Le génie enfant: Die Kategorie des Kindlichen bei Clemens Brentano 9783111584942, 9783110038149


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German Pages 266 [268] Year 1973

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VORWORT
INHALTSVERZEICHNIS
I. DAS IDEAL DER KINDLICHKEIT UND DER TOPOS VOM DICHTER ALS KIND
II. DIE BEDEUTUNG DER KINDLICHKEIT FÜR BRENTANO
III. KINDLICHKEIT IM LEBEN BRENTANOS
IV. BRENTANO – DAS KIND SEINER KINDHEIT
V. BRENTANO ALS DICHTER DER KINDHEIT
VI. DIE WIEDERENTDECKUNG DER KINDHEIT
VII. PHÄNOMENOLOGIE DES KINDLICHEN DICHTERS BRENTANO
VIII. DIE POETISCHE SPRACHKINDLICHKEIT BRENTANOS
IX. DER KINDLICHE SPRACHHUMOR BRENTANOS
X. DAS GEBRANNTE KIND ODER DER VERSUCH EINER ENTKINDLICHUNG DER KUNST
LITERATURVERZEICHNIS
PERSONENREGISTER
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Le génie enfant: Die Kategorie des Kindlichen bei Clemens Brentano
 9783111584942, 9783110038149

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Gerhard Schaub Le Génie Enfant

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker Begründet von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer Neue Folge Herausgegeben von

Stefan Sonderegger und Thomas Finkenstaedt 55 (179)

w DE

G Walter de Gruyter • Berlin • New York 1973

Le Génie Enfant Die Kategorie des Kindlichen bei Clemens Brentano

von

Gerhard Schaub

w DE G

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1973

Gedruckt mit Unterstützung des Kultusministeriums Baden-Württemberg

© ISBN 3 11 003814 5 Library of Congress Catalog Card Number: 73-75494 Copyright 1973 by Walter de Gruytcr & Co.» vormals G. J. Gösdien'sche Verlagshandlung * J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J . Trübner • Veit & Comp., 1 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Redht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Obersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck, 1 Berlin 36

Meinen und Helma Eltern

VORWORT Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1969/70 von der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Herr Professor Dr. Arthur Henkel hat die Untersuchung hilfsbereit betreut und vielfältig gefördert; ihm gilt mein besonderer und herzlicher Dank. Für freundliche Hinweise, Anregungen und Kritik danke ich: Konrad Feilchenfeldt, Wolfgang Frühwald, Bernhard Gajek, Christoph Gerhardt, Kurt Neff und Bernhard Wessels. Der Obertitel der Arbeit ist Baudelaires Essay Un mangeur d'Opium von 1860 aus Les Paradis Artificiels entnommen. Trier, im März 1972

INHALTSVERZEICHNIS I. Das Ideal der Kindlichkeit und der Topos vom Diditer als Kind

. . .

1

Die Bedeutung der Kindlichkeit für die Hippies (1), Beatniks (3), Dadaisten, Surrealisten (3), Stürmer-und-Dränger (4) und Romantiker (6) — Das christliche Ideal der Kindlichkeit (4) — Kultur-, geistes- und sozialgeschichtliche Voraussetzungen für die Wertschätzung der Kindlichkeit in der Romantik (7) — Die Idealisierung der Kindheit seit Rousseau (9) — Die Entdeckung des Kindes im Künstler im 18. Jahrh. und in der Romantik (11) — Der Topos vom Dichter als Kind im 19. und 20. Jahrh. (15) — Brentano als Beispiel des génie enfant (17) — Kindlichkeit als conditio sine qua non des Dichters (19) — Die wissenschaftliche Beschreibung des Menschen als kindliches Wesen durch Verhaltensforschung (19), Philosophie und Psychologie (20) — Romantik und Psychoanalyse (22) — Literaturwissenschaft und Psychoanalyse (23). II. Die Bedeutung der Kindlichkeit für Brentano

27

Das Lebens- und Menschenideal der Kindlichkeit (28) — Das puer-senexIdeal (29) — Brentanos Verhältnis zu Kindern (32) — Die Kindlichkeit der Leute aus dem Volk (33) — Die Kindlichkeit der Frau (35) und das Ideal kindlich-reifer Weiblichkeit (39) — Die Kindlichkeit der ,Armen im Geist' (40) und der Heiligen (42) — Kindlichkeit als positives Kriterium von Literatur (43) und Kunst (45) — Die poetologische Kategorie des Kindlichen (46) — Bettina als Verkörperung kindlicher Poesie und kindlichen Künstlertums (46). III. Kindlichkeit im Leben Brentanos

49

Urteile von Zeitgenossen über Brentanos Kindlichkeit (49) — Brentanos Selbstverständnis und Selbststilisierung als kindlicher Mensch (51) — Unmündigkeits- und Hilflosigkeitserklärungen (52) — Die Narrenrolle (53) — Kindliches Anschließungsbedürfnis (55) — Die Aktualisierung des .frommen' Kindes im Reversionsprozeß (57): die kindlichen Bedürfnisse des Gehorchens (58), Dienens (59), Betens und Beichtens (60) — Reversionsprozeß, Kindwerdung, Paradiesfindung (61). IV. Brentano — das Kind seiner Kindheit

63

Die Relevanz der Kindheitseindrücke und -erinnerungen für Schriftsteller (63) — Die Bedeutung der Kindheit für Brentano (64) — Stationen, Erlebnisse und Erfahrungen seiner Kindheit: frühe Trennung vom Elternhaus (65); Verhältnis zur Mutter (67), das Sorgenkind (67), Mutterbindung (68); Auseinandersetzung mit dem Vater (69), Rebellion gegen die bürgerlichkaufmännische Welt des Vaters (70) — Vatersuche (72), Beicht-Vater, Gott als Vater (73) — Lebenslängliche Muttersuche (73), kindliche Liebeswahl: Sophie Mereau (74).

X

Inhaltsverzeichnis V. Brentano als Dichter der Kindheit

78

Versäumte, nachgeleistete, erlebte, erfundene Kindheit (78) — Probleme und Konflikte der Kindheit (82): Antonio und Francesco Firmenti (83); der Sänger (85); der fahrende Schüler (87); der arme Raimondin (88) — Bilder der glücklichen Kindheit (89): Paradies der .Oralität' (90); Küsse der Mutter (91); Szenen kindlichen Glücks auf dem Arm (93), an der Hand (94) und zu Füßen der Mutter bzw. Geliebten (94) — Bilder des glücklichen Raumes (95): Mutterleibsphantasien (95); Nest-Bilder (97); .Menschen-Nester' (98); imaginierte Räume (100).

VI. Die Wiederentdeckung der Kindheit

102

Kindheit, Paradies, Goldenes Zeitalter (103) — Kunst als Wiederentdeckung der Kindheit (105) — Mittel zur Wiederentdeckung der Kindheit: Phantasie (106); Erinnerung (107); Sehnsucht (108); Träumerei (109); Dichten als Mittel der Kindwerdung (110) — .Klima der Kindheit' (110): Müßiggang (111); poetische Existens (112); vegetatives (112), tierisches (113), kindliches Sein (114); Leben ohne Zeitlichkeit (115) — Rhythmus der Kindheit (116): das metrische Leben der Erwachsenen (116); Tanz und Spiel (118); homo ludens (119), das Ideal des ernst-heiteren Menschen (120) — .Körper der Kindheit' (120): Narzißmus (121); prägenitale Erotik der Kindheit (123); Androgynität der Kindheit (124); weibliche Männergestalten, männliche Frauengestalten (126) — Verdächtigung der Genitalsexualität (129).

VII. Phänomenologie des kindlichen Dichters Brentano

133

Neugier (133) — Fabulier- und Improvisationslust (135) — Irritabilität und Spontaneität (137) — Optische Sensibilität (138): Wolken (139), Schatten (139), Rauch (140), Silberblick (141), Glanzsucht und Lust am Bunten (141), ,Exotismus der Sinne' (144) — Akustische Sensibilität (145): kindliche Hörlust, Echomotiv (146), Wohllaut als Requisit des .locus amoenus' (147) — Haptische Sensibilität (148): Vorliebe für Weiches und Zartes (149) — Geruchssensibilität (150): exotische Geruchssensationen (150), mundus muliebris (151) — Kulinarische Sensibilität (152): Natur als Speisekammer (152) und Konfektionsladen (153), Essen und Lieben (154) — Emanzipation des Sinnenlebens (155).

VIII. Die poetische Sprachkindlichkeit Brentanos

156

Das Wörtlich-Nehmen der Sprache (156) — Kinderetymologien (162) — Wortspielen (165) — Kindliche Komposita (166) — Tautologien und Pleonasmen (167) — Grammatikalische Eigenarten der Kindersprache (167) — Einfluß des Kinderreims (168) — .Mechanische Stilmittel' des Kinderreims (168): Kettentechnik (169), Wortwiederholung (170) — Schwebende Versausgänge (171) — Kindliche Reimarten und Reimformen (171): Tiraden- (171) Kettenund Kehrreime (172), identische, rührende, erweiterte, gleitende (173), reiche, gespaltene, unreine und Schüttel-Reime (174), Reimzwang (175) — Kindliches Assoziieren (176), Variieren (179), Zitieren und Parodieren (181) — Die kindlich-phänomenologische Sehweise (183).

Inhaltsverzeichnis IX. Der kindliche Sprachhumor Brentanos

XI 186

Das kindliche Verhältnis zur Sprache (186) — Exotismus der Sprache (190) — Brentanos Talent zum Hanswurst und Clown (192) — Der kindliche Spradihumor in der .Schicht der Laute': Konsonanten- (193) und Vokalvariation (198), Metathese (198) — in der .Schicht der Worte': Wortverdrehungen (201), Analogiebildungen (201), Wörter in heterogenen Bereichen (202), Kontaminationen (205), Reduplikationen (206), Wortungeheuer (207) — in der .Schicht des Satzes': Sauerkrautlatein (207), Vertauschung der Satzteile (208) — in der .Schicht der übersatzmäßigen Figuren': Theriomorphisierung des Menschen (209), Anthropomorphisierung der Tierwelt (210) und anderer nicht-menschlicher Bereiche (211) — Märchen und kindlicher Sprachhumor (212). X . Das gebrannte Kind oder der Versuch einer Entkindlidiung der Kunst

215

Verdächtigung der weltlich-künstlerischen Kindlichkeit (217), der Berufslosigkeit und des Müßiggangs (218); Diffamierung der mütterlichen Welt des Lustprinzips (220), Rehabilitierung der väterlichen Welt des Realitätsprinzips (221) in der Parabel Von dem traurigen Untergang zeitlicher Liebe — Verurteilung der kindlich-künstlerischen Fähigkeiten (223) der Neugier (224), Irritabilität (226): Schmetterling (227)/Biene (228), Phantasie (234) — Ver(229) und Sensibilität (230) — Dichterseele/Cbristenseele dächtigung der Kunst (235) und des Künstlers (237) — Gebranntes Kind/ungebrannter Schmetterling (239). Literaturverzeichnis

241

Personenregister

250

I. DAS IDEAL DER KINDLICHKEIT UND DER TOPOS VOM DICHTER ALS KIND The Child is father of the Man. Wordsworth, My heart leaps up when 1 behold...

„Wenn das Wort zu Recht bestehen soll, daß die Kunst den Mensdien rettet, so ist es nur, weil sie ihn vor dem Ernst des Lebens rettet und eine unverhoffte Kindlichkeit in ihm w e c k t . . . Die ganze neue Kunst wird verständlich und fast großartig, deutet man sie als einen Versuch, Kindlichkeit in unsere greise Welt zu bringen . . . Es ist kein Zweifel, Europa tritt in ein Stadium der Kindlichkeit ein" 1 . Als Ortega y Gasset diese Sätze 1925 in seinem berühmten Essay „La deshumanización del arte" schrieb, charakterisierte er — beeinflußt und beeindruckt vom Expressionismus, Dadaismus und wohl auch schon vom beginnenden Surrealismus — eine auffällige Tendenz der Kunst im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Diese Tendenz zur Kindlichkeit hat sich in den fünfziger und sechziger Jahren eher verstärkt als abgeschwächt und zwar nicht nur im Bereich der etablierten modernen Kunst und Literatur, sondern auch im Bereich der modernen Sub- und Gegenkultur, deren Träger — abgesehen von einzelnen Schülern, Studenten, jungen Arbeitern, Intellektuellen und Künstlern — vor allem die Hippies, Yippies, Gammler, Beats und Provos sind 2 . So verschieden diese Gruppen in ihrer ,Philosophie', ihrer Einstellung zu Staat und Gesellschaft, ihren Zielen, Forderungen, Taktiken und 1

José Ortega y Gasset, Die Vertreibung des Mensdien aus der Kunst. Auswahl aus dem Werk, München 1964, S. 36 f. ( = dtv 194). — Der spanische Wortlaut findet sich in: José Ortega y Gasset, Obras Completas, Tomo III (1917—1928), Madrid 2 1950, S. 384.

2

Als Erklärung für das Entstehen dieser weltweiten, neuen Jugendbewegung' könnte man die kulturkritische These aufstellen: Je ernster, frühreifer, .verwalteter', entfremdeter und damit unglücklicher und unzufriedener die Menschen im technisch-industriellen Zeitalter, das heißt je schlechter die Zeiten für die Entfaltung, Bewahrung und Wiedergewinnung der Kindlichkeit, d. h. der Spontaneität, Kreativität, Vitalität und Sensibilität werden, um so stärker und eindringlicher scheint der Ruf und das Bedürfnis nach Kindlichkeit, scheint das Verlangen des modernen Menschen nach Erneuerung aus dem Geiste der Kindlichkeit zu werden.

2

D a s Ideal der Kindlichkeit

Verhaltensweisen auch voneinander sein mögen, eines ist ihnen fast allen eigen: eine auffällige Affinität zur Kindlichkeit, ja eine praktizierte Kindlichkeit, die ihre geheime Schutzpatronin und eigentliche Stärke zu sein scheint. Diese ihre Kindlichkeit, sei sie nun echt, bewahrt, wiedergewonnen, anempfunden, forciert, zur Schau getragen oder bloß Mittel zum Zweck 3 , zeigt sich auf vielfältige Weise: durch eine sowohl im Äußeren wie im Gefühlsleben sich manifestierende, aufs Kindlich-Androgyne ausgerichtete Angleichung der Geschlechter4, durch eine starke Neigung zum kindlichen N a r zißmus und Exhibitionismus, durch ein zumeist unangepaßtes, ungeniertes, unkonventionelles Verhalten wie durch eine kindliche Lust am Schockieren, Brüskieren, Provozieren, Protestieren und Rebellieren. Rebellisch gegen jedwede Autorität lehnen sich diese ,enfants terribles' der modernen, vornehmlich westlichen Industriegesellschaften gegen die Väter, den Staat, die bürgerliche Gesellschaft, die Welt der Erwachsenen, vor allem der Spießer, der ,squares', der .Arrivierten' und ,Etablierten' auf. Diese Rebellion geschieht oft genug im Namen, aus dem Geist und zur Rettung der Kindlichkeit, für die es in der modernen Arbeitswelt immer weniger Entfaltungsmöglichkeiten gibt, die vielmehr, wo immer sie sich bemerkbar macht, unterdrückt, verfolgt und diffamiert wird; und zwar deshalb, weil sich Kindlichkeit samt ihren anarchischen, schöpferischen und subversiven Tendenzen nur schwer reglementieren und sublimieren läßt, weil Kindlichkeit den reibungslosen Ablauf im modernen Wirtschaftsleben stört und gefährdet, weil sie die auf ,Triebverzicht' und ,Repression' gegründete Gesellschaft und Kultur der Erwachsenen radikal in Frage stellt und der bürgerlichen Welt nicht selten gleichzeitig die gelebte, realisierte Utopie eines glücklicheren, freieren und unbekümmerteren Lebens als verführerische und daher stark tabuierte Möglichkeit provozierend vor Augen stellt. Sowohl mit ihrer gesellschaftskritischen, antibürgerlichen, erwachsenenfeindlichen Haltung wie auch mit ihrer Kultivierung und Reaktivierung der Kindlichkeit stehen die Hippies, Provos und Yippies 5 in einer langen Tradition mehr oder weniger literarisch-kulturell orientierter JugendbewegunHierbei ist es mitunter zu Formen jener forcierten Art von Kindlichkeit gekommen, die Johan Huizinga (Im Schatten von morgen, Zürich—Bruxelles 6 1948, S. 106—114) schon 1935 unter dem Namen „Puerilismus" beschrieben und kritisiert hat. * Vgl. hierzu vor allem die Essays von Leslie A. Fiedler, Parker Tyler und Marshall McLuhan / George B. Leonard in der Anthologie: Acid. Neue amerikanische Szene, hrsg. von Rolf Dieter Brinkmann und Rainer Rygulla, Darmstadt 1969. 5 Äußerungen von Vertretern bzw. Sympathisanten der .neuen' Generation der Hippie- und Yippie-Bewegung zum Ideal der Kindlichkeit finden sich in: Acid, a. a. O., S. 20, 26 u. ö. sowie bei Jerry Rubin, D o it! Scenarios für die Revolution, Reinbek 1971, S. 55, 87, 89, 212, 260 ( = Rowohlt Taschenbuch 1411/13).

3

Das Ideal der Kindlichkeit

3

gen'. So kann man als unmittelbare Vorläufer der Gammler und Hippies die sogenannte ,beat generation' ansehen, jene Gruppe von amerikanischen Dichtern, Malern und .Vaganten' also, die in den fünfziger Jahren in Kalifornien eine neue Lebensform, Sprache, ,Weltanschauung' und Ästhetik entwickelt haben, in der das Ideal der Kindlichkeit keine unwesentliche Rolle spielt. Jack Kerouac, einer der bekanntesten und begabtesten beatniks, verkündet stolz, die neuen reinen Dichter, das heißt die beat-Diditer seien allesamt Kinder bzw. kindlich-graubärtige Homers, die auf der Straße singen6. Auf der Suche nach weiteren Belegen für die Wertschätzung der Kindlichkeit in unserem Jahrhundert ist es naheliegend, sich bei solchen literarisch-künstlerischen Bewegungen und Gruppen umzusehen, die sich — wie die beat generation — vornehmlich als eine Revolte der Jugend gegen die spießbürgerliche Gesellschaft der hoffnungslos Erwachsenen begreifen und daher das Andersartige, das dem Erwachsenen Entgegengesetzte und das heißt oft genug das Kindliche umwerben. Dies war bekanntlich vor allem bei den Dadaisten und Surrealisten der Fall, deren bedeutendste Repräsentanten denn auch engagierte Lobredner der Kindheit und Kindlichkeit sind. So hat Hugo Ball, der Mitbegründer der Züricher Dada-Bewegung, das Kind, in der Kunst und im Leben begrüßt, die Kindheit als eine neue Welt gefeiert, alles kindlich Phantastische, alles kindlich Direkte als Heilmittel gegen die Senilitäten, gegen die Welt der Erwachsenen empfohlen, Einfalt und Kindsköpfigkeit gefordert und den Dadaisten als einen kindlichen, donquichottischen Menschen definiert 7 . In seinem ersten Manifeste du surréalisme preist André Breton die Kindheit, indem er vermutet: C'est peutêtre l'enfance qui approche le plus de la 'vraie vie>e. Denn die Kindheit allein hat natii Breton noch den Sinn für das Wunderbare, diese vielleicht wichtigste poetologische Kategorie der Surrealisten. Daher kann auch der Mensch, der nur allzu früh des Wunderbaren entwöhnt werde, nicht anders que se retourner alors vers son enfance qui, pour massacrée qu'elle ait été par le soin des dresseurs, ne lui en semble pas moins pleine de charmes9. Wenn Geringschätzung der Erwachsenenwelt und ihrer Werte und Hochschätzung der Kindheit und Kindlichkeit bei rebellischer, oppositio6

Jack Kerouac, Der Ursprung der Freude in der Poesie. In: Beat. Eine Anthologie, hrsg. und eingeleitet von Karl O. Paetel, Reinbek 1962, S. 49 ( = Rowohlt Paperback 10). — Audi bei anderen Dichtern ist, wie wir nodi sehen werden, das Ideal der Kindlichkeit häufig mit dem Topos puer senex verquickt. 7 Vgl. Hugo Ball, Die Fluét aus der Zeit, Luzern 1946, S. 91, 101, 102, 149. Vgl. auch Hugo Ball, Tenderenda der Phantast, Zürich 1967, S. 53, w o Ball über das schwankende Häuflein dadaistischer Wanderpropheten spricht, die die Kindlichkeit auf ihre Weise verkündeten. 8 André Breton, Manifeste du surréalisme. Poisson soluble, Paris 1924, p. 63. 9 Breton, a. a. O., p. 7. Vgl. auch ebd., p. 26 f.

4

Das Ideal der Kindlichkeit

neller Jugend zumeist H a n d in H a n d gehen, dann wird sich diese Korrelation wahrscheinlich auch bei früheren literarischen Jugendbewegungen' nachweisen lassen. Und so ist sich tatsächlich schon die Sturm-und-DrangJugend um 1770 und später vor allem die romantische Jugend um 1800 einig gewesen, wenn nicht in der Verachtung, so doch in der Ablehnung, Ironisierung und Ignorierung der Erwachsenen 10 , so daß es kein Wunder ist, wenn bei ihnen mit der negativen Einstellung gegenüber der Welt der Erwachsenen eine Idealisierung des Kindes und Lobpreisung der Kindlichkeit einhergeht, wofür sich freilich nicht nur sozialpsychologische und kulturhistorische, sondern auch geistesgeschichtliche Gründe anführen lassen. Unter den sogenannten Stürmern und Drängern ist H a m a n n einer der Hauptzeugen für die frühe Wertschätzung des Kindes und der Kindlichkeit in der deutschen Geistesgeschichte. Auf Matth. 18, 3 und Joh. 16, 13 anspielend fordert er 1762 in der Aesthetica in nuce: Kinder müssen wir werden, wenn wir den Geist der Wahrheit empfahen sollenu. Auch der junge Goethe beruft sich ein Jahrzehnt später in einer Rezension und im Brief Werthers vom 29. Junius 1771 auf die Worte Jesu 12 , die das Kindsein bzw. die Kindwerdung des Menschen als Bedingung seiner Aufnahme in die Basileia verlangen. Wie schon H a m a n n so wendet sich auch Goethe gegen Altklugheit, Vielwisserei, Vergreisung, gegen Regel- und Systemzwang, kurz, gegen die einseitige Verstandeskultur eines Vulgärrationalismus, wobei er sich gleichzeitig f ü r mehr Kindlichkeit, Naivität, Einfachheit, Spontaneität und Ursprünglichkeit ausspricht. Wenn Hamann und Goethe wiederholt auf die Worte Jesu vom Kindsein des Menschen 13 rekurrieren, so deutet das darauf hin, daß die Schriftsteller im 18. Jahrhundert, was das Ideal der Kindlichkeit angeht, wahrscheinlich noch nicht auf eine — im engeren Sinne — literarische, sondern hauptsächlich auf eine religiös-christliche Tradition zurückgreifen konnten, wie ja Kindlichkeit auch in anderen Kulturkreisen zuerst im religiösen Bereich als Ideal gewertet worden zu sein scheint14. In einer auf europäisch10 11

12

13

14

Vgl. Hans Heinrich Muchow, Jugend und Zeitgeist. Morphologie der Kulturpubertät, Reinbek 1962, S. 57, 106 ( = rde 147/148). Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke. Historisdi-kritische Ausgabe von Josef Nadler, Bd. 2, Wien 1950, S. 202. Vgl. auch ebd., S. 353, 356. Vgl. Der junge Goethe. Neue Ausgabe in sedis Bänden besorgt von Max Morris, Bd. 3, Leipzig 1910, S. 96. — Uber Goethes Verhältnis zu Kindern handelt Karl Muthesius, Goethe ein Kinderfreund, Berlin 1903. Auffällig, daß schon bei Christus das Kind die Funktion eines positiven Kontrastbildes hat, lobt er dodi Kinder und Unmündige in dem Maße als vorbildlich, wie er Pharisäer und Schriftgelehrte verurteilt. Dafür spricht das Tao te hing, jenes dem wohl im 6. Jahrhundert v. Chr. lebenden chinesischen Mystiker und Philosophen Laotse zugeschriebene Hauptwerk des Taoismus, in dem die Rückkehr des Menschen zur schlichten Einfalt,

Das Ideal der Kindlichkeit abendländische

Traditionszusammenhänge

5

beschränkten

Geschichte

des

Ideals der Kindlichkeit müßte man also immer wieder auf die — wie die jüngste Jesus-People-Bewegung dokumentiert — bis heute provozierende Forderung Christi nach Kindlichkeit zurückkommen

bzw. von ihr aus-

gehen. Als einer der ersten scheint der Apostel Paulus das von Christus aufgestellte Ideal aufgegriffen und leicht modifiziert verbreitet zu haben, indem er vor allem im 1. Brief an die Korinther dem antiken Ideal der Weisheit das christliche Ideal der freiwilligen Torheit, Einfalt, j a Narrheit um. Christi

willen

entgegensetzte. Seitdem sind in der abendländischen Ge-

schichte nicht selten Gestalten aufgetreten, die das Ideal des christlichen, durch Kindlichkeit ausgezeichneten Narren entweder selbst verkörpert oder propagiert haben 1 5 . Nach einer Reihe mittelalterlicher Heiliger und Kirchenmänner haben dann auch in der Neuzeit immer wieder einzelne Gelehrte und Dichter, die wie J a k o b Böhme, Fenelon, Angelus Silesius, Zinzendorf und Tersteegen

zumeist in der mystischen bzw. pietistischen

Tradition

stehen, die Forderung Christi nach Kindlichkeit ernst genommen. Gerade der Pietismus, dessen Einfluß schon auf den Sturm und Drang beträchtlich war, hat dann durch den ihm eigenen buchstäblichen Biblizismus, welcher die Forderung Jesu nach Kindlichkeit allzu wörtlich nahm, vor allem der deutschen Romantik und ihrer Suche nach Kindlichkeit vorgearbeitet 1 6 . Als Vermittler, Fürsprecher und Prediger mystischen, pietistischen und vor allem des vom Evangelium vorgeschriebenen kindlichen Geistes hat gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts J o h a n n Michael Sailer ( 1 7 5 1 — 1 8 3 2 ) , der spätere Regensburger Bischof, großen Einfluß auf seine

,vorroman-

tisdien' und romantischen Zeitgenossen ausgeübt, indem er sie immer wieder zur Kindlichkeit

ermunterte und

ermahnte,

was um so

überzeugender

wirkte, als Sailer selbst ein Vorbild an Kindlichkeit war 1 7 .

Unschuld, Demut und Ganzheit des Kindes gelehrt und das Kind — wie später audi bei Tschuangtse — immer wieder als Sinnbild der unverdorbenen, vollkommenen und daher 'wiederzugewinnenden Menschennatur verwendet wird; vgl. vor allem die Sprüche 10, 20, 28 und 55 des Tao te ktng. 15

Vgl. hierzu Walter Nigg, Der christliche Narr, Züridi und Stuttgart 1956.

16

Vgl. Martin Schmidt, Evangelische Kirdiengesdiidite Deutschlands von der Reformation bis zur Gegenwart. In: Deutsche Philologie im Aufriss, Bd. III, Berlin 1957, Sp. 1622.

17

Vgl. Hubert Schiel (Hrsg.), Johann Michael Sailer. Leben und Briefe. Bd. 1: Leben und Persönlichkeit, Regensburg 1948, S. 170 f., 173 f., 181, 211 ff., 288, 291, 346, 727; Bd. 2: Briefe, Regensburg 1952, S. 164, 240, 326, 341. — Über den Beitrag Sailers wie überhaupt über die Bedeutung Bayerns für die entstehende Romantik handelt ausführlich Hans Grassl, Aufbruch zur Romantik. Bayerns Beitrag zur deutschen Geistesgeschidite 1765—1785, München 1968; zu Sailers Beitrag vgl. vor allem S. 335—357.

6

Das Ideal der Kindlichkeit

Daß die Romantik mit ihrer Verherrlichung der Kindheit und Kindlichkeit in der soeben skizzierten christlichen Tradition steht, bezeugt schon die Vorliebe, mit der sich so viele Romantiker auf die Forderung Christi nach Kindwerdung berufen 18 . Kindlichkeit wird aber in der Romantik nicht nur als Lebensideal postuliert, sondern auch häufig als hervorstechender, lobenswerter Wesenszug am Erwachsenen konstatiert, wobei jedoch mitunter auch Wunschdenken mit im Spiel zu sein scheint. Neben dem Hang zur Idealisierung ist es freilich auch der neuerworbene, geschärfte Blick für alles Kindliche, der die Romantiker das Kind im Menschen suchen und entdecken läßt. Dabei finden sich unter den Lobrednern der Kindlichkeit und denen, deren Kindlichkeit gelobt wird, keineswegs nur Romantiker im engeren Sinne des Wortes wie Novalis, Wackenroder, Tieck, Runge, Caspar David Friedrich und Loeben19, sondern auch eine Reihe zeitgenössischer Schriftsteller der Romantik, die man — wie etwa Hölderlin, Jean Paul, Kleist, Schiller und Heinse 20 — zumindest in der deutschen Literaturkritik gewöhnlich nicht zu den Romantikern zählt. Auch haben um die vorletzte Jahrhundertwende nicht nur Künstler und Dichter, sondern auch Wissenschaftler, Philosophen, Theologen, Publizisten und Literaten das Lob der Kindlichkeit häufig ausgesprochen bzw. erhalten. So etwa Schleiermacher, Friedrich Schlegel, die Naturphilosophen G. H . Schubert, K. G. Carus und H. Steffens, der Jurist Savigny und der Sprachphilosoph Kanne 21 , um nur einige der bedeutendsten ,romantischen' Geister zu nennen. Wie hoch damals die

18

18

Vgl. z. B. Tiecks Aufsatz Über die Kinderfiguren auf den Raffaelschen Bildern. In: Wilhelm Heinrich Wackenroder, Werke und Briefe, Heidelberg 1967, S. 178—180; Adam Müller, Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur, hrsg. von Arthur Salz, München 1920, S. 133 ff. (8. Vorlesung); Jean Pauls Aufsatz Warum sind keine frohen Erinnerungen so schön als die aus der Kinderzeit? In: Jean Pauls Sämtliche Werke, hist.-krit. Ausgabe, hrsg. von Eduard Berend, 1. Abt. Bd. 16, S. 81; Novalis, Werke, Briefe, Dokumente, hrsg. von Ewald Wasmuth, Bd. 2, Heidelberg 1957, S. 481. Vgl. Novalis, a . a . O . , Bd. 1, S.499; Wackenroder, a . a . O . , S . 2 6 9 ; DLE, Reihe Romantik, Bd. 1, Stuttgart 1950, S. 127, 196, 207; Briefe deutscher Romantiker, hrsg. von Willi A. Koch, Wiesbaden o. J., S. 510 ( = Sammlung Dieterich 4).

20

Vgl. Hölderlin, Sämtliche Werke (Große Stuttgarter Ausgabe), hrsg. von Friedrich Beissner, Bd. 6, 1. Hälfte (Briefe, hrsg. von Adolf Beck), Stuttgart 1954, S. 236; Jean Pauls Wort über Hamann — Heros und Kind zugleich. In: Insel-Almanadi auf das Jahr 1953, S. 106; Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, hrsg. von Helmut Sembdner, Bremen 1957, S. 14, 16, 100, 246 ( = Sammlung Dieterich 172).

21

Vgl. DLE, Reihe Romantik, Bd. 1, S. 156, 193, 196, 207; Briefe deutscher Romantiker, a . a . O . , S. 89, 139, 428; Franz Rudolf Merkel, Der Naturphilosoph Gotthilf Heinrich Schubert und die deutsche Romantik, München 1913, S. 131, 137 f.

Das Ideal der Kindlichkeit

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Prädikate ,Kind* und ,kindlich* im Kurs standen, geht aus einem Brief des Publizisten Friedrich von Gentz an Rahel aus dem Jahre 1803 hervor: Sie nennen mich ein Kind; es ist das Höchste, das Süßeste, was Sie mir sagen können22. Worin sind die Ursachen, Gründe und Voraussetzungen dafür zu suchen, daß Kindlichkeit gerade um 1800 so häufig als Lebensideal begegnet, daß das bis dahin nur selten vergebene Lob der Kindlichkeit zu einem beliebten, ja dem beliebtesten Lobsdiema der Zeit, zu d e m panegyrischen Topos geworden ist? Mit anderen Worten: Liegt es an der besonderen geistigen, politischen, sozialen und kulturellen Situation der damaligen Zeit, daß in ihr Kindlichkeit wie nie zuvor gefordert, erstrebt und umworben wird? Es könnte als Widerspruch aufgefaßt werden, daß gerade die romantischen Lobredner der Kindlichkeit häufig auch Klage über die Unkindlichkeit ihrer Zeit und Zeitgenossen führen. Daß sich aber Streben nach Kindlichkeit und Leiden an Greisenhaftigkeit eher bedingen als ausschließen, daß die Suche und Sehnsucht nach Kindlichkeit gerade in Zeiten zu bemerken ist, die sich am Ende fühlen, die sich vergreist und alt vorkommen, in sogenannten Spät- oder Endzeiten also, läßt sich spätestens seit der Romantik in der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte immer wieder beobachten. Der romantische Ruf nach Kindwerdung läßt sich demnach als Folge- bzw. Begleiterscheinung einer Spätzeit, einer Spätkultur verstehen, in der zu leben um die vorletzte Jahrhundertwende fast die gesamte Intelligenz überzeugt war. Dieses Gefühl hatte sich seit Rousseau und Herder überall verbreitet und bildete bald den Grundtenor vieler zeitund kulturkritischer Klagen. In seinem Buch „Jugend und Zeitgeist" hat H. H . Muchow eine ganze Reihe solcher Klagen zusammengestellt. Sie stimmen alle darin überein, daß die „Jünglinge" um 1790/1800 „gar nichts Jugendliches an sich haben" 23 . Hölderlin, Novalis, Adam Müller, Achim von Arnim und Görres 24 : sie alle klagen über den Mangel an Kindlichkeit und Jugendlichkeit und wenden sich gegen ihre altkluge, prosaische, unkindliche Gegenwart, von der sich so viele Romantiker je länger je mehr abgestoßen fühlen. Daher schlägt in der Romantik die gegenwartsbezogene Zeitklage auch leicht in eine „laudatio temporis acti" um, die, gemäß ihrer Kontrastfunktion, oft zugleich auch ein Lob der ,Kindlichkeit' vergangener Zeiten ist, wobei die ,gute, alte Zeit' oft wider besseres Wissen mit der

22 23 24

Rahel III, S. 121. Mudiow, a. a. O., S. 96 f. Vgl. Hölderlins Fragment von Hyperion von 1794; Novalis' fünfte Hymne an die Nacht; Adam Müllers 8. Vorlesung über die deutsche Wissenschaft

und

Literatur; Arnims Aufsatz Von Volksliedern; Görres' Vorrede zu den Teutschen Volksbüchern.

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eigenen Kindheit oder dem Mythos der Kindheit identifiziert wird. In dieser eskapistischen, aus Zukunftsangst geborenen Haltung wurden viele Romantiker nicht zuletzt durch die politischen Verhältnisse und Entwicklungen ihrer Zeit bestärkt, z. B. durch ihre Enttäuschung über den Verlauf der französischen Revolution und später durch ihre enttäuschten Hoffnungen nach den sogenannten Befreiungskriegen. Kein Wunder also, daß sich viele von ihnen aus ihrer Zeit in elfenbeinerne Türme, auf Landgüter und in andere .Trösteinsamkeiten' zurückziehen, Zuflucht suchen bei den alten Ordnungen von Kirche und Staat und aus verhaßter Gegenwart in vermeintlich schönere, bessere, ,heilere' und kindlichere Vergangenheiten flüchten. Hier, im Verhalten der Romantiker, zeigt sich zum ersten Mal in aller Deutlichkeit, was dann nach Wladimir Weidle „ein Gebiet der Kunst nach dem anderen überflutet" hat: das „Ausbruchsverlangen" 25 , die „Flucht aus der Zeit" (Hugo Ball) unzähliger Künstler in die Kindheit der Gattung oder des Individuums, eine Flucht, die man nicht leichtfertig als Regression oder Eskapismus abtun darf, die man vielmehr, gerade weil sie so problematisch und symptomatisch ist, ernst nehmen und das heißt auf ihre Ursachen und Folgen hin untersuchen sollte. Neben der politischen und kulturellen Situation begünstigte auch die gesellschaftliche Entwicklung der Zeit die um 1800 stark zunehmende Idealisierung und Kultivierung des Kindlichen. Läßt sich das engagierte Umwerben des Kindes durch Dadaisten, Surrealisten und beatniks als Antwort und Reaktion auf den herrschenden spätbürgerlichen Geist des 20. Jahrhunderts mit seinem Nützlichkeitsdenken, seinem Konsumverhalten und Erwerbsstreben interpretieren, so hat schon zu Beginn der Etablierung und Konsolidierung des Bürgertums als der politisch und wirtschaftlich maßgebenden Zeitmacht, wie sie sich — mitbedingt durch die beginnende Industrialisierung — um 1800 abzeichnet, eine kritische Minderheit von Intellektuellen und Literaten die Gefahren einer spezifisch bürgerlichen Mentalität und Ideologie klar erkannt und dem .Philister', als dem verhaßten Prototyp des bürgerlich-ökonomischen Menschen, das Kind, jenes „einzig Unbürgerliche, was aus den Bürgern hervorgeht" 29 , als ideales Gegenbild entgegengehalten. Aus der seit der Romantik feststellbaren Korrelation zwischen Bürgerverachtung und Kinderpreisung jedoch zu schließen, bürgerliches Denken und Idealisierung des Kindes und der Kindheit seien grundsätzlich unvereinbar, wäre voreilig und — sozialgeschichtlich gesehen — unhaltbar. Vielmehr kann, wie Max Horkheimer an Hand einiger bürgerlicher Erhebungen seit der Reformation gezeigt hat, das „sentimentale

" Wladimir Weidle, Die Sterblichkeit der Musen, Stuttgart 1958, S. 292 ff. Max Kommereil, Gedanken über Gedichte, Frankfurt a. M. '1956, S. 373.

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Verhimmeln des Kindes als eines Symbols der Reinheit" durchaus zu jenen typischen „Äußerungen bürgerlichen Geistes" gehören, „die zugleich Mittel und Ausdruck der erzwungenen Verinnerlichung von Triebregungen sind" 27 . Das zwingt uns freilich keineswegs, die Wertschätzung des Kindlichen durch literarische Bewegungen wie die Romantik, den Dadaismus und Surrealismus ebenfalls als „bürgerlich" zu qualifizieren, denn für diese Bewegungen ist das Kind nicht vornehmlich oder gar ausschließlich Symbol der „Reinheit", „Unschuld" und der „Freiheit von Begierden" 28 , wie es das für die von Horkheimer ideologiekritisch betrachteten bürgerlich-religiösen und -nationalen Erhebungen ist, sondern es fungiert hier zumeist als Träger schöpferischer Kraft, Vitalität und Spontaneität, als Garantie der unendlichen Möglichkeiten des Menschen, als konkretes utopisches Versprechen auf die Zukunft und nicht zuletzt auch als Vorbild erotischer Freiheit, Vollkommenheit, Zufriedenheit und Unbefangenheit, was z. B. in Friedrich Schlegels Lucinde durch die Gestalt der kleinen Wilhelmine mit ihren Beinchen in die Höhe schelmisch-provozierend bezeugt wird. U m zu begreifen, wie es kam, daß gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts Kindlichkeit als ein überaus erstrebenswertes Lebensideal und die Kindheit als höchste Seinsstufe betrachtet wird, muß man schließlich auch den Wandel berücksichtigen, den in der zweiten H ä l f t e des 18. Jahrhunderts im Bereich der Pädagogik, Philosophie und Psychologie das Bild vom Kind und damit auch das von der Kindheit erfahren hat. Wahrscheinlich mußte das Kind sogar erst in seiner Eigenart entdeckt, gewürdigt und als ein dem Erwachsenen gleichberechtigtes, ebenbürtiges Wesen akzeptiert werden, ehe Kindlichkeit ein so weitverbreitetes Menschenideal werden konnte. Bekanntlich wurde das Kind bis weit ins 18. Jahrhundert hinein lediglich als ein kleiner Erwachsener angesehen und dementsprechend behandelt und erzogen. Erst Rousseau hat dann das Kind wirklich als Kind, d. h. als ein Wesen sui generis erkannt und geschätzt. Zu der hohen Einschätzung des Kindes und der Kindheit war Rousseau aufgrund seines pessimistischen Kultur- und seines optimistischen Naturbegriffs gekommen, der ihn im Kind ebenso wie im Wilden und einfachen Bauern die unverfälschte, ,unverdorbene' Menschennatur am reinsten und beispielhaftesten verkörpert sehen ließ. Solche Gedanken hat der Sturm und Drang nur zu bereitwillig aufgegriffen und dem rationalistischen Bild vom Kind entgegen-

27

28

Max Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung. Zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters (1936). In: M. H., Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze, Frankfurt a. M. 1970, S. 137 ( = Fischer Bücherei 6015). Daß die spätere Romantik, besonders ihre zum Katholizismus zurückgekehrte bzw. konvertierte Ausprägung, nicht immer frei ist von solch bürgerlich-ideologischer Beziehung zum Kind, ließe sich leicht nachweisen.

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gehalten. Daß und wie sich Aufklärung und Geniebewegung in der Auffassung des Kindes voneinander unterscheiden, hat Clara Stockmeyer in einer vergleichenden Untersuchung dramatischer Kindergestalten mit allerdings spürbarem antirationalistischen Affekt zu zeigen versucht 29 . Nicht nur in der dichterischen Praxis, auch in theoretischen Schriften und Briefen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts läßt sich der Einfluß Rousseaus nachweisen. So kontrastiert der Göttinger Hainbündler Johann Friedrich Hahn die verderbte schen . .. Welt der Kinder30, timentalische Dichtung Kindheit

unverstiimmelte

noch antreffen,

stapfe der Natur

daher

Natur,

es kein Wunder

außer uns auf unsre Kindheit

die wir in der

und ein

himmli-

des Ideals,

heiliger

zurückführt.

Fuß-

Nach Sdiiller

weshalb uns das Kind

nicht zwar des erfüllten,

Gegenstand31

kultivirten

ist, wenn uns jede

bleibt uns die verlorene Kindheit ewig das theuerste, auch eine Vergegenwärtigung aufgegebenen,

mit der

von 1 7 9 5 / 9 6 heißt es ganz im Sinne Rousseaus: Unsre

ist die einzige

Menschheit

Fürstenwelt

und noch in Schillers Essay Üher naive und sen-

aber

des

sei und sein müsse. Vor

allem in der Romantik wird dann das Kind ein heiliger, anbetungswürdiger Gegenstand und damit als ein höheres Wesen verehrt. Novalis und Tieck feiern die Kinder als Repräsentanten des goldenen Zeitalters 32 , und für

29

Vgl. Clara Stodcmeyer, Aufklärung und Sturm und Drang im Spiegel der Kinderrolle. In: Zeitschrift für Deutsdikunde 37, 1923, S. 172, 174, 177. — Die zweifellos vorhandenen Unterschiede zwischen Aufklärung und Sturm-undDrang sowie zwischen Aufklärung und Romantik sind allzu lange allzu sehr betont worden, so daß man darüber die Gemeinsamkeiten zwischen diesen literarischen Epodien zumeist übersah. Dabei huldigte z. B. nidit erst Schiller, der Sturm-und-Drang und die Romantik, sondern sdion die Literatur der deutschen Aufklärung dem Ideal und dem Begriff des „Naiven", dem das Kindliche spätestens seit Sdiiller zu subsumieren ist; vgl. hierzu Friedrich Sengle, Wunschbild Land und Schreckbild Stadt. Zu einem zentralen Thema der neueren deutschen Literatur. In: Studium generale 16, 1963, S. 622. — Zu den lange verkannten Beziehungen und Übereinstimmungen zwischen Aufklärung und Romantik vgl. Helmut Sdianze, Romantik und Aufklärung, Nürnberg 1966 ( = Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft 27) sowie Werner Krauss, Französische Aufklärung und deutsche Romantik. In: W. K., Perspektiven und Probleme. Zur französischen und deutschen Aufklärung und andere Aufsätze, Neuwied und Berlin-West 1965, S. 266—284.

30

Brief vom 18.10.1773 an Brückner, abgedruckt bei: Ernst Metelmann, E. Th. J . Brückner und der Göttinger Dichterbund. Ungedruckte Briefe und Handschriften. In: Euphorion 33, 1932, S. 400 f.

31

Schillers Werke (Nationalausgabe), Bd. 20, 1. Teil, Weimar 1962, S. 430, 414, 416. Vgl. Novalis, a . a . O . , Bd. 1, S. 337 (Blütenstaub, Fragment Nr. 103); Wadcenroder, a. a. O., S. 178.

32

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Hölderlin, Jean Paul und Dorothea Schlegel sind Kinder göttliche

bzw.

himmlische Wesen, weil sie nahe bei Gott stehen 33 . Was sie alle, die Romantiker, ihre Zeitgenossen wie schon ihre Vorläufer im 18. Jahrhundert, am Kind so sehr bewundern und schätzen, ist vor allem das Frisdie, Spontane, Unbefangene, Ursprüngliche, Natürliche und Lebendige seines Wesens, seines Umgangs und seines Ausdrucks. Mit einem W o r t : man entdeckt das Geniale, den Genius, den Künstler im Kind und damit auch das Kindliche im Künstler. Ganz neu freilich war diese Entdeckung nicht. Denn mußte nicht, wie Fritz Mauthner zu Recht einmal bemerkt, die „ Ä h n l i c h k e i t . . . der Kindergenialität mit der Dichtergenialit ä t " auffallen, „seitdem es denkende Mütter und Väter unter den redenden Menschen gab" 3 4 . Als frühsten Beleg für die allerdings erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts häufiger herangezogene Vorstellung vom Dichter als Kind können wir den griechischen Dichter Kallimachos aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. anführen, der sein Schreiben kindliches

Spielen

(jtai^Eiv,) und seine

Gedichte Spiel fjiaiyviovJ genannt hat, ja die Teichinen in Vers 6 des Prologs der Aitia von sich hat sagen lassen, er habe seine kleinen Werke wie ein Kind

(naig ars) verfertigt 3 5 . Wurde somit schon in der antiken Litera-

tur vereinzelt die Auffassung vom Dichter als einem kindlichen Wesen vertreten, so konnte sie in der europäischen Literatur der Neuzeit 3 6 doch erst dann geläufiger und populärer werden, nachdem man in der Kunst auch dem Regelwidrigen, Wunderbaren, Wilden, Naiven, Ursprünglichen, Primi-

33

84 55

M

Vgl. Hölderlin, Große Stuttgarter Ausgabe, Bd. 3 (Hyperion), S. 10; Jean Paul, Flegeljahre, N r . 9 . Schwefelblumen • Streckverse (Die Kinder); Dorothea v. Schlegel geb. Mendelssohn und deren Söhne Johannes und Philipp Veit. Briefwechsel, hrsg. von J . M. Raich, Bd. 1, Mainz 1881, S. [14]. Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Leipzig 2 1924, S. 215. Vgl. hierzu Bruno Snell, Uber das Spielerische bei Kallimachos. In: B. S., Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Hamburg'1955, S. 361, der gezeigt hat, daß sich die von Kallimachos begründete Tradition des Kindlich-Spielerischen in der Literatur bis hin zu Goethe verfolgen läßt. Interessant, daß die Vorliebe für Kindliches, Einfältiges, Naiv-Unreflektiertes wie später vor allem in der Romantik und anderen Spätkulturen, so schon bei Kallimachos (und Theokrit) als Reaktion einer späten, hochkultivierten und komplizierten Zeit aufzufassen ist. So ist denn auch schon die „Naivität" des Kallimachos „eine neue wissende Kindlichkeit", ist sein Spiel „die Souveränität des wissenden Geistes"; vgl. Snell, a. a. O., S. 365. Daß auch außerhalb der europäisch-abendländischen Literatur und Kultur, wie schon das anthropologisch-religiöse Ideal der Kindlichkeit (bei Laotse), so auch das poetologische Wunschbild vom Dichter als Kind zu finden ist, läßt sich durch den japanischen Haiku-Dichter Bashö (1644—1694) belegen, der seine Schüler aufforderte: Let a little child compose haiku und: Simply observe what children do; vgl. Makoto Ueda, Bashö and the Poetics of "Haiku". In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 1963, p. 427, 430.

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tiven und Mythischen eine gewisse Berechtigung zugestanden hatte. Einer der ersten, der auf diese lange Zeit vernachlässigte und verpönte Seite der Kunst im 18. Jahrhundert wieder aufmerksam gemacht und großen Wert gelegt hat, ist zweifellos Giambattista Vico gewesen, der in seiner Scienza Nuova von 1725 die Welt des Kindes und die Kindheit der Welt immer wieder wegen der in ihr vorherrschenden Phantasie, Poesie und Bildlichkeit gepriesen und mit dem Bereich der Dichtung und Kunst verglichen, ja identifiziert hat. Aus der hier erkannten Analogie, ja Wesensverwandtschaft zwischen Dichter und Kind erklärt es sich denn auch, daß schon bei Vico das Kind als Künstler und der Künstler als Kind aufgefaßt wird 37 . Unabhängig von Vico, den er wahrscheinlich erst Ende 1777 las38, hat dann Hamann, wohl als erster in der deutschen Geistes- und Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Kindlichkeit als eine „rühmenswerte, ja notwendige Eigenschaft des Genies" und Dichters erkannt und gefordert 39 . Kinder müssen wir werden, den Zweck der Poesie an Schülern zu erreichen40, heißt es programmatisch im vierten der Fünf Hirtenbriefe, das Schuldrama betreffend von 1763, womit sich Hamann polemisch gegen das rationalistische Schuldrama seiner Zeit, gegen Altklugheit, Regelzwang, Schulweisheit, Konventionalität und übertriebene Intellektualität wendet. Angeregt durch Hamann betrachtet dann auch Herder das Kind als eines der Vorbilder dichterischer Ausdrucks-, Sage- und Gesangsweisen. Schon in den Fragmenten von 1766/67 empfiehlt er: Höret den Cadenzen bei dem Gesänge der Kinder und der Narren zu41, und im Briefwechsel über Ossian von 1773 weist er unter anderem auf unverdorbne Kinder hin, von denen man noch eine Sprache vernehmen könne, wie sie in der alten Zeit Dichter und Skalden gesprochen hätten, weshalb er auch auf die Volks-, Bauern- und Kinderlieder mit ihren Sprüngen und Inversionen aufmerksam macht und anregt, sie auf Strassen, und Gassen und Fischmärkten42 zu sammeln. 37

38

39

49 41

Vgl. hierzu Eugenio Garin, Geschichte und Dokumente der abendländischen Pädagogik III. Von der Reformation bis John Locke, Reinbek 1967, S. 65 ff. ( = rde 268/69). — Erweiterte Fassungen der Scienza Nuova erschienen 1730 und 1744. Vgl. Josef Nadler, Johann Georg Hamann (1730—1788). Der Zeuge des Corpus mysticum, Salzburg 1949, S. 17. Vgl. Rudolf Unger, Hamann und die Aufklärung, Bd. 1, Darmstadt 1963, S. 297 f.; Nachdruck der 2., unveränderten Aufl. durch die Wissenschaftl. Buchgesellschaft. Hamann, a. a. O., Bd. 2, S. 363; vgl. auch ebd., S. 365. Herders Sämmtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, Bd. 1, Berlin 1877, S. 175.

** Herders Sämmtliche Werke, Bd. 5, S. 181 f., 189, 200 f.

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Auch Goethe ist — in der frühen Weimarer Zeit — die Vorstellung vom Dichter als Kind bereits so geläufig, daß in Wilhelm Meisters theatralischer Sendung der Titelheld wie selbstverständlich vom Autor als Kind spricht, f ü r den, da er gerne alles überall43 anbringe, besonders die Gattung des Schäferspiels recht eigentlich gemacht sei. Tatsächlich läßt sich im 18. Jahrhundert eine auffällige Affinität zwischen der Schäfer- bzw. Idyllendichtung und der dichterischen H a l t u n g der Kindlichkeit feststellen 44 . Als Beispiele f ü r diese Verwandtschaft lassen sich Salomon Geßner und der dem Göttinger H a i n b u n d nahestehende, literaturbeflissene Landpfarrer E. Th. J. Brückner anführen, dessen Kinder-Idyllen (1772—74) sich bei seinen Göttinger Freunden vor allem deshalb so großer Beliebtheit erfreuten, weil sie so ganz glüklich in der naiven Kindersprache geschrieben, ja aus der tiefsten KinderNatur hergenommen seien 45 . An literarischen Gattungen bzw. Stilformen sind es im 18. Jahrhundert noch der empfindsame Roman, der durch die Verkleidung seines Erzählers in einen ,naiven', kindelnden Tonfall zur Entstehung und Entwicklung des Stil- und Dichtungsideals der Kindlichkeit beitrug 46 , sowie die Anakreontik und das literarische Rokoko, die wenn auch nicht ausdrücklich Kindlichkeit, so doch ,Naivetät' und ,Simplicität', die stilkritischen Oberbegriffe von Kindlichkeit im 18. Jahrhundert, als Stilideal forderten und zu verwirklichen suchten und damit zweifellos auf die Romantik eingewirkt haben 47 . Gleichsam am Vorabend der deutschen Romantik hat dann auch noch Schiller die Verwandtschaft des Genies mit dem Kind deutlich herausgestellt. In seinem Essay Über naive und sentimentalische Dichtung spricht er vom kindlichen Charakter, den das Genie in seinen Werken abdrücke. Mit dem Kind teile das wahre Genie die naive Denkart, aus der nothwendigerweise auch ein naiver Ausdruck in Worten fließe. Daher seien die erhabensten und

43

44

45 48

47

Goethe, Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Nach der Schultheß'schen Abschrift hrsg. von Harry Maync, Stuttgart und Berlin 1911, S. 85 (2. Buch, 3. Kap.). D a ß dieser Zusammenhang in der langen Tradition der europäischen Bukolik erst im Laufe des 18. Jahrhunderts besonders deutlich in Erscheinung tritt, liegt vor allem daran, daß man damals die seit Vergils Eklogen mit der Hirtendichtung verknüpfte Vorstellung vom goldenen Zeitalter bzw. Paradies immer häufiger in Analogie zur Kindheit des Menschen bzw. der Menschheit als der glücklichsten, sorglosesten, einzig .paradiesischen' Lebenszeit setzte. Vgl. Metelmann, a. a. O., S. 399, 374, 404. Vgl. hierzu Norbert Miller, Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts, München 1968, S. 410, Anm. 31 ( = Literatur als Kunst). Vgl. hierzu Alfred Anger, Literarisches Rokoko, Stuttgart 1962, S. 28, 38—42 ( = Sammlung Metzler 25) sowie Alfred Angers Artikel „Anakreontik". In: Das Fischer Lexikon, Literatur II, 1. Teil, Frankfurt a. M. 1965, S. 27.

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tiefsten Gedanken, die das Genie mit naiver Anmut ausdrücke, Göttersprüche aus dem Mund eines Kindes*9. Bekanntlich sah Schiller, dessen Begriff der Naivität das Kindliche durchaus mit einschließt, das naive, kindliche Genie hauptsächlich im Künstler vergangener Zeiten, in Homer, Dante, Shakespeare, Dürer u. a. verkörpert. Sich selbst wie überhaupt den modernen Künstler zählte er — mit Ausnahme Goethes — zum sentimentalischen Typus, da er glaubte, ein naiver, kindlicher Dichter sei bei dem erreichten Grad der Reflexion kaum noch möglich. Ganz im Sinne Schillers scheinen die jungen Romantiker zunächst auch nur im Künstler vergangener Zeiten kindliche Züge zu entdecken. So zum Beispiel in Dürer und Raffael, die in ihrer künstlerischen Tätigkeit von Wackenroder und Tieck wiederholt als Kinder bzw. kindlich49 geschildert werden. Ungeachtet Schillers Auffassung, daß Kindlichkeit im modernen, sentimentalischen Diditer kaum mehr möglich sei, halten Wackenroder und Tieck jedoch Kindlichkeit auch und gerade für eine conditio sine qua non des modernen, romantischen Künstlers. So wird an dem Tonkünstler Joseph Berglinger, einem unschwer zu erkennenden Selbstporträt Wackenroders, sein bewahrtes kindliches Gefühl50 gerühmt, und Franz Sternbald, der ja keineswegs ein .altdeutscher', sondern ein durchaus moderner, romantischer Künstlertyp ist, will als Mensch wie als Künstler immer ein Kind bleiben, mag die ganze Welt klug und überklug werden, weshalb er auch dem Künstler empfiehlt, bei Bauern oder Kindern manchmal in die Schule zu gehen51. Gewiß nicht unbeeinflußt durch seinen Freund Tieck fordert der Maler Runge in einem Brief vom Februar 1802 von den Künstlern: Kinder müssen wir werden, wenn wir das Beste erreichen wollen52. Und nach Guido, der autobiographischen Hauptgestalt aus Loebens gleichnamigem Künstlerroman, sind die glücklichsten Dichter unbefangen und unschuldig, Kinder, welche die Muttermilch der Natur berauscht. Ihre Aufgabe bestehe darin, die Menschen unvermerkt zurückzulocken zu jenem seligen Einverständnis, das seit vielen tausend Jahren mit der Kinderzeit verloren gegangen ist.. ,53 48 49

50 51

52

63

Schillers Werke (Nationalausgabe), Bd. 20, 1. Teil, S. 425 f. Vgl. Wackenroder, a. a. O., S. 90, 97; Ludwig Tieck, Werke in vier Bänden, hrsg. von Marianne Thalmann, Bd. 1, München 1963, S. 847. Wackenroder, a. a. O., S. 121. Tieck, a. a. O., Bd. 1, S. 706, 716. — An anderer Stelle (S. 737) heißt es: So war Franz Sternbald um diese Zeit, ich weiß nicht ob ich sagen soll ein erwachsenes Kind, oder ein kindischer Erwachsener. Runge I, S. 7. — Vgl. auch den Ausspruch des Malers Caspar David Friedrich, der die Sprache eines reinen kindlichen Gemütes als die einzig wahre Quelle der Kunst bezeichnet; zitiert nach: DLE, Reihe Romantik, Bd. 12, Leipzig 1934, S. 203. Guido. Von Isidorus Orientalis [Otto Heinridi Graf von Loeben], Mannheim 1808, S. 54 f.

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Doch nicht nur in der deutschen, auch in den anderen europäischen Literaturen wird, zur Zeit der Romantik, das ,Poetologem' vom Dichter als Kind immer wieder verwendet. Coleridge, der englische Romantiker und Kritiker, verlangt ebenso wie sein Freund Wordsworth Kindlichkeit vom Dichter: The poet is orte who carries the simplicity of childhood into the powers of manhood; who, with a soul unsubdued by habit, unshackled by custom, contemplâtes all things with the freshness and the wonder of a childbi. U n d der Moralist und Aphoristiker Joubert (1754—1824), der der französischen Romantik durch seine Freundschaft mit Chateaubriand nahesteht, definiert: Dichter sind Kinder mit viel Seelengröße und himmlischem Verstände55. Im Laufe des 19. Jahrhunderts scheint dann die Auffassung vom Künstler bzw. Genie als Kind nur noch vereinzelt vertreten worden zu sein, so zum Beispiel von Schopenhauer und Baudelaire 56 . Erst gegen Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts wird der Künstler als Kind wieder eine häufig verwendete Formel 57 . Alfred Liede zufolge ist die letzte Jahrhundertwende „auch in der Dichtung das Zeitalter des Kindes", da es in dieser Zeit kaum einen Dichter gebe, der nicht Kind sein möchte „nach Nietzsches Behauptung, daß der Dichter die Welt verkindliche" 68 . Dieses „Kindseinwollen" wirkt aber nicht nur bis in den Dadaismus hinein 59 , sondern spielt darüber hinaus — wie wir gesehen haben — auch im Surre54

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S. T. Coleridge, Shakespearean Criticism, ed. by T. M. Raysor, vol. 2, London/ New York 1960, p. 112 ( = Everyman's Library 183). Die französischen Moralisten. Neue Folge. Verdeutscht und hrsg. von Fritz Schalk, Leipzig 1940, S. 186 ( = Sammlung Dieterith 45). Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke. Nach der ersten, von Julius Frauenstädt besorgten Gesamtausgabe hrsg. von Arthur Hübscher, Bd. 3, Leipzig 1938, S. 453: Wer nicht zeitlebens gewissermaaßen ein großes Kind bleibt, sondern ein ernsthafter, nüchterner, durchweg gesetzter und vernünftiger Mann wird, kann ein sehr nützlicher und tüchtiger Bürger dieser Welt seyn; nur nimmermehr ein Genie; Baudelaire, Oeuvres. Texte établi et annoté par Y.-G. Le Dantec, Paris 1954, p. 888 ( = Bibliothèque de la Pléiade 1): Mais le génie n'est que l'enfance retrouvée à volonté. So wird in Frankreich in der „Belle Epoque" unter Künstlern wie dem malenden Zöllner Rousseau, dem Komponisten Satie und den Schriftstellern Jarry und Apollinaire ein eifriger „Kult der Kindheit" getrieben, der nach R. Shattuck eines der vier Hauptmerkmale der Zeit um die letzte Jahrhundertwende ist. Vgl. hierzu Roger Shattuck, Die Belle Epoque. Kultur und Gesellschaft in Frankreich 1885—1918, München (1963), S. 39 f. Alfred Liede, Dichtung als Spiel. Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache, Bd. 1, Berlin 1963, S. 325. — Nietzsches Auffassung, daß der Künstler zeitlebens ein Kind oder ein Jüngling geblieben sei und es daher zu seiner Aufgabe werde, die Menschheit zu verkindlichen, findet sich in Menschliches, Allzumenschliches unter der Uberschrift Die Kunst als Totenbeschwörerin. Wie Liede, a. a. O., S. 326, meint.

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alismus und später noch in der Beat- und Hippiegeneration eine wichtige Rolle. Aber auch außerhalb solcher Gruppen und Bewegungen gibt es im 20. Jahrhundert immer wieder einzelne Schriftsteller und Poeten, die im Künstler das Kind entdecken bzw. Kindlichkeit von ihm fordern. Rilke nennt den Dichter einmal dieses ungeheuere und kindliche Wesen60, und für Thomas Mann ist der Künstler, wie es in seinem Vortrag über Freud und die Zukunft von 1936 heißt, der eigentlich verspielte und leidenschaftlich kindische Mensch61. Nodi in seiner letzten zu Lebzeiten erschienenen Arbeit spricht Thomas Mann anläßlich Schillers, dessen große Kindlichkeit er auf kongeniale Weise zu würdigen versteht, vom Kind im Künstler62, dieser für ihn vielleicht wichtigsten Instanz im schöpferischen Menschen. Daß im 20. Jahrhundert die Vorstellung vom Künstler als Kind bis heute eine ubiquitäre, immer wieder neu formulierte Konzeption der nach Nationalität, Kunstauffassung und Uberzeugung verschiedensten Schriftsteller ist, macht schon ein flüchtiger Blick in die anderen europäischen Literaturen deutlich. So spricht in der spanischen Literatur Jorge Guillén vom Kind, das im Dichter lebt — und beide sind eins —63. Der schwedische Dichter Stig Dagerman ist der Auffassung, daß man als Kind immer Dichter ist und es also nur darauf ankomme, sich das Dichten später weder vom Leben und den Menschen noch vom Geld abgewöhnen zu lassen6*, d. h. immer Kind zu bleiben. Nach Cesare Pavese ist die moderne Kunst — soweit sie Wert habe — eine Rückkehr zur Kindheit, weshalb für Pavese die Wiederentdeckung der Kindheit65 auch eine der vornehmsten Aufgaben des Künstlers ist. Georges Bernanos spricht einmal von dem sanften, immer bekämpften und immer neu erstehenden Geheimbund der Dichter und der Kinder, ohne den unsere abscheuliche Welt66 schon längst zugrunde gegangen Rainer M a r i a Rilke, Sämtliche Werke. Hrsg. v o m R i l k e - A r d i i v . In Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Ernst Zinn, Bd. 6, F r a n k f u r t a. M. 1 9 6 6 , S. 1046. — Schon in seinen frühen Erzählungen definiert Rilke Kunst als K i n d heit und w i l l eine seiner autobiographischen Gestalten ein Buch über Kindheit und Kunst schreiben lassen; vgl. Rilke, a. a. O., Bd. 4, S. 2 2 9 , 278. " Thomas Mann, Gesammelte Werke. In z w ö l f Bänden, Bd. I X , F r a n k f u r t a. M. 1960, S. 499. 6 2 Thomas Mann, Versuch über Schiller, Berlin und F r a n k f u r t a. M. 1 9 5 5 , S. 2 1 ; vgl. audi ebd., S. 12 f f . , 3 Jorge Guillén, Mein Freund Federico Garcia Lorca. Ein Briefwechsel, Wiesbaden 1965, S. 12 ( = Limes N o v a 10). 8 4 Stig Dagerman, Spiele der Nacht. Erzählungen, Wiesbaden 1 9 6 1 , S. 230. • 5 Cesare Pavese, Das Handwerk des Lebens. Tagebuch 1 9 3 5 — 1 9 5 0 , Hamburg 1 9 5 6 , S. 2 4 9 f., 297. 6 6 Zitiert nach: A l b e r t Béguin, Georges Bernanos. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1958, S. 85 ( = rowohlts monographien 10). 60

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wäre. Und der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz will nach seinem eigenen Geständnis per fas et nefas Kind sein, freilich ein solches, das zu allen Möglichkeiten erwachsenen Ernstes gelangt ist und sie erfahren hat. In seinem Kampf gegen Reife, zu einseitig ausgeprägte Männlichkeit bzw. Weiblichkeit fordert er, daß Kindlichkeit zu etwas Erlaubtem werde61. Bei der Vielzahl und dem Gewicht der Stimmen, die seit dem 18. Jahrhundert bis auf den heutigen Tag immer wieder vom Dichter als einem ausgesprochen kindlichen Wesen sprechen bzw. Kindlichkeit von ihm verlangen, ist es verwunderlich, daß es unseres Wissens bisher noch keine umfassenden, einschlägigen Untersuchungen über die Kindlichkeit des Dichters im allgemeinen, über das Kindliche in der Kunst und im Künstler oder über die künstlerische Kindlichkeit eines bestimmten Dichters bzw. Künstlers gibt 68 . Das mag zum Teil daran liegen, daß man die große Bedeutung und Relevanz des Problems überhaupt noch nicht gesehen und erkannt hat, vielleicht aber auch daran, daß man die Beteuerungen und Forderungen der Dichter und Künstler, sie seien Kinder oder müßten welche werden, nicht recht ernst genommen und allzu leichtfertig als bloß toposhafte Erklärungen abgetan hat. Wenn wir als Beispiel des Dichters als Kind Clemens Brentano gewählt haben, so deshalb, weil Leben und Werk dieses Romantikers so entscheidend durch Kindheit und Kindlichkeit geprägt sind, weil das Problem von bewahrter und wiedergewonnener, zweiter Kindlichkeit sich hier so funda67

68

Witold Gombrowicz, Das Tagebuch des Witold Gombrowicz,

Pfullingen 1961,

S. 324 f.; vgl. auch ebd. S. 31, 93, 228, 329, 341. Zwar gibt es eine ganze Reihe von Arbeiten, die sich mit der Gestalt, dem Motiv, der Psychologie und dem Bild des Kindes in verschiedenen Literaturepodien und bei verschiedenen Schriftstellern befassen (vgl. Joseph Adelmann, Die Psychologie des Kindes bei Jean Paul und in der romantischen Dichtung, Diss. Würzburg 1923; Hansgeorg Kind, Das Kind in der Ideologie und der Dichtung der deutschen Romantik, Diss. Leipzig 1936; Elisabeth Lancier, Kind und junger Mensch in den Werken Alphonse Daudets, Diss. Münster i. W. 1935; Curt Grützmacher, Novalis und Ph. O. Runge. Drei Zentralmotive und ihre Bedeutungssphäre. Die Blume — Das Kind — Das Licht, München 1964; Alfred Söntgerath, Das Kind in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1967 ( = Pädagogik und Dichtung); Rainer Hagen, Kinder, wie sie im Buche stehen, München 1967), über den Dichter als Kind, über die Affinität zwischen Künstler und Kind finden sich in der Literatur jedoch zumeist nur beiläufige, interessanterweise in der Mehrzahl von Schriftstellern stammende, Bemerkungen und Erörterungen, so in Baudelaires Essay Les Paradis Artificiels, vor allem in dem Kapitel Le Génie Enfant, im Balzac-Buch von Ernst Robert Curtius (Bonn 1923, S. 453—458), in Thomas Manns Versuch über Schiller und in Jorge Guilléns Buch über Lorca.

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mental stellt, wie bei kaum einem Dichter unserer literarischen Geschichte 69 . Dennoch wollen wir Brentano nicht um jeden Preis und in jedem Fall als Paradigma,

als

Prototyp

des

kindlichen

Dichters

betrachten,

sondern

zunächst immer erst als eine einmalige Gestalt der Literaturgeschichte, die in ihrer Kindlichkeit und ihrem Verhältnis zur Kindlichkeit von bestimmten geistesgeschichtlichen, gesellschaftlichen und autobiographischen

Vorausset-

zungen, Bedingungen und Konstellationen abhängig ist, die darüber hinaus jedoch zugleich auch oft genug exemplarisch ist für eine Reihe von Möglichkeiten kindlichen Dichtens, Denkens, Gestaltens, Sehens und Verhaltens, die grundsätzlich jedem Dichter offenstehen, weil sie Ausdruck und Ausfluß einer dem Menschen eigentümlichen seelisch-geistigen Grundstruktur sind, die

freilich

jederzeit

kultur-,

gesellschafts-

und

persönlichkeitsbedingte

Modifikationen erfahren kann. Diese Grundstruktur ist nach unserer These besonders deutlich beim Künstler 7 0 , vor allem beim Dichter ausgeprägt. Und

69

Kein Wunder, daß in der Sekundärliteratur das Problem der Kindlichkeit bei Brentano wiederholt — wenngleich bisher nodi keineswegs erschöpfend und vor allem nodi nicht hauptsächlich unter dem Aspekt der poetisch-künstlerischen Kindlichkeit — behandelt worden ist. So als Hauptthema von Walter Dellers, Clemens Brentano. Der Versuch eines kindlichen Lebens, Basel 1960 ( = Diss. Basel 1955) und von Reingard Ewald, Das Bild des Kindes bei Clemens Brentano, Diss. Graz 1965 (Masch.). Die allzu biographistisch vorgehende Untersuchung von Dellers („das Werk ist, wie es aus dem Leben hervorgegangen ist, ebenso nur aus dem Leben heraus zu begreifen", S. 9) befaßt sich mit den verschiedenen, in der Freundschaft, Liebe, Märchendichtung und Religion unternommenen, nach Dellers allesamt gescheiterten, Versuchen Brentanos, eine kindliche Lebensform zu verwirklichen. Dabei werden — was im Ansatz richtig, in der Durchführung aber verfehlt ist — zwei Begriffe von Kindlichkeit unterschieden: eine einfache, am empirischen Sein des Kindes orientierte Kindlichkeit und eine „magische", von Walter Muschgs dichterischer Grundform des Magiers hergeleitete Kindlichkeit, um deren Gewinnung und Praktizierung es Brentano nach Dellers hauptsächlich geht. Auch Ewald rekurriert, ohne die Arbeit von Dellers zur Kenntnis zu nehmen, auf Muschgs Begriff des Magiers, stellt aber Magier und Kind als widerstreitende, polare Gegensätze einander gegenüber. Wie schon Walther Migge, so vertritt auch Ewald die Auffassung, daß Brentano das Kindliche als „charakteristischen Gegensatz seiner Natur" umwirbt, daß er kein Kind im üblichen Sinne des Wortes, ja daß sein „Wesen wahrer Kindlichkeit geradezu entgegengesetzt" (Ewald, S. 1) sei. — Einzelne, jedoch nicht zusammenhängende Hinweise zur Frage der Kindlichkeit bei Brentano finden sich auch in den Dissertationen von Walther Migge (S. 7—14), Renate Unkrodt (S. 52—70), Claudia Monica Rychner (S. 70—73) und Sieglinde Piringer (S. 187—197).

70

Wir ersparen es uns hier, Belege zum Selbstverständnis von Malern, Bildhauern, Komponisten, Filmemachern und reproduzierenden Künstlern wie Schauspielern und Musikern anzuführen, die sich insgesamt kaum weniger für Kindlichkeit in der Kunst ausgesprochen und sich auch selbst kaum weniger als Kinder bezeichnet haben dürften als die Schriftsteller.

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dies keineswegs etwa nur oder besonders auffällig bei einem bestimmten literar-historisch, -soziologisch oder -psychologisch festgelegten Künstlertypus, wie z. B. beim .Romantiker', dessen ,Wesen* im Unterschied zu Künstlern anderer Literaturepochen es nach J . Petersen sei, nicht zu altern, vielmehr „bis ins Alter ein K i n d " 7 1 zu bleiben. Kindlichkeit nur bei einem bestimmten Künstlertypus zu suchen, festzustellen, vorauszusetzen, hieße: eine allgemein menschliche Eigenschaft wie das Sprachvermögen oder die Fähigkeit des Lachens und Weinens nur bei einem bestimmten Menschentypus, einer bestimmten Nation oder Bevölkerungsschicht entdecken zu wollen. Darüber hinaus ist Kindlichkeit nach unserer Auffassung nicht etwas, was der Künstler hat oder nicht hat, ohne daß dadurch etwas über seine Qualifikation zum Künstler ausgesagt wäre, sondern etwas, was er als Künstler unbedingt haben muß, was ihn wesentlich zum Künstler macht. Kindlichkeit allein macht zwar nodi nicht den Künstler, sie ist aber ein Kriterium, ja eine conditio sine qua non jeden Dichters und Künstlers. Mit anderen Worten: Kindlichkeit ist zwar keine hinreichende, wohl aber eine notwendige Bedingung jeden Dichters und allen Dichtens. Was uns in der Auffassung, daß Kindlichkeit eine notwendige Bedingung und unerläßliche Eigenschaft des Künstlers ist, besonders bestärkt, ist die von dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz aufgestellte Theorie, wonach Kindlichkeit ein allen erwachsenen Menschen gemeinsames Merkmal, ja die „für den Menschen vielleicht am meisten konstitutive Eigenschaft" 7 2 ist. Die „allgemeine Verjugendlichung" oder, wie Lorenz an anderer Stelle sagt, die „persistierende Kindlichkeit" 73 des Menschen ist für sein Menschsein deshalb ein so konstitutives Merkmal, weil es den Menschen vor allen Tieren auszeichnet. Im Gegensatz nämlich zum Tier, bei dem sich allgemeine Jugendmerkmale wie neugieriges, exploratives Verhalten wenn überhaupt, dann nur in einem eng begrenzten Entwicklungsstadium in seiner Kindheit bzw. Jugend feststellen lassen, bleibt der Mensch im allgemeinen bis in sein hohes Alter ein neugieriges, weltoffenes, „riskiertes", werdendes, spielsüchtiges, forschlustiges, lernbegieriges und damit kindliches Wesen. Wenn schon der Durchschnittsmensch dasjenige Wesen ist, das weit über seine eigentliche Kindheit hinaus bis an die Schwelle des Greisenalters kindlich, d. h. neugierig und aufgeweckt bleibt, um wieviel mehr muß dann erst

71

Julius Petersen, Die Wesensbestimmung der deutschen Romantik. Eine Einführung in die moderne Literaturwissenschaft, Leipzig 1926, S. 143 f.

72

Konrad Lorenz, Ober tierisches und menschliches Verhalten. Aus dem Werdegang der Verhaltenslehre. Gesammelte Abhandlungen, Bd. 2, München 1965, S. 198. Vgl. auch ebd., S. 242.

73

Konrad Lorenz, So kam der Mensch auf den Hund, 2 5 . - 2 8 . Aufl., Wien 1966, S. 22.

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der Künstler, dieser nach alter Übereinkunft immer neugierige, verspielte, eigentlich nur gesteigerte, potenzierte Mensch, Kind sein und bleiben. Aber nicht nur die moderne Verhaltensforschung, Anthropologie und Philosophie 74 , sondern vor allem auch die moderne Psychologie hat den Menschen und im besonderen den Künstler als ein eminent kindliches Wesen erkannt und beschrieben. Bekanntlich war und ist es vornehmlich die Psychoanalyse, die von Anfang an ihr Hauptaugenmerk auf das Weiterleben des Kindes im erwachsenen Menschen gerichtet und immer wieder die Beobachtung gemacht hat, daß der Mensch zu einem großen Teil das Produkt oder, wie es Groddeck einmal formulierte, „das Kind seiner Kindheit" 75 ist. Vor allem Freud ist es auf eindrucksvolle Weise gelungen, an Hand umfangreichen psychischen Materials den Nachweis zu erbringen, daß alle „Wünsche, Triebregungen, Reaktionsweisen, Einstellungen des Kindes" auch im Erwachsenen noch unzerstört vorhanden sind und „unter geeigneten Konstellationen wieder zum Vorschein kommen" 76 können. Derartige „Konstellationen" sind nach Freud vor allem in Tag- und Nachtträumen sowie in Neurosen gegeben, finden wir doch gerade hier das Kind mit all den „Eigentümlichkeiten seiner Denkweisen und seines Affektlebens" 77 wieder. Da Freud den Künstler als einen im Wachen Träumenden und zudem als eine besondere Art Neurotiker betrachtete, mußte er gerade im Künstler viel Kindliches entdecken. So hat er sich denn auch die Auffassung zu eigen gemacht, „daß alle großen Männer etwas Infantiles bewahren müssen"78, und in seinen Aufsätzen zur Literatur häufig auf die Verwandtschaft zwischen dem sich eine Phantasiewelt erschaffenden Dichter und dem spielenden Kind hingewiesen79. Zumal in seinen frühen Schriften, besonders in seinem Buch „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten", betont Freud die enge Verbindung zwischen Kunst und Kindlichkeit, zwischen der Kunst und dem Unbewußten bzw. dem Kindlichen und erwägt, Kunst als Rückkehr zur Kindheit, als Wiederentdedcung der Kindheit und wesentlich als kind-

74

75

76

77 78 79

Hellmut Stoffer hat in seinem Buch „Die Bedeutung der Kindlichkeit in der modernen Welt", München und Basel 1964 ( = Psychologie und Person 6) eine „Ontologie der Kindlichkeit" (S. 11 ff.) postuliert und ausgearbeitet, von der für den Erwachsenen notwendigen „Seinsverfassung der Kindlichkeit" (S. 81) gesprochen und dem Menschen das Kind „als existierendes Korrektiv" (S. 118) empfohlen. Georg Groddeck, Psychoanalytische Schriften zur Literatur und Kunst, ausgewählt und hrsg. von Egenolf Roeder von Diersburg, Wiesbaden 1964, S. 181. Sigmund Freud, Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, hrsg. von Anna Freud u. a., Bd. 8, Frankfurt a. M. 4 1964, S. 412 f. Ebd., S. 320. Ebd., S. 199. So in dem Aufsatz „Der Dichter und das Phantasieren". In: Freud, a . a . O . , Bd. 7, S. 213—223.

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lidies Spiel zu bestimmen, wobei Kindlichkeit noch keinen Vorwurf bedeutet, wie Norman O. Brown, der amerikanische Altphilologe und psychoanalytisch geschulte Kulturkritiker, zu Recht anmerkt 80 . Erst in seinen späteren Schriften hat dann Freud sowohl die Kindheit wie auch Kunst und Spiel fast nur noch, um Riesmans soziologische Kritik anzuführen, „mit wohlwollender Geringschätzung" betrachtet, „mit der freundlichen Herablassung, die sich für einen nüchternen, kultivierten Bürger" 81 seiner Zeit schickte, wobei er die Kindlichkeit der Kunst und des Künstlers der nicht sonderlich ernstzunehmenden Welt des unverbindlichen Spiels, des nicht erstrebenswerten „Lustprinzips" und der kindischen „Regression" zuordnete. Obwohl oder gerade weil Freud und viele seiner Schüler das Phänomen der Regression und damit das der Kindlichkeit des Erwachsenen, der sie zumeist nicht viel Positives abgewinnen zu können scheinen, fast immer unter einem mehr oder weniger negativen Aspekt betrachten, vertreten in jüngerer Zeit einige weniger orthodoxe, dafür um so kritischere Anhänger der Freudschen Lehre die Auffassung, daß die Rückkehr, die Regression zur Kindheit bzw. das Bestreben, die Kindheit wiederzugewinnen, eine durchaus nicht zu unterschätzende Leistung, ein Verdienst, ja eine Tat sein kann, die unter Umständen zu revolutionären Konsequenzen führt. So hat unter anderen Herbert Marcuse betont, daß die Regression „eine progressive Funktion" zu übernehmen in der Lage ist, daß die wiederentdeckte Vergangenheit „kritische Maßstäbe" liefert, „deren Anwendung die Gegenwart verwirft und verbietet", daß die „Orientierung an der Vergangenheit nach einer Orientierung an der Zukunft" strebt und die ,redierche du temps perdu' zum „Vehikel künftiger Befreiung" 82 werden kann. Gerade dem Künstler, diesem Bewußtmacher des Unbewußten, gelingt es durch die „Freisetzung der verdrängten Gedächtnisinhalte", „die verbotenen Bilder und Impulse der Kindheit von der Wahrheit" reden zu lassen, „die die Vernunft ableugnet" 83 . So ist „die Reaktivierung prähistorischer und kindhafter Wünsche und Haltungen" nicht „notwendigerweise schon eine Regression, ein Rückschritt; sie kann durchaus das Gegenteil bedeuten — die Annäherung an ein Glück, das schon immer das verdrängte Versprechen einer besseren Zukunft war" 84 .

80

81

8i

83 84

Norman O. Brown, Zukunft im Zeichen des Eros, Pfullingen 1962, S. 81, 83, 88. David Riesman, Freud und die Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1965, S. 19, 36 ( = edition suhrkamp 110). Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt a. M. 1965, S. 24 f. ( = Bibliothek Suhrkamp 158). Marcuse, a. a. O., S. 229, 24. Marcuse, a. a. O., S. 201.

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Das Ideal der Kindlichkeit

Noch weitgehender sind die Folgerungen die Norman O. Brown aus der Freudschen Theorie der Kindheit zieht. Denn nach der Auffassung Browns stellen die „Tatsachen der menschlichen Kindheit" den „einzigen Hoffnungsgrund der Menschheit" dar, weshalb er auch die Menschheit als „jene Tierart" definiert, „die den ewigen Auftrag hat, die eigene Kindheit wiederzuerlangen" 85 . Die Lösung dieser für die Zukunft des Menschen vornehmsten, weil lebenswichtigsten Aufgabe erwartet Brown hauptsächlich vom Künstler als dem Menschen, der mit dem tiefsten Wesen der Menschheit, ihren Wünschen und Bedürfnissen am vertrautesten ist, weil er die Kindheit nicht verleugnet, sondern ihr treu bleibt. Von hier aus eine Rückverbindung zur Romantik zu ziehen, bietet sich geradezu an, wiewohl noch immer nicht gebührend hervorgehoben worden ist, daß auch und nicht zuletzt der lange als rückwärtsgewandt gelobten und dann als reaktionär gescholtenen Romantik eine durchaus utopische, eschatologische, progressive, auf ein zukünftiges Glück gerichtete Tendenz immanent ist. Audi die Romantik trauert ja in ihren bedeutendsten Gestalten nicht nur um ein verlorenes Glück der Vergangenheit, sondern sie ist zugleich auch erfüllt von einem neuen, unmittelbar bevorstehenden Glück in naher Zukunft. Romantik sehnt sich keineswegs nur nach rückwärts, sondern ebensosehr nach vorwärts, sie ist wesentlich „Zukunftssehnsucht", „ein Zeitalter der Hoffnung und der sehnsüchtigen Erwartung" 86 . Auch die Romantik orientiert sich an der Vergangenheit, nicht zuletzt am Glück und der Erfüllung der Kindheit, um die unbefriedigende Gegenwart zu überwinden und Maßstäbe für die Realisierung einer besseren Welt in einer besseren, den Glückserwartungen und Wünschen der Kindheit entsprechenden Zukunft zu entwickeln und zu setzen87. Auch, ja gerade die Romantik erscheint nun wieder eher progressiv, „so bei der Erkundung der 85

88

87

Brown, a . a . O . , S. 110. — Das Budi Browns ist zuerst 1959 in Amerika unter dem Titel „Life against Death" erschienen. Es scheint in den U S A eine bis in die jüngste Zeit hineinreichende, nicht zu unterschätzende Wirkung auf die ,neue' Generation auszuüben (vgl. Acid, a . a . O . , S. 18, 26), nicht zuletzt •wohl deshalb, weil Brown in seinem interessanten nachfreudianischen Entwurf eine Art Theologie und Utopie der Kindheit und Kindlichkeit vertritt, die dem Streben eines Teils der amerikanischen und europäischen Jugend nach Kindlichkeit und neuen Heilslehren entgegenkommt bzw. die theoretische Grundlage gibt. Georg Mehlis, Die deutsche Romantik, Mündien 1922, S. 72, 181 ( = Bibliothek der Weltgeschichte). Zur romantischen Dialektik von Vergangenheit und Zukunft, „Zukunft als Vergangenheit, Vergangenheit als Zukunft", wie überhaupt zur romantischen Grundstruktur der Dialektik vgl. den aufschlußreichen Aufsatz von Arthur Henkel, Was ist eigentlidi romantisch? In: Festschrift für Richard Alewyn, hrsg. von Herbert Singer und Benno von Wiese, Köln/Graz 1967, S. 292—308, vor allem S. 302 f.

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seelischen Welt und ihrer Deformationen, so bei der Deskription tabuierter Sehnsüchte und Triebe", weshalb auch das Wort von der romantischen Sehnsucht „völlig neu bestimmt werden" 88 muß. Solche und andere Übereinstimmungen zwischen Psychoanalyse und Romantik, wie zum Beispiel auch das beiden Geistesrichtungen gemeinsame Interesse am Unbewußten, am Traum, am Märchen und Mythos, machen es verständlich, daß viele, vor allem literarisch interessierte Psychoanalytiker und einige psychoanalytisch orientierte Geisteswissenschaftler immer wieder auf Gedanken und Auffassungen der Romantik zurückgreifen, durch sie bestätigen lassen, ja die Romantik als eine Art Vorläuferin der psychoanalytischen Lehre betrachten, in der sie, wie Brown und Trilling 89 , die Vollendung, den Kulminationspunkt der romantischen Bewegung und Literatur sehen. Doch nicht etwa nur auf Romantiker, sondern überhaupt auf Dichter und Philosophen aller Zeiten berufen sich Psychoanalytiker bis heute immer wieder, weil sie davon ausgehen, daß die Kunst wie die Psychoanalyse, jede auf ihre Weise, das Unbewußte bewußt zu machen, das Kindliche wiederzuentdecken und das Verdrängte wiederkehren zu lassen versuchen. So hat es Freud auch abgelehnt, als „Entdecker des Unbewußten" gefeiert zu werden, mit dem Hinweis, die Dichter und Philosophen hätten vor ihm das Unbewußte entdeckt; er habe nur die wissenschaftliche Methode entdeckt, mit der es erforscht werden könne 90 . So wie sich Freud und die Psychoanalyse von den Schriftstellern haben beeinflussen, anregen und bestätigen lassen, so hat umgekehrt auch die Psychoanalyse seit ihren Anfängen eine große, noch immer andauernde Wirkung auf die Literatur und auch die Literaturwissenschaft ausgeübt. Aus der inzwischen unübersehbar gewordenen Zahl derjenigen Schriftsteller, die mehr oder weniger deutlich den Einfluß Freuds und seiner Schule verraten, seien hier stellvertretend für viele andere nur Rilke, Thomas Mann, André Breton, D. H. Lawrence und James Joyce genannt. Was den Einfluß der Psychoanalyse auf die Literaturwissenschaft angeht, so läßt er sich vor allem in den Bereichen der Biographik, der literarischen Kritik und Interpretation feststellen. Auch die Wahl bestimmter Gegenstände, Stoffe, Themen, Bilder und Motive, die Eigenarten und Bedingungen des schöpferischen Prozesses sowie die Zusammenhänge zwischen den Gestalten und Charakteren, die ein Dichter darstellt, und den „Gefühlsbindungen und schmerzlichen Erlebnissen seiner frühen Jugend" 91 vermag die Psychoanalyse besser verstehbar 88

89

90 91

Helmut Schanze (Hrsg.), Die andere Romantik. Eine Dokumentation, Frankfurt a. M. 1967, S. 16 ( = Sammlung insel 29). Vgl. Brown, a.a.O., S. 111 f.; Lionel Trilling, Psychoanalyse und Literatur. In: Der Monat 3, 1951, Heft 35, S. 477—489, hier: S. 477. Vgl. Brown, a. a. O., S. 84. Freud, a. a. O., Bd. 16, S. 276.

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und einsehbar zu machen. Hierbei muß man sidi jedoch im klaren sein, was die Psychoanalyse nicht zu leisten vermag. Sie kann und will nicht, wie Freud selbst betont hat, „das Genie des Dichters erklären" 92 . Daher versteht sich die Psychoanalyse auch nicht als eine andere Form kausal-deterministischer Erklärungsversuche, die den Menschen einseitig und ausschließlich als Produkt bestimmter Faktoren, Voraussetzungen und Bedingungen zu begreifen versuchen. Vielmehr gesteht Freud dem Menschen in seiner Entwicklung und seinem Verhalten „einen Grad von Freiheit" zu, „der psychoanalytisch nicht mehr aufzulösen ist" 93 . Außerdem betrachtet die psychoanalytische Biographik, um ein weiteres Vorurteil gegen sie abzubauen, das Genie, den Künstler nicht als einen pathologischen Ausnahmemenschen, da sie die Neurose als eine ubiquitäre Erscheinung erkannt hat, womit die Unterscheidung zwischen normal und krankhaft hinfällig wird. So vorsichtig und klug sich Freud zumeist gegen alle möglichen Einwände und Vorwürfe selbst abgesichert hat, so scheint er doch die Gefahr nicht erkannt zu haben, die darin liegt, daß in allen Psychoanalysen post festum die „psychoanalytische Situation", d. h. die Kooperation zwischen Analytiker und Analysand nicht gegeben ist, weshalb denn auch die Analyse nidit immer vor Irrtümern und Spekulationen gefeit ist. Voraussetzung einer gleichwohl zu vertretenden Psychoanalyse post festum ist ein hoher Grad an Zuverlässigkeit, Reichhaltigkeit und Authentizität des zu untersuchenden historischen Materials, das genügend Daten zur Eigenart und Entwicklung der darzustellenden Person enthalten sollte. Eine nicht geringe Gefahr psychoanalytischer Literaturbetrachtung besteht schließlich in der oft unhistorischen Einstellung der Psychoanalyse, die, indem sie einen ahistorischen Wiederholungsmechanismus und Infantilismus-Komplex voraussetzt, den Einfluß der politischen, sozialen, religiösen, historischen und ökonomischen Umweltfaktoren zumeist unberücksichtigt läßt 94 . Trotz der angedeuteten Gefahren hat man sidi in der französischen und der angelsächsischen und hier vor allem in der amerikanischen Literaturkritik die Ergebnisse, Erkenntnisse und Methoden der Psychoanalyse zu Recht bis heute immer wieder zunutze gemacht und zwar viel häufiger, erfolgreicher, subtiler und unvoreingenommener als in der deutschen Literaturwissenschaft 95 , die großenteils noch immer davor zurückschreckt, sich der >* Ebd. M Freud, a. a. O., Bd. 8, S. 209. *4 Zu dieser Kritik am Freudianismus vgl. Jost Hermand, Synthetisches Interpretieren. Zur Methodik der Literaturwissenschaft, München 1968, S. 90 ff. ( = Sammlung dialog 27). M Lediglich der Schweizer Germanist Walter Muschg scheint sich bisher intensiver und aufgeschlossener mit der Psychoanalyse beschäftigt zu haben; vgl. seine Züricher Antrittsvorlesung über „Psychoanalyse und Literaturwissenschaft",

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Psychoanalyse als einer Hilfswissenschaft zum besseren Verständnis von Literatur, ihren Produzenten, Konsumenten, Gestalten, Bedingungen, Impulsen und Problemen zu bedienen. N u r so erklärt es sich wohl auch, daß man bei einem schon allein wegen seiner Kindheit und Kindlichkeit so ergiebigen Schriftsteller wie Brentano noch immer auf die Psychoanalyse fast gänzlich verzichten zu können glaubt. Lediglich August Langen hat darauf hingewiesen, daß „vieles bei Brentano psychoanalytisch deutbar" 96 sei. So verständlich, angebracht Berlin 1930, jetzt wieder abgedruckt in: Methoden der Literaturwissenschaft. Eine Dokumentation, hrsg. von Viktor 2mega2, Frankfurt a. M. 1971, S. 126—149 ( = Schwerpunkte Germanistik 1). Noch 1965 konnte Muschg mit einigem Recht die vorwurfsvoll-bedauernde, freilich etwas zu apodiktische Feststellung machen, die deutsche Germanistik habe im Unterschied zur englischen von „Errungenschaften des modernen Denkens wie Psychoanalyse, Phänomenologie und Soziologie" bisher keine Notiz genommen; vgl. W. Muschg, Germanistik? In memoriam Eliza M. Butler. In: Euphorion 59, 1965, S. 18—45, hier: S. 20. Vgl. jetzt auch die Arbeit des Schweizer Literaturwissenschaftlers Peter von Matt, Literaturwissenschaft und Psychoanalyse. Eine Einführung, Freiburg 1972 ( = rombach hochschul paperback 44) sowie die nicht zufällig in den USA auf dem 4. Amherster Kolloquium von in Amerika lehrenden Germanisten gehaltenen Vorträge zum Thema: Psychologie in der Literaturwissenschaft, hrsg. von Wolfgang Paulsen, Heidelberg 1971. Zu den Bemühungen französischer Literaturwissenschaftler sowohl die Psychoanalyse wie auch die Soziologie für die Deutung von Literatur fruchtbar zu machen vgl. Heft 49/50 der Zeitschrift „alternative", Oktober 1966, S. 2—35. Sonst sind es vorwiegend Psychoanalytiker, Psychotherapeuten bzw. Psychiater, die psychoanalytische Methoden auf Gestalten und Werke der Literatur angewendet haben, so neuerdings der Neurologe Peter Dettmering, Dichtung und Psychoanalyse. Thomas Mann — Rainer Maria Rilke — Richard Wagner, München 1969 ( = Sammlung dialog 33). Ein Verzeichnis der internationalen psychoanalytisdi-biographischen Publikationen von 1907 bis 1960 findet sich in dem Sammelband: Neurose und Genialität. Psychoanalytische Biographien, hrsg. und eingeleitet von Johannes Cremerius, Frankfurt a. M. 1971, S. 275—289. Einen neuen Sammelband mit Aufsätzen zum Thema „Schriftsteller und Psychoanalyse" hat Alexander Mitscherlich herausgegeben: Psycho-Pathographien I, Frankfurt a. M. 1972 ( = Literatur der Psychoanalyse). " August Langen, Deutsche Sprachgeschichte vom Barock bis zur Gegenwart. In: Deutsche Philologie im Aufriss, Bd. I, Berlin s 1957, Sp. 1241. — Auf psychoanalytischer Seite hat Otto Rank bereits 1912 gezeigt, daß Brentano ein lohnendes Objekt psychoanalytischer Literaturbetrachtung sein kann. Vgl. die noch immer lesenswerten, wenngleich korrektur- und ergänzungsbedürftigen Seiten 628—631 seines Buches: Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage. Grundzüge eine Psychologie des dichterischen Schaffens, Wien und Leipzig 1912. — Wir stimmen Werner Hoffmann zu, daß „die psychologischen Formeln zu vermeiden" (S. 9) sind, wenn er darunter die pseudowissenschaftlichen Leerformeln gängiger Privatpsychologien, nicht aber, wenn er darunter die Terminologie einer empirisch und methodisch begründeten Psychologie wie der Psychoanalyse versteht.

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und begründet auf der einen Seite eine Reihe von Einwänden und Vorbehalten gegenüber einer Nur-Psychoanalyse von Kunstwerken und Künstlern sind, so unverständlich ist auf der anderen Seite die allzu große Zurückhaltung, ja Enthaltsamkeit in der Anwendung psychoanalytischer Kategorien auf Brentano und sein Werk. Das Versäumnis ist um so unbegreiflicher, als Brentano selbst in mancher Hinsicht psychoanalytisch' gedacht hat. Vor allem aber war die Kindheit mit ihren Konflikten, Erfahrungen und Sensationen in Brentano sein ganzes Leben lang so lebendig, daß man vieles, nicht nur in seinem Leben, sondern vor allem audi in seiner literarischen Produktion, besser aus seiner spezifischen Kindheitssituation und -problematik verstehen kann. Im Verlauf der folgenden drei, vorwiegend biographisch orientierten Kapitel soll aber zunächst (im 2. Kapitel) die Bedeutung der Kindlichkeit für Brentano, d. h. die von ihm als Lebens- und Kunstideal umworbene, in vielen Menschen und Kunstwerken gesuchte Kindlichkeit erläutert werden, wobei es zwei Begriffe von Kindlichkeit zu unterscheiden gilt. Im 3. Kapitel wird nicht die von Brentano propagierte und gelobte, sondern die von ihm tatsächlich im Leben praktizierte, mitunter freilich auch gespielte Kindlichkeit analysiert und zwar auch im Hinblick auf eine mögliche Intensivierung und Reaktivierung der Kindlichkeit im Laufe des Reversionsprozesses. Das 4. Kapitel befaßt sich mit Brentanos konflikt- und entbehrungsreicher Kindheit, vor allem mit seinem Verhältnis zu Mutter und Vater und den daraus resultierenden Auswirkungen auf Brentanos späteres Leben. Das 5. Kapitel wendet sich dem Werk zu, welches Brentano in großen Partien als einen fast monothematischen Dichter der Kindheit zeigt, wobei vor allem die „erfundenen" Kindheiten und die Bilder des „glücklichen Raumes" untersucht werden sollen. Im 6. Kapitel wird Brentano als Wiederentdecker der Kindheit vorgestellt, seine Kunst als ein Versuch der Wiedergewinnung der Kindheit und damit als Rückkehr zum kindlichen „Lustprinzip" verstanden. In den folgenden poetologischen Kapiteln wird zunächst (im 7. Kapitel) eine Phänomenologie des kindlichen Künstlers Brentano, d. h. eine Beschreibung seiner kindlich-künstlerischen Fähigkeiten versucht. Im 8. und 9. Kapitel wird dann an Hand einschlägiger Arbeiten und Dokumentationen über Sprechen, Denken und Humor des Kindes Brentanos Sprachkindlichkeit analysiert, d. h. eine Phänomenologie seines kindlichen Dichtens unternommen. Das Schlußkapitel diskutiert aufgrund der gewonnenen Ergebnisse das Problem der Kontinuität und Ambiguität der Kindlichkeit und zwar hauptsächlich unter dem Aspekt einer Entwicklung von Brentanos Welt-, Menschen- und Kunstanschauung. Dabei soll erörtert werden, inwieweit mit seiner religiösen Reversion eine Verdächtigung der Kindlichkeit und der Kunst einhergeht.

II. DIE BEDEUTUNG DER KINDLICHKEIT FÜR BRENTANO Gott lasse dich immer weise, immer ein Kind zugleich sein. Brentano, Das Märchen von Gockel, Hinkel und Gackeleia. Pour deviner l'âme d'un poëte, ou du moins sa principale préoccupation, cherchons dans ses oeuvres quel est le mot ou quels sont les mots qui s'y représentent avec le plus de fréquence. Le mot traduira l'obsession1. Diese Sätze Baudelaires enthalten nach Hugo Friedrich „ein ausgezeichnetes Prinzip der Interpretation" 10 . Zweifellos gehören die Worte ,Kind', ,kindlich' und ,Kindlichkeit' schon wegen ihres häufigen Vorkommens zu den HauptWörtern im Werk Brentanos. Betrachtet man außer der Häufigkeit, mit der sie auftreten, auch ihren Stellen-, Aussage- und Intensitätswert, so nimmt dieses Wortfeld selbst unter den Schlüsselwörtern Brentanos noch eine hervorragende Stellung ein. Während der Verwendungsbereich von Kardinalworten wie ,Linde', ,Wüste', ,Stern', .Abgrund', ,Tiefe' bei Brentano fast ausschließlich auf die Lyrik beschränkt ist, begegnen die Lieblingsworte ,Kind' und ,kindlich' in allen Gattungen, vor allem auch in den Briefen, die zweifellos „zum Kern des dichterischen Werks gehören"2. Darüber hinaus sind die Worte ,Kind' und ,kindlich' noch dadurch vor den meisten anderen Schlüsselwörtern ausgezeichnet, daß sie nicht nur während einer bestimmten Schaffenszeit in Brentanos Werk dominieren, sondern seit der Godwi-Zeit um 1800 bis zu seinem Lebensende in ziemlich unveränderter Häufigkeit verwendet werden.

1

Baudelaire, Oeuvres, a. a. O., p. 1111 ( = Bibliothèque de la Pléiade 1).

10

Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Gegenwart, Hamburg 1956, S. 33 ( = rde 25).

2

So H . M. Enzensberger im Nachwort seiner Ausgabe: Clemens Brentano. Gedichte, Erzählungen, Briefe, Frankfurt a. M. 1958, S. 204 ( = F i s d i e r Bücherei 231). M a x Preitz (Hrsg.), Der Briefwechsel zwischen Friedrich Sdilegel und Novalis, Darmstadt 1956, S. 12, nennt die Briefe Brentanos „Dreivierteldiditungen", und Josef Körner, Marginalien. Kritische Beiträge zur geistesgeschichtlichen Forschung, 1. Folge, Frankfurt a. M. 1950, S. 16, spricht von „Briefdiehtungen".

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Die Bedeutung der Kindlichkeit für Brentano

Was die Anwendungsweise der Begriffe ,Kind' und kindlich' betrifft, so fällt auf, daß sie Brentano in den meisten Fällen zur Charakterisierung, Beurteilung, Würdigung, ja zumeist Lobpreisung von erwachsenen Menschen heranzieht, wobei sie ihm zugleich zur Bezeichnung eines seiner höchsten Lebens- und Menschenideale überhaupt dienen. Seiner Schwester Bettina empfiehlt er, unbedingt Ritter, den romantischen Physiker, kennenzulernen. Es könne sich ihr nichts Schöneres enthüllen von Menschensinn als dies kindliche, bis ins Antike hinaufragende Gemüt3. Seiner Schwester Gunda wünscht er, sie sähe Savigny und Schwarz, einen Schwiegersohn von JungStilling, nebeneinander, diese beiden kindischen Seelen, der eine die Unschuld und der andre ein Kind*. Auch in Goethe spürt Brentano das Kindliche auf. Im Gespräch mit Bettina sei er wie ein Kind5 gewesen. An Ludwig Emil Grimm, dem Maler und jüngeren Bruder von Jacob und Wilhelm, findet Brentano die Äußerungen von Erinnerung und kindlicher Liebe... sehr unschuldig und rührend, wie er überhaupt dessen ganzes Wesen als sehr still und kindlich9 lobt. Sonst vergibt Brentano das Lob der Kindlichkeit vor allem an den romantischen Naturphilosophen Gotthilf Heinrich Schubert, der von Brentano als der kindlichste Mensch7 apostrophiert wird, sowie an den herrlichen, kindlichen, ernsten, wunder geschickten Landschaftsmaler und Architecten8 Schinkel. Außerdem erscheinen ihm dann besonders noch Gustav von Below, Bostel, Gneisenau, Guido Görres, Karl von Nostiz, Runge, Steinle, Christian Graf von Stolberg und Windischmann

» Oehlkel, S.91. * UL, S. 221, 219. — Wie aus dem Kontext dieser und anderer Briefstellen hervorgeht, hat .kindisch' hier wie überhaupt zumeist bei Brentano und seinen romantischen Zeitgenossen noch nicht oder nicht mehr die pejorative Bedeutung des Albernen, Abgeschmackten, Lächerlichen, Forciert-Kindlichen, die dem Wort heute durchweg anhaftet. Vielmehr hat .kindisch' im Sprachgebrauch der Romantiker oft die positive Bedeutung des Begriffs .kindlich' und ist daher nahezu identisch und austauschbar mit ihm. Wenn den Romantikern von ihren Gegnern gelegentlich der Vorwurf gemacht wird, daß bei ihnen das Kindliche

und

Kindische

in absoluter

Identität

erscheine (vgl. die Reihe: Epochen

der deutschen Lyrik, Bd. 7, Gedichte 1800—1830, hrsg. von Jost Schillemeit, München 1970, S. 173), so zeigt das allerdings, daß man damals außerhalb der romantischen Bewegung durchaus jenen uns heute geläufigen Unterschied zwischen den beiden Begriffen machte; ein Hinweis auch darauf, daß die Romantiker vielleicht wie am Begriff ,romantisch', so auch am Begriff .kindisch' gerade die pejorative Nuance reizte, ein Schimpfwort ins Positiv-Lobende zu wenden und auf sich selbst zu beziehen. « Seebaß I, S. 342. ' Seebaß I, S. 371. Vgl. auch Bettinas Äußerungen über L . E . G r i m m s Kindlichkeit; Oehlke I I I , S. 415, 447. 7 Seebaß II, S. 108; vgl. auch Seebaß II, S. 26. 8 Zimmer, S. 193; vgl. audi Frühwald, S. 115.

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als kindlich, wie ein Kind bzw. wegen ihrer Kindlichkeit als lobens- und liebenswert 9 . Wenn Brentano so häufig wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen das Lob der Kindlidikeit erteilt, so tut er das nicht nur aus reiner, ungetrübter, naiver Freude an kindlichen, ihm wesensverwandten Menschen, sondern oft auch in einem elegischen, ,sentimentalischen' Unterton, der deutlich macht, daß er selbst die von ihm gelobte Eigenschaft weniger besitzt als entbehrt. Darum zieht es ihn, den nur zu oft ,Zerrissenen', auch immer wieder in die Nähe eines unverstimmbaren immer harmonischen Menschen, der ernst und kindlich ist10. Ein solch kindlich-harmonischer Mensch war Brentano sdion früh in dem Juristen Savigny begegnet, dem der labile Dichter denn auch bereits 1801 nach Marburg und später, 1808, nach Landshut folgte. Audi in Berlin lebte Brentano lange Jahre in unmittelbarer Nähe seines Jugendfreundes, den er noch 1833 lobt: Du bist vielleicht der einzige nördliche Gelehrte ohne Enthusiasmus und auch ohne Pedanterie und doch kindlich und weise, mit dem Sailer so vertraut war11. Nicht zufällig bringt Brentano hier Savigny mit Sailer in Zusammenhang, dem 1832 gestorbenen Regensburger Bischof, den der auf Kindlichkeit erpidite Revertit wiederholt wegen dessen grandioser Kindlichkeit gepriesen hat 12 . Was Brentano an Sailer, den er seit 1808 kannte, so schätzte und bewunderte, war aber nicht nur dessen ,naive' Kindlichkeit allein. Mehr noch war es wohl die Verbindung von Kindlidikeit und greisenhafter Gelassenheit, von Kindlidikeit und Weisheit, die ihn an dem Kirchenmann so beeindruckte. In Sailer sah er wahrscheinlich das alte puer-senex-Ideal vorbildlich verwirklicht, das er damals ja auch auf Savigny anzuwenden scheint, wenn er ihn als zugleich kindlich und weise lobt. Mit dieser Wendung, die — wie wir gleich sehen werden — schon beim frühen Brentano öfter auftaucht, greift er auf den Topos ,puer senex' zurück, der „aus der Seelenlage der Spätantike erwuchs", im Mittelalter vor allem als „hagiographisches Klischee" zu finden ist und „als Lobschema für profanen wie für kirchlichen Gebrauch bis in das 17. Jahrhundert lebendig" 13 bleibt. Daß der puer senex dann gerade in der Romantik, einer sogenannten Spätzeit also, wieder zu neuem Leben erweckt, d. h. wieder zu einem Lebensideal erhoben wird, zeugt für die Richtigkeit der Annahme von »Vgl. Sdioeps, S. 240 (Below); UL, S. 496 (Bostel); Seebaß II, S.224, 226 (Gneisenau); Görres, Briefe III, S.224 (Görres); GS VIII, S. 176 (Nostiz); W II, S. 1040 (Runge); Seebaß II, S. 373 (Steinle); W I, S. 320 (Stolberg); GS IX, S. 336 (Windischmann). 10 UL, S. 378. 11 UL, S. 509. 12 Vgl. GS IX, S. 187, 219. 13 Ernst Robert Curaus, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern und München 3 1961, S. 108, 110.

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Curtius, demzufolge nur späte Zeiten ein Menschenideal entwickeln, „in dem die Polarität von Jugend und Alter zu einem Ausgleich strebt" 1 4 . Die lange Lebensdauer dieses panegyrischen Lobschemas erklärt sich nach Curtius nicht nur daraus, daß es wie alle „Kontrastharmonien" eine Pathosformel ist und als solche „eine besonders starke Vitalität" 1 5 besitzt, sondern auch daraus, daß ihm wahrscheinlich ein Bild des kollektiven Unbewußten, ein .Archetypus' im Sinne C. G. Jungs zugrunde liegt 16 . All dies ist auch bei Brentano der puer senex: Archetyp, Lebensideal und manchmal Topos, d. h. rhetorische Formel ohne Erlebnisgehalt. Kaum mehr als ein Topos scheint es zu sein, wenn es von Karl, einer Gestalt aus dem 1800 entstandenen Fragment Der Sänger, heißt: Er tritt wie ein Kind vor mich und geht wie [ein] Greis17. Wenn dagegen von Godwi gesagt wird: Der junge Mensch ist aber hei aller seiner Leichtfertigkeit äußerst gut, und oft, wenn er neben mir geht, leicht wie ein Schmetterling, spricht aus ihm der Ernst und die Erfahrung eines Greises18, dann bezeugt diese Beobachtung bereits eine psychologisch vertiefte Sidit, die sich nicht mit überkommenen Formeln begnügt. Eindeutig als Lebensideal begreift und fordert dann Brentano in einem Brief aus dem Jahre 1802 ein Kind-Sein, welchem durchaus Erfahrung, die reine Erfahrung, eignen müsse: Das heißt in jeder Minute des Lebens ein Kind zu sein, welches dennoch etwas ganz andres ist als in jeder Minute ein unerfahrenes Wesen19. D a Brentano in der Godwi-SttWt Erfahrung vornehmlich als Eigenschaft des Greises auffaßt, ist es wahrscheinlich, daß er unter einem erfahrenen Kind eine Art puer senex versteht. Stark am mittelalterlichen Mönchsideal, das sich schon früh den Topos puer senex anverwandelt hatte 2 0 , ist das christliche Menschenideal orientiert, welches der fahrende Schüler in der Urchronika beschreibt: Nun aber giebt es fromme Menschen, welche in dem Leben wie einsame Waldblumen schweigend blühen, die aus innerm ruhigem Treiben ihr Haupt bescheiden zum Himmel erheben und in sich und um sich Gott in tiefer Einfachheit verehren; sie sind wie Bilder der ewigen Ruhe und des heiligen Friedens in das stürmende Leben gestellt, dessen wunderbarer Wechsel sie nicht berührt, sie sind gleichsam betrachtungsvolle Greise mit kindischen jugendlichen Locken und sehen nur Gott in allem und fürchten sich nicht vor ihm, er ist ihnen ein gütiger Vater, und ihr Gebet ist zu Gott, wie die Rede u 15 16

17 18 19 20

Ebd., S. 108. Ebd., S. 209. Vgl. Ernst Robert Curtius, Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern und München 1960, S. 13. W II, S. 500. W II, S. 37. Liebesleben, S. 43. Vgl. Curtius, Europäische Literatur, S. 110 f.

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der kleinen Kinder zu ihren lieben Eltern, stammelnde unschuldige Freundlichkeit2I. Solche mit greisenhafter Ruhe und Ausgeglichenheit gepaarte Kindlichkeit mußte für Brentano, vorausgesetzt, daß er sie damals schon anstrebte, unerreichbar bleiben; sie blieb auch später Wunschziel. Trotzdem hat er sich, wenn auch ohne die christliche Ausprägung des puer-senex-Ideals für sich in Anspruch nehmen zu können, in den Jahren 1813 und 1816 als einen puer senex bezeichnet. Ich kann nicht anders neben Menschen stehn, als wie ein Kind und ein Geist zugleich, gesteht er Rahel Robert und Luise Hensel: denn ich bin ein Kind und ein Greis2*. Daß diese Selbstcharakteristik Brentanos gar nicht so anmaßend ist, wie man meinen sollte, macht eine Beobachtung Varnhagens deutlich, der Brentano schon 1811 als einen Menschen geschildert hat, der Jugend und Alter, Tollheit und Weisheit durcheinander im Sturme gerettet hat23. Nicht daß aus diesem zwisdien Bewunderung und Verachtung schwankenden Urteil ungeschmälertes Lob spräche. Aber es zeigt doch, daß Brentano etwas Kindgreisenhaftes an sich hatte; zeigt auch, daß das puer-senex-Ideal von Brentano im Leben wohl nur auf eine seltsam verzerrte, gezwungene und verkrampfte Weise verkörpert wurde. Darüber scheint sich auch Brentano selbst nicht im Unklaren gewesen zu sein. Wenn er im Radlaufmärchen den Kohlenjockel als ein weinerliches, altes Kind und den Cisio Janus als einen Mann — nicht jung und nicht alt — charakterisiert, der alle Tage anders ist und doch immer einerlei2*, dann kann man in diesen Gestalten durchaus Karikaturen seiner selbst sehen, zumal er sich in einigen Briefen ganz ähnlich geschildert hat 25 . Aber das unfreiwillige Abgleiten in kindische Greisenhaftigkeit konnte ihn nicht entmutigen, immer wieder die Verbindung von Kindlichkeit und Weisheit als höchstes Ideal zu preisen und zu fordern. Noch im großen Gockelmärchen von 1838 läßt er Gockel zu Gackeleia sagen: Gott lasse dich immer weise, immer ein Kind zugleich sein2*. In Anbetracht der vielen Belege für das puer-senex-Ideal sollte man immer nachprüfen, ob das Lob der Kindlichkeit bei Brentano nicht gleichzeitig und darüber hinaus ein Lob der Kindgreisenhaftigkeit, einer wissenden, zweiten Kindlichkeit impliziert, was immer dann der Fall ist, wenn außer der Kindlichkeit audi die Weisheit, Erfahrung und der Ernst der 21 22 23 24

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2

W II, S. 553 f. Seebaß II, S. 92, 193. Brief Varnhagens von Ense an Rahel vom 24.10.1811; Rahel II, S. 175. W III, S. 108, 147.

Vgl. UL, S. 136: Es ist täglich anders in meiner Welt, und könnte ich diesem Wechsel folgen, so würde ich in einem schönen, aber inkonsequenten Einklänge leben. Aber ich bin leider zu sehr immer derselbe.

« W III, S. 769.

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gepriesenen Person oder Gestalt hervorgehoben wird. Mag Brentano im Bild des puer senex das höchste Menschenideal vorgeschwebt haben, so hat er doch schon früh auch jene einfache, naive Kindlichkeit als ein hohes Lebensideal betrachtet, welche die typische Seinsverfassung des Kindes ausmacht, die sich — unter bestimmten Umständen und Bedingungen — jedoch auch der Erwachsene bewahren bzw. wiedergewinnen kann. Diese Art von Kindlichkeit hat Brentano aus naheliegenden Gründen nicht zuletzt im Kinde selbst gesucht und gefunden, wofür schon der Umstand spricht, daß er im Laufe seines Lebens immer wieder die Gesellschaft und den Umgang der Kinder suchte. Dabei war Brentano sein Leben lang ein wirklicher, wenn auch keineswegs uneigennütziger, naiver, sondern oft genug sentimentalischer Kinderfreund, der wie Dostojewskis Fürst Myschkin die heilende, „versöhnende, erlösende Kraft des Kindes" 27 häufig erfahren und gepriesen hat. Seine Kinderfreundlichkeit manifestiert sich darin, daß er gern mit Kindern gespielt, herumgetollt und allerlei Unsinn getrieben28, daß er den Kindern Geschenke gemacht, Feste gegeben29, Geschichten und Märchen erzählt und ihnen dabei durch seine wunderkomischen Einfälle und originellen Manieren30 viel Freude bereitet hat. Audi suchte er gern und häufig Lieblingsschau- und Lieblingsspielplätze der Kinder auf, wie z. B. Messen und Märkte, den miethgarten in Darmstadt, die Schützeninsel bei Prag und den Methgarten in München31, alles kleine Kinderparadiese, die er am liebsten in der Gesellschaft von Kindern besuchte. So durfte und konnte Brentano zu Recht von seiner eignen Kinderliebe82 sprechen, die ihn, wie er bekannte, vor allem zur Sammlung der Kinderlieder für den Anhang von Des Knaben Wunderhorn veranlaßt hat. Bei der Fülle und Eindeutigkeit dieser Lebensdokumente, die allesamt Brentanos große Kinderliebe bezeugen, wie J. Adam und R. Ewald die Auffassung zu vertreten, Brentano habe das Kindliche „nur als charakteristisches Element und nicht im Kinde selbst" gesucht, zu dem er „keine Beziehung" gehabt habe 33 , ist eine unhaltbare Behauptung. Denn was sonst könnte Brentano 27

Max Preitz, Clemens Brentanos Freudenhaus-Romanze, Frankfurt a. M. 1922, S.