb der Todesursachenklasse Herz-Kreislauferkrankungen wurde ermittelt, daß das mittlere Sterbealter durch die Todesursachenstruktur von 1985 nur geringfügig gegenüber dem Wert von 1906 gewachsen ist. Diese geringe Differenz zeigt, daß sich die durch die Todesursachenstruktur der männlichen Tafelbevölkerung von 1985 begründeten Verschiebungen in unterschiedlichen Richtungen auf das mittlere Sterbealter auswirken. Das Anwachsen des Anteils der an Herz-Kreislauferkrankungen Gestorbenen in früherem Lebensalter bewirkt eine Herabsetzung des Sterbealters. Die Erhöhung des Anteils der Gestorbenen zwischen dem 45. und 100. Lebensjahr und des Dichtemittels bewirkt ein Anwachsen des mittleren Sterbealters der Herz-Kreislauferkrankungen. Die summarische Wirkung der beiden Effekte auf das mittlere Sterbealter hebt sich gegenseitig auf.

Todesursachenstruktur in Deutschland

149

Entwicklung der Lebenserwartungszunahme in Jahren Deutschland 1871/82-1986/88 nach Alter, Geschlecht und Perioden weiblich Alter

1871-1901 3.60 3.53 1.66 2.07 0.77 0.52 0.08

0- 1 1-5 5-20 20-45 45-60 60-75 75Summe

_

_ 12.22 ...

1901-1924 5.50 2.09 0.95 1.78 0.72 0.79 0.24 12^)7 _

1924-1970 3.58 0.95 0.90 2.06 1.20 1.66 0.72

1901-1924 6.10 1.98 0,76 1,49 1,14 0,80 0.18 12.45

1924-1970 4.10

_ 11.07 _ .

1970-1988 1.08 0.15 0.23 0.42 0.62 1.24 1.10 4.84

Summe 13.75 6.73 3.74 6.33 3.31 4.22 2.14 _

40.21

männlich Alter 0- 1 1-5 5-20 20-45 45 - 60 60 - 75 75Summe

1871-1901 3.87 3.27 1.49 2,07 0,75 0,34 0,03 11.82

0.97 0.72 1.26 0.46 -0.12 0,16 7.55

1970-1988 1.27 0.17 0.40 0,73 0.56 1.27 0,41 4.80

Summe 15.33 6.39 3.38 5.55 2.91 2.29 0.78 36.62

Abb. 1: Entwicklung der Lebenserwartungszunahme in Jahren Deutschland 1871/821987/88 nach Alter, Geschlecht und Perioden

e

Zunahme der Lebenserwartung in Deutschland nach Alter und Geschlecht

o 7,00 - r — —

Abb. 2: Zunahme der Lebenserwartung in Deutschland

150

II. Quellen und Methoden

Todesursachenstruktur der Gestorbenen nach Alter Deutschland 1906 männlich (auf die Sterbetafel normiert) Tausend

25

Altersgruppen

• Herz-Kreislauf-SystemE3bösartige Neubildungen • Infektionskrankheiten S Pneumonie DTbc El Atmungssystem El Verdauungssystem § Unfälle H übrige Krankheiten

Tausend

25 i

Altersgruppen Abb. 3: Todesursachenstruktur der Gestorbenen der Sterbetafel 1906 nach Alter, männlich und weiblich

Todesursachenstruktur

in Deutschland

151

Todesursachenstruktur der Gestorbenen nach Alter Deutschland 1985 Tausend (auf die Sterbetafel normiert) 25 i

männlich

Altersgruppen Tausend 25

weiblich

Altersgruppen

Abb. 4: Todesursachenstruktur der Gestorbenen der Sterbetafel 1985 nach Alter, männlich und weiblich

152

II. Quellen und Methoden Todesursachenstruktur der Gestorbenen nach Alter und Geschlecht Deutschland 1906 (auf die Sterbetafel normiert, rel. in %)

100%

75%

50%

25%

Altersgruppen • Herz-Kreislauf-SystemE3bösartige Neubildungen El Infektionskrankheiten ES Pneumonie dTbc C] Atmungssystem 0 Verdauungssystem B Unfälle 0 übrige Krankheiten

100%

Altersgruppen Abb. 5: Todesursachenstruktur der Gestorbenen der Sterbetafel 1906, relativ in Prozent nach Alter, männlich und weiblich

Todesursachenstruktur

in

153

Deutschland

Todesursachenstruktur der Gestorbenen nach Alter und Geschlecht Deutschland 1985

100%

(auf die Sterbetafel normiert, rel. in %)

75%

50%

25%

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Altersgruppen • Herz-Kreislauf-SystemE2bösartige Neubildungen 13 Infektionskrankheiten Sä Pneumonie DTbc tD Atmungssystem 0 Verdauungssystem S Unfälle SS übrige Krankheiten

100% 75%

50%

25%

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0

Altersgruppen Abb. 6: Todesursachenstruktur der Gestorbenen der Sterbetafel 1985, relativ in Prozent nach Alter, männlich und weiblich

154

II. Quellen und

Methoden

Entwicklung der mittleren Sterbealter reale Bevölkerung 1906 - 1985 Alter in Jahren

Kalenderjahre mitü.Leb.

1

Infekt. Krh.

' Tbc "Neoplasmen ~*~HKK

Alter in Jahren

Kalenderjahre Abb. 7: Entwicklung der mittleren Sterbealter nach Todesursachen, männlich und weiblich, reale Bevölkerung 1906-1985

Todesursachenstruktur

155

in Deutschland

Entwicklung der mittleren Sterbealter Tafelbevölkerung 1906- 1985

80

Alter in Jahren •





— —

/



60



•'+- -+

40

20 männlich i

0 1900

i

i

1920

i

l

i

1940

1960

l

l 1980

Kalendeijahre h

mittl.Leb.

Infekt. Krh.

" Tbc

"Neoplasmen

HKK

Alter in Jahren

20

—r weiblich —i

1900

1 1920

1

1 1940

1

1— 1960

1980

Kalenderjahre Abb. 8: Entwicklung der mittleren Sterbealter nach Todesursachen, männlich und weiblich, Tafelbevölkerung 1906-1985

156

II. Quellen und Methoden

Kalenderjahre

Kalendeijahre Abb. 9: Anteilmäßige Änderung der Lebenserwartung e 0 und Änderung der Todesursachenstruktur, männlich und weiblich, 1906-1985

Todesursachenstruktur in Deutschland.

157

Lebensjahre

Lebensjahre Abb. 10: Altersverteilung der an Herz-Kreislauferkrankungen Gestorbenen, männliche Tafelbevölkerung 1906, Modell 1 und Modell 2

Generationensterblichkeit in Norwegen 1846-1980. Datengrundlage und Methode Jens-Kristian Borgan

Datengrundlage* Die Berechnungen in den Mortalitätstabellen für Generationen und Perioden, die in der Publikation »Kohort-d0deligheten i Norge 1846-1980« veröffentlicht wurden (Rapporter 83/28. Oslo: Statistisk Sentralbyrâ 1983), basieren auf registrierten bzw. berechneten Angaben und Zahlen für Geborene nach Geschlecht, für Gestorbene nach Geschlecht und Geburtsjahr sowie auf den Bevölkerungszahlen nach Geschlecht in einjährigen Altersgruppen für jedes Jahr von 1846 bis 1980. Vor 1970 beruhen die Angaben zur Bevölkerungsmenge auf den Volkszählungen der Jahre 1846, 1856, 1866,1876, 1891, 1901, 1911, 1921, 1931, 1946, 1950 und 1960. Seit 1871 wurden die Sterbefälle nach dem Geburtsjahr registriert, vor dieser Zeit allein nach Altersgruppen. Nach 1970 sind sämtliche Daten dem zentralen Personenregister entnommen. Dieses Register umfaßt alle Personen, die gemäß norwegischer Bevölkerungsregistrierung als in Norwegen wohnhaft gemeldet sind.

Gestorbene Für die Jahre 1846-1870 wurden die Sterbefälle nach Geschlecht und Altersgruppen registriert. In den Jahren 1846-1865 waren es folgende Gruppen: 0 , 1 -2,3-4,5-9 Jahre und ab 10 Jahre Zehnjahresgruppen. 1866-1870 waren es bis 5 Jahre Einjahresgruppen und anschließend Fünfjahresgruppen. Ab 1871 wurden die Sterbefälle sowohl nach dem Geburtsjahr als auch nach vollendeten Jahren zum Zeitpunkt des Todes registriert. Auf der Grundlage der Daten für Gestorbene nach Geburtsjahr und Altersgruppen 1876-1900 wurde berechnet, welcher Teil der Sterbefälle jeder Altersgruppe in den einzelnen Jahren der Periode geboren waren. Die Ergebnisse wurden den Berechnungen der Sterbefälle nach Geburtsjahren für die Jahre 1846-1870 zugrundegelegt.

*

Im Text ist das Zeichen » A « selbst dann nicht über die Symbole gesetzt, wenn es sich um Schätzungen handelt.

160

II. Quellen und Methoden

Bevölkerungsmenge Bei den Volkszählungen von 1846,1856 und 1866 wurden die Einwohnerzahlen nach Altersgruppen berechnet. In den beiden ersten Volkszählungen erfolgten die Altersangaben in Fünf- und Zehnjahresgruppen. 1866 waren es einjährige Gruppen bis zu einem Alter von 5 Jahren sowie bei den über 90 Jahre alten Menschen. Für die Alter dazwischen erfolgte eine Einteilung in Fünfjahresgruppen. Ab der Volkszählung von 1876 ist die gesamte Bevölkerung nach Geburtsjahren aufgeführt. Um die Bevölkerungszahlen der Volkszählungen von 1846, 1856 und 1866 von den ursprünglichen Zusammenfassungen nach Altersgruppen in einzelne Altersjahre umzurechnen, legte man die schwedischen Mortalitätstabellen der Jahre 1841-1855 zugrunde und reorganisierte das norwegische Material in der Weise, daß man von den ursprünglichen Größen der Geburtskohorten ausging und errechnete, wie viele von deren Angehörigen jeweils noch am Leben gewesen wären, wenn sie in ihrem Sterblichkeitsmuster dem schwedischen Beispiel gefolgt wären. Diese berechneten Zahlengrößen wurden anschließend addiert und mit den Bevölkerungsmengen korrigiert, die in den entsprechenden Altersgruppen der Volkszählungen tatsächlich registriert waren. Hieran schloß sich eine Anpassung der Summen in der Weise an, daß die Summen der berechneten Altersgruppen mit denjenigen der registrierten Altersgruppenzahlen in Übereinstimmimg gebracht wurden. Nach den Umrechnungen in einjährige Altersgruppen für die ersten drei Volkszählungen lagen die Bevölkerungsmengen sämtlicher Volkszählungen für die gesamte bislang ins Auge gefaßte Periode nach Geschlecht und einjährigen Altersgruppen vor. Um zu einer entsprechenden Aufgliederung für die jeweils dazwischenliegenden Jahre bis 1970 zu gelangen, wurde stets von der entsprechend zuvor durchgeführten Volkszählung ausgegangen und die betreffenden Kohorten gemäß den für sie registrierten (oder berechneten) Geburts- und Sterbezahlen revidiert. Zudem wurden die Zahlen der jeweiligen altersspezifischen Überseewanderung in die Kalkulationen mit einbezogen. Die verbleibenden Abweichungen zwischen den errechneten Populationsmengen für die Kohorten und den bei der nächsten Volkszählung tatsächlich angegebenen wurden sodann proportional auf die einzelnen Kalenderjahre verteilt. Außerdem wurden noch andere erhaltene Zahlen in Betracht gezogen, die etwas zur zusätzlichen Ein- und Auswanderung aussagen, so vor allem bestimmte Angaben über zu- und abwandernde Seeleute.

Evaluation der Berechnungen Die oben umschriebenen Berechnungen für die Bevölkerungen des 19. Jahrhunderts wurden zum Teil schon vor der Jahrhundertwende durchgeführt, zum Teil erst um 1910. Für unser Jahrhundert gilt bis 1970, daß die Be- und Umrechnungen des jeweils für eine Zehnjahresperiode vorhandenen Zensusmaterials stets im unmittelbaren An-

Generationensterblichkeit in Norwegen 1846-1980

161

Schluß an deren Vorliegen erfolgten. Seit 1970 schließlich werden die Angaben direkt aus dem zentralen Personenregister bezogen, das alle in Norwegen wohnhaften Personen erfaßt. Auch wenn die unserer Publikation zugrundeliegenden Zahlen somit teilweise auf Berechnungen basieren, hat das Norwegische Statistische Zentralbüro guten Grund zu der Annahme, daß die veröffentlichten Tabellen ein annähernd korrektes Bild der sukzessiven Veränderungen im Aufbau der erfaßten Generationen wiedergeben.

Die angewandte Methode bei der Berechnung der Sterblichkeitstabellen für Perioden und Kohorten S terblichkeitsmodell Alle Sterblichkeitsmaße in den Sterblichkeitstabellen basieren auf der Sterbewahrscheinlichkeit n(x), wobei n(x)dx definiert wird als die Wahrscheinlichkeit einer Person im Alter x, vor Erreichen des Alters x+dx zu sterben. tp x soll nun die Wahrscheinlichkeit für eine Person im Alter x sein, im Alter x+t noch am Leben zu sein, tq x dagegen soll die Wahrscheinlichkeit für dieselbe Person darstellen, vor Erreichung des Alters x+t zu sterben. Wir schreiben p x für ip x und q x für iq x und erhalten somit x+t (1.1) tpx=

1 -tqx

=e

Die erwartete Anzahl Personen, die im Alter x von lo Neugeborenen immer noch am Leben sein wird, ist dann (1.2) / = / x

0

• p x

0

so daß wie schreiben können rl ">\ (1.3) t

P x

= 1l -

t q

=

h +—t

Wir definieren dx als die erwartete Anzahl Gestorbene im Alter zwischen x und x+1 von lo Neugeborenen. Ausgehend von (1.3) erhalten wir dann (1.4) d =1 -l K '

X

X

* + 1

=1 ( l - p ) = l ^x'

x

q

"x

162

II. Quellen und Methoden

Die erwartete restliche Lebenserwartung für eine Person im Alter x ist dann CO —

0

e = j

X

(ä-x t

0

t p x

\L{x+t)dt = \

0

^ lx

dt

wobei co das höchste mögliche Lebensalter darstellt. Mit Hilfe der Euler-MacLaurins-Summenformel erhalten wir dann den Annäherungswert (ü - X *

t =0

Analog hierzu ist die erwartete Lebensspanne im Alter zwischen x und y für eine Person im Alter x (i.6)

°

y

uj*] "o

y

t =o

x

x

Abschätzung der Sterbewahrscheinlichkeit Wir wollen annehmen, daß (_l(x) über alle Altersintervalle mit einer Länge von einem Jahr konstant ist und schreiben x als den konstanten Wert für die x-ten dieser Intervalle. In dem Fall können wir jix schätzen als Sterblichkeitsraten (2.1) £ =

K

x

x = 0, 1,..., co - 1

Hier meint D x die Anzahl der in der Bevölkerung registrierten Sterbefälle in einem Alter zwischen x und x+1 Jahren, und R x ist die gesamte Exponierungszeit in der Bevölkerung im gleichen Altersintervall. Wir schätzen somit die Sterbewahrscheinlichkeiten mit den zentralen Sterberaten.

Berechnung der Anzahl Gestorbener und der durchlebten Zeit Für die Berechnung der zentralen Sterberaten zum Gebrauch in Kohortensterbetafeln führen wir folgende Symbole für Kohorten ein, die im Jahr n geboren wurden (wir gebrauchen keinen Index für das Geschlecht, da die Situation von Männern und Frauen analog ist): F (n) = Anzahl Lebendgeborene im Verlauf des Jahres n; n = 1846,..., 1980; D x (n+x) = Anzahl Sterbefälle in der Kohorte, die im Jahr n geboren wurde, im Verlauf des Jahres n+x; x = 0 , 1 , . . . , co -1, n+x = 1846,..., 1980;

Generationensterblichkeit in Norwegen 1846-1980

163

L x (n+x) = Anzahl Personen in der Kohorte, die im Jahr n geboren wurde, die am Ende des Jahres n+x noch am Leben ist; x = 0 , 1 , . . . , co -1, n+x = 1846,..., 1980; R x (n+x) = totale Exponierungszeit für die Kohorte, die im Jahr n geboren wurde, im Verlauf des Jahres n+x; x = 0 , 1 , . . . , co -1, n+x = 1846,..., 1980. Abbildung 1 zeigt das Lexis-Diagramm für die beiden ersten Kalenderjahre für die Kohorte, die im Jahr n geboren wurde.

Abb. 1: Lexis-Diagramm für die Kohorte, die im Jahr n geboren wurde Die Elemente in der Einschätzung der Sterbewahrscheinlichkeit in der Formel (2.1) sind also (3.1) Dx~Dx{n

+ x), Jt = 0, 1, ...,co- 1, n + x= 1846, ..., 1980

(3.2) R0 = R0 («) = ~ (F(n) + L0 (n)), n = 1846

1980

164

II. Quellen und Methoden

(3.3) Rx = Rx (n) - i (Z* _ {(n + x - 1) + L x (n + x)), 2 x = 1, ..., c o - l , n + x = 1846, ..., 1980 In den Überlebenstabellen, die in dieser Publikation abgedruckt sind, haben wir Fünfjahreskohorten benutzt. Wir schätzten dabei die Sterbewahrscheinlichkeiten in der Weise, daß die Größen (3.1), (3.2) oder (3.3) über n, n+1, n+2, n+3 und n+4 addiert wurden. Für die Periodensterblichkeiten benutzen wir dieselben Symbole wie für die Kohortensterblichkeiten, aber der Index n steht hier für das Kalenderjahr an Stelle des Geburtsjahres. In Abbildung 2 ist ein Lexis-Diagramm für die beiden niedrigsten Alter der Periode des Jahres n wiedergegeben.

Die Elemente in der Einschätzung der Sterbewahrscheinlichkeit in der Formel (2.1) sind hier somit

Generationensterblichkeit in Norwegen 1846-1980

165

(3.4) Dx = Dx(ri), x = 0,1,..., co- 1, n = 1846,..., 1980 (3.5) R0 =R0 (n) =

F(n) + L0(n))y n = 1846, ..., 1980

(3.6) Kx = Hx(n) = i(Lx_

j (n-1) + Lx(n)) ,x= 1,..., co- 1, n = 1846,.... 1980

Für die Situation mit Fünfjahresperioden erhalten wir die Elemente für die Einschätzung der Sterbe Wahrscheinlichkeit dadurch, daß wir die Größen (3.4), (3.5) und (3.6) über n, n+1, n+2, n+3 und n+4 addieren.

Schätzung der übrigen Parameter im Sterblichkeitsmodell Im oben stehenden Abschnitt »Berechnung der Anzahl Gestorbener und der durchlebten Zeit« wird Alter in vollendeten Jahren am Ende des Kalenderjahres definiert. Wir zeigten dort, wie man die Sterbewahrscheinlichkeit mittels dieser Altersdefinition schätzen kann. Wenn wir jedoch diese Schätzungen in den Formeln (1.1), (1.2), (1.4) und (1.5) gebrauchen, erhalten wir Schätzungen für die übrigen Mortalitätsmaße mit derselben Altersdefinition. Für die Sterbetafeln in dieser Publikation wollen wir die Sterblichkeit indes für Personen mit genauem Alter angeben. Die Mortalitätsmaße gemäß dieser Altersdefinition (exaktes Alter in vollendeten Jahren) können wir berechnen durch (vgl. [1.1])

(4.1) px=\-q

= e~2

+

J , x = 0,1, ...,©- 1

Bei (1.3) erhalten wir dann die Schätzungen gemäß der rekursiven Formel + 1 =fx Px> x~0'

1; fo = IQ.

III. Untersuchungsgebiete

Deutsches Reich

Zeittafel Deutsches Reich (Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittes Reich)

1850

Olmützer Punktation Preußens

1863

Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins

1864

Preußisch-Österreichischer Krieg gegen Dänemark

1866

»Deutscher Krieg« Preußens gegen Österreich und die Mehrheit der Staaten des Deutschen Bundes (23.8. Friede von Prag)

1870/1871

Deutsch-Französischer Krieg

18.1.1871

Proklamation Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser in Versailles; Gründung des Deutschen Reichs

1871

In der Folge des Krieges bricht eine Pockenepidemie aus

1872

»Allgemeine Bestimmungen« legen Richtlinien für Lehrer- und Schülerausbildung fest; staatliche Schulaufsicht

1873

Staatliche Kirchenaufsicht

1874

Reichsimpfgesetz gegen Pocken

1874/75

Personenstandsgesetz; Einführung der obligatorischen Zivilehe

1878

Sozialistengesetz (wird 1890 nicht erneuert)

1879

Abkehr vom Freihandel; 1885-87 Aufbau eines Schutzzollsystems für Deutschland

1883-89

Reichssozialgesetzgebung: Einführung der Krankenversicherung; 1884 Einführung der Unfallversicherung; 1889 Einführung der Alters- und Invaliditätsversicherung

1888

»Dreikaiserjahr«: Wilhelm I. stirbt, Friedrich III. regiert neunundneunzig Tage, Wilhelm II. wird Kaiser

1889

Massenstreiks im Gelsenkirchener und Waldenburger Bergbau

1890

Rücktritt Otto von B ismarcks

1.5.1890

Erste Massendemonstration für die Einführung des Acht-Stundentags

1890/91

Arbeitsschutzgesetzgebung (u. a. Arbeitszeitregelung für Frauen und Kinder; Verbot der

1900-1903

Ausbau der Sozialgesetzgebung

1908

Zulassung von Mädchen in Preußen zu Abitur und Studium

1911

Krankenversicherung für Angestellte wird Pflicht

Kinderarbeit)

1912/13

Balkankrise

28.6.1914

Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand

Juli 1914

Beginn des Ersten Weltkriegs

1916

700 000 Franzosen und Deutsche sterben im Kampf um Verdun

3.3.1918

Friede von Brest-Litowsk; Ausscheiden Rußlands aus dem Krieg

7.-9.11.1918

»Revolution« in den deutschen Hauptstädten

Deutsches Reich

171

9.11.1918

Ausrufung der freien sozialistischen Republik durch Karl Liebknecht sowie der

11.11.1918

Waffenstillstand auf Grundlage der »14 Punkte« Wilsons

Deutschen Republik durch Phillip Scheidemann; Friedrich Ebert wird Reichskanzler 28.11.1918

Tatsächliche Abdankung des Kaisers

19.1.1919

Wahlen zur Nationalversammlung, 3/4 Mehrheit für die »Weimarer Koalition« (SPD, DDP, Zentrum); Ebert wird Reichspräsident; Weimarer Verfassung enthält Gleichheitsgrundsatz: Wahlrecht für Frauen

28.6.1919

Unterzeichnung des Versailler Vertrags

1919-23

Inflation

1920

Kapp-Putsch

1920

Frauen erhalten Recht auf Habilitation

ab 1920

Schulspeisungen an zahlreichen Schulen

11.1.1923

Besetzung des Ruhrgebiets; Ruhrkampf (am 11.1.1925 alliierte Räumung)

8./9.11.1923

Hitler-Putsch scheitert

15.11.1923

Einführung der Rentenmark

11.10.1924

Einführung der Reichsmark

1924/26

Verbesserung der Armenfürsorge

26.4.1925

Nach dem Tod Eberts wird Paul von Hindenburg Reichspräsident

16.7.1927

Einführung der Arbeitslosenversicherung (seit November 1918 Erwerbslosenfürsorge)

1929-1933

Deflation; Weltwirtschaftskrise

1932

Arbeitslosenzahl erreicht mit 6,13 Millionen ihren Gipfel

30.1.1933

Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler

27.2.1933

Reichstagsbrand

28.2.1933

»Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat«

23.3.1933

Gesetz »zur Behebung der Not von Volk und Reich« (»Ermächtigungsgesetz«)

Juni/Juli 1933

Auflösung aller Parteien mit Außnahme der NSDAP (1.12.1933 Verbot der Neubildung von Parteien)

14.7.1933

Gesetz »zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«

14.10.1933

Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund

2.8.1934

Vereinigung der Ämter des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten durch den »Führer und Reichskanzler Adolf Hitler«, auf dessen Person als »Oberster Befehlshaber« die Wehrmacht am gleichen Tag vereidigt wird

13.1.1935

Volksabstimmung im Saargebiet: 91% der abgegebenen Stimmen für eine Eingliederung in das Reich

16.3.1935

Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht

26.6.1935

Einführung der Arbeitsdienstpflicht

15.9.1935

Die antisemitischen »Nürnberger Gesetze« (»Gesetze zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« und »Reichsbürgergesetz«) entrechten und diskriminieren die jüdische Bevölkerung Deutschlands

1.12.1936

Gesetz zur Erweiterung des Versicherungsschutzes

29.3.1936

Mit den Reichstagswahlen wird Hitlers Politik mit 99% der abgegebenen Stimmen gebilligt

24.8.1936

Einführung der zweijährigen Wehrdienstpflicht

30.1.1937

Verlängerung des »Ermächtigungsgesetzes« um vier Jahre

172

Deutsches Reich

4.2.1938

Hitler wird »Oberbefehlshaber der Wehrmacht«; Schaffung des Oberkommandos der Wehrmacht

12.3.1938

Einmarsch deutscher Truppen in Österreich; 13.3.1938 Gesetz über die »Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich« (»Anschluß«; 10.4.1938 Volksabstimmung)

29.9.1938

Münchner Konferenz zwischen Hitler, Benito Mussolini, Arthur N. Chamberlain und Eduard Daladier beschließt unter anderem die Abtretung der sudetendeutschen Gebiete der Tschecheslowakei an das Deutsche Reich

21.10.1938

Erste Weisung Hitlers zur »Erledigung der Resttschechei«

9.11.1938

Organisierte Ausschreitungen gegen die deutschen Juden in der sogenannten »Reichskristallnacht«

15.3.1939

Einmarsch der deutschen Truppen in die Tschechoslowakei (»Griff nach Prag«)

16.3.1939

Bildung des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren

27.8.1939

Einführung der Rationierung von Lebensmitteln in Deutschland

1.9.1939

Beginn des deutschen Angriffs auf Polen

3.9.1939

Großbritannien und Frankreich erklären dem Deutschen Reich den Krieg. Beginn des Zweiten Weltkriegs

Oktober 1939

Auf den 1.9. zurückdatierter Führererlaß zum sogenannten »Euthanasieprogramm«

29.12.1939

Einführung der Altersfürsorge für das Handwerk

22.6.1941

Angriff gegen die Sowjetunion. Systematische Vernichtung der in den eroberten Territorien im Osten lebenden Juden

Juni 1941

Unter Berufung auf Hitler befiehlt Heinrich Himmler dem Kommandanten des Lagers Auschwitz, Rudolf Höß, die Errichtung von Vergasungsanlagen

31.7.1941

Beauftragung Reinhard Heydrichs mit den »Vorbereitungen für eine Gesamtlösung der Judenfrage in Europa«

Dezember 1941

Beginn der Vernichtung der Juden durch Vergasung in Chelmno

20.1.1942

»Wannsee-Konferenz« der Staatssekretäre der wichtigsten deutschen Ministerien unter Vorsitz des Chefs des Reichsicherheitshauptamtes Heydrich (Ankündigung der »Endlösung der Judenfrage« in ganz Europa durch »Evakuierung« in den Osten und »andere Maßnahmen«)

21./22.7.1942

Beginn der systematischen Deponierung der ca. 350 000 Juden des Warschauer Ghettos in das Vernichtungslager Treblinka

13.1.1943

Erlaß Hitlers über den Einsatz der Männer und Frauen für die Aufgaben der Reichsverteidigung

31.1.-2.2.1943

Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad

18.2.1943

Goebbels verkündet im Berliner Sportpalast den »totalen Krieg«

24.7.-3.8.1943

Zerstörung großer Teile von Hamburg durch Bombenangriffe

4.- 11.2.1945

Konferenz von Jalta (u.a. Behandlung der Zukunftsplanungen für Deutschland)

13. - 14.2.1945

Alliierte Bombardierung Dresdens

30.4.1945

Hitler begeht Selbstmord

7./8.5.1945

Unterzeichnung der deutschen Kapitulation in Reims und Berlin-Karlshorst. Waffenruhe in Europa

Deutsches Reich (Kaiserreich, Weimarer Republik und Drittes Reich)* Eva Wedel-Schaper

Der Begriff Deutschland bezeichnet im weitesten Sinn den Raum der deutschen Kultur- und Sprachgemeinschaft innerhalb häufig wechselnder Staatsgrenzen.1 Für die Jahre 1871 -1945 steht er gleichbedeutend für das Deutsche Reich in seinen jeweiligen Grenzen, zuletzt in denen vom 31.12.1937, also vor den Auswirkungen der nationalsozialistischen Annexionspolitik und dem Zweiten Weltkrieg. Deutschland im völkerrechtlichen Sinn umfaßte von 1815 bis 1866 das Gebiet des Deutschen Bundes, von 1867 bis 1871 das Gebiet des Norddeutschen Bundes (und seiner süddeutschen Verbündeten) und von 1871 bis 1945 das Gebiet des Deutschen Reichs mit wechselnder Ausdehnung:2 Nach 1918 wurden Elsaß-Lothringen,3 Eupen-Malmedy, Nordschleswig, das Memelgebiet, Danzig, große Teile Westpreußens, Posens und Oberschlesiens sowie kleinere Teile Niederschlesiens abgetreten und das Saargebiet unter Verwaltung des Völkerbunds gestellt. 1935 wurde letzteres nach einer Volksabstimmung eingegliedert und 1938 das Sudetenland an das Deutsche Reich abgetreten; im selben Jahr erfolgte auch der Anschluß Österreichs. Bei der unter deutschem Druck erzwungenen Auflösung der sogenannten »Rest-Tschechei« 1939 wurden die tschechisch besiedelten Teile Böhmens und Mährens unter der Bezeichnung »Protektorat Böhmen und Mähren« als autonomes Gebiet dem »Großdeutschen Reich« angegliedert, Danzig und die besetzten Teile Polens nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs »einverleibt«. Nach dem Zusammenbruch 1945 zerfiel das Reich zunächst in die von den Amerikanern, Briten und Franzosen besetzten Westzonen, die sowjetisch besetzte Ostzone und die Ostgebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie, die damals zunächst unter polnische bzw. sowjetische Verwaltung gestellt worden waren. Die alte Reichshauptstadt Berlin wurde in vier Sektoren aufgeteilt. Aus dem Zusammenschluß der drei Westzonen mit ihren 11 Ländern entstand 1949 die Bundesrepublik Deutschland (23.5.1949 *

Für ihren wertvollen Rat, ihre Kritik und Aufmunterung möchte ich vor allem Gesine Asmus, Paul Erker, Rita Gudermann, Helmut Kerstingjohänner, Ines E. Kloke und Andreas Matschenz danken.

1

Vgl. Demandt 1991, bes. 12-31; Conze 1985, 21 ff.; Petzina u. a. 1978, 20-26; Hohorst u. a. 1978; Rytlewski/Opp de Hipt, BRD 1987 und dies., DDR 1987. Die Grenzläufe und benachbarten Staaten sind für den zu betrachtenden Zeitraum den voranstehenden Karten zu entnehmen.

2

Vgl. Art.l der Reichsverfassung; vgl. Schuster 1985, 71 f.; Huber 1975, 84 ff.; Conze/Hentschel 1988.

3

Das Elsaß und Lothringen waren mit dem Vorfrieden von Versailles 1871 von Frankreich an Deutschland abgetreten worden. Zu den Bedingungen des Versailler Vertrags (1919) vgl. Kolb 1984, 23-35; Krüger 1986; Petzina u. a. 1978, 23.

174

III.

Untersuchungsgebiete

Grundgesetz),4 aus der sowjetischen Besatzungszone mit ihren fünf Ländern die Deutsche Demokratische Republik (7.10.1949 Verfassung).5 Berlin blieb eine geteilte Stadt: Berlin (Ost) wurde Hauptstadt der DDR,6 und Berlin (West) geriet mit der Berlin-Blockade (1948), dem Ausbau der Grenzen und den Abriegelungen in der Nacht vom 12./13.8.1961, mit denen der Bau der Mauer begann, in eine Insellage. Im Jahr 1990 wurden die beiden deutschen Staaten durch den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik vereinigt (1.7.1990 Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion; 31.8.1990 Unterzeichnung des EinigungsVertrags; 3.10.1990 Beitritt).7 Aus der geteilten Stadt und dem Land Berlin wurde ein Bundesland,8 und mit Beschluß des Bundestags wurde Bonn 1991 als Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland von Berlin abgelöst. Das Deutsche Reich hatte bei seiner Konstitution im Jahr 1871 eine Flächenausdehnung von ca. 540 000 qkm (geschätzte Bevölkerung in Tsd. ca. 41 000), nach den Gebietsabtretungen 1919 von ca. 470 000 qkm (ca. 63 000 Tsd.) und 19399 von 470 500 qkm (ca. 69 000 Tsd.). Davon entfielen auf die Bundesrepublik (einschl. Saarland) ca. 248 000 qkm, die DDR ca. 108 000 qkm und Berlin (West) 480 qkm.10 Die Berechnungen von Lebenserwartungen und Sterbewahrscheinlichkeit im Dokumentationsteil dieses Bandes beruhen für die deutsche Bevölkerung vor allem auf dem Datenmaterial der Statistischen Jahrbücher des Deutschen Reichs, der Bundesrepublik und der DDR. Da das Deutsche Reich auch nach der Reichsgründung von 1871 eine unterschiedliche Gebietsausdehnung und wechselnde Grenzen hatte, ist

4

Nach Art. 23 GG: Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, NordrheinWestfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. 1951 wurden dann die südwestdeutschen Staaten zum Bundesland Baden-Württemberg vereinigt und 1957 trat das Saarland nach Volksabstimmung der Bundesrepublik bei; vgl. dazu und zum folgenden Wagner 1991, bes. 261-264; Jeserich u. a. 1987.

5

Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen.

6

Vgl. Kotokowski/Reichhardt 1987. Berlin (Ost) erhielt im Rahmen der Verwaltungsreform von 1952, als aus den Ländern der DDR Bezirke gebildet wurden, den Status eines Bezirks. - Eine Liste der hier verwendeten Kürzel findet sich am Schluß dieses Beitrags.

7

Weiland u. a. 1991. Zu den bisherigen 11 Bundesländern kamen nun Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen hinzu; vgl. auch Rutz u. a. 1993.

8

Die am 1.10.1950 in Kraft getretene Verfassung von Berlin hatte faktisch nur für die 12 von den Westmächten besetzten Bezirke gegolten. Durch die Verabschiedung des Mantelgesetzes zur Überleitung von WestBerliner Landesrecht auf Ost-Berlin am 26./27.9.1990 wurden die Voraussetzungen für die Rechtseinheit in beiden Teilen der Stadt getroffen. Seit dem 9.10.1990 fungiert eine Gesamt-Berliner Landesregierung; vgl. Zivier 1992.

9

In den Grenzen vom 31.12.1937.

10 Datenmaterial zu Staatsgebiet und Bevölkerung findet sich u. a. bei Flora 1975, 15-26. In der einschlägigen Literatur weichen die Daten stets leicht voneinander ab. Wissenschaftliche Länderkunden liegen für eine Reihe von Bundesländern vor (Berlin, Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen) oder sind in Vorbereitung (Küstenländer, Deutschland als Ganzes); vgl. dazu das Literaturverzeichnis. Zur DDR vgl. Göhl 1989. Zu Süddeutschland noch immer grundlegend ist Gradmann 1964, Neuaufl. 1984. Zu Bodenschätzen, Klima und Vegetation vgl. auch Eriksen 1985; Sedlacek 1988; Born 1989; Haas/Fleischmann 1991.

Deutsches

Reich

175

auch die Bevölkerung jeweils anders definiert. Erstellt man Statistiken über längere Zeiträume, müssen sie dem Rechnung tragen, insbesondere in der Interpretation oder der Gegenüberstellung mit anderem Quellenmaterial. Eine Vergleichbarkeit ist daher zuweilen nur eingeschränkt gegeben. Grundsätzlich können die Daten stets auf den untersuchten Zeitraum und die politischen Gegebenheiten hin betrachtet und überprüft werden. Wenn bei den Bevölkerungszahlen von der Wohnbevölkerung ausgegangen wird, gewinnt beispielsweise die Annexion Polens durch die Nationalsozialisten auch eine bevölkerungsstatistische Bedeutung. Exakte Zahlen über die Millionen von vor allem jüdischen Häftlingen liegen jedoch nicht vor.11 Ob und in wieweit sich dieses in den Berechnungen zur Lebenserwartung niederschlägt, zeigen Dokumentation und Quellenkritik.12 Mit einer kurzen Einführung in die politischen Grundstrukturen wird zunächst der Hintergrund skizziert, in den die statistischen Angaben eingebunden werden können, und vor dem sich die wichtigsten Aspekte einer »Zirkularkausation« (Imhof) - wenigstens ansatzweise - entwickeln lassen. Die ökonomischen, gesellschaftlichen und bevölkerungsgeschichtlichen Aspekte bilden den Rahmen für die Komplexität der einzelnen Forschungsansätze. Knappe Hinweise zu grundlegender und weiterführender Literatur sollen die Möglichkeit bieten, Einzelfragen zu vertiefen.

Grundzüge der politischen Entwicklung Der Deutsche Bund und die Gründung des Deutschen Reichs Der Deutsche Bund wurde als loser Staatenbund auf dem Wiener Kongreß als Folge der Napoleonischen Kriege geschlossen.13 Oberstes Organ war das Bundesparlament in Frankfurt a. M. Im Laufe der Revolution von 1848/49 wurde versucht, den Bund in einen nationalen Bundesstaat auf der Grundlage eines gemäßigt demokratischen Liberalismus umzuwandeln. Nach dem Scheitern der Revolution gab Preußen mit der Olmützer Punktation (1850) seine Unionspolitik auf und erkannte den Bundesrat an, allerdings trat der preußisch-österreichische Dualismus im wiederhergestellten Deutschen Bund stärker in den Vordergrund. Da die Reformversuche beider Seiten ergebnislos blieben, brach der Bund schließlich auseinander, als die Bundesversammlung auf Antrag Österreichs 1866 das Bundesheer gegen Preußen mobil machte, das daraufhin den Bundes vertrag aufkündigte. Der »Deutsche Krieg« brachte dann die entscheidende Wende im mehr als ein Jahrhundert währenden Dualismus zwischen

11 Zu neuesten Forschungen über Zahlen und Daten vgl. Benz, Völkermord 1991. 12 Zu den Quellen und Methoden dieser Statistik vgl. den Beitrag von Kamke in diesem Band. 13 Im Jahr 1866 gehörten ihm noch 28 souveräne Fürsten und 4 Freie Städte an, an ausländischen Staaten Dänemark, England und die Niederlande; vgl. allg. Schulze 1986; Rürup 1992.

176

III.

Untersuchungsgebiete

Preußen und Österreich. Im Prager Frieden erkannte Österreich die Auflösung des Deutschen Bundes an und stimmte der Neugestaltung Deutschlands im Sinne einer kleindeutschen Lösung zu. Außerdem billigte es die preußischen Annexionen in Norddeutschland (Schleswig-Holstein, Hannover, Kurhessen, Frankfurt a. M.). Österreich, das Venetien an Italien abtreten und Kriegsentschädigungen an Preußen zahlen mußte, schied damit 1866 aus dem deutschen Staatenverband aus.14 Am 18.8.1866 schlössen sich 22 Länder nördlich des Mains zum Norddeutschen Bund unter der Führung Preußens zusammen. Die süddeutschen Staaten unterzeichneten geheime Schutz- und Trutzbündnisse mit Preußen. Auf der Grundlage von Verträgen mit den süddeutschen Staaten wurde ein Zollbundesrat eingesetzt sowie ein Zollparlament, das sich aus Mitgliedern des Norddeutschen Reichstags und den aus Süddeutschland gewählten Abgeordneten zusammensetzte (Wahlen von 1868 brachten in Bayern und Württemberg einen Sieg für die antipreußisch-partikularistischen Kräfte). Die wirtschaftlich dominierende Stellung Preußens fand ihren Ausdruck in seiner fuhrenden Rolle im Zollparlament.15 Nach dem deutschen Sieg über Frankreich 1870 traten die süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg, Baden und Hessen dem Norddeutschen Bund bei.16 Mit der Proklamation Wilhelms I. von Preußen zum Deutschen Kaiser in Versailles wurde am 18.1.1871 die Reichsgründung als ein Bund der deutschen Fürsten und Freien Deutschen Städte (unter der Hegemonie Preußens) vollzogen mit dem Zweck der Abwehr äußerer und innerer Gefahren sowie der geistigen und materiellen Wohlfahrt der Staatsnation.17 Die Reichsverfassung (16.4.1871) war eine erweiterte Form der Verfassung des Norddeutschen Bundes. Im obersten Verfassungsorgan, dem Bundesrat, stellte Preußen - obgleich bevölkerungsstärkster Staat - nur 17 von 56 bzw. 58 Stimmen, die Mitgliedsländer waren hier stark vertreten. Aber die hegemoniale Stellung Preußens ist in der Verfassung mehrfach verankert und mit föderativen Regelungen verbunden.18 Der Bundesrat war mit dem frei gewählten Reichstag (397 Abgeordnete) Träger der Gesetzgebung.19 Das Mehrheitswahlrecht mit seiner trotz enormer Bevölke-

14 Zum Prozeß der Reichsgründung vgl. Riirup 1992, 221-233; Stürmer 1993; Schulze 1986; Gall 1980, 373-459; Jeserich u. a. 1984. 15 Vgl. Tilly 1990; Hahn 1984, bes. 181-188. 16 Er erhielt mit Reichstagsbeschluß vom 10.12.1870 den Namen Deutsches Reichs; vgl. Huber 1986, Nr. 220, 329 ff.; Nr. 221, 333 ff. und Nr. 222, 335 ff. Zu Reservatrechten einzelner Bundesstaaten vgl. Huber 1970, 807. 17 Präambel der Verfassungsurkunde (16.4.1871); vgl. Schuster 1985, 71; Huber 1970, 790; Rauh 1973, 47. 18 Conze/Hentschel 1988, 198; vgl. auch Rauh 1973, 37. Zum Reich als Bundesstaat und der Struktur des Bundesrats vgl. Huber 1970, 785-1008. Zur Verfassung des Norddeutschen Bundes und des Reichs siehe Schuster 1985, 71-98. 19 Wie der konstituierende Reichstag des Norddeutschen Bundes am 1.2.1867 wurde auch der Reichstag nach 1871 auf der Grundlage des Reichswahlgesetzes vom 12.4.1849 gewählt: allgemein, gleich, geheim, direkt und galt für Männer über 25 Jahre; vgl. Rassow 1987, 463.

177

Deutsches Reich

rungsverschiebung bis zum Ende des Kaiserreichs gleichbleibenden Wahlkreiseinteilung begünstigte regional konzentrierte Parteien und wirkte letztendlich dem Auf20

kommen der SPD in den bevölkerungsreichen Industriegebieten entgegen. Von 1871 bis 1890 war Otto von Bismarck Reichskanzler; »er war die eigentliche Schaltstelle in der Verfassungswirklichkeit des Zweiten Reichs«.21 Die Strukturen einer Reichsregierung waren allerdings noch nicht ausgeprägt. Zu Beginn gab es nur das Reichskanzleramt und das Auswärtige Amt. Reichsministerien waren nicht vorhanden, ihre Aufgaben wurden von den preußischen Ministerien mit übernommen. Die Außenpolitik oblag dem Reich, wenngleich die Einzelstaaten Botschaften und Gesandtschaften in anderen Ländern unterhielten. Finanziell war das Reich von festgelegten Matrikularzahlungen der einzelnen Länder abhängig (»Das Reich als Kostgänger der Länder«) und erhielt nur einige wenige Zolleinnahmen. 22 Reichskanzler Fürst Bismarck stützte sich im Reichstag politisch auf die Nationalliberale Partei (und die liberalen Kräfte im zu wirtschaftlicher Macht gelangten Bürgertum), mit deren Mehrheit er bereits die Reichsgründung vorangetrieben hatte. 23 Das entsprach der Einsicht, sich nicht gegen die mächtigen Veränderungen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich stellen zu können. Da die von den Liberalen erhofften politischen Zusagen Bismarcks jedoch nicht verwirklicht wurden, kam es nach und nach zum Bruch. In diesem Zusammenhang ist auch der sogenannte Kulturkampf von Bedeutung, der im Grunde Bismarcks Versuch war, das katholisch geprägte Zentrum als eine alle Bevölkerungsgruppen umfassende Partei politisch auszuspielen. 24 Dieser Versuch scheiterte schließlich ebenso wie eine von Bismarck angestrebte Zusammenarbeit mit den nationalen Gruppierungen. Im Bundestag stützte sich Bismarck, der Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, Außenminister und damit auch Gesandter Preußens beim Bundesrat war, zunehmend auf die süddeutschen Staaten. Mit seiner Politik wollte er die Stimmen Bayerns und Württembergs gewinnen, um die Mehrheit zu erreichen.25 Das Verhält-

20 Mit Elsaß-Lothringen vergrößerte sich seit der Reichstags wahl 1874 die Zahl der Wahlkreise um 15. Auf je 100 000 Einwohner kam ein Abgeordneter. Es entstand ein Ungleichgewicht zwischen den Wahlkreisen der ländlichen Gebiete und denen der Ballungsräume, deren Stimmen geringeren Zählwert besaßen, was das dem Reichstagswahlrecht zugrundeliegende Gleichheitsprinzip verletzte; vgl. Born 1985, 15; Conze/Hentschel 1988, 198. 21 Rauh 1973, 62. Zu Person und Politik Bismarcks vgl. Gall 1980 und Engelbert 1991 und 1993. 22 Die Grundlagen der Finanzen waren in den Artikeln 69-73 der Reichsverfassung festgelegt. Das Reich erhielt Zölle, gemeinschaftliche Verbrauchssteuern, die Einnahmen aus dem Post- und Telegraphenwesen und das Recht, weitere Steuern einzuführen. Die übrigen Steuerquellen verblieben bei den Ländern; vgl. Schaper 1991, 69 f.; Schuster 1985, 91. 23 Zu Entwicklung und Zielen des Liberalismus vgl. u. a. Sheehan 1983; Nipperdey 1985; Gall 1980, 373 ff. Zur Parteiengeschichte: Nipperdey 1972; Pikart 1972; Lösche 1993. 24 Zum Kulturkampf in Deutschland vgl. Schmidt-Volkmar 1962; Gall 1980, 469 ff.; Willms 1983, 426 ff.; Link 1984. 25 Zur Beschlußfassung im Bundesrat war eine absolute Mehrheit von zunächst 29 Stimmen erforderlich.

178

III.

Untersuchungsgebiete

nis von 17 (Preußen) zu 56 bzw. 58 Stimmen im Bundesrat sollte sich aber bis 1918 nicht ändern. Mitte der 1870er Jahre wurde eine einheitliche Reichsgesetzgebung geschaffen sowie die regional unterschiedlichen Münz-, Maß- und Gewichtseinheiten angeglichen.26 Mit dieser Normierung schuf man die Grundlagen für eine Erfassung und Registrierung. Das Führen von Statistischen Jahrbüchern mit der Aufnahme von personenbezogenen Daten (Wohnbevölkerung, Sterbetafeln, Krankheiten usw.) und Daten zu ökonomischen (Berufszweige, Produktion), politischen wie gesellschaftlichen Bereichen (Wahlergebnisse), das der Bestandsaufnahme, Bedarfsbestimmung, Steuererhebung usw. diente, konnte nun einsetzen. Diese erste durchgängig geführte und breit angelegte amtliche Statistik für das Reichsgebiet bildet eine wichtige Quellengrundlage. Die Berechnung von Sterbewahrscheinlichkeit und Lebenserwartung nach Kohorten und Perioden wurde in statistisch relevantem Rahmen erst durch diese Daten möglich.27 1872 beschloß man die Einrichtung eines »Statistischen Zentralamtes des Deutschen Reiches«. Von da an wurden Angaben über Lebend- und Totgeborene nach Geschlecht und Legitimität sowie über Sterbefälle nach Geschlecht geführt; auch die Wanderungsbewegungen wurden festgehalten. Ab 1901 liegen zudem differenzierte Angaben zu Eheschließungen vor.28 Um 1878/79 kam es zu einem innenpolitischen Kurswechsel. Die Entwicklung ging weg vom Liberalismus hin zu Konservativismus und staatlicher Sozialpolitik, verbunden mit dem Kampf gegen die Sozialdemokratie. Die Schutzzollpolitik sollte das Reich nicht zuletzt aus seiner finanziellen und finanzpolitischen Abhängigkeit von den Ländern befreien.29 Zur Lösung der sozialen Frage und Bindung der Arbeiterschaft an den Staat setzte Bismarck seine Reichssozialgesetzgebung durch: 1883 Krankenversicherungsgesetz, 1884 Unfallversicherungsgesetz, 1889 Alters- und Invaliditätsgesetz (vgl. Kapitel »Bevölkerungsentwicklung«). Zugleich ließ er die Sozialdemokratische Partei »verbieten« (Sozialistengesetz 1878), die vor allen Dingen das durch Industrialisierung, Bevölkerungsverschiebungen und Urbanisierung angewachsene Industrieproletariat vertrat.30 Die staatlichen Verbote, die 12 Jahre lang wirksam waren, richteten sich gegen die politische wie gewerkschaftliche Arbeiter26 Erster Schritt zur Vereinheitlichung der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz zwischen Reich und Gliedstaaten bezüglich des bürgerlichen Rechts war das Reichsgesetz vom 20.12.1873. Den wichtigsten Schritt stellte die Verkündigung des Bürgerlichen Gesetzbuchs (18.8.1896) dar, das am 1.1.1900 für das Deutsche Reich in Kraft trat; vgl. Huber 1986, 387. Die Münzreform wurde 1871 eingeleitet und dauerte bis 1878. Zum Verfahren vgl. Kahl 1972, 30-32; Kellenbenz 1976. Zum Zugang zu demographischen Daten für Deutschland vgl. Schmid 1993. 27 Zu den Methoden der Berechnung vgl. den Beitrag von Kamke in diesem Band. 28 Vgl. Schmid 1993, 3 f. Zu den sich wandelnden Definitionen von Krankheiten und Todesursachen vgl. den Beitrag von Scholz in diesem Band. 29 Vgl. Conze/Hentschel 1988, 200; Huber 1970, 952 f. 30 Im Jahr 1863 entstand die erste deutsche Arbeiterpartei, der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein; vgl. Köllmann, Arbeiter 1972, 435. 1875 kam es unter August Bebel und Wilhelm Liebknecht zur Vereinigung der Sozialdemokraten in Gotha. Zum Sozialistengesetz vgl. Bartel u. a. 1980.

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bewegung, die allerdings noch keine Massenbewegung darstellte.31 Bismarcks Strategie, die Arbeiter durch massives (polizeistaatliches) Vorgehen gegen die Sozialdemokratie auf der einen, mit sozialen Leistungen auf der anderen Seite zu disziplinieren, erwies sich als unwirksam. Die Sozialdemokraten wurden bei den Reichstagswahlen 1890 stimmenstärkste Partei mit dem dreifachen Wähleranteil von 1878, parallel dazu gewannen die Gewerkschaften an Bedeutung. 32 Nach dem Tod Kaiser Wilhelms I. folgte für 99 Tage der schon todkranke Friedrich III., der in den Augen der Liberalen eine politische Hoffnung darstellte. Dessen Nachfolger wurde sein Sohn Wilhelm II. Bismarck versuchte außenpolitisch, durch ein ausgeklügeltes Vertragssystem mit anderen europäischen Mächten Deutschlands Stellung im europäischen Kräftespiel zu erhalten und zu festigen. 33 Dieses Vertragssystem wurde unter seinen Nachfolgern seit 1890 und auf Grund der persönlichen Ambitionen des neuen Kaisers Wilhelm II. nicht mehr aufrecht erhalten. Letztlich waren es auch die politisch schwierigen Zerwürfnisse zwischen dem »jungen« Kaiser und Bismarck gewesen, die den Kanzler 1890 zum Rücktritt bewogen hatten. Die Reichsverfassung war im Grunde auf die starke Persönlichkeit Bismarcks ausgerichtet, dessen Rücktritt an der Spitze des Reichs ein Machtvakuum hinterließ, das von keinem Nachfolger ausgefüllt wurde. Dieses ließ mehr und mehr Raum für den Kaiser und seine ausgeprägte Günstlingswirtschaft. Die politische Entwicklung ging dann hin zum Zentralismus oder zur Stärkung der Zentralmacht auf Kosten des politischen Einflusses der Bundesstaaten. Die Regierungszeit Wilhelms II. war darüber hinaus geprägt von einer extremen Polarisierung der politischen Parteien und der öffentlichen politischen Diskussion. Bis 1914 führte diese Polarisierung zu einer zunehmenden Unfähigkeit zum Konsens und dem Versuch der Regierenden, jede Änderung der politischen und sozialen Verhältnisse als Gefährdung der Gesellschafts- und Staatsordnung zu verfolgen. Wie schon unter Bismarck wurde die Außenpolitik als ein Mittel angesehen, von innenpolitischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten abzulenken. Das Ungleichgewicht der Machtverhältnisse, der aufkommende Nationalismus wie die imperialistische Konkurrenz ließen in Europa alte Spannungen und Konflikte stärker hervortreten. Die Krisensituation auf dem Balkan eskalierte in der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Frau in Sarajewo am

31 Vgl. Grebing 1985; Tenfelde/Ritter 1992. 32 Langewiesche 1984, 150-154. Die Stimmengewinne der SPD: 1877 9,1% der abgegebenen Stimmen, 1890 19,7% und 1912 34,8%, womit sie mit 110 Mandaten die stärkste Fraktion im Reichstag stellte. Das Zentrum bildete mit 90 Mandaten die zweitstärkste Fraktion. Zu Grundzügen der Parteiengeschichte vgl. Wehler 1988, 79-90; Möller 1985, 89-110; Rohe 1992. 33 Zwischen 1871 und 1900 baute Deutschland politisch und militärisch seine Großmachtstellung aus, erwarb Kolonien und entwickelte weltpolitische Ambitionen. Zur Außenpolitk im Kaiserreich vgl. u. a. Wehler 1988, 182-192, Literaturhinweise 282; Gruner 1985,114-125; Hillgruber 1980. Zu Wilhelm II. vgl. Schieder 1984; Roehl 1987.

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28.6.1914. Durch Bündnisverpflichtungen, Unterlassungen sowie vorschnelle Erklärungen (deutsche Blankovollmacht) wurde aus dem österreichisch-serbischen ein europäischer Konflikt, der sich mit dem Eintritt der USA und Japans zu einem Weltkrieg ausweitete. Auf die österreichisch-ungarische Kriegserklärung an Serbien folgte die Kriegserklärung Deutschlands an Rußland (nach dessen Generalmobilmachung) und an Frankreich. Kriegserklärung und Völkerrechtsbruch gegen das neutrale Belgien (Einmarsch) setzten Deutschland in die Position des »Aggressors«. Nach und nach traten auch Italien, Rumänien (1916), die USA (1917), Japan und die Türkei in den Krieg ein. Nach ersten Siegen der Deutschen über Rußland kam es an der Westfront zum Stellungskrieg. Die russische Revolution ließ mit dem Waffenstillstand und Frieden von Brest-Litowsk Rußland aus dem Krieg ausscheiden (1918). Auf allen Seiten herrschten Erschöpfung und Kriegsmüdigkeit. Nach der Entlassung Ludendorffs aus der Obersten Heeresleitung (26.10.1918) wurde am 11.11.1918 (nach Ausbruch der Revolution und Abdankung des Kaisers) von dem Zentrumsabgeordneten Erzberger in Compi£gne der Waffenstillstand unterzeichnet. Die Auswirkungen des Krieges zeigten sich nicht allein an der militärischen Front. Durch die Stärkung kriegswichtiger Industrien gewann der Staat mehr Einfluß auf die Wirtschaft, die ihrerseits teilweise davon profitierte und an Macht gewann. Frauen wurden vermehrt als Arbeitskräfte herangezogen, und sie ließen sich nach dem Krieg nicht mehr aus allen Bereichen verdrängen. Auch soziale Veränderungen waren spürbar. Größere soziale Gerechtigkeit (Arbeiterlöhne) wurde begleitet von sozialer Unzufriedenheit in allen Gesellschaftsschichten.34 Die Abhängigkeit von Rohstoff- und Nahrungsmittelimporten und der Arbeitskräftemangel bestimmten das Leben der Menschen im Kriegsdeutschland. Der Rückgang der eigenen Getreide- und Kartoffelernten führte, verstärkt durch die alliierte Blockade, zu einer katastrophalen Unterversorgung. Die Rationierung von Brot sowie Bezugsscheinen für Kartoffeln und Fleisch mußte verfügt werden. Im Winter 1916/17 konnte das Kriegsernährungsamt als individuelle Tagesration nicht mehr als 170 Gramm Brot garantieren. Die Folgen von Unterernährung in Verbindung mit Erschöpfung und Unterkühlung waren Hungerödeme, Erkrankungen der Atemwege, Tuberkulose und Grippeepidemien; sie brachten vielen Menschen den Tod. Besonders schwer traf dies die Kinder, deren Sterblichkeit seit Kriegsbeginn um 50% angestiegen war, und die Frauen. Die Zahl von 700 000 Hungertoten während des Krieges scheint insgesamt eher zu niedrig angesetzt.35

34 Besonders gravierend war die Verschlechterung der Lage des Mittelstands; vgl. Langewiesche 1984, 225. 35 Vgl. Wehler 1988, 203; Abelshauser u. a. 1985, 233 ff.; Pörtner 1989; Schulin 1990.

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Die Weimarer Republik (1919-1933) In Deutschland brach unter dem Eindruck des sich abzeichnenden Zusammenbruchs und den immer drückender werdenden Lebensbedingungen der Bevölkerung die Novemberrevolution aus.36 Am 9.11.1918 bildete Max von Baden eine Regierung, übertrug Friedrich Ebert die Regierungsfunktionen und unterschrieb das Abdankungspapier des Kaisers, der ins niederländische Exil floh - Deutschland war Republik. Am 11.11.1918 wurde mit den Alliierten Waffenstillstand vereinbart. Nach Spartakusaufstand, Unruhen und Straßenkämpfen kam es bei den Wahlen zur Nationalversammlung (19.1.1919) zu einer Dreiviertelmehrheit für die sogenannte Weimarer Koalition (SPD, DDP, Zentrum), die nicht noch einmal die Mehrheit erringen sollte. Im August 1919 erfolgte weitab von den revolutionären Unruhen und dem »roten« Berlin und im Geiste der Ideale der Deutschen Klassik - die Verabschiedung der Verfassung in Weimar. An der Spitze der parlamentarisch-demokratischen Republik stand der vom Volk gewählte Reichspräsident. Das Parlament setzte sich aus Reichstag (vom Volk gewählt) und Reichsrat (Ländervertretung) zusammen. Der Reichspräsident, der den Kanzler ernannte, erhielt durch den Artikel 48 (Notstandsartikel) eine enorme Machtfülle, was sich zusammen mit Verhältniswahlrecht und Beschränkung des Föderalismus als schwierige Konstellation erweisen sollte. In der Weimarer Verfassung waren die Grundrechte festgeschrieben worden (Art. 109 ff.). In Preußen wurde daraufhin das Dreiklassenwahlrecht abgeschafft, Frauen erhielten erstmals Wahlrecht (Gleichheitsgrundsatz). 37 Bereits zwei Monate vorher war es zur Unterzeichnung des Versailler Vertrags gekommen (28.6.1919), der die deutschen Gebietsveränderungen und Reparations38

Zahlungen regelte. Der Vertrag wurde zu einer starken Belastung für die junge Republik, da er mit der Anerkennung der Kriegsschuld und der Verweigerung der internationalen Gleichberechtigung (Ausschluß aus dem Völkerbund bis 1926) verbunden und von wirtschaftlich einschneidender Bedeutung war. Die durch Kriegsan36 Die Ereignisse in Stichworten: Meuterei der Hochseeflotte (28.10.), Matrosenaufstand in Kiel, Übergreifen der Bewegung auf Hamburg, Bremen, Lübeck (6.11.) und München (7.11. Sturz der Wittelsbacher); am 8.11. wurde der Freistaat Bayern proklamiert unter der Regierung von Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten (Kurt Eisner). Max von Baden verkündete unter dem Druck der Massen eigenmächtig die Abdankung des Kaisers (28.11. wirkliche Abdankung). Am 9.11. Ausrufung der freien sozialistischen Republik durch Karl Liebknecht und der deutschen Republik durch Philipp Scheidemann - »Dolchstoßlegende«; vgl. Ritter/Miller 1983. 37 Zur Weimarer Verfassung vgl. Schuster 1985, 99-131; Boldt 1990, 221-256; dort findet sich eine knappe Zusammenstellung wichtiger Literatur zur Weimarer Republik. Allg. auch Born 1979 (Entwicklung bis zur deutschen Teilung); Stürmer 1980 und 1993; Möller 1985; Haffner 1987; Peukert 1987; Grimm 1990; Maser 1992; Winkler 1984, 1990 und 1993. Zu Ebert vgl. König u. a. 1990. 38 Mit der Verlagerung der Grenzen ändert sich auch die Datengrundlage der statistischen Erhebungen. Ob und inwieweit sich dieses in der Gesamtstatistik der Lebenserwartung in Deutschland bemerkbar macht, muß im einzelnen, regional differenziert, geprüft werden. Zu Grenzverschiebungen vgl. weiter oben. Zum Versailler Vertrag vgl. u. a. Schulz 1982; Krüger 1986; Conze/Hentschel 1988; Kolb 1984.

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leihen verursachte Geldentwertung erschwerte die Situation. Die Erzbergersche Finanzreform stellte das Reich finanzpolitisch auf eigene Füße, mit klarer Trennung von Ausgaben und Einnahmen zwischen den Ländern und dem Reich. Die ersten Jahre der Republik waren geprägt von dem Versuch, den drückenden Reparationsforderungen zu entgehen und die wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu lösen, sowie von einer Kette von Morden und Putschen. Das national gesinnte Bürgertum, die Reichswehr wie die extreme politische Rechte und Linke standen den Konsequenzen von Versailles ablehnend gegenüber. Es kam zu zahlreichen kommunistischen Unruhen im Ruhrgebiet, in Mitteldeutschland, in Hamburg und in der Räterepublik München. Am 11.1.1923 wurde das Ruhrgebiet von französischen Truppen besetzt und der Ruhrkampf begann. Er endete mit der alliierten Räumung ab dem 14.7.1925.39 Die extreme Rechte reagierte mit politischen Morden.40 Am sogenannten Kapp-Putsch (1920) wurde deutlich, daß es nicht gelingen wollte, die rechten Parteien einzubinden. Die Reichswehr, die beim Aufruhr von Links eingegriffen hatte, verharrte nun »neutral« und verweigerte die Identifikation mit dem demokratischen Staat. Am 8.19.11.1923 scheiterte der Hitler-Putsch in München 41 Nach dem Tod Friedrich Eberts wurde mit der Wahl Reichsfeldmarschalls Paul von Hindenburg zum Reichspräsidenten (26.4.1925) der politische Rechtsruck offenkundig. Mit einer neuen Währungsordnung (11.10.1924 Einführung der Reichsmark) und dem Ende der Inflation war es zunächst gelungen, zu einem ausgeglichenen Reichshaushalt zu kommen. Die Inflation, in der große Teile der Bevölkerung ihr Vermögen verloren hatten, beförderte andererseits die wirtschaftliche Wiederbelebung im Nachkriegsdeutschland. Die Jahre bis 1928 bedeuteten für die Republik eine Phase der Konsolidierung. Es gelang jedoch nicht, die Wirtschaft zu stabilisieren und die sozialen Auswirkungen einzudämmen. Die Republik reagierte auf die Krise mit einer sozialpolitischen Neuerung, der Arbeitslosenversicherung und -Vermittlung (Gesetz vom 16.7.1927).42 Die Zahl der Arbeitslosen stieg dessen ungeachtet kontinuierlich weiter - im Winter 1928/29 auf über 2 Millionen. Mit dem Übergreifen der Weltwirtschaftskrise auf Europa erhöhte sich ihre Zahl in Deutschland bis zum Jahresende 1930 auf 4,4 Millionen trotz der ersten großen Notverordnung zur »Sicherung von Wirtschaft

39 Als Reaktion auf die Ausweisung der Deutschen durch die polnische Regierung kam es zur Ausweisung der polnischen Optanten. Bis 1925 betraf dieses ca. eine halbe Million Deutsche, was sich natürlich in der Bevölkerungsstatistik niederschlägt; vgl. Kapitel »Bevölkerungsentwicklung«. 40 Im Februar 1919 wurde der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner, im Sommer 1921 der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger, im Juni 1922 Außenminister Walther Rathenau (vgl. Wilderotter 1993 [Ausstellungskatalog]; Buddensieg 1990) ermordet. Vgl. auch Feldmann 1986. Zum Kapp-Putsch vgl. Hürten 1989; Reichhardt 1990 (Ausstellungskatalog). 41 Adolf Hitler, zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt, wurde nach acht Monaten vorzeitig entlassen. In dieser Zeit verfaßte er den ersten Teil von »Mein Kampf«. Die »Deutsche Arbeiterpartei« (DAP), gegr. im Januar 1919, hatte Hitler im September aufgenommen. 1920 Verkündung des Parteiprogramms und Umbenennung in NSDAP. 42 Zur Entwicklung der Arbeitslosenversicherung in Deutschland vgl. Führer 1990, bes. 144 ff.

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und Verfassung«. Weitere Notverordnungen wurden erlassen, aber keiner der in schneller Folge wechselnden Regierungen gelang es, die politischen und wirtschaftlichen Probleme in den Griff zu bekommen. Die Krise der Wirtschaft wurde zur Staatskrise. Hand in Hand damit ging die verstärkte Radikalisierung von Rechts und Links. Die politischen Gewichte innerhalb der bürgerlichen Parteien verschoben sich nach »Mitte-Rechts« (BVP, DVP, DDP, Zentrum), und die prinzipiell antiparlamentarischen Kräfte in den rechten Parteien (DNVP, »völkische« Parteien) erstarkten. Langsam gewann die nationalsozialistische Bewegung an Bedeutung. Die Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie wurde zunehmend in Frage gestellt. Durch die Parteienzersplitterung im Parlament war eine konstruktive parlamentarische Gesetzgebung nicht mehr möglich. Ab 1930 kann man von einem Präsidialsystem sprechen, d. h. einer Regierung mit der Autorität des Reichspräsidenten unter parlamentarischer Duldung durch die nicht an der Regierung beteiligte SPD. Die Abhängigkeit des Reichskanzlers vom Reichspräsidenten, der seit Sommer 1931 eine Annäherung an die Deutschnationalen forderte, wuchs. Maßnahmen des Reichskanzlers Heinrich Brüning mit dem Ziel einer Verfassungsrevision führten kurzfristig zu einer Verstärkung des Konjunkturrückgangs und zu noch größerer Arbeitslosigkeit, was sich politisch verhängnisvoll auswirkte. 43 Den Nutzen aus der innenpolitischen Entwicklung konnte Hitler ziehen, einmal durch gezielte Propaganda bei den Arbeitslosen44 und im bürgerlichen Lager, zum anderen durch seine »Präsenz« beim Reichspräsidenten. Wie die extrem links orientierten Gruppierungen wurde die nationalsozialistische Bewegung zum Sammelbecken vieler politisch Unzufriedener. Die Reichstagswahlen im Juli 1932 brachten eine Mehrheit der totalitären Parteien der Rechten und Linken. Doch zeichnete sich bereits bei den Wahlen im November ein deutlich spürbarer Rückgang des nationalsozialistischen Erfolgs ab.45 Als der Tiefpunkt der wirtschaftlichen Krise und der Arbeitslosigkeit überwunden, die Frage der Reparationszahlungen gelöst und eine weitgehende Revision des Versailler Vertrags in Aussicht war, hatte die NSDAP kaum ein Drittel der Bevölkerung gewonnen. Zu diesem Zeitpunkt fiel die Entscheidung, Hitler von Hindenburg am 30.1.1933 zum Reichskanzler ernennen zu lassen damit war das Ende der Republik besiegelt. Vor allem Form und Auswirkungen des

43 Vgl. Conze/Hentschel 1988, 260. 44 Die nachweislich hohe Akzeptanz der Nationalsozialisten nach 1933 ist gerade bei ihnen feststellbar. Daneben zeigt auch der Anstieg der KPD-Stimmen im November 1932 (16,9%), in welch starkem Maß sich Teile der Arbeiterschaft enttäuscht von der Republik abwandten. Unter den 270 000 Arbeitern, die vor 1933 zur NSDAP stießen, waren ca. 120 000-150 000 Arbeitslose; vgl. Broszat 1981, 531; Falter/Hänisch 1986; Winkler 1990; Falter 1991. 45 Bei den Reichstagswahlen am 31.7.1932 erhielten die NSDAP 37,4%, die SPD 21,6%, die KPD 14,5% und das Zentrum 12,5% der gültigen Stimmen. Bei der Reichspäsidentenwahl am 10.4.1932 (2. Wahlgang) erhielt Hindenburg 53,0%, Hitler 36,8% und Thälmann 10,2% der Stimmen; vgl. Petzina u. a. 1978, 174; Milatz 1979.

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politischen Reagierens auf die wirtschaftliche Krise bilden das zentrale Problem in der Frage nach den Ursachen der folgenden Entwicklung; das bedeutet nicht, daß diese notwendigerweise so verlaufen mußte.46

Das Dritte Reich (1933-1945)47 Unmittelbar nach der Vereidigung Hitlers und der Bildung einer Koalitionsregierung des »Nationalen Zusammenschlusses« erfolgte die »legale Revolution« mit dem Aufbau von Machtstrukturen und der Gleichschaltung auf allen Ebenen. Militarisierung und Uniformierung der Gesellschaft gehörten zu den wirksamsten nivellierenden Instrumenten der »braunen Revolution«.48 Die Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde als eine »nationale Erhebung« bezeichnet, womit man suggerierte, man könnte an die »guten Zeiten« vor 1914 anknüpfen. Mit Hilfe des Notstandsartikels sollte die totale Macht der NSDAP befestigt werden. Der Staat wurde wie die Partei mit der Gleichschaltung von staatlicher Verwaltung und politischen Organisationen nach dem Führerprinzip strukturiert. Entsprechend wurden die zum Teil paramilitärischen Organisationen (SS, SA, HJ, BdM usw.) und die angeschlossenen Fachverbände (DAF, NS V, Verbände für Lehrer, Ärzte, Juristen) organisiert. Als erste Amtshandlung verfügte Hitler die Aufhebung des Reichstags, und der Reichspräsident erließ eine Notverordnung »zum Schutze des deutschen Volkes« (4.2.1933), wonach Presse, Rundfunksendungen und Versammlungen zensiert und verboten werden konnten. Dies sicherte ihm die Macht des Staates für seine Propagandamaschinerie. Nach dem Reichstagsbrand am 27.2.193349 wurde die Notverordnung »zum Schutz von Volk und Staat« erlassen, die bis Kriegsende gültig blieb; sie bedeutete das Außerkraftsetzen der verfassungsmäßigen Grundrechte, die »Beschränkung der persönlichen Freiheit, des Rechts ,..«50 Am 28.2. schließlich wurde der Ausnahmezustand proklamiert. In der Zwischenzeit richteten SA und SS unter staatlichem Deckmantel Konzentrationslager ein. Vor allem politische Gegner (insbesondere Kommunisten und Sozialisten) wurden verfolgt, gefoltert und ermordet. Der einzelne wurde zunehmend recht- und schutzlo-

46 Vgl. dazu Bracher 1983, bes. 30 f. und Schulz 1992. 47 Vgl. Bracher 1979; Bracher u. a. 1983; Broszat/Möller 1983; Broszat 1984; Hildebrand 1987; Jeserich u. a. 1985; Michalka 1984; Thamer 1986; Frei 1989; Boberach 1991. Dort findet sich auch weiterführende Literatur. Zur Politik der Gleichschaltung vgl. Schulz, Gleichschaltung 1985; Rebentisch 1985 und »Historikerstreit« 1988. 48 Zum Begriff der »braunen Revolution« bzw. »sozialen Revolution« vgl. Schoenbaum 1980. 49 Der angeblich von Kommunisten angestiftete Brand des Reichstagsgebäudes lieferte den Nationalsozialisten den Vorwand zur Notverordnung und dann zum »Ermächtigungsgesetz«; vgl. Broszat 1981; Platz der Republik (Ausstellungskatalog) 1992. 50 Art. 48 der Weimarer Verfassung. Bei Störung von Sicherheit und Ordnung konnte der Reichspräsident vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte außer Kraft setzen. § 1 der Reichstagsbrandverordnung setzt auf Grund des obigen Artikels diese Grundrechte außer Kraft; vgl. Schuster 1985, 108 und 135 f.

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ser. Allerdings hatten die Nationalsozialisten schon vor 1933 keinen Zweifel daran gelassen, wie sie mit ihren Gegnern verfahren würden.51 Nach den Reichstagswahlen (5.3.1933) wurde das Parlament ausgeschaltet. Mit dem Ermächtigungsgesetz vom 23.3.1933,52 das nur durch die Ausschaltung der KPD und den Druck auf die anderen Parteien mit der nötigen Zweidrittelmehrheit zustandekam, ging die Legislative auf die Exekutive über - ihre Trennung, die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze wie eine Kontrolle der Opposition waren damit außer Kraft. Im gleichgeschalteten Reichstag hatten die Parteien keine Bedeutung mehr, sie lösten sich auf oder wurden verboten (SPD, KPD).53 Mit dem Gesetz zum Verbot der Neubildung von Parteien wurde die NSDAP de facto Staatspartei (1.12.1933). Entsprechend verfuhr man mit den Gewerkschaften, die aufgelöst wurden (2.5.1933), und deren Vermögen der Deutschen Arbeitsfront zugeschlagen wurde; Vereine mußten sich ebenfalls auflösen oder unterordnen. Die Exekutive als ausführendes Organ wurde durch das Gesetz »zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« (7.4.1933) gleichgeschaltet. Folge davon waren Entlassungen, aber auch Verfolgungen von politischen Gegnern und »nichtarischen« Beamten. Die föderalistische Struktur des Reichs wurde zerschlagen - am 31.3.1933 trat das vorläufige Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich in Kraft, das am 7.4. mit der Einsetzung von Reichsstatthaltern in den Ländern seine Vorläufigkeit verlor. Abgeschlossen wurde diese Umstrukturierung durch das »Gesetz über den Neuaufbau des Reichs«, die Beseitigung der Länderparlamente (30.1.1934) und die Aufhebung des Reichsrats (14.2.1934). Bis 1936 wurde sukzessive die gesamte Polizei (Schutz-, Kriminal- und Politische Polizei, seit 1934 Geheime Staatspolizei [Gestapo]) »dem Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei«, Heinrich Himmler, unterstellt. Die SS wurde Vollstreckungsorgan des »Führers«, das Reich ein »SS-Staat«. Im »Völkischen Rechtsstaat« sollte Rechtssprechung nach »Volksempfinden« erfolgen. Es kam zur Einsetzung von Sondergerichten und einem Volksgerichtshof, die sich ausschließlich mit politischen Delikten im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie befaßten. 54 Grundlage der Rechtsauffassung war der Wille des »Führers« in Verbindung mit der nationalsozialistischen Weltanschauung - die Rechtssicherheit des Individuums war nicht mehr gegeben. Damit war die Grundlage für die Willkür der Partei geschaffen, was die Erforschung und Bekämpfung staatsgefährdender Bestrebungen anlangt. Politische Gegner wurden ihrer persönlichen Freiheit durch die Verschleppung in Konzentrationslager beraubt (zunächst vor allem Arbeitslager, später Arbeits- und Ver-

51 Kolb 1983, 273. Über die Zahl der Inhaftierten, Verschollenen und Ermordeten gibt es keine exakten Angaben. Statistiken sind daher stets auch unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten und zu relativieren. Vom menschlichen Elend des einzelnen vermitteln sie allenfalls eine Ahnung; vgl. Petzina u. a. 1978, 94, Anm. 12 und Röder/Strauss 1980-83. 52 Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich; abgedruckt bei Schuster 1985, 181. 53 Zur Parteiengeschichte vgl. noch immer Matthias/Morsey 1979. 54

Vgl. Kolb 1983, 277-282; Wagner 1974; Hirsch u. a. 1984; Anderbrügge 1978; Jasper 1984.

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nichtungslager). Auch hier gibt es keine zuverlässigen Zahlen, und die Dunkelziffer liegt hoch. Das Verfahren nach der Ermordung Röhms und anderer politischer Gegner55 zeigte die Gleichschaltung einer weiteren Institution, der Justiz. Die Morde wurden als Staatsnotwehr per Gesetz für legal erklärt. Mit dem Tod Hindenburgs (2.8.1934) übernahm Hitler das Amt des Reichspräsidenten und vereidigte die Reichswehr auf »Führer und Reichskanzler Adolf Hitler«. Neben der Gleichschaltung war die Stärkung der Wirtschaft ein weiteres Ziel, um auch auf ökonomischem Gebiet für einen Krieg gerüstet zu sein. Vor allem ein »autarkes Deutschland« war erklärtes Ziel. Der Krise der Wirtschaft sollte mit einer Reihe von Programmen entgegengewirkt werden. Die Schlagworte »Reichsnährstand« und »Reichserbhofgesetz« stehen für eine Förderung der Landwirtschaft, »Unternehmen Reichsautobahn« (27.5.1933) und »Reichsarbeitsdienst« (26.6.1935) für Programme zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit; diese waren zwar zugleich kriegsvorbereitend, zielten aber auf die gegenteilige psychologische Wirkung. Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurden durch Schuldenpolitik (»Mefo-Wechsel«) finanziert. Die innere Verschuldung des Reichs betrug 1938 42 Milliarden Reichsmark. Bereits 1934 wurden die grundlegenden Gesetze zur Gleichschaltung auch im wirtschaftlichen Bereich durchgesetzt: »Gesetz zur Vorbereitung des organischen Aufbaus der Wirtschaft« (Erfassung und Kontrolle aller Verbände und Personen, 27.2.1934), »Gesetz zur Ordnung der natürlichen Arbeit« (Schaffung der »Betriebsgemeinschaft« und der »Treuhänder der Arbeit«, 20.1.1934) und Zusammenfassung der arbeitenden Bevölkerung in der Deutschen Arbeitsfront. Strukturelle gesellschaftliche Veränderungen traten ein, sozialpolitische Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten wurden verwischt (»Volksgemeinschaft«). Der Propagandaapparat Josef Goebbels', in dessen Einflußbereich Idee und Programm entstanden, begleitete und begründete die nationalsozialistische Politik.56 Bereits im März 1933 wurde das »Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda« unter Goebbels eingerichtet, das - auf subtile und brutale Weise - enormen Druck auf wissenschaftliche Institutionen wie auf das gesamte kulturelle Leben ausübte. Einen Vorgeschmack auf die kommende Kulturpolitik gaben am 19.5.1933 die öffentlichen Bücherverbrennungen an deutschen Universitäten.57 Zur umfassenden Kontrolle des kulturellen Lebens wurde am 22.9.1933 die Reichskulturkammer gegründet. Wer sich nicht anpaßte, mußte schweigen oder emigrieren (vgl. Kapitel »Bildung, Erziehung und Gesundheit«),

55 Um die Macht der SA einzuschränken, wurde auf Hitlers Anweisung SA-Chef Ernst Röhm in der »Nacht der langen Messer« am 30.6.1934 ermordet. Dieser Auftrag wurde als Gelegenheit genutzt, unzählige politische Gegner, die mit der Angelegenheit nichts zu tun hatten, zu »eliminieren«. 56 Zum Propagandaapparat Goebbels' vgl. Bramstedt 1971; Diller 1980. 57 Vgl. Frei 1989, 76 f. Nach einem Erlaß zur »Einziehung von entarteter Kunst« (1937) wurden Galerien und Museen von moderner Kunst »gesäubert«; vgl. Barron 1992 (Ausstellungskatalog).

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Die Kirchenpolitik Hitlers scheiterte. Der Widerstand der katholischen Kirche wuchs, auch wenn diese sich durch das Reichskonkordat auf ein Arrangement mit der Partei eingelassen hatte, an das jene sich jedoch nicht halten sollte. Gegen die Errichtung einer evangelischen Reichskirche wandte sich die Bekenntnissynode der Evangelischen Kirche (Mai 1934) - die Bekennende Kirche konstituierte sich (Widerstandskreis um Niemöller).58 Das volle Ausmaß des nationalsozialistischen Terrors traf politische Gegner, Sinti und Roma, Homosexuelle, physisch und psychisch Kranke und vor allem die Juden.59 Die Rassenideologie, die den »jüdischen Untermenschen« diffamierte, in Verbindung mit der Schuldfrage, bezogen auf den Zusammenbruch von 1918, und der Suche nach einem Feindbild begründete unmittelbar nach der Machtübernahme 1933 die ersten Maßnahmen. Der Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte, Lehrer usw. begann im April, unterstützt von Julius Streichers Hetzblatt »Der Stürmer«, und verdrängte nach und nach alle »Nichtarier« aus dem öffentlichen Leben. Die einschneidendste Maßnahme bildeten die »Nürnberger Gesetze« vom September 1935. Mit dem »Reichsbürgergesetz« verloren alle Deutschen jüdischen Glaubens oder durch das Gesetz als Juden »definierte« Personen ihre Bürgerrechte. Ehen zwischen »Ariern« und Juden wurden unter Strafe gestellt. Juden wurden von fast allen Berufen und Ämtern ausgeschlossen, schließlich sogar von Schulbesuch und Krankenpflege (insgesamt wurden 13 Ergänzungsverordnungen zum »Reichsbürgergesetz« erlassen).60 Die entsprechenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften konnten vom Innenminister erlassen werden und setzten die jüdische Bevölkerung vollkommen der Willkür des Staates aus. Mit den Novemberpogromen von 1938, der »Reichskristallnacht«, begann die Phase der Vernichtung. Anlaß bot das Attentat eines jüdischen Jugendlichen auf einen deutschen Diplomaten in Paris. Synagogen wurden in Brand gesteckt, Friedhöfe geschändet, tausende jüdischer Geschäfte zerstört und

58 Gotto u. a. 1983; Ericksen 1986. Die Mehrzahl der Pfarrer leistete keinen Widerstand und entsprach dem »Ansbacher Ratschlag« führender Theologen der Universität Erlangen zum Verhalten von Christen (1934), der vor allem gegen die Deutschen Christen und die Bekenntnissynode gerichtet war (Jasper 1993, 811815). Von den Theologen, die Widerstand leisteten, kamen etliche in Konzentrationslager; vgl. v. Norden 1980. Zu Kirche und Widerstand vgl. Boyens 1983; Koch 1985; Van Roon 1985. Zum Widerstand im Dritten Reich vgl. vor allem Jacobsen 1989; Scheffler 1985. 59 Vgl. Adam 1979; Hilberg 1982; Röder/Strauss 1980-83; Strauss/Kampe 1985. Hier muß auch auf die Ermordung von psychisch und physisch behinderten Menschen hingewiesen werden. Am 14.7.1933 wurde das Gesetz zur »Verhütung erbkranken Nachwuchses« (Sterilisiening bei bestimmten Krankheiten) erlassen, in dessen Konsequenz das »Euthanasieprogramm« durchgeführt wurde (bis August 1941 wurden ca. 70 000 Menschen umgebracht; vgl. Erdmann 1983, 534, Anm. 23; Klee 1983; Röhr 1992; zu Menschenversuchen vgl. Osnowski 1988. 60 Im Jahr 1938 kam es zur Kulmination: Jüdische Kultusvereinigungen wurden »eingetragene Vereine« (28.3.), Vermögen über 5000 RM mußten gemeldet werden (26.4.); auf gesetzlicher Grundlage wurden durchgesetzt: Kennzeichnung jüdischer Gewerbebetriebe (14.6.), Streichung der Approbation aller jüdischen Ärzte (25.7.), Änderung der Familien- und Vornamen (17.8.; Hinzufügung der Zwangsnamen Sara und Israel), Streichung der Zulassung jüdischer Rechtsanwälte (27.9.), Einziehung der Reisepässe (5.10.; die neuen waren mit einem »J« gekennzeichnet), Ausweisung der in Deutschland lebenden polnischen Juden (28.10).

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III.

Untersuchungsgebiete

Frauen und Männer verhaftet. Von nun an wurden die Juden auch aus dem Wirtschaftsleben ausgeschaltet (Zwangsarisierung), sie durften keine kulturellen Einrichtungen und öffentlichen Verkehrsmittel mehr nutzen.61 Die Auswanderungen, die durch die zugespitzte Lage zunahmen, wurden stets schwieriger (Beschlagnahmung des Vermögens usw.) und scheiterten oft an der mangelnden Hilfestellung und der Bereitschaft von Aufnahmeländern. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs setzte schließlich die systematische Vernichtung der Juden ein. Das Reichssicherheitshauptamt unter der Leitung von Reinhard Heydrich erhielt eine neue Abteilung »Juden und Räumungsangelegenheiten« mit Adolf Eichmann als Leiter, womit die Zentralstelle für die Vernichtung der Juden geschaffen war. Maßnahmen und Methoden dazu wurden auf der Wannsee-Konferenz (20.1.1942) beschlossen. Im Zuge der »Endlösung der Judenfrage« sollten alle europäischen Juden zum Arbeitseinsatz in die besetzten Ostgebiete transportiert werden; wer nicht auf dem Transport starb, sollte »entsprechend behandelt werden«. In Polen hatte die nationalsozialistische Diktatur mit der Ausrottung der Juden bereits begonnen, mit Gettoisierung, Massenverhaftungen, Erschießungen, Razzien und Pogromen. In Rußland erfolgte ihre Ausrottung durch Einsatztruppen. Durch Hunger, Mißhandlungen, Erschießungen und durch die Vergasung in den Vernichtungslagern wurden etwa 5-6 Millionen Menschen ermordet (vgl. Kapitel »Bevölkerungsentwicklung«).62 Hitler verfolgte mit seiner Außenpolitik die Revision des Versailler Vertrags und eine erneute Weltgeltung Deutschlands. Er stieß damit auf die Zustimmung oder zumindest Akzeptanz breiter Schichten der Bevölkerung und letztlich auch auf Duldung im Ausland. Was zunächst mit friedlichen Mitteln machbar schien, war am Ende nur durch Krieg zu erreichen, und die Wehrfähigkeit des Staates wurde im Stillen von Anfang an betrieben (Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht 1935). Vor allem die außenpolitischen »Ämter« bereiteten konsequent eine Angriffspolitik vor (Rosenberg, Ribbentrop). Die Revision des Versailler Vertrags wurde als Vorstufe zur »Eroberung neuen Lebensraums« gesehen, die zunehmend wichtigstes außenpolitisches Ziel werden sollte. Nach dem Verlassen der Abrüstungskonferenz und dem Austritt aus dem Völkerbund (1933), dem Nichtangriffspakt mit Polen (1934), der Wiedereingliederung des Saarlands (nach Volksabstimmung 1935) und nach Abschluß des deutsch-britischen Flottenabkommens kam es im März 1936 zur Kündigung des Locarno-Vertrags und zum Einmarsch in das entmilitarisierte Rheinland (Ende der Ordnung von Versailles). Im November 1936 wurde der Anti-

61 Das Tragen des Judensterns, minimale Nahrungsmittelrationen, Ablieferung aller Wertgegenstände, das Verbot des Betretens von Grünanlagen, Haltens von Haustieren und des Bezugs von Zeitungen wie die nächtliche Ausgangssperre machten erst den Anfang. 62 Vgl. Erdmann 1983, 534; Graml 1988; Simmel 1993; Drobisch/Wieland 1993. Den neuesten Forschungsstand zu den Zahlen der Judenvernichtung vgl. Benz, Völkermord 1991. Zum Vorgehen in Rußland siehe Wilhelm 1983, 591 ff. Zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit der Literatur vgl. Arndt/Scheffler 1983.

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kominternpakt abgeschlossen mit dem Ziel der Zusammenarbeit mit Japan und Italien, später auch mit Spanien, gegen den politischen Gegner UdSSR. Im November 1937 eröffnete Hitler schließlich seine Kriegspläne zur Durchsetzung seiner Lebensraumpolitik im Osten.63 Mit der Bildung des Oberkommandos der Wehrmacht (1938) wurde das Heer gleichgeschaltet. In diesem Jahr erfolgte auch der Anschluß Österreichs an Deutschland (13.3.1938, dann Bestätigung durch Volksabstimmung). Nach Hitlers Geheimbefehl zur Zerschlagung der Tschechoslowakei (30.5.1938) fand am 29.9.1938 die Konferenz von München mit Hitler, Mussolini, Chamberlain und Daladier statt. Ergebnis war die Abtretung sudetendeutscher Gebiete an Deutschland. Die Expansion sollte durch die deutsch-englische Nichtangriffserklärung (30.9.1934) und die deutsch-französische Erklärung (6.12.1938) gestoppt werden, was Hitler auch beteuerte. Dennoch kam es am 21.10.1938 zum Geheimbefehl zur »Erledigung der Rest-Tschechei« und im März 1939 zum Einmarsch deutscher Truppen. Am 16. März wurde das »Reichsprotektorat Böhmen und Mähren« errichtet, dann erfolgte die Vereinigung des »Memellands« mit dem Reich.64 Die deutschen Forderungen an Polen nach der Angliederung Danzigs an das Reich sowie einer exterritorialen Verbindung zwischen Ostpreußen und dem Reichsgebiet wurden abgelehnt (21.3.1939). Nach Kündigung des deutsch-polnischen Nichtangriffspakts und des Flottenabkommens mit England kam es zu einem Freundschaftspakt mit Italien (Stahlpakt) und Nichtangriffspakten mit Estland, Lettland und Dänemark sowie mit der Sowjetunion (Hitler-Stalin-Pakt). Dieses Abkommen mit der Sowjetunion enthielt ein geheimes Zusatzprotokoll, in dem die Interessensphären beider Seiten in Osteuropa festgelegt waren. Diese Entwicklungen waren Voraussetzung für den deutschen Angriff auf Polen am 1.9.1939, mit dem der Zweite Weltkrieg ausgelöst wurde.65 Hitler glaubte lange Zeit, eine Reihe von begrenzten Kriegen führen zu können, ohne das Eingreifen Englands und Frankreichs zu provozieren, nahm das Risiko eines gegenteiligen Verlaufs aber in Kauf. Am 3.9.1939 erklärten England und Frankreich, durch Verträge mit Polen gebunden, Deutschland den Krieg. Nach ersten Erfolgen der deutschen Armeen in Polen, Frankreich, Dänemark, Norwegen, Jugoslawien, Griechenland und Nordafrika kam die Wende durch den Überfall auf die Sowjetunion. Mit dem »Rußlandfeldzug« und der deutschen Kriegserklärung an die USA (nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor) wurde die Wende im Krieg (Stalingrad 1943) eingeleitet. Das nationalsozialistische Ziel der »Schaffung neuen Lebensraums« überzog die besetzten Gebiete mit der ganzen Maschinerie des Terrors: Vertreibung und Zwangsdeportation von Menschen unter den unwürdigsten Bedingungen, Zwangsarbeit von Männern und Frauen in der deutschen Industrie und systematische 63 Zum »Generalplan Ost« vgl. Rössler/Schleiermacher 1993. 64 Zur völkerrechtlichen Stellung des Memelgebiets vgl. Wallert 1991. 65 Zur Gesamtdarstellung des Zweiten Weltkriegs vgl. Hillgruber 1985; Gruchmann 1975; Schumann u. a. 1974-1985.

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III.

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Vernichtung der Bevölkerung in den Ostgebieten, die nicht dem »Germanischen Rasseideal« entsprach. Das Ende des Kriegs war die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 7./8.5.1945. Hitler, der sich im Januar in den Bunker der Reichskanzlei in Berlin zurückgezogen hatte und für den Fall der Niederlage, die ihm fast bis zuletzt abwendbar schien, die völlige Zerstörung Deutschlands angeordnet hatte, entzog sich der Gefangennahme und damit der Konsequenz, von den Alliierten zur Verantwortung gezogen zu werden, durch Selbstmord.

Bevölkerungsentwicklung Das Kaiserreich (1871-1918) Im Jahr 1850 lebten in Deutschland66 35,31 Mill., im Jahr der Reichsgründung 1871 41 Mill. Menschen. Für 1890 kann man von 49,43 Mill. und für das Jahr 1914 von etwas mehr als 67 Mill. Einwohnern im Deutschen Reich ausgehen.67 In gut 60 Jahren hatte sich die Bevölkerung mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von jährlich 1% verdoppelt. Dieses bedeutet eine Verdichtung von 65 Einwohnern pro qkm im Jahr 1850 auf 76 im Jahr 1871 und 124 im Jahr 1914. Die Verteilung der Bevölkerung differierte innerhalb des Reichs. Der agrarische Großraum Nord- und Nordostdeutschlands und die Alpenregion wiesen vielfach weniger als 30 pro qkm auf (Pommern 1841 34 E/qkm, 1910 57 E/qkm). Die übrigen Gebiete, die zum Teil schon industrielle Strukturen zeigten, waren dagegen dichter besiedelt, am stärksten die Regionen Oberschlesien, Königreich und Provinz Sachsen (1841 115 E/qkm, 1910 321 E/qkm), Baden und Württemberg und in zunehmendem Maße die preußische Rheinprovinz - Regionen, in denen sich auch die meisten Kleinund Mittelstädte finden, fast alle mit einer Einwohnerzahl von unter 20 000 Menschen.68 Die sich wandelnde Bevölkerungsstruktur, die vor allem durch eine erhöhte Fruchtbarkeit charakterisiert war, führte schließlich zu einem verstärkten Bevölkerungswachstum zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Probleme auf dem Arbeitsmarkt, Pauperismus, Übervölkerung und Massenauswanderung waren die Folge.69 Der stän66 Bis 1871 Deutscher Bund, soweit er ins Deutsche Reich einging, nach 1871 das Deutsche Reich einschließlich Elsaß-Lothringens. 67 Marschalck, Bevölkerungsgeschichte 1984, 87; Fischer 1985, 361-262. Zum statistischen Material vgl. Petzina u. a. 1978 und den Dokumentationsteil in diesem Band. 68 Zur Bevölkerungsverteilung zwischen 1816 und 1910 vgl. Hohorst u. a. 1978; Marschalck, Bevölkerungsgeschichte 1984, bes. 145 f., 150 f.; dort findet sich die noch immer umfassendste Zusammenstellung der einschlägigen Literatur zur Bevölkerungsentwicklung. 69 Vgl. Marschalck, Bevölkerungsentwicklung 1984, 82. Zur Typologie der Wanderungen vgl. Heberle 1972, 69-75.

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dig wachsende Bevölkerungsdruck äußerte sich in dem Mißverhältnis von steigenden Bevölkerungszahlen und einem nicht in entsprechendem Umfang mitwachsenden Arbeitsplatzangebot. Unterbeschäftigung, ein durchgehend geringeres Einkommen im agrarischen wie im gewerblichen Bereich (»Agrarkrisen und Hungersnot«) führten zu einer Verelendung der Massen. Gebiete älterer gewerblicher Verdichtung wie das Schlesische Bergland (Weber) oder Minden-Ravensberg mit seiner auslaufenden Handspinnerei entwickelten sich zu Zentren des Massenelends. Der Pauperismus brachte weite Teile Deutschlands in der ersten Hälfte des Jahrhunderts in eine Übervölkerungskrise. 70

Innerdeutsche Migration Mit der in vollem Umfang einsetzenden Binnen- und Auswanderung begann eine neue Phase der deutschen Bevölkerungsgeschichte. Die Bundesakte vom 8. Juni 1815 zur Freisetzung der Wanderung zwischen den deutschen Staaten hatte die Grundlage für die Zunahme der Migration geschaffen. Die einsetzenden Bevölkerungsbewegungen brachten vor allem den Gebieten Überschüsse, die bereits eine frühe Industrialisierung aufwiesen wie beispielsweise Sachsen oder die Region an Rhein und Ruhr. Zugleich wuchsen die Klein- und Mittelstädte in den Gewerbegebieten an. Der Zuzug leitete einen Prozeß der Urbanisierung ein, der allzuoft nur eine Verlagerung des sozialen Elends bedeutete, wovon noch zu reden sein wird.71 Den weitaus größten Zuwachs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte Preußen zu verzeichnen.72 Durch die Eingliederung von Schleswig-Holstein, Hannover und Hessen-Nassau nach den deutschen Kriegen von 1864/1866 lebten zwei Drittel der Bewohner des späteren Reichsgebiets in Preußen. Dies kennzeichnet nicht nur das Gewicht Preußens innerhalb Deutschlands und Europas; nach der Konsolidierung des Reichs und dem Zugewinn von Elsaß-Lothringen (nach dem Krieg 1870) wies Deutschland eine höhere Bevölkerungszahl auf als alle übrigen europäischen Mächte, ausgenommen Rußland.73 An der regionalen Verteilung des Bevölkerungszuwachses in Deutschland von ca. 23,9 Mill. Menschen bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs läßt sich sehr gut der Grad der Industrialisierung des Reichsgebiets mit den Zuwanderungszentren Berlin,

70 Vgl. Köllmann 1976, 14; Abel 1972 und 1978. Zu bevölkerungsgeschichtlichen Problemen in der Phase der Industrialisierung und in den ostdeutschen Gebieten vgl. Harnisch 1979. 71 Die Binnenwanderung hatte, wie bereits aufgezeigt, durch die Einteilung der Wahlkreise (1869) auch unmittelbare politische Auswirkungen. 72 Vgl. Marschalck, Bevölkerungsentwicklung 1984, 78-109. Eine regionale Differenzierung für Preußen (Provinzen, Städte) sowie eine Differenzierung nach Gewerben findet sich bei Matzerath 1985. 73 Die Zahl der Bevölkerung betrug 1871 in Preußen 24,69 Mill., im Deutschen Reich 41,05 Mill. Im Jahr 1870 in Frankreich ohne Elsaß-Lothringen 36,8 Mill. und in Großbritannien 26,1 Mill; vgl. Kiesewetter, Revolution 1989, 124 f.; Fischer 1987, 14.

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Untersuchungsgebiete

Ruhr- und Rhein-Main-Gebiet erkennen. Abgesehen vom Ballungsraum Berlin (1871-1910 Bevölkerung verzweieinhalbfacht)74 und den Stadtstaaten Lübeck und Hamburg (1871-1910 Bevölkerung verdreifacht) waren das Rheinland mit 263,7, Westfalen mit 204,0, Schlesien mit 129,6 und Sachsen mit 122,3 Einwohnern pro qkm um 1910 die am dichtesten besiedelten preußischen Provinzen. Am geringsten bevölkert waren die Provinzen Posen mit 72,4, Westpreußen mit 66,7, Pommern mit 57,0 und Ostpreußen mit 55,8 Einwohnern pro qkm.75 Unter dem Einfluß der wirtschaftlichen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verlagerte sich die Bevölkerung in die Industrieregionen mit ihren schnell anwachsenden Städten. Diese industriellen Standorte hatten einen hohen Bedarf an Arbeitskräften (Industriearbeiter, Angestellte, zunehmend auch Handwerker und Beschäftigte im Dienstleistungsbereich), der durch die eigenen Geburtenüberschüsse nicht abgedeckt werden konnte, während das Arbeitsplatzangebot im agrarischen Bereich sich durch zunehmende Rationalisierung (technische Neuerungen, Transportwege usw.) und Saisonarbeiter einigermaßen regulierte.76 Die Binnenwanderungsbewegung weist unterschiedliche Strukturen und Phasen auf. Zunächst bezogen die industriellen Standorte ihre Arbeitskräfte aus dem Umland und den Nahwanderungsgebieten (Ruhrgebiet, Wuppertal, Hamburg, Bremen),77 und nur die freien »Spitzen« wurden durch Einzel- bzw. Gruppenwanderung qualifizierter Arbeitskräfte abgedeckt (Abwanderung aus Hessen-Nassau ins Ruhrgebiet oder aus Mecklenburg nach Hamburg-Altona, ähnlich die ostdeutsche Wanderung in die »Agglomeration Berlin«), Um 1890 setzte eine enorme Ost-West-Wanderung ins 78

Ruhrgebiet ein, die in Zusammenhang gesehen werden muß mit der rückläufigen Überseewanderung nach Amerika. Mit dem Ende der freien Landnahme in Übersee sanken die Chancen, eigenes Farmland zu erwerben. Wenn einem Abwanderer nur industrielle Arbeit oder Dienstleistung blieb, fiel die Entscheidung zumeist auf den kostengünstigeren und weniger riskanten Weg im eigenen Land. So begann sich das Ruhrgebiet, ähnlich wie Berlin, in dieser Zeit zu einem Schmelztiegel zu entwickeln.79 74 Zur »Agglomeration Berlin« zählten die bis 1920 selbständigen Städte Charlottenburg, Schöneberg, Rixdorf und Wilmersdorf. 75 Kiesewetter, Revolution 1989, 126. Zur regionalen Bevölkerungsentwicklung vgl. u. a. Mauersberg 1938 (Niedersachsen); Müller 1921 (Rheinland-Westfalen); Quante 1959 (preußische Ostprovinzen); Reekers 1956 (Westfalen); Thümmler 1977 (allg.); Keller 1931 (preußische Regionen); Uekötter 1941 (Westfalen/Lippe). 76 Vgl. Kiesewetter, Revolution 1989, 153-199. Die wirtschaftliche Umstrukturierung spiegelt die Entwicklung der Berufstätigkeit wieder: 1882 waren 42,5% der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig (1907 28,6), 32,5% in der Industrie (1907 42,8) und 22% im Handel (1907 28,6); vgl. Köllmann 1976, 17 ff. 77 Der Zuzug in die Städte setzte zuerst aus dem Umland ein; vgl. Köllmann 1974, 109. Zur kontroversen Diskussion zwischen Matzerath und Köllmann über die Urbanisierung siehe weiter unten. 78 Zum Themenbereich Ruhrgebiet, »Ruhrvolk«, »Ruhrpolen« vgl. u. a. die Arbeiten von Brepohl 1948; Wehler 1970; Kleßmann 1978, 1984 und 1987. 79 Vgl. Bade, Massenauswanderung 1984, 284-291.

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Aus- und Einwanderungen Während die Binnenwanderung die regionale Verteilung der Bevölkerung einschneidend veränderte, haben sich die Auswanderungen am stärksten auf den Bevölkerungsstand ausgewirkt.80 Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verließen mehr Menschen das Land als zuzogen, so daß die Wanderungsbewegung das Bevölkerungswachstum bremste. Nach den Auswanderungen im 18. Jahrhundert setzte die erste Phase dieses neuen Typus' der Massenauswanderung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, mit Spitzen in den Hungerjahren 1816/17, in den 1830er Jahren und besonders zu Beginn der 1850er Jahre.81 Wirtschaftliche Krisen, besonders im agrarischen Bereich, und Auswirkungen der revolutionären Ereignisse (Pusheffekt) sowie die Hoffnung auf die Möglichkeit einer gesicherten Existenzgründung durch Landerwerb oder Arbeitsaufnahme (Pulleffekt) bewogen in diesem Zeitraum mehr als eine halbe Million Menschen dazu, Deutschland zu verlassen. Die höchsten Auswanderungszahlen wies Südwestdeutschland (besonders Württemberg) auf, wobei sich seit Mitte der 1850er Jahre die Massenbewegung auch auf Brandenburg, Mecklenburg, Schlesien und Pommern ausweitete. Am Beispiel des württembergischen Oberamtsbezirks Herrenberg wird in einem Exkurs in diesem Band auf die Verknüpfung von Lebensumständen und Auswanderung eingegangen. Auch nach der Reichsgründung verließen mehr Menschen Deutschland als zuzogen. Mit der zweiten Welle veränderten sich die Herkunftsgebiete der Auswanderer: Aus Norddeutschland kamen ca. 39%, aus Süddeutschland ca. 25% und aus Nordwestdeutschland ca. 15%. Mit der dritten und stärksten Auswanderungswelle zwischen 1880 und 1893 war nun vor allem der nordostdeutsche Raum betroffen. 82 Danach kam es für etwa ein Jahrzehnt zu einer Umkehr des Verhältnisses von Einund Auswanderern, um dann erneut in eine leicht negative Wanderungsbilanz überzugehen, die sich bis 1910 auf ca. 160 000 Menschen belief.83 Diese letzte große Auswanderungswelle brach in den Jahren nach 1890 ab. Mit dem Einsetzen eines wirtschaftlichen Aufschwungs in Deutschland, der für die Industrie Hochkonjunktur (mit kurzen Einbrüchen) und für die Landwirtschaft einen Weg aus der strukturellen Krise bedeutete sowie dem faktischen Ende der freien Landnahme auf Regierungsland in den Vereinigten Staaten ging die Zahl der Auswanderer allmählich zurück.

80 Zum Thema Aus- bzw. Einwanderung in den vielfältigen Forschungsansätzen sei insbesondere auf die Arbeiten Bades verwiesen; dort findet sich auch die umfassendste Literaturübersicht: Bade, Arbeitsmarkt 1980, 1983, Massenauswanderung 1984, Auswanderer 1984, Auswanderungsland 1984, Bevölkerung 1984, Migration 1987 und Population 1987; vgl. auch Adams 1980; Moltmann 1976 und Hansen 1990. 81

Vgl. Bade, Massenauswanderung 1984, 265 f.

82 Zu den Zahlen vgl. Köllmann 1976, 30. Allein im ersten Jahrfünft der 1880er Jahre wanderten mehr als 860 000 Menschen nach Übersee aus. Ihre Zahl in Deutschland wuchs insgesamt von 1880 bis 1893 auf fast 1,8 Millionen; vgl. Bade, Massenauswanderung 1984, 269. 83 Fischer 1985, 368; bei Köllmann (1976, 31) finden sich davon abweichende Werte: Auswanderungen von 1895 bis 1913 nur 511 000, d . h . jährlich ca. 27 000 Menschen.

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Zielgebiete der meisten Arbeitssuchenden waren nun vor allem die deutschen Industriestandorte (Binnenwanderung). Die Vereinigten Staaten, die im 19. Jahrhundert das Hauptziel der deutschen Auswanderer darstellten, verloren nie völlig ihre Anziehungskraft.84 Zunehmend größere Anziehung für Emigranten gewannen dagegen Brasilien, Kanada, Australien und das spanische Lateinamerika, während die seit 1884 gegründeten deutschen Kolonien kaum eine Rolle spielten. Die innereuropäische Auswanderung dagegen war in ihrem Ausmaß weniger bedeutend (oft Einzelwanderung Qualifizierter, Firmengründungen usw.).85 Für die Zeit bis etwa 1865 sind zunächst vor allem Familienwanderungen selbständiger Kleinbauern und Kleinhandwerker zu beobachten. Die Zahl der ledigen Männer und Frauen nahm nach 1850 jedoch deutlich zu.86 Dieser Trend verstärkte sich bis 1895, und durch das Übergreifen der Abwanderungswelle nach Nordostdeutschland hatten auch »unterbäuerliche« (Tagelöhner, nachgeborene Söhne) und unselbständige »unterbürgerliche« Schichten (Industrie, Gewerbe) einen größeren Anteil daran. Als die Siedlungswanderung abgeschlossen war, überwog die Einzelwanderung (auch lediger Frauen) mit einem stärkeren Abzug der Industriearbeiter. Während die Geschlechterproportion relativ ausgewogen blieb (Verhältnis Männer : Frauen = 3 : 2 ) , änderte sich die Altersstruktur: 1884-1890 waren ca. 25% aller Betroffenen unter 14 Jahren (1901-1910 ca. 20%), die Zahl der 10-14jährigen sank in diesem Zeitraum von 21% auf 19% und die der 50jährigen von 6% auf 5%. Im Gegensatz zur Auswanderung ist die Einwanderung nach Deutschland statistisch weniger gut dokumentiert. Bis zur Reichsgründung ist vornehmlich von einer Einzeleinwanderung auszugehen. In der Frühphase der Industrialisierung wurden qualifizierte Kräfte aus dem Ausland (besonders England) angeworben. Durch die massenhaften Aus- und Abwanderungen war es in der Landwirtschaft der preußischen Ostgebiete zu einem starken Arbeitskräftemangel gekommen.87 Das frei gewordene Arbeitspotential ersetzten dort langfristig vor allem russische und polnische Saisonarbeiter, die allerdings in einem solchen Ausmaß einwanderten, daß

84 Von 1820 bis 1910 wanderten insgesamt ca. 5,1 Millionen Menschen in die USA aus; vgl. Köllmann 1976, 31, 69; Marschalck 1973, 44, 51, 54 sowie die Zahlen und Quellen bei Kiesewetter, Revolution 1989, 140; für die Weimarer Zeit vgl. Bickelmann 1980. 85 Die Reichsgesetzgebung befaßte sich erst im »Gesetz über das Aus wanderungs wesen« vom 9.6.1897 mit der Auswanderungsfrage, auch wenn es ab 1868 Reichskommissare für Auswanderungswesen zur Aufsicht in den deutschen Überseehäfen gab (Hamburg und Bremen als die wichtigsten). Auf kommunaler Ebene wurde teilweise versucht, mit finanziellen Zuschüssen die Auswanderungswilligen zu unterstützen und so dem Pauperismus entgegenzuwirken. Vgl. dazu und zum folgenden den Exkurs »Herrenberg« in diesem Band. 86 Zur Sozial- und Altersstruktur der Auswanderer vgl. Bade, Massenauswanderung 1984, 276-279; Köllmann 1976, 31; Marschalck 1973, 73-84. 87 Durch die Verbreitung des arbeitsintensiven Rübenanbaus z. B. stieg der Bedarf an Arbeitskräften erheblich. Die Entwicklung der Saisonarbeit setzte zuerst in der Provinz Sachsen, später in Nordostpreußen ein; der Begriff »Sachsengänger« wurde zum Schlagwort; vgl. Herbert 1986, 19 ff.

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Preußen bereits 1835 mit Kontrollmaßnahmen eingriff. Im übrigen Deutschland arbeiteten italienische Saisonarbeiter vor allem im stark sich entwickelnden Bereich des Tiefbaus (Ausbau des Verkehrsnetzes). Um den nötigen Zustrom an Arbeitskräften nicht zu einer Einwanderung werden zu lassen, bemühte man sich seit dem Ende der 1880er Jahre um Lösungen.88 Zur Gewährleistung einer befristeten Beschäftigung wurden 1908/09 zum Beispiel Sonderausweise eingeführt, die den Inhabern einen Rückzug bis zum jeweiligen Jahresende in ihr Land vorschrieben und bei Mißachtung dieser Vorschrift die Ausweisung bedeuteten. Da man von einer Dunkelziffer bei den Land- und Industriearbeitern ausgehen kann, muß die Zahl der Saisonarbeiter im Deutschen Reich vor dem Ersten Weltkrieg wohl auf 1 Mill. bzw. 1,5% der Bevölkerung geschätzt werden; in den Sommermonaten waren es vermutlich sogar 3-4,5%.89 Seit den 1880er Jahren führten soziale und wirtschaftliche Gründe zu einer regelrechten Masseneinwanderung aus Ost- und Mitteleuropa (Russen, Polen, Galizier, Slowenen) sowie aus Italien.90 Die Menschen strömten vor allem in die anwachsenden industriellen Standorte und Ballungsgebiete wie Berlin, das Ruhrgebiet und das Rhein-Main-Gebiet.91 Der Bevölkerungsgewinn glich die Verluste, die durch die Abwanderung der Jahre 1885-1905 nach Europa und Übersee entstanden waren, aus. Die Volkszählung von 1871 registrierte 207 000 Ausländer, die von 1910 gar 260 000 Ausländer im Reich. Deutschland schien sich statistisch gesehen vom Aus- zum Einwanderungsland zu wandeln.

Urbanisierung Mit dem Bevölkerungswachstum und der innerdeutschen Migration setzte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein beschleunigtes Städtewachstum ein. Über seine Ursachen gehen die Forschungsmeinungen auseinander. Der den Arbeiten Wolfgang Köllmanns zugrundeliegenden These, die Städte seien durch den Zuzug der Binnenwanderung entstanden, widerspricht Horst Matzerath. Er geht davon aus, daß Stadt und Land zwar unterschiedliches Wachstum zeigen, das natürliche Bevölkerungswachstum aber ähnlich stark war. Auch bei den Städten überwiege als Wachstumskomponente der Geburten- und nicht der Wanderungsüberschuß. Das überdurchschnittlich starke Wachstum der Städte im Westen hinge somit in erster Linie

88 Zu den Stichworten »Legitimationszwang«, »Rückkehrzwang« und winterliche »Karenzzeit« vgl. Bade 1983, 32; Herbert 1986, 15-46, bes. 22-28. 89 Vgl. Fischer 1985, 369. 90 Zur Auslandsreknitierung und Inlandsvermittlung ausländischer Arbeitskräfte vgl. Bade, Auswandeningsland 1984, 441-471. Zu Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeitspolitik im Ersten Weltkrieg vgl. Eisner 1984 und Herbert 1986, 82-113. 91 Zu den polnischen Einwanderern im Ruhrgebiet vgl. Kleßmann 1978, 1984 und 1987; Wehler 1970; Herbert 1986, 71-81. Ihre Zahl betrug dort um die Jahrhundertwende um 300 000 Menschen.

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mit der natürlichen Bevölkerungsbewegung zusammen, da sich nach 1890, regional unterschiedlich, der Geburtenüberschuß in den Städten erhöhte. Die Binnenwanderung sei damit nur als ein wichtiger Faktor anzusehen. Dagegen läßt sich einwenden, daß gerade mit dem Ende der Amerikawanderung in dieser Zeit die Binnenwanderungsbewegung stärker wird. Thomas Nipperdey sieht in den Berechnungen von Hans-Dieter Laux für 85 preußische Städte das plausibelste Ergebnis: 54,6% des Wachstums zwischen 1875 und 1905 entfallen auf Wanderungsgewinn, 31,0% auf Geburtenüberschuß und 14,4% auf Eingemeindungen.92 Im Jahr der Reichsgründung lebten 23,7% der Bevölkerung in Gemeinden mit einer Einwohnerzahl über 5000 und 4,8% in den vier Großstädten über 100 000 Einwohnern, während im Jahr 1910 48% in Gemeinden über 5000 und 21,3% in den nun bereits 48 Städten über 100 000 Einwohnern wohnten, d. h. jeder fünfte Deutsche lebte bereits in einer Großstadt. 1910 wohnten 12 Millionen Menschen mehr in Städten als zur Zeit der Reichsgründung,93 wobei zu diesem Zeitpunkt die Rheinprovinz mit 75% städtischer Bevölkerung den höchsten Grad der Verstädterung erreichte. Die Urbanisierung Deutschlands (60%) wurde um 1910 bei gleich großen Flächenstaaten in Europa nur noch von England übertroffen, während die Vergleichsgröße für Frankreich bei 43% liegt.94 Die Wachstumsphasen der Städte waren nach Art der dort angesiedelten Industrie sowie dem jeweiligen Industrialisierungsgrad zeitlich gegeneinander verschoben. Ein frühes und rapides Wachstum erfuhren Städte mit Bergbau und Schwerindustrie wie Essen, Duisburg und Dortmund, aber auch mit Textilindustrie wie Aachen und Elberfeld, später Plauen. Zu industriellen Zentren entwickelten sich besonders Saarbrücken (Bergbau), Nürnberg (Kleinindustrie) und Mannheim (Umschlaghafen für Maschinenbau). Das Ruhrgebiet wurde zu einem industriellen Ballungsraum, der mit etwa 3 Millionen Einwohnern um 1910 dem Ballungsgebiet Berlin nicht viel nachstand.95 Die Voraussetzung für die eigentliche Vergroßstädterung im Sinne einer räumlichen Erweiterung der Stadt wurde erst mit der Eingemeindungswelle seit 1885 und besonders seit 1900 geschaffen, die für einige Gebiete ein Zusammenwachsen mehrerer Städte und das Entstehen regelrechter Großstadtregionen darstellte.96 92 Zu den Indikatoren für das Städtewachstum vgl. Flora 1975, 27 ff.; Langewiesche 1979, 70-93; Köllmann 1974, 125-139, bes. 130 f.; Matzerath 1985, 305 f.; Nipperdey 1993, 36-39; Laux 1983; Laux differenziert aufschlußreich nach Stadttypen. 93 Vgl. Köllmann 1976, 22; Nipperdey 1993, 34. Unter die 48 Städte zählen auch die oben genannten vier Städte im Berliner Ballungsraum. In diesem Zeitraum wuchs der in Städten lebende Anteil der Bevölkerung in Preußen von 64% auf 137%. Zu Großstädten vgl. Köllmann, Bevölkerungsentwicklung 1972, 259-280; Reulecke 1985, bes. 68-109. 94 Vgl. Kiesewetter, Revolution 1989, 136; Matzerath 1985, 272 ff. Tabellen zur Urbanisierung in Preußen und im Reich bei Flora 1975, 38 f.; Reulecke 1985, 201-227; Hohorst u. a. 1978, 45 ff. (Verwaltungsbezirke). 95 Vgl. Köllmann 1976, 22; ähnliche Zuwachsraten an Bevölkerungszuzug haben Frankfurt a. M. und Kiel. 96 Vgl. Reulecke 1985, 71 f. Im Osten galt nur ca. ein Drittel der Bevölkerung als »verstädtert«, im westlichen und mittleren Deutschland ca. 50%. Zu den schwach besiedelten Regionen zählte auch die ostfriesische um Aurich (vgl. das Datenmaterial in diesem Band und Matzerath 1985, 252).

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Die Wanderung hin zum Arbeitsmarkt bedeutete auch eine permanente Mobilität innerhalb der Städte - innerstädtische Umzüge waren mancherorts häufiger als Wanderungszuzüge97 - und, nach dem Ausbau des Nahverkehrs und der KommunikatiQO

onstechnik, eine Abwanderung in die Vorstädte und ins Umland. Mit der Trennung von Arbeitsplatz und Wohnung, einer typischen Entwicklung der Industrialisierung, die den deutschen Alltag bis heute prägt, setzte auch die Pendlerwanderung ein. Die Wanderungsbewegung veränderte die demographischen Strukturen sowohl in den Ausgangs- als auch in den Zielregionen. Bei der Fernwanderung (Ost-WestWanderung) waren es zumeist junge Menschen und vornehmlich Männer, die sich auf den Weg machten (das Verhältnis Männer : Frauen lag bei 7 : 5). Die Mehrzahl von ihnen war ledig. Bei den Überseewanderungen lag der Anteil an Familien höher. Anders bei der Nahwanderung. Hier überwogen beispielsweise im Rheinland und in Westfalen die weiblichen Abwanderer, was darin begründet lag, daß sich für sie zunehmend mehr Berufs- und Arbeitschancen boten. Vor allem in Privathaushalten wurde weibliches Dienstpersonal gesucht." Die Frauen konnten in den Zentren der Zuwanderung zudem auf bessere Heiratschancen hoffen. Allerdings ließen gerade die Fernwanderer im Ruhrgebiet häufig ihre Bräute aus den Heimatregionen nachziehen, da sie die Integrationsmöglichkeiten der jungen Männer erhöhten, zur Etablierung in der neuen Heimat beitrugen und nicht zuletzt eine Verbindung mit der alten Heimat bedeuteten. Die Heiratskreise erweiterten sich nur langsam.100 Das anwachsende Arbeitsplatzpotential konnte nur durch Zuwanderer und nicht mehr allein von Männern abgedeckt werden. So erhöhte sich, begleitet von den Veränderungen in der Produktionstechnik und der Bevölkerungsentwicklung, mit jedem Jahrzehnt der Anteil an weiblichen Zuwanderern aus Nordostdeutschland. Zwischen 1895 und 1933 stieg die Erwerbsquote der hauptberuflich beschäftigten Frauen von 24,6% (1895) auf 29,6% (1907) und 34,1% (1933), was einer Zunahme von 9,5% entspricht. Die Zahl der erwerbstätigen Frauen erreichte 1925 einen Höhepunkt,101 wenngleich sie in Verbindung mit den Belastungen der Mutterschaft und den zumeist schlechten hygienischen Bedingungen im Wohn- und Arbeitsbereich starken gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt waren.

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Matzerath 1985, 311 f. Zu kurzfristiger Wohndauer, Untermietern, Schlafgängern und »Indus trienomadentum« vgl. Matzerath 1985, 314 f.; Teuteberg 1985; Hubbard 1983.

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Zur Veränderung des städtischen Siedlungskörpers und zur Mobilität vgl. Matzerath 1985, 278-320; allg. Blotevogel 1980 und Piccinato 1983. Zum »Anti-Urbanismus« im Kaiserreich vgl. Reulecke 1985, 139-146.

99 Untersuchungen mit ausführlicher Literatur zum Thema weibliches Dienstpersonal finden sich u. a. bei: Tenfelde 1985; Ottmüller 1987; Pierenkemper 1988; Wierling 1987. 100 Vgl. Köllmann 1976, 21; Nipperdey 1993, 41 f. 101 Im Vergleich zu Wellner (1981, 535) zeigen die Zahlen bei Frevert (1981, 515) ein etwas anderes Bild: 19,6% (1907) und 35,3% (1925).

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III.

Untersuchungsgebiete

Sozialstruktur Mit der reichsweiten Erhebung im Jahr 1907, der andere Erfassungsmethoden zugrundeliegen, wie z. B. eine Veränderung der Definition von Erwerbstätigkeit, erhält man einen besseren Einblick in die Sozialstruktur der Bevölkerung.102 Die Rheinprovinz wies für diese Zeit beispielsweise bei den Ortsgebürtigen einen hohen Anteil an Selbständigen aus, bei den Nahwanderern und den Wanderern aus Nachbarprovinzen einen höheren Anteil an Angestellten und Beamten, während Fernwanderer aus Nordostdeutschland vor allem als Arbeiter, besonders im Bergbau und als ungelernte Arbeiter, und sonstige Fernarbeiter wieder als Angestellte und Beamte zu finden sind. Von 1907 bis 1925 stieg der Anteil der Frauen in Deutschland in diesem Bereich von 28% auf 40%, ca. 65% der Frauen waren unter 25 Jahren, 93,6% ledig. Frauen, die Kinder hatten, gingen zumeist nur auf Grund einer sozialen Notlage arbeiten, was vor allem die Arbeiterinnen betraf.103 Der Anteil der in Landwirtschaft, Industrie und Handel beschäftigten Arbeiter an allen Erwerbstätigen stieg von 66% im Jahr 1882 auf 72,5% im Jahr 1907, ihre Zahl von 10,7 Mill. auf 17,8 Mill. und die der Industriearbeiter von 4,1 Mill. auf 8,6 Mill. Mehr als 30% der Bevölkerung Deutschlands dürften im Jahr 1907 zur neuen Schicht der Industriearbeiter gehört haben.104 Parallel dazu erhöhte sich der Anteil der Frauenarbeit.105 Die Dimensionen beruflicher Mobilität waren absolut gesehen gering. Für un- und angelernte Arbeiter gab es zumeist nur eine horizontale Mobilität; für Facharbeiter und Handwerker waren soziale Auf- und Abstiegsmöglichkeiten gleichermaßen realistisch, während die Gruppe nicht-manueller Berufe allem Anschein nach höhere Aufstiegschancen besaß. Auffallend ist eine Trennung innerhalb der Gesellschaft in manuelle und nicht-manuelle Tätigkeit, was die Ausbildung von Standesunterschieden und eine Barriere bedeutete. Die Fernwanderer zogen dem Arbeitsplatz nach, ihre individuellen Aufstiegsmöglichkeiten waren gering

102 Vgl. Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 203 (1910). Da nun über die »Erwerbstätigkeit« die mithelfenden Familienangehörigen besser erfaßt wurden, kommt man auch zu erheblich höheren Zahlen bei den weiblichen Beschäftigten für Landwirtschaft, Handel und Gaststättengewerbe als in den Statistiken von 1882 und 1895. Ein auf den ersten Blick sprunghafter Anstieg muß daher relativiert werden; vgl. Hohorst u. a. 1978, 68 f. Als korrigierte Zahlen zum Gesamtanteil weiblicher Beschäftigter finden sich hier: 1895 34,86%; 1907 34,88%. Nach Marschalck (Bevölkerungsgeschichte 1984, 61) waren 1895 dagegen ca. 36%, 1907 45% der Frauen zwischen 15 und 69 Jahren erwerbstätig. 103 Frevert 1981, 511, 513 f.; Köllmann 1976, 21 f. Die kaufmännische Angestelltenschaft in Handel und Industrie erlebte, vor allem bei den weiblichen Angestellten, in der Weimarer Republik einen Boom (vgl. einschränkend die vorangegangene Anmerkung). 104 Um das Jahr 1907 zählten 70% aller Erwerbstätigen in der Rheinprovinz und 75% in Westfalen zur Arbeiterschaft. Zur Berufs- und Geschlechterstruktur und zur regionalen Verteilung vgl. Köllmann 1974, 171-185. Zur Phase der Hochindustrialisierung Rheinland-Westfalens ebd. 229-260; Tabelle zur sozialen Gliederung: 259; zum Thema Arbeiter im Industrialisierungsprozeß vgl. Conze/Engelhardt 1979; zur Beschäftigungsstruktur vgl. Kleber 1984. 105 Zur Arbeit von Frauen als Heim- und Industriearbeiterinnen, Angestellte, Bedienstete usw. vgl. Bajohr 1979; Beier 1983; Müller u. a. 1983; Knapp 1984; Pohl 1985; Schäfer 1985; Stockmann 1985; Schulz, Krise 1985.

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und bedeuteten bestenfalls einen Aufstieg in die angrenzende soziale Schicht.106 Für die große Mehrheit der Generation der Binnenwanderer zeigte sich, daß die ländliche 107 Armut aus Nordostdeutschland sich in die Industriestandorte verlagerte. Für die Aufstiegsmobilität im 20. Jahrhundert spielte die akademische Ausbildung eine immer zentralere Rolle. In Deutschland veränderte sich die soziale Herkunft an höheren Schulen und Universitäten seit dem späten Kaiserreich bis in die 1960er Jahre (in der BRD) jedoch nicht wesentlich. Bevölkerungsstruktur

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Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich das generative Verhalten leicht verändert (Rückgang von Fruchtbarkeit und Sterblichkeit). Die agrarische Bevölkerungsweise, also die vielfältigen Ursachen und Wirkungen der örtlichen und zeitlichen Variationen in der Zahl der Geburten, Heiraten und Sterbefälle, war jedoch weitgehend erhalten geblieben.109 Die demographischen Strukturen hatten sich über die Jahrhundertmitte hinaus erhalten. Erst in den 1880er Jahren stellte sich ein grundlegender Wandel ein. Die Lebenserwartung begann erst langsam, dann beschleunigt für etwa 50 Jahre zu steigen. Eine Entwicklung hatte eingesetzt, die als Demographische Transition bezeichnet wird, ein Prozeß, in dessen Verlauf die Sterbeziffern zurückgingen und die Geburtenquoten kontinuierlich abnahmen. Die Schere öffnete sich (1. Hälfte 19. Jh.), um sich dann wieder zu schließen (Ausgang 19. Jh./Jahrhundertwende). 110 Der Wandel vollzog sich von der »alten« agrarisch-vorindustriellen bzw. frühindustriellen Bevölkerungsweise mit ihren hohen, stark gegenläufig schwankenden Geburten- und Sterbekurven zur »neuen« industriellen Bevölkerungsweise mit ihren auf vergleichsweise niedrigem Niveau verhalten schwankenden Kurven. Viele ineinandergreifende Ursachen bedingten diese Entwicklung: die Wanderung vom Land in die Städte, das Angleichen und die Übernahme von sozialen

106 Nipperdey 1993, 40; Kaelble (Mobilität 1978, 117-119) geht von einer deutlich wachsenden Zahl der Aufsteiger aus Arbeiter-, mittleren Beamten- und Angestelltenschaft, d. h. einer insgesamt leichten Verbesserung der Aufstiegschancen von Unter- und/oder Mittelschicht, aus. Für die wachsende Industrieregion des Ruhrgebiets hat dieses Crew (1978) am Beispiel der Stadt Bochum untersucht. 107 Zum Problem der Aufstiegsmobilität vgl. bes. Kaelble, Mobilitätsforschung 1978, Mobilität 1978, Aufstieg 1978 und 1983; Kiesewetter, Wanderung 1989. 108 Zur Bevölkerungsstruktur und den komplexen Zusammenhängen, die hier nur kurz umrissen werden können, gibt es zahlreiche Forschungsansätze und entsprechende Literatur. Die wichtigsten Zusammenstellungen finden sich u. a. bei Marschalck, Bevölkerungsgeschichte 1984; Kiesewetter, Revolution 1989; Wehler 1993 sowie zur demographischen Entwicklung bei Imhof in diesem Band; Imhof 1981; Spree 1981. 109 Zum Begriff der »agrarischen Bevölkerungsweise« vgl. Ehmer 1992/93, 67 f.; zu Problematik und Forschungsstand vgl. Köllmann 1986. 110 Zur Problematik der Demographischen Transition vgl. u. a. Schwarz 1990, 19-29, Zahlenmaterial 27-29; Marschalck, Bevölkerungsentwicklung 1984; Hohorst 1984; Nipperdey 1993; Bade, Massenauswanderung 1984, 260-262 und Imhof in diesem Band.

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Verhaltensmustern der Oberschichten, die Veränderung des Heiratsverhaltens, die Zunahme der Frauenarbeit. Aber auch der Rückgang des kirchlichen Einflusses sowie die schwindende Notwendigkeit, in Kindern die eigene Altersversorgung zu sehen, spielten eine Rolle. Das Wissen um Verhütungsmethoden nahm allmählich zu und Verhütungsmittel wurden für breitere Bevölkerungsschichten zugänglicher. Allerdings wurde weiterhin eine »natürliche« Verhütung bevorzugt, nicht zuletzt aus Kostengründen. 111 Dennoch kann nicht übersehen werden, daß auch die Zahl der Abtreibungen als älteste Form der »Geburtenregelung« zunahm. Abtreibungen bedeuteten für die Frauen eine enorme physische und psychische Belastung, die ihre Gesundheit und nicht selten ihr Leben gefährdete. 112 Die Veränderung der Bevölkerungsweise vollzog sich nicht einheitlich. Innerhalb der Staaten und Regionen des Deutschen Reichs gab es große Unterschiede vor allem durch die agrarische oder industrielle Prägung und die Differenzierung nach Arbeitern, Angestellten oder Beamten bzw. nach evangelischen oder katholischen Familien. 113

Rückgang der Sterblichkeit Der Anstieg der Lebenserwartung um mehr als 20% zwischen 1850 und 1900 betraf die einzelnen Altersklassen der Bevölkerung in unterschiedlicher Weise. 114 Neben der Müttersterblichkeit sank vor allem die Säuglingssterblichkeit (um ca. 25%); der Sterblichkeitsrückgang war bei den 1-4jährigen mit 40% am größten und nahm dann mit zunehmendem Alter wieder ab. Bei der Gruppe der 40-44jährigen betrug er 23%, bei den 70-74jährigen nur noch 9%. 115 Bei der Säuglingssterblichkeit gab es große regionale Unterschiede, was sich in der Gesamtstatistik nivelliert. In Berlin beispielsweise lag sie unter den Bedingungen einer schnell gewachsenen Industriestadt gerade in den Arbeitervierteln im nationalen Vergleich extrem hoch. Ende der 1880er Jahre erreichte sie das Niveau von 1855. Erst ab 1905 kam es zu einer Besserung, als staatliche Maßnahmen wie die Einrichtung von Säuglingsfürsorgestellen und die Bereitstellung billiger Säuglingsnahrung eingeführt wurden. Die Bedeutung des Stillens für die

111 Um 1900 lag der Preis für ein Dutzend Kondome bei ca. fünf Mark, was dem halben Tageslohn eines Arbeiters entsprach; ein Pessar kostete zwischen drei und sechs Mark; vgl. Neumann 1981, 197; Knapp 1984, 328 ff. 112 Für Berlin schätzt man die Zahl der Abtreibungen 1905 auf 10% der Geburten, im Notjahr 1920 sogar auf 40%, vgl. Nipperdey 1993, 27; vgl. auch Jochimsen 1971; Castell 1990, 170; Neumann 1981 und bes. Staupe/Vieth 1993 (Ausstellungskatalog). 113 Vgl. Kiesewetter, Revolution 1989, 130. 114 Zu Lebenserwartung und Sterblichkeit vgl. den Beitrag von Imhof und die dort genannte Literatur sowie den Dokumentationsteil in diesem Band. 115 Marschalck, Bevölkerungsentwicklung 1984, 82 f.; zu Lebensalter vgl. Imhof 1988, 19-51 und zur Todesursachenstruktur den Beitrag von Scholz in diesem Band.

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Überlebenschancen und die Gesundheit der Kleinkinder versuchte man bei den Müttern stärker zu propagieren und praktisch, etwa durch Stillgeld, zu unterstützen. Doch stellte vor allem die Erwerbstätigkeit, auf die besonders die Arbeiterinnen angewiesen waren, ein großes Hindernis dar, weswegen die vergünstigte Säuglingsmilch besser angenommen wurde. Langfristig konnte aber nur eine Veränderung der Lebensbedingungen mit hygienischeren und humaneren Wohn- und Arbeitsverhältnissen eine Besserung bringen. 116 Hinzu kam, daß schon Mitte des Jahrhunderts die Lebenserwartung von Mädchen im Alter von 2 Jahren höher war als die von Jungen. Im Vergleich der Todesursachen zeigt sich, daß Mädchen allem Anschein nach besonders gegenüber der Tuberkulose über ein intakteres Immunsystem verfügten. Dies glich sich jedoch im Alter von 5 Jahren wieder aus.117 Zunächst war die Lebenserwartung bei den Geschlechtem noch ausgeglichen, die Unterschiede stiegen jedoch seit etwa 1890 wieder an. Seit 1911 näherte sich das Verhältnis mit 50,6 zu 49,5 wieder an, was mit dem seit dieser Zeit erzielten Wanderungsüberschuß Deutschlands zusammenhängt. Diese Entwicklung hatte eine doppelte Konsequenz. Einmal erreichten mehr weibliche Geborene das Alter der Heirats- und Gebärfähigkeit. Während 1850 von 180 Mädchen nur 100 das 32. Lebensjahr erreichten, hatte sich das Verhältnis bis zur Jahrhundertwende auf 150 : 100 verbessert.118 Andererseits kamen mehr Geborene in das Alter der Erwerbsfähigkeit und vergrößerten damit das Arbeitskräftepotential. Die Altersstruktur veränderte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht, da der Sterblichkeitsrückgang durch die hohe Fruchtbarkeit und damit das Bevölkerungswachstum überlagert wurde. Den vermehrten Erwachsenenzahlen entsprachen die vermehrten Geburtenzahlen, d. h. die Form der Alterspyramide blieb erhalten, nur ihr Volumen vergrößerte sich. In der regionalen Aufgliederung zeigen sich allerdings beträchtliche Unterschiede. So umfaßt beispielsweise die Altersgruppe der 20-50jährigen 1875 in Berlin 53,1% und im Reich 39,6% der Bevölkerung. Dieses dürfte durch die Binnenwanderung begründet sein und sich in den industriellen Ballungsräumen entsprechend verhalten.119

116 Zu Säuglingssterblichkeit und Stillverhalten vgl. bes. Imhof, Säuglinge 1981, bes. 353 f.; Imhof 1985, 305-343, bes. 329; Spree 1981, 49-92. Zur staatlichen Mutterschutzgesetzgebung siehe Bajohr 1979, 298 ff. Der Grundstein dafür wurde durch das fakultative Schwangeren- und Stillgeld gelegt, das 1911 und 1919 in Novellen zur Reichsversicherungsordnung die gesetzliche Wochenhilfe erweiterte. Sonderregelungen gab es während des Kriegs, bis 1930 blieb die Familienhilfe jedoch fakultativ, vgl. Castell 1983, 418-420. Zu den Berliner Verhältnissen vgl. Stockei 1986, bes. 257; Asmus 1982. 117Zwischen 1871/80 und 1910/11 nahm die Lebenserwartung bei Jungen von 35,6 auf 44,8 Jahre, bei Mädchen von 38,5 auf 48,3 Jahre zu; vgl. Nipperdey 1993, 9-11 und den Dokumentationsteil in diesem Band. 118 Vgl. Marschalck, Bevölkerungsentwicklung 1984, 82-84. Zur Verheiratetenquote: Der Anteil an Verheirateten erhöhte sich von 33,9% im Jahr 1890 auf 35,8% im Jahr 1910, während der Anteil der Ledigen im selben Zeitraum von 60% auf 58,7%, der der Verwitweten von 5,9% auf 5,3% fiel; Fischer 1885, 364. Zu Heiratsquote und -alter vgl. Nipperdey 1993, 21-23. 119 Vgl. ausführlicher dazu Hohorst u. a. 1978, 24 ff.

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Das Absinken der Sterblichkeit gründet in einer Vielzahl von ineinandergreifenden Faktoren wie besserer Ernährung und Hygiene sowie der fortschreitenden medizinischen Entwicklung und Versorgung, insbesondere der Eindämmung von Infektionskrankheiten.120 Hygienische Maßnahmen wie die Kontrolle der Wasserversorgung und der Kanalbau in den Ballungszentren kamen allen Bewohnern zugute, und auch die medizinische Versorgung, nicht zuletzt dank der Bismarckschen Sozialgesetzgebung, war auf alle Schichten ausgelegt.121 Zu Kranken- und Unfallversicherung kam 1889 die Alters- und Invalidenversicherung für Arbeiter. Ab 1911 mußten auch Angestellte in gesetzlichen Krankenversicherungen Mitglied sein, womit insgesamt 30% der Männer und 12% der Frauen pflichtversichert waren. Ein Arztbesuch oder ein Krankenhausaufenthalt war damit für eine breitere Schicht möglich geworden. Durch die verlängerte Lebenszeit waren immer mehr ältere und kranke Menschen ohne ausreichende Altersversorgung. Mit der Abwanderung der Jungen blieben sie häufig ohne Familie zurück, auf deren Unterstützung sie angewiesen waren, wenn sie sich nicht mehr selbst versorgen konnten. Viele lebten am Rande des Existenzminimums, und so wirkte die Bismarcksche Sozialgesetzgebung wie eine Initialzündung. Das deutsche Kaiserreich leitete als erstes Land der Welt die Entwicklung zum modernen Sozialstaat ein, auch wenn es bis dahin noch ein weiter Weg sein sollte.

Fruchtbarkeitsrückgang Neben dem Rückgang der Sterblichkeit war die eigentlich revolutionäre Entwicklung der Rückgang der ehelichen Geburten, die Schere begann sich wieder zu schließen. Deutlich meßbar wurde dieser Mitte der 1880er Jahre, relativ am stärksten bei älteren Frauen und späteren Geburten. Kinder hoher Geburtenränge wurden kaum geboren. Kamen 1872 im Deutschen Reich auf 1000 Frauen im Alter bis 50 Jahren 298 eheliche Geburten, so sank die Zahl bis 1910/11 auf 201. In Preußen,122 Baden, Bayern und Württemberg lagen sie über, in Hessen und Sachsen unter diesem Durchschnitt.123

120 Zur Todesursachenstruktur vgl. den Beitrag von Scholz in diesem Band. Zur Gesundheitsfürsorgeentwicklung vgl. Castell 1983, 409-421; Ackerknecht 1979, 183-189. Zum folgenden vgl. auch das Kapitel »Bildung, Erziehung und Gesundheit«. 121 Vgl. Castell 1990, 147-175, Seuchengesetzgebung: 167; Spree 1981, 115-128. Zur Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung 1883 und der Unfallversicherung 1884 vgl. Tennstedt 1976, 385-492; Huerkamp 1985, 194 ff.; Ritter 1983, 18-49. Bismarcks Rede zur Unfallversicherung bei Ritter, Wohlfahrtsstaat 1990, 135 ff. Dort finden sich die Inhalte der Sozialgesetzgebung, die in vielen Punkten von Bismarcks ursprünglichen Vorstellungen abweichen. Zur Invalidenversicherung vgl. Hockerts 1983, 296-323; allg. Born 1985, 122-127. 122 Vgl. Marschalck, Bevölkerungsentwicklung 1984, 84; Hohorst u. a. 1978, 29 f. Eine differenzierte Entwicklung der Geburtenziffer auch nach Regionen bei Simon 1921/1924. Zu ehelichen und unehelichen Geburten vgl. Nipperdey 1993, 23-29. 123 Vgl. Kiesewetter, Revolution 1989, 130. Zu Eheschließungen, Geborenen, Gestorbenen und zur Wände-

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Der Fruchtbarkeitsrückgang bis zur Jahrhundertwende war vorwiegend in den Städten spürbar, am deutlichsten in den großen Städten.124 In den sozialdemokratischen Hochburgen Hamburg, Berlin und dem Königreich Sachsen lagen die Geburtenraten schon vor 1910 am niedrigsten. Die unterschiedliche Sterblichkeit in Stadtund Landgebieten vergrößerte sich damit weiter. Als Reaktion auf den rapiden Geburtenrückgang gab es seit 1910 Reichstagsinitiativen, um nicht nur den Handel, sondern auch die Herstellung von Verhütungsmitteln zu verbieten. Die Einstellung zu dieser Frage änderte sich erst nach dem Ersten Weltkrieg.125 Der Anstieg der Gesamtbevölkerung, die in den Städten lebte, stieg von 1870 bis 1910 von 5% auf 20% und schlug sich auch auf das generative Verhalten nieder. Allerdings hatte sich der Trend zur »Zweikindfamilie« bereits in Frankreich abgezeichnet und ist nicht ursächlich mit der deutschen Industrialisierung verbunden. Das Bild der Familie befand sich im Wandel, »die Lebensführung wird rationaler, die Zuwendung zum einzelnen Kind intensiver und personalisierter«.126 »Während in den 1850er Jahren der durchschnittliche Geburtenüberschuß bei 0,88% lag, ist das Bevölkerungswachstum in den letzten fünf Vorkriegsjahren im Durchschnitt auf 1,16% angewachsen«, 127 dieses entsprach in etwa der Wachstumsrate der Bevölkerung.

Das 20. Jahrhundert - Weimarer Republik (1919-1933) und Drittes Reich (1933-1945) Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungsstruktur veränderten sich erheblich zwischen dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945. Eine langfristige Zunahme des Bevölkerungswachstums wurde durch eine rückläufige Geburtenzahl vorübergehend gebremst. Zu 2,4 Mill. militärischer Verluste im Ersten Weltkrieg kam noch eine erhöhte Sterblichkeit von 0,3 Mill. Menschen infolge von Mangelernährung und Krankheiten, besonders der Grippeepidemie von 1918/19. Dieses bedeutete in vielen Fällen Ehelosigkeit oder Witwenschaft und damit ein Ausbleiben von Geburten. Bereits in den Kriegsjahren gab es ein Geburtendefizit von 3 Mill. Der Anstieg der Gesamtbevölkerungszahl zwischen 1900 und 1930 um mehr als 8 Mill. erklärt sich weitgehend durch die Zuwanderungen (auch Ausweisun-

ningsbilanz 1850 bis 1914 vgl. die Tabellen bei Fischer 1985, 366 f.; zum Wandel der Bevölkerungsweise vgl. Bolte u. a. 1980, 46-57. 124 So zum Beispiel in Berlin im Gegensatz zur preußischen Provinz; vgl. die Zahlen bei Marschalck, Bevölkerungsentwicklung 1984, 84 f.; Köllmann 1974, 58-60. Zum folgenden vgl. C¿stell 1990, 170. 125 Vgl. Usborne 1991,271. 126 Nipperdey 1993 , 20. Vgl. dazu den Beitrag von Castell (1983, 409-421, bes. 411), in dem sie die These Ipsens (1933) von der »Wendung vom Nachwuchs zur Aufzucht« thematisiert; vgl. auch Köllmann 1974, 55; Nipperdey 1993, 26 f. Zu Ipsen vgl. Ehmer 1992/93. 127 Vgl. Fischer 1985, 368.

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gen) aus den nach dem Ersten Weltkrieg abgetrennten Gebieten, insbesondere aus den Provinzen Posen und Westpreußen, aus Ostoberschlesien und geringer aus anderen Teilen Osteuropas sowie aus Elsaß-Lothringen.128 Umgekehrt wanderten nach Kriegsende ca. 300 000 Menschen vor allem aus den bei Deutschland verbliebenen Abstimmungsgebieten und aus dem Ruhrgebiet nach Polen aus. Im Deutschen Reich129 lebten 1913 60,5 Mill., 192261,9 Mill., 1938 68,6 Mill. Menschen. Die jährliche Zuwachsrate lag bis 1945 mit 0,5% niedriger als die von 1871 bis 1914 mit 1,1% (durch Wanderungsgewinne verstärkt). Dies erscheint jedoch weniger ausgeprägt, legt man den Zeitraum von 1919 bis 1938 zugrunde, als vor allem während der Weltwirtschaftskrise die Geburtenzahl allgemein rückläufiger war. Den Zeitraum von 1913 bis 1945 in Deutschland kennzeichnen Geburten- und Wanderungsüberschuß.130

Geburtlichkeit Die Geburtenrate war bereits bis zum Ersten Weltkrieg auf 27%e, danach auf 15-20%o zurückgegangen, um ab 1969 (BRD) die Zahl von 15 Geborenen auf 1000 Einwohner zu unterschreiten und sich ab 1973 bei etwa 10 einzupendeln.131 Der Geburtenrückgang nach dem Hoch von 1920/21 wies noch immer Unterschiede zwischen Stadt und Land, Konfessionen und Schichten auf, begann sich aber zunehmend zu nivellieren. Der Rückgang der Geburtenzahlen, der bereits in den 1890er Jahren eine öffentliche Debatte ausgelöst hatte, wurde von den Nationalsozialisten in den Dienst ihrer Bevölkerungspolitik gestellt. Allerdings entsprachen Ehestandsdarlehen (1933), Steuervergünstigungen (1934) und Kinderbeihilfen (1936) den auch in anderen europäischen Nachbarstaaten üblichen Maßnahmen, die flankiert wurden von einer entsprechenden Siedlungs- und Wohnungspolitik sowie Maßnahmen zur Wohlfahrtspflege. Hinzu kam 1938 noch das »Ehrenkreuz der deutschen Mutter«, alles Maßnahmen, die - neben der Vergrößerung einer potentiellen Armee - auch darauf zielten, der Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken. Die Frauen sollten zum Heiraten bewegt werden, ihr Arbeitsplatz damit einem Mann zur Verfügung stehen. Der entscheidende und folgenschwere Unterschied zur Wohlfahrtspolitik anderer Staaten war die Verbindung mit der Rassenpolitik. Diese schuf mit dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (1933) die Grundlage zu den späteren Euthanasieprogrammen und gipfelte in den »Nürnberger Gesetzen« (1935).132 Der Anstieg von Heiratsziffer und Geburtlichkeit in den

128 Vgl. Köllmann 1976, 35; Marschalck, Bevölkerungsgeschichte 1984, 67 ; Castell 1981, 177 f. Der Landverlust betrug 70 579 qkm, der Bevölkerungsverlust ca. 6,5 Millionen Menschen, davon 53% mit deutscher Muttersprache. 129 In den Grenzen von 1935 inkl. dem Saarland; vgl. Henning 1987, 420. 130 Zur Alters- und Geschlechterstruktur vgl. Marschalck, Bevölkerungsgeschichte 1984, 68-70. 131 Vgl. Henning 1987, 421; Handl 1988. 132 Die »Rassenhygiene« hat in nationalsozialistischer Zeit eine entscheidende Veränderung erfahren. Zum

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Jahren 1934-1939 entsprach nicht dem damals propagierten vermeintlichen Erfolg der Programme, sondern knüpfte an die Zahlen von 1924-1928 an und bedeutete ein Nachholen der in den Krisenjahren zurückgestellten Ehen und Geburten.133 Ein eventueller Einfluß der bevölkerungspolitischen Maßnahmen der Nationalsozialisten läßt sich durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nicht nachvollziehen.

Sterblichkeit und Migration Die Sterblichkeitsrate verminderte sich ab 1880/90 bis zum Ersten Weltkrieg von 25 Gestorbenen je 1000 Einwohner auf etwa 15 und erreichte etwa 12 seit der Weimarer Zeit(1924). Der Geburtenüberschuß hatte sich damit von 12auf 14je 1000 Einwohner vor dem Krieg auf 5 bis 8 von der Mitte der 1920er Jahre bis 1968 verringert.134 Im Zuge der wirtschaftlichen Unsicherheiten erreichte die nach 1919 wieder einsetzende Überseewanderung 1923 im Zeichen von Ruhrbesetzung, Ruhrkampf und Inflation nochmals einen kurzen Höhepunkt, kam aber mit dem Beginn der Weltwirt135

schaftskrise fast zum Stillstand. Die große polnische Volksgruppe im Ruhrgebiet schrumpfte schließlich zu einer Minderheit, als infolge des Ruhrkampfs zwischen 1923 und 1925 ca. 150 000 Menschen in die französischen Bergbau- und Industriegebiete abwanderten. Die Saisonwanderung setzte sich bis zum Ende der Weltwirtschaftskrise fort. Die Zuwanderung aus osteuropäischen Staaten, auch politischer Flüchtlinge besonders aus dem sozialistisch gewordenen Rußland, dürfte zahlenmäßig zumeist unter der der Auswanderung gelegen haben. Die überseeische Rückwanderung nach Deutschland, die in der Weltwirtschaftskrise den Umfang der Auswanderung weit übertraf, wurde nach 1933 durch intensive Werbung noch gefördert.136 Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich der Charakter der Auswandeeinen machte sie nicht alle Menschen, sondern allein die »arisch-nordische« Rasse zu ihrem Gegenstand, zum anderen wurde sie auf der Grundlage pseudowissenschaftlicher Vererbungslehre erweitert; soziales Fehlverhalten konnte Ziel eugenischer Maßnahmen werden; vgl. Marschalck, Bevölkerungsentwicklung 1984, 82; Gellately 1993 und das Kapitel »Bildung, Erziehung und Gesundheit« in diesem Band. 133 Nach Köllmann 1976, 38. Auch wenn die Ehestandsdarlehen von Anfang an angenommen wurden, ist zu vermuten, daß der größte Teil der Darlehen keine zusätzlichen Eheschließungen bewirkte. Die kurzfristige Erhöhung der Gesamtfruchtbarkeit bedeutete noch keine Änderung des Niveaus der Kinderzahlen je Frau oder je Ehe; vgl. Marschalck, Bevölkerungsentwicklung 1984, 78 f. In diesem Zusammenhang muß auch die verschärfte Abtreibungsregelung gesehen werden; vgl. Staupe/Vieth 1993 (Ausstellungskatalog). 134 Henning 1987, 421 f. Er sieht die Ursache der Familienplanung nicht zuletzt in wirtschaftlichen Gründen. Zudem lasse sich über den Einfluß der Wanderungsbewegungen auf die Bevölkerungsentwicklung nichts Zuverlässiges sagen. 135 Aus Wanderungsziele waren Brasilien, Argentinien und die USA. Zum veränderten Wanderungsgeschehen in der Weimarer Zeit vgl. vor allem Bade 1980. Zielrichtung, Struktur und Umfang wurden nun überwiegend vom Haupteinwanderungsland USA mit bestimmt (Quoten). Zur Aus- und Abwanderung 1923 vgl. Henning 1987, 422; Bade, Massenauswanderung 1984, 269; Köllmann 1976, 35. 136 Vgl. Bade, Massenauswanderung 1984, 270 und Anm. 15.

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rung aus Deutschland, die Emigration politischer Gegner und jüdischer Verfolgter begann. Als mit den »Nürnberger Gesetzen« (1935) die systematische Verfolgung und Vernichtung des Judentums eingeleitet wurde, setzten Massenauswanderungen in andere europäische Staaten und nach Übersee ein, die in nichts mit den vorhergegangenen Überseewanderungen vergleichbar waren. Nach Schätzungen des Völkerbundes flohen zwischen April 1933 und Juli 1939 ca. 215 000 Menschen und in den folgenden beiden Monaten weitere 11 000.137 Nach dem Anschluß Österreichs und des Sudetenlands verließen weitere 135 000 - 145 000 Juden Deutschland. Einschließlich der Christen jüdischer Abstammung, die ebenfalls unter die Rassegesetze fielen, und den politischen Emigranten hatten bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vermutlich um die 400 000 Menschen das Land verlassen.138 Auch die Binnenwanderung setzte sich nach dem Ersten Weltkrieg fort, wobei die Ost-West-Wanderung Mitte der 1920er Jahre ihren Abschluß fand und die Abwanderung vom Land in die Städte mit der einsetzenden Weltwirtschaftskrise stagnierte. In den 30er Jahren wurden regionale Umschichtungen durch Umsiedlungsverträge mit Italien, den baltischen Staaten, der Sowjetunion, Rumänien und Kroatien eingeleitet, »die in der Zwischenkriegszeit von einer Reihe europäischer Staaten zur Festsetzung von Grenzen festgeschrieben worden war(en)« (Köllmann 1976, 42). Der dafür benötigte Raum wurde durch »polizeilich erzwungene Massendeportationen« von Polen und Juden geschaffen. Von Herbst 1939 bis 1941 führte man die systematische Vertreibung in das Generalgouvernement durch. Nach dem 15.3.1941 lösten Einweisungen in Arbeitslager und Ausweichquartiere die Deportationen ab, von denen ca. 365 000 Polen betroffen waren. Anfang 1944 lebten in den eingegliederten Gebieten noch 9,5 Millionen Menschen, davon 29,1% »Volkslisten-Angehörige«, 3,9% Reichsdeutsche und 3,5% umgesiedelte Volksdeutsche.139 Als die Rote Armee die deutschen Ostgebiete besetzte, löste dies eine große Flüchtlingswelle aus, der nach der deutschen Kapitulation eine systematische Vertreibung folgte. Die Ausweisung aller Deutschen aus den Gebieten östlich der OderNeiße-Linie und aus dem Sudetenland wurde mit dem Potsdamer Abkommen (1945) legitimiert.140 Diese Gebiete, in die wiederum Polen aus den an die Sowjetunion abgegangenen Landesteilen eingewiesen wurden, kamen unter polnische Verwaltung. Die auf polnischem Staatsgebiet verbliebenen reichsdeutschen oder Volksdeutschen Umsiedler (seit 1945/46 in Lagern konzentriert) wurden ebenso wie die Deut137 Im Jahr 1933 lebten im Reich ca. 503 000 Deutsche jüdischen Glaubens. Die Vernichtungspolitik traf in ihrem größten Ausmaß Juden in Polen und Osteuropa; vgl. u. a. Cohen 1992. 138 Von den ca. 370 000 jüdischen Flüchtlingen gingen 200 000 über See (ein Viertel nach Israel), ca. 50 000 nach Großbritannien, Schweden und in die Schweiz, ca. 85 000 nach Frankreich, Belgien und in die Niederlande und ca. 25 000 nach Polen und Osteuropa, wo sie nach einigen Jahren wieder in die Gewalt ihrer Verfolger gerieten; vgl. Köllmann 1976, 37; Strauss/Kampe 1985. 139 Zur Verbindung von Vernichtungslagern und »Umsiedlungs-Politik« vgl. Aly 1993. 140 Vgl. Klein/Meissner 1977. Besonders betroffen waren Brandenburg, Pommern und Niederschlesien; vgl. Hillgruber 1985; Erdmann 1980, 122-131; Benz 1986.

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sehen aus Nordostpreußen erst ab 1947 ausgewiesen. Zu einer planmäßigen Verteilung auf die Besatzungszonen kam es allerdings nicht.141 Erst im Jahr 1950 wurden diese Umsiedlungsaktionen endgültig abgeschlossen - die Phase der Umsiedlungen im Rahmen der sogenannten Familienzusammenführung begann. Die Bevölkerungsdichte in den Regionen des Deutschen Reichs, in den Ländern und Provinzen differierte in dem Maß, wie sich die Bevölkerungsentwicklung zum Arbeitsmarkt verhielt. Gebiete, die agrarisch strukturiert geblieben waren, wiesen nach wie vor die geringste Bevölkerungsdichte auf (Nordostdeutschland, SchleswigHolstein, Bayern).142 Gebiete mit bereits nennenswerter Industrie oder einzelnen Industrieschwerpunkten (Bergbau) hatten eine Bevölkerungsdichte von 100 bis 200 Einwohnern pro qkm (u. a. Provinz Sachsen, Ober- und Niederschlesien, Württemberg, Baden). Ausgesprochene Industrieregionen wie Teile Westfalens, die Rheinprovinz und das Land Sachsen wiesen eine Bevölkerungsdichte von über 200 Einwohnern pro qkm auf, ohne daß damit bereits das gesamte Gebiet als industrialisiert angesehen werden konnte. An dieser Dichtestruktur hatte sich bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs nichts geändert. Neben Bevölkerungswachstum und -bewegung hatte sich von 1914 bis 1945 auch die Bevölkerungsstruktur gewandelt. Durch die verlängerte Lebenserwartung und die verringerte Geburtenzahl änderte sich die Altersstruktur dahingehend, daß die Zahl der Menschen über 64 Jahren zu-, die derjenigen unter 15 Jahren abnahm. 143 Das Geschlechterverhältnis hatte sich durch die Verluste der beiden Weltkriege stark verschoben. 144 So lag der Anteil der Männer an der Gesamtbevölkerung 1913 bei 49,4%, im Jahr 1925 bei 48,3% und 1945/50 bei 47,0%. 145 Zu den genannten Stichdaten stieg der Anteil der Verheirateten (36%^3%-45%) ebenso wie der der Verwitweten (5,2%-6,2%-8,2%). Die Zunahme des Verheiratetenanteils ist vermutlich auf eine Verringerung der Personenzahl unter 20 Jahren (zumeist ledig) und einer gleichzeitigen Zunahme der Personenzahl im Alter von 20 und mehr Jahren von 57% auf 69% zurückzuführen.

141 Zu Bevölkerungsstruktur und Verteilung in den ersten Jahren nach 1945 vgl. Grebing u. a., Wirtschaft 1980, 15-23. 142 Vgl. Henning 1987, 422 und Tab. 423. Der Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft wurde durch polnische und italienische Arbeiter ausgeglichen; vgl. Köllmann 1976, 37. 143 Die Lebenserwartung für einen 10jährigen stieg von 53 auf 58, für einen 50jährigen von weiteren 20 auf 23 Jahre; vgl. Henning 1987, 420. Zur Lebenserwartung vgl. Spree 1981; bes. Imhof 1981 und seinen Beitrag sowie den Beitrag von Scholz in diesem Band. 144 Die direkten Kriegsverluste an Soldaten, Zivilpersonen auf dem Gebiet von BRD/DDR, Toten und Vermißten aus Ostdeutschland, Deportierten und ermordeten Juden beträgt ca. 5,65 Millionen Menschen, das entspricht 8,3% der Reichsbevölkerung vom 17.5.1939. Hinzu kommen 1,4 Millionen getöteter und vermißter Volksdeutscher aus Ost- und Südosteuropa; vgl. Köllmann 1976, 39, 409. 145 Zwar sind die in der Gefangenschaft verstorbenen Wehrmachtsangehörigen berücksichtigt. Da unter ihnen jedoch auch außerhalb Deutschlands beheimatete Männer waren, ist eine exakte Zahl nicht möglich; vgl. Henning 1987, 420. Zum Frauenüberschuß in den »Westzonen« vgl. Grebing u. a., Wirtschaft 1980, 19.

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Bildung, Erziehung und Gesundheit Das Kaiserreich (1871-1918) Das Schul- und Bildungssystem in Deutschland war bis um die Jahrhundertmitte so entwickelt, daß es dem Arbeitsbedarf der Frühindustrialisierung einigermaßen genügte. Die einsetzenden Veränderungen hingen eng mit der wirtschaftlichen und sozialen Dynamik des Industrialisierungsprozesses zusammen. Die sich differenzierende industrielle Wirtschaft stellte neue Anforderungen an Bildung und Qualifikation, und die sozialen Strukturen der anwachsenden städtischen Bevölkerung veränderten sich in Richtung auf eine industrielle Klassengesellschaft.146 Die Analphabetenrate bei den Schulpflichtigen war auf ein Minimum zurückgegangen, wobei nach den Ergebnissen der Volkszählung in Preußen (1871) bei der Gesamtbevölkerung immerhin noch jeder siebte als Analphabet gelten mußte.147 Dennoch nahm Deutschland damit eine Vorreiterrolle ein. Grundsätzlich war das Schulsystem nach höheren und niederen Schulen unterteilt, die sich in Altersaufbau, Verweildauer und Niveau unterschieden.148 Diese Struktur war Ausdruck einer sozialen Barriere zwischen höheren und niederen Schichten. Bis in die Zeit der Industrialisierung hatte sich das Bildungswesen der deutschen Staaten bereits relativ angeglichen, und man war bestrebt, die nach der Reichsgründung (1871) noch vorhandenen regionalen Unterschiede aufzuheben. Die erheblichen Gefälle zwischen Stadt und Land sowie innerhalb der Städte sollten jedoch für lange Zeit bestehen bleiben. Für das Jahr 1882 bedeutete dieses beispielsweise, daß 94% der städtischen Volksschüler in drei- und mehrklassige Schulen gingen, auf dem Land hingegen nur 20%. Die Grundzüge werden hier am Beispiel Preußens aufgezeigt, als dem größten und für viele andere im Reich prägenden Staat, in dem drei Fünftel der deutschen Bevölkerung lebten. Das Ausbildungswesen im Reich lag in der Kompetenz der Bundesstaaten, daher existieren Statistiken für das gesamte Reich erst ab 1901 und auch diese nur für wenige Jahre.149

146 Vgl. Lundgreen 1980, 55. 147 Vgl. Fertig 1979, 32 f.; François 1983; zu regionalen Unterschieden Friederich 1987, 125-127. In Preußen konnte die Schulpflicht nur langsamer durchgesetzt werden als in anderen Staaten: 1816 54,1% in der Elementarschule, in Sachsen über 80%, im Rheinland 50%. Die Quote stieg in Preußen auf 86,3% im Jahr 1871. Über den tatsächlichen regelmäßigen Schulbesuch sagen diese Zahlen wenig aus. Zur Schulpflicht vgl. Herrlitz u. a. 1981, 50f. 148 Zum niederen Schulwesen vgl. Friederich 1987, 123-152; Kuhlemann 1991, mit einer Reihe von Tabellen; Burchardt 1984, 466-492; Blessing 1993. Zum höheren Knabenschulwesen vgl. Jeismann 1987, 152-180; Albisetti/Lundgreen 1991 inkl. Tabellen (alle mit umfassender Literaturübersicht); zum Bildungswesen allg. vgl. Nipperdey 1993, 531- 601, mit der entsprechenden Literatur 858 f. 149 Dieses gilt ebenfalls für die Regionen, auf denen ein Teil des Datenmaterials im Dokumentationsteil beruht (Regierungsbezirke Aurich-Leer, Minden, Kassel und Trier). Vgl. dazu den Beitrag von Kamke in diesem Band. Zu den genannten Zahlen vgl. Lundgreen 1980, 99; ders. 1991, 304 f. und Hohorstu. a. 1978, 157 ff.

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Niedere Schulen Die Volksschule war die Schule der Mehrheit und zunächst die der Kirche, konfessionell geprägt und organisiert, beaufsichtigt von staatlich bestellten Geistlichen. Der konservative Kurs der Schulpolitik, der noch auf den sogenannten Stiehlschen Regulativen (1854) beruhte und darauf hinauslief, eher eine christliche Erziehung als Wissen zu vermitteln, begann sich erst mit dem Kulturkampf zu wandeln. 150 Die Schule wurde in den Kampf der politischen Führung mit der katholischen Kirche einbezogen, ihre Verbesserung und Modernisierung rückte ins Blickfeld. Die reinen Kampfgesetze wurden allerdings nach und nach zurückgenommen. Was an wesentlichem blieb, war die staatliche Schulaufsicht,151 was langfristig ihre Säkularisierung und Professionalisierung bedeutete. Die Volksschule wurde verstärkt eine Schule des Staates. Er gab Rahmen und Inhalte vor, prüfte das Lehrpersonal, war Aufsichtsbehörde. Einen Großteil der Kosten trugen die Kommunen, und vor allem die Städte hatten großen Einfluß. 152 Diesen neuen Abschnitt markieren auch die »Allgemeinen Bestimmungen« (1872), die Verwaltungsrichtlinien für die Schüler- und Lehrerausbildung festlegten: Die dreiklassige Volksschule wurde zur Norm erklärt, die allerdings erst noch erreicht werden mußte. 153 Die kleine Dorfschule hielt sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, da eine Schule im vormotorisierten Zeitalter vor allem nahe gelegen sein mußte (Nipperdey 1993, 538). Der Lehrplan führte die »Realien« wieder ein, und die Schüler sollten zu eigenständigerem Arbeiten angehalten werden. In der Auseinandersetzung um die Erziehung zur Arbeit und die Vermittlung von Handfertigkeiten zeigte sich, wie sich die Lerninhalte zunehmend den Bedürfnissen der entstehenden Industriegesellschaft angepaßt hatten - auch wenn mit dem Ende des Kulturkampfs die »Allgemeinen Bestimmungen« restriktiv konservativ ausgelegt wurden und die Schule eine konfessionelle Prägung behielt. Staat und große Teile der

150 Zum Kulturkampf, der in den Einzelstaaten des Reichs einen unterschiedlichen Verlauf nahm, vgl. Kuhlemann 1991, 184-186; bes. Link 1984, 528-559; Nipperdey 1992, 364-381. Er begann 1871 mit einem Gesetz über den Kanzelmißbrauch, dann folgten Ausweisung der Jesuiten und staatliche Schulaufsicht (1872), staatliche Aufsicht über die Kirche (1873) und Personenstandsgesetz (Zivilehe; 1.10.1874 in Preußen, 1875 auf das Reich erweitert). 151 Fixiert in einem Gesetz von 1872 bedeutete dies das uneingeschränkte Recht des Staates, Schulaufsichtspersonal zu ernennen und zu entlassen. Bis 1874 waren 17 evangelische und 373 katholische Inspektoren amtsenthoben und dafür haupt- und nebenamtliche Kreisschulinspektoren eingesetzt worden; vgl. Nipperdey 1993, 533; Kuhlemann 1991, 185 f. 152 1901 waren 75% der Schulen in Preußen formal Gemeindeschulen; vgl. Nipperdey 1993, 532. Die Zuschüsse des Staates, der den Verlust der Gemeinden durch das Sinken des Schulgelds ausglich, stiegen bis Ende der 1890er Jahre auf 50%. Der Schulunterhalt wurde erst 1904/06 gesetzlich geregelt. 153 Vgl. Lundgreen 1980, 91 f. In Preußen besuchten 1886 nur noch 24% und 1906 11% den einklassigen Schultyp, während 1886 4% und 1906 29 % der Kinder vor allem in den Städten in siebenkl assige Volksschulen gingen; vgl. Conze 1976, 670. 1881 waren 15% der Stadtschulen einklassig; 35% schon sechs- und mehrklassig, 1911 bereits 68%; auf dem Land waren 1881 57% einklassig, 0,6% mehrklassig; 1911 nur noch 39% einklassig und 4,3% mehrklassig.

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Führungsschichten waren bis zum Ende des Kaiserreichs davon überzeugt, daß es gelte, die Masse der Bevölkerung vor einem Übermaß an Bildung zu bewahren und stattdessen vor allem den christlichen Glauben, Natur- und Heimatkunde sowie vaterländische Geschichte als Leminhalte zu vermitteln. Die Probleme und Ergebnisse dieser Entwicklung ähnelten einander in den Ländern des Reichs. 154 Die Schulrealität war bestimmt durch Modernisierung und Ausbau einerseits und die Indienstnahme durch den Obrigkeitsstaat andererseits. Die Schüler sollten gegen die aufkommende Sozialdemokratie »immunisiert« und auf »verständiges Denken« hingeführt werden, das mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts an Bedeutung gewann. 155 Den Schüler, den heranwachsenden Bürger, stärker an den Staat zu binden, war eine der Grundideen des Kulturkampfs. Die Volksschulgeschichte war eine Politik der gebremsten Modernisierung. Sie brachte Ausbau und Differenzierung der Schulen zuerst in der Stadt, dann auch auf dem Land, mit langsam aber stetig steigendem Unterrichtsniveau.156 Veränderungen erfolgten zunächst vor allem in den durch Zuwanderung anwachsenden Groß- und Industriestädten. Die unentgeltlichen städtischen Armenschulen waren dem Ansturm nicht mehr gewachsen und entwickelten sich seit den 1860er Jahren (beispielsweise in Berlin) zu regelrechten »Proletarierschulen«.157 Konsequenz dieser Entwicklung war - in Berlin seit 1870, sonst seit 1888 - die drei- bis achtklassige Volksschule mit allgemeiner Schulgeldfreiheit. Zwischen den Schulbezirken allgemein, besonders 158 zwischen den Städten, blieb allerdings ein Gefälle bestehen. Die Zahl der Einschulungen stieg von 60% 1816 auf ca. 90% 1870 und 100% seit den 1880er Jahren. Parallel dazu wuchs die Zahl der Schüler, Studenten und Präparanden, die oberhalb der Pflichtschulgrenze standen, von 1880 bis 1914 um das Achtfache. Die Urbanisierung spiegelte sich auch in den Schülerzahlen, die zwischen 1871 und 1913 auf dem Land um 45,4%, in der Stadt um 232,5% anstiegen. 159 154 Vgl. Conze 1976, 671. In Baden, Sachsen und Hessen endete die schulpolitische Reaktion zwischen 1868 und 1874. In Baden wurde die Simultanschule 1876 obligatorisch, in Hessen fakultativ. Die Lehrerausbildung blieb konfessionell. In Bayern scheiterte 1869 ein Volksschulgesetz. Formal am stärksten konfessionell bestimmt blieb das württembergische Schulwesen, das erst 1907 einen modernen Lehrplan (bis dahin einklassige Dorfschulen) und 1909 eine fachlich-weltliche Schulaufsicht einführte. In Stadtstaaten wie Hamburg waren die Schulen schon länger unabhängig; vgl. Nipperdey 1993, 356. 155 Vgl. Nipperdey 1993, 537. Am 19.10.1878 wurde im Reichstag das sogenannte Sozialistengesetz, ein »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« verabschiedet; vgl. Bartel u. a. 1980. In einer Rede stellte Minister Falk die »Allgemeinen Bestimmungen« ausdrücklich in dessen Dienst. 156 Um das Niveau der Schulen anzuheben, mußte zuerst die Seminarausbildung der Lehrer verbessert werden. Bis 1878 wurden 31 neue Seminare gegründet und die öffentlichen Mittel erhöht. 157 Aufschlußreich dazu ist die Tabelle der männlichen Schulpflichtigen Berlins nach Schultypen von 1828 bis 1911; vgl. Lundgreen 1980, 94. Auch wenn Berlin besondere Bedingungen aufwies, spiegelte es doch allgemeine Tendenzen. Auf dem Land spielte das private Volksschulwesen im Gegensatz zur Stadt keine Rolle. Vgl. dazu die soziale Herkunft der Schüler in Minden, Tabelle bei Lundgreen 1991, 311. 158 Vgl. Conze 1976, 671. In den Arbeiterbezirken im Ruhrgebiet waren die Klassenstärken höher als z. B. in Düsseldorf oder Köln. Berlin hatte 1902 einen Klassendurchschnitt von 48,8, Münster von 63, Leipzig von 39 Schülern; vgl. Nipperdey 1993, 539. Zu Einschulungszahlen vgl. Leschinsky/Roeder 1976, 137 ff.

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Allerdings schloß nur etwa die Hälfte der Schüler mit dem Besuch der achten Klasse ab. Hauptursache dafür war die für den Familienunterhalt oft unverzichtbare Arbeit der Kinder in Fabriken, Heimindustrie und Landwirtschaft, die trotz einer Reihe von Gesetzen zum Arbeitsschutz der Kinder und zur Begrenzung der Kinderarbeitszeit weiterbestand.160 Zahlreiche Klagen über Schulausfall zeigen, daß diese Gesetze nicht eingehalten bzw. unterlaufen wurden. Im Jahr 1898 dürften noch immer etwa 2 Millionen, d. h. 25% der schulpflichtigen Kinder erwerbstätig gewesen sein.161 Die Schule wurde moderner und vermittelte nun beispielsweise auch Gesundheitsund Hygieneverhalten und ein gewisses Maß an Aufklärung über Ernährung, Bewegung und Kleidung. Die Schüler sollten vor allem an den Zusammenhang von mangelnder Reinlichkeit und Krankheit herangeführt werden. Der Bedeutung von körperlicher Bewegung für die kindliche Entwicklung versuchte man wenigstens mit dem Turnunterricht gerecht zu werden. Die schädliche Wirkung ungeeigneter Bänke und Tische auf die Körperhaltung der Kinder wurde erkannt, ohne daß man überall Abhilfe schaffen konnte.162 Solange sich die Arbeitssituation der Kinder, durch die viele von ihnen gesundheitliche Schäden davontrugen, und die oft erbärmlichen Wohnverhältnisse besonders in den lichtarmen, feuchten und übervölkerten Mietskasernen der Städte nicht änderten, konnte ein geschulteres Gesundheitsbewußtsein allein jedoch nicht ausreichen.163 Die Schule wurde vor allem als nationale Einrichtung verstanden und vermittelte durch Fächerkanon und Hochsprache wie auch in Ritualen (Lieder, Festtage) eine Festlegung auf Kaiser und Reich. Sie stand jedoch nicht außerhalb des sozialen Wandels oder gegen ihn, sondern setzte auf eigene Aktivität, auch wenn in der Realität Disziplinierung und Autorität gegenüber der jungen Generation hohe Priorität hatten. Die Volksschule war eine Klassenschule des einfachen Volks, abgegrenzt gegen höhere Schulen, doch sie blockierte die begrenzte soziale Mobilität nicht.164 Die Zahl der Lehrer wuchs überproportional zur Zahl der Schüler. Neu war eine zunehmende »Feminisierung« des Volksschullehrerberufs. 1911 lag der Frauenanteil 159 Vgl. Nipperdey 1993, 538. 160 Vgl. Beier 1983, 132-145. Das erste deutsche Kinderschutzgesetz, das preußische Regulativ (1839), wurde mit dem Gesetz über die Beschäftigung Jugendlicher in Fabriken (1853) erweitert und 1878 modifiziert. So durften Kinder unter 12 Jahren nicht in Fabriken beschäftigt werden, Kinder unter 14 Jahren nur für sechs Stunden, volksschulpflichtige Kinder mußten mindestens drei Unterrichtsstunden erhalten. In einer Erweiterung des Gesetzes von 1891 war u. a. der Arbeitstag geregelt (höchstens halb 6 Uhr morgens bis halb 8 Uhr abends) und die Arbeit Volksschulpflichtiger verboten. Erst das Gesetz von 1903 brachte eine entscheidende Verbesserung der Bestimmungen; vgl. Stark van der Haar/van der Haar 1980, 18 ff. 161 Vgl. Stark van der Haar/van der Haar 1980, 23. In Bonn beispielsweise waren noch 1904 10% der Volksschulknaben und 7% der Mädchen gewerblich tätig; vgl. Bennack 1990, 213-215, hier 215. 162 Zur Geschichte der Hygiene im preußischen Schulwesen vgl. Bennack 1990. Er bietet einen guten Überblick für Kaiserreich, Weimarer Republik und die Zeit des Nationalsozialismus. 163 Zur ländlichen wie stadtischen Wohnsituation vgl. Teuteberg/Wischermann 1985; Teuteberg 1985. 164 Vgl. Nipperdey 1993, 542.

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bereits bei 21%. In diesem Jahr wurde ihre Ausbildung der der Männer gleichgestellt, allerdings hatten sie weiterhin eigene Seminare und Prüfungen und nur 75% des Gehalts der Männer. Zudem mußten sie unverheiratet sein. Bei Reichsgründung war die sozioökonomische Lage der Lehrer durchweg schlecht mit großen Besoldungsunterschieden zwischen den Stellen. Sie waren auf Nebenverdienste angewiesen, etwa als Gemeindeschreiber auf dem Land oder als Privatlehrer in den Städten.165 1871 schlössen sie sich in der größten Vereinigung reichsdeutscher Lehrer, dem Deutschen Lehrerverein, zusammen, der, wenn auch überparteilich, das liberal-demokratische Schulideal der deutschen Lehrerschaft vertrat.166 Auch nach 1900 zeigte sich der Verein eher reformerisch progressiv. Bis 1914 glichen sich Ausbildung, Rechtsstellung und Besoldung in den deutschen Staaten immer stärker an.167 Der Lehrerberuf hatte sich gewandelt und gewann an Prestige. Er bot Aufstiegschancen durch ein differenzierteres Schulsystem (mehr Stellen für Rektoren, Töchter-, Mittelschullehrer) und die bessere ökonomische Situation, die sich auf die Heiratskreise und die Bildungschancen ihrer Kinder auswirkte. Der Beruf des Volksschullehrers wurde zum regelrechten Aufstiegsberuf für die Mittelschicht und die ländliche Unterschicht.

Zwischen Volksschule und höherer Schule Das Bedürfnis mittelständischer Familien nach einer Abgrenzung führte de facto erst in den 1890er Jahren dazu, daß Gemeindeschulen in Mittelschulen mit Schulgeldpflicht umgewandelt wurden. Sie waren mit den Realschulen nicht identisch, und da ihr Abschluß keine Berechtigung verlieh, wurden um 1911 nur etwa 3,5% aller Schüler dort unterrichtet.168 Während das System der höheren Schulen den Bedürfnissen der Zeit angepaßt wurde, gestaltete sich dieses bei den Mittelschulen stets schwierig.169 Kinder aus der mittelständischen Schicht waren in allen Schultypen zu finden. Fachschulen des Mittelbaus, die nach dem Abschluß der Realschule besucht werden konnten, waren seit den 1890er Jahren die Höhere Maschinenbauschule sowie die Fachschule für Che-

165 Im Jahr 1891 übten in Preußen noch 25% einen Nebenerwerb aus; vgl. Nipperdey 1993, 543. 166 In Anlehnung an die Forderungen, die bereits 1848 vom Allgemeinen Deutschen Lehrerverein vertreten wurden. 167 Zur Ausbildung gehörten der Abschluß der sieben- bis achtklassigen Volksschule, die Präparandenschule und ein Lehrerseminar. 1895/96 wurden die angehenden Lehrer den Absolventen der Sekundarstufe gleichgestellt und nach bestandener 1. Prüfung zum Einjahrig-Freiwilligen-Militärdienst zugelassen; vgl. Conze 1976, 673. Zur stufenweisen Zulassung und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung vgl. Jeismann 1987, 167. 168 Sie sind gehobene Volksschulen mit der Vermittlung von Englisch-, Französisch- und Wirtschaftskenntnissen. Zum Ausbau des Mittel- und Fachschulwesens vgl. Herrlitz u. a. 1981, 96-98. 169 Im Jahr 1911 gab es 300 000 höhere Schüler, ca. 10,6 Millionen Volks- und gehobene Volksschüler und 90 000 Realschüler.

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mie. 170 Gegen 1870 begannen sich auch sonderpädagogische Einrichtungen herauszubilden. Im Zuge der Industrialisierung wurde Fort- und Weiterbildung immer nötiger, und so entwickelten sich die alten »Sonntagsschulen« zu Fortbildungsschulen, die teils öffentlich, teils privat und teils obligatorisch waren. Bei den Schülern waren sie jedoch unbeliebt und in ihrer Wirksamkeit begrenzt.171

Höhere Schulen Die mittleren und höheren Schulen sowie die Fach- und Hochschulen trugen den klassischen Bildungsnormen wie der Anpassung an die zunehmende Differenzierung der Berufsbilder Rechnung. »Die gymnasiale Bildung war das geistige Fundament der politisch-sozialen Führungsschicht... die Frage nach der >richtigen Schule< war mit der Gesamtordnung untrennbar verknüpft« (Nipperdey 1993,547). Bis zu den vereinheitlichenden Vereinbarungen ab 1873 hatte es zwischen den Ländern des Deutschen Reiches noch deutliche Unterschiede gegeben. 172 Mehr als jede andere Schule war das Gymnasium Staats-, nicht Gemeindeschule, 173 und trotz Kulturkampf und Säkularisation blieb es noch lange eine Institution christlicher Erziehung. Das neunklassige Gymnasium baute auf den ersten vier Volksschulklassen (oder der Vorschule) auf. Das zu zahlende Schulgeld belastete die Eltern oft stark.174 Daneben erhöhte sich die Zahl der Real- und Oberrealschulen zwischen 1890 und 1900 von 61 auf 278. 175 Aber allein der Besuch des Gymnasiums hielt alle Berufschancen offen. 176 Nach lebhaften Auseinandersetzungen kam es 1900 zur Entscheidung, daß fortan drei Schultypen nebeneinander bestehen und den Zugang zur Universität ermögli-

170 Zu Berufs- und Erwachsenenbildung vgl. u. a. die Beiträge von Stratmann, Harney, Grüner, Schmiel, Horlebein und Röhrig in: Berg 1991. Zur Sonderpädagogik vgl. Friederich 1987, 149. 171 Sie bedeuteten wöchentlichen Pflichtunterricht von 2 bis 6 Stunden neben Ausbildung und Beruf. Die alten polytechnischen und Gewerbeschulen gingen in den realistischen Zweigen der höheren bzw. mittleren Schulen auf. Technische Fachschulen und Berufsschulen entwickelten sich erst seit 1890, zuerst in den 70er Jahren in Sachsen, ab 1897 waren sie für Handwerkslehrlinge, ab 1900 auch für jugendliche Arbeiter und Mädchen obligatorisch. 1910 gab es ca. 1,4 Millionen Schüler, davon 39% in gewerblichen, 6,4% in kaufmännischen, 6,0% in ländlichen und 48,6% in allgemeinen Fortbildungsschulen; vgl. Nipperdey 1993, 546; Burchardt 1984, 478-481; Harney 1987; Lundgreen 1987. 172 Vgl. dazu und zum folgenden Jeismann 1987, 158-161; Müller/Zymek 1989. 173 Es gab zwar auch städtische Gymnasien mit weitgehend städtischer Finanzierung, aber bei Inhalten und Personal wurde das Obergewicht des Staates deutlich, in Bayern und Sachsen noch stärker als in Preußen; vgl. Nipperdey 1993, 547. 174 In Preußen betrug es um 1880 jährlich durchschnittlich 48 Mark, in Baden 1874 für neun Jahre 476 Mark (1905 972 Mark), in Bayern weniger, sonst überall mehr; vgl. Nipperdey 1993, 548. 175 Die Mittelschulen wurden 1859 neu klassifiziert und bis in die 90er Jahre reformiert und den neuen Anforderungen angepaßt. 176 Für mittlere Beamtenberufe oder ein naturwissenschaftliches Studium beispielsweise genügte die Primarreife. Daher schloß vor 1914 nur ein Drittel bis ein Viertel mit dem Abitur ab; vgl. Nipperdey 1993, 548.

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chen sollten (Ausnahme Theologische Fakultät). Damit war ein System prinzipiell gleichberechtigter höherer Schulen geschaffen.177 Ihre Zahl stieg, und die Zahl ihrer Schüler im Kaiserreich wuchs dreimal so schnell wie die der Bevölkerung. Dieser starke Anstieg gibt auch Aufschluß über die soziale Herkunft der Schüler, die sich nicht allein aus akademischen Kreisen rekrutierten.178 Durch die Differenzierung der höheren Schulen wandelte sich auch das Berufsbild des Lehrers. Mit der Hinwendung zu einer praktisch-pädagogischen Ausbildung - in Preußen wurde 1890 ein praktisches Seminaijahr eingeführt - ging die Tendenz weg vom Lehrer und hin zum Erzieher. Der in diesem Jahr gegründete Allgemeine Deutsche Lehrerinnenverein strebte eine bessere Ausbildung der Lehrerinnen und damit auch eine gerechtere Besoldung an, doch erst 1903 konnten Oberlehrerinnen das Staatsexamen ablegen. Auch der Lehrberuf an höheren Schulen wurde Aufstiegsberuf.179

Universitäten und Hochschulen Die Universitäten waren Staatsanstalten und sich selbst verwaltende Körperschaften zugleich, staatlich gegründet und finanziert.180 Ihre Zahl blieb annähernd gleich bei 20 (1871) und 22 (1914). Im Jahr 1914 gab es zudem 11 Technische Hochschulen, die nach Zürcher Vorbild teils umgebildet, teils neugegründet worden waren.181 Hinzu kamen weitere berufsspezifische Hochschulen.182 Seit 1890 nahmen die Universitäten einen staatlich geförderten Aufschwung. Die Studentenzahlen nahmen ab 1872 ständig zu. Nach fast 40jährigem Stillstand und relativem Zurückbleiben hinter den Bevölkerungszahlen ließ dieser Anstieg nur Mitte der 80er bis Anfang der 90er Jahre etwas nach, um dann bis 1914 in die Höhe

177 Im Deutschen Reich gab es 1911 160 000 Schüler an Gymnasien, die weiterhin Eliteschulen blieben, 70 000 an Realgymnasien und 76 000 an Oberrealschulen; vgl. Conze 1976, 674. Zu Schülerzahlen, Zuwachsraten, Verteilung, Abschlüssen usw. vgl. Nipperdey 1993, 554 f.; vgl. auch Hohorst u. a. 1978 und Petzina u. a. 1978. 178 Tabelle für Berlin bei Conze 1976, 674. Für das 19. Jahrhundert vgl. Jeismann 1987, 176-180; für Preußen, Nipperdey 1993, 556. Allg. zu Bildungschancen und städtischer Gesellschaft vgl. Lundgreen 1991. Bildungschancen und -mobilität waren insgesamt leicht gestiegen. 179 Die Mehrzahl der Kandidaten um 1900 kam aus Familien von Volksschullehrern, nichtakademischen Beamten sowie aus dem gewerbe- und handeltreibenden Bürgertum. Zur Lehrerbildung für höhere Schulen vgl. bes. Titze 1991. 180 Nipperdey 1993, 572. Zu den Universitäten bes. im 19. Jahrhundert vgl. Turner 1987 (ausführt. Literatur); Titze 1989; immer noch Eulenburg 1906 und Paulsen 1904, 1919-1921; Jarausch 1991 (ausführt. Literatur); Bibliographie bei Wehler 1993, 316-325. 181 Im Lauf der Zeit wurde auch für sie das Abitur Zulassungsvoraussetzung, und 1899/1900 erhielten sie das Promotionsrecht zum Dr. Ing.; vgl. Nipperdey 1993, 569. 182 Dieses waren: drei Bergakademien, vier Landwirtschaftliche, sechs Tierärztliche Hochschulen und vier Forstakademien sowie sieben auf Initiative der städtischen Kaufmannschaft gegründete Handelshochschulen (1898-1918); vgl. Conze 1976, 675.

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zu schnellen.183 Der Lehrkörper an den Universitäten vergrößerte sich allerdings nicht entsprechend den Studentenzahlen, 1913 kamen doppelt so viele Studenten auf eine Professur wie im Jahr 1870.184 Der Anteil der Studenten an der Bevölkerung hatte sich knapp verdreifacht. Die Ursachen dafür lagen im Bevölkerungswachstum, dem Ausbau des Schulsystems, dem Eintritt der Frauen in die Universitäten wie auch in dem Bedarf der sich ausbildenden Industriegesellschaft an Qualifikation und Hochschulbildung. Ein Hochschulabschluß hatte durch die damit verbundenen Aussichten auf Wohlstand und Prestige für viele an Anziehung gewonnen. Die hohen Studentenzahlen führten zu einer öffentlichen Auseinandersetzung um Überfüllung und Stellenmangel, was bei Philologen und phasenweise bei Juristen berechtigt war. Dieses wurde in weiten Kreisen - aus Angst vor Statusverlust - insbesondere als Argument gegen das Frauenstudium ins Feld geführt. Den höchsten Ansturm erlebten die Medizinische, zeitweise die Juristische und vor allem die Philosophische Fakultät mit den Naturwissenschaften (1871 26%, 1911 50% aller Studierenden). Industrialisierung, Technisierung, Ausbau des Gesundheitswesens und der Bedarf an Lehrern im ausgeweiteten Schulwesen machten sich bemerkbar.185 Die Entwicklung der geisteswissenschaftlichen Fächer wirkte weniger struktursprengend als die der Naturwissenschaften und der Medizin mit ihren großen Instituten bzw. Kliniken (zwischen 1860 und 1914 173 medizinische Institute). Die Naturwissenschaften begannen sich allmählich von der Philosophischen Fakultät abzutrennen und weiter zu differenzieren.186 Diese Entwicklung wie die zunehmenden Studentenzahlen führten die Universitäten weg vom alten Humboldtschen Bildungsideal hin zu einer Trennung von Forschung und Lehre. Die aufwendige und als notwendig erkannte naturwissenschaftliche Forschung wurde nun zunehmend von außeruniversitären, vom Reich finanzierten Institutionen und Gesellschaften übernommen (1911 Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften).187 Die Technischen Hochschulen erfuhren bei der Reichsgründung zunächst einen Aufschwung, der gebremst wurde und ab 1885 wieder einsetzte, um nach 1902 trotz Wirtschaftswachstums - erneut abzusinken.188 183 Vgl. Conze 1976, 675: von 18 000 im Jahr 1869 auf 79 000 im Jahr 1914. Dagegen Jarausch 1991, 315: 29 011 im Jahr 1869 und 60 235 im Jahr 1914. 184 Vgl. Jarausch 1991, 329. Dagegen Nipperdey 1993, 569 ff.: Das Lehrpersonal wuchs zwischen 1864 und 1910 u m 159%, wobei die Zahlen der Privatdozenten und nicht oder kaum dotierten Extraordinarien am schnellsten stiegen. Aber auch die Zahl der Ordinarien stieg um 70% von 723 auf 1236, vor allem in der Medizin und in den Natur- und Geisteswissenschaften. Zu Berufungspraxis, sozialer Herkunft und Status der Professoren siehe ebd. 185 Einen starken Rückgang hingegen erlebte die evangelische Theologie (1887 16%, 1911 5%). Zur Differenzierung nach Fakultäten vgl. Jarausch 1991, 318-324. 186 Tübingen 1863, Straßburg 1873 usw. Diese Auf- und Abspaltung war 1914 noch nicht abgeschlossen; vgl. Windolf 1990. 187 Vgl. Jarausch 1991, 323. Zur Verbindung von Wissenschaft, Wirtschaft und Großforschung vgl. Nipperdey 1993, 586-590. 188 Der Trend ist ähnlich expansiv, aber gegenzyklisch; vgl. Jarausch 1991, 315. Hier standen sicherlich noch

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Mit dem Anwachsen der Studentenschaft veränderte sich auch ihre soziale Zusammensetzung. Der Nachwuchs aus den akademischen Kreisen halbierte sich nun, während in Zeiten von Stagnation oder in Wachstumspausen der Akademikeranteil stieg. Nachdem zuerst Kinder aus dem Wirtschaftsbürgertum an die Hochschulen strömten, wuchsen allmählich auch die Chancen für Kinder aus dem Mittelstand (nicht-akademische Beamte, Lehrer und Angestellte). Allerdings wurden diese sozialen Aufsteiger in Krisenzeiten am schnellsten verdrängt. Die unteren Klassen blieben fast vollständig vom Studium ausgeschlossen. Die soziale Verschiebung wirkte sich unterschiedlich auf die Fakultäten aus.189 Die Entwicklung der Technischen Hochschulen zeigte ein ähnliches Bild. Die Studentenschaft wurde im Kaiserreich also wesentlich heterogener in ihrer Zusammensetzung, aber nicht wesentlich offener. Wie der Oberstufe der höheren Schulen kam auch der Universität eine Aufstiegsfunktion zu. 1911/13 hatten 72% der Studentenväter keine akademische Ausbildung; 39% gehörten der oberen, 55% der unteren Mittelschicht an, ca. 50% waren selbständig.190 Da das Stipendien- bzw. Unterstützungswesen gering ausgebildet war, bedeutete es erhebliche Opfer, Kinder studieren zu lassen. Der Eintritt in studentische Corps oder Verbindungen war zwar mit finanziellem Aufwand verbunden, bedeutete aber zugleich eine Art Netzwerk für das berufliche Fortkommen.191 Zunehmend mehr Studenten traten in Verbindungen ein. Die »freistudentische Bewegung« entwickelte sich seit 1905 dagegen mehr und mehr zu einer Reformbewegung, die dem Reichsnationalismus kritisch gegenüberstand und eine demokratische, implizit liberale Richtung vertrat. An einzelnen Hochschulen entstanden Allgemeine Studentenausschüsse (AStA), meist Kompromisse zwischen Korporierten und Freien, was die Studentenschaft insgesamt politisierte.

Mädchenbildung Die Volksschulbildung war für Jungen und Mädchen grundsätzlich gleich, Koedukation in den Dorfschulen und in kleinen Städten oder bei konfessionellen Minderheiten üblich. Bei der höheren Schulbildung wurde nach Geschlechtern und unterschiedlichen Ausbildungssystemen getrennt.192 In allen deutschen Staaten bestanden spätestens seit dem 18. Jahrhundert gesonderte, zum Teil schichtspezifische Schulen für Mädchen.

traditionelle Einstellungen zu Familie und Schulerziehung sowie eine gesicherte Beamtenstellung dem gewissen Risiko in Berufen der Wirtschaft entgegen. 189 Vgl. Nipperdey 1993, 579; dort auch konfessionelle Verteilung. Zur Sozialstruktur der Studenten- und Dozentenschaft im Verhältnis zu ihrem Studienfach vgl. Jarausch 1991, bes. 326-328. 190 Vgl. Conze 1976, 676. 191 Zur »studentischen Subkultur« vgl. Jarausch 1991, 333-337 und Nipperdey 1993, 582-586. 192 Zu Frauenbildung und Entwicklung der höheren Mädchenschulen vgl. Conradt/Heckmann-Janz 1985; bes. Küpper 1987; ausführt. Albisetti 1988; Gerhard 1990; Kraul 1991 (ausführt. Literatur).

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Auch die Ausrichtung der Mädchenbildung war im 19. Jahrhundert geschlechtsspezifisch, zwar allgemein und praktisch orientiert wie bei den Jungen, aber ohne die Vermittlung alter Sprachen. Dafür erhielten sie eine eher literarische, moralische und ästhetische Erziehung. Die »höheren Töchterschulen« hatten private, klösterliche und später auch kommunale Träger. 1891 hatten sie im gesamten Reich ca. 160 000165 000 Schülerinnen. Da die wenigsten Schulen einen neunjährigen Kurs anbieten konnten, schloß sich für die Mehrheit der Schülerinnen das »Pensionat« an, das sprachlich-musische oder hauswirtschaftliche Fähigkeiten und das »gehörige Betragen« vermitteln sollte. Damit waren die Mädchen für den »Heiratsmarkt« vorbereitet, 193

nicht aber für Ehe oder Beruf. Erste Reformüberlegungen und Ministerialkonferenzen gab es Anfang der 1870er Jahre. Die Lehrer und Lehrerinnen organisierten sich (Verein für das höhere Mädchenschulwesen), das Niveau sollte normiert und verbessert werden und der Staat die Qualifikationen des Lehrpersonals regeln. In den 90er Jahren stellten Frauen 60% der Lehrerschaft, einschließlich der Unterstufe.194 Die Frauenbewegung wurde in Deutschland mehr als anderswo von Lehrerinnen bestimmt. Treibende Kraft waren der Allgemeine Deutsche Frauenverein, der LetteVerein und der Deutsche Frauenverein Reform. Sie forderten eine Verbesserung und Gleichstellung der Mädchenschulen und der Lehrerinnenausbildung. Ziel ihres Kampfes war das Abitur und die Studienzulassung für Mädchen.195 Die seit 1889 von den Frauenvereinen eingerichteten und finanzierten gymnasialen Kurse boten keine echte Chancengleichheit, doch der Staat (besonders in Preußen und Bayern) sah sich nicht veranlaßt, Gymnasien für Mädchen einzuführen.196 Erst 1908 ging Preußen schließlich zu einer Neuregelung des Mädchenschulwesens über - Mädchen wurden zu Abitur und Studium zugelassen.197 Die Zulassung zum Studium bedeutete jedoch

193 In Preußen bestanden 1900/01 213 öffentliche Schulen mit 53 000 und 656 private mit 72 900 Schülerinnen. Nur 5% der öffentlichen und 15% der privaten Schulen konnten einen neunjährigen Kurs anbieten; vgl. Nipperdey 1993, 561. 194 Nach Schätzungen aus dem Jahr 1899 waren 47% aller Lehrerinnen an Volksschulen, 8% an öffentlichen höheren und mittleren Mädchenschulen, 19% an Privatschulen und 26% in Familien tätig; vgl. Titze 1991, 364. 195 Zur Lehrerinnenausbildung in Preußen vgl. Klewitz 1986; Gerhard 1990, 140 f. In Frankreich wurden Frauen seit 1863 zu fast allen Fakultäten zugelassen, und die Zürcher Universität nahm bereits seit den 40er Jahren Frauen als Gasthörerinnen an der Philosophischen Fakultät auf. 196 Das erste Gymnasium gründete 1893 der Frauenverein Reform in Karlsruhe; vgl. Gerhard 1990, 151 f. Als das Thema Frauenstudium am 11. März 1891 erstmals im Reichstag auf der Tagesordnung stand, löste es allenthalben Heiterkeit aus. Doch das benachbarte Ausland schuf Handlungszwang, und so ließ Baden 1900 erstmals Frauen zum Studium zu. Freiburg und Heidelberg folgten zum Sommersemester 1901. Seit 1899 durften Frauen mit Beschluß des Bundesrats die medizinische und pharmazeutische Staatsprüfung ablegen; vgl. Gerhard 1990, 157. 197 Vgl. Albisetti 1988. 1912 gab es in Preußen 448 Lyzeen und 209 Oberlyzeen für Mädchen und nun auch vier Gymnasien, 27 Realgymnasien und zwei Oberrealschulen. Bei Bedarf konnten Mädchen an Knabengymnasien zugelassen werden, wie dies in Baden der Fall war.

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nicht die automatische Zulassung zu staatlichen Prüfungen, zu Promotion oder Habilitation. Das Recht auf Habilitation wurde den Frauen vielmehr erst 1920 gewährt.198 Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs brachte für alle Schulen personelle Engpässe, zudem kriegsbedingte Aufgaben (Heeresbetreuung) sowie Zweckentfremdung der Schulen als Lazarette. Besonders in der zweiten Kriegshälfte wurde der reguläre Unterricht stark beeinträchtigt durch Kohlenmangel, Sammeleinsätze und die allgemeine Unterernährung von Lehrern wie Schülern. Entsprechend sahen die Verhältnisse an den Universitäten aus, wo zu dem Personalmangel eine Vernachlässigung der Fächer hinzukam, die als nicht kriegsnotwendig angesehen wurden.

Die Weimarer Republik (1919-1933) Die Grundlagen der gesellschaftlichen Macht der Eliten des Kaiserreichs blieben in ihren Organisationen und Institutionen vom Zusammenbruch 1918 weitgehend unberührt. Das galt auch für das Bildungswesen. Seine Struktur erfuhr während der Weimarer Republik keine wesentliche Veränderung.199 Die wenigen fortschrittlichen Neuerungen erfolgten unmittelbar nach der Revolution und bis spätestens Mitte der 1920er Jahre. Die politisch umstrittenste Maßnahme war die »Anhebung der Volksschule«. Erreicht wurde dieses nur in Ansätzen: im Verbot der privaten Sondervorschulen für höhere Schulen und in der Einführung der vierjährigen obligatorischen Grundschule, die die schichtenspezifische Trennung abbauen sollte.200 Die Schulhoheit verblieb bei den Ländern. Zwei Reichsschulgesetze scheiterten, und 1926/27 besuchten noch 74% der evangelischen und 85% der katholischen Schüler konfessionell geprägte Volksschulen.201 Neue Ansätze gab es in der Volksschullehrerausbildung, deren Grundstruktur jedoch erhalten blieb. Allerdings gab Preußen bereits während des Ersten Weltkriegs den Anstoß, die wissenschaftliche Pädagogik zu institutionalisieren. Hatten Hamburg, Thüringen, Hessen und Braunschweig die Volksschullehrerseminare an den Universitäten bzw. Technischen Hochschulen eingerichtet, entstanden in Preußen zwischen 1926 und 1930 15 Pädagogische Akade202 mien und lösten damit die Präparanden-Anstalten und Seminare ab. Hinzuweisen

198 1923 erhielten die Botanikerin Margarethe von Wrangeil und die Soziologin und Pädagogin Mathilde Vaerting erstmals ordentliche Professuren. Sie sollten bis 1933 die Ausnahme bleiben. Zwischen 1908 und 1933 promovierten 10 595 Frauen, nur 54 wurden Dozentinnen und 24 erhielten den Professorentitel; vgl. Pahl/Schmidt-Harzbach 1981. 199 Ausgenommen das Verbot der Sondervorschulen für höhere Schulen. Zum Schulwesen vgl. Zymek 1989 (ausführl. Literatur); Herrlitz u. a. 1981, 104 ff. Zum mittleren Bildungswesen vgl. Herrlitz u. a. 1981, 115-117; Zymek 1989, 168-171 und 197 f. 200 Grundschulgesetz vom 28.4.1920. Die strikte Trennung von niederer und höherer Bildung wurde erstmals durchbrochen (Herrlitz u. a. 1981, 109). Die Auflösung der Privatschulen zögerte sich allerdings hinaus. 201 Vgl. Zorn 1976, 919 f. 202 Zur akademischen Erziehungswissenschaft bis 1933 vgl.Tenorth 1989, 116 ff.; Herrlitz u. a. 1981, 111 ff.

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ist auch auf die pädagogische Reformbewegung außerhalb der öffentlichen Schulen, wie sie sich zum Beispiel in der Landerziehungsheimbewegung oder in den WaldorfSchulen manifestiert, deren erste 1919 in Stuttgart von dem Anthroposophen Rudolf Steiner gegründet wurde. Mit Abendschulen und Volkshochschulen nahm die Erwachsenenbildung einen starken Aufschwung. Sie wurde vor allem von den unteren Schichten angenommen Arbeiterbildungsvereine hatte es bereits seit den 1860er Jahren gegeben. Bildung wurde vermittelt durch Volksbüchereien, Volksbund und Bühnenvolksbund und den seit 1923 eingerichteten Rundfunk. In der Weltwirtschaftskrise bekam sie für das wachsende Heer von Arbeitslosen neue Bedeutung. Schon 1921 hatten die Gewerkschaften mit der Akademie der Arbeit in Frankfurt a. M. eine besondere Sozialhochschule errichtet.203 Als historisch neuer Faktor machte sich erstmals in den 20er und 30er Jahren die demographische Entwicklung mit negativen Auswirkungen im höheren Bildungswesen bemerkbar. Die sinkenden Geburtenzahlen schlugen sich dort seit der zweiten Hälfte der 20er Jahre in sinkenden Schülerzahlen nieder und die Zukunftsaussichten in den überfüllten Lehrämtern erschienen noch düsterer.204

Hochschulen Im Hochschulbereich fand ebenfalls keine grundlegende Veränderung statt. Der soziale Umschichtungsprozeß, der sich im Kaiserreich (in den Bildungseinrichtungen) abzuzeichnen begann, wurde in der Nachkriegszeit ausgeprägter. Einen Ausdruck fand dieser Wandel im sogenannten Werkstudententum, dem wachsende soziale Bedeutung zukam und das mit dem Wirtschaftsprogramm des Erlanger Studententags (1921) populär wurde. 205 Zahlreiche studentische Hilfsorganisationen, die heute selbstverständlich erscheinen, wie Mensa, Wohnheime usw. gehen in ihrer Insütutionalisierung auf die Notsituation nach dem Ersten Weltkrieg zurück.

203 Die beruflichen Fortbildungsschulen erhielten durch Art. 145 der Weimarer Reichsverfassung Unterstützung, jedoch wurde die dort festgelegte Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs keineswegs generell beachtet; vgl. Henning 1987, 425; allg. Langewiesche 1989. 204 Vgl. Herrlitz u. a. 1981, 121. 205 1931 kamen jedoch noch 34,1% der Studenten aus der Oberschicht einschließlich Akademikern, 59,2% aus dem Mittelstand und 5,9% aus den unteren Schichten, davon 3,2% aus der Arbeiterschaft; vgl. Zorn 1976, 920. Nach Ringer (1987, 65) waren 1931 von den Vätern der Studenten ca. 25% höhere Beamte, Hochschullehrer, Lehrer an höheren Schulen, Geistliche, Offiziere, Angehörige freier und gelehrter Berufe; ca. 32% waren niedere Beamte und Lehrer (ohne akademische Bildung); 5% waren Gutsbesitzer und Landwirte, 11% Industrielle, Großkaufleute, Direktoren und leitende Angestellte; 18% schließlich waren kleinere unabhängige Kaufleute, Gewerbetreibende und Handwerker, 6% kleinere (nicht leitende) Angestellte und 3% Arbeiter.

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Nach dem Krieg versuchte man den verstärkten Andrang von Kriegsteilnehmern auf die Universitäten durch Trimester zu bewältigen. Doch die Studentenzahlen stiegen weiter an und erreichten (bei erneutem Aufholen der Technischen Hochschulen) einen Höhepunkt im Inflationsjahr 1923 (126 000 Studenten), der im Krisensommer 1931 mit 138 000 Studenten nochmals übertroffen wurde. Den 22 000 Frauen unter ihnen schlug angesichts der Verknappimg der Berufschancen bereits in den 20er Jahren ein breites öffentliches Ressentiment entgegen.206 Das studentische Verbindungswesen spielte weiterhin eine wichtige Rolle (1928/29 ca. 56% der Studenten). Bereits 1928, zwei Jahre nach der Gründung des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes, begann der Nationalsozialismus an den Hochschulen Fuß zu fassen.207

Das Dritte Reich (1933-1945) Die Nationalsozialisten übernahmen das bestehende Erziehungswesen und führten die Überlegungen und Entwürfe der Schulbehörden in ihrem Sinne fort. Als erstes wurde das »Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen« (25.4.1933) beschlossen, eine zu diesem Zeitpunkt unnötige, aber längst angelegte Aktion, die einen rassistischen, antijüdischen Akzent hatte.208 Schon vorher wurden einheitliche Ziele formuliert. Der »Entartung des weiblichen Wesens« wurde die »natürliche Bestimmung der Frau als Hausfrau und Mutter« entgegengesetzt, die Männer hingegen sollten zur »reinrassigen Kämpfernatur«, zum Soldaten, erzogen werden.209 Im Unterricht wurden durch Erlasse nach und nach Fächer und Inhalte umgestaltet (Körperertüchtigung, Vererbungs- und Rassenlehre usw.). Erst 1937 gab es neue Richtlinien für die Grundschulen, 1938 für die höheren Schulen und 1939 für die Volksschulen. Auf der Grundlage des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« wurden die Führungspositionen auch in den Unterrichtsbehörden mit Nationalsozialisten oder der Partei nahestehenden Männern 206 Vgl. Herrlitz u. a. 1981, 121; Zymek 1989, 176 f. Zu Hochschulen in der Weimarer und der NS-Zeit vgl. Titze 1989 (ausführl. Literatur). Henning (1987, 426) spricht von einer ingesamt rückläufigen Studentenzahl, die sich schon vor dem Ersten Weltkrieg ankündigte (1913 60 000; 1936 50 000 Studenten), unterschlägt aber die Auf- und Abbewegungen und den Bruch von 1933. 207 Ab den Studentenschaftswahlen 1928/29 verzeichneten sie zunehmend Erfolge und erreichten 1931 an 28 Hochschulen mit 51% die absolute Mehrheit. Zu Hochschullehrern vgl. Titze 1989, 216-220; Ringer 1987. 208 Zymek 1989, 190. Auf dieser Gesetzesgmndlage wurde für den Abiturientenjahrgang 1934 die Zugangsberechtigung zum Hochschulstudium auf eine Höchstzahl von 15 000 für das gesamte Reichsgebiet festgelegt, davon höchstens 10% Frauen - nur jeder zweite Abiturient und jede siebte Abiturientin erhielten einen Studienplatz; vgl. Herrlitz u. a. 1981, 129. Der jüdische Anteil bei Neuaufnahmen wurde auf 1,5% begrenzt, rigoroser Ausschluß verringerte ihre Zahl von 3950 im Sommersemester 1932 auf 538 im Wintersemester 1934/35; vgl. Zymek 1989, 227. 209 Zorn 1976, 921. Zum nationalsozialistischen Erziehungsdenken vgl. Tenorth 1989, 135-145; Lingelbach 1987; zur Schule vgl. Zymek 1989, 190-203 (bes. Bibliographie); Scholtz 1985. Vgl. auch die Auszüge der Rede des Reichsinnenministers bei Herrlitz u. a. 1981, 132.

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besetzt. Der Prozeß der Gleichschaltung und der Überprüfung der Beamten begann mit willkürlichen Entlassungen oder Reglementierungen von Lehrern, Hochschullehrern und Verwaltungsbeamten, deren Loyalität zum Staat auf Grund ihrer politischen Haltung oder jüdischen »Herkunft« verdächtig schien - eine Entlassungswelle setzte ein. 1937 wurde eine hochschulmäßige Ausbildungsform durchgesetzt. 1941 wurden die entsprechenden Hochschulen durch Lehrerbildungsanstalten des Seminartyps ersetzt, für den politischen Führungsnachwuchs entstanden besondere nationalsozialistische Ausleseschulen. Die Partei versuchte in allen Bereichen, mit eigenen Institutionen auf die Erziehung einzuwirken. Die Reichsjugendführung und die Hitlerjugend, aber auch die deutsche Arbeitsfront mit ihren Hitlerschulen dienten diesem Ziel.210 Die Bildungsfeindlichkeit der Nationalsozialisten beruhte auf ihren ideologischen Grundpositionen und einer falschen Einschätzung der tatsächlichen Bedarfslage, begünstigt durch den Altersaufbau der im Staatsdienst tätigen Hochschulabsolventen. So hielten die Jahrgänge aus den frühen 20er Jahren die Staatsstellen noch lange besetzt.211 Die Studentenverbindungen, die ein Gesetz von 1933 als Gliedkörperschaften der Universitäten anerkannte, wurden bis 1937 entweder dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund eingegliedert oder aufgelöst.212 1934/35 kamen die Studenten mit 14,0% aus der höheren und 27,9% aus der mittleren Beamtenschaft sowie mit 3,8% aus der Arbeiterschaft. Bei den katholischen Theologiestudenten kamen 13,7% aus der Arbeiterschaft. Die Lehramtsstudenten, die hier nicht mit einbezogen waren, setzten sich zu 50,3% aus Beamtenkindem (fast vier Zehntel von mittleren Beamten) zusammen.213 1938 wurde mit dem Reichspflichtschulgesetz die Berufsschulpflicht einheitlich geregelt und damit die seit der Verabschiedung der Weimarer Verfassung ausstehende generelle Regelung verwirklicht. Alle Jugendlichen, die keine weiterführende Schule besuchten, wurden zum Berufsschulbesuch verpflichtet. Am Schulaufbau wurde nur wenig verändert, das dreigliedrige Schulsystem weiter durchgesetzt. Insbesondere mit der Schaffung eines neuen Mittelbaus wurde das

210 Erziehungsanstalten seit 1933, Adolf-Hitler-Schulen seit 1936, Napola; vgl. Zorn 1976, 921; Herrlitz u. a. 1981, 135 f.; Boberach 1991. Neben der Partei machte später auch die SS ihren wachsenden Einfluß auf die »Nationalpolitischen Erziehungsanstalten«, den Nationalsozialistischen Lehrerbund, Rosenberg, Goebbels und ihre Ämter usw. geltend; vgl. Zymek 1989, 192 f. 211 Vgl. Henning 1987, 426. Bibliographie zu Studenten und Professoren bei Wehler 1993, 320-325; Z y m e k 1989, 238-240. 212 Nach den »Richtlinien zur Vereinheitlichung der Hochschulverwaltung« (1935) wurden Dozenten- und Studentenschaft als selbständige Gliedkörperschaften dem Rektor nach d e m Führerprinzip unterstellt; vgl. Zymek 1989, 228. Zur nationalsozialistischen Hochschul- und Forschungspolitik ebd., 228-238. 213 Vgl. Zorn 1976, 921; vgl. auch die Tabelle bei Herrlitz u. a. 1981, 137. Von 1933-1941 bestand in Bayreuth eine zentrale Hochschule für Lehrerbildung. Zu Lehrerausbildung, -Organisationen usw. vgl. Müller-Rolli 1989. Zur Berufsschulpflicht vgl. Pätzold 1989, 284.

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umfangreiche und bedeutende Privatschulwesen in Deutschland nun allmählich beseitigt - die Schulen wurden zumeist in staatliche umgewandelt. 214 Damit waren die Weichen für das Schulsystem der Nachkriegszeit gestellt: Das allgemeine deutsche Schulsystem bestand nun - bis auf eine begrenzte Zahl von Reformschulen - aus öffentlichen Schulen. An eine für alle Kinder obligatorische Grundschule schlössen drei, auf ihre Abschlußziele hin konzipierte weiterführende Bildungswege an: die Volksschuloberstufe (»Hauptschule«), Mittel- bzw. Realschule und die verschiedenen Typen des höheren Schulsystems. 215 Der Krieg hatte eine radikalere Fortsetzung des Bildungs- und Gesundheitswesens gebracht, 216 mit der Terrorisierung, Entrechtung und Verdrängung jüdischer Schulkinder und Lehrer. Anfang der 30er Jahre lebte in Deutschland ca. eine halbe Million Menschen jüdischen Glaubens (0,76% der Gesamtbevölkerung). Die Mehrzahl der Kinder ging auf nichtkonfessionelle Schulen. Das Gesetz gegen die Überfüllung der Schulen von 1933 suggerierte, daß gerade sie an diesem Mißstand schuld seien antisemitische Haßkampagnen bewirkten ein übriges. Noch vor Verabschiedung der »Nürnberger Gesetze« Ende 1935, die Deutschen »jüdischer Herkunft« ihre Bürgerrechte entzogen und sie rechtlich deklassierten, und lange vor den Auswirkungen des »Reichsbürgergesetzes« auf das Schulwesen (1937) wurde mit der »Rassentrennung« an den deutschen Schulen begonnen. Im Zusammenhang mit den Pogromen vom November 1938 wurde der Ausschluß aller jüdischen Kinder aus deutschen Schulen angeordnet. Im folgenden Jahr war die Errichtung jüdischer Volksschulen in privater Trägerschaft der »Reichsvereinigung der Juden Deutschlands« Pflicht. An Schulen, die nicht privat weitergeführt werden konnten, wurde der Unterricht eingestellt. Die Auswanderungswelle und schließlich die Deportationen der Juden seit 1940 beendeten diese Phase eines jüdischen Schulwesens in Deutschland, noch bevor der Erlaß mit Wirkung vom 30.6.1942 »jede Beschulung der jüdischen Kinder durch besoldete oder unbesoldete Lehrkräfte untersagte« und die Lehrer samt ihren Familien zum 217

nächstmöglichen Termin zu »evakuieren« waren. Die Wissenschaft in Deutschland erlitt durch das Lehrverbot zahlreicher Gelehrter, durch Auswanderung und Vernichtung schwere Einbußen. 1933/34 wurden ca. 15% der Hochschullehrer aus dem Amt entlassen, in Berlin ca. ein Drittel. Bis 11 1938 8 schied etwa ein Drittel aller deutschen Hochschullehrer zwangsweise aus. Die

214 Seit 1938 wurde der Ausbau des Mittelschulwesens mit den »Bestimmungen zur Neuordnung des mittleren Schulwesens« forciert. Zukünftig sollte es nur noch zwei Grundformen als Zugang zu den gehobenen mittleren Beamtenlaufbahnen geben, was die nachfolgenden Laufbahnverordnungen bestätigten; vgl. Zymek 1989, 197 f. 215 Höhere und mittlere Schulen konnten auch als Aufbauschulen eingerichtet werden; vgl. Zymek 1989, 198. 216 Auch der Schulalltag änderte sich durch kürzere Ausbildungszeiten, Sonderreifeprüfungen, Sozialeinsatz und Kriegseinsätze. 217 Zymek 1989, 199 f. Mit Beginn des Schuljahrs 1942/43 wurde auch Schülern mit Eltern oder Großeltern jüdischen Glaubens der Besuch weiterführender Schulen verboten und eine Rückversetzung in die Volksschule angeordnet.

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internationale Isolierung bewirkte ein weiteres. Fächer wie Soziologie wurden verdrängt, andere wie Rassenhygiene, aber auch noch heute bestehende wie die Indogermanistik, wurden neu geschaffen. Die »Austilgung« von moderner Kunst (»entarteter Kunst«), das Verbot von »Negermusik« und mißliebiger Literatur (Bücherverbrennungen) bedeuteten eine Verarmung der Kultur.

Erziehung und Gesundheit Die medizinische Versorgung der Bevölkerung hatte sich bereits im Kaiserreich quantitativ wie qualitativ verbessert. Die Zahl der Krankenhäuser und des dort arbeitenden Pflegepersonals stieg wie auch die der Ärzte (und Medizinstudenten). Zwischen 1877 und 1904 verdoppelte sich die Zahl der Krankenanstalten, bei den privat finanzierten stieg sie sogar um das Vierfache. Größe und Ausstattung waren jedoch sehr unterschiedlich.219 Es bestanden erhebliche regionale Differenzen; so gab es in Preußen in einigen westlichen Gebieten eine dichte, in östlichen Regierungsbezirken eine eher spärliche Versorgung. Zwischen Stadt und Land zeichnete sich ein stärkeres Gefälle ab als zwischen westlichen und östlichen Landesteilen. In den Städten (besonders Berlin) waren für einen Kranken weit mehr Ärzte verfügbar als auf dem Land. Allerdings waren auch die preußischen Industrieregionen schlechter betreut, da die Versorgung mit dem enormen Bevölkerungszuwachs nicht mithalten konnte. Obwohl immer mehr Konzessionen erteilt wurden, war die Anzahl der Apotheken nicht ausreichend; zudem gab es regionale Unterschiede in der Verteilungsdichte und Ausstattung. Der Staat, der mit seiner Sozialgesetzgebung einen ersten Schritt hin zum Wohlfahrtsstaat gemacht hatte, kümmerte sich, neben Gemeinden, Kirchen und Vereinen (Deutscher Verein für öffentliche Gesundheitspflege), in zunehmend stärkerem Maß um die öffentliche Gesundheitsfürsorge.220 Als Aufgabe wurde nicht allein die Behandlung akuter Krankheiten gesehen, sondern vor allem anderen die Vorsorge. Um den verheerenden Seuchen entgegenzuwirken, wurden nach der Pockenepidemie von 1871 Schutzimpfungen zunächst propagiert und 1874 mit dem Reichsimpfgesetz als

218 Zymek 1989, 225 f. und Möller 1984. Nach dem »Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945« (Röder/Strauss 1980-83) sind über 4500 Wissenschaftler und Künstler aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei vertrieben worden, unter ihnen 20 Nobelpreisträger. 219 Vgl. Matzerath 1985, 341; Schadewaldt 1976. Die Zahl der Ärzte in Preußen erhöhte sich von 7420 im Jahr 1867 auf 20 394 im Jahr 1913; vgl. Matzerath 1985, 342. In Deutschland hatte sich ihre Zahl zwischen 1876 und 1913 mehr als verdoppelt (von 14 000 auf über 34 000) und war damit deutlich überproportional zur Zahl der Bevölkerung gestiegen; vgl. Nipperdey 1993, 151 f. Zur Entwicklung des Berufsstands vgl. Huerkamp 1985. Zu den regionalen Unterschieden vgl. Petzinau. a. 1978, 153 f.; Hohorstu. a. 1978, 150 ff. und Blohmke 1983. 220 Im organisatorischen Bereich kam zu den Medizinalabteilungen ein Gesundheitsamt; Kreisärzte (Preußen 1899) und Gesundheitskommissare wurden eingesetzt; vgl. Matzerath 1985, 341; Göckenjan 1985, 327 ff. Das zivile Rote Kreuz entstand infolge des Kriegs von 1870/71.

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III.

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Pflicht eingeführt. Nach dem Krieg war eine Pockenepidemie ausgebrochen, an der in Preußen 125 000 Menschen starben. Eingeschleppt worden war sie von französischen Truppen, die im Gegensatz zu den deutschen nicht geimpft waren. 1877 starben nur noch 88 Menschen an dieser Krankheit. Die letzte große Choleraepidemie wütete noch 1892 in Hamburg.221 Um die noch immer weit verbreitete Tuberkulose zu bekämpfen, wurden Lungenheilanstalten errichtet und Reihenuntersuchungen in den Schulen, verstärkt nach 1900, eingeführt. In den 1920er Jahren stellte man erstmals Schulärzte ein. Gerade die Armen litten unter den Infektionskrankheiten, die allzu oft den Tod bedeuteten.222 Die Gesundheitsfürsorge konnte nur greifen, wenn auch und vor allem in den Industriestädten Wohnverhältnisse und Arbeitsbedingungen verbessert wurden.223 Darüber hinaus waren beispielsweise eine verbesserte Infrastruktur, Trinkwasserversorgung und Kanalisation (Cholera), die Reinigung der Städte, Desinfektionsanstalten, Badeanstalten und Lebensmittelüberwachung (Schlachthöfe) von großer Bedeutung.224 Die Zielgruppe für gesundheitspolitische Maßnahmen erweiterte sich, werdende Mütter, Säuglinge, Schulkinder und Lungenkranke wurden verstärkt mit einbezogen. Allmählich sollte mehr Wissen vermittelt und das Gesundheitsbewußtsein gefördert werden. Die Bevölkerung, besonders die Frauen, sollten über Ernährung und Krankheitsursachen, Körperpflege und allgemeine Hygiene aufgeklärt werden. Dieses geschah wenigstens in Grundzügen bereits in den Schulen (Körperhygiene, Turnen). So nahmen bis zur Jahrhundertwende Infektions- und Kinderkrankheiten ab. Die Säuglingssterblichkeit ging, wie oben ausgeführt, erst nach der Jahrhundertwende zurück. Ursache dafür waren bessere Ernährung, verbesserte Diagnose (1895 Röntgenstrahlen) und Therapie, Erkenntnisse der Bakteriologie und Medikalisierung (z. B. Antipyrin 1884, Aspirin 1893). 1882/84 wurden der Tuberkulose- und der Cholera-Erreger entdeckt (Robert Koch), 1890 das Diphtherie-Serum (Emil Behring). Mit der Entdeckung von Salvarsan leitete Paul Ehrlich 1909 die Entwicklung der Chemotherapie ein.225 Zunehmend mehr Menschen aus allen sozialen Schichten kamen zur Behandlung in die Krankenhäuser, was durch die bereits erwähnte gesetzliche Krankenversicherung ermöglicht wurde. Von 1877 bis 1911 stieg die Zahl der stationär behandelten Patienten auf fast das Vierfache, allerdings ist dabei ein West-Ost-Gefälle zu beobachten.226 Die Lebenserwartung stieg in allen Altersphasen.

221 Vgl. Evans 1991, 290-293; Paulus 1971, 6 f. 222 Zu Schulärzten vgl. Apel 1984, 496 f. Zu Todesursachen vgl. Spree 1992 und den Beitrag von Scholz in diesem Band. 223 Zu den Wohn- und Lebensverhältnissen, vor allem in den Großstädten, vgl. Asmus 1982; Tilly/Wellenreuther 1985. 224 Vgl. Teuteberg/Wischermann 1985, 220 ff.; Teuteberg 1985; Imhof 1981, bes. 80, 153; Huerkamp/Spree 1982; Castell 1990. 225 Dazu allg. Spree 1981; er hält allerdings die Massenwirksamkeit während des letzten Drittels des Jahrhunderts für häufig überschätzt.

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Geschlechtskrankheiten blieben jedoch weiterhin ein Problem, vor allem in den Großstädten. Ihre Bekämpfung führte, wenn auch langsam, zu einer etwas offeneren Erörterung sexueller Fragen, allerdings in sittlich-moralischem Kontext. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden daher empfängnisverhütende Mittel als Prävention gegen Geschlechtskrankheiten und Abtreibung geduldet. Zugleich sah man darin eine Maßnahme gegen das wirtschaftliche Elend. In Verbindung damit weitete sich das Netz kommunaler Beratungs- und Fürsorgestellen in den 20er Jahren weiter aus. Durch Erziehung und Fürsorge versuchten sie die Gesundheit des einzelnen und damit die Volksgesundheit zu heben. 227 Durch die mangelnde Versorgung, Verwahrlosung und die Wohnungsnot der Bevölkerung nach dem Ersten Weltkrieg (Rückwanderung, Umsiedlungen, heimkehrende Soldaten) hatten sich - neben den sogenannten Schmutzkrankheiten (z. B. Krätze durch Läuse) - epidemische Infektionskrankheiten (Ruhr, Grippe, Fleckfieber, Diphtherie) erneut ausgebreitet. Um den gesundheitlichen Problemen bei Kindern zu begegnen und um ihre Widerstandskräfte zu stärken, begannen ab 1920 viele Städte mit Schulspeisungen. 228 1924 wurde ein Reichsgesetz zur Jugendfürsorge erlassen und 22Q

die Arbeiterwohlfahrt gegründet. Zur Hebung der Volksgesundheit setzte man auch weiterhin bei der Gesundheitserziehung in den Schulen an. Kinder sollten bereits früh z. B. über die Folgen des Alkoholmißbrauchs aufgeklärt, Mädchen auch in der Säuglingspflege ausgebildet werden. Mit Aktionen wie der Reichsgesundheitswoche (1926) sollte eine breitere Öffentlichkeit in die Gesundheitserziehung mit einbezogen werden.230 Hygiene sowie Gesundheitserziehung und -pflege wurden von den Nationalsozialisten mit ihrer Schul- und Jugendpolitik vereinnahmt.231 Sie schlössen 1933 die Sexualberatungsstellen, verfolgten deren Leiter und beschlagnahmten Patientenkarteien. Stattdessen wurden Beratungsstellen für Erb- und Rassenpflege eingerichtet. Der § 218 wurde von den Nationalsozialisten im Sinne einer »völkisch-rassistischen« 232

Bevölkerungspolitik umfunktioniert. Ein schwerwiegender Einschnitt war die Umwertung der Gesundheitserziehung zu einer Erziehung im Dienst von »Rassenhygiene und Wehrhaftigkeit«. Unter Mithilfe von Sport und Geländeübungen sollten »kerngesunde« Menschen heranwachsen. Mit 226 Vgl. Matzerath 1985, 344; Frevert 1984. Bei Tuberkuloseerkrankung trat die Invalidenversicherung ein. 227 Vgl. Usbone 1991, 270 ff. Ein Gesetz von 1927 ermöglichte das Aufstellen von Schutzmittelautomaten in Herrentoiletten. 228 Sie wurden maßgeblich von der amerikanischen Quäkerbewegung getragen und bis 1924 mit Erfolg durchgeführt; vgl. Apel 1984, 487. Zur Gesundheitsfürsorge vgl. auch Stürzbecher 1977. 229 Vgl. Hagemann 1990,602 ff. 230 Vgl. Apel 1984, 492 und 498 ff. 231 Vgl. allg. Stachura 1983; Kater 1987; zur Rassenhygiene bes. Schmuhl 1987. 232 Vgl. von Soden 1993, 305 und 1991, 287 f.

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zunehmendem Körperbewußtsein sollte das Gefühl rassischer Besonderheit entwickelt werden. Nicht die Gesundheit des einzelnen zählte, sondern der im Sinne der Ideologie für das Volk »einsatzfähige« Mensch. Nach Einführung der Wehrpflicht 1935 wurde verstärkt Wehrtüchtigkeit gefordert. 233 Auch die Konzepte der Reformbewegung legten die Nationalsozialisten in ihrem Sinne aus. Schullandheime, das »Landjahr« und Jugendlager mit der Möglichkeit einer Ausbildung zum Feldscher oder »Gesundheitsmädel« wurden eingeführt. 234 Hinzu kamen die an anderer Stelle aufgezeigten gesundheits- und sozialpolitischen Maßnahmen - Gesundheitshygiene und Wehrhaftigkeit wurden nationales Gebot. 235

Wirtschaft und Gesellschaft im Wandel Das Kaiserreich (1871-1918) Der Prozeß der Industrialisierung setzte in Deutschland relativ spät und mit regional unterschiedlicher Dynamik ein, je nach Entwicklung der gewachsenen gewerblichen Strukturen. 236 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts begann - unterbrochen von konjunkturellen Schwankungen - ein Aufschwung, der in den Jahren vor Beginn des Ersten 237

Weltkriegs seinen Höhepunkt erreichte. Die voranschreitende industrielle Entwicklung prägte die Wirtschaft, die Gewichte verschoben sich zunehmend vom agrarischen (primären) Sektor hin zu Industrie und Handel (sekundärem Sektor), schließlich auch zum Dienstleistungs- (tertiären) Sektor und veränderten in rasanter Weise die gesellschaftlichen und sozialen Strukturen. Agrarreform und Gewerbefreiheit, Alphabetisierung und Bevölkerungswachstum, Erforschung industrieller Grundlagen (Dünger, mechanischer Webstuhl) und die Entwicklung eines einheitlichen deutschen Wirtschaftsraums (Deutscher Zollverein) hatten bis Mitte des 19. Jahrhunderts die Voraussetzungen für eine »industrielle Revolution« geschaffen (Kellenbenz 1981). Die Eisenbahn hatte eine Schlüsselrolle bei der 233 Am 1.12.1936 wurde ein Gesetz erlassen, das die außerschulische und aushäusige Erziehung als Aufgabe der Hitlerjugend festlegte (Stachura 1983, 232 ff.), erweitert u. a. durch »Richtlinien für die Zusammenarbeit in der Förderung der Wehrhaftigkeit unserer Jugend« (1937) und Richtlinien zum Lehrplan, u. a. über die Bedeutung von »Anlage, Auslese, Gegenanlage und Ausmerze« (1939); vgl. Apel 1984, 515, 529; Peukert 1982. 234 Mit Kriegsbeginn wurde dieses forciert, ca. 10% der Jungen eines Jahrgangs wurden zum Feldscher ausgebildet. Den weitreichendsten Eingriff in die Sozialisationsprozesse von Millionen deutscher Kinder stellte die erweiterte Kinderlandverschickung aus bombenbedrohten Gebieten dar. Die Kinder wurden von den Familien getrennt und in Lagerschulen verschickt; vgl. Zymek 1989, 203; Apel 1984, 534 f. 235 Vgl. Apel 1984, 515 ff.; Lampert 1983, 192 ff.; Strauss/Kampe 1985. 236 Zur Periodisierung und ihrer kontroversen Diskussion vgl. Henning 1978, 15 ff. Er setzt die erste Phase der Industrialisierung zwischen 1835 und 1873 an; vgl. Borchardt 1976, 198-275, hier 231. 237 Zu Wachstum und Konjunkturzyklen vgl. Borchardt 1976; Abelshauser/Petzina 1981; Jaeger 1988, 95 ff.; Fischer 1985, 391 f.; Hohorst u. a. 1978.

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Expansion der Güterproduktion, mit einer Multiplikatorwirkung auf Schwerindustrie und Maschinenbau sowie den Bedarf an Kohle, Stahl und Eisen (Wagen, Schienen, Geräte). Mit ihrem Ausbau stieg auch die Zahl der Beschäftigten im Eisenbahnwesen. Als billiges Massentransportmittel brachte sie die Arbeiter an die Industriestandorte, erschloß großräumige Märkte und war von Bedeutung für die Bildung neuen Investitionskapitals. Ebenfalls wichtig war der permanente Ausbau des Straßennetzes, das die Bahnstationen mit dem innerstädtischen Bereich verband. 239 Erheblichen Anteil an der Entwicklung hatte auch der Ausbau der Binnen- und Seeschiffahrt sowie Neuerungen in der Nachrichtentechnik (Telefon, Telegraphie). »Die industrielle Revolution bedeutet eine Sprengung aller bisherigen Vorstellungen von wirtschaftlichem Wachstum«. 240 Zeigte das reale jährliche Nettosozialprodukt vor 1850 einen Anstieg von 0,14% je Einwohner, nahm das Nettoinlandssozialprodukt von 1850 bis 1913 bei einer jährlichen Wachstumsrate von 2,6% um mehr als das Fünffache zu.241 Besonders vier Faktoren stehen für dieses Wachstum: die Zunahme von Arbeit und Kapital, erhöhte Arbeitsproduktivität und vor allem der technische Fortschritt (Innovationen, effektivere Organisation, bessere Ausbildung). Mit dem Durchbruch (»Take-off«) der Industrialisierung in den 1850er Jahren begann, unterbrochen von Krisen 1855 und 1857, eine konjunkturelle Hochphase, die sich regional sehr unterschiedlich auswirkte.242 Der beispiellose Gründerboom, der seit 1870 die Wirtschaft kennzeichnete, wurde durch die politische Entwicklung angeregt. Die Aufrüstung zum Krieg gegen Frankreich, die Reparationszahlungen von mehr als 5 Milliarden Goldfranken als »Anschubfinanzierung«, die Frankreich innerhalb von drei Jahren bezahlte und die nationale Einigung in der Reichsgründung schufen ein innovatives Klima.243 Die Jahre 1871-1873 brachten infolge der Investitionen in Industrie, Verkehrswesen und nicht-agrarischen Wohnungsbau ein nie zu-

238 1835 fuhr die erste Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth. Das Streckennetz erweiterte sich von 549 km (1840), 19 575 km (1870), 51 391 km (1900) auf 57 652 km (1922). Bis weit in die 1870er Jahre wurden die Eisenbahnen privat oder auch staatlich finanziert. Erst ab 1877 gab es einen deutlichen Rückgang der Privatbahnen; vgl. Henning 1989, 241 f.; Fremdling 1981. 239 Vgl. Henning 1989, 165-168. Die erste elektrisch betriebene Straßenbahn wurde 1881 von Siemens in Lichterfelde (Berlin) in Betrieb genommen. Ergänzt wurde sie bald durch S- und U-Bahnen. 240 Vgl. Pohl 1984, 22. 241 Die Wachstumsrate lag zwischen 1872 und 1913 bei 2,8%; vgl. Pohl 1984, 22. Nach Henning 1978, 26: Zunahme des realen Nettosozialprodukts pro Kopf der Bevölkerung auf das Dreifache, starkes wirtschaftliches Wachstum mit erkennbar steigender jährlicher Rate ab 1840/50. Im langfristigen Durchschnitt wurde zwischen 1840 und 1914 keine höhere Rate als 1,4% gegenüber dem jeweiligen Vorjahr erzielt, was man heute als Stagnation bezeichnen würde. Innerhalb von 100 Jahren hatten sich die Werte für den gesamten Kapitalstock und das gesamte Nettosozialprodukt verzehnfacht, d. h. der technische Fortschritt hatte bei etwa gleichbleibender Beschäftigungsquote (41-47% der Bevölkerung) zu einer Verdreifachung der Arbeitsproduktivität geführt. Fischer 1985, 391: Nominal war das Nettosozialprodukt zu laufenden Preisen zwischen 1850 und 1913 auf das 8,6fache gestiegen, während es real nur auf das 5,lfache anstieg. 242 Vgl. dazu den Exkurs »Herrenberg« in diesem Band. 243 Wichtiger Faktor für die deutsche Wirtschaftsentwicklung war auch die Annexion Elsaß-Lothringens mit seinen Ressourcen.

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vor gekanntes Wachstum des Sozialprodukts - trotz relativ zurückbleibender landwirtschaftlicher Produktion. Die Investitionen stiegen bis 1874 um das Vierfache.244 Als Folge dieser ungezügelten wirtschaftlichen Expansion kam es Ende 1873 zur sogenannten Gründerkrise mit unzähligen Unternehmenszusammenbrüchen und einer daraus resultierenden Massenarbeitslosigkeit. Es folgte eine Phase der Rezession bzw. Stagnation, die 1879 ihren Tiefpunkt erreichte; dann stieg die Produktion mit kurzen Stockungen langfristig wieder an.245 Konjunkturstörungen bis zum Ersten Weltkrieg lagen begründet im Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion, den Folgen der Überkapazitäten mit sinkenden Preisen, Unternehmenszusammenbrüchen, steigender Arbeitslosigkeit und Lohnsenkungen.246 Bereits 1879 war, im Windschatten des Sozialistengesetzes und ausgelöst durch Einfuhren russischen und amerikanischen Getreides, von Bismarck in Koalition mit Schwerindustrie und Großgrundbesitz das Ende der Freihandelspolitik und der Übergang zur Schutzzollpolitik eingeleitet worden.247 Von 1895 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs war auf nationaler wie internationaler Ebene eine Hochkonjunktur zu verzeichnen.248 Trotz der aufgezeigten konjunkturellen Schwankungen zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg erlebte die gewerbliche Wirtschaft ein lang anhaltendes Wachstum.249 Die einzelnen Gewerbe erfuhren einen unterschiedlichen Industrialisierungsgrad und ein uneinheitliches Wachstum, was von der Zahl der Beschäftigten wie der Entwicklung der Arbeitsproduktivität abhing. Überdurchschnittlich florierten das Metall- und Baugewerbe (Urbanisierung besonders in den 70er und 80er Jahren), der Bergbau sowie die Bereiche Chemie, Steine, Erden und Feinmechanik, Optik, Elektro. Die Bereiche Holz, Druck, Papier und Nahrungsmittelgewerbe verzeichneten in Verbindung mit dem primären Sektor ein mittleres Wachstum, während in der Sparte Textil, Bekleidung und Leder das Wachstum zwar nicht abnahm, aber zurückblieb. Hauptkennzeichen der Epoche waren die rapiden Steigerungen von Bruttosozialprodukt, Nominal- und Realeinkommen sowie Wachstumsraten in den wichtigsten

244 Eindrucksvoll war die Wachstumsrate beim Eisenbahnbau (1869-1872 um das 2,5fache) und beim Wohnungsbau (1871-1875 um das 7fache); vgl. Pohl 1984, 23; Fischer 1985, 395. Die steigenden Realeinkommen sorgten für zunehmenden privaten Konsum; vgl. Borchardt 1977, 167 f.; ders. 1976, 263 f. 245 Die Bezeichnung »Große Depression« (Rosenberg 1967) ist allerdings umstritten (vgl. Born 1985, 107 ff.). Auch bei den Wachstumszyklen werden unterschiedliche Theorien zugrunde gelegt. Zur Gründerkrise vgl. Henning 1989, 205-215, hier 212. Das nominale Sozialprodukt lag noch immer zwei Fünftel über dem von 1869, so daß man bei der geringeren Zunahme des realen Volkseinkommens für die beiden Jahrzehnte insgesamt nicht von einer Stagnation sprechen kann. 246 Vgl. Borchardt 1976, 265; ders. 1977, 167 f.; Pohl 1984, 23; Kellenbenz 1981. 247 Grebing 1985, 71. Deutschland mußte zum eigenen Weichweizen stets Hartweizen aus Rußland oder Amerika einführen. Als man beim amerikanischen Weizen eine stufenweise Ausmahlung und damit eine bessere Mehlqualität erreichte, wurde er um 1880 zu einer bedrohlichen Konkurrenz; vgl. Born 1985, 30 f. 248 In Deutschland mit Einbrüchen in den Jahren 1902/04 und 1907/08. Diese Phase wird zum Teil als das goldene Zeitalter der Weltwirtschaft bezeichnet, dem auf politischer Ebene der Imperialismus entsprach. 249 Allerdings verringerten sich die Realeinkommen erheblich durch die hohen Baukosten, die von den Haushalten getragen werden mußten. Zum folgenden vgl. Henning 1989, 219-223.

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Industriesparten. Hinzu kamen Steigerungen der Nettoinvestitionen auf mindestens 10% des Nettosozialprodukts. 250 Deutlich wird der enorme Aufschwung im internationalen Vergleich. Deutschland holte den Vorsprung der früher industrialisierten westeuropäischen Staaten auf und lag z. B. beim Pro-Kopf-Einkommen und beim Nettoinlandsprodukt in seinen Wachstumsraten vor England und Frankreich, überholt nur von Amerika. Die Industrieproduktion wuchs von 1870 bis 1913 um das Fünffache, die Ausfuhr vervierfachte, die Einfuhr verdreifachte sich. Importiert wurden vornehmlich Nahrungsmittel und Rohstoffe, exportiert Halbfertig- und Fertigprodukte. Durch den Ausbau der Schwerindustrie entwickelte sich Deutschland neben Amerika zum zweitgrößten Produzenten von Roheisen und Eisenwaren. Es wurde führend in der Elektro- und in der chemischen Industrie.251 Nach 1900 kann man von Deutschland als einem Industriestaat sprechen.252

Entwicklung der Wirtschaftsfaktoren im Vergleich Die Industrialisierung brachte eine Verschiebung der Anteile der drei Sektoren am wirtschaftlichen Wachstum. Am deutlichsten zeigte sich die veränderte Wirtschaftsstruktur in der Zahl der Beschäftigten, besonders auffällig in der Verschiebung von Landwirtschaft zu Industrie (Manufaktur), Handwerk und Bergbau. Die Beschäftigtenzahlen verdreifachten sich im Zeitraum von 1849/50 bis 1913, während sich die Wertschöpfung verzehnfachte. Bei der Produktionsgüter erzeugenden Industrie, die sich gegenüber der Konsumgüterindustrie von 1870 bis 1913 verdoppelte, prosperierte besonders der Bergbau. Seine Beschäftigtenzahlen stiegen auf das Neunfache, die Wertschöpfung auf das Dreißigfache. 254 Zuwachsraten waren auch im tertiären Sektor zu verzeichnen. Im Dienstleistungsbereich (Handel, Banken, Versicherungen, öffentliche Dienste) stieg die Zahl der Beschäftigten auf das Fünffache, die Wertschöpfung auf das Sechseinhalbfache, während der Bereich »häusliche Dienste« (Hauspersonal) stagnierte. Eine rasante Entwicklung erlebte auch das Verkehrswesen. Die Zahl der Beschäftigten verachtfachte sich bei einer sechzigfachen Wertschöpfung (18501913). Diese Verschiebungen gingen auf Kosten des primären Sektors. Zwar nahmen die absoluten Beschäftigtenzahlen auch in Land- und Forstwirtschaft, Gartenbau und Fischerei bis 1914 von 7 Millionen auf 11 Millionen zu, doch blieb das Wachstum mit

250 Vgl. Pohl 1984, 23; Borchardt 1977, 267 ff. 251 Vgl. Pohl 1984, 23; Hohorst u. a. 1978, 64, 85 f. und 88; Borchardt 1976, 206. 252 Die Veränderungen in Bevölkerungsbewegung, Urbanisierung usw. wurden bereits weiter oben aufgezeigt. 253 Vgl. Fischer 1985, 394. Zur Entwicklung des Nettosozialprodukts = Volkseinkommen = Summe der Wertschöpfung vgl. Tabelle bei Henning 1978, 25. 254 Vgl. dazu und zum folgenden Pohl 1984, 42; allg. auch Borchardt 1977, 172 f., 184; ders. 1976, 212, 231; Henning 1978, 18 ff.

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einem Anstieg von 30% und einer Wertschöpfung um das 2,5fache nur unterdurchschnittlich.255 Die Veränderungen der Produktionsstruktur zeigten sich auch innerhalb der Sektoren, wovon der sekundäre Sektor stärker betroffen war als die beiden anderen. Durch die Einführung technischer Innovationen bei gleichzeitiger Verstärkung der Investitionen entstanden aus Handwerk, Verlag und Manufaktur Produktionsformen der Industrie mit ebenfalls zentralisierten Funktionen. Mit der Metallerzeugung und -Verarbeitung waren neue Produktionszweige entstanden.256 Handwerk und Verlag wurden jedoch nur dort verdrängt, wo industrielle Massenproduktion günstiger und überhaupt möglich war. Neben der Produktionsstruktur wandelte sich auch die Struktur des deutschen Wirtschaftsraums, was durch eine Reihe von Faktoren bestimmt wurde. Regionen mit gewerblichen Traditionen wie das Königreich Sachsen entwickelten eine gewisse Vorreiterrolle. Zunehmende Bedeutung bekamen in der Hauptphase der Industrialisierung Gebiete, die Rohstoffvorkommen und eine günstige Verkehrslage aufwiesen. Gegenden mit Kohlevorkommen entwickelten sich zu Zentren der Schwerindustrie, an vorderster Stelle das Ruhrgebiet. Auf Grund seiner schlechten Verkehrsanbindung geriet die oberschlesische Bergbauregion schließlich ins Hintertreffen. Mittelpunkte der sich wandelnden Produktionsstruktur wurden die entstehenden städtischen Ballungsräume wie das Ruhrgebiet, das sich zu einer regelrechten Stadtlandschaft ausbildete und allen voran die »Agglomeration Berlin« (vgl. Kapitel »Bevölkerungsentwicklung«), Im Grad der Industrialisierung und ihrer Fortschrittlichkeit läßt sich ein deutliches West-Ost-Gefälle im Deutschen Reich ablesen. An der Spitze lagen Berlin-Brandenburg und das Königreich Sachsen, gefolgt vom Rheinland und von Westfalen. Dagegen blieben Schlesien, der Regierungsbezirk Posen, Ost- und Westpreußen sowie Pommern hinter der Entwicklung zurück.257 Erkennbar werden Strukturen wie diese auch im massiven Lohngefälle von West nach Ost, in der Bevölkerungsentwicklung und in der Konzentration des Bevölkerungszuwachses auf die industriellen Stand„ .

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orte. Beständiger Zuzug und Bevölkerungswachstum erhöhten die Dichte und bedingten eine zunehmende Urbanisierung (1780 38 Einwohner pro qkm, 1914 125 Ein-

255 In Deutschland gab es bis 1914 eine stete Zunahme der in der Landwirtschaft Tätigen, doch ist die Zunahme geringer als in anderen Bereichen; vgl. Henning 1978, 22, Abb. 4; Pohl 1984, 26. 256 Dabei war die Entwicklung eines Kapitalstocks von Bedeutung; vgl. Henning 1978, 23 f. 257 In Ostdeutschland und Bayern dominierte bis auf wenige Ausnahmen (Oberschlesien, Stettin, Augsburg, Nürnberg) die Landwirtschaft ebenso wie in den nördlichen Teilen der Provinz Sachsen; vgl. Kellenbenz 1981; Hesselmann 1985; Bergmann u. a. 1989; Schumann 1992. 258 Über die schlechten Wohn- und Lebensverhältnisse, die allmähliche Veränderung der Ausbildungsstruktur und der medizinischen wie hygienischen Versorgung wurde bereits an anderer Stelle berichtet.

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wohner pro qkm). Begünstigt wurde der Bevölkerungszuwachs in den Produktionszentren durch den Großbetrieb als Produktionsform und durch den Ausbau des Verkehrs-, besonders des Eisenbahnnetzes, das die Versorgung von Industrie und Menschen aus weiter Entfernung erst ermöglichte. Städte mit mehr als 30 000 Einwohnern bestimmten das Bild in den 1870/80er Jahren.259

Landwirtschaft (primärer Sektor) Die landwirtschaftliche Nutzfläche erreichte 1878 ihre höchste und annähernd gleichbleibende Ausdehnung, ihre Produktivität steigerte sich allerdings zwischen 1873 und 1913 um etwa 90%. 260 Eine Vielzahl von Faktoren machte diese Produktionssteigerung möglich: der verstärkte Einsatz von neuen Düngemitteln, die seit 1896 auch industriell hergestellt wurden, die Fortschritte in der Tier- und Pflanzenzucht, die Einfuhr von in höherem Maß benötigten Futtermitteln und der Einsatz von Maschinen in den Betrieben. 261 Der technische Fortschritt ermöglichte darüber hinaus den Ausbau der verarbeitenden Industrien, die zunehmend an Bedeutung gewannen (Zuckerherstellung, Müllerei, Ziegelei). Die überkommenen Systeme der Bodennutzung hatten sich gewandelt, die Dreifelderwirtschaft wurde intensiviert bzw. ergänzt oder durch die Fruchtwechselwirtschaft ersetzt.262 Durch Marktlage, Preisentwicklung und sich wandelndes Konsumverhalten hatte sich das Schwergewicht der landwirtschaftlichen Produktion verlagert. Blieb der Verbrauch bei den Grundnahrungsmitteln etwa gleich (Getreide, Kartoffeln), so verschob er sich gleichzeitig von pflanzlichem zu tierischem Eiweiß, zudem stieg z. B. der Verbrauch von Zucker rapide an.263 Mit höherwertigen Lebensmitteln wie Fleisch und Milchprodukten wandelten sich auch die Ernährungsgewohnheiten. Der Alkoholkonsum stieg (anwachsende Zahl von Branntweinbrennereien), was sich ebenso gesundheitschädlich auswirkte wie der Verzehr von Zuckerprodukten (Karies). Durch die Intensivierung des Handelsgewächsbaus wurden bei Zucker und Roggen schließlich Ausfuhrüberschüsse erzielt, bis 1879 auch beim Wei-

259 Der Bauboom der Gründerzeit fand hier sein auslösendes Moment. Mietskasernen mit Hinterhofgebäuden wurden in allen größeren Städten Europas errichtet; vgl. Henning 1978, 32; Reulecke/Weber 1978; Teuteberg 1983. 260 Die Produktionssteigerungen waren beim Getreide 56%, bei Kartoffeln, Rüben und Flachs ca. 65% und bei tierischen Erzeugnissen 140%. Der Rinder- und Schweinebestand nahm zu, der Schafbestand ab; vgl. Pohl 1984, 26. 261 Propagiert wurde der technische Fortschritt besonders durch die 1885 gegründete Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft. Spürbar wurde die Mechanisierung der Landwirtschaft aber erst mit dem Einsatz der Dampfmaschine um die Jahrhundertwende; vgl. Henning 1978, 233; Henning 1989, 235 f.; ausführl. Klein 1973, 135 ff., 142 ff. 262 Vgl. Kellenbenz 1981, 251; Rolfes 1976, 512 ff.; Hohorstu. a. 1978, 74. 263 Pro Kopf/Jahr stieg der Verbrauch von 5,5 kg (1871/72) auf 19,2 kg (1913/14).

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zen. Zu den Importgütern zählten Hartweizen, Gerste und Wolle. Vor dem Ersten Weltkrieg konnte die deutsche Landwirtschaft nur 70-80% des Nahrungsbedarfs der Bevölkerung sicherstellen. Die langsamere Steigerung der Produktivität und die damit niedrigeren Gewinne zeigten seit den 1880er Jahren in der Landwirtschaft eine andere Preisentwicklung als in der Industrie. Die Schutzzollpolitik wirkte sich langfristig auf die wichtigsten agrarischen Produktionszweige positiv aus.264 Zu den insgesamt fallenden Erzeugerpreisen kamen jedoch die anwachsenden Betriebskosten für Dünger, Viehfutter, Maschinen und die steigenden Löhne. Letztere Kosten versuchte man seit 1873 durch die Bildung von Genossenschaften zu senken.265 Mochten diese für den Betrieb auch einen hohen Kostenfaktor darstellen, lagen sie doch um einiges unter den in anderen Sparten gezahlten Löhnen und zogen eine Abwanderung nach sich. So ist es auch nicht verwunderlich, daß der Anteil der Frauen in der Landwirtschaft zunahm, der 1907 beinahe die Hälfte aller in der Landwirtschaft Beschäftigten ausmachte. Allerdings relativiert sich der extreme Anstieg der in der Landwirtschaft tätigen Frauen, da in der statistischen Erfassung von 1907 der Begriff »Erwerbstätige« neu definiert wurde und nun alle bislang vernachlässigten mitarbeitenden Familienmitglieder einschloß. Dieses wurde in der Forschung nicht immer berücksichtigt.266 Trotz zunächst anwachsender Beschäftigtenzahlen und Produktionssteigerung erfuhr die Landwirtschaft langfristig gesehen eine rückläufige Entwicklung im Wirtschaftsprozeß des 19. und 20. Jahrhunderts.

Bergbau, Industrie, Handwerk (sekundärer Sektor) Wichtigster Sektor bis 1914 war seit der Jahrhundertmitte der sekundäre Sektor mit Bergbau, Industrie und Handwerk. Der Beschäftigtenanteil stieg von 25% (1870) auf 38% (1913), die Wertschöpfung von 22% auf 45% des Nettoinlandsprodukts. In diesem Zeitraum verzehnfachte sich die Produktion in Industrie und Handwerk, die von Bergbau und Salinen erhöhte sich um 33%. Die größte Steigerung erfolgte bei der Grundstoff- und Investitionsgüterindustrie, während Beschäftigtenanteil und Wachstumsrate in der Konsumgüterindustrie zurückgingen. Obgleich die Zahl der Beschäftigten in der Textilindustrie anstieg, sank ihr Anteil an den Gesamtbeschäftigten im sekundären Sektor auf 10%.267 Dennoch blieb die Textilindustrie - neben Nahrungs-

264 Vgl. Henning 1989, 223. Der Getreidepreis, der bis dahin einen Höchststand erreicht hatte, sank nach 1875 und stieg erst als Folge der Schutzzollpolitik, die seit 1880 die deutschen Preise über dem Weltmarktniveau hielt, nach 1905 wieder an. Günstiger lag er bei tierischen Erzeugnissen, abgesehen von den Milchpreisen, die regional sehr unterschiedlich waren, und den extrem ungünstigen Wollpreisen; vgl. Pohl 1984, 28; zu Preisentwicklung und Schutzzollpolitik vgl. Henning 1989,223-233; Klein 1973, 122 ff. 265 Zum Genossenschaftswesen vgl. Born 1985, 31 ff. 266 Vgl. Hohorst u. a. 1978, 66 und 68; Borchardt 1977, 174 ff. und das Kapitel »Bevölkerungsentwicklung«. 267 Vgl. Pohl 1984, 29.

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mittelindustrie, Baugewerbe und Metallverarbeitung - weiterhin einer der bedeutendsten deutschen Industriezweige. Den größten Aufschwung nahm die Schwerindustrie wie die Metallverarbeitung allgemein.268 Der Anstieg der Produktionswerte, das Wachstum der Arbeitsproduktivität und die Zunahme des Kapitalbestands kennzeichnen diese Entwicklung. 269 Der Bergbau war vom Steinkohlebergbau geprägt.270 Für die Eisen-, Stahl- und Energieerzeugung, die mit der Industrialisierung florierte, war Steinkohle der wichtigste Grundstoff. Der beträchtliche Bedarf der Eisenhüttenindustrie und die Neuord271 nung des preußischen Bergrechts bewirkten eine enorme Produktionssteigerung. Die größten Kohlevorkommen lagen im Ruhrgebiet (60% der Förderung), in Oberschlesien, an der Saar, im Königreich Sachsen und in Westfalen (Ibbenbüren). Eine Steigerung der Produktion konnte trotz der technischen Neuerungen (Bohrgeräte, Pumpen, Transportsystem unter Tage), die den Tiefbau zunehmend erleichterten, nur durch ein Mehr an Arbeitskräften erreicht werden. Vor allem durch den Zuzug von Arbeitern aus den Ostprovinzen und Polen entwickelte sich das Ruhrgebiet zum industriellen Ballungsraum mit einer raschen Urbanisierung und Ausdehnung nach Norden hin. 272 Die Technisierung brachte den Bergarbeitern im Laufe der Zeit ein höheres Maß an Sicherheit im Stollen. Die gesundheitlichen Schäden, die die Arbeit unter Tage mit sich brachte, konnten jedoch kaum begrenzt werden. Schwerstarbeit im Dunkeln, feuchte staubige Luft und gebückte Haltung führten insbesondere zu Atemwegs- (Staublunge) und Knochenerkrankungen. Die weit verbreitete Wurmkrankheit bekam man hier erst zwischen 1891 und 1900 mit der Einführung von Duschen in den Griff, die die gemeinschaftlichen Wannenbäder ablösten. Die meist in Kolonien angelegten Werkssiedlungen (Krupp) erhöhten die Lebensqualität und ermöglichten mit der Bebauung eines kleinen Gartens sowie der Haltung von Nutztieren einen Zuerwerb. 273 In den drei Steinkohlerevieren entstanden parallel zum Bergbau Kokereien und Hüttenwerke, die auch importierte Erze verarbeiteten, da die relativ geringen Vor268 Vgl. Fischer 1976, 537 ff. Nach Fischer gab es hohe Wachstumsraten auch bei kommunalen Versorgungsbetrieben. 269 Vgl. Pohl 1984, 29; Kellenbenz 1981, 254, 300 ff.; Fischer 1976, 528-542. 270 1882 waren 68% aller im Bergbau und in den Salinen Beschäftigten im Steinkohlebergbau tatig; vgl. Pohl 1984, 30. 271 Von 1872 bis 1913 stieg die Steinkohleförderung um fast das Sechsfache: von 23 Mill. Tonnen auf 190 Mill. Tonnen. Die Änderung des preußischen Bergrechts - der Großteil der Kohlevorkommen lag auf preußischem Gebiet - privatisierte zwischen 1851 und 1865 den Bergbau, ermöglichte die Freizügigkeit der Bergleute und verringerte die Abgaben. Es legte auch die Arbeitszeit fest; vgl. Born 1985, 39 f. 272 Zwischen 1891 und 1913 stieg allein hier die Zahl der Arbeitskräfte von 100 000 auf 400 000. 273 Vgl. dazu Weber 1978, 110 f.; Brüggemeier/Niethammer 1978; Schulz 1985, 376 f.; Milkereit 1985. In den alten Bergbaugebieten waren die Anteile an Eigenhäusem relativ hoch, während in den nördlichen Gebieten nach 1900 verstärkt Werkswohnungen entstanden. Die starke Verdichtung bewirkt dann eine Veränderung im Wohnungsbau.

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kommen, trotz Intensivierung des Eisenerzabbaus an Ruhr und Saar, den Bedarf der Roheisenerzeugung nicht deckten. Bis 1913 war die deutsche Hüttenindustrie der zweitgrößte Metallproduzent der Welt.274 Nach der Jahrhundertmitte setzte hier und im Bergbau, vor allem durch den sehr hohen Kapitalbedarf (Technik), ein Prozeß der Untemehmenskonzentration ein. Ab 1885 verstärkten sich die Konzentrationsbewegungen, es entstanden große Konzerne als reine Bergbauuntemehmen oder in Verbindung mit Stahl- und Walzwerken sowie Maschinenfabriken. Zudem bildeten sich einige Großunternehmen, die Erzabbau mit Kohlebergbau und Hüttenwesen zu großen Komplexen der Stahl Verarbeitung vereinten (Thyssen, Krupp).275 Preisentwicklung, Konkurrenzkampf und Überproduktion führten nach langen Verhandlungen 1893 zur Gründung des Rheinisch-Westfälischen Kohlen-Syndikats und 1898 zum Abschluß der Oberschlesischen Kohlekonvention. In der Hüttenindustrie war die Syndikatsbildung weniger erfolgreich. Der Abbau von Braunkohle erfolgte im Tagebau, vor allem im Villegebiet westlich von Köln und in Sachsen. Er war technisch einfacher und daher produktiver. Durch den niedrigen Brennwert war Braunkohle für die Erzverhüttung von geringerer Bedeutung, für den Hausbereich hingegen wichtig, weil relativ billig (Brikett).276 Der Kupferbergbau in der Mansfelder Region nahm ab der Jahrhundertmitte wieder einen Aufschwung. Die Zinkproduktion um Beuthen erreichte um 1878 die Hälfte der Weltproduktion. Ebenfalls aufwärts ging es mit dem Kalisalzbergbau. Die Metallverarbeitung (Maschinenbau, Werften, Fahrzeugbau, Elektrotechnik) entwickelte sich, nicht zuletzt durch Spezialisierung, zum führenden Industriesektor mit dem bis 1913 höchsten Beschäftigtenanteil von 16,9% (1,9 Mill.). Seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wurden überdurchschnittliche Wachstumsraten erzielt. Zwar gab es auch hier eine Tendenz zu Großbetrieben (Krupp, Borsig), es entstanden aber auch viele Mittel- und Kleinbetriebe (besonders Maschinenbau: Fahrräder, Nähmaschinen).277 Die Werftindustrie, die sich aus dem Maschinenbau entwickelte, nahm ihren Aufschwung vor allem durch den Ausbau der Handelsflotte; die Kriegsflotte spielte erst nach 1898 eine Rolle. Hohe Wachstumsraten erzielte die elektrotechnische Industrie (mit Nachrichtentechnik), bei der seit der Jahrhundertwende die großen Konzerne dominierten (AEG, Siemens), mit einem Anstieg der Beschäftigtenzahl von 26 000 (1895) auf 142 000(1907). Internationale Bedeutung erreichte die deutsche chemische Industrie. Ihre Wachstumsraten stiegen, auch wenn sie, gemessen an den Beschäftigtenzahlen, zu den

274 Sie machte 20% des deutschen Warenexports aus; vgl. Born 1985, 42 f. 275 Vgl. Pohl 1984, 30 f.; zur Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets vgl. bes. Feldenkirchen 1982. 276 Ihr Anteil an der Gesamtkohleproduktion ging dennoch von 11% (1861) auf 6% (1909) zurück; vgl. Pohl 1984,31. 277 Vgl. Kellenbenz 1981, 259 ff. (auch zu Werften); Fischer 1976, 549 ff.; zur chemischen Industrie vgl. Fischer 1976, 552; Pohl 1984, 32. Zu den Beschäftigtenzahlen insgesamt auch Hohorstu. a. 1978, 66-77.

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kleineren Industriezweigen zählte. Sie entwickelte sich zum größten Kaliproduzenten und -verarbeiter der Welt. Neben anorganischen Rohstoffen waren vor allem Produkte der organischen Chemie (Düngemittel, Arzneimittel, Farben) bedeutsam. Dieser Zweig erbrachte 1880 etwa 50% und 1890 bereits 90% der Weltproduktion an synthetischen Farbstoffen. Durch ihren hohen Forschungsstand hatte die deutsche Chemie eine Monopolstellung. Großunternehmen (Hoechst, Bayer, Badische Anilin- und Soda-Fabrik) und Kartelle entstanden.278 Brachte die Chemie vielen Bereichen der Wirtschaft auch Fortschritte, so war die Arbeit für die Beschäftigten nicht ungefährlich. Sicherheit am Arbeitsplatz stand noch nicht im Blickfeld, die Unfallgefahr war hoch. Langzeitfolgen für die Gesundheit entstanden durch oft unsachgemäßen Umgang mit chemischen Substanzen und durch schlechte Arbeitsbedingungen (ätzende Dämpfe): Erkrankungen der Haut, der Augen und Atmungsorgane sowie Krebsrisiko. Im allgemeinen waren die Arbeitsbedingungen in den Industriebetrieben bis in die Weimarer Zeit hinein in jeder Hinsicht mangelhaft. Lange Arbeitszeiten, Schichtarbeit, niedrige Löhne, unzureichende Hygiene und eine oft als belastend und abstumpfend empfundene Tätigkeit prägten alle Branchen. Übermüdungskrankheiten wie Bleichsucht und Blutarmut kamen bei Frauen vier- bis fünfmal so häufig vor wie 279

bei Männern. Zwischen 1870 und 1913 ging der Bereich Textil, Bekleidung, Nahrung trotz einer jährlichen Wachstumsrate von 3,7% erheblich zurück. Gemessen an den Beschäftigtenzahlen stand die Bekleidungs- und Lederindustrie 1913 an dritter Stelle vor der Textil- und Nahrungsmittelindustrie. Diese Branchen erlebten einen tiefgreifenden Strukturwandel, durch den Handwerk und Hausgewerbe zurückgedrängt wurden. 280 Überdurchschnittliche Wachstumsraten waren dagegen im Bereich Gas, Wasser, Elektrizität zu verzeichen (19,7%). Das Baugewerbe, das 1913 bei den Beschäftigtenzahlen den zweiten Platz einnahm, entwickelte sich seit den 1880er Jahren stetig. Das Handwerk wurde durch die Industrialisierung nicht verdrängt - die Zahl der Handwerker nahm zu -, aber umstrukturiert. Durch Anpassung an veränderte technische und wirtschaftliche Bedingungen und ein verstärktes Hineinwachsen in den Dienstleistungsbereich veränderten sich Berufe, und es entstanden neue. Zunehmend gefragt waren Fachleute für Reparatur und Wartung, Reinigung, Installation usw.; Berufe aus dem Baugewerbe (Tischler, Maurer) und solche des »täglichen Bedarfs« (Bäcker, Schneider) blieben weiterhin wichtig und zählten 1895 die meisten Erwerbstätigen. Es gab zahlreiche Mittel- und Kleinbetriebe (Familienbetriebe), aber auch hier ging der Trend zu größeren Produktionseinheiten.281 Da Industrie- und

278 Das wichtigste Kartell war das Kalisyndikat von 1888. 279 Vgl., bes. zur Situation der Frauen, Bajohr 1979, 189 ff.; Knapp 1984. 280 Zur Differenzierung von Baumwoll-, Woll- und Leinenindustrie vgl. Pohl 1984, 32; Fischer 1976, 552; Kellenbenz 1981,264. 281 Vgl. Borchardt 1977, 179; Fischer 1976, 132 ff., 158 f.; Born 1985, 50-52.

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Handwerksbetriebe sich in den Statistiken nur schwer unterscheiden lassen, kann ihr jeweiliger Anteil am Wachstumsprozeß nur indirekt bestimmt werden.282

Dienstleistungsbereich (tertiärer Sektor) Im Dienstleistungsbereich sind neben dem Verkehrswesen vor allem Handel, Geldund Bankwesen und schließlich die Erweiterung des Versicherungswesens von Bedeutung. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts erfuhr der tertiäre Bereich nach Beschäftigtenzahl und Wertschöpfung ein überproportionales Wachstum.283 Das stete Anwachsen der städtischen Bevölkerung erforderte den Ausbau des Versorgungsnetzes und brachte einen Aufschwung für Einzelhandel wie Konsumvereine.284 Im Einzel- und Großhandel wirkten ähnliche Mechanismen wie in der Industrie, die auf Spezialisierung und Konzentration hinausliefen. Wachsender Konkurrenzdruck und die Veränderungen im Konsumverhalten der Verbraucher brachten auch eine Änderung in der Zusammensetzung des Warensortiments. Als neue Form des Großbetriebs entstand das Kaufhaus, das mit einem breit gefächerten, spezialisierten und oft günstigen Angebot eine große Käuferschicht anzog. Das Verkehrsnetz wurde, wie bereits beschrieben, im Kaiserreich erheblich ausgebaut (Fern- und Nahverkehr, im innerstädtischen Bereich Straßen-, U- und S-Bahnen).285 Das Streckennetz der Eisenbahn wurde bis 1913 auf 637 000 km erweitert. Sie bestritt nun ca. 80% des Gütertransports und leistete einen entscheidenden Beitrag zur Senkung der Transportkosten und zur Erschließung größerer Märkte.286 Das billigste Transportmittel, vor allem für Massengüter (Kohle, Getreide), blieb neben der Eisenbahn die Binnenschiffahrt. Nach 1870 wurde mit dem Ausbau der Wasserstraßen begonnen (Nord-Ostsee-Kanal, Mittellandkanal u. a.).287 Die deutsche Handelsflotte war 1871 die fünftgrößte der Welt und war, besonders mit weiterem Anwachsen, wichtiger Auftraggeber für die Werftindustrie.

282 Etwas einfacher wurde eine Unterscheidung von Industrie- und Handwerksbetrieben durch die Reichsgewerbeordnung (1897). Sie überließ es den Betrieben, sich der jeweiligen Kategorie und der entsprechenden Kammer zuzuordnen; vgl. Born 1985, 45; vgl. auch Borchardt 1977, 179. 283 1913 waren hier 12% der Beschäftigten tätig. Zur Verteilung auf Betriebsgrößen vgl. Born 1985, 60. Vgl. Borchardt 1977, 187; Hohorstu. a. 1978. 284 Nach den Gewerbezählungen von 1882 gab es 15 verschiedene Handelszweige, nach der Erfassung von 1907 bereits 48; vgl. Kellenbenz 1981, 289. Zur Problematik der Gewerbezählungen bes. für das Jahr 1875 hinsichtlich regionaler Vergleichbarkeit, Doppelzählung usw. vgl. Hohorst u. a. 1978, 72 ff. Ab 1882 ist eine Zuverlässigkeit des Materials größtenteils gewährleistet. 285 Die U-Bahn entstand nach 1900 in den größeren Städten, zuerst bei AEG und Siemens (Berlin) als schnelles Transportmittel von Material zwischen den einzelnen Fabrikstandorten. 286 Für den einzelnen Anbieter waren die Eisenbahnen weiterhin zu teuer, daher schlössen sie sich in Genossenschaften zusammen. Zur Eisenbahn vgl. Fremdling 1975 und Wagenblass 1973. 287 Das Netz von Kanälen und kanalisierten Flüssen wurde zwischen 1873 und 1914 von 3400 km auf 6300 km erweitert; vgl. Pohl 1984, 37.

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Der Ausbau des Post- und Nachrichtenwesens ergab sich zwangsläufig durch die Bedürfnisse, die durch Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft entstanden waren.288 Das Telefon erhielt seine Bedeutung erst im 20. Jahrhundert. Durch die Einführung neuer Technologien, den Ausbau des Bergbaus und der in seinem Umfeld entstandenen Industrie waren die Anforderungen an die Kapitalkraft der Unternehmer und somit der Kreditbedarf gewachsen.289 Mit der Gründung von Aktienbanken seit der Jahrhundertmitte konnte dieses abgedeckt werden.290 Etwa zur gleichen Zeit wurden auch die ersten reinen Hypothekenbanken gegründet, die vor allem der Landwirtschaft langfristige Kredite sichern sollten. Für Handwerk und Einzelhandel waren die gewerblichen Kreditgenossenschaften wichtig. Die Konzentrationstendenzen der Wirtschaft zeigten sich auch bei den Banken: nach 1895 als Schrumpfungsprozeß nach der Gründerkrise und als Expansion der Aktienbanken. Mit dem Auf- und Ausbau des Sozialversicherungswesens und der Entstehung weiterer neuer Sparten gewannen die Versicherungen im Dienstleistungsbereich zunehmend an Bedeutung, wie überhaupt der gesamte Bereich der Verwaltung, sei es nun staatlich, öffentlich oder privatwirtschaftlich.

Gesellschaft Im Zuge der Industriellen Revolution mit all ihren Indikatoren und den politischen Antworten darauf war die Gesellschaft in den Jahrzehnten zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg einem stärkeren und schnelleren Wandel unterworfen als je zuvor. Nach dem Aufbrechen der alten ständischen Ordnung trat auch das ständische Denken langsam hinter die sozialen und wirtschaftlichen Interessen der neuen gesellschaftlichen Gruppen zurück. Mit der Reichsgründung war, zumindest auf Staatsebene, die nationale Einigung geglückt. Nun rückten gesellschaftliche und wirtschaftliche Fragen wieder in den Vordergrund. Die Integration der neuen »deutschen« Staatsbürger und besonders die der stetig anwachsenden Arbeiterschaft sowie der unteren Schichten allgemein, die Bismarck unter anderem mit seiner Sozialgesetzgebung herzustellen suchte, sollte bis zum Ende des Kaiserreichs allerdings nicht gänzlich gelingen. Ausgehend von Agrarreform und Gewerbefreiheit zerfielen Anfang des 19. Jahrhunderts die traditionellen Stände des Adels, des Bürgertums und der Bauern mit ihren Verbänden (Zünfte/Gutsbesitz). Mit der Bevölkerungsexplosion war das ländliche und städtische Proletariat angewachsen und eine neue gesellschaftliche Schicht 288 Die Post war seit 1871 reichseinheitlich organisiert mit Reservatrechten für Bayern und Württemberg. 289 Zum folgenden vgl. Pohl 1984, 40 ff.; Born 1985, 55 ff.; Kellenbenz 1981, 292 ff. 290 Die neue Form der Aktienbanken wurde durch Gesetz vom 11.6.1870 möglich. Reichsbanknoten galten erst ab 1910 als gesetzliches Zahlungsmittel neben der Goldwährung.

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entstanden. Die Umstrukturierung der Gesellschaft wurde durch die Industrialisierung gefördert. Die neuen Gruppierungen wie der gewerbliche Mittelstand, die städtische Großindustrie und der ländliche Großgrundbesitz (Großagrarier) schlössen sich in eigenen Interessenverbänden und Innungen zusammen. Seit Mitte der 1860er Jahre hatten sich die Fabrikarbeiter in Berufsverbänden zusammengetan. Nach den Anfängen der Arbeiterbewegung im Zuge der 1848er Revolution und ihrem Verbot wurde 1863 der »Allgemeine Deutsche Arbeiterverein« von Ferdinand Lasalle gegründet.291 Durch den rasanten Industrialisierungsprozeß gelangte die Soziale Frage auch weiten Teilen der bürgerlichen Gesellschaft ins Bewußtsein. Zwar waren die Liberalen innerhalb ihrer Parteistrukturen zu ernsthaften Reformen nicht in der Lage, doch gingen gerade von den Enttäuschten unter ihnen die Initiativen zur Gründung von Arbeiterparteien aus, die einen entscheidenden Fortschritt für die deutsche Arbeiterbewegung bedeuteten. Die von ihnen eingeführte Arbeiterbildung, die vor allem in den Zeiten der Illegalität Träger der Arbeiterbewegung war und in weiten Kreisen angenommen wurde, sollte zum Ausgangspunkt für ihre politische Arbeit werden. Ziele waren vor allem das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht, Produktionsgenossenschaften mit staatlicher Hilfe und Verbesserung der Verdienstmöglichkeiten. August Bebel und Wilhelm Liebknecht gründeten 1869 schließlich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei,292 die sich auf dem Gothaer Kongreß 1875 mit dem Arbeiterverein zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands vereinigte und bei den Reichstagswahlen 1877 bereits 9% der Stimmen erzielte. Ihre Führer wurden allerdings von Anfang an verfolgt und von Bismarck mit seinem Sozialistengesetz (1878) radikal bekämpft.293 Das Sozialistengesetz steht für einen breiten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Wandel. Bismarck, der sich bis dahin vor allem auf die liberalen (bürgerlichen) Kräfte gestützt hatte, versuchte nach immer stärker werdenden Auseinandersetzungen auch Konservative und das Zentrum für sich zu gewinnen. Industriegrößen aus dem Wirtschaftsbürgertum, besonders der Schwerindustrie, und adelige Großgrundbesitzer,294 deren gesellschaftliche Wechselbeziehungen immer enger wurden (Nobilitierung, Heirat), hatten ihre eigenen Interessenverbände und grenzten sich zunehmend vom eher liberalen Bildungsbürgertum ab. Auch wenn dieses Anschluß an die Führungselite suchte, was seinen Ausdruck beispielsweise in der Nachahmung adeliger Lebensformen (Wohnungsbau), dem nun möglichen Erwerb eines militärischen Rangs (»Leutnant der Reserve«) oder der Mitgliedschaft in einem Universitätscorps fand. Bismarck setzte nun auf die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft

291 Vgl. Grebing 1985, 47 ff.; Moser 1984. 292 1868/71 war das Koalitionsverbot aufgehoben worden. 293 Ihre Organisationen mußten sich auflösen, Zeitungen wurden verboten. 1500 Menschen wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt, 900 mußten das Land verlassen, viele emigrierten. 294 Sie waren mittlerweile eher Gutswirtschaftsunternehmer und eine inzwischen bürgerlich-adelig durchmischte Klasse; vgl. Grebing 1985, 50. Zu den Beziehungen von Adel und Bürgertum vgl. Schumann 1992.

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in Verbindung mit dem Adel, aus dem sich die Führungsschicht nach wie vor rekrutierte. Konträr dazu entwickelten sich die Ziele des gewerblichen Mittelstands und vor allem die der Arbeiterschaft. Die Furcht vor einer revolutionären Dynamik der Arbeiterbewegung veranlaßte ihn, die sozialistische Arbeiterbewegung mit den genannten Mitteln aufs schärfste zu bekämpfen. Der revolutionären Gefahr konnte letztlich nur durch die Einbindung der Arbeiter in den Staat entgegengewirkt werden. Doch die Sozialgesetze, die dann folgten, genügten nicht zu dieser Einbindung, und Sozialdemokratie wie Gewerkschaften gingen nach 1890 aus dieser Auseinanderset9QS

zung gestärkt hervor. Die Gewerkschaften, von denen die sozialistischen Freien Gewerkschaften 296 die wichtigste Rolle spielten, wurden nach der Jahrhundertwende zu einer Massenbewegung (1913 3 Mill. Mitglieder),297 Durch die Preisentwicklung in den 1870er und 80er Jahren waren die Lebenshaltungskosten gesunken, was vor allem bei den Arbeitern eine Steigerung2QQ des Realeinkommens und damit eine Verbesserung des Lebensstandards bedeutete. Geblieben war aber eine weitgehende Ungleichheit der Einkommensverteilung und die fortbestehende geringe Chance eines sozialen Aufstiegs.299 Um ihre Forderung nach dem Achtstundentag durchzusetzen, beschloß die 2. Internationale für den 1. Mai 1890 in allen Ländern Streiks; in Deutschland kam es zur ersten Massendemonstration. Wenn diese Forderung auch noch lange nicht durchgesetzt werden konnte, erfolgten 1891 doch wichtige Änderungen im Arbeitsschutz, unter anderem die Beschränkung der Frauenarbeit auf 11 und der Kinderarbeit auf 10 Stunden täglich. 1911 wurden die Versicherungsgesetze zu einem einheitlichen Reichsversicherungsgesetz zusammengefaßt und die Angestellten mit einbezogen. 300 Die SPD, die sich mit dem Erfurter Programm 1891 eindeutig zum Marxismus bekannte, hatte nun die Mehrheit der Arbeiter und Teile des Bürgertums hinter sich. Massenpartei geworden, stellte sie 1912 mit 34,8% der Stimmen im Reichstag die stärkste Fraktion. Noch Ende Juli hatte sie zu Massenkundgebungen aufgerufen und mit Generalstreik gedroht. Am 4.8.1914 stimmte die Partei im Reichstag schließlich der Gewährung der Kriegskredite zu sowie der Einstellung jeder Opposition während des Krieges (Burgfrieden). 301 Verteidigungskrieg sowie das Bekenntnis zur eigenen

295 Das Sozialistengesetz wurde nach Bismarcks Entlassung 1890 nicht mehr erneuert. Zur Entwicklung der Parteien nach 1890 vgl. Nipperdey 1992, 514-576. 296 Daneben gab es vor allem den liberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkverein (seit 1869), der nicht dem Verbot unterlag, und die Christlichen Gewerkschaften (seit 1894). 297 Grebing 1985, 76 (Literatur). Im Vergleich dazu: Die Zahl der Fabrikarbeiter stieg von ca. 1,6 Mill. (1882) auf 3,4 Mill. (1895) und 5,8 Mill. (1907); vgl. Jaeger 1988, 128. 298 Vgl. Langewiesche/Schönhoven 1981; Conze/Engelhardt 1979. 299 Vgl. Kaelble 1983; Jäger 1988, 127 f.; Knapp 1984 und das Kapitel »Bevölkerungsentwicklung«. 300 Eine Differenzierung findet sich bei Henning 1989, 271 ff. 301 Die Vaterlandsverräter waren nun anerkannt; Wilhelm II.: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche«. Zur SPD vgl. Groh/Brandt 1992.

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Nation standen damals nicht im Gegensatz zu den Zielen der internationalen Arbeiterbewegung. In den parteiinternen Auseinandersetzungen um den Kurs der Mehrheit wurde der radikale linke Flügel (Klara Zetkin, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht) 1916 aus der Partei ausgeschlossen und gründete später den Spartakusbund. Im Jahr darauf wurde mit der gemäßigten Linken (Kurt Eisner, Karl Kautzky, Eduard Bernstein), die Burgfrieden und Krieg mittlerweile ablehnten, ebenso verfahren; sie formierte sich zur USPD.

Weimarer Republik (1919-1933) Die Wirtschaft im Ersten Weltkrieg war geprägt durch Versorgungsschwierigkeiten (Nahrung, Rohstoffe), die erweiterte Produktion von Kriegs- und Rüstungsgütem mit gleichzeitigem Rückgang der Güter zivilen Bedarfs und steigender Staatsverschuldung. Die Arbeitskraft von insgesamt zehn Millionen Männern, die durch den Krieg gebunden war, mußte vor allem durch die Frauen ausgeglichen werden. Besonders in der zweiten Kriegshälfte hatten die sozialen Spannungen zugenommen. Klassenspannungen und die ungenügenden staatlichen Versuche, Wirtschaft und Gesellschaft zu organisieren und zu integrieren, bildeten die Grundlage der Revolution von 1918/19.302 Die Inflation, die sich bereits mit den Gesetzen zur Kriegswirtschaft 1914 ankündigte, prägte die ersten Jahre der Weimarer Republik.303 Sie war in der Krisenzeit der Nachkriegsjahre 1923 auf ihrem Höhepunkt (zugleich Hitlerputsch; Ruhrbesetzung). Als die Massenarbeitslosigkeit (6,13 Mill.) 1932 ihren Gipfel erreichte, war die Stimmenmehrheit, die die rechts- und linksextremen Parteien erhielten, Ausdruck des Vertrauensverlusts in die Republik. Die Krisenjahre der Inflation (1919-1923) wie der Deflation (1929-1933) waren von Währungskrisen geprägt, die die staatliche Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht in den Griff bekam. Als Folge der Kriegsfinanzierung seit dem Ersten Weltkrieg und der Finanzpolitik von Regierung und Reichsbank nach Kriegsende entsprach das Verhältnis von umlaufender Geldmenge und Wert des Güterangebots nicht mehr den Gegebenheiten. Gemäß dem Kriegsfinanzierungsgesetz (4.8.1914), das weiterhin in Kraft war, konnte die Geldmenge mit der Ausgabe neuer Banknoten nach Bedarf erhöht werden. Das Reich war damit in der Lage, den Haushalt auszugleichen und Devisen für die Reparationszahlungen zu erwerben, was die Entwertung des Geldes zur Folge hatte. 304 Mit den rasant steigenden Preisen sank die Kaufkraft der Mark. Alle Ge-

302 Vgl. Henning 1978, 11; Kocka 1978, bes. 131 ff.; Ritter/Miller 1983. Zu wirtschaftsgeschichtlichen Quellen vgl. Steitz 1993. 303 Zu Inflation und Arbeiterbewegung vgl. Holtfrerich 1980; Feldmann u. a. 1982; Winkler 1984; ders., Normalität 1985; ders. 1987; Blaich 1985; Evans/Geary 1987. 304 Im Juni 1920 entsprach 1 US-Dollar 39,13 Mark. Vom Mai 1921 bis Juli 1922 stieg der Preis des Dollars

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Schäfte wurden möglichst bar abgewickelt, Arbeiter, Angestellte und Beamte forderten schließlich tägliche Lohnzahlungen. Infolge des Ruhrkampfs verschlechterte sich die Lage der Reichsfinanzen weiter, woraufhin die Reichsbank mehr und mehr Banknoten in Umlauf brachte. Nachdem die Mark bereits 1922 ihre Tauschmittelfunktion in der Industrie verloren hatte, weigerten sich im Herbst 1923 auch die Landwirte, wertloses Papiergeld anzunehmen. Die schlechte Ernährungslage der Bevölkerung und die Arbeitslosigkeit der Massen führten in den Städten zu Unruhen und Plünderungen. Im November 1923 wurde die Währungsreform durchgeführt und zunächst die Umlaufmenge des Geldes drastisch beschränkt. Das Papiergeld wurde abgewertet (1 Billion Papiermark = 1 Rentenmark) und seine Gesamtmenge strikt auf 3,2 Mrd. Mark begrenzt. Als vertrauensbildende Maßnahme und um die neue Währung auf eine sichere Grundlage zu stellen, deckte man sie durch eine Grundschuld. Diese Übergangslösung wurde am 30.8.1924 mit der Einführung der Reichsmark beendet, die allerdings an eine 40%-Deckung durch Gold und Devisen gebunden war (Goldkernwährung), was sich in den Jahren der Deflation negativ auswirken sollte. Mit Inflation und Währungsreform war das Reich mit einem Schlag von den inneren Kriegsschulden von 150 Mrd. alter Mark befreit worden (100 Mrd. Kriegsanleihe); die Währungsreform bedeutete für das Reich allerdings auch den Verzicht auf die bequeme Finanzierung der Staatsausgaben durch Notenbankkredite. Dies lag allem Anschein nach im Interesse der Industrie. Privatinvestitionen waren gestiegen, und die industrielle Produktion hatte trotz der Gebietsverluste 1922 bereits 80% des Vorkriegsniveaus (1919 37%) erreicht.305 Die Wirtschaft konnte relativ schnell von Kriegs- auf Friedenswirtschaft umgestellt werden. Durch Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung gab es keine langanhaltende Arbeitslosigkeit, Arbeitskräfte waren billig. Großindustrie und Großgrundbesitz gingen gestärkt aus der Krise hervor. Nutznießer waren Inflationsgewinnler und auch langfristige private Schuldner (Landwirtschaft und städtischer Hausbesitz). Verlierer waren die breiten Schichten des bürgerlichen Mittelstands und der Arbeitnehmer sowie alle Besitzer von Sparguthaben, Bankguthaben und Versicherungsverträgen (auch Versicherungsträger), soweit sie Kriegsanleihen gezeichnet hatten. Hoffnungslos war die Lage der reinen »Geldrentiers«, die Millionen verloren hatten. Der Verlust des Vertrauens in die Stabilität der neuen Republik saß tief. Wer seine Existenz bedroht sah, wandte sich eher den politisch radikaleren Forderungen zu. Die Auseinandersetzungen zwischen nationalsozialistischen Sturmabteilungen (SA) und dem kommunistischen »Rot-Front-Kampfbund« erreichten vor allem in den Großstädten mit der Weltwirtschaftskrise nahezu Bürgerkriegsausmaß.306

von 62,30 um 692% auf 493,22 Mark, bis Dezember 1922 auf 7589,27 Mark und bis Ende 1923 auf 4,2 Billionen Mark; vgl. Blaich 1985, 25-31. 305 Vgl. Blaich 1985, 51 ff. 306 Vgl. Striefler 1993.

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III.

Untersuchungsgebiete

Bis 1928 befand sich Deutschland in einer Phase wirtschaftlichen Aufschwungs. Das Volkseinkommen erhöhte sich bis 1929, der allgemeine private Konsum und der Kapitalstock der gesamten Volkswirtschaft stiegen ebenfalls an.307 Einfuhr wie Ausfuhr wuchsen überproportional. Die konjunkturelle Belebung wurde also vor allem durch Investitionen getragen. Bis 1927 war die Industrieproduktion beinahe wieder auf Vorkriegsniveau, man hatte »Hoffnung auf eine endgültige Überwindung der Nachkriegsprobleme (Reparationszahlungen, sozialer Frieden)«.308 Die Arbeitslosenquote erreichte 1928 den niedrigsten Stand der 20er Jahre. Dennoch wurde diese Phase als Zeit des »geborgten Wohlstands« bezeichnet. Die Finanzierung für Industrie und Kommunen konnte in der nötigen Größenordnung nur durch Auslandsanleihen gewährleistet werden. Das Reich verfuhr auf die gleiche Weise, um die durch den Dawes-Plan festgesetzten jährlichen Ratenzahlungen der Reparationen in die Siegerstaaten zu transferieren, was eine hohe Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von der Weltwirtschaftslage bedeutete.309 Der sogenannte New Yorker Börsenkrach vom 24./25. Oktober 1929 wird als Beginn der Weltwirtschaftskrise angesehen. Als die Masse der Not- und Angstverkäufe von Aktien nicht mehr gebremst werden konnte, kam es zum katastrophalen Zusammenbruch der Börsenkurse. Die Krise erfaßte alle Länder mit kapitalistischem Wirtschaftssystem, die Vereinigten Staaten und Deutschland allerdings am schwersten. Der Schrumpfungsprozeß der Wirtschaft, ihre Talfahrt, sollte Jahre andauern. Es kam zu Zusammenbrüchen von Firmen in Industrie und Handel sowie von Banken. Am härtesten traf es jedoch die Arbeitnehmer mit Massenentlassungen, Kurzarbeit, Lohn- und Gehaltskürzungen und dem Rückgang der realen Wertschöpfung pro Kopf der Bevölkerung.310 Die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen im privaten Bereich ging zurück, was zu Umsatzeinbußen führte, die teilweise den Bankrott bedeuteten. Durch das Sinken der Erzeugerpreise geriet auch die Landwirtschaft in eine schwere Krise (Zwangsversteigerungen). In den Jahren 1930 und 1931 wurden von allen Seiten in rascher Folge die Auslandskredite abgerufen, was in der allgemeinen Stimmung eine Kettenreaktion von Bankenkrisen, Kreditbeschränkungen, Firmenzusammenbrüchen und Zunahme an Arbeitslosen auslöste. Im Februar 1932 kletterte die Zahl der Arbeitslosen auf die Höchstmarke von 6,13 Millionen. Auch hatte die Instabilität der politischen Lage (radikale Parteien im Reichstag) negativen Einfluß auf die ausländische Geldzufuhr, was die Wirtschaft weiter hemmte. Regierung und Reichsbank reagierten erst im Sommer 1931 auf die Krise.311 Der Versuch von Reichskanzler Brüning, mit einer 307 Von 1924 bis 1929 wurden für ca. 45 Mrd. Reichsmark Nettoinvestitionen vorgenommen; vgl. Henning 1978, 89. 308 Henning 1978, 90. Er hält es für angemessener, unter Berücksichtigung des Lebensstandards der Bevölkerung und der außenwirtschaftlichen Vorgänge, nicht von »goldenen Jahren« zu sprechen. 309 Vgl. Henning 1978, 83 ff. 310 Henning 1978, 91 f.; zur regionalen und sektoralen Differenzierung vgl. Blaich 1985, 60 ff.

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Reihe von Notverordnungen zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen die öffentlichen Ausgaben den sinkenden Steuereinnahmen und Preisen anzupassen und den Haushalt auszugleichen, mißlang. Seine deflationistische Wirtschaftspolitik verlängerte die Krise.312 Im Juni 1932 (Konferenz von Lausanne) wurden die Reparationsverpflichtungen schließlich wegen der Zahlungsunfähigkeit des Reichs aufgehoben. Im Young-Plan von 1930 waren sie bereits um 36 Mrd. Reichsmark reduziert worden.313 Mit dieser »Unterstützung« begannen die beiden letzten Kanzler vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten die Arbeitslosigkeit mit staatlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu bekämpfen.314 Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die Neuorganisation der Industrie und die Umgestaltung der Arbeitswelt große Fortschritte gemacht und der Republik eine Reihe wichtiger sozialpolitischer Neuerungen gebracht hatte: das Betriebsrätegesetz (1920), die Einführung der 48-Stundenwoche, Tarifautonomie und damit die Aner•31 c

kennung der Gewerkschaften, Arbeitsschutzmaßnahmen zur Bekämpfung der typischen Bergbaukrankheit (Staublunge) und von Unfällen, Mutterschutzgesetzgebung,316 Kriegsopferversorgung, Verbesserung der Armenfürsorge (1924/26) und Arbeitslosenversicherung (1927).317 Dennoch hatte sich die Lage der Mehrheit der Bevölkerung zusehends verschlechtert. Von 1931 bis 1932 fielen die Stundenlöhne schneller als die Lebenshaltungskosten, Beschäftigungsmöglichkeiten waren rückläufig und die Einkommen aller Gesellschaftsschichten gingen stark zurück. Ein Ausdruck dieser existentiellen ökonomischen und psychischen Belastungen während der Weltwirtschaftskrise ist möglicherweise die hohe Selbstmordrate. 1932 lag sie in Deutschland mit 260 auf 1 Million Menschen sehr viel höher als in Großbritannien (85) oder den USA (133). Vergleichswerte der Statistischen Jahrbücher seit 1900 zeigen jedoch, daß die Quote bereits 1913 bei 234 lag und in den 20er Jahren weiter anstieg. Um die insgesamt hohe Zahl von Selbsttötungen in Deutschland auswerten zu können, müßten weitere Faktoren und Quellen analysiert werden.318 311 Sie reagierten mit der Erhöhung des Reichsbankdiskonti (15%) und Einschränkung der Wechselkontingente, d. h. Kreditverteuening und -Verknappung. Zur Bankenkrise vgl. Henning 1978, 97-102. 312 Eine erste Notverordnung wurde am 30.6.1930 erlassen. 313 Die Konferenz beschloß am 9.7.1932 die Einstellung der Reparationen gegen eine einmalige Abfindung von 3 Mrd. Reichsmark, die nicht vor 1935 fällig war. 314 Franz v. Papen und Kurt v. Schleicher. Papens wirtschaftspolitischer Zwölf monatsplan: freiwilliger Arbeitsdienst, Anreize für Unternehmer bei Neueinstellungen usw. 315 Die Tarifautonomie wurde 1918 beschlossen, allerdings in einigen Industriezweigen und im Bergbau in den 20er Jahren wieder aufgehoben. 316 Vgl. das Kapitel »Bevölkerungsentwicklung«. 317 Seit November 1918 wurde die Erwerbslosenfürsorge eingerichtet, 1923 wurden Arbeitgeber und Arbeitnehmer zur Finanzierung mit herangezogen. Eine Neuregelung erfolgte durch das Gesetz vom 16.7.1927; vgl. Henning 1978, 130. 318 Zu den Vergleichszahlen für das Ausland siehe Blaich 1985, 74 f. Er sieht darin eine beispiellose Selbstmordwelle, die durch den wirtschaftlichen Ruin gerade den Mittelstand und ganze Familien erfaßte. Die Zahlen aus den Statistischen Jahrbüchern relativieren diese Quote innerhalb Deutschlands; vgl. Hohorst u. a.

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III.

Untersuchungsgebiete

Am Ende der Weimarer Republik gab es zwar Ansätze zur Überwindung der Krise, doch waren sie nicht weitgreifend genug oder wurden nicht rechtzeitig wirksam. Die unter den Nationalsozialisten entscheidende Form der Finanzierung über eine Ausdehnung der Staatsschulden war zwar in Plänen vorhanden, wurde aber nur in geringem Umfang in staatlichen Maßnahmen angewandt. Mit der Machtübernahme Hitlers erfuhr die staatliche Wirtschafts- und Finanzpolitik eine andere Ausrichtung.

Das Dritte Reich (1933-1945) Das Parteiprogramm der Nationalsozialisten enthielt Grundzüge zu wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen.319 Diese waren jedoch uneinheitlich und unsystematisch und wurden schrittweise modifiziert.320 Es waren zwar Wirtschaftspläne aufgestellt worden, doch orientierten sich diese mehr an den Rüstungs- und Autarkievorstellungen Hitlers als an den tatsächlichen Gegebenheiten. Der erste Vierjahresplan (1933-1937) wurde, veranlaßt durch die akuten Versorgungsengpässe bei Rohstoffen, bereits 1936 von einem weiteren abgelöst. Doch auch dieser wurde nicht mehr durchgeführt, sondern den Bedürfnissen der Kriegswirtschaft untergeordnet. Wirtschaft und Wirtschaftspolitik dienten politischen Zielen und der Bereitstellung der Machtmittel. Allerdings waren die Interessen des Kapitals und der nationalsozialistischen Führung in ihren Zielen eng miteinander verknüpft und beeinflußten sich gegenseitig. Führende deutsche Wirtschaftskreise stellten sich in den Dienst des Regimes.321 Mit einer Reihe von Gesetzen wurde versucht, die Wirtschaft im Sinne von Gleichschaltung und Führerprinzip zu strukturieren und zu organisieren und dieses zugleich mit persönlicher unternehmerischer Initiative zu verbinden.322 Die Auslegung dieser Gesetze ermöglichte eine Gliederung der gesamten Wirtschaft in Verbände, deren Leiter der Reichswirtschaftsminister ernannte. Unternehmer wurden 1978, 127 f.; Petzina u. a. 1978, 96 f., 136. Die Selbstmordstatistik für die Jahre 1900-1938 bei Petzina u. a. gibt völlig andere Zahlen an: 1920 293 männl. und 148 weibl.; 1932 416 männl. und 174 weibl. (Quelle: Bevölkerung und Wirtschaft, hrsg. vom Statistischen Bundesamt). Gemeinsam ist den Daten ein leichter Anstieg zur Zeit der Weltwirtschaftskrise; vgl. Peukert 1990; Prinz 1990. 319 Das Parteiprogramm vom 24.2.1920 behielt auch nach der Machtübernahme 1933 Gültigkeit. 320 In der Beurteilung der Verwirklichung dieser Wirtschaftstheorien gehen die Meinungen auseinander. Vgl. dazu die Differenzierung bei Henning 1978, 143 f.; Lampert 1983. 321 Ein Beispiel dafür ist der Chemiekonzern IG-Farben, der durch die Schlüsselstellung Görings, insbesondere mit der Luftwaffe und der Partei eine Linie bildete. 322 Das »Reichsnährstandsgesetz« (13.9.1933) mit Regelungen für die Landwirtschaft im weitesten Sinn; das »Gesetz über den vorläufigen Aufbau des Handwerks« (29.11.1933), das Innungspflicht und Führerprinzip bedeutete; das »Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit« (20.1.1934) mit der Neuregelung innerbetrieblicher Verhältnisse der Wirtschaft; das »Gesetz zur Vorbereitung des organischen Aufbaues der deutschen Wirtschaft« (27.2.1934). Wirtschaftsverbände erhielten Schlüsselstellungen in der Wirtschaftsplanung, die Durchführungsverordnungen (27.11.1934 und öfter) und die Erlasse des Reichs- und Preußischen Wirtschaftsministers über die Reform der Organisation der gewerblichen Wirtschaft (7.7.1936) traten in Kraft.

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245

in die Befehlshierarchie eingeordnet, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände aufgelöst und die Deutsche Arbeitsfront (DAF) geschaffen. 323 Bis Mitte der 30er Jahre erlebte die Wirtschaft einen enormen Aufschwung. Die nationalsozialistische Beschäftigungspolitik konnte allerdings auf Investitionspläne und praktische Ansätze der Weimarer Zeit zurückgreifen. Den Schlüssel zur Überwindung der Krise sah man in der Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Ausdruck dieser Politik war das sogenannte Reinhardt-Programm (1,5 Mrd. RM), ein Gesetz, das eine Reihe von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ermöglichte: Reichsautobahnbau, Gebäudeinstandsetzung, Steuersenkung für Wohnungsbau und Landwirtschaft, »Überführung« weiblicher Arbeitskräfte in die Hauswirtschaft und vor allem die Einfuhrung der allgemeinen Wehrpflicht bei gleichzeitiger Umwandlung des freiwilligen Arbeitsdienstes in den für Jungen wie Mädchen obligatorischen Reichsarbeitsdienst (16.3.1935). 324 Finanziert wurden die Maßnahmen aus eingesparten Unterstützungen, dem Einsatz von künftigen (steigenden) Steuereinnahmen und »produktiver Kreditschöpfung«. Der »Mefo-Wechsel« war vor allem Instrument der Rüstungsfinanzie325

rang. Die einzelnen Programme wurden mit der Propaganda, der sich die nationalsozialistische Politik bediente, populär gemacht. Daß Hitler mit dem Autobahnbau die Arbeitslosen »von der Straße geholt« habe, erweist sich als Legende, betrachtet man die Zahl der beim Autobahnbau beschäftigten Arbeitslosen von anfangs 38 600 (1,6%) und 150 000 im Jahr 193 9.326 Mit einer entsprechenden Propaganda wurde das Ehestandsdarlehen eingeführt, das einerseits die Frauen durch die Verpflichtung zur Berufsaufgabe dem Arbeitsmarkt entziehen, andererseits, da es »abgekindert« werden konnte, einen Beitrag zur Erhöhung der Geburtenrate leisten sollte.327 Die Wehrhaftmachung brachte neben der Einführung der Wehrpflicht vor allem den Ausbau der Rüstungsindustrie. Auch der Autobahnbau diente vorrangig der Kriegsvorbereitung. Für zivile Zwecke lagen die Mittel bis zum 1.9.1939 insgesamt bei etwa 7-8 Mrd. Reichsmark, für militärische Zwecke hingegen bei annähernd 60 Mrd. Reichsmark, wobei nicht immer eindeutig zwischen Arbeitsbeschaffung und 323 Diese Gesetze ermöglichten aber auch das Vorgehen gegen Gewerkschaftsfunktionäre und Arbeiterführer und das Zerstören demokratischer Einrichtungen aus der Weimarer Republik; vgl. Lampert 1983, 189; Zollitsch 1990. 324 Zu den Inhalten der Programme sowie der entsprechenden Literatur vgl. Henning 1978, 151 f.; Lampert 1983, 185 ff.; Jaeger 1988, 184 f.; Frei 1989. Auch hier wird die militärische Ausrichtung deutlich. Der Arbeitsdienst brachte allerdings keine spürbare Entlastung auf dem Arbeitsmarkt. 325 Vgl. Jaeger 1988, 190 f. 326 An den Ausbau der Reichsautobahnen war bereits 1926 gedacht worden, als eine Gesellschaft gegründet wurde (Hafraba), die die Städte Hamburg, Frankfurt a.M. und Basel auf diese Weise miteinander verbinden wollte. Eine entsprechende Gesetzesvorlage war 1930 in Vorbereitung; vgl. Haas/Kloke 1993, 49 (Zahlenmaterial). 327 In diesen Zusammenhang gehören weitere Bemühungen zur Erhöhung der Geburtenrate zur »Sicherung des Bestehens und der Vermehrung unserer Rasse und unseres Volkes«; vgl. Lampert 1983, 183; vgl. auch das Kapitel »Bevölkerungsentwicklung«.

246

III.

Untersuchungsgebiete

Aufrüstungsfinanzierung unterschieden werden kann. Viele Bereiche erfuhren daher nur eine geringe Förderung, und der Wohnungsbau ging im Vergleich zur Weimarer Zeit sogar zurück. Nicht zuletzt durch die Einführung von Wehrpflicht und Arbeitsdienst zeigten die Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung Erfolg. Im August 1935 war die Arbeitslosenquote auf 1,7 Millionen gesunken und in einigen Berufszweigen (Metallverarbeitung) bereits ein Mangel an Fachkräften eingetreten. 1937 ereichte man erstmals Vollbeschäftigung, allerdings um den Preis stagnierender Löhne, hoher Abzüge (DAF, Winterhilfswerk) und verschärfter Arbeitsbedingungen. Der wirtschaftliche Aufschwung brachte keinen breiten Wohlstand, sondern bedeutete lediglich eine Wiederangleichung des Lebensstandards nach den Krisenjahren. Die Reallöhne stiegen zwischen 1933 und 1939 um 20-25%, holten damit aber nur den Rückgang während der Weltwirtschaftskrise wieder auf; 1941 lagen sie auf dem Niveau von 1929, um anschließend wieder zu sinken.328 Die Wirtschaftsbelebung durch Neuverschuldung des Staates hatte sich als richtig erwiesen, konnte allerdings über 1937 hinaus nur durch Festlegung der Preise und Löhne neutralisiert werden. Die nationalsozialistische »Blut- und Boden-Politik« beinhaltete neben dem wirtschaftlichen Aspekt der Autarkie auch den ideologischen einer Förderung des Bauerntums; die Bauern wurden über den Reichsnährstand an die »Volksgemeinschaft« 39 Q

angeschlossen. Durch Bürokratisierung und Preisbeschränkung wurde der »idealisierte Bauer« jedoch zum reinen Produzenten. Doch konnte auch mit einer, allerdings nur kurzfristigen, Erhöhung der Beschäftigtenzahlen die landwirtschaftliche Produktion nur unwesentlich gesteigert werden, während die Einfuhr von Agrarprodukten gleichzeitig zurückging.330 Etwa 1,4 Millionen der in der Landwirtschaft Beschäftigten wechselten zu den besser bezahlten Arbeitsplätzen im expandierenden sekundären Sektor (vor allem in der Metall- und Rüstungsindustrie),-1-5der infolge des konjunk1 turellen Aufschwungs die günstigste Ausgangsbasis hatte. Die fehlenden Landarbeiter versuchte man zunächt durch Ernte- und Landeinsätze der Jugendorganisatio332 nen (HJ) auszugleichen. Metallgewerbe (Maschinenbau), Baugewerbe, Elektroindustrie und Chemische Industrie florierten, während sich die Zahl der Beschäftigten in den Industriezweigen Textil, Bekleidung, Leder sowie Holz, Druck, Papier und Bergbau gleichzeitig verringerte. Der Dienstleistungssektor begann sich durch die Erweiterung des Verkehrs-

328 Vgl. Frei 1989, 94 f. und 256 f.; Petzina 1981. 329 Vgl. Frei 1989, 92. Das Reichserbhofgesetz (29.9.1933) sollte bestehende bäuerliche Betriebe vor dem Übergang in fremde Hände schützen. Zudem sollten durch ländliche Siedlung die bäuerlichen Wirtschaften vermehrt werden, vgl. Henning 1978, 165 f. 330 Der Beginn des Zweiten Weltkriegs führte auf Grund von weltweiten Hortungskäufen und Produktionsausfällen zu einer erheblichen Lebensmittelknappheit, die fast 20 Jahre dauern sollte. 331 Zur Beschäftigung von Gefangenen und Fremdarbeitern, die, verstärkt nach Kriegsbeginn, als billige Arbeitskräfte in allen Bereichen eingesetzt wurden; vgl. das Kapitel »Bevölkerungsentwicklung«. 332 Zur Landwirtschaft im Dritten Reich vgl. Schoenbaum 1980, 196-225.

Deutsches Reich

247

netzes und des Binnen- wie Außenhandels auszudehnen. Mit dem Ausbau des Staatsund Parteiapparats wuchs die Zahl der in der Verwaltung Beschäftigten und der Wehrmachtsangehörigen (1932 145 000; 1938 1 400 000). Im Rahmen der Autarkiepolitik wurden vor allem diejenigen Branchen gefördert, mit deren Hilfe Einfuhren aus dem Ausland ersetzt werden konnten. Zugleich wurden neue Industriestandorte 333

eingerichtet. Trotz dieser Anstrengungen konnte ein Großteil des Rohstoffbedarfs nicht gedeckt werden, und mit der Rüstungspolitik nach 1936 häuften sich die ökonomischen Probleme (Engpässe, Devisenmangel). Auf eine Lösung der ökonomischen Schwierigkeiten zielte auch der »Generalplan-Ost«. Die bestehenden Zusammenschlüsse (Kartelle, Konzerne, Verbände) wurden als wichtige Ansatzpunkte für die Organisation der Industrie genutzt - ausgerichtet auf die Unterstützung der expansiven Außenpolitik. Die Verflechtung von Großwirtschaft und Staat war auch eine Folge des Zusammenbruchs der liberalen Wirtschaftsordnung Ende der 20er Jahre. Die Nationalsozialisten waren auf die zustimmende Haltung der Industrie angewiesen, gaben letztlich aber die Zielrichtung vor, während jene glaubte, Politik und Politiker für ihre eigenen Interessen einspannen zu können.334 Die auch in der Industrie vorhandenen warnenden Stimmen wurden nicht gehört. Aufrüstung und Hitlers hegemoniale Machtpolitik führten zwangsweise zur Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Bis zum Ende war auch die deutsche Industrie an Ausplünderungen und Zerstörungen, die in den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten betrieben wurde, verwickelt und daran 335

ebenso beteiligt wie am dortigen Massenmord. Neben der Beseitigung der Arbeitslosigkeit gewannen sozialpolitische Maßnahmen wie die Verbesserung der gesetzlichen Sozialversicherungen an Bedeutung. Sowohl die Versicherungsleistung als auch der Kreis der Anspruchsberechtigten erweiterten sich. Juden wurden jedoch von jedem Anspruch ausgeschlossen. Für das Handwerk wurde eine Altersfürsorge eingeführt (29.12.1939). Verbesserte Versicherungsleistungen, Winterhilfswerk, Nationalsozialistische Wohlfahrt und ähnliche Maßnahmen ließen die Zahl der von den Fürsorgeverbänden betreuten Personen von ca. 5 Millionen 1932/33 auf ca. 1,7 Millionen 1937 zurückgehen.336 Die Maßnahmen in der Jugend- und Familienpolitik, besonders im Sinne einer Steigerung der Geburtenzahlen, wurden bereits an anderer Stelle aufgezeigt.337

333 Die Industrie wurde dezentralisiert und in Mitteldeutschland, später auch in Österreich, stärker ausgebaut; vgl. Henning 1978, 157 f.; Blaich 1983. 334 Vgl. Volkmann 1981; Neebe 1983; Jaeger 1988, 181 f.; Kershaw 1989, 89-123; Frei, 1989, 86 ff. 335 Vgl. Kershaw 1989, 120. 336 Das im Winter 1933 eingerichtete »Winterhilfswerk« wurde am 1.12.1936 gesetzlich fundiert. Bereits 1933 war auch die »Nationalsozialistische Wohlfahrt e. V.« ins Leben gerufen worden; vgl. Vorländer 1986, 341-380. 337 Zu Kinderbeihilfen und Mutterkreuz, Jugendschutz und Hitlerjugend vgl. die Kapitel »Bevölkerungsentwicklung« und »Bildung, Erziehung und Gesundheit«.

248

III.

Untersuchungsgebiete

Die Sozialstrukturen hatten sich zunächst nicht grundlegend verändert, ein überraschend stabiles Aufstiegsmuster ist durchgängig erkennbar. Professoren, hohe Beamte, Unternehmer und leitende Angestellte kamen zu 60-70% aus der Mittelschicht, wobei Berufe in der Familie weitergegeben wurden.338 Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung kam es allmählich zum Zerfall traditioneller Strukturen. Die wieder oder neu erlangte existentielle Sicherheit bei der breiten Schicht der Arbeiter wog bald schwerer als der Verlust politischer Rechte.339 Einerseits beschränkte die Einführung eines Arbeitsbuchs 1935 beispielsweise die Wahl des Arbeitsplatzes, andererseits kam zu den wesentlichen Sozialleistungen der Weimarer Republik, an denen festgehalten wurde, der sozialpolitische Aktivismus hinzu. Deutsche Arbeitsfront und Vollbeschäftigung veränderten auch den Sozialtyp »Arbeiter« in Richtung auf eine konsumorientierte Gesellschaft (Frei 1989). Der nationalsozialistischen Sozial- und Gesellschaftspolitik war es gelungen, ein Gefühl sozialer Gleichheit zu verbreiten (»Volksgemeinschaft«).340 In den letzten Vorkriegsjahren war der Lebensstandard für alle größer als in der Krisenzeit vor der »Machtergreifung«. Die Sozialpolitik wurde ganz bewußt zur totalitären Manipulation eingesetzt, wenn sich in einzelnen Bereichen daraus auch eine fortschrittliche Sozialpolitik entwickelte: Arbeitserleichterungen in Betrieben, firmeneigene Sportanlagen, Aufenthaltsräume und Kantinen. Auch der Urlaubsanspruch wurde von 3 auf 6-12 Tage angehoben.341 Die Politik der Arbeitsfront war von sozialpsychologischen Erwägungen ebenso bestimmt wie von der Zielvorstellung, die Volkswirtschaft im Sinne nationalsozialistischer Ideologie zu optimieren. Bestes Beispiel dafür war die Freizeitorganisation der DAF - »Kraft durch Freude« (KdF). Durch sie bekamen bis 1939 gut 7 Millionen Menschen die Möglichkeit, günstig Urlaub zu machen; ihre Propaganda begleitete Sportwettkämpfe, Tanz- und Theaterveranstaltungen. Beide Organisationen lieferten ein beinahe flächendeckendes Freizeitangebot. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs ordnete sich die gesamte Wirtschaft den Bedingungen und Bedürfnissen des Kriegs unter. Autarkie und Aufrüstung blieben auch in den ersten Kriegsjahren wirtschaftliche Prämisse. Deutschland war daher zu Beginn des Kriegs besser vorbereitet als andere Länder und konnte zunächst auf Reserven zurückgreifen. Der Übergang zur Kriegswirtschaft erfolgte 1942. Mit der Verschlechterung der Kriegslage gewann der Arbeitseinsatz von Häftlingen aus Konzentrationslagern immer größere Bedeutung. Um die Lager bildete sich ein regelrechter Ring von Betrieben, die auf diese Weise mit billigen Arbeitskräften versorgt

338 Vgl. Petzina u. a. 1978, 93 f., 127 ff. Allerdings gab es vor allem beim Militär berufliche Aufstiegsmöglichkeiten (Luftwaffenoffizier). 339 Vgl. Frei 1989, 94 f. 340 Paradestück nationalsozialistischer Volkserziehung war der »Eintopfsonntag«, den Goebbels iniziierte (Prominente und Arbeiter); vgl. Frei 1989, 98 f. 341 Vgl. dazu und zum folgenden Frei 1989, 97; dort findet sich auch weiterführende Literatur.

Deutsches

Reich

249

wurden. Häftlinge, Fremdarbeiter und Kriegsgefangene, die oft menschenunwürdig behandelt wurden, litten am stärksten unter den Kriegsfolgen. Bereits im Sommer 1941 waren 4 Millionen Ausländer, im Sommer 1944 7,8 Millionen Fremdarbeiter (Kriegsgefangene und »Zivilarbeiter«) in Landwirtschaft und Rüstungsindustrie tätig. Sie hielten die deutsche Kriegswirtschaft in Gang.342 Diese erreichte erst im Sommer 1944 ihren Höhepunkt, während sich der militärische Zusammenbruch bereits abzeichnete und die Alliierten mit den Bombardierungen begannen. Dann wurden auch die Produktionsströme durch gezielte Luftangriffe der Alliierten unterbrochen.343

342 Vgl. Frei 1989, 156 ff.; Herbert 1986. Zum Einsatz von KZ-Häftlingen vgl. Pingel 1981. Vgl. auch das Kapitel »Bevölkerungsentwicklung«. 343 Vgl. Henning 1978, 174-183; Petzina u. a. 1978, 53.

Herrenberg

251

Zeittafel Herrenberg

1806

Württemberg wird Königreich

1809/10

Schlechte Ernten

1810

Einführung der Schulpflicht

1812

Nasses, kaltes Jahr mit Frost und Hagelschäden

1813

Viel Regen, erneute Ernteausfälle

1814

Sehr nasser Sommer

1815

Frühjahrsfrost, Brandkatastrophe in Bondorf

1816/17

Krisen- und Hungerjahr: große Nässe, Ernteausfälle, extreme Teuerung (häufige Wuchergeschäfte), Verdoppelung der Getreidepreise, Getreideimporte, Arbeitslosigkeit, erste große Auswanderungswelle

1817

Erstmals wieder gute Ernte im Sommer

1830-1834

Verteuerung der Lebenshaltungskosten

1833

Eintritt Württembergs in den Deutschen Zollverein

1837

Sehr kalter Winter

1842/43

Trockene und wasserarme Jahre

1845

Beginn einer Kartoffelkrankheit (auf ca. 10 Jahre bis zu 45% weniger Ertrag)

1845-1854

Krisenjahre, Witterungsextreme, Verteuerung, Reallohnverfall, Auswanderungen

1854

Große Hagelschäden

1856/57

Erneut Hagelschäden

1857/58

Weltwirtschaftskrise

1859

Sehr trockenes Jahr

1860

Nasses Jahr, der Hafer stand noch Ende Oktober im Feld

1862

Einführung der Gewerbefreiheit in Württemberg (1853 war Zentralstelle für Gewerbe und Handel gegründet worden); Einrichtung des Telegraphendienstes in Herrenberg

1864

Thronwechsel: auf Wilhelm I. folgt sein Sohn Karl; Deutsch-Dänischer Krieg

1865

Warmer Frühling, heißer S ommer und trockener Herbst führten zu extremen Wassermangel; Genehmigung der Eisenbahnlinie Stuttgart-Calw

1866

»Deutscher Krieg« (Württemberg auf Seiten Österreichs gegen Preußen)

1868

Hohe Ernteausfälle durch trockenen, dann gewitterreichen Sommer

1870/71

Deutsch-Französischer Krieg

1871

Eintritt in das neugegründete Deutsche Reich

1872

Einführung des metrischen Systems für Maße und Gewichte

1874

Einführung der Pocken-Impfpflicht

Herrenberg 1875/76

253

Einführung der Mark als Währung (Münzgesetz vom 9.7.1873)

1875

Einführung der »obligatorischen Zivilehe«

1879

Einweihung der Gäubahn (Baubeginn 1877)

1899

Fernsprechamt in Herrenberg (12 Teilnehmer)

Quellen: Kloke 1990, 167 f.; Ernst 1957, 426, 501; Krämer 1929, 20 f.; Oertel 1984, 4; ders. 1981, 4; v. Hippel 1984, bes. 163, 174, 184; Haug 1927, 70, 71, 88; Griesmeier 1954, 132-144.

Exkurs: Herrenberg - ein Beispiel aus Südwestdeutschland Mitte des 19. Jahrhunderts Eva Wedel-Schaper

Der ehemalige Oberamtsbezirk Herrenberg wurde von Ines E. Kloke in dem Vorgängerband »Lebenserwartungen in Deutschland vom 17. bis 19. Jahrhundert« (Imhof u. a. 1990) grundlegend und umfassend beschrieben. Ihrer Darstellung lag das ebenfalls dort abgedruckte statistische Datenmaterial für den Zeitraum von 1690 bis 1850 zugrunde.1 Für die kurze Übergangszeit bis zur Einführung der amtlichen Statistik wurden für die sechs Orte des Untersuchungsgebiets personenbezogene Daten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts aufgenommen, was die gute Qualität der Ortssippenbücher ermöglichte. An dieser Stelle soll daher ein Exkurs den Blick von den Entwicklungen im Reich auf die Kleinteiligkeit eines ländlichen Bezirks und die Lebensumstände der Dorfbewohner lenken. Da die Daten für die letzten Dekaden von geringem Umfang sind, relativiert sich ihre Aussagekraft, und ihre Auswertung läßt allenfalls Trends erkennen.2 Die folgenden Ausführungen zur Auswanderung wie zur Wirtschaft im Übergang von einem agrarischen zu einem agrarisch-industriell strukturierten Land ergänzen die Gebietsbeschreibung Klokes und führen sie weiter. Ihre Beschreibung sollte jedoch stets zum Verständnis herangezogen werden.

Die Orte des Untersuchungsraums Als Eckdaten seien hier - neben Karte und Zeittafel - knappe statistische Angaben zu den Orten des Untersuchungsraums vorweggeschickt:3

1

Ausführungen zum Untersuchungsgebiet Herrenberg: 161-172; Dokumentation: 375-410. Herrenberg ist in diesem Band die einzige Region, deren Datenmaterial auf Ortssippenbüchern basiert, und auch das nur für wenige Jahrzehnte. Auf Einzelpersonen bezogene Daten liegen, abgesehen von den sechs Orten zweier Standesamtsbezirke im Saarland und in Ostfriesland, nicht vor. Ihre Auswertung im Kontext weiterer Quellen steht noch aus.

2

Vgl. den Beitrag von Kamke sowie den Dokumentationsteil in diesem Band. Die neuesten Forschungen zu Lebensbedingungen und -strukturen in den genannten Dörfern bis um 1830 bei Maisch 1992 (ausführt. Quellen- und Datenmaterial).

3

Vgl. Kloke 1990, 168, Anm. 30, 169-172; Ergänzungsband II 1898, 70, 76 (Stand der ortsanwesenden Bevölkerung am 15.12.1834 und 2.12.1895). Das Ortssippenbuch von Unteijettingen wurde von Ernst Christian Haag (1985), die übrigen Bände von Burkhart Oertel (1980, 1981, 1983 und 1984) bearbeitet und herausgegeben. Das bereits im Jahre 1939 von Karl Brezing verfaßte Dorfsippenbuch von Oschelbronn erschien 1963 in überarbeiteter Version.

256

III.

Untersuchungsgebiete

1821

1834

1855

1862

1871

1895

Bondorf

1232

1262

1441 (1757 ha)

1178

1362

1652 (1759 ha)

Mötzingen

935

961

960 (813 ha)

844

972

1137 (814 ha)

Nebringen

330

407

411 (517 ha)

477

507

603 (517 ha)

Oschelbronn

699

816

886 (842 ha)

821

841

1019 (842 ha)

Tailfingen

595

595

672 (656 ha)

604

635

701 (657 ha)

Unterjettingen

711*

867

1271 (757 ha)

899

904

1115(1057 ha)

ohne Sindlingen

Die Orte des Untersuchungsraums: Einwohner und Gemarkung in Hektar (ha) Entwicklungen und Krisen des beginnenden 19. Jahrhunderts blieben in ihren Nachwirkungen noch bis über die Jahrhundertmitte hinaus spürbar. Den Ausführungen Klokes ist zu entnehmen, daß sich auch das Untersuchungsgebiet Herrenberg auf Grund seiner landwirtschaftlichen Struktur in einem labilen Gleichgewicht befand, stark betroffen von regionalen und »epochalen« Agrar- und Hungerkrisen, erneut in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Zu kurz war die folgende Phase der Stabilisierung, so daß das Krisenjahrzehnt 1846-1855 in seinen Auswirkungen nur sehr langsam überwunden werden konnte. Extreme Witterungsverhältnisse, jahrelanger Schädlingsbefall und Kartoffelkrankheit führten zu Mißernten und Teuerung. Kleie wurde zu Brot »erwogen«, Buchweizen und Welschkorn (Mais) wurden eingeführt. Der Verfall der Bodenpreise und daraus folgende Versteigerungen (Gantfälle) zogen Verarmung nach sich. Mit Suppenküchen und Armenhäusern - wie 1865 in Oschelbronn - versuchte man, dem Elend zu begegnen.4 Die Zahl der Auswanderungen stieg nach den ersten Spitzen in den Jahren 1817 und 1831/32 erneut sprunghaft an. Erst gegen Ende des Jahrhunderts machte sich im Zuge der Industrialisierung ein kontinuierlicher wirtschaftlicher Aufschwung bemerkbar.

Bevölkerung, Landwirtschaft und Gewerbe vor der Jahrhundertmitte In Realteilungsgebieten war die Agrarstruktur überwiegend von Kleinbetrieben geprägt. Auch im Oberamt Harenberg standen ca. 60-70% der Betriebe weniger als 1,6 ha Nutzfläche zur Verfügung. Die Familien konnten sich ohne Neben- oder Zuerwerb kaum ernähren (82% Teillandwirte).5 Die Möglichkeiten, ein Handwerk auszuüben oder Kleingewerbe zu betreiben, waren eingeschränkt und indirekt von der Landwirt-

4

Vgl. Haug 1927, 70, 82.

5

Vgl. v. Hippel 1984, 160, 164 f. Zu Betriebsgrößen vgl. Kloke 1990, 165, Anm. 20. Nach Heitz 1883 hatten 84% der Betriebe weniger als 5 ha Nutzfläche.

Exkurs: Herrenberg

257

schaft abhängig; sie boten somit keinen ökonomischen Risikoausgleich. Textilverarbeitende Hausindustrie, die vor allem von der Arbeitskraft der Frauen und Kinder getragen wurde und wenig einbrachte, war verbreitet. So gab es beispielsweise in Oschelbronn um 1861 elf Webstühle.6 Schlechte Absatzmöglichkeiten, besonders das geringe Angebot an Märkten im näheren Umkreis, wiesen dem Handwerk nur lokale Bedeutung zu. Viele Kleinhandwerker lebten am Rande des Existenzminimums. 7 Etliche von ihnen hatte die Agrarkrise zum Ausweichen auf Kleingewerbe gezwungen, mit der Konsequenz eines erhöhten Warenangebots und fallender Preise. Die so entstandene gewerbliche Übergangskrise erreichte Anfang der 50er Jahre ihren Höhepunkt. Die Zahl der Bankrotte und der Almosenempfänger schnellte beinahe überall nach oben, die Auswanderungen nahmen Züge einer Massenflucht an. Unter den Auswanderern finden sich neben einer Vielzahl von ungelernten »Tagelöhnern« nun auch Handwerker wie »Maurer« oder »Schreiner«, »Bauern« und Vertreter anderer traditioneller Berufe. 8 Der Hinweis in einer Beschreibung Tailfingens aus dem Jahr 1855, es habe seit 40 Jahren keinen Konkurs gegeben, ist anzuzweifeln. Karl Haug spricht für dieselbe Zeit von zahlreichen Vergantungen in Oschelbronn. Für das gesamte Gebiet kann wohl von einer mittleren Intensität an Konkursen ausgegangen werden. 9 Der Aufschwung durch die 1862 eingeführte Gewerbefreiheit brachte zunächst auch im handwerklichen Bereich eine Entspannung, führte aber in vielen Fällen durch Fehleinschätzung der eigenen Mittel zu erneuten Konkursen. Ein Konjunkturanstieg sollte sich erst in den 1880er Jahren bemerkbar machen.

Die Auswanderungen Das Gäu zählte um die Jahrhundertmitte mit einer Bevölkerungsdichte von 6499 Einwohnern pro qkm zu den am stärksten bevölkerten Gebieten in Deutschland. Obgleich beim Geburtenüberschuß nur ein geringer Rückgang zu verzeichnen ist,10 läßt sich eine kontinuierliche Abnahme des Bevölkerungswachstums feststellen - eine Diskrepanz, die sich aus der starken Migration ergibt.11

6

Vgl. Haug 1927, 86.

7

Vgl. v. Hippel 1984, 169; Kaschuba/Lipp 1979, 23; Kloke 1990, 166, Anm. 27.

8

Vgl. die Auswanderer aus Mötzigen (Oertel 1984). Es ist anzunehmen, daß viele von ihnen gewerbliche und landwirtschaftliche Teilbeschäftigung miteinander verbanden, auch wenn in der Regel bei der Auswanderung nur ein einziger Beruf angegeben wird; vgl. v. Hippel 1980, 207.

9

Vgl. Haug 1927, 70-71; Oertel 1984, 4; v. Hippel 1984, 189; allg. Boelcke 1989, 155.

10 Für Herrenberg kamen im Jahr 1871 auf 1000 Einwohner 40 Geburten; vgl. Haug 1927, 90. 11 Zum natürlichen Bevölkerungszuwachs vgl. Megerle 1982, 231 f.; zur Bevölkerungsentwicklung vgl. Kloke 1990, 16; für Württemberg vgl. v. Hippel 1980, 200 f.

258

III.

Untersuchungsgebiete

Bei der hohen Bevölkerungsdichte und der aufgezeigten Agrarstruktur nimmt es nicht wunder, daß die württembergischen Auswanderungszahlen weit über den gesamtdeutschen Durchschnittswerten liegen. Gemäß den offiziellen Zahlen, die von den tatsächlichen stets um einiges überschritten wurden, ebbte die Auswanderungswelle bis zur Jahrhundertwende nicht ab. Nach der Hungerkrise von 1816/17 auf ihrem Höhepunkt, hatte sie sich, abgesehen von einer Spitze 1831/32, bis 1846 in relativ bescheidenen Grenzen gehalten. Die Auswanderungsziele verschoben sich von Nordeuropa, Rußland und Österreich ab 1830 zunehmend nach Nordamerika, allerdings abgeschwächt zur Zeit der Sezessionskriege 1861-1865. Die Altersstruktur differierte nach Phasen und Auswanderungsland. Bei der sogenannten Binnenwanderung innerhalb des Deutschen Bundes, besonders in die Nachbarländer Baden und Bayern, lag das Alter höher als bei der Überseeauswanderung.12 Die Auswanderungsspitze in den Jahren 1846-1855 ist als kumulative Reaktion auf die Krisenjahre zu sehen, als ein Versuch, den über lange Jahre schwierigen und wenig Änderung verheißenden Existenzbedingungen zu entgehen. Im Verhältnis zum übrigen Deutschland blieb die Wanderungsbilanz im süddeutschen Raum insgesamt relativ hoch. Für das Oberamt Herrenberg lag sie für die Jahre 1813-1867 und 18561895 bei 5-7,4 %0 jährliche Abwanderung der mittleren Bevölkerung. Mit der ersten Welle um 1817 wanderten meist ganze Familien aus, oder die Familienangehörigen folgten den vorausgezogenen Vätern nach. Aus den Ortssippenbüchern der genannten Gemeinden läßt sich erschließen, daß die Emigration häufig im Familienverband geschah, entsprechend auch im Freundes- und Nachbarschaftsverband, worauf Altersstruktur und Heiratskreise hindeuten.13 Bei den inoffiziellen Auswanderungen, deren Zahl weit höher lag, als die offizielle Statistik ausweist, überwogen die jungen ledigen Männer.14 Darauf läßt auch der wachsende Frauenüberschuß in der Bevölkerung schließen. So kamen 1858/60 bei den 25-39jährigen 125 Frauen auf 100 Männer.15 Das Krisenjahrzehnt 1846-1855 markiert einen Einschnitt. Die Auswanderungszahlen stiegen und es vollzog sich ein Übergang von Familien- zu Einzelwanderung. Auch in den offiziellen Statistiken erscheinen nun mehr ledige Einzelpersonen. Auffällig ist die Auswanderung von ledigen Frauen und Frauen mit Kindern, was auch das Ortssippenbuch von Mötzingen für das Jahr 1852 belegt. Sie konnten in Nordamerika auf einen besseren Heiratsmarkt hoffen. Die Altersstruktur zeigt, daß die Wanderungsbereitschaft mit Abnahme der Heiratschancen zunahm, wozu unter ande-

12 Vgl. v. Hippel 1980, 206; allg. Bade 1983, 17-28; Moltmann 1979 (Dokumentation). 13 Für Mötzingen läßt sich dieses unter anderem bei den Familien Hiller und Kussmaul feststellen. 14 Meist ohne Vermögen oder Land hatten sie wenig zu verlieren und konnten sich leicht absetzen. Die Flucht vor dem Militärdienst wie politisch oder religiös motivierte Auswanderung scheinen nur eine geringe Rolle gespielt zu haben. 15 Vgl. v.Hippel 1984, 198.

Exkurs: Herrenberg

259

rem die amtliche Erschwernis der bürgerlichen Niederlassung und Verehelichung aus dem Jahr 1852 beitrug.16 Der Auswanderungswunsch wurde vereinzelt von den Gemeinden gefördert, die dem wachsenden sozialen Druck ein Ventil schaffen wollten.17 Aus Mötzingen sind von 1817 bis 1882 allem Anschein nach 459 Personen nach Amerika ausgewandert. 18 Auch als das Krisenjahrzehnt vorüber war, bewegten sich bis 1871 die Zahlen insgesamt im Durchschnitt weiterhin signifikant über den Werten der ersten Jahrhunderthälfte. Die sozioökonomischen Verhältnisse, die zur Auswanderung führten, haben sich, wie die Zahlen zeigen, nur langsam gewandelt.

Landwirtschaft und Industrialisierung nach der Jahrhundertmitte Im agrarisch strukturierten Untersuchungsgebiet Herrenberg machten sich die vielfältigen Veränderungen in der Landwirtschaft unterschiedlich dynamisch bemerkbar. Die in Württemberg zunächst zögerlich voranschreitende Industrialisierung mit verbesserten Verkehrsverbindungen (Chausseen, Eisenbahn) und damit auch Handelsbedingungen wirkte sich erst mit der Zeit auf die ländlichen Regionen aus. Selbst wenn die meisten Gäuorte wegen ihrer günstigen klimatischen Verhältnisse und dem fruchtbaren Boden als wohlhabend galten, war durch Betriebsgrößen und Gewerbestruktur stets eine höhere Krisenanfälligkeit gegeben. Die Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion, Fruchtwechselwirtschaft, Kartoffel-, Rüben- und Hopfenanbau, künstliche Bodendüngung, Stallviehhaltung sowie technische Neuerungen griffen nur sehr langsam. Von Information und Aufnahmebereitschaft abgesehen, setzte dieses Investitionen voraus, die stark von der individuellen Finanzkraft abhingen und für Kleinbetriebe, die jede vermeintlich unnötige oder in ihrem Erfolg unsicher erscheinende Ausgabe vermeiden mußten, oft nicht möglich waren. Als hilfreich bei der Modernisierung erwies sich langfristig das landwirtschaftliche Verbandswesen 19 wie auch das Bemühen von staatlicher Seite, den Kenntnisstand der Bevölkerung durch landwirtschaftliche und gewerblich-technische Aus- und Weiterbildung zu fördern.

16 Vgl. v. Hippel 1984, 219; v. Hippel 1980, 214, Anm. 4: Abdruck der Gesetzesnovelle und Rümelin 1926, 12-31, bes. 18 f.; Matz 1980. Zudem war allmählich bekannt geworden, daß man in den Vereinigten Staaten bessere Löhne für Dienstpersonal zahlte. 17 Ernst (1957, 501) erwähnt für eine Nachbargemeinde, daß im Jahr 1852 69 Personen nach Amerika auswanderten: 64 gänzlich auf Kosten der Gemeinde, 5 erhielten einen Zuschuß. Ähnlich Hang (1927, 85) für Oschelbronn. Nach v. Hippel (1980, 213) ist dieses als bemerkenswerte Randerscheinung zu werten, die nur für wenige Jahre Bedeutung hatte. 18 Einwohnerbewegung: 1835 1026; 1855 960; 1861 884; 1871 972; vgl. Oertel 1984, 4. Zu Quellen der Oberamtsbeschreibungen usw. vgl. Kloke 1990, 168, Anm. 30. 19 Vgl. Boelcke 1989, 121.

260

III.

Untersuchungsgebiete

Der Übergang von der Weide- zur Stallwirtschaft wurde anfangs nur widerstrebend angenommen, und trotz der staatlichen Förderungsmaßnahmen erhöhte sich der Nutzviehbestand, besonders an Rindvieh, nur allmählich.20 Der Fortschritt in der Landwirtschaftstechnik brachte mit der Zeit höhere Erträge, zog aber einen schwindenden Bedarf besonders an ungelernten Arbeitskräften nach sich. Diese wurden fast nur noch zu Spitzenzeiten (Ernte) und auch dann in geringerer Zahl benötigt. Folgen waren die Abwanderung in andere Berufszweige, Aus- und Binnenwanderung und verstärkt - seit der Eisenbahnanbindung - Pendlerwanderung in die umliegenden anwachsenden Städte und Industrieansiedlungen. Dort war der Bedarf an Arbeitskräften in gleichem Maße gestiegen. Mit Beginn der 1860er Jahre wurden erstmals wieder zufriedenstellende landwirtschaftliche Durchschnittserträge im Oberamt Herrenberg erzielt. Neben den gebietsweise guten Getreideerträgen spielte der Kartoffelertrag zunächst eine geringere Rolle, nicht zuletzt wegen der seit 1845 hartnäckig auftretenden Kartoffelkrankheit.21 Gegenüber dem Brotgetreideanbau - der anspruchslosere Dinkel wurde zunehmend durch Weizen ersetzt - gewann in der zweiten Jahrhunderthälfte der arbeitsintensivere Anbau von Handelsgewächsen an Bedeutung (Hanf in Bondorf, Rüben besonders in Jettingen, Hopfen in Tailfingen und Bondorf). Diese Entwicklung war nicht unproblematisch, verschlechterte sich dadurch doch die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln. Zudem war der Handelsgewächsanbau durch wechselndes Marktgeschehen äußerst risikoreich. Ein enormer Anstieg ist beim Rübenanbau zu verzeichnen, dessen Florieren durch die Wechselwirkung von Landwirtschaft und Industrie (Zucker) gefördert wurde (Ausdehnung der Anbaufläche bis 1912 auf 4271 ha). Rübensteuer und »Steuerprämien« steigerten die Produktivität, zuckerverarbeitende Industrien (Schokolade, Konserven) entstanden im Umfeld. Ab 1864 war der Binnenmarkt übersättigt, und erst die 1869 hochgesetzte Steuerrückvergütung für Exportzucker öffnete dem südwestdeutschen Zucker den Weltmarkt. Die Konkurrenz mit dem Rohrzucker begann. Auch beim Hopfen zeigt sich das Ineinandergreifen von Landwirtschaft und beginnender Industrialisierung. Die Zunahme des Hopfenanbaus hängt eng mit den Neuerungen im Brauwesen zusammen. In Württemberg stieg die Zahl der Brauereien bereits von 1828/33 bis 1861/71 um 47%.22 In den 80er Jahren kam es durch Carl v.

20 Brachumbruch wurde durch Klee und Esper ersetzt; vgl. Haug 1927, 69; Boelcke 1987, 172. Mit in Betracht zu ziehen sind auch die sich verändernden Nahrungsgewohnheiten. Durch den steigenden Volkswohlstand stieg der Verbrauch an höherwertigen Lebensmitteln und damit auch an Milchprodukten und Fleisch. Zwischen 1870 und 1910 stieg der Verbrauch an Fleisch, Zucker, Bier und Kaffee erheblich; vgl. Born 1985, 29; Hohorst u. a. 1978, 97 f. 21 Vgl. v. Hippel 1984, 159, 184; Megerle 1982, 230. Insgesamt gesehen weitete sich auch in Württemberg das Brau- und Brennereigewerbe (Kartoffeln, Getreide) aus. Bereits um 1846 wurden 7707 Brauereien, allerdings nur 14 Destillen gezählt; vgl. Müller 1979, 235-243. Zum Handelsgewächsbau vgl. Boelcke 1989, 57. 22 Vgl. Boelcke 1987, 223. Der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch an Bier stieg von 45 Litern (1828) auf 197,8 Liter (1897), also um 435%.

Exkurs: Herrenberg

261

Lindes Erfindung der Kältemaschine (1874) zu einer technischen Revolution. Brauen war nun im Großbetrieb möglich, was den Hopfenumsatz förderte, im Gegenzug aber viele »Kleinbrauer« vom Markt verdrängte. Württemberg produzierte nach Bayern den meisten Hopfen im Reich. Die hohe Arbeitsintensität bei sehr schwankenden Erträgen konnte letztlich allerdings auch durch staatliche Subventionierung nicht aufgefangen werden. Als die Weltmarktpreise Ende des 19. Jahrhunderts - nicht zuletzt durch eine verbesserte Brautechnik - sanken, wurde der Hopfenanbau von vielen Betrieben wieder aufgegeben. 23 Zur Steigerung der Erträge kam die Ausweitung des Vertriebsnetzes. Die durch den Ausbau von Straßen und Chausseen verbesserte Infrastruktur schuf einen größeren Absatzmarkt für die in der Region produzierten Güter. Diese Entwicklung hatte aber ihre negativen Auswirkungen, da durch ausländische Importe von Getreide die Preise sanken. Besonders die Inbetriebnahme der Eisenbahnlinie Stuttgart - Esslingen - Freudenstadt - Horb eröffnete ab 1879 dem Güteraustausch auch über die Region hinaus neue Möglichkeiten. 24 Für Orte mit eigener Bahnstation wie Nebringen bedeutete dieses insgesamt durchaus einen wirtschaftlichen Aufschwung. 25 Während die Kriege von 1864 und 1866 (Württemberg auf Seiten Österreichs gegen Preußen) sowie 1870/71 die Region nur indirekt berührt hatten,26 bildete nach dem Thronwechsel von 1864 die Gründung des Deutschen Reichs die tiefste Zäsur in Verfassung und Verwaltung des südwestdeutschen Staates. Der Eintritt ins Reich bedeutete für Württemberg einen deutlichen Souveränitätsverlust, obwohl die Reichsverfassung föderalen Charakter hatte und Sonderrechte bei den Einzelstaaten verblieben. Die zunehmende politische, wirtschaftliche und soziale Vereinheitlichung Deutschlands wirkte auch auf Württemberg in unitarisierendem Sinn.27 Mit der Einführung einheitlicher Gewichts-, Maß- und Münzeinheiten sowie der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung veränderten sich auch im Untersuchungsgebiet die Strukturen. Zu den Verbesserungen des Schul- und Ausbildungswesens, einer Begrenzung der Arbeitszeit für Kinder, später auch der allgemeinen Arbeitszeitregelung und den Verbesserungen im Gesundheitswesen kamen Fortschritte in Wissenschaft, Technik und Medizin.

23

Vgl. Boelcke 1987, 219. Die Kunst des Bierbrauens gelangte nicht zuletzt mit südwestdeutschen Auswanderern nach Amerika. Die Anbauzahlen für das Oberamt Herrenberg sind nicht in allen Bereichen zuverlässig; vgl. Heitz 1883, 226-229.

24

Vgl. Krämer 1929, 21. Von 1865 bis 1872 wurde das Eisenbahnnetz in Württemberg um 565 km erweitert; vgl. Mann/Nüske 1984, 739.

25

Vgl. Haug 1927, 71, 88. Den Berichten des Innenministeriums über die wirtschaftlichen Auswirkungen des Eisenbahnbaus ist zu entnehmen, daß der Ertrag der an Eisenbahnlinien gelegenen Betrieben stieg und zumindest deren äußerlich erkennbare Betriebsanlagen an Umfang zunahmen; vgl. Schremmer 1974, 686.

26 Aus Mötzingen kamen beispiels weise alle Kriegsteilnehmer unversehrt zurück; vgl. Oertel 1984, 4, 30. 27

Vgl. Mann/Nüske 1984, 741.

262

III.

Untersuchungsgebiete

Die Einbindung in den größeren Rahmen der Wirtschaft des Reichs war bereits durch den Zollverein vorgezeichnet. Durch nationale wie internationale Verkehrsverbindungen, neue Technologien und die Verknüpfung der Märkte blieb die Wirtschaft weiterhin krisenanfällig, abhängig von kontinentalen und Weltwirtschaftskrisen. Der 1871 einsetzende wirtschaftliche Aufschwung mit seinen konjunkturellen Einbrüchen sollte allerdings für weitgehend agrarisch strukturierte Regionen wie die des Oberamts Herrenberg nicht überbewertet werden. Ein Konjunkturanstieg machte sich hier erst in den 1890er Jahren bemerkbar. Die Textilverarbeitung (bes. Leinen), die sich mit der Metallverarbeitung zu einer der wichtigsten Industrien in Württemberg entwickelte, steckte in der Krise. Erst Bismarcks Schutzzollpolitik brachte eine langsame Besserung. Diese war auch für die Landwirtschaft von Bedeutung, selbst wenn sie, durch zu niedrig angesetzte Zölle, gegen die billigen ausländischen Getreideinporte anfangs wenig ausrichten konnte. Erst als 1887 die Zölle um das Fünffache angehoben wurden, begannen sie sich langsam positiv auf die Ertragslage auszuwirken, was man auch in Herrenberg 28

an den Preisen spürte. Besonders die Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung des Kaiserreichs veränderte im Laufe von Jahrzehnten nachhaltig die Rahmenbedingungen der Wirtschaftsprozesse. Die Einbindung der südwestdeutschen Staaten ins Reich verlieh ihnen insgesamt mehr innenpolitische Stabilität in Verbindung mit gleichzeitiger Wohlstandsmehrung.29

28

Vgl. Griesmeier 1954, 145. Zur konjunkturellen Lage vgl. Borcherdt 1985, 272.

29

Auf diesen Prozeß wurde bereits in den vorangegangenen Kapiteln eingegangen; vgl. Boelcke, 1989, 193; Mann/Nüske 1984.

BRD/DDR

263

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Tschechische Republik

Bayern , Frankreich ^ / Württemberg • Schweiz

Österreich

BRD

E M DDR

Zeittafeln für Deutschland nach 1945 BRD

5.6.1945

Berliner Erklärung der vier Besatzungsmächte Frankreich, Großbritannien, UdSSR und USA zur Übernahme der Regierungsgewalt in Deutschland (Alliierter Kontrollrat); Einteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen, Vier-Mächte-Status von Berlin

17.7.-2.8.1945

Potsdamer Konferenz (USA, UdSSR und GB)

ab 20.11.1945

Nürnberger Kriegs Verbrecherprozesse

22.12.1946

Ausgliederung des Saargebiets aus der französischen Zone

1.1.1947

Wirtschaftliche Vereinigung der US-Zone und der britischen Zone zur Bizone

5.6.1947

Verkündung des Marshall-Plans

17.3.1948

Erweiterung der Bizone um die französische Besatzungszone zur Trizone

19.3.1948

Auszug der UdSSR aus dem Alliierten Kontrollrat

21.6.1948

Währungsreform in den Westzonen

24.6.1948

Beginn der Berlin-Blockade (bis 12.5.1949)

4.4.1949

Gründung der NATO

23.5.1949

Verkündung des Grundgesetzes; Gründung der BRD

7.9.1949

Konstituierung des Bundestags und Bundesrats

15.9.1949

Wahl Konrad Adenauers zum Bundeskanzler

21.9.1949

Besatzungsstatut für die Bundesrepublik Deutschland tritt in Kraft (Beendigung der Militärregierung)

1.5.1950

Aufhebung der Lebensmittelrationierung

28.3.1950

Bundestag verabschiedet erstes Gesetz über den Sozialen Wohnungsbau

18.4.1951

Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl

26.5.1952

Deutschlandvertrag der Bundesrepublik mit den Westmächten

27.5.1952

Beitritt der Bundesrepublik zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft

1.9.1952

Inkrafttreten des Gesetzes über den Lastenausgleich

19.3.1953

Bundestag ratifiziert Deutschland- und EVG-Vertrag

5.5.1955

Bundestag ratifiziert »Pariser Verträge«

9.5.1955

Bundesrepublik wird NATO-Mitglied

1.1.1957

Politische Eingliederung des Saargebiets in die BRD

21.1.1957

Bundestag verabschiedet Gesetz über Rentenreform (»Dynamische Rente«)

25.3.1957

Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM); Inkrafttreten der Verträge am 1.1.1958.

4.5.1961

Bundestag billigt Sozialhilfegesetz (30.6. Verabschiedung)

13.8.1961

Errichtung der Berliner Mauer

Oktober 1963

Rücktritt Adenauers, 16.10. Wahl Ludwig Erhards zum Bundeskanzler

266

III.

Untersuchungsgebiete

17.12.1963

Berliner Passierscheinabkommen

19.3.1964

Länderministerpräsidenten beschließen Gründung der Universitäten Bochum, Bremen, Konstanz, Regensburg und TH Dortmund

1.12.1966

Wahl Kurt Georg Kiesingers zum Bundeskanzler (Große Koalition)

14.2.1967

Vertreter von Staat, Tarifpartnern und Wissenschaft beschließen »Konzertierte Aktion«

Herbst 1967

Bildung einer Außerparlamentarischen Opposition (APO)

30.5.1968

Verabschiedung der Notstandsgesetze

21.10.1969

Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler

19.3.1970

Brandt und Willi Stoph trefen sich zu Gesprächen in Erfurt

18.6.1970

Herabsetzung des Wahlalters von 21 auf 18 Jahre

7.12.1970

Unterzeichnung des Warschauer Vertrags

3.9.1971

Vier-Mächte-Abkommen über Berlin

17.12.1971

Transitabkommen mit der DDR

17.5.1972

Bundestag stimmt den Ostverträgen zu

26.5.1972

Verkehrsvertrag zwischen der BRD und der DDR unterzeichnet

21.6.1973

Inkrafttreten des Grundlagenvertrags (21.12.1972 Unterzeichnung)

18.9.1973

Aufnahme der BRD und der DDR in die UNO

22.3.1974

Herabsetzung der Volljährigkeit auf 18 Jahre

16.5.1974

Wahl Helmut Schmidts zum Bundeskanzler

25.2.1975

Bundesverfassungsgericht erklärt Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs für verfassungswidrig

13.10.1976

Demonstrationen beim geplanten Atomkraftwerk Brokdorf

1977

Terrormorde durch die »Rote Armee Fraktion«

17.2.1978

Antiterrorismusgesetz verabschiedet

8.6.1978

Aufhebung der dynamischen Rentenanpassung

12.12.1979

NATO-Doppelbeschluß

1981

Zuhnehmende Arbeitslosigkeit und steigende Asylantenzahlen

1.10.1982

Helmut Kohl wird nach einem konstruktiven Mißtrauensvotum zum Bundeskanzler gewählt

26.9.1985

CDU, SPD und FDP verabschieden das geänderte Gesetz über die Volkszählung

1986

Wachsender Zustrom von deutschstämmigen Aussiedlern aus den Ostblockländern und von Asylbewerbern

26.4.1986

Reaktorunfall in Tschernobyl

I.11.1986

Beginn der Giftkatastrophe im Rhein

II.12.1986

Verabschiedung des Strahlenschutzgesetzes

8.5.1987

Einsetzung einer AIDS-Enquete-Kommission des Bundestags

26.2.1988

Verkürzung der Wochenarbeitszeit in der Metallindustrie von 38 auf 36,5 Stunden bei vollem Lohnausgleich

30.8-2.9.1988

SPD-Parteitag beschließt Quotenregelung für Frauen

1.7.1990

Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit der DDR

31.8.1990

Unterzeichnung des Einigungsvertrags

3.10.1990

Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Art. 23 Grundgesetz

DDR

5.6.1945

Berliner Erklärung der vier Besatzungsmächte Frankreich, Großbritannien, UdSSR und USA zur Übernahme der Regierungsgewalt in Deutschland (Alliierter Kontrollrat); Einteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen, Vier-Mächte-Status von Berlin

9.6.1945

Bildung der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD)

bis 1.7.1949

Rückzug der Westalliierten aus Mecklenburg, Thüringen und Sachsen

17.7.-2.8.1945

Potsdamer Konferenz (USA, UdSSR und GB)

21.4.1946

Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED

21.7.1947

Nach der Auflösung Preußens werden die Provinzen Brandenburg und Sachsen-Anhalt zu Ländern erklärt

9.3.1948

Deutsche Wirtschaftskommission (DWK) übernimmt die zentrale Lenkung und Leitung der Wirtschaft in der SBZ

19.3.1948

Die sowjetischen Vertreter verlassen den Alliierten Kontrollrat

24.6.1948

Beginn der Berlin-Blockade

7.10.1949

Gründung der Deutschen Demokratischen Republik

8.2.1950

Bildung des Ministeriums für Staatssicherheit

6.6.1950

DDR erkennt die Oder-Neiße-Linie als Friedens- und Freundschaftsgrenze an

29.9.1950

DDR wird in den Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW, Comecon) aufgenommen

8.10.1951

Aufhebung der Rationierung aller Produkte bis auf Fleisch, Fett und Zucker

26.5.1952

DDR errichtet die 5-km-Sperrzone

9.-12.7.1952

Zweite Parteikonferenz der SED beschließt »Planmäßige Errichtung der Grundlagen des Sozialismus in der DDR«

23.7.1952

Gesetz über die »Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe« sowie die Aufteilung der Länder in 14 Bezirke und 217 Kreise

17.6.1953

Arbeiteraufstand zunächst in Ost-Berlin, Niederschlagung durch sowjetisches Militär

11.-14.5.1955

Warschauer Pakt Vertrag abgeschlossen

20.9.1955

DDR erhält Souveränität

18.1.1956

Gesetz über den Aufbau der Nationalen Volksarmee

29.5.1958

Abschaffung der Lebensmittelkarten

10.11.1958

Chruschtschow verkündet Berlin-Ultimatum

10.2.1960

Die Volkskammer beschließt das Gesetz über die Bildung des Nationalen Verteidigungsrates

29.8.1960

DDR schränkt Verkehr zwischen West- und Ost-Berlin ein

12.9.1960

Nach Wilhelm Piecks Tod wird der Staatsrat mit dem Vorsitzenden Walter Ulbricht konstituiert

13.8.1961

Errichtung der Berliner Mauer

268 24.1.1962

III.

Untersuchungsgebiete

Die Volkskammer beschließt das Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht

17.12.1963

Berliner Passierscheinabkommen für Verwandtenbesuche in Ost-Berlin

12.6.1964

Freundschafts- und Beistandsvertrag zwischen UdSSR und DDR

24.9.1964

Nach dem Tod Otto Grotewohls wird Willi Stoph Vorsitzender des Ministerrats und stellevertretender Vorsitzender des Staatsrats

25.11.1964

DDR-Regierung setzt den Zwangsumtausch von DM-Beträgen für Reisende aus Westdeutschland und West-Berlin sowie allen nicht sozialistischen Ländern fest

20.2.1967

Gesetz über die Staatsbürgerschaft der DDR wird beschlossen

28.8.1967

Einführung der 5-Tage-Arbeitswoche

9.4.1968

Neue Verfassung der DDR tritt in Kraft

20./21.8.1968

Besetzung der CSSR durch Truppen des Warschauer Pakts

19.3.1970

Brandt und Stoph treffen sich zu Gesprächen in Erfurt

16.9.1970

Gesetz über die Zivilverteidigung

1.1.1971

Volkszählung

I.3.1971

Erhöhung der Mindestlöhne und Mindestrenten

3.5.1971

Ulbricht wird aus »Altersgründen« von der Funktion des ersten Sekretärs der SED entbunden; Nachfolger wird Erich Honecker

3.9.1971

Vier-Mächte-Abkommen über Berlin

17.12.1971

Transitabkommen mitderBRD

26.5.1972

Verkehrs vertrag zwischen der BRD und der DDR unterzeichnet

21.12.1972

Grundlagenvertrag unterzeichnet

18.9.1973

DDR und BRD werden Mitglied der UNO

14.3.1974

Protokoll über die Errichtung ständiger Vertretungen unterzeichnet

7.10.1974

Revision der DDR-Verfassung

18.12.1975

Einrichtung ständiger Vertretungen

29.7.1976

»Zweite Verordnung über die Gewährung und Berechnung von Renten der Sozialversicherung« beschlossen

18.3.1980

Politbürobeschluß über die »Aufgaben der Universitäten und Hochschulen in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft«

9.10.1980

DDR erhöht Mindestumtauschsätze

II.12.13.12.1981

Helmut Schmidt trifft sich zu Gesprächen mit Erich Honecker

25.3.1982

Volkskammer verabschiedet Wehrdienstgesetz: vormilitärische Ausbildung Jugendlicher und - im Verteidigungsfall - allgemeine Wehrpflicht der Frauen

6.5.1986

Unterzeichnung des Kulturabkommens

Mai 1989

Kommunalwahlen, Verdacht auf Wahlfälschung, öffentliche Demonstrationen

18.10.1989

Entmachtung Honeckers; Egon Krenz übernimmt die Regierungsverantwortung

9.11.1989

Öffnung der Grenzen

1.7.1990

Währungs- .Wirtschafte- und Sozialunion mit der BRD

31.8.1990

Unterzeichnung des EinigungsVertrags

3.10.1990

Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Art. 23 Grundgesetz

Deutschland nach 1945 - zwei Modelle Eva Wedel-Schaper

Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik Grundzüge der politischen Entwicklungen1 Der Zweite Weltkrieg war der bislang verheerendste Krieg überhaupt mit hohen Schäden und enormen Verlusten - nach Schätzungen ca. 55 Millionen Toten, 35 Millionen Verwundeten und 3 Millionen Vermißten. Nie zuvor gab es so viele Opfer unter der Zivilbevölkerung (Luftangriffe, Partisanenkämpfe, Flucht, Deportation, Konzentrationslager, Massenvernichtung), insgesamt dürften ca. 20-30 Millionen Zivilisten umgekommen sein. Auch in Deutschland waren die Schäden hoch, zahlreiche Städte wurden durch die alliierten Bombenangriffe zu Trümmerwüsten (Dokumente 1958-68). Industrieanlagen waren teilweise, das Verkehrssystem erheblich zerstört, was sich unter der Besatzung zunächst durch Demontage (Fabriken, Eisenbahn) fortsetzte. Die Zerstörung der Städte aber bedeutete - abgesehen von der hohen Zahl an Bombentoten und Verletzten - vor allem die Zerstörung von Wohnraum.2 Bereits während des Krieges hatten sich die Alliierten zu einer Reihe von Konferenzen zusammengefunden. Auf der Konferenz von Jalta (4.-11.2.1945) kam es zur Erklärung über das »befreite Europa«.3 In den Konferenzen von Teheran und Jalta konnten die Siegermächte keine einheitliche Konzeption für Deutschland erarbeiten.4 Mit der Berliner Vier-Mächte-Erklärung (5.6.1945) wurde Deutschland (innerhalb der Grenzen, wie sie am 31.12.1937 bestanden hatten) in vier Besatzungszonen (USA, GB, F, UdSSR) aufgeteilt, deren Oberbefehlshaber die Regierungsgewalt übernahmen. Der Alliierte Kontrollrat wurde gebildet, und die amerikanischen Truppen zogen sich aus Mecklenburg, Sachsen und Thüringen zurück. Berlin wurde 1

Eine Liste der hier verwendeten Kürzel für Namen von Parteien, Institutionen, Ländern usw. findet sich am Schluß dieses Beitrags.

2

Zentren der Zerstörung waren die Industriegebiete (Ruhrgebiet, Rhein-Main-Raum), Nord- und Ostseehäfen sowie zahlreiche Städte. Besonders stark verwüstet wurden die Großstädte Berlin, Hamburg, Köln und Dresden; vgl. Grebing u. a., Wirtschaft 1980, 13 f. (Karte); Erdmann 1980, 363-365.

3

Regelungen zu Polen, Jugoslawien und der Nachkriegspolitik gegenüber Deutschland: Beseitigung des Nationalsozialismus, Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen gemäß dem 1. und 2. Zonenprotokoll der »Europäischen beratenden Kommission«, Bildung des Alliierten Kontrollrats, Demontage von Fabriken, Reparationen, Gebietsabtrennungen.

4

Zur politischen und ökonomischen Entwicklung von 1945 bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten vgl. Scharf/Schröder 1977; Winkler 1979; Becker u. a. 1979; Erdmann 1980 und bes. Broszat/Weber 1993.

270

III. Untersuchungsgebiete

gemeinsam besetzt und verwaltet. Auf der ersten großen Nachkriegskonferenz verabschiedeten die Regierungschefs der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und der Sowjetunion das Potsdamer Abkommen (2.8.1945),5 mit dem sich die drei Besatzungsmächte zu einem Friedensvertrag mit Gesamtdeutschland verpflichteten - Bestimmungen über ein Selbstbestimmungsrecht der Deutschen fehlten. Beschlossen wurden die Beseitigung von Nationalsozialismus und Militarismus, die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen, die Unterstellung zweier Gebiete unter sowjetische bzw. polnische Verwaltung sowie ein Sonderstatus für Berlin; die Umsiedlung der Deutschen aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei; die Einsetzung örtlicher Verwaltung und deutscher Zentralverwaltung unter Aufsicht des Kontrollrats; die Kontrolle der Industrie bei Erhaltung der wirtschaftlichen Einheit mit Gewicht auf dem Ausbau der Landwirtschaft, der Auflösung von Kartellen, Syndikaten, Trusts, und die Kontrolle der Reparationen sowie der Demontage von Industrieanlagen. 6 Deutschland verlor, bezogen auf die Grenzen von 1937, 24% seiner Fläche und fast 14% der Vorkriegsbevölkerung. Der Verlust der landwirtschaftlich strukturierten Gebiete im Osten (auch Eisen- und Stahlvorkommen) wirkte sich auf die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und auf die gesamte Wirtschaft aus. Im Juli 1945 wurde das Saargebiet mit eigener Verwaltung unter französischem Protektorat und wirtschaftlichem Anschluß an Frankreich abgetrennt. Zur Durchsetzung der Entnazifizierung entfernten die Alliierten die NS-Führer aus ihren Ämtern, internierten sie und verboten die NSDAP. Die Überprüfung von sechs Millionen ehemaligen Mitgliedern von NS-Organisationen durch Fragebogen- und Spruchkammerverfahren bzw. über Säuberungsausschüsse setzte ein.7 1945/46 fanden die sogenannten Nürnberger Prozesse statt, in denen vom Internationalen Militärtribunal Urteile über 24 Hauptkriegsverbrecher gesprochen wurden. NS-Führercorps, Gestapo, SA und SS wurden zu verbrecherischen Organisationen erklärt; danach folgten Prozesse gegen Juristen, Ärzte, KZ-Aufseher usw. Um einen Demokratisierungsprozeß einzuleiten, ließ man nun wieder Parteien zu. 8 Seit 1945 gab es 11 Zentralverwaltungen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), den Länderrat in Stuttgart für die US-Besatzungszone (USBZ) und 1946 den Zonenbeirat für die Britische Besatzungszone (BBZ). Berlin stand unter der Verwaltung der Alliierten Kommandantura. Bis 1946 hatte man in allen Besatzungszonen Länder gebildet.

5

Vgl. Klein/Meissner 1977; Benz 1986.

6

Vgl. Weber 1982. Die nicht eingeladene französische Regierung lehnte deutsche Zentralbehörden ab und drängte auf Kontrolle des Ruhrgebiets.

7

Über das Vorgehen bei der Entnazifizierung hatten die Alliierten unterschiedliche Ansichten, daher wurde dieses in den Besatzungszonen verschieden gehandhabt; vgl. Broszat/Weber 1993. Zu den »Nürnberger Prozessen« vgl. Diller 1982.

8

Vgl. Flechtheim 1962-1971: 1945 entstanden KPD, SPD, CDU(CSU) und FDP (LDPD in der SBZ). In der SBZ wurden 1946 SPD und KPD zur Sozialistischen Einheitspartei (SED) vereinigt.

Deutschland nach 1945

271

Um die Produktion vor allem in der Landwirtschaft und im Bergbau anzukurbeln, wurde 1945 die Arbeitspflicht für Männer und Frauen eingeführt. Zudem beschlagnahmten die Besatzungsmächte die Handelsflotte, Zechen und Konzerne sowie das deutsche Auslandsvermögen. In der SBZ führte die Militäradministration im Oktober eine Bodenreform durch. Dies bedeutete die Enteignung ohne Entschädigung und die Neuverteilung des Grundbesitzes über 100 ha. Der Industrieplan des Kontrollrats (1946) sah eine Demontage der Industrie auf 50% des Vorkriegsstands vor, während in der SBZ zugleich 213 Betriebe als Aktiengesellschaften in sowjetischen Besitz übergingen (SAG). Nach Problemen beim Aufbau einer Zentralverwaltung und dem völligen wirtschaftlichen Zusammenbruch (»Hungerwinter«) kam es unter sowjetisch-französischem Protest im Januar 1947 zur Errichtung einer Bizone (britische und amerikanische Zone), als deren oberstes Organ sich im Juni der Frankfurter Wirtschaftsrat konstituierte. Das Scheitern eines weiteren Einigungsversuchs der vier Besatzungsmächte über eine gemeinsame Deutschlandpolitik und der Entschluß der USA, den Wiederaufbau Deutschlands im Rahmen des europäischen Aufbauprogramms mit umfangreichen Maßnahmen zu unterstützen, bedeuteten einen politischen Kurswechsel (Marshall-Plan). 9 Notwendige Voraussetzung bildete das entstandene vereinigte Wirtschaftsgebiet, das 1948 mit der französischen Besatzungszone zur Trizone erweitert wurde. Die Ablehnung der Sowjetunion, am Marshall-Plan teilzunehmen, und der Zusammenschluß der drei Westzonen waren eine Folge der Ost-West-Spannungen und vertieften die deutsche Spaltung. In der SBZ, die keine derartigen Aufbauhilfen erhielt, wurde der Bergbau verstaatlicht und eine deutsche Wirtschaftskommission eingerichtet. Den von der SED einberufenen deutschen Volkskongreß lehnten die Westzonenparteien ab. Mit der Verschärfung des Kalten Kriegs scheiterten die letzten Bemühungen um eine gemeinsame Deutschlandpolitik.10 Die Londoner Sechs-Mächte-Konferenzen (6.3./7.7.1948) einigten sich auf eine föderative Regierungsform für Westdeutschland mit der Erarbeitung einer Verfassung, der wirtschaftlichen Integration in Westeuropa und einer internationalen Kontrolle des Ruhrgebiets. Der sowjetische Vertreter verließ daraufhin die Konferenz, womit der Kontrollrat sich de facto auflöste. Der 2. Volkskongreß der SED vom März 1948 beschloß die Bildung eines Gesamtdeutschen Volksrates.

9

Am 3.4.1948 wurde das Gesetz »Foreign Assistance Act of 1948« durch den amerikanischen Kongreß verabschiedet, das die Grundzüge des Wiederaufbauplans, Finanzmittel und Organisationsform festlegte. Auf europäischer Seite gründeten die Teilnehmerländer die OEEC als Dachorganisation zur gemeinsamen Durchführung entsprechender Maßnahmen. Die Marshallplan-Hilfe erfolgte von 1948 bis 1952 mit anfangs verzögertem Start und geringem Umfang. Von der UdSSR wurde 1949 im Gegenzug der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe gegründet (RGW); vgl. Grebing u. a., Wirtschaft 1980, 78 ff.; Maier 1990.

10 Vgl. Loth 1980; Diller 1982; Graml 1985. Zur wirtschaftlichen Teilung Deutschlands und zum MarshallPlan vgl. auch Abelshauser 1983, 13-70; Grebing u. a., Wirtschaft 1980, 68 ff; Herbst 1989; Maier/Bischof 1992.

272

III.

Untersuchungsgebiete

Im Juni 1948 wurde in den Westzonen die Währungsreform durchgeführt (10 RM = 1 DM).11 Die sowjetische Militärregierung antwortete mit finanziellen Maßnahmen (einem Geldumtausch im selben Verhältnis) und der vollständigen Blockade der Westsektoren Berlins durch eine Verkehrssperre und die Einstellung aller Lieferungen aus der SBZ in den Westteil Berlins (Kohle, Lebensmittel). Als Antwort organisierten die Westmächte eine Luftbrücke nach Berlin (bis zu 927 Flüge mit 6393 Tonnen Gütern täglich), die der Bevölkerung das Überleben in der Stadt ermöglichte. Unter massivem kommunistischem Druck verlegte man im September Teile des Stadtparlaments in den Westteil der Stadt. Die Bildung eines Ost-Magistrats unter Oberbürgermeister Friedrich Ebert (SED) im November 1948 führte schließlich zur endgültigen politischen und administrativen Spaltung Berlins. Magistrat und Stadtverordnetenversammlung verließen den Osten und richteten sich im Rathaus Schöneberg ein. Die Neuwahlen des West-Berliner Magistrats brachten der SPD die absolute Mehrheit und Ernst Reuter (SPD) wurde erneut Oberbürgermeister.12 Zur Aufhebung der Blockade kam es erst im Mai 1949, während die Versorgung auf dem Luftweg bis September aufrecht erhalten wurde. Das Versorgungs- und Verkehrsnetz war jedoch zerrissen.13 Ost-Berlin erhielt in der am 7.10.1949 gegründeten DDR den Status einer Hauptstadt. Im Juli 1948 hatten die Westmächte über die Frankfurter Dokumente zur Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung und die Ankündigung eines Besatzungsstatuts beraten. Am 1. September trat der Parlamentarische Rat in Bonn zusammen (65 von den Ländern gewählte Mitglieder), sein Präsident wurde Konrad Adenauer (Wagner 1975). Gemäß dem Washingtoner Abkommen (1949) lösten Hohe Kommissare die Militärregierungen ab. Am 23.5.1949 wurde mit der Verabschiedung des »Bonner Grundgesetzes«, das, mit Ausnahme von Bayern, alle Länder ratifizierten, die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Der Parlamentarische Rat hatte bereits am 10.5.1949 Bonn zur Bundeshauptstadt bestimmt. In der SBZ wurde die SED zur (Kader-)Partei neuen Typs umgestaltet, in ihrem organisatorischen Aufbau und in der »Nomenklatur« der KPdSU angeglichen. Damit waren die Voraussetzungen geschaffen, daß sie als Staatspartei in das politische und gesellschaftliche Leben bestimmend eingreifen konnte.14 Im Mai 1949 fanden nach Einheitslisten die Wahlen zum 3. Volkskongreß statt, der den Verfassungsentwurf des Volksrats bestätigte.

11 Vgl. Willenborg 1982; Altvater 1991; Broszat 1989. 12 Vgl. Erdmann 1980, 289 ff. Am 23.11.1948 erklärte die SED-Fraktion des Stadtverordnetenhauses den Berliner Magistrat für abgesetzt und berief einen provisorischen »demokratischen« Magistrat ein. 13 Die kommunikationstechnische Versorgung blieb allerdings größtenteils bis 1961 zusammenhängend. 14 Die 1. Parteikonferenz im Januar 1949 schloß die Transformationsphase ab. Prinzip des Parteiaufbaus war der »demokratische Zentralismus«. Über die Mehrheit im FDGB-Vorstand konnte dieser in ein Transmissionsorgan umgewandelt werden; vgl. Weber 1988, 16 ff.

Deutschland nach 1945

273

Nachdem mit den Währungsreformen in der Trizone und in der SBZ die wirtschaftliche Trennung Deutschlands vollzogen war, erfolgte 1949 mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik auch die politische Trennung. Die Bundesrepublik Deutschland15 Im August 1949 fanden die Wahlen zum ersten Bundestag statt (CDU 139, SPD 131 Sitze), Bundespräsident wurde Theodor Heuss. Konrad Adenauer (CDU) bildete als erster Bundeskanzler der Bundesrepublik (1949-1963) mit CDU/CSU, FDP und DP eine Koalitionsregierung.16 Das Bonner Grundgesetz galt bis zur Verkündung einer gesamtdeutschen Verfassung (Art. 146) als Provisorium. Die Bundesrepublik ist darin definiert als demokratischer Rechts- und Parteienstaat mit Grundrechten, Gewaltenteilung und repräsentativer Volksvertretung (Bundestag) ohne Notstandsgesetzgebung (Abdruck: Schuster 1985,137-188a). Mit der Integration in das westliche Bündnissystem erfolgte ein Abbau des Besatzungsstatuts, wobei die SPD-Opposition unter Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer eine Verzögerung des Wiederaufbaus und die Zementierung der Spaltung befürchtete. Den Anfang machte das Petersberger Abkommen (22.11.1949). Von nun an hatte jeder Kompetenzerweiterung ein Integrationsschritt voranzugehen.17 1950 trat das Gesetz gegen eine Wiederaufrüstung in Kraft, wobei, infolge der Koreakrise, ein Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik im Rahmen einer europäischen Armee erwogen wurde. Die in New York tagende Außenministerkonferenz gab eine Garantie für die Bundesrepublik und Berlin (West). Nachdem das Amt für Verfassungsschutz und der Bundesgrenzschutz aufgebaut worden waren, trat im Oktober Innenminister Gustav Heinemann aus Protest gegen die Remilitarisierung zurück. Im März 1951 erfolgte die Revision des Besatzungsstatuts und damit die Beendigung bzw. Aufhebung des Kriegszustands (1955 durch den »Ostblock« anerkannt), der Demontagen und der Industrieverbote. Die Bundesrepublik übernahm die deutschen Auslandsschulden.18 Mit der Unterzeichnung des Deutschlandvertrags im Mai

15 Als Einführung vgl. Weber 1981; Morsey 1987; Benz 1989. Bibliographien: Goldbach 1975; Schröder 1983. 16 Zur Gründung der Bundesrepublik und Nachkriegsentwicklung vgl. Benz 1984; Grebing u. a., Politik 1980, 43-97; Becker 1987; Benz, Gründung 1989; Benz 1991. Zu Parlamentswahlen Flechtheim 1962-1971. Zu Adenauer vgl. Adenauer 1965-1968; Doering-Manteuffel 1983; Baring 1984; Schwarz 1981, 1983 und 1986; Sontheimer 1991; Bührer 1993. 17 Es wurde von der Alliierten Hohen Komission und Adenauer unterzeichnet und lockerte die wirtschaftlichen Beschränkungen. Zugleich berechtigte es die Bundesrepublik, konsularische Beziehungen zu westlichen Staaten aufzunehmen und internationalen Organisationen (Europarat) beizutreten; vgl. Lademacher/Mühlhausen 1985.

274

III

Untersuchungsgebiete

1952 wurde das Besatzungsstatut aufgehoben, die BRD damit souverän. In Zusammenhang mit der Billigung der Verträge mit der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) durch den Bundestag entbrannten heftige innere Kämpfe um den Wehrbeitrag (Fischer 1990). In einer Volksabstimmung wurde im darauffolgenden Jahr das Saarabkommen (1954) abgelehnt und so erfolgte die Eingliederung des Saarlands erst in den Jahren 1957-1959.19 Bereits 1949 hatten sich die Gewerkschaften zum Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zusammengeschlossen. In der Parteienlandschaft zeichnete sich ein Trend zum Zwei-Parteiensystem ab. Die rechtsradikale SRP wurde 1952, die KPD 1956 verboten, und die SPD wandelte sich von einer Klassen- zu einer Volkspartei (Godesberger Programm). Unter Ludwig Erhard vollzog sich der Aufschwung der »freien Marktwirtschaft«, mit Beendigung der Lebensmittelrationen (1950) und der Förderung des sozialen Wohnungsbaus. Mit dem Lastenausgleichsgesetz (LAG) vom 1.9.1952 sollten dann die Voraussetzungen geschaffen werden, die Kriegsschäden und -Verluste im Rahmen der volkswirtschaftlichen Möglichkeiten zu regulieren. Die Verfassung von Berlin (West) als einem Bundesland (Vier-Mächte-Status) mit Senat und Abgeordnetenhaus wurde verabschiedet (1.10.1950).20 Die »Pariser Konferenzen« (19.-24.10.1954) regelten die Beziehungen der Staaten der »westlichen Gemeinschaft« neu, was unter anderem eine Neufassung des Deutschlandvertrags und die Aufnahme der BRD in die NATO bedeutete. Um die Bundeswehr im Rahmen der NATO aufzubauen, erfolgte 1956 eine Erweiterung des Grundgesetzes und ein Soldatengesetz, das die allgemeine Wehrpflicht einführte (12, ab 1962 18 Monate). Als erste Vereinbarungen zur Wiedergutmachung von NS-Verbrechen wurden 1953 ein Vertrag mit Israel, seit 1959 Verträge mit mehreren europäischen Staaten geschlossen. Durch den Staatsbesuch Adenauers in Moskau (1955) wurden die Freilassung deutscher Kriegsgefangener und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion möglich. Ausdruck des Kalten Krieges war unter anderem die sogenannte Hallstein-Doktrin, die den Abbruch der Beziehungen zu Staaten bedeutete, die die DDR anerkannten (1957 Jugoslawien, 1963 Kuba). Sie zeigte deutlich die Haltung, die Adenauer zur Deutschlandfrage einnahm (Alleinvertretungsanspruch). Erst Willy Brandts »neue Ostpolitik« wies eine andere Richtung.21 1963 kam es zur Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschafts-

18 Im Londoner Schuldenabkommen, das die BRD mit zunächst 20 Staaten unterzeichnete, wurde die deutsche Gesamtverschuldung (Vorkriegsschuld, Nachkriegshilfe) auf 15,28 Mrd. Mark festgelegt; vgl. Lehmann 1983, 53. 19 Zur Saarfrage vgl. Hudemann/Poidevin 1992. 1952 hatte man aus den Südweststaaten das neue Bundesland Baden-Württemberg gebildet. 20 Das Bundesverfassungsgericht stellte erst am 21.5.1957 fest, daß Berlin trotz der fehlenden De-jure-Mitgliedschaft ein Land der Bundesrepublik ist. Die Westmächte bestanden allerdings weiterhin auf ihrer Oberhoheit. 21 Vgl. Nolte 1981; Baring 1987.

Deutschland nach 1945

275

Vertrags sowie von Handelsabkommen mit Ländern des Ostblocks. Bereits 1951 hatten sich die BRD, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten zu einer Montanunion zusammengeschlossen, Länder, die in den folgenden Jahren die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bildeten. Die Etappen dieser Europaintegration wurden mit der Unterzeichnung der »Römischen Verträge« (März 1957) abgeschlossen. Für die Bundesrepublik bedeutete dieses einen wichtigen Schritt zur Eingliederung in den westeuropäischen Staatenverband.22 Die Ost-West-Krise - mit dem Problem der deutschen Frage - äußerte sich am deutlichsten an der Lage Berlins und spitzte sich gefährlich zu, als es, nach dem Tod Stalins im März 1953, am 17. Juni in Ost-Berlin zum Aufstand kam. Dieser ging von den Bauarbeitern der damaligen Stalinallee aus, griff auf die DDR über und wurde von der sowjetischen Armee blutig niedergeschlagen.23 1958 führte das Ultimatum Chruschtschows zur Bildung einer Freien Stadt West-Berlin und zur zweiten BerlinKrise. Kaum war sie durch Einlenken Moskaus abgewendet, eskalierte der Konflikt am 12./13.8.1961 mit dem Bau der Berliner Mauer, die die zunehmende Republikflucht, vor allem das »Ausbluten« der DDR durch die Abwerbung und den Weggang junger Facharbeiter, Ärzte, Ingenieure usw. beenden sollte (Haupt 1981). Die Mauer markierte den Beginn der verschärften Befestigung der Grenzen der DDR zur Bundesrepublik mit Zwangsräumungen der Grenzzonen, Todesstreifen und Schießbefehl (Verschärfung des Kalten Kriegs). Die Freiheit West-Berlins wurde durch die USA garantiert, was der Staatsbesuch Präsident Kennedys 1963 auch nach außen hin bekräftigte. Im Oktober 1963 trat Adenauer zurück und Ludwig Erhard wurde Bundeskanzler. Nach einer Reihe von Zwischenfällen und langwierigen Verhandlungen gelang am 17.12.1963 die Unterzeichnung des ersten Passierscheinabkommens Berlin/DDR. Am 1.12.1966 wurde unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) und Außenminister Willy Brandt (SPD) eine Große Koalition gebildet, deren Hauptaufgabe zunächst in der Sanierung von Finanzen und Wirtschaft lag (1968 Einführung der Mehrwertsteuer). Anläßlich des Schah-Besuchs im Mai/Juni 1967 brachen Studentenunruhen aus. Im Herbst dieses Jahres bildete sich eine Außerparlamentarische Opposition (APO), als Reaktion auf die Große Koalition und die zunehmende Unbeweglichkeit des Bundestags, nicht zuletzt auch als Reaktion auf die gesellschaftliche Verdrängung der NS-Vergangenheit. Mit dem Attentat auf Rudi Dutschke Ostern 1968 eskalierten die Studentenunruhen. Trotz starker Proteste reagierte der Staat mit einer Notstandsverfassung (30.5.1968) auf die Krise. 1968 war das unruhigste Jahr, das die Bundesrepublik bis dahin erlebt hatte, und die Veränderungen waren auch

22 Vgl. Eckert 1990, 318 f.; Birke 1989; Küsters 1990. Zur europäischen Entwicklung nach 1945 vgl. Hillgruber 1987 (ausführl. Literatur); zur wirtschaftlichen Integration der BRD bes. Herbst u. a. 1990; Fischer 1990. Nach Unterzeichnung der »Römischen Verträge« konnte die BRD als Mitglied der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) über gemeinsame Versorgungsanbieter Kernbrennstoffe erwerben. 23

Vgl. Bibliographie 1983; Diedrich 1991; Ribbe 1993.

276

III.

Untersuchungsgebiete

davon bestimmt, daß in der repräsentativen Demokratie mehr Beteiligung gefordert und wahrgenommen wurde.24 1969 erfolgte die Unterzeichnung des Kernwaffensperrvertrags. Im August 1970 wurde der Moskauer Vertrag unterzeichnet, ein Gewaltverzichtsabkommen zwischen der UdSSR und der BRD mit Anerkennung der Unverletzlichkeit aller in Europa bestehenden Grenzen, einschließlich der Oder-Neiße-Linie und der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten. Der Bundestag stimmte schließlich am 17.5.1972 den Ostverträgen zu. Die Entspannungspolitik der sozialliberalen Regierung hatte erste Erfolge gebracht. Zur sogenannten Deutschlandfrage seien hier nur einige wichtige Fakten genannt:25 1968 wurde ein Paß- und Visumzwang für Westdeutsche bei Reisen nach West-Berlin oder in die DDR eingeführt. 1969 gab es ein Verhandlungsangebot Walter Ulbrichts, die Beziehungen zwischen beiden Staaten völkerrechtlich zu gestalten, mit der Anlage eines Vertragsentwurfs über die Aufnahme gleichberechtigter Beziehungen untereinander. Gustav Heinemann betonte dagegen die Einheit der Nation und die Beziehungen besonderer Art zwischen BRD und DDR. Seit 1970 kam es zu zahlreichen Treffen der Regierungschefs, mit den Ergebnissen: Verkehrsvertrag (1972), Grundlagen- und Grundvertrag (1972), Austausch ständiger Vertretungen (1974). Dagegen kam es zur gleichen Zeit zu Fluchthelferprozessen, dem Ausbau der Grenzsperren usw. Am 3.6.1972 traten die Ostverträge mit dem Viermächte-Schlußprotokoll über das Berlin-Abkommen in Kraft und am 21.6.1973, nach heftigen Auseinandersetzungen im Bundestag, der Grundlagenvertrag mit der DDR. Am 6.5.1974 trat Willy Brandt als Bundeskanzler zurück.26 Es wurden Abkommen mit der CSSR und Polen geschlossen, und mit der DDR Verhandlungen über den Berlin-Verkehr, Transitpauschalen usw. geführt. Im März 1976 wurden die neuen Verträge mit Polen wirksam. Am 1.10.1982 übernahm die CDU/CSU-FDP-Koalition die Regierung, Helmut Kohl wurde über ein konstruktives Mißtrauensvotum gegen Helmut Schmidt zum Bundeskanzler gewählt.

24 Zu den »sechziger Jahren« vgl. Körte 1987; zur APO vgl. Otto 1989; Kleßmann 1991. Eine Linie der oppositionellen Studentenbewegung führte in den Terrorismus der »Rote-Armee-Fraktion«, deren Aktionen mit Brandanschlägen auf Kaufhäuser begannen. Anfang der 1970er Jahre bildete sich ein fester Kern um Andreas Baader und Ulrike Meinhof, die mit politischem Terrorismus den Staat zu verändern suchten. Durch Linksextremismus und Terror war die Bundesrepublik vor allem in den 70er und 80er Jahren auf eine »harte Probe« gestellt. Der Extremismus von Rechts entwickelte sich seit den 80er Jahren zu einer wachsenden Gefahr und hat mit Hoyerswerda oder Mölln neue Dimensionen angenommen. Zu Terrorismus und Staat vgl. Ellwein 1993, 20 ff.; Aust 1985; Nirumand 1992. 25 Zur Deutschlandfrage vgl. u. a. Gaus 1981; Martin 1986; Buchheim 1985; Baring 1987; Hettlage 1990. 26 Eine Reihe von Faktoren dürften seinen Rücktritt bestimmt haben. Auslöser war die Festnahme seines persönlichen Referenten Günter Guillaume im April 1974 als DDR-Spion.

Deutschland nach 1945

277

Die Deutsche Demokratische Republik Am 7.10.1949 proklamierte der Volksrat die Deutsche Demokratische Republik,27 Wilhelm Pieck wurde Staatspräsident, Otto Grotewohl Ministerpräsident. Die sowjetische Militärregierung übertrug der neuen Regierung Verwaltungsaufgaben. Die Verfassung der DDR war in ihrem Wortlaut demokratisch, mit Grundrechten auf Arbeit, Erholung und Fürsorge. Sie beinhaltete die Verpflichtung zum Dienst an den sozialistischen Errungenschaften und das Verbot der »Boykotthetze«.28 Der Staat war eine Volksrepublik nach sowjetischem Muster. Partei (SED), Verwaltung und Staat waren nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus aufgebaut.29 Seit 1960 war der Staatsrat durch den Staatspräsidenten ersetzt, der auch ohne Zustimmung der Volkskammer (gewählt nach festem Schlüssel, Einheitslisten) Gesetze erlassen konnte. SED-Organe (Zentralkomitee, Politbüro, Sekretariat) besaßen letztlich absolutes Kontroll- und Weisungsrecht. Die stärkste Machtkonzentration lag zunächst in der Person Ulbrichts. Der Volkskongreß wurde zur »Nationalen Front des demokratischen Deutschlands« (NF) umgebildet, zu der sich alle Parteien und Massenorganisationen zusammenschlössen. Sie wurde von SED-Funktionären gelenkt und in Haus-, Wohn- und Betriebsgemeinschaften organisiert. Bereits seit 1945 hatten sich Massenorganisationen konstituiert: Gewerkschaft (FDGB), Jugend (FDJ), Frauen (DFD) und Kultur (DK). 1950 wurde das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) mit der politischen Geheimpolizei der SED (seit 1957 unter Erich Mielke) ins Leben gerufen.30 Die Volkspolizei wurde ausgebaut und seit 1952 um eine kasernierte Volkspolizei erweitert. Im Rahmen des »Aufbaus des Sozialismus« strukturierte man 1952 die fünf Länder in 14 Verwaltungsbezirke um und führte eine Bodenreform durch.31 Bereits jetzt begannen die Errichtung von Absperrungen an der »Zonengrenze«, die durch Minenfelder, Wachtürme usw. laufend verstärkt wurden, und erste Grenzsicherungsaktionen.32

27

Zu Entstehung und Geschichte der DDR vgl. Weber 1980; Badstübner u. a. 1989; Staritz 1987; Wehling 1984; Weber 1988. Dort findet sich weiterführende Literatur.

28

Der Gleichheitsgrundsatz/Art. 6. § 2 definiert u. a. Kriegs- und Boykotthetze »gegen demokratische Einrichtungen ...«. Dieser Artikel ist eine Besonderheit der DDR-Verfassung. Auf ihn gestützt war es der S E D in der Folgezeit möglich, durch entsprechende Auslegung alle Gegner strafrechtlich verfolgen zu lassen; vgl. Weber 1988, 26; Abdruck der Verfassung: Schuster 1985, 189-216.

29 Es waren auch nicht-kommunistische Parteien zugelassen. Die erste Verfassung ließ das Vorbild der Weimarer Konstitution teilweise erkennen. Deutschland galt als unteilbare Republik, die sich auf die Länder stützte; vgl. Weber 1988, 25 ff. Zur Gründung der SED vgl. Müller 1986. Zum Aufbau des politischen Systems siehe auch Dahn 1985. 30 Zur aktuellen Diskussion u m das aufgelöste MfS, Stasi- und SED-Akten vgl. Gauck 1990. 31

Vgl. dazu Badstübner u. a. 1989, 149-151; Karte 3.

32 Vgl. dazu Potratz 1993.

278

III. Untersuchungsgebiete

Die Niederschlagung des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 zog Massenverhaftungen, Erschießungen, die zeitweilige Auflösung des MfS und seine erneute Zuordnung zum Ministerium des Innern sowie eine Fluchtwelle in die Bundesrepublik nach sich. 33 Im Jahr darauf wurde die DDR von der UdSSR als souveräner Staat anerkannt (25.3.1954), letztere behielt allerdings militärische Sonderrechte. 1956 entstand parallel zur Einbindung der Bundeswehr in die NATO die Nationale Volksarmee mit der in den Warschauer Pakt (allgemeine Wehrpflicht seit 1962). 3 4 Ein Paßgesetz (1957) trat in Kraft, das die Mithilfe bei der Republikflucht unter Strafe stellte. 35 Die Fluchtbewegung wurde schließlich durch den Mauerbau 1961 weitgehend gestoppt. Seit 1964 erhielten Rentner die Erlaubnis zu privaten Besuchsreisen in die B R D . In der Wirtschaft begann man 1960 mit der Durchsetzung des Volkseigenen (VE-)Sektors in Landwirtschaft und Industrie (Zwangskollektivierungen). Mit dem ersten Fünfjahresplan (1951-1955) und dem Perspektivplan (1962-1970) wurde dann vor allem der Ausbau der Schwerindustrie forciert. 1965 schloß man ein Handelsabkommen mit der UdSSR. Die Deutsche Demokratische Republik bewegte sich in politischer Abhängigkeit von der UdSSR, besonders in der Deutschlandfrage, und war politisch und wirtschaftlich in den »Ostblock« eingebunden. 1950 erfolgten der Abschluß des Görlitzer Vertrags mit Polen und die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Friedensgrenze, 1955 der Moskauer Vertrag mit der Auflösung der sowjetischen Hohen Kommission. Seit 1957 bestanden diplomatische Beziehungen zu den Staaten des »Ostblocks«. 1964 wurde mit der UdSSR ein Freundschaftsvertrag geschlossen und Berlin (West) als politische Einheit betrachtet (Drei-Staaten-Theorie). 1966 kam es zu Handelsabkommen mit den »Ostblockstaaten«, Österreich und Italien. Am 13.10.1966 wurde ein Gesetz zum Schutz der DDR-Bürger erlassen, 1967 ein Gesetz zur DDR-Staatsbürgerschaft (20.2.). Freundschafts Verträge mit Polen (13.3.) sowie der C S S R (17.3.) folgten. Am 6.4.1968 wurde die neue Verfassung in einer Volksabstimmung angenommen. An der sowjetischen Intervention in der C S S R beteiligten sich neben anderen Warschauer-Pakt-Staaten auch Einheiten der Volksarmee. Im Jahr 1969 erfolgte die Anerkennung der DDR durch Staaten außerhalb des Ostblocks (Irak, Kambodscha) und die Ratifizierung des Kernwaffensperrvertrags. Am 1.1.1972 öffneten sich die Grenzen zu Polen und der Tschechoslowakei. Im Zeichen der Entspannungspolitik unterzeichneten beide deutschen Staaten am 21.6.1973 den Grundlagenvertrag und wurden im September 1973 von den Vereinten Nationen gemeinsam aufgenommen. Am 7.10.1974 trat eine Verfassungsrevision (Änderung von 43 der 108 Artikel) in Kraft, in der auf den Begriff »Deutsche

33

Zum Vorgehen gegen politische Oppositionelle vgl. Weber/Koch 1983.

34

Vgl. dazu Lapp 1986; Brühl u. a. 1985.

35

Von 1949 bis 1961 gab es ca. 2,7 Millionen Flüchtlinge, d. h. 15% der Bevölkerung, darunter viele Fachkräfte. Zur Westpolitik der S E D vgl. Staadt 1993.

Deutschland nach 1945

279

Nation« verzichtet wurde. In Art. 1 war sie als sozialistischer Staat bezeichnet, mit der Hervorhebung der Führungsrolle der »Arbeiterklasse und ... der SED«. 36 Durch das System der Einheitslisten bei den Wahlen stand die Zusammensetzung der Volkskammer mit nur noch 400 Abgeordneten von vornherein fest. Alle anderen Staatsorgane wurden von ihr abgeleitet und waren ihr gegenüber verantwortlich. Der Staatsrat nahm als Organ der Volkskammer ihm übertragene Aufgaben wahr und hatte zugleich die Funktion eines kollektiven Staatsoberhaupts. Ein weiteres Organ war der Ministerrat, die Regierung der DDR. Er war oberstes ausführendes Organ der Innen- und Außenpolitik sowie der Wirtschaftsleitung und der zentralen Staatsverwaltung. Der Ministerrat bestand aus dem Vorsitzenden, seinen Stellvertretern und den Ministern.37 Außenpolitisch wurde mit dem Abschluß eines neuen Freundschaftsvertrags mit der UdSSR am 7.10.1975 eine noch engere Verbindung zur kommunistischen Führungsmacht hergestellt und die militärische Bündniszusage ausgeweitet. Die Erleichterungen bei der Ausreise in die Bundesrepublik und im innerdeutschen Reiseverkehr sowie das starre Festhalten der SED-Führung am »stalinistischen« Kurs führten bis 1988 zu einer wachsenden Zahl von Ausreiseanträgen, von denen allerdings nur ein Teil genehmigt wurde. Nach den Kommunalwahlen im Mai 1989 warf man der SED Machtmißbrauch und Wahlbetrug vor, und in verschiedenen Städten wurde öffentlich dagegen demonstriert. Ganze Stadtverordnetenversammlungen wurden zum Rücktritt gezwungen. Die Evangelische Kirche entwickelte sich zum »Sammelbecken« anders und kritisch Denkender. Eine Opposition war entstanden, die seit Beginn der 80er Jahre als Friedensbewegung an die Öffentlichkeit getreten war und sich nun Gehör verschaffte. Als die Menschen in Massen über die Botschaften der BRD in Warschau, Budapest und Prag, dann über die geöffneten Grenzen Ungarns in die BRD flohen, forderten sie mehr Freiheitsrechte für alle Bürger. Zur offenen Kritik kam es bei den sogenannten Montagsdemonstrationen zunächst in Leipzig. Der 40. Jahrestag der Gründung der DDR, der mit großen Feierlichkeiten begangen werden sollte, rückte durch diese Massenflucht in ein neues Licht. Mit dem anwachsenden öffentlichen Druck verloren die örtlichen Machtorgane ihre Handlungsfähigkeit und leiteten damit in Berlin die Krise des Politbüros ein. Am 18.10.1989 wurden Erich Honecker, Günter Mittag und andere Parteifunktionäre entmachtet.38 Die neue Regierung teilte in einer Pressekonferenz (9.11.) auf Anfrage mit, daß vorläufig eine Ausreiseregelung gelte, die de facto die Freigabe des Reiseverkehrs bedeutete. Die Fernsehübertragung hatte noch am selben Tag durchschlagende Konsequenzen. Die Schlagbäume

36 Vgl. Schuster 1985, 217-241. 37 Mit der Wende 1989 wurde dieser Anspruch aufgegeben, schließlich wurden auch die Oppositionsgruppen vom »Runden Tisch« an der provisorischen Regierung beteiligt, bis eine frei gewählte Regierung nach den Volkskammerwahlen vom 18.3.1990 die Führung übernahm. Auf die Entwicklung nach der deutschen Vereinigung soll in diesem Beitrag nicht eingegangen werden. 38 Zur Revolution in der DDR vgl. u. a. Krenz 1990; Zwahr 1991.

280

III.

Untersuchungsgebiete

fielen und Hunderttausende strömten nach West-Berlin und in die BRD.39 28 Jahre nach dem Mauerbau waren die Grenzen erstmals wieder offen. Anfang 1990 fanden sich Regierung, Bürgerbewegung und Parteien zu »Runden Tischen« zusammen, um die ersten freien Wahlen vorzubereiten. Die Wahl zur Volkskammer am 18.3.1990 gewann die »konservative Allianz«.40 Am 18.5.1990 unterzeichneten die Regierungschefs von DDR und BRD als ersten Schritt zur Vereinigung einen Staatsvertrag über eine Währungs- und Sozialunion mit der Billigung beider Parlamente (mit Wirkung vom 1.7.1990).

Bevölkerungsentwicklung Die Bundesrepublik Deutschland Im Jahr 1939 lebten im Deutschen Reich etwa 69,3 Millionen Menschen, ca. 9,5 Millionen von ihnen in den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie.41 Die Volkszählung vom 29.10.1946 ergab für die vier Besatzungszonen (inkl. Saarland und Berlin) etwa 66 Millionen Menschen, damit hatte sich die Wohnbevölkerung um etwa 6,3 Millionen erhöht.42 Die hohen Verluste an Wehrmachtstoten, Vermißten, Ziviltoten, Deportierten, ermordeten KZ-Opfern und auf der Flucht Verschollenen betrugen ca. 5,7 Millionen Menschen, was ca. 8,3% der Bevölkerung des Reichs von 1939 entspricht. Die indirekten »Kriegsverluste« von etwa einer halben Million Menschen müssen noch hinzugezählt werden: ausgewanderte Deutsche und Ausländer, einschließlich Juden, Displaced Persons und von den Besatzungsmächten inhaftierte Deutsche. Die Bilanz der natürlichen Bevölkerungsentwicklung blieb im Vergleich zum Ersten Weltkrieg stabil, obgleich sich die Sterblichkeit der Zivilbevölkerung durch Euthanasieprogramme und eine nicht zu schätzende Zahl derer, die in den Konzentrationslagern durch Mord und Hunger starben, erhöht hatte 43 Hinzu kam die Vielzahl der Menschen, die, geschwächt durch Unterernährung, Mangelerscheinungen und Erschöpfung, Unterkühlung und Krankheiten, aus Mangel an Widerstandskraft starben. Durch die »Zugän-

39 Günter Schabowski hatte in der Presseerklärung die Mitteilung verlesen, daß die Grenzen für den Personenund Reiseverkehr zwischen der Bundesrepublik und der DDR sowie Berlin geöffnet würden. Allerdings sollte die Meldung erst einen Tag später veröffentlicht werden, wodurch ein Handlungsbedarf ohne Weisungsgrundlage entstand; vgl. Krenz 1990, 179. 40 Zu Wahlergebnissen und Wahlbündnissen vgl. Zwahr 1991, 139 f; Weiland u. a. 1991. 41 Nach der Volkszählung vom 17.5.1939 in Deutschland in den Grenzen von 1937; vgl. dazu Petzina u. a. 1978, 22 ff. Die statistischen Daten weichen in der Literatur häufig voneinander ab oder sind teilweise nicht vergleichbar. 42 Vgl. Grebing u. a., Wirtschaft 1980, 15; Rytlewski/Opp de Hipt, BRD 1987. 43 Vgl. Köllmann 1976, 39, 409. Castell (1981, 119) beziffert die Verluste (ohne KZ-Opfer) auf 5,3 Millionen, die indirekten Opfer auf etwa 0,7 Millionen Menschen. Genaue Zahlen lassen sich durch das ungesicherte Material jedoch nicht ermitteln; vgl. Petzina u. a. 1978, 94; vgl. auch Benz, Völkermord 1991.

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281

ge« aus dem Ausland von 4,3 Mill. Menschen seit dem 1. September 1939 sowie durch den Geborenenüberschuß von ca. 1,5 Mill. wurde dieses rein numerisch so gut wie ausgeglichen. 44 Das weiterhin steigende Bevölkerungswachstum beruht vor allem auf den enormen Bevölkerungsverschiebungen. Durch Rückwanderung, Flucht und Umsiedlungen nahm die Bevölkerung in Mittel- und Westdeutschland in dieser Zeit um 2 Mill. Menschen bzw. knapp 9% zu. Neben den ehemals Auslandsdeutschen zählte man 1946 in den vier Besatzungszonen und in Berlin 5,6 Mill. Flüchtlinge bzw. »Umsiedler« aus dem alten Reichsgebiet östlich der Oder-Neiße-Linie, dessen Bevölkerungszahl von 9,5 auf ca. 2 Mill. (knapp 20%) geschrumpft war. 45 Auf dem Gebiet der späteren BRD lebten 1946 45,7 Mill. (1939 42,1 Mill.), auf dem der späteren DDR 18,4 Mill. (1939 16,7 Mill.) Menschen. Deutschland hatte zwischen 1939 und 1950 insgesamt 9,3 Mill. Menschen dazugewonnen, d. h. innerhalb von nur 11 Jahren einen Bevölkerungszuwachs von knapp 16% erfahren. Dieses bedeutete eine enorme Belastung für diese Gebiete, in denen ein Großteil der Wohnungen sowie der Infrastruktur zerstört, die Ernährungslage prekär und die Wirtschaft an ihrem Tiefpunkt angelangt war. Die Lage hatte sich im extrem kalten Winter 1946/47 derart zugespitzt, daß die Gefahr einer Hunger- und Seuchenkrise bestand. Zwar kamen beispielsweise Hilfslieferungen mit amerikanischem Getreide in Bremen an, konnten aber infolge der Kälte nicht weiterverteilt werden. Unzählige Menschen erfroren, Hungerödeme und Tuberkuloseerkrankungen traten massiv auf. Im April folgten im Ruhrgebiet, später in Hamburg und in anderen Städten große Hungerdemonstrationen und Streiks, die Ausdruck der existentiellen Not und Armut der Massen waren.46 Die hohen Kriegsverluste hatten auch die Alters- und Geschlechterstruktur verändert. Der Anteil der Männer zwischen 20 und 35 Jahren sank von 12,1% (1939) auf 7,4% (1946), während sich der Anteil der Kinder und älteren Menschen erhöhte. Der Frauenüberschuß war bei den 25-30jährigen besonders groß. In den Westzonen zählte man etwa 1362 Frauen auf 1000 Männer.47 Höhe und Struktur des Männerverlustes trugen erheblich zur Überalterung der für die Wirtschaft wichtigen Bevölke-

44

Nach Castell 1981, 119, 129. Vgl. Marschalck, Bevölkeningsgeschichte 1984, 83 f., 149. Der Geburtenausfall war mit ca. 1,7 Millionen auf Grund der hohen Geborenenzahlen der ersten Kriegsjahre geringer als der des Ersten Weltkriegs.

45

Dieses liegt auch in der höheren Anzahl an Ziviltoten begründet; vgl. Castell 1981, 119, 130. Marschalck (Bevölkerungsgeschichte 1984, 83 f., 154) geht von 9,68 Millionen Flüchtlingen aus, deren Zahl sich bis 1950 auf 12,3 erhöhte; Bevölkerungszahlen vgl. ebd. Zu Vertriebenen usw. vgl. Frantzioch 1987; Jacobmeyer 1987.

46

Vgl. Castell 1981, 120; Willenborg, Not 1981, 202 ff.

47 Vgl. Grebing u. a., Wirtschaft 1980, 19; Köllmann, Bundesrepublik 1983, 94 ff.; Castell 1981, 131, Tab. 4. Durch die Verluste des Ersten Weltkriegs (Männer der Jahrgänge 1880-1900) und des Zweiten Weltkriegs (Männer der Jahrgänge 1907-1927) erhält die Alterspyramide eine »verzerrte« Form. Darüber hinaus ist der Ausfall an Geburten (1915-1919, 1929-1933 und 1942-1946) bedeutsam; vgl. Marschalck, Bevölkerungsgeschichte 1984, 187.

282

III. Untersuchungsgebiete

rungsgruppe bei. Die Wiederaufbauleistung wurde daher in den 1950er Jahren zum erheblichen Teil von älteren Arbeitskräften getragen. Sie zählten zu den geburtenstarken Jahrgängen vor dem Ersten Weltkrieg, die von der angestiegenen Lebenserwartung profitierten. Die Bedeutung der Frauen (»Trümmerfrauen«) wird aus ihrem hohen Anteil am Arbeitspotential (ca. 55,8%) deutlich. Vor allem sie waren es, die den Wiederaufbau möglich machten. Durch Wanderungsüberschüsse (SBZ, Ausländerzuwanderung) zeichnen sich schließlich deutliche Überschüsse bei Männern ab, die zumeist ohne Familie kamen. Die Migration, besonders die Zuwanderung von Gastarbeitern in den Jahren 1960 bis 1973, wirkte sich vor allem auf die Altersstruktur positiv aus und führte außerdem zu einer Verstärkung wie Verjüngung der im Wirtschaftsprozeß stehenden Arbeitskräfte. 48 Durch die gestiegene Lebenserwartung hat sich die Alterspyramide verändert. Die Lebenserwartung eines neugeborenen Mädchens hat in den vergangenen 100 Jahren von 40,25 auf 78,68 Jahre zugenommen, bei einem Jungen liegen die Werte bei 37,17 bzw. 72,21 Jahren. 49 Die Entwicklung der Fruchtbarkeit im Deutschen Reich setzte sich in der Bundesrepublik bis Mitte der 1950er Jahre fort. Zwischen 1935 und 1955 bedeutete dieses eine einheitliche Phase eines neuen niedrigen Fruchtbarkeitsniveaus. Trotz einer insgesamt niedrigen Fruchtbarkeit blieb ein Ansteigen der Geburtlichkeit bei relativ gleichbleibender Sterblichkeit zu verzeichnen.50 Dieses lag in der demographisch günstigen Altersstruktur begründet. Die Bundesrepublik wies relativ hohe Geburtenziffern und niedrige Sterblichkeit auf, wobei die Geburtenrate vor allem darauf zurückzuführen ist, daß die geburtenstarken Jahrgänge von 1934 bis 1941 ins gebärfähige Alter kamen. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung 1963; seither sanken die Geburtenzahlen bei zunächst gleichbleibender, später etwas steigender Sterblichkeit. Seit 1986 gehen sie rapide zurück.51 Der Prozeß des Geburtenrückgangs wird noch offenkundiger, wenn man Deutsche und hier lebende Ausländer getrennt betrachtet. Ohne diese wäre in Deutschland ein Sterbeüberschuß eingetreten. 52 Ursache dafür ist eine Reihe von ineinandergreifenden Faktoren, von denen einige hier kurz umrissen seien: Längere Ausbildungszeiten führten zu einem verschobenen, zum Teil aufgehobenen Kinderwunsch. Eine bessere Aufklärung durch Schulen und Medien

48 Vgl. Bethlehem 1982, 35 ff. Die Männerüberschüsse sind nicht auf die Veränderung der Sterblichkeit zurückzuführen. 49 Vgl. Bomsdorf 1993, 12; Statistisches Jahrbuch BRD 1992, 81 (Daten für 1986/88). Zum Anteil der über 60jährigen und zur Entwicklung der Lebenserwartung vgl. Ehmer 1990, 202 f., 206 (Tabellen); Höhn/Schwarz 1994. Zu Ursachen und Folgen vgl. vor allem die Arbeiten von Imhof, bes. Imhof 1988 sowie seinen Beitrag in diesem Band. 50 Zum langfristigen Geburtenrückgang in Verbindung mit Heiratskohorten vgl. Handl 1988. 51

Vgl. Köllmann 1976, 47 f.; Marschalck, Bevölkerungsentwicklung 1984; Spree 1992; KöIImann, Bundesrepublik 1983, 102 f.: Die Kinder- und Säuglingssterblichkeit ging ebenso zurück wie die Sterblichkeit der mittleren und höheren Altersklassen, wodurch der Bestand der die einzelnen Altersjahre Überlebenden und damit der Bestand an gleichzeitig Lebenden zunahmen; vgl. Dinkel 1994, 9; Berliner Statistik 1992.

52 Vgl. Köllmann, Bundesrepublik 1983, 100.

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283

führte, zusammen mit sichereren Verhütungsmitteln, zum »Pillenknick« in den 1960/70er Jahren. Allerdings hat sich bei den Frauen in den letzten 10 bis 15 Jahren das Verhältnis zur Pille zugunsten natürlicher Verhütung gewandelt. Mit der Bedrohung durch AIDS seit den 80er Jahren beginnt sich auch das Sexual verhalten langsam zu verändern. Vor allem auch Berufskrankheiten (durch Hitze, Strahlen), berufliche Streßfaktoren und Umweltbelastungen führen zunehmend zu Unfruchtbarkeit; die körperlichen Ursachen liegen in beinahe gleicher Häufigkeit bei Mann und Frau. Parallel dazu vollzieht sich zudem eine Veränderung der Familienstruktur. Begünstigt durch Wohnverhältnisse und materielle Absicherung, besonders die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen, machen sich junge Menschen früher selbständig und lösen sich aus dem Familienverband. Nicht zuletzt durch die angestiegenen Scheidungszahlen wie die längere Lebenserwartung von Frauen hat die Zahl der Ein-Personen-Haushalte wie der Alleinerziehenden (meist Frauen) stark zugenommen.53 Die Zahl der Single-Haushalte stieg von einem Fünftel (1961) auf ein Drittel (1982); in Großstädten lag sie weitaus höher, in Berlin etwa bei über der Hälfte.54 Diese Lebenssituation betrifft in zunehmendem Maße Frauen, die 60 Jahre und älter sind. So leben z. B. 53% der 70-75jährigen Frauen allein, aber nur 14% der gleichaltrigen Männer.55 Allerdings werden steigende Wohnungsnot, Verteuerung der Lebenshaltung und zunehmende Arbeitslosigkeit die aufgezeigten Strukturen künftig beeinflussen und sich möglicherweise auch auf Bevölkerungsentwicklung und Lebenserwartung auswirken. Der Rückgang der Sterblichkeit hat sich seit Anfang der 1930er Jahre verlangsamt. Bis zum Beginn der 60er Jahre erhöhte sich die Lebenserwartung der Frauen gegenüber der der Männer um 5,5 Jahre - mit weiterhin steigender Tendenz. Wegen des veränderten Altersaufbaus und der größeren Besetzung aller Jahrgänge nahmen die Sterbeziffern jedoch gleichzeitig zu.56 Der Überlebensfortschritt der Frauen gegenüber dem der Männer hat sich bei den Periodensterbetafeln in den letzten Jahrzehnten deutlich erhöht, und die Generationensterbetafeln verdeutlichen durch die Daten der vorhandenen Lebensabschnitte, daß z. B. für den Geburtsjahrgang 1925 dieser Vorsprung letztlich ähnlich groß werden dürfte wie beim weitgehend bekannten Verlauf des Jahrgangs 1900.57 Bei allen Auswertungen sollte allerdings mit in

53

1985 gab es insgesamt 1,76 Millionen Alleinerziehende, 138 000 von ihnen waren Männer. Ca. 10 Millionen Frauen lebten 1986 allein, die Tendenz war zunächst noch steigend; vgl. Lissner u. a. 1991, 26.

54

Vgl. Imhof 1986, 47 ff.; Henning 1987, 449. Dabei bleibt unberücksichtigt, ob dieses die Wahl einer Lebensform ist oder ungewollt, etwa mit dem Tod eines Partners, eintrat.

55

Vgl. Lissner u. a. 1991, 30.

56

Vgl. Marschalck, Bevölkerungsentwicklung 1984.

57

Vgl. Dinkel 1994, 3; hier findet sich eine differenzierte Bewertung von Kohorten- und Periodensterbetafeln. Die durchschnittliche Lebenserwartung wird unter Verwendung von Überlebens- und Sterbewahrscheinlichkeiten berechnet und in Sterbetafeln angegeben. Ursprünglich als Kohorten- oder Generationensterbetafeln konzipiert, benötigen sie Daten aus dem gesamten Überlebenszeitraum eines Jahrgangs (ca. 100 Jahre) und verweisen damit auf erhebliche Datenprobleme. In der Praxis verwendet man Periodentafeln, die in ihrem

284

III.

Untersuchungsgebiete

Betracht gezogen werden, daß Sterblichkeit kein einheitliches Phänomen innerhalb eines Landes ist und noch immer regionale wie schichtspezifische Unterschiede bestehen. Auch der Familienstand ist von Bedeutung. Wie neuere Untersuchungen zeigen, haben verheiratete Männer eine höhere Lebenserwartung als alleinstehende.58 Bei allen Berechnungen ist zu beachten, daß die Bevölkerungsstatistik für die Zeit vor 1961 erhebliche Unsicherheiten aufweist.59 Bis 1973 war die Bevölkerung der Bundesrepublik mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 0,8% stetig angewachsen, seit 1974 ist sie leicht rückläufig.60 Neben dem natürlichen Bevölkerungswachstum wirkten sich hier vor allem die Wanderungsbewegungen nach dem Krieg aus, die bestimmt waren von Flucht, Umsiedlung, Familienzusammenführung61 und schließlich auch von der beginnenden Flucht aus SBZ und DDR. 62 1950 zählten 16,5% der deutschen Bevölkerung zu den Heimatvertriebenen. Hauptaufnahmegebiete waren zunächst die von den Kriegsverwüstungen am wenigsten betroffenen Regionen. In der Bundesrepublik waren dies Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein.63 Die Eingliederung der Vertriebenen trug mit ihren sozialen Problemen zur »Gründerkrise« der Nachkriegszeit bei, 64 denn die Schaffung von Wohnraum und Arbeitsmöglichkeiten sowie die Sozialfürsorge waren von den Ländern der ersten Aufnahme nicht zu leisten. Die Sozialstatistiken belegen, daß die Vertriebenen, verglichen mit der übrigen Bevölkerung, weit über 1948 hinaus eine in jeder Hinsicht benachteiligte Gruppe bildeten. 1949 stellten sie, weit überproportional, 34,5% der Arbeitslosen.65 Ihre berufliche Einbindung war Voraus-

Aufbau den Generationensterbetafeln entsprechen. Diese konstruieren z. B. mit Informationen einer Volkszählung oder Sterbedaten eines Kalenderjahrs einen »hypothetischen« Geburtsjahrgang und dessen Überlebensschicksal. Für ein oder mehrere Jahre werden geschlechtsabhängig für die Alter von 0 bis mindestens 100 Jahre Sterbeziffern und, daraus abgeleitet, einjährige Sterbewahrscheinlichkeiten bestimmt; vgl. Bomsdorf 1993, 13; Dinkel 1994, 2 f.; vgl. auch die Beiträge von Kamke und Scholz in diesem Band. 58 Vgl. Höhn/Schwarz 1994, 2. Als Vergleichsbeispiel: Die Lebenserwartung neugeborener Jungen betrug 1986/88 in Berlin (West) 70,7, in Baden-Württemberg 73,4 Jahre. Mit veränderter Bevölkerungsstruktur wandelt sich auch die Sterblichkeit. 59

Vgl. Dinkel/Meinl 1991, 17 f. Dort findet sich eine differenzierte Quellenkritik.

60 Vgl. Henning 1987, 450; Rytlewski/Opp de Hipt, BRD 1987, 49 ff. Zu Modellrechnungen für Generationensterbetafeln für die BRD vgl. Bomsdorf 1993. 61

In den 1950er Jahren kamen besonders in die BRD weitere Aussiedler (»Aktion Link« 50 000 Aussiedler), verstärkt und bis in die Gegenwart nach Unterzeichnung des Warschauer Vertags von 1970. Auch die sudetendeutschen Vertriebenen wurden bis auf einen geringen Teil von beiden deutschen Staaten aufgenommen.

62

Vgl. Buhr u. a. 1991. Zu Heimatvertreibung und DDR-Flucht vgl. Bethlehem 1982, bes. 21-106; Ambrosius 1987.

63

Nahezu zwei Fünftel der Bevölkerung Schleswig-Holsteins, ein Drittel der Niedersachsens und ein Viertel der Bevölkerung Bayerns waren Umsiedler bzw. SBZ-Flüchtlinge; vgl. Castell 1981, 120; Broszat/Weber 1993. Bis 1961 wurden rund 1 Mill. Vertriebene und Flüchtlinge umgesiedelt, von denen Nordrhein-Westfalen fast die Hälfte aufnahm. In der Literatur weichen die Zahlen häufig voneinander ab.

64

Zur Gründerkrise der Bundesrepublik vgl. Hockerts 1986.

65

Vgl. Buhr u . a . 1991, 507 f.

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Setzung für eine Integration. Dieses versuchte man durch die Verteilung auf die Länder und eine gezielte Ansiedlung in den Industrieregionen (bes. Nordrhein-Westfalen) zu erreichen, was im Zuge des dann einsetzenden Wirtschaftswachstums auch gelang. 66 Das Netz der sozialen Sicherung war nach dem Krieg äußerst angespannt, da neben den normalen Leistungen der Alters-, Kranken- und Unfallversicherung nun auch Millionen von Kriegsversehrten, Kriegerwitwen sowie eine zunächst steigende Zahl von Arbeitslosen ihre Not geltend machten. Die Sozialabgaben hatten dagegen ihre Obergrenze erreicht.67 Das Fürsorgeänderungsgesetz von 1953 erweiterte vor allem die wirtschaftlichen Hilfsmaßnahmen. Hinzu kam der 1954 bestätigte Rechtsanspruch auf Fürsorgeleistungen. Gesetze für Körperbehinderte (1957) und Tuberkulosekranke (1959) waren Meilensteine auf dem Weg zum Bundessozialhilfegesetz; mit seiner Verabschiedung 1961 wurde eine armutspolitische Epoche abgeschlossen. 68 Der Vertreibung folgte der Zuzug und die Umsiedlung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und eine Fluchtwelle aus der SBZ in die Westzonen, die sich auch nach der Gründung der DDR fortsetzte (Republikflucht). 69 Die Bevölkerungszahl in der DDR sank durch die Massenflucht vom 31.8.1950 (Bodenreform) bis zum 31.12.1960 um fast 1,2 Millionen Menschen. 70 Erst die völlige Schließung der Grenzen und der Bau der Mauer in Berlin unterbanden den Abwanderungsstrom. Umgekehrt gingen zwischen 1950 und 1961 ca. 475 000 Menschen aus der BRD in die DDR (zum Teil Rückwanderungen). Die Verteilung der Flüchtlinge erfolgte über Notaufnahmelager, wobei ihre Eingliederung leichter fiel, da sie meist hochqualifiziert waren und sich unter ihnen ein hoher Anteil an Arbeitskräften gewerblicher Berufe befand. 71 Dieser Zuwachs führte dazu, daß bei zunehmender Kinder- und Altenbevölkerung die Altersstruktur der Gesamtbevölkerung relativ ausgeglichen war. Durch die verstärkte Berufstätigkeit von Frauen (14%) seit den 50er Jahren stieg

66

Vgl. Willenborg 1982. Zwischen 1950 und 1965 wiesen Hamburg, Bremen, Hessen, Baden-Württemberg und in geringerem Maß auch Rheinland-Pfalz Wanderungsüberschüsse auf, während Bayern im Rahmen der Umsiedlungsprogramme noch bis 1960 Verluste, Nordrhein-Westfalen als Aufnahmeland Gewinne verzeichnete; vgl. Marschalck, Bevölkeningsgeschichte 1984, 87-89. Eine erhöhte allgemeine Mobilität blieb weiterhin erhalten. Zum Problem der Aufnahme von Aussiedlern in der DDR vgl. v. Plato/Meinecke 1991.

67 Willenborg, Kriegsfolgen 1981, 243 f.; Buhr u. a. 1991, 506 ff. Die Zahl der Arbeitslosen war von 8,8% im September 1949 auf 12,2% Anfang 1950 gestiegen. 68 Vgl. B u h r u . a. 1991,511 ff. 69 Allein von 1961 bis 1969 kamen 100 000 Aussiedler in die Bundesrepublik. 70 Nach der Volkszählung vom 6.6.1961 lag die Zahl der »Deutschen aus der SBZ« (ohne Vertriebene) im Bundesgebiet ohne Berlin (West) bei ca. 2,7 Millionen, d. h. 5% der Wohnbevölkerung. Das Statistische Bundesamt ermittelte langfristig höhere Zahlen: knapp 3,5 Millionen, d. h. 6,6% der Wohnbevölkerung; vgl. Bethlehem 1982, 25-28 (genaues Zahlenmaterial). Zum Problem der Gesamtzahlen vgl. auch Köllmann, Bundesrepublik 1983, 72. 71

Zu Erwerbstatigkeit und Arbeitslosigkeit vgl. Bethlehem 1982, 38-48, bes. 45. In der Verteilung der Flüchtlings-Erwerbspersonen auf die Wirtschaftsbereiche ergaben sich Unterschiede zur übrigen Bevölkerung. 2,7% von ihnen waren in Land- und Forstwirtschaft tätig (übrige 16%), der größte Teil mit 52,6% im produzierenden Gewerbe (übrige Bevölkerung 46,7%).

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III.

Untersuchungsgebiete

die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 1950 und 1960 schneller als die Zahl der Personen in erwerbstätigem Alter. Die Zahl der Arbeitslosen sank in diesem Zeitraum von 11% auf 1,3%, während zugleich die Zahl derer, die eine dynamische Rente in Anspruch nehmen konnten, um 30% (6,2 Mill.) stieg (Castell 1981). Der Arbeitskräftebedarf des wirtschaftlichen Aufschwungs in der BRD, der in Zusammenhang mit Arbeitszeitverkürzungen und dem »Rentenberg« stand, war seit Schließung der deutsch-deutschen Grenze nur durch den Zuzug von ausländischen Arbeitskräften zu bewältigen. Mit dieser dritten Migrationswelle entwickelte sich die Bundesrepublik in den 1960er Jahren zum bevorzugten Einwanderungsland für europäische Arbeitskräfte, von denen die meisten aus Italien, Jugoslawien, Griechenland, der Türkei und Spanien kamen.72 Seit 1966 zogen in verstärktem Umfang die Familien nach, und bis Anfang der 1980er Jahre lebten ca. 4,7 Millionen zugewanderte oder bereits hier geborene Ausländer in der Bundesrepublik. Anfang der 70er Jahre erfolgte ein Umschwung in der Einwanderungspolitik, unter anderem durch die Einstellung der Anwerbungen und die verschärfte Handhabung der Begrenzung der Arbeitserlaubnis sowie verschiedene regionale Einschränkungen. Diese restriktive Politik wirkte sich allerdings nur auf die Zuwanderung aus Spanien, Jugoslawien und Griechenland aus. Der Zustrom türkischer Arbeitnehmer und ihrer Familien wuchs von 1974 bis 1980 weiter auf ein Viertel aller Ausländer an, die damit die größte nationale Einwanderungsgruppe stellten.73 Durch den Wandel auf dem Arbeitsmarkt mit einem geringer werdenden Angebot an Arbeitsplätzen ist mittlerweile ein erhebliches soziales Konfliktpotential entstanden, das mit der deutschen Einheit weiter angewachsen ist. Die Auswanderung aus der Bundesrepublik war infolge der großen Arbeitslosigkeit in den 50er Jahren relativ hoch. Bereits 1957 überstiegen mit der einsetzenden Gastarbeiterwanderung aus den europäischen Ländern die Gewinne die Verluste, so daß die Auswanderungsbilanz der BRD insgesamt positiv wurde.74 Die Binnenmobilität innerhalb der BRD blieb bestehen (Gewinne: Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Niedersachsen; Verluste: Hessen, Bayern, Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein). Vor allem die industriellen Ballungsräume weisen eine hohe Bevölkerungsdichte auf. Dort lebten bereits 1970 45% der Bevölkerung und 55% der Beschäftigten auf etwa 7,3% der Fläche der BRD.75 Allerdings erfuhr die fortschreitende Urbanisierung seit

72 Um 1970 umfaßten diese Gruppen ca. 12% der hier lebenden Ausländer. Aus Italien kamen 1961 zwei Drittel, 1974 sogar vier Fünftel aller EG-Zuwanderer, aber ihr Anteil an der gesamten Ausländerbevölkerung fiel bis 1974 um fast die Hälfte, bis 1980 noch stärker (wirtschaftliche Entwicklung im eigenen Land); vgl. Köllmann, Bundesrepublik 1983, 80-83. Die Zusammensetzung der Herkunftsländer veränderte sich von EG-Ländern über Nicht-EG-Länder hin zu außereuropäischen Staaten (Türkei), was durch die Anwerbungsverträge bewirkt wurde. 73 Zu Daten von 1950 bis 1978 für die BRD und Berlin (West) vgl. Castell 1981, 136, Tab. 9. 74 In den Jahren 1952-1959 wanderten ca. 335 000 Personen ins europäische Ausland aus. Zur Gastarbeiterfrage vgl. Bade 1983, bes. 59-95; Bade, Auswanderer 1984 (bes. die Beiträge von Schiller, Heckmann und Dohse u.a.); Körte 1987.

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den 60er Jahren eine Veränderung. Durch die zunehmende Trennung von Wohnen und Arbeiten werden die Zentren vor allem der Großstädte immer weniger bewohnt (»entmischte Stadt«). Es entstanden und entstehen stattdessen sogenannte Trabantenstädte an den Stadträndern und Neubausiedlungen in Gemeinden, die im städtischen Einzugsbereich liegen. Die Wanderungsbewegungen waren der bestimmende demographische Faktor der Bevölkerungsentwicklung im Zeitraum von 1950 bis 1987. In der Bundesrepublik bildete der positive Wanderungssaldo die Hauptursache der Bevölkerungsentwicklung (75%), während der Bevölkerungsrückgang in der DDR auf einen negativen Wanderungssaldo (80%) zurückzuführen ist.76

Die Deutsche Demokratische Republik Die hohen Kriegsverluste hatten die Alters- und Geschlechterstruktur in der SBZ ebenso verändert wie in den Westzonen, was sich jedoch mit den kontinuierlichen Abwanderungen wandelte. In den Nachkriegsjahren war auch hier die Bevölkerung vor allem durch die ca. 4,6 Millionen Vertriebenen aus Ostdeutschland und Osteuropa und die Rückkehr Kriegsgefangener angewachsen (1946 18,2 Mill., 1949 19,2 Mill.). Vor allem unmittelbar nach dem Krieg lag ihre Zahl in der SBZ (ohne Berlin) höher als in den Westzonen. So waren 1946 z. B. in Mecklenburg 41,8% der Bevölkerung Vertriebene, die in den Folgejahren zumeist in den Westen weiterzogen.77 Durch die andauernden Abwanderungen von insgesamt 3,7 Millionen Menschen verringerte sich die Bevölkerung der DDR bis 1961 auf 17 Millionen, um dann in etwa stabil zu bleiben. 78 Zwar waren durch die Abwanderungen die anfänglichen Versorgungs- und Wohnprobleme nicht so gravierend wie in der Bundesrepublik, doch war die Ausgangssituation für einen wirtschaftlichen Aufbau durch die Alters- und Geschlechterstruktur schwieriger. Die Zahl der 40-64jährigen betrug 53% (BRD 49%), der Frauenanteil lag mit 58% noch höher als in der Bundesrepublik (51%), und besonders ältere Frauen waren über- und jüngere Männer unterrepräsentiert.79 Verschärft wurde das negative Bevölkerungswachstum Mitte der 50er Jahre durch den Eintritt der geburtenschwachen Kriegs- und Nachkriegsjahrgänge ins Erwerbsalter. So machte sich das Fehlen von qualifizierten Arbeitskräften (Facharbeiter, Selbständige, Ärzte usw.) in der wirtschaftlichen Entwicklung so kritisch bemerkbar, daß die politische

75

Vgl. Bolteu. a. 1980, 87.

76

Nach Dinkel/Meinl 1991, 115. Zu amtlichen Daten der DDR vgl. Lüttinger/Wirth 1993.

77

Vgl. Dinkel 1994, 8.

78

Bis 1982 gingen nochmals ca. 0,5 Millionen Menschen, »freigekauft«, übergesiedelt oder geflohen, in die BRD; vgl. Henning 1987, 471. Unter den Flüchtlingen aus der DDR waren allein 1950 über 100 000 Vertriebene registriert worden; vgl. Ludz/Ludz 1985, 214. Zum »Freikauf« vgl. Brinkschulte u. a. 1993.

79

Vgl. Castell 1981, 122, 135, Tab. 7. Zur Statistik vgl. Ludz/Ludz 1985, 213-218; vgl. auch Fleischer 1983.

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III.

Untersuchungsgebiete

Führung 1961 glaubte, dem nur mit einer völligen »Abschottung« der Grenzen entgegenwirken zu können. In der DDR wurden für lange Zeit keine Daten über Außenwanderungen veröffentlicht, und wie groß die Diskrepanz zwischen Fortschreibung und Volkszählung war, ist nicht bekannt. Hinsichtlich Fortschreibungs- und Volkszählungsfehlern gilt dies abgeschwächt auch für die BRD.80 Durch die Wanderungsverluste und die kriegsbedingte Struktur waren Veränderungen im Alters- und Geschlechteraufbau der Bevölkerung entstanden. Zwischen 1950 und 1964 hat die Bevölkerung im Alter von 14-64 Jahren besonders stark abgenommen (-14%). Dieses bedeutete vor allem einen Rückgang der als Arbeitskräfte zur Verfügung stehenden Menschen. Ein größer werdender Teil der 40-64jährigen war ins Rentenalter gekommen, während der Anteil der Jüngeren durch Abwanderung noch weiter zurückging (-16%), was allerdings durch die mittleren Altersklassen überkompensiert wurde (+5%). Rainer Dinkel sieht die Altersstruktur der Abwanderer allerdings weniger ungünstig als allgemein angenommen wird.81 Auch in der Deutschen Demokratischen Republik kam es zu Binnenwanderungen mit einer Verschiebung des Verhältnisses von Stadt- und Landbevölkerung zugunsten der Stadt, wobei vor allem Arbeitskräfte gezielt in die Zentren neuen industriellen Aufbaus gelenkt wurden (Cottbus, Frankfurt/O.). Abwanderungsregionen waren Rostock, Gera und Suhl.82 Nur ein Drittel aller Wanderungen erfolgte über die Bezirksgrenze hinaus. In den Industrieregionen nahm die Bevölkerungsdichte entsprechend zu, während sie sich ansonsten im Vergleich zur Vorkriegszeit kaum veränderte.83 In der ersten Zeit waren Außenwanderungen nur Einzelpersonen mit besonderer Erlaubnis, später auch kleinen Gruppen möglich. Die natürliche Bevölkerungsentwicklung hat sich in den letzten Jahren leicht verändert, seit 1970 sind Gestorbenenzahlen rückläufig.84 Ebenfalls ab 1970 traten Sterblichkeitsunterschiede zwischen DDR und BRD fast zeitgleich bei allen Geburtsjahrgängen auf. Daß die Säuglings- und Kindersterblichkeit seit dieser Zeit in der Bundesrepublik günstiger wurde, hängt mit den »vorangegangenen Definitionsverschärfungen« (Dinkel 1994, 9) zusammen, die zu ungünstigen Werten geführt hatten. Als Reaktion darauf wurden Schwangerenfürsorge und medizinische Betreuung verbessert. Zwischen 1965 und 1973 nahm die Zahl der Geburten dennoch um ca. 100 000 ab, was in Zusammenhang stand mit der Berufstätigkeit der Frauen, noch mangeln-

80 Vgl. Dinkel/Meinl 1991, 16. 81

Von den 15 494 Abwanderern im Jahr 1981, das als typisch gelten kann, waren 13,4% unter 15 Jahren und 48,2% im Alter zwischen 15 und 60; vgl. Dinkel 1994, 8. Zu Daten der Alters- und Geschlechterstruktur vgl. Castell 1981, 122 f.

82 Zur Bevölkerungsmobilität vgl. Khalatbari 1980. 83

Vgl. Henning 1987, 471. Im Jahr 1982 lebten 76,5% der Menschen in Stadtgemeinden (2000 und mehr Einwohner), mehr als ein Drittel von ihnen in den 15 Großstädten. In Land- und Kleingemeinden wohnten 23,5% der Bevölkerung. Die durchschnittliche Bevölkerungsdichte betrug 1950 171, im Jahr 1964 157 und 1982 154 Einwohner pro qkm; vgl. Ludz/Ludz 1985, 214.

84

Zur Todesursachenstruktur vgl. den Beitrag von Scholz in diesem Band; vgl. auch Dinkel 1994.

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289

der Kinderbetreuung, der Belastung des Familienbudgets und den angeglichenen Lebensbedingungen von Stadt und Land.85 1972 wurde eine Reihe von sozialpolitischen Maßnahmen beschlossen, die zum Beispiel Arbeitszeiten und Urlaubsansprüche von Müttern verbesserten, und 1976 ein umfassenderer Mutterschutz (Babyjahr). Die Geburtenrate stieg seit 1975 wieder an und lag 1979 erstmals über der Sterberate, um dann kontinuierlich abzusinken. Trotzdem sind die jüngsten Altersgruppen in der DDR relativ stärker vertreten als in der Bundesrepublik.86 Im Gegensatz zur Bundesrepublik wurden die Ehen in der DDR in relativ jungen Jahren geschlossen, was teilweise Folge sozialpolitischer Maßnahmen war (»Mütterjahr«, Wohnung, Kredite). Die Frauen bekamen ihre Kinder im Durchschnitt früher. Obgleich auch in der DDR die Kleinfamilie vorherrschte, wurden immer mehr Kinder von ledigen Müttern geboren, die später jedoch größtenteils heirateten. Die Zahl der Eheschließungen nahm ebenfalls ab und die der Scheidungen zu. Alleinstehende Elternteile, meist Mütter, hatten bereits seit den 60er Jahren Anspruch auf Sonderleistungen wie die Freistellung bei der Erkrankung eines Kindes oder KündigungsÄ7

schütz und waren damit wesentlich besser gestellt als Alleinerziehende in der BRD. Die Lebenserwartung in den letzten Jahrzehnten war kontinuierlich gestiegen. Die mittlere Lebenserwartung betrug 1960 für Männer in der DDR 66,42, in der BRD 66,39 Jahre; 1987/88 waren es 69,81 bzw. 72,21 Jahre. Die Frauen hatten 1960 in der DDR eine Lebenserwartung von 71,61, in der BRD von 71,80 Jahren. Bis 1987/88 veränderte sich allerdings das Verhältnis zuungunsten der weiblichen Bevölkerung in der DDR mit 75,91 im Vergleich zur BRD mit 78,68 Jahren.88 Die Ursachen für die erhöhte Sterblichkeit von Frauen in der DDR lag möglicherweise in der weniger umfassenden und technisch weniger hoch qualifizierten medizinisch-hygienischen Versorgung und den allgemeinen Lebensumständen. Gerade die Mehrfachbelastung der Frauen durch die hohe Beanspruchung im Berufs- und Familienleben dürfte dabei eine Rolle gespielt haben. Allerdings ist eine genaue Analyse von Sterblichkeit und Lebenserwartung teilweise schwierig und führt nicht immer zu klaren Ergebnissen. Bei der Betrachtung regionaler Unterschiede ist beispielsweise festzustellen, daß in einer Region wie Sachsen, die von Industrie und Umweltbelastung geprägt war, die Lebenserwartung nicht automatisch niedriger lag. Die Zusammenhänge verhalten sich also weitaus komplexer und bedürfen weiterreichender Untersuchungen.

85

Vgl. Helwig 1987, 75 ff. Zu sozialpolitischen Maßnahmen vgl. ebd. 87 ff.

86

Dieses wirkt sich nach der Vereinigung jedoch kaum auf die Gesamtdarstellung aus, da die Bevölkerung der fünf neuen Bundesländer nur 21% der Gesamtbevölkerung ausmacht; vgl. Höhn u. a. 1992.

87

Vgl. Helwig 1987, 94 f. Im Verhältnis zur »Standardfamilie« waren sie schlechter gestellt und vor allem Mütter meist auf Sozialhilfe angewiesen.

88 Vgl. Statistisches Jahrbuch BRD 1992, 81. Zu den differenzierten Entwicklungen und durchaus unterschiedlichen Erklärungsansätzen vgl. Schott u. a. 1994; Dinkel 1994. Zu den Berechnungsgrundlagen vgl. den Beitrag von Scholz in diesem Band.

290

III.

Untersuchungsgebiete

Beide Teile Deutschlands fügen sich insgesamt in den europäischen Gesamtzusammenhang ein, wenn auch der Rückgang der Geburtlichkeit in der BRD deutlicher hervortrat als in der DDR. Auf die Erforschung und Einschätzung der Entwicklungen im vereinten Deutschland soll hier nicht näher eingegangen werden; dafür sei auf die Arbeiten von Höhn/Schwarz 1994 (Lebenserwartung), Höhn u. a. 1992 (soziodemographische Entwicklung), Schott u. a. 1994 (Mortalität) und Lüttinger/Wirth 1993 sowie Schmid 1993 (amtliche Daten) verwiesen.

Bildung, Erziehung und Gesundheit Die Bundesrepublik Deutschland Zwischen den beiden Kriegen wurden insbesondere durch den Ausbau des Mittelschulwesens die Weichen für das dreigliedrige Schulsystem der Nachkriegszeit gestellt, das seitdem, von einigen Reformschulen abgesehen, aus öffentlichen Schulen besteht. An die obligatorische Grundschule schließen seitdem drei weiterführende Bildungswege an: die Volksschuloberstufe (»Hauptschule«), Mittel- bzw. Realschulen und die verschiedenen Typen des höheren Schulsystems, wobei höhere und mittlere Schulen auch QQ

als Aufbauschulen eingerichtet werden konnten. Die notwendigen bildungspolitischen Eingriffe wie eine Revision der Leminhalte, eine, allerdings oft nur vorübergehende, Amtsenthebung des Lehrpersonals (Entnazifizierung) und Änderungen der Schulstruktur wurden von den alliierten Besatzungsmächten getragen.90 Eine Ebene der politischen Umerziehung war vor allem die Erwachsenenbildung und das Volkshochschulwesen. Eine strukturelle Veränderung setzte jedoch erst nach 1950 ein.91 Bis zum Jahr 1973 lag der Anteil der Schüler, die weiterführende Schulen besuchten, bei insgesamt 28,5% (67,6% Grund- und Hauptschulen, 3,9% Sonder- und Pflegeschulen, 10,9% Mittelschulen; 17,6% höhere Schulen). Bis 1982 war der Anteil der Kinder an Grund- und Hauptschulen auf 53,7% gesunken, an Sonder- und Pflegeschulen mit 3,8% so gut wie konstant geblieben. Veränderungen waren nicht allein bei den Schülerzahlen zu verzeichnen. Bereits in den 60er Jahren setzte eine Tendenz zur Zentralisierung der Schulen ein. Auch innerhalb der Schulen gab es Umstrukturierungen. Als wichtigste sind die generelle Einführung des neunten Schuljahrs sowie die AusweiQ1 tung des Besuchs höherer Schulen von acht auf neun Jahre zu nennen. Auch der

89

Vgl. Zymek 1989, 198; Herrlitz u. a. 1981, 140-146; zum allg. Schulwesen vgl. Weinacht 1987 (umfassende Literatur).

90

Vgl. Herrlitz u. a. 1981, 141. Zu den einzelnen Maßnahmen der Durchführung vgl. Weinacht 1987, 625-630.

91

Im Jahr 1950 besuchten 87,5% der Schüler Volksschulen, 1,2% Sonder- und Pflegeschulen, 2,7% Mittelschulen und 8,6% höhere Schulen; vgl. Henning 1987, 456.

92 Alle Schulen, die zum Abitur führten, wurden seit 1955 - ausgenommen in Bayern - Gymnasien genannt.

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291

Unterricht veränderte sich, z. B. durch die Einführung von Fremdsprachen bereits in den Hauptschulen.93 Je mehr die Bildungseinrichtungen als Voraussetzung und Weichen für soziale Chancen angesehen wurden, um so deutlicher trat die Notwendigkeit einer Bildungsreform zutage, die die Bildung den gesellschaftlichen Wandlungen anpassen sollte. Bereits 1960/61 befanden sich 15% der Bevölkerung zwischen 5 und 29 Jahren in Ausbildung. Allerdings haben jährlich ca. 100 000 Schüler die Volks- bzw. Hauptschule ohne Abschluß verlassen.94 Verändert hat sich auch die soziale Herkunft der Schüler. Zwischen 1950 und 1961 stieg der Anteil an Akademikerkindern zunächst noch an. Doch hat sich von 1965 bis 1972 der Anteil an Arbeiterkindern (15-19jährige) ungefähr verdoppelt, wobei ein Großteil von ihnen aus Ausländerfamilien stammte. Anfang der 1970er Jahre kamen die Gymnasiasten zu 37% aus Familien von Angestellten, zu 24% von Selbständigen, zu 17% von Arbeitern und zu 16% von Beamten. »Die Schulstufe der Kinder entsprach noch überwiegend der der Väter« (Zorn 1976, 923). Wenn es auch Fortschritte gab, konnten die meisten Ziele der sozialliberalen Bildungsreformen nicht erreicht werden. Die geschlechtsspezifische Benachteiligung von Mädchen allerdings wurde wenigstens im allgemeinbildenden Schulwesen ausgeglichen und die konfessionellen Diskrepanzen überwunden. Die Benachteiligung von Kindern aus unteren sozialen Schichten wurde zwar nicht aufgehoben, doch konnten »Fortschritte bei der Annäherung der Bildungschancen« erreicht werden.95 Von den Erwerbstätigen besaßen 1971 2,2% den Abschluß einer Hochschule, 0,8% den einer Pädagogischen Hochschule, 0,5% einer Ingenieurschule, 11% weiterführender und berufsbildender Schulen, 32% hatten eine Lehre und 20% eine Anlernoder Einarbeitungszeit absolviert. 33,5%, vorwiegend Frauen, waren ohne jede Ausbildung berufstätig. Die Berufsausbildung (Berufsschulen, berufliche Fortbildung) wurde nach dem Krieg erheblich verbessert, am stärksten im Rahmen der Hochschulreform. Die Anhebung der Ausbildungskapazitäten durch mehr Ausbildungs- und Studienplätze an höheren Fachschulen (seit einigen Jahren Fachhochschulen) und an

Noch in den 1970er Jahren waren in ländlichen Gebieten die einklassigen Zwergschulen nicht überall durch Mittelpunktschulen ersetzt. 93 Erst 1959 wurde durch den »Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens«, den der Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen vorlegte, ein Anstoß zur Bildungsreformdiskussion der 60er Jahre gegeben, die politisch folgenreich war; vgl. Herrlitz u. a. 1981, 153. 94

Vornehmlich aus ihnen rekrutierte sich die Gruppe der Hilfsarbeiter, die ohne Abschluß und Lehre auf den Arbeitsmarkt gelangte. Während 1971/72 jährlich 25-40% Lehrstellen unbesetzt blieben, wurden diese durch wachsende Anforderungen und die geburtenstarken Jahrgänge wieder knapp, nur 3-5% blieben unbesetzt; vgl. Henning 1987, 456.

95 Zitiert nach Herrlitz u. a. 1981, 178 f. 1860-1910 betrug der Anteil der Arbeiterkinder an Universitäten weniger als 1%, bis 1930 erhöhte er sich auf 3%, während sich in den 1960er Jahren die Reformdiskussion am 5%-Niveau entzündete. Nach einem Jahrzehnt der Bildungsreformen stieg ihr Anteil in den 1970er Jahren auf knapp 20%. Zu den folgenden Zahlen vgl. Zorn 1976, 923.

292

III.

Untersuchungsgebiete

wissenschaftlichen Hochschulen folgte. Die soziale Zusammensetzung der Studentenschaft entsprach der des Gymnasiums und blieb trotz Ausbau des Stipendienwesens (BAFöG), des enormen Anstiegs der Studentenzahlen und rascher Hochschulneugründungen erstaunlich beständig.96 Die verschiedenen Forderungen nach Hochschulreformen, die die Studenten in sehr unterschiedlicher, teils radikaler Weise vertraten, gehörten in die Zeit der 1966 beginnenden Studentenunruhen. Der starke Zuwachs an Studenten steht allerdings im Gegensatz zum finanziell abgesicherten Bedarf an Hochschulabsolventen, im Staatsdienst wie in der Wirtschaft. Die Lehrerbildung wurde nun auch für Volksschullehrer schrittweise akademisiert, sowohl in den Pädagogischen Hochschulen wie nach und nach durch Eingliederung in die Universitäten bzw. neuen Gesamthochschulen. Der Lehrerberuf, der damit eine Statusanhebung erfuhr, war, wie schon vor der Jahrhundertwende, einer der bedeutendsten Aufstiegsberufe, vor allem in der Beamtenschaft. Bereits Ende der 60er Jahre war mehr als die Hälfte des Lehrpersonals an Volksschulen weiblich. Hochschulneugründungen und zunehmende Studentenzahlen erhöhten den Bedarf an Universitätslehrern. Vor allem in den »neuen« Fächern berief man in den 60er Jahren auch Nichthabilitierte auf die Lehrstühle. Der akademische Mittelbau wurde im Zuge der »Demokratisierung der Ordinarienuniversität« verstärkt und forderte mehr Mitbestimmungsrechte.97 Das Erwachsenenbildungswesen war weitgehend den Volkshochschulen, Gemeinden und freien Trägern überlassen, wurde aber öffentlich gefördert. Ihr Angebot wurde stark erweitert und besonders von Jugendlichen und Angestellten angenommen. Nach den geburtenstarken Jahrgängen mit überfüllten Klassen an den Schulen hat bereits eine rückläufige Entwicklung eingesetzt. Die Studentenzahlen dagegen sind bis in die 90er Jahre weiter gestiegen. Ein angemessener Ausbau von Universitäten und Lehrkörper ist jedoch nicht erfolgt. Durch die zunehmenden Defizite im öffentlichen Haushalt ist mittlerweile eine gegenläufige Entwicklung eingetreten, die neben der Kürzung von Sachmitteln vor allem Stellenstreichungen mit sich bringt.

Gesundheitswesen Das öffentliche Gesundheitswesen wird von Bund und Ländern getragen, mit Schwergewicht bei den Ländern. Das Ressort Gesundheitswesen war zunächst dem Bundesinnenministerium zugeordnet, wurde dann ein eigenes Ministerium und später wieder in den Bereich Jugend-Familie eingegliedert.98 Das Bundesgesundheitsamt mit Sitz in

96

1951/52 waren von den Studenten 28,9% Akademikerkinder (1967/68 33,5%), 37,9% Beamtenkinder (1967/68 29,5%) und nur 4,1% (1967/68 6,7%) Arbeiterkinder. Der Anteil der Studentinnen lag bereits 1968 über 30% und stieg seitdem weiter. Bis 1967/68 gehörten nur noch ca. 28% der Männer studentischen Gruppen und Verbindungen an; vgl. Henning 1987, 456 f.

97

Zur Hochschulverwaltung vgl. Letzeier 1987; zur Erwachsenenbildung vgl. Tiedgens 1987.

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Berlin ist eine dem Ministerium untergeordnete selbständige Behörde und zuständig für Hygiene (Wasser, Boden, Luft), Arzneimittelüberwachung, Forschung in der Gesundheitsfürsorge sowie öffentliche Gesundheitspflege. Bei den staatlichen und kommunalen Gesundheitsämtern sind die Aufgaben differenzierter geworden. Zu ihnen zählen: gesundheitspolizeiliche Aufgaben (Apothekenwesen, medizinisches Personal), hygienische und seuchenhygienische Aufgaben (Wasser, Lebensmittel, Impfprogramme usw.), Gesundheitsvorsorge und -fürsorge (Rettungswesen, Schulfürsorge, Volksbelehrung, Mütterberatung und Aufklärung, z. B. über AIDS). Hinzu kommt die amts-, Vertrauens- und gerichtsärztliche Tätigkeit. Die Zahl der Krankenanstalten und Betten, besonders der privat finanzierten, hat seit den 1950er Jahren kontinuierlich zugenommen; mit ihnen auch die der Fachkliniken. 99 Seit den 60er Jahren war eine Tendenz zur Zentralisierung entstanden. Erst in letzter Zeit kommt es, nicht zuletzt durch die allgemeinen finanziellen Engpässe und die Gesundheitsreform, zu Umstrukturierungen und einer rückläufigen Entwicklung. Nach wie vor gibt es jedoch regionale Unterschiede, wenn auch die Versorgung der Bevölkerung mit Ärzten auf dem Land nicht mehr so schlecht ist wie in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg. Insgesamt stieg die Zahl der Ärzte bis heute kontinuierlich100 und verschob sich mit zunehmender Spezialisierung zugunsten von Fachärzten (heute »Ärzteschwemme« und Zulassungsbeschränkung). Auch das Netz der Apotheken wird immer dichter, und es gibt insgesamt mehr Approbationen von Frauen. Gesundheitsfürsorge und Schutz am Arbeitsplatz bedeuten seit den 1960er Jahren auch die Einstellung von Betriebsärzten und die Einrichtung von werksärztlichen Diensten. Gegenläufig zur Entwicklung bei den Ärzten verlief die Versorgung durch Zahnärzte, deren Zahl zurückging und 1971 den Stand von 1938 unterschritten hatte. Der Ausbau des Klinik- und Ärztewesens, Fortschritte in Medizintechnik, Diagnostik und Therapie brachten insgesamt eine deutliche Zunahme und Spezialisierung in den medizinischen Berufen und den Pflegeberufen. Da immer mehr Menschen ein hohes Alter mit allen körperlichen Einschränkungen und Krankheiten erreichen, wird die Gesundheitsfürsorge in diesem Bereich immer bedeutsamer (Alten-, Pflegeheime, mobiler Pflegedienst, Pflegeversicherung). 101 Da man tendenziell von einer weiteren Abnahme der Sterblichkeit ausgehen kann, ist es notwendig, sich der Folgen bewußt zu werden und entsprechende

98

Mit wechselnder Zuordnung; vgl. Steuer 1974, 6. Zum Gesundheitswesen insgesamt vgl. Beske 1987.

99 Im Deutschen Reich kamen 1877 auf 100 000 Einwohner 165 Betten in den allgemeinen Krankenhäusern, im Jahr 1987 im Bundesgebiet 1100; vgl. Spree 1994; Rytlewski/Opp de Hipt, BRD 1987, 196 ff. Sie gehen von einer kontinuierlichen Abnahme seit den 1970er Jahren aus. 100 Im Jahr 1938 kam ein Arzt auf 1379 Einwohner, 1971 auf 592 Einwohner; vgl. Steuer 1974. 1876 gab es pro 100 000 Einwohner 32 Ärzte, im Jahr 1988 289; vgl. Spree 1994. 101 Vgl. Spree 1994; Höhn/Schwarz 1994. Zur Bedeutung von Sterbewahrscheinlichkeit und Lebenserwartung für Renten- und Krankenversicherung, Behandlungskosten usw. und die methodischen Ansätze ihrer Berechnung vgl. Bomsdorf 1993, 12 f.

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Strategien zu entwickeln. Ein gewichtiger Punkt ist die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen, die sich seit den 70er Jahren vervierfacht haben.102 Bei einer weiter voranschreitenden Entwicklung könnte dieses bedeuten, daß nur deijenige adäquate medizinische Versorgung erfährt, der sie bezahlen kann. Mit der wachsenden Zahl älterer Menschen wird auch der Pflegebedarf steigen, eine Leistung, die von den Familien, insbesondere von den Frauen, oder von der Sozialhilfe erbracht werden muß. Immer weniger im Arbeitsprozeß stehende Menschen müßten immer mehr Sozialleistungen für Menschen, die nicht oder nicht mehr arbeiten, mit finanzieren. Ein Generationenkonflikt ist daher nicht auszuschließen. Weiterhin müßte sich die Zahl der Altenheimplätze bis 2030 um mehr als 50% erhöhen, womit auch der Staat gefordert wäre.103 Da auch die Zahl der in Einzelhaushalten lebenden alten Menschen und damit Vereinzelung und Vereinsamung zunehmen werden, müßte eine Reihe von sozialen Netzwerken geschaffen werden. Viele Krankheiten, besonders die sich ausbreitenden Infektionskrankheiten wie Pest, Pocken, Cholera, Fleckfieber und Typhus, haben in den westlichen Industrieländern vor allem durch gezielte Impfkampagnen ihre verheerende Wirkung verloren. Nachdem zwischenzeitlich eine gewisse Impfmüdigkeit eingetreten ist, kommen diese Krankheiten allerdings vereinzelt über Reisende in Länder der Dritten und Vierten Welt in die Industrienationen zurück. Krankheiten wie Keuchhusten, Masern und Röteln sind weitgehend zu Kinderkrankheiten und meist heilbar geworden. Eine Reihe von Erkrankungen wie Lungentuberkulose bei jungen Menschen und MagenDarm-Infekte bei Säuglingen und Kleinkindern (nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgreiche medikamentöse Intervention) konnten unter medizinische Kontrolle gebracht werden. Zugenommen haben hingegen »Zivilisationskrankheiten« wie Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und der Atemwege sowie Krebs, Rheuma und psychische Störungen. Ausgebreitet hat sich auch eine Vielzahl von Hautkrankheiten und Allergien, die oft bereits bei Kleinkindern auftreten und deren Behandlung sich schwierig und langwierig gestaltet.104 Neu hinzugekommen ist seit den 80er Jahren die Immunschwächekrankheit AIDS, die anfangs vor allem Risikogruppen, zunehmend aber alle Bevölkerungsschichten, vor allem junge Menschen, betrifft und die noch immer zum Tod führt. Das Krankenbild insgesamt verschiebt sich immer mehr von akut Kranken hin zu chronisch Kranken, die bei zunehmendem Alter mit Vielfachleiden leben müssen (Schipperges 1985). Allerdings haben jüngste Untersuchungen gezeigt, daß es auch

102 Vgl. Schicke 1981. Ca. 10% unseres Bruttosozialprodukts geben wir für Gesundheit aus; vgl. Spree 1994. Zu den Folgen der Veränderungen von Krankheiten in der Vielschichtigkeit der Aspekte vgl. u. a. die Arbeiten von Spree und Imhof. 103 Vgl. Höhn/Schwarz 1994, 8. Von den über 65 Jahre alten Pflegebedürftigen in den alten Bundesländern leben 640 000 in Privathaushalten und 260 000 in Heimen. Zur Altersarmut, die auch diesen Bereich berührt, vgl. Buhr u. a. 1991, 527 f.; Hanesch u. a. 1994. 104 Zu Krankheit, Todesursachen und epidemiologischem Übergang vgl. Spree 1992.

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um den Gesundheitszustand Jugendlicher zunehmend schlechter bestellt ist. Einseitige Ernährung (Fast-food) und falsches Ernährungsverhalten besonders bei Mädchen (Diäten, Bulimie) sowie Leistungsdruck und häufiger Tablettenmißbrauch bereits bei Schülern zeigen die Kehrseite unserer Wohlstands- und Leistungsgesellschaft und werden sich vermutlich auf Lebensqualität und Lebenserwartung niederschlagen.

Die Deutsche Demokratische Republik Bereits in der sowjetischen Besatzungszone war ein Ziel der Bildungskonzeption aus marxistisch-leninistischer Sicht, im »Arbeiter- und Bauernstaat« eine neue soziale Bildungsschicht mit sozialistischem Bewußtsein heranzuziehen. Schon 1946 erging ein Einheitsschulgesetz zur »Demokratisierung der deutschen Schule«, und in den weiterführenden Schulen wurden Arbeiter- und Bauernkinder bewußt bevorzugt.105 Die Lehrerbildung erfuhr eine Vereinheitlichung, gegliedert nach den drei Schulstufen. 106 Ebenfalls 1946 wurde die Lehrerbildung an die Universitäten und Technischen Hochschulen verlegt. Mit dem Ziel, eine Einheitsschule zu schaffen, setzte man in der DDR die Bestrebungen zur revolutionären Veränderung der Bevölkerung konsequent fort. Kinderkrippe und Kindergarten bereiteten als Vorschulen auf die zehnklassige »Allgemeinbildende polytechnische Oberschule« vor, deren Besuch seit 1959 allgemeine Schulpflicht war.107 Der Unterricht schloß ab der siebten Klasse einen wöchentlichen Unterrichtstag in der »sozialistischen Produktion«, d. h. in industriellen und landwirtschaftlichen Betrieben, ein und vermittelte in den obersten Klassen berufliche Grundkenntnisse (handwerkliche, kaufmännische Berufe).108 Fort- und Weiterbildung war auf drei Ebenen möglich: Beruf mit evtl. anschließender Erwachsenenqualifizierung, Fach- oder Ingenieurschulen, Universitäten und Hochschulen.109 Mit dem Schulabschluß standen zunächst zwei Möglichkeiten offen, entweder einen Beruf mit einem mindestens zweijährigen Besuch einer Betriebs- oder kommunalen Berufsschule zu erlernen oder die »Erweiterte polytechnische Oberschule« zu besuchen. Mit dem dort erworbenen Abitur konnte man direkt an den wissenschaftlichen Hochschulen studieren, allerdings war die Wahl der Studienrichtung nicht unbedingt frei. Alle Studenten

105 Zugrundegelegt wurde der soziale Stand der Eltern vom 1.1.1942. 106 Fortgesetzt wurde der Anspruch der Entwicklung einer Sozialistischen Demokratie in den Gesetzen und bildungspolitischen Beschlüssen seit den 1960er Jahren. 107 Abgesehen von Pflege- und Sonderschulen; vgl. Henning 1987, 473. Zum Bildungswesen vgl. Günther 1982; Vogt u. a. 1980. 108 Vgl. Zorn 1976; Henning 1987, 473. Zu Aufbau und Stundenplan vgl. Vogt 1985, 322 f. Zum Bildungssystem umfassend vgl. Vogt u. a. 1974, 1977, 1979 und 1980. 109 Zum regulären allgemeinbildenden Schulwesen kam noch eine Reihe von Spezialschulen und Spezialklassen hinzu, u. a. mathematische und physikalisch-technische Spezialklassen, fremdsprachliche und wissenschaftlich-technische Spezialschulen und besonders Sportschulen; vgl. Vogt 1985, 327-329.

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hatten ein praktisches Jahr in Betrieben oder Behörden abzuleisten. Zudem gab es Fachschulen (den Fachhochschulen der BRD vergleichbar), auf denen man sich nach einer praktischen Berufsausbildung (und den Abiturklassen der Berufsausbildung) etwa zum Ingenieur weiterqualifizieren konnte.110 Ihre Studentenzahl lag Mitte der 1980er Jahre bei 170 000, die der Hochschüler bei 130 000. Bezogen auf die Bevölkerung bedeutet dies im Verhältnis zur Bundesrepublik eine geringere Studentenzahl.111 Den Einsatz der Absolventen im Staatsapparat, in Landwirtschaft und Handwerk regelte die Absolventenverordnung (1971), aber auch hier wurde nicht jeder gemäß seinen Qualifikationen untergebracht. Die Erwachsenenbildung wurde ausgebaut. Seit 1956 organisierte man Volkshochschulen als allgemeinbildende Abendschulen für Erwachsene, an denen man auch schulische Abschlüsse wie das Abitur erwerben konnte. Hinzu kamen Betriebsakademien, Dorfakademien für Genossenschaftsbauern und andere Ausbildungsstätten. Fortbildungsmöglichkeiten wie Fern- und Abendstudium hatten im Lauf der Zeit die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten gefördert, allerdings stets abhängig vom einzelnen und seiner Systemkonformität. Im Gegensatz dazu wurden Akademikerkinder lange Zeit ohne Rücksicht auf ihre Eignung nicht zum Studium zugelassen, um den Anteil an Arbeiter- und Bauernkindern zu erhöhen. »Ein nicht zu beeinflussender Faktor wirkt hier mobilitätshemmend oder begünstigt die Mobilität im Sinne eines 1 11 sozialen Abstiegs.« Ein besonderes Aufgabenfeld im Rahmen der Aus- und Weiterbildung der Erwachsenen stellte die Qualifizierung von Frauen und Mädchen zu Produktionsfacharbeiterinnen, für technische Berufe und für den Einsatz in leitende Tätigkeiten dar. Unterstützt wurde dieses durch zeitweilige Arbeitsfreistellung, Frauenklassen, Internatslehrgänge und ähnliches sowie durch besondere Maßnahmen für Mütter mit vorschul- oder schulpflichtigen Kindern und die Möglichkeit einer ganztägigen Erziehung, Ausbildung bzw. Betreuung der Kinder - ein soziales Netz, das den Frauen in der Bundesrepublik in diesem Umfang bei weitem nicht zur Verfügung stand. Allerdings hatte der Staat auf diese Weise frühen und kontinuierlichen Einfluß auf die Erziehung der Kinder.113 110 Auf dem Gebiet der SBZ lagen sechs Universitäten und nur zwei von 13 technischen Hochschulen in Deutschland. Zur Entnazifizierung und Schaffung einer »neuen Intelligenz« wurden sogenannte Vorstudienanstalten eingerichtet, seit 1949 Arbeiter- und Bauern-Fakultäten. 1951 wurden in einer weiteren Hochschulreform Neugründungen beschlossen und Inhalte festgelegt wie das obligatorische gesellschaftswissenschaftliche Studium oder die Integrierung der Studentenverbindungen in die FDJ. 111 Auf 1000 Einwohner kamen in der DDR 17 bis 18 Studenten und in der BRD 19(1981); vgl. Henning 1987, 473. Die Zahl der Hochschulabsolventen betrug jährlich ca. 30 000, etwas mehr als ein Fünftel von ihnen waren Fernstudenten. Zum Einsatz der Absolventen im Berufsleben vgl. Schmidt 1982; Glaeßner/Rudolph 1978. 112 Zitiert nach Henning 1987, 473. Für 1950 wird der Anteil aus Bauern- und Arbeiterfamilien mit 34%, für 1961 mit 50,3% angegeben; vgl. Zorn 1976, 924; Blaske 1979. 113 Vgl. Vogt 1985, 335.

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Ein Sonderfall im Bildungswesen sind die sorbischen Schulen und Klassen, die in dem zweisprachigen Gebiet in den Bezirken Cottbus und Dresden eingerichtet wurden, bzw. der sorbische Sprachunterricht.114 Diese Zweisprachigkeit wird auch in anderen Bildungseinrichtungen wie Kindergärten, Volkshochschulen usw. ermöglicht. Im Sorbischen Institut für Lehrerbildung in Bautzen werden Lehrer und Erzieher, an der Universität Leipzig Fachlehrer für Sorbisch ausgebildet.

Gesundheitswesen Das Gesundheitswesen wurde von der Militäradministration neu strukturiert und dem sowjetischen angeglichen. Es war charakterisiert durch ein weitgehend zentralistisch organisiertes Betriebsgesundheitswesen, ein Netz von Polikliniken und Ambulanzen sowie Hygiene-Inspektoren in jedem Kreis bzw. Bezirk und das Ministerium für Gesundheitswesen. Die freie Niederlassung von Ärzten wurde im Lauf der Zeit unmöglich gemacht. Im Jahr 1971 trat eine erste Lockerung ein, und 1975 wurden beinahe alle rechtlichen Verordnungen und Ausführungsbestimmungen ergänzt oder erneuert, um den Bedürfnissen der Bevölkerung, besonders nach persönlicher Arztwahl, stärker entgegenzukommen. 115 An der Spitze der staatlichen Organisation stand das Gesundheitsministerium. Es war, wie alle seine Einrichtungen, durchgängig in die Bereiche medizinische Betreuung, Versorgung mit Arzneimitteln und Medizintechnik sowie Hygieneaufsicht gegliedert. Finanziert wurde es von drei Kostenträgern (Beschäftigte, Betriebe, Staat), zunehmend stärker aber über den Staatshaushalt. Für Leistungen wie Medikamente und Kranken- oder Schwangerschaftsgeld stand der Sonderfond »Sozialversicherung« zur Verfügung. Daneben gab es Medizinische Dienste in anderen gesellschaftlichen Organisationen (Volksarmee, Volkspolizei, Sportmedizinischer Dienst). Als Hauptaufgabe des Gesundheitswesens wurde die Erhaltung, Sicherung und gegebenenfalls Wiederherstellung der Arbeitskraft der Menschen formuliert. 116 Daher gingen die Aufgaben des betrieblichen Gesundheitswesens auch weit über die der bundesdeutschen Betriebsärzte hinaus. Sie umfaßten neben der medizinischen Betreuung auch arbeitshygienische Beratung, Gesundheitserziehung, Berufsberatung von Jugendlichen, Dispensair-,117 Schwangeren- und Mütterbetreuung, Rehabilitation

114 Grundlage war das Gesetz des Landes Sachsen zur Wahrung der Rechte der sorbischen Bevölkerung (1948), das in Art. 40 der DDR-Verfassung einging; vgl. Vogt 1985, 327. 115 1982 waren 635 Ärzte und 854 Zahnärzte überwiegend freiberuflich tätig, d. h. ein Fünftel der Zahl von 1960. Zwei Drittel waren als AUgemeinärzte tätig; vgl. Jahn 1985, 561; allg. auch Winter 1980. 116 Dieses bezog auch die Personen mit ein, die nur mittelbar an der industriellen Produktion beteiligt waren (Familienangehörige, Gewerbetreibende, Angehörige freier Berufe), allerdings mit geringeren Leistungen; vgl. Ruban 1981.

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usw. Der Ausbau des Präventiv- und Vorsorgewesens zeigte vor allem in der perinatalen Medizin Erfolge, die Mütter- und Säuglingssterblichkeit lag in der DDR anfangs weit unter der in der Bundesrepublik.118 Entsprechend diesen weitgefaßten Aufgaben waren die Einrichtungen auf die Betriebe ausgerichtet, wobei eine Klinik für mehrere Betriebe zuständig sein konnte. Neben den Betriebspolikliniken, in denen nahezu alle medizinischen Fachbereiche vertreten waren, gab es auch Ambulatorien, die eine allgemeine medizinische Versorgung gewährleisteten. Sie boten einen geringeren Umfang an fachspezifischen Leistungen und wurden insgesamt weniger in Anspruch genommen.119 Die Versorgung war regional unterschiedlich, in den ländlichen Produktionsgenossenschaften zumeist weit zurückgeblieben. Die ambulante Versorgung mit Fach- und Zahnärzten war ebenfalls bereits früh in 110

den beiden genannten Einrichtungen zentralisiert worden. Dieses bedeutet, daß 1982 ein Arzt durchschnittlich etwa 930 Einwohnern zur Verfügung stand (in der BRD ein Kassenarzt 963 Einwohnern). In dünner besiedelten Gebieten wurde die medizinische Versorgung der Bevölkerung durch staatliche Arzt- und Zahnarztpraxen sichergestellt. Neben Impfungen und Reihenuntersuchungen legte man auch hier auf Früherkennung und -behandlung zunehmend mehr Gewicht. Bei der Bekämpfung der Infektionskrankheiten gab es in der DDR in weiten Bereichen ähnliche Erfolge wie in anderen Industriestaaten, so gab es z. B. bei Diphtherie und Kinderlähmung keine Krankheitsfälle mehr. Bei Krankheiten, denen man mit einer Pflichtimpfung begegnen konnte, zeigte sich ein günstiges Bild (Tuberkulose, Typhus). Demgegenüber fällt eine deutlich höhere Morbidität bei Ruhr und Scharlach auf, die etwa viermal so hoch war wie in der Bundesrepublik. Die Verbreitung dieser ansteckenden Krankheiten dürfte vor allem mit der schlechteren Wohnsituation in hygienisch nicht immer einwandfreien Gebäuden zusammenhängen.121 Im Bereich von Medizintechnik und Arzneimittelversorgung konnte die DDR aus Devisenmangel den neuesten Stand nicht oder zumindest nicht überall gewährleisten, wodurch die medizinische Versorgung teilweise unzulänglich war (Dinkel 1994).

117 Zu Beginn fand die Betreuung für Menschen, die auf den Ruhestand zugingen, in fachspezifischen Untersuchungs- und Beratungsstellen statt. Zuletzt bedeutete Dispensairbetreuung nur noch, daß Ärzte für bestimmte Krankheiten Krankenkarteien führten, in denen auch Risikoträger, evtl. Früherkennung, Untersuchung usw. eingetragen wurden. 118 1977 lag die Zahl der gestorbenen Mütter auf 10 000 Lebendgeborene in der DDR bei 1,8, in der BRD bei 3,6; vgl. Ruban 1981, 92. Später glich sich dieses aus. 119 Betriebsbereichsärzte waren für je 2000-2500 Beschäftigte, Fachärzte für Arbeitshygiene für je 8000-12 000 Beschäftigte und Arbeitshygiene-Ingenieure und -Inspektoren für je 5000 bis 10 000 Beschäftigte vorgeschrieben; vgl. Jahn 1985, 559. 120 Im Jahr 1982 gab es 336 Polikliniken (davon 129 in organisatorischer Verbindung mit einem Krankenhaus), 111 Polikliniken der Hochschulen, 652 Ambulatorien (davon 24 bei Krankenhäusern), 1631 staatliche Arztpraxen und 932 staatliche Zahnarztpraxen. Die Zahl der Krankenhäuser war bis 1982 auf 545 mit 171 280 Betten angewachsen; vgl. Jahn 1985, 561; Ruban 1981. 121 Vgl. Ruban 1981, 90 ff.

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Wirtschaft und Gesellschaft Westzonen und Bundesrepublik Deutschland

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Die ersten Nachkriegsjahre wurden bestimmt von der schlechten Ernährungs- und Wohnsituation, die mit der geringen Versorgung an Gütern in allen Bereichen zusammenhing. Die Zerstörungen und Kriegsschäden waren in Deutschland nicht in allen Gebieten gleich groß, allerdings herrschten gerade in den Ballungsräumen desolate Zustände. Dennoch konnte in einigen Bereichen von Industrie und Verkehr bereits 1945 der Betrieb wieder aufgenommen werden. Die tiefgreifenderen Schäden, die nur mit hohen Investitionen zu beheben waren, sollten in ihren Konsequenzen noch viele Jahre spürbar bleiben. Vor allem die Desorganisation sowie die Probleme in der Infrastruktur, besonders im Transportwesen, machten sich anfangs in der Versorgung der Bevölkerung mit den wichtigsten Gütern des täglichen Bedarfs bemerkbar. Die regionalen Unterschiede verstärkten sich dadurch, daß der Austausch von Lebensmitteln sowohl innerhalb der Besatzungszonen als auch zwischen ihnen kaum funktionierte. Generell war die Bevölkerung auf dem Land besser versorgt als in den Städten. Die Nahrungsmittelzuteilungen ermöglichten nur eine Minimalversorgung, wobei Schwerarbeiter, Kranke und stillende Frauen Zulagen, Säuglinge, Kinder und Jugendliehe besondere Lebensmittelmarken erhielten. Die Folge waren »Hamsterfahrten« ins Umland, illegale Schwarzmarktgeschäfte, aber auch Mundraub und Diebstahl. Im Grunde mußten beinahe alle Waren auf diesem Weg »organisiert« werden. Der Bedarf der Menschen, die ausgebombt waren, sowie der vielen Flüchtlinge, die weder Möbel, Hausrat noch Kleidung hatten, war enorm groß und obgleich es nicht an Kapital mangelte, sah sich die Industrie zunächst nicht in der Lage (nicht zuletzt durch den Rohstoffmangel), ein entsprechendes Angebot zu erwirtschaften. Die schlechte Versorgung mit Kleidung beispielsweise führte in Verbindung mit unzureichender Ernährung zu einer erhöhten Anfälligkeit vor allem für Erkältungskrankheiten und damit zu einer Einschränkung der Arbeitsfähigkeit. Hinzu kam, daß unter solchen Bedingungen besonders die Frauen körperliche Schwerstarbeit bei der Trümmerbeseitigung und beim Aufbau leisten mußten.124

122 Zum Stand der bundesdeutschen Wirtschaftsgeschichtsschreibung vgl. Klump 1985; vgl. auch Fischer 1987. Neuere Literatur zu einzelnen Themenschwerpunkten bei Blanke/Wollmann 1991; zur Wirtschaftsgeschichte bis 1970 vgl. Hardach 1993; zu sozialgeschichtlichen Aspekten vgl. Kaelble 1992; Wehler 1993. Zu Stand und Defiziten sozialgeschichtlicher Forschung vgl. Erker 1993. 123 Einheitliche Lebensmittelkarten gab es in der britischen Zone erst vom 15.10.1945, in der amerikanischen vom 7.1.1946 an; vgl. Grebing, Wirtschaft 1980, 27 ff. Dort findet sich auch eine differenziertere Aufschlüsselung der Lebensmittelrationen nach Kalorienwerten, Zuteilungsperiode usw. sowie Lebenshaltungskosten. Zur wirtschaftlichen Lage in den Anfangsjahren vgl. auch Benz 1984. 124 Zum Leben von alleinstehenden Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem auch in der Wiederaufbauphase, vgl. Meyer/Schulze 1984.

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Um die Arbeitsproduktivität anzukurbeln, hatte der Alliierte Kontrollrat bereits 1945 die Registrierung und Arbeitsverpflichtung aller Männer im Alter von 14 bis 65 Jahren und Frauen im Alter von 15 bis 50 beschlossen, ohne deren Einhaltung keine Lebensmittelkarten ausgegeben wurden.125 Die Arbeitsproduktivität war auf etwa 40-50% des Vorkriegsstands gesunken, was in der Überalterung der Männer wie dem hohen Frauenanteil, in Demontagen, Rohstoff- und Energiemangel sowie Produktionsumstellung und den insgesamt unzureichenden sozialen Verhältnissen begründet lag. Die Politik der Alliierten zielte zunächst auf eine Gebietsreduzierung und die Beschränkung der Produktion auf den Grundbedarf an Nahrung und Kleidung sowie ein Verbot jeglicher kriegswichtiger Industrie (Morgenthau-Plan). Mit dem Industrieplan von 1946 wurde das Produktionsniveau auf den Stand von 1932 festgelegt. Erst in der Auseinandersetzung der Siegermächte kam es allmählich zur Aufhebung der Beschränkungen und einem wirtschaftspolitischen Kurswechsel der Amerikaner (Marshall-Plan), sowie in letzter Konsequenz zur politischen Selbständigkeit und der Bildung zweier deutscher Staaten. Mit der Währungsreform vom 20./21.6.1948,126 der finanziellen Unterstützung durch die Alliierten (Marshallplan-Hilfe 1948-1952 insgesamt 1,56 Mrd. US-Dollar), dem Übergang zur »Sozialen Marktwirtschaft« und der Öffnung der Grenzen für eine Ausdehnung des Außenhandels erfolgte ein schnelles wirtschaftliches Wachstum, das der Begriff »Wirtschaftswunder« kennzeichnet.127 Getragen wurde der wirtschaftliche Aufschwung vor allem durch den Wiederaufbauwillen der Menschen, die im Krieg am meisten verloren hatten (Ausgebombte, Flüchtlinge). Später kamen die zumeist hochqualifizierten Flüchtlinge aus der SBZ und der DDR hinzu. Ihre Eingliederung wurde, bei allen sozialen und zwischenmenschlichen Problemen, die mit ihrer Ansiedlung verbunden waren, durch die gemeinsamen Aufgaben erleichtert. Die schon vor dem Krieg ausgeprägte wirtschaftliche Struktur, die eine Ausweitung der Investitionsgüterindustrie für den Export mit sich gebracht hatte, kam dem Aufschwung zugute. Die Wirtschaft konnte nun die Güter liefern, die beim Wiederaufbau sowie bei der Entwicklung bislang nicht-industrialisierter Länder weltweit gebraucht wurden. Durch die Öffnung der Märkte konnten die benötigten Rohstoffe, Energien und Produkte wieder importiert werden.

125 Freigestellt von der Arbeitsvermittlung waren Mütter von Kleinkindern, Schüler, Studenten, Kranke und Behinderte, was etwa 25-30% der Gemeldeten ausmachte. Trotz Bevölkerungszunahme lag das Potential an Arbeitskräften in der späteren Bizone damit Anfang 1946 unter dem Vorkriegsstand; vgl. Grebing, Wirtschaft 1980, 35. 126 Die 110 Mrd. Reichsmark Buchgeld und 13,5 Mrd. Reichsmark Bargeld wurden mit Abweichungen auf 6,5% reduziert, so daß nach einigen Monaten ein Geldvolumen von 13 Mrd. Mark vorhanden war; vgl. Henning 1987, 466; Ritchl 1985; Klump 1985, 49 ff.; Altvater 1991, 91-103. 127 Vor allem Abelshauser (1983, 54-63) spricht sich gegen diese »wirtschaftliche Gründungslegende« der Bundesrepublik aus. Anhänger dieser Thesen nennt Klump (1985, 21). Diese Thesen wurden von der regionalgeschichtlichen Forschung teilweise revidiert. Zur Forschungsdiskussion vgl. Morsey 1987, 148 f.

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Eine Schlüsselfunktion hatte die »Soziale Marktwirtschaft« - ein Begriff, der 1946 von Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard geprägt wurde. »Diese Wirtschaftsordnung geht von einer Kombination der freien Marktwirtschaft mit einer weitgehenden Selbstregelung von Produktion, Angebot und Nachfrage und Verbrauch, mit einer sozialen Komponente zur Verhinderung oder Beseitigung von sozialpolitisch unerwünschten Entwicklungen, aus.«128 Erhard, der Direktor für Wirtschaft des Vereinigungsgebiets, später langjähriger Bundeswirtschaftsminister und zuletzt Bundeskanzler war, zählte zu den Wegbereitern und setzte wesentliche Bestandteile des Programms durch. Kernpunkt der Sozialen Marktwirtschaft war der freie Wettbewerb. Um diesen zu gewährleisten, hatte die staatliche Wirtschaftspolitik Unternehmenskonzentrationen entgegenzuwirken sowie Produktions- und Verbrauchsregiei -yn

mentierungen zu beseitigen. Begleitet wurde dieses von sozialpolitischen Maßnahmen: der Wiedereinrichtung der gesetzlichen Sozialversicherung bis 1956,130 Familien-, Sozial- und Jugendhilfen (Darlehen, Mutterschutz, Kindergeld),131 Ausbildungsförderung, um z. B. begabten Kindern aus sozial schlechter gestellten Elternhäusern ein Studium zu ermöglichen, oder Wohngeld, das über den sozialen Wohnungsbau hinaus soziale Härten abfangen sollte. Aber auch die Verkürzung der Arbeitszeit, bessere Ausbildung und Schaffung einer flexiblen Altersgrenze zählten zu den Maßnahmen. Die durchschnittliche Ruhestandsperiode lag bei Männern Anfang der 80er Jahre bei über zehn Jahren gegenüber zwei Jahren um die Jahrhundertwende - mit steigender Tendenz.132 Der weniger finanzkräftige Sparer wurde unterstützt und sollte außerdem durch Bausparförderung die Möglichkeit erhalten, persönliches Wohneigentum zu schaffen. Aber auch Wirtschaftsbereiche, die den eher krisenanfälligen zuzurechnen sind wie Landwirtschaft, Bergbau oder strukturschwache Regionen (Zonenrandgebiet), wurden subventioniert.133 Wirtschaftspolitisches Ziel war,

128 Vgl. Henning 1987, 465; ders. 1978, 201-207; Winkel 1971, 53 ff.; Klump 1985, 49-79; Buchheim 1990; Altvater 1991. Die Bundesrepublik ist nach Art. 20 GG ein »sozialer Bundesstaat«. Es wird vom Staat den Bürgern gegenüber eine soziale Grundhaltung im Hinblick auf Wohlfahrtspflege erwartet; vgl. Hildebrand 1979, 125. 129 Die Beseitigung der seit 1930 bestehenden Devisenkurse im Jahr 1958 und die Einführung freier Wechselkurse, die 1973 begann, waren die letzten Schritte. Einige Bereiche (öffentlicher Verkehr, Wasser, Elektrizität) blieben von Reglementierungen ausgenommen; vgl. Henning 1987, 465. 130 Die Leistung der Rentenversicherung wurde erweitert und mit der Rentenreform von 1957 dynamisiert, wodurch die Rentner mit Verzögerung an den Einkommenssteigerungen partizipieren. Ein Teil der Renten blieb aber unter dem Sozialhilfesatz, was gerade jene Frauen traf, die vor dem Ersten Weltkrieg geboren wurden, Familienarbeit und den Wiederaufbau leisteten, aber nicht lange genug in einem Arbeitsverhältnis standen. Zur Rentenpolitik vgl. Treue 1986. Zur Sozialpolitik vgl. Hockerts 1983; Hentschel 1983; Kocka 1986. 131 Das Mutterschutzgesetz wurde 1952 verabschiedet und 1968 verbessert. Es enthält Kündigungsschutz, erweiterten Arbeitsschutz, Mutterschaftsgeld usw. In den 1980er Jahren kam es zu Erweiterungen wie dem Erziehungsurlaub, der von beiden Elternteilen angetreten werden kann. Das Kindergeld wurde erstmals 1954 gesetzlich geregelt und war zunächst vor allem für kinderreiche Familien gedacht; vgl. Winkel 1971, 145. 132 Vgl. Zapf 1983, 53.

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die Konjunktur zu beleben, schon allein um die Basis für staatliche Einnahmen zu schaffen, auf deren Grundlage ein Sozialsystem nur möglich ist. In der Zeit des sogenannten Wirtschaftswunders lagen die durchschnittlichen Wachstumsraten sehr hoch.134 Das Expandieren der Wirtschaft zeigte, daß es gelungen war, die angewachsene Bevölkerung in den Arbeitsprozeß einzugliedern. Bereits Ende der 1950er Jahre war Vollbeschäftigung erreicht, und zu Beginn der 60er Jahre stieg der Bedarf an Arbeitskräften derart an, daß, nachdem die Zuwanderung aus der DDR nach dem Mauerbau gestoppt war, die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft nur durch Gastarbeiter aufrecht erhalten werden konnte (vgl. Kapitel »Bevölkerungsentwicklung«).135 Das Wirtschaftswachstum mit seinen Auf- und Abbewegungen der Zuwachsraten brachte mit steigenden Löhnen eine Erhöhung des Lebensstandards und Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten. Allerdings verdienen die Frauen bis heute in nahezu allen Berufssparten für dieselbe Arbeit noch immer wesentlich weniger als die Männer.136 Seit den 70er Jahren trat ein Umschwung ein. In zunehmendem Maß waren die Lohnerhöhungen zu gering, als daß sie die gestiegene Inflationsrate und die ständig ansteigenden Sozialabgaben (Kranken-, Arbeitslosen-, Rentenversicherung), Lohnund Verbrauchssteuern hätten ausgleichen können. Als Folge der Inflation, die in den 70er Jahren verstärkt einsetzte, mußten Eigentümer von Geldvermögen erhebliche Verluste hinnehmen; Staatsschulden minderten sich im Wert, Privatkredite wurden dagegen teurer. »Eine relativ hohe Inflationsrate bedeutet daher zugleich eine negative Sozialpolitik.«137 Der Staatshaushalt war von Anfang an stark belastet. Der Wiederaufbau vor allem im Bereich des Wohnungsbaus, Unterstützung von Hilfsbedürftigen, Wiedergutmachungslasten, Kriegsopferversorgung und Lastenausgleich (Gesetz von 1952) mußten von Bund, Ländern und Gemeinden mitfinanziert werden. Dies erfolgte größtenteils über Steuern.138 Da die Einnahmen aus Steuermitteln den Finanzbedarf nicht deckten, kam es zu einer Staatsverschuldung, die sich seit den 1970er Jahren

133 Zum Ruhrkohlebergbau vgl. Abelshauser 1985. 134 Im Vergleich: Das jährliche Pro-Kopf-Wachstum betrug von 1875 bis 1914 durchschnittlich 1,4%, von 1914 bis 1975 1,9% und von 1973 bis 1982 2%. Das Volkseinkommen je Einwohner in Preisen von 1913 betrug 1913 720 Mark; 1945/46 500 Mark; 1950 850 Mark; 1960 1480 Mark; 1975 2300 Mark; vgl. Henning 1987, 458; Kaelble 1992. 135 1946 gab es 18,4 Mill. Erwerbstätige, 1948 über 19,3 und 1960 26,15 Mill. Die Zahl der Gastarbeiter betrug 2,4 Mill. (1973), 1,9 Mill. (1976) und 2,1 Mill. (1982); vgl. Henning 1987, 460. 136 Die durchschnittlichen Bruttogehälter der Frauen betrugen 1960 56% und 1980 64% der Gehälter der Männer; vgl. Rytlewski/Opp de Hipt, BRD 1987, 113, 124 f. 137 Vgl. Henning 1987, 466 und Schaubild 8 zur Wachstums- und Inflationsrate von 1946/49 bis 1982. Zur Politik der Alterssicherung und der Entwicklung der Rentenversicherung vgl. Rüb/Nullmeier 1991. 138 Die Steuereinnahmen setzen sich zusammen aus: Einkommens-, Lohn- und Körperschaftssteuer mit ca. 35-50%, Mehrwert- und Umsatzsteuer mit 20-25% sowie Mineralölsteuer mit 6-7% , Gewerbesteuer mit 7% und Tabaksteuer mit 3-4% (alle mit steigender Tendenz); die übrigen Steuern liegen anteilmäßig unter 3%; vgl. Henning 1987, 465. Zum Lastenausgleich vgl. Henning 1978, 237 f.; Schillinger 1985.

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bereits innerhalb eines Jahrzehnts mehr als verdoppelte. Durch eine Umstrukturie13Q

rung in den 80er Jahren erhöhten sich die Sozial- und Bildungsausgaben, die gemeinsam mit den Rüstungsausgaben etwa die Hälfte aller Mittel in Anspruch nahmen. Es ist gerade der soziale und kulturelle Bereich, bei dem in der schwierig gewordenen Finanzsituation nach der deutschen Einheit der Rotstift verstärkt angesetzt wird. Dieses betrifft zur Zeit wieder den Abbau von Sozialleistungen, wobei über das Ausmaß im einzelnen noch gerungen wird (Kürzungen im Sozialhilfebereich, bei der Arbeitslosenunterstützung, Leistungen der Krankenkassen, BAFöG usw.). 140 Die Entwicklung der einzelnen Wirtschaftssektoren bedeutete eine Fortsetzung und Differenzierung der Vorkriegsstrukturen. Die Landwirtschaft erfuhr in den ersten Nachkriegsjahren einen starken Zuwachs an Arbeitskräften, was in der Versorgungs- und Ernährungslage wie in der regionalen Verteilung der Flüchtlinge und Umsiedler begründet lag. Die zunehmende Technisierung, die Ausdehnung und intensivere Bewirtschaftung der Anbauflächen, die erhöhten Erträge durch den Einsatz von Kunstdünger und Pestiziden sowie biochemische Entwicklungen führten zu einer Erweiterung der landwirtschaftlichen Produktion mit der gleichzeitigen Verringerung von landwirtschaftlichen Betrieben und einer rückläufigen Zahl der hier tätigen Menschen.141 Durch das Überschußangebot auf dem Weltmarkt erreichten die Preise für landwirtschaftliche Produkte ein Niveau, auf dem eine kostendeckende Erwirtschaftung kaum noch gewährleistet werden konnte. Mit einer Abschöpfungspolitik, die auf die Länder der Europäischen Gemeinschaft (EG) ausgedehnt wurde, versuchte man, das Einkommen der Bauern, das mittlerweile im unteren Bereich lag, zu sichern. Sie ist umstritten, da zumindest rechnerisch fast die Hälfte der bäuerlichen Einkommen aus Subventionsmitteln kommt. 142 Ein Großteil der Menschen, auch von denen, die aus der Landwirtschaft abwanderten, fand im sekundären Sektor Arbeit.143 Am stärksten expandierten das Metallgewerbe, die Elektro- und feinmechanische Industrie, die chemische Industrie sowie die Bauwirtschaft, die sich nach 1973 allerdings rezessiv entwickelte. Ein Drittel der 139 Ihr Anteil am Bruttosozialprodukt stieg von 21% im Jahr 1960 auf über 30% Ende der 70er Jahre. Dieses bedeutet eine Pro-Kopf-Zunahme der Sozialleistungen um mehr als das Sechsfache; vgl. Klump 1985, 88 f. 140 Zur Reduktionsgesetzgebung im Sozialhilfebereich in den 1980er Jahren und der »Neuen Armut« vgl. Buhr u. a. 1991, 519 ff.; Hanesch u. a. 1994. 141 Die Betriebszahlen sanken von 2 Mill. (1949) auf weniger als 0,6 Mill. (1982). Entsprechend gingen die Arbeitskräfte zurück: von 5,9 Mill.(1949) auf 1,5 Mill. (1975) und 1,2 Mill. (1982); vgl. Henning 1987, 461. 142 Den überwiegenden Teil ihrer Finanzmittel gibt die EG für die Agrarwirtschaft aus, wodurch andere Bereiche vernachlässigt werden; vgl. Henning 1987, 461. Zu Subventionen in der Bundesrepublik vgl. Klump 1985, 91 f. 143 An den Beschäftigtenzahlen läßt sich die Entwicklung ablesen: 1950 8,7 Mill.; 1960 12,5 Mill.; 1965 13,2 Mill.; 1970 13,0 Mill.; 1975 11,6 Mill.; 1982 11,0 Mill.; vgl. Henning 1987, 461. Zu den allg. Arbeitsmarktzahlen 1951-1980 vgl. Abelshauser 1983, 99; zum Arbeiterleben vgl. Mooser 1984. Zahlenmaterial zur Erwerbstätigenstruktur vgl. Rytlewski/Opp de Hipt, BRD 1987, 78-105.

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III.

Untersuchungsgebiete

Produktion des Metallgewerbes und jeweils ein Viertel der Zweige Elektro, Feinmechanik und Chemie wurden exportiert. Das Handwerk war am wirtschaftlichen Aufschwung gleichermaßen beteiligt, auch wenn die Gesamtzahl der Beschäftigten vorübergehend von 36% (1950) auf 31% (1971) und 34% (1982) sank. Die Textilindustrie nahm dagegen ab, da Textilien weitaus billiger importiert werden konnten. Der Bergbau ging soweit zurück, daß inzwischen ein Großteil der Zechen schließen mußte; vor allem durch die Einfuhr billigerer Energien und die Atomkraft wurde er unrentabel. Der Außenhandel nahm noch stärker zu als das wirtschaftliche Wachstum. Nach einer 1951 erstmals ausgeglichenen Handelsbilanz kam es zu einem ständigen Handelsbilanzüberschuß.144 Durch die günstigere Produktion vor allem von Konsumgütern in der Dritten Welt wie auch in weniger industrialisierten europäischen Ländern wandelte sich die Palette der Einfuhren von Nahrungsmitteln und Rohstoffen zu Fertigprodukten. Der parallel dazu anwachsende Binnenhandel erfuhr einen Strukturwandel. Die kleinen Einzelhandelsbetriebe, insbesondere die Kleinstbetriebe, erlebten Umsatzeinbußen und mußten den Markt zu einem großen Teil den Warenhäusern und dem Versandhandel überlassen.145 Im Zusammenhang mit den Absatzmärkten hat sich auch die Infrastruktur geändert. Vor allem der Ausbau des Straßennetzes wurde gefördert, während im Schienenverkehr in den vergangenen 20 Jahren mehr und mehr Strecken stillgelegt wurden. Zwar ist die Eisenbahn für die Güterbeförderung noch immer ein wichtiges Transportmittel, doch wird der größte Teil des Transports von Lastkraftwagen übernommen, die flexibler einzusetzen sind und kostengünstiger fahren.146 In der Personenbeförderung ist der Individualverkehr (PKW) erheblich angewachsen. Die dadurch ermöglichte Mobilität der Menschen hat allerdings positive wie negative Konsequenzen: anderes Freizeitverhalten (Naherholung, Fremdenverkehr), Pendlerbewegung zum Arbeitsplatz, Veränderung der Siedlungsstruktur (»entmischte Stadt«, städtischer Einzugsbereich), höhere Verkehrsdichte sowie Unfälle und Umweltbelastungen, die besonders in den Ballungsräumen spürbar werden (Smog, Lärm). Ging es in der Gründungsphase der Bundesrepublik darum, Wirtschaftswachstum und soziale Gerechtigkeit im Gleichgewicht zu halten und allgemeinen Wohlstand zu schaffen, »so könnte in einer zweiten Phase der Sozialen Marktwirtschaft der Ausgleich von Ökonomie und Ökologie im Vordergrund stehen, um zu verdeutlichen, daß eine allgemeine Wohlstandssteigerung nicht zwingend die Lebensqualität vermindert.«147

144 Zur Struktur von Ein- und Ausfuhr nach Warengruppen vgl. Henning 1987, 462, Tab. 7. 145 Hatten diese in den 1950er Jahren nur ein Fünftel Anteil am Umsatz, konnten sie diesen inzwischen auf etwa die Hälfte ausdehnen; vgl. Henning 1987, 463. Unter anderem durch ein stärkeres Umwelt- und Ernährungsbewußtsein haben sich in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren immer mehr Naturkostläden etabliert; auch die kleinen Einzelhandelsläden der türkischen Gastarbeiter haben das Bild etwas verändert. 146 Die Binnenschiffahrt konnte ihre Kapazitäten nahezu verdoppeln, steht aber unter starkem ausländischem Konkurrenzdruck. Der Bestand der Seeschiffe wuchs von 0,26 Mill. NRT auf 5,8 Mill. NRT im Jahr 1973; vgl. Henning 1987, 463. Zum Verkehrswesen vgl. Henning 1978, 222 ff.

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Der Ausbau des Nachrichtenwesens (Telefon) mit seinen technischen Neuerungen (Telefax) hat die Kommunikation der Menschen im Arbeitsbereich wie im Privatleben stark verändert. Auch der seit den 1950er Jahren expandierende Bereich des Fernsehens und des Rundfunks greift längst umfassend in das Leben der Menschen ein. Welche persönlichen und gesellschaftlichen Folgen das »Konsumieren« von Programmen und die Informationsfülle, die rund um die Uhr zur Verfügung steht, hat, läßt sich im einzelnen noch nicht voraussagen. Bereits Kinder verbringen heute einen großen Teil ihrer Zeit mit diesen Medien, ddie spätestens seit den 80er Jahren durch die Expansion der elektronischen Datenverarbeitung - ergänzt wurden durch Computer und Software für Arbeit und Spiel. Die langfristigen Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit des einzelnen wie die Veränderungen im gesellschaftlichen Zusammenleben lassen sich allerdings noch nicht absehen.

Gesellschaft Im Gefolge von Krieg und Flüchtlingsströmen veränderte sich langfristig die soziale Schichtung in der Bundesrepublik.148 Die Flüchtlinge waren zu einem großen Teil in der Landwirtschaft selbständig tätig gewesen oder aus klein- und mittelständischen Familienbetrieben der Städte gekommen. Sie mußten ihre soziale Stellung, die auf Selbständigkeit, Vermögen und Immobilien beruhte, mit der Abwanderung aufgeben. Ihre Neueingliederung in den Arbeitsprozeß erfolgte vor allem als Arbeitnehmer in der Industrie und im Dienstleistungsbereich, wobei einigen später der Schritt in die Selbständigkeit gelang. Besonders seit den 60er Jahren änderte sich auch die Sozialstruktur der einheimischen Bevölkerung, als mit dem Rückgang der Beschäftigtenzahlen in der Landwirtschaft auch hier der Anteil der Selbständigen, gemessen an der Menge aller Beschäftigten, rückläufig war.149 Dieselbe Entwicklung läßt sich im Handwerk und ähnlich im Bereich von Handel, Banken, Versicherungen und im Verkehrswesen feststellen. Von 1950 bis 1980 erhöhte sich die Quote der abhängig Beschäftigten von 69% auf 86%, wobei die Arbeitnehmer, auch durch die geringe Arbeitslosigkeit, eine Erhöhung ihres Anteils am Volkseinkommen erreichten. Die Zahl der Beamten und Angestellten hat sich in diesem Zeitraum verdoppelt, die der Arbeiter ist rückläufig.150

147 Vgl. Klump 1985, 107. 148 Zur sozialen Schichtung vgl. Lepsius 1979; Leibfried/Tennstedt 1985; Zapf 1991; Kaelble 1992; Geißler 1987. 149 Der Selbständigenanteil aller Erwerbstätigen lag 1949 bei 17,2%, 1962 bei 11,8%, 1974 bei 9,4% und 1982 bei 9,1 %. Die Zahlen für die mithelfenden Familienangehörigen lagen bei 19,4% (1949), 9,3% (1962), 5,4% (1974) und 3,4% (1982); vgl. Henning 1987, 453. 150 Datenmaterial zu den sozialen Verhältnissen, Einkommensstrukturen, sozialer Mobilität usw. findet sich bei Rytlewski/Opp de Hipt, BRD 1987, 111-155.

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Untersuchungsgebiete

Allerdings stehen seither zunehmend mehr Arbeitskräfte immer weniger Arbeitsplätzen gegenüber, daher stieg nach den Rezessionen von 1974/75 und 1981/82 die Arbeitslosigkeit stark an. In der Bundesrepublik vollzog sich ein Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Allerdings lassen weder die Verteilung des Volkseinkommens auf Lohn- und Gewinnquote noch die personelle Verteilung des gesamten Einkommens nach Einkommensklassen einen Trend zur Angleichung der Schicht- und Klassenunterschiede erkennen. Etwa ein Drittel aller bundesdeutschen Haushalte dürfte nach Friedrich-Wilhelm Henning am Rande des Existenzminimums liegen (»Zweidrittelgesellschaft«). Auf Grund der neuen Strukturen ökonomischer und sozialer Differenzierung, die sich seit den 80er Jahren herausbilden, kann man nicht mehr von einem Ausbau des Wohlfahrtsstaats sprechen. Allerdings ist diese »Neue Armut« kein dauerhaftes Merkmal marginalisierter Bevölkerungsgruppen, wie neuere Forschungen zeigen, da (Einkommens-)Armut und Sozialhilfebezug meist kurzfristig sind. Das Armutsrisiko bei anderen Gruppen ist aber stark angestiegen (Ausländer, Alleinerziehende).151 Die soziale Mobilität war kurz nach dem Krieg besonders hoch. Die Zuwanderer, die vor allem auf ihr eigenes Können angewiesen waren, erlebten zwar zunächst meist einen sozialen Abstieg, schufen aber die Voraussetzungen für die soziale Aufstiegsmobilität ihrer Kinder. Die verbesserten Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten boten vorerst ebenfalls Aufstiegschancen, da bis Anfang der 70er Jahre sowohl durch die Altersstruktur als auch durch den Ausbau im Bildungs- und Gesundheitswesen ein erhöhter Bedarf an Arbeitskräften bestand. Seit Ende der 70er Jahre sanken vor allem durch die Einsparungen öffentlicher Gelder die Mobilitätschancen. Bis heute gibt es eine wachsende Zahl teilweise »überqualifizierter« oder »am Bedarf vorbei qualifizierter« Berufsanfänger (bes. Akademiker), die in fremde Berufe ausweichen müssen. Durch die zunehmenden Kürzungen im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen erhöht sich auch hier die Arbeitslosigkeit. Für die seit den 1960er Jahren zugewanderten Gastarbeiter kann man von einer echten Verbesserung der Mobilitätschancen wohl erst in der dritten Generation ausgehen, wenn die wirtschaftliche Entwicklung nicht insgesamt eine andere Richtung nimmt. Sowjetische Besatzungszone (SBZ) und DDR Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands ging unterschiedliche Wege und vollzog sich auf wirtschaftlicher Ebene in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR verhaltener als im westlichen Deutschland. Durch Demontagen, höhere Reparationsleistungen,152 geringeres Rohstoffvorkommen

151 Vgl. Buhr u. a. 1991, 522 f.; Abelshauser 1983, 128-147; Henning 1987, 455; Blüm/Zacher 1989; Hanesch u. a. 1994.

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und das Fehlen einer Aufbauförderung wie dem Marshall-Plan waren die Startbedingungen in der SBZ weitaus ungünstiger als in den westlichen Besatzungszonen. Die Ausrichtung der Wirtschaft auf die kostenintensive Schwerindustrie unter Vernachlässigung der anderen Bereiche sowie der Aufbau einer zentralen Planwirtschaft wirkten sich hemmend auf das Wirtschaftswachstum aus.153 Die sowjetische Militäradministration veranlaßte eine grundlegende Umwandlung des Wirtschaftssystems im Rahmen einer neuen gesamtgesellschaftlichen Weltordnung, die langfristig in Staat und Gesellschaft durchgesetzt werden sollte. Erster Schritt war 1945 die Enteignung von staatlichem und in Besitz von nationalsozialistischen Führungskräften befindlichem, später auch von privatem Eigentum. Mit dem »Sequesterbefehl« wurden alle wichtigen Industriebetriebe beschlagnahmt und in »Volkseigentum« überführt, die Führungskräfte teilweise aus ihren Positionen entfernt. Diese Entwicklung vollzog sich jedoch nicht nahtlos (Treuhänder; Sowjetische Aktiengenossenschaften, z. B. Wismut bis 1989/90).154 Parallel dazu wurde die Bodenreform durchgesetzt. Sie bedeutete die entschädigungslose Enteignung landwirtschaftlichen Besitzes über 100 ha, von dem ca. zwei Drittel an landlose Bauern verteilt wurden, um Neubauernhöfe aufzubauen. Das restliche Drittel wurde von Ländern, Kreisen und Gemeinden als volkseigene Güter übernommen.155 Durch den bis Kriegsende gebremsten technischen Fortschritt sowie den Rückschlag durch Kriegszerstörung und Demontage war bis in die 1950er Jahre eine technologische Lücke entstanden, die nur durch den Grundstock an gut ausgebildeten Industriearbeitern ausgeglichen werden konnte.156 Eine weitere grundlegende Veränderung erfuhr die Wirtschaftsordnung mit der Einführung einer zentralen sozialistischen Planwirtschaft. Bereits im Juni 1947 konstituierte sich die Deutsche Wirtschaftskommission als zentrale Verwaltungsinstanz, und 1948 begann man mit einem Halbjahresplan, dem 1949 ein Zweijahresplan und

152 Mit Einschränkungen wurden die Reparationen an die Sowjetunion, Polen usw. ausschließlich von der DDR beglichen. Die an die UdSSR zu leistenden Zahlungen in Höhe von 10 Mrd. Mark wurden formal erst 1953 abgeschlossen; vgl. Karisch, Reparation 1993. 153 Zur Wirtschaft allg. vgl. Erbe u. a. 1980; Rausch/Stammen 1973; Gutmann 1983; Staritz 1985; Weber 1988; Jaeger 1988, 246-273 Broszat/Weber 1993. Zur neueren DDR-Forschung vgl. Kocka 1994. 154 Der Uranbergbau in Wismut war bis 1956 direkt dem sowjetischen Verteidigungsministerium unterstellt. Bereits 1954 wurde die deutsch-sowjetische Aktiengenossenschaft gegründet und de facto liefen die Reparationsleistungen bis 1989; vgl. Karisch, Uran 1993. 155 Die Enteignung betraf 7112 Großbetriebe und 4278 kleinere landwirtschaftliche Betriebe. Die ca. 200 000 Neubauernhöfe wurden an etwa 90 000 Flüchtlinge und Vertriebene sowie 335 000 landarme Bauern und Arbeiter verteilt; vgl. Henning 1987, 474. Zu Fläche und Struktur der landwirtschaftlichen Betriebe vgl. Rytlewski/Opp de Hipt, DDR 1987, 73 ff. 156 Auch die Infrastruktur, insbesondere die Eisenbahn, war von Zerstörung und Demontage schwer betroffen; vgl. Ahrens 1982. Der vorrangige Ausbau des Streckennetzes, seine Erweiterung in den 1950er Jahren und die Modernisierung (Elektro- und Dieselloks) bis Mitte der 70er Jahre machten die Bahn neben der Straße zum wichtigsten Transportmittel für den industriellen Massentransport (ca. 70%). Auch im Personenverkehr war die Bahn wichtiges Verkehrsmittel; vgl. Grohl 1989, 223-235; Rytlewski/Opp de Hipt, DDR 1987, 86 f.

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1951 der erste Fünfjahresplan folgten. Durch die Gründung von Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH) und der Landwirtschaft (LPG) wurde die »Sozialisierung« weiter vorangetrieben, genossenschaftliches Eigentum wurde neben 1 C'l

Volkseigentum geschaffen. Dieses bedeutete seit 1952 de facto die Zwangskollektivierung 1 COjener Bauern, die ihre Hofstellen erst seit einigen Jahren bewirtschaftet hatten. Nach Abschluß dieser Umstrukturierung im August 1960 wurden nur noch etwa 1% der landwirtschaftlichen Anbaufläche privat, zumeist nebenerwerblich genutzt. Folge dieser und weiterer Kollektivierungsmaßnahmen war eine enorme Fluchtbewegung in den Westen, auf die die SED-Regierung mit Mauerbau und Verstärkung der Grenzabriegelungen reagierte. Um die Produktivität zu steigern, wurde im Lauf der Zeit die Produktion im primären Sektor weitgehend mechanisiert, die Zahl der hier tätigen Arbeitskräfte blieb allerdings relativ hoch. Die Arbeitsorganisation der LPG zeigte eine zunehmende Annäherung an industrielle Arbeitsformen mit ca. zwei Dritteln Genossenschaftsbauern und einem Drittel spezialisierter Arbeiter und Angestellter der Güter und Dienstleistungsbetriebe.159 Insgesamt reichte die Steigerung der Produktivität jedoch nicht aus, um die Bevölkerung ausreichend mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die dadurch notwendige Einfuhr belastete die Zahlungsbilanz zusätzlich. Die anfänglichen Autarkiebestrebungen galten neben dem landwirtschaftlichen auch dem industriellen Bereich. Allerdings war die DDR eng mit den Ländern des »Ostblocks«, vor allem mit der UdSSR, verflochten und wurde bereits 1950 in den ein Jahr zuvor gegründeten »Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe« (RGW) aufgenommen, in dem sie bald eine ökonomische Spitzenposition einnahm. Zwei Drittel des gesamten Außenhandels wickelte sie mit Ländern des RGW/Comecon ab. Dieses bedeutete zugleich eine Absonderung vom Weltmarkt. Die Bundesrepublik war für den Devisenerwerb der wichtigste Außenhandelspartner im Westen, wobei vor allem industrielle Halb- und Fertigwaren exportiert wurden. Der Aufbau der bereits vor dem Krieg industrialisierten Regionen in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt brachte trotz schwieriger Bedingungen einen allmählichen Aufschwung. Der Schwerpunkt der DDR-Wirtschaft lag auf der Grundstoff- und Investitionsgüterindustrie, doch gerade hier waren hohe Anschubfinanzierungen nötig, um Demontageund Reparationsschäden auszugleichen. Die einseitige Förderung der Schwerindu-

157 Auch im Handel kam es zu genossenschaftlichen Einrichtungen (Konsum) und staatlichen Einrichtungen wie der Handelsorganisation (HO). Zum Fünfjahresplan vgl. auch Winkel 1974, 172 f. 158 Zur Umgestaltung der Landwirtschaft, die man in vier Phasen einteilen kann, vgl. Göhl 1989, 156-174. In den ersten drei Monaten des Jahres 1960 schlössen sich mehr als 500 000 Bauern und Bäuerinnen den LPGs an. 159 In der Bundesrepublik waren im Jahr 1975 in Betrieben mit einer Nutzfläche von 20-30 ha durchschnittlich 13,5 Arbeitskräfte tätig, in solchen von 30-50 ha 10,5 und von über 50 ha nur noch 7. In der DDR lag der Bestand an Arbeitskräften je 100 ha bei 15; vgl. Henning 1987, 475. Während die Beschäftigung im Agrarsektor in allen Industrieländern rückläufig war, stieg sie in der DDR seit Ende der 1970er Jahre wieder leicht an. Zu Aufwand und Ertrag vgl. Göhl 1989, 169 ff.

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strie, die sich durch das geringe Rohstoffvorkommen ohnehin in einer ungünstigen Ausgangslage befand (ausgenommen Braunkohle und Kali), mußte sich negativ auswirken. Zugunsten verstärkter Investitionen in den Eisenhüttenkombinaten Ost in Eisenhüttenstadt und West in Calbe vernachlässigte man andere Produktionszweige. Die Standortnachteile wirkten sich auf eine im Vergleich zu den Weltmarktpreisen überteuerte Produktion aus, wodurch der Ausbau dieser Industrien letztlich nicht effizient war.160 In den Jahren bis 1963 folgte eine Phase der Reorganisation des Staats- und Wirtschaftsapparats mit dem Ziel, den Produktionsrückstand im Bereich des privaten Konsums aufzuholen. Bereits 1952/53 waren die von den Sowjets als Aktiengesellschaften eingerichteten Firmen an die DDR rückübertragen worden, was einen entscheidenden Schritt hin zur Dominanz des »VE-Sektors« bedeutete. Nun kam es zu großbetrieblichen Zusammenschlüssen (Kombinaten, besonders in den 70er Jahren) und einem verstärkten Ausbau der Industrie mit besonderer Förderung dieser Großbetriebe (Volkseigener Betrieb [VEB] Braunkohlekombinat »Schwarze Pumpe«, Werk II der VEB Leuna-Werke usw.). Gleichzeitig begann man die Mehrzahl der noch bestehenden Mittel- und Kleinbetriebe, zumeist gegen den Willen ihrer Betreiber, zu sozialisieren. Dieses erfolgte in mehreren Etappen und bis Mitte der 70er Jahre existierten Zwischenformen mit staatlicher Beteiligung.161 Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen brachten jedoch nicht die angestrebten Verbesserungen in der Versorgung des privaten Bedarfs, sondern führten in eine Krise, der die Partei- und Staatsführung unter Walter Ulbricht nur mit einem neuen Wirtschaftsprogramm begegnen konnte. Das »Neue Ökonomische System« (NÖS) war ein tiefgreifenderes Reformprogramm mit dem Ziel, die Produktion stärker dem Fortschritt anzupassen und die Arbeitsproduktivität erheblich zu steigern. Erreicht werden sollte dieses durch eine gezielte Strukturpolitik, mit der Förderung industrieller Forschung und verbesserter Aus- und Weiterbildung. Planmäßig gefördert wurden zuerst weiterhin die Schwerindustrie und der Energiesektor. Ab Mitte der 1960er Jahre wurden besonders die Wachstumsindustrien wie die chemische und elektrotechnische Industrie sowie Maschinen- und Flugzeugbau und ab 1971 vor allem die Zuliefer- und Konsumgüterindustrie forciert. Zur Steigerung der Arbeitsproduktivität setzte man nun auf das Leistungsprinzip in Form von Prämien, Sonderurlaub und Vergünstigungen. »System der ökonomischen Hebel« und »Erreichen des wissenschaftlich-technischen Höchststandes« waren Schlagworte der Zeit.162 Die wirtschaftliche Entwicklung erlebte nun einen konstanten Aufwärtstrend, in der Füh-

160 Fehlentscheidungen wie 1988 die Aufkündigung der Verträge mit der Sowjetunion zum Bau einer Warmbandanlage in Eisenhüttenstadt, die eine rationellere Produktion ermöglicht hätte, zugunsten einer japanischen Anlage, die sich für den eigentlichen Zweck als ungeeignet erwies, führten zu Schäden in Milliardenhöhe. 161 Vgl. Roesler 1978 und zu Investitionen und Eigentumsformen Rytlewski/Opp de Hipt, DDR 1987, 56 ff. 162 Vgl. Weber 1988, 60 f.; Rytlewski 1985, 1487; Roesler 1978; Staritz 1985.

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rungsebene gab es fachlich qualifiziertere und jüngere Personen, der Lebensstandard verbesserte sich.163 Auch in ideologischer Hinsicht vollzog sich ein Wandel. Er brachte Veränderungen durch die Orientierung an der Praxis mit Nutzung der Mathematik in der Ökonomie, Förderung der Kybernetik usw. »Das ökonomische System des Sozialismus«, wie es in Art. 9 der Verfassung von 1968 formuliert wurde, setzte in erster Linie auf die Wachstumsindustrien und das Bauwesen mit der Konsequenz, daß durch die Förderung bestimmter Bereiche und den ihnen vorgelagerten Produktionsstufen und Zweigen der Infrastruktur Engpässe entstanden. Allerdings konnten Industrieproduktion und Nationaleinkommen zunächst gesteigert werden, während in der Bundesrepublik die erste Rezession bereits 1966/67 spürbar war.164 Der allgemeine konjunkturelle Einbruch Ende 1970 führte mit den wachsenden Versorgungsschwierigkeiten in der DDR schließlich zu einer Krise der Wirtschaftspolitik und einem wirtschaftspolitischen Kurswechsel, nachdem Ulbricht zurückgetreten und Honecker an die Spitze von Staat und Partei gekommen war. Mit Parteitagsbeschluß von 1971 wurden die »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« erklärt, die Reformen zurückgenommen und die alte zentrale Wirtschaftssteuerung in den wichtigen Fragen der Leitung und Planung erneuert.165 Mit einer noch stärkeren Intensivierung von Produktion und Leistung wollte man das Wachstum steigern. Die Förderung des privaten Verbrauchs sollte durch ein erweitertes Warenangebot sowie eine Einkommenserhöhung im Rahmen einer gezielten Sozialpolitik erreicht werden. Diese Sozialpolitik mit der Subvention von Grundnahrungsmitteln, Mieten, Verkehrsmitteln, Energie usw. entwickelte sich zu einer Art »zweiten Lohntüte«, die in den 1980er Jahren fast 40% des Staatshaushalts ausmachte. Weiteres wirtschaftspolitisches Ziel war die Erweiterung der Zusammenarbeit innerhalb des RGW. Die Umsetzung dieser Vorgaben gelang keineswegs in allen Bereichen. Die stark angestiegenen Rüstungsausgaben und die veränderten weltpolitischen Bedingungen veranlaßten Honecker schließlich zu einer neuen ökonomischen Strategie für die 1980er Jahre.166 Geblieben war die Forderung nach einer Steigerung der Effektivität, nun mit Schwerpunkt auf den heimischen Roh- und Brennstoffen als Reaktion auf die Reduzierung der sowjetischen Erdöllieferungen. Durch die Intensivierung der Braunkohleförderung wurde die DDR zum größten Schwefeldioxyd-»Produzenten« in Europa. Die hohe Umweltbelastung war ein Preis der Industrialisierung.167 Mit 45% aller Beschäftigten im sekundären Sektor

163 Nach dem Bruch zwischen den »jungen Machern« der Wirtschaftsreform, Erich Apel und Günter Mittag, nahm sich Apel 1965 das Leben. Die genauen Umstände wurden nie geklärt. Das NOS erfuhr danach eine zweite Phase mit zentralistischerer Ausrichtung. 164 Im Durchschnitt des Jahrfünfts stieg das Nationaleinkommen um 5,1% und die Industrieproduktion um 6,3%; vgl. Jaeger 1988, 255. 165 Vgl. auch Weber 1988, 77 ff.; Jaeger 1988, 257 ff. 166 Er stellte sein 10-Punkteprogramm auf dem X. Parteitag der SED vom 11.-16.4.1981 vor; vgl. Rytlewski 1985, 1492 f.

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gehörte die DDR (wie das Gebiet schon vor 1914) zu den am stärksten industrialisierten Gebieten der Welt. 168 Weitere Planziele waren qualitativ hochwertigere Endprodukte, Modernisierung nach internationalem Maßstab und Rationalisierung mit einer Senkung des Produktionsverbrauchs. Realiter prägten in den 1980er Jahren jedoch andere Ereignisse die Entwicklung. Auf Grund der Zahlungsunfähigkeit von Bulgarien und Rumänien sperrten die internationalen Banken auch alle DDR-Kredite. Dieses führte zu einem »hektischen« Export in den Westen, begleitet von einer rigorosen Sparpolitik im Innern, was sinkende Produktivität und eine Verschlechterung der Versorgungslage nach sich zog. Der »Konsum-Sozialismus« begünstigte neben einer Steigerung der Leistungsbereitschaft auch eine Haltung in der Bevölkerung, dem System die Versorgung zu überantworten. Eine gewisse Entlastung brachte in dieser Situation der innerdeutsche Handel und vor allem der Milliardenkredit von 1983/84.169 Er steigerte das politische Ansehen und schuf die Möglichkeit, auf dieser Basis weitere Geschäfte abzuschließen. Mit dem Fallen des Ölpreises auf dem Weltmarkt 1986 verlor die DDR jedoch ein Drittel ihrer Devisen aus dem Westhandel. Durch ihren späten Einstieg in den EDV-Bereich hatte sie den Anschluß auf dem Weltmarkt bereits verpaßt. 170 Die zentralen Merkmale des Wirtschaftssystems waren die Sozialisierung (Verstaatlichung und Vergenossenschaftung) aller Produktionsmittel und damit die Beseitigung individuellen Eigentums, die Errichtung einer zentralen Planwirtschaft mit Mehrjahresplänen nach sowjetischem Vorbild und die Unterordnung der Wirtschaft unter die Parteiführung der SED. Das bereits 1945 verstaatlichte und vereinheitlichte Bankwesen bot ein Steuerungs- und Kontrollinstrument für die gesamte Wirtschaft. Um das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft zu erreichen, wurden gleichzeitig sozialistisches Bewußtsein und die Solidarität aller Werktäügen in den Vordergrund gestellt. Mit der Propagierung der »sozialistischen Lebensweise« sollten kollektive Lebensformen verankert werden. Allerdings waren es die Parteifunktionäre, die Ziele und Formen dieses Handelns gemäß der marxistisch-leninistischen Ideologie festlegten. Die zentrale Planwirtschaft organisierte zwar Produktion und Angebot, war aber zu schwerfällig, um auf Nachfrage kurzfristig zu reagieren. Dieses führte zu einem Markt, der dem eigentlichen Bedarf nicht gerecht wurde. Mit dem steigenden Lebensstandard äußerten sich auch differenziertere Bedürfnisse, die die Diskrepanz zwischen Planung (Angebot) und Nachfrage immer deutlicher machten. Versor167 Zu Problemen des Umweltschutzes vor allem im Raum Halle-Leipzig-Bitterfeld vgl. Göhl 1989, 212-222. 168 Datenmaterial vgl. Rytlewski/Opp de Hipt, DDR 1987, 65 ff. 169 Der 2-Milliarden-Kredit wurde vom bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß vermittelt. 170 Erst auf dem XI. Parteitag wurde als Direktive zum Fünfjahresplan 1986-1990 eine Förderung der Mikroelektronik avisiert; vgl. Weber 1988, 102 f.

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gungsengpässe traten häufiger auf. Durch die knappen Devisen hatte man allerdings nur eingeschränkte Möglichkeiten, auf das Angebot des Weltmarkts zurückzugreifen und diese Planungsmängel auszugleichen. Die DDR-Währung war entsprechend der der übrigen RGW-Länder als Binnenwährung konzipiert und konnte auf dem internationalen Devisenmarkt nicht offiziell gehandelt werden.171 Ihr Kurs war zu den Ostwährungen und durch die Devisenbewirtschaftung auch zu den Westwährungen festgelegt. Der Devisenkurs des freien Markts lag aber deutlich unter dem Wert der Mark im Inland, wodurch es zu einer Unterscheidung von Mark und »Valuta-Mark« kam, der Verrechnungseinheit für ausländische Währungen, mit der der Außenhandel abgewickelt wurde. Im Land selbst gab es sogenannte Intershops, in denen man für Valuta die einschlägigen westlichen Waren erstehen konnte.172 Durch die Veränderung der Wirtschaftsstruktur und den Ausbau der Grundstoffund Investitionsindustrie wurden zwar die Voraussetzungen für ein Wirtschaftswachstum geschaffen, doch blieb durch die Konzentration auf standortbedingt eher ungünstige Produktionsbereiche bis zuletzt ein erheblicher Rückstand gegenüber den vergleichbaren westlichen Ländern bestehen.

Gesellschaft Ziel des Sozialismus war die klassenlose Gesellschaft. Gesellschaftspolitik bildete daher die Grundlage (partei-)politischen Handelns in der DDR. Durch die Abschaffung von Privateigentum an Produktionsmitteln und ihre Sozialisierung sollte die Arbeiterklasse an der Macht teilhaben; die für den Kapitalismus charakteristischen sozialen Probleme sollten sich damit von selbst aufheben. Dadurch wurden allerdings in weiten Bereichen nach und nach alle Zwischenformen wie Handwerksbetriebe und Familienuntemehmen beseitigt, die für eine funktionierende Volkswirtschaft bedeutsam sind. Verbesserter Lebensstandard und Wohlstand sollten allen Werktätigen gleichermaßen zugute kommen. Zwar war eine klassenlose Gesellschaft per definitionem entstanden, eine allgemeine Gleichheit innerhalb der Gesellschaft bedeutete dieses de facto allerdings nicht. Die soziale Schichtung hatte sich durch den Übergang zur Zentralwirtschaft und der Abschaffung von Privateigentum allmählich verändert.173 Seit 1972 gab es keine

171 Das Ein- und Ausfuhrverbot und die Bestimmungen zum Devisenverkehr wurden durch das Devisengesetz vom 19.12.1973 geregelt; vgl. Rytlewski 1985, 1450 f. Als Antwort auf die Währungsreform in den Westzonen kam es am 23.6.1948 hier zur ersten Währungsreform und 1957 zu einer weiteren Währungsreform mit einem Umtausch zu unterschiedlichen Sätzen, je nach Personenkreis. Die Menge des Bargeldumlaufs von 5,48 Mrd. im September 1957 wurde auf 3,71 Mrd. im Januar 1958 verringert. Die Bezeichnung »Mark der Deutschen Notenbank« (1964) änderte sich 1968 in »Mark«; vgl. Henning 1978, 257 f. 172 Im Jahr 1983 setzte man für die Valuta-Mark 0,41 US-Dollar fest, wobei sie jedoch nur etwa 0,08 US-Dollar entsprach; vgl. Henning 1987, 480. Nach Rytlewski 1985, 1453: Im Dezember 1982 war 1 Valuta-Mark 0,71 DM bzw. 0,30 US-Dollar wert.

Deutschland nach 1945

313

selbständigen Fabrikbesitzer mehr, und der Anteil an Selbständigen, der 1955 noch ca. 19% ausgemacht hatte, betrug 1982 nur noch 2%. Die Zahl privater oder halbstaatlicher Einzelhändler und Gastwirte sank auf 0,4%. Die Genossenschaftsbauern machten 6,5% und die Mitglieder der Produktionsgenossenschaften des Handwerks (Reparatur, Dienstleistung) 1,8% der Erwerbstätigen aus. Die soziale Gruppe der privaten Bauern, Gärtner und Freiberufler (Ärzte, Anwälte usw.) war in den 80er Jahren nahezu verschwunden. Der »alte« bürgerliche Mittelstand hatte damit aufgehört zu existieren, an seine Stelle trat ein auf Leistung basierender Mittelstand auf Facharbeiterebene und auf den Funktionärsebenen von Betrieben, Verwaltung und Partei. Zur Schicht der Arbeiter und Angestellten waren etwa 90% aller Berufstätigen zu rechnen.174 Die Beschäftigtenquote von Frauen war erheblich gestiegen. Daß Frauen in allen Bereichen beruflich tätig sein konnten, wurde als wesentliches Merkmal der Gleichberechtigung angesehen. Dafür schuf man auch die entsprechenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Die Betreuung und Versorgung der Kinder in Horten und Tagesstätten vom Säuglingsalter an gab dem Staat natürlich auch die Möglichkeit, an der (ideologischen) Erziehung teilzuhaben.175 Durch die unterschiedlichen Funktionen einzelner in Partei, Staat und Gesellschaft, die sich im Status sowie materiell niederschlugen, gab es auch im Sozialismus teilweise große Unterschiede. Eine gute berufliche Ausbildung, z. B. ein Hochschulstudium, war förderlich, aber nicht ausschlaggebend. Die soziale Mobilität in der DDR war erheblich gewachsen, vor allem in der Phase der Übergangszeit, als sich die neuen Strukturen herausbildeten. Die differenzierten Möglichkeiten zur Fortbildung hatten diese Mobilität gefördert. Für alle diejenigen, die nicht mit dem System konform gingen oder in Mißkredit gerieten, wurden Entwicklungsmöglichkeiten in jeder Hinsicht beschränkt oder aufgehoben. Dieses bedeutete lange Zeit beispielsweise, daß Akademikerkinder ohne Rücksicht auf ihre Eignung nicht zum Studium zugelassen wurden, um den Anteil an Arbeiter- und Bauemkindern unter den Studenten zu erhöhen. Für den einzelnen wirkte sich dieses mobilitätshemmend aus oder bedeutete sogar einen sozialen Abstieg, ohne daß er Einfluß darauf hätte nehmen können.

173 Zum folgenden (Zahlen) und der Verteilung auf die Wirtschaftssektoren vgl. Göhl 1988, 137 f. Die Statistik weist für 1985 die entsprechenden Zahlen aus. Der Anteil der Berufstätigen in der Industrie blieb beinahe unverändert (1980 38%, 1985 37,9%), stieg leicht im »nichtproduzierenden Bereich« (1980 20,1%, 1985 21%) und sank um 0,1% in der Landwirtschaft; vgl. Weber 1988, 95; Henning 1987, 471 f. 174 Der Begriff Angestellte muß mit Vorbehalt betrachtet werden, da man z. B. im Mdl oder MfS von Angestellten und in der NVA von Arbeitern ausging. 175 Zu sozialpolitischen Maßnahmen und sozialen Veränderungen vgl. Timmermann 1989; Winkler 1989 und 1990. Datenmaterial findet sich bei Rytlewski/Opp de Hipt, DDR 1987.

314

III.

Untersuchungsgebiete

Abkürzungsverzeichnis der verwendeten Namen

AEG

Allgemeine Elekticitäts-Gesellschaft

AIDS

Acquired Immune Deficiency Syndrome (Erworbenes Immundefekt Syndrom)

APO

Außerparlamentarische Opposition

AStA

Allgemeiner Studentenausschuß

BAFöG

Bundesausbildungsförderungsgesetz

BBZ

Britische Besatzungszone

BDM

Bund Deutscher Mädel

BVP

Bayerische Volkspartei

CDU

Christlich-Demokratische Union Deutschlands

COMECON

Council for Mutual Economic Assistance (auch CMEA): Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe

V

CSR

Tschechoslowakische Republik (bis 1960)

V

CSSR

Tschechoslowakische Sozialistische Republik (ab 1960)

CSU

Christlich-Soziale Union Deutschlands

DAF

Deutsche Arbeitsfront

DAP

Deutsche Arbeiter Partei

DDP

Deutsche Demokratische Partei

DDR

Deutsche Demokratische Republik

DFD

Demokratischer Frauenbund Deutschlands

DGB

Deutscher Gewerkschaftsbund

DM

Deutsche Mark

DNVP

Deutschnationale Volkspartei

DP

Deutsche Partei

DVP

Deutsche Volkspartei

EDV

Elektronische Datenverarbeitung

EG

Europäische Gemeinschaft

EOS

Erweiterte polytechnische Oberschule

EURATOM

Europäische Atomgemeinschaft

EVG

Europäische Verteidigungsgemeinschaft

EWG

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

F

Frankreich

FDGB

Freier Deutscher Gewerkschaftsbund

FDJ

Freie Deutsche Jugend

FDP

Freie Demokratische Partei Deutschlands

GB

Großbritannien

Deutschland nach 1945 Gestapo

Geheime Staatspolizei

HJ

Hitlerjugend

HO

Staatliche Handelsorganisation

KdF

Kraft durch Freude

KPD

Kommunistische Partei Deutschlands

KPdSU

Kommunistische Partei der Sowjetunion

KZ

Konzentrationslager

LAG

Lastenausgleichsgestz

LDPD

Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (bis 1951)

LPG

Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft

Mdl

Ministerium des Inneren

MfS

Ministerium für Staatssicherheit

Napola

Nationalpolitische Erziehungsanstalten

NATO

North Atlantic Treaty Organisation (Nordatlantikpakt)

NF

Nationale Front des demokratischen Deutschlands

NÖS

Neues Ökonomisches System

NRT

Nettoregistertonnen

NS

Nationalsozialismus

NSDAP

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

NSV

Nationalsozialistische Volkswohlfahrt

NVA

Nationale Volksarmee

OEEC

Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (seit 1961 OECD)

PGH

Produktionsgenossenschaft des Handwerks

RAF

Rote Armee Fraktion

RGW

Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe

RM

Reichsmark

SA

Sturmabteilung der NSDAP

SAG

Sowjetische Aktiengesellschaft

SBZ

Sowjetisch besetzte Zone

SED

Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

SRP

Sozialistische Reichspartei

SS

Schutzstaffel der NSDAP

Stasi

Staatssicherheit

UdSSR

Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken

USA

United States of America Vereinigte Staaten von Amerika

USBZ

US-amerikanische Besatzungszone

USPD

Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands

VEB

Volkseigener Betrieb

315

317

Norwegen

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Zeittafel Norwegen

1813

Gründung der ersten Universität in Christiania (Oslo)

1814

Schwedisch-Norwegische Union

1818-1844

Karl XIV. Johan ist erster König der Union

1825

Beginn der Auswanderungsbewegung nach Amerika

1827

Gesetz zur Ausbildung qualifizierter Lehrer

1837

Gesetz zur Einführung der kommunalen Selbstverwaltung

1844

Gründung der ersten Volkshochschule für die Ausbildung junger Erwachsener

1844-1859

Oskar I.

1848

Gesetz zur Unterrichtspflicht von Kindern zwischen 7 und 14 Jahren

1848-1851

Beginnende Industrialisierung des Landes. Entstehung der ersten norwegischen Arbeiterbewegung (Thraniterbewegung)

1849

Ausbau der norwegischen Handelsflotte zu einer der größten der Welt

1854

Bau der ersten Eisenbahn von Christiania nach Eidsvoll

1859

Entstehung der Opposition (Venstre) im Storting (norwegisches Parlament)

1859-1872

Karl XV.

1869

Gesetz über den jährlichen Zusammentritt des Storfings

1872-1905

Oskar II.

1874

Gründung des norwegischen Arbeitervereins in Christiania. Beginn einer marxistischen Arbeiterbewegung

1880er

Frauen werden an Universitäten zugelassen

1882

Höhepunkt der Auswanderungsbewegung in die USA

1884

Gesetz über den Zutritt der Staatsratsmitglieder zu den Verhandlungen des Stortings. Sieg des Parlamentarismus

1887

Gründung der norwegischen Arbeiterpartei

1892 1898

Beginn der Sozialgesetzgebung: Einschränkung der Kinderarbeit, Arbeiterunfallversicherung, Vorsorge für Seeleute Einführung des allgemeinen Wahlrechts

1901

Erweiterung des kommunalen Wahlrechts; begrenztes Frauenwahlrecht

1903

Einzug der Arbeiterpartei in das Storting

1905

Das Storting erklärt die Union mit Schweden für aufgelöst. Volksabstimmung über Regierungsform, Mehrheit für das Königtum

1905-1957 1907

Häkon VII. Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Rußland übernehmen vertraglich die Garantie für Norwegens Integrität

1913

Durchsetzung des Frauenwahlrechts, Abschaffung des königlichen Vetorechts gegenüber Veränderungen des Grundgesetzes

Norwegen 1914-1918

1920

Die norwegische Neutralitätspolitik ist im Ersten Weltkrieg durch die wirtschaftliche Abhängigkeit von England und das Bestreben, wirtschaftliche Vorteile durch den Einsatz der Handelsflotte im Krieg zu sichern, beeinträchtigt Die norwegische Souveränität über Spitzbergen wird international anerkannt. Norwegens Beitritt zum Völkerbund

1921-1935

Regierungen der bürgerlichen Linken (Venstre)

1922

Norwegens Arbeiterpartei verläßt die Internationale; nach Zusammenschluß mit den Sozialdemokralen wird sie 1927 stärkste Partei im Storting

1923

Bildung der Kommunistischen Partei Norwegens

1924

Grönlandvertrag mit Dänemark; Wahrung der norwegischen Rechte (Jagd, Fischfang) in Ostgrönland

1933

Bildung der Nasjonal Sämling (Nationalversammlung)

1935-1945

Regierungsverantwortung der Arbeiterpartei; seit 9. April 1940 als Exilregierung in London

1939

Norwegen lehnt den Abschluß eines Nichtangriffspakts mit Deutschland ab

1940

Besetzung Norwegens durch die deutsche Wehrmacht, Flucht König Häkons VII. nach London

1940-1945

Die erfolgreich agierende Widerstandsbewegung wird unter der Leitung des Reichskommissars J. Terboven harten Gegenmaßnahmen ausgesetzt

1944 1945

Räumung Norwegens durch die deutschen Truppen Rückkehr der Exilregierung und des Königs aus London. In der neugebildeten Koalitionsregierung unter E. Gerhardsen hat die Arbeiterpartei die absolute Mehrheit. Bis 1961 stellte sie meist den Ministerpräsidenten

1946

Gründung der Universität Bergen

1949

Beitritt zur NATO

1951

Gründungsmitglied des Nordischen Rates

1957-1991

Olav V.

1960

Beitritt zur EFTA (European Free Trade Association)

1965

Erstmalig seit 1935 wird die Arbeiterpartei durch ein bürgerliches Koalitionskabinett abgelöst

1968

Gründung von Universitäten in Trondheim und Troms0

1969

Beginn der Ölsuche in der Nordsee

1972

Volksabstimmung gegen den EG-Beitritt

1973

Abschluß eines Freihandelsvertrags mit der EG

1973-1981

Regierung der Arbeiterpartei

1974

Bedeutende Erdöl- und Erdgasfunde in der Nordsee

1981

(Februar bis Oktober) G.H. Brundtland wird die erste Ministerpräsidentin Norwegens

1981-1986

Bürgerliches Koalitionskabinett unter dem Konservativem K. Willoch

1986-1989

Bildung einer sozialdemokratischen Regierung unter G.H. Brandtland

1989

Koalition aus Konservativen unter J. Syse

1991

Harald V. wird König von Norwegen

319

Sterblichkeit, Krankheit und Gesellschaft in Norwegen vom Ende des 18. Jahrhunderts bis heute 0ivind Larsen

Mortalität als Spiegel der Gesundheit Die Entwicklung der Sterblichkeit in Norwegen zeigt ein Bild, das vergleichbare Züge mit demjenigen anderer mittel- und westeuropäischer Länder aufweist. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzt die demographische Transition ein, und zwar mit einem Absinken der Sterblichkeit. Nach 1815 ist diese Entwicklung in Norwegen jedoch wesentlich auffälliger als in den übrigen nordischen Ländern.1 Damals änderten sich die Lebenserwartungen der Geburtskohorten fundamental, und zwar vor allem auf Grund der Tatsache, daß die Sterblichkeit in den jüngsten Altersgruppen sehr stark zurückgingIm Laufe der Jahrzehnte traten in diesem Prozeß soziale und geographische Unterschiede innerhalb Norwegens auf, die als Grundlage für Kausalzusammenhänge diskutiert und interpretiert werden können.2 Doch mischen sich hier eine Reihe anderer Momente allgemeiner Art ein, wie zum Beispiel lokale Besonderheiten in der Lebensweise, der Familienstruktur und Herkunft, der Stabilität bzw. Mobilität usw., so daß eine direkte Ermittlung des Einflusses der Lebensverhältnisse auf die Lebenslänge nur mit großem Vorbehalt möglich ist. Auch verbirgt sich hinter den Sterblichkeitszahlen die gesundheitliche Situation, wie sie von der Bevölkerung erfahren wurde und wie sie sich auf das Alltagsleben in der Gesellschaft auswirkte. Deshalb ist es das Ziel dieses Kapitels, die Mortalität in einen größeren Rahmen einzufügen. Dieses soll besonders durch die Miteinbeziehung der Lebensqualität geschehen, wie das in jüngster Zeit vor allem in der Sozialmedizin üblich ist.3

1

In Larsen u. a. (1986, 54) sind Diagramme über den Verlauf der demographischen Transition in den verschiedenen nordischen Ländern zusammengestellt.

2

Die Publikationen des Norwegischen Statistischen Zentralamts (SSB) sind hier zentrale Quellen, siehe z. B. Backer 1961.

3

Moum 1992, Torbj0m (1992): Quality of Life and Health in the General Population. Oslo: Department of Behavioural Sciences in Medicine, University of Oslo.

322

III.

Untersuchungsgebiete

Geburtsjahr und Lebensaussichten Von der alten in die neue Zeit Die großen Veränderungen in der allgemeinen Sterblichkeit um 1815 lassen sich nicht nur auf medizinische Faktoren im engeren S inne zurückführen, schon gar nicht auf eine schlagartige Verbesserung im Gesundheitswesen. Noch immer waren damals nur etwa hundert Ärzte für die Gesundheit des ganzen dünn besiedelten Landes zuständig. Auch waren die ihnen zur Verfügung stehenden medizinischen Behandlungsmethoden von begrenztem Nutzen angesichts der vorherrschenden Krankheiten.4 Die Stärke der damaligen wissenschaftlichen Medizin, wie sie zum Beispiel von den Vertretern der 1814 gegründeten medizinischen Fakultät an der neuen Universität (1811) in der Hauptstadt Christiania gehandhabt wurde, lag vor allem auf dem Gebiet der Sozialhygiene. Die diesbezüglichen Kenntnisse kamen dem Aufbau der ganzen Gesellschaft, vor allem aber der Infrastruktur der öffentlichen Dienstleistungen, zugute. Die Professoren dieser Fakultät wurden von den Behörden häufig als Berater herangezogen. Damals erfolgte auch der Auf- und Ausbau eines Krankenhauswesens im heutigen Sinne, wodurch einerseits eine pädagogische Voraussetzung für die nationale Ausbildung von Ärzten geschaffen und andererseits die Verbesserung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung gesichert wurde. Die Gesundheitsverhältnisse Norwegens hatten Ende des 18. Jahrhunderts noch ein malthusianisches Gepräge. Obwohl Verhungern seit den 1750er Jahren kaum noch vorkam, lebten doch Teile der Bevölkerung zumindest periodenweise noch unter marginalen Emährungsverhältnissen. Der verbreitete Naturalhaushalt reagierte empfindlich auf widrige Witterungsbedingungen. Sie gefährdeten die Ernten, erschwerten den Fischfang und verhinderten die Jagd. Norwegen war zu jener Zeit nur ausnahmsweise in Kriegshandlungen verwickelt, so im Feldzug gegen Schweden 1788/89, geringfügig zur See während der Napoleonischen Kriege und erneut gegen Schweden 1814. Wie damals üblich, wirkten sich die Kriege vor allem durch die Störung des epidemiologischen und ernährungsmäßigen Gleichgewichts negativ auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung aus. Dabei gab es große lokale und regionale Unterschiede, die von der Stationierung beziehungsweise dem Durchzug von Truppen, ihrer Verlagerung sowie der Rückkehr von Soldaten in ihre Heimatorte abhingen. In Erwägung gezogen werden müssen auch die Folgen der Seeblockade Anfang des 19. Jahrhunderts, als Engländer und Schweden den Schiffsverkehr mit Norwegen beziehungsweise mit Dänemark, wo sich damals die Verwaltung befand, stark behinderten. Diese mißliche Situation wurde durch den Kieler Frieden im Jahre 1814 und die nachfolgende politische Stabilisierung behoben.

4

Siehe Larsen u. a. 1986 und Larsen/Hodne 1988,331-341.

Sterblichkeit, Krankheit und Gesellschaß in Norwegen

323

Es ist wahrscheinlich, daß sich als Folge hiervon die Lebensverhältnisse ziemlich rasch von jener Schwelle entfernten, unterhalb derer die Sterblichkeitszahlen sofort sehr sensibel reagieren. So könnten die freie Seefahrt und erneut unbehinderter Import von Nahrungsmitteln den Unterschied zwischen den abrupteren Sterblichkeitsveränderungen in Norwegen und dem weicheren Übergang im südlichen Nachbarland Dänemark erklären. Wie anderswo waren damals auch in Norwegen die ansteckenden Krankheiten das Hauptproblem. Auch hier sind die Zusammenhänge zwischen Unterernährung, der Störung von gesellschaftlichen Strukturen und Funktionen durch kriegerische Ereignisse und dem Vorkommen beziehungsweise der Gefährlichkeit von epidemischen und endemischen Krankheiten zu beobachten. Doch alles in allem waren die Lebensaussichten der im frühen 19. Jahrhundert geborenen Kohorten der Bevölkerung im Vergleich zur Generation ihrer Eltern trotz nach wie vor niedrigem Lebensstandard wesentlich besser.

Epidemien und Entwicklung - die Kinder des Wachstums Im 19. Jahrhundert stand der planmäßige Auf- und Ausbau eines eigenen Nationalstaates, obwohl bis 1905 mit Schweden noch in einer Union verbunden, im Vordergrund. Während der ersten Jahrhunderthälfte sank die Sterblichkeit kontinuierlich, doch verharrten die Geburtenzahlen auf der alten Höhe. Die Verstädterung erreichte noch keinen nennenswerten Umfang. Die gesundheitlichen Folgen des zunehmenden Bevölkerungsdrucks sind schwer abzuschätzen. Selbstverständlich waren die Verhältnisse geographisch sehr unterschiedlich, je nach vorhandener Subsistenzmöglichkeit und Bevölkerungszuwachs in den einzelnen Ortschaften und Gemeinden. Die ansteckenden Krankheiten stellten damals eine große Herausforderung an den Gesundheitsdienst dar, vor allem die Asiatische Cholera, die 1832/33 erstmals epidemisch auftrat. Als Folge der Epidemie wurden die medizinischen und verwaltungsmäßigen Bereitschaftseinrichtungen verstärkt, was der Bevölkerung zugute kam, als die Seuche 1853 das Land erneut heimsuchte.5 Das Grassieren der Krankheit in der damals noch kleinen Hauptstadt Christiania trug entscheidend dazu bei, daß im Jahre 1860 ein »Gesundheitsgesetz« verabschiedet wurde. Bezirksverwaltungen und Amtsärzte erhielten damit eine rechtliche Grundlage für den Erlaß weitreichender Maßnahmen, wenn eine Gefahr für die Volksgesundheit drohte oder bereits entstanden war. Die Kinderjahre der Generationen, die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts geboren wurden, waren in gesundheitlicher Hinsicht entschieden günstiger als die ihrer Eltern oder Großeltern. Obwohl das wirtschaftliche Wachstum nur mäßig

5

Knarberg 1986.

324

III.

Untersuchungsgebiete

war und die Gesellschaft noch immer ziemlich traditionell, zeichneten sich die besseren Überlebensaussichten immer deutlicher ab.

Die Umwälzung der Gesellschaft In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte Norwegen eine gewaltige Migrationswelle. So stieg beispielsweise im Laufe von 25 Jahren die Bevölkerungszahl der Hauptstadt von etwa 120 000 (1875) auf etwa 240 000 (1900). Es handelt sich hier um Nettozahlen, was auf eine enorme Migration schließen läßt, denn viele Personen hielten sich nur vorübergehend in Christiania auf. Hinzu kam eine rege Binnenwanderung zwischen den Städten und dem Umland als Folge der sehr aktiven Bautätigkeit. Ganze Stadtteile des heutigen Oslo wurden in dieser kurzen Periode errichtet.6 Die Gründe, die große Teile der Bevölkerung zu dieser Migration veranlaßten, waren unterschiedlich. Zum einen kann man von schlechten Aussichten in den Geburtsregionen ausgehen; zum anderen ist eine wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung in vielen wachsenden Städten mit entsprechender Anziehungskraft festzustellen. Viele Jugendliche suchten die Städte auf, um eine gediegene Ausbildung zu erhalten. Eine Stelle als Hausmagd in Christiania galt für ein Mädchen vom Lande als natürliche Vorbereitung auf ihre künftige Rolle als Hausfrau. Auch gab es neue Berufe. Der Bedarf etwa an Krankenschwestern oder Telegrafistinnen war nicht unerheblich. Die Industrie konnte Arbeitsplätze anbieten, die gewiß oft schlecht, aber trotz allem doch besser waren als die ständig drohende Unsicherheit ländlicher Arbeit. Die gesundheitlichen Verhältnisse in den neuen vergleichsweise großstädtischen Agglomerationen waren in Norwegen wie überall sonst zu jener Zeit bedenklich. Offensichtlich wurde diese Situation jedoch bis zu einem gewissen Maße sowohl von der Bevölkerung als auch von den Behörden akzeptiert, zumindest toleriert. Das Wachstum der Städte mußte mit Gesundheit bezahlt werden. Erst um etwa 1890 stellt man diesbezüglich einen Einstellungswandel fest.7 Noch immer waren die Infektionen das große medizinische Problem, wobei die Migration die schon bedenklichen Ansteckungsmöglichkeiten noch verstärkte. Die übliche Versorgung mit Nahrungsmitteln und Trinkwasser sowie die Beseitigung von Abfällen trugen lange das ihre dazu bei, daß ein hohes Vorkommen an endemischen Infektionskrankheiten registriert wurde und die Vorsorgemaßnahmen gegen Epidemien nur unzulänglich waren. So forderte beispielsweise eine Diphtherieseuche in den 1880er Jahren eine erschreckende Anzahl von Kinderleben. Die Tuberkulose wurde ein immer größeres Problem unter den Volkskrankheiten; Mädchen und junge Frauen waren eine besonders gefährdete Gruppe. Die Bekämp-

6

Myhre 1990.

7

Larsen u. a. 1980.

Sterblichkeit, Krankheit und Gesellschaft in Norwegen

325

fung der Tuberkulose wurde aber medizinisch und politisch stark vorangetrieben. Das Bekämpfungsgesetz aus dem Jahre 1900 gilt medizinhistorisch als ein Meilenstein. Die Geburtskohorten der zweiten Jahrhunderthälfte hatten somit unterschiedliche Lebensaussichten, je nach regionaler Herkunft und Ansässigkeit. Die Gefahren des Wohnens in den Städten waren allen bekannt. Aber auch in den verschiedenen ländlichen Regionen waren erhebliche Unterschiede festzustellen, je nach Hygiene, allgemeiner Lebensweise und Bildungsgrad.8 Um 1890 ist ein Rückgang der Geburtenzahlen erkennbar. In den Städten spielte sich diese Entwicklung etwas früher ab als auf dem Lande. Deshalb spitzten sich die sozialen Unterschiede zwischen Stadt und Land vorübergehend zu. Die rasche Urbanisierung Norwegens im ausgehenden 19. Jahrhundert führte zu einer beschleunigten Modernisierung der gesamten Gesellschaft. Auf medizinischem Gebiet war die Einrichtung von großen Hospitälern ein Fortschritt.9 Die wissenschaftliche Medizin entwickelte sich zu jener Zeit stark.10 Die Kontakte zum Ausland waren eng. Viele norwegische Mediziner machten Studienreisen zum Beispiel nach Deutschland und Frankreich. Die Forschung an der noch jungen Universität lag auf internationalem Niveau. Auch außerhalb der Hauptstadt wurden medizinische Grundlagenprobleme erforscht, so wurde beispielsweise im westnorwegischen Bergen 1873 der Leprabazillus von Gerhard Henrik Armauer Hansen (1841-1912) entdeckt. Um 1900 arbeiteten in Norwegen etwa 1200 Ärzte, also zwölfmal so viele wie ein Jahrhundert zuvor. Sie verfügten nunmehr über ganz andere Möglichkeiten hinsichtlich der vorbeugenden und kurativen Arbeit als noch zu Beginn des Jahrhunderts. Der Durchbruch des zellularpathologischen Denkens innerhalb der Medizin sowie die Entwicklung der Mikrobiologie hatten neue theoretische Voraussetzungen geschaffen.

Kriegszeiten und Rückgang der Infektionen Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bedeutet eine Wende sowohl in der Volksgesundheit als auch in der sozialen und medizinischen Betreuung der Bevölkerung.

8

Bis auf den heutigen Tag weist z. B. Sogn og Fjordane (früher Nordre Bergenhus Amt) im allgemeinen eine besonders günstige Gesundheitsstatistik auf. Diese Gegend, die in Westnorwegen nördlich von Bergen liegt, ist sehr gebirgig und von Fjorden tief eingeschnitten. Die Bevölkerung wohnt in kleinen Orten oder auf einzeln gelegenen Bauernhöfen. Traditionell wird den Westnorwegern eine nüchterne Lebensweise nachgesagt.

9

Siehe z. B. Kristiansen/Larsen 1987.

10 Larsen 1989.

326

III.

Untersuchungsgebiete

Norwegen wurde als neutraler Staat vom Ersten Weltkrieg nur geringfügig in Mitleidenschaft gezogen. Jedoch verschlechterte sich die Ernährungssituation, und die Handelsflotte erlitt Verluste. Eine schwere Influenzaepidemie, die »Spanische Krankheit«, griff besonders im Jahre 1918 stark um sich. Die Krankheit endete oft tödlich, führte aber auch zu Spätfolgen bei den Überlebenden, zum Beispiel zu Enzephalitis lethargica, einem Gehirnschaden, wobei die Betroffenen oft einen invalidisierenden Parkinsonismus entwickelten. Auch andere Infektionen machten sich in entsprechender Weise auf zwei Ebenen bemerkbar. Gichtfieber war unter den Jugendlichen sehr verbreitet. Schlimmer als die meist vorübergehenden Gelenkschmerzen waren aber die Herzaffektionen, die oft Jahrzehnte später auftraten und zu einem vorzeitigen Tod des Patienten führten. Obwohl die Krankenhaus- und auch die Primärmedizin einen recht hohen Stand erreicht hatten, waren die Möglichkeiten zur raschen und effektiven Bekämpfung von Infektionen noch immer nicht ausreichend. So konnte sich zum Beispiel eine Harnblasenentzündung zu einer Nierenentzündung mit zusätzlichen ernsthaften Komplikationen entwickeln. Nach der Jahrhundertwende erreichte der allgemeine Lebensstandard auch in den Städten allmählich ein solches Niveau, daß die Säuglingssterblichkeit in den 1930er Jahren fast keine Unterschiede mehr zwischen Stadt und Land zeigte. Der Rückgang der Säuglingssterblichkeit betraf vor allem den exogenen Teil. Bei der endogenen und perinatalen Sterblichkeit trat dagegen die gynäkologische, obstetrische und pädiatrische Betreuung der Frauen und Neugeborenen stärker in den Vordergrund. Die körperliche Entwicklung der Schulkinder läßt sich als Indikator für einen sich verbessernden Lebensstandard verwenden. In Oslo konnten in den 1920er und 1930er Jahren kontinuierlich steigende Durchschnittswerte für Körperlänge und -gewicht im gleichen Alter festgestellt werden. Die Kriegsjahre 1940-1945 zeigten dann einen deutlichen Rückgang, nach Kriegsende normalisierten sich die Werte wieder. In den 1950er Jahren erreichten diese anthropologischen Maße offensichtlich ihr Optimum. Seither lassen sie sich nicht mehr als Indikatoren für Ernährung und Lebensstandard verwenden.11 Auch im Zweiten Weltkrieg wurde Norwegen insgesamt weitgehend von Zerstörungen verschont; einzelne Teile des Landes erlitten jedoch schwere Verwüstungen, etwa das nördliche Finnmark, wo die Siedlungen im Laufe des deutschen Rückzugs fast gänzlich niedergebrannt wurden. Die betroffene Bevölkerung wurde abtransportiert oder fristete illegal und unter strapaziösen, kümmerlichen Verhältnissen ein erbärmliches Dasein in Gebirgshöhlen oder anderen primitiven Unterkünften. Der Wiederaufbau nach dem Kriege nahm erhebliche Zeit in Anspruch, so daß die Lebensverhältnisse in den hauptsächlich betroffenen Gebieten ziemlich lange auf einem

11 Falkvim/Larsen 1981.

Sterblichkeit, Krankheit und Gesellschaft in Norwegen

327

niedrigeren Niveau als in den übrigen Teilen des Landes lagen. Man bedenke hierbei auch die harten klimatischen Bedingungen dieser nördlichen Gegend. Die Säuglingssterblichkeit wie auch die allgemeine Sterblichkeit lagen in Finnmark während vieler Jahre deutlich über dem Durchschnitt für Gesamtnorwegen. 12

Wohlstand und Volksgesundheit In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg war die Steuerung des Gesundheitswesens in Norwegen stark zentralisiert. Planwirtschaft hieß die Leitlinie beim ökonomischen Wiederaufbau. Entsprechend planmäßig verlief die Förderung der Volksgesundheit. Die allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung stehenden medizinischen Möglichkeiten wie der soziale Ausgleich überhaupt waren lange Zeit indiskutable Normen der sozialdemokratischen Ideologie.13 Der im Nachkriegsnorwegen gewonnene allgemeine Zugang zu antimikrobiellen Medikamenten verlieh den Ärzten und dem Gesundheitswesen neues Ansehen und auch neues öffentliches Interesse, denn schließlich konnte nun die Mehrzahl der verbreitetsten Volkskrankheiten sichtbar effektiv behandelt werden. Nicht nur der öffentliche Gesundheitsdienst wurde allenthalben in den Bezirken ausgebaut, es folgte auch eine Welle von Krankenhausbauten. Die interne Migration, die man bis dahin in Norwegen erlebt hatte, vermochte die Siedlungsstruktur des Landes nur in begrenztem Umfang zu ändern. Eigentlich handelte es sich, von speziellen Push- und Pullfaktoren abgesehen, um das Resultat eines ländlichen Bevölkerungsdrucks, der sich in die Städte entlud. Die interne Migration der Nachkriegsjahre wurde dagegen von wirtschaftlichen und kulturellen Pullfaktoren bestimmt und lange Zeit zudem von den Zentralisierungstendenzen der Behörden unterstützt. Dadurch wurde die hergebrachte Bevölkerungsstruktur in den abseits gelegenen Teilen des Landes immer mehr gefährdet, bis behördlich ergriffene Maßnahmen diese Entwicklung zumindest teilweise wieder bremsten. Mit dieser Entwicklung änderten sich auch die gesundheitsmäßigen Voraussetzungen für die Bevölkerung in den verschiedenen Teilen Norwegens. Auf dem Lande blieb eine Vielzahl von Älteren und Pflegebedürftigen zurück, während die Jüngeren sich in den Städten etablierten. Weil der Ausbau des modernen Wohlfahrtsstaates in Norwegen gezielt einen Ausgleich der Lebensverhältnisse anstrebte, darunter auch in der Gesundheitsfürsorge, sind mittlerweile die Unterschiede, die in der Morbidität und der Mortalität zwischen verschiedenen Gruppen und zwischen den Landesteilen einstmals so ausgeprägt waren, weitgehend ausgeglichen. 12 Diesbezügliche Daten lassen sich der laufenden Statistik des SSB entnehmen, vgl. Anm. 2. 13 Die führende Persönlichkeit in dieser Entwicklung war der Arzt Karl Evang (1902-1981), der in den Jahren 1938-1972 Medizinaldirektor des Landes war.

328

III.

Untersuchungsgebiete

Vor diesem Hintergrund ist die heutige Kohortensterblichkeit der Bevölkerung zu sehen. Mehr als je zuvor ergibt sie ein Bild, das für die Bevölkerung als Gesamtheit repräsentativ ist und nicht länger Durchschnittswerte, hinter denen sich gewaltige Unterschiede verbergen.

Die Sterblichkeit als Erklärungsfaktor Im Bereich der norwegischen Gesundheitsfürsorge ist seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine utilitaristische Grundeinstellung zu verspüren. Angestrebt wurden die bestmöglichen Bedingungen und die bestmögliche Gesundheit für die Mehrheit der Bevölkerung, ohne Rücksicht auf den Wohnort oder die wirtschaftlichen Verhältnisse des einzelnen. Die allgemeine Krankenversicherung von 1967, die symbolhaft auch Teil des allgemeinen Steuersystems ist, kann sozialgeschichtlich als ein Hauptziel dieser Entwicklung betrachtet werden. Auf Grund des nunmehr ausgeglichenen und auf niedrigem Niveau liegenden Standes der Sterblichkeit für alle Gruppen kann die Mortalität heutzutage nur noch bedingt als Maßstab für die Volksgesundheit und die gesundheitliche Wohlfahrt dienen. Auch die diagnosen- und gruppenspezifische Mortalität gibt kaum noch Aufschluß. Akute Krankheiten und andere Gefährdungen, die das Leben unmittelbar bedrohen, sind in den Hintergrund getreten. Die allermeisten Todesfälle ereignen sich in den höheren Altersgruppen. Für diese Menschen aber liegen die Faktoren, die ihre Gesundheit gefördert oder geschädigt haben, oft Jahrzehnte zurück. Noch leben Personen aus Kohorten, die geographisch oder/und sozial durch eine unterschiedliche Säuglingssterblichkeit geprägt waren. Es stellt sich die Frage, was dies für ihre künftige Morbidität und Mortalität bedeutet. Zum einen könnte man sich eine positive Selektion unter denen vorstellen, die damals eine hohe Säuglingssterblichkeit überlebt haben. Vielleicht zeichnen sich diejenigen, die seinerzeit alle Gefahren im ersten Lebensjahr überstanden, durch eine stärkere Konstitution aus, was im Hinblick auf ihre künftigen Lebensaussichten günstig sein könnte. Zum anderen ließe sich ebenso gut denken, daß damals schon Gesundheitsschäden auftraten, die die Überlebenden nachhaltig beeinträchtigt haben. Analoge Überlegungen können auch hinsichtlich der Morbiditäts- und Mortalitätsunterschiede anderer Altersgruppen angestellt werden. Insgesamt wissen wir noch zu wenig darüber, inwieweit die erreichten niedrigen Sterblichkeitswerte bereits ein Optimum sind. Die Rolle der Sterblichkeit als Maßstab für die Volksgesundheit in einer modernen westlichen Gesellschaft, wie es die norwegische ist, kann noch nicht als festgelegt gelten.

Sterblichkeit,

Krankheit

und Gesellschaft

in

Norwegen

Anteil überlebender Norweger in Fünfjahresperioden %

100 90 80 70 60 50 40 30 20 10

0 0

5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 Alter

1871/1875 1881/1885 1891/1895 1901/1905 1911/1615 1921/1925

1931/1935 1941/1945 1951/1955 1961/1965 1971/1975

Abb. 1: Anteil überlebender Norweger in Fünfjahresperioden

329

Schweden

331

Zeittafel Schweden

1814

Schwedisch-Norwegische Union

1818-1844

Karl XIV. Johan

1830-1860

Versechsfachung der schwedischen Holzausfuhr, dadurch bedingter Ausbau der Handelsflotte

1842

Gesetz zur Reform des Schulwesens. Verbesserung der Ausbildung von Lehrern. Einrichtung von Grundschulen in allen Gemeinden. 1881 besuchten bereits 83% aller schulpflichtigen Kinder diese Schulen

1844-1859

Oskar I.

1850

Die Industrialisierung Schwedens beginnt. (Nutzholzbedarf in Westeuropa als treibende Kraft)

1850

Beginn des Eisenbahnbaus in Skandinavien

1852

Entwicklung und Einsatz einer neuartigen Dampfsäge, die die Holzverarbeitung und die Verfahren des Holztransports grundlegend verändert

1858

Anwendung eines neuen Stahlherstellungsverfahrens. Ausbau des Verkehrswesens, besonders der Schiffahrt

1859-1872

Karl XV.

seit 1860

Staatlicher und privater Eisenbahnbau. Entstehung eines modernen Bankwesens. Trotz der ökonomischen Veränderungen seit den 50er Jahren verstärkte Auswanderung in die USA

1864

Realisierung der Gewerbefreiheit und des freihändlerischen Wirtschaftskurses

1865

Parlamentsreform führt zur Beseitigung des Vierständereichstages

1865-1866

Einführung der Repräsentativ-Verfassung und des Zwei-Kammer-Systems

1868

Die Volkshochschulbewegung erreicht Schweden

1872-1907

Oskar II.

1885

Beginn der Gewerkschaftsbewegung

1887

Erzausfuhr wird zum wichtigsten Wirtschaftszweig. Parallel entwickelt sich die Metall- und vor allem die Maschinenindustrie

1888

Rückkehr zur Schutzzollpolitik

1889

Verstärkte Industrialisierung führt zur Arbeiterschutz-Gesetzgebung. Gründung der Schwedischen Sozialdemokratischen Partei

1890

Zusammenschluß der Gewerkschaften (LO - Ladsorganisation).

1895

Der schwedische Chemiker A. Nobel, Erfinder des Dynamits, stiftet den jährlichen NobelPreis

1897

H. Branting wird 1897 als erster Sozialdemokrat in den Reichstag gewählt

1902

Bildung des Arbeitgeberverbands

1905

Ende der Schwedisch-Norwegischen Union. Oskar II. bleibt König von Schweden

Schweden 1907-1950

Gustav V.

1909

Einführung des allgemeinen Wahlrechts für die zweite schwedische Kammer und des Verhältniswahlrechts für beide Kammern. Generalstreik gegen starke Lohnsenkungen ist begleitet von großer internationaler Solidarität

1912

Vereinbarung über Neutralitätsregeln zwischen den drei nordischen Staaten; Schweden bleibt im Ersten Weltkrieg neutral

1913

Einrichtung eines Systems der Altersversorgung

1917-1921

Verfassungsreform, die zur Einführung der Demokratie in Schweden führt

1918/19

Allgemeines Wahlrecht für die erste Kammer, Frauenwahlrecht für die zweite Kammer

1920

Erste sozialdemokratische Regierung unter H. Branting

1920

Skandinavien wird Mitglied der Liga der Nationen

1931

Beginn der wirtschaftlichen Depression auch in Schweden. Zur Krise der Landwirtschaft kommt die der Industrie

1932

Z u s a m m e n b r u c h des K r e u g e r - Z ü n d h o l z - K o n z e r n s als H ö h e p u n k t der Weltwirtschaftskrise in Schweden

1932

Sozialdemokratische Regierung in Schweden

1939-1945

Schweden bleibt während des Zweiten Weltkriegs neutral

1940

Die Sozialdemokraten gewinnen zum ersten Mal auch in der ersten Kammer eine knappe Mehrheit

1946-1969

Sozialdemokratischer Ministerpräsident T. Erlander

1946

Beitritt zur UN

1946

Mit Verabschiedung des Volkspensionsgesetzes wird ein ausgedehntes Sozialsystem begründet

1949

Beitritt zum Europarat

1950-1973

Gustav VI. Adolf

1951

Schweden gründet gemeinsam mit Dänemark und Norwegen den Nordischen Rat, der als Organ für die Kooperation der Parlamente und Regierungen am 25. Juni 1952 in Kraft tritt. (1952 Beitritt Islands, 1955 Beitritt Finnlands)

1954

Gründung der Universität Göteborg. Weitere Universitätsgründungen 1960 (Stockholm) und 1963 (Umea). Die älteste Universität Schwedens wurde 1477 in Uppsala errichtet

1957

Ministerpräsident T. Erlander bildet eine neue sozialdemokratische Regierung

1960

Beitritt zur EFTA (European Free Trade Association)

1968

Änderung des Wahlrechts und der Verfassung, Einführung des Ein-Kammer-Systems

1969

Nach Erlander leitet der sozialdemokratische Ministerpräsident O. Palme das Kabinett

1972

Unterzeichnung des Freihandelsabkommens mit der EFTA

1973

Karl XVI. Gustav

1975

Änderung der Verfassung: Schweden wird eine repräsentative, parlamentarische Demokratie. Das monarchische Staatsoberhaupt hat nur noch repräsentative Aufgaben

1976

Ende der 44jährigen Regierungszeit der Sozialdemokraten. Ablösung durch eine bürgerliche Koalitionsregierung unter T. Fälldin

1976

Gesetz über Mitbestimmung räumt Gewerkschaften Einfluß auf Unternehmen und Arbeitsleitung ein

333

334 1978

III. Untersuchungsgebiete Liberale Minderheitsregierung unter Ministerpräsident O. Ullsen

1979

Neuwahlen: Fälldin wird Regierungschef einer bürgerlichen Koalition

1982

Parlamentswahlen'. O. Palme wird Ministerpräsident der sozialdemokratischen Regierung

1986

Palme wird von Unbekannten ermordet, Vizepremier I. Carlsson übernimmt das Amt

1988

Bestätigung von Carlsson durch Wahlsieg der Sozialdemokraten

1990

Im Februar Wiederwahl Carlssons als Ministerpräsident

Lebenserwartung in Schweden 1750-1900 Anders Brändström, Inez Egerbladh, Carin Sjöström, Lars-Göran

Tedebrand

Einleitung Wie in anderen Industriestaaten nahm auch in Schweden die Zahl älterer Menschen sowie ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung im Verlauf des 20. Jahrhunderts drastisch zu. Nur Island und Japan wiesen 1993 eine noch höhere Lebenserwartung bei der Geburt auf als Schweden, wo sie derzeit 74 Jahre für Männer und 80 Jahre für Frauen beträgt. Noch zu Beginn unseres Jahrhunderts lag sie für beide Geschlechter bei unter 60 Jahren (vgl. Abb. 1). Doch schon damals lebten Frauen im allgemeinen länger als Männer. Allerdings war der Unterschied geringer als heute, nämlich 2,5 Jahre im Vergleich zu nunmehr 6 Jahren.

e*

Lebenserwartung 1900-1989

Abb. 1: Lebenserwartung bei der Geburt in Schweden 1900-1989

336

III.

Untersuchungsgebiete

In den Jahrzehnten seit 1950 ist der geschlechtsspezifische Unterschied in der Lebenserwartung deutlich größer geworden. Zwischen 1900 und 1950 hatte die Lebenserwartung sich noch vergleichsweise ähnlich entwickelt, der Unterschied betrug stets etwa 3 Jahre. Nach 1950 stagnierte die Entwicklung bei den Männern, so daß dadurch der Abstand zur Lebenserwartung der Frauen größer wurde. Am größten war die Differenz in den 1970er Jahren. Heute beobachten wir indes einen neuen Trend: 1976-1980 und 1981-1985 nahm die Lebenserwartung bei den Männern um 1,1 Jahre, bei den Frauen nur um 1,0 Jahre zu.

Abb. 2: »Gewonnene Leben« 1988 auf Grund des Sterblichkeitsrückganges in Schweden 1951-1988 Das Ausmaß an »gewonnenen Leben«, das sich in Schweden der sinkenden Sterblichkeit nach 1950 verdankt, war bei den Frauen dreimal so groß wie bei den Männern und konzentrierte sich vor allem in den höheren Altersgruppen (vgl. Abb. 2). Die Sterblichkeitstrends bei älteren Menschen im Schweden der Nachkriegszeit lassen sich auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede hinsichtlich sozialer und Berufszugehörigkeit, Familienstand und Lebensstil zurückführen. Die Mortalitätskurven sind jedoch keineswegs ein getreues Abbild sozioökonomischer Verhältnisse, viel-

Lebenserwartung in Schweden 1750-1900

337

mehr zeigen sie wie erwartet, daß auch Elemente der Lebensführung wie Rauchen, Alkoholkonsum und nicht zuletzt Umweltbedingungen von erheblicher Bedeutung waren. Die Unterschiede zwischen Berufen mit niedrigeren und solchen mit höheren gesundheitlichen Risiken zeichneten sich oft erst im Ruhestand stärker ab. Der Verheiratetenstatus spielte vor allem für Männer eine wichtige Rolle, und zwar sowohl im Hinblick auf die Gesundheit als auch auf das Alter. In Schweden gibt es deutliche Unterschiede in der durchschnittlichen Lebenserwartung zwischen den einzelnen Landesteilen. Bezogen auf die administrativ-statistischen Läns-Einheiten (län = Regierungsbezirk) differierten die Angaben für 19811985 bei den Männern um 2,3 und bei den Frauen um 2,2 Jahre. Verhältnismäßig niedrig ist die durchschnittliche Lebenserwartung auch in den drei größten Städten des Landes, Stockholm, Göteborg und Malmö. Dieser Sachverhalt ist offensichtlich auf die oben erwähnten Unterschiede in der Belastung durch Beruf, Familienstand und Lebensstil (Rauchen, Trinken, ungesunde Ernährung) zurückzuführen.

Unterschiedliche methodische Ansätze Die theoretischen Grundlagen für eine wissenschaftliche Diskussion der maximalen möglichen Lebensdauer wurden in der Genetik und in der Biologie gelegt. Beiträge von Seiten der historischen Demographie sind auf Grund des zur Verfügung stehenden zeitlich wie räumlich begrenzten Quellenmaterials von beschränkter Aussagekraft. Heute sind die meisten Faktoren, die zu Unterschieden in der Lebenserwartung führen, untereinander ausgeglichen. Wie schon erwähnt bildet die wichtigste Ausnahme hiervon das Geschlecht. In der Vergangenheit, selbst in Zeiten relativ geringer Sterblichkeit wie im späten 19. Jahrhundert in Schweden, können wir jedoch immer wieder gravierende Unterschiede feststellen, seien sie nun regional, städtisch-ländlich, ökologisch, individuell, sozioökonomisch, familienstands- oder eben geschlechtsspezifisch. Ein »struktureller« Zugang zu den Ursachen der differenzierenden Faktoren ist also vielversprechend, als Erklärung für hohe Lebenserwartung jedoch nicht ausreichend. Zusätzlich müssen - dem »holistischen« Prinzip folgend auch kulturelle Faktoren in Betracht gezogen werden (etwa unterschiedliche Lebensstile, Grad der gesundheitlichen Aufklärung, Behandlungs- und Betreuungsmöglichkeiten im Krankheitsfall, Stand der institutionalisierten und der nicht-institutionalisierten Hilfe und Pflege älterer Menschen). Theorien über Lebenserwartung, die davon ausgehen, daß Altern ein umweltabhängiger interaktiver Prozeß ist, scheinen größere Überzeugungskraft zu haben als solche, die eher den genetischen Faktoren entscheidende Bedeutung beimessen. Neue Ansätze, die mehr die institutionellen und technologischen Determinanten des Alterns ins Zentrum rücken, werden in der vorliegenden, in erster Linie historisch orientierten Studie kaum berücksichtigt.

338

III.

Untersuchungsgebiete

Lebenserwartung in Schweden 1750-1900 Angaben zur Zunahme der Lebenserwartung in Schweden zwischen 1750 und 1900, die sich auf das Land als Ganzes beziehen, sind zwangsläufig vergröbernd hinsichtlich der vielfältigen individuellen, genetischen, sozialen, umweltbedingten, lokalen und regionalen Unterschiede. Trotzdem können sie bei der Diskussion bestimmter Problemfelder von Wert sein. Abbildung 3 zum Beispiel zeigt die geschlechtsspezifische Lebenserwartung bei der Geburt in Schweden von 1751 bis 1900. Sie berücksichtigt weder die Altersverteilung der Bevölkerung noch die Tatsache, daß die Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung nicht unbedingt mit einer Zunahme der maximalen Lebensspanne verbunden ist.

Abb. 3: Durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt nach Geschlecht in Schweden 1751-1970

Lebenserwartung in Schweden 1750-1900

339

Im Verlauf der anderthalb Jahrhunderte von 1750 bis 1900 hat die durchschnittliche Lebenserwartung in Schweden stark zugenommen. Am weitaus stärksten aber stieg sie im 20. Jahrhundert. Insbesondere bedingt durch die hohe Säuglingssterblichkeit vor dem Einsetzen der demographischen Transition betrug die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer in Schweden während des Zeitraums 1751-1755 nur 34,8 Jahre und für Frauen 38,3 Jahre. Nach 1780 begann die Lebenserwartung als Folge der sinkenden Säuglingssterblichkeit sukzessive anzusteigen. Der beginnende Rückgang der Kindersterblichkeit sowie die einsetzende epidemiologische Transition nach 1850 beeinflußten vor allem die Mortalität von Erwachsenen bis etwa zum 60. Lebensjahr. Bis 1850 zeigen die Kurven allerdings einen ziemlich unregelmäßigen Verlauf, was auf das wiederholte Vorkommen von Mortalitätskrisen zurückzuführen ist. Bemerkenswert ist auch ein vorübergehender Rückgang in der Lebenserwartung um die Mitte des 19. Jahrhunderts auf Grund einer Verschlechterung der epidemiologischen Situation im spätagrarischen Schweden. Die Verbesserung der Ernährungssituation der schwedischen Bevölkerung während der epidemiologischen Transition erklärt weitgehend die Veränderungen in der Lebenserwartung ab dem 15. Lebensjahr. Auffällig ist die kontinuierliche Zunahme seit etwa 1840. Sie betrifft auch die 50jährigen und Älteren, obwohl sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bei ihnen nicht ganz so ausgeprägt war wie bei den jüngeren Erwachsenen. Im folgenden wollen wir die nationale Ebene verlassen und uns einigen kleineren Untersuchungseinheiten zuwenden. Dabei werden Bevölkerungsmaterialien der Demographischen Datenbank der Universität Umeä (DDB = Demografiska Databasen) herangezogen und ausgewertet. Sie betreffen verschiedene Regionen und Kirchengemeinden im Schweden des 19. Jahrhunderts, die unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen aufwiesen. (Der im Originalbeitrag verwendeten englischen Begriff »parish« bzw. die schwedischen Begriffe »kyrksocken« und »församling« werden im Deutschen sowohl mit »Gemeinde«, »Kirchengemeinde« und »Kirchspiel« als auch mit »Pfarrei« wiedergegeben, Anm. d. Red.). Dieses Vorgehen soll dem Leser einen möglichst detaillierten Einblick in die Organisation unserer Datenbankmaterialien geben und ihm gleichzeitig einen Überblick über die gesellschaftlich-wirtschaftlichen Verhältnisse in den von uns EDV-registrierten Gebieten vermitteln. Abschließen soll der Beitrag mit einer versuchsweisen Analyse der Sterberaten wie auch der geschlechtsspezifischen Lebenserwartung in vier - auf zwei unterschiedliche Regionen verteilte - Kirchengemeinden. Ziel dieser Ausführungen ist es nicht, Antworten zu geben. Es sollen vielmehr unterschiedliche Entwicklungen und Trends aufgezeigt und Fragen für künftige Forschungen formuliert werden.

340

III.

Untersuchungsgebiete

Grundlagen Einzigartig für die Demographische Datenbank in Umeä ist die Tatsache, daß sie auf einem Kirchenbuchmaterial beruht, das nicht nur personenzentriert ist, sondern sich auch durch großen Detailreichtum sowie eine unübertroffene Qualität auszeichnet. Dieses bemerkenswerte Material erlaubte den Aufbau eines integrierten Informationssystems, das die unterschiedlichsten Quellenangaben miteinander vernetzt. Die Kirchenbuchführung selbst geht auf einen ekklesiastischen Erlaß von 1686 bzw. dessen verschiedene Vorläufer zurück. Daraus entwickelte sich schon bald eine Art jährlicher Bevölkerungsaufstellungen, die binnen kurzem auch für staatliche Zwecke (Steuererhebungen, Rekrutierungen) genutzt wurden. Diese Entwicklung erstaunt nicht weiter, wenn man bedenkt, wie eng im damaligen protestantischen Schweden staatliche und kirchliche Interessen miteinander verwoben waren. Die Kirchenbücher enthalten im allgemeinen mehrere Angaben zu ein und derselben Person. Die Anzahl der Vermerke hängt in der Regel davon ab, wie lange sich diese Person am gleichen Ort aufhielt. Neben zentralen Ereignissen wie Geburt, Heirat und Tod finden sich auch Angaben über die Zahl der Kinder, über den Wechsel von einem Haushalt in einen anderen, über Wanderungsbewegungen zwischen einzelnen Kirchengemeinden oder gegebenenfalls über die Migration ins Ausland. Anhand zusätzlicher Hinweise auf den Beruf sowie Angaben zu Besitz an Grund und Boden bzw. steuerbares Wohneigentum läßt sich durch individuumzentriertes Vernetzen der Informationen der jeweilige gesellschaftliche Status bzw. die soziale Mobilität der Person ermitteln. Im Quellenmaterial sind gelegentlich darüber hinaus weitere personenbezogene Eigenschaften erwähnt wie Lesekenntnisse oder Textverständnis, körperliche Gebrechen oder begangene Straftaten. Aus den Daten läßt sich zudem bis zu einem gewissen Grad erschließen, in welchem Verhältnis bestimmte Menschen zueinander standen. Insbesondere in den »Husförhörslängderna« (»Hausverhörsregistern«, das sind Protokolle über jährlich von Pfarrern vorgenommene Individualexamina zwecks Überprüfung von Lesekenntnissen [der Heiligen Schrift] sowie des diesbezüglichen Textverständnisses) ist minutiös vermerkt, welche Personen in einer Familie lebten, wer außerdem zum Haushalt gehörte und ob es sich dabei um Verwandte oder Fremde, zum Beispiel Knechte oder Mägde handelte. Das schwedische Registrierungssystem erlaubt somit das exakte Nachzeichnen von Lebensläufen sowohl auf individueller wie auf familialer Ebene. Die Voraussetzungen für die Erstellung von Längs- wie Querschnittsanalysen sind im allgemeinen außerordentlich gut. Die drei großen, von der Demographischen Datenbank systematisch EDV-erfaßten und kirchengemeindeweise gespeicherten Quellenbestände sind - Tauf-, Heirats- und Beerdigungsregister, - Hausverhörsregister, - Wanderungs-Register.

Lebenserwartung in Schweden 1750-1900

341

Aus mehreren Gründen wählte die Demographische Datenbank als zentrale Periode für die Erfassung das 19. Jahrhundert. Zum einen fließen in dieser Zeit die personenbezogenen Informationen entschieden reichlicher als vorher, zum anderen sind sie bereits weitgehend standardisiert, was die EDV-Erfassung und -Vernetzung wesentlich erleichtert. Auch erlebt Schweden im 19. Jahrhundert den Übergang von einer ehedem agrarischen zu einer industrialisiert-urbanisierten Gesellschaft. Als Folge der rasch sinkenden Sterblichkeit bei weiterhin hohen Geburtenzahlen nahm das Bevölkerungswachstum enorm zu; die daraus resultierende soziale Differenzierung verlief beinahe dramatisch. Die Bevölkerungsdatenbank in Umeä (POPUM) gliedert sich geographisch zum einen in sieben über ganz Schweden verstreute Kirchengemeinden, zum andern in die beiden Großregionen Sundsvall und Skellefteä. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf ausgewählte Gemeinden der Region Sundsvall sowie die gesamte Region Skellefteä.

Der Aufbau der Bevölkerungsdatenbank (POPUM) Die Demographische Datenbank ist ein Informationssystem, das rund 365 000 Individuen mit insgesamt etwa 1 644 000 quellenmäßig erschlossenen Einzelangaben umfaßt. Sie wird mittels eines IBM-SQL/DS-Datenbankmanagers auf einem IBMRechner der Klasse 4361 verwaltet. Mengenmäßig liegt die Größe von POPUM derzeit bei gut einem Gigabyte. POPUM ist eine relational aufgebaute Datenbank. Sie setzt sich aus einer Vielzahl von einzelnen Tabellen zusammen, die ihrerseits aus Zeilen und Kolonnen bestehen. Dabei enthalten die Zeilen die Angaben zur Person. Die Einzeltabellen sind einander so zugeordnet, daß Kolonnen mit jeweils gleichartigen Informationen miteinander verbunden sind. In der Regel verwendet man die für jedes Individuum unikale Personennummer PNR als Koppelungselement zwischen den Tabellen. Die Haupttabelle der gesamten Datenbank ist die PERSON-Tabelle. Sie enthält Informationen statischer Art, d. h. personelle Angaben, die sich im Laufe eines Lebens nicht verändern, wie das Geburtsdatum, das Geschlecht, den Herkunftsort oder das erste und letzte Observationsdatum in einer Kirchengemeinde. Mit Hilfe der Personennummer PNR findet man ein Individuum in beinahe allen Quellentabellen. (Jede Quellengattung wurde für sich ausgewertet und die Ergebnisse in jeweils spezifischen Quellentabellen gespeichert; vgl. Abb. 4). Werden nun die statischen Angaben aus der PERSON-Tabelle mit personenbezogenen Anmerkungen zum Beispiel aus der Tabelle für Hausverhörsangaben gekoppelt, ergeben sich hieraus Informationen dynamischer Art; d. h. sie betreffen Veränderungen, die sich im Laufe eines Menschenlebens zugetragen haben, wie Heirat oder Wiederverheiratung, Zahl der Kinder, berufliche und soziale Karrierekriterien oder Zu- und Abwanderungen. Jedes Merkmal, das in dieser oder einer anderen Quellentabelle gespeichert ist, hat eine

342

III.

Untersuchungsgebiete

POPUM • B e v ö l k e r u n g s d a t e n b a n k (ohne Kode- und Hilfstabellen)

Abb. 4: POPUM - Bevölkerungsdatenbank

Lebenserwartung in Schweden 1750-1900

343

laufende Nummer. Mit ihrer Hilfe läßt sich nachprüfen, ob eine Person sämtliche Stationen innerhalb bestimmter Auswahlkategorien durchlaufen hat. Unter erneuter Verwendung des PNR-Schlüssels werden schließlich sämtliche erfaßte Einzelereignisse aus einem individuellen Leben zusammengestellt, wobei stets die originalen Quellen genannt werden. Die Datenbank ist also so angelegt, daß auch Tabellen entstehen, die nicht einer bestimmten Quelle entsprechen oder auf einer solchen basieren (so etwa die »Zusammenkoppelungstabelle« LANK). Die »Migrationstabelle« etwa beruht auf Angaben sowohl aus den Wanderungs- als auch aus den Hausverhörsregistem. Die »Relationstabelle« enthält Angaben über familiäre Zusammenhänge oder das Wohnen unter einem Dach. In der »Wohntabelle« finden wir sämtliche Hinweise über die geographischen Aufenthaltsorte einer Person mit exakten Angaben über die jeweilige Verweildauer. Die meisten dieser Quellenvermerke verweisen auf die Hausverhörsregister. Die Einzelangaben in den Tabellen basieren in der Regel auf Eintragungen in den Quellen. Gespeichert werden sie in kodierter Form. In jeder Personenzeile ist aber auch Raum für buchstabengetreue Eintragungen, so vor allem für Vor- und Nachnamen, gegebenenfalls für besondere Titel oder Wohnhinweise und dergleichen mehr. Bei diesbezüglichen Zusammenstellungen und Auswertungen kommen nochmals neue Tabellenvariablen zustande. Sie enthalten Informationen über Namensgebung, Wohnsituationen, Wanderungsarten und anderes mehr.

Auswahlkriterien Für die vorliegende Studie wurden prinzipiell sämtliche Personen aus der Datenbank berücksichtigt, für die es in den Kirchenbüchern ein »Schlußjahr« gibt. Unter Bezugnahme hierauf wurde sodann das Sterbealter bzw. das »Schlußalter« in Anzahl Tagen seit der Geburt errechnet. Die entsprechenden Daten sind im einzelnen der PERSONsowie der LANK-Tabelle entnommen, die auf Angaben in den Hausverhörsregistern basieren. Die Programmierung wurde mittels FORTSQL, d. h. mittels FORTRAN und einer Schnittstelle zu SQL vorgenommen.

Die Regionen Sundsvaü und Skellefteä Beide Regionen, diejenige von Sundsvall wie die von Skellefteä, sind Küstenregionen am Bottnischen Meerbusen in Nordschweden (vgl. Abb. 5 und 6). Sowohl ihrer demographischen Entwicklung nach wie auch hinsichtlich ihrer Wirtschaft unterschieden sie sich im 19. Jahrhundert jedoch wesentlich voneinander. Während die Bevölkerung in der Region Skellefteä noch während des ganzen Jahrhunderts praktisch unverändert die Traditionen einer nordschwedischen Agrargesellschaft bei-

344

III.

Untersuchungsgebiete

behielt und vom Modemisierungsprozeß so gut wie überhaupt nicht erfaßt wurde, war in der Region Sundsvall, am ausgeprägtesten in den Küstengemeinden, der Einfluß von Industrialisierung und Urbanisierung auf die demographischen Einzelfaktoren beträchtlich. Unterschiede in der demographischen Entwicklung bestanden beispielsweise darin, daß in der Region Skellefteä die Fruchtbarkeit höher und die Sterblichkeit geringer war als in derjenigen von Sundsvall, wohingegen in der letzteren die geographische Mobilität höher war. In der Zeit vor etwa 1800 unterschieden sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in den beiden Regionen nicht wesentlich von denjenigen im übrigen Nordschweden. In der Region Sundsvall waren die Voraussetzungen für die Landwirtschaft auf Grund

Lebenserwartung in Schweden 1750-1900

345

günstigerer klimatischer Bedingungen vielleicht etwas besser als im nördlicheren Skellefteä. Im übrigen aber lagen die Unterschiede mehr innerhalb der Regionen selbst als zwischen ihnen. Das qualitativ beste Agrarland mit den fruchtbarsten Böden lag einerseits im Küstengebiet und andererseits entlang der Flüsse und kleineren Binnengewässer. Mit wachsendem Abstand vom Bottnischen Meerbusen verschlechterten sich die landwirtschaftlichen Bedingungen. Viehzucht war beinahe wichtiger als der Anbau von Getreide oder anderen Produkten. Das notwendige zusätzliche Auskommen ergab sich meist aus dem Fischfang sowie aus verschiedenen Formen der Waldnutzung. Beinahe alle Bauern verfügten, wie das in den meisten Gebieten Nordschwedens vor dem 19. Jahrhundert üblich war, über eigenen Grund und Boden. Bereits vor 1800 bestehende Unterschiede zwischen den beiden Regionen betrafen vor allem die Bevölkerungsdichte, die Siedlungsweise sowie frühe Formen der Industrialisierung. So war die Einwohnerzahl der Region Sundsvall rund doppelt so groß wie diejenige von Skellefteä. Und während eine weitere landwirtschaftliche Expansion in der Region Sundsvall kaum noch möglich war, verfügte Skellefteä nach wie vor über große unbewohnte und unbewirtschaftete Gebiete. In der Region Sundsvall siedelten die Bauern hauptsächlich in kleineren Anwesen, während sich die Region Skellefteä durch relativ große, weit auseinander liegende Gehöfte auszeichnete. Ferner existierte in der Region Sundsvall bereits eine kleine Stadt gleichen Namens; bescheidene Industrieanlagen, vor allem Eisenwerke, gingen hier in ihren Anfängen noch auf das 17. und 18. Jahrhundert zurück. In der Region Skellefteä dagegen gab es zu dieser Zeit weder größere Ansiedlungen noch Industrie. Insgesamt war also die Wirtschaft in der Region Sundsvall bereits um 1800 vielfältiger als in Skellefteä. Dieser Trend setzte sich im 19. Jahrhundert beschleunigt fort. Für beide Regionen gleichermaßen gilt hingegen, daß sich die landwirtschaftlichen Anbaumethoden im 19. Jahrhundert deutlich verbesserten, und daß es in beiden Zonen zur Einführung - nicht Weiterentwicklung - einer holzverarbeitenden Industrie kam. Noch immer aber waren während des gesamtem 19. Jahrhunderts die Unterschiede sowohl zwischen den beiden Regionen wie auch innerhalb ihrer Grenzen ganz erheblich.

Die Region Skellefteä Die gesamte Region Skellefteä bildete ursprünglich ein einziges Kirchspiel. Die Ausdehnung betrug etwa 6400 qkm. Die besiedelten Gebiete konzentrierten sich indes in den südlichsten Teilen der Küstenregion sowie in den Tälern an den Unterläufen der Flüsse Skellefteä, Käge und Byske. Nach 1700 kam es allmählich auch zur Besiedlung der Binnenzonen sowie der unbewohnten Küstenstriche zwischen den Flußläufen. In den bereits genutzten Gebieten nahm die Zahl der Anwesen durch Landaufteilung um etwa 500 Höfe zu. Dadurch bildete sich auch hier die für ganz Nordnorrland typische Siedlungsweise heraus: einige wenige große Dörfer an der

346

III.

Untersuchungsgebiete

Küste und in den Tälern, dazwischen kleinere Dörfer und Einzelgehöfte. Am unteren Skellefteäfluß entstand um eine ältere Kirche in den 1840er Jahren schließlich auch eine kleine Stadt desselben Namens. Ihre Bevölkerung wuchs allerdings nur langsam. 1880 hatte die Stadt die bedeutenderen Dörfer der Region hinsichtlich ihrer Bevölkerungszahl kaum übertroffen, im Jahr 1900 waren es gerade 1279 Einwohner.

Die Region Skellefteä

Jörn

Norsjö

Abb. 6: Die Region Skellefteä Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde das ausgedehnte Kirchspiel Skellefteä, nachdem die Besiedlung immer dichter geworden war, schließlich aufgeteilt. Auf ungefähr der Hälfte des ursprünglichen Gebietes im Hinterland richtete man zwei neue Pfarreien ein: Norsjö und Jörn. 1871 wurde auch der nördlichere Küstenabschnitt in eine selbständige Gemeinde umgewandelt: Byske. Innerhalb dieser neuen Pfarrei befand sich ein kleineres Industriegebiet, Ytterstfors, das seinerseits in den Jahren 1846-1870 eine selbständige Kirchengemeinde mit eigener Kirchenbuchführung gewesen war. Da die Pfarreiregister sowohl von Byske als auch die von Ytterstfors vollständig in der Datenbank von Umeä enthalten sind, können wir die gesamte Bevölkerung des Küstengebietes von Skellefteä in unsere Untersuchungen einbeziehen. Dieses Küstengebiet allein ist flächenmäßig beinahe so groß wie die gesamte Region Sundsvall.

Lebenserwartung in Schweden 1750-1900

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Landwirtschaft In ökonomischer Hinsicht war die Region Skellefteä während des gesamten Untersuchungszeitraums von Landwirtschaft geprägt. Noch um die Wende zum 20. Jahrhundert beschäftigte diese vier Fünftel der Bevölkerung (ohne Jörn und Norsjö). In der Industrie waren damals nur 15% der Bevölkerung tätig. Noch immer besaß die große Mehrheit der Bauern eigenen Grund und Boden. Im Gegensatz zu den meisten Gebieten im übrigen Schweden war die soziale Differenzierung der bäuerlichen Bevölkerung gering. Das Pachtsystem war so gut wie unbekannt. Im Kirchspiel Skellefteä gab es praktisch überhaupt keine Pächter, in der Pfarrei Byske dagegen immerhin 12%. Auch waren alle Formen von kleinstbäuerlichen Betrieben (Häusler, Kätner) selten, nur etwa 14 von 100 Anwesen rechneten dazu. Zwar waren die Anwesen relativ klein, doch gehörten zu jedem Gehöft große Flächen natürlichen Weidelandes und Waldes, die sich vor deren Aufteilung um die Mitte des 19. Jahrhunderts wie seit alters im Gemeinbesitz aller Bauern befanden. Der Lebensunterhalt wurde im wesentlichen auf traditionelle Weise durch eine extensive Landwirtschaft bestritten, wobei die Viehzucht dominierte. Hinzu kamen, wie bereits erwähnt, Fischfang und Holzabbau sowie Holzverarbeitung (zum Beispiel Herstellung von Teer, Brettern und Balken), sei es für den Eigengebrauch, sei es für den lokalen Markt. Diese Form landwirtschaftlicher Ökonomie veränderte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts nach und nach. Es kam zu einer Intensivierung von Viehzucht und Getreideanbau. Für viele Bauern spielten zusätzliche Einkünfte immer noch eine wichtige Rolle, wenn auch der Bedarf an den von ihnen zur Unterstützung des eigenen Lebensunterhalts nebenher erzeugten Produkten stark zurückgegangen war. Tagelöhner oder Saisonarbeiter hatten viele ihrer alten Nebentätigkeiten übernommen. Dieses betraf vor allem das Fuhrgeschäft, das für den Transport von Holz angesichts der rasch wachsenden Holzindustrie eine erhebliche Rolle spielte.

Industrielle Entwicklung In den meisten Gebieten Nordschwedens waren die Frühformen der Industrialisierung hauptsächlich durch Eisenhütten und Sägewerke geprägt. In der Region Skellefteä allerdings gab es keine Eisenhütten in Betrieb, obwohl zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine ganze Reihe davon geplant und teilweise sogar gebaut worden war. Erfolgreicher dagegen verliefen die Gründung und der Aufbau einer Holzindustrie in der zweiten Jahrhunderthälfte. Im Vergleich zu den südlicheren Gebieten Norrlands einschließlich Sundsvalls war die Produktion jedoch eher bescheiden. Die Holzindustrie hatte damals bereits eine lange Tradition. Kleinere Sägewerke, die sich im allgemeinen im Besitz von Bauern befanden, gab es überall in Norrland. Sie vermochten den lokalen Bedarf vollauf zu befriedigen. Die Anlage von wasserbetriebenen Sägewerken mit technisch ausgereiften Feinblatt-Sägeanordnungen führte

348

III.

Untersuchungsgebiete

Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer Erhöhung der Produktionskapazitäten und zur Gründung neuer Betriebe. Ursprünglich waren diese Sägewerke mit staatlichem Einverständnis bzw. durch Erteilung von Privilegien errichtet worden, wobei der Staat auch die Garantie für einen ausreichenden Zugang zu Rohmaterial aus den eigenen Forsten übernahm. Diese Form von Anlageregulierung durch Privilegienverleihung endete jedoch bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts. 1810 waren in der Region Skellefteä insgesamt sechs Sägewerke in Betrieb, die sämtlich auf staatliche Privilegien verweisen konnten. Eines dieser Werke war Ytterstfors, das seit 1795 bestand. In Ytterstfors gab es überdies eine Glashütte und später kam noch eines der größten dampfbetriebenen Sägewerke der Region hinzu. Vor 1870, besonders in den 1860er Jahren, hatte man eine Reihe weiterer wasserbetriebener Sägewerke in Betrieb genommen. Um 1900 bestanden jedoch nur noch vier derartige Anlagen, die übrigen hatten den effektiveren Dampfwerken weichen müssen. Dampfbetriebene Anlagen konnten gleichmäßig über das ganze Jahr produzieren und zudem größere Mengen Materials bewältigen. Die neuen Dampfsägewerke waren ausnahmslos entlang der Küste gebaut worden. Das erste nahm seinen Betrieb 1859 in Sävenäs auf. In einigen Fällen verdrängten sie am Ort bestehende Wassersägewerke, so zum Beispiel in Ytterstfors oder Furuögrund, in Bureä oder Brännfors. Die meisten aber wurden an neuen Orten vor allem im Mündungsgebiet des Skellefteäflusses angelegt. Um die Jahrhundertwende waren es zehn. Sie waren hauptsächlich in den 1880er und 1890er Jahren entstanden. Der gestiegene Bedarf an Rohmaterial für diese Sägewerke wurde auf unterschiedliche Weise gedeckt, da sich nur noch wenige Betriebe auf genügende Lieferungen aus den Staatsforsten verlassen konnten. Zu den Strategien der Sägewerksbesitzer gehörte es, Höfe aufzukaufen bzw. neue Anwesen auf bislang unbesiedeltem Gebiet zu gründen. Die meisten davon befanden sich im Landesinneren, vor allem in den Gemeinden Jörn und Norsjö. Im Küstenstreifen war diese Form von Sägewerksbesitztum dagegen eher selten. Trotzdem hatte das Sägewerk Ytterstfors im nördlichen Bereich der Gemeinde Byske eine beträchtliche Anzahl von Anwesen in seinen Besitz gebracht, besonders in Gebieten, die erst kürzlich besiedelt worden waren.

Die Region Sundsvall Die Region Sundsvall bestand zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus insgesamt 15 Kirchengemeinden. Im Verlauf des Jahrhunderts wurden drei Gemeinden geteilt, so daß sich die Zahl auf 18 erhöhte. Zwei dieser neuen, relativ kleinen Pfarreien, Svartvik und Skönsmon, waren ganz durch Sägewerks- und Holzindustrie geprägt, die dritte, Lagfors, durch Eisenverhüttung. Die Administration spiegelt hier in ihren Veränderungen die damalige industrielle Entwicklung wieder, während sie in der Region Skellefteä eher ein Abbild ländlicher Siedlungsexpansion ist.

Lebenserwartung in Schweden 1750-1900

349

Die Region Skellefteä Gemeinde

Zeitraum

Bevölkerung

der Register

1720

1750

1800

1850

Skellefteä

1720-1900

2492

3642

6210

13 851

Byske

1871-1897

-

-

-

Ytterstfors

1846-1870

-

-

-

-

512

Die Region Sundsvall Gemeinde

Zeitraum

Bevölkerung

der Register

1750

1800

1850

1900

Sundsvall

1803-1892

1000

1468

2859

14 831

Timrä

1803-1895

550

660

1 218

5698

Skön

1803-1893

554

769

1 132

11 744

Alnö

1804-1894

549

704

1004

6817

Njurunda

1816-1891

968

1558

2296

6449

Galtströms bruk

1807-1891

170

175

200

444

Svartvik

1860-1900

Ljustorp

1808-1894

615

Hässjö

1814-1900

600

Lagfors bruk

1860-1890

Lögdö bruk

1819-1892

Tynderö

-

1428

929

1638

2451

870

1441

3602

132

187

144

201

275

317

189

1811-1900

282

516

856

1395

Indal

1814-1900

675

1087

1855

2607

Selänger

1813-1894

653

972

1318

2642

Sättna

1806-1899

493

906

1608

2066

Tuna

1804-1896

719

1094

1712

3577

Attmar

1814-1895

711

1205

2082

3083

-

-

-

Abb. 7: Die Bevölkerungsentwicklung in den Regionen Skellefteä und Sundsvall

350

III.

Untersuchungsgebiete

Zwei größere Wasserläufe, die Flüsse Indal und Ljungan, bahnen sich ihren Weg quer durch die Region Sundsvall zum Bottnischen Meerbusen. Beide dienten der Sägewerksindustrie als wichtige Zubringer bei der Holzflößerei. Verglichen mit der Region Skellefteä war das Gelände der Region Sundsvall eher uneben. Auch waren die Flächen zwischen den Wasserscheiden hier kleiner. Da der größte Teil der Region bereits besiedelt und in privater Hand war, konnten nur noch wenige neue Anwesen gegründet werden. Sie entstanden meist auf marginalen Böden in abgelegenen Ländereien, die noch in Gemeindebesitz waren. Auf Grund der industriellen Entwicklung konnten jedoch durchaus neue Orte entstehen, die sich nicht selten rasch zu größeren nicht-agrarischen Ballungszentren entwickelten. Die Region Sundsvall ist nicht leicht zu charakterisieren, da sie eine Vielfalt verschiedenartiger Gesichtspunkte bietet. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts jedenfalls waren die meisten Gemeinden nach wie vor durch die Landwirtschaft geprägt. Neben der Stadt Sundsvall gab es zwei kleinere Pfarreien mit vergleichsweise großen Eisenhütten: Lögdö und Galtström. Außerdem waren einige Eisenhütten in landwirtschaftlichen Ortschaften errichtet worden. Noch in der Mitte des Jahrhunderts war die Landwirtschaft vorherrschend, wenn es auch verschiedene Industrien gab, die über das Land verteilt waren: Eisenhütten, große wasserbetriebene Sägewerke, Schiffswerften, Papiermühlen und eine Glashütte. Dann jedoch begann der industrielle Aufschwung in den Küstengebieten. In der zweiten Jahrhunderthälfte entstand hier eines der weltweit größten Areale der holzverarbeitenden Industrie. Am Ende des Jahrhunderts bestand die Region aus der Stadt Sundsvall, aus Pfarreien mit expandierenden hochindustrialisierten Sägewerksbetrieben (Skön/Skönsmon, Alnö, Timrä, Svartvik), aus Pfarreien mit niedergehenden Eisenhütten (Galtström, Lögdö, Lagfors) und aus landwirtschaftlichen Gemeinden, die alle mehr oder weniger durch die verschiedenen Industrien und die Stadt Sundsvall beeinflußt waren (Njurunda, Hässjö, Selänger, Attmar, Tuna, Tynderö, Indal und Ljustorp). Erwähnt werden soll hier noch, daß die Dichte der Standorte unterschiedlicher Industriezweige an verschiedenen Stellen zu regelrechten Industriekomplexen führte wie in Skönsmon, Svartvik und Skönvik.

Landwirtschaft Das fruchtbarste Land lag im wesentlichen in den Tälern der Flüsse Ljungan, Indal und Selänger. Die Anbaubedingungen wurden schlechter, je weiter man sich von der Küste in das Landesinnere entfernte, waren aber auch auf den vorgelagerten Inseln sowie in Teilen der Gemeinden Njurunda und Timrä ungünstig. Am stärksten landwirtschaftlich geprägt waren im gesamten Untersuchungszeitraum die Pfarreien Selänger und Sättna. Gebiete mit Sägewerksindustrie waren dagegen nie Zentren der Landwirtschaft. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts konnte man noch allenthalben beobachten, daß die Bauern sich verschiedenartigste Zusatzeinkünfte neben der Landwirtschaft ver-

Lebenserwartung in Schweden 1750-1900

351

schafften. Fischfang kam fast überall vor, wenngleich er in den Gemeinden an der Küste selbstverständlich am wichtigsten war (vor allem in Tynderö und Alnö). Berufsfischer gab es auch unter den Einwohnern der Stadt Sundsvall und in Njurunda. Mehr im Inneren des Landes hatte Holznutzung für verschiedene Zwecke die größere Bedeutung, so in Ljustorp, Indal oder Attmar. Zahlreiche Bauern in Njurunda, Hässjö, Ljustorp, Attmar und Tuna waren auch immer wieder zeitweise für die nahegelegenen Eisenhütten tätig und erwarben sich dadurch ein Zubrot. Im Verlauf des späten 19. Jahrhunderts wurde das Zusatzeinkommen mehr und mehr aus den verschiedenen Möglichkeiten gewonnen, die die Sägewerksindustrie bot, sei es in den Werken selbst, sei es bei der Beschaffung von Rohmaterial. Die anderen zuvor üblichen Nebentätigkeiten, nicht zuletzt die Fischerei, gingen dagegen zurück. Auch um 1900 dominierte die Landwirtschaft noch immer das Erwerbsleben in den meisten Gemeinden. Ausnahmen bildeten einzig die Stadt Sundsvall sowie die Eisenwerke von Galtström und Lögdeä, außerdem weiterhin die Pfarreien im Sägewerksdistrikt (Skön, Alnö, Timrä) und die während des 19. Jahrhunderts selbständig gewordenen neuen Kirchspiele. Ein deutlicher landwirtschaftlicher Aufschwung fand in den schon immer hauptsächlich agrarisch geprägten Gemeinden statt sowie in der nächsten Umgebung rasch wachsender Abnehmermärkte, d. h. der Stadt Sundsvall und der Industriestandorte. In der Region Sundsvall verfügte jedoch ein zunehmend größerer Teil der Landbevölkerung nicht mehr über eigenen Grund und Boden. Kleinbäuerliche und/oder Pachtbetriebe waren weitaus häufiger als in den übrigen Gebieten in Norrland. In der Region Sundsvall kam zahlenmäßig fast ein solcher Betrieb auf einen Bauemhof in Eigenbesitz. Noch höher lag der Anteil in den industrialisierten Gemeinden, aber auch in den landwirtschaftlich geprägten Kirchspielen Selänger und Sättna und nicht zuletzt in den im Inneren gelegenen Gemeinden Ljustorp und Indal, wo Forstarbeit und Flößerei zur wichtigsten Grundlage für den lebensnotwendigen Zusatzerwerb geworden waren.

Die Stadt Sundsvall Die Stadt Sundsvall spielte in der Region gleichen Namens eine bedeutende Rolle als Handelszentrum. Während des 19. Jahrhunderts war sie eine der am raschesten wachsenden Städte ganz Schwedens. 1800 hatte sie noch 1468 Einwohner, ein Jahrhundert später bereits das Zehnfache. Von einer kleinen Handelsstadt mit einer vorwiegend in der Fischerei beschäftigten Bevölkerung entwickelte sich Sundsvall zum wirtschaftlichen und administrativen Zentrum der Sägewerksindustrie. Es diente aber auch als Tor zum Arbeitsmarkt der vorgelagerten Industriegebiete. Einige Werke befanden sich in unmittelbarer Nähe der Stadtgrenzen; bei ihnen könnte man fast von industriellen Vororten sprechen, so etwa bei Skön und Skönsmon. Einige industrielle Unternehmen lagen auch in der Stadt, besonders die Werften, die erst in den 1870er Jahren in das Umland verlegt wurden.

352

III.

Untersuchungsgebiete

Frühe Industrien: die Eisenhütten Die Eisenhütten arbeiteten in vielerlei Hinsicht als eigenständige Gemeinschaften, ob sie nun selbständige Kirchengemeinden waren oder nicht. Viele dieser Industrien waren auch ökonomisch integriert. Da die industriellen Unternehmungen mit der Landwirtschaft verbunden waren, waren die Beschäftigten häufig Kleinbauern, die in unterschiedlichen Entfernungen zu den Eisenhütten im Waldland lebten, Holzkohle produzierten und andere Zuarbeiten verrichteten. Die Industrie war abhängig von solchen Dienstleistungen der lokalen Landbevölkerung, besonders im Transportbereich, und trug so zum zusätzlichen Einkommen der Bauern bei. Bereits im 17. Jahrhundert waren in der Region drei Eisenhütten gegründet worden, die in industriellem Umfang produzierten: Galtström (abgespaltene Gemeinde von Njurunda) und Lögdö (abgespaltene Gemeinde von Ljustorp) sowie Ävike in der Gemeinde Hässjö. Ihre Lage war hauptsächlich bestimmt vom Zugang zu Waldland, da keine größeren Erzvorräte vorhanden waren. Während des 18. Jahrhunderts wurden fünf weitere große Eisenhütten gegründet: Lagfors (später abgespaltene Gemeinde von Ljustorp), Sörfors und Gryttjen/Längskog in der Gemeinde Attmar, Sulä in der Gemeinde Indal und Norafors in der Gemeinde Sättna. Im 19. Jahrhundert wurden auch in Matfors (Gemeinde Tuna) und in Sund (Skön) ähnliche Werke errichtet. Die Produktion in den Hütten endete hier wie in den meisten anderen Teilen Schwedens im späten 19. Jahrhundert, da man bei der Eisenerzeugung auf Grund technologischer Entwicklungen hinsichtlich des Produktionsstandortes nicht mehr auf den direkten Zugang zum Rohmaterial Holz angewiesen war. Die Weiterverarbeitung fand in früheren Zeiten an vielen Hüttenstandorten statt, war zur Jahrhundertwende aber nur auf wenige Plätze beschränkt: Sund und die neuen Fabriken in Skönsmon nahe der Stadt Sundsvall.

Die Holzindustrie und der Sägewerksdistrikt Die frühen Aktivitäten der Holzindustrie in dieser Region bezogen sowohl Sägewerke als auch Werften und zwei kleine Papiermühlen ein. Wassergetriebene Sägewerke, von denen einige ein großes Produktionsvolumen hatten, gab es besonders im inneren Teil der Region. Sie lagen bevorzugt in der Nähe von Eisenhütten, die ihre Holzabfälle als Brennstoff benutzten (zum Beispiel in Matfors, Galtström, Norafors/Hütte Ävike, Sörfors und Lagfors). Die Papiermühlen befanden sich im inneren Teil von Njurunda (Vastanä und Stängeä). Ihre Produktion war gering und wurde 1872 schließlich eingestellt. Werften existierten an verschiedenen Orten, wobei an einigen zugleich Eisenhütten lagen, zum Beispiel in Lögdö. Mitte des 19. Jahrhunderts befanden sich die größten Werften in der Stadt Sundsvall und in den Gemeinden Timrä und Njurunda (Vifstavarv seit 1798 und Svartvik). Die Werften in der Stadt gehörten in den vierzi-

Lebenserwartung in Schweden 1750-1900

353

ger und fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu den größten in ganz Schweden. In den siebziger Jahren wurden sie in das angrenzende Skönsmon verlegt. Die Konzentration von Werften in der Nähe der Stadt und des Sägewerksdistrikts war später noch intensiver, als neue Werften auch im Norden Sundsvalls errichtet wurden, zum Beispiel in Skönvik, dem früheren Standort (1811-1870) einer großen Glashütte. Der große industrielle Aufschwung war jedoch mit der Einführung der Dampfmaschine verbunden. Das erste schwedische Dampfsägewerk wurde 1849 in Skön gegründet (Tunadal). Innerhalb der nächsten drei Jahre entstanden zwei weitere Dampfmühlen, eine nahe der Stadt (Mühle Möns 1851) und eine nahe der Werft in Vifsta (1852). Vor 1890 waren insgesamt 40 Dampfsägewerke entlang der Küste und auf der Insel Alnö errichtet worden. Das Herzstück des Sägewerksdistrikts bestand aus den Gemeinden Skön/Skönsmon, Alnö und Timrä; sie repräsentierten das am stärksten industrialisierte Gebiet Schwedens um die Jahrhundertwende. Bemerkenswert ist, daß der südliche Teil von Skön (Skönsmon) vor dem industriellen Aufschwung fast völlig unbesiedelt war und dann mit Sägewerken, Werften und eisenverarbeitender Industrie eines der am stärksten industrialisierten Gebiete der Region wurde. Auch Teile anderer küstennaher Gemeinden waren sehr stark industrialisiert: Svartvik und seine Umgebung in Njurunda und auch Teile von Hässjö. Nur einige der frühen Wassersägewerke konnten ihren Rohstoffbedarf aus Staatsforsten auf Grund von Privilegien decken. In der Regel mußten sie das Holz kaufen oder von den Bauern die Erlaubnis einholen, in ihrem Wald Holz schlagen zu dürfen. Seit den 1880er Jahren gingen sie in großem Maßstab dazu über, ganze Höfe aufzukaufen. Die meisten dieser Höfe lagen zwar im Binnenland außerhalb der Region, dennoch waren alle Gemeinden in der Region mehr oder weniger davon betroffen, mit Ausnahme der Gemeinden Tynderö und Selänger. In den Gemeinden Ljustorp, Indal und Attmar hatte die Sägewerksindustrie zur Jahrhundertwende 27-34% des mit Grundsteuern belegten Bauemlandes in ihrem Besitz. Eine ähnliche Situation bestand in Skön, in den anderen küstennahen Gemeinden dagegen lag der Anteil zwischen 12% und 19%. Die Wassersägewerke ermöglichten der lokalen ländlichen Bevölkerung zusätzliche Einkommen, die im wesentlichen aus den gleichen Diensten erwirtschaftet wurden und beinahe so bedeutend waren wie die Nebeneinkünfte aus den Eisenhütten. Der Bedarf an Dauer- und Saisonarbeitskräften in den Dampfsägewerken konnte durch die regionale Bevölkerung allerdings nicht gedeckt werden, so daß es zu einer starken Immigration aus allen Teilen Schwedens kam. Eine Folge davon war, daß die in den Gemeinden geborene Bevölkerung im Jahr 1890 nur 40-47% der Bevölkerung des Sägewerksdistrikts ausmachte (in der Stadt sogar nur 37%). In den inländischen Gemeinden der Region von Sundsvall und in der Gemeinde Tynderö betrug der Anteil der Einheimischen dagegen 70-80%. Diese Gemeinden hatten eher Ähnlichkeit mit denen in der agrarischen Region von Skellefteä, wo der Anteil der dort Geborenen 92% betrug.

354

III.

Untersuchungsgebiete

Geschlecht, Wirtschaft und Sterblichkeit Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Sterblichkeit über längere Zeiträume zu untersuchen. In unserem Datensatz haben wir Informationen, die exakte Eintrittsdaten in unsere Risikopopulation enthalten, in diesem Fall die Geburtsdaten. Auch für die Ereignisse, die uns interessieren, haben wir exakte Daten, nämlich die Sterbedaten. Darüber hinaus, und das ist das Außergewöhnliche, haben wir zum Beispiel exakte Daten für den Zeitpunkt, an dem Personen aus den Kirchengemeinden wegzogen und damit nicht mehr Teil der Risikopopulation waren. Das Material erlaubt uns also, die genaue Risikopopulation zum Zeitpunkt jedes demographischen Ereignisses zu ermitteln. Üblicherweise wird in der Demographie, wo solche Informationen nicht vorhanden sind, eine mittlere Bevölkerung als Schätzgröße angenommen. Auf Grund dieser glücklichen Voraussetzungen brauchen wir nicht bei der einfachen Sterbetafelanalyse stehenzubleiben, wir können fortgeschrittenere Methoden anwenden: in unserem Fall die Schätzung der Überlebensfunktion nach Kaplan/Meier. Wir benutzen dieses Modell, um die Überlebensfunktionen der Bevölkerung nach Periode, Geschlecht und verschiedenen Wirtschaftsformen (Gemeinden) in einem Schema neu darzustellen (zu plotten). Das Verfahren nach Kaplan/Meier schätzt den Zeitraum bis zu einem Ereignis, das zu einem bestimmten Zeitpunkt eintritt. Im vorliegenden Fall haben wir eine Standardprozedur von SPSS für Windows 5.0.2 benutzt. Diese Prozedur erzeugt auch Plots der Überlebensfunktion und kann einen Gleichverteilungstest der Überlebensfunktionen durchführen. Die Zeit wird vom Geburtsdatum bis zum Ereignis, dem Todesdatum, berechnet. Wanderungen und andere Verluste von Individuen vor dem Tod werden als Ausschlüsse behandelt. Wie einleitend erwähnt, haben geschlechtsspezifische Unterschiede in der Lebenserwartung während der letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts zugenommen. Unterschiede bestanden auch im 18. und 19. Jahrhundert, sie waren jedoch kleiner als heute. Die rohen Sterblichkeitsraten in Schweden begannen in der ersten Dekade des 19. Jahrhunderts rapide zu fallen. Dieser Rückgang betraf fast ausschließlich Kinder. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts stiegen die Raten leicht an, sanken aber wieder zum Ende des Jahrhunderts. Ein anderes Muster erscheint in der Altersgruppe der 25-49jährigen. Hier zeigen Männer grundsätzlich höhere Sterblichkeitsraten. Frauen verringerten diesen Abstand zwar während ihrer fruchtbarsten Phase, zwischen 30 und 39, erreichten jedoch zu keinem Zeitpunkt höhere Raten als die Männer. Dieses sind die Verhältnisse auf nationalem Niveau. Da die Sterblichkeit bedeutende geographische Unterschiede in Schweden aufweist, können wir erwarten, geschlechtsspezifische Sterblichkeiten zu finden, die nicht diesem generellen Muster entsprechen und sich sogar entgegengesetzt verhalten. Die männliche Sterblichkeit etwa ist bekanntermaßen in Städten erheblich höher als die weibliche und höher als in ländlichen Gebieten. Während Perioden demographischer Krisen vor 1870, zum

Lebenserwartung in Schweden 1750-1900

355

Beispiel Epidemien, scheinen Frauen besser überlebt zu haben, und der Abstand wuchs. Nach 1870 ist dieses Muster weniger stark ausgeprägt. Höhere Sterblichkeit von Männern in städtischen und industriellen Gebieten legt nahe anzunehmen, daß sie bedeutend häufiger Risiken ausgesetzt waren als Frauen. Es ist aber wichtig zu unterstreichen, daß diese Risiken nicht nur von außen kamen (zum Beispiel ungesunde Arbeitsbedingungen), sondern auch durch den gewählten Lebensstil entstanden. Der Konsum großer Mengen Alkohols als Teil eines kulturell geprägten Verhaltensmusters bei bestimmten Berufsgruppen kann hier als Beispiel dienen. In dieser vorläufigen Untersuchung von Geschlechterunterschieden in der Sterblichkeit wollen wir die Überlebensfunktionen für vier unterschiedliche Lebensräume zeigen, die wir schon beschrieben haben: die Region Skellefteä, ein ländliches Gebiet, charakterisiert durch eine stabile Bevölkerung, die Stadt Sundsvall, die in den 1870er Jahren ein ungeheures Bevölkerungswachstum durch die Expansion der Sägewerksindustrie in der Region erlebte, die rein agrarische Gemeinde Attmar im Südosten der Region und die Gemeinde Skön nahe Sundsvall. Skön war während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine ländliche Gemeinde, die in der zweiten Hälfte stark industrialisiert wurde. Zahlreiche große Sägewerke entstanden an der Küste. Leider sind die Kirchenregister der Stadt Sundsvall durch ein großes Feuer 1888 verlorengegangen und die Sterblichkeit für die gesamte Bevölkerung kann nur nach 1860 untersucht werden. Daher ist es nicht möglich, die Überlebensfunktion vor dem starken Wachstum des städtischen Zentrums darzustellen. Die Abbildungen 8 bis 11 zeigen rohe Sterblichkeitsraten für die vier Gemeinden. Die Abbildungen für Skellefteä sind für die Zeit vor 1800 nicht ganz zuverlässig, die Sterblichkeit war vielleicht etwas höher. Die Entwicklung in Skellefteä ist der in Attmar sehr ähnlich, wobei die rohen Todesraten um \5%o für das 19. Jahrhundert schwanken. In den Jahren 1860 und 1870 hat Skellefteä eine etwas höhere Sterblichkeit als Attmar, in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts liegen die Raten niedriger. Die Gemeinde Skön hat die höchsten Raten aller Gemeinden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Tatsächlich scheinen sie vor der Industrialisierung ein wenig höher zu sein als nach 1860/70. Nur die Stadt Sundsvall zeigt in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts höhere Raten als Skön mit Spitzen über 34%o. Ihr Muster sieht ähnlich aus wie das in Skön in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, mit abrupten und hohen Spitzen in den rohen Todesraten. Die Geschlechterunterschiede in diesen Gebieten sind ebenfalls verschieden. Die Abbildungen 12 und 13 zeigen die Überlebensfunktionen von Männern und Frauen in Skellefteä für die Zeiträume 1721-1799 und 1800-1895. Wie wir sehen gibt es große geschlechtsspezifische Unterschiede in der Sterblichkeit der Menschen, die in der ersten Periode geboren sind. Diese Unterschiede erscheinen als ein Resultat der ersten zwei Jahre nach der Geburt, in denen Mädchen günstigere Umstände erlebten. Der Abstand vergrößerte sich noch einmal nach dem 20. Lebensjahr und nahm in den Altersgruppen nach 60 wieder ab. Für die zweite

356

III.

Untersuchungsgebiete

Periode ist das Muster anders, die Geschlechterunterschiede sind weniger gravierend für die nach 1800 Geborenen. Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit sind zurückgegangen, die Geschlechterunterschiede sind davon jedoch nicht wesentlich beeinflußt worden. Die männliche Sterblichkeit in der Altersgruppe 25-50 ist im Vergleich zur weiblichen beträchtlich gestiegen. Die weibliche Sterblichkeit scheint sich nicht so sehr verändert zu haben, wenn man von dem Rückgang bei den Neugeborenen und den Kleinkindern absieht. Die Gemeinde Skön zeigt ein völlig anderes Bild bei den in der vorindustrialisierten Phase Geborenen. Auf Abbildung 14 können wir sehen, daß es keine großen Geschlechterunterschiede in der Sterblichkeit der Altersgruppe unter 50 gibt. Erst dann öffnet sich die Schere und Frauen zeigen bessere Überlebenschancen. Unter den in der Industrialisierungsphase Geborenen öffnet sich die Schere viel früher (Abb. 15). Bereits in der Altersgruppe 10-15 beginnen Frauen eine bessere Überlebenschance zu haben und die Schere öffnet sich weiter bis zum Ende der Beobachtungsperiode. Ein fast gleiches Muster läßt sich in der Stadt finden (Abb. 16). Der Abstand zwischen den beiden Kurven vergrößert sich bei Kindern zwischen 10 und 15 und die Überlebenschancen für Frauen sind wesentlich besser. In diesen beiden Gebieten hätten wir normalerweise erwartet, daß ungesunde Lebensumstände während der Industrialisierung und Verstädterung (bei den Männern durch negative Faktoren wie zum Beispiel Alkoholkonsum verstärkt) höhere Sterblichkeitsraten erzeugten. Beim vierten Beispiel, der rein agrarisch geprägten Gemeinde Attmar in der Region Sundsvall, ist das Bild viel komplizierter. Die Kurven in Abbildung 17 zeigen ein ähnliches Muster wie das für Skellefteä im 18. Jahrhundert, wobei nun Frauen aller Altersgruppen bessere Überlebenschancen haben. Der Trend wird schon durch das erste Jahr nach der Geburt bestimmt und wächst weiter nach der Altersgruppe 45-50, obwohl die rohen Sterblichkeitsraten niedriger sind als die in Skellefteä. In der zweiten Periode in Attmar (Abb. 18) sind die Geschlechterunterschiede im Vergleich zu Skön und Sundsvall weiterhin bemerkenswert, abgesehen von der Tatsache, daß sich in Attmar die Sterblichkeit auf einem weit niedrigeren Niveau hält. Wir können also kaum damit argumentieren, daß die negativen Faktoren für Männer, Alkoholgenuß und schlechte Hygiene, für Attmar genauso gelten wie möglicherweise für Sundsvall und Skön. Trotzdem sind die Geschlechterunterschiede weit stärker ausgeprägt. Die relativ geringen Unterschiede, die in Skön und Sundsvall während der späteren Periode bestehen, weisen möglicherweise darauf hin, daß Frauen in diesen Gebieten schlechtere Entwicklungsbedingungen hatten. Auch litten sie unter den negativen Folgen von Industrialisierung und Urbanisierung, wodurch der Unterschied in den Überlebenschancen im Vergleich zu den Männern verringert wurde. Die Ergebnisse zeigen deutlich, daß Geschlechterunterschiede in der Sterblichkeit durch viel komplexere Faktoren bestimmt sind als schlechte Hygiene und negative Lebensstilfaktoren in industrialisierten und urbanisierten Gebieten. Die Berücksichtigung sozialer Unterschiede, der sozialen Organisation der Gesellschaft, der Arbeits-

Lebenserwartung in Schweden 1750-1900

357

bedingungen von Frauen und ihres Gebärverhaltens wären Voraussetzungen für eine profunde Untersuchung, die mit diesem Beitrag jedoch nicht geleistet werden kann. Die nötigen Informationen dafür sind jedoch in der Datenbank enthalten. Die Tatsache, daß unverheiratete Männer im Erwachsenenalter generell unter einem höheren Sterberisiko leiden, zeigt, daß Familiensituationen in Studien zur Sterblichkeit einbezogen werden müssen. Wir können mit der Feststellung schließen, daß wir von diesen Strukturen noch sehr wenig wissen.

358

III. Untersuchungsgebiete

Abb. 8: Rohe Sterblichkeitsraten Skellefteà

Rohe Sterblichkeitsraten Skön 70

T

0 -I 1800

1

1 1810

1

1 1820

1

1 1830

1

1 1840

Abb. 9: Rohe Sterblichkeitsraten Skön

1

1 1850

1

1 1860

1

1 1870

1

1 1880

1

1 1890

1 1 1900

Lebenserwartung

in Schweden

1750-1900

359

Rohe Sterblichkeitsraten Sunds vall 70

60 50 40 -• 30 20 -

10

--

0 -I

1

1800

1

1

1810

1

1

1820

1

1

1830

1

1

1

1840

1

1850

1

1

1860

1

1

1870

1

1

1880

1 1890

1 1 1900

Abb. 10: Rohe Sterblichkeitsraten Sundsvall

Rohe Sterblichkeitsraten Attmar 70 j 60

--

50 -40 -• 30 20

--

10

--

0 -1 1800

1

1 1810

1

1 1820

1

1 1830

1

1 1840

1

1 1850

Abb. 11: Rohe Sterblichkeitsraten Attmar

1

1 1860

1

1 1870

1

1 1880

1

1 1890

1 1 1900

360

III. Untersuchungsgebiete

Abb. 12: Überlebensfunktion Skellefteâ 1721-1799

Abb. 13: Überlebensfunktion Skellefteâ 1800-1895

Lebenserwartung in Schweden 1750-1900

Abb. 14: Überlebensfunktion Skön 1800-1859

Abb. 15: Überlebensfunktion Skön 1860-1895

361

362

III. Untersuchungsgebiete

Abb. 16: Überlebensfunktion Sundsvall 1860-1895

Abb. 17: Überlebensfunktion Attmar 1800-1859

Lebenserwartung in Schweden 1750-1900

Abb. 18: Überlebensfunktion Attmar 1860-1890

363

IV. Dokumentation

Leitfaden zu den Tabellen und Graphiken

Mit dem Leitfaden soll dem Benutzer eine Orientierungshilfe beim Lesen der unterschiedlichen Tabellen und Graphiken im folgenden Teil des Buches gegeben werden. Dieses ist nicht nur notwendig, um die Ergebnisse zu verstehen, sondern auch, um ihre Aussagekraft und Tragfähigkeit einschätzen zu können. Die Datensätze, die den Tabellen und Graphiken zugrundeliegen, enthalten die Vitalstatistiken von Personen, die in ausgewählten Gebieten Deutschlands, in Deutschland als Ganzem, in Norwegen und in Schweden in der Zeit zwischen ca. 1700 und 1980 starben. Ein Teil der Angaben stammt aus Kirchenbüchern und Ortssippenbüchern, ein anderer, größerer Teil aus den amtlichen Statistiken Deutschlands und Norwegens. Das hier veröffentlichte schwedische Material von der Demographischen Datenbank in Umeä ähnelt in seiner Herkunft den Ortssippenbuch- und Kirchenbuchdaten aus Deutschland, wobei der schwedische Datenbestand inhaltlich über den deutschen weit hinausgeht, indem sich mit seiner Hilfe Personen detailliert über ihr ganzes Leben verfolgen lassen. Die Berechnung der Sterbetafeln erfolgte für einen Teil der Daten mit der SPSSRoutine »SURVIVAL«, die Weiterbearbeitung der von dieser Routine erzeugten Outputdateien mit dem Tabellenkalkulationsprogramm Excel. Ein Teil der demographischen Indikatoren aus diesen von SPSS erzeugten Dateien konnten direkt übernommen werden, andere bildeten die Grundlage für weitere Berechnungen. Die Zahlen für die Risikobevölkerung (P'x), die Sterbefälle (Dx) und die Sterbewahrscheinlichkeit (qx) konnten aus den Outputdateien entnommen und direkt in Kohortentabellen, wie sie im folgenden erscheinen, eingefügt werden. Die Kohortenreihen für die Sterbewahrscheinlichkeit (qx) wurden dann verwendet, um die Zahl der Überlebenden (lx) und die Lebenserwartung (ex) der Geborenen eines Jahrzehnts bei der Geburt sowie ausgehend von Ein- und Fünfjahresintervallen zu berechnen. Bei der Berechnung letzterer wurde die Reed-Merrell-Methode angewandt, die eine plausiblere Verteilung der Sterblichkeit in den sehr frühen und späten Altersgruppen bewirkt. Zum Erstellen von Periodensterbetafeln werden die Angaben für die Risikobevölkerung (P'x), die Sterbefälle (Dx) und die Sterbewahrscheinlichkeit (qx) aus Kohortentabellen in der Weise umgewandelt, daß die Angaben in jeder Zehnjahresaltersgruppe in die Spalte des Jahrzehnts gerückt werden, in dem die Personen dieses Alter tatsächlich erreichten. Die darauf folgenden Tabellen werden dann auf der Basis dieser Werte errechnet.

368

iV. Dokumentation

Jeder Tabellensatz ist nach dem Gebiet, aus dem die ihm zugrundeliegenden Statistiken stammen, gegliedert. Innerhalb der regionalen Tabellensätze sind die Tabellen nach der Art der Indikatoren gegliedert, die sie enthalten: Angaben über die Risikobevölkerung (P'x), die Sterbefälle (Dx) und die Sterbewahrscheinlichkeit (qx), die Zahl der Überlebenden (lx) und die Lebenserwartung (ex). Das dritte Gliederungsprinzip bildet die Tabellenart: zunächst die Kohorten-, dann die Periodentafeln, als letztes dann das Geschlecht. Die Tabellen werden analog dem oben beschriebenen Ordnungssystem, das sich auch in der folgenden Übersicht widerspiegelt, gezählt. Die norwegischen Daten und die, die Deutschland in seiner Gesamtheit beschreiben, sind, um die optische Vergleichbarkeit zu erleichtern, dieser Struktur angepaßt worden. Die norwegischen Tafeln sind prinzipiell direkte Reproduktionen des Materials von Borgan, d.h., daß bei den Kohortentafeln ab 1880 die e x -Werte korrekt mit exioft eX90... ex5 zu bezeichnen sind. Für die Übersichten, die die Sterblichkeitsentwicklung in Deutschland seit 300 Jahren darstellen, wurden die entsprechenden Tabellen aus dem Vorgängerband (Imhof u. a. 1990, 447^64) mit dem Deutschland in seiner Gesamtheit umfassenden Datenmaterial von Scholz in der Weise verbunden, daß der Datenbestand für die lx-Tabellen auf die Bezugsgröße 1000 umgerechnet wurde. Dem Vorbild des ersten Bandes folgend wurden für diese Übersichtstabellen nur Periodentafeln zusammengestellt. Bei diesen »kombinierten Tafeln« ist darauf hinzuweisen, daß sie hinsichtlich ihrer quellenmäßigen Herkunft auf verschiedenen Grundlagen beruhen: Die Daten bis 1850 stammen aus der Auswertung von Ortssippenbüchem, die Daten aus der Zeit danach aus der amtlichen Statistik. Dieses erklärt auch die Brüche beim Wechsel vom Jahrzehnt 1850 in das Jahrzehnt 1855 und im Bereich der Säuglingssterblichkeiten. Ergänzt werden die Sterbetafeln durch Tafeln, die die Todesursachenstrukturen in Deutschland, genauer dem Deutschen Reich und der DDR, für den Zeitraum von 1906, dem Einsetzen einer regelmäßigen Todesursachenstatistik auf Reichsebene, bis 1985 beinhalten.

IV.

Dokumentation

Tabellenschlüssel

Erste Ziffer 1 2 3 4 5 6 Zweite Ziffer 1 2 3 4 5

Untersuchungsgebietsnummer = Zusammenschau - 300 Jahre Entwicklung in Deutschland = Herrenberg - ein Beispiel aus Südwestdeutschland = Norwegen = Schweden = Deutschland regional = Todesursachenstrukturen in Deutschland Gegenstand der Tabelle = Risikobevölkerung (P'x) = Sterbefälle (Dx) = Sterbewahrscheinlichkeit (qx) = Überlebende (lx) = Lebenserwartung (ex)

Dritte Ziffer 1 2

Art der Tabelle = Generationen = Perioden

Vierte Ziffer 1 2 3

Geschlecht = männlich = weiblich = beide Geschlechter

Fünfte Ziffer 1 2 3 4 5 6

Weitere regionale Unterteilung = Deutschland (Deutsches Reich) / BRD = Deutschland (Deutsches Reich) / DDR = Regierungsbezirk Aurich / Niedersachsen = Regierungsbezirk Kassel / Hessen = Regierungsbezirk Minden /Nordrhein-Westfalen = Regierungsbezirk Trier / S aarland

IV. Dokumentation

Todesursachenstruktur

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.

Wesentliche Krankheiten der S äuglinge am Anfang des Jahrhunderts Altersschwäche Infektionskrankheiten und parasitäre Krankheiten Pneumonie Tuberkulose Krankheiten der Atmungsorgane Krankheiten des Herz-Kreislaufsystems Bösartige Neubildungen Krankheiten des Gastrointestinaltrakts und des Urogenitalsystems Unfälle Sonstige Todesursachen

IV. Dokumentation

Glossar

nPx

Mittlere Bevölkerung in der Altersklasse von x bis x + n Average population in the age group ofx tox + n

nP'x

Risikobevölkerung: Bevölkerung im Alter x, vermindert um die Hälfte der Abwandernden bis zum Alter x + n Population at risk: population at age x less half of the number withdrawn up to age x + n

nDx

Anzahl der Gestorbenen zwischen den Altern x und x + n Deaths in the age group ofx to x + n

nmx

Sterbeziffer zwischen den Altern x und x + n (nDx/nPx) Population death rate in age interval x to x+ n (nDx/nPx)

nqx

Sterbewahrscheinlichkeit einer xjährigen Person bis zur Erreichung des Alters x + n (rJVnP'x bei Generationensterbetafeln) Probability of dying between age x and x + n (nDVnP'x in a cohort life table)

lx

Zahl der Überlebenden im Alter von x aus einer Ausgangsgruppe von 1000/100000 Number of survivors to age x out of an initial number of 1000/100000

nLx

Stationäre Bevölkerung in der Altersklasse von x bis x + n Stationary population in the age group ofx tox+ n

Tx

Stationäre Bevölkerung vom Alter x bis zum Lebensende Stationary population from age x to end of life

ex

Mittlere Lebenserwartung eines xjährigen Average number of years remaining to survivors at age x

371

372

IV. Dokumentation

Graphiken

1. Sterbewahrscheinlichkeiten (q x ), beide Geschlechter, Perioden 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6

S terbewahrscheinlichkeit S terbewahrscheinlichkeit Sterbewahrscheinlichkeit Sterbewahrscheinlichkeit Sterbewahrscheinlichkeit S terbewahrscheinlichkeit

bei der Geburt (qo) im Alter von 1 Jahr (qi) im Alter von 20 Jahren (q2o) im Alter von 60 Jahren (qöo) im Alter von 80 Jahren (qso) im Alter von 85 Jahren (qss)

2. Lebenserwartung (e x ), männlich / weiblich, Perioden 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10 2.11 2.12

Lebenserwartung Lebenserwartung Lebenserwartung Lebenserwartung Lebenserwartung Lebenserwartung Lebenserwartung Lebenserwartung Lebenserwartung Lebenserwartung Lebenserwartung Lebenserwartung

bei der Geburt (eo), männlich bei der Geburt (eo), weiblich im Alter von 1 Jahr (ei), männlich im Alter von 1 Jahr (ei), weiblich im Alter von 20 Jahren (e20), männlich im Alter von 20 Jahren (e2o), weiblich im Alter von 60 Jahren (eöo), männlich im Alter von 60 Jahren (e6o), weiblich im Alter von 80 Jahren (eso), männlich im Alter von 80 Jahren (eso), weiblich im Alter von 85 Jahren (e85), männlich im Alter von 85 Jahren (ess), weiblich

3. Überlebende (l x ), nach Geschlecht, Generationen 1740-1985 3.1 3.2

Überlebende (lx), männlich Überlebende (lx), weiblich

IV. Dokumentation

373

Sterbewahrscheinlichkeiten beider Geschlechter Deutschland und BRD/DDR q(0) 1.000

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Abb. 1.1: Sterbewahrscheinlichkeit bei der Geburt

374

IV. Dokumentation

Sterbewahrscheinlichkeiten beider Geschlechter Deutschland und BRD/DDR q(l) 1.000

-

950 -

900 -

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IV. Dokumentation

375

Sterbewahrscheinlichkeiten beider Geschlechter Deutschland und BRD/DDR q(20) 1.000 - 950 900 850 -

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376

IV. Dokumentation

Sterbewahrscheinlichkeiten beider Geschlechter Deutschland und BRD/DDR q(60) 1.000 950 900 850 800 750

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IV.

377

Dokumentation

Sterbewahrscheinlichkeiten beider Geschlechter Deutschland und BRD/DDR q(80) 1.000 950 900 850

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378

IV. Dokumentation

Sterbewahrscheinlichkeiten beider Geschlechter Deutschland und BRD/DDR q(85) 1.000 950 900 850 800 750 700 /

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IV. Dokumentation

379

Lebenserwartung von Männern Deutschland und BRD/DDR e(0)

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380

IV.

Dokumentation

Lebenserwartung von Frauen Deutschland und BRD/DDR e(0)

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Abb. 2.2: Lebenserwartung bei der Geburt, weiblich

IV. Dokumentation

Abb. 2.3: Lebenserwartung im Alter von 1 Jahr, männlich

381

382

IV.

Dokumentation

Lebenserwartung von Frauen Deutschland und BRD/DDR e(l)

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Abb. 2.4: Lebenserwartung im Alter von 1 Jahr, weiblich

IV.

383

Dokumentation

Lebenserwartung von Männern Deutschland und BRD/DDR e(20)

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384

IV. Dokumentation

Lebenserwartung von Frauen Deutschland und BRD/DDR e(20)

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Abb. 2.6: Lebenserwartung im Alter von 20 Jahren, weiblich

IV. Dokumentation

385

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386

IV. Dokumentation

Lebenserwartung von Frauen Deutschland und BRD/DDR e(60)

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Abb. 2.8: Lebenserwartung im Alter von 60 Jahren, weiblich

IV. Dokumentation

387

Lebenserwartung von Männern Deutschland und BRD/DDR e(80)

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388

IV.

Dokumentation

Lebenserwartung von Frauen Deutschland und BRD/DDR e(80)

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Abb. 2.10. Lebenserwartung im Alter von 80 Jahren, weiblich

IV. Dokumentation

389

Lebenserwartung von Männern Deutschland und BRD/DDR e(85)

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390

IV. Dokumentation

Lebenserwartung von Frauen Deutschland und BRD/DDR

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Abb. 2.12: Lebenserwartung im Alter von 85 Jahren, weiblich

IV.

Dokumentation

Überlebenswahrscheinlichkeit, Generationen, Männer Deutschland und BRD/DDR

Alter

Abb. 3.1: Überlebende, männlich

391

392

IV. Dokumentation

ito

Überlebenswahrscheinlichkeit, Generationen, Frauen Deutschland und BRD/DDR

Alter Abb. 3.2: Überlebende, weiblich

IV. Dokumentation

393

Tabellen

Imfolgenden werden die Sterbetafeln zu den Untersuchungsgebieten, eine zusammenfassende Übersicht sowie die Todesursachenstrukturtafeln abgedruckt, wobei sich die Numerierung nach den oben erläuterten Prinzipien richtet. Auf Grund der besonderen Quellenlage, die eine relativ geringe Datenmenge zur Folge hat, wurden für die Standesamtsdaten aus Ostfriesland und dem Saarland keine getrennten Ausdrucke für beide Geschlechter angefertigt. Diese Tafeln erscheinen auch nicht an dieser Stelle, sondern sie sind, begleitet von zwei Abbildungen, innerhalb der Quellenbeschreibung zu finden.

394

IV. Dokumentation

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1. Zusammenschau

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397

398

IV. Dokumentation

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1. Zusammenschau

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399

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IV. Dokumentation O O O o o

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1. Zusammenschau

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