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German Pages 282 [286] Year 2018
Laienheilwesen und Heilpraktikertum in Cisleithanien, Posen, Elsass-Lothringen und Luxemburg (ca. 1850 – ca. 2000) von Florian Mildenberger MedGG-Beiheft 69 Franz Steiner Verlag Stuttgart
Laienheilwesen und Heilpraktikertum in Cisleithanien, Posen, Elsass-Lothringen und Luxemburg (ca. 1850 – ca. 2000)
Medizin, Gesellschaft und Geschichte Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung herausgegeben von Robert Jütte Beiheft 69
Laienheilwesen und Heilpraktikertum in Cisleithanien, Posen, Elsass-Lothringen und Luxemburg (ca. 1850 – ca. 2000) von Florian Mildenberger
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2018
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Robert Bosch Stiftung GmbH
Coverabbildung: Kneippkur auf dem Land um 1904. Postkarte. Privatbesitz des Autors.
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Inhaltsverzeichnis Vorwort und Dank ..........................................................................................
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Einleitung .........................................................................................................
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Kornblume und Wasserkur – Die Geschichte der alternativen Heilkulturen in Böhmen ................................................................................ Heilkundige Bauern und unsichere Ärzte (1820–1880) ......................... Entschlossene Laien, planlose Bürokraten, verbitterte Ärzte (1880–1902) .................................................................... Der Kampf um die Deutungshoheit (1902–1918) ................................... Neuer Staat – alter Kampf (1918–1933) ................................................... Auf dem Weg ins »Großdeutsche Reich« (1933–1938) .......................... Heilpraktikerschaft im Reichsgau Sudetenland (1938/39–1945) .......... Die Situation im »Reichsprotektorat Böhmen und Mähren« (1939–1945) ........................................................................ Nachkrieg ....................................................................................................
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Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik (ca. 1850 – ca. 2000) .......................................................... 68 Zwischen bäuerlicher Tradition, Lebensreform und Industrialisierung (1850–1918) .................................................................. 68 Laienheilkunde im Zwergstaat (1918–1938) ............................................ 93 »Großdeutsche« Heilpraktik im Nationalsozialismus (1938–1945) ...... 110 Verbote und Triumphe (1945 bis in die Gegenwart) .............................. 129 Emanzipation im Hinterland: Posen ............................................................. 147 Deutsches »Reichsland«, französische Provinz, nationalsozialistischer Mustergau: Elsass-Lothringen ................................. 167 Zum Vergleich: Die Situation in Luxemburg ............................................... 185 Zusammenfassung und Schlusswort .............................................................. 194 Abkürzungsverzeichnis ................................................................................... 199 Abbildungen .................................................................................................... 200 Bibliographie ................................................................................................... 208 Register ............................................................................................................ 279
Vorwort und Dank Forschungsprojekte, insbesondere wenn sie drittmittelgefördert sind, folgen einem vorher genau festgelegten Plan. Stellt sich im Laufe der Durchführung heraus, dass der Plan realitätsfern war, oder aber der forschende Gelehrte fühlt sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht in der Lage, das Vorhaben in dem gewünschten Maße durchzuführen, so hat das projektvergebende Institut Geld verbrannt und mindestens ein Akteur seinen Ruf ruiniert. Nicht so jedoch am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (IGM)! Ursprünglich sollte ich ab Frühjahr 2016 die Entwicklung vom Laienheilkundigen hin zum Heilpraktiker in Deutschland untersuchen. Das Projektziel war klar formuliert und das entsprechende Exposé von mir selbst verfasst worden: Basierend auf einer breiten Literatur- und Quellenauswertung würde ich nachvollziehen, wie sich innerhalb kurzer Zeit in den 1930er Jahren die Heilpraktiker aus der Kultur der Lebensreformbewegungen herausschälten. Doch alsbald kamen mir erhebliche Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Vorhabens. War es nicht Unsinn, sich auf jene Jahre zu kaprizieren, in denen ein freier Diskurs nicht mehr stattfand und der Weg hin zum Heilpraktiker vor allem politisch vorgezeichnet war? Würde es nicht mehr Sinn ergeben, die Entwicklung der Laienheilkundigen zu untersuchen, bevor sie in ein festgelegtes Schema gezwängt wurden? Ja – und nein. Denn im Grunde waren die Heilpraktiker in Deutschland bereits vor ihrer Legalisierung – und sogar bevor sie sich so nannten1 – in ihrem Handeln relativ frei gewesen. Es herrschte ja weitgehend Kurierfreiheit. Wollte man also analysieren, wie sich aus »weisen Frauen« oder »pfuschenden Schäfern« eine moderne Naturheilkunde herausbildete oder in Opposition zu diesen überkommenen Kulturen sich etablierte und schließlich einen anerkannten Platz im Gesundheitssystem fand, so würde es doch erheblich mehr Sinn ergeben, diejenigen Länder oder Territorien zu untersuchen, in denen Laienheilkunde strikt verboten gewesen war. Denn wenn der staatliche Druck nicht nur aus gelangweilten Kreisärzten bestand, sondern sich aus Polizei, aufmerksamen Bürgern, Ärzten, Staatsanwaltschaft, Journalisten und Medizinalbürokratie zusammensetzte, würde der Professionalisierungsdruck erheblich ausgeprägter sein. Doch würde eine solche Studie nur in denjenigen Gegenden sinnvoll sein, in denen dann eine kurzzeitige Liberalisierung einsetzte. Oder anders formuliert: Alle Regionen, in denen das Reichsgesetz zur Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung in Gültigkeit trat, ohne dass vorher Kurierfreiheit bestand, würden sehr viel interessanter sein als das Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches. Doch würde sich die Suche nach Quellen erheblich komplizierter gestalten. Denn wenn Laienheilkunde verboten war, so dürften sich wohl kaum Nachweise für die Tätigkeit der Laien finden lassen. Die Historiographie alternativer Heilkulturen im 19. und 20. Jahrhundert bedeutet bislang, vor allem die Verhältnisse in Preußen, Sachsen und Teilen von Südwest1
Dies erfolgte etwa ab 1924/25, siehe Raab (1989), S. 107.
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Vorwort und Dank
deutschland zu beleuchten. Nun aber schienen plötzlich Regionen relevant, in deren wissenschaftsgeschichtlicher Erinnerungskultur es bislang allenfalls eine triumphale Schulmedizin gegeben hatte: Österreich, die ehemalige ČSR und Luxemburg. Hinzu kamen jene Gebiete, die zeitweilig zum Deutschen Reich gehört hatten, dann aber an Länder fielen, in denen es keine Kurierfreiheit gab: die Provinz Posen sowie das Reichsland Elsass-Lothringen.2 Nach einigem Zögern und vielen Diskussionen genehmigte der Leiter des IGM, Prof. Dr. Robert Jütte, im September 2016 diesen Kurswechsel. Doch alsbald offenbarte sich ein neues Problem. Ich musste nun nach Österreich reisen, vor allem nach Wien, und die dortigen Bibliotheken und Archive nutzen. Aus persönlichen Gründen schien mir dies unmöglich. Ich fühlte mich außerstande, das von mir bereits gründlich umgestaltete Forschungsvorhaben durchzuführen. Doch Robert Jütte gab mir Zeit, mich an den Gedanken zu gewöhnen, in Österreich zu recherchieren. Bestärkung erfuhr ich zudem durch meinen mich stets unterstützenden Lebensgefährten Michael. Daher beschloss ich Ende Oktober 2016, das einmal begonnene Forschungsvorhaben zum Erfolg zu führen. Ich durchforstete die kakanische Archivlandschaft, verbrachte lange Stunden in der Nationalbibliothek Wien und noch mehr Zeit in verspäteten Zügen der Österreichischen Bundesbahnen. Auf dem Weg nach Opava geriet ich in das Herbstmanöver der tschechischen Armee und wurde unfreiwillig Zeuge einer explodierenden Farbgranate in einem Regionalzug. In Straßburg hingegen verhaftete mich die französische Polizei, weil sie mich für einen Drogendealer hielt. Dagegen war es in der polnischen Provinz geradezu langweilig: Ein Blitzeinschlag legte die Stadt Poznań und den Bahnverkehr lahm, die letzten Kilometer bis Frankfurt an der Oder verbrachte ich gemeinsam mit einem Dutzend Leidensgenossen auf der offenen Ladefläche eines altersschwachen Gemüselasters. Im Frühjahr 2017 stolperte ich in Wien in eine parteiinterne Auseinandersetzung der Grünen Partei zur Nationalratswahl und musste mir den Weg zum Staatsarchiv durch eine prügelnde und geifernde Meute antizionistischer Wirrköpfe freikämpfen. Jedoch erhielt ich auch viel Unterstützung. Neben Robert Jütte konnte ich stets seinen Stellvertreter Martin Dinges um Rat fragen. Steffi Adam hat die Scanarbeiten übernommen und Oliver Hebestreit wie gewohnt das Lektorat geleistet. Als Ratgeber, Informationsvermittler und Helfer in vielen Fragen schulde ich unendlichen Dank folgenden Freunden und/oder Kollegen: Iris Ritzmann und Eberhard Wolff, Matthias M. Weber und Wolfgang Burgmair, Axel Bauer, Udo Benzenhöfer, Eva Eder-Seela und Michael Eder, Monika und Siegfried Reimer-Veit, Sylvelyn Hähner-Rombach, David Berger, Igor Panasiuk, Reinhard Farkas, Veit Schmidt, Norbert Seidl, Daniela Angetter, Manfred Wiltschnigg, Marion Baschin, Rahel Kahlert, Hans-Peter Weingand, Rainer Möhler, Jean Michel Muller, Martin U. Müller, Michael Popovic, Monika 2
Der Vollständigkeit halber müssten hier noch Eupen-Malmedy und Nordschleswig genannt werden, doch konnte ich keine relevanten Akten eruieren. Südtirol gehörte 1943– 1945 zum »Großdeutschen Reich«, aber auch hier wurden keine Heilpraktiker zugelassen.
Vorwort und Dank
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Sedlakova, Friedrich Wilhelm Graf, Hartmut Schröder, Rudolf Leeb, Annette Kerckhoff, Otfried Pustejovsky, der Sudetendeutschen Landsmannschaft, der Römischen Kongregation für die Glaubenslehre, John True, den Disputanten der »Brezelkonferenzen« und Kolloquien im IGM 2015 bzw. 2016, den Mitarbeitern der von mir besuchten Archive sowie dem Heimatmuseum Gablitz, der Bibliothek des Instituts für Geschichte der Medizin an der FU Berlin, der Bibliothek des Instituts für Geschichte der Medizin an der Universität Zürich, dem Fachverband Deutscher Heilpraktiker in Bonn-Duisdorf und dem Isergebirgs-Museum Neugablonz. Darüber hinaus danke ich Gundolf Keil, dass er mir auf zwei Symposien die Gelegenheit gab, meine Thesen vorzustellen und zu diskutieren.
Einleitung Die Geschichte der Heilpraktiker ist noch nicht geschrieben.1 Zur Geschichte der Laienheilkunde im deutschsprachigen Raum liegen Einführungswerke und vertiefende Studien in beachtlicher Zahl vor.2 Die überkommenen Traditionen der »Volksmedizin«, die mittlerweile korrekterweise mit »Heilkunde« und nicht mehr mit »Medizin« assoziiert werden, erfuhren in den letzten Jahren ebenfalls neue Verortungen.3 Mittlerweile bürgert sich der übergeordnete Begriff der »medikalen« oder »therapeutischen« Landschaft ein, um eine aus mehreren Kulturen zusammengesetzte Gemengelage mit unterschiedlichen Akteuren des Gesundheitsmarktes zu charakterisieren.4 Doch handelt es sich hierbei meist um feste Orte: Sanatorien, Städte, ärztliche Schulen oder klar definierte Konzepte. Interessierte Historiographen können sich an herausragenden und bereits gut erforschten Heroen der Heilkunde orientieren. Die regionale Verankerung findet in urbanen Metropolen oder klar festgelegten Orten (z. B. Kos, Pergamon, Salerno, Wörishofen) statt. Beeinflusst von den Überlegungen eines Ludwik Fleck (1896–1961) oder Thomas S. Kuhn (1922– 1996), soll der wissenschaftliche Austausch in einer freien Atmosphäre des Diskurses und des Labors die Weiterentwicklung von Lehrmeinungen, Disziplinen oder medizinischen Wissens ermöglicht haben. Auch die alternativen Heilweisen, vielfach verfolgt oder marginalisiert, scheinen sich entsprechend entwickelt zu haben. Doch wenn eine Meinung, ein Konzept, ein Lehrmeister oder eine Therapie nie Teil des als wissenschaftlich anerkannten Diskursumfeldes gewesen waren, wie sollten sich dann die Anhänger der entsprechenden Theorie professionalisiert haben? Oder sollten sie gar hierzu nie in der Lage gewesen sein? Würden sie demnach einfach verschwinden? Wie kann es dann sein, dass beispielsweise Patienten in Ländern ohne eine staatlicherseits zugelassene Laienheilkunde die Dienste dieser Akteure generationenübergreifend nachfragten, obwohl nicht wenige schulmedizinische Ansprechpartner vorhanden gewesen waren? Die Historiographie der Medizin, aber auch der alternativen Heilweisen, hat die betreffenden Regionen im deutschsprachigen Raum bislang häufig vernachlässigt. Die Erforschung der Medizingeschichte wird in der Tschechischen Republik, Österreich, Polen, Luxemburg und Teilen Frankreichs ohnehin nicht mit Nachdruck verfolgt. Für alternative Heilkulturen bleiben hierbei nur wenige Ressourcen übrig. Wie sollte ein Historiker überhaupt Quellen finden, wenn die von ihm avisierten Akteure in Verbotszonen handelten? Indirekt erklärt sich so der Fokus der Forschung auf klar umrissene »therapeutische Landschaften«. Es ist schlicht einfacher, wenn auch aus meiner Sicht unlogischer. 1 2 3 4
Bislang gibt es ein gutes Werk zu den Verhältnissen in der DDR, das auch die Zeit vor 1949 berücksichtigt; siehe Freder (2003). Jütte (1996); Heyll (2006). Ferner z. B. Faltin (2000). Forschungsüberblick bei Eckart/Jütte (2007), S. 296–302. Eberhard Wolff (1998); Eberhard Wolff (2003). Eberhard Wolff (2010); Kistemann (2016).
Einleitung
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Denn wenn alternative Heilweisen verboten waren, aber gleichzeitig nachgefragt wurden, standen die Akteure unter dem doppelten Druck der Professionalisierung: Sie mussten gegenüber dem Staat beweisen, dass sie keine »Kurpfuscher« waren, sondern vom Gesetzgeber momentan noch nicht berücksichtigte, wissenschaftlich arbeitende Akteure des Gesundheitsmarktes. Weiterhin waren sie gezwungen, sich gegenüber den Patienten immer wieder aufs Neue als akzeptable Alternative zu präsentieren, für deren Konsultation sich sogar die Inkaufnahme einer Strafanzeige lohnte. Da die Naturheilkundigen, aber auch die wenigen mit ihnen verbündeten Ärzte für die Organisatoren archivalischer Überlieferungen zumeist keine Rolle spielten und sich infolgedessen so gut wie nie Praxisunterlagen oder direkte Aufzeichnungen erhalten haben, bleibt für den Historiker nur der Weg des indirekten Beweises: Zusammentragen und Analysieren publizierter Arbeiten, Auswertung staatlicher Quellen (meist der Strafverfolgungsbehörden) und Orientierung an biographischem Material. Daher ist die vorliegende Studie eine Kombination aus Quellenauswertung, Nutzung von Biographien und »grauer« Literatur sowie Verwendung zahlreicher, das eigene Gebiet nur am Rande berührender Forschungen aus anderen Disziplinen (z. B. Kulturethnologie). Die untersuchten Regionen umfassen Metropolen ebenso wie Landstädte oder kleine Dörfer. Die Akteure waren Masseure, Priester, Hydrotherapeuten oder »Kräuterfrauen«. Moderne, von Kneipp und Prießnitz beeinflusste Naturheilkunde existierte neben überkommener, religiös-magisch induzierter Volksheilkunde – oder beide Kulturen gingen ineinander über. Angehörige der führenden Schichten waren als Klienten ebenso vertreten wie das Subproletariat. Kerngebiete der vorliegenden Untersuchung sind Österreich, die Kronländer Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien – zusammengefasst unter dem bürokratischen Kunstwort »Cisleithanien« –, die nach 1918 zu Österreich und der ČSR wurden. Die polnischen, ukrainischen, kroatischen und italienischen Gebiete Cisleithaniens blieben in der vorliegenden Untersuchung unberücksichtigt, weil in ihnen kein Paradigmenwechsel in der Beurteilung der Laienheilkunde stattfand, während in den ab 1938/39 in Ostmark und Reichsgau Sudetenland umgewandelten Territorien das Reichsgesetz zur Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung in Kraft gesetzt wurde.5 In der kurzen Phase der Chance auf Anerkennung bis 1945 gelangten die zuvor im Schatten der Illegalität agierenden Naturheiler, Homöopathen, Phytotherapeuten oder Irisdiagnostiker zu einer Akzeptanz und Popularität, die sich in der Anlage von überlieferungswerten Akten niederschlug. Anschließend folgte wieder die Nemesis der Verfolgung und Verdrängung, die jedoch in Österreich in eine Festigung der eigenen Position mündete. Die durchwegs als »deutsch« identifizierten Heilpraktiker wurden aus dem Sudetenland und 5
Zwar führte das Reichsministerium des Innern im Dezember 1943 das Reichsgesetz zur Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung offiziell in allen besetzten Ostgebieten ein, aber es haben sich keine Hinweise auf tatsächliche Niederlassungen erhalten, siehe Tagesgeschichte (1944), S. 139. Auch im Amtlichen Anzeiger des Reichskommissars für das Ostland wird auf das Gesetz und seine eventuelle Einführung nicht Bezug genommen.
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Einleitung
dem »Protektorat« umgehend vertrieben und mussten sich neue Betätigungsorte suchen. Doch gab es im 19./20. Jahrhundert auch »medikale Landschaften«, in denen die Laienheilkunde unter dem Begriff der Kurierfreiheit zeitweise erlaubt war, ehe die Verwerfungen des Ersten Weltkrieges die Provinz Posen in die Wojewodschaft Poznań und das Reichsland Elsass-Lothringen in französische Départements verwandelten. Auch hier entfaltete sich der kurze Sommer der anerkannten Heilpraktik, ehe die Verbotsgesetze wieder in Kraft traten. Wie gingen nun zuvor respektierte oder zumindest geduldete Laienheilkundige mit der neuen Situation um? Dass sie es schafften, einen Platz im neuen System zu finden, ließ sich schon daran erkennen, dass das deutsche Heilpraktikergesetz von 1939 Anwendung fand. Denn das Gesetz bedingte die Zulassung von Heilern aus der Region. Und schließlich gab es noch ein Gebiet, das lange Zeit zu »Deutschland« bzw. dem Heiligen Römischen Reich und dem Deutschen Bund gezählt hatte und 1914–1918 und 1940–1945 besetzt worden war: Wie würden sich Laienheilkulturen im vom französischen Recht beeinflussten Luxemburg entwickeln können? Gab es überhaupt welche? So viel sei verraten: Der Schlüssel zur Erkenntnis, wie sich Laienheilkunde unter dem Verbotsdruck entfaltete und professionalisierte, liegt nicht in Posen, Luxemburg oder im Elsass – sondern in Österreich.
Kornblume und Wasserkur – Die Geschichte der alternativen Heilkulturen in Böhmen Geburtsort der modernen Heilpraktik, die sich von der überkommenen Volksheilkunde durch ihren wissenschaftlichen Anspruch unterschied, war Lindewiese in Österreichisch-Schlesien, das jedoch administrativ zu den Ländern der böhmischen Krone gerechnet wird. Hochburg der auf den Erkenntnissen von Prießnitz, Schroth und Kneipp basierenden alternativen Heilkulturen war ein weiteres Randgebiet Böhmens, das sogenannte Sudetenland. In beiden Gegenden waren die Protagonisten Deutsche, was jedoch nicht bedeuten soll, dass es in den tschechischen Bevölkerungsteilen keine Ansätze zu einer solchen Kultur des Heilens gegeben hätte. Die Dominanz der deutschen Sprache und der Deutschen in der Verwaltung des Königreichs Böhmen verunmöglichte jedoch den tschechischen Akteuren eine Aufmerksamkeit oder Professionalisierungsmöglichkeit, wie sie den deutschsprachigen Anhängern von Prießnitz gegeben war. Für die Tschechen blieben bis etwa 1900 nur zwei Optionen: Aufstieg in den Ärztestand oder Auswanderung. Dies hatte zur Folge, dass innerhalb der tschechischen Wissenschaftselite nach 1900 für professionalisierte Laienheilkundige kein Platz mehr war.1 Heilkundige Bauern und unsichere Ärzte (1820–1880) Ab 1826 führte der Bauer Vincenz Prießnitz (1799–1851) in seinem Heimatdorf Gräfenberg bei Freiwaldau hydrotherapeutische Behandlungen durch. Er therapierte keine akuten Leiden, setzte nicht ausschließlich auf Trinkkuren, er war kein Arzt und zog zunächst auch keinen Mediziner als Berater bei. Prießnitz war kein herausragender Einzelkämpfer, sondern Teil einer größeren hydrotherapeutischen Kulturlandschaft. Seit dem 16. Jahrhundert vertraten ortsansässige Gelehrte immer wieder die Ansicht, dass Trink- und Wasserkuren sich vorteilhaft auf die Gesundheit auswirkten.2 Prießnitz führte jedoch die Nutzung kalten Wassers zur Therapie chronischer Krankheiten ein. Er kombinierte intensive Schwitzkuren mit kalten Umschlägen, Vollbädern und dem Genuss kalten Quellwassers.3 Auch Spaziergänge gehörten zum therapeutischen Programm. Diagnostisch blieb Prießnitz vage: Übergeordnete Krankheitsbegriffe wie »Gicht« standen für vielerlei Leiden.4 Damit ebnete er dem Gedanken den Weg, man würde mittels der Hydrotherapie alle Krankheiten bekämpfen können bzw. dass es eigentlich nur »eine« Krankheit gebe, die man mit den Kräften der Natur behandeln könne.5 Prießnitz’ Kur war 1 2 3 4 5
Siehe hierzu Štrbáňová (2012), S. 139 f. Křížek (1971); Dogerloh (2003). Zeitgenössisch um 1800 siehe Sagar (1800); Reuss (1801). Sajner/Křížek (1978), S. 207; Jütte (1996), S. 117 f.; Helfricht (2006). Sajner/Křížek (1978), S. 209. Heyll (2006), S. 61.
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Die Geschichte der alternativen Heilkulturen in Böhmen
zunächst noch nicht das, was sich später Naturheilkunde nannte. Diätetik war für ihn unwichtig – Kaffee, Bier und Fleisch konnten während der Kur konsumiert werden.6 1829 wurde Prießnitz von dem in das lukrative Kurgeschäft nicht einbezogenen lokalen Arzt Anton Schnorfeil (1768–1850) angezeigt, jedoch entschied das zuständige Gericht, Prießnitz nicht zu verurteilen.7 Prominente Badegäste hielten ihre schützende Hand über ihn.8 Da er kein Arzt war, erhielt er die Zulassung zum Betrieb einer Badeanstalt, wofür kein Physikatsexamen notwendig war. Zusätzlich wurde 1838 eine eigene »Polizei-Kur-Inspektion« gegründet, um den Kurbetrieb besser kontrollieren zu können.9 Konkurrenz erfuhr Prießnitz bereits seit den 1820er Jahren von Johann Schroth (1798–1856) aus dem Nachbarort Lindewiese, der weniger dem konsumierten und als Kur verabreichten kalten Wasser als der Verdunstungskälte und dem Wasserentzug mittels der Trockendiät als Heilfaktor vertraute.10 Schroth entging einer möglichen Anklage aufgrund von »Kurpfuscherei« durch wirkmächtige Protektoren aus dem Hochadel.11 Patienten suchten bei Prießnitz oder Schroth nach Besserung ihrer geschwächten »Lebenskraft«.12 Deren Thematisierung passte nicht zu den neuen naturwissenschaftlichen Ansprüchen der Ärzteschaft, die der Hydrotherapie aus Böhmen ablehnend gegenüberstand.13 Insbesondere die Konzepte der wirkmächtigen Wiener medizinischen Schule zielten nicht auf eine Stärkung der Therapie, sondern der Diagnose auf Basis anatomischer Erkenntnisse ab.14 Dies begünstigte eine Entfremdung der Ärzte von den Wünschen der Patienten, was im Schlagwort des »therapeutischen Nihilismus« gipfelte.15 Erst ab den 1850er Jahren begannen die Protagonisten der Wiener medizinischen Schule der Therapie mehr Aufmerksamkeit zu widmen.16 Die Wirkung von Heilquellen und Balneotherapie wurde aber noch jahrelang bestritten.17 Bis Mitte der 1850er Jahre hatten bereits Generationen von Medizinstudenten als Ärzte die Universität verlassen und ihr einmal erworbenes Wissen nicht ergänzen oder modernisieren müssen. So waren es zunächst keine österreichischen Ärzte, die zu Prießnitz pilgerten, um seine Arbeitsweise zu studieren, sondern Kollegen aus Bayern oder Sachsen, z. B. Eduard Schnitzlein (1810–1864) und Lorenz Gleich (1798– 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Melzer (2003), S. 65. Averbeck (2012), S. 163. Sharma (2014), S. 24 f. Chvojka (2014), S. 33. Jütte (1996), S. 145; Sabina Roth (2005), S. 15, 23. Löffler (1977), S. 32. Klatte (2005), S. 137. Heischkel (1965), S. 143. Lesky (1965), S. 132. Lesky (1960), S. 12 f. Lesky (1965), S. 170; Heyll (2006), S. 110. Hierbei ist vor allem auf Johann von Oppolzer (1808–1871) zu verweisen. 17 Steudel (1967), S. 87. Erst 1862 rangen sich die untereinander uneinigen Protagonisten der »Wiener Schule« dazu durch, in einem von ihnen verantworteten Handbuch der Heilquellen diese nicht nur aufzuführen, sondern auch in ihrer erfolgreichen Wirkung zu beschreiben, siehe Oppolzer/Sigmund/Härdtl (1862), S. 104 f.
Heilkundige Bauern und unsichere Ärzte (1820–1880)
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1865) im Jahre 1837.18 Wichtiger war der Patient Johannes Reinelt (1858– 1906) alias »Philo vom Walde«, der Prießnitz’ Biographie schrieb, ihn durch zahlreiche Artikel bereits zu Lebzeiten überhöhte und sein Werk für Laien aufbereitete.19 Als Popularisator in Laienkreisen war auch der Gymnasialprofessor Eucharius Ferdinand Christian Oertel (1765–1850) bedeutsam.20 Mit zunehmendem Erfolg und dem Interesse von Ärzten erfolgte eine erste Verwissenschaftlichung der Prießnitzschen Kaltwasserkur. Hierzu zählte die Integration diätetischer Elemente.21 Als Kurarzt und faktischer ärztlicher Leiter der Prießnitzschen Badeanstalt fungierte Josef Schindler (1814–1890), der auch den Ablauf der Kurbehandlung neu koordinierte.22 Zudem zog er eine Reihe von Ärzten heran, die alsbald eigene hydrotherapeutische Anstalten gründeten.23 Allerdings bot er zeitgleich auch interessierten Laien eine professionelle Ausbildung als »Badediener«, so dass diese den Ablauf der Behandlungen genau studieren konnten.24 Der Weg zur weiteren Verwissenschaftlichung wurde durch die Gründung des »Vereins für rationelle Ausbildung der Wasserheilkunde in Böhmen« in den 1840er Jahren geebnet.25 Die Familie Prießnitz überließ Ärzten die Leitung der Kuranstalt und die Ausdeutung der Lehre, während sich die Erben von Johann Schroth entschieden, durch Aufnahme des Medizinstudiums selbst zu den »Gralshütern« der Lehre aufzusteigen.26 Die an Ernährungsumstellung, Hydrotherapie, Licht-Luft-Behandlung oder auch Homöopathie interessierten Laien in Böhmen formierten sich im äußersten Nordwesten nahe der Grenze zu Sachsen. Dies war kein Zufall, denn das Königreich Sachsen hatte sich seit den 1860er Jahren zu einem Zentrum der Laienheilkunde entwickelt.27 Hier erschien seit 1861 die Zeitschrift Naturarzt als Kommunikationsmittel. Auch formierte sich dort eine soziale Renitenzorganisation, die für Böhmen nicht unwichtig sein sollte: die Anti-Impfbewegung.28 Sogar der organisierte Tierschutz war ein Produkt aus Sachsen.29 Hinsichtlich der Körperoptimierung wirkten die sächsischen Turnvereine seit Anfang der 1850er Jahre stilbildend nach Böhmen hinein.30 Hier spielte als »Gesundheitslehrer« der Leipziger Anatom Carl Ernst Bock (1809– 1874) eine wichtige Rolle, da er in den Turnzeitungen Gesundheitsberatung 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30
Ludyga (2007), S. 35; Merta (2008), S. 28. Röhrich (1971), S. 46. Jütte (1996), S. 116; Merta (2003), S. 37. Melzer (2003), S. 65 f. Röhrich (1971), S. 47; Merta (2003), S. 237 ff. Helfricht (2006), S. 207 f. Helfricht (2006), S. 179. Weiskopf (1847). Helfricht (2006), S. 275 f. Siehe auch Schroth (1937). Grubitzsch (1996), S. 57; Helfricht (2012), S. 13 ff. Eberhard Wolff (1995), S. 179, 183; Eberhard Wolff (1996), S. 85. Maehle (1996), S. 111. Ludwig Schlegel (1936), S. 7; Oswald Wondrak (1982), S. 389. Siehe auch Pokorný (2006), S. 621.
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Die Geschichte der alternativen Heilkulturen in Böhmen
anbot.31 Wie sich der Lebensreformer und Bürgerschuldirektor in BöhmischLeipa, Franz Mohaupt (1854–1916), erinnerte, wirkten die Artikel Bocks in der Zeitschrift Gartenlaube bzw. »Vater Klenckes« Aufsätze in Über Land und Meer stilbildend für ganze Generationen von heilkundlich interessierten Lesern in Böhmen.32 Große Bedeutung kam hierbei der frühzeitigen gesunden Erziehung des Nachwuchses zu: Um es kurz zu sagen: verständiger und urtheilsfähiger, besser und humaner, ja auch gesünder wird die Menschheit nur dann erst werden, wenn die richtige, auf Wissen und nicht auf Glauben gegründete Erziehung derselben nicht erst beim Erwachsenen, sondern schon beim Kinde, und zwar vom ersten Augenblicke seines Lebens an, durch besser gebildete Mütter, welche denken gelernt haben, eingeschlagen wird.33
Von 1853 bis 1874 schrieb Bock in nahezu jeder Ausgabe der Gartenlaube einen Beitrag, in dem er Erziehungs- und Gesundheitsberatung gab, die vor allem auf eine umfangreiche Diätetik, einen gesunden Lebensstil und die Krankheitsvorbeugung Wert legte.34 Sein »Buch vom gesunden und kranken Menschen« erlebte 19 Auflagen.35 Er war Materialist wie auch Friedrich Hermann Klencke (1813–1881), der seit 1869 in Über Land und Meer ebenfalls diätetische Ratschläge erteilte.36 Bock und Klencke wollten die Leser zu gesundem Verhalten erziehen und zugleich den Laienheilkundigen die Anhängerschaft entziehen. So nannte Bock als untauglich für die Behandlung von Krankheiten: »Charlatane mit Geheimmitteln, naturheilkünstelnde Schuster, Schneider und Handschuhmacher mit Kaltwasser-Semmelkur, Homöopathen mit Nichtsen, alte Weiber mit Besprechen, Postsecretäre mit Lebensmagnetismus«.37 Bocks und Klenckes Materialismus sowie die Verweigerung gegenüber humoralpathologischen Konzeptionen behinderten eine umfängliche Rezeption der ideologischen Komponenten ihrer Gesundheitsaufklärung in den Köpfen der Leser.38 Denn die Naturheilkundigen bewahrten die überkommenen vitalistischen und humoralpathologischen Erklärungsmodelle, die seit Jahrhunderten von Ärzten gelehrt worden waren und nun als obsolet angesehen wurden.39 Gerade die Verwendung von Wasser – Symbol der Lebenskraft – in der Therapie begünstigte den Siegeszug der Anhänger von Prießnitz und Schroth. Hierzu trug auch die parallele Entfaltung weiterer heilkundlicher Konzeptionen bei, die umgehend mit den Ansichten von Prießnitz bzw. 31 32 33 34 35 36 37 38 39
Carl Ernst Bock: Gesundheitsregeln (1865); Carl Ernst Bock: Turnplatz-Chirurgie (1865). Schelmerding (1889), S. 9. Carl Ernst Bock (1874), S. 146. Siehe auch Stolz (1992), S. 245 f. Sarasin (2001), S. 105; Ko (2008), S. 70, 122. Hess (2000), S. 240. Sein Buch »Bau, Leben und Pflege des menschlichen Körpers in Wort und Bild« wurde auch für österreichische Schulen zugelassen, siehe Blätter und Blüthen (1870), S. 48. Mann (1956), S. 27; Daum (1998), S. 293. Zur Materialismusdebatte siehe Mensching (2007). Carl Ernst Bock (1872), S. 710. Zur Ablehnung des Materialismus bei den Naturheilkundigen siehe Regin (1995), S. 102. Faltin (2000), S. 327.
Heilkundige Bauern und unsichere Ärzte (1820–1880)
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Schroth in Bezug gesetzt wurden. Dazu zählten die Lehren des bayerischen Priesters Sebastian Kneipp (1821–1897), des österreichischen Lebensreformers Arnold Rikli (1823–1906), der Diätetik von Theodor Hahn (1824–1883) und der Heilgymnastik eines Daniel G. M. Schreber (1808–1861) sowie des ethisch-heilkundlichen Vegetarismus von Eduard Baltzer (1814–1887).40 Dieser gründete 1867 den »Verein für natürliche Lebensweise«, der im deutschsprachigen Raum allmählich die Rolle eines Dachverbandes erlangte. Dies geschah gerade in den Jahren, als die federführenden Kliniker des deutschsprachigen Raums begannen, anstelle einer umständlichen Diätetik antipyretische Arzneien einzusetzen.41 Dadurch verloren die Ratschläge eines Carl Ernst Bock innerhalb der Ärzteschaft erheblich an Bedeutung, harmonierten nun aber in besonderem Maße mit den Empfehlungen der Naturheilkundigen, wie u. a. Theodor Hahn bemerkte.42 Zugleich begannen Ärzte Kaltwasserkuren in ihr therapeutisches Repertoire (Typhus) aufzunehmen43, so dass sich bei interessierten Patienten der Eindruck einstellen konnte, dass die Hydrotherapie wissenschaftlichen Ansprüchen genügte. Hinzu kam die Passivität des staatlichen Verfolgungsapparates, der sich schließlich in den 1870er Jahren darauf beschränkte, die bestehenden Verhältnisse anzuerkennen bzw. ihre Entfaltung zu kanalisieren. So avancierte Gräfenberg-Freiwaldau 1876 zum offiziellen Kurort, in dem Laien nur unter ärztlicher Aufsicht in untergeordneten Positionen arbeiten durften.44 Von der naturheilkundlichen Aufbruchsstimmung war nichts mehr zu spüren – der Ort war zu einem Wellnesszentrum geworden, in dem auf Diätetik seitens der Gäste kein Wert mehr gelegt wurde, wie ein Besucher angewidert feststellte.45 Die Laienheilkundigen entwickelten an anderer Stelle ihre Lehren fort, profitierten aber weiter von Entwicklungen in Gräfenberg, wo 1880 der Badearzt Eduard Emmel (1828–1910) die Massage mit der Hydrotherapie kombinierte.46 Doch auch abseits von Gräfenberg und Lindewiese existierten breite volksheilkundliche Traditionen. In Mythen und Sagen überdauerten Erinnerungen an herausragende Heilergestalten wie »Doktor Kittel« (d. i. Johann Eleazar Kittel, 1704–1783).47 Wanderhändler belieferten Heiler und Familien mit den Produkten der »Krummhübler Laboranten«.48 Die Kultur der religiös-magischen Volksheil40 Krabbe (1998), S. 79; Merta (2008), S. 30 f. Zu den zeitgenössischen Debatten um die »richtige« Heilweise siehe Hahn (1870), S. 39; Wolbold (1871). 41 Rageth (1964), S. 28; Koelbing (1985), S. 158. 42 Hahn (1868), S. 51. 43 Koelbing (1985), S. 157. 44 Kapper (1884), S. 103. Zu den Kurorten in Österreich-Ungarn im ausgehenden 19. Jahrhundert siehe Kosa (1999). 45 Wolbold (1874), S. 148 f. Zur Rolle der Kurbäder als Vergnügungsorte siehe Steudel (1967), S. 89; Large (2015), S. 228. 46 Röhrich (1971), S. 47. 47 Hanika (1951), S. 19. Zur Geschichte der Magie nutzenden Heilkünstler siehe Priesner (2011), S. 172. 48 Reitzig (1952), S. 13 f.
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Die Geschichte der alternativen Heilkulturen in Böhmen
kunde existierte in den ärmeren ländlichen Gebieten bis in die 1940er Jahre hinein. Verfügten die heilkundlich tätigen Bauern- oder Scharfrichterfamilien49 nach den Landreformen und der Abschaffung der Leibeigenschaft im 19. Jahrhundert über genügend materielle Reserven, so konnten sie ihren an Heilkunde interessierten Zweitgeborenen die Ausbildung zum Wundarzt ermöglichen. So geschah es in der Familie Pich, die seit 1715 »Beine einrichtete« und deren Mitglieder Antonin Pich (1795–1865) und Antonin Mertlik (1826–1896) Wundarztlizenzen erhielten.50 Ein weiterer Spross der Familie, Alexandr Kutlik (1857–1931), studierte in Prag Medizin und spezialisierte sich auf Orthopädie, wodurch er das überkommene Erbe seiner Vorväter in die moderne Medizin überführte.51 Allerdings waren die intergenerationellen Verwicklungen in unterschiedliche Heilkulturen auch Anlass für standesrechtliche Debatten. So scheiterte die Mährische Ärztekammer 1911 mit dem Versuch, einer angeblichen »Kurpfuscherin« in Jaromeritz das Handwerk legen zu lassen: Die Bezirkshauptmannschaft, welche ersucht wurde, in diesem Falle eine strenge Untersuchung einzuleiten und diese Kurpfuscherin im Falle, als die Angaben auf Wahrheit beruhen, einer strengen Bestrafung zuzuführen, teilt mit, daß diese Kurpfuscherin den Behörden wohl bekannt ist. Ein Vorgehen gegen dieselbe sei unmöglich, weil sie durch das Diplom ihres Sohnes immer gedeckt wird und es im konkreten Falle stets heißt, sie hätte ihrem Sohne, »dem Herrn Doktor«, nur assistiert, obwohl es sicher ist, daß der Zulauf der Kranken nicht dem Herrn Doktor, sondern nur der alten Beineinrichterin gilt.52
Die österreichischen Behörden unterbanden offiziell ein mögliches Bündnis zwischen Chirurgen/Wundärzten und Laien durch die Beendigung der entsprechenden Ausbildungsmöglichkeiten 1874/75.53 Die zuletzt ausgebildeten Chirurgen waren aber sowohl in der balneologischen Therapie wie auch der Äthernarkose und Orthopädie bewandert, wodurch sie als Mittler zwischen medizinischen und heilkundlichen Wissenswelten dienen konnten.54 Darüber hinaus war einer der ersten bedeutenden Anhänger der Homöopathie in Böhmen ebenfalls Wundarzt gewesen, nämlich Anton Fischer (1792–1867).55 Aus Sicht der Homöopathen waren Bäderanwendungen als Teil der homöopathischen Therapie sinnvoll.56 Auch Hahnemann hatte u. a. kalte Flussbäder empfohlen.57 Der positive Einfluss von Sprudelbädern auf den Körper wurde gar 49 Michael Urban (1999), S. 75. 50 Popovic (2015), S. 42 f., 55. Zu dieser Familie und ihrer Geschichte siehe zeitgenössisch Notizen (1903), S. 197 f. 51 Popovic (2015), S. 84. Siehe auch Eduard Wondrak (1971), S. 33 f. 52 Deutsche Sektion der Mährischen Ärztekammer (1911), S. 89. 53 Eduard Wondrak (1971), S. 35. Der letzte »Chirurg und Wundarzt« in Böhmen starb 1944 mit 96 Jahren. Die chirurgischen Gremien wurden bereits 1901 aufgelöst, siehe Hoyer (1919), S. 11. 54 Eduard Wondrak (1971), S. 34. 55 Henne (1971), S. 37. 56 Welsch (1874), S. 500; Naturheilkunde (1880), S. 4; Donner (1899), S. 116. 57 Papsch (2007), S. 101.
19 als homöopathische Heilwirkung gedeutet.58 Bisweilen erkannten findige Apotheker in homöopathiefaszinierten Patienten eine lukrative Einnahmequelle. So notierte ein Kritiker: In Schlesien schickte eine Dame auf dem Lande ihren Diener in die Stadt, homöopathische Mittel zu holen und sollte derselbe außerdem aus einer Wollwarenhandlung Estramadura-Wolle Nr. 5 besorgen. Damit er die Letztere nicht vergesse, schrieb sie ihm unten auf den Zettel, welcher die Namen der zu besorgenden Mittel enthielt, Estramadura Nr. 5. Die Wolle brachte der Diener nicht, wohl aber ein homöopathisches Arzneigläschen mit einer hellen Flüssigkeit auf dem geschriebenen Etikett: Estramadura 5. Ein Mittel, welches auch nur annähernd diesen Namen führt, existiert in der Homöopathie nicht.59
Die volkskundliche Forschung zu den volksheilkundlichen Traditionen setzte bereits um 1860 ein60 und erlangte in den 1930er Jahren eine wichtige Rolle als sinnstiftende Interpretation der »deutschen« Vergangenheit in Böhmen61. Ausgeschlossen von der deutschsprachigen Diskurskultur, fanden sich die seit Generationen in Familien weitervererbten Traditionen der »Knocheneinrichter« auch in tschechischen Familien.62 Diese, meist weniger begütert als ihre deutschen Nachbarn, entschlossen sich im 19. Jahrhundert häufig zur Emigration in die USA. Als sich um 1900 die Chiropraktik formierte, nahm einer ihrer Wegbereiter, Solon Langworthy (1868–1922), Kontakt zur Subkultur der »bohemian bonesetters« um den Exilanten Frank Dvorsky (1833– 1916) auf.63 Ein Seitenarm der Chiropraktik, »naprapathy«, orientierte sich besonders stark an den böhmischen Heiltraditionen.64 Als dann in den 1920er Jahren die Chiropraktik Einzug in die mitteleuropäische Heilpraktik hielt, spielte der Rückgriff auf die »böhmischen Heiler« eine wichtige Rolle bei der Verankerung der als »amerikanisch« (und somit »undeutsch«) verschrienen Behandlungsmethode.65 Die Tatsache, dass es keine »böhmischen«, sondern »tschechische« Heiler gewesen waren, wurde geflissentlich unterschlagen.
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G. W. Groß (1837), S. 13; Altschul (1857), S. 162; Goullon (1887), S. 29. Gottlieb (1907), S. 98. Alois John (1924), S. VII, 269–274, 289. Jungbauer (1936), S. 204; Zimprich (1936); Josef Schneider (1939), S. 106; Ulbrich (1940). Siehe auch Josefovičová (2014); Josefovičová (2015). Tschechische Heiler setzten aufgrund ihrer Ausgeschlossenheit vom deutschen Diskurs auch länger auf ältere Quellen oder Heilberichte. So stellte der Mediävist Gerhard Eis (1908–1982) 1940 fest, dass »Meister Albrants Roßarzneibuch« in verschiedenen tschechischen Übersetzungen noch im 19. Jahrhundert bei Heilern Verwendung fand, siehe Eis (1940), S. 90. Zur neueren tschechischen Forschung siehe Vaňková (2004), zur Förderung von Eis und seinen Kollegen siehe Ehlers (2010), S. 252. Bovine (2011), S. 40 f.; Donahue (1990), S. 37; Kaptchuk/Eisenberg (1998), S. 2218. Siehe auch Forster (1915), S. 1. Zarbuck (1986), S. 81. Harbeck (1928), S. 935; Mildenberger (2015), S. 112 f.
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Entschlossene Laien, planlose Bürokraten, verbitterte Ärzte (1880–1902) Das nordwestliche Randgebiet der Habsburgermonarchie war zeitgleich zur Entfaltung der naturheilkundlichen Laienkulturen einer umfassenden Industrialisierungswelle ausgesetzt, mit der die öffentliche Gesundheitsfürsorge nicht Schritt hielt. Seit den 1840er Jahren entwickelte sich in Aussig eine Textilindustrie, zu der nach dem Anschluss an den Eisenbahnverkehr in den 1850er Jahren noch chemische Betriebe hinzukamen.66 Die ärztliche Versorgung ließ hier ebenso zu wünschen übrig wie im »nordböhmischen Barmen« Großschönau, wo bis 1908 nur ein einziger Arzt tätig war.67 Die »Kunstblumenstadt« Niedereinsiedel, Zentrum der Kinderarbeit inkludierenden Heimindustrie, blieb bis 1898 ohne Arzt, und auch das »nordböhmische Manchester« Warnsdorf verfügte in seiner ersten Blütezeit in den 1850er Jahren nur über einen Wundarzt.68 Für die von Lungentuberkulose bedrohten Glasbläser in der Gegend von Gablonz interessierten sich lokale Ärzte erst in den 1890er Jahren.69 Die deutschsprachige böhmische Ärzteschaft organisierte sich bereits 1852 in Prag.70 Die erste Vereinigung von Ärzten im nordböhmischen Industrierevier gründete sich 1870 in Leitmeritz, entfaltete aber erst in den 1890er Jahren sozialmedizinisches Engagement.71 Auch die Stellen im Sanitätsdienst konnten in Böhmen nicht alle besetzt werden – mit einer Zweitniederlassung als »Badearzt« in Karlsbad ließ sich mehr Geld verdienen.72 Aus Sicht der Zentralbehörden waren diese Zustände allerdings unproblematisch, wie die k. k. Regierung 1894 bei einer Debatte im Reichsrat verlauten ließ.73 Auch die ungleiche räumliche Verteilung der Ärzte in Böhmen und Mähren wurde schlicht geleugnet.74 Die Ärzte wiederum fühlten sich von der staatlichen Verwaltung bei der Durchsetzung der öffentlichen Gesundheitsfürsorge im Stich gelassen.75 Die von der Industrialisierung und Konzentrationsprozessen in der Landwirtschaft gleichermaßen betroffene alteingesessene Bevölkerung stand den »privilegierten Ständen« und insbesondere den zumeist in Städten tätigen »Doctoren« kritisch bis ablehnend gegenüber.76 Als respektierte Heiler kamen eher Priester und Lehrer in Frage, wie der Laienhomöopath Josef Grum-
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Hans Peter Hye (2000), S. 27. Ruprecht: Entwicklung (1963), S. 51. Ruprecht: Entwicklung (1963), S. 58, 65. Zenkner (1982), S. 644. Przedak (1904), S. 190. Glaessner (1901), S. 378. Fortschritte: Böhmen (1897), S. 490, 493. Ueber die Entwicklung (1894), S. 130. Fortschritte: Mähren (1897), S. 503. Netolitzky (1888), S. 22, 50; Brechler (1888), S. 79; Witlacil (1888), S. 99. Höbelt (2004), S. 12.
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bach in Niederschönau und ein »Dechant« in Dewin.77 Seit den 1870er Jahren entfaltete sich zudem eine auf Hebung des Bildungsniveaus der Landbevölkerung abzielende Wanderlehrerbewegung.78 Hinzu kamen erste allgemein zugängliche Heilanstalten: 1861 eröffnete in Georgswalde (Bezirk Rumburg) eine »Mineral-, Dampf- und Kiefernadelbadeanstalt«.79 1866 folgte ein öffentliches Moorbad mit Heilanwendungen in Wiesenthal bei Gablonz.80 Den Boden für eine Lebensreformkultur bereiteten aber vor allem die kurzlebige Zeitschrift Reichenberger Familienfreund, die der Schriftsteller und Impfgegner Wilhelm Ressel (1852–1938) 1883 bis 1887 herausgab81, und das wirkmächtige Werk »Hygieinische Episteln für Lehrer und Eltern« von »Ernst Schelmerding« (1889). Der Familienfreund sollte sowohl unterhalten als auch volksaufklärend wirken und kann als lokales Nachahmungsprodukt der Gartenlaube angesehen werden. Seine Leserschaft wurde von namhaften Autoren über die Notwendigkeit einer gesunden Lebensweise unter Verzicht auf vormoderne Geheimmittel ebenso aufgeklärt wie über die Grausamkeit der Vivisektion.82 Der Arzt Friedrich W. Lorinser (1817–1895) sprach dem Staat das Recht ab, die Bürger zur Impfung zu zwingen, da deren Wirkung zweifelhaft sei.83 Ihm sekundierten in dieser Frage der Vivisektionsgegner Adolf Graf von Zedtwitz (1823–1895) und der Journalist Alfred Lill von Lilienbach.84 Der steirische Lebensreformer Franz W. Kubiczek (1833–1896) warnte vor dem Genuss fragwürdiger Geheimmittel.85 In seinen Romanen beschwor Ressel ebenfalls eine diätetische Lebensweise als Schlüssel zum persönlichen Glück.86 1889 erschienen die »Hygieinischen Episteln für Lehrer und Eltern«, die vom Deutschen Landeslehrerverband in Böhmen herausgegeben wurden und somit kanonischen Charakter für die Schülerbildung in den nächsten Jahrzehnten erlangten.87 Als Verfasser fungierte »Ernst Schelmerding« – das Pseudonym des in Böhmisch-Leipa tätigen Bürgerschuldirektors Franz Mohaupt, der auch den Sportunterricht in den Schulen modernisierte.88 Mohaupt/ Schelmerding sah sich als Erbe von Bock und Klencke sowie als Vollstrecker obrigkeitsstaatlichen Willens, da das k. k. Ministerium für Kultus und Unterricht in seiner Entschließung Z. 4816 vom 9. Juni 1873 den Lehrern die Kenntnis der »Grundsätze der Gesundheitslehre« zur Aufgabe gemacht hat77 Ruprecht: Gegner (1963), S. 101. Zur Rolle der katholischen Priester im Kontext alternativer Heilkulturen siehe Stolberg (1998); Stolberg: Heilpraktiken (2009). 78 Kaiserová (2014), S. 204. 79 Ruprecht: Gegner (1963), S. 99. 80 Stütz/Zappe (1982), S. 651. 81 Beran (1932), S. 22. Zur Geschichte der Impfgegner siehe Eberhard Wolff (1996). 82 Kubiczek (1885), S. 123; Lilienbach (1884). 83 Lorinser (1887), S. 12. 84 Zedtwitz (1887), S. 162; Lilienbach (1886), S. 205. Zur Antivivisektionsbewegung siehe Bretschneider (1962). 85 Kubiczek (1885), S. 123. 86 Ressel (1890); Ressel (1891). 87 Schelmerding (1889). Das erste offizielle Gesundheitslehrbuch für Lehrerseminare erschien erst 1894, siehe Hanausek (1894). 88 Seibt (1924), S. 189 f. Siehe auch Mohaupt (1901), S. 15.
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te.89 Da das Ministerium jedoch offengelassen hatte, was darunter zu verstehen war, stützte sich Schelmerding vorrangig auf die Vorarbeiten der Ärzte und Volksaufklärer Paul Niemeyer (1832–1890) und Laurenz Jakob Sonderegger (1825–1896). Beide hatten die hygienische Volksbelehrung in den Mittelpunkt ihres Schaffens gestellt und eine Ausweitung der öffentlichen Gesundheitsfürsorge gefordert.90 Beide waren außerdem Anhänger des Materialismus.91 Sie legten großen Wert auf richtige Erziehung und »klimatische Kurbehandlungen«.92 Dies war für Schelmerding der Ansatz, um die seit Prießnitz verbreiteten therapeutischen Konzeptionen zwanglos in seine scheinbar schulmedizinisch inspirierte Abhandlung einfließen zu lassen. Saubere Luft in Klassenzimmern, Wohnungen und Arbeitsstätten waren nach Schelmerdings Ansicht zentral für die Gesunderhaltung der Bevölkerung.93 Der Genuss kalten Wassers zur Krankheitsvorbeugung wurde ebenso herausgestellt wie die Forderung nach ausreichender Bewegung.94 Mäßiges Ess- und Trinkverhalten wurde angemahnt, der Schnapskonsum verurteilt, denn dieses Getränk »hat jedenfalls der Teufel in höchsteigener Person erfunden«.95 Auch die von Ärzten vielfach empfohlene Fleischbrühe aus der Dose (»durstmachendes Salzwasser«96) wurde zugunsten einer Hinwendung zur reinen Natur abgelehnt. Indirekt implizierte Schelmerdings Abhandlung die Notwendigkeit sozialer Reformen, um allen Teilen der Bevölkerung die Möglichkeit zu gesunderhaltenden Maßnahmen zu gewähren.97 Politisch radikalisierte sich das historische Königreich Böhmen seit den 1880er Jahren. In den Industriezentren fassten Sozialdemokraten und »Großdeutsche« gleichermaßen Fuß.98 1885 triumphierten in Reichenberg die Deutschnationalen mit einem sozialreformerischen Programm.99 Der sich zeitgleich entfaltende »Deutsche Schulverein« setzte auf eine umfassende Volksbildung der deutschen Minderheiten innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie.100 In diesem Klima aus deutschnationaler Selbstfindung, Unfähigkeit der Medizinalbürokratie und Passivität der Ärzteschaft formierten sich Ende der 1880er Jahre die ersten naturheilkundlichen Vereine, die sich als Teil der deutschen Naturheilbewegung sahen und infolgedessen dem »Deutschen Bund der Vereine für Gesundheitspflege und arzneilose Heil89 Schelmerding (1889), S. 9, 11. Zum Zeitkontext siehe Mathieu (1993). 90 Sonderegger (1890), S. 8; Terwellen (1940), S. 12; Niemeyer (1885), S. 13; Westphal (1940), S. 37. 91 Niemeyer (1876), S. 16; Sonderegger (1874), S. 12. 92 Niemeyer (1874), S. 5; Terwellen (1940), S. 13. 93 Schelmerding (1889), S. 25, 209. 94 Schelmerding (1889), S. 19, 477. 95 Schelmerding (1889), S. 429. 96 Schelmerding (1889), S. 417. 97 Schelmerding (1889), S. 7. 98 Höbelt (2004), S. 50 ff. 99 Höbelt (1993), S. 91. 100 Höbelt (1993), S. 33; Pokorný (2006), S. 638. Tschechische Nationalisten gründeten umgehend einen »Tschechischen Schulverein« (Ústřední matice školská), siehe Radl (1928), S. 139.
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weise« angehörten. 1889 gründete sich »Allwohl« in Gablonz, deren Mitglieder sich an Prießnitz und Schindler gleichermaßen orientierten.101 1892 folgte die Gründung des »Vereins für Naturheilkunde« in Reichenberg durch Josef Beranek und Stephan Reckziegel.102 Beranek war ein Angehöriger des linken Flügels der Arbeiterbewegung.103 1893 wurde ein Verein in Komotau aus der Taufe gehoben, der sogleich mit 80 Mitgliedern startete und Aufklärung zu Cholera, Croup und Magenleiden anbot.104 Damit entsprachen die böhmischen Naturheiler dem Idealbild der städtisch sozialisierten Bürger, die sich Wissen selbst aneigneten und weitergaben.105 Der Verein in Gablonz war im gleichen Jahr auf 193 Mitglieder angewachsen und konnte einen bedeutenden Erfolg verbuchen.106 Zur Einweihung des Kneipp-Sanatoriums im Ort Schlag bei Gablonz erschien der Namensgeber selbst und feierte die Eröffnung mit etwa 1.000 Gästen.107 Die Ähnlichkeit zwischen den Konzepten von Kneipp und Prießnitz in der Hydrotherapie erleichterte die Rezeption Kneipps in Böhmen.108 Das Sanatorium stand unter Leitung des Arztes Georg Glettler (1868–1958), der es 1903 kaufte und zahlreiche »Badediener« ausbildete.109 Die Badeanstalt stand allen Bevölkerungsteilen offen und unterschied sich so von den großen Kurbädern, in denen vermögende und arme Gäste strikt getrennt wurden.110 1895 gelangte die Frage um die beste Gesundheitsaufklärung und die Sinnhaftigkeit des Impfens auf die parlamentarische Ebene, als Graf Curt von Zedtwitz (1822–1909) das Thema im österreichischen Herrenhaus ansprach.111 Im gleichen Jahr reiste der in der Steiermark aktive Lebensreformer Georg Simoni (1863–1923) nach Gablonz und Oppeln, um Kontakte zu knüpfen.112 1896 erschien erstmals Die Wohlfahrt. Zeitschrift für volkstümliche Heilweise und soziale Gesundheitspflege in Reichenberg, die bis 1938 vom örtlichen Verein herausgegeben werden sollte.113 Mittlerweile existierten in Prag,
101 Vereinsnachrichten (1892), S. 94. 102 40 Jahre Verein für Volksgesundheitspflege (1933), S. 22. 103 Beranek (1928), S. 510. Er arbeitete hier mit dem Volksredner und Dichter Josef SchillerSeff (1846–1897) zusammen. 104 Bundesnachrichten (1893), S. 223. 105 Huerkamp (1986), S. 168. »Bürger« ist hier als politischer Begriff zu sehen. Die Naturheiler betrachteten sich als selbständig im Denken, nicht als »Untertanen«. Hinsichtlich der Herkunft der Mitglieder waren die Vereine sehr heterogen und keineswegs eine reine »Kleinbürgerveranstaltung«, siehe Regin (1995), S. 78, 88. 106 Aus den Vereinen (1893), S. 241. 107 Scholz/Stütz/Zimmermann (1982), S. 596. 108 Gottfried Mader (1984), S. 76; Merta (2003), S. 38. 109 Merta (2003), S. 596; Aus den Vereinen (1896), S. 227. 110 Kosa (1999), S. 110. 111 Farkas (2010), S. 1354. 112 Vereins-Nachrichten (1895), S. 187, 348. Zu Simoni und seinem Wirken siehe Farkas (2015), S. 139 f. 113 Aus der Zeit (1899), S. 196.
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Reichenberg, Moffersdorf, Aussig, Komotau, Heida und Warnsdorf Naturheilvereine.114 1897 eröffnete David Zimmer das erste vegetarische Speisehaus »Thalysia« mit angeschlossenem Reformhaus in Reichenberg.115 Direkt an der Grenze zu Sachsen in Warnsdorf arbeiteten grenzüberschreitend Naturheilkundige, um potentielle österreichische Patienten zu versorgen.116 Lokale zeitgenössische Bekanntheit erlangte der bei Kneipp in Wörishofen ausgebildete Weber Josef Dießner.117 In Warnsdorf entfaltete der Naturheilkundige und Sozialist Moritz Schnitzer (1861–1939) ein umfängliches Engagement, beriet Einzelpersonen und Vereine und engagierte sich insbesondere für den Vegetarismus.118 Er interpretierte die Bibel als Grundlage für vegetarischen Lebensstil, indem er das vom Himmel herabregnende »Manna« als göttliche Anweisung für eine fleischlose Ernährung benannte.119 1897 war auch das Jahr, in dem sich die in Böhmen verstreuten Vereine einigten, eine Dachorganisation zu gründen, den »Verband der Naturheilvereine in Österreich«, zu deren Präsident der 1890 in Chemnitz zum Naturheilkundigen ausgebildete Bernhard Oskar Dürr (1856–1943) gewählt wurde.120 Er arbeitete als Buchhalter bei der Firma Mannesmann, die ihn 1899 wegen seines naturheilkundlichen Engagements vor die Tür setzte, doch fand er rasch eine neue Anstellung bei einem Mäzen der Naturheilkunde.121 Abseits der heilkundlichen Landschaft in Nordböhmen meldeten sich auch an anderen Orten Naturheilkundige zu Wort, z. B. der Journalist Leopold Schwarz (1858–1926) in Brünn, der Sozialismus und Vegetarismus als Schutz vor »Entartung« bewarb.122 Die Brünner Lebensreformer gründeten eine eigene Zeitschrift mit dem Titel Die Zukunft, in der sie die Verschmelzung von Antialkoholkampagnen, Wohnungsreform und Naturheilkunde beschworen.123 In Prag konzentrierte sich die Lebensreformbewegung um das Reformhaus der Familie Vonka.124 Von Anfang an hatten die Vereine mit erheblichen Problemen aufgrund des Widerstands der Ärzteschaft zu kämpfen. Zu den vehementen Gegnern der Laienvereine zählte auch der Begründer der klinischen Hydrotherapie in Österreich, Wilhelm Winternitz (1835–1917). Spöttisch notierte ein Vertreter der Laienvereine: »Aber Herr Geheimrat, regen Sie sich doch nicht so auf! 114 Aus der Zeit (1896), S. 227. 115 Der Name »Thalysia« leitet sich von dem Titel des Buches »Thalysie, ou la nouvelle existence« von Jean-Antoine Gleizes (1773–1843) aus dem Jahre 1821 ab. Der Lebensreformer Eduard Baltzer nannte seine erste Zeitschrift ebenfalls Thalysia. 116 Ruprecht: Gegner (1963), S. 102. Das erste deutsche, ebenfalls »Thalysia« genannte Reformhaus war 1888 in Leipzig entstanden und wirkte stilbildend im gesamten deutschsprachigen Raum, siehe Der Thalysia-Gedanke (1927). 117 Ruprecht: Gegner (1963), S. 101. 118 Moritz Schnitzer – ein Siebziger (1931), S. 52. Siehe auch Pirchan (1949), S. 9. 119 Hayman (1983), S. 121. 120 Schnitzer (1931), S. 5248. 121 Schnitzer (1931), S. 5248; Aus der Zeit (1899), S. 196. 122 Schwarz (1900), S. 15. 123 Redaktion (1905), S. 1; Zum Kapitel (1907); Hygienische Rundschau (1907). 124 Pirchan (1949), S. 9.
Entschlossene Laien, planlose Bürokraten, verbitterte Ärzte (1880–1902)
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Wir dummen Ignoranten wissen ja schon längst, dass Sie die Weisheit in Erbpacht haben, nachdem Sie einst zum Bauern Priessnitz in die Schule gegangen sind. Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch – Standesdünkel.«125 Ein besonderes Ärgernis für die Ärzteschaft stellte die seit 1891 erscheinende Zeitschrift Gräfenberg-Freiwaldauer Mittheilungen dar, die sich an »Badegäste, Touristen und Freunde der Naturheilkunde« richtete und verdeutlichte, dass Letztere die 1874 noch abgelehnte Verwandlung von Prießnitz’ Kaltwasseranstalt in eine Ansammlung von Spaßbädern mittlerweile als Chance zur Gewinnung breiterer Anhängerschaften betrachtete. In den Mittheilungen publizierten nebeneinander Ärzte und Laienheilkundige, schilderten den perfekten Weg zur Krankheitsprävention126 und positionierten sich gegen »Kurpfuscherei«, worunter Eduard Emmel u. a. die Applikation fragwürdiger Pharmazeutika durch Ärzte verstand127. Stattdessen sei die »physikalisch-hygienische Naturheilmethode« nützlich.128 Aus Sicht seiner Kollegen war das, was Emmel tat, »ärztliches Medikasterwesen«.129 Anstelle einer rigorosen Ernährungsumstellung wurde eine maßvolle Diätetik unter Einbeziehung reduzierten Konsums von Fleisch oder Alkoholika empfohlen.130 Auch die Emanzipation der Frau wurde inklusive des Verzichts auf das Korsett befürwortet.131 Zugleich warnte man in der Zeitschrift vor zu viel Eifer, denn wer in ÖsterreichUngarn sich in freier Natur für das »Lichtbad« engagiere, lande schnell beim Psychiater.132 Ein »2–3 m hoher Bretterzaun« müsse stets um das Gelände gezogen werden.133 Diese Kombination aus verbotener medizinischer Schulung von Laien und Verhöhnung der übrigen Ärzte sowie der mit dem Erfolg der Naturheilkunde einhergehende Verlust an Deutungshoheit und finanziellen Einnahmen veranlassten eine Anzahl von Ärzten in Nordböhmen, sich zu formieren. Der Versuch, die Krankenkassen zu zwingen, Ärzte zu exkludieren, die mit Naturheilkundigen kooperierten, endete 1902 in einem Desaster: Der entsprechende Beschluss des österreichischen Ärztetages wurde von der k. k. Statthalterei für Böhmen annulliert und der Ärzteschaft das Recht abgesprochen, über derartige Dinge zu entscheiden.134 Damit war klar, dass die Ärzte seitens der Obrigkeit keine Durchsetzung des »Kurpfuscherei«-Verbotes erwarten konnten. Zwar galten in Böhmen seit 1833 insgesamt 18 Dekrete und Verordnungen zum Verbot von Geheimmittelhandel und »Kurpfuscherei«, doch die schiere Zahl der weitgehend inhaltsgleichen Anordnungen macht deutlich, wie wenig sie von den lokalen Behörden durchgesetzt wur125 Vermischtes (1892), S. 166. 126 Beranek (1900); Er ist sein eigener Arzt (1901); Ulrich (1902). Siehe auch Regin (1995), S. 147. 127 Emmel (1901), S. 85. 128 Emmel (1903), S. 34. 129 Spinner (1914), S. 81. 130 Wie wird man (1904), S. 17. 131 Hag (1902). 132 Ulrich (1902), S. 1. 133 Ulrich (1902), S. 2. 134 Mittheilungen (1902), S. 557.
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den.135 So blieb den Ärzten nur die Möglichkeit, die Vorgehensweise der Naturheilanhänger zu kopieren, einen eigenen wirkmächtigen Verein zu gründen und eine Zeitschrift herauszugeben.
Der Kampf um die Deutungshoheit (1902–1918) Die federführende Rolle kam hier dem Warnsdorfer Primarius Heinrich Kantor (1857–1926) zu. Er hatte bereits 1898 gemeinsam mit dem Buchdruckereibesitzer und Politiker Eduard Strache (1847–1912) die Zeitschrift Der Gesundheitslehrer »unter dem Protektorate des Zentralvereins deutscher Ärzte in Böhmen«136 gegründet137. Sie war die Keimzelle einer deutsch-österreichischen Organisation mit Namen »Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung des Kurpfuschertums« (DGBK), die sich 1903 formierte.138 Somit begriffen sich sowohl Naturheilkundige als auch ihre Gegner als »Großdeutsche«. Kantor hatte die Naturheilbewegung in seiner Nachbarschaft genau beobachtet und ihr Anwachsen mit Entsetzen verfolgt. So musste er einräumen, dass die vor wenigen Jahren noch unbedeutende Bewegung mittlerweile 50 Vereine mit etwa 9.000 Mitgliedern umfasste, von denen 22 im »Verband der Vereine für Gesundheitspflege und Naturheilkunde« vereint seien, der somit etwa 4.000 Anhänger und acht Zeitschriften repräsentiere.139 Diese explosionshafte Zunahme sei vor allem aufgrund zweier Tatsachen erfolgt: des Mangels an hygienischer Aufklärung durch Ärzte und Verwaltung sowie der Teilnahme von Mitarbeitern des bürokratischen Apparates in den Vereinen, wodurch ein Verbot nicht mehr durchsetzbar sei.140 Die entsprechenden Paragraphen des Strafgesetzbuches würden seitens der Verwaltung kaum Beachtung finden, und deshalb müsse die Ärzteschaft selbst aktiv werden.141 Der Gesundheitslehrer fungierte als offizielles Organ der (deutschen) Ärztekammer für das Königreich Böhmen. Das oberste Gremium der cisleithanischen Gesundheitsverwaltung, der »Oberste Sanitätsrat«, begriff die Chance, die Bekämpfung der »Kurpfuscherei« den Ärzten zu überlassen und so die Verwaltung zu entlasten, und empfahl, die Zeitschrift und ihre Anliegen zu unterstützen.142 Die Naturheilbewegung nahm die Herausforderung an und verlautbarte, man befinde sich mit dem »Warnsdorfer Gesundheitslehrer« quasi im Kriegszustand.143 Eine der ersten Maßnahmen Kantors war der Versuch, den Import 135 136 137 138 139 140 141 142 143
Sanitätsgesetze (1901), S. 79. Siehe auch Graack (1906), S. 21–26. Die Deutsche Gesellschaft (1926), S. 161. Lennhoff (1926), S. 44. Regin (1996), S. 51. Kantor: Naturheilbewegung (1900), S. 89. Die Zahlenangaben Kantors waren eventuell übertrieben. So geht Cornelia Regin von acht Vereinen mit 550 Mitgliedern im Jahre 1900 aus, siehe Regin (1995), S. 64. Kantor: Naturheilbewegung (1900), S. 90. Kantor (1904) [Aufsatz], S. 472. Vermischte Nachrichten [Wiener Klinische Wochenschrift] (1903), S. 28. Aus der Naturheilbewegung (1902), S. 169. Siehe auch Regin (1995), S. 342 f.
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der Schriften deutscher Naturheilkundiger (Bilz) gerichtlich verbieten zu lassen, was ihm auch gelang.144 Doch entwickelte der in Dresden mittlerweile als Chefredakteur der Zeitschrift Der Impfgegner tätige Wilhelm Ressel neue Vertriebswege. Die böhmische Ärztekammer klagte: »Bilz, Platen u. a. überschwemmen die nordböhmischen Gegenden mit ihren Büchern, zahlreiche Naturheilagitatoren durchwandern das Land und vergiften die öffentliche Meinung mit den Lehren von der ›giftfreien‹ Medizin.«145 Selbst in Warnsdorf konnte Kantor nicht verhindern, dass in der lokalen Ratgeberzeitschrift Warnsdorfer Heimatblätter Gesundheitstipps aus der Feder von Laien erschienen.146 So verkündete ein anonymer Autor: »Sonnenlicht und frische Luft sind die erfolgreichsten Doktoren von der Welt.«147 Kantor wusste um das Versagen seiner eigenen akademischen Lehrer bei der Überführung von Erkenntnissen der romantischen Medizin in die moderne Klinik, sprach aber zugleich den Erben von Prießnitz jede Kompetenz in moderner Diätetik ab und unterstellte ihnen blanke Geschäftemacherei.148 1903 schrieb der Wiener Ärztekammerfunktionär Heinrich Grün (1873– 1924) Ressel und auch den ihn unterstützenden Kreisen einen offenen Brief, in dem er unmissverständlich seine Position verdeutlichte: Sie wundern sich, dass wir gegen Sie gewissermaßen Polizeimaßregeln wünschen? Sollen wir gegen die Naturheiler, gegen Leute zweifelhafter Vorbildung und gewisse fehlender Bildung in den einfachsten medizinischen Begriffen, wissenschaftlich kämpfen? Sollen wir auf all die Anwürfe, die Ihre Freunde gegen uns erheben, überhaupt reagieren? Ja wir wollen nicht einmal den graduierten Aerzten, den Ueberläufern in das bessere Jenseits der Naturheilkunde antworten, da sie uns unwissenschaftlicher angreifen als Ihre Laienkampfbrüder.149
All diese Auseinandersetzungen fanden in einem politisch höchst aufgereizten Klima statt. 1897 war die Regierung von Ministerpräsident Kasimir Felix von Badeni (1846–1909) über die von ihr erlassenen Sprachgesetze gestürzt. Badeni hatte beabsichtigt, den Streit zwischen Deutschen und Tschechen dadurch zu entschärfen, dass Tschechisch eine gleichberechtigte Verwaltungssprache wurde.150 Die implizierte Gleichberechtigung der Tschechen wurde von den deutschen Bevölkerungsteilen als Benachteiligung empfunden und stärkte die »großdeutschen« Parteien.151 Die zuvor überkonfessionellen Turnvereine verwandelten sich in Tummelplätze völkischen Gedankenguts.152 Auch die lokalen Vertreter der katholischen Amtskirche schlugen sich auf die Seite der Deutschnationalen.153 Antisemitismus avancierte zu einem Teil der 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153
Kantor (1904) [Aufsatz], S. 484. Chronik (1903), S. 4. Siehe auch Chronik (1904), Nr. 9, S. 6. Gesundheitspflege (1903); Gesundheitspflege (1904). Gesundheitspflege (1904), S. 349. Kantor: Naturheilkünstler (1900), S. 32, 34. Grün: Brief (1903), S. 1. Syrovátková (2007), S. 614. Höbelt (1993), S. 187. Hirth/Kießlich (1928), S. 168 f., 357. Die Autoren waren Anhänger dieser Entwicklung. Prinz (2003), S. 283; Jonová (2014), S. 67.
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deutschnationalen Selbstfindung und Propaganda, z. B. im »Schutzverein Nordmark«, der sich in Troppau organisierte.154 In Aussig formierte sich 1903 die »Deutsche Arbeiterpartei« als eine der Keimzellen des späteren Nationalsozialismus.155 Seit der Reichsratswahl von 1901 dominierten die deutschnationalen Parteien von Georg von Schönerer (1842–1921) und Karl Hermann Wolf (1862–1941) in den deutschsprachigen Gebieten Böhmens. Daneben übte die Freisozialistische Partei unter Simon Starck (1865–1939) lokalen Einfluss aus. Starck kombinierte chauvinistische, antiklerikale und bodenreformerische bzw. lebensreformerische Ziele.156 Zeitweise erfuhr er Unterstützung durch anarchistische Kreise.157 1907 wurde Starck in den Reichsrat gewählt und behielt das Mandat bis 1918. Als einheitliche Bezeichnung für die deutsch sprechenden Einwohner Böhmens und Mährens bürgerte sich ab 1900 der Begriff »Sudetendeutsche« ein.158 In den Zentren der böhmischen »Großdeutschen« lagen aber auch bedeutende jüdische Gemeinden, deren Mitglieder sich grundsätzlich eher als Deutsche denn als Tschechen fühlten.159 Jüdische Familien waren Wegbereiter der modernen hydrotherapeutischen Vergnügungsreise.160 Die Unterstellung der »Verjudung« von Kurorten wurde zu einem beliebten Sujet der antisemitischen Propaganda.161 Die Tschechen unterschieden sich in ihrem Antisemitismus allenfalls graduell von den Deutschnationalen, wie sich insbesondere durch die Pogromstimmung im »Fall Hilsner« im Sommer 1899 zeigte.162 Eine junge Frau (Anežka Hrůzová) war ermordet worden, und der Verdacht fiel auf den armen Juden Leopold Hilsner (1876–1928), der in einem fragwürdigen Prozess zum Tode verurteilt wurde, wobei die Strafe in Kerkerhaft umgewandelt wurde.163 Angesichts des doppelten Antisemitismus der Deutschen und Tschechen formierten sich eigene jüdische Vereine und Organisationen.164 Die propagierte Selbstbefreiung des Körpers durch Naturheilkunde wurde von Juden ebenfalls geschätzt, ein prominentes Beispiel ist Franz Kafka
154 Gawrecki/Šopák (2004), S. 211. Zu Österreichisch-Schlesien und seinen Nationalitätendebatten siehe Kamusella (2007). 155 Osterloh: Deutsche Arbeiterpartei (2012). Das tschechische Gegenstück, die »Tschechische National-Soziale Partei«, wurde 1911 unter Mitwirkung von Karel Baxa (1863– 1938) gegründet, der seine politische Karriere durch die Propagierung des »Falles Hilsner« als »jüdischen Ritualmord« befeuert hatte. 156 Wintersberger (1986), S. 271. 157 Reinhard Müller (2006), S. 56. 158 Tonkin (2002), S. 200. 159 Čapková (2006), S. 75. 160 Large (2015), S. 241. Siehe hierzu Bajohr (2003). 161 Large (2015), S. 253; Triendl-Zadoff (2007). 162 Iggers (1986), S. 293. 163 Iggers (1986), S. 293. Hilsner wurde 1918 begnadigt. Im Jahre 1961 gestand der Bruder von Anežka Hrůzová, seine Schwester aus Habgier ermordet zu haben, siehe Iggers (1986), S. 294. 164 Křest’an (2004), S. 338 f.; Isa Engelmann (2012), S. 38 f.
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(1883–1924).165 Er ließ sich u. a. von Moritz Schnitzer beraten.166 Kafka und Schnitzer waren sich im April 1911 in Warnsdorf begegnet. Schnitzer untersuchte Kafka mittels eines Blicks in den Hals und der Analyse seines Profils, woraus er die Diagnose »Gifte im Rückenmark« ableitete und »Schlafen bei offenem Fenster, Sonnenbaden, Gartenarbeit und ein aktives Interesse an der Naturheilkunde« empfahl.167 Letzteres besaß Kafka bereits seit einigen Jahren, so trainierte er ab Herbst 1909 regelmäßig gymnastisch nach den Regeln von Jørgen Peter Müller (1866–1938).168 Antisemitische Vorurteile und Verunglimpfungen fluteten auch die Diskussionen um die Medizin und Naturheilkunde. So spöttelte ein Prager Arzt aus dem Schutz der Anonymität heraus (»Dr. R.«) über Moritz Schnitzer: »Nicht alle bringen es heute nach der Beschneidung zu Aposteln«169, während ein Chronist über Heinrich Kantor schrieb, er habe sich, »obzwar er jüdischer Abstimmung war«, großer Beliebtheit erfreut170. Durch die Rücknahme der Sprachgesetze wurde eine Einigung zwischen Tschechen und Deutschen im historischen Königreich Böhmen verunmöglicht. Die tschechischen Ärzte begannen 1905 mit einem eigenen Reformprogramm zur Gesundheitsvorsorge, das von ihren deutschen Kollegen vor allem deshalb sabotiert wurde, weil es von Tschechen geplant worden war.171 Innerhalb der tschechischen (ärztlichen) Naturheilkunde wurden Aufsätze von deutschen Autoren gleichwohl rezipiert und übersetzt, z. B. von Franz Schönenberger (1865–1933).172 Auch ähnelten sich die Klagen in tschechischen und deutschen Journalen hinsichtlich der ungesunden Lebensweise der Bevölkerung.173 Dies änderte jedoch nichts daran, dass beide Seiten getrennte Wege gingen. Die im Herbst 1905 gegründete Tochtergesellschaft der DGBK, die »Österreichische Gesellschaft zur Bekämpfung des Kurpfuschertums« (ÖGBK), setzte auf die geballte Macht der Ärztekammern.174 Wichtigster Proponent blieb Heinrich Kantor, der seine Kampagnen ausweitete, dadurch sich aber auch verzettelte und Unwillen innerhalb der Ärzteschaft provozierte. Denn Kantor hatte erkannt, dass die Gewinnsucht einiger Ärzte beim Vertrieb von pharmazeutischen Geheimmitteln der naturheilkundlichen Laienbewegung in die Hände spielte. So gewann er 1907 einen aufsehenerregenden Prozess gegen den deutschen Arzt Ludwig Bauer (1857–1913, »Diabetes-Bauer«), der sein wirkungsloses Mittel »Djoeat« aggressiv in österreichischen Zeitschriften 165 Stölzl (1975), S. 133. Umfassend dargestellt bei Jütte (2002). Dort wird auch Kafkas ablehnende Haltung gegenüber der Schulmedizin beschrieben (S. 428). 166 Jütte (2002), S. 427. 167 Hayman (1983), S. 121. 168 Alt (2005), S. 206. 169 Briefkasten der Redaktion (1904), S. 6. 170 Ruprecht: Entwicklung (1963), S. 66. 171 Perko (1907), S. 146. 172 Schönenberger (1911). 173 Siehe z. B. Jakou (1907/08). 174 Reißig (1905/06), S. 45.
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bewarb.175 Auch andere, von Standeskollegen durch wohlwollende Begleitschreiben beworbene Wunderheilmittel wurden von Kantor inklusive der Befürworter attackiert.176 Außerdem weitete Kantor sein Engagement auf die Unterstützerszene der Naturheilkunde aus und versuchte Polizeibehörden zu überzeugen, den Betrieb vegetarischer Gaststätten, insbesondere derjenigen von David Zimmer in Reichenberg, zu verbieten. Dieses Vorhaben scheiterte, wie Kantor giftig anmerkte, an der seiner Ansicht nach bestehenden Unfähigkeit der Justiz. Wenn z. B. der Besitzer eines vegetarischen Speisehauses, der »naturgemäss« die Disposition zur Krankenbehandlung in den Säuglingswindeln erhielt, förmliche Ordinationsstunden abhält, hierbei aber keine Zahlung annimmt, sondern in seiner Menschenfreundlichkeit und Uneigennützigkeit sich mit dem Einkommen begnügt, das die vegetarische Küche oder der alkoholfreie Fruchtsaft abwirft: so wird dagegen selbst der findigste Staatsanwalt nicht aufkommen können, wenn er überhaupt Lust zum Aufkommen hätte.177
Mehr Erfolg schienen Kantor und seine Verbündeten bei der Durchsetzung des Impfgesetzes zu haben, was die Gegner um Ressel zu einem »Tobsuchtsanfall« veranlasste.178 Aber an anderen Orten verschlossen sich ganze Gemeinden der Impfpflicht, ohne dass die Behörden einschritten.179 1905 erzwang Kantor, dass David Zimmer doch die nebenberufliche Laienheilkunde ohne Gewinnabsicht untersagt wurde.180 Als ein Naturheilkundiger 1908 in der Deutschen Arbeiterstimme verkündete, alsbald in Reichenberg seine Tätigkeit aufnehmen zu wollen, veranlasste Kantor erfolgreich eine Verhaftung.181 Auch gelang es der ÖGBK, die k. k. Statthalterei zu überzeugen, dass ein Verbot von Werbeanzeigen ausländischer »Kurpfuscher« in Tageszeitungen erforderlich sei.182 In Troppau triumphierte die Ärztekammer 1907 über lokale Vivisektionsgegner.183 Auf der im gleichen Jahr dort stattfindenden Österreichischen Ärztekammertagung wurde beschlossen, dass der Verlust der Approbation in Zukunft bei »Kurpfuscherei« – wozu auch die Förderung entsprechender Tätigkeiten von Laien zählte – angebracht sei.184 Dieser Beschluss richtete sich gegen Ärzte wie Gustav Rösler (1862–1943) in Reichenberg, der eng mit den Naturheilkundigen und der Antialkoholbewegung (sowie den Antisemiten) zusammenwirkte – und sich in seiner Arbeit durch die
175 Kantor (1908), S. 348. Das Urteil ist abgedruckt bei Anpreisung (1911), S. 568 f. Das Mittel wurde nach dem Tod Bauers jedoch weiter als »Nährmittel« unter dem Label von »Dr. Fromm« vertrieben. 176 Kantor (1909), S. 332; Geheimmittel (1909), S. 118. 177 Kantor (1904) [Monographie], S. 4. 178 Chronik (1904), Nr. 12, S. 5. Zu den Diskussionen in Deutschland siehe Maehle (1990). 179 Mährische Ärztekammer (1901), S. 207. 180 Verschiedenes (1905), S. 415. 181 Aus Kurpfuschers Werkstätten (1908), S. 179. 182 Verschiedenes (1908), S. 218. 183 Notizen (1907), S. 575. 184 Oesterreichische Aerztekammertagung (1907), S. 483.
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Troppauer Ärztekammertagung nicht beirren ließ.185 Allerdings entging den Teilnehmern des Kongresses die Tatsache, dass die vor Ort ansässige Pharmafirma »G. Hell & Comp.« jeden Interessenten mit ihren Produkten belieferte: von Bandwurmkapseln über Koka-Wein zu Salbengrundstoffen und Babynahrung.186 »Medizinalkräuterverschleiß« (Handel mit Arzneipflanzen) bedurfte lediglich eines Gewerbescheins187, und wer zumindest angab, eine Badeanstalt »ohne Heilzweck« zu betreiben, musste nicht mit Kontrollen rechnen188. Die Disputanten des 19. Österreichischen Ärztekammertages, der im Dezember 1913 in Lemberg tagte, formulierten in einer Appellation an die Statthalterei direkt: In vielen Badeanstalten, in denen angeblich ein Arzt die Aufsicht hat, werden bei dauernder Abwesenheit der Aerzte hydriatische Kuren verordnet und ohne Rücksicht auf Indikationen oder Gegenindikationen. In einigen Anstalten treiben auch die berufsmäßigen Kurpfuscher unter dem Titel »Naturheiler« ihr Unwesen und wollen unter dem Schlagwort »Naturheilerei« die Existenzberechtigung zu einer ärztlichen Tätigkeit ableiten.189
Die Therapierung von Menschen durch Laien war verboten, doch »Kurschmiede« durften Pferdekrankheiten beheben.190 In Österreichisch-Schlesien erteilten unwissende oder desinteressierte Behörden Antragstellern Gewerbescheine, die es ihnen ermöglichten, medizinische Gerätschaften herzustellen, zu vertreiben und sich selbst mit dem Titel »Orthopäde« zu schmücken.191 Am meisten nutzte Kantor und seinen Verbündeten die latente Zerstrittenheit der Naturheilverbände, die 1910/11 zu einer ernsten Krise führte. Der Vorsitzende des Verbandes der österreichischen Naturheilvereine, Bruno Schäfer, und sein Sekretär Gustav Keil bezichtigten sich wechselseitig der Korruption, so dass Schäfer beinahe seinen Posten verlor und wenig später zurücktrat.192 Bei der folgenden Versammlung in Komotau im Herbst 1911 erschienen nur 58 Interessierte, wie Kantor süffisant vermerkte.193 Doch trotz dieser punktuellen Erfolge, die die ÖGBK und Kantor propagandistisch auswalzten, entwickelte sich die Naturheilbewegung kontinuierlich weiter. Bereits 1907 hatten sich 67 Vereine in Cisleithanien gebildet, von denen die aktivsten sich in Böhmen befanden, wo mittlerweile in fast jeder Kreisstadt Naturheilkunde propagiert wurde.194 Zwar gelang es der ÖGBK gelegentlich, Vorträge ausländischer (sächsischer) Redner wegen angeblicher »Gefährdung der Sitt185 Mitteilungen (1932), S. 77. Zu seiner politischen Tätigkeit siehe Hufenreuter (2012), S. 176. 186 Meitner (1906), S. V–IX. 187 Hoyer (1919), S. 13. 188 Hoyer (1919), S. 16. 189 XIX. Oesterreichischer Aerztekammertag (1914), S. 124. 190 Hoyer (1919), S. 11. 191 Schlesische Aerztekammer (1909), S. 60. 192 Aus Deutschen Reformbewegungen (1910), S. 184; Keil: Grenzpfählen (1910); Bronold (1910); Keil: Erklärung (1910). 193 Der österreichische Verband (1911), S. 143. 194 Verbandsbericht (1907), S. 95.
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lichkeit« zu verhindern195, aber der Versuch des Gesundheitslehrers, die sächsischen Behörden 1910 zu animieren, gegen Bilz und seine Werbemaschinerie aus Flugschriften und Hausbüchern vorzugehen, scheiterte196. Auch Wilhelm Ressel als der bei Bilz für Österreich-Ungarn zuständige Redakteur blieb tätig und verschickte seine Propagandaschriften weiterhin über die Grenze.197 Vor allem aber waren die »Kurpfuscher«-Jäger machtlos gegenüber zwei Entwicklungen: zum einen der Überhöhung von Prießnitz zum historisierten Retter der Kranken durch Einweihung von Denkmälern198, zum anderen gegenüber dem andauernden Erfolg der sich zunehmend als Teil des Tourismus positionierenden Naturheilkunde. So bewarb der »Landesverband für Fremdenverkehr in Deutschböhmen« bereits 1910 die Licht- und Sonnenbäder der Naturheilvereine in Reichenberg, Gablonz und »Bad Schlag«.199 Die Erhebung von Orten mit hydrotherapeutischen Anstalten unter der Mitleitung von Laien zu Kurorten implizierte die Inkraftsetzung der Verordnung Z. 14498 des k. k. Ministeriums des Innern aus dem Jahre 1891, das die Einrichtung einer Kanalisation, Müllentsorgung, Trinkwasserkontrolle und eines Krankenhauses verlangte, wovon alle Einwohner profitierten.200 Solche Erfolge in der öffentlichen Gesundheitsfürsorge konnten die Ärztevereine nie verbuchen. An manchem Ort in Böhmen gingen Naturheilkunde und überkommene Volksfrömmigkeit ein erstaunliches Bündnis ein, z. B. in Zuckmantel am Fuß der Bischofskoppe mit 4.596 »rein deutschen Einwohnern«, in dem nicht nur die »Dr. Schweinburgsche Wasserheilanstalt« mit physikalischen Anwendungen lockte, sondern auch die von 30.000 Pilgern im Jahr besuchte Wallfahrtskirche »Maria Hilf«.201 Die »Perle der schlesischen Kurorte« Bad Karlsbrunn kombinierte die seit der Frühen Neuzeit bekannten Trinkkuren mit Kneippschen Fichtennadelbädern, modernen elektrischen Zweizellenbädern, Molkekuren und Prießnitzscher Hydrotherapie, um so »Blutarmut, Bleichsucht, Rachitis, Herzkrankheiten« gleichermaßen therapieren zu können.202 Dank des sozialen Engagements des »Hoch- und Deutschmeisters Erzherzog Eugen« standen zudem Freiplätze für mittellose Kranke zur Verfügung.203 Außerdem wandelten sich die zuvor rein heilkundlich orientierten Naturheiler zu Wegbereitern einer größer angelegten Lebensreformbewegung. Als 1909 in Krähwinkel der Naturheilverein ein eigenes Licht-, Luft- und Sonnenbad eröffnete, bot er hier auch gleich Turnübungen für Schulkinder an.204 In 195 196 197 198 199 200 201 202 203
Aus der Zeit (1909), S. 26. Helfricht (2012), S. 43. Ressel (1910); Wilhelm Ressel [Aufsatz] (1912). Das Prießnitzdenkmal (1909). Landesverband (1910/1989), S. 311, 333, 337. Glax (1914), S. 418 f. Fremdenverkehrsverband (1910), S. 47. Fremdenverkehrsverband (1910), S. 72. Fremdenverkehrsverband (1910), S. 74. Erzherzog Eugen von Österreich-Teschen (1863– 1954) amtierte von 1894 bis 1923 als letzter weltlicher Hochmeister des Deutschen Ordens aus dem Haus Habsburg. 204 Stütz/Zappe (1982), S. 651.
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Gablonz war der Naturheilverein in die Arbeit der Koch- und Haushaltsschule eingebunden.205 Umgekehrt begannen sich die Frauenvereine in der Antialkoholbewegung zu engagieren.206 Gesundheitsthemen spielten in diesen Vereinen eine immer größere Rolle.207 Gerade der Schwimmsport wurde in der Frauenbewegung geschätzt.208 Wirkmächtige Unterstützung erhielten die böhmischen Naturheiler von dem Wiener Arzt und Lebensreformer Max Mader (1871–1948?), der 1910/11 die Leitung eines Sanatoriums in Niederlindewiese übernahm.209 Der Aufstieg der böhmischen Wandervogelbewegung begünstigte die Hinwendung breiter Schichten der jungen Generation zu den Idealen der Naturheilkunde und Naturüberhöhungsbewegungen.210 Gegen die breit angelegten Kampagnen der Naturheiler wirkten die Aktionen Kantors und der ÖGBK gegen die Anhänger von »Sudetenbauer Prießnitz« geradezu altbacken.211 Kantor musste erkennen, dass die von ihm durchgesetzten Werbeverbote in Tageszeitungen von den Redakteuren nicht beachtet wurden und die Flugschriften der Propheten der Laienheilkunde (Bilz, Felke, Kuhne) ungehindert Verbreitung fanden.212 Die Statthalterei beschränkte sich darauf, die Redakteure der Zeitungen wiederholt auf das Verbot der Annoncen »aufmerksam« zu machen – mehr geschah nicht.213 Eventuell hätten Kantor und die Mitglieder der ÖGBK Patienten eher erreichen können, wenn sie auf die bessere Bezahlung fordernden Hebammen zugegangen wären.214 Hierzu allerdings konnten sich die um ihre Monopolstellung in der Krankenbehandlung kämpfenden Ärzte nicht durchringen. Stattdessen sprachen die Delegierten des Österreichischen Ärztekammertages den Hebammen grundsätzlich jede Kompetenz zu selbständigem Handeln ab: Der Umstand, daß man den Hebammen merkwürdigerweise medizinische Kenntnisse zuschreibt, veranlaßt einen großen Teil der Bevölkerung, die Hebammen um alle möglichen Ratschläge anzugehen, und es ist zu konstatieren, daß dieselben, ohne die geringsten Kenntnisse zu haben, in allen Gebieten der Medizin kurpfuschen.215
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Aus der Zeit (1911), S. 248. IV. Jahresbericht (1908), S. 7. Horská (1992), S. 79. Fuchs (1994), S. 92. Briefkasten der Redaktion (1920), S. 45. Das genaue Datum ist unklar, allerdings nennt sich Mader 1911 in einem Aufsatz »Direktor der Schroth-Naturheilanstalt Nieder-Lindewiese«, siehe Max Mader (1911), S. 131. Zu seinem Weggang aus Graz siehe Farkas (2015), S. 132. Williams (2007), S. 126 ff.; Cornwall (2016), S. 397. Vorberg (1905), S. 15. Positiv rezensiert durch Kantor (1905). Aus Sicht des zeitgenössischen Feuilletons war der Abwehrkampf der Ärzte von Heuchelei geprägt. So schrieb Egon Friedell (1878–1938) bezüglich Prießnitz und Schroth: »Die zünftige Medizin hat es nicht gern, wenn man sie an diese beiden Bauern erinnert«, siehe Friedell (2007), S. 1081. Kantor (1914), S. 599; Kantor (1917), S. 5. Deutsche Sektion der Aerztekammer für das Königreich Böhmen (1903), S. 297. Ledebur (2006), S. 143. XIX. Oesterreichischer Aerztekammertag (1914), S. 124.
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Auch begann Kantor ab 1914 eine neue Form der Kampagne und konzentrierte sich auf die vorgeblich verheerende Wirkung der Laienheiler auf dem Gebiet der Frauenheilkunde. Die »Massage der weiblichen Genitalien« inklusive Abtreibung sah er als große Gefahr.216 Hierbei attackierte er auch ärztliche Kollegen wie Anna Fischer-Dückelmann (1856–1917).217 Diese Radikalisierung Kantors und der ÖGBK war die Folge der Erkenntnis des eigenen Bedeutungsverlusts, der sich noch zu steigern drohte. Seit 1901 warb eine zunächst noch kleine, aber allmählich größer werdende Sektion der Neomalthusianischen Liga in Böhmen um Unterstützung für die Verbreitung von Wissen um die Geburtenkontrolle.218 Den Laienheilkundigen gelang 1914 die Straffung und Neuorganisation der eigenen Verbände. So konstituierte sich in Aussig der »Reichsbund für Lebens- und Bodenreform und für Naturheilkunde in Österreich«.219 Die hier versammelten Vereine wollten sich nicht länger als verlängerten Arm der deutschen Naturheilbewegung verstehen, sondern ihre Ziele speziell in und für »Österreich« (worunter sie Cisleithanien verstanden) verwirklichen.220 Dazu gehörte auch der Plan der Einrichtung eines eigenen Kurheims als Vorstufe für ein vereinseigenes Hospital und die »Heranbildung diplomierter Naturärzte«.221 Eventuell sei auch die Einrichtung entsprechender Lehrstühle an Universitäten sinnvoll.222 Der »Reichsbund« war das Ergebnis eines Bündnisses aus Laienheilkundigen, Reformhausbesitzern, Industriellen und reformorientierten Priestern, die alle in seinem Vorstand vertreten waren.223 In Kooperation mit den Herstellern von Fruchtsäften und Pflanzenmargarine präsentierte der »Reichsbund« im selbsterrichteten »Haus der Zukunft« in Komotau eine Ausstellung zur gesunden Ernährung.224 Bereits im Mai 1914 konnte das »Erholungsheim Waldschnitz« den Probebetrieb aufnehmen.225 Die Organisatoren planten wahrscheinlich die Errichtung eines böhmischen Wörishofen.226 Selbstbewusst boten die Naturheilkundigen den Ärzten ihre Mithilfe bei der Behebung »völkischer« Missstände an.227 Die Mitglieder des »Reichsbundes« wussten um die Wirkmächtigkeit der Naturheilkunde und wähnten sich mit der Ärzteschaft auf Augenhöhe – Heinrich Kantors schlimmster Alptraum. 216 Kantor (1917), S. 49. 217 Kantor (1916), S. 561. Zu Fischer-Dückelmann siehe Hill (2009); Dzugan (2015); Wedemeyer-Kolwe (2017), S. 86 f. 218 Noonan (1969), S. 502; Lehner (1989), S. 19. 219 Zum Geleit (1914). Zur Bedeutung des Bodenreformgedankens in der Lebensreformbewegung siehe Meyer-Renschhausen/Berger (1998). 220 »Sonne« (1914), S. 107. 221 Schürer von Waldheim: Heranbildung (1914), S. 7. 222 Volk (1914), S. 14. 223 Aus der Bewegung (1914), S. 39 f. 224 Aus der Bewegung (1914), S. 15. 225 Aus der Bewegung (1914), S. 76. 226 Treu (1914), S. 120. 227 Reichsbundleitung (1914), S. 101.
Der Kampf um die Deutungshoheit (1902–1918)
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Der Beginn des Ersten Weltkrieges beendete kurzfristig den Höhenflug der Laienheiler und die innenpolitischen Debatten in Böhmen. Schon kurz nach Kriegsbeginn zerstritten sich die politischen Parteien und trennten sich endgültig entlang der Sprachgrenze.228 In der deutschnationalen Propaganda wurde den tschechischen Soldaten per se Defätismus und Feigheit unterstellt.229 Die Seuchenkontrolle versagte umgehend, weswegen die k. k. Statthalterei Aufklärung über Flecktyphus und Cholera anmahnte.230 In den Lazaretten herrschte das blanke Chaos, und der Mangel an Ärzten wurde durch den Einsatz schnell qualifizierter Krankenschwestern und Medizinstudenten nur ungenügend behoben.231 Gleichzeitig wurde die böhmische Ärzteschaft durch den Tod langjähriger und verdienstvoller Mitglieder 1914 geschwächt.232 Heinrich Kantor musste mitansehen, wie im Verlag seines 1912 verstorbenen Gönners Strache Zeitungen erschienen, die zunehmend genau solche Annoncen enthielten, die Kantor in den Jahren zuvor als »Werbung für Kurpfuscherei« attackiert hatte.233 1916 brach in Gablonz eine Pockenepidemie aus, obwohl der gesamte Bezirk als »durchgeimpft« galt.234 Die vor 1914 so kämpferische Ärztliche Standeszeitung bemühte sich um eine zaghafte Annäherung an die Laienheilkundigen. So betonte ein Autor, man stimme beispielsweise Moritz Schnitzer aus Warnsdorf in seiner Bewerbung physikalischer Heilmethoden und dem Vegetarismus zu, aber man werde ihm nicht gestatten, »Arzt zu spielen«.235 Doch sämtliche gesundheitspolitischen Debatten in Böhmen verblassten angesichts des schleichenden Zusammenbruchs der inneren Ordnung in dem von Hunger, Preissteigerungen und Schwarzhandel geprägten Alltag. Ein Kilo Mehl kostete 1913 in Prag weniger als eine halbe Krone, 1917 bereits acht und 1918 16 Kronen.236 Das kriegswirtschaftliche Steuerungssystem brach Ende 1916 faktisch zusammen.237 Währungsverfall, Mangel an Arbeitskräften zu Hause und materielle Not zwangen Söhne und Töchter zuvor vermögender Großbauern, das Studium abzubrechen, so auch die Studentin der Botanik Grete Flach (1897–1994).238 Ab Herbst 1917 ließen die deutschnationalen Parteien in Böhmen ihrer Verachtung für das bröckelnde Habsburgerreich freien Lauf und forderten den Anschluss an das Deutsche Reich.239 Die letzte Anstrengung des Zentralstaates zur Sicherung der Gesundheit seiner Untertanen bestand in der Schaf228 229 230 231 232 233 234 235 236 237 238 239
Unfried (1993), S. 321. Schmidl (2016), S. 339. Erlässe (1915), S. 50. Schmidl (2016), S. 360. MUDr. Josef Kindl (1915); Dr. Simon Lederer (1915), Dr. Samuel Glaessner (1915). »Natürlicher Blinier Sauerbrunnen« (1915); »Steckenpferd-Lilienmilch-Seife« (1915); »Anker-Pain-Expeller« (1915). Biwald (2002), S. 224. Briefkasten der Redaktion (1916), S. 70. Otto Urban (1994), S. 845. Schmied-Kowarzik (2016), S. 536 f. Kerckhoff (2013), S. 57. Höbelt (1993), S. 341 f.
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fung eines Ministeriums für Volksgesundheit unter Leitung des Prager Chemikers, Eugenikanhängers und Universitätsprofessors Ivan Horbaczewski (1854–1942).240 Dieses Ministerium konnte keine Impulse mehr setzen – die Laienheilkundigen ignorierten seine Arbeit von Anfang an.241 Stattdessen gründeten die Vegetarier-, Gesundheits-, Kneipp- und Naturheilvereine aus Cisleithanien am 2. Dezember 1917 in Böhmisch-Leipa die »Zentralstelle österreichischer Naturheilvereine«, die die Arbeit der 41 bestehenden Vereine koordinieren sollte.242 Als erste Maßnahme wurde die »Zentralstelle« beim Wiener Gemeinderat vorstellig und beantragte die Einrichtung einer Lehrkanzel für physikalisch-diätetische Medizin.243 Der Zusammenbruch der inneren Ordnung in der Habsburgermonarchie offenbarte sich den Deutschnationalen mitten im Sudetenland am 21. Mai 1918, als in Rumburg mehr als 1.000 Soldaten meuterten und in Richtung Böhmisch-Leipa zogen, ehe der Aufstand in letzter Minute niedergeschlagen werden konnte.244 Wenige Monate später zerbrach die Habsburgermonarchie, und aus den vormaligen Reichsteilen Böhmen, Mähren, Schlesien, Slowakei und Karpato-Ukraine entstand die Tschechisch-Slowakische Republik (Československá republika, ČSR).245 Der Plan eines die sudetendeutschen und »deutschböhmischen« Gebiete umfassenden »Deutschösterreich« mit Sitz in Wien wurde von der Prager Regierung abgelehnt und alle Landesteile bis Mitte Dezember 1918 von tschechischen Regierungstruppen besetzt.246 Neuer Staat – alter Kampf (1918–1933) Die erste große Herausforderung für das Gesundheitssystem des jungen Staates war neben den Nachwirkungen der »Spanischen Grippe« eine das ganze Land 1920 erfassende Typhusepidemie, die nur mit ausländischer Hilfe gemeistert werden konnte.247 Die Sanitätsgesetze der untergegangenen Doppelmonarchie blieben einstweilen in Kraft, während jedoch im öffentlichen Leben zügig das einsetzte, was die tschechischen Nationalisten vor 1918 mit »odrakouštění« (Entösterreichisierung) umschrieben hatten.248 Anstatt »Kurpfuscher« zu jagen, musste sich Heinrich Kantor mit den neuen tschechischen Behörden auseinandersetzen, die das von ihm geleitete »deutsche« Krankenhaus in ein tschechisches Hospital umwandeln wollten.249
240 241 242 243 244 245 246 247 248 249
Plachý (2004), S. 257; Šimůnek (2007), S. 160. Mummert (1918), S. 97. Bericht über die Gründungsversammlung (1917), S. II. Bericht über die Tätigkeit der Zentralstelle (1917), S. 9. Šedivý (2016), S. 728. Rumpler (2016), S. 1239 f. Afflerbach (2016), S. 674 f. Balinska (1995), S. 89. Zur »Spanischen Grippe« siehe Witte (2006). Syrovátková (2007), S. 621; Němec (2014). Lennhoff (1926), S. 43.
Neuer Staat – alter Kampf (1918–1933)
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Im Chaos der Machtübergabe verlängerte die in Abwicklung begriffene k. k. Statthalterei Anfang 1919 die Zulassung der »Kurschmiede« und begünstigte so die Fortsetzung ländlicher Laienheilkulturen.250 Tatsächlich blieben auf dem flachen Land bereits vor 1914 bestehende, informell akzeptierte Kulturen erhalten.251 So wirkte in Wurzelsdorf im Bezirk Gablonz weiterhin der »Zoupmon« (Zopfmann) Josef Pattermann (1852–1936) als selbstberufener Naturheilkundiger.252 Im Egerland war ab 1917 Josef Lang (1892–1972) als Pfarrer in verschiedenen Orten tätig und verband volksheilkundliche Traditionen mit religiösen Elementen. Bei Wundschmerzen am Arm empfahl er: »Ritze ihn blutig im zunehmenden Mond, wische das Blut mit einem Flecklein oder Papier ab, wickle es zusammen, mach ein Loch in einen Eichbaum, stecke das blutige Fleckerl oder Papier hinein. Hilft gewiß!«253 Für die Blutstillung wiederum war direkte göttliche Hilfe erforderlich, die durch Aufsagen eines Zauberspruchs erlangt wurde: »Auf Christi Grabe wachsen drei Lilien. Die erste heißt Jugend, die andere heißt Tugend, die dritte heißt Sabat. Helf dir Gott Vater, Gott Sohn, Gott hl. Geist Amen.«254 Im Dorf Lewin (Bezirk Leitmeritz) wirkte der lokale Pfarrer Adolf Pientka (1872–1940) als Heiler, wobei er sich vor allem als Diagnostiker mit Hilfe des »siderischen Pendels« betätigte.255 Seine Tätigkeit wurde auch von den Naturheilkundigen anerkannt, die ihn 1930 als »zweiten Pfarrer Kneipp« rühmten.256 Eine Bestätigung ihrer Arbeit und zugleich einen phyotherapeutischen Professionalisierungsschub erhielten die heilkundigen Priester in den 1920er Jahren durch die breite Rezeption der Schriften von »Pfarrer Künzle«.257 Der in der Innerschweiz tätige Pfarrer Johann Künzle (1857–1945) hatte ab 1912 eine religiös aufgeladene Phytotherapie entwickelt und eine breite Publikations- und Vortragstätigkeit entfaltet.258 Die lokalen und zentralen Gesundheitsbehörden standen diesen Kulturen abwartend gegenüber, da sie sich in deutschem Sprachgebiet befanden und die seit 1918 ohnehin angespannten Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen nicht noch weiter verschlechtert werden sollten. Zudem standen den tschechischen Behörden ohnehin nicht genügend Ressourcen zur Verfügung, um diese Laienkulturen überflüssig zu machen. Von besonderer Brisanz waren die kirchlichen und volksheilkundlichen Laienkulturen in jenen Gebieten der ČSR, die zwar mehrheitlich deutschsprachig waren, aber inmitten des tschechischen Sprachgebietes lagen (»Sprachinseln«). 250 Hoyer (1919), S. 11. 251 Zeitgenössische Kritik bei Spektator (1916). 252 Stütz (1982), S. 218. Pattermann hielt auch Schlangen, deren Gift er für Arzneien verwendete (Mitteilung des Archivs des Isergebirgs-Museums vom 1.8.2016). 253 Hampel (1999), S. 15. 254 Hampel (1999), S. 22. Sabat stand für »Sabus« (Blutstand). 255 Hemmerle (1993), S. 223. Mitteilung Wolf-Dieter Hampels an mich vom 31.7.2016. 256 Mitteilungen (1930), S. 29. 257 Obermeier (2012), S. 157. Siehe Künzle (1934). 258 Löffler (1977), S. 37; Jütte (1996), S. 175 ff. Bezüglich einer Kritik des Konzepts von Künzle siehe Eberhard Wolff (2018).
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Die dort lebenden Menschen sahen sich dem Assimilierungsdruck u. a. durch die Verweigerung des Ministeriums für öffentliches Gesundheitswesen, einen deutschsprachigen Arzt zu bestallen, ausgesetzt.259 Daher übernahm eine Fürsorgerin teilweise dessen Aufgabe, und die Bevölkerung besann sich auf heilkräftiges Quellwasser und das Allheilmittel »Hoffmanntropfen«.260 Die Landkrankenpflege wurde nicht von der Ärztekammer oder den Gesundheitsbehörden koordiniert, sondern von der katholischen Kirche (»Caritas«).261 Das »Froppen« (Impfen) wurde akzeptiert, aber zugleich zahlreiche Hausmittel weiter verwendet, um den Gang zum (tschechischen) Arzt zu vermeiden.262 Der allmähliche Rückgang des Brauchtums und der Volksheilkunde sowie des Widerstands gegen das Impfen war jedoch weniger auf die Überzeugungskraft der Schulmedizin als auf den Mangel an Akteuren zurückzuführen – viele von ihnen waren im Ersten Weltkrieg gefallen, bevor sie Schüler hatten heranziehen können.263 Das Misstrauen gegenüber den Ärzten als Vollstrecker der Obrigkeit war geblieben: »Der einfache Mann auf dem Dorfe, der Bauer und Feldarbeiter, der Waldhüter, kurz alle diejenigen, die viel näher dem Leben und Weben der Natur geblieben sind, die haben zur zünftigen Heilkunst des gelehrten Medizinmannes von der Universität noch nicht das rechte Zutrauen.«264 Um dieses »Zutrauen« zu erzeugen oder zumindest die Bevölkerung zu zwingen, den Vorgaben des neuen Staates zu folgen, erließ die Regierung der ČSR bereits in ihrer Gründungsphase eine Reihe von entsprechenden Gesetzen. Seit dem 15. Juli 1919 bestand in der ČSR die Impfpflicht, am 15. April 1920 wurde ein Gesetz über die Durchgriffsrechte des öffentlichen Gesundheitsdienstes verabschiedet, und im Juli 1922 trat ein Gesetzespaket in Kraft, das die Aufklärung der schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen über sexuelle Entwicklung, Gesundheitsgefahren und Geschlechtskrankheiten umfasste.265 Das »Tschechoslowakische Staatsbüro für Eugenik« entfaltete entsprechende Propaganda.266 Gemäß der 1920 in Kraft getretenen Verfassung handelte es sich bei der Bezeichnung »Arzt« um einen öffentlichen Titel, der strengen Führungsregeln unterlag.267 Die Frage, was genau eine »ärztliche Tätigkeit« ausmachte und wie ein Verstoß gegen eine solche zu ahnden sei, wurde erst im Juli 1929 durch das »Gesetz über die Ausübung der ärztlichen Praxis« definiert.268 Demnach war jeder Eingriff kurativ, wozu auch Bäderanwendungen, Suggestion, Psychotherapie, Heilmassage, Höhensonne oder Diathermie zählten, wodurch ohne ärztliche Kooperation tätigen Naturhei259 260 261 262 263 264 265 266 267 268
Tilscher (1961), S. 39. Tilscher (1961), S. 90, 131 f. Ambrosius Franke (1929), S. 9. Tilscher (1937), S. 164 f. Englisch (1937), S. 103. Zimprich (1936), S. 61. Siehe auch Otto Marx (1934), S. 2 f. Hoyer: Landkrankenpflege (1929), S. 3–6. Kühl (2014), S. 142. Hoyer: Arzt (1936), S. 8. Hoyer: Arzt (1936), S. 28.
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lern die Arbeitsgrundlage faktisch entzogen wurde.269 Wer sich an das Gesetz nicht hielt, konnte mit Geldstrafen von bis zu 10.000 Kronen oder drei Monaten Haft belegt werden.270 Dieses Gesetz widersprach in Teilen einer Anordnung des Ministeriums für öffentliches Gesundheitswesen aus dem Jahre 1926, gemäß derer »Vereine, welche gesundheitlich-soziale, humanitäre, körperlich erzieherische oder ähnliche Zwecke verfolgen«, angehalten wurden, gemeinsam mit Distriktärzten gegen Aberglauben, Okkultismus und »Kurpfuscherei« vorzugehen.271 Tatsächlich hatten Regierung, Ärztevertreter und Naturheiler ein Jahrzehnt lang die wechselseitige Ignorierung, Anerkennung oder Kompromittierung geprobt. Die Umsetzung der Impfpflicht und die in der Öffentlichkeit ausgetragene Planung um die Regelung des Gesundheitswesens hatten sowohl Naturheiler als auch Ärzteverbände zu Engagement motiviert. Umgehend reorganisierten sich beide Seiten. Die Ärzte gründeten ihren eigenen »Reichsverband der deutschen Ärztevereine in der tschechoslowakischen Republik« mit der Verbandszeitschrift Ärztliche Nachrichten, während die Naturheilkundigen sich im »Verband der Naturheilvereine« sammelten. Der 1914 gegründete »Reichsbund« verschwand mit dem alten Reich. Ebenso verhielt es sich mit den Neomalthusianern.272 An Journalen standen den Laien das Reformblatt für Gesundheitspflege (Auflage: 16.000 Stück) und die Volksgesundheit (Auflage: 700 Stück) zur Verfügung.273 Durch eine Massenkundgebung mit 2.000 Teilnehmern gegen das Impfgesetz erwachte die böhmische Naturheilbewegung 1920 aus dem kriegsbedingten Dornröschenschlaf und formierte sich neu.274 Die Ärzte sahen ihre Chance gekommen, an der Gesundheitsaufklärung zu partizipieren, und gründeten umgehend in Prag, Aussig, Leitmeritz, Gablonz, Komotau, Marienbad, Eger, Saaz, Brüx, Teplitz, Bodenbach, Reichenberg, Warnsdorf, Haida, Karlsbad, Budweis, Pilsen, Brünn, Olmütz, Mährisch-Schönberg und MährischOstrau Ortsgruppen der »Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten« (DGBG).275 Die Mitglieder der ÖGBK lösten ihre Gesellschaft offenbar auf und traten wieder in die DGBK ein. Sowohl die Ärzte als auch die Naturheilkundigen sahen sich jedoch mit der Fragestellung konfrontiert, ob sie sich in ihrer Arbeit als »Deutsche im feindlichen Ausland« oder als »zufällig deutsche Bürger der ČSR« fühlen sollten. Letztere Orientierung wurde dadurch erschwert, dass gerade die mehrheitlich von Deutschen besiedelten Gebiete einen wirtschaftlichen Niedergang erlebten: Vormals bestehende Absatzmärkte brachen aufgrund der tschechischen Währungspolitik weg.276 Hinzu trat der Verlust an politischer 269 270 271 272 273 274 275 276
Hoyer: Arzt (1936), S. 32. Hoyer: Arzt (1936), S. 35. Hoyer: Arzt (1929), S. 184. Chachuat (1934), S. 475. Zu den Auflagezahlen siehe Adreßbücher-Redaktion (1937), S. 134. 40 Jahre Verein für Volksgesundheitspflege (1933), S. 22. Deutsche Gesellschaft (1919), S. 83. Albrecht (2007), S. 97 f.
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und gesellschaftlicher Bedeutung, da die deutsche Minderheit nicht länger die dominierende staatstragende Schicht stellte. Aus diesem Klima der Unsicherheit heraus gründeten sich radikale Parteien wie die Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei, die bei Wahlen immer wieder erfolgreich war.277 Die Juden in der ČSR orientierten sich eher an der deutschen Kultur.278 In den großen Kurbädern Marienbad, Karlsbad und Franzensbad spielten sie als Gäste weiterhin eine große Rolle, und umgekehrt fühlten sich die Funktionäre jüdischer Organisationen dort so gut aufgehoben, dass der 12. Internationale Zionistische Weltkongress 1921 in Karlsbad tagte.279 Die in den Kurbädern tätigen Balneologen erfreuten sich bei den übrigen Ärzten in Böhmen keiner großen Beliebtheit, da die Werbungsaktionen der Kurorte nach Ansicht der Ärztekammer standesunwürdig waren.280 Darüber hinaus war die Ärzteschaft intergenerationell zerstritten, da jüngere Landärzte sich materiell benachteiligt fühlten.281 In den Ärztekammern dominierten Vertreter aus den großen Städten wie Prag oder Brünn, wo kaum Deutsche lebten, während Ärzte aus dem Sudetenland unterrepräsentiert waren.282 1922 wurden die Ärzte per Verordnung genötigt, Geschlechtskranke nicht nur zu behandeln, sondern auch dem Gesundheitsamt zu melden.283 Das war Wasser auf die Mühlen der Naturheiler, die Mitte der 1920er Jahre die Zahl der Vereine auf 100 und die der Anhänger auf 14.000 heben konnten.284 Hinsichtlich der Behandlung der Geschlechtskrankheiten lehnte der wirkmächtige Heiler und Schriftsteller Wilhelm Winsch (1863–1945) das Salvarsan strikt ab.285 Das von dem PharmaForscher Paul Ehrlich (1854–1915) entwickelte Medikament war seit seiner Markteinführung 1910 auch in Ärztekreisen höchst umstritten.286 Anfängliche Versprechungen, wonach eine einzige Injektion (»Therapia magna sterilisans«) zur Heilung genügen würde, erwiesen sich als falsch. Die zahlreichen Nebenwirkungen und die Unmöglichkeit eines sicheren serologischen Heilungserfolges ließen die Kritik an Salvarsan bis zu seiner Ablösung durch das Penicillin nach 1945 nicht verstummen.287 Insgesamt entspannte sich die Situation für die Naturheilkundigen. So wurden sie nicht mehr, wie noch vor 1914, auf der Straße verhaftet, wenn sie ein »Lichtbad« anpriesen.288 David Zimmer konnte seine »Sprechstunden« 277 Osterloh: Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei (2012), S. 156. Die Fusion der Partei mit der gleichnamigen Organisation in München scheiterte auf dem »Großdeutschen Parteitag« 1920, siehe Phelps (1961), S. 1140. 278 Stoklásková (2004), S. 107. 279 Triendl-Zadoff (2005), S. 125; Large (2015), S. 310. 280 Stein (1924), S. 69. 281 Dr. A. (1924), S. 469. 282 Ärztekammern (1926). 283 Gesetz (1924), S. 579. 284 Not (1925), S. 237. 285 Winsch (1923), S. 5 f. 286 Mildenberger (2012/13), S. 338–342, 353–361. 287 Mildenberger (2012/13), S. 366. 288 Moritz Schnitzer – ein Siebziger (1931), S. 51.
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offen bewerben.289 1927 öffnete in Gablonz eine kostenlose Mütterberatung ihre Pforten – die erste ihrer Art in der ČSR.290 In Prag ermöglichte der Arzt Emanuel Faifar in seiner privat geführten Wasserheilanstalt interessierten Laien eine sechswöchige Ausbildung, für die er auch Zeugnisse ausstellte.291 Als Ort für Fortbildungen diente das Erholungsheim in Steinschönau unter Leitung von Bernhard Oskar Dürr.292 Atemtherapie und Irisdiagnostik konnten offen vorgestellt werden.293 Hinsichtlich der Alkoholfrage wähnten sich die Naturheilkundigen im Einklang mit dem tschechoslowakischen Präsidenten Tomáš G. Masaryk (1850–1937).294 Doch veränderten sich durch staatliche Eingriffe insgesamt die Fronten zwischen den Naturheilkundigen und den approbierten Ärzten. 1925 nahm das Tschechoslowakische Staatsinstitut für Hygiene seine Arbeit auf und übernahm die zentrale Koordination aller Gesundheitsaufklärungs- und Hygienekampagnen.295 1924 und 1926 erließ das Ministerium für öffentliches Gesundheitswesen zwei Verlautbarungen, in welchen das Verbot der Laienheilkunde erneut hervorgehoben wurde.296 Diese bezogen sich jedoch vorrangig auf den schwunghaften Handel mit Wunderheilmitteln und fragwürdigen Apparaturen, bei deren Verfolgung Ministerium und DGBK eng zusammenwirkten.297 Insgesamt aber verlagerte sich der Schwerpunkt der Arbeit der DGBK auf Deutschland, so dass 1924 die Zentrale nach Berlin verlegt wurde.298 Dieser Trend dürfte sich nach dem Tod Kantors 1926 verstärkt haben. An seine Stelle trat in Böhmen der in Reichenberg tätige Arzt Siegfried Lissau (1873–1943), der sich 1928 während einer Diskussion über den Sinn des Impfens mit Wilhelm Ressel eine harte Auseinandersetzung lieferte.299 Mittlerweile hatte sich die naturheilkundliche Szenerie differenziert. Die zuvor von den Ärzten als potentielle Pfuscher angesehenen Zahntechniker und Dentisten waren 1920 von der Regierung als Gewerbetreibende anerkannt worden, wodurch sie der direkten ärztlichen Kontrolle entzogen wa-
289 Mitteilungen (1930), S. 29. 290 Kostenlose Mütterberatungen (1927), S. 320. Erst Anfang der 1930er Jahre bot ein »Dr. Lampl« in Prag ebenfalls Mütterberatung an, siehe Hodann (1932), S. 257. 291 Annoncen (1930), S. 8. Dies war im Jahre 1900 einem anderen Anbieter noch ausdrücklich von der Ärztekammer untersagt worden, siehe Verschiedenes (1900), S. 48. 292 Erholungsheim (1932). 293 Rundschau (1932); Atem (1932). 294 Präsident Th. G. Masaryk (1930), S. 34. Auch die staatlichen Hygieniker beriefen sich im gleichen Zusammenhang auf ihn, siehe Vacek (1930), S. 34. Aus Sicht tschechischer Ärzte war eine vegetarische Lebensweise als patriotischer Akt zu sehen und diente der Stärkung des »Volkskörpers«, siehe Franc (2011), S. 81. 295 Roček/Vacek (1930), S. 6. 296 Kugel (1933), S. 249. 297 Das Geschäft (1925); Dr. med. Robert Hahn (1926); Sonnen-Ätherstrahlapparat (1927); Tschechoslowakei (1927). 298 Vereinsnachrichten (1924), S. 94. 299 Ressel (1928), S. 7. Lissau sah sich als Vertreter einer patientenorientierten »neuen« Medizin, siehe Lissau (1910).
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ren.300 Hebammentätigkeit betrachtete der tschechoslowakische Staat nicht als heilkundliche Praxis, sondern als gewöhnliches Gewerbe, zu dessen Ausübung eine tschechoslowakische Staatsbürgerschaft und Prüfung notwendig waren.301 Die Ärzte verloren hier nicht nur Einflussmöglichkeiten, sondern sie fühlten sich auch gegenüber den sich wieder entfaltenden Naturheilkundigen und ihrer Propaganda im Stich gelassen.302 Die seitens der Regierung im Vergleich zur Situation vor 1918 ausgeweitete Sozialversicherungspolitik wurde von den Ärzten abgelehnt, weil diese ihre Arbeit auf die Attestierung der Leistungsfähigkeit der Patienten reduziere und zugleich die Patienten für Selbsthilfekampagnen unempfänglich machen würde.303 Die Stärke der Naturheilbewegung war auch ein Ergebnis der Schwäche der Ärzte auf dem Gebiet der Therapie. So musste der »Reichsverband der Deutschen Ärzte-Vereine in der tschechoslowakischen Republik« in seinen Empfehlungen einräumen, dass bei internistischen Leiden Sandbäder, physikalische Heilmethoden, Massage, kalte Umschläge und Bäder die Mittel der ersten Wahl waren.304 Im Bereich der Diagnostik kam der einzige neue Zugang aus der Feder des Karlsbader Arztes Franz Xaver Mayr (1875–1965), der eine Theorie der Verdauungskrankheiten entwickelte, die stark von der Naturheilkunde beeinflusst war.305 Zugleich beklagten Ärztevertreter die zunehmende Technisierung des Alltags, wodurch sich Ärzte von ihren Patienten entfremdeten.306 Aufgrund der geringen Dichte an Ärzten in ländlichen Gebieten waren die Kranken zunächst mit den lokalen Sanitätern konfrontiert, die infolgedessen als Quasi-Ärzte fungierten und auch so angesprochen wurden, z. B. »Dr. Grünert« in Liebenau.307 Die Entfernung von Warzen übernahm ohnehin »bei abnehmendem Mond« eine meist bezirksweit bekannte Heilerin, z. B. »Zangl-Wawa« Katharina Liegert (1850–1951) in Gumplitz im Egerland.308 Die ländlichen Dorfkulturen erfuhren in den 1920er Jahren eine Modernisierung durch den Anschluss an Stromnetze und Wasserversorgung, aber auch durch die Entfaltung der Siedlerbewegung im Sudetenland: Lebensreformerische Stadtbewohner suchten für sich und ihre Familien eine ländliche Zukunft. So ließen sich die Eltern der Schriftstellerin Gudrun Pausewang (geb. 1928) auf der »Rosinkawiese« bei Wichstadtl unweit der deutschtschechischen Grenze nieder und bauten einen Selbstversorgerhof auf.309 Die Kinder des Ehepaars wurden zwar nicht geimpft und mit Naturheilmitteln
300 301 302 303 304 305 306 307 308 309
Das Zahntechnikergesetz (1921), S. 44. Hoyer (1924), S. 496. Kantor (1925), S. 287. Pick (1933), S. 23; Pick (1936), S. 47. Reichsverband (1930), S. 292. Siehe auch Walko (1930), S. 164 f. Mayr (1925); Rauch (1982). Pick (1936), S. 74. Blaschka (2004), S. 57. Wilfling (1991), S. 378. Ott (1999), S. 119. Zur verständnislosen Reaktion der Dorfbewohner siehe Pausewang (1996), S. 13; Wedemeyer-Kolwe (2017), S. 101.
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und Kräutern prophylaktisch gegen Krankheiten behandelt – im Falle eines akuten Leidens aber doch der lokale Arzt gerufen.310 Die ČSR begriff sich als laizistisches Staatswesen in bewusster Abgrenzung zur katholischen Kirche, welche die Hauptstütze der habsburgischen Herrschaft über Jahrhunderte gewesen war. Dies drückte sich auch im gesellschaftlichen Klima und der Haltung gegenüber von der Kirche tabuisierten Fragestellungen aus.311 An der Karls-Universität wirkte der Zoologe Michail N. Novikov (1876–1965) als Präzeptor der Evolutionären Synthese. 1921 wurde ein Lehrstuhl für Geschlechtslehre eingerichtet.312 Zwischen der deutschen und tschechischen Sexualreformbewegung bestanden enge Kontakte.313 1931 erschien erstmals eine Zeitschrift, die die Emanzipationsbestrebungen homosexueller Männer bewarb.314 Sexual- und Körperaufklärung fand im Rundfunk statt315, und 1933 kamen tschechische Kinobesucher in den Genuss der ersten, zehnminütigen Nacktszene der Filmgeschichte (»Extáze«)316. Eine Selbstoptimierung durch gesunde Ernährung spielte für die tschechische Nationalbewegung eine große Rolle.317 Parteiübergreifend wurde auch die Reform des Abtreibungsrechts diskutiert.318 Insgesamt nutzte das gesellschaftliche Reformklima all jenen Akteuren, die sich mit Körperarbeit oder Körpertherapie beschäftigten. Zu den Nutznießern der Mischung aus liberalem Klima, Rechtsunsicherheit und planlosen Behörden gehörte auch die 1893 in Hadmersleben geborene Hannah Reimer. Sie hatte zunächst ein Lehrerinnenseminar in Halle erfolgreich abgeschlossen, dann aber 1912/13 die Krankenpflegeschule in Charlottenburg absolviert und anschließend Spezialkurse in schwedischer Heilgymnastik besucht.319 Eine eigene schwere Erkrankung, die mit einer Verkürzung des linken Beins infolge einer Operation einherging, hatte in ihr das Interesse für eine Verbesserung der Heilgymnastik und Operationsnach310 Pausewang/Pausewang (1980), S. 101. Die Stelle für die Brunnenbohrung wählte ein Wünschelrutengänger aus (S. 27). Das Experiment scheiterte letztlich 1937, doch im Rahmen der Besetzung des Sudetenlandes durch das Deutsche Reich 1938 konnte die Familie die »Rosinkawiese« im Nebenerwerb doch noch erfolgreich weiterführen, ehe die Pausewangs 1945 vertrieben wurden. 311 Feinberg (2007), S. 47. 312 Tomás Hermann/Kleisner (2004), S. 234. 313 Schindler (1999); Schindler (2000). 314 Soetaert (2015), S. 8. Hieran war der jüdische Arzt Erwin Klausner (1883–1944) beteiligt, siehe Šimůnek (2013), S. 100. 315 Zusammenfassung der Vorträge bei Weisskopf (1932). Zur Geschichte der Sexualaufklärung siehe Schuster (1990). 316 Thomas (2007), S. 129. Darstellerin war Maria Kiesler (1914–2000; bekannt auch als »Hedy Lamarr«). Im gleichen Film simulierte sie auch über fünf Minuten lang den ersten weiblichen Orgasmus der Filmgeschichte. Die katholische Kirche setzte den Film sogleich nach Erscheinen auf den Index, was der Verbreitung des Streifens ungemein nutzte. 317 Frančíková (2017), S. 106. 318 Feinberg (2006), S. 140; Huebner (2010), S. 29 f.; Huebner (2016), S. 69. 319 Staatsarchiv Sigmaringen, Wü 13 T2, Bestellnummer 1806/125, Lebenslauf im Rahmen der Entnazifizierung, 1946.
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Die Geschichte der alternativen Heilkulturen in Böhmen
sorge geweckt.320 1915 heiratete sie den Journalisten Edmund Reimer (1879– 1945) und zog mit ihm nach Prag um. Der Ehemann arbeitete für die Zeitung Tribuna und weitere, dem liberalen Spektrum zuzurechnende Journale.321 Zugleich betätigte er sich als Historiograph der in Böhmen und Mähren im Umkreis der Hussiten sich entfaltenden christlichen Sekte der »Adamiten«, die er als Präzeptoren der Nacktkultur, Eugenik und eines »Licht-Glaubens« identifizierte.322 Sich selbst stellte er in eine Traditionslinie zu den Adamiten, und auch seine Ehefrau tat dies, indem sie 1924 eine »Schule der Schönheit« in Prag gründete, in der sie Körper- und Nacktkultur mit Heilgymnastik verband.323 Ihre eigene Rolle als Mutter von zwei Kindern und Gattin sah sie als Voraussetzung an, um die Erziehung künftiger Helden zu gewährleisten, Körperbefreiung durch Gymnastik zu vermitteln und die Nacktkultur voranzubringen.324 Da sie die »Volksseele der Goto-Deutschen« als eher männlich identifizierte, stand sie einem Zusammenwirken mit den »weiblichen Slawen« positiv gegenüber, auch wenn sie befürchtete, dass »Rassenmischungen« den deutschen Anteilen eher schadeten, den Slawen und Juden hingegen nutzten.325 Da sie Kindern »das richtige Empfinden für die Nacktheit« attestierte326, illustrierte die »biologische Fachschriftstellerin« ihr Buch mit zahlreichen Abbildungen ihrer eigenen nacktturnenden Söhne. Doch dieses Idealbild zerbrach bereits 1927, als sich das Ehepaar Reimer in einen monatelangen Scheidungskrieg verstrickte, in dessen Verlauf beide Elternteile das Sorgerecht einbüßten und die Kinder in verschiedene Waisenhäuser transferiert wurden, ehe sie wieder ihrer Mutter übergeben wurden.327 Diese verdiente ihr Geld u. a. mit »biosophischer Beratung« und »Anleitung zur Selbstbehandlung«, was die Grenzen zur heilkundlichen Tätigkeit mindestens berührte, die Prager Polizei aber nicht zu einem Einschreiten veranlasste.328 320 Reimer-Sven: Geh-mit-mir (1925), S. 11. Zu diesem Kontext als Antrieb für die Arbeit in der Körpertherapie siehe Baxmann (2000), S. 184 f. 321 Hájková (1995), S. 188. Zum Projekt der Zeitung Tribuna siehe Čapková (2009). 322 Reimer: Adamiten (1926), S. 220; Reimer: Körperkulturbewegung (1926), S. 225. 1917 hatte die Produktionsgesellschaft »Lucernafilm« die Adamiten mittels des erfolgreichen Films »Pražští Adamité« ins öffentliche Bewusstsein katapultiert, siehe Krautz (1991), S. 36, 125. Reimer bewegte sich hier in einem von der tschechischen Nationalbewegung geförderten Diskursbereich. Die positive Bezugnahme auf Hussiten/Adamiten diente der Konstruktion historischer Kontinuitäten, siehe Kostlán (2013), S. 114. 323 Reimer-Sven (1926). 324 Reimer-Sven: Geh-mit-mir (1925), S. 13, 29. 325 Reimer-Sven: Geh-mit-mir (1925), S. 96 f. 326 Reimer-Sven: Pforte (1925), S. 2. 327 NA Prag, PR II – EO, Fond Policejní ředitelství Praha II – evidence obyvatelstva PR 1931–1940, Policejní ředitelství Praha II, všeobecná spisovna 1931–1940, Hannah Reimer, R633/6, Schreiben Eduard Reimers an die Polizeidirektion in Prag vom 5.2.1927; Neu-Sonnenfelder Jugend-Quäkersiedlung an Polizeidirektion in Prag vom 18.8.1927; Deutsche Landeskommission für Jugendschutz an Polizeidirektion in Prag vom 9.9.1927. 328 NA Prag, PR II – EO, Fond Policejní ředitelství Praha II – evidence obyvatelstva PR 1931–1940, Policejní ředitelství Praha II, všeobecná spisovna 1931–1940, Hannah Reimer, R633/6, Stellungnahme Hannah Reimers o. D. (1927).
Auf dem Weg ins »Großdeutsche Reich« (1933–1938)
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Eine drastische Verschärfung des innenpolitischen Klimas der ČSR erfolgte durch die Weltwirtschaftskrise, die insbesondere die sudetendeutschen Gebiete und die dort ansässige Industrie mit voller Härte traf.329 Waren 1929 noch 42.000 Menschen ohne Arbeit, so stieg die Zahl bis 1931 auf 291.000 an und erreichte 1934 die Rekordzahl von 844.000.330 Der Produktionsstand von 1929 wurde erst 1937 wieder erreicht.331 Von dieser Katastrophe waren auch die Naturheilvereine betroffen, von denen viele 1932 ihre Arbeit weitgehend einstellten.332 Der im gleichen Jahr stattfindende (letzte) Kongress der »Weltliga für Sexualreform« in Brünn konnte ebenfalls keine neuen Impulse setzen.333 Auf dem Weg ins »Großdeutsche Reich« (1933–1938) 1933 veränderte sich die Situation der ČSR insgesamt, aber auch der deutschen Minderheit dramatisch. Schon kurz nach der Machtübernahme Hitlers flohen zahlreiche Gegner über die Grenze bei Warnsdorf, die alsbald Ort von Schusswechseln wurde.334 Eine Verordnung der tschechoslowakischen Regierung vom Juni 1933 ermöglichte der Grenzpolizei eine laxe Handhabung des Asylrechts, was sich ab 1935 allmählich änderte.335 Die tschechischen Sozialdemokraten unter Leitung des Arztes Ludwig Czech (1870–1942) ermöglichten über ihre Vorfeldorganisation der »Naturfreunde« im Sudetenland den Flüchtlingen eine erste Unterkunft.336 In Prag tummelten sich alsbald exilierte Kommunisten ebenso wie Sozialdemokraten, verfolgte Künstler und Anhänger von Otto Straßers (1897–1974) »Schwarzer Front«.337 Der Antisemitismus nahm auch in der ČSR zu, beispielsweise in den großen Kurbädern.338 Als Provokation verkündete der nationalsozialistische Turnlehrer und Politfunktionär Konrad Henlein (1898–1945) das politische Programm seiner 1933 gegründeten Sudetendeutschen Heimatfront (SHF), die er 1935 in die Sudetendeutsche Partei (SdP) als böhmische NSDAP umwandelte, in Karlsbad.339 Spätestens zu diesem Zeitpunkt war die deutsche Minderheit in der ČSR tief 329 Becher (2002), S. 163. 330 Brandes (2008), S. 18. 331 Brandes (2008), S. 19. Beständige Streitpunkte waren die Bevorzugung der Tschechen bei Einstellungen im öffentlichen Dienst sowie die wirtschaftspolitische Vernachlässigung der sudetendeutschen Gebiete, wie auch die deutsche Exil-SPD monierte, siehe Deutschland-Berichte (1938/1980), S. 352. 332 An die geehrten Mitglieder (1932), S. 89. 333 Herzer (2001), S. 227 f. Zur Beteiligung tschechischer Behörden an der Tagung siehe Charlotte Wolff (1986), S. 372. 334 Röder (1992), S. 20 f.; Čapková/Frankl (2012), S. 24. 335 Čapková/Frankl (2012), S. 49, 116. 336 Becher (2002), S. 166. 337 Becher (2002), S. 160. 338 Large (2015), S. 313. 339 Kasper (2016), S. 28, 34. Siehe zusammenfassend Osterloh: Sudetendeutsche Heimatfront (2012).
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Die Geschichte der alternativen Heilkulturen in Böhmen
gespalten, und dieser Riss zog sich auch durch die Gemeinschaften der Naturheilkundigen und Ärzte. Die Laienvereine erholten sich langsam von den Nachwirkungen der Weltwirtschaftskrise.340 Ihre Zentren lagen in unmittelbarer Nähe zum Deutschen Reich. Dort wurde ab 1933 die Heilpraktik zunehmend anerkannt, in Reichsarbeitsgemeinschaften organisiert und die Kombination aus Arzneiverzicht und Prävention als »Neue Deutsche Heilkunde« gepriesen.341 Zugleich kündeten die zahlreichen Flüchtlinge von der anderen Seite des neuen Reiches. Ab 1933 lässt sich eine verstärkte Kooperation zwischen Naturheilkundigen und Ärzten feststellen, die auch immer wieder beschworen wurde.342 1935 wurde die Gründung einer gemeinsamen »Arbeitsgemeinschaft für biologische Heilweisen« annonciert.343 Den im Deutschen Reich als Ahnherr der natürlichen Heilweisen beworbenen Arzt Theophrastus von Hohenheim (1493–1541) machte der deutschnationale Schriftsteller Erwin Guido Kolbenheyer (1878–1962) in Böhmen durch Lesereisen bekannt, bei denen er aus seinen schwülstigen Paracelsus-Romanen vortrug.344 Deutsche Forscher wurden zu Vorträgen eingeladen, z. B. Alfred Brauchle345 – aber auch Repräsentanten der katholischen österreichischen Lebensreform wie der »Savonarola von Graz«, Johannes Ude346. Gleichzeitig hielten die Naturheiler an ihren Gründungsvätern David Zimmer und Moritz Schnitzer fest, auch wenn diese weder politisch noch hinsichtlich ihrer Herkunft für den Nationalsozialismus kompatibel waren.347 Einige Autoren hetzten offen gegen die Politik des tschechoslowakischen Staates348, aber zugleich bekundete die Redaktion des Reformblatts für Gesundheitspflege 1937 Anteilnahme am Tod von Staatspräsident Masaryk und veranstaltete eine Trauerkundgebung349. Längst erschienen zu den Jahrestagungen der Vereine die Vertreter der lokalen Obrigkeit und nicht mehr die Gendarmerie.350 Der tschechoslowakische Staat entschärfte 1934 das Behandlungsverbot durch Laien mittels eines Massagegesetzes, wodurch Masseure (und alle entsprechend auftretenden Akteure) zu Angehörigen eines freien Gewerbes promoviert wurden.351 Sie durften auch Schönheitspflege durchführen oder Hühner340 Ein großes Problem für die Laienvereine war der Zusammenbruch der Phönix-Versicherungsgesellschaft 1936, weil die Firma nahezu sämtliche Haftpflichtversicherungen abgeschlossen hatte. Zur Phönix-Problematik siehe Lembke (2016). 341 Siehe hierzu Haug (1985). 342 Wissenschaftliche Naturheilkunde (1934). 343 Verbandsmitteilungen (1935), S. 5888. 344 Krolop (2014), S. 178. Zur Debatte um antijüdische Inhalte bei Paracelsus siehe Benzenhöfer/Finsterbusch (1997). 345 40 Jahre Verein für Volksgesundheitspflege (1933), S. 13. 346 Rundschau. Prof. Dr. Johann Ude (1934); Vereinsnachrichten (1936). 347 David Zimmer – ein Siebziger (1935); 75 Jahre Moritz Schnitzer (1936). 348 Siehe z. B. Dorschner (1934). 349 Thomas Garrigue Masaryk gestorben (1937), S. 6410. 350 Bundestag (1934), S. 5766. 351 Hoyer (1935), S. 9.
Auf dem Weg ins »Großdeutsche Reich« (1933–1938)
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augen entfernen.352 1937 regelte die Regierung die Einrichtung serologischer Labore neu, deren Leitung (prinzipiell) nun auch Nichtärzten offenstand.353 Dadurch wurde die Meldepflicht für Geschlechtskrankheiten quasi wieder außer Kraft gesetzt. Vereine für »Naturheilkunde« bzw. »Gesundheitspflege« gab es Ende 1936 in Auscha, Bense, Bodenbach, Brünn, Dauba, Deutsch-Gabel, Falkenau, Freiwaldau, Gablonz, Georgswalde, Großmergthal, Grottau, Karbitz, Komotau, Kratzau, Langenau, Böhmisch-Leipa, Leitmeritz, Morchenstern, Niedergrund, Olmütz, Mährisch-Ostrau, Röchlitz, Römerstadt, Rumburg, Schreckenstein, Steinschönau, Teplitz-Schönau, Troppau, Warnsdorf, Wiesenthal und Wölmsdorf. Die deutschsprachige und sich als »deutsch« begreifende Ärzteschaft sah sich 1933 mit dem Zustrom zahlreicher aus dem Deutschen Reich geflohener Kollegen konfrontiert. Unter ihnen befand sich der Zahnarzt Ewald Fabian (1885–1944), der mit Hilfe von Ludwig Czech die Zeitschrift Internationales Ärztliches Bulletin gründete. Hier positionierten sich exilierte und in der ČSR tätige Ärzte gegen den Nationalsozialismus. Unter ihnen war auch der Stadtphysikus von Aussig, Theodor David Gruschka (1888–1967). Ein wichtiges Argument, um die Ärzte gegen die Nazis zusammenzuschließen, bestand in der wiederholten Warnung, nationalsozialistische Medizin- und Gesundheitspolitik bestünde vor allem in der Förderung von »Kurpfuscherei« und Laienheilkunde.354 Dadurch wurde eine Verhärtung der Fronten zwischen Laien und approbierten Ärzten begünstigt und zugleich den nicht NS-affinen Naturheilkundigen das Leben erheblich erschwert. Gleichwohl sahen sich Czech und Gruschka innerhalb des »Reichsverbandes der deutschen Ärzte in der tschechoslowakischen Republik« mit Ablehnung aufgrund ihrer politischen Haltung konfrontiert.355 Eventuell positionierten sich den natürlichen Heilweisen aufgeschlossen gegenüberstehende und politisch unsichere Ärzte so eher auf Seiten des Nationalsozialismus. Die Prager Regierung unterstützte die deutschen Ärzte bei der Gründung einer eigenen »Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundheit« (AGV), die ab 1934 ihre Arbeit aufnahm. Sie übernahm die Rolle des seit 1930 ziemlich geräuschlos agierenden »Reichsausschusses für ländliche Gesundheitspflege«. In der AGV waren erstmals die DGBK in der ČSR, die Caritas und die Ärztevereine unter einem Dach.356 Auch die
352 BHStA München, MInn 106293, Gutachten von Ernst Hoyer betreffs der Bedingungen der Tätigkeit als Masseure in der ČSR und im Sudetenland vom 5.9.1952, S. 2. Allerdings ging die tschechische Medizinalbürokratie scharf gegen diejenigen Akteure vor, die zu offensichtlich ihre Naturheilpraxis bewarben, anstatt sie als »Massage« zu kaschieren. So verlor Albina Michaelová-Čápová 1936 ihre Zulassung als Masseuse, weil sie die von ihr ausgeübte Chiropraktik in den Mittelpunkt der Arbeit gestellt hatte, siehe Trouble (1936), S. 2; Gaucher-Peslherbe (1992), S. 323. 353 Streit (1937), S. 276. 354 Die Nazis (1934); Straßer (1935); Gruschka (1935); Kenta (1936); Ludwig Czech (1936). 355 Schluß (1938). 356 Tätigkeitsbericht (1934), S. 5.
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DGBG »in der ČSR« war eingebunden und baute Beratungsstellen auf.357 Die Bekämpfung von »Kurpfuscherei« spielte eine bedeutende Rolle für die Akteure, wobei hierunter vorrangig Verkäufer von Wunderheilmitteln oder Amuletten verstanden wurden.358 Hygienische Beratung wurde als zentrales Hilfsmittel zur Verbesserung der Volksgesundheit angesehen, wobei diese allein durch Ärzte zu bewerkstelligen sei.359 Andere Akteure, z. B. Gymnastiklehrer, dürften nur unter ärztlicher Aufsicht wirken.360 1937/38 unternahm die Regierung Ansätze zur Dezentralisierung der Gesundheitsfürsorge mit dem Ziel, die Eigeninitiative lokaler Ärzte bei der Bekämpfung von Tuberkulose, Diabetes, Alkoholismus und Geschlechtskrankheiten zu fördern.361 Die Reform des Abtreibungsstrafrechts stand ebenfalls zur Debatte.362 Auch wurde eine Neuregelung des »Kurpfuscherei«-Verbots ins Auge gefasst, was die AGV für wichtig hielt, da »zur Zeit die nicht zur Behandlung Berechtigten eine erhöhte Tätigkeit entwickeln, die dem Staate nicht gleichgültig sein kann, da sie, z. B. bei der Bekämpfung gewisser Seuchen, durch Agitation gegen wichtige Schutzmaßnahmen zum Schaden der Volksgesundheit störend eingreift«.363 Diese Pläne gelangten aber nicht mehr zur Ausführung. Nach dem »Anschluss« Österreichs im März 1938 eskalierte die innenpolitische Situation in der ČSR.364 Die SdP Henleins ließ sämtliche Kompromissverhandlungen der Prager Regierung platzen und organisierte Zwischenfälle »empörter Bürger« mit den Sicherheitskräften.365 Von ihren Verbündeten im Stich gelassen, musste die Regierung im Münchner Abkommen vom 30. September 1938 der Abtretung der sudetendeutschen Gebiete zustimmen. Sofort nach Verkündigung des Zwangsvertrages begann der Einmarsch deutscher Truppen in die Grenzgebiete und die Überführung des Territoriums in den Gültigkeitsbereich des Rechts des Deutschen Reiches. Parallel entfalteten Henleins Schergen Hetzjagden auf politische Gegner und organisierten »spontane Kundgebungen« zur Begrüßung der Wehrmacht.366 Die meisten annektierten Gebiete wurden im neu geschaffenen Reichsgau Sudetenland zwangsvereinigt. Dieser gliederte sich in die drei Regierungsbezirke Eger, Aussig und Troppau. Ihnen unterstanden insgesamt 57 Stadt- und Landkreise (Aussig: 22, Eger: 19, Troppau: 16). Nur einige an das ehemalige Österreich grenzende Landkreise waren davon ausgenommen und wurden dem Gau Oberdonau zugeschlagen.367 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367
Ziele und Aufgaben (1936), S. 13. Hoyer: Zauberformel (1936); Reklame-Heilmittel (1936); Dr. B. (1936). Breinl (1935), S. 3. Schwarzer (1935). Slabihoudek (1937); Johanovská (1938). A. M. Marx (1938), S. 369. Das öffentliche Gesundheitswesen (1937), S. 997. Koll (2010), S. 273. Christoph Boyer/Kučera (1996), S. 282. Anders (2008), S. 88; Brandes (2008), S. 166, 261. Záloha (1993), S. 443.
Heilpraktikerschaft im Reichsgau Sudetenland (1938/39–1945)
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Heilpraktikerschaft im Reichsgau Sudetenland (1938/39–1945) Sogleich nach der Besetzung des Gebietes durch die Wehrmacht erfolgte die Zerschlagung der breiten Vereinskultur und die Überführung der Mitglieder in NS-Organisationen.368 Die jüdischen Vereine wurden aufgelöst, das Vermögen eingezogen und die jüdischen Ärzte ihrer beruflichen Möglichkeiten beraubt. Manch »alte Rechnung« wurde beglichen; so rächte sich der wegen einer illegalen Abtreibung zuvor belangte Arzt Karl Feitenhansl (1891–1951) an dem zum »Vierteljuden« erklärten Gutachter Hans Hermann Schmid (1884– 1963), der seinen Posten als Direktor der Frauenabteilung im Krankenhaus Reichenberg ebenso verlor wie die Leitung der Hebammenschule.369 Siegfried Lissau, Gegner Ressels und der Naturheilvereine, wurde 1943 im KZ Auschwitz ermordet.370 Bereits ab Sommer 1938 organisierte Henlein Plünderungen jüdischer Geschäfte. Die »Reichspogromnacht« wurde offen seitens der SA begangen.371 Von den ursprünglich im Sudetenland lebenden 24.500 Juden (1930) waren im Mai 1939 nur noch 2.400 im Lande.372 Insgesamt lebten im Land 1939 etwa 2,9 Millionen Menschen.373 Doch Henleins Partei hatte ein Personalproblem, weshalb zahlreiche Verwaltungsstellen nur mit Personal aus dem »Altreich« besetzt werden konnten.374 Aus Sicht der NS-Rassenbiologen waren die »Sudetengau(n)er«375 von der Physiognomie den Slawen nicht unähnlich, zudem »wenig ausgeglichen« und tendenziell »schwermütig, verträumt«376 – und bedurften mithin einer straffen Führung, die die Begeisterung über den Anschluss bei manchen Betroffenen verfliegen ließ. Hierzu trug auch die aggressive Antikirchenpolitik bei: Diözesen wurden zerschlagen, Klöster beschlagnahmt, Priester verhaftet und Ordensleuten der Zugang zum Religionsunterricht untersagt.377 Gleichwohl drängten viele Sudetendeutsche in die NSDAP. Binnen kürzester Zeit umfasste die Partei in Henleins Reich mehr als eine Million Mitglieder.378 Das erste gesundheitspolitische Ergebnis von »Heim ins Reich« war der Zusammenbruch der böhmischen Kurbäderlandschaft und Sanatorien aufgrund des ausbleibenden Tourismus.379 Alsbald wurden die Institutionen vom 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379
Oswald Wondrak (1982), S. 393; Volker Zimmermann (2006), S. 262. Isa Engelmann (2012), S. 245 f. Isa Engelmann (2012), S. 264. Osterloh (2006), S. 210. Osterloh (2006), S. 483. Anders (2008), S. 93. Gebel (1999), S. 211. Gebel (1999), S. 226. Ehrhardt (1940), S. 20. Mertens (2006), S. 275 f.; Pustejovsky (2009), S. 38, 43. Osterloh: Sudetendeutsche Heimatfront (2012), S. 592. Triendl-Zadoff (2007), S. 208. Das vom tschechischen Staat 1935 in Karlsbad gegründete balneologische Forschungsinstitut, in dem hydrotherapeutische Heilkulturen systematisch erforscht werden sollten, wurde geschlossen. Sein Leiter Emil Stránský (1889–1938) beging Selbstmord, siehe Hlaváčková (2013), S. 231.
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Die Geschichte der alternativen Heilkulturen in Böhmen
Militär beschlagnahmt.380 Die Ärzteschaft bewarb in ihrer zu Jahresbeginn neugegründeten Zeitschrift Der deutsche Arzt in der Tschechoslowakischen Republik eifrig die Balneotherapie381, den Impfschutz382 und die erbbiologische Forschung383. Die Umbenennung der eigenen Zeitschrift in Der sudetendeutsche Arzt wurde zwar annonciert, das neue Journal erlebte aber keine einzige Ausgabe.384 Nicht anders erging es dem Reformblatt für Gesundheitspflege, in dem kurz vor dem Münchner Abkommen bereits »Wir wollen heim ins Reich« getitelt wurde.385 Zugleich betonte man die traditionelle Gegnerschaft der Naturheilbewegung zum Parlamentarismus.386 In bewusstem Gegensatz zu den Ärzten wurde ein »natürlicher Schutz« vor Diphtherie der Impfung vorgezogen.387 Selbstbewusst verkündete Moritz Schnitzer: »Naturheilkunde ist die wahre, die einzig wahre gesundheitliche Wissenschaft und alles, was mit ihr nicht übereinstimmt, beruht auf Irrtum, Trugschluß und mangelnder Erkenntnis.«388 Am »Tag der Volksgesundheit« (25. Juni 1938) verkündete der »Verband der Vereine für Naturheilkunde, Selbstreform und Gesundheitspflege« seine Umbenennung in »Sudetendeutscher Bund für Volksgesundheit«.389 Die lebensreformerische Kulturlandschaft des Sudetenlandes umfasste im Sommer 1938 neben den Naturheilvereinen und ihren Bädern noch Reformhäuser (»Kaufhäuser für neuzeitlichen Lebensbedarf«) in Aussig, Bodenbach, Böhmisch-Leipa, Friedland, Leitmeritz, Mährisch-Ostrau, Schönerlinde, Steinschönau, Teplitz-Schönau und Warnsdorf. Vegetarische Gaststätten waren in Gablonz und Reichenberg vorhanden. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen avancierte der Vegetarier und Schriftleiter des Reformblatts, Hans Erwin Feix, zum Generalbevollmächtigten aller Vereine, deren Auflösung und Überführung in NS-Gliederungen ihm oblag.390 Sein Ansprechpartner in der chaotischen Gauverwaltung war der Leiter des Amtes für Volksgesundheit, das zugleich die Aufgaben der DAF in Fragen der Gesundheitsfürsorge übernahm: Karl Feitenhansl.391 Er glaubte ebenso wie Reichsstatthalter Henlein, relativ frei agieren zu können, doch die Unfähigkeit der neuen Verwaltung, die latente Wirtschaftskrise zu meistern, führte 1939/40 dazu, dass die Zentralbehörden in Berlin sich stark in die Innenpolitik des Gaus Sudetenland einmischten.392 Dies geschah zügig in der Heilpraktikerfrage. Die niedergelassenen Ärzte und ihre in Gesundheitsäm380 381 382 383 384 385 386 387 388 389 390 391 392
Large (2015), S. 363. Cartellieri (1938); Hochberger (1938); Pendl (1938). Gundel (1938); Kindermann: Seuchenkurve (1938); Kindermann: Erfahrungen (1938). Wissenschaftliche Tagungen (1938). Mitteilung (1938), S. 416. Feix (1938), S. 6519. Scharf (1938), S. 6494. Rundschau (1938), S. 6496. Schnitzer (1938), S. 6510. Tag der Volksgesundheit (1938), S. 6565. Bundesmitteilungen (1938), S. 6540. Rademacher (2000), S. 256. Jaroslav Hoffmann (2004), S. 125; Gebel (2004), S. 145.
Heilpraktikerschaft im Reichsgau Sudetenland (1938/39–1945)
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tern tätigen Kollegen sahen sich mit dem Problem konfrontiert, dass die bislang allenfalls geduldeten Laienheilkundigen nun zu anerkannten Akteuren des Gesundheitsmarktes aufsteigen sollten. Dies stellte ein medizinjuristisches Novum für ein Land dar, in dem kurative Laientätigkeit über Jahrhunderte untersagt gewesen war. In völliger Unkenntnis über die Anzahl der Heilkundigen im Reichsgau befürchtete Henlein einen unkontrollierten Zustrom aus dem »Altreich« und wandte sich hilfesuchend an August Eigruber (1907– 1947), Gauleiter im Reichsgau Oberdonau: Es muss damit gerechnet werden, dass eine Reihe von Heilpraktikern aus den übrigen Teilen des Deutschen Reiches nach der ersten Durchführungsverordnung vom 18.II.1939 um die Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde nachsucht. Es liegt nicht im Interesse der sudetendeutschen Bevölkerung, dass eine Ueberfremdung des Sudetenlandes mit auswärtigen Heilpraktikern einsetzt.393
Doch blieb der befürchtete Ansturm aus, und auch ohne eventuelle Neuankömmlinge versagte die Gauverwaltung bei der Durchführung des neuen Gesetzes vollkommen. So erließ das Regierungspräsidium in Aussig im März 1939 eine Entschließung, wonach die Durchführung des Heilpraktikergesetzes im Reichsgau Sudetenland nicht nötig sei, da es hier niemals eine Laienheilkunde gegeben habe.394 Der »Reichsheilpraktikerführer« Ernst Kees (1892–1974) beschwerte sich hierüber umgehend beim Reichsministerium des Innern und ließ in einem weiteren Schreiben seiner Wut über die Unfähigkeit der sudetendeutschen Behörden freien Lauf.395 Diese könnten Masseure und Heilpraktiker nicht unterscheiden und seien nicht einmal in der Lage, die deutsche Staatsangehörigkeit bei Antragstellern festzustellen.396 Nicht jede untere Verwaltungsbehörde zeigte sich zudem geneigt, die Deutsche Heilpraktikerschaft (DH) über Zahl und Namen der Antragsteller zu informieren, und verwies auf die nächsthöhere Ebene.397 So verhielten sich auch die Landratsämter im Regierungsbezirk Troppau, die zügig die Namen der Kandidaten (und ihre Vorstrafen) an die nächsthöhere Verwaltungsstelle meldeten. Demnach wollten im Kreis Jägersdorf sechs Männer und eine Frau die Zulassung erlangen, im Landkreis Troppau eine Frau, im Landkreis Trübau ein Mann, in Römerstadt zwei Männer, in Freiwaldau drei Männer und eine Frau, in Freudenthal vier Männer und eine Frau sowie in Neutitschin fünf Männer.398 Dass 393 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei MF 346 G13, Akt 960 aus 1939, Brief Henleins an Eigruber vom 1.3.1939. 394 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2926, Beschwerde der DH an das Regierungspräsidium in Aussig vom 16.5.1939. 395 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2926, Brief der DH an Reichsministerium des Innern vom 14.4.1939. 396 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2926, Brief der DH an Reichsministerium des Innern vom 14.4.1939. 397 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2926, Mitteilung des Landrates des Bezirks Freiwaldau an die DH vom 9.2.1939. 398 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2928, Mitteilungen der Landräte im April 1939.
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Heilpraktik ein Vollzeitberuf sein musste, war den Landräten meist entgangen, denn sie gaben genau an, welcher der Kandidaten die Heilkunde nur im Nebenerwerb ausüben wolle. Die DH ihrerseits war bemüht, die Zulassungen zu beschleunigen, und benannte als ihren lokalen Ansprechpartner den in Troppau ansässigen Naturheilkundigen Bruno Bellini-Riedl (1890–?).399 Am 1. April 1939 berichtete Bruno Bellini-Riedl an den Reichsheilpraktikerführer Ernst Kees: »Von verlässlicher Seite erfahren wir, dass von seiten einiger Amtsärzte, die Ansuchen unserer sudetendeutschen Heilpraktiker dazu benutzt werden sollen, um gegen diese strafbar vorzugehen.«400 Alle Hoffnungen der Amtsärzte und niedergelassenen Ärzte, die Erhebung der zuvor bekämpften Laienheilkundigen zu Heilpraktikern doch noch verhindern zu können, zerstoben durch ein Fernschreiben, das den Reichsstatthalter im Sudetengau am 22. Mai 1939 erreichte: Die Deutsche Heilpraktikerschaft hat mir mitgeteilt, daß der Vollzug des Gesetzes über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (Heilpraktikergesetz) – RGBl. I, S. 251 – in den sudetendeutschen Gebieten dadurch unmöglich gemacht wird, daß die Verwaltungsbehörden die sachliche Bearbeitung der Anträge auf Erlaubniserteilung nach § 1 des Gesetzes von vorneherein ablehnen, da die Betätigung der Heilpraktiker bisher verboten, also rechtlich betrachtet, nicht vorhanden war. Dieser Standpunkt kann von mir nicht geteilt werden. Es ist unbedingt notwendig, daß das Gesetz in den sudetendeutschen Gebieten genau so wie im Altreich durchgeführt wird. Das bisherige Kurierverbot nach früherem österreichischen und tschechischen Recht steht einer weiteren Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung nicht im Weg.401
Es dauerte jedoch einige Zeit, bis die unteren Verwaltungs- und Justizbehörden von diesem Erlass in Kenntnis gesetzt wurden. Dies wäre die Aufgabe des Amtes für Volksgesundheit gewesen, dessen Mitarbeiter aber offenbar den genauen Gesetzestext nicht kannten oder gelesen hatten. Anders ließe sich nicht erklären, warum das Büro des Reichsstatthalters Anfang Juni 1939 erklärte, unter Ausübung der Heilkunde sei jede Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden bei Menschen zu verstehen. Hierbei ist es unerheblich, ob die im obigen Sinne Heilkunde ausübende Person sich als Heilpraktiker, Berater, Naturheilkundige, Laienbehandler oder sonstige bezeichnet, ob sie gegen Entgelt tätig ist oder nicht. Unter den Begriff Heilpraktiker fallen aber nicht solche Personen, die als geprüfte Massierer, Orthopäden und Bandagisten tätig sind, die gewöhnlich nur auf ärztliches Anraten tätig werden. Es ist deshalb von Fall zu Fall zu prüfen, ob bei Anpassung und Verkauf von Leibbinden u. dgl. das Heilpraktikergesetz anzuwenden ist oder nicht.402
399 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2926, Mitteilung der DH an das Regierungspräsidium in Troppau vom 5.4.1939. 400 AdVdH Bonn, Akt BaWü 33, Sudetengau 1941–1946, Mitteilung Bellini-Riedls an die DH. 401 Bundesarchiv Berlin, R/1501/3016, Fernschreiben des Reichsministers des Innern an den Reichsstatthalter im Sudetengau vom 22.5.1939. 402 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2926, Rundschreiben des Reichsstatthalters an die Regierungspräsidenten vom 6.6.1939.
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Dies war in mehrfacher Hinsicht falsch: Die Behandlung aus Nächstenliebe heraus bedurfte keiner Zulassung durch das Heilpraktikergesetz, und das tschechoslowakische Massagegesetz hatte die Masseure zum freien Gewerbe gemacht, die keineswegs nur »auf ärztliches Anraten« hin agierten. Der Verkauf von Leibbinden wiederum oblag den Apotheken und eventuell den Drogerien, die aber mit dem Reichsgesetz zur Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung in keinem Bezug standen. Darüber hinaus war in dem Rundschreiben kein Hinweis auf eventuelle Aussetzung von Strafverfolgungsmaßnahmen aus der Zeit des Verbots der Laienheilkunde enthalten gewesen. Das Schreiben Henleins richtete sich an die Regierungspräsidenten, die diese Fehlinformationen als offizielle Verlautbarung des Deutschen Reiches an ihre Untergebenen weitergaben. Daher bedurfte es wiederholter Interventionen der DH, bis schließlich Mitte August 1939 auch die renitente Staatsanwaltschaft in Leitmeritz mittels eines geharnischten Fernschreibens des Reichsjustizministeriums auf die neue Situation aufmerksam gemacht werden konnte.403 Die dortige Staatsanwaltschaft hatte die Ansuchen um die Zulassung als Heilpraktiker zum Beweisstück erhoben und Strafverfahren wegen fortgesetzter »Kurpfuscherei« eingeleitet. Nun konnte nur noch die Nichterbringung eines »Ariernachweises« vorab die Zulassung als Heilpraktiker stoppen.404 Inzwischen führte die DH Professionalisierungskurse durch, in denen die künftigen Mitglieder auch auf den Umgang mit den Behörden vorbereitet wurden. Diese Veranstaltungen fanden unter Leitung von Heinz Brohm (Heilpraktikerschule Köln) an folgenden Orten statt: Stadtbücherei in Aussig (25. November 1939), »Schöffels Reformhaus« in Reichenberg (26. November 1939) und in der Stadthalle Karlsbad (28. November 1939).405 Nicht nur in der Frage der Heilpraktikerzulassung sah sich das Amt für Volksgesundheit überfordert. Die Einrichtung einer Dependance der Reichsapothekerkammer erfolgte erst verspätet 1940.406 Wurden Ärzte oder Laien wegen der Durchführung von Abtreibungen angezeigt, so konnten findige Rechtsanwälte immer wieder milde Strafen oder Freisprüche erreichen, indem sie argumentierten, dass § 144 des tschechischen (bzw. vormals österreichischen) Strafgesetzbuches den Einsatz »tauglicher Mittel« voraussetzte, die Abtreibung vor 1938 kaum bestraft wurde und die Nichtfortgeltung des tschechischen Gesetzes nicht definiert sei.407 Feitenhansl und dem Amt für Volksgesundheit gelang es nicht, die Gerichte vom Gegenteil zu überzeugen. Als 1941 Rudolf Heß (1894–1987) nach Schottland entflogen war und Martin Bormann (1900–1945) die Innenpolitik von Reich und Partei zu dominieren 403 AdVdH Bonn, Akt BaWü 33, Sudetengau 1941–1946, Mitteilung der DH an BelliniRiedl vom 14.8.1939. 404 Bundesarchiv Berlin, R/1501/3016, Mitteilung über Notwendigkeit des Ariernachweises für Heilpraktiker vom 12.2.1940. 405 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1940, Akt 265, MF 404, Brief der DH an David Imser vom 6.11.1939. 406 Schlick (2008), S. 66. 407 Anders (2008), S. 276.
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begann, reduzierte sich die Autonomie des Sudetenlandes weiter, da sich Bormann und Henlein nicht schätzten.408 Seit September 1939 begann die DH gemeinsam mit lokalen Kräften Schulungen durchzuführen. Von Seiten der sudetendeutschen Naturheilkundigen waren Bernhard Oskar Dürr, David Zimmer, Anton Dorschner und Bruno Bellini-Riedl beteiligt.409 Alsbald sollte sich herauskristallisieren, dass die Zentrale der DH nicht auf die altbekannten Führungspersonen vertraute, sondern den bis dato nicht hervorgetretenen Bellini-Riedl zum lokalen Statthalter aufbaute. Der bis 1939 als Koordinator wichtige David Zimmer wurde im Sommer 1942 zum Austritt genötigt.410 Bellini-Riedl kam auch die Aufgabe zu, Stimmungsberichte aus Heilpraktiker- und Patientenkreisen an das Amt für Volksgesundheit zu melden.411 Darüber hinaus sollte er bei den alsbald einsetzenden Zulassungsverfahren mitwirken. Die Gutachterausschüsse waren noch nicht gebildet, und so agierten die Regierungspräsidien und Landratsämter relativ unabhängig. Antragsteller, die sich fristgemäß gemeldet hatten und den »Ariernachweis« erbrachten412, konnten sich ihrer Zulassung dennoch nicht sicher sein. So verweigerte der Landrat in Römerstadt dem Landwirt Rudolf Langer aus Braunseifen auf Anraten des Gesundheitsamtes im Herbst 1940 die Zulassung.413 Ebenso erging es dem Heiler und Schmied Karl Lorenz (1868–?) im Kreis Freiwaldau.414 Nicht immer war aber der ärztliche Einspruch von Erfolg gekrönt. So ließ das Landratsamt in Jägerndorf die Sudetendeutsche Ärztekammer im Dezember 1939 barsch wissen, dass man sich Einspruch gegen die Zulassung von Josef Geißler (1898–?) verbitte.415 Erst im Juli 1941 wurde der zentrale Gutachterausschuss für den Reichsgau Sudetenland gebildet. An seiner Spitze stand Oberlandesgerichtsrat Karl Schulz. Ihm zur Seite agierten die Ärzte Georg Hüttl und Ferdinand Massmann aus Schreckenstein sowie die beiden Heilpraktiker Bruno Bellini-Riedl (Wolfschlinge) und Martin Janssen (Dresden).416 Da Letzterer außerhalb des 408 Biman (2004), S. 165. 409 AdVdH Bonn, Akt BaWü 33, Sudetengau 1941–1946, Stand von Leitern und Mitgliedern vom 8.9.1939. 410 AdVdH Bonn, Akt BaWü 33, Sudetengau 1941–1946, Mitteilung Bellini-Riedls an DH vom 22.7.1942. 411 AdVdH Bonn, Akt BaWü 33, Sudetengau 1941–1946, Bellini-Riedl an Amt für Volksgesundheit vom 1.12.1942; Bellini-Riedl an DH hinsichtlich der Stimmung im Gau Sudetenland vom 1.8.1942. Hierbei spielte gerade auch die katastrophale Versorgungssituation mit medizinischen Gütern eine Rolle, die auch in den Lageberichten der SS Erwähnung fand, siehe Boberach (1984), S. 2143. 412 Feldscher (1943), S. 75, 113. 413 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2928, Mitteilung des Gesundheitsamtes Römerstadt an Regierungspräsidium Troppau vom 6.9.1940. 414 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2928, Mitteilung des Gesundheitsamtes Freiwaldau an das Regierungspräsidium Troppau vom 25.7.1940. 415 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2928, Mitteilung des Landratsamtes Jägerndorf an die Sudetendeutsche Ärztekammer vom 22.12.1939. 416 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2926, Anordnung des Reichsstatthalters vom 2.7.1941.
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Gaues lebte und arbeitete, wurde die meiste Arbeit durch Bellini-Riedl erledigt. Zunächst galt es, die insgesamt zwölf Revisionsfälle abzuarbeiten. BelliniRiedl sah in dem Ausschuss das geeignete Instrument, um sich für die jahrzehntelange Gängelung durch Ärzte zu revanchieren: Im Altreich liegen diese Dinge vielleicht nicht so wie hier. Dort besassen die meisten Heilpraktiker Bewilligungen. Hier aber ist dies anders. Wir haben solche erstmalig. Dass wir hier unseren Gegnern ein Dorn im Auge waren ist begreiflich. Nun scheint es, als ob der Zeitpunkt gekommen wäre, die Rechnung gleichzuziehen.417
Auch manches scheinbar schon erledigte Verfahren musste bisweilen neu aufgerollt werden. So hatte die Sudetendeutsche Ärztekammer im Falle von Josef Geißler so lange bei verschiedenen Stellen der Gauverwaltung interveniert, bis diesem schließlich doch die Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde entzogen worden war. Offenbar jedoch schreckte die Ärztekammer zurück, als ihre Vertreter aufgefordert wurden, sich vor dem Gutachterausschuss zu erklären – der Einspruch wurde zurückgezogen.418 So erhielt Geißler doch noch im Herbst 1941 die Heilpraktikererlaubnis. Zusätzlich pachtete er das Erholungsheim Goldoppatal in Jägerndorf in »einem der lieblichsten Täler MährischSchlesiens«.419 In dieser Eigenschaft profitierte er enorm von den großzügigen Steuerreformen zugunsten der Gewerbetreibenden in den »Ostgebieten«.420 Im Fall der Mutter-Sohn-Praxisgemeinschaft Hermine und Walter Ludwig im Landkreis Freudenthal versuchte die Ärztekammer vergeblich, wenigstens eines der beiden Familienmitglieder von der Erteilung der Heilerlaubnis fernzuhalten.421 Bisweilen zog sogar die DH vor den Gutachterausschuss, um den Wiederentzug einer bereits gewährten Heilerlaubnis zu erzwingen. So geschah es im Fall der Diätassistentin Elisabeth Richter (1898–1983) aus Jägerndorf, der vom dortigen Landratsamt im Februar 1940 die Zulassung erteilt worden war.422 Offenbar jedoch scheiterte die DH mit diesem Antrag, denn Elisabeth Richter übte die Heilpraxis auch im Februar 1942 noch anerkannt aus.423 Erst im März 1943 entschied der Gutachterausschuss, Elisabeth Richter doch noch die Zulassung zu entziehen, wogegen sie vergeblich in Revision ging.424 417 AdVdH Bonn, Akt BaWü 33, Sudetengau 1941–1946, Brief Bellini-Riedls an DH vom 26.7.1941. 418 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2927, Mitteilung des Gutachterausschusses an den Regierungspräsidenten vom 25.10.1941. 419 Fremdenverkehrsverband (1910), S. 90. 420 Sellin/Adam (1942), Teil I, S. 25; Teil VII, S. 14. 421 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2927, Mitteilung der DH an das Regierungspräsidium vom 28.4.1941; Mitteilung des Gesundheitsamtes Freudenthal vom 2.8.1941. 422 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2926, Mitteilung des Landratsamtes vom 28.10.1941. 423 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2926, Mitteilung des Landratsamtes vom 23.2.1942. 424 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2927, Entscheidung des Gutachterausschusses vom 16.3.1943; Entscheidung des Reichsministeriums des Innern vom 16.10.1943.
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Das von den Antragstellern immer wieder betonte Vertrauen der Bevölkerung in die natürlichen Heilweisen war nicht unbedingt Wunschdenken. Das Buch »Meine Wasserkur« von Sebastian Kneipp war in den späten 1930er Jahren ein Bestseller, und auch in den vielfach aufgelegten Ärzteromanen spielte die ganzheitliche Medizin eine große Rolle.425 Während die Naturheilkundigen sich abmühten, durch die Berufung zu Heilpraktikern endlich anerkannter Teil des nationalsozialistischen Gesundheitswesens zu werden, entfaltete dieses seine ganze Brutalität durch die Einführung der Zwangssterilisation und die Ermordung von als geisteskrank eingestuften Menschen.426 Bei weitem nicht alle Interessierten durften Heilpraktiker werden. Ausgeschlossen waren grundsätzlich die weithin laienheilkundlich tätigen katholischen Priester. Dies musste auch Johann Willisch (1903–1978) erfahren, der seit 1930 die Heilkunde in seinem Pfarrhaus in Engelswald (Kreis Neutitschin) ausgeübt hatte.427 1940 wurde die Gauverwaltung auf ihn durch die Mithilfe eines Arztes aufmerksam und bestellte ihn im April ins Gesundheitsamt nach Troppau ein. Willisch erklärte, vor allem Kräutertees und Kräuterpackungen zu verordnen. Der zuständige Arzt notierte: »Im allgemeinen stellt er keine Untersuchung an, sondern lässt sich die Krankengeschichte und die Beschwerden erzählen und stellt dann unter Berücksichtigung der Irisdiagnose eine Krankheitsdiagnose.«428 Dies wurde Willisch nun mit sofortiger Wirkung verboten, und es erfolgte der Entzug der Pfarrstelle.429 Er hatte angegeben, dass die Patienten zu ihm aus purer Not und aufgrund des Mangels an Ärzten kamen – eine solche Antwort konnte das auf allumfassende Versorgung und Kontrolle abzielende NSSystem nicht akzeptieren. Andere Akteure wollten gar keine Anerkennung als Heilpraktiker erlangen, z. B. die in der Gemeinde Stich im Regierungsbezirk Eger tätige vormalige Prager Studentin der Botanik Grete Flach, die als lokale Kräuterheilkundige wirkte.430 Im Januar 1942 erfolgte die offizielle Meldung der Amtsträger der DH im Sudetengau an das Amt für Volksgesundheit und die DH. Zum Bezirksleiter wurde Bruno Bellini-Riedl (Mitgliedsnr. 6680) bestimmt, der aufgrund des zum Heeresdienst eingezogenen Stellvertreters und Kassenwarts diese Positionen gleich mit übernahm und mit Eduard Fiedler aus Reichenberg zusammen die Fortbildung koordinierte.431 Das Ehrengericht wurde von Fritz Möser, Ferdinand Klimt und Rudolf Riedel geleitet. Somit waren sämtliche Füh425 426 427 428
Adam (2010), S. 105, 176. Benzenhöfer u. a. (2006), S. 11 ff.; Böhm/Markwardt (2016), S. 31. Valasek (2003), S. 218 f. ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2928, Aktennotiz des Gesundheitsamtes Troppau vom 15.4.1940. 429 Valasek (2003), S. 218. 430 Kerckhoff (2013), S. 59. 431 AdVdH Bonn, Akt BaWü 33, Sudetengau 1941–1946, Mitteilung, Amtsträger-Meldung vom 28.1.1942.
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rungspositionen in der Hand von Personen, die vor 1938 im Sudetenland allenfalls untergeordnete Rollen gespielt hatten. Die Mitgliederliste umfasste 95 Namen, die Bellini-Riedl in drei Gruppen einteilte: A für geprüfte Heilpraktiker, B für Kandidaten und C für alle übrigen Heilkundigen. Als »erfolgreicher, intelligenter und zuverlässiger Heilpraktiker« rangierte auf Nr. 1 der Liste Alfred Dorschner (1901–1976), gefolgt von dem Gablonzer Komplexhomöopathen Anton Fiebinger (1879–19??) und dem Schulungsleiter in Troppau, Anton Hubatschek (1888–1942), der als »intelligent und einsatzbereit« geschildert wurde.432 Wirklich tätig waren im gesamten Reichsgau Mitte 1942 mindestens 27 Heilpraktiker, die alle der Gruppe A angehörten.433 BelliniRiedl übte eine Art Vorkontrolle für die DH aus, welche Laienheilkundigen sich als Heilpraktiker eigneten. So urteilte er u. a. über Rudolf Vogel in Karbitz: »strebsamer und erfolgreicher Heilpraktiker. Fleissig und einsatzbereit, intelligent und gewissenhaft«, während er über den selbstberufenen Magier Rudolf Bartl (1898–1974) in Karlsbad notierte, dieser »will sich nirgends einordnen, will nichts lernen«.434 Als geeignet für die Ausübung der Heilpraktik sahen Bellini-Riedl und die DH diejenigen Akteure an, die über professionelles Wissen in den Teilbereichen der Naturheilkunde verfügten, die bei Medizinalbürokratie und Bevölkerung gleichermaßen auf Zustimmung hoffen konnten. Ausweislich der Mitgliederliste von 95 Heilpraktikern handelte es sich hierbei im Falle der Diagnostik vor allem um Irisdiagnose (37), im Fall der Therapie bestimmten phytotherapeutische, hydrotherapeutische und homöopathische Maßnahmen die Praxistätigkeit. Die Häufigkeit der Irisdiagnose könnte ihre Begründung darin finden, dass auch ein Distriktarzt diese in den 1930er Jahren nutzte, bewarb und Hinweise zu ihrer Verwendung als diagnostisches Hilfsmittel gab.435 Allerdings war ihre Verwendung nicht unumstritten, und die ausschließliche Nutzung war den Heilpraktikern verboten. Bei Zuwiderhandlung drohte automatisch der Entzug der Zulassung.436 Weder die DH noch ihre Mitglieder erkannten aber die Tragweite einer Absprache zwischen Ernst Kees und Reichsgesundheitsführer Leo Conti (1900–1945) vom Herbst 1940. Demnach durften Heilpraktiker in den Volksgesundheitsvereinen nicht mehr tätig sein.437 Dies musste langfristig zu einem
432 AdVdH Bonn, Akt BaWü 33, Sudetengau 1941–1946, Mitteilung, Amtsträger-Meldung vom 28.1.1942. 433 AdVdH Bonn, Akt BaWü 33, Sudetengau 1941–1946, Mitteilung Bellini-Riedls an die DH vom 22.7.1942. 434 AdVdH Bonn, Akt BaWü 33, Sudetengau 1941–1946, Mitteilung Bellini-Riedls an die DH vom 22.7.1942. 435 Taller (1935), S. 23, 71, 88. 436 Grunwald (1941/42), S. 259. Siehe auch Ärztliche Rechtskunde (1943), S. 66, 342; Gritsch (1944), S. 34. Auch hatte die DH bereits 1933 bis 1935 etwa 2.000 Bewerber allein deswegen abgewiesen, weil sie sich »esoterischer« Methoden bedienten, siehe Heilpraktiker und Kurpfuscher (1935), S. 230. 437 Kees (1940), S. 233.
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Zusammenbruch der Vereinstätigkeiten und der engen Bindung zwischen Heilpraktikern und ihren potentiellen Patienten führen. Einige Zulassungsverfahren zogen sich über Jahre hin. So war Rudolf Langer von dem zuständigen Landrat ein guter Leumund attestiert worden, allerdings stehe er »geistig nicht auf der Höhe«.438 Das Gesundheitsamt in Römerstadt hatte ihn schlicht als »Kurpfuscher« bezeichnet.439 Unter Einschaltung des Gutachterausschusses wurde über ihn noch im Februar 1942 verhandelt.440 Im Januar 1943 entschied das Reichsministerium des Innern in einer einsamen Entscheidung, dass Langer kein Heilpraktiker werden dürfe – und informierte hierüber Monate später die DH, die noch überhaupt nicht gehört worden war.441 Daher ging die DH im Mai 1944 in Berufung, ungeachtet der Tatsache, dass Rudolf Langer selbst bereits im August 1943 bekundet hatte, kein Interesse mehr an der Ausübung der Heilkunde zu haben.442 Bei Karl Lorenz hingegen waren sich ärztliche und heilpraktische Mitglieder des Gutachterausschusses im Sommer 1943 einig, ihm die Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde zu versagen.443 Ihm wurde jedoch angeboten, beim Reichsministerium des Innern in Revision zu gehen, worauf er allerdings verzichtete.444 Im November 1943 zog das Reichsministerium des Innern selbst Bilanz. Insgesamt erhielten im Elsass, in Österreich und dem Sudetengau 103 Antragsteller die Zulassung.445 238 Personen wurde diese verweigert, wogegen 141 Beschwerden eingelegt worden waren, bei denen aber nur in zwei Fällen die DH Unterstützung geleistet habe.446 Die DH war bemüht, ein gutes Verhältnis zum Amt für Volksgesundheit herzustellen. Daher trafen sich BelliniRiedl und Feitenhansl im Juni 1944 zu einer gemeinsamen Arbeitstagung, auf der man sich wechselseitig das Vertrauen aussprach.447 Dies dürfte weniger 438 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2928, Mitteilung des Landrates an das Gesundheitsamt vom 28.8.1939. 439 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2928, Gesundheitsamt an Landrat vom 6.9.1940. 440 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2928, Mitteilung des Landrates an das Regierungspräsidium vom 9.2.1942. 441 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2928, Entscheidung des Reichsministeriums des Innern vom 23.1.1943. 442 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2928, Beschwerde der DH vom 19.5.1944; Mitteilung des Landrats in Römerstadt an das Regierungspräsidium vom 27.8.1943. 443 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2927, Entscheidung des Gutachterausschusses vom 28.7.1943. 444 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2927, Brief des Regierungspräsidenten an Lorenz vom 20.9.1943. 445 Bundesarchiv Berlin, R/1501/3016, Aktenvermerk über den Vollzug des Heilpraktikergesetzes vom 3.11.1943. 446 Bundesarchiv Berlin, R/1501/3016, Aktenvermerk über den Vollzug des Heilpraktikergesetzes vom 3.11.1943. 447 AdVdH Bonn, Akt BaWü 33, Sudetengau 1941–1946, Bericht Bellini-Riedls an die DH vom 4.6.1944.
Heilpraktikerschaft im Reichsgau Sudetenland (1938/39–1945)
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das Ergebnis eines neu gewonnenen Vertrauens der Gauleitung in die Heilpraktikerschaft als vielmehr der Tatsache entsprungen sein, dass das ohnehin kurz vor dem Zusammenbruch stehende Gesundheitswesen ohne die Heilpraktiker überhaupt nicht mehr funktionieren würde. Im Februar 1944 musste sich der Gutachterausschuss mit einer besonderen Fragestellung befassen. Der zur Wehrmacht eingezogene Heilpraktiker Rudolf Niemetz aus Freiwaldau wurde beschuldigt, von der Front aus Fernbehandlungen von Patienten durchzuführen.448 Daraufhin entschied das Reichsministerium des Innern, ihm die Erlaubnis zur Heilpraktik mit sofortiger Wirkung zu entziehen.449 Im Fall des seit 1941 um seine Zulassung kämpfenden Naturheilkundigen Franz Pawlik aus Mährisch-Schönberg gestaltete sich die Ermittlung des Gutachterausschusses problematisch, da aufgrund von »Feindeinwirkung« die Akten verlorengegangen waren.450 Der neu besetzte Gutachterausschuss – mittlerweile waren die Ärzte Hüttl und Massmann durch ihre Kollegen Heinrich Schöppe (Aussig) und Gustav Jahn (Teplitz-Schönau) ersetzt worden – lud daraufhin am 31. Oktober 1944 Pawlik vor. Einstimmig wurde »nach persönlicher Vernehmung« des Antragstellers beschlossen, dass dieser »eine Gefahr für die Volksgesundheit« darstelle.451 Zu einer Ausfertigung des Beschlusses und Meldung an das Reichsministerium des Innern scheint es aber nicht mehr gekommen zu sein. Im Januar 1945 wurden im Ostteil des Sudetengaus rund um Troppau behelfsmäßige Verteidigungslinien errichtet und ein Volkssturm aufgestellt.452 Luftangriffe gingen den Eroberungen voraus, Flüchtlingstrecks durchquerten das Land. Verwaltung und medizinische Versorgung brachen sukzessive zusammen. Troppau wurde Mitte April 1945 erobert, der Großteil der Bevölkerung war zuvor geflohen.453 Die amerikanischen Streitkräfte erreichten die westlichen Teile des Sudetenlandes vor der Roten Armee.454 Bis zuletzt lieferte Bruno Bellini-Riedl Berichte an die DH. So verteilte er noch im Januar 1945 neue »Amtsträgerausweise« an die Mitglieder, zeichnete im März die Kassenabrechnungen ab und informierte am 1. April 1945 die Zentrale in München vom Fortgang der Arbeit eines Kollegen, den er vom Dienst im Volkssturm hatte befreien lassen können.455 In markigen Worten wandte er 448 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2927, Brief des Regierungspräsidenten an den Landrat in Freiwaldau vom 31.1.1944. 449 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2927, Bescheid des Reichsministeriums des Innern vom 15.2.1944. 450 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2927, Mitteilung des Reichsministeriums des Innern an Gutachterausschuss und Regierungspräsidium vom 31.3.1944. 451 ZA Troppau, Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2927, Beschluss des Gutachterausschusses vom 31.10.1944. 452 Razumovsky/Razumovsky/Razumovsky (2000), S. 35, 39. 453 Ossadnik (2015), S. 211, 244. 454 Large (2015), S. 365. 455 AdVdH Bonn, Akt BaWü 33, Sudetengau 1941–1946, Brief Bellini-Riedls an die DH vom 16.1.1945; Brief Bellini-Riedls an DH vom 21.3.1945; Brief Bellini-Riedls an DH vom 1.4.1945.
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sich bis zuletzt an seine Mitglieder und forderte ihre Bereitschaft für das »Volksopfer«: »Die Deutschen Heilpraktiker im Sudetengau kennen den Ernst der Stunde, sie wissen dass der Feind vor den Toren des Reiches steht und dass es nun gilt, rasch zu handeln.«456 Für die meisten der Angesprochenen bestand letztere Aufforderung aus der Flucht gen Westen. Die Situation im »Reichsprotektorat Böhmen und Mähren« (1939–1945) Nach dem Inkrafttreten des Münchner Abkommens flohen Sozialdemokraten, Juden und Tschechen aus dem Sudetenland nach Prag in die scheinbare Sicherheit.457 Doch wenige Monate später marschierten deutsche Truppen in Prag ein. Am 16. März 1939 wurde das Reichsprotektorat Böhmen und Mähren geschaffen. Dieses Territorium besaß formal noch eine tschechische Regierung, doch lag die eigentliche Macht in den Händen des »Reichsprotektors« bzw. der deutschen bewaffneten Macht. Von den 7,5 Millionen Einwohnern waren nur 250.000 Deutsche.458 Die deutschen Einwohner wurden automatisch Reichsbürger, Tschechen und Juden hingegen Bürger des Protektorats.459 Die Vertreter der tschechischen Ärzteschaft versicherten am Tag der Protektoratsgründung den neuen Machthabern ihre »absolute Loyalität« und beteiligten sich an der Entrechtung ihrer jüdischen Kollegen.460 Viele Juden lebten weit verstreut, doch der tschechische Beamtenapparat arbeitete den Deutschen bereitwillig zu.461 Im Oktober 1939 wurden »jüdische Vermögen« eingezogen, ab Januar 1941 war Juden jede wirtschaftliche Tätigkeit untersagt, im Herbst begannen die Deportationen.462 Etwa 80.000 Juden wurden ermordet.463 Die deutsche Verwaltung umgarnte tschechische Intellektuelle, um diese zu ermuntern, sich publizistisch zugunsten Deutschlands zu äußern, um so die Stimmung unter ihren Landsleuten entsprechend zu steuern.464 Hierbei offenbarten die reichsdeutschen Kulturpolitiker die Kenntnis der ArndtSchulz-Regel und übertrugen sie in die Politik: »Wir glauben, dass homöopathische Mengen den Körper für stärkere Dosen aufnahmefähig machen.«465
456 AdVdH Bonn, Akt BaWü 33, Sudetengau 1941–1946, Aufruf Bellini-Riedls an die Mitglieder der DH im Reichsgau Sudetenland vom 11.2.1945. 457 Becher (2002), S. 172. 458 Kárný (1997), S. 17. 459 Wlaschek (1990), S. 96. 460 Svobodný (2001), S. 72. 461 Frommer (2013), S. 142. 462 Potthast (2000), S. 159–162. 463 Brandes (2001), S. 35. 464 Fauth (2004), S. 64. 465 Fauth (2004), S. 64.
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Der sich alsbald entfaltende »Volkstumskampf« ernüchterte die Tschechen schnell466, und als sich ab 1941 der Widerstand in Form von Protesten und Streiks verschärfte, antwortete die deutsche Verwaltung mit brutalen Repressalien467. Enteignungen, Vertreibungen und politische Säuberungen hatten jedoch eine katastrophale Auswirkung auf den Gesundheitsmarkt. Die ärztliche Topographie des arisierten Prag umfasste 1941 sieben Ärzte für Balneologie und physikalische Therapie, von denen zwei jedoch vor allem als Badeärzte außerhalb Prags wirkten und ein weiterer eigentlich Gynäkologe war.468 Für physikalische Therapie allein standen den fast 850.000 Einwohnern offiziell fünf Ärzte zur Verfügung, wobei drei von ihnen vorrangig Röntgenologen waren und die physikalische Therapie nur nebenbei anboten; ein Arzt fungierte hauptsächlich als Internist. Einen Facharzt für Homöopathie gab es nicht, und keine einzige Klinik bot eine physikalische Abteilung.469 Somit standen den Pragern nur fünf Fachleute zur Verfügung: Anton Prochazka, Wladimir Kucera, Eduard Emunt, Maria Kryspin und Ludmilla Pisch.470 Diese geringe Zahl ist wahrscheinlich das Ergebnis der Entfernung politisch unliebsamer und rassisch verfolgter Mediziner.471 Teilweise kompensiert wurde dieser Mangel durch das Vorhandensein von 177 Masseuren und 377 Geburtshelfern.472 Für Heilpraktiker hätten sich gleichwohl große Chancen geboten, jedoch verzichtete die Protektoratsverwaltung absichtlich auf eine Integration dieser im Reich gerade endgültig legalisierten Berufsgruppe. Die Ende 1939 gegründete »Deutsche Gesundheitskammer« im Reichsprotektorat Böhmen und Mähren umfasste zwar Ärzte, Zahnärzte, Dentisten, Apotheker und Hebammen – aber keine Heilpraktiker.473 Dabei hatten u. a. die Laienhomöopathen große Hoffnungen auf Entfaltungsmöglichkeiten im Protektorat gehegt.474 Im September 1940 wurde die Gesundheitskammer zur protektoralen Reichsärztekammer erhoben, die Heilpraktiker wurden aber erneut nicht genannt und waren daher nun nicht mehr (legal) existent.475 Sämtliche tschechischen Verordnungen und Gesetze auf dem Gebiet des Medizinalwesens verloren mit sofortiger Wirkung ihre Gültigkeit, d. h. auch die Zeugnisse mussten noch einmal nostrifiziert werden.476 Zum Jahresende 466 467 468 469 470 471 472 473 474 475 476
Isabel Heineman (2003), S. 128; Brandes (2014), S. 222. Rothkirchen (2005), S. 205; Bryant (2007), S. 159. Verzeichnis der Ärzte (1941), S. 74. Verzeichnis der Ärzte (1941), S. 75. Der einzige homöopathische Arzt, Richard Mayer (1869–1944), befand sich schon im Ruhestand, siehe Todesanzeigen (1944), S. 87. Zum Vergleich: Es gab in Prag vier plastische Chirurgen – ein Fach, das bei weitem exotischer war als die physikalische Therapie. Weindling (2004), S. 52 f. Eventuell wurden naturheilkundliche Konzepte zur Krankheitsvorbeugung im Rahmen des Programms der Turnvereine angeboten, siehe hierzu Bernhauer (1938), S. 84 ff. Adressbuch des Protektorats (1939), Bd. I, S. 785, 921 f. Tagesgeschichte (1939), S. 1140. Rudolf Schütze (1939), S. 86. Verordnung über die Deutsche Gesundheitskammer (1940), S. 1275. Verordnung zur Einführung (1940), S. 1274.
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wurde ein neues Arzneibuch eingeführt.477 Die Zusammensetzung der Gesundheitskammer wurde 1941 noch einmal bestätigt.478 Die Umsetzung rassenhygienischer Prämissen in der Medizin gestaltete sich schwierig, da es in der ČSR bis 1938 keine explizit eugenische Weiterbildung für Ärzte oder andere Angehörige der Gesundheitsbranche gegeben hatte.479 Ab dem Sommer 1942 sollte die Gesundheitskammer eine zentrale Rolle in der Umgestaltung des protektoralen Gesundheitswesens spielen, da die 1940 noch als so vorteilhaft beschriebenen deutsch-tschechischen Kooperationen auf dem Gebiet der Medizinalverwaltung längst nicht mehr funktionierten.480 Die Ärzte wurden angehalten, die Effektivität von Kurbädern stärker zu beachten – vermutlich um Arzneien zu sparen.481 Die entsprechend motivierten Mediziner nutzten diese Aufforderung allerdings vor allem dazu, alle Patienten, die sie nicht adäquat versorgen konnten, der Einfachheit halber auf Bäderkur zu schicken.482 Die Möglichkeit, Kranken die benötigten Arzneien per Post zu schicken, wurde den Ärzten Anfang 1942 genommen.483 Zu den Umstrukturierungsmaßnahmen zählte die Fusion der Dentisten und Zahnärzte.484 Dentisten konnten nur noch bis zum 30. September 1943 ihre Niederlassungserlaubnis beantragen.485 Ihre Gleichstellung gegenüber den Ärzten als »unabkömmlich« erhielten sie aber erst im März 1945.486 Der Reformplan vom Sommer 1942 implizierte die Schaffung einer »Arbeitsgemeinschaft der Heilberufe in Böhmen und Mähren«, die zum Jahresende eröffnet wurde, wiederum keine Heilpraktiker enthielt, aber die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und nichtärztlichem Fachpersonal stärken sollte.487 Um die Ärzte stärker kontrollieren zu können, wurde ein Ehrengericht geschaffen.488 Auch sollten sich »Berufskameraden« bei »Verletzung von Dienstpflichten« gegenseitig anzeigen.489 Im Juni 1944 wurde über die Hintertür die Laientätigkeit im Gesundheitssektor doch eingeführt: Aufgrund des Mangels an Betriebsärzten sollten für diese Rolle geeignete Laien eingestellt werden.490 Hiermit könnten neben den offiziell nicht existierenden »Naturheilkundigen« die medizinischen Masseure gemeint sein, die mittlerweile aufgrund der Ressourcenverknappung nicht einmal mehr Schlammpackungen verordnen konnten, weil die deutsch-böhmische Kriegswirtschaft dieses prekäre Gut nicht 477 478 479 480 481 482 483 484 485 486 487 488
Regierungsverordnung (1941), S. 943. Grote (1941), S. 5. Šimůnek (2006), S. 209; Hoßfeld/Šimůnek (2008), S. 46. Plato (1941), S. 319; Plato (1940), S. 722. Betrifft: Ausnutzung (1941), S. 300. Kühn (1942), S. 171. Falkenberg (1942), S. 106. Spancl (1941), S. 351. Ablegung (1943), S. 86. Betrifft: Einberufung (1945), S. 44. Wächter (1943), S. 10. Ärztliches Ehrengericht (1943), S. 54. Parallel wurde ein Ehrengericht für Apotheker geschaffen, siehe Gesetze, Verordnungen (1943), S. 167. 489 Deutsche Gesundheitskammer (1944), S. 327. 490 Betrifft: Laienkontrolle (1944), S. 200.
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mehr hervorzubringen in der Lage war.491 Die Masseure hatten nach der Aufhebung der tschechischen Medizinalgesetzgebung praktisch freien Handlungsspielraum erhalten. Manch einer stieg zum Diät- und Lebensberater auf wie der Brünner Masseur Gottlob Hornich. In seinem im Eigenverlag gedruckten »Weg zur Gesundheit« empfahl er neben einer vegetarischen Ernährung auch die Anwendung von Alchemilla Vulgaris zur Vorbeugung gegen die Notwendigkeit »gynäkologischer Operationen« – eine kaum verhüllte Anleitung für die phytotherapeutische Einleitung einer Abtreibung.492 Eine Definition der Tätigkeit von Masseuren lag nicht vor, da eine Abgrenzung zu den Heilpraktikern aufgrund von deren Nichtexistenz unnötig war. Vermutlich übernahmen die Masseure einen Teil der Tätigkeit, der im übrigen Reichsgebiet von naturheilkundlich bzw. hydrotherapeutisch arbeitenden Heilpraktikern ausgeübt wurde. Auch die Heilgymnasten konnten sich als freies Gewerbe völlig losgelöst von eventuellen Begrenzungen durch Heilpraktiker entfalten. So fand auch Hannah Reimer einen Platz im neuen System. Ihre private Schule für Körpererziehung schloss sie, um die neuen Behörden nicht auf ihre sexualreformerische Vergangenheit aufmerksam zu machen, und konzentrierte sich ganz auf ihre körpertherapeutische Praxis. Eine erneute Heirat im Herbst 1940 verwischte schließlich sämtliche Spuren.493 Im gleichen Jahr trat sie der DAF bei.494 Die heilgymnastische Praxis übte sie bis 1945 aus. Ihr Ex-Mann Edmund Reimer jedoch wurde ebenso wie seine neue, aber 1935 wieder geschiedene Ehefrau jüdischer Herkunft 1943 verhaftet.495 Während die ehemalige Gattin 1944 ermordet wurde, kam Edmund Reimer zunächst wieder frei, wurde jedoch bei den Kämpfen im Mai 1945 getötet.496 Der langjährige Ausbildungsleiter vieler Masseure, Heilgymnasten und Naturheilkundiger, Emanuel Faifar, trat der NSDAP bei und avancierte zum »Heilanstaltbesitzer«.497 Besonders günstig gestaltete sich die Situation für diejenigen Masseure, die an einer Badeanstalt arbeiteten oder diese gar gepachtet hatten. So erteilte das Gewerbereferat des Magistrats der Stadt Prag im April 1942 dem Junggesellen Alois Eis (1899–?) die Erlaubnis, in den Karlsbädern in Prag die »Behandlung von Badegästen« durchzuführen.498 Eine weitere Kontrolle seiner Tätigkeit fand nicht statt, nachdem er einmal ein Führungszeugnis vorgelegt 491 Betrifft: Aufhebung (1944), S. 344. 492 Hornich (1938), S. 6, 27. Über die Wirkung der Anwendung herrscht Unklarheit, die Intention ist aber eindeutig. 493 Stadtarchiv Villingen-Schwenningen, Meldekartenarchiv, Karte Reimer, Lebenslauf o. D. 494 Staatsarchiv Sigmaringen, Wü 13 T2, Bestellnummer 1806/125, Entnazifizierungsakte Reimer, Fragebogen. 495 Hájková (1995), S. 187. 496 Hájková (1995), S. 188. Ihr gemeinsamer Sohn Dan lebt heute in Israel. 497 AHM Prag, Fond Malý dekret, 118, 36–16412, Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, 1947. 498 PR II – EO, Fond Policejní ředitelství Praha II – evidence obyvatelstva PR 1941–1951, Policejní ředitelství Praha II – všeobecná spisovna 1941–1950, Karton 1889, E155/4 Alois Eis, Aktenvermerk vom Mai 1942.
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hatte, weil der Magistrat die Befürchtung gehegt hatte, Eis könnte seine Arbeit »zu sittlichkeitsgefährdenden Zwecken« nutzen.499 Tatsächlich waren die Karlsbäder seit ihrer Errichtung 1848 ein Refugium gleichgeschlechtlichen Verkehrs gewesen.500 Alois Eis übte die Tätigkeit für mehr als ein Jahr aus, ehe er sie Ende August 1943 beendete, sich die Gewerbeerlaubnis aber bewahrte. Eventuell war es im Rahmen der Anstrengungen des »Totalen Krieges« zu Einsparungen im Wellnessbereich gekommen. Gleichwohl wurde er ebenso wenig zum Militärdienst eingezogen wie seine Kollegen Antonin Michl (1899–?) und Amadeus Mottl (1905–?).501 Offenbar erkannte die Stadtverwaltung in Prag die Bedeutung ihrer Tätigkeit und ließ sie vollkommen gewähren. In den erhaltenen Akten lässt sich kein Hinweis auf eine behördliche Überprüfung ihrer Tätigkeit finden. Die Balance aus gegenseitigem Beschweigen der Tätigkeiten endete abrupt im Mai 1945. Nachkrieg Innerhalb von etwa elf Monaten nach Kriegsende vertrieben tschechische Behörden oder auch rasch (nachträglich) gegründete Widerstandskomitees die deutsche Minderheit sowohl aus den Gebieten des Sudetenlandes wie auch dem Reichsprotektorat. Etwa zwei Millionen Menschen wurden in das Gebiet der späteren Bundesrepublik zwangsumgesiedelt.502 Im Rahmen der Vertreibung kam es zu zahlreichen Misshandlungen.503 Bereits im Sommer 1945 gründete sich eine »Sudetendeutsche Hilfsstelle«, aus der sich später die »Sudetendeutsche Landsmannschaft« entwickelte.504 Zu ihren vielfältigen Aktivitäten zählte ab 1950 auch die Koordinierung einer sudetendeutschen historischen Forschung, wodurch viele Erinnerungen an die alternativheilkundlichen Kulturen (en passant) bewahrt wurden.505 In der in Gründung befindlichen Tschechisch-Slowakischen Sozialistischen Republik (Československá socialistická republika, ČSSR) erfolgte zügig die Wiedereröffnung der Universitäten und medizinischen Hochschulen, wobei hier die Ausrichtung an den wissenschaftstheoretischen Vorgaben der Sowjetunion schrittweise erfolgte. So wurde beispielsweise die frisch aus der Asche wiederentstandene Psycho-
499 PR II – EO, Fond Policejní ředitelství Praha II – evidence obyvatelstva PR 1941–1951, Policejní ředitelství Praha II – všeobecná spisovna 1941–1950, Karton 1889, E155/4 Alois Eis, Aktenvermerk vom Mai 1942. Zur gesetzlichen Regelung des Bäderbetriebes siehe Kundmachung (1941). 500 Seidl u. a. (2014), S. 21. 501 PR II – EO, Fond Policejní ředitelství Praha II – evidence obyvatelstva PR 1931–1940, Policejní ředitelství Praha II, všeobecná spisovna 1931–1940, M3154/19 Amadeus Mottl; M2175/13 Antonin Michl. 502 Daniel Levy (2002), S. 32. 503 Siehe hierzu Benz (1985); Brandes (2005). 504 Weger (2008), S. 107. 505 Henker/Schmidt-Egger (2009).
Nachkrieg
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analyse zunächst gelehrt, aber ab 1948 durch die Lehren Pavlovs ersetzt.506 Die Ärzte wurden Staatsangestellte, die nichtärztlichen Akteure auf dem Gesundheitsmarkt unterlagen alsbald starken Kontrollen und durften nicht mehr selbständig agieren.507 1951 wurden Zahnärzte und Dentisten zu Stomatologen zusammengefasst, während Krankenschwestern, medizintechnische Assistenten und Geburtshelfer einen mittleren Gesundheitsdienst bildeten und Bademeister, Pfleger sowie Sprechstundenhilfen darunter rangierten.508 In speziellen »Gesundheitsschulen« wurden ab 1952 Kenntnisse vermittelt, die den Absolventen in etwa das Niveau der gut ausgebildeten Naturheilkundigen aus den Jahren vor 1938 verschafften. Trotz der Vertreibung der Deutschen waren die tschechoslowakischen Bäder zumindest zu Beginn der 1950er Jahre noch an deutschsprachigen Gästen interessiert und bewarben die »Karlsbader Behandlungsmethode« in Werbeschriften in deutscher Sprache.509 Die Kuranstalten in Nordböhmen avancierten in den 1950er Jahren meist zu Staatsbädern.510 Der Traum der nach Israel geflohenen Juden hinsichtlich eines Marienbad am See Genezareth erfüllte sich hingegen nicht.511 Die einst von Sebastian Kneipp miteröffnete Bade- und Heilanstalt in Gablonz wurde 1949 in ein Sanatorium umgewandelt.512 Zu dieser Zeit hatten die vertriebenen Masseure, Heilgymnasten, Gesundheitsberater, Heilpraktiker und Naturheilkundigen an ihren neuen Wohnorten sich entweder neu etabliert oder andere Berufswege eingeschlagen. Hannah Reimer wurde laut Aktenvermerk im Juli 1946 die Aufenthaltsgenehmigung entzogen513, doch wohnte sie zu dieser Zeit bereits bei Verwandten in Treuenbrietzen unweit von Berlin514. Im Herbst 1946 zog sie zu einem ihrer Söhne nach Schwenningen.515 Im Januar 1947 erhielt sie die Erlaubnis, sich als Heilgymnastin niederlassen zu dürfen.516 Sie hielt losen Kontakt zu anderen Vertriebenen, stellte aber nie einen Wiedergutmachungsantrag.517 Diejenigen, die das machten, mussten sich einer umfassenden Untersuchung der eigenen Vermögensverhältnisse stellen, deren inquisitorische Aufnahme wenig an den geringen Zahlungen änderte. So erhielt der vormalige Troppauer Heilpraktiker Walter Ludwig (1913–?) als Entschädi506 Medizin (1954), S. 1284. Zur Relevanz von Pavlov für die sowjetisch beeinflusste Medizintheorie siehe Rüting (2002). 507 Weinerman (1969), S. 74. 508 Rudolf Urban (1959), S. 49. 509 Joachim (1950). 510 Marsch (2009), S. 129. 511 Triendl-Zadoff (2007), S. 211. 512 Ruprecht: Krankenhäuser (1963), S. 98. 513 NA Prag, PR 1941–1945, PR II – EO, Fond Policejní ředitelství Praha II – všeobecná spisovna 1941–1950, Vermerk vom 11.7.1946. 514 Stadtarchiv Villingen-Schwenningen, Meldekartenarchiv, Karte Reimer, Lebenslauf o. D. 515 Stadtarchiv Villingen-Schwenningen, Meldekartenarchiv, Karte Reimer, Lebenslauf o. D. 516 Staatsarchiv Sigmaringen, Wü 13 T2, Bestellnummer 1806/125, Entnazifizierungsakte Reimer, Mitteilung des Kreises Rottweil vom 9.1.1947. Zur Anerkennung der sudetendeutschen und tschechischen Diplome durch westdeutsche Behörden siehe Hoyer (1952), S. 11. 517 Adressbuch ehemaliger Prager Deutscher (1952), S. 44.
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gung für seine vollausgestattete und gut gehende Praxis keinen Pfennig. Der Verlust von Haus, Lebenswelt und Sparvermögen wurde bis 1967 mit weniger als 12.000 DM abgegolten.518 Seinem Landsmann Josef Geißler, Pächter des Goldoppabades und Heilpraktiker, erging es ähnlich. Ihm wurden etwas weniger als 4.200 DM zugestanden, zusätzlich erhielt er ein zinsgünstiges Aufbaudarlehen in Höhe von 15.300 Mark.519 Im Falle der Heilpraktikerin Elisabeth Richter zeigte sich die ganze Härte der Entschädigungsgesetzgebung. Weil sie ihre Tätigkeit bereits 1942/43 aufgrund der Requirierung des Gebäudes einstellen musste und nicht genügend Zeugen beibringen konnte, wurden ihr für den Verlust ihrer Praxiseinrichtung und des gesamten persönlichen Besitzes lediglich 577,50 DM zugestanden.520 Sie lebte nach dem Krieg in Salzburg und blieb offenbar heilpraktisch tätig, auch wenn dies in Österreich offiziell (wieder) verboten war. Nach Österreich hatten sich auch die Erben von Johann »Semmelkur« Schroth begeben. 1951 genehmigte die Kärntner Landesregierung die Erhebung von Obervellach zum »Schroth-Kurort«, weil die Familie dort ihren neuen Sanatoriumsbetrieb aufgezogen hatte.521 Dies war zwar ungesetzlich, weil in Obervellach »weder natürliche ortsgebundene Heilvorkommen noch Heilfaktoren im Sinne des Heilvorkommen- und Kurortgesetzes vorhanden« waren, doch störte dies weder die Entwicklung des neuen Schroth-Sanatoriums noch die Kärntner Landesregierung.522 Der noch im Februar 1945 so kämpferische Funktionär Bruno Bellini-Riedl wohnte in den 1950er Jahren in Starnberg. Karl Feitenhansl hingegen starb 1951 in einer tschechoslowakischen Strafanstalt. Sein eifriger Mitarbeiter und Amtsarzt in Warnsdorf, Heinrich Plotz (1890–1968), setzte seine Karriere als Polizeiarzt in München fort.523 Der von Bellini-Riedl empfohlene, in Franzensbad tätige Heilpraktiker Georg Fischer konnte nach seiner Flucht nach Württemberg 1947 sein 1939 in erster Auflage erschienenes phytotherapeutisches Lehrwerk neu herausbringen.524 Auch Alfred Dorschner blieb heilkundlich tätig und publizierte.525 Die 1946 vertriebene Landwirtin und Kräuterkundige Grete Flach ließ sich in Büdingen nieder und betätigte sich alsbald wieder als Heilerin. Obwohl sie über keine Heilpraktikererlaubnis verfügte, tolerierte die Gemeinde
518 Bundesarchiv Bayreuth, Lastenausgleichsarchiv, ZLA/1/11596468, Beschlüsse des Ausgleichsamtes vom 23.4.1959 und 14.6.1967. 519 Bundesarchiv Bayreuth, Lastenausgleichsarchiv, ZLA/1/11472855, Beschlüsse des Ausgleichsamtes 1956 und 1964. 520 Bundesarchiv Bayreuth, Lastenausgleichsarchiv, ZR/1/11676608, Beschluss des Ausgleichsamtes vom Februar 1957. 521 Slezak (1972), S. 3. 522 Slezak (1972), S. 3. 523 Ruprecht: Entwicklung (1963), S. 68. Siehe zudem Staatsarchiv München, Spruchkammerakten, Karton 1332. 524 Georg Fischer (1947). 525 Dorschner (1974); Dorschner (1975).
Nachkrieg
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ihre Tätigkeit über Jahrzehnte.526 Erst die Steuerfahndung beendete ihr Wirken, das sie auch in Publikationen präsentiert hatte.527 Bei anderen Akteuren des Gesundheitsmarktes verliert sich in der Nachkriegszeit jede Spur. Alois Eis besann sich seiner tschechischen Wurzeln und durfte zunächst bleiben, verließ das Land aber dennoch 1949. Über seinen weiteren Lebensweg ist nichts bekannt, auch die Lebenswege von Antonin Michl und Amadeus Mottl sind unklar. Emanuel Faifar hatte zunächst versucht, sich als Opfer des Nationalsozialismus zu positionieren, doch verrieten ihn seine tschechischen Nachbarn sowie Parteiakten, so dass ihm im Oktober 1948 das Recht zur Ausübung der ärztlichen Tätigkeit endgültig entzogen wurde und er selbst mitsamt seiner Familie das Land verlassen musste.528 Die archivalische Erinnerung an die alternativen Heilkulturen in den historischen Landschaften Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien blieb kursorisch. Vielfach gingen Archive im Frühjahr und Sommer 1945 in Flammen auf. Einzig das ab 1938 zum »Reichsarchiv« ausgebaute Landesarchiv in Troppau (heute: Opava) blieb vollständig erhalten.529 Die Furcht vor den gesundheitlichen Laienkulturen blieb in der tschechischen Medizinalbürokratie jedoch virulent. Noch 1979 warnten die Mitarbeiter des Prager Instituts für Gesundheitserziehung ausdrücklich vor der Gefahr, die für den Sozialismus von »im Familienkreis gewonnenen Erfahrungen« über Gesundheit, Krankheit und Prävention drohten.530 Zu dieser Zeit hatte sich die Laienkultur der böhmischen »Beineinrichter« längst in die schulmedizinische Manuelle Therapie verwandelt, in welcher der Prager Arzt Karel Lewit (1916–2014) eine europaweit führende Rolle spielte.531
526 Kerckhoff (2013), S. 62. 527 Flach (1986). 528 AHM Prag, Fond Malý dekret, 118, 36–16412, Urteil vom 22.10.1948; 36–26785, Ermittlungsakte Fejfar 1945–48. 529 Kravar (2014), S. 401 f. 530 Staifová/Novák (1980), S. 25. 531 Mildenberger (2015), S. 189 f.
Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik (ca. 1850 – ca. 2000) Zwischen bäuerlicher Tradition, Lebensreform und Industrialisierung (1850–1918) Der moderne österreichische Staat, geformt durch josephinische Reformen, Metternichsche Bürokratie und gebändigt durch beständigen Mangel an materiellen Ressourcen und Personal, nahm in der Frage der Zulassung von Laien zu heilkundlicher Tätigkeit von Anfang an eine ablehnende Haltung ein, gewährte aber selbst von Fall zu Fall Ausnahmen. Hinzu kam das zeitweise Verbot von Therapien, selbst wenn sie durch Ärzte ausgeführt wurden. Im Jahre 1803 fassten die Behörden der Erblande frühere Strafbestimmungen zu einem Strafgesetzbuch zusammen, in dem die §§ 98 und 99 das ärztliche Monopol in der Krankenbehandlung festschrieben.1 Ein Hofkanzleidekret von 1836 schrieb fest, dass diese Bestimmung auch für Personen galt, die ihren Abschluss im Ausland erzielt hatten. Ein weiteres Hofkanzleidekret von 1845 untersagte Nichtärzten die »Ausübung magnetischer Kuren«. Ab 1847 unterlag die Anwendung von Äther zu Narkosezwecken der Anordnung, dass diese nur durch Ärzte ausgeführt werden dürfe. Alle Bestimmungen flossen in das österreichische Strafgesetzbuch vom 27. Mai 1852 ein, das, von einigen Änderungen abgesehen, erst in den 1970er Jahren ersetzt wurde. § 343 legte das ärztliche Behandlungsmonopol und die Strafbestimmungen für »Pfuscher« fest. Da jedoch als Voraussetzung für therapeutische Tätigkeit nicht ausdrücklich ein Universitätsstudium, sondern »ärztlicher Unterricht« genannt war, versuchten Naturheilkundige bei niedergelassenen Ärzten »in die Lehre« zu gehen und sich dies testieren zu lassen. Erst 1900 erfolgte das endgültige Verbot dieser Praxis.2 1836 und 1840 erfolgten Verordnungen zur Einführung der Pockenschutzimpfung, wobei die Gewinnung des Impfstoffs bis 1897 dem jeweiligen Arzt überlassen blieb. 1854 wurde Laien untersagt, sich »Spezialist« zu nennen.3 Auch der Besitz eines ärztlichen Diploms schützte nicht vor Verfolgung. So verbot Kaiser Franz I. (1768–1835, reg. ab 1804) im Jahre 1819 die Homöopathie.4 Erst sein Nachfolger Ferdinand I. (1793–1875, reg. 1835–1848) hob das ohnehin nur lax angewandte Verbot wieder auf.5 Außerdem blieb lange Zeit unklar, wer sich als akademischer Arzt bezeichnen durfte. Denn die »Wundärzte« und »Chirurgen« gehörten seit 1784 einem freien (akademischen) Beruf an und waren infolgedessen keine Handwerker mehr.6 Sie durften allerdings ab 1781 kein »Bad« mehr führen, wozu sie die 1 2 3 4 5 6
Die Bestimmungen sind anschaulich beschrieben bei Amtlicher Teil (1933); Graack (1906), S. 20–26; Peiper (1901), S. 260 ff. Graack (1906), S. 23. Notizen (1903), S. 982. Lesky (1954), S. 127; Drexler/Bayr (1996), S. 78 f. Drexler/Bayr (1996), S. 79. Huber-Reismann (2006), S. 8.
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Hilfe eines lokalen Barbiers benötigten. Ab 1860 mussten Barbiere ihr Handwerk nicht mehr gemeinsam mit dem Wundarzt ausüben, sondern konnten sich frei niederlassen.7 Wundärzte wurden ab 1874 in Österreich nicht mehr ausgebildet, der Berufsstand starb langsam aus.8 Hebammen durften nicht zu chirurgischen Instrumenten greifen, waren aber seit 1842 zur Nottaufe verpflichtet, was sie quasi in den Rang des Arztes (oder Priesters) hob.9 Die Zusammenarbeit mit den selten verfügbaren Ärzten gestaltete sich schwierig.10 Gerade auf dem Land wirkten Hebammen weiter als Geburtshelferinnen, auch wenn ihnen das seit 1854 verboten war. Mütter und Priester schwiegen gleichermaßen.11 Erst 1870 wurde der Hebammenberuf ein freies Gewerbe, aber eine einheitliche Ausbildungsordnung wurde erst 1898 beschlossen.12 1870 wurde auch ein Reichssanitätsgesetz beschlossen, das die Einrichtung von Amtsarztbezirken und eine hygienische Kontrolle der Öffentlichkeit umfasste.13 Allerdings trat das zugehörige Epidemiegesetz, das anzeigepflichtige Krankheiten wie Scharlach, Diphtherie, Cholera, Pest, Gelbfieber oder Milzbrand benannte, erst am 14. März 1913 in Kraft. Die zur Kontrolle der lokalen Gesundheit eingesetzten Ärzte sahen sich einer je nach Kronland unterschiedlichen Entlohnung und Kompetenzverteilung ausgesetzt.14 1898/1900 gab Österreich-Ungarn für je 100 Bürger pro Jahr etwa 1 Gulden für die »Volksgesundheit« aus, wobei das meiste Geld in Verwaltungsausgaben floss.15 Koordinierte Fortbildungen für Amtsärzte gab es ab 1903.16 1873 stellte das k. k. Ministerium für Kultus und Unterricht den Entwurf eines Schularztgesetzes vor, doch erst nach 1900 wurden Schulärzte in einigen Kronländern versuchsweise eingesetzt.17 Das Verbot der Laienheilkunde wurde vom österreichischen Staat hinsichtlich einer bestimmten Berufsgruppe selbst unterlaufen: In der Regierungszeit von Joseph II. (1741–1790, reg. ab 1765) wurde die Kirche zwar als Machtfaktor beseitigt, aber zugleich die Priester angehalten, sich Kenntnisse über Gesundheit und Krankheit anzueignen.18 Unter Franz I. wurden die Priester für Impfkampagnen eingespannt und bereits in der Ausbildung zu gesundheitspolizeilichen Aufgaben eingesetzt.19 Dies hatte zur Folge, dass die 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19
Gstettner (2003), S. 97. Klettenhammer (1990), S. 10. Filippini (1998), S. 124. Seidel (1998), S. 385. Siehe zu dieser Problematik auch Hilber: Landarzt (2012); Hilber (2015). Bohle (1986), S. 8. Mathes: Hebammenwesen (1909), S. 57. Sablik (1970), S. 159. Dieses ersetzte das Sanitätshauptnormativ aus dem Jahre 1770, siehe Hans P. Friedl (1979), S. 471 f. Dietrich-Daum (2008), S. 210. Tagesnachrichten (1900), S. 38. Vermischte Nachrichten [Das österreichische Sanitätswesen] (1903), S. 171. Gamper (2002), S. 6 f. In Wien gab es erst 1913 die ersten Schulärzte (S. 21). Weissensteiner (2005), S. 40. Weissensteiner (2005), S. 48. Siehe auch Anton Hye (1831), S. 214 f.
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Priester sich alsbald ausersehen fühlten, die Heilkunde selbst anzuwenden.20 Auch nach einem Beschluss des k. k. Ministeriums des Innern aus dem Jahre 1887, wonach »Kurpfuscherei« ohne Gewinnabsicht ebenfalls zu verfolgen sei21, war heilkundliche Tätigkeit für viele Priester ein fester Bestandteil ihrer seelsorgerischen Arbeit. Ermuntert wurden sie hierzu durch die breite Rezeption der Schriften Sebastian Kneipps, die ab 1866 Verbreitung fanden.22 Entnervt notierte ein Kritiker Jahrzehnte später: »Seit Kneipp ist der Pfarrer häufig auch noch ein Concurrent des Arztes in der Krankenbehandlung. […] Man kann sagen: jeder Pfarrer kneippt.«23 Auch evangelische Pastoren betätigten sich auf heilkundlichem Gebiet, beispielsweise Gottlieb August Wimmer (1791–1863) im Burgenland, der Schul- und Gesundheitsreform gleichermaßen lehrte.24 Sie agierten eher als direkte Vollstrecker des Staates, während die katholischen Priester sich aufgrund ihrer theologischen Lehre als Vollstrecker göttlichen Willens im Sinne des heilenden Jesus (»Christus Medicus«) fühlen konnten.25 Diese Analogie fehlt im Protestantismus.26 Alle gesetzlichen Maßnahmen des Obrigkeitsstaates standen in krassem Widerspruch zu den Fähigkeiten der Schulmedizin. Diese versagte völlig in der Bekämpfung der Cholera, und auch der von Ärzten geforderte Ausbau der Kanalisation brachte bis in die 1870er Jahre hinein nicht den gewünschten Effekt.27 Allenfalls die Homöopathen konnten sich profilieren.28 Die wirkmächtige Wiener Schule verfolgte das Ziel, »vom Leichentisch aus Sicherheit in die Diagnostik zu bringen«29, doch die Konzentration auf die Diagnose anstelle der Therapie entfremdete die Ärzte von ihren Heilung suchenden Patienten. In den 1850er Jahren wurde den führenden Wiener Klinikern klar, dass ihr »therapeutischer Nihilismus« sämtliche Anstrengungen des Staates zur Kontrollgewinnung über den Gesundheitsmarkt torpedierte.30 Physikalische Heilmethoden, wie sie Gerard van Swieten (1700–1772) oder Maximilian Stoll (1742–1787) im 18. Jahrhundert beworben hatten, waren aus dem Repertoire der Wiener Schule wieder verschwunden.31 Es waren Außenseiter, 20 Zur Affinität von katholischem Klerus und heilkundlicher Tätigkeit siehe Stolberg (1998); Stolberg: Heilpraktiken (2009). 21 Graack (1906), S. 26. Dies wurde durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofes 1906 bestätigt, siehe Rechtsprechung (1907), S. 261. 22 Farkas (2008), S. 18. 23 Gruß (1899), S. 9. 24 Kurz (1895), S. 44 f.; Simon (1978), S. 246. 25 Siehe Fichtner (1982), S. 4 f.; Gerhard Müller (1967), S. 200 f.; Josef N. Neumann (1996), S. 89. Gesamtüberblick bei Gollwitzer-Voll (2007). Zur Rolle von »Christus Medicus« zählte ausdrücklich auch die Nutzung von Arzneien, siehe Krafft (2002), S. 22 f. 26 Honecker (1985), S. 307. 27 Mattl (1991), S. 59; Skopec (1995), S. 253; Birkner (2002), S. 104. 28 Drexler/Bayr (1996), S. 80; Jütte (1996), S. 218. 29 Lesky (1965), S. 132. 30 Lesky (1965), S. 170. 31 Schäfer (1967), S. 149.
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beispielsweise jüdische Ärzte, die sich für die Hydrotherapie interessierten.32 Josef Seegen (1822–1904) begann als Badearzt in Karlsbad junge österreichische Ärzte an die Bädertherapie heranzuführen.33 Der Wundarzt Johann Emmel (1796–1868) eröffnete 1835 eine erste Wasserheilanstalt in Kaltenleutgeben in Niederösterreich. Wilhelm Winternitz hospitierte bei Prießnitz in Gräfenberg, habilitierte 1864 in Wien – und machte vorerst keine Karriere an der Hochschule.34 Daher eröffnete er ebenso wie zahlreiche andere, an physikalischen Methoden interessierte Kollegen eine private Heilanstalt. Diese befand sich ebenfalls in Kaltenleutgeben und spielte eine wichtige Rolle als Forschungszentrum und Keimzelle alternativer Heilkulturen.35 Auch wenn Winternitz sich gegen Laienheilkundige offiziell positionierte36 und gegen »Naturheilkünstler« auftrat37, so war er doch als Bezugsperson für die Laienheilkundigen interessant. Die von ihm initiierte Fachzeitschrift Blätter für klinische Hydrotherapie brachte ab 1891 das neueste Wissen über den sinnvollen Einsatz der Hydrotherapie bei verschiedenen Krankheiten in anschaulicher Sprache unters Publikum.38 Ab 1898 schulte Winternitz Angehörige des Militärsanitätswesens, die nach Ende ihrer Dienstzeit eine perfekte Ausbildung vorweisen konnten.39 Im Sanatoriumsdienst spielten hervorragend geschulte »Badediener« eine zentrale Rolle.40 Obwohl Winternitz mit seinem Erfolg die Anstrengungen der Wiener medizinischen Schule zumindest teilweise konterkarierte, erlangte er schließlich 1891 Anerkennung und eine Lehrkanzel an der Wiener Universität. Seine Heilanstalt richtete sich, wie eigentlich alle architektonischen und therapeutischen Anstrengungen der österreichischen Ärzteschaft, an ein Publikum, das mit den Unterschichten in keinem Bezug stand. Trotz des Versagens auf vielen Gebieten betrachteten österreichische Ärzte die Jahrzehnte vor 1885/1890 als ihr »goldenes Zeitalter«, da sie weitgehend unbehelligt von staatlichen Eingriffen agieren konnten.41 Dies änderte sich in den 1880er Jahren. 1887 war ein Unfallversicherungsgesetz, 1888 ein Krankenversicherungsgesetz erlassen worden, das aber allein auf Industriearbeiter beschränkt war.42 Eine Alterssicherung gab es ab 1909 nur für Angestellte, und eine Arbeitslosenversicherung kam über das Planungsstadium bis 1918 nie hinaus.43 Zugleich begann sich in den späten 1860er Jahren eine noch kleine alternative Gesundheits- und Heilkultur in der Donaumonarchie zu entwickeln. 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43
Zu dieser Thematik siehe Lienert (2008). Krauss (1991), S. 27. Krauss (1995), S. 87. Krauss (1991), S. 27; Ehrlich (2007), S. 212. Vermischtes (1892), S. 166. Winternitz (1909), S. 7. Siehe z. B. Winternitz: Infectionskrankheiten (1891); Pospischil (1891). Aus der Naturheilbewegung (1898), S. 110. Strasser (1908), S. 103 f. Dietrich-Daum (2008), S. 209. Fiereder (2004), S. 25. Fiereder (2004), S. 26 f. Zum Zeitkontext siehe Nord (1982), S. 12 f.
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1868 gründete Rosa Lehmann das vegetarische Speisehaus »Thalysia« in Wien44, 1870 bot der Bäckermeister Johann Koffer erstmals das »Grahambrot« in der Hauptstadt an45. 1868 formierte sich eine kleine Sektion des Deutschen Vereins für naturgemäße Lebensweise.46 1877 wurde der »Vegetarische Verein« in Wien gegründet.47 Prominentestes Mitglied war der Impfgegner Adolf Graf von Zedtwitz.48 Während die Hydrotherapie in Österreich ein Projekt der Ärzte wurde, erlangte eine andere Form der Naturheilkunde große Bedeutung für die Formierung einer Laienkultur. Ihre Anhänger nutzten dazu eine Ressource, die, anders als Wasser, örtlich ungebunden war: die Sonne. Bereits 1855 hatte der Schweizer Fabrikant Arnold Rikli in Veldes/ Oberkrain ein erstes Lichtbad eröffnet. Fernab der Regierungszentrale in Wien konnte er hier als »Naturarzt« und »Sonnendoktor« wirken, ohne eine invasive Medizinalbürokratie befürchten zu müssen. Rikli glaubte, dass der direkte Kontakt der Haut mit der Sonne Nervenschädigungen beseitigen könne.49 Aufgrund seiner Konzentration auf die Haut stand er Eingriffen wie Impfungen oder Serumtherapie ablehnend gegenüber.50 Er befürwortete eine Kombination aus Kaltwasseranwendungen und Sonnenbädern, so dass Anhänger von Prießnitz leicht zu seinen Konzeptionen wechseln konnten, ohne das Gefühl zu bekommen, ihre Wurzeln zu verraten.51 Zügig verbanden Anhänger seine Konzeptionen auch mit denen von »Pfarrer Kneipp«.52 Rikli glaubte an die Notwendigkeit eines »Gleichgewichts der Säfte« und konnte so Anhänger humoralpathologischer Ideen für sich einnehmen.53 Er spielte eine große Rolle in der Gewinnung von Anhängern einer naturorientierten Lebensweise. Daneben wirkten die Turnvereine als Orte der Körperertüchtigung für das (Klein-)Bürgertum und der Diskussion über die perfekte Ernährung.54 Als Orte der Politik waren sie insofern relevant, als sie ab den 1880er Jahren zu Tummelplätzen der Antisemiten wurden.55 1894 gründete sich in Wien ein Abstinenzlerbund56, ein Jahr später fanden sich im »Thalysia« die Anhänger von Kneipp, des Vegetarismus, Riklis, Prießnitz’ und einer Bodenreform zusammen und gründeten unter Mitwirkung dreier Ärzte den »Ersten Wiener Naturheilverein«. Das Geld für die Gründung und den Aufbau einer eigenen Badeanstalt in der Mariahilfer 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56
Wintersberger (1986), S. 36. Hildebrand (1938), S. 114. Wintersberger (1986), S. 25. Wiener Vegetarier Verein (1917), S. 14; Pirchan (1949), S. 17. Jansen (1987), S. 20. Rindlisbacher (2015), S. 396. Siehe auch Toplak/Zupanič Slavec (1998); WedemeyerKolwe (2017), S. 79 f. Leventhal (1977), S. 398. Leventhal (1977), S. 399 f.; Heyll (2006), S. 84. Siehe auch Rikli (1893). Stoll (1907), S. 14. Rikli (1903), S. 5. Zu diesem Konzept in der zeitgenössischen Naturheilkunde siehe auch Kerckhoff: Warum krank (2010), S. 138 f. Thaller/Recla (1973), S. 69, 119. Thaller/Recla (1973), S. 60, 66. Bericht über die Thätigkeit des Vereins (1894), S. 1.
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Straße 138 schoss der sächsische Naturheilunternehmer Friedrich Eduard Bilz (1842–1922) zu.57 Er ermöglichte auch die Herausgabe einer eigenen Zeitschrift, in der vor allem für Bilz-Produkte geworben wurde, den Österreichischen Gesundheitsrath. Sogleich mussten sich die Wiener Naturheilanhänger mit dem Vorwurf der Ärzteschaft beschäftigen, sie seien allesamt »Agenten aus dem Deutschen Reich«.58 Dazu trugen auch Vorträge deutscher Naturheiler bei, so z. B. von Reinhold Gerling (1863–1930), der im Dezember 1897 Öl ins Feuer goss, als er in einer Rede in Wien sagte: »Der Bildungsgang des Mediziners ist wahrhaft kein großartiger, das weiß der am besten, dem es gelungen ist, einen Blick hinter die Coulissen der medizinischen Gauklerbücher zu thun.«59 Der Naturheilverein in Wien zählte um 1900 etwa 930 Mitglieder.60 Es gab einige wenige Ärzte, die zu den natürlichen Heilweisen konvertiert waren. Hierzu zählte z. B. Ludwig Lasky, der sich als Spezialist für »magnetische Kuren« betätigte und sich damit in einem Feld bewegte, das Ärztevertreter vielfach als unwissenschaftlich kritisierten.61 In Wien formulierte ein anonymer Autor in den Wiener Medizinischen Blättern die äußerste Form des Entgegenkommens gegenüber den standesinternen Rebellen. Demnach erkenne man an, dass ein Arzt Naturheilkunde betreiben könne, aber nur wenn er sich von den Laien fernhalte.62 Zugleich räumte der Autor ein, dass die Hinwendung der Patienten zu den Laien ein hausgemachtes Problem sei: Allein während die Laienärzte viel Gewicht auf ihre Diät, Bäder, Umschläge, Waschungen, »Süsse«, Massage, Turnen, Luft, Licht, Lungengymnastik etc. legen, wird von den ärztlichen Praktikern darauf viel zu wenig Werth gelegt, so dass es den Anschein hat, als liessen wir die Sache gehen, wie sie eben geht. Und daran ist vor allem der Hebel zu setzen.63
Der Wiener Verein bemühte sich um eine Vernetzung mit Organisationen in Böhmen und die Verbreitung von heilkundlichem Wissen mittels Vorträgen.64 Zugleich setzte man sich bewusst von »Schäfern« ab65, die nebenbei »pfuschten« – man betrachtete sich selbst als Vertreter einer modernen Heilkunde, 57 Kurt Berger (1995), S. 16–19. Auffallend ist, dass die Homöopathen offenbar abseits blieben, obwohl beispielsweise der Wiener homöopathische Arzt Ludwig Ernst in seinem 1905 erschienenen Ratgeberbuch homöopathische Arzneien und Prießnitzsche Umschläge kombinierte, siehe Ludwig Ernst (1905), S. 156. 58 Otto Wagner (1897), S. 155. 59 Gerling in Wien (1897), S. 93. 60 Wintersberger (1986), S. 38. 61 Lasky (1901), S. 3. Zur Thematik siehe Treichler (2002), S. 148 f. So schrieb der Ärztefunktionär Heinrich Grün über einen Arzt, der ähnlich arbeitete und eine Werbeannonce geschaltet hatte: »Das Geschäft muss gut gehen, denn das Extrablatt tritt für specielle Dummheit nur gegen Barzahlung ein, die allgemeine Dummheit ist im Pränumerationspreis inbegriffen«, siehe Notizen (1899), S. 113. 62 -i-i- (1897), S. 514. 63 -i-i- (1897), S. 851. 64 Aus den Vereinen (1898). 65 Heilerfolge (1902), S. 9.
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die sich an der Natur orientierte66. Insgesamt war die Zielgruppe das (Klein-) Bürgertum und die freien Berufe. Von den in hygienisch grauenerregenden Verhältnissen lebenden Arbeitern in den Vorstädten hielt sich die Wiener Lebensreformbewegung fern.67 Im Herbst 1903 allerdings kam es zu einem Streit zwischen Bilz und der Wiener Vereinsführung um die Abführung von Gewinnen nach Dresden. Den Prozess gewann Bilz, verzichtete aber auf die Eintreibung der ihm zustehenden 3.150 Kronen und stimmte einer gemäßigten Ratenzahlung zu.68 Auf diese Weise blieb die sich nun »Allgemeiner Österreichischer Naturheilverein« nennende Organisation erhalten, behielt ihr Vereinsbad und ihre Vertrauensärzte. Unter diesen ragte einer durch sein Engagement und seine Aktivitäten hervor: Karl Georg Panesch (1870–1944).69 Er verstand unter »Naturheilkunde« u. a. Massage, Elektrizität, Lichttherapie, Heublumenbäder, Kneippsche Güsse, Verneinung von Alkohol und Ablehnung antipyretischer Arzneien.70 Panesch verstieß in mehrfacher Hinsicht gegen die Standesgrenzen der österreichischen Ärzteschaft: Er begeisterte sich für Naturheilkunde, arbeitete als Armenarzt und wirkte als Unternehmer durch Gründung und Betrieb des privaten »Wiener Rettungsinstituts« als erste Notarztzentrale der Metropole. Dort gab er auch Kurse für angehende Erstretter – er professionalisierte also Laien in der Krankenbehandlung.71 Sein Widersacher war der eigentliche starke Mann der Wiener Ärztekammer und der lokalen Sektion der DGBK, Heinrich Grün.72 Grün hatte bereits 1902/03 die böhmischen Naturheiler um Georg Glettner attackiert und erfolgreich gegen sie prozessiert.73 Nun unterstellte Grün Panesch unwissenschaftliche Arbeitsweise, u. a. weil dieser die Impfkampagnen ablehnte.74 Von Anfang an trug der Streit tragikomische Züge. So bediente sich Grün des Stilmittels der Ironie: Der gesammten Heilkunde Dr. K. G. Panesch, Specialarzt für natürlichere (sic! Warum nicht Superlativ: allernatürlichste?) Heilmethoden: Wasserheilkunde etc., eigene Methoden (schau, schau!), seit einer Reihe von Jahren an sich (Kneipp II) und anderen erprobt. Honorare mässig (Ei, ei, ei!). So zu lesen im Annoncentheil des »Neuen Wiener Tagblattes«. Wir fordern alle Collegen auf, diesem Ehrenmanne bei jeder Gelegenheit alle ihm gebührenden Ehren zu erweisen.75
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Aschke (1898); List (1902). Siehe hierzu Maderthaner/Musner (1999), S. 67, 73, 85. Protokoll (1904), S. 3. Vereinsärzte (1904), S. 3. Weitere Vereinsärzte waren Ludwig Lasky, Max Mader, Wilhelm Körner, Ludwig Popovic, Robert Singer und Leopold Winternitz. Panesch: Heilmethoden (1910), S. 10. Siehe Panesch (1907); Panesch: Hygiene (1910); Panesch: Ratschläge (1910). Aufruf (1904); Oesterreichische Gesellschaft zur Bekämpfung des Kurpfuschertums (1906). Grün: Ketzertum (1903), S. 29 ff. Grün (1906), Nr. 7, S. 2. So betonte Panesch: »Die Einspritzungen in das Blut zersetzen dasselbe und vergiften den ganzen Organismus«, siehe Zum Geleite (1901), S. 2. Personalien (1899), S. 103.
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Umgekehrt gründete Panesch als ironische Anspielung auf die DGBK einen eigenen »Österreichischen Verband zur Bekämpfung des Kurpfuschertums«.76 Der Naturheilverein schaltete sich ebenfalls in den Streit ein und erkundigte sich, ob Dr. Grün bei seiner Jagd auf »Pfuscher« auch diejenigen Akteure einbeziehe, die einen »Dr. med.« vor dem Namen stehen hatten.77 Zugleich ließ man durchblicken, dass man ihn längst als »inkognito«-Gast auf Veranstaltungen erkannt habe und man sich freuen würde, wenn er einmal mitdiskutieren würde.78 Dann könne er auch erklären, warum er ausgerechnet die arzneilose Naturheilkunde als »Salben- und Pflasterschmiererei« diskreditiere.79 Die vom Naturheilverein avisierte Debatte fand nie statt, weil Grün in diesem Falle deutlich hätte machen müssen, dass er aus propagandistischen Gründen zunächst zwischen den modernen Anhängern von Prießnitz bzw. Kneipp und der überkommenen Volksheilkunde nicht unterschied. Der Streit zwischen Panesch und Grün eskalierte in einer Prozessserie 1910 bis 1913, die letztlich unentschieden endete: Paneschs Begehren nach einer Ehrenerklärung wurde abgelehnt, Grün wegen einer unbedachten Äußerung zu einer Geldstrafe von 100 Kronen verurteilt.80 Nebenbei musste Grün einräumen, dass in einer von ihm verantworteten Ausgabe des Gesundheitslehrers eine Annonce eines Wunderheilers erschienen war.81 Immerhin gelang ihm 1907 ein Publikumserfolg, als er eine in der Volkshalle im Wiener Rathaus stattfindende »Massenkundgebung« der Naturheiler mit Hilfe des Rektors der Universität Wien und Hunderten Studierenden der Humanmedizin sprengte.82 Auf der Veranstaltung stellte sich der aus Böhmen angereiste Moritz Schnitzer gegenüber Grün burschikos als »Kurpfuscher« vor.83 Es waren solche Begebenheiten, die Panesch sukzessive veranlassten, sich von den Laien abzusetzen und nur noch ärztliche Autoren in seiner Zeitschrift Natürliche Heilmethoden publizieren zu lassen.84 1912 schließlich zollte Grün Panesch Respekt für dessen Engagement zur Bekämpfung einer »Pfuscherin«, die heilkräftige Salben verkaufte.85 Gleichwohl blieb das Verhältnis gespannt. 1914 traf man sich erneut vor Gericht, weil Panesch der Ärztekammer die Selbstauflösung nahegelegt hatte86, während Grün eine »Verstaatlichung« der Ärzte durch eine umfängliche Ausweitung der Kassenpraxis und Medizinalbürokratie plante87. Ähnlich 76 Verschiedene Mitteilungen (1914), S. 32. 77 Offene Anfrage (1906), S. 5. Das tat Grün tatsächlich, siehe Therapeutische Neuigkeiten (1905), S. 7. 78 Herrn Dr. Grün (1906), S. 2. 79 Herrn Dr. Grün (1906), S. 2. 80 Unerhörte Beleidigungen (1910); Ein Sieg (1912); Unter Eid (1912). 81 Vorstandssitzung (1906), S. 9. Die DGBK hatte 1904 in Berlin ein ähnliches Problem, das zum Rücktritt des Vorstandes führte, siehe Gerling (1904), S. 261. 82 Bericht über die Versammlung (1907), S. 104; Ein Fiasko (1907), S. 7. 83 Herr Moritz Schnitzer (1907), S. 8. 84 Fischer-Dückelmann (1910); Leiser (1910). 85 Eine Kurpfuscherin (1912), S. 146. 86 Aerztekammer auflösen (1912). 87 Dargelegt bei Grün (1922). Siehe ferner Ein Wiener Arzt (1914), S. 1; Wie die Wiener Ärztekammer (1914), S. 18.
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waren sich beide Streithähne allenfalls in der Frage der Freigabe von sexueller Aufklärung und von Verhütungsmitteln.88 Auch die Ablehnung des Syphilisheilmittels Salvarsan war bei Panesch und Grün gleichermaßen gegeben.89 Die Wiener Naturheiler der Vorkriegszeit profitierten erheblich von den Fehlern der Schulmedizin, die in der Presse weithin ausgeschlachtet wurden. So versagte erst ein Arzt im Allgemeinen Krankenhaus (AKH) bei der Diagnose einer Pesterkrankung90, dann starb einige Jahre später der Pestforscher Milan Sachs (1878–1903) in seinem eigenen Labor an der Seuche91. Beide Male unterschätzten die Wiener Ärzte, wie die Allgemeinheit auf einen Ausbruch des »Schwarzen Todes« inmitten der Hauptstadt reagieren würde.92 Außerdem empfahlen die Naturheilkundigen die Anwendung der ThureBrandt-Massage93 als invasives Mittel abseits der Chirurgie (»unblutige Behandlung«)94. Die Massage war ausgerechnet von österreichischen Ärzten in den 1880er Jahren in den medizinischen Diskurs eingeführt worden – und dies unter denselben Vorzeichen, die sich nun die Naturheiler zunutze machten: die Chirurgie als Allheilmittel in die Schranken zu weisen.95 Mittlerweile jedoch war es die Wiener Schule der Chirurgie, die ihrerseits eine Art Alleinvertretung in der Therapie beanspruchte. Doch war es gleichzeitig den Gegnern der Laienheilkunde unmöglich, die zuvor von den eigenen Lehrern befürwortete Thure-Brandt-Massage als »Kurpfuscherei« abzukanzeln. Auch das politische Klima nutzte dem Naturheilverein. Unter dem christlichsozialen Bürgermeister Karl Lueger (1844–1910) wurden selbständige bürgerliche Initiativen, die mit den übergeordneten Ideen von »Heimat« und »Natur« in Bezug standen, propagandistisch aufgewertet.96 Kam für Lueger noch die Möglichkeit hinzu, in irgendeiner Weise gegen Juden zu hetzen, konnte sich der entsprechende Verein der Protektion durch die Lokalpolitik sicher sein. Ein beliebtes Sujet der Wiener Vorkriegspolitik war die angebliche Überfüllung des Ärztestandes mit Juden. Daher trat Lueger mindestens einmal bei einer Veranstaltung auf, die teilweise vom Wiener Naturheilverein organisiert worden war. Heinrich Grün kommentierte dies mit den Worten, dass »der alte Deklamator Dr. Lueger« ebenfalls für die selbsternannten Wahrer der Naturmedizin eingetreten sei.97 Auch spielte das Versagen der Medizin in der Therapie der Tuberkulose (»Morbus Viennensis«) eine wichtige Rolle. Die Medizinalstatistik war vielfach fehlerhaft, weil Opfern der Krankheit posthum als Todesursache »Aus-
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Panesch (1916), S. 37; Grün (1921), S. 2. Briefkasten der Redaktion (1914), S. 102, 118; Dreuw (1914). A. F. (1898), S. 982. Gigglberger (1903/04), S. 368; Gleisinger (1975), S. 130. Die Pestgefahr (1903). Lindner (1902), S. 23. Hermann Wolf (1902), S. 168. Mildenberger (2007), S. 84 f. John W. Boyer (2010), S. 197, 217. Der Boden (1907), S. 2.
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zehrung« andiagnostiziert wurde.98 Obwohl der soziale Charakter der Krankheit unbestritten war, unternahm die kaiserliche Verwaltung wenig zur Behebung der Ursachen und konnte sich hierbei auf die weitgehende Passivität der Ärzteschaft verlassen.99 Zu den immer wiederkehrenden vergeblichen Versuchen, mit Heilmitteln der »weißen Pest« beizukommen, bemerkte August Bronold, Vorstandsmitglied des Wiener Naturheilvereins: »Was werden künftige Generationen dazu sagen, wenn sie erfahren, daß am Ende des neunzehnten und im Anfange des zwanzigsten Jahrhunderts post Christum die Aerzte die Pest mit Blutflüßigkeiten von Pestkranken, Rattengift und Insektenpulver zu heilen sich anschickten?«100 1898 eröffnete die erste Lungenheilanstalt, an deren Finanzierung Krankenkassen und Statthaltereien partizipierten, in Alland unweit von Wien.101 Die dort angewandten Kuren mit Ernährungsumstellung ähnelten den Konzeptionen, welche die Anhänger der Naturheilkunde vertraten.102 Dass die Hydrotherapie den tuberkulösen Patienten helfen konnte, hatte schon Winternitz betont.103 Im Bemühen, den auf Arzneimittelvermeidung und Prävention pochenden Naturheilkundigen durch neue Medikamente den Wind aus den Segeln zu nehmen, stolperten Heinrich Grün und seine Mitkämpfer in das schlimmstmögliche Debakel: Sie bewarben als unfehlbares Heilmittel ausgerechnet Heroin. Heroin ist ein Derivat des Morphins. Es eignet sich bei Bronchitiden und Tuberculose zur Bekämpfung des Hustenreizes und der Schmerzen, welche von den Kranken hinter das Sternum und in andere Thoraxgegenden (Seitenstechen) verlegt werden. Es erweist sich oft noch wirksam, wo Codein versagt. Hat vor dem Morphin voraus, daß es, soweit es sich nach den bisherigen Versuchen beurtheilen läßt, zu keinen dem Morphinismus ähnlichen Erscheinungen führt. Schädliche Wirkungen auf den Herzmuskel wurden bei Anwendung des Heroins bisher nicht beobachtet.104
Zudem erhielt der Wiener Naturheilverein fachliche Unterstützung durch den Arzt Friedrich (Fritz) Rudolf Victor Schürer von Waldheim (1866–1935), der auch im 1914 gegründeten »Reichsbund für Lebens- und Bodenreform und für Naturheilkunde in Österreich« aktiv war. Schürer von Waldheim ersetzte faktisch Panesch als Vertrauensarzt des Wiener Naturheilvereins und gab Hinweise für die Behandlung von Krebs105 oder richtete Petitionen an den Reichsrat, der über ein Seuchengesetz debattierte106. Auch verschärften die Wiener Naturheiler ihre Haltung gegenüber dem Alkoholkonsum und grenzten sich
98 Bolognese-Leuchtenmüller (1978), S. 169. 99 Dietrich-Daum (2007), S. 214. Zum internationalen Kontext siehe Trentmann (2016), S. 177 ff. 100 Bronold (1901), S. 8. 101 Landsteiner/Neurath (1994), S. 362. Siehe für einen Überblick Neurath u. a. (1995). 102 Max Mader (1910), S. 13. 103 Winternitz: Bedeutung (1891), S. 4. 104 Heilmittel (1899), S. 4 f. 105 Schürer von Waldheim: Heilung (1914), S. 17 f. 106 Schürer von Waldheim (1911), S. 5.
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hierbei von den ihrer Ansicht nach zu sehr mit deutschnationalem Getümmel beschäftigten Turnvereinen ab: Es ist bekannt, daß der Turnvater Jahn nicht darum für das Turnen kämpfte und litt, um dem biederen deutschen Mann neben Kegeln, Billard und Skat noch einen weiteren Grund zur Vereins- und Stammtischmeierei zu schaffen, sondern darum, weil er eine Erneuerung der Lebensformen unseres Volkes wollte.107
Von der Wiener »Urania« konnten die Anhänger der Naturheilkunde keine Zustimmung erhoffen. Diese Weiterbildungsanstalt setzte ganz auf die Popularisierung der Naturwissenschaften.108 Wie groß der Markt für physikalische Heilmethoden in der Donaumetropole Wien kurz vor dem Ersten Weltkrieg war, lässt sich an dem offiziellen »Führer durch das medizinische Wien« ablesen. Neben neun Wasserheilanstalten und Bädern boten weitere zwölf ärztlich geführte private »Heilanstalten« Schlammbäder, Massagen, Kohlensäurebäder, Diätetik, Heißluftkuren, Hydrotherapie und Lichtbäder an.109 Russische Gäste stellten die bevorzugte Kundschaft dar.110 Die unteren Schichten der Bevölkerung zeigten sich an alternativen Heilweisen durchaus interessiert, was wiederum die selbsternannten Arbeiterparteien auf den Plan rief. Die »totalitäre Massenpartei« der österreichischen Sozialdemokratie versuchte ab 1895 die Naturfreunde und Anhänger der Körperkultur einzubinden.111 1908 folgte die Gründung eines Zentralausschusses zur Koordinierung der Aktivitäten.112 Allerdings standen die Sozialdemokraten einer laienheilkundlichen Lebensreform strikt ablehnend gegenüber. Hierzu dürfte die Tatsache beigetragen haben, dass viele Lebensreformer eher der anarchistischen Fraktion der Arbeiterbewegung zuneigten, die 1899 die »Sozialdemokratische Arbeiterpartei« im Streit verlassen hatte, weil sie sich dem parlamentarischen Kurs nicht anschließen wollte.113 Umgekehrt waren nach Ansicht der Naturheilkundigen alle Parteien ungeeignet, eine wirkliche Gesundheitspolitik zu betreiben.114 Wie weit obrigkeitsstaatlicher Verfolgungsanspruch und gesellschaftliche Realität im Wien der Vorkriegszeit auseinanderklafften, offenbarte sich im Frühjahr 1914, als Heinrich Grün feststellen musste, dass eine von ihm als langjährige »Kurpfuscherin« identifizierte Person mit dem zuständigen Bezirksrichter verheiratet war. Grün tobte:
107 Turnerschaft (1914), S. 49. 108 Filla (1994), S. 116; Felt (1996), S. 51. Erst in den 1920er Jahren wurde gelegentlich einmal Maximilian Bircher-Benner (1867–1939) auf einen Vortrag eingeladen, siehe Petrasch (2007), S. 188. 109 Kronfeld (1911), S. 115, 129–131. 110 Leidinger/Moritz (2004), S. 123. 111 Sandner (1996), S. 308. 112 Sandner (1996), S. 311. 113 Wintersberger (1986), S. 195. 114 Plöhn (1902), S. 342.
Zwischen bäuerlicher Tradition, Lebensreform und Industrialisierung (1850–1918) 79 Da wundern sich die österreichischen Aerzte über viele Freisprüche von Kurpfuschern, wenn ein früherer Justizminister sich von einem Fensterputzer (Joh. Lang) behandeln ließ, wenn es ferner antivivisektorische Bezirksrichter und solche Leute gibt, die ihre Frau ein Nebengewerbe betreiben lassen!115
Nur auf einem vor 1914 höchst umstrittenen diskursiven Feld blieben die Ärzte unter sich und mussten keine Attacken der Naturheiler fürchten: Prostitution. Hier entfaltete die 1910 gegründete »Österreichische Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten« (ÖGBG) eine breite Propaganda und bemühte sich um engen Schulterschluss mit den Polizeibehörden.116 In die Debatte spielte die steigende Zahl an Abtreibungen hinein – ein Gebiet, das gemeinhin mit »Kurpfuscherei« in Verbindung gebracht wurde.117 Wahrscheinlich fürchteten die Akteure des Wiener Naturheilvereins diskursive Verwicklungen und hielten sich deshalb aus der Thematik heraus. Die Frage des Frauenstudiums spielte aufgrund der Universitätsferne der Wiener Laienheilkundigen ebenfalls keine Rolle.118 Während innerhalb der Residenzstadt die Naturheilkunde klein blieb und kaum Entfaltungsmöglichkeiten besaß und ihre sie unterstützenden Ärzte beständigen Verfolgungen durch Standeskollegen ausgesetzt waren, konnten sich an der Peripherie der Hauptstadt heilkundliche Subkulturen leichter entfalten. So erlangte Florian Berndl (1856–1934) als Laienheilkundiger in den Donauauen große Bekanntheit. Der Sohn einer Hebamme und Phytotherapeutin wurde im AKH zum Krankenpfleger ausgebildet und machte sich 1900 mit einem Körperpflegeheim an der »Alten Donau« selbständig.119 Dort wurden Kräuterheubäder, Schlammpackungen, Massagen und Waschungen an interessierten Patienten durchgeführt.120 In seiner Rolle als Fußpfleger konnte er auch den bedeutenden Chirurgen Anton von Eiselsberg (1860– 1939) zu seinen »Patienten« zählen.121 Berndl war Anhänger der Freikörperkultur und offerierte gegen 40 Heller Eintritt in das »Paradies«.122 In seinem Umkreis wurden die Ideen des Anarchosyndikalisten Fritz Oerter (1869– 1935) rezipiert.123 Weil der Arzt Joseph Wilhelm dem Laien Berndl mit einer Publikation beisprang und das therapeutische Programm als Rettung des 115 Soziale Revue (1914), S. 38. 116 Österreichische Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten (1910), S. 130. Zur zeitgenössischen Debatte in Wien siehe Jusek (1989). Zur Erfolglosigkeit der ÖGBG siehe Montane (1925). 117 Shorter (1984), S. 219. 118 Siehe zu diesen Debatten, die sich insbesondere an der Zulassung von Frauen zum Medizinstudium entzündeten, Arias (2000); Stipsits (2000). Dies könnte auch damit zusammenhängen, dass diese Thematik in Wien ausschließlich von der Sozialdemokratie besetzt war, siehe Hamann (1996), S. 532 f. 119 René Freund (1996), S. 90. 120 Duller-Mayrhofer (2012), S. 56. Zur Kulturgeschichte der österreichischen Flussbäder mit ihrer strengen Geschlechtertrennung siehe Eder (1995), S. 296 f. 121 Denscher (1987), S. 169. 122 René Freund (1996), S. 93. 123 Wintersberger (1986), S. 50.
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»modernen Kulturmenschen« pries, wurde Berndl umgehend der Obrigkeit bekannt.124 Die Wiener Stadtverwaltung unter dem Bürgermeister Karl Lueger versuchte gemeinsam mit der k. k. Statthalterei, das wilde Treiben an der Donau zu kanalisieren. Doch eventuelle Kontrolleure gelangten gar nicht bis zum »alten Sünder mit einem Apostelbart«, wie sie Berndl nannten, weil das »Gänsehäufel« noch eine nur per Boot zu erreichende Insel war.125 Erst nach einigen Jahren gelangen erste Kontrollen. 1907 wurde Berndl zwar vertrieben, aber nach der Umwandlung seines privaten Paradieses in ein städtisches Bad umgehend als Oberbademeister wieder eingestellt.126 Allerdings begriff er sich weiterhin als Heilkundiger und verordnete Sandbäder und Massagen, wie er es schon zuvor getan hatte. Daher wurde er 1913 fristlos entlassen. Das Strandbad verwandelte sich endgültig in eine gewöhnliche Badeanstalt, in der ein von der Gemeinde Wien bezahlter Arzt auf Anfrage Gesundheitstipps gewährte.127 Im gleichen Jahr scheiterte auch der Versuch einer naturheilkundlichen Kommune am westlichen Stadtrand Wiens unter Leitung des Malers Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1913) endgültig.128 Einer der beteiligten Ärzte, der Berndls Entlassung vorangetrieben hatte, war offenbar Panesch gewesen.129 Anstatt der wenigen Hundert Besucher um 1900 frequentierten alsbald 400.000 Gäste im Jahr die nun an das städtische Nahverkehrssystem angeschlossene und großzügig ausgebaute Anstalt.130 Berndls Versuche der Gründung neuer Projekte (»NeuBrasilien«, »Volkssemmering«) scheiterten, und er lebte bis zu seinem Tod verarmt in einer Hütte auf dem Bisamberg unweit von Wien. 50 Kilometer westlich der kaiserlichen Hauptstadt übernahmen nicht zuständige Amtsärzte, sondern Inhaber von Drogerien gesundheitspolizeiliche Aufgaben: Pasteurisierung von Milch und Betrieb eines Schwimmbades erledigte die »Drogerie zum Schwarzen Hund« im niederösterreichischen Hollabrunn.131 Zugleich beklagten Ärzte und Statthalterei die Existenz zahlreicher »Kurpfuscher« in Niederösterreich.132 Die Unkenntnis der Landärzte über die neueren Entwicklungen auf dem Heilmittelmarkt offenbarte sich bei der ersten Sitzung des niederösterreichischen Landessanitätsrates, der 1870 hätte gebildet werden sollen, jedoch erst 1898 das erste Mal zusammentrat. Die versammelten Ärzte wussten nichts mit dem Antrag eines Kollegen zur Gründung eines »Zander-Institutes« anzufangen und mussten das k. k. Ministerium des Innern einschalten.133 Der revolutionäre Charakter der Gartenstadtbewe124 125 126 127 128 129 130 131 132 133
Wilhelm (1900), S. 58, 62. Kletter/Lendarić (2007), S. 33. René Freund (1996), S. 95. Duller-Mayrhofer (2012), S. 59, 62. Jansen (1987), S. 18. Panesch (1914), S. 23. Panesch (1914), S. 23 f. Burger-Ringer (2005), S. 75 f. Notizen (1904), S. 968. Notizen (1898), S. 988. Zu den Zander-Instituten siehe Kreck (1987); Kreck/Thomann (1987); Schwarzmann-Schafhauser (2004), S. 68.
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gung, die in Brunn am Gebirge unweit von Mödling eine eigene Kommune unter dem Titel »Gesunde Menschen« aufbaute, entging der Medizinalverwaltung völlig.134 Private Initiativen zur Krankheitsbekämpfung spielten auch in weiter von Wien entfernten Gebieten seit den 1890er Jahren eine große Rolle. Parallel funktionierten überkommene Gesundheitskulturen. So entwickelten sich im von Wirtschaftskrisen und Landflucht geprägten verarmten Kärnten allmählich entsprechende Initiativbewegungen.135 Eine staatliche Gesundheitspolitik fand nicht statt. Auf dem Land dominierten prominente Laienheilkundige den Markt, z. B. Michael Pertl (1844–1904), genannt »Graf Michael«, der Frömmigkeit und sexuelle Enthaltsamkeit predigte136 und seine vor allem an Rheumatismen und Neuralgien leidenden Patienten mit einem zu inhalierenden grauen Pulver kurierte, »das er in der Hausmühle aus harzigen Fichtenästen, jungen Lärchenzapfen, Rinden, dürren Zaunringen, Pilvaästen (Mistelzweigen), gedörrten Natternköpfen und anderen geheimen Beigaben« zusammenstellte137. Er und seine Kollegen profitierten von dem tiefen Misstrauen der einheimischen Bevölkerung gegenüber Ärzten und Apothekern.138 In Oberösterreich waren neben den lokalen Turnvereinen und der sich langsam entfaltenden Großstadt Linz mit ihren naturwissenschaftlichen Vereinen139 vor allem zwei Einzelkämpfer der Naturheilkunde bedeutsam: Matthäus Schmidtbauer (1843–1928) und Emanuel Pochmann (1840–1917). Schmidtbauer war Lehrer und Schuldirektor in Schwanenstadt und machte sich dort einen Namen als engagierter Schulreformer, was ihm 1899 die Ehrenbürgerschaft eintrug.140 Aufgrund eines selbsterlittenen Augenleidens, gegen das alle von ihm konsultierten Ärzte machtlos waren, wandte sich Schmidtbauer in den 1890er Jahren der Naturheilmethode zu und übertrug deren Konzeptionen zu einem gesunden Leben auf ophthalmologische Erkrankungen.141 Zur Bewerbung seiner Lehre und der bildungsreformerischen Anstrengungen gründete er die Zeitschrift für Erziehung und Unterricht, die 1902 bis 1915 erschien.142 Darin agitierte er u. a. gegen den Impfzwang und die klinische Chirurgie.143 Schmidtbauer war ein Querkopf, der auch nicht vor harter Kritik an seiner Ansicht nach falschen Lehren im Lager der Naturheilkunde zurückschreckte, indem er beispielsweise das »Reibesitzbad« Kuhnes 134 Farkas (1999), S. 136. Zur Gartenstadtbewegung siehe Sigrid Walther (1999). 135 Lakomy (1999), S. 258. Zur Wirtschaftskrise siehe Rumpler (1999), S. 36–39. 136 Moro (1953), S. 19; Biermann/Schinnerl (2002), S. 19. Das Pochen auf die »Frömmigkeit« war wohl der Erkenntnis des Zusammenbrechens überkommener Moralvorstellungen in Zeiten der Industrialisierung geschuldet, was sich in Kärnten u. a. in der höchsten Illegitimitätsquote der gesamten Donaumonarchie niederschlug, siehe Mitterauer (1979), S. 123. 137 Schwertner (1998), S. 23. 138 Grabner (1985), S. 194. 139 Slapnicka (1982), S. 196 ff.; Kirchmayr (2008), S. 177–191. 140 Stadtarchiv Schwanenstadt, Akt Schmidtbauer, Biographische Angaben. 141 Schmidtbauer (1910), S. 9. 142 Bereits 1890 hatte Schmidtbauer ein erstes Heft herausgebracht, doch blieb dies das einzige für über zehn Jahre. 143 Schmidtbauer (1903), S. 228; An die Leser (1913), S. 3.
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als »Kurpfuscherei« abtat144 oder die von Seiten der Lebensreform geforderte Liberalisierung der Geschlechterbeziehungen bekämpfte145. Emphatisch nahm er Anteil an den Debatten zwischen Panesch und Grün, wobei er sich für Ersteren einsetzte.146 Darüber hinaus gewährte er anderen Autoren Platz in der Zeitschrift, damit sie der oberösterreichischen Leserschaft Sonnenbäder, die Werke von Prießnitz und eine gesunde Lebensweise näherbrachten.147 Aus Sicht der deutschen Naturheilkundigen waren die Arbeiten Schmidtbauers bedeutsam148; ein Arzt für physikalische Heilmethoden bemängelte den »aufdringlichen« Stil, lobte aber den Ansatz an sich149. »Impffanatiker Heinrich Grün« war weniger freundlich und nannte Schmidtbauers Arbeit »niederträchtig blödsinnig«.150 Mit Emanuel Pochmann hingegen gab sich Grün nicht ab, denn er war Arzt, was eine Auseinandersetzung problematisch machte, wie Grün seit der Prozessserie gegen Panesch wusste. Pochmanns Einflussgebiet ging nicht über das Stadtgebiet von Linz hinaus, wo er seine Broschüren gegen Evolutionslehre und Bakteriologie kursieren ließ.151 Einfluss erlangte er vor allem durch seine Kurse, die er im Verein »Weltwissen« in Linz ab 1904 gab und so ein interessiertes Publikum für die Naturheilkunde einnahm.152 Auf dem Lande vertrauten die Menschen häufig Universalmitteln, wie der sogenannten »Pilstl-Schmier«, deren Erfinder Michael Pilstl (1836–1908) vor der ihn mit Gefängnis bedrohenden Gendarmerie nach Passau ausgewichen war, wo er sich als freier Heilkundiger niederlassen konnte.153 Daneben spielten Volksheilmittel und Heilzauber eine wichtige Rolle: Gegen das Fieber hat es die berühmte »Krenkettn« gegeben. Da sind von einer Krenwurzen kleine Scheiben abgeschnitten worden und dann zu einer Kette gefädelt, die hat man um den Hals gelegt. Diese Kette hat das Fieber herausgezogen. Aber die Krenscheiben haben eine ungerade Zahl sein müssen!154
Hinter dem Rücken von Hebammen und Ärzten wurden »Wender« konsultiert, die Amulette mit lebenden Tieren (Spinnen, Würmern) auflegten.155 Die Nähe zu Bayern und damit zu einem Land, in dem seit 1871 die Kurierfreiheit galt, begünstigte auch in Tirol und Salzburg die Entfaltung einer laienheilkundlichen, Homöopathie implizierenden Kultur. 1869 wurde im 144 Etwas über Kurpfuscherei (1903), S. 31. 145 Der Viro-Skandal (1912), S. 23; siehe auch Gruber (1911), S. 156. 146 Dr. Grün (1903), S. 142. Der Grund für das Ende der Zeitschrift war ein schwerer Schicksalsschlag. Schmidtbauers einziger Sohn Alwin fiel im Weltkrieg, siehe Schmidtbauer (1915), S. 193. 147 Diehl (1911); Klimaszewski (1911); Max Mader (1911). 148 Bücherschau (1899), S. 84. 149 Tegtmeyer (1906), S. 287. 150 Schmidtbauer (1908), S. 13. Siehe auch Emil Bock (1907), S. 3; Offen angekündigte Kurpfuscherei (1906), S. 8. 151 Pochmann: Bacterien (1896); Pochmann: Energie (1896). 152 Pochmann: Aufruf (1913), S. 9 f.; Pochmann: Bedeutung (1913), S. 259. 153 Franz Mader (1995), S. 178. Die »Pilstl-Salbe« blieb bis in die 1980er Jahre erhältlich. 154 Inge Friedl (2007), S. 36. 155 Bernhard Mayrhofer (1899), S. 47. Siehe zum Heilzauber Hovorka (1915), S. 71, 306 f.
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salzburgischen Mattsee ein Laienverein »Hahnemannia« gegründet.156 In der Tiroler Landeshauptstadt Innsbruck bestand, anders als in Kärnten oder Salzburg, seit 1674 eine medizinische Fakultät an einer Universität. Innsbruck galt als »gesunde Alpenstadt«, doch waren hier am Ende des 19. Jahrhunderts Diphtherie und Croup häufig.157 1873 und 1882 erlebte das Land schwere Pockenepidemien, wogegen die Sanitätsverwaltung Impfkampagnen startete, die bei der Bevölkerung jedoch keineswegs auf Zustimmung stießen.158 Trotz Serumtherapie gegen Diphtherie starben weiterhin am Existenzminimum lebende Menschen, da sie unter katastrophalen hygienischen Bedingungen ihr Dasein fristeten.159 1890 wurde in Stans die erste Tiroler Kneipp-Anstalt gegründet, die zur Absicherung gegenüber den Medizinalbehörden als Gasthaus mit Übernachtungsmöglichkeit (»Kaltenbrunn«) geführt wurde.160 Für Unmut sorgte die Medizinalverwaltung 1913, als sie das bereits als Heilmittel für untauglich befundene Tuberkulin dennoch unter Einsatz von Zwang an 2.000 Versuchspersonen testen ließ.161 Hiergegen regte sich Widerstand, u. a. seitens einer engagierten Ordensschwester.162 Dies war kein Zufall; bereits seit den 1850er Jahren bewarben katholische Geistliche in Stadt und Land die Homöopathie.163 Seelsorge und Heilkunde verliefen parallel. Die sich als Vertreter des aufgeklärten Bürgertums begreifenden Ärzte attackierten die unliebsame Konkurrenz, dürften aber dadurch den Zusammenhalt der ländlichen Gemeinschaften eher befördert haben.164 Außerdem gab es in Tirol noch die überkommene, auf der mannigfaltigen Verwendung von Steinöl und Harnschau basierende Volksheilkunde, die weiterhin gepflegt wurde.165 1913 erschien in einem kleinen Verlag die erste Auflage des Buches »Chrut und Uchrut« von Johann Künzle, das die kirchlich abgesegnete Phytotherapie revolutionieren sollte.166 Manchmal begehrten entsprechend agierende Heiler eine offizielle Anerkennung seitens der k. k. Statthalterei, erhielten sie jedoch in keinem Fall.167 Die einzige Möglichkeit, das Verbot zu umgehen, bestand 156 Drexler/Bayr (1996), S. 88. Zur Geschichte der homöopathischen Laienvereine siehe Eberhard Wolff (1985); Daniel Walther (2017). 157 Zschiegner (2005), S. 163. 158 Unterkircher (2005), S. 49, 62. 159 Pammer (2005), S. 79. 160 Naupp (1992), S. 394 f. 161 Dietrich-Daum (2003), S. 44. 162 Dietrich-Daum (2003), S. 51. 163 Heidegger (2015), S. 75 f. Siehe auch Stolberg (1998); Stolberg: Heilpraktiken (2009). 164 Heidegger (2015), S. 88. Zum Kulturkampf in Tirol siehe Fontana (1978), S. 374. 165 Probst (1992), S. 214. Siehe auch Stolberg: Harnschau (2009). Dem Wasser kam in dieser Kultur eine gesundheitsschädliche Bedeutung zu, was die Rezeption der Kneippschen Naturheilkunde sicher erschwerte. Sarkastisch beschrieben wurde die Ablehnung des Wassers seitens der Patienten in der Streitschrift »Fern von Europa« von Carl Techet (1877–1920), der unter dem Pseudonym »Sepp Schluiferer« schrieb, siehe Schluiferer (1999), S. 79 ff. 166 Künzle (1934). 167 Siehe z. B. Landesarchiv Salzburg, LRA 1880/89 VV B03, Antrag Rupert Höllbachers um Zulassung zur Heiltätigkeit vom 31.8.1881; Ablehnung vom 13.10.1881.
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darin, die heilkundlichen Anwendungen als Teil eines Übernachtungsbetriebes zu tarnen, so dass 1901 Anton Kompatscher in Völs die Erlaubnis zur Durchführung von Heubädern erhielt.168 Aber auch ohne behördliche Zulassung konnten in der Einsamkeit alpiner Hochtäler Naturisten wie Franz Alfons Helmer (1876–1945) Nacktkulturveranstaltungen anbieten.169 Eine Neuerung ergab sich durch die Ausweitung der Krankenversicherungen um 1905, die eigentlich das Ziel hatten, die Arbeiter für die Schulmedizin zu gewinnen. Gerade aber in Salzburg und Tirol waren die Verwaltungen der Arbeits-Unfallversicherungsanstalt vor allem an der Zufriedenheit ihrer Mitglieder interessiert und integrierten daher zur Verblüffung von Verwaltung und Ärztekammer lokale Laienheilkundige in ihr Erstattungssystem.170 Dies wurde durch Ärzte begünstigt, die an Laienheilkundige Patienten direkt überwiesen, wie es etwa der »kammerpflichtige Arzt Dr. U.« in St. Johann tat.171 Dentisten übten ihr Handwerk im Umherziehen aus, und die beglückten Patienten verrieten Gendarmen und Ärzten nicht die Namen der Heiler.172 Für das direkten materiellen Sorgen enthobene städtische Klein- und Großbürgertum entwickelte in den Jahren nach 1905 der Naturschutz und die damit verbundene Hinwendung zur Betätigung in der freien Natur eine große Dynamik.173 Dies könnte auch einer Hinwendung zur Naturheilkunde genutzt haben, die durch die breite Kurort- und Sanatoriumslandschaft ohnehin begünstigt wurde. Der Anschluss an die Eisenbahn ermöglichte den Aufschwung von Orten wie Bad Ischl oder Bad Gastein, die von den führenden Schichten des Kaiserreiches frequentiert wurden.174 Hier kurten die Anhänger des bestehenden Systems.175 Die Kritiker waren vor allem in einem cisleithanischen Reichsteil aktiv: Die Steiermark war das Kronland der Lebensreform. Das Land war spät in die Moderne gestartet, die Revolution 1848 war nahezu spurlos vorübergegangen. Doch der Anschluss an das Eisenbahnnetz und die Industrialisierung begünstigten ab den 1860er Jahren die Entfaltung einer breiten und kritischen bürgerlichen politischen Kultur.176 Die Turnvereine übten wie auch in Böhmen einen großen Einfluss auf die Hinwendung 168 Kauth (1991), S. 69. Das Hotel der Familie besteht bis heute und bietet weiterhin »Heubäder« an. 169 Pfitzner (1964), S. 79. 170 Landesarchiv Salzburg, LRA 1900/09 XII L8, 295, Diskussion um die Eigenständigkeit der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt in Oberösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg, Vermerk vom 28.12.1905; Streit des Heilers Gottlieb Oberhauser (Bad Goisern) mit der Krankenkasse in St. Gilgen über Erstattungen, 1907. Hierzu auch Salzburger Aerztekammer (1903), S. 240; Aerztekammer im Herzogtum (1908), S. 79. 171 Salzburger Aerztekammer (1905), S. 195. 172 Aerztekammer im Herzogtum (1911), S. 101. 173 Plattner (1998), S. 211 f. 174 Steward (2002), S. 30; Blackbourn (2002), S. 13. Zur Beliebtheit Bad Ischls bei jüdischen Gästen vor 1918 siehe Hanns Haas (2002). 175 Mikoletzky (1991), S. 417–421; Large (2015), S. 238. 176 Martin Moll: Organisationen (2006), S. 411.
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zum eigenen Körper und die damit verbundene Orientierung zu einer starken deutschen Nation aus, deren Existenz man durch das Aufbegehren der Südslawen in der Untersteiermark bedroht sah.177 Die Landeshauptstadt Graz war das ökonomische und politische Zentrum: Hier gab es seit 1883 das erste Großkaufhaus Österreichs und ab 1894 flächendeckend Versorgung mit Elektrizität.178 Die medizinische Versorgung der Steiermark hingegen wurde häufig von den bis 1863 in Graz ausgebildeten Wundärzten im Umherziehen erledigt.179 Eine breite Kultur an Heil- und Trinkbädern existierte seit dem 17. Jahrhundert.180 Im 19. Jahrhundert wurden die Bäder erneuert, wobei hier häufig das niedere heilkundliche Personal die Betreuung der Gäste übernahm.181 Psychische Leiden hingegen wurden mittels Wallfahrten zu heilkräftigen Quellen behandelt.182 Die häufigste Krankheit, mit denen Heiler und Ärzte in der Steiermark über Jahrhunderte zu kämpfen hatten, war der Kropf.183 Die ärztliche Homöopathie blieb klein, am bekanntesten war der Arzt Franz Rudolf Benninger (?–1862).184 Ganz anders verhielt es sich mit der Laienhomöopathie. In der Obersteiermark arbeiteten etwa 50 Priester homöopathisch, und in Graz gab es seit 1873 einen homöopathischen Laienverein.185 Neben der offiziellen Medizin und Heilkunde (Bader, Wundärzte) existierte eine sich seit dem 17. Jahrhundert herausdifferenzierende und weite Teile des Landes versorgende Heilkultur an »Bauerndoctoren«.186 Ihre Akteure verwendeten meist ein »Oel« oder eine »Mirakelsalbe«, kombinierten vitalistisches und magisches Gedankengut und nutzten auch das »Abbeten«.187 Zur besseren Vermarktung behaupteten sie, ihre Salben bestünden aus »Branntwein und Menschenfett« – in Wahrheit aus Kartoffelschnaps und Schweineschmalz.188 Zur Verblüffung der Medizinalbürokratie bedienten sie sich eines diagnostischen Mittels, das die Schulmedizin längst verworfen hatte: die Harnschau.189 Manch Zeitgenosse verhöhnte die selbsternannten »Doktoren«, indem er sie auf die Probe stellte:
177 Martin Moll: Organisationen (2006), S. 431; Farkas (2000), S. 141. Wie Letzterer auf S. 147 deutlich macht, löste in den 1880er Jahren das Radfahren das Turnen als sportliche Attraktion ab. 178 Eigner (2006), S. 50; Hausmann (2008), S. 192. 179 Huber-Reismann (2006), S. 12; Huber-Reismann (2009), S. 347. 180 Prášil (1850), S. 6; Schüler (1862), S. 9; Polster (2006), S. 31. 181 Polster (2006), S. 35. 182 Grabner (2000), S. 155 f.; Watzka (2006), S. 121. 183 Walter Brunner (2007), S. 259. Die schulmedizinische Therapie der Exstirpation dürfte nur die wenigsten Betroffenen erreicht haben. Eine kontrollierte Jodsalztherapie begann erst in den 1920er Jahren, siehe Jantsch (1948); Wolfisberg (2003). 184 Schroers (2006), S. 11. 185 Drexler/Bayr (1996), S. 88. 186 Grabner (1961), S. 85. 187 Grabner (1961), S. 87 f. Zeitgenössische Kritik bei Fossel (1885), S. 39. 188 Hammer-Luza (2005), S. 52. 189 Zur Geschichte der Harnschau siehe Stolberg: Harnschau (2009).
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Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik So schickten zwei Mädchen dem großen Medizinmann das Wasser einer Geiß. Veit stellte fest, daß die Patientin zu viel Zuckerln esse und an einer unregelmäßigen Menstruation leide. Einige Bauern schickten dem Doktor Veit das Wasser eines Ochsen mit der Angabe, es stamme von einem Nachbarn. Veit verbot dem Patienten – also dem Ochsen – das Rauchen.190
Daneben erledigten die in der Armee ausgebildeten und nach ihrer Dienstzeit niedergelassenen »Kurschmiede« einen Teil der Heilkunde – vorgeblich nur für die Tiere –, doch stand ihnen der gleiche Zugang zu Arzneien offen wie Ärzten. 1890 gründete Ludwig Pelzer einen »Verein der Kurschmiede« als Standesorganisation.191 Doch bereits in den 1860er Jahren existierte eine erste hydrotherapeutische Heilanstalt in Klöch, die nach den Prinzipien von Prießnitz arbeitete und unter der Leitung des Laienheilkundigen Franz Krainer (1818–1900) stand.192 Ähnlich wie in Wien herrschte an der Universität Graz weitgehendes Desinteresse hinsichtlich der Möglichkeiten, welche die physikalischen Heilmethoden boten.193 Krainer geriet rasch mit der Medizinalbürokratie, die ihn als exklusiven Gegner erkannte, aneinander, und musste seine »Badeanstalt Klöch« ärztlicher Supervision unterwerfen.194 Auch der 1869 in Graz gegründete »Verein für Naturheilkunde« blieb klein und änderte 1882, 1891, 1897 und 1916 seinen Namen, ehe der Titel »Verein für naturgemäße Lebens- und Heilweise in Graz« den Behörden akzeptabel erschien.195 Frühzeitig wirkten in der Steiermark die Anhänger Kneipps und der Prießnitzschen Naturheilkunde zusammen.196 1892 kam Kneipp selbst zu einem Vortrag nach Graz.197 Im Dezember 1896 wurde ein naturheilkundlicher Verein in Mürzzuschlag gegründet.198 Die zunächst die Gründung verhindernden Behörden mussten erkennen, dass das mächtige Adelsgeschlecht derer von Stürgkh den Verein protegierte, worauf er doch Gestalt annehmen durfte.199 Zu den Wegbereitern der Lebensreform in der Steiermark zählten die Musikwissenschaftler Josefine Juřík (1857–1895) und Franz W. Kubiczek200 sowie der Theosoph Franz Pettin, der die vegetarische Küche bewarb. Sie agierten neben den wirkmächtigen Ärzten Arthur Laab (1850–1910) und 190 Gerichtliche Urteile (1910), S. 18. 191 Präsident Pelzer (1925/27), S. 2. Der Sitz des Vereins befand sich in der Nußdorfer Straße 45 im IX. Wiener Gemeindebezirk. Der Verein existierte bis in die 1930er Jahre. Die Ausbildung der Kurschmiede endete bereits 1908. Danach wurden nur noch »Militär-Veterinäre« herangezogen. 192 Schellinger (1998), S. 60. 193 Golob (2013), S. 63, 67. 194 Schellinger (1998), S. 62. Letztendlich versuchte er vergeblich, durch Gründung einer neuen Badeanstalt der Überwachung durch den Staat zu entkommen. Nach einer letzten Anzeige Anfang 1900 beging er Selbstmord, indem er sich ertränkte. 195 Farkas (2015), S. 128. 196 Hildebrand (1938), S. 114. 197 Farkas: Leben (1992), S. 176. 198 Wintersberger (1986), S. 25. 199 Farkas (2015), S. 134. 200 Hildebrand (1938), S. 114. Zu Juřík siehe auch Fortunatus (1895).
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Max Mader. Außerdem wirkten Einzelkämpfer wie der Autodidakt Franz Brixel (1840–1903), der unter dem Pseudonym »Armin Franke« Anleitungen für Leibesübungen und den Bezug von Reformwaren publizierte.201 Als Strafprediger »Abraham a Santa Clara«, gekleidet wie ein Mönch und mit langem Haar und Bart ausgestattet202, agitierte Georg Simoni auflagenstark gegen Vivisektion und Alkoholkonsum und für Vegetarismus und sexuelle Abstinenz203. Sie alle beschränkten sich nicht darauf, in der Großstadt Graz zu wirken, sondern führten Veranstaltungen im ganzen Land durch, um so alle Schichten der Bevölkerung zu erreichen. Sie folgten damit der Empfehlung eines sächsischen Reformarztes, der 1895 zum Vortrag in die Steiermark gereist war.204 Auftrieb erlangte die kleine »Community« der Alternativmediziner und Lebensreformer durch die positive Rezeption ihrer Arbeit in der wirkmächtigen Zeitschrift Heimgarten, die von dem Schriftsteller Peter Rosegger (1843– 1918) herausgegeben wurde.205 Rosegger war selbst 1890 und 1892 Gast in der Kuranstalt in Klöch gewesen.206 1901 erschien ein erster Aufsatz, in dem »Hausmittel« zur Krankheitsprävention beworben wurden: Sandbäder, kalte Wasserbäder und Diätetik.207 Rosegger selbst betonte die psychische Seite einer Krankheit und die Notwendigkeit des Verständnisses durch den Arzt.208 Den »Bauerndoctoren« traute er zu, die wirklich Kranken von den Hypochondern unterscheiden zu können.209 Rosegger betätigte sich auch als Abstinenzler210 und Gegner rassistischer Einschätzungen. Teile des städtischen Bürgertums engagierten sich im »Verein für Heimatschutz«, der eine Bewahrung der Natur zum Ziel hatte. Die Mitglieder beriefen sich auf »Erzherzog Johann« und beschworen das Ideal einer unberührten Landschaft, das längst nicht mehr existierte.211 Als ein »Heimatschutzverein« ein jüdisches Mitglied ausschließen wollte, hieß es im Heimgarten dazu: Ein geborener Jude oder Slawe, der für deutsche Art und Sitte fühlt und wirkt, ist ein besserer Deutscher als ein geborener Germane, der bei jedem kleinen nationalen Opfer, das von ihm verlangt wird, hinter die Büsche kriecht. – Im Übrigen, wer ist bei dem Völkergemenge unserer Länder seines Blutes ganz sicher?212 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211
Franke (1891); Franke (1902). Siehe auch Schenkenberg (1903), S. 107. Jansen (1987), S. 18. Simoni (1897), S. 88, 155; Simoni (1902), S. 25 f.; Simoni (1903), S. 15. Laessig (1895), S. 343. Farkas (2000/01), S. 555. Schellinger (1998), S. 63. Ernst Schneider (1901), S. 456, 461. Rosegger: Troste (1903), S. 288, 290. Ähnlicher Ansatz auch bei Trine (1905). Rosegger: Bauernarzt (1903), S. 149. Wie kann (1908), S. 148. Farkas (1990), S. 188. »Erzherzog Johann« (1782–1859) galt als volksnaher Vertreter des Kaiserhauses. Ihn zum Ahnherrn des Naturschutzes zu machen, war allerdings Geschichtsklitterung, da er sich vorrangig um die Intensivierung der Landwirtschaft und die Industrialisierung verdient gemacht hatte. 212 In der sittlichen Auffassung (1910), S. 536. Siehe zu Roseggers rassefreier Orientierung an einer übergeordneten »deutschen Nation« Hölzl (2013); Stroud (1986).
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Damit sprach Rosegger das noch weitgehend von rassistischen Diskursen freie Klima in der Steiermark an. Dies sollte sich erst nach 1914/18 massiv ändern213, als sich auch die Körperertüchtigungsvereine nach Parteizugehörigkeit diversifizierten und antisemitisches Gedankengut die gesamte Lebensreformbewegung erfüllte214. Gegen jede Anerkennung der Naturheilkunde positionierte sich der 1902 zum Rektor der Universität Graz berufene Physiologe Alexander Rollett (1834–1903). Als Sohn eines Badearztes wusste er um die Konkurrenz, die aus einer Laienheilkunde erwachsen konnte. In seiner Rektoratsrede bezeichnete er die Gegner der Schulmedizin als »einsichtslose Laien«, die einem imaginären Naturzustand nacheiferten, der aber gar nicht existiere.215 Das Verbot der »Kurpfuscherei« lobte er ausdrücklich und betonte die Gefahr, die für die Allgemeinheit aus einer Koalition von Naturheilern, Impfgegnern, Vegetariern und Abstinenzlern entstehe.216 Sogleich reagierten böhmische und Wiener Naturheilkundige und riefen zur Bekämpfung Rolletts auf, den sie als Feind des Fortschritts abkanzelten.217 Auslöser für Rolletts Positionierung war wahrscheinlich das Legat des Beamten Johann G. Floiß, der 400.000 Kronen für die Errichtung einer von Laien betriebenen Naturheilanstalt bereitstellen wollte, was Ärzteschaft und Statthalterei in Aufregung versetzte.218 Bevor es zur offenen Auseinandersetzung, beispielsweise auf Diskussionsveranstaltungen, kam, starb Rollett. Die von den Naturheilern stets beschworene »Rückschrittlichkeit« des Rektors wurde allerdings dadurch konterkariert, dass seine eigene Tochter Oktavia (1877–1959) die erste Ärztin in Graz wurde.219 Aus dem ganzen Streit hielt sich der Tourismusverband der Steiermark völlig heraus und bewarb unterschiedslos alle Bäder und Kuranstalten.220 Die Angriffe Rolletts begünstigten aber den Zusammenschluss der Vereine in Graz, Leoben, Bruck, Knittelfeld und Mürzzuschlag zu einem »Bund der Naturheilvereine Steiermarks«.221 Die Steiermärkische Ärztekammer beflügelte ungewollt die Ausbreitung naturheilkundlicher Bäder, indem sie 1903 einem ihrer Mitglieder gestattete, eine Kuranstalt abseits seines Wohnortes leiten zu dürfen.222 Nun konnten in Graz oder Ratkersburg wirkende Ärzte im ganzen Land als Aushängeschild für naturheilkundliche Badeanstalten dienen. Davon machten Laab, Mader und ihr Vereinskollege Otto Ebenhecht
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Farkas (2000/01), S. 561. Farkas (2000), S. 150; Farkas (2000/01), S. 564 f.; Farkas (2010), S. 1367. Rollett (1903), S. 13, 20. Rollett (1903), S. 18 f., 24. Ein Feind (1902), S. 153; Offener Brief (1902), S. 105; Ressel (1902), S. 293. Zustimmung hingegen kam von den Parteigängern Heinrich Grüns, siehe Chronik (1902), S. 5. Zum Kampfe (1902), S. 69; Farkas: Leben (1992), S. 178. Letztendlich untersagte die Statthalterei die Errichtung der Naturheilanstalt. Reinhold Aigner (1997), S. 244. Illustrierte Fremdenzeitung (1902). Bund (1902), S. 166. Steiermärkische Ärztekammer (1903), S. 246.
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(1845–1910) umgehend Gebrauch.223 Auch entfalteten insbesondere Laab und Mader eine umfängliche Publikationstätigkeit. Mader verbündete sich mit Panesch224 und agitierte für eine Integration der Homöopathie in die Naturheilkunde225. Sogleich schaltete sich Heinrich Grün ein und überzog Laab und Mader mit einer Kampagne.226 Er zieh sie der Unwissenschaftlichkeit, unterstellte ihnen Geschäftemacherei und nannte Maders erfolgreichstes Buch »Medicinische Ketzerbriefe« ein »geistiges Kaiserschnittkind«.227 Laab wurde von Grün zum »opportunistischen Abtrünnigen und Ketzer« abgestempelt.228 Letztendlich resignierte Laab, da ihm auch die Statthalterei die Eröffnung eines neuen Heilbades verunmöglichte.229 Er starb 1910. Im gleichen Jahr verließ Mader Graz und übernahm die Leitung der Schroth’schen Kuranstalt in Lindewiese in Böhmen. Dadurch verlor die steiermärkische Lebensreformbewegung ihre führenden Köpfe und büßte erheblich an Breitenwirkung ein. Wie sehr es den Reformern aber gelungen war, auch abseits des (Klein-)Bürgertums Menschen zu erreichen, zeigte das Engagement von Franz Prisching (1864–1919). Der aus einfachsten Verhältnissen stammende Maurer verstand sich als Anarchist und gab ab 1903 in Graz die Zeitschrift Der g’rode Michel heraus, in der er für Pazifismus, gegen Vivisektion und für eine gesunde Ernährung warb.230 Seine Einführung in die Lebensreformbewegung hatte ihm Moritz Schnitzer in Warnsdorf vermittelt.231 Die Statthalterei in Graz blieb gegenüber den Reformern insgesamt misstrauisch und blockierte bis 1913 die Eröffnung eines vegetarischen Restaurants in Graz, da man – wohl in Kenntnis der Verhältnisse in Böhmen und Wien – ahnte, dass eine solche Institution sich alsbald zu einem weiteren Zentrum laienheilkundlicher Bestrebungen entwickeln würde.232 Im Gegensatz zur Statthalterei blieb die Steiermärkische Ärztekammer auffallend gelassen angesichts der im Lande sich entfaltenden Laienkulturen. So lehnten die Funktionäre es ab, der ÖGBK beizutreten. Sie hielten deren Agitation für kontraproduktiv, da so die Patienten erst recht in die Arme der »Pfuscher« getrieben würden, und die Ärzte ständen als beleidigte Akteure da, die von »Brotneid« erfüllt seien.233 Eventuell hatten sich die Funktionäre auch schlicht damit abgefunden, dass es der Ärzteschaft nie gelingen würde, die ihr theoretisch zustehenden Rechte einzufordern. So beschwerte sich die Ärztekammer vergeblich bei den Oberen des Ordens der Barmherzigen Brü223 224 225 226 227 228 229 230 231
Zu Ebenhecht siehe Verschiedene Mitteilungen (1910), S. 37. Max Mader: Impffrage (1903). Max Mader: Ketzerbriefe (1903), S. 3, 10. Grün: Ketzertum (1903), S. 7–21. Grün: Ketzertum (1903), S. 15. Torre (1910), S. 27. Farkas (2015), S. 132. Reinhard Müller (2006), S. 37, 51. Reinhard Müller (2006), S. 35. Siehe auch Farkas (2010), S. 1358. Tragisch war Prischings Tod. Der überzeugte Impfgegner starb an den Pocken. 232 Farkas (2000/01), S. 553. 233 Steiermärkische Ärztekammer (1905), S. 296.
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der, weil die Mönche im ganzen Land in der Seelsorge – und im Ziehen von Zähnen sowie der Verteilung von »Salben, Pulvern und Pillen« – tätig waren.234 Doch dieser Protest prallte an den Klostermauern ab. 1909 musste die Ärztekammer zur Kenntnis nehmen, dass das in Graz stadtbekannte »HeilInstitut« von »Kurpfuscher Jebsen« seine Arzneien aus einer Apotheke in Gleichenberg bezog und der eigentliche Drahtzieher des Unternehmens ein Arzt aus Wien war.235 Hinsichtlich der Einhaltung der Impfpflicht ließen Ärzte in der Steiermark 1911 durchblicken, dass die auf eine statische Bevölkerungsverteilung zugeschnittene Gesetzgebung für eine aus Tagelöhnern, Saisonarbeitern und Wandergewerbetreibenden bestehende Gesellschaft wie die der Steiermark völlig ungeeignet war: »Die Gemeindevorsteher sind recht froh, wenn sie die Mehrzahl der impfpflichtigen Kinder am Impfsammelplatze sehen; selbst wenn sie alle in Betracht kommenden Erwachsenen wirklich verständigen könnten, würde kaum je einer von diesen der Aufforderung Folge leisten!«236 Weder die Ärztekammer noch die Naturheilvereine kümmerten sich um diejenige Gruppe auf dem Gesundheitsmarkt, die bei vielen heilkundlichen Fragen den weiblichen Patienten als erster Ansprechpartner diente: Hebammen. Erst ab 1908 unternahm ein einzelner engagierter Grazer Frauenarzt den Versuch, die Hebammen seitens der Ärzte zu professionalisieren, ohne sie ihrer Eigenständigkeit zu berauben: Paul Mathes (1871–1923). Die Zahl der Akteurinnen war in den Jahren zuvor steil nach oben geschossen. Hatte es 1896 in Österreich 18.846 diplomierte Hebammen gegeben, so war ihre Zahl bis 1911 auf etwa 20.000 gestiegen.237 Daneben agierte ungefähr die gleiche Zahl an nicht diplomierten Hebammen (»Pfuscherinnen«, »Afterhebammen«), die auch vor Gericht ihre Kompetenzen nicht verschwiegen und sich gegen die Ärzte positionierten. Eine Angeklagte sagte 1908 aus: »Ach was der Professor! Der versteht’s! Hat er Kinder gehabt? Das kann nur eine Mutter verstehen, die geboren hat. Ich habe 12 Kinder gehabt und muß es besser wissen als der Herr Professor. Der muß freilich was reden, dafür wird er doch bezahlt!«238 Vielfach mussten Hebammen ihren kargen Lohn durch Nebenverdienste aufbessern, was die Durchführung von Abtreibungen begünstigte.239 Der an der Universität Graz lehrende Paul Mathes ergriff die Initiative und reorganisierte mit wenigen Kollegen und interessierten Hebammen die Aus- und Weiterbildung.240 Er ließ keinen Zweifel daran, dass auf dem flachen Land Hebammen die Ärzte ersetzten und die Medizinalbürokraten vor Ort keinen Fin234 235 236 237 238 239
Steiermärkische Ärztekammer (1908), S. 262. Steiermärkische Ärztekammer (1909), S. 5, 141. Ketzerische Gedanken (1911), S. 307. Bohle (1986), S. 20. Bohle (1986), S. 13. Zum Deprofessionalisierungsstreit siehe Dominik Groß (1998). Pachner (1910), S. 26. Zu den informellen »Abtreibungskulturen« (in Deutschland) siehe Usborne (1997), S. 190, 196 f. 240 Mathes: Hebammenwesen (1909), S. 57.
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ger rührten.241 Er sah in einer professionellen Weiterbildung der Hebammen in Hygiene und Asepsis den idealen Mittelweg, um insbesondere den Schwangeren und Neugeborenen zu helfen.242 1911 begleitete Mathes die Gründung eines Hebammengremiums als Dachverband aller österreichischen Hebammen in Wien.243 Sein Kollege Franz Pachner führte an der Hebammenschule in Brünn einen Test in Allgemeinwissen durch, der erhebliche Lücken der Schülerinnen offenbarte und verdeutlichte, dass ausschließlich Frauen aus der Unterschicht den Beruf wählten.244 Dass dies bisweilen die Kommunikation zwischen schwangeren Frauen und Hebammen aus der gleichen sozialen Sphäre erleichtern könnte, kam weder Pachner noch Mathes in den Sinn. Beiden jedoch war klar, dass nur eine bessere Bezahlung und eine angemessene Haltung seitens der Ärzte es dem Staat ermöglichen würde, wenigstens teilweise die Kontrolle über die Geburtshilfe zu gewinnen. Bevor sich die engagierten Medizinalbürokraten, die Ärztekammer oder die Naturheilvereine mit ihren unterschiedlichen Bestrebungen durchsetzen konnten, brach 1914 der Erste Weltkrieg aus. Angesichts der sich alsbald verschärfenden Dominanz der Militärherrschaft im Hinterland frohlockten die Vertreter der Ärztekammern und hofften auf die baldige Beseitigung der Probleme, die »Naturheilkundige, Homöopathen, Kneipp- und Felkevertreter« bereiteten.245 Eventuell sei die Kriegszeit dazu zu nutzen, rasch ein umfassendes Impfzwangsgesetz einzuführen.246 Tatsächlich entschied der oberste Kassationsgerichtshof im Oktober 1915, dass auch »magische Heilverfahren«, durchgeführt von »Bauerndoctoren« oder Priestern, unter den Sammelbegriff der »Kurpfuscherei« fielen.247 Doch die bereits in Friedenszeiten mit der Überwachung des Gesundheitsmarktes überforderten Behörden verfügten überhaupt nicht über die Ressourcen, um nun die Dominanz der Ärzteschaft abzusichern. Ein Rückgang der »Kurpfuscherei« wurde allenfalls dadurch erzielt, dass viele Heiler zur Armee eingezogen worden waren. Doch blieben sie auch dort aktiv, wie die Steiermärkische Ärztekammer 1916 erkennen musste: In einem Kriegsgefangenenlager arbeitete ein Feldwebel der Wache als »Zahnarzt«.248 Für die orthopädische Nachsorge der Kriegsversehrten wurden Turnlehrer herangezogen, die zugleich eine krankenpflegerische Ausbildung erhielten.249 Auch Krankenschwestern benö241 Mathes: Hebammenwesen (1909), S. 61. Nach dem Ersten Weltkrieg zeichnete Mathes federführend verantwortlich für die Integration einer eugenisch aufgeladenen Konstitutionslehre in die Frauenheilkunde, siehe Mathes (1924). 242 Mathes (1908), S. 51 f.; Mathes: Hebammenunterricht (1909). 243 Mathes (1911), S. 329. Bezüglich der Situation in Innsbruck siehe Hilber: Geburt (2012), S. 168, 238. 244 Pachner (1912), S. 175. 245 Verschiedenes (1916), S. 177. Zum Weg Österreich-Ungarns in den Krieg siehe Martin Moll (2016); Rauchensteiner (2013). 246 Die Agitation (1915), S. 33; Ernst Mayrhofer (1915), S. 80. 247 Gesetze, Erlässe (1917), S. 100. 248 Steiermärkische Ärztekammer (1916), S. 25. 249 Vewendung (1915), S. 51.
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tigte man sehr dringend. Heilkundliches Wissen wurde in einem nie dagewesenen Maße an Laien vermittelt.250 Der Mangel an Ärzten begünstigte das Wiederaufblühen von schon als untergegangen angenommenen Gewerken. In Bruck an der Mur übernahm der örtliche Barbier die Tätigkeit des Dentisten251, und ein gerade zu einer Geldbuße verurteilter »Kurpfuscher« erhielt seine zuvor beschlagnahmte Hausapotheke zurück252. Das Amtsgericht wusste zweifellos um deren Ungesetzlichkeit (gemäß Ministerialverordnung vom 17. September 1883), wollte aber wohl das vor dem Zusammenbruch stehende lokale Gesundheitssystem nicht bewusst zerstören. Angesichts der Versorgungskrise253 und des schleichenden Zerfalls der inneren Ordnung gewährte die steiermärkische Statthalterei die Sammlung aller lebensreformerischen Verbände unter Leitung eines charismatischen Anführers, des Theologieprofessors Johannes Ude254. Dieser verkörperte durch seine Karriere als Theologe, Arzt und Philosoph einerseits sowie Nichtraucher, Vegetarier und Abstinenzler andererseits die Idee einer christlich fundierten Lebensreform.255 Seit 1910 betätigte sich Ude in Graz als »Retter gefallener Mädchen« und in der Antialkoholismusbewegung. Dazu erhielt er finanzielle Unterstützung seitens der Industriellenfamilie Miller-Aichholtz. 1915 gründete er als Dachverband der christlich orientierten Lebensreformbewegungen in der Donaumonarchie den Verein »Österreichische Völkerwacht«, dem 1917 insgesamt etwa 42.000 Mitglieder angehörten.256 Ude verschickte Zehntausende Broschüren, in denen er gegen Alkoholmissbrauch, Geschlechtskrankheiten, Prostitution, »geile Fleischnahrung« und die Kinos agitierte.257 Er stand den Sozialdemokraten und Alldeutschen gleichermaßen fern, lehnte die Evolutionslehre ab, propagierte aber einen rassistischen Antisemitismus: Dürfen wir uns noch wundern, dass die Scham geschwunden, dass zynische Schamlosigkeit und Frechheit unbeanstandet ihr Haupt erhebt? Deutsches Volk! Siehst Du nicht, wie der Rassenfremde, der Nichtarier, im Hintergrunde steht und sich verschmitzt die Hände reibt und den Gewinn einsteckt? Der Semite weiß genau: Wenn die herrliche deutsche Nation im Schmutz und Schlamm der Erotik versinkt, wenn ihr das Ideal der Vaterlandsliebe und der Religion entschwindet, so hat nur der Semite den Profit. Darum tritt auch die geile jüdische Presse und die in ihrem Solde stehende liberale Tageszeitung für den Schund des Theaters und für den Schundfilm ein.258
250 251 252 253 254 255 256 257 258
Rauchensteiner (2013), S. 223. Steiermärkische Ärztekammer (1915), S. 81. Steiermärkische Ärztekammer (1915), S. 187. Hofer (2013), S. 36 f. Zum schleichenden Zusammenbruch der inneren Ordnung in der Steiermark siehe Martin Moll: Heimatfront (2006). Zu Ude siehe Farkas: Vorläufer (1997); Farkas: Amtskirche (1997); Mildenberger (2006/07). Mildenberger (2006/07), S. 288. Farkas: Amtskirche (1997), S. 254. Ude (1918), S. 18 f. Zur sich zeitgleich entfaltenden Nutzung des Films für medizinische und sexuelle Aufklärung siehe Osten (2009), S. 89; Bonah/Laukötter (2015).
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Trotz der Kampagnen Udes ließ sich nicht verschweigen, dass gerade die Geschlechtskrankheiten erheblich zunahmen und die überkommenen Moralund Kontrollmechanismen in Zeiten eines »Totalen Krieges« nicht mehr funktionierten.259 Angesichts der Zentrifugalkraft der Naturheilkunde für die vielbeschworene »Einheit der Heimatfront« entschied sich die niederösterreichische Statthalterei 1916, sich das Wohlwollen der Wiener Naturheiler zukünftig erkaufen zu wollen, und gewährte erstmalig eine Subvention in Höhe von 500 Kronen.260 Tatsächlich wähnten sich die Naturheiler im Aufwind, da der 1916 gekrönte Kaiser Karl I. (1887–1922, reg. 1916–1918) und seine Ehefrau Zita (1892–1989) Anhänger der Kneippbewegung waren.261 Selbstbewusst traten Kneipp-Verein und Naturheilverein an den Wiener Gemeinderat heran262, boten Ernährungsberatung263 und ließen sich nicht mehr als »Dürrkräutler« beschimpfen264. Ehe die österreichischen Behörden in die Verlegenheit kamen, die zuvor als »Kurpfuscher« geschmähten Naturheilvereine als gleichrangige Gesprächspartner anerkennen zu müssen, kollabierte das kriegsmüde Vielvölkerreich und brach angesichts der sich abzeichnenden Niederlage im Herbst 1918 auseinander. Laienheilkunde im Zwergstaat (1918–1938) Der Zusammenbruch Österreich-Ungarns führte zur Gründung der Republik »Deutsch-Österreich«, die eigentlich auch die sudetendeutschen Gebiete umfassen sollte, aber der Friedensvertrag von St. Germain vom 10. September 1919 beschränkte Österreich (mit Ausnahme des 1921 hinzugekommenen Burgenlandes) auf das heutige Staatsgebiet mit damals 6,5 Millionen Einwohnern.265 Spätestens zu diesem Zeitpunkt begannen sich Politiker aller Lager als Führer eines »Grenzlandes« inmitten slawischer Völkermassen zu verstehen.266 Dies ging einher mit der Förderung der Trachten- und Volkskultur und überkommener Bräuche, was die Verfolgung von Laienheilkunde in den folgenden Jahren ideologisch erheblich verkomplizierte.267 Der von seinen früheren Binnenabsatzmärkten und Kernindustrien abgeschnittene Kleinstaat Österreich war bis zu seiner vorläufigen Auflösung 1938 von Massenarbeitslosigkeit, Altersarmut und wirtschaftlichen Schwierigkeiten geprägt.268 Die Kon259 Überegger (2006), S. 357; John W. Boyer (2010), S. 383. Zur »Totalisierung des Krieges« siehe Schmidl (2016). 260 Unser Verein (1917), S. 3. 261 Erster Wiener Kneipp-Verein (1917), S. 14. 262 Die Forderungen (1917), S. 6; Die Vorstandschaft (1917), S. 1. 263 Auch du (1917), S. 9. 264 Dr. med. Sch. (1918), S. 19. 265 Andreas Weigl (2010), S. 142. 266 Farkas (2003), S. 67. 267 Farkas (2003), S. 73. 268 Melinz (2010), S. 143 ff.; Melichar (2010), S. 187.
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frontationshaltung der (mit)regierenden Sozialdemokraten gegenüber den alten Eliten vertrieb den zuvor in der Industrie tätigen Adel zurück auf seine Landgüter und behinderte so die wirtschaftliche Erholung.269 Bei seiner Gründung steckte das Land in einer tiefen sozialen Krise. Etwa 400.000 Kinder galten als unterernährt, Tuberkulose, Rachitis und Syphilis, aber auch »wilde Ehen« (und somit uneheliche Geburten) waren weitverbreitet.270 Hiergegen wurde als zentrales Koordinationsinstrument der Medizinalbürokratie das Volksgesundheitsamt in Wien gegründet.271 1923 ereignete sich die letzte Pockenepidemie in Österreich – oder zumindest wurde letztmalig eine solche in Akten vermerkt.272 Hunderttausende Bürger waren als Invaliden aus dem Krieg zurückgekehrt, doch das 1919 erlassene Invalidenentschädigungsgesetz ließ viel Raum für Interpretationen, wer eine Rente bekommen dürfe.273 Nur etwa 150.000 von ihnen wurden anerkannt.274 Ähnlich wie in Deutschland spielte die Frage des »Traumas« als auslösender Faktor für psychogene chronische Leiden eine wichtige Rolle bei ärztlichen Fahndungen nach vermeintlichen »Rentenbetrügern«.275 Dabei handelte es sich vorrangig um Veteranen, die im Trommelfeuer des Grabenkrieges psychosomatische Schädigungen erlitten hatten, die sich nicht auf einem Röntgenbild oder mittels einer einfachen internistischen Anamnese darstellen ließen. Die ehemaligen Soldaten »zitterten« (»Kriegszitterer«) und konnten die Bewegungen ihrer Gliedmaßen nicht oder nur teilweise kontrollieren.276 Diejenigen Veteranen, die Verletzungen aufwiesen, die auch nur irgendwie mit der Wirbelsäule oder Neuralgien zusammenhingen, litten nach Ansicht der Ärzte überhaupt nicht an Erkrankungen, sondern waren schlichtweg »hysterisch«. Mediziner in der Heimat gingen davon aus, dass die entlassenen Soldaten bereits im Lazarett vollständig geheilt worden seien.277 Tatsächlich waren zahlreiche sogenannte »Kriegszitterer« noch vor 1918 mit Elektroschocks zwangsbehandelt worden und wurden anschließend trotz Schmerzen und Schwierigkeiten in der Motorik als »voll erwerbsfähig« eingestuft.278 Selbst wenn Ärzte ihren Patienten in Gutachten eine höchst eingeschränkte Berufstauglichkeit attestierten (z. B. Gesichtsverletzten), konnten sich österreichische Behörden darüber hinwegsetzen.279 269 Walterskirchen (2010), S. 200. Zu den zeitgenössischen agrarsozialistischen Utopien siehe Breitenfeld (1925). 270 Weigl (2010), S. 148, 155, 161. 271 Obrowsky (2005), S. 92. 272 Puntigam (1962), S. 281. 273 Leisch-Prost/Pawlowsky (2006), S. 367. 274 Pawlowsky/Wendelin (2012), S. 107. Die Gesamtzahl der Betroffenen ist unklar. So wird in der Forschung angenommen, dass 1918 allein in Wien 120.000 Soldaten wegen Traumata in Behandlung waren, siehe Hofer (2004). 275 Weindling (1989), S. 283. 276 Rauchensteiner (2013), S. 243. 277 Curschmann (1916), S. 19. 278 Rudloff (1998), Bd. I, S. 302. 279 Melanie Ruff (2015), S. 169.
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Erst die Forschungen des Dresdner Arztes Christian Georg Schmorl (1861–1932) und seiner Schüler ermöglichten Anfang der 1930er Jahre interessierten Gutachtern eine Neuinterpretation der im Krieg angefertigten Diagnosen.280 Den allermeisten Invaliden fehlten aber Ressourcen und Ausdauer, um sich noch zwölf Jahre nach Kriegsende durch die gerichtlichen Instanzen zu klagen.281 Selbst die Möglichkeit zur Schmerzbetäubung wurde den Veteranen durch die Unterbindung des Freiverkaufs von Opiaten 1928 genommen.282 So blieb für viele als »rentenunwürdig« eingestufte ehemalige Soldaten nur der Gang zum Laienheilkundigen, z. B. den orthopädisch geschulten »Beineinrichtern« oder den Bewegungstherapie und Massage applizierenden Kneippianern und Hydrotherapeuten in den Naturheilvereinen. Hinzu trat in den 1920 Jahren die aus den USA importierte Chiropraktik, die in Österreich marginal blieb. Über Jahrzehnte gab es nur eine »offizielle« Akteurin, die auch Kurse anbot: Elisabeth Leiner aus Neusiedl, die 1937/38 nach Wien umzog.283 Die Ärzteschaft konnte sich zwar auf die Gültigkeit der alten Gesetze und Hofdekrete zur Wahrung ihres Monopols in der Krankenbehandlung verlassen, aber eine grundsätzliche Anpassung ihrer Rechte und Pflichten erfolgte nicht.284 Die Vollstreckung der Impfpflicht gelang weiterhin nicht flächendeckend.285 Auf dem Land fälschten Ärzte und Hebammen die Totgeburtstatistik, da die Kinder noch (posthum) getauft wurden.286 Die »Kurschmiede« blieben weiterhin tätig und erhielten umfänglichen Zugang zu Arzneien.287 Ab 1926 durften sie sich wieder mit dem werbewirksamen Titel »Militärkurschmied« schmücken.288 Die Oberösterreichische Ärztekammer musste in den 1920er Jahren feststellen, dass lokale Krankenkassen mit »Beineinrichtern« Verträge abschlossen.289 Die Obrigkeit schritt hiergegen so gut wie nie ein. Der Durchsetzung der eigenen Ansprüche gegenüber den »Kurpfuschern« nutzte es nicht, dass einige prominente Vertreter der österreichischen Ärzteschaft zur Mehrung des wissenschaftlichen und finanziellen Ruhms mit Heilversprechungen an die Öffentlichkeit traten, die in ihrem Omnipotenzanspruch den Ankündigungen von Marktschreiern in nichts nachstanden. An erster Stelle ist hier der in Wien lehrende Physiologe Eugen Steinach (1861– 280 Siehe hierzu Mildenberger (2015), S. 89–93. 281 Zumeist mussten die mit der Sammeldiagnose »Rheuma« abgespeisten Männer bis zur völligen Arbeitsunfähigkeit tätig bleiben, um dann Armenfürsorge zu erhalten, siehe Arnold Czech (1928), S. 71 f. 282 Amtlicher Teil (1933), S. 47. 283 Official List (1935); Editorial (1939), S. 1; Members (1946), S. 1. 284 Siehe Grün (1919), S. 43; Amtlicher Teil (1933), S. 58, 67. 285 Siehe z. B. die autobiographische Erinnerung von »Johann Hömstreit« bei Verein (2008), S. 108. 286 Peller (1936), S. 15. 287 Pelzer (1925/27), S. 2; Der Medikamentenbezug (1925/27), S. 1. 288 Die Wiedereinführung (1925/27), S. 1. 289 Kurpfuscher (1927), S. 20; Kurpfuscher (1929), S. 92.
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1944) zu nennen. Nach umfänglichen Experimenten an Ratten und Meerschweinchen behauptete er nicht nur, mittels Hodentransplantationen männliche Homosexuelle »heilen« zu können, sondern auch, dass eine einfache Durchtrennung des Vas deferens (Vasektomie) eine Verjüngung des (heterosexuellen) männlichen Organismus ermöglichen würde.290 Nach den Entbehrungen des Ersten Weltkrieges schien Steinach erschöpften Kriegern und ausgelaugten Bürgern gleichermaßen ihre Jugend zurückgeben zu können.291 Frühzeitig äußerten renommierte Kollegen Zweifel an den Behauptungen Steinachs, konnten sich aber gegen den sich alsbald entfaltenden Hype in Medien und Öffentlichkeit nicht durchsetzen.292 Der »Steinach-Rummel« hielt über nahezu ein Jahrzehnt an, ehe der Fortschritt in der Endokrinologie seine zu einfachen Erklärungen über den Wirkmechanismus von Hormonen widerlegte.293 Entnervt notierte ein Autor des Gesundheitslehrers 1921, dass es nicht leicht sei, in Österreich vor »Kurpfuschern« zu warnen, wenn gleichzeitig Steinach das Zepter schwinge.294 Aus Sicht der Laienheilkunde waren Steinachs Versprechungen ein Angriff auf jede Form von Lebensreform und Diätetik. Infolgedessen äußerten sich die Naturheilkundigen von Anfang an ablehnend und erklärten, nur eine natürliche Lebensweise könne verlorene Jugend zurückbringen.295 Die Naturheilvereine begannen kurz nach Kriegsende ihre Arbeit wiederaufzunehmen. Der Erste Wiener Naturheilverein schloss sich mit einem lokalen Kneippverein zusammen296, sah sich aber mit einer neuen Bedrohung konfrontiert: der Übernahme seines kleinen Vereinsangebotes durch ein ideologisch unterfüttertes staatliches Konzept. 1920 war die Stadt Wien aus dem Bundesland Niederösterreich herausgelöst worden und fungierte nun bis 1934 als Experimentierfeld für sozialdemokratische Wohlfahrts- und Gesellschaftspolitik (»Rotes Wien«).297 Ein wichtiger Bestandteil war die Wohnungsbaupolitik, um den Unterschichten so ein gesundes Leben zu ermöglichen.298 Dies war die Voraussetzung für die Umsetzung einer auf Selbstmanagement und sexuelle Selbstbefreiung abzielenden Gesundheitsfürsorge. Diese beinhaltete die Idee der Schaffung eines »neuen Menschen« – gestählt durch sozialistische Ideologie und allumfassende Gesundheit.299 Ein neues Lebensgefühl sollte die Arbeiterschaft dem Alkohol und Tabak entwöhnen und zu einer neuen Moral erziehen.300 Die Freikörperkultur wurde gefördert.301 In diesem Zusammenhang wurde das »Gänsehäufel« 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301
Stoff (2004), S. 146. Steinach nannte den Eingriff »Vasoligatur«. Sengoopta (2006), S. 57. Mildenberger (2002), S. 307 f. Stoff (2004), S. 446 f. Siehe zur Hormonforschung Stoff (2012). Otto Neumann (1921), S. 107. Stoff (2004), S. 273 ff. Einreihung (1919), S. 59. Weihsmann (1985). Bramhas (1987), S. 37. Scholing/Walter (1986), S. 259. Scholing/Walter (1986), S. 256. Byer: Leiber (1988), S. 169 f.; Pfabigan (1991), S. 161, 164.
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zu einem modernen, ärztlich kontrollierten Volksbad ausgebaut.302 Hinzu kam die Einrichtung eines städtischen Gesundheitswesens, in dem großer Wert auf Krankheitsprävention gelegt wurde.303 Sowohl die hygienische Erziehung in den Schulen als auch die Jugendberatung sollten allein durch Ärzte erfolgen.304 Auch die Hydrotherapie zählte zum Repertoire der neuen sozialistischen Gesundheitsfürsorge. Für ihre Umsetzung sollten allein Ärzte zuständig sein, wie der von der neuen Politik begeisterte Heinrich Grün und seine Mitstreiter feststellten.305 Grün avancierte zum Gemeinderat und Leiter des Wiener Sanitätswesens, starb aber 1924 an einem Herzinfarkt.306 In den folgenden Jahren baute der Sozialmediziner Julius Tandler (1869–1936) das städtische Gesundheitswesen in Wien weiter aus. Er legte großen Wert auf eine eugenische Note in der Planung der Gesundheit kommender Generationen.307 Tandler war beeinflusst vom Konzept einer »Menschenökonomie«, wie es sozialdemokratische Theoretiker erdacht hatten.308 1922 wurde eine erste gesundheitliche Beratungsstelle für Ehepaare eingerichtet.309 Die Sexualaufklärung wurde eingeführt, die Liberalisierung des Abtreibungsrechtes zumindest diskutiert.310 Besondere Bekanntheit erlangte der Schriftsteller Hugo Bettauer (1872–1925), der in seiner Wochenschrift für die sexuelle Emanzipation und die Selbstoptimierung des Körpers warb.311 Natürliche Heilweisen spielten für ihn keine positive Rolle. Ein einziges Mal thematisierte er sie, als er behauptete, in Wien würden »Massage« und »natürliche Heilmethoden« nur beworben, um Prostitution zu ermöglichen.312 1928 organisierte der abtrünnige Schüler Sigmund Freuds, Wilhelm Reich (1897–1957), die Einrichtung sozialistischer Sexualberatungsstellen, deren Mitarbeiter darauf hinwirkten, die Ratsuchenden nicht nur von Krankheiten, sondern langfristig auch von allen heilkundlichen Ratgebern zu emanzipieren.313 Für konservative ärztliche Volksaufklärer war im »Roten Wien« kein Platz, und infolgedessen wurden Karl Georg Panesch und seine Anhänger völlig marginalisiert. Gleichwohl blieb er aktiv, bewarb die ärztliche Schroth-Kur und sprang zu seinem 66. Geburtstag 1930 gemeinsam mit 700 Gästen unter 302 Wiener Stadtbauamt (1951), S. 16. Abseits der sozialdemokratischen oder christlich-konservativen Indoktrination sammelten sich Naturanbeter und Körperkulturanhänger im »Dschungel« der Lobau unweit des »Gänsehäufels«, siehe Eder (1983), S. 54, 75. 303 Gamper (2000), S. 79 f. 304 Frankl (1926), S. 132; Brückner-Teleky (1932), S. 74. 305 Ebel (1919), S. 64; Grün (1922). 306 Friedjung (1924), S. 225. 307 Sablik (1983), S. 281 f.; Maria A. Wolf (2008), S. 257. 308 Byer: Rassenhygiene (1988), S. 86; Baader (2007), S. 98, 108. Zu den verschiedenen Implikationen dieses Konzepts siehe Löscher (2001); Lepp/Roth/Vogel (1999). Zeitgenossen sahen in dem Konzept das Gegenstück zur sozialdarwinistischen »Auslese«, siehe Fürth (1913), S. 96. 309 Mesner (2007), S. 51. 310 Sablik (1983), S. 280. 311 McEwen (2016), S. 119. 312 Eros (1925), S. 3. 313 Fallend/Reichmayr (1988), S. 142; Fallend (1988), S. 125.
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dem Motto »Verkühle dich täglich« in die Donau.314 Einen breiteren Einfluss konnte er dennoch nicht gewinnen und verstrickte sich wiederholt in Standesstreitigkeiten mit der Ärztekammer.315 Auch wenn die Gemeinde Wien die Laienheilkunde strikt ablehnte, so stand sie dem Gedanken einer vereinsgeleiteten Krankheitsprävention durchaus offen gegenüber und überließ dem Naturheilverein 1922 am Satzberg ein Grundstück zur Errichtung eines neuen Bades.316 Dort wurden Sonnenbäder, Licht-Luft-Körperpflege und Anwendungen im Stile Arnold Riklis angeboten.317 Die Selbstbeschränkung auf Beratung und Prävention provozierte die Abspaltung von Vereinsmitgliedern, die weiterhin die Laienheilkunde präferierten, allen voran der Purkersdorfer Heilkundige Alois Sperneder, der seinen eigenen Naturheilverein gründete.318 1925 stellte er sich gar einer Überprüfung seiner harndiagnostischen Fähigkeiten durch Ärzte.319 Der ursprüngliche Naturheilverein stand in enger Kooperation mit dem »Kaufhaus für Naturheilanhänger« von Rudolf Zimmer, der 1920–1924 und 1925–1929 den Verein leitete.320 Ab 1932 wurde das Kaufhaus von Othmar Nowotny geführt, dessen Bruder Hans ab 1934 dem Naturheilverein vorstand.321 Auch die »Medizinalkräuterhandlung Rudolf Brand« bot mit einem 1928 präsentierten Hausbuch für Naturheilanhänger Empfehlungen zur Selbstbehandlung.322 Die vor 1914 aufgeblühte Kultur des Vegetarismus war im ganzen deutschsprachigen Raum zusammengeschrumpft.323 In Wien existierte nur ein Lokal im VI. Bezirk dauerhaft.324 Die Anhänger der Freikörperkultur erklagten sich 1926 das Recht auf Ausübung ihrer Selbstentfaltung.325 Organisatorisches Zentrum war der in Graz tätige Verein »Licht Luft Leben«, der seinen Mitgliedern u. a. am Millstätter See eine Entfaltungsstätte bot.326 Man betonte, die Allgemeinheit nicht stören zu wollen, verwahrte sich aber gegen staatliche Kontrolle, denn »mit Polizeimitteln die Moral zu erhalten oder zu heben«, sei nicht erfolgversprechend.327 1928 initiierte »Licht Luft Leben« eine vorsichtige Kooperation mit der Verwaltung der Städtischen Bäder im »Roten Wien«.328 314 Panesch (1929); Geburtstagsfeier (1930); Heilwissenschaftliche Korrespondenz (1930). 315 Dr. Panesch (1927), S. 2. 316 Vereinsnachrichten (1922), S. 43. Zur Selbstabgrenzung des Naturheilvereins von der Laienheilkunde siehe Schwartz (1921), S. 22. 317 Naturheilverein (1932), S. 20. 318 Wunderdoktor (1935). 319 Surya (1950), S. 210; Wüthrich (1967), S. 62. 320 Kurt Berger (1995), S. 120. Das Kaufhaus befand sich in der Liniengasse 33 im VI. Wiener Gemeindebezirk. 321 Kurt Berger (1995), S. 120; Geschäfts-Übergabe (1932), S. 11. 322 Spitzner (1928), S. 15 ff. 323 Jürgensohn (1921), S. 53. 324 Hierbei handelte es sich um das Restaurant von Anna Lichtenegger in der Köstlergasse 1, siehe Speisegelegenheiten (1929). 325 Aus unserer Bewegung (1926), S. 103. 326 Verschiedenes (1926), S. 104. 327 Zois (1929), S. 87. 328 Das badende Wien (1928), S. 82.
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Die anthroposophische Bewegung blieb klein. 1922 war Rudolf Steiner zu einem Vortrag nach Wien gekommen.329 1926 wurde eine Dependance von Weleda in Wien eröffnet330, 1927 folgte die Gründung einer Waldorfschule331. Zu den ersten anthroposophischen Ärzten in Wien zählte der Chirurg Ferdinand Wantschura (1887–1966).332 Die ideologische Überhöhung der emanzipatorischen Körperarbeit bei gleichzeitiger Frontstellung gegenüber den Laienvereinen begünstigte deren Hinwendung zu einer sexualkonservativen Haltung. Dies wurde erleichtert durch das weiterhin bestehende Engagement eines Mannes, der wie ein Prophet der Keuschheit auftrat und sich dabei gleichermaßen als völkisch-religiös geerdet und emanzipatorisch gegenüber der Obrigkeit positionierte: Johannes Ude. Nach dem Untergang der alten Monarchie hatte er sich der Politik zugewandt und engagierte sich in der Partei »Wirtschaftsverein« und der Christlichsozialen Partei. 1919 bis 1925 hielt er 730 öffentliche Vorträge und setzte mehr als 380.000 Broschüren mit seinen Ideen ab.333 Insbesondere bekämpfte Ude die Verbreitung der Prostitution und lehnte jede Kompromisshaltung auf diesem Gebiet ab, da er in der käuflichen Liebe das Hauptsymptom für den moralischen Verfall der österreichischen Gesellschaft ausmachte. Ude positionierte sich klar gegen Amtskirche und staatliche Verwaltung und sah in den Laienorganisationen, auch im Bereich der Heilkunde, die einzig wahren Akteure, die an einer moralischen und sozialen Rettung Österreichs interessiert seien.334 1929/30 brach Ude völlig mit der Christlichsozialen Partei und umgekehrt die Amtskirche unter Fürstbischof Stanislaus Pawlikowski (1877–1956) mit ihm.335 Er erhielt Predigtverbot, durfte sich nicht mehr politisch betätigen und nicht mehr an der Universität lehren – umgekehrt steigerte dies seinen Nimbus als unbeugsamer Rebell. Die ohnehin im Abwehrkampf gegen sozialdemokratische Lebensreform stehenden Naturheil- und Lebensreformverbände orientierten sich noch stärker an ihm und erblickten in Ude ihren Märtyrer.336 Bestärkt wurden Ude und seine Mitkämpfer durch die »Enzyklika Casti Connubii« des Papstes Pius XI. (1857–1939, Pontifikat ab 1922) aus dem Jahre 1930 sowie die Erklärung der Generalkongregation vom 18. März 1931 zur sexuellen Aufklärung.337 Eine absolute Ethik in allen Fragen der Sexualität war nun offizielles katholisches Glaubensgebot. Diese
329 Schad (2011), S. 60. 330 Hans Weiss (1995), S. 65, 105. Die Theosophen blieben ähnlich klein, verfügten aber mit Demeter Georgievitz-Weitzer (1873–1949) über einen wirkmächtigen Autor, der unter dem Pseudonym »G. W. Surya« publizierte, siehe Farkas (2010), S. 1365. 331 Gergely/Richter (2011), S. 75 f. 332 Streli/Wantschura (2000), S. 136 f. Zu seinem Werdegang siehe auch Notizen (1962), S. 285. 333 Farkas: Johannes Ude (1992), S. 274; Farkas: Amtskirche (1997), S. 255. 334 Pirchan (1949), S. 10. 335 Farkas: Amtskirche (1997), S. 263. 336 So auch der Wiener Naturheilverein, siehe Eine schwere Niederlage (1922). 337 Die christliche Ehe (1931), S. 30; Dekret (1931), S. 56.
100 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik stand aber nicht im Widerspruch zur Förderung von Sport oder (keuscher) Nacktkultur, wie dies die Deutsche Bischofskonferenz 1925 dargelegt hatte.338 Nicht nur katholische, auch evangelische Priester betätigten sich im Bereich der Lebensreform. In der evangelischen Gemeinde Weißbriach in Kärnten wirkte seit 1916 als Pastor Wunibald Maier (1879–1939), der dort auf Basis der Lehren Sebastian Kneipps eine Ruhrepidemie erfolgreich bekämpfte und anschließend ein Heilbad plante.339 Um einer Anzeige wegen »Kurpfuscherei« zu entgehen, studierte er ab 1924 erfolgreich in Graz Medizin und verband in der Folgezeit pastorale und medizinische Tätigkeiten.340 In Vorarlberg initiierten Kapuzinermönche ein Kneippkurhaus und setzten Lehm im Sinne »Pastor Felkes« als Heilmittel ein.341 1925 ereignete sich in Wien etwas, was es zuvor nicht gegeben hatte: Ein Universitätsprofessor verwendete sich für einen Laienheilkundigen, der in seiner eigenen therapeutischen Disziplin tätig war. Der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud (1856–1939), verteidigte den Laien Theodor Reik (1888–1969).342 Freud begründete seinen Einsatz damit, dass die Psychoanalyse als »Wissenschaft vom seelisch Unbewußten« kein Gebiet sei, das sich dem Arzt leichter erschließe als dem Nichtarzt.343 Neben Reik gab es weitere bedeutende Laien, die psychoanalytisch tätig waren, z. B. der Anwalt Hanns Sachs (1881–1947), der Pfarrer Oskar Pfister (1873–1956) oder die Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé (1861–1937).344 Reik selbst betonte sein Recht auf die Tätigkeit als Analytiker und schrieb rückblickend hinsichtlich der Verfolgung: »Zu unserem Thema zurückkehrend, ist es vielleicht notwendig zu betonen: die Existenz bestimmter Mächtegruppen anerkennen heißt nicht, sich ihnen zu unterwerfen, heißt nicht ihnen Tribut zollen, sondern nur eine psychologische Realpolitik treiben.«345 Eventuell zielte Freud mit seiner Unterstützung für die Laienanalytiker auf einen bestimmten Teil des Gesundheitsmarktes. Wie der in Friedrichroda tätige Nervenarzt Georg Wanke betonte, kämen dem psychoanalytischen Therapeuten Aufgaben zu, die eigentlich zur katholischen Seelsorge gehörten.346 Die Sexualfeindlichkeit der katholischen Orthodoxie und des Rebellen Ude bot also für die Laienanalyse einen breiten Markt. Einen Ausweg aus der katholischen Bigotterie ermöglichte 1929 der Grazer Gynäkologe Hermann Knaus (1892–1970). Er stellte eine natürliche Verhütungsmethode vor, die sich letztlich auch als kompatibel mit den Wünschen der katholischen Kirche 338 339 340 341 342 343 344 345
Monitor (1926), S. 5, 24. Evangelische und katholische Kirchengemeinden (1981), S. 153. Evangelische und katholische Kirchengemeinden (1981), S. 154. Bröll (1931), S. 20. Lohmann/Pfeiffer (2006), S. 72; Meyhöfer (2006), S. 653; Wegener (2010), S. 149. Freud (1999), S. 263. Meyhöfer (2006), S. 665. Reik (1927), S. 51. Eventuell nutzte es Reik, dass Freud die »Gesellschaft der Aerzte in Wien« ohnehin nicht schätzte und ihre Arbeitsweise für unklug erachtete, siehe Reik (1976), S. 13. 346 Wanke (1927), S. 305.
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erwies. Die komplizierte Methode wurde durch anschauliche Schiebetafeln gebrauchsfertig aufbereitet, die alsbald in Laienhände gelangten.347 Ebenfalls in Graz und zeitgleich zur Präsentation der Forschungen von Knaus erregte der den Sozialdemokraten angehörende Chirurg Hermann Schmerz (1881– 1941) öffentliches Interesse. Er führte gegen überhöhtes Honorar Sterilisationsoperationen an Männern durch, ohne dass diese über die dauerhaften Folgen genügend aufgeklärt worden wären.348 Als Echolot am christlich-völkischen Puls der Zeit fungierte ab 1925 die in Graz erscheinende Zeitschrift Alpenländische Monatshefte. Darin wurde die Stählung des Körpers als Krankheitsprophylaxe für Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen beworben349 und zugleich als Teil der historischen Volkskultur präsentiert350. Die »Ehrfurcht vor dem Organischen« wurde insbesondere von Lehrern gefordert.351 Eugenik begriff man als Teil des Heimatschutzgedankens352 ebenso wie die Nutzung von Mitteln der Volksheilkunde zur Eigenbehandlung353. Insgesamt wurde das »Land« als gesundes Gegenstück zur »Stadt« hervorgehoben.354 Als Zeichen des Überdauerns »uralten Volksgutes« benannte ein sich »G. P.« nennender Autor ein Phänomen, das die österreichischen Medizinalkulturen der Zwischenkriegszeit nachhaltig prägen sollte – die an den Aufstieg von Prießnitz und Schroth erinnernden »Bauerndoctoren« der Steiermark: »Man kann darüber lachen, oder sich darüber ärgern, an der Tatsache selbst ist damit nichts zu ändern: der Höller Hansel und seine immer zahlreicher werdenden ›Kollegen‹ haben, behalten und vergrößern ihren Zulauf.«355 Der »Höllerhansl« Johann Reinbacher (1866–1935) entstammte einer Familie von Heilern, die diagnostisch mit Harnschau und therapeutisch mit verschiedenen Tees arbeitete. Kräutersammlerinnen belieferten Reinbacher mit Nachschub, so dass er Cininus benedictus (Benediktenkraut), Salvia officinalis (Salbei), Althaea officinalis (Eibisch) und Foeniculum vulgare (Fenchel) in Verbindung mit Melissen- und Karmelitengeist aus Apotheken zu Arzneien verfertigen konnte.356 Auch das »Abbeten« gehörte zu seinem Konzept dazu. Reinbacher ordinierte in seinem Gemischtwarenladen in Stainz, welches an der Endstation der Schmalspurbahn aus Preding-Wieselsdorf lag. Einheimische verspotteten die Zugstrecke als »Flascherl-Zug«, weil alle Patienten eine kleine 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356
Andreas Weigl (2010), S. 160. Fallend (1988), S. 137. Abhärtung (1925/26); Hamburger (1926/27); Weber (1926/27); Papesch (1929/30). Weber (1925), S. 15, 19. Zum entsprechenden Charakter der steirischen volkskundlichen Forschung siehe Vetter (1992), S. 159. Geramb (1927/28), S. 355; Friedrich Bock (1930/31), S. 552. Viktor Ritter von Geramb (1884–1958) war Professor für Volkskunde in Graz und Begründer der wissenschaftlichen Volkskunde in Österreich. Sagburg (1932/33), S. 369. Siehe auch Mayer (2007). Weinkopf (1925/26), S. 649; Weinkopf (1927/28), S. 710. Gionnoni (1924), S. 31. G. P. (1926/27), S. 28. Bernd L. Mader (1997), S. 55. Zur Harnschau siehe Stolberg: Harnschau (2009).
102 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik Flasche mit Eigenurin mit sich führten, aus dem Reinbacher seine Diagnose ableitete.357 Nicht ganz so populär wie Reinbacher, dessen Erfolg mit Tausenden Patienten die sozialdemokratische Presse als »Nachtschattengewächs der klerikalen Gehirnversumpfung« schmähte358, waren die ebenfalls auf die Harnschau vertrauenden Heilerinnen Amalia (1864–1941) und Anna Halm (1904–1980) in St. Florian bei Deutschlandsberg und der Heilkundige Peter Klug (1884–1965) in Bad Gams.359 Die Medizinalbürokraten beschränkten sich auf gelegentliche Strafanzeigen und Verurteilungen zu Geldstrafen – eine dauerhafte Unterbindung der Tätigkeit des »Höllerhansl« gelang nicht der Obrigkeit, sondern nur Reinbacher selbst, der schließlich dem übermäßigen Genuss seiner zuvor applizierten Kräuterschnäpse erlag. Die Nutzung des Harns als Diagnostikum schien vielen zeitgenössischen Beobachtern nicht mehr als ein Symbol der Rückschrittlichkeit zu sein, jedoch ist auffallend, dass die offenbar die Marktchancen sehr genau erkennenden Volksheilkundigen sich auf eben dieses überkommene Hilfsmittel kaprizierten. Dies war eventuell kein Zufall, denn zeitgleich zum entstehenden Hype um den »Höllerhansl« begann die Harnanalyse eine wichtige Rolle in der Praxis der Hausärzte zu spielen. Alle hierfür notwendigen Instrumente und Hilfsmittel – beispielsweise zum Nachweis des Eiweiß- und Zuckergehaltes im Harn – ließen sich problemlos bei Versandhändlern bestellen.360 1930 präsentierte schließlich Selmar Samuel Aschheim (1878–1965) die Schwangerschaftsdiagnose aus dem Harn.361 Der »Höllerhansl« und seine Mitstreiter bewegten sich also – gewollt oder ungewollt – in einem Bereich, der dem interessierten Publikum als Beispiel einer fortschrittlichen Medizin geläufig war. Der österreichische Medizinhistoriker Max Neuburger (1868–1955) merkte bereits 1933 kritisch an: »Die Volksmedizin erweist sich als ein buntes Mosaik von Steinchen, die den verschiedensten Kulturepochen angehören.«362 Seine Nachfolgerin auf dem Lehrstuhl in Wien, Erna Lesky, war 1971 der Ansicht, der »Höllerhansl« habe sich schlicht im mittlerweile veralteten Repertoire der Schulmedizin des 18. Jahrhunderts bedient: »Für den Kundigen ist freilich unschwer zu erkennen, wie hier die Wiener Schulmedizin des 18. Jahrhunderts, im Besonderen die humoralpathologische Betrachtung des Klinikers Maximilian Stoll (1742–1787) zur Volksmedizin des 20. Jahrhunderts abgesunken ist.«363 Im Umkreis des »Höllerhansl« waren auch Hebammen tätig, die als »weise Frauen« überkommene Gesundheitstipps gaben.364 Versuchen der Ge357 Bernd L. Mader (1999), S. 46. 358 Surya (1923), S. 174. An anderer Stelle wurde er als »Doktor Einbildung« präsentiert, siehe Grabner (1969), S. 148. 359 Bernd L. Mader (1999), S. 74, 80. 360 Rapp (1927), S. 9, 15, 19 ff. Zur Entwicklung der schulmedizinischen Harndiagnose in den 1920er Jahren siehe M[oritz] Weiss (1936), S. 11 ff. 361 Schulz (1974), S. 73. 362 Neuburger (1933), S. 34. 363 Zit. n. Grabner (2000/01), S. 537. 364 Biedermann (1934), S. 9.
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sundheitsverwaltung, hier einzugreifen, war kein Erfolg beschieden: »Die Bevölkerung wehrt sich oft erbittert gegen das Neue«, musste eine Mitarbeiterin des Volksgesundheitsamtes einräumen.365 Die Hebammen nutzten auch Aufgüsse von Rosmarinus officinalis (Rosmarin) und Juniperus sabina (Sadebaum) zur Fruchtabtreibung.366 Sie profitierten hierbei von einer Bestimmung des Strafgesetzbuches, wonach nur der »taugliche«, nicht aber der aus ärztlicher Sicht »untaugliche« Versuch strafbar war.367 Die gegen die »unwissenschaftliche« Volksheilkunde agitierenden Ärzte wurden so Opfer ihrer eigenen Argumentation. In der Steiermark spielten neben den »Bauerndoctoren« weiter die Landpriester in der heilkundlichen Betreuung der Bevölkerung eine Rolle. Die Diözesanbehörden versteckten diese ihnen wohlbekannte Tätigkeit in den Personalakten mit »sehr eifrig im Krankenbesuch«-Formulierungen, wie im Falle des Pfarrers Anton Hödl (1888–1968).368 Hinzu kam der Verkauf von »Malefiz-Tränken« zur Krankheitsabwehr.369 Sowohl die Volksheilkundigen als auch die Naturheilvereine und Lebensreformer profitierten von einer Neuorientierung der Schulmedizin in den 1920er Jahren hin zu einer Neubewertung von heilkundlichen Vordenkern der Vergangenheit. Angesichts des Scheiterns der Kliniker im Kampf gegen Krebs, Syphilis und zahlreiche weitere chronische Krankheiten sowie in Anbetracht materieller Verarmungsängste aufgrund von Inflation und »Ärzteschwemme« entwickelte sich in Deutschland und Österreich ein krisenhafter Pessimismus innerhalb des ärztlichen Standes. Führende Ärzte fabulierten von einer »Krisis der Medizin«, der durch Rückbesinnung auf scheinbar verlorengegangene Traditionen entgegengewirkt werden sollte.370 Diese Untergangsstimmung nutzte eine Reihe von alsbald wirkmächtigen Ärzten auch dazu aus, vor Jahrzehnten aus dem Diskurs verdrängte Konzeptionen wieder in die ärztliche Praxis zu integrieren. So präsentierte der österreichische Arzt Bernhard Aschner (1883–1960) ein »Konstitutionstherapie« genanntes System aus Naturheilverfahren und modernisierten Theorien von Paracelsus als therapeutischen Ausweg bei der Behandlung chronischer Krankheiten.371 Der Danziger Chirurg Erwin Liek (1878–1935) hielt seinen Standeskollegen Technikverliebtheit und Patientenferne vor, wodurch das Ansehen der Ärzte insgesamt leide.372 In diesem Kontext aus kritischer Nabelschau, Rückbesinnung auf verlorene therapeutische 365 Haus (1928), S. 106. Zur Kritik der zeitgenössischen Sozialmedizin siehe Friedjung (1929). 366 Lewin (1922), S. 227. Zu den verschiedenen volksheilkundlichen Mitteln siehe Hovorka/ Kronfeld (1908), S. 164 ff. Zur Nutzung beider Pflanzen bei Frauenleiden siehe Brøndegaard (1964); Volker Zimmermann (1980); Leibrock-Plehn (1991). Zur Geschichte der »Frauenmittel« in der Phytotherapie siehe Hübsch (2004). 367 Haberda (1921), S. 212. 368 Diözesanarchiv Graz, Akt Hödl Anton, Vermerk vom 15.7.1934. 369 Margarethe Ruff (2003), S. 123. 370 Siehe hierzu Klasen (1984), S. 19 f.; Bothe (1991), S. 36. 371 Aschner (1928), S. 5. Zur praktischen Anwendung siehe Aschner (1941). 372 Liek (1927).
104 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik Wege und Ärger über die gesellschaftlichen Veränderungen seit 1918 forderte der renommierte Berliner Chirurg August Bier (1861–1949) die Rezeptionsbereitschaft der Fachöffentlichkeit in besonderer Weise heraus, indem er sich Ende Juni 1925 in der Münchener medizinischen Wochenschrift zu Wort meldete, um die Anwendung einer von ihm modifizierten homöopathischen Behandlungsweise zu empfehlen.373 Diese häretische Überlegung verband er mit der Aufforderung an seine Kollegen, das seit Jahrzehnten gepflegte Misstrauen gegenüber den homöopathisch arbeitenden Ärzten und Therapeuten abzubauen.374 Die Mitarbeiter des Ministeriums für soziale Verwaltung sahen den Erfolg von Bier und Liek beim interessierten Publikum und wollten zwar ihre Art der Argumentation, nicht aber die Inhalte übernehmen.375 Infolgedessen wagte das Wiener Volksgesundheitsamt Ende der 1920er Jahre unter dem Eindruck einer schwindenden Glaubwürdigkeit der klassischen Schulmedizin den Spagat zwischen medizinischer Volksaufklärung, Bewerbung von eigenverantwortlichem Gesundheitsmanagement und Begünstigung der Laienheilkunde, indem renommierte Vertreter ihrer jeweiligen medizinischen Disziplinen populärwissenschaftliche Einführungen zu ihrem Fachgebiet veröffentlichten oder Radio-Vorträge hielten.376 Die Buchreihe »Ärztliche Praxis« behandelte auch Orthopädie, Hydrotherapie, Diathermie und chirurgische Fragen – mithin Bereiche, in denen Naturheilkundige und Volksheiler aktiv waren.377 Die beteiligten ärztlichen Autoren ließen jede Form von Selbstkritik oder Empathie vermissen, indem sie Hydrotherapie als Produkt ärztlichen Denkens (Winternitz) benannten378 oder bei Verrenkungen zur gewaltsamen Massage oder Einrenkung rieten, eine Operation aber nicht ausschlossen379. Doch waren das Volksgesundheitsamt und mit ihm die Akteure der Schulmedizin macht- und ratlos gegenüber dem Erfolg eines in Oberösterreich wirkenden, in ganz Mitteleuropa Bekanntheit erlangenden Privatgelehrten. Bereits seit 1912 forschte der Erfinder Michael Valentin Zeileis (1873–1939) über Hochfrequenzstrahlen, die der Ingenieur Nikola Tesla (1856–1943) entdeckt und beschrieben hatte.380 Zeileis hatte zunächst in Wien als Heilmagnetiseur gearbeitet, wobei ihm diese Tätigkeit als Nichtarzt gestattet wurde, da er in zweiter Ehe mit Friederike Mautner von Markhof (1872–1954), die aus einer der einflussreichsten Industriellenfamilien Österreichs stammte, verheiratet war.381 Sein Sohn aus erster Ehe, Fritz Gustav Zeileis (1898–1978), studierte Medizin und assistierte seinem Vater ab 1924. Nach langjährigen Experimenten präsentierte Zeileis sen. seit Mitte der 1920er Jahre im Wasserschloss 373 374 375 376 377 378 379 380 381
Bier (1925). Doms (2004), S. 250. Juhn (1927), S. 184. Kleine Mitteilungen (1928), S. 47. Guido Engelmann (1929); Ewald: Verrenkungen (1928); Ewald: Knochenbrüche (1928); Liebesny (1929); Liebesny (1932). Liebesny (1932), S. 1 f. Ewald: Verrenkungen (1928), S. 10 f., 32. Der Beginn (1940), S. 13; Barthel/Manner (1970), S. 15. Körner (2012), S. 42; Obermüller (1930), S. 10.
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Gallspach eine therapeutische Anwendung seiner Hochfrequenzstrahlen: »Die Zeileis-Apparatur erzeugte Tesla-Ströme, die bei der Behandlung, entweder durch direktes Aufsetzen einer Elektrode oder über die Luft, auf den Körper des Patienten übertragen wurden und ein Wärmegefühl auf der Haut erzeugten.«382 Aber erst in der Verzweiflungszeit der Weltwirtschaftskrise 1929/30 füllte sich das Wartezimmer in Gallspach. Presseberichte und Mund-zu-Mund-Propaganda führten 1930 16.345 Patienten in das kleine oberösterreichische Dorf, das auf diese Weise zum inoffiziellen Kurort avancierte.383 Auch ärztliche Beobachter reisten an, darunter Erwin Liek.384 Er bemerkte, wie sich Zeileis Zeit nahm, die Patienten zu befragen, und in jedem Fall Empathie zeigte – er wirkte durch seine »Persönlichkeit«.385 Der therapeutische Vorgang nahm zur Verblüffung Lieks nur wenige Sekunden in Anspruch: Die Kranken entblößen den Oberkörper, nur wenige entkleiden sich ganz. Die Behandlung beginnt. Jeder Kranke nimmt nur wenige Sekunden in Anspruch (3000 Kranke in 8 Stunden!). Zeileis hat in der rechten Hand eine elektrische Dusche, die mit einem Hochspannungsgerät verbunden ist. Der Zuleitungsdraht sprüht im verdunkelten Raum büschelförmige, bläuliche Funken. Eine breite, ebenfalls bläulich glänzende, knisternde Strahlung geht von der Endplatte der Dusche aus. Wird die Platte etwas schräg gehalten, dann springen unter starkem Geräusch aus etwa 10–15 cm Entfernung Blitzbänder auf den Kranken über. Strahlung und Blitz, ein Strich über die Brust, ein Strich über den Rücken, das ist eigentlich alles, was Zeileis macht.386
Weder eine lokale Typhus-Epidemie noch das vernichtende Urteil des Berliner Radiologen und Vertrauensmanns des Deutschen Aerztevereinsbundes, Paul Lazarus (1873–1957), konnten die Anziehungskraft von Gallspach wirksam reduzieren.387 Noch 1937 erschienen 8.805 Patienten bei Zeileis, darunter 3.260 aus dem Ausland.388 Vor allem aber kamen Ärzte, die bei Vater und Sohn Zeileis die Technik erlernten und umgehend eigene »Zeileis-Institute« in Deutschland und Österreich eröffneten. Daran konnte auch die schnelle Reaktion der Bayerischen Landesärztekammer nichts ändern, die mit Zeileis kooperierende Ärzte der »Kurpfuscherei« zieh.389 Gleichwohl eröffneten umgehend 1930 in München, Seeshaupt und Straubing »Zeileis-Institute«.390 Die DGBK polemisierte vergeblich in Diskussionen und Aufsätzen gegen die »Gallspachseuche«.391 Erwin Liek hingegen führte aus, dass Phänomene wie Zeileis nur verdeutlichten, dass sich »Kurpfuscherei« nie verbieten lassen wür382 383 384 385 386 387 388 389 390 391
Körner (2012), S. 43. Statistischer Anhang (1940), S. 29. Liek wurde hierfür scharf kritisiert, siehe Timmermann (1999), S. 115. Liek (1929), S. 1052; Timmermann (2000), S. 143. Liek (1940), S. 95. Siehe auch Blümler (1935), S. 21–29. Körner (2012), S. 54. Siehe auch Lazarus: Tragikomödie (1930); Lazarus: Erklärung (1930). Statistischer Anhang (1940), S. 29. Tagesgeschichtliche Notizen (1930), S. 1874. Verzeichnis bisheriger Zeileis-Schüler (1930), S. 84. Siehe auch Zeileis (1932/33). Der Wundermann (1929), S. 30; Die Gallspachseuche (1930), S. 44.
106 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik de.392 Aus Sicht der DGBK hingegen erschien es sinnvoll, im Rahmen der Verhandlungen zur Rechtsangleichung in Deutschland und Österreich, die seit 1920 als Vorbereitung für die 1932 von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges untersagte Vereinigung beider Länder dienen sollte, die gesetzlichen Bestimmungen Österreichs umgehend auch in Deutschland einzuführen.393 Zeileis entsprach so überhaupt nicht dem Bild des selbstlosen, naturnahen, ganzheitlich orientierten Laien, weshalb der Protagonist der deutschen Naturheilvereine, Oskar Mummert (1864–1953), stellvertretend für seine Kollegen Zeileis zum »Kurpfuscher« degradierte.394 Für die Laienheilkundigen in Österreich aber zeigten die Vorgänge um Zeileis und die »Bauerndoctoren«, dass man Verfolgung seitens des Staates nicht befürchten musste, wenn man sich als Teil einer größeren völkischen Gemeinschaft betätigte (Steiermark) oder aber über Protektion durch potente Klienten verfügte. Darüber hinaus taten Naturärzte gut daran, sich zumindest vor einer Behörde nicht zu verstecken, sondern dieser gegenüber die eigene Praxis zu benennen: dem Finanzamt.395 Der österreichische Staat profitierte von den steuerehrlichen Laienheilkundigen, und im Gegenzug gaben die Finanzbehörden ihr Aktenwissen über die »Kurpfuscher« nicht an andere Stellen weiter. Dies war besonders für jene Akteure relevant, die eigentlich nicht nebenberuflich tätig werden durften, z. B. Geistliche.396 Einer der bekanntesten heilkundlich tätigen Priester seiner Zeit war der in Württemberg geborene Karl Baumhauer (1896–1977), der 1925 in Wien zum Priester geweiht wurde und zunächst Pfarreien in Groß-Enzersdorf, Hohenau an der March, Großjedlersdorf und Hochneukirchen vertrat, ehe er 1937 nach Gablitz berufen wurde. Hier wirkte er bis zu seiner Pensionierung als »Geistlicher Rat«.397 Baumhauer war ein Anhänger der Irisdiagnostik, die von dem ungarischen Arzt Ignaz von Péczely (1826– 1911) begründet worden war. Seit den 1910er Jahren hatte die Pastorengattin Margarete Madaus (1857–1925) und Mitbegründerin der gleichnamigen homöopathischen Pharmafirma die Irisdiagnostik für sich entdeckt und mit der Komplexmittelhomöopathie verschmolzen.398 Die Affinität von Homöopathie und katholischem Klerus erleichterte Baumhauer sicher die Rezeption. Auch war es ein Geistlicher gewesen – zwar Protestant, aber kein Dogmatiker –, der die Irisdiagnostik in die moderne naturheilkundliche Laienheilkunde eingeführt hatte: der »Lehmpastor« Emanuel Felke (1856–1926).399 392 Liek (1933), S. 526. Die DGBK und ihren Drang zur »hygienischen Volksaufklärung« lehnte Liek ab, da dadurch nur Hypochonder gezüchtet würden, aber kein einziger Patient sich deswegen der Schulmedizin zuwenden werde, siehe Liek (1927), S. 170. 393 Hermann Fischer (1929), S. 243. 394 Mummert (1930), S. 314. Zeileis lehnte auch den Vegetarismus ab, siehe Obermüller (1930), S. 14. 395 Eine offene Frage (1929). 396 Wimmer (1934), S. 15. 397 Zu seinem Werdegang siehe Personalakt im Diözesanarchiv Wien. 398 Madaus (1926). Siehe auch E. B. (1931). 399 Zu Felke siehe Blessing (2010), S. 45–51. Zur zeitgenössischen Kritik siehe Seligmann (1910), S. 49.
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Hinzu kamen weitere ideologische Übereinstimmungen zwischen der konservativen Madaus und der katholischen Kirche, beispielsweise Ablehnung des Geschlechtsverkehrs vor der Ehe und die stete Bereitschaft, reuigen Sündern den Weg zur Buße zu ebnen.400 Auch stand die Madaus’sche Irisdiagnostik naturheilkundlichen Anwendungen positiv gegenüber.401 Führende homöopathische Ärzte wie Emil Schlegel (1852–1934) befürworteten die Umdeutung Péczelys durch Madaus.402 Baumhauer publizierte erstmals 1927 eine Studie, in der er eine Kulturgeschichte der Irisdiagnostik skizzierte und eine eigene, humoralpathologisch angehauchte Perspektive eröffnete.403 Es folgten weitere Bücher bis 1947, in denen er auf ärztliche Zustimmung für seine Arbeit verwies404, die Individualität der Diagnostik betonte405, gegen den Vorwurf des Okkultismus argumentierte406 und spirituelle Aspekte aus der Theologie mit der heilkundlichen Tätigkeit kombinierte, wenn er die »Reinheit« der Iris als Voraussetzung für ein gesundes Leben benannte407. Stets betonte er sein Recht als Laie, heilkundlich tätig zu sein.408 Das österreichische Volksgesundheitsamt hingegen bezeichnete die Irisdiagnose und daraus abgeleitete Therapien per se als »Schwindel«.409 Bisweilen griffen Laienheilkundige auch zum Sarkasmus, um ihre fragile Position zu präsentieren. So gründete in Wien Nikolaus Jekel 1930 einen »Verein zur Erreichung der Kurierfreiheit in Österreich« und die kurzlebige Zeitschrift Der Kurpfuscher, in der es hieß: »Bei uns in der Republik Österreich ist alles beschränkt. Die Gesamtheit und jeder einzelne. Wer nicht an und für sich beschränkt ist, der wird von seinen Mitmenschen beschränkt.«410 1932 veränderte sich die politische und gesellschaftliche Kultur in Österreich schlagartig, als den Nationalsozialisten bei den Wahlen der flächendeckende und generationenübergreifende Einbruch in bürgerliche und proletarische Wählerschichten gelang.411 Die ohnehin seit Jahren angespannte innenpolitische Situation entlud sich in der Ausschaltung des Parlaments durch den christlich-konservativen Politiker Engelbert Dollfuß (1892–1934) im Jahre 1932 und den gegen ihn gerichteten, jedoch gescheiterten sozialdemokratischen und nationalsozialistischen Putschversuchen 1934. Im Verlauf des Letzteren wurde Dollfuß ermordet, sein Nachfolger Kurt Schuschnigg (1897– 400 401 402 403 404 405 406 407 408 409 410 411
Sexuell (1922), S. 123. Kuhne (1921). Emil Schlegel (1924), S. 53. Baumhauer (1927), S. 10 ff., 119. Baumhauer (1931), S. 29. Baumhauer (1947), S. 19. Baumhauer (1931), S. 5. Dies war ein gängiger Vorwurf der Schulmedizin, z. B. des Münchner Professors für Augenheilkunde Fritz Salzer (1867–1952), der die Irisdiagnose auch als »Spätgeburt astrologischer Medizin« bezeichnete, siehe Salzer (1926), S. 54. Baumhauer (1928), S. 26. Baumhauer (1936), S. 265. Fragedienst (1937), S. 124. Beschränkt (1930), S. 1. Hänisch (1998), S. 224, 402.
108 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik 1977) setzte den Umbau der Republik zum »austrofaschistischen Ständestaat« fort. Dies umfasste die Rückabwicklung weiter Teile der Sozial- und Krankenfürsorge zugunsten einer martialischen Ordnungspolitik, die viele Menschen dem Staat und seinen Institutionen sowie den Vorfeldorganisationen entfremdete.412 Gegen die FKK-Vereine und die stets der Nähe zur Sozialdemokratie verdächtig erscheinenden Anhänger der Körperkultur ging Schuschnigg sogleich entschieden vor.413 »Sittlich anstößige« Abbildungen, Bücher und Zeitschriften wurden verboten.414 Allerdings ermöglichte die Ausschaltung des Parlaments und die Einbeziehung »ständischer« Gremien in die Gesetzgebungspraxis und Ordnungspolitik ideologisch biegsamen Vereinen und Organisationen ein Auskommen.415 Offiziell wurde eine nebulöse »naturgetreue Lebensweise« seitens der Behörden propagiert.416 Hierzu zählten die Ablehnung von Alkohol, Genussgiften und eines »zügellosen Sexuallebens«.417 Der Wiener Naturheilverein enthielt sich direkter politischer Stellungnahmen, doch die Autoren der Naturheil-Zeitung ließen keinen Zweifel an ihren Sympathien aufkommen: Die Förderung der »Volksheilkunde« im Nationalsozialismus wurde gelobt418, die Ablehnung der Impfung durch Nennung naturheilkundlicher Behandlung der Diphtherie genannt419 und Florian Berndl ein elegischer Nachruf gewidmet420. Zur Förderung der Gesundheit empfahl der Verein die gleichrangige Kooperation mit Ärzten: Hand in Hand mit der, dem Arzte vorbehaltenen Behandlung kranker Menschen, geht die Fürsorge für die Erhaltung der Gesundheit unserer Volksgenossen. Auf diesem Gebiete findet der mit der Materie Vertraute, durch Intuition Befähigte und für sein Wirken Prädestinierte ein weites Arbeitsfeld, welches ihm weder geschmälert werden kann, noch geschmälert werden darf.421
Die Nutzung homöopathischer Arzneien und deren Verordnung durch Laien, wie sie der Verein bewarb422, beendete das Bundesministerium für soziale Verwaltung im November 1937, indem es anordnete, dass diese nur durch Ärzte abgegeben werden dürften423. Infolge der Wirtschaftskrise und der damit verbundenen Kürzungen in den Sozialhaushalten der österreichischen Bundesländer und Gemeinden erfuhren die laienheilkundlichen Gesundheitsvereine einen erheblichen Auf412 Tálos (2005), S. 227; Tálos (2013), S. 333. 413 Eder (1983), S. 95 f. 414 Verordnung der Bundesregierung (1934), S. 38. Wahrscheinlich aber konnten insbesondere in den abgelegenen Tälern der Steiermark die Mitglieder des Vereins »Südland« weiter ihre Nacktkulturveranstaltungen durchführen, siehe Pfitzner (1964), S. 81 f. 415 Wohnout (1993), S. 177 f. 416 Löscher (2009), S. 141. 417 Löscher (2007), S. 151. 418 Das Rudolf Heß Krankenhaus (1935); Christoph Dietrich (1935). 419 Heilung (1935). 420 Vereinsnachrichten (1935). 421 40 Jahre Erster Österreichischer Naturheilverein (1935), S. 159. 422 Lederer (1935), S. 112. 423 Gesetze, Verordnungen (1938), S. 3.
Laienheilkunde im Zwergstaat (1918–1938)
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schwung.424 Der Verein in Wien erweiterte sein Angebot und eröffnete 1932 in der Lindengasse 38 (VII. Bezirk) eine auf den Prinzipien Riklis basierende Badeanstalt.425 Die Anhänger Kneipps boten ebenfalls eine Badeanstalt im XIX. Bezirk auf.426 Auch verfolgten einige Organisatoren das Ziel der Gründung eines »Zentral-Verbandes österreichischer Naturheil-, Körpersport- und Lebensreform-Vereine«. Waren die österreichischen Behörden zwar nicht in der Lage, die Verelendung breiter Volksschichten zu stoppen, so vermochten sie jedoch die Gründung dieses Dachverbandes bis 1938 zu verschleppen.427 Gegenüber dem Protagonisten einer rebellischen katholischen Lebensreform, Johannes Ude, zeigte sich der Ständestaat freundlicher. Um ihn für die eigenen Belange einzuspannen, wurde ihm die Lehrerlaubnis 1936 wieder zugestanden.428 Allerdings besaß er längst nicht mehr den Einfluss auf die Lebensreformbewegungen wie in den 1920er Jahren. Auch der austrofaschistische Staat setzte letztlich einseitig auf die Stärkung der Ärzteschaft und hoffte sich deren Loyalität durch eine neue Ärzteordnung erkaufen zu können. Diese trat am 21. Dezember 1937 in Kraft und sah u. a. vor, dass alle heilkundlichen Tätigkeiten ausdrücklich nur von Ärzten ausgeführt werden durften, die sich einer modernen klinischen Diagnostik bedienten.429 Allerdings gab es selbst innerhalb der Ärzteschaft starke Zweifel, ob das neue Gesetz die »Kurpfuscherei« wirklich verunmöglichen würde, wenn gleichzeitig in Wels in Oberösterreich die Stadtwerke einen Sonderbusverkehr zu einem lokalen »Kurpfuscher« initiierten, um den Andrang besser bewältigen zu können.430 Mit der langsam aussterbenden Konkurrenz der »Kurschmiede« einigten sich die Ärzte auf einen »Burgfrieden«.431 Hinsichtlich der Laien-Phytotherapie befanden sich die Mediziner klar im Nachteil gegenüber dem politisch gut vernetzten und gewinnorientierten »österreichischen Arzneipflanzenkomitee« (d. i. die Heilkräuterindustrie), das Aufklärungsbücher zum Gesundheitsmanagement auf Basis »heimischer« Kräuter sponserte. So erschien Ende 1937 ein »Rezeptschatz für Kräuterfreunde«, in dem u. a. die Verwendung anschaulich beschrieben wurde:
424 Arias (2003), S. 154. 425 Kurt Berger (1995), S. 57. 426 Vereinsnachrichten (1931), S. 15. Offenbar hatten sich nicht alle Mitglieder des KneippVereins zum Übertritt in den Naturheilverein 1919 entschließen können und eine eigene neue Organisation gegründet. Diese gab zeitweise auch ein Mitteilungsblatt unter dem Titel Der kleine Kneipp heraus. 427 Arias (2003), S. 155. 428 Farkas: Amtskirche (1997), S. 271; Löscher (2005), S. 230 ff. 429 Eine Aerzteordnung (1938), S. 21. In Deutschland wurde das neue österreichische Ärztegesetz seitens der Naturheilkundigen als Anschlag auf die Lebensgrundlage ihrer alpinen Kollegen gesehen. Dass nun jede Tätigkeit im Bereich der Heilkunde nur noch Ärzten offenstünde, ermögliche lediglich den »zahllosen Juden« gute Geschäfte, siehe M. B. (1938), S. 63. 430 Der Wunderdoktor (1938), S. 24. 431 Vorstand (1937), S. 1.
110 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik Dost (Origanum vulgare), Familie: Lippenblütler. Der Dost führt auch die Namen Frauendost, Dorant, Wohlgemut. Er wächst an Waldrändern, Rainen, Hecken, Waldblößen. Sein etwa 30 bis 40 cm hoher Stengel ist weißlich behaart und trägt kreuzständig angeordnete, kurzstielige, drüsig punktierte Blätter und zur Blütezeit purpurrote oder hellrote Dolden. Als Heiltee verwendet werden die blühenden Wipfel der Pflanze, die einen starken balsamischen Geruch entwickeln und deren Abkochung gewürzhaft bitter schmeckt. Der Aufguß wird getrunken bei Katarrhen, Krämpfen, Stockungen in der Leber und des Pfortadersystems sowie als krampfstillendes Mittel bei Unterleibsbeschwerden. Äußerlich wird die Abkochung verwendet zu Bädern und Blähungen bei Rheumatismus.432
Der Arzt Hermann Pirkl, Leiter des Kneipp-Erholungsheimes in Wien, hintertrieb die Ziele der Ärztekammern ganz offen und bewarb in seinen populärwissenschaftlichen Werken die Selbstbehandlung unter Ausschluss von Ärzten.433 Auch die österreichweit vertriebene Zeitschrift Gesund bleiben und gesund werden der Apotheken bot quasi ärztlichen Rat.434 Noch ehe das neue Ärztegesetz seine Wirkung entfalten konnte bzw. sich sein Scheitern offenbarte, verlor Österreich seine Unabhängigkeit. »Großdeutsche« Heilpraktik im Nationalsozialismus (1938–1945) Mit dem Einmarsch der Wehrmacht am 12. März 1938 endete die Existenz des österreichischen Staates. Sogleich mit dem »Anschluss« an das Deutsche Reich übernahmen nationalsozialistische Amtsträger die Macht. Sie begannen zügig mit »Säuberungen« im öffentlichen Leben und auch im Gesundheitswesen. Als Vollstrecker von Hitlers Wünschen agierte der zum »Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reich« bestellte saarländische Gauleiter Josef Bürckel (1895–1944). Die Säuberungen innerhalb der Ärzteschaft führten dazu, dass sich das Verhältnis Arzt:Patient von 1:1.351 zu 1:1.432 verschlechterte.435 Gleichwohl sollten die verbliebenen Ärzte zusätzlich noch Aufgaben als Sozialberater und Schulärzte übernehmen.436 Das Ostmarkgesetz vom 14. April 1939 beendete die Sonderstellung Wiens im nun ehemaligen Österreich.437 Das Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens trat ebenfalls in Kraft, wodurch nun u. a. auch die eugenischen Zwangsgesetze galten.438 Innerhalb kurzer Zeit wurden im ganzen Land 82 Gesundheitsämter aufgebaut.439 Die ideologische Nachschulung der 432 Göschl-Söllnitz (1937), S. 29. 433 Pirkl (1935); Pirkl (1938); Pirkl (1939). Zur Entwicklung der »Kneipp-Medizin« siehe Kramer (1981). 434 Unsere Heilkräuter (1937). 435 Grunberger (1971), S. 234. 436 StA/AdR Wien, Bundesministerium für soziale Verwaltung, Abt. Volksgesundheit Nr. 2332, Aktennotiz vom 18.1.1939. 437 Hanisch (1996), S. 331. 438 Ladinig (2001), S. 62; Spring (2009), S. 70 f. 439 Ladinig (2001), S. 77.
»Großdeutsche« Heilpraktik im Nationalsozialismus (1938–1945)
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Ärzte übernahmen der Wiener Hygieniker Heinrich Reichel (1876–1943)440 sowie lokale Funktionäre441. Sogleich nach seiner Verkündung wurde das Heilpraktikergesetz in der Wiener medizinischen Wochenschrift in größtmöglicher Kürze vorgestellt.442 Dass das Gesetz einen Bruch mit dem bestehenden »Rechtssystem« darstellte, wurde seitens der Wiener Medizinalbehörden extra hervorgehoben.443 Der für die Überführung des vormaligen Bundesministeriums für soziale Verwaltung in die Reichsstatthalterei zuständige Referent Martin Fizia tröstete die Ärzte mit dem Hinweis auf die nicht vorhandene Zukunft der Heilpraktiker: »Ihre Zahl wird sich durch den natürlichen Abfall allmählich verringern, bis diese Gruppe schließlich gänzlich erloschen sein wird, die ihrer Herleitung nach nicht mehr Zuzug erhalten kann.«444 Ärzte durften in den Organisationen der Heilpraktiker nur mit Sondererlaubnis der Reichsärztekammer tätig werden.445 Im Bestreben, die Kontrolle über den Gesundheitsmarkt zu erringen, umgarnte die Reichsärzteführung die bislang im österreichischen System weitgehend vernachlässigten Hebammen.446 Das Reichshebammengesetz legte ihre Kompetenzen fest.447 Hebammen waren keine Gewerbetreibenden mehr, sondern niederlassungsbeschränkte Akteurinnen des Gesundheitsmarktes.448 Politisch unzuverlässigen Damen wurde allerdings sogleich die Zulassung entzogen.449 Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) stellte Hebammen an, um die Mutter-Kind-Versorgung umfassend gestalten und kontrollieren zu können.450 Zügig erfolgte die Heranziehung von ideologisch gefestigtem Nachwuchs in speziellen Kursen in Wien und dem Gau Niederdonau.451 Konkurrenz durch Heilpraktiker mussten die Hebammen nicht fürchten. Diesen wurde eine Partizipation an der Geburt, auch als psychischer Beistand, ausdrücklich untersagt.452 Mit mobilen Behandlungszentren (»Gesundheitswagen«) sollten abgelegene ländliche Bereiche medizinisch versorgt werden.453 Das Heilpraktikergesetz ermöglichte den psychologischen Beratern eine neue Chance zur Eigenständigkeit und löste sie zugleich aus der direkten ärztlichen 440 StA/AdR Wien, Bundesministerium für soziale Verwaltung, Abt. Volksgesundheit Nr. 2331, Mitteilung der Magistratsabteilung 19 in Wien vom 3.12.1938. Siehe auch Mayer (2013), S. 151. 441 Strenger (1940). Siehe auch Spring (2006). 442 Notizen (1939), S. 306. 443 Fizia (1939), S. 46. 444 Fizia (1939), S. 46. 445 Tagesgeschichte (1939), S. 1140. 446 Ledebur (2006), S. 146. 447 Ploner (1942), S. 778. 448 Schwarzenberger (2008), S. 29. 449 Schwarzenberger (2008), S. 9. 450 Schwarzenberger (2008), S. 13. 451 StA/AdR Wien, Bundesministerium für soziale Verwaltung, Abt. Volksgesundheit Nr. 2405, Bericht der Landeshauptmannschaft Niederösterreich vom 15.5.1939. 452 Heilpraktiker sind keine Geburtshelfer (1940), S. 202. 453 Neue Wege (1940), S. 171.
112 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik Kontrolle.454 Manch Drogist glaubte, die Heilpraxis nebenher ausüben zu können, wobei Antragsteller von der Ratlosigkeit vieler Behörden profitierten, ehe sich die DH einschaltete, z. B. im Falle des Wieners »Wurzelsepp« (Ferdinand Fritsch).455 Die Heilpraktiker sollten als Teil der »Neuen Deutschen Heilkunde« die Nähe zwischen Volk und (Partei-)Führung verkörpern und zugleich als verlängerter Arm derjenigen Obrigkeit dienen, die bis vor kurzem die Laienheilkunde noch rigoros verfolgt hatte. Dass die Illegalität der Laienheilkunde in Österreich vor 1938 keinen Ablehnungsgrund der Antragsteller bedeutete, hatte das Reichsministerium des Innern in einem Rundschreiben an die Gauleitungen besonders herausgestellt.456 Seit November 1939 stand zudem fest, dass ein Gutachterausschuss gebildet werden musste und nur dieser über Ablehnungen in jedem Gau einzeln entscheiden konnte.457 Die zugelassenen Heilpraktiker erfuhren eine allmähliche Ausweitung ihrer Rechte: Seit Dezember 1941 konnten sie gleichberechtigt neben Ärzten vor Gericht als Gutachter agieren.458 Auch durften sie Angehörige der DAF behandeln.459 Im »Totalen Krieg« wurden sie im Luftschutzsanitätsdienst neben Ärzten eingesetzt.460 Doch der Weg zur Zulassung erfolgte keineswegs so einfach, wie dies die Gesetzeslage scheinbar empfahl. Lokale Behörden stellten sich quer und völlig überforderte oder unfähige Gaumedizinalverwaltungen sahen sich nicht in der Lage, das mit allen österreichischen Rechtstraditionen brechende Reichsgesetz zur Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung umzusetzen. In besonderer Weise klafften der Anspruch der DH und der Unwille der österreichisch sozialisierten Medizinalbürokratie in Wien auseinander. Bereits 1939 wurden mehr als 100 Anträge auf Zulassung gestellt.461 Die DH begann 1940 mit der Neuaufnahme der Mitglieder und führte im Herbst desselben Jahres u. a. in den Räumlichkeiten des Naturheilvereins in der Esterházygasse 30 (VI. Bezirk) Überprüfungen und Schulungen durch. Hiervon profitierten 74 Personen.462 Der Verein war 1938 von seinem Vorstand und »Parteigenos454 Geuter (1988), S. 243. 455 StA/AdR Wien, Bundesministerium für soziale Verwaltung, Abt. Volksgesundheit Nr. 2405, Eingabe von Ferdinand Fritsch vom 18.8.1939. 456 Bundesarchiv Berlin, R/1501/3016, Rundschreiben vom 22.5.1939. 457 Bundesarchiv Berlin, R/1501/3016, Anweisung des Reichsministeriums des Innern vom 8.11.1939. Siehe auch Heilpraktikergesetz (1940/41). Diese Festlegung war insofern verwaltungsrechtlich nicht unproblematisch, da die DH zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht im Vereinsregister eingetragen war. Dies erfolgte erst zum 7. September 1940, siehe Freder (2003), S. 75. Zu den Mitgliedern der Ausschüsse siehe Die Heilpraktiker-Mitglieder (1940). 458 Bundesarchiv Berlin, R/1501/3016, Vermerk des Reichsministeriums des Innern vom 19.12.1941. 459 Bundesarchiv Berlin, R/1501/3016, Vermerk vom 30.12.1941. 460 Bundesarchiv Berlin, R/1501/3016, Vermerk vom 22.4.1943. 461 Gutmann (1953), S. 94. 462 AdVdH Bonn, Akt Graz, Innsbruck, Klagenfurt, Wien, 1940–1945, Prüfungen in Österreich betreffend, Liste 1940. Zur Überführung der vormals österreichischen Vereine in die deutsche Verwaltungsordnung siehe Pawlowsky/Leisch-Prost/Kölsch (2004), S. 26, 196.
»Großdeutsche« Heilpraktik im Nationalsozialismus (1938–1945)
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sen« Hans Nowotny erfolgreich ins »Reich« überführt worden463, wobei er auf der hierzu notwendigen außerordentlichen Mitgliederversammlung auf die tatkräftige Unterstützung des aus Berlin entsandten Kollegen und Verbandsfunktionärs Paul Schirrmeister (1868–1945) vertrauen konnte464. Umgehend verlautbarte Nowotny, das Margarethenbad in einen »arischen Betrieb« umgewandelt zu haben465, und erklärte hinsichtlich der Vereinsstruktur: »Volljuden, sowie Arier die mit Juden verheiratet sind, können nicht Mitglieder des Vereins bleiben oder werden und haben als Gäste keinen Zutritt oder Anteil an den Veranstaltungen und Einrichtungen des Vereins.«466 Ein Jahr später übernahm Ludwig Lanc die Führung des Vereins und vertrat ihn beim »Reichstreffen der deutschen Volksgesundheitsbewegung« im Juni 1939 in Stuttgart.467 Im Februar 1941 war die interne Prüfung der Kandidaten durch die DH im Reichsgau Wien abgeschlossen und Nowotny meldete dem Gutachterausschuss die Beurteilungen. Demnach seien 25 Kandidaten als »sehr gut«, »gut« oder »noch gut« zu bezeichnen.468 Hierzu zählten beispielsweise Bezirksleiter Hans Nowotny selbst, die Anthroposophen Rudolf Thetter und Gisela Barthelmus, die Chiropraktikerin Elisabeth Leiner und der Sprachtherapeut Felix Dantine.469 Den geeigneten Kandidaten billigte die DH bereits den Titel »Heilpraktiker« zu. Als gänzlich ungeeignet, lernunwillig oder unfähig benannte die DH 29 Kandidaten. Karl Baumhauer wurde akzeptiert, aber nur für den Fall, dass er auf seine Tätigkeit als Pfarrer verzichten würde.470 Baumhauer hatte sich zunächst unter Umgehung der DH direkt an Bürckel gewandt und die Gründung eines »Instituts für Augendiagnostik« in Kooperation mit Ärzten avisiert.471 Die Wiener Gauleitung verwies allerdings auf eine ablehnende Entscheidung des österreichischen Sanitätsrates aus dem Jahre 1936 bezüglich Baumhauers Arbeit.472 Erst nach dieser Entscheidung entschloss sich Baumhauer, eventuell Heilpraktiker werden zu wollen. 463 Hans Nowotny (1938), S. 1. 464 Außerordentliche Generalversammlung (1938), S. 4; Schirrmeister (1938), S. 115. Siehe auch Hildebrand (1938). Zur Umwandlung der Vereine in Österreich in NS-konforme Organisationen siehe Pawlowsky/Leisch-Prost/Kölsch (2004), S. 27 ff. 465 Unsere Riklische Abteilung (1938), S. 5. 466 Vereinsnachrichten (1938), S. 6. 467 Lanz (1939), S. 1; Bericht über das 2. Reichstreffen (1939), S. 1. 468 AdVdH Bonn, Akt Graz, Innsbruck, Klagenfurt, Wien, 1940–1945, »Heilpraktiker des Bezirks Wien«, Liste vom 12.2.1941. 469 AdVdH Bonn, Akt Graz, Innsbruck, Klagenfurt, Wien, 1940–1945, »Heilpraktiker des Bezirks Wien«, Liste vom 12.2.1941. 470 AdVdH Bonn, Akt Graz, Innsbruck, Klagenfurt, Wien, 1940–1945, »Heilpraktiker des Bezirks Wien«, Liste vom 12.2.1941, S. 4. Siehe auch StA/AdR Wien, Bundesministerium für soziale Verwaltung, Abt. Volksgesundheit Nr. 2405, Aktennotiz über Baumhauer vom 24.2.1939. 471 StA/AdR Wien, Bundesministerium für soziale Verwaltung, Abt. Volksgesundheit Nr. 2330, Eingabe Baumhauers vom 23.8.1938. 472 StA/AdR Wien, Bundesministerium für soziale Verwaltung, Abt. Volksgesundheit Nr. 2330, Abschrift des Gutachtens des Obersten Sanitätsrates vom 10.2.1936. Auch die
114 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik In der Rückschau urteilte ein ärztliches Mitglied des Gutachterausschusses weit weniger euphorisch über die Laienheilkundigen wie die Funktionäre der Heilpraktikerschaft. Sämtliche Antragsteller hätten »krasse Unkenntnisse hinsichtlich der Entstehung und des Verlaufs der Krankheiten« offenbart und beispielsweise zur Entstehung von Karzinomen geäußert, diese begännen »als kleines Wimmerl«.473 Der verdiente NS-Funktionär Hans Nowotny fiel im Februar 1942 durch die Prüfung, blieb aber Bezirksleiter und führte die Fortbildungsveranstaltungen durch, bei denen Antragsteller auf jene Prüfung vorbereitet wurden, an der Nowotny selbst gescheitert war.474 Resigniert stellten angehende Heilpraktiker fest, dass die Medizinalbürokraten ihnen bei der Prüfung Steine in den Weg legten. So bemerkte Karl Hilka, der die Prüfungen bestand, im Nachhinein, »dass er jedem abraten möchte, bei dieser Prüfung anzutreten, nach dem es ja doch zwecklos sei!«.475 Nowotny selbst schrieb an Reichsheilpraktikerführer Kees: »Ich glaube nicht irre zu gehen, wenn ich behaupte dass in keiner Mark des Grossdeutschen Reiches die Heilpraktiker so übel behandelt wurden und werden wie in der Ostmark.«476 Tatsächlich verzögerte die Wiener Medizinalverwaltung konsequent die Zulassung von Heilpraktikern. Auch ließ man Nowotny vorab Listen mit Personen zukommen, die man auf keinen Fall akzeptieren werde – ungeachtet ihres möglichen Abschneidens bei den Prüfungen.477 Das Wiener Ärzteverzeichnis wies 1944 nur zwei Heilpraktiker aus: eine Praxis für biologische Heilweise und Psychotherapie am Petersplatz 4 und »Ingenieur Rudolf Thetter« in der Meistersingerstraße 3 (beide im I. Bezirk).478 Die DH hingegen ging von mindestens vier praxisberechtigten Mitgliedern in Wien aus: Wilhelm Dollanski, Karl Hilka, Hilmar Zöhrer und Rudolf Thetter.479 In der im Sommer 1944 im »Reichsgaumuseum« eröffneten Ausstellung »Volkstümliche Heilkunde« fanden die Heilpraktiker keine Erwähnung.480
473 474 475 476 477 478 479
480
NS-Gesundheitsbürokratie stand der Irisdiagnostik der Heilpraktiker ablehnend gegenüber, siehe Wollenweber (1942), S. 4. Gutmann (1953), S. 94 f. AdVdH Bonn, Akt Graz, Innsbruck, Klagenfurt, Wien, 1940–1945, Beschluss der Reichsstatthalterei zu Nowotny vom 12.2.1942; Amtsträger-Mitteilung der DH vom 7.12.1942. AdVdH Bonn, Akt Graz, Innsbruck, Klagenfurt, Wien, 1940–1945, Bericht Nowotnys vom 28.5.1942. AdVdH Bonn, Akt Graz, Innsbruck, Klagenfurt, Wien, 1940–1945, Brief Nowotnys an Kees vom 21.5.1942. AdVdH Bonn, Akt Graz, Innsbruck, Klagenfurt, Wien, 1940–1945, Brief der Verwaltung des Reichsgaus Wien an die Heilpraktikerschaft vom 2.10.1940. Die Liste umfasste 28 Namen. Aerzteverzeichnis (1944), S. 486. AdVdH Bonn, Akt Graz, Innsbruck, Klagenfurt, Wien, 1940–1945, Bericht von Nowotny an die DH vom 6.10.1944. Im gleichen Jahr wurde der Wiener Naturheilverein dem »Deutschen Volksgesundheitsbund« zwangsangeschlossen, siehe Kurt Berger (1995), S. 74. AdVdH Bonn, Akt Graz, Innsbruck, Klagenfurt, Wien, 1940–1945, Bericht Nowotnys vom 5.8.1944.
»Großdeutsche« Heilpraktik im Nationalsozialismus (1938–1945)
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Zur ideologischen Verankerung der »Neuen Deutschen Heilkunde« sollte auch die Medizingeschichte dienen. In der »Ostmark« erfüllte der in Wien als Lehrstuhlinhaber 1939 installierte Arzt Fritz Lejeune (1892–1966) diese Hoffnungen nicht.481 Die Chancen zum Paracelsusjahr 1941 ließ er verstreichen482, und in seinem 1943 erschienenen Lehrbuch spielte die Laienheilkunde nur als Produkt des Untergangs im Römischen Weltreich eine Rolle483. Die 1939 beabsichtigte Verlagerung der Paracelsus-Bibliothek nach Wien verfolgte Lejeune ebenfalls nicht weiter, so dass sich die Bücher heute in München befinden.484 Die ablehnende Haltung der Wiener Medizinalbürokratie war nicht durch ein eventuell bestehendes ärztliches Angebot an physikalisch-diätetischen Medizinern gerechtfertigt. Nach der rassistisch motivierten Verkleinerung des Ärztestandes und der Einberufung zum Kriegsdienst standen interessierten Patienten in Wien ab 1942 nur noch elf Fachärzte für physikalische Heilmethoden und drei homöopathische Ärzte zur Verfügung.485 Etwas anders gestaltete sich die Situation der Heilpraktiker im Reichsgau Oberdonau mit seiner »Antisemitenhauptstadt« Linz.486 Hinsichtlich der Verbreitung von Alkohol- und Drogenkonsum konnte Linz aber mühelos mit Wien konkurrieren.487 Unter Gauleiter und Reichsstatthalter August Eigruber wurde eine straffe Gesundheitsverwaltung eingeführt, die Geburten, Todesfälle, eventuelle Abtreibungen und erbbiologisch relevante Auffälligkeiten bis ins letzte Dorf dokumentieren ließ.488 Parallel sollte die Gauheimatpflege das Ideal von Agrarromantik und Tradition überkommener Volkskulturen beschwören.489 Allerdings geriet die erste Feuertaufe der neuen Gesundheitsverwaltung zur Katastrophe: Aufgrund fehlender Kontrollen und der mangelnden Kommunikation zwischen lokalen Ärzten und Gaumedizinalverwaltung entwickelte sich wenige Kilometer von Linz entfernt aus einem einzigen Typhusvorfall in der Gemeinde St. Martin im Juni 1939 innerhalb weniger Wochen eine Epidemie, die die Kapazitäten des Linzer Krankenhauses überforderte.490 Erst im Dezember 1939 kam die Welle an Erkrankungen endgültig zum Erliegen. Diese Mischung aus rasender Kontrollwut und beschworener Volksnähe, begleitet von massiven »Säuberungen« in Verwaltung und Ärztestand, konnte die Legalisierung heilpraktischer Tätigkeiten nicht begünstigen. Die DH bestimmte bereits Anfang April 1939 die Münchner Heilprakti481 482 483 484 485 486 487 488 489 490
Schmierer (2002), S. 148. Schmierer (2002), S. 167. Lejeune (1943), S. 74. Tagesgeschichte (1939), S. 700; Kästner (1995), S. 119. Aerzteverzeichnis (1944), S. 474, 478. Michael John (2015), S. 73. Thumser-Wöhs (2015), S. 262, 274 f., 277. Goldberger (2004), S. 78. Siehe auch Rademacher (2000), S. 357 f. Goldberger/Sulzbacher (2008), S. 97 f. LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei MF 346 G13, Akt 784 aus 1939, Eilmeldung des Landrates Linz-Land an den Gemeinderat in Traun vom 19.7.1939; Brief der Gauleitung an die Kreisleitung Linz vom 13.12.1939.
116 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik ker Rudolf Preß und Karl Moser zu Gutachtern, doch musste das Amt für Volksgesundheit wenig später einräumen, dass »[d]em Vernehmen nach […] noch nicht alle Amtsärzte, bezw. Gesundheitsabteilungen bei den Landräten« Kenntnis von der Existenz des Heilpraktikergesetzes besäßen.491 Am 7. Juli 1939 ließ die Gauleitung den unteren Verwaltungsbehörden jene Schriftwechsel mit dem Reichsministerium des Innern zukommen, die die Umsetzung des Heilpraktikergesetzes implizierten, »um die Durchführung des Heilpraktikergesetzes im Sinne der berechtigten Wünsche der ostmärkischen Ärzte zu erwirken«.492 Weiterhin jedoch trafen Anfragen von Landratsämtern ein, ob man Heilpraktiker einfach zulassen könne – die Anweisungen des Amtes für Volksgesundheit wurden offenbar nicht rezipiert.493 Die Gauleitung selbst strebte offenbar einen anderen Weg als die Zulassung oder Ablehnung an. Im Oktober 1939 empfahl die Gauverwaltung, den beiden Antragstellern Josef Heumer und Bruno Fürlinger anstelle der Zulassung einen erleichterten Zugang zum Medizinstudium zu gewähren.494 Weiterhin agierten Gauverwaltung und DH nebeneinander her. So erfuhr das Amt für Volksgesundheit in Linz eher zufällig von der Tatsache, dass die Heilpraktikerschaft im Gau Oberdonau Ausbildungskurse für Antragsteller abhielt.495 Hierbei scheint eine Reihe von Antragstellern ihre negativen Erfahrungen mit lokalen Behörden ausgebreitet zu haben, denn im Oktober 1940 beschwerte sich Eigrubers Verwaltung in Berlin, warum eigentlich die Gauverwaltung in Linz jetzt noch einmal alle Entscheidungen der unteren Verwaltungsbehörden überprüfen müsse.496 Zugleich sah sich die Verwaltung mit der Forderung der DH konfrontiert, bei allen Strafverfahren gegen Laienheilkundige eingeschaltet zu werden.497 Tatsächlich kam es Anfang November 1940 zu einem faktischen Neustart der wechselseitigen Beziehungen von DH und der Verwaltung im Gau Oberdonau. Es wurde ein neuer Gutachterausschuss gebildet und sämtliche bislang abgelehnten, gebilligten oder aufgeschobenen Anträge noch einmal abgearbeitet. Als Gutachter bestimmte Kees seine Kollegen Josef Wilhelm Foullié (Bad Reichenhall), Franz Stein (Heneberg), Kurt Bergel (Berlin)
491 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei MF 346 G13, Akt 960 aus 1939, Heilpraktikerbund Deutschland an Landeshauptmannschaft vom 5.4.1939; Landeshauptmannschaft Linz an die Landräte vom 28.4.1939. 492 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei MF 346 G13, Akt 960 aus 1939, Anweisung der Gauleitung Oberdonau vom 7.7.1939. 493 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei MF 346 G13, Akt 960 aus 1939, Anfrage des Landrates von Krumau an der Mur an Gauleitung vom 12.10.1939. 494 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei MF 346 G13, Akt 960 aus 1939, Anweisung der Landeshauptmannschaft an das Personalamt vom 19.10.1939. 495 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1940, Akt 265, MF 404, Bericht des Landrates im Kreis Wels an die Reichsstatthalterei vom 7.6.1940. 496 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1940, Akt 265, MF 404, Beschwerde der Gauleitung vom 22.10.1940. 497 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1940, Akt 1417, MF 404, Brief der DH an Landeshauptmannschaft vom 20.6.1940.
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und Anton Keller (München).498 In den folgenden Monaten meldeten nun die Landräte die Zahl, Tätigkeit und Wünsche der Antragsteller in ihrer Region an die Gauverwaltung, die diese Zahlen wiederum an die DH weiterleitete. Auf Rückfrage erklärte die Gauverwaltung im Juli 1941, dass sämtliche Ablehnungen in der Vergangenheit unwirksam seien, da der Gutachterausschuss nicht in die Entscheidungen einbezogen worden war.499 Gleichwohl behielt sich Eigruber in seiner Eigenschaft als Reichsstatthalter das Recht vor, in schwebende Verfahren einzugreifen. So verbot er dem in Bad Ischl tätigen Heilpraktiker Josef Eberl mit sofortiger Wirkung im Juni 1941 die Tätigkeit: Auf Grund Ihres Gebarens bei der Heilpraktikertätigkeit, das erwiesenermaßen Gesundheit und Leben von Volksgenossen gefährdet, verbiete ich Ihnen zur Wahrung des öffentl. Wohles mit sofortiger Wirksamkeit bis zur endgültigen Entscheidung über ihre [sic!] eingebrachte Beschwerde nach Anhörung des noch zu berufenden Gutachterausschusses die Ausübung des Heilpraktikerberufes.500
In den Sitzungen des Gutachterausschusses offenbarte sich eine überraschende Übereinstimmung zwischen den Kriterien der DH und den Vorstellungen der Gauärzte. Oberösterreich war über Jahrzehnte frei von bedeutenden naturheilkundlichen Vereinen und Organisationen geblieben, die Akteure des alternativen Gesundheitsmarktes infolgedessen von Fortbildungsmöglichkeiten und Professionalisierungschancen abgeschnitten gewesen. Sie waren meistens Vertreter einer überkommenen Volksheilkunde, arbeiteten mit Harnschau, konservativen orthopädischen Maßnahmen und ein wenig Kneippscher Naturheilkunde. Den Fragen der Gutachter hinsichtlich des Kenntnisstandes in Anatomie und Physiologie standen sie vermutlich weitgehend ratlos gegenüber. So wurde bereits im Juni 1941 23 von 28 Antragstellern die Tätigkeit untersagt.501 Doch die mit obrigkeitsstaatlichen Kontrollen seit Jahrzehnten vertrauten Laienheilkundigen fühlten sich daran offenbar nicht gebunden. So führte Mathias Rinnerthaler aus Pischlsdorf weiterhin »Aderlässe und Schröpfungen« durch, obwohl ihm dies untersagt worden war.502 Die Verfolgungsmaßnahmen des nationalsozialistischen Staates unterschieden sich allerdings erheblich von der Passivität des Ständestaates oder der Republik Österreich. So waren DH und Gaumedizinalverwaltung in den nächsten Monaten vorrangig mit der Abmahnung und Verfolgung abgelehnter Bewerber beschäftigt. Es scheint, als habe 1942 nur eine einzige Sitzung des Ausschusses stattgefunden. Unbehindert von der Medizinalbürokratie 498 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1940, Akt 265, MF 404, Brief von Kees an Eigruber vom 1.11.1940. 499 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1941, Akt 74, MF 434, Rundschreiben vom 23.7.1941. 500 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1941, Akt 74, MF 434, Anordnung Eigrubers vom Juni 1941. 501 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1941, Akt 74, MF 434, Aktennotiz vom 3.6.1941 über Gutachterausschussbeschlüsse. 502 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1941, Akt 74, MF 434, Mitteilung des Landrates des Kreises Braunau vom 3.6.1941.
118 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik und wütender ärztlicher Konkurrenz arbeitete das Zeileis-Institut in Gallspach weiter.503 Es wurde seitens der NS-Behörden nicht als alternativmedizinische Anstalt begriffen. Am 5. Februar 1943 trat ein Runderlass des Reichsministeriums des Innern zur Vereinfachung der Verwaltung in Kraft, der u. a. die Einstellung der Heilpraktikerzulassungen implizierte. Dies berührte die Akteure im Gau Oberdonau jedoch nicht, die weiterhin tätig blieben und etwa dem Naturheilkundigen Franz Geyer aus Steinebach in der Sitzung des Gutachterausschusses am 25. Juni 1943 einstimmig die Zulassung gewährten.504 Seine Praxis konnte er dennoch nie ausüben, da er wenig später zum Kriegsdienst eingezogen wurde und erst aus der Gefangenschaft zurückkehrte, als das Verbot der Laienheilkunde in der Zweiten Republik wieder in Kraft getreten war. 1943 waren noch immer 16 Verfahren anhängig, die nach und nach abgearbeitet werden mussten. Bisweilen kam Antragstellern der Zufall zu Hilfe. So forderte die bereits 1942 mit ihrem Zulassungsantrag gescheiterte »Beineinrichterin« Anna Humer aus Grieskirchen ihren in den Antragsunterlagen enthaltenen »Ariernachweis« Anfang 1943 zurück.505 In einem ersten Anhörungsverfahren 1940 war ihr noch »völlige Unfähigkeit« in der Diagnose attestiert worden.506 Das an den Fall erinnerte und mit einer zunehmenden Versorgungskrise im Gesundheitsbereich ringende Amt für Volksgesundheit in Linz entschied daraufhin im Juli 1943 spontan und ohne Einbeziehung der Gutachterausschüsse, Anna Humer doch die Heilpraktikererlaubnis zu gewähren, »jedoch beschränkt auf die Beineinrichterei«.507 Bei dieser Gelegenheit erhielt auch der seit 1939 auf seine Zulassung wartende und in mehrfacher Revision befindliche Heilkundige Johann Wiescholzer aus Ebensee seine im Heilpraktikergesetz nicht vorgesehene Zulassung als »Beineinrichter«.508 Die von den verschiedenen Reichsarbeitsgemeinschaften für eine »Neue Deutsche Heilkunde« avisierte Synthese aus alten und neuen Heilkulturen erfuhr so eine besonders bizarre Neuinterpretation. Eigentlich hatte die Gauverwaltung Oberdonau im Frühjahr 1942 die Behandlung von Knochenbrüchen durch Heilpraktiker ausdrücklich untersagt und mit Sanktionen belegt – ein Jahr später war diese Anordnung bereits wieder makuliert worden.509 503 Holter (1956), S. 118. 504 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1943, Akt 138, MF 478, Entscheidung des Gutachterausschusses vom 25.6.1943. 505 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1943, Akt 138, MF 478, Brief des Gesundheitsamtes Grieskirchen an die Reichsstatthalterei vom 14.1.1943. 506 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1943, Akt 138, MF 478, Aktenvermerk vom 8.6.1940. 507 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1943, Akt 138, MF 478, Bescheid der Reichsstatthalterei an Anna Humer vom 19.7.1943. 508 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1943, Akt 138, MF 478, Bescheid der Reichsstatthalterei an Johann Wiescholzer vom 19.7.1943. 509 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1941, Akt 1895, MF 435, Anordnung des Reichsstatthalters und Mitteilung an das Reichsministerium des Innern vom 13.4.1942.
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Bisweilen scheint es innerhalb des Linzer Amtes für Volksgesundheit zu Meinungsverschiedenheiten über die partielle Zulassung von »Beineinrichtern« gekommen zu sein, denn am 25. September 1943 wandte sich Eigruber in seiner Eigenschaft als Reichsstatthalter an seine Mitarbeiter in der Gauverwaltung und erklärte in einem Rundschreiben: »Den durch die Dauer des Krieges immer größer werdenden Ärztemangel durch Zulassung nicht geeigneter Personen als Heilpraktiker wettmachen zu wollen, halte ich nicht für angängig, da durch solche nicht geeignete Kräfte nur mehr Schaden als Nutzen angerichtet werden könnte.«510 Tatsächlich entglitt der Verwaltung zunehmend die Kontrolle über die Heilpraktiker. Eher zufällig erfuhren die Linzer Bürokraten, dass die 1942 abgelehnte Bewerberin Anna Müller-Weiss weiterhin »Radiumschaumpackungen« und Fußmassage in ihrer Welser Praxis verordnete.511 Im Dezember 1943 war dem Heilpraktiker Alois Zeilermayr aus Steyr die Zulassung wieder entzogen worden, weil er einem Patienten eine notwendige Röntgenuntersuchung versagt hatte. Doch konfrontiert mit Ärztemangel und der Tatsache, dass Zeilermayr weiter tätig war, erhielt er Ende April 1944 seine Zulassung zurück.512 Schließlich sah sich die Verwaltung auch noch mit bombengeschädigten Heilpraktikern konfrontiert, die aus anderen Teilen des Reichs nach Oberdonau zuwanderten. So gedachte der Münchner Heilpraktiker Georg Lindner im März 1944 auf Schloss Mammling eine Privatheilanstalt einzurichten.513 Die Verwaltung in Linz lehnte ab, musste aber erkennen, dass er seine Anstalt bereits eröffnet hatte und Patienten behandelte.514 Auch die DH verwendete sich für ihr Mitglied, und als Eigrubers Verwaltung bei ihrem ablehnenden Bescheid blieb, wandte sich Lindner direkt an Adolf Hitler.515 Es stellte sich nun heraus, dass Lindner bereits 1933 die Aufmerksamkeit des »Führers und Reichskanzlers« erregt hatte. Versuche von Eigrubers Verwaltung, die Räume der Privatheilanstalt in letztem Moment der NSV zuzuschlagen, blieben erfolglos, so dass Ende September 1944 Lindner die offizielle Erlaubnis erhielt, sein längst bestehendes Sanatorium eröffnen zu dürfen.516 Inzwischen verlängerte der Gutachterausschuss seine eigene Amtsperiode op-
510 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1944, Akt 151, MF 502, Anweisung des Reichsstatthalters vom 25.9.1943. 511 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1944, Akt 151, MF 502, Bericht des Reichsstatthalters an den Landrat des Kreises Wels vom 30.10.1944. 512 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1944, Akt 151, MF 502, Vorgang Alois Zeilermayr, Beschluss vom 3.12.1943, Rekurs vom 24.4.1944, endgültige Zulassung 16.6.1944. 513 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1944, Akt 151, MF 502, Antrag Lindners an Reichsstatthalter vom 19.2.1944. 514 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1944, Akt 151, MF 502, Mitteilung des Landrates Braunau an den Reichsstatthalter vom 17.3.1944. 515 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1944, Akt 151, MF 502, Kopie des Schreibens Lindners an Hitler vom März 1944. 516 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1944, Akt 151, MF 502, Schreiben der Gauverwaltung an Lindner vom 27.9.1944.
120 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik timistisch bis zum 30. September 1945.517 Dieser Ausschuss bestand in seiner endgültigen Zusammensetzung aus den Regierungsdirektoren Dr. Ignaz Stöger und Dr. Johann Baumgartner, dem Oberregierungsmedizinalrat Dr. Ferdinand Reinhardt, dem Heilpraktiker und SS-Sturmbannführer Hans Wrede, dem Linzer Primarius Prof. Dr. Raimund Wimmer und den Heilpraktikern Josef Pouillé, Anton Keller und Franz Stein. Die letzte Sitzung dürfte im Januar 1945 stattgefunden haben.518 Ähnlich abweisend wie in Wien agierte der Tiroler Gauleiter Franz Hofer (1902–1975). Er empfahl in einer Anweisung vom 22. Juni 1939, sämtliche Anträge abzulehnen, da die angeblichen Heilpraktiker keine Nachweise ihrer Tätigkeit erbringen konnten – diese war ja illegal gewesen.519 Als dies nicht fruchtete, setzte das lokale Amt für Volksgesundheit zunächst auf die Ablehnung aller Anträge, worauf die DH in jedem Einzelfall in Rekurs ging. Hilfesuchend wandte sich Hofers Verwaltung an die »Kameraden« im Gau Oberdonau mit der Frage, ob man nicht Amtshilfe leisten könne. Da Eigrubers Verwaltungsbehörden in ihrem eigenen Gau ihre Ablehnungspolitik nicht voll ausleben konnten, fanden sie sich bereit, den »Berufskameraden« im Reichsgau Tirol beizustehen. Das Amt für Volksgesundheit in Linz empfahl, zunächst einmal die Einrichtung der Gutachterausschüsse zu verzögern.520 Tatsächlich sah sich die Gaugesundheitsverwaltung in Innsbruck mit einem Sonderfall konfrontiert. Dort lebte und arbeitete die Heilkundige Maria Schlenz (1881–1946). Sie hatte seit 1920 ein Überwärmungsbad entwickelt, das sie zur Behandlung chronisch kranker Menschen einsetzte, die bereits vielfach vergeblich den Rat von Ärzten gesucht hatten.521 1931 hatte sie ihre Erfahrungen erstmals in einer voluntaristischen Schrift zusammengefasst.522 Gleichwohl fand sie Zustimmung, u. a. in der Redaktion der wirkmächtigen Zeitschrift Hippokrates.523 Während ihre Tätigkeit in Österreich als illegal galt, wurde sie auf Ärztetagungen im Deutschen Reich eingeladen, wo sie Anregungen zu einer differenzierten Behandlung empfing.524 Ihre Methode bestand darin, Krankheiten durch heiße Bäder im Sinne Kneipps »auszuleiten« 517 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1944, Akt 808, MF 502, Beschluss des Gutachterausschusses vom 24.4.1944. 518 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1945, Akt 15, MF 523, Anordnung des Kreises Gmunden vom 12.1.1945 über die Nichtzulassung von Dr. jur. Alexander von Werhya als Heilpraktiker. 519 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei MF 346 G13, Akt 960 aus 1939, Brief des Landeshauptmanns von Tirol an Landräte vom 22.6.1939. Anzumerken wäre noch, dass die »Kurschmiede« im ländlichen Bereich wahrscheinlich ungehindert tätig blieben, obwohl sie 1938 in der wirkmächtigen Zeitschrift Volksgesundheitswacht pauschal als »Pfuscher« bezeichnet worden waren, siehe Kuhlmann (1938), S. 36. 520 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1940, Akt 265, MF 404, Brief der Landeshauptmannschaft Tirol an Dr. Otto Tenschert in Linz vom 30.1.1940; Antwort Tenscherts vom 3.2.1940. 521 Kerckhoff (2013), S. 84. 522 Schlenz (1931). 523 Heyll (2006), S. 240. Siehe auch Walinski (1931); Rüdiger (1938). 524 Schlenz (1938), S. 3.
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und die Patienten zusätzlich mit einer speziellen Nuss-Honig-Diät und der Anwendung von Heilsalben (Ringelblume, Schafgarbe, Kamille) zu unterstützen.525 Nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich begann Schlenz, ihre Heilmaßnahmen an der Innsbrucker Universitätsklinik vorzustellen.526 Eventuell wirkte sie auch an der zweiten »Reichstagung der Deutschen Lebensreform-Bewegung« mit, die 1938 in Innsbruck stattfand.527 Im März 1939 wurde die »Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung von Mißständen im Gesundheitswesen« bei der Tiroler Gauleitung vorstellig und verlangte Auskunft darüber, auf welcher juristischen Basis Schlenz arbeite.528 Ideologischer Kopf dieser »Gesellschaft« war der in zahlreichen Parteigremien wirkende und einflussreiche NS-Funktionär Bernhard Hörmann (1889–1977). Daraufhin forderte das Innsbrucker Gesundheitsamt, das sich offenbar bis zu diesem Zeitpunkt mit der Thematik nie beschäftigt hatte, von Schlenz eine Stellungnahme an. Sie erklärte, ihre Behandlungsweise stehe in keinem Bezug zur heilpraktisch relevanten Kaltwasserkur oder Diätetik: »Die Grundlage meiner Methode ist künstlich erzeugtes Fieber mit natürlichen Mitteln, heißen Bädern und Wickeln.«529 Auch das Reichsministerium des Innern, aufmerksam geworden durch positive Zeitungsartikel und Aufsätze in ärztlichen Fachzeitschriften, forderte von der Gaumedizinalverwaltung Auskunft.530 Der sichtlich stolze Oberbürgermeister von Innsbruck, Egon Denz (1899–1979), teilte der Verwaltung des Reichsstatthalters mit, dass Schlenz in ihrer kleinen Villa erfolgreich Behandlungen durchführe, einige Monate im Jahr »im Bade eines Heilpraktikers« in Plattenrain wirke und mit Ärzten zusammenarbeite.531 Der heilpraktische Kollege von Schlenz war Karl Bernhard, der bei einer Überprüfung seiner Tätigkeit im August 1941 jedoch vage hinsichtlich einer solchen Kooperation blieb.532 Konfrontiert mit der Notwendigkeit eines ständigen Berichtens an Dienststellen über die eigene Tätigkeit, verzichtete er im November des gleichen Jahres auf seine Zulassung als Heilpraktiker.533 Wahrscheinlich zog er es vor, in die Illegalität zurückzukehren und seine Arbeit fortzusetzen. Auch Maria Schlenz verzichtete auf eine Zulassung als Heilpraktikerin, blieb aber tätig. 525 526 527 528 529 530 531 532 533
Schlenz (1938), S. 16, 40 f., 111 f. Kerckhoff (2013), S. 85. Fritzen (2006), S. 95. TLA Innsbruck, RStH IIIa1, 1940, D/IV-1940, Karton 7, Schreiben der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung von Mißständen im Gesundheitswesen an die Reichsärztekammer Bayern und die Gauleitung in Innsbruck vom 9.3.1939. TLA Innsbruck, RStH IIIa1, 1940, D/IV-1940, Karton 7, Erklärung von Maria Schlenz vom 13.12.1940. TLA Innsbruck, RStH IIIa1, 1940, D/IV-1940, Karton 7, Reichsministerium des Innern an Gauverwaltung vom 16.11.1940. TLA Innsbruck, RStH IIIa1, 1940, D/IV-1940, Karton 7, Schreiben des Oberbürgermeisters vom 7.12.1940. TLA Innsbruck, RStH IIIa1, 1941, D/I/9-D/IV/2, Karton 18, Bericht des Landrates des Kreises Imst an Reichsstatthalter. TLA Innsbruck, RStH IIIa1, 1941, D/I/9-D/IV/2, Karton 18, Mitteilung des Landrates an den Gutachterausschuss vom 3.11.1941.
122 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik Die unter Leitung des Landessanitätsinspektors Hans Czermak (1892–1975) stehende Gesundheitsverwaltung war mit der Durchführung des Reichsgesetzes zur Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung völlig überfordert. Hinsichtlich der Zulässigkeit von Hausapotheken bei Heilpraktikern musste Czermak sich den Sachverhalt von der DH erklären lassen.534 Auf die Mitteilungen unterer Behörden zur Charakterisierung von Antragstellern konnte er sich ebenfalls nicht verlassen.535 So beurteilte der Bürgermeister von Thaur den »Schmittler« Josef Brunner im April 1939 als herausragenden »Bauerndoctor«.536 Er selbst rühmte sich vieler Patienten und der langjährigen Arbeit als »Volksarzt«.537 Eine Nachüberprüfung dieser Kompetenzen im Gesundheitsamt Innsbruck erfolgte erst Anfang 1941 – so lange blieb Brunner vorläufig tätig – und endete für den Antragsteller im Desaster.538 Der beigezogene Amtsarzt diagnostizierte fortgeschrittenen Alkoholismus539, während der Thaurer Bürgermeister ausdrücklich über Brunner ausführte: »Er ist politisch und sittlich zuverlässig. Der Bewerber ist nicht dem Trunke ergeben.«540 Brunner zog vor Gericht, um seine Zulassung doch noch zu erzwingen. Der zuständige Staatsanwalt verwies auf die von Brunner und dem Bürgermeister gegenüber Czermak bislang verschwiegene Liste von sechs Vorstrafen aus den Jahren 1901 bis 1929.541 Nicht einmal sein Engagement für die NSDAP seit 1932 konnte die endgültige Ablehnung des Bescheids noch abwenden.542 Obwohl die Zulassung zum Heilpraktiker in jedem Gau separat erfolgte, ließ sich im Sommer 1941 der Münchner Heilpraktiker Konrad Hastreiter in Weer in Tirol nieder. Der überforderte Czermak erklärte hierzu: »Nach Ansicht des Herrn RMdI bestehen gegen eine Niederlassung von im
534 TLA Innsbruck, RStH IIIa1, 1940, D/IV-1940, Karton 7, Schreiben Czermaks an die Gauleitung vom 16.11.1940. 535 Somit ist der Einschätzung in der historischen Forschung, wonach das Ziel der NS-Behörden immer gewesen sei, der nächsthöheren Instanz zuzuarbeiten, in diesem Fall nicht zuzustimmen (s. Gotto (2007), S. 80). Passender wäre es, zu formulieren, dass die unteren Verwaltungsbehörden gierig darauf waren, Verantwortung an die höheren Stellen zu delegieren. 536 TLA Innsbruck, RStH IIIa1, 1941, D/I/9-D/IV/2, Karton 18, Schreiben des Bürgermeisters von Thaur an Gauverwaltung vom 3.4.1939. 537 TLA Innsbruck, RStH IIIa1, 1941, D/I/9-D/IV/2, Karton 18, Brief Brunners an Landrat Dr. Hans Hirnigel vom 30.3.1939. 538 TLA Innsbruck, RStH IIIa1, 1941, D/I/9-D/IV/2, Karton 18, Brief der Verwaltung des Reichsstatthalters an den Landrat vom 13.2.1941. 539 TLA Innsbruck, RStH IIIa1, 1941, D/I/9-D/IV/2, Karton 18, Amtsärztliches Gutachten vom 29.4.1941. 540 TLA Innsbruck, RStH IIIa1, 1941, D/I/9-D/IV/2, Karton 18, Stellungnahme des Bürgermeisters vom 1.3.1941. 541 TLA Innsbruck, RStH IIIa1, 1941, D/I/9-D/IV/2, Karton 18, Auskunft aus dem Strafregister vom 7.4.1941. 542 TLA Innsbruck, RStH IIIa1, 1941, D/I/9-D/IV/2, Karton 18, Ablehnungsbescheid vom 6.5.1941; Revisionsantrag Brunners vom 21.5.1941; Verwerfungsmitteilung.
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Altreich zugelassenen Heilpraktiker [sic!] in der Ostmark keine gesetzlichen Hindernisgründe.«543 Der Kreis Schwaaz verlieh Hastreiter nachträglich im November 1941 die Zulassung für Tirol, ohne dass der zuständige Gutachterausschuss gehört worden wäre. Im gleichen Monat zog Czermak Erkundigungen ein, wo im Gau Tirol-Vorarlberg Anträge auf Zulassungen gestellt worden waren.544 Es stellte sich heraus, dass in den Landkreisen Imst und Reutte keine Anträge gestellt worden waren, in Bregenz, Bludenz, Kitzbühel und Innsbruck keine Bewilligungen erteilt worden seien, in Feldkirch nur Hermann Kroiss, in Kufstein Therese Egger, Otfried Neuner und Sebastian Oberhauser sowie in Schwaaz neben Hastreiter noch Robert Deubler eine Erlaubnis erhielten. Zusätzlich eruierte Czermak noch, dass in Innsbruck der »Schneuztüchldoktor« Heinrich Bianchi und seine Kollegen Friedrich Mühlbacher und Franz Josef Ennemoser Anträge auf Zulassung gestellt hatten.545 Die Zulassungen waren jedoch alle ohne Einbeziehung Czermaks und der DH erfolgt. Daher musste der Anfang 1942 endlich konstituierte Gutachterausschuss alles noch einmal überprüfen. Ablehnend zeigte sich Czermak gegenüber all jenen Heilkundigen, die ihre Tätigkeit im Umherziehen ausübten. Dies hing wahrscheinlich damit zusammen, dass die Innsbrucker Rassenbiologen unter Führung des Psychiaters Friedrich Stumpfl (1902–1997) Ausrottungskampagnen gegen die seit alters her in Tirol bekannten »Jenischen« und »Karrner« führten.546 Ihnen wurde eine Affinität zur »Kurpfuscherei« unterstellt.547 Stumpfl selbst hielt »Wanderer« für Alkoholiker und geistig minderbemittelt.548 Im Rahmen der Neubewertungen wurden Otfried Neuner und Therese Egger die Heilpraktikertitel wieder aberkannt.549 Als Begründung diente die vermutete »Gefahr für die Volksgesundheit«.550 Manch positiv bewerteter Antragsteller brachte sich selbst um eine mögliche Anerkennung durch die Gaumedizinalverwaltung. So berichtete Czermak im Herbst 1943 indigniert an die Innsbrucker Stadtverwaltung: Peter Walder erschien heute in der Medizinalverwaltung, ziemlich betrunken und brachte nur lallend vor, dass er von der Deutschen Heilpraktikerschaft aufgenommen worden sei. Er legte gleichzeitig einen Zettel vor, dessen Inhalt ich abschriftlich an-
543 TLA Innsbruck, RStH IIIa1, 1941, D/I/9-D/IV/2, Karton 18, Stellungnahme Czermaks vom 23.8.1941. 544 TLA Innsbruck, RStH IIIa1, 1941, D/I/9-D/IV/2, Karton 18, Mitteilungen der Landräte 3.–5.11.1941. 545 TLA Innsbruck, RStH IIIa1, 1941, D/I/9-D/IV/2, Karton 18, Brief Czermaks an die DH vom 3.11.1941. 546 D’Arcangelis (2006), S. 221. Siehe auch Marius Weigl (2011), S. 239. 547 D’Arcangelis (2006), S. 226. 548 Stumpfl (1938), S. 283, 293. Zu den erbbiologischen Forschungen siehe Mergen (1949), S. 27 f. 549 TLA Innsbruck, RStH IIIa1, 1942, D/I/9c-D/V/6, Karton 33, Mitteilung des Landrates an Neuner vom 27.7.1942; Beschluss des Gutachterausschusses vom 18.11.1942. 550 Grunwald (1942), S. 279.
124 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik schließe, worin er seine Heilkünste gegen Blutvergiftung und Erkältungskrankheiten anpreist. Ich bitte Sie um Kenntnisnahme und weitere Veranlassung.551
Zur gleichen Zeit übernahm Gauleiter und Reichsstatthalter Hofer noch die Kontrolle in Südtirol und der »Operationszone Alpenvorland«.552 Dadurch schuf er sich eine Art »Sondergau« mit besonderen Kompetenzen. Auf die Zulassung von Heilpraktikern in diesen Gebieten hatte das aber keine dokumentierbaren Auswirkungen. Der Versuch einer abgelehnten Antragstellerin, durch eine Klage vor dem Reichsverwaltungsgericht II in Wien doch noch zugelassen zu werden, scheiterte im Februar 1944.553 Letztmalig musste sich die Gaugesundheitsverwaltung mit der Thematik im September 1944 beschäftigen, als Konrad Hastreiter um eine erneute Freistellung vom Militärdienst nachsuchte.554 Czermak lehnte ab. Auch in Kärnten begehrte eine Reihe von Laienheilkundigen die Anerkennung als Heilpraktiker. Die Gesundheitsverwaltung war auf dieses Interesse nur ungenügend vorbereitet. Die DAF war mit einer eigenen Verwaltungsstruktur nicht vertreten, stattdessen konkurrierten die Abteilungen Volksgesundheit und Wohlfahrtspflege der NSV gegeneinander und standen dem NS-Ärztebund gegenüber.555 Lokale Verwaltungsbehörden wurden erst verzögert über die Notwendigkeit der Einrichtung von Gutachterausschüssen informiert.556 Antragstellern, denen die Zulassung zunächst verweigert worden war, gingen sogleich in Revision, während die zu Heilpraktikern avancierten Heilkundigen von den überforderten Behörden nicht weiter behelligt und nicht hinsichtlich ihres Kenntnisstandes überprüft wurden.557 Die Landräte in den Kreisen Hermagor, Lienz, Völkermarkt und Wolfsberg verweigerten allen Antragstellern die Zulassung und bezogen sich hierbei auf nicht fristgerechte Anmeldungen oder die nicht vorhandenen Nachweise der Praxistätigkeit.558 Möglicherweise war den lokalen Behörden die entsprechende Anordnung des Reichsinnenministeriums schlicht unbekannt. Nach mehrmaliger Verweigerung der Zulassung und schließlich doch erfolgter Einrichtung eines Gutachterausschusses musste dieser ab Herbst 1941 die aufgelaufenen Verfahren
551 TLA Innsbruck, RStH IIIa1, 1943, D/I/10-D/VI/1, Karton 47, Brief Czermaks vom 16.9.1943. 552 Wedekind (2007), S. 387. 553 TLA Innsbruck, RStH IIIa1, 1943, D/I/10-D/VI/1, Karton 47, Urteil des Reichsverwaltungsgerichts vom 10.2.1944. 554 TLA Innsbruck, RStH IIIa1, 1944, D/I/14-E/III/3, Karton 59, Mitteilung Czermaks vom 15.9.1944. 555 Rademacher (2000), S. 344 f. 556 KLA Klagenfurt, AT-KLA 164 Sanitätsabteilung, Schachtel 15, Heilpraktiker, Mitteilung DH an Reichsstatthalter vom 20.6.1940. 557 KLA Klagenfurt, AT-KLA 164 Sanitätsabteilung, Schachtel 15, Heilpraktiker, Mitteilung des Landrates Klagenfurt an Reichsstatthalter vom 16.12.1940 über die Zulassung von Thomas Huber und Maria Derhaschnig. 558 KLA Klagenfurt, AT-KLA 164 Sanitätsabteilung, Schachtel 15, Heilpraktiker, Berichte der Landräte an den Reichsstatthalter vom 14.12., 16.12., 17.12. und 21.12.1940.
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abarbeiten.559 Im Herbst 1942 zog der Ausschuss Bilanz, wonach von 30 Anträgen 21 bewilligt wurden und neun weitere sich in Revision befanden.560 Die bereits vor Einrichtung des Gutachterausschusses gewährten Zulassungen waren seinen Mitgliedern offenbar unbekannt. Zu den Revisionsfällen zählte die in Villach im Kräuterhandel tätige Drogistin und Harndiagnostikerin Christine Widowitsch (1897–?), die mit ihrer halblegalen Tätigkeit 1940 einen steuerpflichtigen Umsatz von 54.840 Reichsmark erzielt hatte.561 Ende Juli 1942 wurde sie vom Amtsarzt des Kreises Villach hinsichtlich ihrer medizinischen Kenntnisse geprüft. Das Urteil des Gesundheitsamtes war eindeutig: Die Vorstellungen über das Geschehen im gesunden und kranken Körper die Frau Widowitsch besitzt, sind grauenhaft. Es haben sich bei der verhältnismäßig kurzen Überprüfung derart haarsträubende Dinge gezeigt, daß es wohl dauernd unverständlich bleiben wird wieso es möglich ist, daß diese Frau einen derartigen Zulauf gehabt hat.562
Ihr war der Urin verschiedener Patienten gezeigt worden, und sie gab daraufhin ihre Diagnose ab. Im Falle einer Diabetikerin urteilte sie »schlechte, schwache Nerven, nervenkrank und schlechtes Blut«, übersah aber die eigentliche Krankheit.563 Einem Patienten mit Nephritis diagnostizierte sie eine »Blasengeschichte« an und empfahl als Therapie den Konsum von Brennnesseltee.564 Gleichwohl erhielt sie Anfang Dezember die Zulassung, da ihr Rechtsbeistand Friedrich Klauß genügend sich geheilt fühlende Patienten beibringen konnte. Angesichts dieses Urteils verschärfte der vom Gutachterausschuss häufig beigezogene Beobachter (und T4-Gutachter) Walther SchmidSachsenstamm (1891–1945) den Ton. Bei der Heilerdeproduzentin Maria Urbanz urteilte er hinsichtlich der vorgebrachten Dankesschreiben: […] bei deren Lektüre man sich wundert, wie solche Empfehlungsschreiben zustande kommen. Offenbar sind es aber die Gattinnen, die sich das Zeug ins Gesicht schmieren, das durch den Gehalt an Fetten, Wachsen und Salben die Frau Urbanz bezieht und durch lächerliche Beigaben umfrisiert und auftakelt, eine gewisse Wirkung entfalten, die in der Einbringung von Fetten in die Haut besteht.565
Produktion und Vertrieb von Heilsalben unterlagen eigentlich einer strengen Ordnung, aber zur Wahrung des lokalen Friedens gestattete die Medizinalver559 KLA Klagenfurt, AT-KLA 164 Sanitätsabteilung, Schachtel 15, Heilpraktiker, Mitteilung DH an Reichsstatthalter über die Benennung von Kurt Bergel und SS-Sturmbannführer Hans Wrede als Gutachter. 560 KLA Klagenfurt, AT-KLA 164 Sanitätsabteilung, Schachtel 15, Heilpraktiker, Bericht der Gauleitung an das Reichsministerium des Innern vom 15.10.1942. 561 KLA Klagenfurt, AT-KLA 164 Sanitätsabteilung, Schachtel 15, Heilpraktiker, Lebenslauf von Christine Widowitsch (1942). 562 KLA Klagenfurt, AT-KLA 164 Sanitätsabteilung, Schachtel 15, Heilpraktiker, Bericht des Amtsarztes vom 30.7.1942. 563 KLA Klagenfurt, AT-KLA 164 Sanitätsabteilung, Schachtel 15, Heilpraktiker, Bericht des Amtsarztes vom 30.7.1942. 564 KLA Klagenfurt, AT-KLA 164 Sanitätsabteilung, Schachtel 15, Heilpraktiker, Bericht des Amtsarztes vom 30.7.1942. 565 KLA Klagenfurt, AT-KLA 164 Sanitätsabteilung, Schachtel 15, Heilpraktiker, Gutachten vom 4.12.1942.
126 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik waltung 1942 dem Heilpraktiker Thomas Huber in Tiffen die Vermarktung seiner »Huber-Salben«, obwohl diese Arkana waren.566 Endgültig abgelehnte Bewerber wurden ab Dezember 1942 zur Unterbindung ihrer weiteren Tätigkeit bevorzugt zu Arbeitseinsätzen abseits ihres Wohnortes herangezogen.567 Die volksheilkundlichen Kulturen der Kärntner Slowenen, die weiterhin mit Tees und Heilzaubern arbeiteten, blieben von den Anstrengungen zur Etablierung einer nationalsozialistischen Heilpraktikerschaft offenbar unberührt.568 In der Steiermark war der »Anschluss« besonders eifrig begrüßt worden, die Landeshauptstadt Graz avancierte zur »Stadt der Volkserhebung«.569 Die NS-Bewegung hatte in den Jahren zuvor sowohl die bürgerlichen als auch die sozialdemokratischen Anhängerschaften amalgamiert.570 Der sogleich einsetzende Wirtschaftsaufschwung begünstigte eine weitgehende Zustimmung der Bevölkerung zu den einsetzenden Repressionen gegen Juden und politische Gegner.571 Wer seine Stimme gegen diese Politik erhob, wurde sogleich verfolgt, so auch Johannes Ude, der verhaftet und mit Gauverweis belegt wurde.572 Ab 1941 führte Gauleiter Siegfried Uiberreither (1908–1984) in der 1919 an Jugoslawien abgetrennten und nach dem Balkanfeldzug wiedergewonnenen Untersteiermark eine brutale Germanisierungspolitik durch.573 Der Bombenkrieg erreichte den Reichsgau spät, aber dann mit voller Wucht. Ab Februar 1944 wurden Graz und Verkehrsknotenpunkte regelmäßig bombardiert, hinzu kamen Flüchtlingstrecks und ein brutal geführter Partisanenkrieg in der Untersteiermark.574 Im Gegensatz zu den anderen »Alpengauen« gab es in der Steiermark eine breite und langjährige Lebensreformtradition, in der Laienheilkundige eine bedeutende Rolle gespielt hatten. Dies bedeutete jedoch nicht, dass die Medizinalbürokratie den nun aus dem Schatten der Illegalität hervortretenden Laienheilkundigen freundlicher gesonnen gewesen wäre als im übrigen Reich. Ganz im Gegenteil verkörperten ja die Heilpraktiker in spe den physiologischen Nachweis der völligen Unfähigkeit der Medizinalbürokratie von Monarchie, Republik und Ständestaat. Um sich von dieser Zeit zu emanzipieren, war die Gaumedizinalverwaltung offenbar entschlossen, den Antragstellern für die Zulassung als Heilpraktiker das Leben so schwer wie möglich zu machen. 566 KLA Klagenfurt, AT-KLA 164 Sanitätsabteilung, Schachtel 15, Heilpraktiker, Diskussion im Gutachterausschuss vom 2.4.1942; Bericht des Landrates Klagenfurt an Reichsstatthalter vom 8.10.1941. 567 KLA Klagenfurt, AT-KLA 164 Sanitätsabteilung, Schachtel 15, Heilpraktiker, Entschließung der Gauleitung vom 15.12.1942. 568 Košir/Möderndorfer (1926/1967), S. 53. Zu deren Weiterbestehen siehe Obrecht (1999), S. 41. 569 Karner (1986), S. 69. 570 Martin Moll (2007), S. 367. 571 Karner (1986), S. 113. 572 Farkas: Amtskirche (1997), S. 273. Seine Schriften landeten auf der »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums«, siehe Jahresliste (1942), S. 7. 573 Karner (1986), S. 159. 574 Karner (2005), S. 301 ff.
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Das vormalige Zentrum der österreichischen Lebensreform bot weiterhin selbstberufenen Propheten Raum. So sahen sich sowohl Hitler als auch Gauleiter Bürckel mit den Briefen des Kühlvitrinenherstellers Ernst Freytag aus Graz konfrontiert, der sich selbst zum »Arzt für Naturheilkunde« promoviert hatte und die Heilung »unheilbarer Hautkrankheiten für immerwährende Zeiten« versprach.575 Sein Antrag auf Zulassung wurde verworfen. Ebenso erging es jenen Akteuren, die ihren Antrag nicht fristgemäß eingereicht hatten.576 Die DH wurde über die Ablehnungen meist nicht in Kenntnis gesetzt.577 Den »Bauerndoctoren« stand die Gesundheitsverwaltung mit besonderem Argwohn gegenüber und urteilte im Fall eines Heilkundigen: Er ist von dem Gedanken befangen, dass er zur Heilkunde berufen sei und dass er den Menschen nützen und helfen müsse. Dies will er dadurch erreichen, dass er Kräutersäfte mit Zucker und Öl verkocht und verarbeitet und dann eine dunkle, glänzende, klebrige Masse gewinnt, welche, vom Menschen aufgenommen, alle Heilwirkung im Körper ausüben soll. Gänzlich unbeschwert von den anatomischen Verhältnissen und physiologischen Vorgängen im menschlichen Körper, glaubt er jedenfalls selbst an die Heilkraft dieser Substanz.578
Diese Haltung gegenüber volksheilkundlichen Akteuren scheint sich in den ländlichen Heilkulturen herumgesprochen zu haben, denn von Seiten der »Bauerndoctoren« stellte nach 1941 kein einziger Protagonist einen Antrag auf Zulassung zur Heilpraxis. Das offizielle Autarkiebedürfnis begünstigte aber die Hinwendung zur Phytotherapie und dem Sammeln von Heilkräutern.579 Zermürbt von langwierigen Schulungen durch die DH, bürokratischen Hemmnissen und diskriminierenden Befragungen durch Angehörige lokaler Gesundheitsämter zogen bis Februar 1941 zwölf Heilkundige ihre Anträge zurück.580 Ende September 1941 gab es in der ganzen Steiermark nur einen offiziellen Heilpraktiker: Berthold Withalm in Graz.581 Weitere zwölf Anträge wurden verworfen, sechs Personen verzichteten auf die Fortsetzung des Verfahrens.582 Die Organisationsstruktur der Heilpraktikerschaft im Reichsgau Steiermark blieb rudimentär. In einer Bestandsmeldung räumte Bezirksleiter Berthold Withalm Anfang 1942 ein, dass es ihm nicht gelungen war, die Stellen des Pressewarts und des Gaufachschaftswalters für die DAF zu besetzen. Ein 575 StA/AdR Wien, Bundesministerium für soziale Verwaltung, Abt. Volksgesundheit Nr. 2405, Eingabe Freytags vom 4.8.1939; Eingaben an Hitler und Bürckel vom 31.7.1939. 576 LASt Graz, L. Regl. 197/I, A-J 1941, Mitteilung des Kreises Voitsberg vom 10.4.1940. 577 LASt Graz, L. Regl. 197/I, K-P, Karton 3404, Jg. 1944, Mitteilung der DH an den Reichsstatthalter vom 7.6.1940. 578 LASt Graz, L. Regl. 197/I, A-J 1941, Amtsärztliches Gutachten über August Haiden vom 16.8.1941. 579 Hausmann (2007), S. 231. 580 LASt Graz, L. Regl. 197/I, K-Z 1941, Brief der DH an Berthold Withalm vom 17.2.1941. 581 LASt Graz, L. Regl. 197/I, A-J 1941, Bericht der Gaumedizinalverwaltung an den Reichsstatthalter vom 17.9.1941. 582 LASt Graz, L. Regl. 197/I, A-J 1941, Bericht der Gaumedizinalverwaltung an den Reichsstatthalter vom 17.9.1941.
128 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik Ehrengericht konnte ebenfalls nicht gebildet werden. Inklusive seiner Person bestand die gesamte Gaugruppe aus lediglich 14 Personen.583 Withalm selbst sah sich Anfeindungen seitens der lokalen NS-Elite ausgesetzt, weil er vor 1938 Funktionär der »Vaterländischen Front« gewesen war. Die DH sprang ihm umgehend bei und erklärte: Wenn der frühere, hohe Heimwehr-Funktionär Dr. Wagenbichler sich als praktischer Arzt weiterhin betätigen darf, dann muß das gleiche auch für den Heilpraktiker Berthold Withalm gelten, der als ehemaliger Funktionär der Vaterländischen Front bei weitem nicht so eine hohe Dienststellung bekleidete, wie sämtliche vorstehend erwähnte Herren.584
Tatsächlich wurde Withalm nun in die NSDAP aufgenommen und seine Zulassung als Heilpraktiker bestätigt. Etwa 1943 entglitt der Gauverwaltung die Kontrolle des Gesundheitsmarktes. Gerade besetzte Posten in Krankenhäusern blieben doch vakant, weil die entsprechenden Ärzte in andere Gaue zwangsversetzt wurden.585 Hebammen beantragten Lohnzuschüsse, da die potentiellen Patienten ihnen als Vollstrecker des Staates misstrauten und sie nicht genügend Einkünfte erzielen konnten.586 In der Untersteiermark sah sich die Gesundheitsverwaltung nicht in der Lage, eine seit Monaten andauernde Rattenplage in den Griff zu bekommen.587 Nun schienen auch Heilpraktiker geeignet, die staatliche Medizinalkontrolle zu sichern. Doch waren die meisten Männer zum Wehrdienst eingezogen. So scheiterte beispielsweise der Versuch, den vormaligen Naturheilkundigen und nunmaligen Feldwebel Anton Rauscher für eine mögliche Prüfung beim Grazer Gesundheitsamt von der Front abziehen zu lassen.588 Möglicherweise kam es noch zu einigen Zulassungen auf lokaler Ebene. Die letzte Mitteilung an die DH erfolgte Mitte April 1945. Der Heilpraktiker Rudolf Deubler teilte mit, dass der »Verkehr mit den Herren Aerzten, Apothekern, Krankenhaus etc. sich bei mir in denkbar guter Form entwickelt und erledigt«.589 Doch auch nach der Kapitulation 1945 war manche lokale Verwaltung glücklich, einen Heilpraktiker zur Verfügung zu haben, der für die Betreuung von Flüchtlingen bereitstand. So schrieb ein Arzt an die Bezirkshauptmannschaft in Mürzzuschlag im Juli 1945: 583 AdVdH Bonn, Akt Graz, Innsbruck, Klagenfurt, Wien, 1940–1945, Amtsträger-Mitteilung Withalms vom 28.1.1942. 584 LASt Graz, L. Regl. 197/I, K-Z 1941, Brief der DH an die Gauleitung vom 22.10.1942. Bei »Dr. Wagenbichler« handelte es sich um den Arzt und christlich-sozialen Politiker Alois Wagenbichler (1895–1957). 585 LASt Graz, L. Regl. 197/I, He-Lc 10, Karton 3210, Jg. 1943, Anweisung der Reichsgesundheitsführung vom 10.3.1943; L. Regl. 197/I, St-Z, Karton 3213, Jg. 1943, Liste von Notdienstverpflichtungen. 586 LASt Graz, L. Regl. 197/I, St-Z, Karton 3214, Jg. 1943, Anträge von Hebammen o. D. 587 Karner (1996), S. 147. 588 LASt Graz, L. Regl. 197/I, St-Z, Karton 3212, Jg. 1943, Brief Rauschers an die Reichsstatthalterei vom 22.10.1943. 589 AdVdH Bonn, Akt Graz, Innsbruck, Klagenfurt, Wien, 1940–1945, Mitteilung Deublers an die DH vom 16.4.1945.
Verbote und Triumphe (1945 bis in die Gegenwart)
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Ich berichte vorsorglich, dass ich anlässlich meiner Dienstreise am 22.6.1945 nach Mariazell an der Anschlagtafel des dortigen Gemeindeamtes eine Kundmachung des Bürgermeisters vorfand, worin derselbe der Bevölkerung mitteilt, dass der Heilpraktiker Adam Wolf in Kapfenberg seine Tätigkeit wiederaufgenommen hat.590
Dass Wolf gar keine Zulassung erhalten hatte, weil dem Gutachterausschuss bei seiner Sitzung Ende Oktober 1944 mehrere Unterlagen nicht zur Verfügung gestanden hatten, spielte im kurzen Sommer der Anarchie 1945 keine Rolle.591 Gänzlich frei von offiziell anerkannten Heilpraktikern blieb allein der Gau Salzburg. Dies dürfte vor allem darin begründet sein, dass die finanziell stets am Rande des Ruins agierende Verwaltung überhaupt nicht die Möglichkeit hatte, eine Kontrolle des Gesundheitsmarktes durchzuführen.592 Verbote und Triumphe (1945 bis in die Gegenwart) Als sich aus dem Staub der »Ostmark« unter gütiger Mithilfe der alliierten Militärverwaltungen ein neuer Staat Österreich herausbilden durfte, sahen sich die der laschen Entnazifizierung entronnenen Medizinalbürokraten mit unendlichen Problemen konfrontiert.593 Die Säuglingssterblichkeit betrug 16 Prozent und konnte erst ab 1950 flächendeckend zurückgedrängt werden.594 Tuberkulose stellte weiterhin ein Problem dar, das jedoch regional beschränkt war. Die meisten Fälle waren in Voarlberg zu beobachten, mit Armut als ein allgemein bekannter auslösender Faktor.595 1945 waren nur noch 18 Prozent der österreichischen Apotheken (im Vergleich zu 1938) vorhanden, die Arzneimittelvorräte tendierten gegen null.596 Patienten kauften in Drogerien das Allheilmittel Foenum Graecum (gemahlener Bockshornkleesamen), das auf Abszesse und Frostbeulen gestreut wurde.597 Die vormals mondänen Kurorte im Salzburger Land verwandelten sich in Sammelpunkte für »Displaced Persons«, die in den Hotels untergebracht wurden.598 Zahlreiche Großstädte wiesen Bombenschäden auf, Hunderttausende Menschen befanden sich auf der Flucht oder in Kriegsgefangenschaft. Um sowohl den Odem des Nationalsozialismus und die eigenen Verwicklungen abzustreifen und gegenüber den Alliierten die Selbständigkeit sowie Kontinuität eines österreichischen Medizinalrechts unter Beweis zu stellen, wurden umgehend sämtliche Neuerungen 590 LASt Graz, L. Regl. 197/I, R-Z, Karton 3405, Jg. 1944, Bericht des Amtsarztes vom 4.7.1945. 591 LASt Graz, L. Regl. 197/I, R-Z, Karton 3405, Jg. 1944, Sitzung des Gutachterausschusses vom 31.10.1944. 592 Hanisch (2007), S. 381. 593 Hierzu siehe Stadtarchiv Linz (2004). 594 Reuß (1950), S. 12; Czermak (1951); Hansluwka (1967), S. 121. 595 Lingens/Kuhn/Koch (1966), S. 129. 596 Otto Nowotny (1995), S. 367. 597 Burger-Ringer (2005), S. 165. 598 Embacher (2002), S. 238.
130 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik im Gesundheitssystem nach 1938 einer genauen Kontrolle unterworfen. Ziel war die Aussonderung all jener Bestandteile, die als typisch nationalsozialistisch angesehen werden konnten. Hierzu zählte neben den rassenhygienischen und rassistischen Zwangsgesetzen auch das »unliebsame Novum« Heilpraktikergesetz.599 Diese Einschätzung wurde jedoch nicht in ganz Österreich geteilt. Im neu entstandenen Oberösterreich betonten die Behörden, dass Heilpraktiker zumindest »bis zu einer gesamtstaatlichen Regelung« weiterhin tätig sein dürften.600 Nach Ansicht der aus der Wiener Medizinalbürokratie formierten neuen österreichischen Behörden störte das Gesetz zur Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung die »Rechtssystematik«, die sich am österreichischen System aus der Zeit vor 1937 orientierte, wie der Sektionschef im Bundesministerium für soziale Verwaltung, Karl Strobl, 1950 hervorhob: Darunter fällt vor allem das reichsdeutsche Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (Heilpraktikergesetz) mit allen Durchführungsverordnungen. Damit ist der Rechtszustand, wie er vor dem März 1938 in Österreich für die Ausübung der Heilkunde bestanden hat, wiederhergestellt, die Behandlung von Kranken wieder ausschließlich akademisch vorgebildeten Ärzten vorbehalten und die Bestimmung des § 343 StGB über die unbefugte Ausübung der Arznei- und Wundarzneikunst als Gewerbe (Kurpfuscherparagraph) wieder voll wirksam geworden.601
Bereits ab dem 18. Juni 1947 war damit die Heilpraktik in Österreich wieder verboten. Heilpraktiker durften allenfalls noch bis zum 31. Dezember 1948 ihre Tätigkeit ausüben. Davon ließen sich die bereits vor 1938 aktiven Laienheilkundigen und die nach 1939 zu Heilpraktikern avancierten Akteure allerdings nicht beirren. So wurde Karl Baumhauer wieder tätig und brachte Anfang 1948 die Zeitschrift Die Iris heraus, in der er sich erfreut zeigte, die lästige Überwachung durch Bernhard Hörmann und seine Schergen nicht länger ertragen zu müssen.602 Allerdings wurde er bereits 1949 zu zwei Monaten Arrest verurteilt603, weil er die Heilkunde unerlaubt ausgeübt hatte, was Baumhauer jedoch nicht davon abhielt, weiterhin Kurse für Ärzte und Heilpraktiker zu geben604. Erst mit dem Erreichen den Rentenalters 1968 beendete er seine Tätigkeit in Gablenz.605 Der in Wien tätige »psychologische Berater« Johann Burucker (1879–?) gedachte das Verbot der Heilpraktik durch Beantragung eines Gewerbescheins zu umgehen, was das Bundesministerium
599 Gutmann (1953), S. 94. 600 LAOÖ Linz, Reichsstatthalterei IIIaM 1945, Akt 59, MF 525, Mitteilung der Landeshauptmannschaft vom 9.8.1945. Auch die DH erklärte auf Anfrage vom November 1945, dass das Gesetz weiterhin in Kraft sei, siehe AdVdH Bonn, Akt Ordner Rundschreiben, Mitteilung vom 19.11.1945. Wenige Wochen zuvor (5.11.1945) hatte die DH gar einen eigenen »Sonderbeauftragten für die Entnazifizierung« bestellt. 601 Strobl (1950), S. 25. Zur Entwicklung in der Bundesrepublik siehe Ullmann (2015). 602 Zum Beginn (1948), S. 1. 603 Baumhauer (1949), S. 2. 604 Unser Kurs (1949), S. 7; Ein neuer Kurs (1949), S. 8. 605 Diözesanarchiv Wien, Personalakte Karl Baumhauer, GR Pfr. i. R. Karl Baumhauer, in: Wiener Kirchenzeitung Nr. 35 vom 4.9.1977.
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für soziale Verwaltung im Januar 1950 unterband.606 Gegen das neuerliche Verbot positionierte sich der 1948 sogleich aus der Taufe gehobene »Verein zur Förderung des Volksbegehrens für die Zulassung von Nichtärzten in Österreich«.607 Umgehend wurden etwa 110.000 Unterschriften gesammelt.608 Die Vereinsmitglieder übten durch Petitionen Einfluss auf Angehörige des Nationalrates aus, so dass in der 28. Sitzung am 19. Februar 1948 der ÖVP-Abgeordnete Karl Lugmayr (1892–1972) die Idee eines Volksbegehrens über die Zulassung von Naturärzten zur Sprache brachte.609 Der Salzburger ÖVP-Landeshauptmann Josef Rehrl (1895–1960) unterstützte die Anfrage. Im April 1949 kristallisierte sich heraus, dass die ÖVP über ein Gesetzesvorhaben zur Zulassung von Heilpraktikern diskutierte.610 Der SPÖ-Minister für soziale Verwaltung, Karl Maisel (1890–1982), lehnte dies ab und begründete das mit der angeblich zu großen Zahl an Ärzten in Österreich sowie der mangelnden Rechtstradition. Als äußerstes Entgegenkommen avisierte er Hilfe bei der Professionalisierung der Laien: Es wäre jedoch zu überlegen, ob nicht durch das Unterrichtsministerium allfällige Sonderbegabungen mit allen Förderungen, die sie verdienen, einem Studium an der medizinischen Fakultät zugeführt werden sollen, so dass ein Sonderbegabter unter gewissen Erleichterungen die Möglichkeit hat, wirklich graduierter Mediziner zu werden.611
Durch das Bundesgesetz über die Ausübung des ärztlichen Berufes von 1949 wurde das Verbot der Laienheilkunde zusätzlich festgeschrieben und Zuwiderhandlungen mit 6.000 Schilling Strafe und bis zu drei Monaten Arrest belegt.612 Im Juni 1952 unternahmen die Abgeordneten Thomas Neuwirth (1905–1988, VdU) und Hans Rammer (1891–1969, VdU) letztmalig einen Anlauf, um das Heilpraktikergesetz doch noch wieder in Kraft zu setzen.613 Auch Ärzte waren an dieser vergeblichen Kampagne beteiligt.614 Versuche
606 StA/AdR Wien, Bundesministerium für soziale Verwaltung, Sektion V (Volksgesundheit), 1950, Sanitäts- und Gesundheitswesen Zl. 1–15.040, 7426/50, Beschluss des Ministeriums vom 24.1.1950. Da Burucker die Pendeldiagnose einsetzte, stufte ihn das Ministerium vom Heilpraktiker zum »Wahrsager, Kartenaufschlager« herab, lehnte die Erteilung eines Gewerbescheins aber gleichwohl ab. 607 StA/AdR Wien, Volksgesundheitsamt, 1950–1960, Materialienindex, Bd. I, Apotheken bis Kropf, 177931. Der »Materialienindex« gibt nur Auskunft über ehemals existierende Akten. 608 Arias (2003), S. 156. 609 BuAdN Wien, Stenographische Protokolle, 5. Gesetzgebungsperiode 1945–1949, 28. Sitzung vom 19.2.1948. 610 BuAdN Wien, Stenographische Protokolle, 5. Gesetzgebungsperiode 1945–1949, Sitzung vom 12.4.1949. 611 BuAdN Wien, Stenographische Protokolle, 5. Gesetzgebungsperiode 1945–1949, Antwort des Ministers für soziale Verwaltung vom 4.7.1949. 612 Wallner (2003), S. 15. 613 BuAdN Wien, Stenographische Protokolle, 6. Gesetzgebungsperiode 1949–1953, Anfrage Neuwirth/Rammer vom 25.6.1952. 614 Österreich (1952), S. 137.
132 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik von Heilpraktikern, ihre Zulassung doch noch zu erzwingen, scheiterten 1957 und 1964 vor dem Verfassungsgerichtshof.615 Abgeordnete, Minister und vor allem die Medizinalbürokratie blieben bei ihrer ablehnenden Haltung, da sie in Laienheilkunde eine Gefahr für die »Volksgesundheit« sahen.616 Dies zeigte sich u. a. im Zusammenhang mit der »Fortedol«-Affäre.617 Das zur Bekämpfung der Rachitis eingesetzte Medikament war vom Bundesministerium für soziale Verwaltung ohne genaue Dosierungsangaben an Kliniken ausgegeben worden.618 Nicht etwa Amtsärzte oder Klinikärzte, sondern eine Fürsorgerin war auf die Problematik aufmerksam geworden. Nachdem drei Kinder gestorben waren, wurde die Arznei doch noch aus dem Verkehr gezogen – die Schuld für die Todesfälle aber nicht den Ärzten, sondern den Krankenschwestern angelastet.619 Die »Fortedol«-Affäre diente zudem in der Folgezeit Amtsärzten als Begründung für ihre ablehnende Haltung gegenüber Laienheilkundigen.620 Die Ablehnung der Tätigkeit von Laien im Gesundheitswesen ging so weit, dass die Gründung einer »Gesellschaft für naturwissenschaftliche Heilkunde« 1950 in Wien unter Führung von Ärzten verboten wurde, weil die Gefahr bestünde, dass »mehr Nichtärzte« als Ärzte beitreten könnten.621 Die Aversion gegen alles, was von Laienheilkundigen entworfen wurde, behinderte u. a. die Einführung einer von Orthopäden befürworteten »Patentsandale«, da diese nicht von einem Arzt, sondern dem Laien Kurt Wiessner entwickelt worden war.622 Auch der Vertrieb von Knaus-Ogino-Tafeln ohne Einbindung von Ärzten galt in Österreich als »zweifellos unstatthaft«.623 Die Freikörperkulturbewegung, bestehend aus den Vereinen »Freie Menschen« (Graz), »Kärntner Lichtbund« (Klagenfurt), »Liga für fortschrittliche Lebensgestaltung« (Linz) oder »Sonnensport« (Salzburg), entfaltete sich allmählich wieder.624 Allerdings trat im März 1950 in Österreich ein »Gesetz über die Bekämpfung unzüchtiger Veröffentlichungen und den Schutz der 615 616 617 618 619 620 621
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Wallner (2003), S. 16 ff. Khaum (1956), S. 9. Ruziczka (1953), S. 329 ff. Stenographisches Protokoll, 6. Sitzung (1951), S. 155. Zu den Schwierigkeiten der österreichischen Ärzte in der korrekten Anwendung von Vitamin-D-Präparaten siehe Jesserer (1952). Stenographisches Protokoll, 6. Sitzung (1951), S. 157. Franz Bauer (1959), S. 229. StA/AdR Wien, Bundesministerium für soziale Verwaltung, Sektion V (Volksgesundheit), 1950, Sanitäts- und Gesundheitswesen Zl. 110.001-Ende, 187001/50, Verein »Gesellschaft für naturwissenschaftliche Heilkunde«, Beschluss des Ministeriums vom 18.12.1950. StA/AdR Wien, Bundesministerium für soziale Verwaltung, Sektion V (Volksgesundheit), 1950, Sanitäts- und Gesundheitswesen Zl. 15.041–30.000, 1980/501, Diskussion um Kurt Wiessner, Stellungnahmen von Ärzten. StA/AdR Wien, Bundesministerium für soziale Verwaltung, Sektion V (Volksgesundheit), 1950, Sanitäts- und Gesundheitswesen Zl. 110.001-Ende, 127619/50, Fall der Firma H. Hofbauer vom 9.8.1950. Michalke (1972), S. 6–12.
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Jugend gegen sittliche Gefährdung« in Kraft. Bis zum 10. Juli 1962 galt in Österreich zudem die am 10. Juli 1942 erlassene »Polizeiverordnung zur Regelung des Badewesens«, wonach FKK grundsätzlich verboten war. Um dieses Verbot zu umgehen, gründeten die Anhänger der Nacktkultur kurzerhand »Naturheil- und Sportvereine« unter ärztlicher Leitung.625 Daraufhin erfolgte seitens des Staates der Ausbau bestehender Freibäder, in denen die in organisierten Gruppen betriebene Nacktkultur weitgehend untersagt war. Beispielhaft steht hierfür das »Gänsehäufel« in Wien.626 Hinsichtlich des Grades an Vertrauen der Bevölkerung in die Leistungen der Schulmedizin gaben sich die Mitarbeiter des Bundesministeriums für soziale Verwaltung zurückhaltend. So wurde eine Ausweitung der prophylaktischen Scharlachschutzimpfung 1951 mit dem Argument abgelehnt, dass zu viel Aufhebens »die ablehnende Haltung der Bevölkerung gegen andere Impfungen verstärken« würde.627 Vielfach seien die durchführenden Ärzte schlicht zu dumm, die seit 150 Jahren übliche Pockenschutzimpfung korrekt zu applizieren.628 Hier seien Nachbesserungen in der Ausbildung nötig.629 Die Impfstatistik sei »miserabel«, und es könne noch nicht einmal garantiert werden, dass alle Ärzte und Krankenschwestern geimpft seien.630 Im Widerspruch zu den Ankündigungen und Vorverurteilungen von Ärzten und Medizinalbürokraten stand der Erfolg der Maria Schlenz.631 Unter Anleitung ihres Sohnes Josef (1920–1989) und des Berliner Arztes Wilhelm Devrient (1884–1959) erfolgte die Verwissenschaftlichung der Überwärmungsbädertherapie.632 Ab 1950 war die einige Jahre zuvor noch als »Kurpfuscherei« geschmähte Behandlungsweise vorübergehend anerkannter Teil der Therapie chronischer Krankheiten.633 Indikationen und Kontraindikationen wurden genau benannt.634 Auch die stark an Naturheilkunde erinnernden Konzepte des vormals in Böhmen tätigen Arztes Franz Xaver Mayr wurden von der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundheit aktiv beworben.635 Während die Medizinalbürokraten einerseits auf Verbote setzten und andererseits Konzepte der Naturheilkunde übernehmen mussten, um die eigenen Ziele zu erreichen, zugleich aber wussten, dass ihre Maßnahmen seitens der Bevölkerung nur wenig goutiert wurden, konnte sich im ländlichen Öster625 626 627 628 629 630 631 632 633 634 635
Farkas: Leben (1992), S. 179. Wiener Stadtbauamt (1951), S. 5, 15. Daimer (1953), S. 147. K. Berger (1952), S. 173. Puntigam (1960), S. 203. Niederwieser (1953), S. 325. Kerckhoff (2013), S. 84 ff. Schlenz (1951); Devrient (1948). Zabel (1950), S. 11. Maria Hoffmann (1954); Parade (1954). StA/AdR Wien, Bundesministerium für soziale Verwaltung, Sektion V (Volksgesundheit), 1950, Sanitäts- und Gesundheitswesen Zl. 30.001–110.000, 36521/50, Österreichische Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundheit.
134 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik reich die alte Volksheilkunde neu entfalten. »Beinheiler« und »Zahnreißer« waren in der Steiermark weiterhin tätig.636 Die »Kräuterfrauen« konnten auf ein seit 1941 lieferbares, Anleitungen zum Sammeln, Trocknen, Verarbeiten und Applizieren vereinendes Handbuch zurückgreifen: »Kräutergold« von Michael Lassel (1900–1981).637 Dieses Buch erschien, teilweise unter Kooperation mit Ärzten, bis 1995 in sechs Auflagen.638 Lassel betrieb von Kolbermoor bei Rosenheim aus ein ganz Deutschland und Österreich umfassendes Vertriebsnetz für Heilkräuter, das seit den 1930er Jahren bestand.639 In Tirol übten die Laien Andreas Walser (1879–1956) und Johann »Natterer« Abentung (1914–1986) die Heilkunde weitgehend ungehindert aus.640 Abentung wurde nach 20 Jahren vielfach beworbener Tätigkeit 1954 einmalig zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt, ohne dass dadurch seine Praxis eingeschränkt wurde.641 1957 finanzierte die Tiroler Landesregierung die erste wissenschaftliche Untersuchung zur »Zillertaler Volksmedizin«, in der eine breite Kultur der Volksheilkunde beschrieben wurde, auf die staatliche Akteure nie den geringsten Einfluss gehabt hatten.642 Die Landärzte sahen sich mit Zauberbüchern konfrontiert und reagierten insofern auf die lokalen Heilkulturen, als sie ebenfalls phytotherapeutische Arzneien verschrieben.643 In der Steiermark verordnete der »Beineinrichter« Jakob »Pilz« Bernsteiner (1885–1970) eine aus Fichtenpech bestehende Salbe und kooperierte hierbei mit dem lokalen Arzt, ohne dass dies von Ärztekammer oder Medizinalbürokratie unterbunden werden konnte.644 In Heilbrunn war die Heilerfamilie Schoberer aktiv und vermarktete eine heilkräftige Salbe für »Beineinrichter«.645 In der Landeshauptstadt Graz arbeitete und annoncierte der »diplomierte Naturarzt« Peter Klug646, während in Kärnten Katharina Obermann (1884– 1971) mit Kräutern, Pflastern und Salben hantierte und einen großen Kreis an Patienten um sich sammelte647. Eine urban-bürgerliche Lebensreform begann sich Ende der 1950er Jahre in Graz neu zu konstituieren. Hierbei spielten die Anhänger der Waerland-Ernährungsreform eine wichtige Rolle.648 1959 tagte in Graz der I. Österreichische Kongress für Lebensreform und naturgemäße Heilweise. 636 Inge Friedl (2009), S. 12, 20. 637 Lassel (1941); Inge Friedl (2009), S. 41. 638 Müller-Freywardt (1995). Siehe auch Ausstellung (2010); »Gegen alles ist ein Kraut gewachsen« (2010). 639 Staatsarchiv München, Spruchkammerakten Bad Aibling Nr. 1286, Lebenslauf Michael Lassels. 640 Merhart (1988), S. 90, 109. 641 Merhart (1988), S. 110. 642 Hupfauf (1957). 643 Girtler (1996), S. 265; Girtler (1997), S. 95. 644 Bernd L. Mader (1999), S. 112. 645 Hausmann (2007), S. 236. 646 Bernd L. Mader (1999), S. 113. 647 Biermann/Schinnerl (2002), S. 23. 648 Farkas: Leben (1992), S. 174.
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In Grieskirchen in Oberösterreich arbeitete seit ihrer Vertreibung aus Prag die Naturheilerin Maria Treben (1907–1991). Sie setzte auf das Allheilmittel »Schwedenbitter«, das aus Myrrhe, Eberwurz, Enzianwurzel, Wermutkraut, Zitwerwurzel, Aloe, Sennesblättern, Rhabarberwurzeln, Safran, Kampfer und Weingeist bestand.649 1974 bewarb sie erstmals öffentlich ihre »Heilkräuter aus der Apotheke Gottes« und unternahm eine breite Werbetätigkeit.650 Der gelernte Elektromonteur Rudolf Breuß (1899–1990) entfaltete in Vorarlberg seit den 1950er Jahren ein reges Tun als selbsternannter Krebstherapeut.651 Selbst in der Metropole Wien war eine »Heilpraktikerin« tätig. Käthe Gündl (1881–1966) arbeitete als Telepathin und beschränkte sich auf die Diagnose, ohne eine Therapie zu avisieren.652 Der »Erste Österreichische Naturheilverein« hatte sich ebenfalls reorganisiert.653 Weiterhin wurde ein LichtLuftbad unterhalten und Kurse zur Diätetik angeboten. 1958 allerdings kam es zu einer schweren Krise im Verein beim Streit um die Verwendung von Geldern, so dass beinahe die Zwangsauflösung drohte.654 Diese konnte jedoch abgewendet werden. Dass der Verein mehr anbot als bloße Beratung, ließen seine Akteure 1967 durchblicken, als sie offen die Einführung der Kurierfreiheit forderten und sich dabei auf den Wunsch des »Volkes« beriefen.655 Allerdings hatte die Entwicklung der Antibiotika und des Cortisons einen Paradigmenwechsel in der Behandlung chronischer Krankheiten ausgelöst, wodurch die Nachfrage nach hydrotherapeutischen Behandlungen drastisch zurückging.656 Dies berührte das Selbstverständnis der sich auf Prießnitz und Kneipp berufenden Laienvereine und zwang sie zu einer programmatischen Neuorientierung hin zu der eher vagen Förderung eines »gesunden Lebens«. Neben dem Naturheilverein gab es in Wien zeitweilig weitere Organisationen, die Laienheilkunde zumindest duldeten und Zeitschriften herausgaben, z. B. Der Kleine Kräuterdoktor (1949)657, die Kneipp-Naturheilbewegung mit dem Kneipp-Gesundheitsberater (1948, 1962–1964), der Gesundheitskurier (1960er Jahre) oder die von Wiener Reformhäusern publizierte Zeitschrift für Gesundheitspflege und Eheberatung (1954). Der österreichische Vegetarierbund verantwortete die Zeitschrift Lebe Dich gesund, die neben einer gesunden Ernährung unverblümt die Unterweisung in Homöopathie, Yoga und Chiropraktik durch Laien bewarb.658 Als Historiograph der eigenen Entwicklung von Turnvater Jahn über Prießnitz und Kneipp bis in die Gegenwart fungierte der vormalige Organisator der »Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heil-
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Kerckhoff (2013), S. 72. Zunhammer (1978); Treben (1980); Treben (1989); Treben (1990). Breuß (1990). Siehe auch Auerbach u. a. (2002), S. 118. Schrödter (1959), S. 102. Pirchan (1949), S. 13. Die schwere Krise (1959), S. 3. Corv. (1967), S. 6. Marktl (1991), S. 484. Baumhauer (1950). Hatha-Yoga (1957); Homöopathie (1957); Siegfried Hermann (1961).
136 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik kunde«, Karl Kötschau (1892–1982).659 Begünstigt wurde die Fortführung diätetischer und ernährungsreformerischer Konzepte durch die Arbeiten der Ärztin Sophie Sobotik und der Volkskundlerinnen Lia Miklau (1894–?) und Anni Gamerith (1906–1990).660 Sie kombinierten die Ernährungstraditionen der Landbevölkerung mit den Forschungen Franz X. Mayrs und Max BircherBenners. So sollten »lebendige Kraft« und »natürlicher Geschmack« erhalten bleiben.661 Die katholische Kirche diente weiterhin als Orientierungspunkt für die Bevölkerung, und lokale Priester förderten die Begründung von Heiltraditionen, ohne dass die Medizinalverwaltung dagegen vorgehen konnte oder wollte, z. B. im Falle des als heilkräftig geltenden »Rasenkreuzes« in St. Martin an der Raab662, der Heilquelle am Hengstpass in der Rot-Kreuz-Kapelle663, des »wundertätigen Wassers« im Untergeschoss von St. Katharina im Bade in Bad Kleinkrichheim sowie des »rechtsdrehenden Wassers« von Maria Elend im Rosental (Kärnten)664. Der wirkmächtige Leopold Stocker Verlag brachte 1956 ein »Naturgemässes Volksheilbuch« auf den Markt, in dem die Hydrotherapie von Prießnitz mit der überkommenen Phytotherapie und Homöopathie kombiniert wurde.665 Als Autor fungierte der vormalige Statthalter der DH in der Steiermark, Berthold Withalm. Die Lebens- und Körperreform erhielt im katholischen Österreich einen erheblichen Aufschwung durch eine Radioansprache von Papst Pius XII. (1876–1958, Pontifikat ab 1939) im November 1952, in der er »die Würde des Körpers« betonte und die Pflege desselben als christliches Gebot offenbarte.666 Der Direktor des Instituts für Leibesübungen an der Universität Graz, Josef Recla (1905–1987), beförderte die katholische Sportbewegung und Lebensreform.667 Der als Redner vielfach auftretende Johannes Ude galt als Fixpunkt der nun vor allem pazifistisch orientierten, amtskirchenkritischen katholischen Lebensreformbewegung in Österreich.668 Sein Einfluss wirkte sich insbesondere auf die vollkommen negative Haltung der Naturheilkunde zur beginnenden sexuellen Revolution aus.669 In diesem Kontext gründete 1958 der Forstwirt Günther Schwab (1904–2006) den »Weltbund zum Schutz des Lebens«.670 659 Kötschau (1958), S. 5. 660 Sobotik (1947); Sobotik (1957); Miklau (1960); Gamerith (1986). Siehe auch Heinsberg (1968). 661 Sobotik (1947), S. 61, 106. 662 Koch (1973), S. 322. 663 Girtler (2007), S. 82. 664 Biermann/Schinnerl (2002), S. 29. 665 Withalm (1956), S. 35, 81 ff., 184. 666 Hans Müller (1958), S. 15. Die Evangelische Kirche beschränkte sich auf eine vage Empfehlung zur Kurseelsorge, siehe Siekerkotte/Bassiry (1998), S. 49. 667 Recla (1957), S. 9, 14; zu Reclas Leben und Wirken siehe Walter Berger/Recla (1975). 668 Farkas: Amtskirche (1997), S. 275; Mildenberger (2006/07), S. 292. Siehe auch Die Welt (1967), S. 1. 669 Fischl (1971), S. 4. 670 Lexikon (1998), S. 319; Melzer (2003), S. 316 f.
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Anstatt die »Kurpfuscherei« zu bekämpfen, sahen sich Bezirksärzte und Kliniker im Nachkriegsösterreich selbst in den 1960er Jahren noch mit ganz anderen Problemen konfrontiert. Um das Problem der Tuberkulose anzugehen, weiteten niedergelassene Ärzte und Amtsärzte in Vorarlberg in den 1960er Jahren die Schüleruntersuchungen aus.671 Doch noch 1964 verfügten 50 Betroffene mit offener Tuberkulose in Vorarlberg nicht einmal über ein eigenes Bett.672 Es fehlte an Geld, da die wechselnden Bundesregierungen Budgetstabilität anstelle einer Ausweitung der Gesundheitspolitik präferierten. Stattdessen subventionierte der Staat (zum Entsetzen der Ärzteschaft) den Alkoholkonsum, um der Bevölkerung ein Ventil zur Unmutsbekämpfung zu ermöglichen.673 Investiert wurde weniger in moderne Behandlungen implizierende Krankenhauszentren, sondern in die Förderung hydrotherapeutischer Heilmaßnahmen in Krankenhäusern und Kurorten674 – mithin Gebiete, die fatal an »Naturheilkunde« erinnerten und das Alleinstellungsmerkmal der Schulmedizin nicht unbedingt stärkten. Allerdings wirkten die Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten in die Zeit der Zweiten Republik dahingehend nach, dass zuvor Laienheilkunde befürwortende oder implizierende ärztliche Fachrichtungen nun hierauf gänzlich verzichteten. So blieb die am 10. April 1946 wiederbegründete »Wiener Psychoanalytische Vereinigung« (WPV) klein, vergrößerte sich jedoch in den 1950er Jahren dadurch, dass man ehemaligen Nationalsozialisten die Aufnahme und die Tätigkeit als Lehranalytiker ermöglichte.675 Auf eine Konfrontation mit der Medizinalbürokratie in Sachen Laienanalyse ließ sich die WPV nicht ein. Die kleine Gruppe anthroposophischer Ärzte unter Führung von Reimar Thetter (1908–1994) und Ferdinand Wantschura verhielt sich hier anders.676 Thetters Onkel Rudolf (1882–1957) war einer der führenden Heilmagnetiseure Österreichs gewesen und ab 1942 in Wien als Heilpraktiker tätig.677 Er publizierte 1951 über seine Arbeiten und ließ nebenbei erkennen, dass er weiterhin tätig war und mit Ärzten zusammenarbeitete.678 Hierzu dürfte sein Neffe gezählt haben, der erst durch den Onkel mit der Anthroposophie vertraut gemacht worden war. Reimar Thetter gehörte zu den Teilnehmern der maßgeblichen Kurse für anthroposophische Ärzte am Goetheaneum in den frühen 1950er Jahren.679 Wantschura vermittelte heilkundliches Wissen an interessierte Laien innerhalb anthroposophischer Arbeitskreise. Auch betätigte
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Bischof (1981), S. 22. Lingens/Kuhn/Koch (1966), S. 133. Uhl u. a. (2005), S. 317 f. Erlass (1964), S. 13; Pekarek (1964), S. 257; Scheminzky (1972), S. 194; Slezak (1972). Teicher/Brainin (2016), S. 211. Schmidt (2000), S. 371 f.; Tobias Richter (2011), S. 106. Die Theosophen reorganisierten sich ab 1947 in Graz, siehe Farkas (2000/01), S. 569. 677 AdVdH Bonn, Akt Graz, Innsbruck, Klagenfurt, Wien, 1940–1945, Brief Nowotnys an DH vom 17.10.1942; Brief Nowotnys an DH vom 6.10.1944. 678 Rudolf Thetter (1951), S. 34. 679 Bindler/Hablützel/Roeber (2000), S. 424. Siehe auch Reimar Thetter (1952).
138 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik er sich als Förderer der Homöopathie.680 Den Anthroposophen kam zugute, dass Wantschura zu jener kleinen Gruppe der politisch völlig unbelasteten österreichischen Ärzte gezählt hatte, die bereits 1945 mit dem Neuaufbau des Wiener Gesundheitswesens beauftragt worden war.681 Ab 1952 begannen Ausbildungskurse in Heileurythmie, seit 1955 wurden in kleinem Umfang Weleda-Produkte wieder in Österreich produziert.682 Während sich in Deutschland aus der heilpraktischen Chiropraktik zügig eine schulmedizinisch fundierte Manuelle Medizin herausbildete, dauerte es in Österreich bis 1962, dass bereits in Deutschland entsprechend weitergebildete Ärzte sich zu einer eigenen Fachgesellschaft formierten.683 Federführend war hier der Innsbrucker Arzt Richard Strohal (1888–1976), der sich gegen Heilpraktiker und ihre Tätigkeit aussprach.684 Zurückhaltend positionierten sich auch die homöopathischen Ärzte, die lieber von einer Synthese mit der Schulmedizin träumten, als sich den Laien anzunähern.685 Wichtigster Akteur war über Jahrzehnte Matthias Dorcsi (1923–2001), der 1953 bei Hartmut Oemisch (1901–1992) am Krankenhaus Höllriegelskreuth in die Homöopathie eingeführt worden war.686 Dass Homöopathie eher unter Patienten als Ärzten verbreitet war, ließ ein Autor der Zeitschrift Documenta Homoeopathica 1977 durchblicken, als er über seinen eigenen Weg hin zur Lehre Hahnemanns berichtete.687 In Südtirol sah sich die deutschsprachige Ärzteschaft erstmals 1964 mit dem Problem der alternativen Heilkulturen offiziell konfrontiert, weil ein Mitglied der Ärztekammer die Akupunktur anwandte.688 Auf der folgenden Generalversammlung wurde diese Thematik unter dem Oberbegriff »Kurpfuscherei« abgehandelt, doch konnte der Kollege an der Durchführung seiner Arbeit nicht gehindert werden.689 Dass sich zeitgleich die Heilerin Rosa Treiner (1912–2000) betätigte und Teemischungen sowie Salben verkaufte und eine große Anhängerschaft um sich sammelte, entging den Südtiroler Ärzten.690 Die laxe Strafverfolgung österreichischer Behörden nutzten deutsche Wunderheiler, um sich dorthin abzusetzen. So tourte der in Deutschland vorbestrafte, selbsternannte Heiler des Diabetes, Thilo Kemper, ab Herbst 1957 durch Österreich.691 Auch der Produzent des »Büstenmittels Bellamont« 680 681 682 683 684 685 686 687 688 689 690 691
Wantschura (1949). Junker (1998), S. 66. Hans Weiss (1995), S. 106. Cramer (1990), S. 250. Siehe hierzu Mildenberger (2015). Strohal (1974), S. 89. Oppenauer (2010), S. 75. Schroers (2006), S. 27. Joseph Wolf (1977), S. 15. Ärzte (2013), S. 177. Ärzte (2013), S. 91. Kerckhoff: Frauen (2010), S. 116 f.; Kerckhoff (2013), S. 97 f. GLA Karlsruhe, Bestand 69, Zentrale, Nr. 148 f., Alfred Günther an Roman Schüppert vom 3.11.1957. Siehe auch Ein Jahr Gefängnis (1957).
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setzte sich 1960 nach Österreich ab, nachdem deutsche Behörden sein Vertriebsnetz zerschlagen hatten.692 Ausländische Anbieter fragwürdiger Arzneien nutzten ihrerseits die Passivität österreichischer Sanitätsbehörden aus und gewannen interessierte österreichische Ärzte, die sich als »Gastautoren« positionierten, um so Produkte auf den deutschen Markt werfen zu können, z. B. im Falle von »Gelee royale«.693 Auch der bedeutendste Wunderheilmittelanbieter der 1960er Jahre auf dem deutschen Markt, der im Schweizer Kanton Appenzell Außerrhoden ansässige Produzent des Rheumaheilmittels »Polydynamon«, Norbert A. Gschwend (1928–2017), stützte sich auf die angeblich bahnbrechenden Forschungen des »österreichischen Bundesapothekers Magister Klemens Lubjatzky«.694 »Polydynamon« bestand aus Schwefel, Kampfer, Talkum, Kamillenblüten, Hefe und einigen Mineralsalzen.695 Ein bezahlter »Soldschreiber« formulierte die Anwendungsart: Der Patient erhält täglich 1 Teelöffel voll des Pulvers nach einem Fussbad in die Fußsohlen eingerieben und in die Strümpfe eingestreut. Die Fußsohle ist reich an Kapillargefässen, und durch das Bad werden die Poren so weit geöffnet, dass die Heilmittel gut resorbiert werden und nach den obigen Ausführungen sowohl über die Blutbahn als auch das Nervensegment zur Wirkung auf den Organismus gelangen.696
Das zeitweise unter dem Markennamen »Antipara« vertriebene Medikament blieb bis in die 1980er Jahre im Handel.697 Nicht ganz so lange durfte der österreichische Pharmakologe »Professor Glaser« für das Potenzmittel »Kreolisches Feuer« des Pharmawerks Schmiden werben, da die Firma bereits Anfang der 1970er Jahre in den Konkurs schlitterte.698 Der in Süddeutschland bekannte Heilpraktiker und »Fernheiler« Kurt Trampler (1904–1969) erfreute sich auch in Österreich einiger Bekanntheit und erhielt Zuschriften von interessierten Patienten.699 Manch Produkt der österreichischen Laienheilkunde erregte ebenfalls jenseits der Grenzen Aufmerksamkeit. So sah sich das Landgericht Konstanz 1963 mit dem vorgeblich heilkräftigen Wasser der »Michel-Quelle« aus Bad Gams in der Steiermark konfrontiert, das findige Anbieter chronisch kranken
692 GLA Karlsruhe, Bestand 69, Zentrale, Nr. 546d, Verfahren gegen Mohr Jacobson vor dem Amtsgericht Laufen o. D. 693 GLA Karlsruhe, Bestand 69, Zentrale, Nr. 31d; siehe zudem die Aufsätze der Ärzte Kerschbaumer/Panny (1956); Fritz Brunner (1960). 694 GLA Karlsruhe, Bestand 69, Zentrale, Nr. 103a, darin Werbeschriften von Norbert A. Gschwend 1961–1962. Siehe auch Schüppert (1959). Zu Gschwends Karriere siehe Eggenberger (2017). 695 Schüppert (1959), S. 1105. 696 Seliger (1959), S. 799. 697 Mildenberger (2011), S. 118. 698 Mildenberger (2011), S. 117. Zum »Pharmawerk Schmiden« siehe Elizabeth Heineman (2006). 699 IGPP Freiburg, Bestand 20/18, Nr. 3, Brief Hedwig Heinzls aus Neudorf an Trampler vom 17.3.1959; Nr. 13, Brief Bibiana Karls aus Michelsdorf an Trampler vom 9.3.1959; Nr. 17, Brief Anny Prohaskas aus Wien an Trampler vom 23.4.1959.
140 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik Menschen verkauften.700 Im gleichen Jahr wurden in Österreich und Süddeutschland Proben von »Bioprotein« beschlagnahmt, das sich als verfälschte Arznei erwies.701 Eine wirkliche Kursänderung in der österreichischen Gesundheitspolitik erfolgte erst ab 1970, als der Sozialdemokrat Bruno Kreisky (1911–1990) Bundeskanzler wurde und die bis dahin geltende Maxime der Austeritätspolitik zugunsten einer offensiven staatlichen Wohlfahrtsstrategie aufgab. Hierzu gehörte die Ausweitung der Krankenversicherung auf die ländliche Bevölkerung, was u. a. die Kultur der Bauernärzte in Kärnten zum Verschwinden brachte.702 Das neue, zum 1. Januar 1975 in Kraft getretene österreichische Strafgesetzbuch verwandelte die »Götter in Weiß« in Menschen – erstmals wurde in Österreich der ärztliche Kunstfehler als Straftatbestand ausdrücklich genannt.703 Etwa zur gleichen Zeit wurden die Kompetenzen der Amtsärzte erweitert.704 In den 1970er Jahren verloren die Hebammen, einst das Aushängeschild der öffentlichen Gesundheitsfürsorge, massiv an Bedeutung.705 Waren 1950 noch 1.685 Hebammen tätig gewesen, so war ihre Zahl schon 1970 auf 308 gefallen.706 Nun wurden auch die Stellen für Hebammen in Krankenhäusern zusammengekürzt.707 Hausgeburten gerieten selbst auf dem Land zu marginalen Ereignissen.708 Jedoch zeigten sich auch die Folgen eines zu großen Vertrauens weiter Teile der Ärzteschaft in den scheinbaren Sieg über zahlreiche Erkrankungen. Zunehmend versagten jüngere Mediziner in der Diagnostik der selten gewordenen Syphilis.709 Zugleich waren sich die Amtsärzte bewusst, dass sie keineswegs über die vollkommene Kontrolle verfügten. Hinsichtlich des »Durchimpfungsgrades« der Bevölkerung gegen Keuchhusten und Tuberkulose vermerkten die Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums 1977, dieser sei »relativ hoch«.710 Genaue Zahlen über mögliche Impfverweigerer wurden nicht geführt. Die angedrohten Strafen von 14 Tagen Arrest oder 1.000 Schilling Geldstrafe blieben eine hohle Drohung.711 Angeb700 GLA Karlsruhe, Bestand 69, Zentrale, Nr. 29d, Urteil des Landgerichts Konstanz vom 30.9.1963. 701 GLA Karlsruhe, Bestand 69, Zentrale, Nr. 57d, Fernschreiben der Polizeidirektion Wien, 1963. 702 Moro (1992), S. 19. 703 Holczabek (1976), S. 5. Zu den Diskussionen um die soziale und gesellschaftliche Stellung und die Unantastbarkeit der Ärzte siehe Dinges (2013). 704 Hugo Richter (1970), S. 163. 705 Gisinger/Rolleder (1975). 706 Gabriele Zimmermann (1988), S. 45. 707 Gabriele Zimmermann (1988), S. 45. 708 Gisinger/Rolleder (1975), S. 295. 709 Luger (1973), S. 194. 710 Ambrosch/Wiedermann/Kundi (1977), S. 49. Diese Problematik zeigte sich beispielsweise 1972, als in Wien »Pockenalarm« ausgelöst werden musste, da die Krankheit in Jugoslawien ausgebrochen war. Die Gesundheitsämter sahen sich gezwungen, mehr als 25.000 Menschen nachzuimpfen, siehe Junker (1998), S. 78. 711 Langbauer (2010), S. 37.
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liche Komplikationen von Impfungen seien unbewiesen, erklärte das Ministerium 1974.712 Damit widersprachen die Medizinalbürokraten ihren eigenen Katamnesen aus den 1960er Jahren. Dort war festgestellt worden, dass eine Impfung vor dem ersten Lebensjahr mit der Gefahr erheblicher Komplikationen für den Säugling verbunden sein konnte.713 Wiener Gerichtsmediziner räumten ein, dass 1957 bis 1966 mindestens 28 Säuglinge infolge einer Impfung zu Tode gekommen waren.714 Möglicherweise lag dies auch an der Unfähigkeit der Ärzte zur Durchführung der Injektion.715 Eine aussagekräftige Morbiditätsstatistik konnten österreichische Medizinalbürokraten erst Ende der 1960er Jahre vorweisen.716 Ein Jahrzehnt später mussten sie einräumen, dass eine gesundheitliche Überwachung der (männlichen) Bevölkerung allenfalls bis zum Beginn des Grundwehrdienstes möglich war.717 Das Leben erwachsener Österreicher stellte für die Medizinalbürokratie auch Ende der 1970er Jahre noch eine terra incognita dar, trotz der massiven Ausweitung der Sozialpolitik in der Ära Kreisky.718 In der Sprache der gesellschaftlichen Außenseiter wurden Frauenärzte als »Büchsenöffner« und Psychiater als »Dr. Specht« verspottet, ohne dass die Betroffenen die rotwelschen Bezeichnungen entschlüsseln konnten.719 In den 1980er Jahren schließlich kulminierte die Mischung aus obrigkeitsstaatlichem Laissez-faire, Patientenunmut und Ideenlosigkeit der Ärztekammern und Kliniken in der offiziösen Zulassung von Laien bei der Betreuung von Patienten, die an einer unheilbaren Krankheit litten. Im Falle von HIV/ AIDS übernahmen Laien die medizinische Beratung und die Präventionsarbeit.720 Insgesamt planten Gesundheitsbürokraten eine vage »Anerkennung der Laienkompetenz« einzuführen, um so doch noch einen Überblick über das Gesundheitsverhalten erwachsener Österreicher zu gewinnen.721 Doch fühlten sich auch einige Laienheilkundige berufen, die Krankheit AIDS therapeutisch anzugehen. Der in Oberösterreich tätige Heiler Michael Waldner behauptete, mit Kräutertees, basischer Ernährung und einer konstanten Wohnungstemperatur von 18 Grad Celsius AIDS bekämpfen zu können.722 Ursache für die Krankheit war für ihn nicht etwa ein Virus, sondern der »in der Homosexualität« übliche Analverkehr.723 In diesem Bereich arbeitende Geist712 Lazzarini (1974), S. 23. 713 Puntigam (1965), S. 44. Zur Geschichte der »Serumkrankheit« siehe Blitterndorf (1943), S. 153. 714 Breitenecker/Skala (1968), S. 267. 715 Laurencic (1968), S. 351. 716 Junker (1969), S. 240. 717 Kremeier (1982), S. 265. 718 Maderthaner/Musner (2007), S. 19. 719 Girtler (2010), S. 193 f. 720 Eberhard Wolff (2008); Unterkircher (2008). Zum wissenschaftshistorischen Forschungsüberblick siehe Lukas Engelmann (2014); Kazanjian (2014). 721 Kickbusch (1983), S. 49. 722 Waldner (1990), S. 14, 17, 31. 723 Waldner (1990), S. 9.
142 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik heiler hingegen konzentrierten sich auf die Verbesserung des Selbstbildes der Patienten.724 Im Laufe der 1980er Jahre nahm die anthroposophische Bewegung einen erheblichen Aufschwung, indem die entsprechend tätigen Ärzte Arbeitskreise zur Verbreitung anthroposophischen Wissens für interessierte Laien in Linz, Salzburg und Graz gründeten.725 Alsbald entfalteten sich anthroposophische Gemeinschaften unter Leitung von Masseuren und Kunsttherapeuten.726 Die nichtärztlichen Physiotherapeuten organisierten sich ebenfalls.727 Längst war es einfach geworden, alternative Heilmethoden unter dem Schutz und Deckmantel von Gewerbeschein und Beratungstätigkeit anzubieten.728 Auch die Produktion von vorgeblich gesundheitsfördernden oder Pflanzenwachstum garantierenden Magnetarmbändern wurde so möglich.729 Von Heilpraktikern in Deutschland entwickelte Medizinalprodukte fluteten den österreichischen Markt. Offiziell zugelassen war der Vertrieb seit 1974 durch das Abkommen über Warenverkehrsfreiheit mit der EG.730 Längst totgeglaubte esoterische Organisationen erwachten zu neuem Leben. Unter Leitung der Lehrerin Grete Häusler (1922–2007) formierten sich die Anhänger des Wunderheilers Bruno Gröning (1906–1959) neu.731 In der in den Großstädten aufblühenden alternativen Szene spielte die Nutzung nichtärztlicher Berater eine wichtige Rolle. So empfahl das 1983 erstmals vorgestellte »Alternative Branchenbuch« den Lesern unverblümt, bei gesundheitlichen Fragen den »Heilpraktiker« des Vertrauens aufzusuchen.732 In den Städten lösten Psycho-Berater die Priester als Lebensratgeber ab.733 Auf dem Lande erfuhren die überkommenen Vorstellungen von den Höllenkräften eine Modernisierung durch die Popularisierung der Gefahr durch Erdstrahlen.734 Die klassischen Wallfahrtsorte behielten aber ihren Rang als Stätten der Spontanheilung durch »göttliche Hilfe«.735 Auch waren religiöse Geistheiler tätig, wie sich die Exorzisten nun nannten.736 Eine Befragung von Heilern ergab, dass ein Absud von Juniperus sabina als Abtreibungsmittel weiterhin Verwendung fand.737 Gegen Unterleibsleiden wurden Kräutersitzbäder in der Tradition von Vincenz Prießnitz oder Sebas724 725 726 727 728 729 730 731 732 733 734 735 736 737
Obrecht (1999), S. 178 f. Hans Weiss (1995), S. 14. Hans Weiss (1995), S. 181. Wirth (1988), S. 38. Wallner (2003), S. 40. GLA Karlsruhe, Bestand 69, Zentrale, Nr. 470a, Bericht über die Produktion von Magnetarmbändern in Innsbruck durch Friedrich Hummel. Jost (1996), S. 54. Mildenberger (2009), S. 54. Langenmayr u. a. (1983), S. 58. Wilke (2013), S. 35. Margarethe Ruff (2003), S. 270. Werner (2001), S. 69. Obrecht (1999), S. 41. Pohl-Sennhauser (1996), S. 164; Schleich (2001), S. 129. Daneben war Secale cornutum (Mutterkorn) in Gebrauch, das von einem Ehepaar in Nestelbach gezüchtet und bis in die 1980er Jahre hinein verkauft wurde, siehe Schleich (2001), S. 22.
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tian Kneipps angewandt.738 Die »Uringuckerei«739 des »Höllerhansl« erfuhr als »Urinspiegel« eine Wiederauferstehung740. Aufgrund des Interesses von (öffentlich-rechtlichen) Medien avancierte der »Kräuterpfarrer« Hermann-Josef Weidinger (1918–2004) zum Propheten einer modernisierten volkskundlichen Phytotherapie.741 Er kombinierte beispielsweise überkommene Vorstellungen zur Anwendung von Calendula officinalis (Ringelblume) mit homöopathischen Arzneien und der Kneippschen Hydrotherapie.742 Zudem kooperierte er mit lokalen niedergelassenen Ärzten.743 Anschaulich erläuterte er Anbau und Verarbeitungsmethoden der Kräuter, um so jedem Leser die Schaffung einer eigenen »Kräuterapotheke« zu ermöglichen.744 Der von ihm geleitete Verein »Freunde der Heilkräuter« erlangte 1980 internationale Bekanntheit, als ein vorgeblich von ihm verfasster Brief den in Syrien wohnenden, international gesuchten NS-Verbrecher Alois Brunner (1912–2009?) erreichte.745 Das Päckchen enthielt allerdings keine Kräutersamen, sondern eine Bombe, die Brunner schwer verletzte.746 Weidinger war im Übrigen kein »Einzeltäter«. Katholische Priester üben eine wichtige Rolle in der Subkultur der Geistheilung aus und werden hierbei von ihren Vorgesetzten bisweilen nachhaltig unterstützt.747 In den 1980er Jahren begannen Kulturwissenschaftler die noch bestehenden informellen Gesundheitskulturen zu erforschen.748 Allmählich entfaltete sich eine kritische feministische Forschung, z. B. der »Arbeitskreis Kritisches Stricken« in Wien.749 1984 schließlich untersuchte der Medizinstudent Gerald Haidinger im Rahmen seines Dissertationsvorhabens am Institut für soziale Medizin unter Michael Kunze (geb. 1942) die Verbreitung alternativer Heilmethoden in Österreich.750 1.614 potentielle Patienten und 184 Ärzte wurden befragt. Während die Patienten Moxibustion, Chiropraktik und Diathermie präferierten, wollten die Ärzte am liebsten Neuraltherapie, Akupressur und Chiropraktik einsetzen.751 62 Prozent der Patienten waren über Chiromantie
738 739 740 741 742 743 744 745 746
747 748 749 750 751
Pohl-Sennhauser (1996), S. 165. Bergmann (1910), S. 3. Grabner (1991), S. 372. Freunde (1986), S. 17. Daneben dürfte der Nachfolger von »Pfarrer Künzle«, Thomas Häberle (1912–1997), ebenfalls Anhänger gefunden haben, siehe Häberle (1998). Weidinger (1985), S. 85, 130–133. Weidinger (1985), S. 16. Weidinger (1984); Weidinger (1989). Hafner/Schapira (2000), S. 284. Die Tatsache, dass Brunner den Brief ohne vorherige Kontrolle öffnete – er war bereits einmal durch eine Briefbombe verletzt worden –, lässt natürlich Rückschlüsse über die Beziehungen Brunners zu seiner alten Heimat einerseits und des Weidinger-Vereins zu gewissen politischen Ideologien andererseits zu. Obrecht (1999), S. 103 f. Eberhard Wolff (2008), S. 25. Riese (1980). Haidinger (1985). Haidinger (1985), S. 143.
144 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik informiert, sieben Prozent hatten sie schon genutzt.752 43 Prozent der Patienten wussten von Existenz und Anwendung der Irisdiagnostik.753 31 Prozent der Patienten und 26 Prozent der Ärzte waren mit Homöopathie vertraut.754 Nicht etwa medizinrechtliche Vorgaben, sondern der Zeitfaktor in der Behandlung der Patienten verhinderte meist die Anwendung der alternativen Therapiekonzepte.755 1989 befragte die Kulturethnologin Walburga Haas eine Gruppe von 29 Personen aus Stainz in der Steiermark. Sie erfuhr, dass die Menschen auf dem Lande Krankheiten am liebsten für sich behielten und niemanden ins Vertrauen ziehen wollten.756 Das vielgerühmte »gesunde Landleben« betraf nur die Jüngeren, die Zeit und Wissen hatten, um präventiv zu leben.757 Seit Ende der 1980er Jahre ließ das pharmazeutische Institut der Universität Wien zahlreiche in der Volksheilkunde verwendete Drogen im Rahmen von Diplomarbeiten wissenschaftlich untersuchen.758 Es stellte sich hierbei heraus, dass zunehmend weniger Menschen als Viehbestände volksheilkundlich behandelt wurden.759 Der gesteigerte Einsatz von Kunstdünger vernichtete flächendeckend die für die Arzneiherstellung notwendigen Bestände an Kräutern.760 Der zuvor als letztes Mittel in der gynäkologischen Therapie geschätzte Juniperus sabina erfuhr einen Bedeutungswandel und wurde von den heilkundlichen Frauen nun als Entschlackungsmittel empfohlen.761 Auch das »Sanatorium Zeileis« in Gallspach verwandelte sich in das ganzheitlich orientierte »Zeileis-Gesundheitszentrum«, das 1992 um eine Thermalquelle erweitert wurde und weiterhin von der Familie des Gründervaters geleitet wurde (und wird).762 Mit dem Eintritt Österreichs in die EU 1995 stellte sich die Frage der Niederlassungsfreiheit deutscher Heilpraktiker in dem Alpenland.763 Der inkriminierende § 184 StGB schien verfassungsrechtlich problematisch zu sein. Durch das Ärztegesetz von 1998 wurde der Begriff der »Kurpfuscherei« getilgt.764 § 42 sah vor, dass Nichtärzte unter Aufsicht von Ärzten erstmals komplementäre Heilmaßnahmen anwenden durften. Selbständige heilkundliche Tätigkeit durch Laien wurde mit einer Geldstrafe von 300.000 Schilling ge752 753 754 755 756 757 758 759 760 761
Haidinger (1985), S. 41. Haidinger (1985), S. 41. Haidinger (1985), S. 144. Haidinger (1985), S. 145. Haas (1996), S. 107. Haas (1996), S. 41 f. Zusammenfassend bei Hauk (1994). Koller (1987); Rehberger (1989), S. 132. Bayer (1995), S. 5. Siehe auch Girtler (2007), S. 16. Schörkhuber (1993), S. 66. Eine kritische Gesamtschau dieser pharmakologischen Studien erfolgte durch Gerlach (2007). Zu den internationalen Entwicklungen hinsichtlich einer Neuorientierung traditioneller Heilkulturen zugunsten einer auf westliche Patienten zugeschnittenen Wellnesskultur siehe Harrington (2008), S. 209–230. 762 Siehe Zeileis-Gesundheitszentrum: http://www.zeileis.at/images/stories/zeileis/Down loads/Zeileis-Gesundheitszentrum.pdf (letzter Zugriff: 18.4.2018). 763 Jost (1996), S. 52. 764 Gerhard Aigner/Kierein/Kopetzki (1999), S. 72.
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ahndet.765 Zugleich wurde festgehalten: »Das Verbot der Tätigkeit von Heilpraktikern (§ 3, Anm. 11) wird durch diese Bestimmung nicht berührt.«766 Dieser Beschluss mündete in einer Rallye von Gerichtsverfahren im Land Salzburg, da eine Münchner Firma dort Kurse und Zeugnisse für Homöopathen und Hypnosetherapeuten anbieten wollte. Schließlich entschied der österreichische Verfassungsgerichtshof im Jahre 2000, dass das Verbot der Heilpraktik weiterhin gültig sei und infolgedessen eine Zulassung von Heilpraktikern oder gar deren Ausbildung nicht gestattet werden könne.767 Es wurde dem Gesetzgeber anheimgestellt, dies gegebenenfalls zu revidieren. Seither ist es zu keinen Änderungen gekommen, auch wenn seitens der Partei »NEOS – Das neue Österreich und Liberales Forum« und auch der FPÖ immer wieder verlautbart wurde, hier eventuell Reformen durchführen zu wollen.768 Das Laissez-faire der vergangenen Jahrzehnte setzte sich fort. Allerdings unternahmen österreichische Regierungen nun Anläufe, um die möglichen Interessen des Wahlvolkes hinsichtlich eines Gesundheitsmanagements zu erforschen. Im Jahre 2008 ließ das Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie untersuchen, inwieweit Lebensstil und Gesundheitsverhalten in Österreich zusammenhingen. Demnach legten sowohl Konservative als auch libertäre »Postmaterielle« großen Wert auf nachhaltige Ernährung und Gesundheitsvorsorge.769 Insgesamt spielten soziale Milieus (noch immer) eine große Rolle.770 Die alten sozialdemokratischen Gesundheitsreformbewegungen waren jedoch offenbar längst zerfallen.771 Seit den 1980er Jahren verfestigte sich die Vererbung von Armut in Österreich.772 Arme Menschen litten häufiger an Verdauungs-, Atemwegs- und Herzkreislauferkrankungen und sollten nun zu Selbstmanagement angeleitet werden.773 Welchen Vorteil sie aus einem langen, gesunden Leben angesichts der prognostizierten Altersarmut ziehen sollten, konnten die Armutsforscher bislang nicht erklären. Die österreichische Ärzteschaft hat den Kampf gegen die ländlichen und spirituellen Heilkulturen nicht nur verloren, sondern aufgegeben. 2015 be765 Wallner (2003), S. 24. 766 Wallner (2003), S. 73. § 3 bezog sich auf die Vorgaben zur Ausübung des ärztlichen Berufes. 767 AdV Wien, Erklärungen und Entschlüsse aus dem Jahre 2000, Nr. 15766, S. 328, 332. 768 In Südtirol erkannte die Ärztekammer Bozen das zunehmende Interesse ihrer Mitglieder, aber auch potentieller Patienten an alternativen Heilkulturen und beschloss, diese 1995 per Fragebogen zu untersuchen. Eine anschließend eingerichtete »Arbeitsgruppe Komplementärmedizin« empfahl eine Weiterbildung der Ärzte. 2007 beschloss die Regionalregierung gegen den erbitterten Widerstand der Ärztekammer die Einführung komplementärmedizinischer Maßnahmen am Krankenhaus Meran, siehe Ärzte (2013), S. 133, 142, 147. 769 Heiler u. a. (2008), S. 65. 770 Heiler u. a. (2008), S. 14 f. 771 Dies könnte eine Folge des von Parteiausschlüssen geprägten Streits um die Haltung zum Kernkraftwerk Zwentendorf Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre gewesen sein, siehe Linse (1984), S. 55. 772 Zwiesler (1991), S. 154. 773 Schenk (2010), S. 227, 229.
146 Laienheilkunde in Österreich: Erblande, Kleinstaat, Ostmark, Zweite Republik richtete die Illustrierte Kronenzeitung begeistert über einen Priester, der nicht nur die Ausbildung der Rot-Kreuz-Ersthelfer koordinierte, sondern auch im Rettungswagen mitfuhr – weil die Patienten eher ihm und seinem »spirituellen Zugang« vertrauten als der schöpferischen Kraft des Schulmediziners im Moment der höchsten Lebensgefahr.774 Hinsichtlich der Ätiologie des eigenen Handelns zeigen sich österreichische Kliniker weitgehend immun gegenüber der Medizinhistoriographie. Die »Kneippmedizin« wird als Produkt ärztlichen Denkens gesehen, ebenso die »Hildegard-Medizin«.775 In einer von der österreichischen Ärztekammer 2005 herausgebrachten Darstellung über die Geschichte der Medizin in Österreich nach 1945 kommen Hydrotherapie, physikalisch-diätetische Methoden oder gar Naturheilkunde nicht vor.776 Es scheint, als ob das »Fortwursteln« weiterhin der einzige Inhalt österreichischer Gesundheitspolitik bleiben wird. Den Laienheilkulturen und ihren Patienten kann das nur nutzen. Denn wann immer in der Vergangenheit österreichische Bürokraten die traditionellen Heilkulturen invasiv bedrängten, konnten sie zwar eventuell die bestehenden Konstrukte beschädigen oder gar zerstören, aber an ihre Stelle nichts Neues oder Besseres setzen.
774 Lusetzky (2015), S. 26. 775 Schiller (2011), S. 375; Wehlend-Fleiss (2011), S. 73. 776 Feilmayr (2005).
Emanzipation im Hinterland: Posen Seit der zweiten polnischen Teilung gehörte das Territorium des 1815 gebildeten Großherzogtums Posen mit Ausnahme der Phase 1807–1815 zum Königreich Preußen. Die preußische Verwaltung akzeptierte zunächst das polnische Idiom als Verkehrs- und Amtssprache, was sich aber nach den gescheiterten polnischen Aufständen 1830/31 und 1847/48 drastisch änderte. So wurde aus dem Großherzogtum die Provinz Posen. Um den Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung zu erhöhen, setzte die Verwaltung zunächst auf die Assimilation der Juden.1 Im polnischen Adel und Klerus erblickte man hingegen unversöhnliche Gegner und versuchte durch eine massive Alphabetisierungskampagne die jüngeren Einwohner der Provinz an die preußische Herrschaft zu binden.2 Gleichzeitig wurde die Zuwanderung protestantischer Siedler von Anfang an gefördert.3 Gleichwohl blieben der polnischen Bevölkerungsmehrheit Reservatrechte, z. B. hinsichtlich des Pflegens nationalen Brauchtums und der Sprache. Dies änderte sich massiv mit Beginn des »Kulturkampfes« im zweiten deutschen Kaiserreich, der bis in die zweite Hälfte der 1880er Jahre andauern sollte.4 Das Schulaufsichtsgesetz von 1872 zerstörte die Vormachtstellung des katholisch-polnischen Klerus in Posen, ein Jahr später wurde Deutsch zur einzigen Unterrichtssprache in den Volksschulen.5 Dies führte zu einer Politisierung und Polonisierung der Katholiken in Posen, was wiederum Eingriffe des Obrigkeitsstaates herbeiführte, die das gesellschaftliche Klima weiter vergifteten.6 Der öffentliche Dienst wurde vollkommen »germanisiert«. Endgültig zerstört wurde der politische Konsens durch die Einrichtung der königlich preußischen Ansiedlungskommission für Westpreußen und Posen im Jahre 1886.7 Diese kaufte mit staatlichen Geldern (polnischen) Grundbesitz auf, um Platz für deutsche Siedlungsbauern zu gewinnen, die aber nicht in der erhofften Zahl gewonnen werden konnten. Ab Mitte der 1890er Jahre folgten noch Eingriffe in die Besteuerung deutschen und polnischen Grundbesitzes.8 Als 1898 der Beschluss erfolgte, den Religionsunterricht quasi ab sofort ausschließlich in deutscher Sprache durchzuführen, kam es in Posen 1901 und 1906 zu Schulstreiks, in deren Verlauf Eltern zu Haftstrafen verurteilt wurden.9 Wie sehr sich die katholische Bildungs- und Reformbewegung in Posen vom übrigen Reich unterschied, lässt sich daran ablesen, dass die
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Trzeciakowski (1991), S. 13. Molik (1991), S. 69. Eser (2010), S. 63. Nipperdey (1990), S. 433. Wehler (1995), S. 963. Nipperdey (1992), S. 267, 274. Rogall (1993), S. 76; Sammartino (2010), S. 20. Zeitgleich wurden etwa 50.000 Polen ohne Ausweispapiere abgeschoben, siehe Wehler (1995), S. 963. Heß (1990), S. 198. Wehler (1995), S. 1070. Bisweilen beschimpften die Eltern die Lehrer oder bedrohten sie gar mit einer Pistole, siehe Labischin (1906), S. 367; Attentat (1906), S. 5.
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»deutsche« Zentrumspartei sich erst ab 1908 in Posen organisieren konnte.10 Dies lag vor allem am neuen Reichsvereinsgesetz, das den Gebrauch der deutschen Sprache in den Vereinigungen zwingend vorschrieb.11 In diesem Kontext wurden weitere Verbote erlassen: So war den polnischen Preußen selbst der Besitz von Postkarten mit der Ansicht der Gottesmutter von Tschenstochau verboten, ebenso der Besitz ausländischer polnischsprachiger Zeitungen. 1911 standen 409 literarische Texte, 244 Lieder, 35 Theaterstücke, 43 Gedichte und 318 Ansichtskartenmotive auf dem vom Polizeipräsidium Posen unter dem sperrigen Titel »Verzeichnis der verbotenen nichtperiodischen polnischen Druckschriften, der vom Postvertrieb im Inlande ausgeschlossenen ausländischen polnischen Zeitungen, der verbotenen polnischen Lieder und bildlichen Darstellungen vom Jahre 1850 bis in die Gegenwart« herausgegebenen Index.12 Die Bevölkerungsverhältnisse blieben über die Jahrzehnte zwischen 1871 und 1910 ähnlich. Etwa 61 bis 64 Prozent der in der Provinz Posen lebenden Menschen waren Polen, 34 bis 35 Prozent Deutsche, und 1,3 bis vier Prozent begriffen sich als Juden. Am Beginn des 20. Jahrhunderts herrschte in der Verwaltungsmetropole Posen quasi Apartheid: Die Deutschen wohnten in der Stadt, die Polen außen herum und kamen nur während des Tages zur Arbeit in die »deutsche Stadt«.13 Deutsche lasen die Posener Neuesten Nachrichten oder das Posener Tagblatt, die Polen bezogen ihre Informationen aus dem Orędownik oder dem Kurier Poznański.14 Separierte Lebenswelten standen sich gegenüber. Längst waren die Vereine nach Volksgruppen getrennt. 1837 hatte sich in Posen, 1865 in Bromberg ein »Naturwissenschaftlicher Verein« gegründet.15 Die erste naturwissenschaftliche Volksaufklärung besorgte der katholische Renegat und Lehrer Philipp Spiller (1800–1879).16 Seit 1859 existierte offiziell ein »Männer-Turnverein« in Posen, der zunächst noch beiden Volksgruppen offenstand.17 Spätestens in den 1880er Jahren gab es die parallele Vereins- und Volksbildungsstruktur von Deutschen und Polen.18 Frühzeitig erfolgte dies im Genossenschaftswesen.19 Volksbildung spielte auf beiden Seiten eine große Rolle, und Vermittlung von medizinischen und hygienischen Kenntnissen dürfte einen bedeutenden Anteil daran gehabt haben. Denn die staatliche Gesundheitspolitik bestand aus einer Aneinanderreihung von Katastrophen, wodurch die Selbstorganisation der Bürger geradezu provoziert wurde. 10 Rogall (1993), S. 72. So gab es in Posen auch keine bedeutende deutschsprachige katholische Zeitung, siehe Keiter (1909). 11 Nipperdey (1992), S. 275. 12 Rajch (2007), S. 482. 13 Zu deren Aufbau siehe Grzeszczuk-Brendel (2006), S. 384. 14 Rogall (1993), S. 71; Rajch (2007), S. 478. 15 Daum (1998), S. 92, 94. 16 Daum (1998), S. 396. 17 Woltmann/Ziółkowska (2004), S. 243. 18 Woltmann/Ziółkowska (2004), S. 244. Zur Förderung des Turnsports durch den deutschen Staat ab 1890 siehe Tauber (2003), S. 99. 19 Pawlicki (1912), S. 12.
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Exemplarische Bedeutung für Anstrengungen und Versagen königlich preußischer Gesundheitspolitik erlangte das Großherzogtum Posen im Rahmen der ersten europäischen Cholera-Epidemie 1830/31.20 Die Behörden setzten auf eine Absperrung der Grenze durch das Militär – auch angesichts der Furcht vor revolutionären Unruhen, da in Russisch-Polen zur selben Zeit ein Aufstand tobte.21 Dieser Seuchenkordon erwies sich als vollkommen wirkungslos und wurde Ende Dezember 1831 wieder aufgehoben.22 Dies ging einher mit der Festlegung der Verwaltungsbehörden, dass nicht ein einzelner Erreger, sondern die Unfähigkeit und Unwilligkeit insbesondere von Angehörigen unterprivilegierter Schichten die Krankheit verbreite. Die Untertanen würden sich absichtlich einem gesunden Verhalten verschließen.23 Damit war der Grundstein für ein andauerndes Misstrauen zwischen der preußisch-protestantischen Verwaltung und der mehrheitlich katholisch-polnischen Bevölkerung in Fragen der Gesundheitswahrung gelegt. Zugleich markiert die Cholera-Epidemie den Beginn des Aufstiegs der Homöopathie in der Behandlung von Infektionskrankheiten, da die homöopathisch behandelten Patienten nach Ansicht vieler Zeitgenossen bessere Chancen auf Gesundung hatten als die durch Aderlässe zusätzlich geschwächten Opfer der Schulmedizin.24 Dass nicht etwa schlechte Luft25, sondern ein Erreger im Trinkwasser die Ursache für Cholera war, wurde erst 1854/56 nachgewiesen26. Bis sich diese Erkenntnis in Deutschland und insbesondere in Posen durchsetzte, vergingen aber noch mehrere Jahre.27 Neben der Cholera stand das Großherzogtum sinnbildlich noch für ein weiteres Krankheitskonstrukt: Plica Polonica bzw. »Judenzopf«. Dabei handelte es sich um eine durch Lausbefall, Juckreiz und Wundsekret begünstigte Verfilzung der Kopfhaare.28 Bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurde dieses vor allem bei ärmeren Bevölkerungsteilen verbreitete Krankheitsbild als eigenständige Erkrankung angesehen und mit humoralpathologischen Anschauungen begründet.29 Es dauerte bis in die 1890er Jahre, den Nachweis zu erbringen, dass diese Überlegungen falsch waren.30 Die Stadtverwaltung in Posen erlangte 1877 reichsweit Bekanntheit, als sie vor Gericht durchsetzte, dass sie nicht gezwungen werden könne, vom Land bereitgestellte Gelder für Infrastrukturmaßnahmen zugunsten eines Ausbaus der Kanalisation einzusetzen.31 Die Medizinalbürokratie beschränkte sich auf eine vage Beobachtung der Verhältnisse in Stadt und Land. 1876 gab es offi20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31
Dorrmann (1995), S. 210. Dettke (1995), S. 91. Stamm-Kuhlmann (1989), S. 183. Labisch (1992), S. 113; Frey (1997), S. 264 f. Scheible (1996), S. 41; Osten (2008), S. 242. Koller (1995), S. 129. Volker Zimmermann (2003), S. 195 f. Labisch (1986), S. 273. Jütte (2016), S. 294. Axel W. Bauer (2004), S. 218. Axel W. Bauer (2004), S. 220; Jütte (2016), S. 294. Limper (1940), S. 24.
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ziell in der Provinz Posen fünf Laienheilkundige.32 Daneben spielten noch immer Bader und Masseure eine wichtige Rolle in der ländlichen Krankenversorgung. 1888 waren 218 Akteure dieser Berufsgruppe in der Provinz Posen tätig.33 Erst 1894 organisierten sich die Kreisärzte und erkannten das Ausmaß der Pocken in der Provinz und den Mangel an Hygienevorschriften.34 Zusätzlich sahen sich die staatlich besoldeten Hüter der Volksgesundheit im Regierungsbezirk Posen mit dem Problem konfrontiert, dass Apotheken und Drogerien einen schwunghaften Handel mit verschreibungspflichtigen Arzneien betrieben.35 Die Hebammen wurden verdächtigt, tief in das nur vage umrissene Problem der »Kurpfuscherei« verstrickt zu sein36, doch übersahen die Kreisärzte, dass die dies eigentlich verbietenden Verordnungen zwar in Preußen, bis 1903 aber nicht in Posen galten37. Über sehr ähnliche Probleme klagten die Kreisärzte im Regierungsbezirk Bromberg.38 Die niedergelassenen oder in den wenigen Krankenhäusern arbeitenden Ärzte verfügten über keine eigene Fachgesellschaft – der nächste bedeutende ärztliche Verein befand sich in Stettin.39 In ihren Publikationen ließen die Autoren bisweilen durchblicken, in welch schlechtem Zustand sich die lokalen Krankenhäuser befanden. So konnte ein Arzt am Stadtkrankenhaus Posen 1880 die große Zahl an Rachitispatienten nicht adäquat behandeln, weil viele von ihnen während seiner Therapie zusätzlich im Krankenhaus an Masern erkrankten.40 Ein Kollege scheiterte mit seinen therapeutischen Ansätzen bei Rachenerkrankungen, weil die Patienten durch zu viele Vorerkrankungen geschwächt waren.41 An den dies bedingenden sozialen Missständen übten die Ärzte aber keine Kritik. Erst im Kontext der verschärften Germanisierungsmaßnahmen kam es um 1900 zu einem Umdenken in der staatlichen Gesundheitspolitik. Tuberkulose oder Cholera wurden zu Themen in den Sitzungen des Landtages der Provinz Posen, nie aber »Kurpfuscherei« oder »Naturheilkunde«. Letztere war in der Provinz Posen eine Angelegenheit der deutschen Minderheit, und da diese vorrangig in den Verwaltungsmetropolen und im Staatsdienst tätig war, unterschied sich die Zusammensetzung der dortigen Naturheilvereine von derjenigen im übrigen Reich.42 Außerdem war es aufgrund dieser personellen Zusammensetzung für die Medizinalbürokratie ungleich 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42
Vollbrecht (1938), S. 45. Vollbrecht (1938), S. 41. Bericht über die zweite Versammlung (1894), S. 297; Meyen (1899), S. 411. Dritte Versammlung (1895), S. 37. Zum Beginn dieser Problematik siehe Elmar Ernst (1975), S. 70. Dritte Versammlung (1895), S. 38. Kösler (1911), S. 323. Siedamgrotzky (1896), S. 95, 99. Hier wurden die neuesten Behandlungsmethoden vorgestellt, siehe z. B. Wissenschaftlicher Verein (1901); Wissenschaftlicher Verein (1904). Zielewicz (1880), S. 97. Samter (1891), S. 443. Regin (1995), S. 87.
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schwieriger, die Naturheiler als »Störer der öffentlichen Ordnung« oder Schlimmeres zu disqualifizieren. Die Laienheilkundigen organisierten sich in der Provinz Posen wahrscheinlich bereits in den 1880er Jahren. So nennt eine Petition an den Magistrat zu Leipzig zur Unterstützung des Heilkundigen Louis Kuhne aus dem Jahre 1889 auch einen Gymnasiallehrer aus Thorn sowie Gewerbetreibende aus Posen und Thorn.43 Einen aktiven Naturheilverein gab es zudem seit 1891 in Stettin.44 1896 gründete sich schließlich ein Naturheilverein in Posen, der sogleich 43 Mitglieder hatte und zu Vorträgen von Reinhold Gerling und Max Canitz einlud.45 In Bromberg suchten interessierte Anhänger der Naturheilkunde im gleichen Jahr nach einem Arzt, der sich dort niederlassen sollte.46 1900 schlossen sich die Vereine in der Provinz zu einer »selbständigen Bundesgruppe« innerhalb des »Deutschen Bundes der Vereine für Gesundheitspflege und arzneilose Heilweise« zusammen.47 In Bromberg konnte der Verein sogar auf eine eigene kleine orthopädische Industrie zurückgreifen.48 Die Vereinsmitglieder betonten, nichts mit »Kurpfuschern ärgster Art, mit Schäfern und Klugen Frauen« zu tun haben zu wollen, sondern moderne Gesundheitsaufklärung zu betreiben.49 Als schlagendes Argument gegenüber »Ignoranten« in Verwaltung und Politik wurde empfohlen, den positiven Einfluss der natürlichen Lebensweise auf die »Wehrfähigkeit« herauszustellen.50 Damit bewegten sich die Laienverbände im Kontext der regierungsnahen »Ostmark«-Propaganda zur Stärkung des Deutschtums in der Region. Auf der 5. Jahresversammlung der Bundesgruppe Posen im Jahre 1904 kam es zu einem Eklat: Der aus Berlin angereiste Propagandist Reinhold Gerling versuchte die Anwesenden zu überzeugen, dass die Arbeit für Naturheilkunde vorrangig ein Kampf gegen »jüdische Ärzte« sei, was die Anwesenden jedoch brüsk zurückwiesen.51 Insgesamt gab es in der Provinz zwölf Vereine mit folgenden Mitgliederzahlen: Posen 350, Wollstein 168, Lissa 165, Thorn 110, Gnesen 102, Bromberg 91, Inowrazlaw 79, Schneidemühl 70, Ostrowo 29, Kempen 22, Rawitsch 20 und Rogasen 17.52 Insgesamt waren somit 1.223 Personen organisiert.53 Dominierender Funktionär war seit Gründung des Vereins in Posen der Lehrer Otto Wersin (1873–1916) gewesen.54 Die Homöopa43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53
Unser Kampf (1889), S. 149 f. Vereinsnachrichten (1891), S. 87. Aus den Vereinen (1896), S. 133. Bundesnachrichten (1896), S. 128. Bundes- und Vereinsangelegenheiten (1900), S. 139. Briefkasten (1900), S. 119. Franz (1905), S. 62. Hervorhebung im Original. Franz (1905), S. 63. Aus der Naturheilbewegung (1904), S. 68. Aus der Naturheilbewegung (1904), S. 68. An den Bundesverein wurden jedoch nur 1.103 Personen gemeldet, was auf eine bisweilen lasche Beitragszahlungsmoral hindeutet, siehe Verwaltungsbericht (1906), S. 172. 54 Bundesnachrichten (1916), S. 52. Zum Selbstbild der Lehrer als »Triebkraft der Zivilisation« siehe Serrier (2005), S. 125.
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thie spielte in der Provinz Posen nur eine untergeordnete Rolle. Es existierten keine entsprechenden Laienvereine und auch keine Niederlassung der Firma Willmar Schwabe.55 Das Zentrum der polnischen Homöopathie befand sich im russischen Warschau.56 Allerdings gab es zwei bedeutende homöopathische Ärzte, die in der Provinz wirkten: Samuel Mossa (1833–1905) und Franz Mittelstaedt (1871–1954). Mossa war einer der wichtigsten Vermittler amerikanischer Studien zur Behandlung gynäkologischer und sexueller Leiden in der deutschen Homöopathie.57 Die polnischen Laienheilkundigen waren wahrscheinlich besser organisiert und an der Homöopathie interessiert.58 Die Naturheilvereine traten in vielfacher Hinsicht an die Öffentlichkeit: durch Vorträge, Auslegen der Zeitschrift Naturarzt in öffentlichen Bibliotheken und schließlich bei der triumphalen Einweihung des Prießnitzbrunnens als »schönstes Monument Posens« im Jahre 1908.59 Hier zeigte sich die traditionell gute Zusammenarbeit mit Teilen der Ärzteschaft in der Provinz, wodurch die Professionalisierung der Laien wahrscheinlich erheblich begünstigt wurde. Vermutlich verstanden sich die deutschen Ärzte und Laienheilkundigen gleichermaßen als Teil einer Schicksalsgemeinschaft inmitten einer feindlichen »slawischen Welt«. Bereits 1863 hatte ein Arzt in Stettin über den Erfolg von Hydrotherapie bei typhoiden Erkrankungen berichtet.60 In den 1890er Jahren erschien eine Reihe von heilkundlichen Hausbüchern aus der Feder von in der Provinz Posen tätigen Ärzten. Darin wurde – zugeschnitten auf das eher protestantische Publikum – die Kneippsche Heilmethode beworben61, die Hydrotherapie und Zimmergymnastik beschrieben62 sowie vor Alkoholkonsum gewarnt und Homöopathie im Kontext von Naturheilkunde und Phytotherapie empfohlen63. Auch in den klinischen Alltag fand die Hydrotherapie Eingang. So arbeitete die von August Scherer geleitete, 1905 gegründete »Kronprinzessin Cecilie-Heilstätte« bei Bromberg gezielt mit hydrotherapeutischen Therapien unter weitgehender Vermeidung von Pharmazeutika.64 Die ab 1907 120 Betten umfassende Anstalt richtete sich gezielt an Angehörige der Unterschichten mit chronischen Krankheiten.65 In Thorn existierte gar eine Vermittlungs55 Annoncen (1906), S. 144. Auch die Anhänger der Schüßlerschen »Biochemie« verfügten über keinen Verein. Die nächste entsprechende Organisation befand sich in Danzig, siehe Vereinsnachrichten (1914), S. 30. 56 Brzeziński (1996), S. 122. 57 Mossa (1873); Mossa (1883); Mossa (1897). In Stettin wirkte von 1863 bis 1909 der homöopathische Arzt Justus H. Gottlieb (1839–1915), siehe Schroers (2006), S. 67. 58 Płonka-Syroka (1997), S. 159. 59 Aus der Zeit (1908), S. 138. 60 Brand (1863). 61 Walser (1892); Großberger (1897), S. 52. 62 Scherbel (1897), S. 101, 114. 63 Thiem (1898), S. 12, 21, 30. 64 Scherer (1906), S. 13; Scherer (1911), S. 10. 65 Scherer (1915), S. 3. In dieser Anstalt waren auch die Diätassistentinnen tätig, die ein wichtiges Bindeglied zwischen Ärzten und Laien in der Vermittlung der physikalischen Therapie darstellten, siehe Thoms (2004), S. 143.
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stelle, um an physikalischen Heilmethoden interessierte Ärzte zu Fortbildungen zu verhelfen.66 Als Betätigungsfeld für Freiluftgymnastik und Schwimmen stand das »Seebad Powidzer See« in der Nähe von Gnesen zur Verfügung.67 Der einzige Luftkurort der Provinz Posen war Ludwigshöhe bei Moschin.68 Doch war dank der Bahnanbindung die »Badeanstalt Prießnitzbad« unter ärztlicher Leitung bei Strasburg in Westpreußen69 ebenso leicht zu erreichen wie die Ostseebäder bei Kolberg oder Zoppot, wo Moor- und Sandbäder, Vibrationsmassage, Wasserheilverfahren und Heilgymnastik für ein zahlungskräftiges Publikum geboten wurden70. Bäderantisemitismus existierte in Zinnowitz auf Usedom, nicht aber (vor 1914) östlich davon.71 Verkompliziert wurde das Verhältnis zwischen Ärzten und Laienheilkundigen durch einen neuen Passus in der Ärztlichen Standesordnung für die Provinz Posen im Jahre 1907: »Es ist unstatthaft, einen Vertrag einzugehen, der die Zwangsverpflichtung enthält, mit Ärzten, die sich Homöopathen, Kneipp- oder Naturärzte nennen, gemeinsam zu konsultieren bezw. zu behandeln.«72 Auf diese Weise sollten die Krankenkassen genötigt werden, keine Verträge mehr mit Naturheilkundigen abzuschließen. Stattdessen verschlechterten sich allenfalls die Verdienstmöglichkeiten für Ärzte, weil die Kassen auf ihre Mitarbeit verzichteten. Der deutsche Staat unternahm nach 1900 große Anstrengungen, um zumindest die Stadtbevölkerung – und somit die Deutschen in der Provinz – von der Überlegenheit der staatlich legitimierten Akteure auf dem Gesundheitsmarkt zu überzeugen. Die Vorgehensweise war dreigeteilt: Aufklärung, Überwachung und Ausweitung des staatlichen Engagements in der Prophylaxe. 1899 wurde ein Hygienisches Institut gegründet, das 1903 seine Arbeit aufnahm.73 1903 folgte auch die Gründung einer königlichen Akademie für Erwachsenenbildung, 1904 eröffnete ein Landesmuseum.74 Das Hygienische Institut unter Leitung Erich Wernickes (1859–1928) spielte eine zentrale Rolle in der Bekämpfung der aus dem »verlausten Polen« über das Deutsche Reich immer wieder hereinbrechenden Seuchen.75 Hierzu zählten der Ausbruch von Cholera im Jahre 1905 oder auch eine Typhusepidemie in Bromberg 1907.76 Beide Ereignisse kündeten aber eher von der Lückenhaftigkeit des Überwachungssystems als von dessen Effizienz. Daher wurden 1904 bis 1907 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76
Die Vermittlungsstelle (1914), S. 191. Heinrich Schütze (1911), S. 69. Heinrich Schütze (1911), S. 81. Verkehrsverband (1909), S. 40. Röchling (1907), S. 479. Bajohr (2003), S. 38. Duchstein (1907), S. 192. Tagesnachrichten (1902), S. 779. Rogall (1993), S. 88. Weindling (2000), S. 67; Wernicke (1905). Jaster (1906); Jaster (1907).
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Ortsgruppen der DGBG in Posen, Graudenz, Thorn und Bromberg aus der Taufe gehoben.77 Die DGBG kooperierte in Posen eng mit der DGBK, deren lokaler Repräsentant Otto Neumann in der Gesundheitsaufklärung aktiv war78 und auch für die DGBG Vorträge hielt79. Kämpferisch verkündete er: »Wahre Naturheilkunde tritt für die Verhütung ein, falsche Naturheilkunde ist es, wenn Laien Krankheiten heilen wollen.«80 Allerdings hatte die DGBG in der katholisch geprägten Provinz Posen einen schweren Stand. Der Versuch, offen über Sexualaufklärung und Geschlechtskrankheiten zu referieren, stieß von Anfang an auf Ablehnung in der Bevölkerung.81 Auch die Gründung einer Ortsgruppe des »Bundes für Mutterschutz« scheiterte.82 Aufgrund der Unmöglichkeit, mit den Einheimischen »ins Gespräch« zu kommen, setzten die Angehörigen der Medizinalbürokratie ab 1905 verstärkt auf Kontrolle. Die seit 1902 geltende Verordnung, wonach jeder nicht approbierte Heiler sich beim Kreisarzt registrieren lassen musste, erleichterte der Medizinalbürokratie die Überwachung.83 So konnte ein Posener Ärzteverein ein Jahr später bereits konstatieren, dass in seinem Bezirk 26 »Kurpfuscher« aktiv waren und sich zusätzlich drei Drogisten, vier Hebammen und drei Barbiere auf diesem Gebiet betätigten.84 Die schon frühzeitig vieler Delikte verdächtigten Hebammen durften ab 1913 keine schwangerschaftsverhütenden Mittel mehr vertreiben.85 Diese Mischung aus Aufklärung und Zwang war hauptsächlich auf die Städte und größeren Gemeinden konzentriert. Über die magisch-mystische Volksheilkunde der polnischen Landbevölkerung kursierten zahlreiche Gruselgeschichten in deutschsprachigen und des polnischen Idioms nicht mächtigen ärztlichen Kreisen: Der Teufel würde in Gestalt eines Mistkäfers auftreten, Kobolde gefährdeten die Gesundheit.86 Krankheiten würden weggebetet.87 Ein zerriebener Fötus werde als Vorbeugemittel konsumiert.88 Die katholischen Priester würden den Aberglauben noch befeuern.89 »Weise Frauen« spielten angeblich eine zentrale Rolle in der Gesundheitsversorgung.90 Viele Vorurteile kulminierten in den volkskundlichen Forschungen zu der im Osten Posens wohnenden slawischen Minderheit der Kaschuben.91 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91
Verzeichnis der Ortsgruppen (1927), S. 90; Berichte (1927), S. 93. Otto Neumann (1905); Otto Neumann (1910); Otto Neumann (1911). Ortsgruppe (1911), S. 63. Otto Neumann (1905), S. 44. Berichte (1927), S. 104; Sauerteig (1999), S. 97. Rosenthal (1912), S. 3, 8. Eine Ortsgruppe wurde 1905 gegründet, existierte aber bereits 1912 nicht mehr. Faltin (2000), S. 230. Rubensohn (1903), S. 10. Gubalke (1985), S. 105. Tetzner (1902), S. 462, 493. Knoop (1885), S. 161. Owsianny (1920), S. 32. Owsianny (1920), S. 6. Kania (1915), S. 421. Tetzner (1899), S. 87. Siehe auch Conrad (2002).
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Nur ein Autor machte deutlich, dass es vor allem die Armut war, welche die Menschen davon abhielt, einen approbierten Arzt aufzusuchen.92 Auf dem Lande erfolgte eine staatlich gelenkte Bildungspolitik erst ab etwa 1908 durch Fortbildungsschulen, womit aber nur die deutschen Bevölkerungsteile erreicht wurden.93 Den Diakonissen und Gemeindeschwestern kam hier eine wichtige Rolle in der Gesundheitsaufklärung zu.94 Es war die evangelische Organisation »Innere Mission«, die ab 1909 mit Hilfe privater Geldgeber die erste Wohn- und Bildungsstätte für körperlich behinderte Kinder und Jugendliche in Wolfshagen aufbaute.95 Auch erfolgten erste Studien über die Folgen der Landflucht für die Geburtenrate.96 All diese Anstrengungen und Gegenbewegungen kamen mit dem Kriegsausbruch 1914 zum Erliegen. Die Naturheilvereine stellten ihre Arbeit ebenso ein wie ihre Gegenspieler. 1916 starb der Organisator der lokalen Laienverbände, Otto Wersin, an einem Herzinfarkt.97 Bereits kurz nach Kriegsbeginn zeigte sich die Fragilität des preußischen Hygienesystems in der Provinz Posen. Erste Fälle von Cholera ereigneten sich.98 Kurz vor Kriegsende überwanden die Erreger den »Seuchenkordon« und erreichten Berlin.99 Die Mitarbeiter des Hygienischen Instituts befanden sich zu dieser Zeit vor allem im Generalgouvernement Warschau, um dort die Typhusepidemien zu bekämpfen.100 Als 1918/19 aus der Asche des Zarenreiches, Österreich-Ungarns und des deutschen Kaiserreiches der neue Staat Polen entstand, sah sich dieser mit dem Problem konfrontiert, dass nur im vormaligen Großherzogtum Posen eine funktionierende Schul-, Sozialversicherungs- und Gesundheitsinfrastruktur existierte.101 An Fachpersonal fehlte es schnell, denn die überwiegende Mehrheit der deutschen Wissenschaftselite verließ das Land umgehend. Zudem entließ die polnische Verwaltung zum 1. Juni 1919 alle deutschen Beamten der Provinz.102 Die Ortsgruppen der DGBG in Posen, Thorn und Bromberg lösten sich sang- und klanglos 1919 auf.103 Der Vorstand der DGBG notierte knapp: »Die politischen Verhältnisse haben die Posener Ortsgruppe zu Grabe getragen.«104 Der Anteil der deutschen Bevölkerung in der Stadt Posen sank von 38,1 Prozent im Jahre 1910 auf 5,5 Prozent im Jahre 1921 und 2,6 Prozent 1931.105 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105
Seefried-Gulgowski (1911), S. 200 f. Stöcker (2011), S. 200, 220. Blessing (2014), S. 81. Rhode (1934), S. 13. Laraß (1916), S. 30. Bundesnachrichten (1916), S. 52. Siehe zu Verlusten auch Gedenktafel (1916), S. 127; Gedenktafel (1917), S. 159. Gaffky (1914), S. 558. Tagesnachrichten (1918), S. 413. Weindling (2000), S. 97. Schulte (2006), S. 127. Rogall (1993), S. 130. Berichte (1927), S. 105. Ortsgruppe Posen (1919), S. 128. Bitner-Nowak (2006), S. 166.
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Der Anteil an der Provinzbevölkerung insgesamt belief sich nur noch auf elf Prozent.106 Den Versuchen der Reichsregierung, mittels direkter oder indirekter Subventionen eine möglichst große Zahl von Deutschen zum Bleiben zu bewegen, um so ein Faustpfand für Revisionspolitik zu erhalten, war nur begrenzter Erfolg beschieden.107 Auch verboten die polnischen Behörden zu offen revisionistisch auftretende Organisationen wie im Fall des »Deutschtumsbundes« im Jahre 1923.108 Die deutsche Minderheit war politisch uneins. Manche fanden sich mit dem Status als »deutschsprechende Polen« ab, andere wollten dies auf keinen Fall akzeptieren.109 Eine kleine lebensreformerische Gemeinde scheint sich in der Stadt Posen gehalten zu haben, wie eine Buchpublikation über indische Philosophie von 1928 nahelegt.110 Polen übernahm die deutsche Sozialgesetzgebung und Teile des Medizinalrechts. Hinsichtlich der Kurierfreiheit orientierte sich der junge Staat jedoch an Frankreich und untersagte die Laienheilkunde ausdrücklich. Ausnahmen wurden im Sommer 1921 geregelt: Die aus der zaristischen Armee übernommenen »Feldschere« sollten die niedere Chirurgie ausüben und dem Landarzt zur Hand gehen.111 Offenbar wurden auch neue »Feldschere« angeworben bzw. konnten mit heilkundlichen Basiskenntnissen ausgestattete polnische Bürger in diesen Berufszweig aufrücken. Im Landkreis Kempen (polnisch: Kępno) im Südosten des früheren Großherzogtums wurde der »Volksdeutsche« Gustav Arndt (1893–?) in den 1920er Jahren als »Feldscher« tätig.112 Dies könnte ein neues Tätigkeitsfeld für diejenigen Naturheilkundigen geworden sein, die es vorzogen, im neuen Staat Polen zu bleiben. Eine Einschränkung dieser Tätigkeit bzw. ein Verbot neuer Ausbildungen erfolgte erst 1932.113 Die genaue Anzahl der »Feldschere« ist nicht bekannt, da sie in den polnischen Statistiken der Zwischenkriegszeit als eigenständige Gruppe nicht aufscheinen.114 Das polnische Krankenversicherungssystem wies gerade bezüglich der Landbevölkerung erhebliche Lücken auf, so dass Patienten, wie zeitgenössische Kritiker anmerkten, bemüht waren, Heilkundige aufzusuchen, die preiswerter waren und nicht als Vollstrecker staatlicher Kontrolle agierten.115 Die Homöopathie blieb marginal.116 Um die Bevölkerung aufzuklären, griffen die polnischen Behörden auch zum Medium des Films, wie der 1937 aufgeführte erfolgreiche Streifen »Der Kurpfuscher« nahelegt.117 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117
Rogall (1993), S. 130. Siehe auch Messerschmidt (2006). Chu (2012), S. 58, 88 f. Chu (2012), S. 78. Lakeberg (2009), S. 86. Kujacinski (1928). Ostrowicz (1940), S. 9. AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Verzeichnis der Gesundheitsverhältnisse im Landkreis Kempen Bl. 228–230. Brzeziński (1996), S. 124. Urząd (1926); Urząd (1932); Urząd (1938). Solarz (1937), S. 19. Brzeziński (1996), S. 127. Toeplitz (1980), S. 375.
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Im weiterhin zum Deutschen Reich gehörenden Posen-Westpreußen bemühten sich die Behörden um eine Gewinnung der Einwohner für die Kompetenzen der Schulmedizin. Diese Provinz war 1922 aus den Gebieten Posens, die nicht an Polen hatten abgetreten werden müssen, gebildet worden und bestand aus den Kreisen Schlochau, Flatow und Deutsch-Krone.118 Insbesondere rund um die »Reichsgesundheitswoche« 1926 entfalteten die Ärztekammern einen Sturm an Aufklärungsvorträgen, der an der Landbevölkerung jedoch größtenteils spurlos vorüberging.119 Das Vertrauen in Hausmittel und lokale Heiler war aufgrund des Ärztemangels geradezu notwendig.120 Um diesem Missstand entgegenzuwirken, begann die Verwaltung für Maßnahmen der öffentlichen Hygiene »Desinfektoren« auszubilden und Landkrankenpflegestationen anzulegen.121 Allerdings gelang es erst Ende der 1920er Jahre, zumindest die Städte mit einer zentralen Wasserversorgung zu versehen.122 Viele Ressourcen waren zunächst für die Aufnahme der Flüchtlinge aus Posen notwendig, die aber meist nach kurzer Zeit weiterzogen und den Mangel an Fachkräften in Posen-Westpreußen nicht ausglichen.123 Die Ärztekammer sprach sich zudem gegen eine Ausweitung des Versicherungsschutzes für arme Menschen aus.124 Über die Rolle der Laienheilkundigen bemerkte rückwirkend ein Doktorand in seiner medizinischen Dissertation: »Die Tätigkeit der berufsmäßigen Laienbehandler kann statistisch stets nur ungenügend erfaßt werden, denn vielfach haben sie Ursache, ihr Tun vor den Aufsichtsbehörden geheim zu halten.«125 Offiziell waren 1927 19 Laienheiler registriert. Ihnen standen 140 Ärzte sowie 412 Krankenpfleger (187 mit staatlichem Zeugnis) gegenüber.126 Hinzu kamen etwa 35 Zahnärzte und 100 Dentisten. Eine erste Schulzahnklinik wurde 1930 in Schneidemühl eröffnet.127 Die Abgeschiedenheit der »Grenzmark« ermöglichte aber auch die Entstehung neuer Behandlungskonzepte. So entwickelte der aus Deutsch-Krone stammende und in Preußisch-Friedland arbeitende Arzt Hugo Spude (1868–1950) eine neuartige Krebstherapie unter Einsatz von Wechselstrom, wobei er sich wirkungstheoretisch an der ArndtSchulz-Regel orientierte.128 Mit Beginn der Weltwirtschaftskrise am Ende der 1920er Jahre verschärfte sich die gesundheitliche Situation, und die Vertreter der Ärztekammer er118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128
Eser/Stankowski (2004), S. 11. Moser (2002), S. 146. Moser (2002), S. 147. Wohlfahrtswesen (1927), S. 59. Sahm (1929). Bielenstein (1926), S. 6; Deutscher Ostbund (1927), S. 189; Vollbrecht (1938), S. 41. Stenographisches Protokoll der Sitzung (1928), S. 2. Vollbrecht (1938), S. 45. Vollbrecht (1938), S. 24, 41, 45. Vollbrecht (1938), S. 31 f. Spude (1934), S. 5 ff.; Spude (1939), S. 12. In den 1930er Jahren zog er nach DresdenHellerau um und kooperierte eng mit lokalen Heilpraktikern, siehe Spude/Spude (1938), S. 14.
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kannten, dass die Leistungskürzungen dazu führten, dass viele Patienten sich der »Kurpfuscherei« zuwandten.129 Als Gegenmaßnahme wurde ein engeres Zusammenwirken von niedergelassenen Ärzten, Kreisärzten und Polizei empfohlen.130 Wenig hilfreich für die Überzeugung der Menschen von der schöpferischen Kraft der Ärzte war sicher auch die schlechte Behandlung der Patienten in der Heilanstalt Meseritz-Obrawalde nach 1929.131 Auch das Vertrauen in die lokalen Krankenanstalten scheint gering ausgeprägt gewesen zu sein – Patienten mit Lupus suchten lieber die Universitätsklinik in Breslau auf.132 Die Zahl der staatlich registrierten Heilpraktiker stieg auf 25 im Jahre 1935 an – sank dann aber aufgrund von internen Säuberungen der Reichsheilpraktikerführung wieder auf 17 im Jahre 1937.133 Ab 1930 verstärkte sich sowohl in der »Grenzmark« als auch in Posen der Einfluss nationalsozialistischer Organisationen, was die polnischen Behörden mit Beunruhigung zur Kenntnis nahmen.134 Ab 1933 verschlechterte sich das Verhältnis zwischen den bis dahin relativ friedlich (und in der Ablehnung der Polen einig) nebeneinanderlebenden Deutschen und Juden in Posen.135 In den Berichten der Exil-SPD wurde entsetzt vermerkt, dass sämtliche anderen Parteien bei der deutschen Minderheit in Polen jede Bedeutung eingebüßt hatten.136 Nach Kriegsausbruch 1939 wurde die Stadt Posen bereits am 10. September von der Wehrmacht erobert und zügig eine deutsche Verwaltungsstruktur installiert.137 Am 7. Oktober 1939 trat Hitlers Erlass zur Festigung des deutschen Volkstums in Kraft, wodurch Heinrich Himmler (1900– 1945) Exekutivrechte in den eroberten Gebieten im Osten eingeräumt wurden.138 Einen Tag später wurde der Reichsgau Posen (später Reichsgau Wartheland) aus der Taufe gehoben und der Danziger Senatspräsident Arthur Greiser (1897–1946) zum Chef der Zivilverwaltung (CdZ) und Reichsstatthalter bestimmt.139 Dadurch bestand von Anfang an ein Konkurrenzverhältnis zwischen SS und Zivilverwaltung, was meiner Ansicht nach dazu führte, dass der in der schwächeren Position verharrende Greiser Möglichkeiten suchte, um Interessen Himmlers zu torpedieren. Dies könnte der Grund dafür sein, dass die CdZ-Verwaltung trotz erheblicher Lücken in der Gesundheitsversorgung die Einführung des Reichsgesetzes zur Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung sukzessive verzögerte. Das Gesetz trat im Reichsgau Wartheland
129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139
Sitzung der Aerztekammer (1931), S. 10. Informationskurs (1932), S. 10 f. Faulstich (1998), S. 94. Waldecker (1938), S. 457. Vollbrecht (1938), S. 45. Chu (2012), S. 164. Zur Haltung der NS-Bewegung gegenüber den Slawen siehe Schaller (2002). Chu (2012), S. 214. Deutschland-Berichte (1939/1980), S. 269, 819. Dingell (2003), S. 36. Gerhard Wolf (2012), S. 97. Epstein (2010), S. 136; Kranz (2010), S. 17.
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erst Ende 1943 in Kraft.140 In dem an den Reichsgau östlich angrenzenden Generalgouvernement wurde zwar 1940 eine zentrale »Gesundheitskammer« installiert, jedoch gehörten dieser neben Ärzten und Apothekern nur Dentisten und Hebammen, aber keine Heilpraktiker an.141 »Heilbehandler« waren nur für Juden vorgesehen.142 Dem Koordinator der Gesundheitskammer, Werner Kroll (gest. 1945), schien die Bekämpfung der »Scharlatanerie« auf allen Gebieten der Heilkunde zentral143 – ein solcher Ansatz war nicht geeignet, die Durchführung des Heilpraktikergesetzes zu begünstigen. Sowohl Greiser als auch Himmler entfalteten von Anfang an ein bis dahin unbekanntes Ausmaß an Brutalität. In Fortsetzung der preußischen Kulturkampfpolitik und der dem Nationalsozialismus innewohnenden Ablehnung aller selbständigen Religionsgemeinschaften ließ Himmler ab 1939 Kirchen schließen und polnische katholische Priester in Konzentrationslager deportieren.144 Greiser seinerseits beseitigte die Sozialeinrichtungen der evangelischen Kirche, übergab sie der NSV und untersagte Religionsunterricht in den staatlichen Schulen.145 Die Ermordung psychisch Kranker begann bereits 1939 im Reichsgau, die Heilanstalt Tiegenhof avancierte dabei zu einem Zentrum der »Euthanasie«.146 Greiser baute die Stadt Posen zum Verwaltungs- und Industriezentrum um und plante einen nahezu vollständigen Austausch der Bevölkerung im Reichsgau.147 Eine »Deutsche Volksliste« (DVL) legte fest, wer »deutsch« war und bleiben durfte und wer das Land verlassen musste – bis 1945 wurden etwa 1,2 Millionen Menschen deportiert.148 Um die Bevölkerungszahl zu steigern, veranlassten Himmler und Greiser, die im Rahmen des Hitler-Stalin-Pakts vereinbarte Aussiedlung deutscher Bevölkerungsteile aus dem sowjetischen Teil Osteuropas in Richtung des Warthegaus zu lenken.149 Offiziell wurde bis 1944 1 Million Menschen ins Land gebracht. Die als »geisteskrank« eingestuften Neubürger ermordete man umgehend.150 Alle Umsiedler wurden rassenbiologisch untersucht. In ihrer Betreuung spielten NSV, Reichsfrauenschaft und BDM bedeutende Rollen. Ihnen oblag insbesondere die Gesundheitsaufklärung.151 Doch u. a. auf diesem Gebiet versagten die eingesetzten Fachkräfte.152 Die Neuankömmlinge brachten bisweilen ihre eigene Heilkultur mit. So kamen aus Bessarabien »Neusiedler«, in deren Kultur der 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152
Wiedemann (1944), S. 1. Kroll (1940), S. 5. Kroll: Moral (1941), S. 173. Kroll: Gesundheitskammer (1941), S. 43. Mertens (2006), S. 276. Gürtler (1958), S. 118, 124. Rieß (1995), S. 60 f.; Schwanke (2015), S. 57, 119. Im benachbarten Gau Danzig-Westpreußen verlief die Entwicklung ähnlich, siehe Faulstich (1998), S. 249. Dingell (2003), S. 41. Schwendemann/Dietsche (2003), S. 82; Kranz (2010), S. 10, 61. Epstein (2010), S. 174; Isabel Heineman (2013), S. 43. Fiebrandt (2014), S. 338. Harvey (2003), S. 90. Harvey (2003), S. 206.
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Gebrauch von phytotherapeutischen Arzneien fest verankert war.153 Andere Bevölkerungsgruppen, wie die meist städtisch sozialisierten Deutschbalten, taten dies nicht. Denn in Estland und Lettland gab es nicht einmal naturheilkundliche deutsche Vereine.154 Als Zentrum deutscher Gelehrsamkeit wurde die Reichsuniversität Posen 1941 gegründet, nachdem das polnische Collegium Medicum 1939 verwüstet und geschlossen worden war.155 Insbesondere die medizinische Fakultät der Reichsuniversität erlangte traurige Berühmtheit als Hort des Rassenwahns und der Humanexperimente. Hierzu zählten die Anatomie unter Hermann Voss (1894–1987) sowie die Krebsforschungsinstitute, die ab 1943 aufgebaut wurden.156 In der Verwaltungszentrale Posen arbeiteten 1941 insgesamt 175 Ärzte, 47 Dentisten, 54 Hebammen, fünf Masseure und 24 Apotheken.157 Es gab eine Hebammenschule und Kurse für Krankenpflegerinnen, aber beispielsweise keine Ausbildungsmöglichkeiten in den Bereichen Massage oder Gesundheitsturnen.158 Der öffentliche Gesundheitsdienst wurde von dem Naumburger Kreisarzt Oskar Gundermann (1894–1968) aufgebaut.159 Eine zentrale Kontrolle sollte die gesundheitliche Überwachung der Neusiedler ermöglichen.160 Hierfür waren 40 Gesundheitsämter in drei Regierungsbezirken geplant, allerdings konnten nicht alle Stellen besetzt werden.161 Somit bestanden nebeneinander ein hoher Anspruch auf totale Kontrolle und erhebliche Lücken im Bereich der physikalischen Heilmethoden. Dieses Missverhältnis, verbunden mit unklaren Kompetenzen und dem Wunsch untergeordneter Behörden nach einer möglichst reibungslosen Einführung der im Deutschen Reich gültigen Bestimmungen, führte dazu, dass sich trotz Verbots bereits kurz nach dem Ende der Kampfhandlungen 1939 Heilpraktiker im Reichsgau niederließen. Hinzu kamen die Interessen der SS-Führung an der Förderung naturheilkundlicher Ansätze. So ließ der Befehlshaber des Sicherheitsdienstes der SS in Posen die Medizinalverwaltung Anfang November 1939 nebenbei wissen, dass man soeben fünf Heilpraktikern die Zulassung im Reichsgau gestattet habe: Georg Langner und Peter Marcinowski im Kreis Kolmar, Paul Müller in Graudenz, Alfred Ulkan in Thorn und Alfred Hundt in Bromberg.162 Die noch mit ihrer eigenen Etablierung beschäftigte Verwaltung des Reichsgaus nahm erst im Mai 1940 von der Existenz der »Feldschere« Kenntnis und musste sich zunächst die einschlägigen polnischen 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162
Karl Roth (2006), S. 225. Siehe hierzu auch Borza/Butura (1938). Loeber (1974), S. 440 ff. Kalisch/Voigt (1961), S. 190; Heiber (1992), S. 223; Wróblewska (2000), S. 79. Aly (1987), S. 18, 45; Moser (2008), S. 401; Moser (2011), S. 208. Statistisches Jahrbuch (1940), S. 45. Statistisches Jahrbuch (1940), S. 45. Rademacher (2000), S. 288. Vossen (2006), S. 240 f. Vossen (2008), S. 393. AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Befehlshaber SD an Medizinalverwaltung vom 2.11.1939.
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Gesetzestexte übersetzen lassen.163 Zu diesem Zeitpunkt verhandelte die DH bereits mit dem Reichsministerium des Innern über eine zügige Zulassung von Heilpraktikern im Reichsgau – ohne Greiser oder Gundermann darüber zu informieren.164 Ende August 1940 ordnete der Landrat in Litzmannstadt (d. i. Łódź) an: Sämtliche Personen, die im Bezirk des Landkreises Litzmannstadt das Heilpraktikergewerbe, ohne als Arzt bestallt zu sein, ausüben, haben bis spätestens 1.9.1940 einen Antrag auf Erteilung der Erlaubnis nach § 1 des Gesetzes beim Landratsamt in Litzmannstadt, Moltkestraße 236, persönlich abzugeben. Anträge, die nach dem 1.9.40 abgegeben werden, werden nicht mehr berücksichtigt. Ist der Antrag rechtzeitig gestellt, so darf der Antragsteller bis zur Entscheidung über derselben [sic!], die Heilkunde weiter ausüben.165
Die überrumpelte Verwaltung in Posen erfuhr hiervon nicht durch den eigenen Landrat, sondern über die DH bzw. das Reichsministerium des Innern. Der Syndikus der DH notierte: Wenn jetzt jede untere Verwaltungsbehörde Anordnungen erläßt, wie sie der Herr Landrat in Litzmannstadt erlassen hat, dann muss das bei der bisher noch bestehenden Unübersichtlichkeit der Neugestaltung zu einem Wirrwarr führen, der für die beteiligten Angehörigen des Heilpraktikerberufes, deren Belange wir als staatlich anerkannte Berufsvertretung wahrzunehmen haben, schwere Nachteile im Gefolge haben kann.166
Am 17. September 1940 vermeldete das Büro des Reichsstatthalters nach Berlin, man trage noch Berichte aus den Landkreisen über die Verbreitung der Laienheilkunde zusammen, bemühe sich jedoch, zügig eine Lösung zu erarbeiten.167 Tatsächlich gedachte man zunächst Regelungen für »Feldschere« zu treffen.168 Solange wollte der Landrat in Hohensalza nicht warten und erließ daher im Dezember 1940 eigenmächtig eine Anordnung, wonach »Feldschere« nur noch unter ärztlicher Aufsicht arbeiten dürften.169 Schließlich konnte die CdZ-Verwaltung Ende des Jahres einen Überblick über die Situation im eigenen Gau gewinnen: Demnach hatten die Lokalbehörden u. a. im Landkreis Lentschütz neun polnische und zwei jüdische Antragsteller zu Heilpraktikern gemacht und einem der jüdischen Antragsteller noch zusätzlich
163 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Reichsstatthalter an Reichsministerium des Innern vom 31.5.1940. 164 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, DH an Reichsministerium des Innern vom 22.5.1940; DH am Reichsministerium des Innern vom 11.7.1940. 165 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Auszug aus der Litzmannstädter Zeitung vom 28.8.1940. 166 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, DH an Reichsministerium des Innern vom 3.9.1940. 167 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Reichsstatthalter an Reichsministerium des Innern vom 17.9.1940. 168 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Aktenvermerk vom 19.8.1940. 169 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Anordnung des Landrats vom 5.12.1940.
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die Ausübung des Friseurhandwerks erlaubt.170 In Lissa war die Verwaltung ebenso freigiebig gewesen und hatte immerhin einem deutschen und einem jüdischen Antragsteller die Zulassung als Heilpraktiker gewährt.171 Im Stadtbereich von Posen und somit quasi in Sichtweite des Büros des Reichsstatthalters waren immerhin vier Heilpraktiker zugelassen worden.172 Im Landkreis Kalisch stellte das Gesundheitsamt zwei Antragsteller als »Gesundheitsaufseher« ein.173 In den Landkreisen Birnbaum, Gostingen, Jarotschin, Kosten, Krotoschin, Neutomischel, Obornik, Posen, Rawitsch, Samter, Schrimm, Schroda, Wollstein und Wreschen schien es keinen Bestand an Heilpraktikern oder »Feldscheren« zu geben, während in Litzmannstadt, Turek, Sieradz, Ostrowo und Wieluń einige wenige »Feldschere« tätig waren.174 Neben den Heilpraktikern waren für die jüdische Bevölkerung eigene Laienheiler vorgesehen, die sogenannten »jüdischen Krankenbehandler«. Zu diesen wurden auch aus dem »Altreich« zwangsumgesiedelte jüdische Ärzte gemacht wie jener »Dr. Erwin Korte, Facharzt für innere Krankheiten und Chirurgie, Berlin«, auf den ein in den Warthegau versetzter überraschter Verwaltungsbeamter 1941 traf.175 Diese Listen waren allerdings bereits bei der Erstellung veraltet, weil zwischenzeitlich die Ortspolizeibehörde Köslin ohne Einbeziehung des Landrates dem baltendeutschen Umsiedler Peter Julius Otto von Fircks eine Zulassung als Heilpraktiker gewährt hatte.176 Der Umsiedler Karl Richard Bazancourts hatte sich gar direkt mit einer Eingabe an Hitler gewandt, so dass zu Greisers Unbill die Regierungszentrale in Berlin vom Chaos in Posen Mitteilung erhielt.177 Um die Mangelversorgung im Bereich physikalischer Therapien auszugleichen, gestattete Greiser in einer persönlichen Anordnung einer Naturheilkundigen die Errichtung eines entsprechenden Instituts, damit sie im Gegenzug ihren Antrag auf Zulassung zur Heilpraktik zurückzog.178 Schließlich entschloss sich Greiser, die Flucht nach vorne anzutreten, und er170 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Verzeichnis des Kreises Lentschütz, Bl. 232 f. 171 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Verzeichnis des Kreises Lissa, Bl. 218. 172 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Verzeichnis Stadt Posen, Bl. 212. 173 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Verzeichnis des Kreises Kalisch, Bl. 224–226. 174 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Verzeichnisse der Landkreise, Bl. 230, 231, 234, 240, 241. 175 Hohenstein (1961), S. 159; Kater (1989), S. 205. 176 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Mitteilung der Ortspolizeibehörde vom 28.3.1940. Auch der baltendeutsche Gymnasiallehrer und Heilpädagoge Heinrich Punga wollte Heilpraktiker werden, siehe Briefwechsel Punga-Reichsstatthalter vom September 1940. 177 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Eingabe an Hitler vom 25.4.1940. 178 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Beschluss Greisers vom 9.4.1940.
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ließ am 15. Mai 1941 eine Anordnung zur Verwendung von Laien im Gesundheitsdienst: Der Gauleiter und Reichsstatthalter hat angeordnet, daß Kurpfuscher, Astrologen, Hypnotiseure, überhaupt alle Kategorien von Leuten solcher Art, die in die Arbeit der nach nationalsozialistischem Ordnungsdenken zur Betreuung berufenen fachlichen Kräfte hineinpfuschen, restlos unterdrückt und notfalls ausgetilgt werden. Zulassungen, die für derartige Berufe erfolgt sind, sind unverzüglich zurückzunehmen: Neuzulassungen finden selbstverständlich nicht statt. Darüber hinaus ist auf jeden Fall die Betätigung solcher Leute völlig zu unterbinden.179
Die unteren Verwaltungsbehörden wurden ultimativ aufgefordert, bis zum Ende des Monats über die Umsetzung der Anordnung zu berichten. Fünf Tage später untersagte der Reichsstatthalter mit sofortiger Wirkung zusätzlich die Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung.180 Als Begründung nannte er den Wunsch, die Arbeit der »Feldschere« eindämmen zu wollen – angesichts der Tatsache der völligen Vernachlässigung von Interessen der polnischen Bevölkerung, die ohnehin deportiert werden sollte, eine vorgeschobene Begründung. Aufgrund dieser Vorgaben tilgten Bürgermeister und Landräte die 1939/40 zugelassenen Heilpraktiker aus ihren Statistiken.181 Damit schien das Problem der Heilpraktik und der »Feldschere« aus Sicht Greisers und Gundermanns gelöst zu sein. Dass dem keineswegs so war, zeigte sich wenig später, als der in Köslin zugelassene Heilpraktiker Fircks nach Posen umzog.182 Ihm wurde offenbar die bereits gewährte Zulassung nicht entzogen – worauf umgehend wenige Monate später die Verwaltung der Stadt Posen beim Büro des Reichsstatthalters mit der Frage vorstellig wurde, weshalb Fircks als Heilpraktiker tätig sein dürfe, nicht aber ein weiterer Antragsteller.183 Doch Gundermanns Verwaltung sowie Greisers Büro blieben nun bei ihrer ablehnenden Haltung und verweigerten für die nächsten Jahre weitere Zulassungen. Stattdessen konzentrierten sie sich auf die Verfolgung von Heilpraktikern, denen eine Fehlbehandlung nachgewiesen wurde.184 Ein Laienheilkundiger, der sich gar an die polnische Bevölkerung mit Werbung für »Deutsche Heilkunde Kneipp« gewandt hatte, geriet ebenfalls in den Fokus der Überwachungsbehörden.185 Weitere Anträge auf Zulassung als Heilpraktiker aus den Jahren 179 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Anordnung des Reichsstatthalters vom 15.5.1941. 180 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Schnellbrief des Reichsstatthalters an die Regierungspräsidenten und Landräte vom 20.5.1941. 181 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Berichte der Regierungspräsidenten vom 28.6.1941 und 1.7.1941. 182 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Aktenvermerk vom 19.6.1941. 183 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Büro des Oberbürgermeisters an Reichsstatthalter vom 23.8.1941. 184 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Brief Diakonissen-Krankenanstalt an Gundermann vom 13.12.1941. 185 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Ärztekammer an Ordnungspolizei vom 27.9.1941.
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1942 und 1943 wurden abschlägig beschieden.186 Daraufhin intervenierte die DH wiederholt beim Reichsministerium des Innern. Greiser verteidigte sein Verhalten damit, dass die Heilpraktik in Polen vor 1939 verboten gewesen sei, es somit niemals Heilpraktiker gegeben haben könne. Doch im Oktober 1943 erklärte ein Vertreter des Reichsministeriums des Innern gegenüber der Parteikanzlei der NSDAP, dass in den »Donaugauen« das gleiche Problem vorgelegen, aber die Umsetzung des Heilpraktikergesetzes problemlos geklappt habe.187 Ende November erklärte das Reichsministerium, »daß die Einführung des Heilpraktikergesetzes im Reichsgau Wartheland unmittelbar bevorsteht«.188 Im Dezember 1943 schließlich ordnete das Reichsministerium des Innern offiziell an, dass das »Heilpraktikergesetz« ab sofort »auf die besetzten Ostgebiete ausgedehnt« wird.189 Die unter Zugzwang gesetzte Verwaltung des Reichsgaus unterbreitete dem Reichsministerium des Innern nun den Vorschlag, das Gesetz doch umzusetzen. Dies könnte damit zusammenhängen, dass seit August 1943 Heinrich Himmler als Reichsminister fungierte und somit Greiser die Möglichkeit zum Taktieren genommen worden war. Um die zum 31. März 1944 auslaufende Frist zur Anmeldung als Heilpraktiker nicht zu überschreiten, empfahl der Reichsstatthalter nun die umgehende Umsetzung.190 Man fürchte nur das Eindringen »unzuverlässiger Heilpraktiker« aus dem Reich.191 Von einer Gefahr für die Volksgesundheit durch »Feldschere« war nun nicht mehr die Rede, sie wurde nur noch als erneute Begründung für das Heilpraktikerverbot vom Mai 1941 angeführt.192 Zum Jahresende 1943/44 trat das Heilpraktikergesetz auch im Reichsgau Wartheland offiziell in Kraft. Dies implizierte die Notwendigkeit der Einrichtung eines Gutachterausschusses, der schließlich im Juli 1944 feststand. Die Leitung oblag den Juristen Walther Hess und Hans Leibrock, als Beisitzer fungierten die Ärzte Wolfgang Stintzing und Gustav Schülke (beide Posen). Regierungs- und Medizinalrat Dr. Hans Herbst sowie die Heilpraktiker Dietrich Kraemer (Breslau), Alois Krawitter (Danzig), Karl Heinz Wagner (Beuthen) und Georg Riedel (Breslau) vervollständigten das Kollegium, das vermutlich kein einziges Mal zusammentrat. Die Verwaltung im Reichsgau hatte in der Zwischenzeit mit denselben Problemen zu kämpfen wie 1939/40: Der Landrat in Wreschen erteilte groß186 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Anträge Marie Balnitzki, Melitta Hühnert und August Mantei. 187 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Reichsministerium des Innern an Parteikanzlei vom 14.10.1943. 188 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Reichsministerium des Innern, Aktenvermerk vom 22.11.1943. 189 Tagesgeschichte (1944), S. 139. 190 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Vorschlag des Reichsstatthalters o. D. (1943). 191 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Reichsstatthalter an Reichsministerium des Innern vom 10.12.1943. 192 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Reichsstatthalter an Reichsministerium des Innern vom 10.12.1943.
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zügig einer Antragstellerin im Herbst 1944 die Zulassung193, und im Landkreis Hohensalza übte ein Mann die Heilkunde im Umherziehen, vor allem aber in den Büros der Verwaltung aus194. Das Ende für den Reichsgau Wartheland kam Anfang 1945 mit der großen Offensive der Roten Armee aus den Brückenköpfen an der Weichsel, die am 12. Januar begann. Die Gauhauptstadt Posen, großspurig zur »Festung« erklärt, fiel Ende Februar. Als die neue polnische Verwaltung 1945/46 mit der Reorganisation des Gesundheitswesens begann, befand sich das Land in einer erheblich problematischeren Lage als 1918. Die Hauptstadt Warschau war bis auf die Grundmauern zerstört worden, zahlreiche weitere Städte ebenfalls. Weite Teile der Vorkriegselite waren ermordet, befanden sich im Ausland oder kehrten erst allmählich aus Straflagern und Kriegsgefangenschaft zurück. Von vormals 12.917 Ärzten (1938) waren nur noch 7.732 übrig, die Anzahl der Zahnärzte war von 3.685 auf 1.481 gefallen.195 Die Zahl der Einwohner des neuen Landes hatte sich aufgrund von Bevölkerungsverschiebungen jedoch von 24,5 auf 35 Millionen erhöht. Ihnen standen nur noch 382 und nicht mehr 632 Krankenhäuser zur Verfügung.196 Die deutschen Einwohner wurden sukzessive vertrieben und somit auch mögliche Helfer beim Neuaufbau des Gesundheitswesens. Nach einigen Jahren erkannten die Verantwortlichen, dass nur eine Mischung aus Sofortmaßnahmen und langfristiger Planung die gesundheitsbezogenen Probleme lösen konnte. Daher wurden 1950 neue Ausbildungslehrgänge für »Feldschere« angelegt, bis Ende des Jahrzehnts genügend Ärzte zur Verfügung standen.197 1969 verschwanden die »Feldschere« aus der sozialistischen Gesundheitsplanung.198 Zugleich entfaltete die Gesundheitsverwaltung einen Propagandakrieg gegen die von ihr als »gemeinschaftsschädlich« identifizierte Volksheilkunde und die alternativen Heilkulturen, worauf deren Verfechter nur noch im Verborgenen wirken konnten.199 Manch Heilmittel dieser als vorweltlich denunzierten Kulturen fand mittlerweile aber Anwendung in der modernen pharmakologischen Forschung, z. B. das »Wundkraut« aus der Posener Phytotherapie (Plantago), dem antibiotische Wirkung zugebilligt wurde.200 Durch die Industrialisierungskampagnen der 1960er Jahre verschoben sich die Grenzen zwischen Stadt und Land, wodurch viele zuvor bestehende informelle Heilstrukturen zusätzlich marginalisiert wurden. Ende der 1970er 193 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Beschwerde des Reichsstatthalters vom 23.12.1944. 194 AP Posen, Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44, Vorgang um Karl Höft vom 28.3.1944. 195 Breyer (1959), S. 2. 196 Breyer (1959), S. 12. 197 Breyer (1959), S. 16 f. 198 Weinerman (1969), S. 117 f. 199 Piątkowski (2012), S. 179. 200 Brøndegaard (1963), S. 140. Zur Tradition der phytotherapeutischen Forschung in Polen, die stets Bezüge zu alternativen Heilkulturen bestritt, siehe Magowska (2009).
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Jahre begannen polnische Medizinsoziologen die zuvor völlig ignorierten »Folk Healers« neu zu entdecken und jenseits von kommunistischer Propaganda zu erforschen.201 Es zeigte sich, dass ein Verbindungsgefüge aus überkommenen Traditionen, hilfreichen katholischen Priestern und staatlicher Unfähigkeit in der Bekämpfung von chronischen Krankheiten (z. B. Tuberkulose) den Heilern – viele von ihnen Frauen – nutzte.202 Diese Forschungen waren jedoch vor allem den Gebieten in Zentral- und Südpolen (Podhale) gewidmet. Ab 1975 unternahm der polnische Staat noch einmal große Anstrengungen, um insbesondere die heranwachsende Bevölkerung für das staatliche Gesundheitswesen einzunehmen.203 Dabei gab es innerhalb der Medizinalbürokratie längst Zweifel an der Effektivität der eigenen Maßnahmen.204 Die 1946 gegründete Gesellschaft für Anhänger der Homöopathie (Towarzystwo Zwolenników Homeopatii Rzeczypospolitej Polskiej) entfaltete zeitgleich eine zunehmende Werbetätigkeit und erweiterte ihr Spektrum um Akupunktur, Osteopathie und Irisdiagnostik.205 1982 wurde in Posen offiziell eine Abteilung der Gesellschaft gegründet.206 Wie vergeblich die Anstrengungen der Medizinalbürokratie zur Wahrung der Kontrolle waren, zeigte sich im 21. Jahrhundert.207 Mittlerweile treten die »weisen Frauen« ganz offen auf und vermengen Phytotherapie, Naturheilkunde, Amulettglauben und Gesundbeten.208 Inwiefern hier Elemente der um 1900 hochgeschätzten Hydrotherapie oder Massage hineinspielen, ist unklar und wurde bislang noch nicht erforscht. Dies würde das Selbstbild der Akteurinnen als Bewahrer und Vollstrecker einer spezifisch »polnischen« Heilkultur wahrscheinlich erschüttern und ihnen zugleich das wichtigste Argumentationsinstrument gegenüber der bis heute misstrauischen Medizinalbürokratie nehmen. In der Erinnerungskultur der deutschen Vertriebenen spielen die alternativen Heilkulturen keine Rolle.209 Denn der Gang zum Laienheilkundigen implizierte häufig das Unvermögen, einen Arzt bezahlen zu können. Dieses Eingeständnis würde die auf Verklärung abzielende Erinnerung an die »verlorene Heimat« konterkarieren.
201 Piątkowski (2012), S. 72. Zur Nichtbeachtung der »Volksmedizin« durch die polnische Soziologie in den Jahrzehnten zuvor siehe Kostrzewski (1976), S. 26; Klonowicz (1976), S. 37 f. 202 Piątkowski (2012), S. 187 f., 198 f. 203 Rudolf (1979). 204 Piątkowski (2012), S. 199. 205 Brzeziński (1996), S. 127. 206 Brzeziński (1996), S. 128. 207 Ogrodowska (2012). 208 Frank (2017). 209 Siehe zur »Literatur der verlorenen Heimat« Mazurkiewicz (1998), S. 17, 29.
Deutsches »Reichsland«, französische Provinz, nationalsozialistischer Mustergau: Elsass-Lothringen Als das im Entstehen begriffene zweite deutsche Kaiserreich die französischen Départements Oberrhein (Haut-Rhin), Niederrhein (Bas-Rhin) und Mosel (Moselle) annektierte und zum Reichsland Elsass-Lothringen zusammenfasste, gab es dort bereits eine umfängliche Medizinalkultur. Straßburg war eine der drei vom französischen Staat 1803 bestimmten Ausbildungsstätten für Ärzte (neben Paris und Montpellier).1 Von den 1820er bis in die 1840er Jahre hinein hatten französische Ärzte großen Wert auf Volksbelehrung und eine hydrotherapeutisch angelegte Hygiene gelegt.2 Dies änderte sich mit der Rezeption der Lehren von Vincenz Prießnitz in den späten 1830er Jahren. In Reaktion auf diese Forschungen verwarf die »Académie de médecine« in Paris die hydrotherapeutische Richtung und in ihrem Kontext auch die Homöopathie als Produkte eines laienhaften Denkens.3 Um den Einfluss der seit 1803 untersagten Laienheilkundigen zurückzudrängen4, wurde 1833 im Elsass ein System an Kantonalärzten zur öffentlichen Gesundheitskontrolle eingeführt, das nach 1840 in ganz Frankreich Verwendung finden sollte5. 1842 wurde in Straßburg eine Ausbildungsstätte für Hebammen eingerichtet6, 1856 folgte eine Akademie für angehende Apotheker7. 1851 wurde für das Elsass erstmals eine öffentliche Lebensmittelkontrolle eingeführt.8 Im zweiten französischen Kaiserreich lagen die Départements jedoch an der Peripherie, und auch Straßburg verlor seinen Rang als Zentrum der medizinischen Forschung. Die Laienheilkunde konnte sich wieder etablieren.9 Die Zweiteilung der Medizinalkultur in Anhänger und Gegner der Schulmedizin vollzog sich entlang der Grenze zwischen Unterstützung und Ablehnung des Einflusses der katholischen Kirche in Frankreich. Während die naturwissenschaftliche Forschung seit den 1840er Jahren an Bedeutung gewann, hielten die katholischen Organisationen den Glauben an den Vitalismus am Leben. Dies wurde durch die Wunderereignisse in La Salette (1846) und Lourdes (1858) begünstigt.10 Überzeugte Katholiken konnten sich eher für die Homöopathie und eine wirkmächtige Lebenskraft implizierende Naturheilweise begeistern als Anhänger der sich entfaltenden klinischen Medizin.11 So hätte die neue deutsche Ver1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Bauberot (2013), S. 128. LaBerge (1984), S. 368; Weisz (1990), S. 397. Bauberot (2004), S. 61–80; Bauberot (2013), S. 133. Nye (1995), S. 95. Hildreth (1987), S. 19; Faure (1993), S. 151. Hermann Freund (1889), S. 314. Pfersdorff (1889), S. 299. Amthor (1889), S. 191. Sussman (1977), S. 581. Caron (1991), S. 110; Bauberot (2013), S. 136. Zu den Implikationen von Lourdes für medizinische, insbesondere psychosomatische Zusammenhänge siehe Harrington (2008), S. 105 ff.; François/Sternberg/Fee (2014). 11 Faure (1996), S. 52.
168 Deutsches »Reichsland«, französische Provinz, nationalsozialistischer Mustergau waltung 1871 perfekte Bedingungen vorgefunden, um die französischsprachige ärztliche Elite für das Reich zu interessieren und eine Ausbreitung der Laienheilkunde zu unterbinden. Doch die neuen deutschen Behörden und die Organisatoren der »Burg der Weisheit am Rhein«, der Universität Straßburg, fanden nicht den richtigen Ton, um die lokalen Eliten für sich einzunehmen.12 Die »Medicinalpfuscherei« in Form der Kurierfreiheit wurde aufgrund eines behördlichen Erlasses zum 15. Juli 1872 genehmigt.13 Die 1842 gegründete »Société de médecine de Strasbourg« verweigerte die Kooperation, worauf 1874 der »Ärztlich-Hygienische Verein« gegründet wurde – die Société löste sich 1888 selbst auf und vermachte ihr Vermögen dem Bürgerspital im französisch geprägten Colmar und nicht der Straßburger Universitätsklinik.14 In Straßburg erschien in französischer Sprache inklusive der Werbeanzeigen für französische Arzneien weiterhin die Gazette médicale de Strasbourg.15 Das schlechte Verhältnis zwischen alten und neuen Eliten wurde auch dadurch angeheizt, dass die deutsche Verwaltung sich als unfähig erwies, eine klare Linie in der Gesundheitspolitik zu vertreten. Anstatt geltende und neue, im Reichstag beschlossene Gesetze umzusetzen, existierte in Elsass-Lothringen über Jahrzehnte eine Art Parallelgesetzgebung, wofür vor allem der aus Stettin nach Straßburg versetzte Ministerialrat und Arzt Hermann Wasserfuhr (1823– 1897) verantwortlich war.16 Das französische System der Kantonalärzte blieb bis 1890 unverändert in Verwendung und wurde erst allmählich durch das preußische Kreisarztsystem ergänzt, jedoch nie völlig ersetzt. Eine Gewerbehygiene erfolgte erst ab 1905. Bis 1877 herrschte Niederlassungsfreiheit für Apotheker, doch ein allgemeingültiges Gesetz über Errichtung und Betrieb von Apotheken trat erst 1903 in Kraft.17 Eine einheitliche Arzneitaxe existierte nicht.18 Laienheilkundige konnten immer wieder Rezepte ausstellen, und ihre Patienten erhielten verschreibungspflichtige Arzneien.19 Die Reichsgewerbeordnung fand auf Hebammen im Reichsland 1889 Anwendung20, die Hebammenausbildung nach französischem Vorbild wurde schließlich 1911 den Bestimmungen in Preußen angepasst21. Wasserfuhrs Nachfolger Joseph Krieger (1837–1914, im Amt 1884–1903), Philipp Biedert (1847–1916, im Amt 1903–1907) und Karl Pawolleck (1844–1913, im Amt 1907–1913) konnten sich nicht gegenüber den lokalen Eliten behaupten und führten im Deutschen Reich geltende Bestimmungen nur verspätet ein. Eigeninitiative nutzten sie kaum, obwohl ihnen dies möglich war, wie ein zeitgenössischer Beobachter anmerkte: »Für das Heilgewerbe ist die reichsgesetzli12 13 14 15 16 17 18 19 20 21
Roscher (2006), S. 83. Seydel (1881), S. 574; Strohl (1889), S. 283. Fleurent (1914), S. 41. Médicaments Approuvés (1895). Schaeche (1937), S. 331. Schaeche (1937), S. 328. S. (1888), S. 285. Pfuscher-Rezepte (1888), S. 639. Mosser (1914), S. 90. Hermann Freund (1911), S. 270; Schaeche (1937), S. 330.
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che Regelung nur eine fragmentarische, so daß also die Landesgesetzgebung befugt ist, über dieselben beliebige Bestimmungen zu treffen, sofern letztere nur nicht diejenigen Punkte berühren, welche durch die Gewerbeordnung normiert sind.«22 Die niedergelassenen Ärzte waren erst ab 1910 angehalten, ansteckende Krankheiten zu melden23 – weshalb die Aussagekraft der Mitteilungen der Medizinalverwaltung über die Verbreitung von Infektionskrankheiten bis zu diesem Zeitpunkt eher gering war. Bereits 1881 kritisierte ein Arzt, die Statistik der Medizinalverwaltung über die geringe Verbreitung von Typhus und Scharlach sei vermutlich nur deshalb so gut, weil die Gemeindeärzte von den Krankheitsfällen unter der armen Bevölkerung gar keine Kenntnis erlangten, da die Betroffenen nicht zum Arzt, sondern sogleich ins Krankenhaus gingen.24 Im Falle von Epidemien stünden die Ärzte zwar bereit, Impfungen zu verabreichen, jedoch mache die Bevölkerung davon nur »beschränkt Gebrauch«.25 1904 bemerkte ein Arzt, ihm schlüge »ein Heer von Vorurteilen« entgegen, sobald er Säuglingshygiene propagiere.26 Erst 1913 wurde mit Alfons Holtzmann (1873–1946) ein Einheimischer an die Spitze der Medizinalverwaltung berufen. Er blieb auch nach 1918 im Amt. Das katholisch geprägte Land war seit den 1870er Jahren den Stürmen des Kulturkampfes ausgesetzt, wodurch das Vertrauen der Bevölkerung in die Verwaltung zusätzlich untergraben wurde.27 In diesem Zusammenhang erscheint es eventuell sinnvoll, auf die Situation in Frankreich zu verweisen. Auch dort führte die Regierung einen ideologischen Feldzug zur Zurückdrängung des Einflusses der katholischen Kirche. Hierzu zählten Gesundheitskampagnen, wodurch eine Rezeption naturheilkundlicher Ansätze, die vitalistische Theorien enthielten (Homöopathie, Kneipp-Kur etc.), in Ärztekreisen faktisch unterbunden wurde.28 Das Interesse der Bevölkerung offenbarte sich jedoch am Erfolg der Übersetzung des Werkes »Das neue Naturheilverfahren« von Bilz, die 1898 erschien.29 Zugleich entfaltete sich ein Postversandsystem, mit dessen Hilfe interessierte Patienten sich Hausbücher und Arzneien zuschicken lassen konnten und so unter Umgehung der Ärzte Selbstmedikation ausübten.30 Im Reichsland hatten politische Organisationen, die als »reichsdeutsch« auftraten, einen schweren Stand. Dies betraf auch die Arbeiterschaft, die sich 22 23 24 25 26 27 28 29 30
Seydel (1881), S. 681. Schaeche (1937), S. 332. Krieger (1881), S. 9. Dietrich (1881), S. 112. Würtz (1904), S. 235. Rehm (1991), S. 36. Bauberot (2013), S. 131. Bauberot (2013), S. 136. Bauberot (2013), S. 136. Das System des Postversands von heilkundlichen Informationen und Arzneien wurde in Deutschland frühzeitig von den Anhängern der Homöopathie genutzt, siehe Phillipp (2003), S. 125.
170 Deutsches »Reichsland«, französische Provinz, nationalsozialistischer Mustergau mehrheitlich der SPD verschloss.31 Die größtenteils aus dem Deutschen Reich zugewanderten Ärzte konnten vermutlich ebenfalls nicht auf das uneingeschränkte Vertrauen der Bevölkerung setzen. Ganz anders sah die Situation bei den einheimischen Naturheilkundigen aus. 1896 gründete sich in Mühlhausen ein Verein für Naturheilkunde, dem sogleich 27 Mitglieder »aus allen Schichten der Bevölkerung« beitraten.32 Ein Jahr später waren bereits 86 Personen aktiv.33 Der Verein entfaltete eine rege Propagandatätigkeit und lud hierzu Redner aus dem Reich ein.34 Bis 1909 folgten weitere Vereinsgründungen in Thann und Gebweiler. Letztere Gründung war insofern bemerkenswert, da die Stadtgemeinde Gebweiler seit den 1880er Jahren große Anstrengungen zur Verbesserung der hygienischen Situation durch Anlage einer Kanalisation und Sanierung von Wohnhäusern unternommen hatte, um so das Vertrauen der Bevölkerung in die öffentliche Gesundheitsverwaltung zu stärken.35 Die Vereine legten Licht-Luftbäder an und gestatteten armen Kranken den kostenlosen Besuch36 – während die Ärztevereine dergleichen ablehnten und sich gegen die Krankenkassen positionierten37. Naturheilkundliche Behandlungserfolge mittels Diätetik wurden von den Laien umgehend beworben.38 Alle Organisationen waren korporativ dem »Deutschen Bund der Vereine für naturgemäße Heil- und Lebensweise« in seinem Lokalverbund Oberrhein angeschlossen.39 Den Erfolg begünstigten katastrophale Versäumnisse der Medizinalbürokratie. Obwohl 1906 eine Studie die miserable Situation weiter Teile der Wohnbezirke in Metz offenbart hatte40, wurde die Medizinalverwaltung vom Ausbruch einer Pockenepidemie 1907 völlig überrascht41. Ein ärztlicher Kritiker notierte: »Es ist eine durch nichts zu beschönigende Tatsache, dass in einer Stadt mit wohl durchgeimpfter Bevölkerung, in der das Impfgesetz mit aller Strenge gehandhabt wird, trotz Impfung und Wiederimpfung eine ernste Pocken-Epidemie ausbrach.«42 Der Ärztlich-Hygienische Verein von Elsass-Lothringen zeigte sich bestürzt über die Verhältnisse, insbesondere in den Krankenhäusern43 – und eröffnete mit der Medizinalverwaltung einen Feldzug gegen »Geheimmittel«44, wodurch man offenbar bemüht war, die Tatsache zu verschleiern, dass die 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
Soell (1963), S. 148 f.; Hiery (1986), S. 261. Aus den Vereinen (1896), S. 58. Aus den Vereinen (1897), S. 88. Aus den Vereinen (1897), S. 88. Dreyfus (1929), S. 30 f. Aus der Zeit (1909), S. 157; Aus unseren Sektionen (1936), S. 186. J. Müller (1911), S. 264. M. (1908), S. 107. Aus der Zeit (1910), S. 219. Weil (1906), S. 40, 51. Aus der Zeit (1907), S. 21. Die Pocken (1907), S. 137. Die Metzer Spitalverhältnisse (1908), S. 213. Biedert/Weigand (1907), S. 3; Apotheker- und Drogistenwesen (1908), S. 87.
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Ursache für die Pockenepidemie auch darin begründet sein könnte, dass viele Ärzte (und Vereinsmitglieder) von der aseptischen Durchführung der Impfung nicht die geringste Ahnung hatten45. Denn die Zahl der »Geheimmittel«, die in Elsass-Lothringen in Umlauf gebracht wurden, war im Vergleich zum übrigen Deutschen Reich gering. Am bekanntesten waren »Coronad« aus Mühlhausen (bestehend aus Kakao, Bananen, Getreide, Eiweiß sowie Salzen) und der »Wolferstädter Lebenswecker« aus Straßburg, der sich aus Aloe 2 %, Rhabarber 4 %, Lärchenschwamm 7 %, Myrten 4 %, Angelikawurzel 10 %, Enzianwurzel 4 %, Zitwerwurzel 8 %, Kalmuswurzel 6 %, Safran 1 %, Kümmel 12 %, Fenchel 12 %, Schlangenwurzel 4 %, Baldrianwurzel 2 %, Meerzwiebel 2 %, Chinesischer Zimt 2 %, Kardamomen 1 %, Myrrhe 1 %, Honig 7 %, Xereswein 6 %, Branntwein 500 %
zusammensetzte.46 Die Medizinalverwaltung war erstmals 1904 auf einen heilkundlich an Kneipp orientierten Pfarrer aufmerksam geworden.47 Allerdings gab es bereits einen anderen, von der Medizinalverwaltung nicht beachteten Priester, der ebenfalls heilkundlich tätig war: Johann Baptist Ellerbach (1850– 1924) betrieb seit 1895 im Schloss Sonnenberg bei Carspach eine als Aktiengesellschaft geführte »Kneipp’sche Heilanstalt«. Da dies ein offiziell angemeldeter (steuerzahlender) Betrieb war, spielte er in den Planungen der »Kurpfuscherei« verfolgenden Ärzte keine Rolle. Auch die Zahl von 24 naturwissenschaftlich-medizinischen Vereinen im Reichsland konnte nicht über die Zerstrittenheit der Ärzteschaft hinwegtäuschen.48 Denn in der Haltung zu den natürlichen Heilweisen waren sich die Mediziner keineswegs einig. Es gab nicht wenige Ärzte, die den Vorgaben der Naturheilkundigen zu Diätetik und Therapie durchaus nahestanden, wie sich an der Zustimmung zur Solbadbehandlung ablesen lässt.49 Daneben organisierten sich die Gegner jeder Annäherung an Laien in Ortsvereinen der wirkmächtigen DGBG.50 Im Reichsland gab es DGBG-Ortsgruppen seit 1904 in Metz und seit 1907 in Straßburg.51 Der Aktionsrahmen war allerdings eng gesteckt. So durften zwar Aufklärungsvorträge gehalten werden, aber bereits die Abgabe von Kondomen und desinfizierender Salbe an Prostituierte bedurfte einer Sondererlaubnis des Metzer Polizeipräsidiums und wurde nur einem einzigen Arzt gewährt.52 Im elsässischen Hinterland gab es seit den 1870er Jahren einzelne hydrotherapeutische Anstalten (Hangenbieten, Ernstein, Sufflenheim), deren Ursprünge aber weiter zurück lagen. 1901 war in Straßburg eine moderne Heil45 S. Levy (1908), S. 153. 46 Arends (1924), S. 107, 553. Die Prozentangaben im Zitat beziehen sich auf die Inhalte der einzelnen Bestandteile in einer auf 100 ml oder 1 l angenommenen Gesamtmenge, d. h. im Falle einer Flüssigkeit im Umfang von 100 ml wären 2 ml Aloe, 4 ml Rhabarber etc. sowie 500 ml Branntwein enthalten, von denen dann 100 ml abgefüllt würden. 47 Biedert (1904), S. 40. 48 Zu Zahlen und Vereinen siehe Pawolleck/Holtzmann (1911), S. 47, 53, 59. 49 Mumpf (1908), S. 110. 50 Zur DGBG siehe Sauerteig (1999). 51 Verzeichnis der Ortsgruppen (1927), S. 90. 52 Kafeman (1914), S. 171.
172 Deutsches »Reichsland«, französische Provinz, nationalsozialistischer Mustergau anstalt für »Elektro- und Hydrotherapie« in Betrieb gegangen.53 Hier fanden therapeutische Maßnahmen einen Platz, die einige Jahre zuvor noch von vielen Ärzten abgelehnt worden waren. So berichtete der zuständige Badearzt Ernst Krencker stolz: »Die erschlafften Muskelfasern der weiblichen Genitalien werden durch Erschütterung, Sitz- und Kreuzbeinbiegen gekräftigt und gestärkt (Thure-Brandt).«54 Allerdings sollte eine solche Behandlung allein durch approbierte Mediziner erfolgen, weshalb die ärztlichen Vereine im Reichsland Elsass-Lothringen nach der Schaffung einer eigenen Ärztekammer im »Pockenjahr« 1907 eine Kooperation mit der DGBK eingingen.55 In einem Rechtsstreit siegte die Verwaltung 1909 gegen Laienvereine und Zeitungsredakteure und erzwang die Durchsetzung des Verbots von Annoncen nicht approbierter Akteure.56 An natürlichen Heilmethoden interessierte Ärzte wirkten ihrerseits aufklärend gegen die Laienheilkundigen, wobei man nicht zwischen »Schlofern« (Vertretern der Volksmedizin, die aus einem Kleidungsstück des Kranken die Diagnose ableiteten) und modernen Behandlungsmethoden aufgeschlossen gegenüberstehenden Naturheilkundigen unterschied.57 Am bekanntesten war der in Colmar tätige Kinderarzt Paul Sittler (1880–1942), der in »Briefen an einen gebildeten Laien« gegen künstliche Säuglingsnahrung agitierte und für »Luft, Licht und Körperbewegungen« als Bestandteil einer gesunden Erziehung warb.58 Dabei empfahl er stets Zurückhaltung und positionierte sich gegen die »Kaltwasserfanatiker«.59 Als Behandlungsort für Kranke und Weiterbildungsstätte für Ärzte fungierte das 1911 neueröffnete städtische Medizinalbad in Straßburg.60 Die an Hydrotherapie und Diätetik interessierten Ärzte standen auch dem 1910 vorgestellten Medikament Salvarsan mindestens so ablehnend gegenüber wie die Naturheiler. Ein niedergelassener Arzt bestritt schon kurz nach der Markteinführung die Effektivität des Salvarsans.61 Insbesondere aber die dermatologische Universitätsklinik in Straßburg war ein Hort der Salvarsangegner. Die angebliche Harmlosigkeit des Medikaments wurde bestritten62, und es war ein Assistenzarzt dieser Klinik, der 1913 in einer Zusammenstellung mehr als 200 Todesfälle benannte und mit dieser Studie den Diskurs über die Gefährlichkeit des Salvarsans auf Jahre hinaus mitbestimmte63. Auch stand man den Tierversuchen zur Ermittlung des Heiler-
53 Heilanstalten (1901), S. IV. 54 Krencker (1912), S. 311. Zur Thure-Brandt-Massage und ihrer Geschichte siehe Mildenberger (2007). 55 Belin (1912), S. 5. 56 Belin (1912), S. 7. 57 Mosser (1912), S. 19 f. 58 Sittler (1911), S. 13. 59 Sittler (1911), S. 65. 60 Krencker (1911), S. 130. 61 Pollack (1910). Siehe auch Krol (1913). 62 Obermiller (1913), S. 7. 63 Mentberger (1913). Siehe hierzu Mildenberger (2012/13).
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folgs kritisch gegenüber.64 Zeitweise wurde der Einsatz des Medikaments an den Universitätskliniken ausgesetzt.65 Dieser Streit wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 unterbrochen. Die 1.403 offiziellen »Medizinalpersonen« (906 Humanmediziner, 80 Zahnärzte, 166 Veterinäre und 251 Apotheker) sahen sich mit der Situation konfrontiert, dass das Reichsland bereits kurz nach Kriegsbeginn zum Schlachtfeld wurde.66 Unter dem Druck der Ressourcenverknappung und dem Zwang zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung vollstreckten Ärzte nun konsequent den Impfzwang, auch wenn mancher von ihnen die Nebenwirkungen und die ungewisse Wirkung nicht in Zweifel zog.67 Politisch als unzuverlässig eingestufte Elsässer wurden verhaftet und beispielsweise im oberbayerischen Traunstein interniert.68 Das Generalkommando untersagte kurz nach Kriegsbeginn die Behandlung von Geschlechtskrankheiten durch nicht approbierte Heilkundige sowie den Vertrieb von empfängnisverhütenden Mitteln.69 Die Arbeit der naturheilkundlichen Vereine kam zum Erliegen, da die männlichen Mitglieder zu den Waffen gerufen worden waren – und reihenweise auf dem »Feld der Ehre« fielen. So verlor der Naturheilverein in Mühlhausen 1915/16 mindestens neun Mitglieder.70 Manche naturheilkundliche Behandlungsweise fand Eingang in die Arbeit in den Lazaretten, z. B. der »feuchte Wundverband«.71 Die Kneipp’sche Heilanstalt in Sonnenberg wurde 1915 bei einem Bombenangriff zerstört. Das Kriegsende 1918 bedeutete in vielfacher Hinsicht eine Zäsur. Die zuvor in relativer Unabhängigkeit agierenden Laienheilkundigen sahen sich mit der neuen alten französischen Gesetzgebung konfrontiert, und die meisten zugewanderten deutschen Ärzte (inklusive der Anhänger der Hydrotherapie) verließen das Land. Die in der »Kurpfuschereibekämpfung« engagierten Zweigvereine der DGBG in Metz und Straßburg lösten sich auf.72 Doch auch die neue französische Medizinalverwaltung begann mit einem Fehlstart: Den Ankündigungen zum Triumph über die »Spanische Grippe« folgte umgehend das totale Versagen auf diesem Gebiet.73 Es dauerte einige Jahre, bis sich die versprengten Anhänger der Naturheilkunde neu formierten. 1921 erschien erstmals die Zeitschrift L’Hygiène naturelle. 1922 trat das französische Ärztegesetz auch in den Départements Bas-Rhin, Moselle und Haut-Rhin wieder vollständig in Kraft, allerdings gestatteten die lokalen Behörden Ausnahmen und gewährten einigen Heilkundigen Bestandsschutz. Zu diesen zählten Adolf Senetz (1873–1947) in Guebwiller, Ernst Kienzler in Mulhouse und Anton
64 65 66 67 68 69 70 71 72 73
Mulzer (1912). Durocher (1915), S. 13. Statistisches. Medizinalpersonen (1911), S. 40; Caron (1991), S. 591. Meyerstein (1915), S. 131. Jahr (2006), S. 238. Abgabe (1915), S. 242. Gedenktafel (1915), S. 32, 92, 158; Gedenktafel (1916), S. 15, 68, 127. Strünckmann (1915), S. 8. Berichte (1927), S. 103, 105. Hildreth (1991).
174 Deutsches »Reichsland«, französische Provinz, nationalsozialistischer Mustergau Kienzler in Colmar.74 Im Mai 1924 gründeten 19 Akteure die »Société Hygiène Naturelle Sélestat« als ersten neuen naturheilkundlichen Verein.75 Begünstigt wurde dies durch die wirkmächtige Propaganda des französischen Arztes Paul Carton (1875–1947), der quer durch Frankreich auf Vortragsreisen eine Hinwendung zum Vegetarismus und zu einer gesunden Lebensweise beschwor und gegen die naturwissenschaftliche Schulmedizin wetterte.76 Dies war verbunden mit einer Kritik an der von der politischen Linken geforderten Sexualreform (Abtreibungsfrage, Prostitution etc.) und der Debatte um die Thesen des von Eugen Steinach beeinflussten Arztes Serge Voronoff (1866– 1951).77 Dieser behauptete, durch die Transplantation von Hoden/Ovarien die Geschlechtergrenzen überwinden zu können.78 Seine wirkmächtige Propaganda veranlasste alle auf »Natürlichkeit« oder »natürliche Heilweisen« beharrenden Organisationen, eine Gegenposition einzunehmen und sich mit den politisch Konservativen zu verbünden.79 Gleichwohl unterlagen die weiterhin bestehenden Vereine einer stärkeren Kontrolle durch die Behörden, die sich vielfach unwillig bezüglich einer Kooperation mit Organisationen zeigten, die ganz offensichtlich Produkte der deutschen Herrschaftszeit waren. Der Naturheilverein in Thann musste ohne Unterstützung aus öffentlichen Fonds sein Vereinsheim, das 1918 zerstört worden war, wiedererrichten, was sich bis 1930 hinzog.80 Die Verwirklichung einer Wald- und Freiluftschule in Guebwiller, vom lokalen Naturheilverein seit 1910 geplant, konnte erst 1925 verwirklicht werden, als sich auch die lokalen Schulärzte für das Projekt erwärmten.81 Alle Vereine bildeten gemeinsam die »Union des Sociétés d’Hygiène naturelle d’Alsace et de Lorraine« und luden im Rahmen von Vereinsaktivitäten Forscher aus Deutschland ein.82 Darüber hinaus suchten sie offenbar eine Synthese aus überkommener Volksmedizin und moderner Naturheilkunde, indem sie z. B. die Kräutermedizin von »Pfarrer Künzle« bewarben und zugleich heimische Heilpflanzen und ihre pharmakologischen Wirkungen präsentierten.83 Stets betonte man die eigene Rolle im Rahmen einer größeren nationalen präventiven Medizin.84 Die Vereine blieben von den Verwerfungen der Weltwirtschaftskrise nicht verschont. So schrumpfte der Natur74 AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, 18.7.1941, Aktennotiz zu Anträgen auf Erteilung der Heilpraktikererlaubnis. Für die Zeit der französischen Herrschaft werden die französischen Ortsnamen verwendet. 75 10jähriges Stiftungsfest (1934), S. 73. »Sélestat« ist der französische Name von Schlettstadt. 76 Ouedraogo (2001), S. 227. In späteren Jahren sollte Carton sich gegen die Lebensreform wenden und einseitig eine katholische Lebensauffassung bewerben. 77 Sonn (2010), S. 124 f. 78 Berliner (2004), S. 310. 79 Berliner (2004), S. 318 f. 80 Aus unseren Vereinen (1930), S. 21. 81 Bericht über den Betrieb (1930), S. 116. 82 Fischer-Wasels (1930); Winkler (1930); Zenker (1930); Haustein (1933). 83 Das Jubiläum (1930); Estermann (1930); Fühner (1930). 84 Le Médecine (1930), S. 123.
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heilverein in Guebwiller von 225 Mitgliedern im Jahre 1930 auf 186 zwei Jahre später.85 Die bis zur Ausgabe Nr. 9 von 1931 mit indischen Glückssymbolen verzierten Deckblätter der L’Hygiène naturelle erhielten ein neutrales Blumenmuster als Dekor. Nach Überwindung der Wirtschaftskrise erholten sich die Mitgliederzahlen. So umfasste die »Société Hygiène Naturelle Sélestat« 1934 bereits 300 Mitglieder.86 Zur Eröffnung des »Kurgartens« des 1927 gegründeten Straßburger Naturheilvereins »Ligue de Santé et de Culture humaine La Famille« erschienen im August desselben Jahres 500 Familien mit mehr als 2.000 Angehörigen.87 Der Straßburger Verein präsentierte zugleich ein ambitioniertes Vortragsprogramm und verkündete die Einrichtung einer naturheilkundlichen Leihbibliothek.88 Infolge der Machtübernahme in Deutschland durch die Nationalsozialisten kam es 1934 innerhalb der »Union« zu einer programmatischen Debatte über die eigenen Ziele. Unter Federführung des Straßburger Vereinsvorsitzenden Robert Ganghoffer sollte eine Umbenennung aller Vereine erfolgen, wobei »Naturheilkunde« durch »naturgemäße Lebensweise« ersetzt werden sollte.89 Ganghoffer betonte: Wir sind keine Naturheilvereine, denn heilen tun wir nicht. Wir belehren lediglich unsere Mitglieder über Wesen und Wirkungen aller durch Sonne, Licht, Luft, Wasser, Ernährung, Wohnung, Arbeit, Erholung und Ruhe auf den Menschen einwirkenden Lebens- und Heilkräfte der Umwelt und über die sich daraus ergebenden Grundsätze und Ziele ein [sic!] den Naturgesetzen und der Eigengesetzlichkeit des Lebens folgenden persönlichen und sozialen Lebensgestaltung.90
Doch konnte sich der Straßburger Verein (noch) nicht durchsetzen. Allerdings veränderte sich die Auswahl der Gastautoren »aus dem Reich« zugunsten dezidiert nationalistischer Akteure (Brauchle, Pudor, Wachtelborn).91 1935 begann sich die positive Orientierung an der Entwicklung im Deutschen Reich sowie den Positionen Ganghoffers abzuzeichnen. Die Leitung der »Union« beschloss die Gründung einer inoffiziellen linksrheinischen »Reichsarbeitsgemeinschaft Neue Deutsche Heilkunde« durch die Entscheidung für eine enge Kooperation mit dem »Centre homéopathique« im Elsass bei gleichzeitiger engagierter Bekämpfung von »Kurpfuscherei und Geheimmittelschwindel«.92 Robert Ganghoffer verkündete den weiteren Ausbau der 85 86 87 88 89 90 91
Aus unseren Vereinen (1930), S. 18; Aus unseren Vereinen (1931), S. 21. 10jähriges Stiftungsfest (1934), S. 73. Eröffnung (1934), S. 85. Aus unseren Vereinen (1934), S. 141. Aus unseren Vereinen (1934), S. 31. Ganghoffer (1934), S. 45. Brauchle (1934); Pudor (1934); Wachtelborn (1934). Anzumerken bliebe, dass die Schriften Wachtelborns 1940 trotz der Anpassungsbemühungen des Autors auf die »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« gesetzt wurden, siehe Jahresliste (1940), S. 18. 92 Aus unseren Sektionen (1935), S. 378. Die Zusammenführung der alternativen Heilweisen zu einer größeren Gemeinschaft wurde in diesen Jahren auch in Frankreich angedacht, siehe Gaubert Saint-Martial (1935).
176 Deutsches »Reichsland«, französische Provinz, nationalsozialistischer Mustergau Volksaufklärung93 und verlangte von seinen Kollegen insbesondere eine stärkere Förderung der erkrankten Angehörigen sozial benachteiligter Schichten94. Ganghoffers Parteigänger Kienzler aus Mulhouse berichtete begeistert von seiner Teilnahme an der »Tagung der deutschen Volksheilkunde« in Nürnberg und empfahl die umfassende Selbstreinigung der eigenen Reihen sowie den Verzicht auf die Kurierfreiheit: »Alle Heilpraktiker müssen sich einem gründlichen Studium und Examen unterwerfen.«95 1936 verfestigte sich dieser Kurs: Die Wunderheilung als solche erfuhr vehemente Kritik96, die »Naturheilmethode« wurde als Verschmelzung von Humoral- und Zellularpathologie vorgestellt97 und zugleich die Synthese aller alternativen Heilkulturen zum Wohle der »Volksgesundheit« beschworen98. Zugleich schien sich aber das Verhältnis zwischen den französischen Behörden und den aus deutscher Zeit übriggebliebenen Vereinen zu entspannen. So erschienen zum 40-jährigen Stiftungsfest des Vereins in Mulhouse sowohl Vertreter des Präfekten als auch der Stadtverwaltung.99 1937 kristallisierte sich endgültig die Zweiteilung der Vereinsarbeit heraus: einerseits Volksaufklärung, andererseits Betätigung als Naturheilkundige. Die Vereine in Strasbourg, Mulhouse, Colmar, Thann und Sélestat waren angehalten, möglichst viele Volksaufklärungsvorträge anzubieten.100 Auf der Jahrestagung der »Union« wurde die Ausweitung der Integration von Homöopathie in die eigene Arbeit beschlossen, und umgekehrt sicherte die homöopathische Straßburger Ärztin Anna Jacob die Anwendung der Hydrotherapie in der eigenen Arbeit zu.101 1938 schließlich ließen die Protagonisten der »Union« jede Tarnung fallen und erklärten sich zur »Gesinnungsgemeinschaft« für den Aufbau der »Kultur unseres Volkes«.102 Allerdings waren wohl nicht alle Mitglieder mit diesem Konfrontationskurs einverstanden. So beklagte der Verein in Mulhouse die gestiegene Zahl an Austritten auch langjähriger Mitglieder.103 Die naturheilkundliche Subkultur im Elsas und in Lothringen bestand zu dieser Zeit neben den Vereinen und den wenigen praktischen Naturheilkundigen aus Reformhäusern sowie dem vegetarischen Restaurant in Mulhouse. Die französischen Behörden scheinen 1938 ihre Haltung gegenüber diesen Subkulturen wieder verschärft zu haben, denn die Zeitschrift L’Hygiène naturelle musste im August ihr Erscheinen einstellen. Auch nahm die französische Medizinalbürokratie eigene Aufklärungskampagnen gegen Alkoholismus und für eine gesunde Le-
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Ganghoffer: Aufbauarbeit (1935), S. 340. Ganghoffer: Menschen (1935), S. 262. Kienzler (1935), S. 269. Ebertsmann (1936), S. 106. J. M. (1936), S. 12. Aus unseren Sektionen (1936), S. 58; Ganghoffer (1936), S. 48. Aus unseren Sektionen (1936), S. 245. Aus unseren Sektionen (1937), S. 56; Statuten (1937), S. 281. Aus unseren Sektionen (1937), S. 56; Jacob (1937), S. 51. Bruns (1938), S. 124. Aus unseren Sektionen (1938), S. 40.
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bensweise in Angriff.104 Nach Kriegsbeginn 1939 begannen die französischen Behörden ihnen unzuverlässig scheinende Bürger zu überwachen oder zu deportieren. Mitte Juni 1940 marschierten deutsche Truppen von Westen und Osten her in das ehemalige Reichsland ein und besetzten es. Umgehend erfolgte nach dem Abschluss des Waffenstillstandes von Compiègne die politische Neuordnung des Gebietes. Lothringen wurde vom Elsass getrennt und mit dem Saarland und der Pfalz zum neuen »Gau Westmark« unter Leitung von Josef Bürckel zusammengefasst.105 Die das Gesundheitswesen betreffenden Akten wurden lokal geführt, jedoch haben sich in Metz keine Archivbestände erhalten. Eventuell wurden Teile der Akten in Saarbrücken (seit 1940 Gauhauptstadt) durch Kriegseinwirkungen vernichtet. Um den deutschen Anteil an der Gesamtbevölkerung zu heben, ließ Bürckel 15 Prozent der sich als Franzosen begreifenden Menschen zwangsaussiedeln.106 Zugleich entfaltete er eine brutale antisemitische und eugenische Politik.107 Das Elsass wurde dem Gau Baden unter Gauleiter Robert Wagner (1895–1946) zugeschlagen, der beim Neuaufbau der Verwaltung in seiner Eigenschaft als Reichsstatthalter und Chef der Zivilverwaltung sein ihm ergebenes Personal mitbrachte.108 Hierzu zählte auch der Obermedizinalrat Ludwig Sprauer (1884–1962), der die Einrichtung von 13 Gesundheitsämtern organisierte und dem Gebiet das System des reichsdeutschen Gesundheitswesens überstülpte.109 Hinsichtlich der Vorgehensweise gegenüber der einheimischen Bevölkerung nahmen sich die deutschen Ärzte die Verfahrensweise im besetzten Polen zum Vorbild.110 Die Inkraftsetzung des Reichsgesetzes zur Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung erfolgte verspätet im Dezember 1941.111 Dies wurde allerdings nach außen nur ungenügend kommuniziert. So behielt sich Reichsheilpraktikerführer Ernst Kees die Erlaubnis zum Umzug seiner Mitglieder im Sommer 1940 in das Elsass vor, ohne dass er von der Nichtgeltung des Reichsgesetzes Kenntnis hatte.112 Manch abgewiesener Antragsteller, der über die Tatsache des noch nicht in Kraft getretenen Gesetzes
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William H. Schneider (1990), S. 88. Mai (2006), S. 86. Mai (2006), S. 87. Wolfgang Freund (2007), S. 344. Mack (2001), S. 189. Mack (2001), S. 190. Bericht über die Kreisamtsleiter-Tagung (1940), S. 183. Bericht über die Kreisamtsleiter-Tagung (1940), S. 182. Dies war nicht die einzige verzögerte Umsetzung von Reichsgesetzen bzw. Verordnungen durch die lokale Verwaltung. So benötigte Wagners Stab bis Ende August 1942, um die bereits ausformulierte und gültige Reichspolizeiverordnung über die Werbung auf dem Gebiete des Heilwesens vom 29. September 1941 in Kraft zu setzen. Siehe AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, Korrespondenz Reichsapothekerkammer-CdZ vom 9.10.1941 bis 25.8.1942. Daher wäre es vermutlich falsch, Wagner und Sprauer besondere Aversionen gegen das Reichsgesetz zur Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung zu unterstellen. Sie waren schlichtweg unfähig. 112 Heilpraktikertätigkeit (1940), S. 236.
178 Deutsches »Reichsland«, französische Provinz, nationalsozialistischer Mustergau informiert worden war, teilte dieses Wissen nicht mit seinen Kollegen, z. B. der Sanatoriumsbesitzer Marzellus Weißbeck.113 Auch lokale Verwaltungsstellen, durchwegs mit an »Buschzulage« interessierten Beamten aus dem Deutschen Reich besetzt, ahnten nichts von der Zögerlichkeit der Gaugesundheitsverwaltung. So erfuhr die Kanzlei des Reichsstatthalters im Februar 1941 eher zufällig von der Tatsache, dass in Schlettstadt Prosper Fischer als Heilpraktiker tätig war. Die Reaktion erfolgte prompt in Form einer Aufforderung an die untere Verwaltungsbehörde: Nach einer an die Ärztekammer gerichteten und von dieser hierher übermittelten Zuschrift haben Sie, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das deutsche Heilpraktikergesetz, einem Herrn Prosper Fischer aus Schlettstadt die Genehmigung erteilt, sich Heilpraktiker zu nennen und als solcher zu praktizieren. Dieses Vorgehen ist unzulässig, da das Heilpraktikergesetz im Elsaß noch nicht eingeführt ist. Die von Ihnen zu Unrecht erteilte Genehmigung ist darum unverzüglich zurückzunehmen.114
Daraufhin wandte sich Fischer an die DH, die ihrerseits bei Gauleiter Wagner direkt vorstellig wurde und ihn auf den Runderlass des Reichsministers des Innern vom 22. Mai 1939 aufmerksam machte, wonach auch Heilkundige aus Gebieten, in denen keine Kurierfreiheit geherrscht hatte, Heilpraktiker werden könnten.115 Zudem sei Prosper Fischer in besonderem Maße geeignet. Seit 1934 habe er im Elsass »zwar nicht mit ausdrücklicher Genehmigung aber mit stillschweigender Duldung der französischen Behörde« hauptberuflich als Heilpraktiker gearbeitet und könne eine insgesamt elfjährige Berufserfahrung nachweisen.116 Wenige Tage später stellte ein »Julius Miesch« beinahe zufällig einen direkten Antrag an Wagner mit der Bitte um Erteilung einer Heilpraktikererlaubnis.117 In seiner Antwort an die DH vom 26. März 1941 beeilte sich Wagner zu versichern: »Im Elsaß wird Reichsrecht ausgeübt.«118 Es dauerte dann jedoch noch, bis die Abteilung für Verwaltungsfragen beim CdZ schließlich im Oktober 1941 einen entsprechenden Erlass erarbeitet hatte. Im Begleitschreiben umriss der zuständige Sachbearbeiter die Situation. Nach der im Elsaß bisher geltenden französischen Gesetzgebung war die Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung im Gegensatz zu der früheren deutschen Regelung untersagt. Dieses Verbot wurde jedoch von der Verwaltung nicht ausreichend überwacht. Den be113 AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, Antrag Weißbecks vom 9.10.1940, Antwort CdZ vom 29.11.1940. 114 AdBR Straßburg, 125 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 201, Brief CdZ an den Landkommissar in Schlettstadt vom 6.2.1941. 115 AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, DH an CdZ vom 7.3.1941. 116 AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, DH an CdZ vom 7.3.1941. 117 AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, Antrag von Julius Miesch an CdZ vom 9.3.1941. 118 AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, CdZ an DH vom 26.3.1941.
Deutsches »Reichsland«, französische Provinz, nationalsozialistischer Mustergau 179 reits in der deutschen Zeit tätig gewesenen Heilpraktikern wurde außerdem auch die Berechtigung zur weiteren Ausübung der Heilkunde ausdrücklich zugebilligt. Mit der Einführung des im Altreich geltenden Heilpraktikerrechts wird die Lenkung der freien Heilkunde und die Ausmerzung ungeeigneter Elemente bezweckt.119
Am 16. Oktober 1941 bestimmte Gauleiter Wagner, dass bis zum 31. Dezember Anträge auf Zulassung zur Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung eingereicht werden könnten, wobei er sich selbst die letztinstanzliche Entscheidung vorbehielt.120 Diese Information wurde aber erst am 6. November an einige zuständige untere Verwaltungsbehörden übermittelt121 – allerdings nicht an alle. Denn noch im August 1942 musste das Reichsministerium des Innern Wagner und seine Beamten erinnern, dass Heilpraktiker in allen »wiedergewonnenen deutschen Gebieten« und somit auch im Elsass tätig sein durften.122 Anfang 1942 erkundigte sich das persönliche Büro Wagners bei den Landkommissaren und Polizeipräsidenten im Elsass, ob Anträge gestellt worden waren. Es stellte sich heraus, dass in der Stadt Straßburg zwölf und in Mühlhausen acht Anträge eingereicht worden waren. Je zwei waren in Altkirch, Hagenau, Colmar und Straßburg-Land eingegangen, je ein Antrag in Gebweiler, Mühlhausen-Land, Thann und Schlettstadt. Kein Interesse bestand demnach in den Kreisen Rapportsweiler, Molsheim, Weißenburg und Zabern.123 Im Rahmen der Frage der Zulassung von Heilpraktikern entfaltete die Elsässisch-Badische Ärztekammer sogleich eine eifrige Gegenkampagne. Ihr zuarbeitende Ärzte und Apotheker sammelten Informationen über Antragsteller, die dann die Ärztekammer an den CdZ weitermeldete. So empfahl der Apotheker Julius Kunz aus Ichenheim die Ablehnung des Antrags von Christine Duchilio: »Frau Duchilio ist unzuverlässig und gehört als Heilpraktikerin ausgemerzt, schon rein äusserlich macht sie einen schlechten Eindruck.«124 Daraufhin begann die Ärztekammer eigene Ermittlungen, deren Ergebnis sie umgehend dem CdZ übermittelte, worauf Duchilio keine Zulassung erhielt. Der im Sommer 1942 eingerichtete Gutachterausschuss, bestehend aus den Ärzten Louis Benmann und Wilhelm Breiter, den Heilpraktikern Karl Stroh (Straßburg) und Fritz Hauer (Karlsruhe) sowie dem Vorsitzenden Regie-
119 AdBR Straßburg, 125 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 201, Brief CdZ Verwaltungs- und Polizeiabteilung an CdZ Persönliches Referat vom 10.10.1941. 120 AdBR Straßburg, 125 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 201, Verordnung des CdZ vom 16.10.1941. 121 AdBR Straßburg, 125 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 201, CdZ an Landkommissare und Polizeipräsidenten vom 6.11.1941. 122 Bundesarchiv Berlin, R/1501/3016, Anweisung des Reichsministeriums des Innern vom 7.8.1942. 123 AdBR Straßburg, 125 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 201, Berichte der Landkommissare vom 27.1.–20.2.1942. 124 AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, Brief von Kunz an Ärztekammer Straßburg vom 4.11.1941.
180 Deutsches »Reichsland«, französische Provinz, nationalsozialistischer Mustergau rungsrat Karlfriedrich Günzer, kam zu dem Schluss, dass ihr die Zulassung zur heilpraktischen Tätigkeit zu verweigern sei.125 Eine weitere Antragstellerin scheiterte bei der Überprüfung ihrer medizinischen Kenntnisse, über die der Vertreter des Straßburger Gesundheitsamtes schrieb: »Ihre anatomischen, physiologischen und pathophysiologischen Kenntnisse sind geradezu unglaublich schlecht.«126 Um derartigen Katastrophen zu entgehen, verpflichtete die DH ihre Mitglieder zu Fortbildungsveranstaltungen, doch bestanden hinsichtlich der von der DH verlangten und von Ärzten für notwendig erachteten Kenntnisse beträchtliche Unterschiede. So scheiterte Eugenie Wendling trotz der mit Bravour absolvierten DH-Kurse im Sommer 1942 vor dem Gutachterausschuss in Straßburg. Einer der beteiligten Ärzte urteilte: »Es ist mir unverständlich wie Frau W. bei der Deutschen Heilpraktikerschaft so gut abschneiden konnte, während ihre Kenntnisprüfung beim Staatl. Gesundheitsamt ein geradezu haarsträubendes Ergebnis hatte.«127 So antwortete Wendling auf die Frage, was man unter einem Schlaganfall verstehe: »Ein Schlaganfall mit Halbseitenlähmung kommt vom Herzen oder vom Sympathikus oder vom kleinen Gehirn.«128 Die durch die Ablehnung der Antragstellerin indirekt ebenfalls als unfähig beurteilte DH ging für ihr Mitglied in Revision und erwirkte im März 1943 eine erneute Prüfung, die dieses Mal von Erfolg gekrönt war.129 Allerdings ermittelte Ende Januar 1944 die Staatsanwaltschaft gegen Wendling, weil sie sich ausschließlich auf die Irisdiagnostik verließ.130 Anfang Juli 1944 wurde sie aber freigesprochen.131 Alsbald bekamen auch die nach 1933 so begeistert auf Deutschland blickenden Funktionäre der elsässischen Naturheilvereine die Problematiken eines bürokratischen Zulassungsverfahrens zu spüren. So intervenierte der Straßburger Naturheilkundige Julius Estermann im Februar 1943 bei Gauleiter Wagner und verwies auf seine langjährige Vereinstätigkeit, die Internierung durch die französische Regierung nach Kriegsausbruch und die Gänge-
125 AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, Aktenvermerk CdZ vom 5.9.1942. 126 AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, Bericht des Gesundheitsamtes vom 16.10.1942. 127 AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, Bericht des Gutachterausschusses vom 28.7.1942. 128 AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, Bericht des Gutachterausschusses vom 28.7.1942. 129 AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, Beschluss des Gutachterausschusses vom 17.3.1943. 130 AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, Mitteilung der Staatsanwaltschaft Straßburg an CdZ vom 24.1.1944. Dies war verboten, siehe Grunwald (1941/42), S. 259. 131 AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, Aktenvermerk vom 5.7.1944.
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lung durch deutsche Ärzte nach seiner Rückkehr 1940.132 Der zu einer Stellungnahme gebetene Straßburger Polizeipräsident verwies auf Estermanns Vorstrafen aus der Zeit vor 1940 (wegen unerlaubter Ausübung der Heilkunde) und betonte, der Kläger habe sich niemals einer Prüfung durch das Gesundheitsamt unterziehen wollen.133 Daher kam Reichsstatthalter Wagner Ende Juni zu dem Schluss, dass Estermann die Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde definitiv zu verweigern sei.134 Auch der 1935 sich für die umfängliche Prüfung der medizinischen Kenntnisse einsetzende Ernst Kienzler und sein Namensvetter Anton scheinen keine Vorzugsbehandlung erhalten zu haben. Estermann hatte sich insbesondere darüber mokiert, dass zwar »ehemalige Schuster«, nicht aber er tätig sein durfte. Hierbei bezog er sich wahrscheinlich auf den Fall von Hermann Hütter aus Thann, der aus einer Familie von heilkundlich tätigen Handwerkern stammte. Der zuständige Landkommissar bezweifelte zwar seine medizinische Kompetenz, betonte aber dessen großes Ansehen in der Bevölkerung: »Ich würde es für verfehlt halten, die erbetene Erlaubnis zu verweigern, da man in der Bevölkerung kaum Verständnis dafür aufbringen wird, daß jetzt unter deutscher Herrschaft dem Hermann Hütter die Ausübung der Heilpraktikertätigkeit untersagt wird, welche er schon seit Jahren ausgeübt hat.«135 Da er außerdem zu den ersten Mitgliedern der NSDAP im Elsass zählte, erhielt er trotz erheblicher Zweifel des Gesundheitsamtes am medizinischen Sachverstand Hütters im Februar 1943 seine Zulassung.136 Bisweilen genügte auch höchstinstanzliche Protektion. So sah sich Ludwig Sprauer Ende Februar 1944 genötigt, einem »Fräulein Mendheim« die Zulassung zu erteilen, obwohl dieses sich weder einem Gutachterausschuss gestellt noch zuvor im Elsass gearbeitet hatte. Doch der persönlich sich für sie verwendende Reichsheilpraktikerführer verfügte über ein unschlagbares Argument: »Beiliegenden Antrag hat der Generalkommissar des Führers Herr Professor Dr. Brandt aufs wärmste befürwortet.«137 Insgesamt wurden von den fristgemäß eingereichten und nicht zurückgezogenen 31 Anträgen nur neun bewilligt. Sicher traf dies auf Adolf Senetz, Viktor Rech, Magdalene Milcent, Ida Hieronimus, Hermann Hütter, Eugenie Wendling, Karl Stuckert, Prosper Fischer und Alfred Graff zu. Dem Colmarer
132 AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, Eingabe Estermanns vom 12.2.1943. 133 AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, Stellungnahme vom 24.5.1943. 134 AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, Aktenvermerk CdZ vom 25.6.1943. 135 AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, Stellungnahme des Landkommissars vom 10.3.1942. 136 AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, Beschluss des Gutachterausschusses vom 17.2.1943. 137 AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, Schreiben von Kees an Sprauer vom 29.2.1944.
182 Deutsches »Reichsland«, französische Provinz, nationalsozialistischer Mustergau Heilpraktiker Albert Bucher wurde die bereits erteilte Erlaubnis vom Oberberufungsgericht der DH im April 1944 wieder entzogen.138 An natürlichen Heilmethoden interessierte Laien konnten insbesondere in Straßburg auf eine gut ausgebaute lebensreformerische Infrastruktur zurückgreifen. So offerierte die St. Johannes Apotheke Homöopathika und anthroposophische Arzneien, der »Bandagist-Orthopädist« Eugen Dries bot seine Dienste an, und die Firma »C&E Stresiguth« warb mit der Installation hydrotherapeutischer Apparaturen im heimischen Badezimmer. Das städtische Amt für Badewesen betrieb ein eigenes »Medizinalbad«.139 Zu einer Kooperation zwischen Heilpraktikern und der 1941 eingerichteten Reichsuniversität Straßburg kam es nicht.140 So waren die Akteure auch nicht in die Verbrechen verwickelt, die dort und im 1941 eingerichteten KZ Natzweiler-Struthof von deutschen Ärzten begangen wurden.141 Im Spätsommer 1944 begann die deutsche Verwaltung in der »Westmark« und im Elsass unter dem Eindruck des sich abzeichnenden Einmarsches der Alliierten zu diffundieren.142 Zugleich entfaltete die Résistance verstärkte Aktivitäten.143 Die in Straßburg konzentrierte Gesundheitsverwaltung ließ sich davon aber nicht beirren und arbeitete bis zur Besetzung der Stadt am 23. November 1944 weiter. So ordnete Ludwig Sprauer im Juli 1944 an, die seit 1942 auf Eis liegenden Regelungen für staatliche Prüfungen der vielfach ebenfalls heilkundlich tätigen Masseure und Fußpfleger neu zu ordnen.144 Berufsangehörige mit mehr als zehn Jahren Berufserfahrung könnten auch ohne eine zusätzliche Prüfung tätig werden, wenn sie sich hierfür entschieden. Als Anmeldefrist beraumte er optimistisch den 31. März 1945 an.145 Wer immerhin fünf Jahre im Beruf stand, konnte gar bis zum 31. Dezember 1945 bei Sprauer vorstellig werden, um mittels einer Sondergenehmigung sogleich eine Niederlassungserlaubnis zu erlangen.146 Der Gutachterausschuss für die Zulassung der Heilpraktiker war seit Sommer 1944 lahmgelegt, da gegen ein Mitglied wegen des dringenden Tatverdachts der Fehlbehandlung mit Todesfolge er-
138 AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, Urteil des Oberberufungsgerichts vom 19.4.1944. 139 Die medizinische Fakultät (1942), Annoncenteil. 140 Die Unterrichtung der Studierenden in »natürlichen Heilweisen für Ärzte« übernahm der Internist Werner Hangarter (1904–1982). Ich danke Rainer Möhler für diesen Hinweis. 141 Adamo (2015), S. 19–26. 142 Mai (2006), S. 89. Bereits seit Mai 1943 hatte es zivilen Ungehorsam in kleinem Maßstab gegeben, wogegen der Volksgerichtshof vehement vorging. So wurde das Singen der »Marseillaise« mit bis zu fünf Jahren Haft geahndet, siehe Walter Wagner (2011), S. 467. 143 Lieb (2007), S. 498. 144 AdBR Straßburg, 142 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 184, Anordnung vom 17.7.1944. 145 AdBR Straßburg, 142 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 184, Anordnung vom 17.7.1944. 146 AdBR Straßburg, 142 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 184, Anordnung vom 17.7.1944.
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mittelt wurde.147 Die für den 16. November 1944 angesetzte Verhandlung vor dem Landgericht Mühlhausen entfiel, da die Stadt bereits in Frontnähe lag und am 23. November befreit wurde. Nach 1945 verschwanden die Heilpraktiker in der Versenkung, auch die heilkundlich tätigen Masseure organisierten sich vorerst nicht neu. Die französische Verwaltung setzte dieses Mal ohne Verzögerung die gültigen Gesetze um und entfaltete umfängliche Kampagnen zu Hygiene und einer gesunden Lebensweise.148 Ein Bestandsschutz für früher tätige Heilkundige war nicht vorgesehen. Gleichwohl überdauerte die Subkultur der Laien die Jahrzehnte, wie sich spätestens 2013 zeigte, als ein sich 40-jähriger Berufserfahrung rühmender Irisdiagnostiker und Heilpraktiker aus dem Elsass seine Ratschläge für eine gesunde Ernährung publizierte.149 Eventuell profitierten Laienheilkundige nach 1970 von dem Aufschwung der Sexualtherapie, in der noch immer die nichtärztlichen Therapeuten dominieren150, und leisteten die Anthroposophen unter Leitung des Arztes Jean Schoch (1902–1970) und des Lehrers Theodor Maurer (1873–1959) einen Beitrag zur Bewahrung und Stärkung laienheilkundlicher Subkulturen151. Unklar ist die Situation in einem anderen, 1919 von Deutschland abgetrennten und 1940 wieder zugeschlagenen Gebiet: Eupen-Malmedy. Die Landkreise Eupen und Malmedy waren 1815 Preußen zugesprochen worden, wobei sich die Obrigkeit bis in die 1870er Jahre mit einem quasi zweisprachigen Schriftverkehr mit den Untertanen abfinden musste. Erst 1876 wurde Deutsch endgültig als Verwaltungssprache definiert, eine »Eindeutschungspolitik« – ähnlich wie in Posen oder dem Reichsland – nahm Gestalt an.152 Dagegen bildete sich ab 1898 eine lokale Gegenkultur. Das Gebiet fiel 1919 an das Königreich Belgien, dessen Behörden es in »Ost-Belgien« umbenannten, mit der dortigen Bevölkerung und ihrer Integration in den flämisch-wallonischen Staat aber völlig überfordert waren. 1926 wäre das Gebiet beinahe an das Deutsche Reich verkauft worden, doch verboten dies die Signatarmächte von Versailles.153 1940 wurde das Territorium in den Gau Köln-Aachen integriert, seine Einwohner aber erst im Herbst 1941 zu deutschen Staatsbürgern erklärt. Die NSDAP war bereits seit Mitte der 1930er Jahre in dem Gebiet als »Heimattreue Front« (HF) organisiert.154 Die Akten zum Gesundheitswesen in Eupen-Malmedy wurden in Belgien offenbar skartiert oder in Aachen durch Kriegseinwirkungen zerstört. So lässt sich nicht sicher klären, ob und
147 AdBR Straßburg, 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43, Antrag der Staatsanwaltschaft vom 19.7.1944. 148 Zdatny (2012), S. 912. 149 Huntziger (2013). 150 Giami/Colomby (2003), S. 376. 151 Zu Schoch siehe Hartmann (2000), S. 281 f. 152 Pabst (1999), S. 74. 153 Quadflieg (2008), S. 24. Zur nationalsozialistischen Gesundheitspolitik im »Gau Westmark« siehe Schreiber/Lohmeier (2010). 154 Quadflieg (2008), S. 63.
184 Deutsches »Reichsland«, französische Provinz, nationalsozialistischer Mustergau inwieweit Heilpraktiker in das nationalsozialistische Gesundheits- und Verwaltungssystem eingebunden gewesen waren. 1945 fielen die Landkreise an Belgien zurück und damit an ein Land, in dem Laienheilkunde traditionell verboten war.155 Eventuell lösten die Interessierten das Problem mit Hilfe des kleinen Grenzverkehrs.156
155 So kam es beispielsweise 1973 zu einer landesweiten Razzia gegen »Kurpfuscher«, siehe Mildenberger (2015), S. 183. Zur belgischen Naturheilbewegung der Vorkriegszeit siehe Peeters (2006). 156 Die Lektüre deutscher Presseerzeugnisse und die Berichte darin über die Arbeit von »Heilern« führte dazu, dass sich interessierte Patienten an diese wandten, z. B. ein Leser der Schriften des Heilpraktikers Kurt Trampler, siehe IGPP Freiburg, Bestand 20/18, Nr. 15, Brief Anton Dovifats aus Malmedy an Trampler vom 1.3.1959. In den 1970er Jahren konzentrierte sich die belgische Naturheilbewegung auf die Freikörperkultur und transportierte ihre Anliegen im Kontext dieser Strömung, siehe Peeters (2011), S. 288.
Zum Vergleich: Die Situation in Luxemburg Im Gegensatz zu Elsass-Lothringen, wo sich nicht nur eine breite Kultur an Naturheilkunde und Lebensreform hatte entfalten können, sondern auch der »Heim ins Reich«-Gedanke in den alternativen Heilkulturen epidemische Ausmaße annahm, positionierten sich die wenigen nicht approbierten Heilkundigen im Großherzogtum als treue Patrioten und agierten zudem höchst unauffällig. Das Großherzogtum Luxemburg war ein Nebenprodukt der Beschlüsse auf dem Wiener Kongress 1815 zur Neuordnung Mitteleuropas nach dem Ende der Napoleonischen Kriege gewesen. Der niederländische König Wilhelm I. (1772–1843, reg. 1815–1840) übte in Personalunion das Amt des Großherzogs aus. Er regierte mit niederländischen Beamten das Land und versuchte eine Modernisierung von oben. So wurden 1818 Richtlinien zur Ausbildung von Ärzten und der Tätigkeit von Okulisten, Dentisten, Hebammen, Pharmazeuten und Tierärzten festgelegt.1 Laienheilkunde wurde strikt untersagt.2 Das 1818 eingerichtete »Collège médical« diente zunächst der Fortbildung der bereits tätigen Ärzte, die eigenständige Ausbildung eines luxemburgischen Ärztestandes erfolgte ab 1841.3 Veterinärmedizin konnte in Luxemburg erst ab 1901 studiert werden.4 1832 bis 1866 wurden Teile Luxemburgs wiederholt von der Cholera heimgesucht.5 Der 1842 erstmals eingesetzte »Directeur du Service Sanitaire« blieb untätig.6 Die Unfähigkeit der Behörden veranlasste Apotheker und Gymnasiallehrer 1866 zur Gründung einer Bürgerinitiative im besonders schwer heimgesuchten Echternach.7 Doch das Ende der Seuche, einhergehend mit dem Ausscheiden Luxemburgs aus dem Deutschen Bund und dem Abzug der den Ausbruch der Krankheit stets begünstigenden Soldaten aus der nun geschleiften Bundesfestung, ließ entsprechende Ansätze einer Gesundheitsreform »von unten« zunächst verpuffen. Allerdings gab es unter den Vereinen im Großherzogtum einige, die auch eine Gesundheitsaufklärung im Programm hatten, z. B. die 1849 gegründete »Société de Gymnastique« (d’GYM) und der 1850 aus der Taufe gehobene Naturwissenschaftliche Verein.8 Ein eigener Ärzteverein gründete sich nach mehrjährigen Anlaufschwierigkeiten 1864, die »Société des Sciences Médicales du Grand-Duché de Luxembourg« mit zunächst 55 Mitgliedern.9 Ihre Mitglieder übten in einigen Orten des Großherzogtums durchaus Einfluss aus, so in Mondorf, das aufgrund der Empfehlungen zur öffentlichen 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Theves/Kremer (1989), S. 43; Paul Hoffmann (1989), S. 71. Graack (1906), S. 46. Paul Hoffmann (1989), S. 72. Theves/Kremer (1989), S. 48. Zum Verlauf der Cholera in Mitteleuropa siehe Ackerknecht (1963), S. 21–26. Pudel (1921), S. 113. Massard (1988), S. 54. May (2013), S. 32. Schaus: Bulletin (1989), S. 19.
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Hygiene 1866 von der Cholera verschont worden war.10 Als in Mondorf 1869 Thermalquellen aufgeschlossen wurden, entwickelte sich der Ort zum (einzigen) Zentrum der ärztlichen Hydrotherapie. Doch diese lokalen Bestrebungen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Großherzogtum aufgrund des Fehlens einer hygienischen Infrastruktur und des Desinteresses der Behörden immer wieder von Seuchenzügen überrollt wurde: 1870, 1878, 1895 und 1899 brachen Typhusepidemien in der Residenzstadt aus, 1880– 1882 starben in Esch-sur-Alzette mindestens 50 Patienten an den Pocken und 1881/82 erfasste eine Meningitisepidemie weite Teile des Landes.11 Die Sozialpolitik war wenig ausgeprägt: Kinderarbeit wurde in der aufblühenden Stahlindustrie zugelassen, eine allgemeine Schulpflicht erst 1881 eingeführt.12 Tuberkulose verbreitete sich in den ärmeren Teilen der Bevölkerung. Der Thronwechsel 1890 verwandelte die niederländische Sekundogenitur Luxemburg aufgrund des Aussterbens der Oranier in der männlichen Linie in ein selbständiges Land unter der Regierung des Hauses Nassau-Weilburg. Der neue Großherzog Adolph I. (1817–1905) hatte 1839 bis 1866 das nach dem Deutschen Krieg von Preußen annektierte Herzogtum Hessen-Nassau regiert, dessen Medizinalverwaltung (im Vorgängerstaat Großherzogtum Hessen) bereits 1807 das erste Pockenschutzimpfgesetz im deutschsprachigen Raum eingeführt hatte.13 Die Regierung unter dem von 1888 bis 1915 ununterbrochen tätigen liberalen Staatsminister Paul Eyschen (1841–1915) begann die Forschungen und Erfolge von Louis Pasteur (1822–1895) und Robert Koch (1843–1910) sowie die Medizinalgesetzgebung in den Nachbarländern intensiv zu rezipieren.14 1894 erließ die Regierung ein Gesetz zur Ausbildung und Regelung des Drogistenhandwerks, wobei den Akteuren insbesondere eine Ausübung der Heilkunde untersagt wurde.15 Dies könnte die Reaktion auf entsprechende Annoncen in Tageszeitungen gewesen sein, wo in Drogerien erhältliche Magen- und Schwedenbitter als Heilmittel gegen Infektionskrankheiten beworben worden waren.16 1897 beschloss die Regierung Aufbau und Einrichtung eines eigenen bakteriologischen Laboratoriums, das 1900 provisorisch und 1907 endgültig seine Arbeit unter Leitung von August Praum (1870–1928) aufnahm.17 Zur Überbrückung der Zeit bis zur Einsatzbereitschaft des »Laboratoire National de Santé« wurde bisweilen das Institut Fresenius mit der Durchführung bakteriologischer Untersuchungen beauftragt.18 1901 avancierte Bakteriologie zum Prüfungsfach in der Ärzteausbildung.19 Im 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19
Popper (1893), S. 12. Schaus: Bulletin (1989), S. 16 f. Pauly (2011), S. 70. Rupp (1975), S. 111. So wurden luxemburgische Ärzte zu internationalen Kongressen als Beobachter entsandt, siehe Vermerke in ANGDL Luxemburg, SP-199. Praum/Knaff (1919), S. 114 f. Massard (1988), S. 81 f. Memorial (1900), Nr. 21, S. 254; Theves/Kremer (1989), S. 50; Betz (1989), S. 77. ANGDL Luxemburg, SP-199, Vermerk Sommer 1903. Praum/Knaff (1919), S. 75.
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September 1900 trat das Großherzogtum erstmals einem internationalen seuchenpolitischen Abkommen bei, der Internationalen Konvention zur Unterbindung der Verbreitung der Pest von 1897.20 Parallel wurden die Krankenhäuser in der Residenzstadt und den Städten des Großherzogtums auf- und ausgebaut.21 Die Pflege der Kranken oblag aufgrund des Mangels an geeignetem Personal den Schwestern der Heiligen Elisabeth. 1902 gab es im ganzen Großherzogtum 78 Ärzte, sieben Dentisten und 57 Pharmazeuten.22 Die gesundheitspolitischen Kampagnen erreichten zunächst aber nur die Städte. So ließ der Vorsitzende des Luxemburger Vereins für Volks- und Schulhygiene, Ernst Feltgen (1867–1950), im Jahre 1907 Staatsminister Eyschen in einer Denkschrift wissen, dass auf dem Lande noch nicht einmal Friedhöfe und öffentliche Brunnen räumlich getrennt seien.23 In den Straßen fließe die Jauche, die Wohnungen seien feucht und infolgedessen Tuberkulose bzw. Milzbrand weitverbreitet.24 So wurden unter der Regierung des Großherzogs Wilhelm IV. (1852–1912, reg. 1905–1912) die Rechte und Pflichten derjenigen Profession neu geordnet, die am ehesten den direkten Kontakt zu potentiellen Patienten pflegte: Hebammen.25 Diese wurden angehalten, stets Ärzte einzuschalten.26 Die Regierung führte das preußische Kreisarztsystem ein und gliederte das Land in acht Kreise: Grand-Luxembourg, Esch-Nord, Esch-Sud, Luxembourg-Campagne, Grevenmacher, Mersch, Dieskirch und Clervaux.27 Die ohnehin schon verbotene Laienheilkunde wurde mittels eines neuen Gesetzes noch einmal untersagt und die Ausübung mit Geldstrafen belegt.28 Das entsprechende Gesetz stellte die faktische Kopie des französischen Ärztegesetzes aus dem Jahre 1891 dar. 1914 wurde angeordnet, dass Belehrung über Wohnungs- und Wäschehygiene sowie die Vermittlung von Basiswissen in Krankenpflege künftig Teil der Schulausbildung zu sein habe.29 Außerdem wurden Regelungen zu Unfall-, Kranken- und Invaliditätsversicherungen für Arbeiter und Angestellte 1902 bis 1911 eingeführt, die mit denjenigen im Deutschen Reich vergleichbar waren.30 Seit 1900 veränderte sich das politische Leben im Großherzogtum durch die Gründung von Parteien: 1902 formierten sich die Sozialdemokraten, 1904 die Liberalen und 1914 die Rechten.31 1903 gründete sich (nach deutschem Vorbild) eine Metallarbeitergewerkschaft.32 Der »Luxemburger Volksverein« mahnte als parteiübergrei20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32
Memorial (1900), Nr. 48, S. 593. Dupont (1989), S. 86 ff. Paul Hoffmann (1989), S. 74. Feltgen (1907), S. 19. Feltgen (1907), S. 96, 142. Praum/Knaff (1919), S. 364–369. Praum/Knaff (1919), S. 369. Pudel (1921), S. 96. Graack (1906), S. 46. Praum/Knaff (1919), S. 137. Pauly (2011), S. 88. May (2013), S. 116. May (2013), S. 87.
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fende christlich-soziale Organisation seit 1903 soziale Reformen an.33 Die Versprechungen, die großen Seuchen im Lande zügig auszurotten, konnten Regierung und Medizinalverwaltung nicht halten. 1912 registrierte das »Laboratoire National de Santé« 241 Fälle von Typhus, 309 Erkrankungen an Diphtherie und 284 Scharlachfälle.34 Zudem sah sich das Staatsministerium mit einer neuen Problematik konfrontiert: Ein Naturheilkundiger arbeitete ganz offen mitten im Großherzogtum trotz des bestehenden Verbotes. Der Luxemburger Staatsbürger und »naturistische Schriftsteller« Virgil Burg übte in Junglinster und Hasingen vermutlich bereits seit 1899 die Naturheilkunde aus und erregte aufgrund seines offenen Auftretens 1911 das Interesse des Innenministeriums.35 Offenbar wurde er jedoch nicht juristisch verfolgt, seine Tätigkeit mithin geduldet. Daran änderte sich auch nichts, als er 1913 im Selbstverlag ein eigenes »Lehrbuch der natürlichen Heilmethode« herausbrachte, in dem er sich stark an Sebastian Kneipp orientierte.36 Er dürfte sich dabei im Kontext einer breiteren heilkundlichen Volkskultur bewegt haben, da sich im benachbarten Belgien seit den 1890er Jahren eine von katholischen Priestern getragene Laienheilkultur auf Basis der Werke Kneipps etabliert hatte.37 In Luxemburg war es ein ehemaliger evangelischer Pastor, der die Kneippsche Heilkunde bewarb und seit 1910 in einem eigenen »Institut Heliar« in Weilerbach praktizierte: Nicolas Neuens (1845–1925).38 Er betätigte sich auch als naturheilkundlicher Schriftsteller.39 Neuens war zunächst von den Ideen Kneipps beeinflusst gewesen und hatte an der Heilanstalt in Carspach im Elsass 1898 hospitiert, sich dann aber ganz der Popularisierung der Theorien von Vincenz Prießnitz verschrieben.40 In seinem »Institut Heliar« bot er den Patienten vor allem Ruhe, Entspannung und Lichtkuren, um so die natürlichen Abwehrkräfte zu stärken.41 Der Körper, so seine Überlegung, würde sich selbst heilen, wenn die »Lebenswärme« (»chaleur vivante«) in genügendem Maße gegeben sei oder durch Sonnenbäder zugeführt werde.42 Um den Körper nicht zu schwächen, lehnte Neuens das Impfen ab.43 Von seiner Umwelt wurde er als »Priesterarzt« wahrgenommen, was ihn wahr33 May (2013), S. 46. 34 Pudel (1921), S. 96. 35 ANGDL Luxemburg, SP-199, 27.12.1911, Aktennotiz des Innenministeriums zur verbotenen Ausübung und Werbung für Naturheilkunde durch Virgil Burg. Burg lebte von 1899 bis 1916 in einer kleinen Villa in Junglinster, siehe http://www.industrie.lu/industriedivers.html (letzter Zugriff: 18.4.2018). 36 ANGDL Luxemburg, SP-199, Deckblatt und erstes Kapitel des Buches. 37 Peeters (2010), S. 109. 38 Zu Neuens siehe seinen Eintrag in der luxemburgischen Wikipedia, die vom Nationalmuseum betreut wird: https://lb.wikipedia.org/wiki/Nicolas_Neuens (letzter Zugriff: 18.4.2018). 39 Neuens (1903). 40 Welter (1964), S. 21. 41 Peeters (2011), S. 273. Siehe auch Neuens (1919/1970); Neuens (1925/1970). 42 Welter (1970), S. 14. 43 Neuens (1919/1970), Nr. 18, S. 1.
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scheinlich vor zu intensiven Nachstellungen durch die Medizinalbürokratie bewahrte. Eine ärztliche Hydrotherapie war in Belgien selten44 – und in Luxemburg existierte nur das Kurbad Mondorf. Eventuell profitierten Burg und andere Naturheilkundige in Luxemburg vom Desinteresse der Ärzteschaft und Medizinalbürokratie an psychosomatischen Zusammenhängen. So beschrieb der Luxemburger Arzt Mathias Grechen (1857–1919) in einem Einführungswerk zur gynäkologischen Arbeit des praktischen Arztes 1888, wie er mitten in der Menstruationsphase operierte, weil er zu ungeduldig gewesen war und auf eine Anamnese verzichtet hatte – allerdings unterband er Infektionen, indem er die Patientin mit Karbollösungen besprühte.45 Im Fall einer anderen Patientin in schwierigen Lebensumständen verordnete er zahlreiche Klistiere und schrieb ihnen die Heilwirkung zu – nicht aber der Ruhephase der Patientin, die im Rahmen der Behandlung ihren geifernden Angehörigen enthoben war.46 Ausdrücklich verwahrte er sich gegen jede Form von Hydrotherapie.47 Als Ursache für Sterilität in der Ehe benannte er allein Geschlechtskrankheiten – woran natürlich die Frau schuld war.48 Der von der Luxemburger Ärzteschaft bis heute als »Wegbereiter der modernen Chirurgie« verehrte Arzt Franz Delvaux (1872–1964)49, den die Luxemburger Regierung 1912 auf den VI. Internationalen Kongress für Gynäkologie nach Berlin entsandt hatte, erwähnte in seinem Tagungsbericht die Erfolge der physikalischen Therapien mit keiner Silbe und konzentrierte sich allein auf die chirurgischen Erfolgsmeldungen50. Es sollte bis zum Jahre 1952 dauern, dass die Physiotherapie und die mit ihr verbundenen Heilmaßnahmen Eingang in Luxemburger Krankenhäuser finden sollten.51 So boten sich für Naturheilkundige in Luxemburg durchaus Markt und Möglichkeiten, vorausgesetzt sie erregten nicht zu viel Aufmerksamkeit. Als jedoch in Bettemburg ein Naturheilkundiger sich als »Dr. Colling« anreden ließ, offen für sich warb und sein Treiben in der Presse Widerhall fand, deportierte die Regierung den als »unerwünschten Ausländer« identifizierten Bürger des Deutschen Reiches Ende Januar 1913 über die Grenze.52 Als das Land 1914 von der deutschen Armee besetzt und unter Militärverwaltung gestellt wurde, blieb die Regierung unter Leitung der seit 1912 regierenden Großherzogin Marie Adelheid (1894–1924, reg. 1912–1919) im Land und im Amt. Die Ärzteschaft war trotz der Okkupation bemüht, die Bezie44 45 46 47 48 49 50 51 52
Neuens (1919/1970), Nr. 19, S. 2. Grechen (1888), Bd. I, S. 34. Grechen (1888), Bd. I, S. 15–17. Grechen (1888), Bd. II, S. 136. Grechen (1888), Bd. II, S. 222. Schaus: Vergangenheit (1989), S. 27. ANGDL Luxemburg, SP-199; Delvaux (1913). Welter (1989), S. 119. ANGDL Luxemburg, SP-209, Zeitungsberichte, Zuschriften aus: Die Neue Zeit. Organ für fortschrittliche Politik und Volksbildung vom 29.1.1913; Aktenvermerk vom 31.1.1913 betreffs »Dr. Colling«.
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hungen zu Deutschland und Frankreich gleichermaßen aufrechtzuerhalten, wie die Mitgliederliste der »Société des Sciences Médicales du Grand-Duché de Luxembourg« aus dem Jahre 1917 nahelegt.53 Im gleichen Jahr legte Virgil Burg der Regierung eine Petition vor. Er wollte – analog zu den Verhältnissen im Deutschen Kaiserreich – die Kurierfreiheit durchgesetzt sehen und ein »Lehrinstitut für Naturheilkunde, Ernährungslehre, Säuglings- Gesundheitsu. Krankenpflege, deutsche und schwedische Heilgymnastik, Körperkultur« eröffnen.54 Zur Sicherheit legte er sein »Bittgesuch« nicht nur der Regierung, sondern auch dem Abgeordnetenhaus vor – was jedoch nichts an der Verzögerungstaktik der Verantwortlichen änderte. Stattdessen veranlasste die Regierung eine umfänglichere Beobachtung des alternativen Heilsektors, was u. a. die Tätigkeit eines selbsternannten »Knochenarztes« in Bissen im Frühjahr 1918 an den Tag brachte.55 Gegen eine ihre Kompetenzen überschreitende Hebamme wurde im Sommer 1918 umgehend ein Verfahren eröffnet.56 Zudem beriet die Regierung über eine Reform der Drogistenausbildung, um diesem Berufszweig den Zugang zu der ihm untersagten heilkundlichen Tätigkeit zumindest zu erschweren.57 Das wiederholte Pochen auf den Ausschluss der Drogerien von der Heilkunde lässt den Schluss zu, dass Drogisten in der Laienheilkunde in Luxemburg eine wichtige Rolle als Lieferanten und Ratgeber spielten. Nach Kriegsende blieb die von Frankreich inspirierte Gesetzgebung gegenüber den Laienheilkundigen in Kraft. Gleichzeitig orientierte sich die neue Regierung unter Großherzogin Charlotte (1896–1985, reg. 1919– 1964) noch stärker in Richtung Frankreich und partizipierte an den Anstrengungen der französischen Ärzte zur Bekämpfung von Tuberkulose und anderer Seuchen.58 Auch erließ die Regierung 1920 ein Gesetz zur Unterscheidung von »Zahnarzt«, »Dentist« und »Zahntechniker« und untersagte ausdrücklich vormaligen Dentisten aus dem Reichsland Elsass-Lothringen eine selbständige Tätigkeit auf Luxemburger Gebiet.59 Eine endgültige Definition des »Docteur en Médecine Dentaire« erfolgte aber erst 1939.60 In der Zwischenkriegszeit entfaltete sich keine neue Laienheilkultur. Die Behörden banden die staatlich genehmigten Heilberufe durch eine Anordnung im Januar 1923 stärker an die Zentralverwaltung. Ärzte, Dentisten, Apotheker, Tierärzte und Hebammen waren angehalten, regelmäßig Berichte über besondere Vorkommnisse in ihren Bezirken abzuliefern.61 Besonders effizient scheint dieses Kontrollmittel nicht gewesen zu sein. So musste die großherzogliche Gesundheitsverwaltung im Herbst 1924 aus der französischen Presse erfahren, dass 53 54 55 56 57 58
Liste des Membres (1917), S. III. ANGDL Luxemburg, SP-199, Eingabe Burgs vom 15.1.1917. ANGDL Luxemburg, SP-209, Eingabe von Dr. med. J. P. Ecker vom 25.4.1918. ANGDL Luxemburg, SP-209, 10.7.1918, Aktenvermerk bezüglich Jeanne Deischler. ANGDL Luxemburg, SP-209, 9.1.1918, Aktenvermerk und Bericht. ANGDL Luxemburg, SP-209, Berichte der Französischen Gesandtschaft an die Regierung von Luxemburg, beginnend 1920. 59 ANGDL Luxemburg, SP-209, 8.2.1920, Regierungsbeschluss über Dentisten. 60 Kayser (1989), S. 68. 61 ANGDL Luxemburg, SP-785, Erlass vom 15.1.1923.
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der von ihr im April des gleichen Jahres noch mit einer Niederlassungserlaubnis versehene »deutsche Arzt Paul Simonet« überhaupt kein Arzt war, sondern die Heilkunde im Umherziehen im luxemburgisch-französischen Grenzgebiet ausgeübt hatte.62 Das politische Leben des Landes veränderte sich im Laufe der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der 1930er Jahre: Kommunisten wurden verfolgt, antisemitische Töne nach 1933 in der Presse angeschlagen, und die Bemühungen der Regierung zur Durchsetzung eines Notstandsgesetzes scheiterten 1937 in einer Volksabstimmung.63 Unter Führung des Lehrers Damian Kratzenberg (1878–1946) formierte sich 1934 eine »Luxemburger Gesellschaft für Deutsche Literatur und Kunst«, die 1940 in »Volksdeutsche Bewegung« (VdB) umbenannt wurde und für den Anschluss Luxemburgs an das »Dritte Reich« warb. Die radikalen Antisemiten sammelten sich in der Luxemburger Nationalpartei sowie dem »Mouvement Antisémitique Luxembourgeois«.64 Als Treffpunkt der Luxemburger Nationalsozialisten diente u. a. das Reformhaus Barthels/Thalysia in Luxemburg.65 Unter den jüdischen Flüchtlingen, die sich in Luxemburg niederließen, ragte der Arzt Erich Simons (1892–1942) heraus, der bis 1933 Vorsitzender des »Vereins zur Verhütung und Abwehr der Krebskrankheit« in Köln gewesen war und an der dortigen Universität als Privatdozent gewirkt hatte.66 Er war ein Anhänger der Lehren Otto Warburgs (1883– 1970) und glaubte an die Regenerationsfähigkeit des Körpers, wenn der Patient sich einer zuckerfreien Diät unterzog.67 Ab 1934 baute er ein privates Krebsforschungsinstitut in Luxemburg auf. 1940 marschierte die Wehrmacht in Luxemburg ein, Regierung und Großherzogin gingen ins Exil, und Anfang August wurde der Gauleiter von Trier-Koblenz, Gustav Simon (1900–1945), zum Chef der Zivilverwaltung ernannt.68 Der »kleingeistige Satrap« Simon69 ersetzte sogleich das Französische durch Deutsch als Amtssprache, ließ alle Vereine »gleichschalten«, die Bilder der Großherzogin durch das Antlitz Hitlers in den Amtsstuben ersetzen und zu Beginn des Jahres 1941 sämtliche Verwaltungsstrukturen des Großherzogtums auflösen70. Die in »Stoßtrupps« organisierten Angehörigen der VdB begannen zügig mit der Verfolgung und Demütigung von Juden.71 Auch Erich 62 ANGDL Luxemburg, SP-785, Bericht der Großherzoglichen Gendarmerie vom 16.10.1924. 63 Pauly (2011), S. 91 f. 64 Schoentgen (2012), S. 409. 65 ANGDL Luxemburg, SD-Berichte 1937–1940, Ordner 002, Bl. 0129. 66 Simons: Beweise (1934), S. 1. 67 Simons: Weg (1934), S. 41 f. 68 Volkmann (2010), S. 180. 69 Delvaux (1946), S. 40. 70 Quadflieg (2008), S. 89 f. Die Stimmung in Luxemburg wurde im Juni 1940 von der Gestapo als »deutschfeindlich« eingestuft, siehe ANGDL Luxemburg, SD-Berichte 1937– 1940, Ordner 024, S. 12. 71 Artuso (2013), S. 117 f. Bis 1943 wurden alle Luxemburger jüdischen Glaubens deportiert, die meisten von ihnen ermordet, siehe Schoentgen (2004), S. 51. Pauly (2011), S. 98, nennt die Zahl von 1.289 Verschleppten, von denen nur 81 überlebten.
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Simons wurde drangsaliert und schließlich ins KZ Auschwitz deportiert, wo er wahrscheinlich 1942 ermordet wurde.72 Die Dauer der Besatzungszeit änderte nichts an der Attraktivität der VdB für viele Luxemburger. Bis 1942 traten 83.429 von ihnen der VdB bei.73 Gleichzeitig aber sah sich die Verwaltung mit dem Problem konfrontiert, dass immer wieder Angehörige der VdB in der Öffentlichkeit verprügelt wurden.74 Die Neuordnung des Gesundheitswesens misslang vollkommen. Die »Vereinigung der vom Luxemburger Staat diplomierten Krankenwärter« wurde als politisch unzuverlässig im Sommer 1940 abgelehnt.75 Die Luxemburger Ärzte verweigerten jede Kooperation, und Versuche, eine eigene Ärztekammer zu gründen, verliefen 1942 im Sande.76 Wahrscheinlich plante Simon eine Art »Gesundheitskammer« nach Vorbild des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren unter Einschluss aller Heilberufe. Es gelang der deutschen Zivilverwaltung jedoch nicht, auch nur eine Hebamme oder einen Laienheilkundigen zu finden, der bereit gewesen wäre, mit der Besatzungsmacht zu kooperieren. Die Knappheit an Ressourcen nötigte die deutsche Verwaltung sogar, staatlich besoldeten Luxemburger Ärzten im November 1942 den Vertrieb von Schwangerschaftstests auf eigene Rechnung zu gestatten – eine Praxis, die im Deutschen Reich bereits verboten war.77 Den Hebammen und Laienheilkundigen war der Verkauf von »Verfahren, Mittel[n] und Gegenstände[n]« zum Zwecke des Schwangerschaftsabbruchs im März 1941 untersagt worden.78 Offenbar setzte die Gauverwaltung ab 1942 auf die Ärzte als mögliche Vollstrecker der deutschen Herrschaft und nicht auf die Laienheilkundigen. Doch auch die Bemühungen zur Gewinnung der Luxemburger Ärzte endeten ergebnislos. Das Kriegsende erreichte Luxemburg in mehreren Etappen. Zwar wurde das Gebiet im September 1944 von der amerikanischen Armee befreit, im Rahmen der Ardennenoffensive aber in Teilen von der Wehrmacht erneut besetzt und erst im Januar 1945 von amerikanischen Truppen zurückerobert. Die Regierung ordnete die Verfolgung der Kollaborateure an. 5.721 wurden angeklagt, 2.275 verurteilt, zwölf davon zum Tode, von denen acht hingerichtet wurden.79 Bis 1955 begnadigte man alle zu Gefängnisstrafen verurteilten Luxemburger. Die Gesundheitsverwaltung sah sich in der Nachkriegszeit mit zahlreichen Fällen von Syphilis konfrontiert, wogegen Ärzte die neuentdeckten Antibiotika einsetzten.80 Vor allem aber bekämpften sie die Tuberkulose, 72 73 74 75 76 77
NS-Dokumentationszentrum (1995), S. 438. Quadflieg (2008), S. 94. ANGDL Luxemburg, SD-Berichte 1937–1940, Ordner 030, SD-Bericht vom 20.5.1941. ANGDL Luxemburg, SD Berichte 1937–1940, Ordner 002, Bl. 0213. ANGDL Luxemburg, CdZ-A-2822, 31.3.1942, Gaurechtsamtsleiter an Dr. Erbach. ANGDL Luxemburg, CdZ-A-2825, 30.11.1942, Brief Dr. Löers an das staatliche Medizinaluntersuchungsamt. 78 ANGDL Luxemburg, SD-Berichte 1937–1940, Ordner 030, Bericht vom 17.3.1941. 79 Pauly (2011), S. 104. 80 Ministère (1957), S. 5.
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u. a. mittels Sanatoriumskuren in Vianden, Dudelange und Bettendorf. Auch wurden umfängliche Vorsorgeuntersuchungen konsequent durchgeführt.81 Die Bedeutung physikalischer Therapien wurde endlich anerkannt und in den Krankenhäusern eingeführt.82 Die Relevanz von Kurbehandlungen in Mondorf erfuhr Beachtung83, der Turnsport als Teil der Gesundheitsfürsorge staatliche Förderung84. In der Zeitschrift Revue de Jeunesse erschienen gesundheitliche Ratschläge, die auch in Buchform publiziert wurden.85 Die bereits 1936 gegründete Ärztekammer nahm im Laufe der 1950er Jahre ihre Arbeit auf.86 1962 waren dort 309 Ärzte, 128 Dentisten und 158 Pharmazeuten erfasst.87 Die Haltung zu den alternativen Heilweisen dürfte sich im Laufe der 1960er Jahre geändert haben, als das Bulletin der »Société des Sciences Médicales du Grand-Duché de Luxembourg« begann, Annoncen der Firma »Madaus« für homöopathische Produkte zu akzeptieren.88 An die schwierige und von Rückschlägen nicht freie Geschichte der Medizin im Großherzogtum erinnert seit 1972 ein eigenes medizinhistorisches Museum in Luxemburg.89 1970 wurde Nicolas Neuens in Weilerbach ein Denkmal errichtet.90 Sein »Institut Heliar« blieb bis 1992 in Betrieb. Die Laienheilkunde ist weiterhin verboten, allerdings ermöglicht der freie Grenzverkehr schon seit dem Schengener Abkommen 1985 das Aufblühen der Heilpraktik im deutsch-luxemburgischen Grenzgebiet.
81 Ministère (1957), S. 16. Siehe auch Koltz (1950). Größere internationale Bekanntheit erlangte die Luxemburger Psychiatrie in den 1950er Jahren durch die Studien von Ernst Stumper zu »Triebverbrechen«, siehe Stumper (1956). 82 Ministere (1957), S. 49. 83 Julien Berger (1953). 84 Hentges (1950). 85 René Weiss (1954). 86 Thibeau (1989), S. 34. 87 Paul Hoffmann (1989), S. 74. 88 »Lanacard« (1968). Darüber hinaus gab die Luxemburger Sektion der »Internationalen Gesellschaft zur Erforschung von Zivilisationskrankheiten und Vitalstoffen« die Zeitschrift Ons Gesondhet heraus, in der Naturheilkunde und das Wirken von Nicolas Neuens beworben wurden. 89 Allegaert/Van Roy (2014), S. 87. 90 Gedenkfeiern (1971).
Zusammenfassung und Schlusswort Fand eine Emanzipation im Hinterland statt? Unterschied sich die Entwicklung der Laienheilkunde in Österreich, Böhmen/ČSR, Elsass-Lothringen, Posen oder Luxemburg signifikant von dem Verlauf der Fachgeschichte in Berlin, Sachsen oder Württemberg? Kam es zu einer Synthese überkommener und neuer Laienheilkulturen, aus denen dann etwas anderes, Wirkmächtigeres entstand? Waren die Grenzgebiete des deutschen Sprachraums gar inspirierend für die Heilpraktik im Zentrum? Diese Fragen bedürfen einer differenzierten Beantwortung. Ein von französischen Rechtstraditionen beeinflusster Kleinstaat wie Luxemburg, in dem eine kleine Ministerialbürokratie völlig ausreichend war, um selbst in Zeiten von Krieg und Besatzung die Kontrolle halbwegs zu bewahren, taugte nicht als Ort der klammheimlichen Emanzipation. Wann immer lebensreformerische Anstrengungen, z. B. Stärkung des Körperbewusstseins oder Förderung gesunder Ernährung, relevant wurden, organisierte der Staat selbst das entsprechende Programm mit einer Reform des Schulunterrichts oder der Einrichtung von Sanatorien. Einzelne Laienheilkundige konnten eventuell bei psychosomatischen Leiden Erfolge verbuchen und wurden stillschweigend geduldet, durften sich aber zu keiner Zeit organisieren. Vor allem aber wollten die Luxemburger Laienheilkundigen nach 1940 keine »Deutschen« sein und begriffen sich als Angehörige einer unterjochten Nation, die von den Besatzern keine wie auch immer gestalteten Geschenke annehmen wollten. In Elsass-Lothringen verhinderten die Größe des Landes und der Bruch von Rechtstraditionen sowie die damit verbundene Diskontinuität des bürokratischen Apparates eine wirksame Kontrolle des Gesundheitsmarktes. Begünstigt durch die deutsche Gesetzgebung (Kurierfreiheit) konnten sich lokale Gesundheitsvereine organisieren, wobei deren Akteure keine eigenen Impulse entwickelten, sondern sämtliche Formen an Diagnostik, Therapie und Lebensreform aus dem »Reich« importierten. Die Erinnerung an die Verhältnisse vor der Konversion französischer Départements zum Reichsland ermöglichte den Akteuren, Verhaltensmaßregeln zu entwickeln, die ihnen nach 1918 einen geduldeten Status als Gesundheitsratgeber ermöglichten. Die Ausgeschlossenheit vom Diskurs im Deutschen Reich verunmöglichte anschließend die geräuschlose Überführung der eigenen Akteure in den Status der Heilpraktiker. Stattdessen profitierten ausgerechnet Mitglieder der zuvor von den Naturheilvereinen ausgegrenzten überkommenen Volksheilkunde von der neuen Berufsmöglichkeit, wie das Beispiel des Schmiedes Hermann Hütter aus Thann nahelegt. Nach 1945 blieb nur der Rückzug in die Subkultur, die aufgrund des Paradigmenwechsels in der Medizin durch die Einführung von Antibiotika und Cortison sowie die Niederkämpfung der Tuberkulose immer kleiner wurde. Die Abkehr vom heilkundlichen Anspruch hin zu einer reinen Beratertätigkeit war der einzige Ausweg. In der Provinz Posen war die Situation anders. Zu weit entfernt von der Metropole Berlin und knapp vor der russischen Grenze gelegen, sahen sich
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die Laienheilkundigen auch noch mit der Situation konfrontiert, einen sehr eingeschränkten Wirkungskreis zu besitzen. Aufgrund des Nationalitätenstreites blieb die Naturheilkunde zwangsläufig ausgerechnet auf diejenigen Teile des Landes beschränkt, in denen die staatliche Autorität am meisten ausgeprägt war: die deutsch besiedelten Städte. Zwar galt auch in Posen die Kurierfreiheit, aber das Land fungierte als Einfallstor für Seuchen und unterlag daher seit 1830 einer besonderen, wenn auch ineffektiven Aufsicht durch die Medizinalbürokratie. Da in den Städten zudem die meisten Ärzte ansässig waren, mussten sich die Laienheilkundigen in besonderer Weise professionalisieren, um auf diesem Markt bestehen zu können. Zugleich waren sie gezwungen, sich den nationalistischen Diskursgrenzen anzupassen. Eine soziale, pazifistische, Sprachgrenzen überwindende Laienkultur, wie sie im Deutschen Reich häufig zu finden war, konnte sich in der Provinz Posen nicht entwickeln. Laienheilkunde bedeutete: protestantisch, deutsch, urban. Die Zahl der Mitglieder in den einzelnen Vereinen lässt erahnen, dass mit Kernzielen wie gesunder Ernährung, Bewerbung natürlicher Heilweisen und Körperertüchtigung durchaus Menschen erreicht werden konnten. Die früher bestehenden deutschen volksheilkundlichen Traditionen wurden offenbar amalgamiert. Doch die Gründung des polnischen Staates 1918/19 zerstörte die bereits durch Mitgliederverluste im Weltkrieg geschwächte Vereinskultur. Die meisten Deutschen verließen die Provinz. Von den bleibenden Naturheilkundigen gelang es Einzelnen, eventuell Unterschlupf im polnischen Medizinalsystem als »Feldscher« zu finden, aber der Austausch mit Kollegen gestaltete sich nun schwierig. 1939/40 profitierte diese zusammengeschmolzene Laienkultur von ihren Erfahrungen im deutschen Kaiserreich und in der polnischen Republik. Die erratisch agierende Verwaltung im Reichsgau Wartheland ermöglichte den sowohl in Selbstprofessionalisierung (vor 1918) als auch klandestiner Arbeitsweise (nach 1918) geschulten Heilern, sich im von Kompetenzgerangel geprägten bürokratischen Alltag einen Platz zu sichern, wenn sie sich als unbedingte Anhänger des Nationalsozialismus erwiesen. Nach 1945 stand den Veteranen bei Interesse eine Karriere in der Bundesrepublik offen. Völlig anders gestaltete sich die Situation in Böhmen bzw. der ČSR. Konfrontiert mit jahrhundertelangen Rechtstraditionen, die nur immer wieder neue Verbote evozierten, entwickelten die von sächsischen »Geburtshelfern« ermunterten Laienheilkundigen ganz eigene Strategien der Emanzipation. Sie profitierten – ähnlich wie die Heilkundigen in Posen – von der Deutschtümelei ihrer Landsleute, die es ihnen ermöglichte, ihre auf Naturideologie und Heimatverbundenheit reduzierbaren Gesundheitskulturen als Bollwerk gegen unfähige Bürokraten und »slawische Gegner« zu positionieren. Sie zogen Gewinn aus dem historischen Zufall, dass die moderne Naturheilkunde in Böhmen durch deutschsprachige Bauern und Handwerker formuliert worden war. Die überkommenen Volksheilkulturen wurden unter tätiger Mitwirkung »kneippender« katholischer Priester modernisiert. Ab 1900 erfolgte ein enges Zusammenwirken von Reformhausbesitzern, Laienheilkundigen, Priestern und Angehörigen weiterer gesellschaftlicher Re-
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formbewegungen, wobei sich alle Beteiligten als Repräsentanten des Deutschtums verstanden. Hilfreich gestaltete sich auch der Austausch mit Berufskollegen aus der Steiermark. Gegen eventuelle ärztliche Verfolger und arbeitsame Bürokraten positionierten sich die Laienheilkundigen als Teil einer die Wirtschaft ankurbelnden Tourismusindustrie. Der nationale Schulterschluss garantierte das Überdauern in der Zeit der ČSR (1918–1938/39) und die »gnädige« Aufnahme in die nationalsozialistische Volksgemeinschaft. Allerdings hatte das jahrzehntelange Brodeln im eigenen Saft auch dazu geführt, dass die Laienheilkundigen auf dem wissenschaftlichen Stand von 1914 verblieben waren. Infolgedessen scheiterten viele von ihnen an den Fragen der sie prüfenden Ärzte. Es war der Druck der DH, der hier einen letzten Professionalisierungsschub veranlasste, ehe sich die Angehörigen der böhmischen Heilkulturen 1945/46 in alle Winde zerstreuten. Die tschechischen Heiler jedoch wurden seit den 1850er Jahren ausgegrenzt, und ihre orthopädischen Konzepte kamen über die Hintertür der »amerikanischen« Chiropraktik zurück in die alte Heimat. Von Ärzten übernommen, avancierte die Manuelle Therapie zu einem Aushängeschild tschechischer Heilkunst und ist das bis heute. Sehr ähnlich wie in Böhmen gestaltete sich die Situation in Österreich. Hier aber konnte ein besonders erfolgreiches Beispiel für Synthetisierung von Heilkulturen und Professionalisierung gefunden werden. So kombinierte Maria Schlenz volksheilkundliche Vorstellungen vom »Reinigen der Säfte« mit Kneippscher bzw. Prießnitz’scher Hydrotherapie und therapeutischer Technologie und formulierte eine Art Heilsystem, das in der Schulmedizin Anerkennung fand. Zunächst bestätigten deutsche, dann höchst widerwillig österreichische Ärzte die Wirkung der »Schlenzbäder«. Die Geschichte der Laienheilkulturen in Österreich ist aber auch geprägt von zahlreichen zufälligen Entwicklungen. Obwohl in der Steiermark am ehesten sich vor 1914 etwas entfaltete, was den Ausdruck »Lebensreformbewegung« verdient, verhinderte eine reaktionsfreudige Medizinalbürokratie eine nachhaltige Entwicklung. In anderen Teilen des Vielvölkerstaates, sogar in der Hauptstadt Wien, zeigte sich der staatliche Apparat vielfach unfähig (oder unwillig?), die von Laien dominierten Gesundheitskulturen wirkungsvoll zu bekämpfen. Eventuell hofften Bürokraten und Ärztevertreter, dass das Fehlen von Fortbildungsmöglichkeiten und des Aufbaus landesweiter Organisationen eine Professionalisierung der Laien verhindern könnte und sie so langfristig vom Fortschritt der Medizin überrollt würden. Doch das stets gegebene Drohpotential des Tätigkeitsverbotes, gepaart mit der Gefahr von Verurteilung, Gefängnis oder gar Landesverweis, provozierte die an Prießnitz, Kneipp, Homöopathie oder Irisdiagnostik interessierten Personen, sich unauffällig weiterzubilden. Eine Berufsgruppe war hierbei besonders im Vorteil, da sie – außer man forderte den Staat direkt heraus, wie es Johannes Ude tat – praktisch unangreifbar war: die durch das Konkordat geschützten katholischen Priester. Sie hatten die Möglichkeit, sich untereinander auszutauschen, zu publizieren, Vorträge zu halten und Vereine zu leiten. Daher entwickelte sich in Österreich schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine klerikale Heilpraktik, die zwar im
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Nationalsozialismus an den Rand gedrängt wurde, aber nach 1945 problemlos weiterarbeiten konnte.1 Die häufig gebildeten Priester entwickelten insbesondere die Phytotherapie weiter. Einige ihrer Vertreter, z. B. »Kräuterpfarrer Weidinger«, sind noch heute diskursbestimmend. Die weltlichen Laienheilkundigen mussten (und müssen!) sich offiziell auf die Beratungstätigkeit in Fragen gesunder Lebensweise oder Körperertüchtigung beschränken, konnten aber bei offizieller Beachtung dieser Diskursgrenzen tätig bleiben. Ebenso wie ihre böhmischen Kollegen waren sie aber – im Gegensatz zu den Priestern – von Weiterbildungsmöglichkeiten weitgehend ausgeschlossen und scheiterten daher meist an der Heilpraktikerzulassung nach 1938. Diejenigen, die Heilpraktiker wurden, waren keine Spezialisten, sondern Generalisten, und boten verschiedene alternative Therapien an: Phytotherapie, Hydrotherapie und/oder Homöopathie. In der Diagnostik vertrauten viele auf die Irisdiagnose. Deren Anwendung verlangte die Vertrautheit mit technischem Gerät – längst waren die Naturheilkundigen nicht mehr (ausschließlich) an der Natur orientierte Heiler, auch wenn sie die Affinität zur Natur stets beschworen. Auf den kurzen Sommer der Anerkennung folgte der lange düstere Winter von Ausgrenzung und erneuter Marginalisierung in der Zweiten Republik. Erst im Rahmen der »ökologischen Wende« in der deutschsprachigen Bevölkerung seit den 1970er Jahren gelang der Ausbruch aus den kleinen Sekten und Zirkeln hinein in die Gesellschaft. Heute bedarf es gar keines Heilpraktikergesetzes mehr – es gibt die Heilpraktiker längst, auch wenn sie sich anders nennen. Grenzüberschreitende Weiterbildung stellt im digitalen Zeitalter kein Problem mehr dar. Die überkommenen volksheilkundlichen Kulturen erwiesen sich im Zeitalter von Antibiotika und insbesondere nach der Entkriminalisierung der Abtreibung als nicht mehr notwendig. Die industrialisierte Landwirtschaft unterbrach den Nachschub an vielen Kräutern, die Ausweitung der Krankenversicherung auf die Landbevölkerung entzog ihr das auf sie angewiesene Publikum. Doch als Wellnessberater und Entschlackungstherapeuten fand sich ein neuer Platz im Gesundheitssektor. So bleibt letztendlich die Erkenntnis, dass die Professionalisierung und Emanzipation in der Provinz zu funktionieren vermag und sich dabei Heilkulturen entwickeln (können), die weit mehr implizieren als die simple Anerkennung als Heilpraktiker. Die Heilkundigen offerierten nicht nur Hilfe bei chronischen Leiden und somatischen Erkrankungen, sondern auch – wie insbesondere die »kneippenden« Priester nahelegen – bei psychosomatischen Gesundheitsproblemen. Denn sie ermöglichten eine Therapie unter Ausschaltung des Arztes und damit des Staates. Solange Krankenversicherungen nur auf einen kleinen Teil der Bevölkerung Anwendung fanden, spielten die Kosten für den Laienheilkundigen keine Rolle – es war gleichgültig, ob man den Arzt oder den Laien bezahlte. Als der österreichische Staat in den 1970er Jahren diesen Faktor ausschaltete, kollabierten zahlreiche Kulturen. Aber das 1
Zur stillen Förderung der heilkundlichen Priester durch die Diözesanverwaltungen siehe Obrecht (1999), S. 104.
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bleibende Misstrauen gegenüber der Bürokratie, gepaart mit dem offenkundigen Versagen der Schulmedizin bei zahlreichen Leiden, und die Bewerbung von Wellness als Hilfe gegen »Stress« ermöglichten den Laienkulturen ein Comeback. Dabei kam es aber auch zu einem Wandel der Klientel. Der avisierte Abbau von staatlichen Leistungen im Gesundheitssektor könnte dazu führen, dass die Laienheilkunde wieder das wird, was sie um 1900 vielfach gewesen war: die eigentliche soziale Medizin. Dies bezieht sich nicht nur auf Österreich. Der heilpraktische Grenzverkehr zwischen dem Elsass bzw. Luxemburg und Deutschland lässt erahnen, dass auch hier ein Interesse an nichtstaatlichen Akteuren besteht. In Polen und Tschechien entfalten sich modernisierte Gesundheitskulturen aus der überkommenen Volksheilkunde. Die Frage wird sein, ob Ärzteschaft und Medizinalbürokratie in alte pathologische Verfolgungsmuster zurückfallen oder der Wunsch nach materieller Beteiligung am »Gesundheitskuchen« triumphieren wird. Ein wirkliches Umdenken in den bürokratischen Apparaten, wonach der Wunsch nach totaler Kontrolle immer im totalen Misstrauen und damit im völligen Kontrollverlust endet, erscheint eher unwahrscheinlich. Vielleicht hat ja der Sexualforscher und Medizinethiker Albert Moll (1862–1939) recht? Er schrieb 1902: Die Kurpfuscherei wird so lange bestehen, als es unheilbare und nur sehr langsam heilende Krankheiten gibt, psychische Einflüsse auf den Menschen wirken und das Mystische, Geheimnisvolle auf ihn Eindruck macht. Sie wird vielleicht ihre Formen ändern und den Einfluss der Mode zeigen, wobei diese ähnlich den epidemischen Krankheiten den allgemeinen Verkehrswegen folgend um sich greift, wird aber als solche nicht untergehen.2
Ich würde allerdings statt des reißerischen Begriffs »Kurpfuscherei« von »professionalisierter patientenorientierter Laienheilkunde« sprechen. Professionalisierung kann dabei gerade auch durch Ärzte und Krankenhäuser unter Mitwirkung der Krankenkassen erfolgen, wie es ja beispielsweise im Rahmen der Akademisierung der Gesundheitsberufe seit einigen Jahren in EU-Europa üblich geworden ist.
2
Albert Moll (1902), S. 432.
Abkürzungsverzeichnis AGV AIDS
Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundheit Acquired Immune Deficiency Syndrome (erworbene Immunschwäche) AKH Allgemeines Krankenhaus Wien BDM Bund Deutscher Mädel CdZ Chef der Zivilverwaltung ČSR Československá republika (Tschechisch-Slowakische Republik) ČSSR Československá socialistická republika (Tschechisch-Slowakische Sozialistische Republik) DAF Deutsche Arbeitsfront DGBG Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten DGBK Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung des Kurpfuschertums d’GYM Société de Gymnastique DH Deutsche Heilpraktikerschaft DVL Deutsche Volksliste EG Europäische Gemeinschaft EU Europäische Union FKK Freikörperkultur FPÖ Freiheitliche Partei Österreichs HF Heimattreue Front HIV Humanes Immundefizienz-Virus IGM Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung KZ Konzentrationslager NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSV Nationalsozialistische Volkswohlfahrt ÖGBG Österreichische Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten ÖGBK Österreichische Gesellschaft zur Bekämpfung des Kurpfuschertums ÖVP Österreichische Volkspartei RMdI Reichsminister des Innern SA Sturmabteilung SdP Sudetendeutsche Partei SHF Sudetendeutsche Heimatfront SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPÖ Sozialdemokratische Partei Österreichs SS Schutzstaffel StGB Strafgesetzbuch VdB Volksdeutsche Bewegung VdU Verband der Unabhängigen WPV Wiener Psychoanalytische Vereinigung
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Abb. 1: Die Schroth’sche Kuranstalt um 1910. Postkarte. Privatbesitz des Autors.
Abb. 2: Darstellung der Kur in Lindewiese um 1910. Postkarte. Privatbesitz des Autors.
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Abb. 3: Dr. Glettler’s Sanatorium in Bad Schlag um 1910. Postkarte. Privatbesitz des Autors.
Abb. 4: Das Kaiser Franz Josef Stadtbad in Gablonz um 1914. Postkarte. Privatbesitz des Autors.
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Abb. 5: Trinkkur in Karlsbad 1935. Fotoaufnahme. Privatbesitz des Autors.
Abb. 6: Emanuel Faifars Wohn- und Arbeitsstätte in der Polska 6 in Prag, wo er Ausbildungskurse für Naturheilkundige und Masseure durchführte. Zustand Sommer 2017. Privataufnahme des Autors.
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Abb. 7: Heinrich Kantor, entnommen aus: Lennhoff, Gustav: Medizinalrat Dr. Heinrich Kantor gestorben 1859–1926. In: Der Gesundheitslehrer 29 (1926), S. 43 f., hier S. 43.
Abb. 8: Arnold Rikli, entnommen aus: http://www.bled.si/en/about-bled/the-beginnings-oftourism (letzter Zugriff: 4.7.2018).
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Abb. 9: Otto Ebenhecht und Karl Georg Panesch, entnommen aus: Verschiedene Mitteilungen. In: Natürliche Heilmethoden 22 (1910), Nr. 401, S. 37 f., hier S. 37.
Abb. 10: Josefine Jurik, entnommen aus: Fortunatus: Josefine Jurik. In: Gesundheitswarte 1 (1895), S. 337 f., hier S. 337.
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Abb. 11: Arthur Laab, entnommen aus: Aus der Zeit. In: Der Naturarzt 38 (1910), S. 136 f., hier S. 136.
Abb. 12: Cover der Zeitschrift L’Hygiène naturelle von 1930.
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Abb. 13: Die Kneipp’sche Heilanstalt Carspach um 1910. Postkarte. Privatbesitz des Autors.
Abb. 14: Postkarte »La Cure à Mondorf« in Luxemburg (um 1920). Privatbesitz des Autors.
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Abb. 15: Hannah Reimer, entnommen aus: NA Prag, PR II – EO, Fond Policejní ředitelství Praha II – evidence obyvatelstva PR 1931–1940, Policejní ředitelství Praha II, všeobecná spisovna 1931–1940, Hannah Reimer, R633/6.
Abb. 16: Logo der DGBK, entnommen aus: Aufruf der »Oesterreichischen Gesellschaft zur Bekämpfung des Kurpfuschertums«. In: Ärztliche Standeszeitung 3 (1904), Nr. 23, S. 2 f., hier S. 2.
Bibliographie Archivalien Bundesarchiv Bayreuth Lastenausgleichsarchiv, ZR/1/11676608, ZLA/1/11596468, ZLA/1/11472855
Bundesarchiv Berlin R/1501/3016
Archiv des Verbands deutscher Heilpraktiker Bonn-Duisdorf (AdVdH Bonn) Akt BaWü 33, Sudetengau 1941–1946 Akt Graz, Innsbruck, Klagenfurt, Wien, 1940–1945 Akt Ordner Rundschreiben
Archiv des Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene, Freiburg/Brsg. (IGPP Freiburg) Bestand 20/18, Nr. 3, 13, 15, 17
Diözesanarchiv Graz Akt Hödl Anton
Landesarchiv der Steiermark, Graz (LASt Graz) L. Regl. 197/I, A-J 1941; K-Z 1941 L. Regl. 197/I, He-Lc 10, Karton 3210, Jg. 1943 L. Regl. 197/I, K-P, Karton 3404, Jg. 1944 L. Regl. 197/I, R-Z, Karton 3405, Jg. 1944 L. Regl. 197/I, St-Z, Karton 3212, Jg. 1943; Karton 3213, Jg. 1943; Karton 3214, Jg. 1943
Tiroler Landesarchiv, Innsbruck (TLA Innsbruck) RStH IIIa1, 1940, D/IV-1940, Karton 7; IIIa1, 1941, D/I/9-D/IV/2, Karton 18; IIIa1, 1942, D/I/9c-D/V/6, Karton 33; IIIa1, 1943, D/I/10-D/VI/I, Karton 47; IIIa1, 1944, D/I/14-E/ III/3, Karton 59
Archivalien
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Generallandesarchiv Karlsruhe (GLA Karlsruhe) Bestand 69, Zentrale, Nr. 29d, 31d, 57d, 103a, 148 f., 470a, 546d
Kärntner Landesarchiv, Klagenfurt (KLA Klagenfurt) AT-KLA 164 Sanitätsabteilung, Schachtel 15, Heilpraktiker
Landesarchiv Oberösterreich, Linz (LAOÖ Linz) Reichsstatthalterei MF 346 G13, Akt 784 aus 1939; MF 346 G13, Akt 960 aus 1939; IIIaM 1940, Akt 265, MF 404; IIIaM 1940, Akt 1417, MF 404; IIIaM 1941, Akt 74, MF 434; IIIaM 1941, Akt 1895, MF 435; IIIaM 1943, Akt 138, MF 478; IIIaM 1944, Akt 151, MF 502; IIIaM 1944, Akt 808, MF 502; IIIaM 1945, Akt 15, MF 523; IIIaM 1945, Akt 59, MF 525
Archives Nationales du Grand-Duché de Luxembourg (ANGDL Luxemburg) CdZ-A-2822; CdZ-A-2825 SP-199, SP-209, SP-785 SD-Berichte 1937–1940, Ordner 002, 024, 030
Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BHStA München) MInn 106293
Staatsarchiv München Spruchkammerakten, Karton 1332; Spruchkammerakten Bad Aibling Nr. 1286
Archiwum Państwowe w Poznaniu (AP Posen) Sign. 2036, Reichsstatthalter Heilpraktiker 1940–44
Archiv hlavního města Prahy (AHM Prag) Fond Malý dekret, 118, 36–16412; 36–26785
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Bibliographie
Národní archiv, Praha (NA Prag) PR II – EO, Fond Policejní ředitelství Praha II – evidence obyvatelstva PR 1931–1940, Policejní ředitelství Praha II, všeobecná spisovna 1931–1940, Hannah Reimer, R633/6 PR II – EO, Fond Policejní ředitelství Praha II – evidence obyvatelstva PR 1931–1940, Policejní ředitelství Praha II, všeobecná spisovna 1931–1940, M3154/19 Amadeus Mottl; M2175/13 Antonin Michl PR II – EO, Fond Policejní ředitelství Praha II – evidence obyvatelstva PR 1941–1951, Policejní ředitelství Praha II – všeobecná spisovna 1941–1950, Karton 1889, E155/4 Alois Eis PR 1941–1945, PR II – EO, Fond Policejní ředitelství Praha II – všeobecná spisovna 1941– 1950
Landesarchiv Salzburg LRA 1880/89 VV B03; LRA 1900/09 XII L8, 295
Stadtarchiv Schwanenstadt Akt Schmidtbauer, Matthäus
Staatsarchiv Sigmaringen Wü 13 T2, Bestellnummer 1806/125
Archives départementales du Bas-Rhin, Strasbourg (AdBR Straßburg) 125 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 201 126 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 43 142 AL Bureau de Gouverneur Reichsstatthalter, Nr. 184
Zemský archiv v Opavě (ZA Troppau) Fond RP Opava, Presidiální spisy, Inv. Nr. 2926, 2927, 2928
Stadtarchiv Villingen-Schwenningen Meldekartenarchiv, Karte Reimer
Literatur
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Archiv des Verfassungsgerichtshofes Wien (AdV Wien) Erklärungen und Entschlüsse aus dem Jahre 2000, Nr. 15766
Bibliothek und Archiv des Nationalrates Wien (BuAdN Wien) Stenographische Protokolle, 5. Gesetzgebungsperiode 1945–1949; 6. Gesetzgebungsperiode 1949–1953
Diözesanarchiv Wien Personalakte Karl Baumhauer
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Register A Abtreibung 34, 43, 48 f., 53, 63 AIDS 141 Alchemilla Vulgaris 63 Alkohol 24 f., 30, 33, 41, 48, 74, 77, 87, 92, 96, 108, 115, 122 f., 137, 152, 176 Anthroposophie 99, 113, 137 f., 142, 182 f. Arndt, Gustav 156 Aschner, Bernhard 103 Auschwitz 49, 192 Aussig 20, 24, 28, 34, 39, 47 f., 50 f., 53, 59
Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 39, 48, 154 f., 171, 173 Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung des Kurpfuschertums 26, 29, 39, 41, 47, 74 f., 105 f., 154, 172 Diphtherie 30, 69, 83, 108, 188 Dorcsi, Matthias 138 Drogerie 53, 80, 129, 150, 186, 190 Dürr, Bernhard Oskar 24, 41, 54 Dvorsky, Frank 19
B Badediener 15, 23, 71 Baltzer, Eduard 17, 24 Bauerndoctor 85, 87, 91, 101, 103, 106, 122, 127 Baumhauer, Karl 106 f., 113, 130 Beineinrichter 18, 67, 95, 118 f., 134 Bellini-Riedl, Bruno 52, 54–60, 66 Beranek, Josef 23, 25 Bergel, Kurt 116, 125 Berndl, Florian 79 f., 108 Bernsteiner, Jakob 134 Bettauer, Hugo 97 Biedert, Philipp 168 Bier, August 104 Bilz, Friedrich Eduard 27, 32 f., 73 f., 165 Bircher-Benner, Maximilian 78, 136 Brauchle, Alfred 46, 175 Breuß, Rudolf 135 Brohm, Heinz 53 Brünn 24, 39 f., 45, 47, 63, 91 Brunner, Alois 143 Brunner, Josef 122 Bürckel, Josef 110, 113, 127, 177 Burg, Virgil 188, 190
E Ebenhecht, Otto 88 Eigruber, August 51, 115–117, 119 f. Eis, Alois 63 f. Ellerbach, Johann Baptist 171 Emmel, Eduard 17, 25 Emmel, Johann 71 Eyschen, Paul 186 f.
C Carton, Paul 174 Chiropraktik 19, 47, 95, 113, 135, 138, 143, 148 Cholera 23, 35, 69 f., 149 f., 153, 155, 185 f. Croup 23, 83 Czech, Ludwig 45, 47 Czermak, Hans 122–124 D Dantine, Felix 113 Delvaux, Franz 189
F Fabian, Ewald 47 Faifar, Emanuel 41, 63, 67 Fall Hilsner 28 Feitenhansl, Karl 49 f., 53, 58, 66 Feix, Hans Erwin 50 Fircks, Peter Julius Otto v. 162 f. Fischer, Prosper 178, 181 Fischer-Dückelmann, Anna 34 FKK 108, 133 Fortedol 132 Foulliè, Josef Wilhelm 116 Franz I. 68 f. Freiwaldau 13, 17, 25, 47, 51, 54, 59 Freud, Sigmund 97, 100 G Gänsehäufel 80, 96, 133 Gamerith, Ani 196 Ganghoffer, Robert 175 f. Geißler, Josef 54 f., 66 Gerling, Reinhold 73, 151 Gesundheitslehrer 15, 26, 32, 75, 96 Gleich, Lorenz 14 Glettler, Georg 23 Gräfenberg 13, 17, 25, 71 Grechen, Mathias 189 Greiser, Arthur 158 f., 161–164 Grün, Heinrich 27, 74–78, 82, 89, 97
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Register
Gruschka, Theodor David 47 Gündl, Käthe 135 Gundermann, Oskar 160 f., 163 Gutachterausschuss 54 f., 58 f., 112–114, 116–120, 123–125, 129, 164, 179–182 H Haidinger, Gerald 143 f. Harnschau 83, 85, 101 f., 117 Hebamme 33, 42, 49, 61, 69, 79, 82, 90 f., 95, 102 f., 111, 128, 140, 150, 154, 159 f., 167 f., 185, 187, 190, 192 Heilgymnastik 17, 43, 153, 190 Henlein, Konrad 45, 48–-51, 53 f. Heß, Rudolf 53 Himmler, Heinrich 158 f., 164 Hödl, Anton 103 Höllerhansl 101 f., 143 Homöopathie 11, 15 f., 18, 20, 57, 60 f., 68, 70, 82 f., 85, 89, 91, 104, 106, 108, 115, 135 f., 138, 143 f., 145, 149, 151–153, 156, 166 f., 169, 176, 182, 193, 196 f. Hornich, Gottlieb 63 Hütter, Hermann 181, 194 Humer, Anna 118 Hydrotherapie 11, 13–15, 17 f., 23, 28, 32, 57, 63, 71 f., 77 f., 86, 95, 97, 104, 135–137, 143, 146, 152, 166 f., 171–173, 182, 186, 189, 196 f. I Impfen 15, 21, 23, 27, 30, 35, 38 f., 41 f., 50, 68 f., 72, 74, 81–83, 88, 90 f., 95, 104, 133, 140 f., 169–171, 173, 186, 188 Irisdiagnostik 11, 41, 56 f., 106 f., 114, 144, 166, 189, 196 f. J Joseph II. 68 f. Juniperus Sabina 103, 142, 144 K Kafka, Franz 28 f. Kantor, Heinrich 26 f., 29–31, 33–36, 41 Karlsbad 20, 39 f., 42, 45, 53, 57, 65, 71 Kees, Ernst 51 f., 57, 114, 116, 177 Kienzler, Anton 174 Kienzler, Ernst 173, 176, 181 Klausner, Erwin 43 Klug, Peter 102, 134 Knaus, Hermann 100 f., 132
Kneipp, Sebastian 11, 13, 17, 23 f., 37, 56, 65, 70, 72, 74 f., 86 f., 93, 100, 109, 120, 135, 146, 153, 169, 171, 188, 196 Kötschau, Karl 136 Komotau 23 f., 31, 34, 39, 47 Krähwinkel 32 Krainer, Franz 86 Kratzenberg, Damian 191 Kreisky, Bruno 140 f. Kubiczek, Franz 21, 86 Künzle, Johannes 37, 83, 143, 174 Kulturkampf 147, 159, 169 L Laab, Arthur 86, 88 f. Lanc, Ludwig 113 Lang, Josef 37 Lassel, Michael 134 Leiner, Elisabeth 95, 113 Leitzmeritz 20, 37, 39, 47, 50, 53 Lejeune, Fritz 115 Lewit, Karel 67 Liek, Erwin 103–106 Lindewiese 13 f., 17, 33, 89 Lindner, Georg 119 Linz 81 f., 115 f., 118, 120, 132, 142 Lissau, Siegfried 41, 49 Lourdes 167 Lubjatzky, Klemens 139 Ludwig, Walter 55, 65 Lueger, Karl 76, 80 Lugmayr, Karl 131 M Madaus 106 f., 193 Mader, Max 33, 87–89 Maier, Wunibald 100 Maisel, Karl 131 Masaryk, Tomas G. 41, 46 Masseur/Massage 11, 17, 34, 38, 42, 46, 51–54, 61–63, 65, 73, 76, 78–80, 95, 97, 104, 119, 142, 150, 153, 160, 166, 182 f. Mathes, Paul 90 f. Mayr, Franz Xaver 42, 133, 136 Metz 170 f., 173, 177 Miklau, Lia 136 Mittelstaedt, Franz 152 Moll, Albert 198 Mondorf 185 f., 189, 193 Mossa, Samuel 152 Müller, Jörgen Peter 29
Register N Naturheilverein – Bromberg 151 – Gablonz 23, 32 f., 47 – Gebweiler 171, 174 f. – Graz 86, 88, 98, 134 – Posen 151 – Reichenberg 23 f., 32 – Straßburg 175 – Wien 72–77, 79, 88, 93, 96, 98, 108 f., 113, 135 Neuens, Nicolas 188, 193 Niemeyer, Paul 22 Nowotny, Hans 98, 113 f. O Oertel, Ferdinand Christian 15 Österreichische Gesellschaft zur Bekämpfung des Kurpfuschertums 29–31, 33 f., 39, 89 P Panesch, Karl Georg 74–77, 80, 82, 89, 97 Paracelsus 46, 103, 115 Pasteur, Louis 186 Pattermann, Josef 37 Pausewang, Gudrun 42 Pertl, Michael 81 Phytotherapie 11, 37, 57, 63, 66, 79, 83, 109, 127, 134, 136, 143, 152, 160, 165 f., 197 Pientka, Adolf 97 Pirkl, Hermann 110 Pius XII 136 Plica Polonica 149 Pochmann, Emanuel 81 f. Pocken 35, 68, 83, 94, 133, 140, 150, 170–172, 186 Polydynamon 139 Prag 18, 20, 23 f., 29, 36, 39 f., 41, 44–48, 56, 60–64, 67 Praum, August 186 Prießnitz, Vincenz 11, 13–16, 22 f., 25, 27, 32 f., 71 f., 75, 82, 86, 101, 135 f., 142, 153, 167, 168, 196 Prisching, Franz 89 Psychoanalyse 100, 137 R Reckziegel, Stefan 23 Recla, Josef 136 Reichel, Hermann 111
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Reichsbund 34, 39, 77 Reik, Theodor 100 Reimer, Hannah 43 f., 63, 65 Reinelt, Johannes 15 Ressel, Wilhelm 21, 27, 30, 32, 41, 49 Richter, Elisabeth 55, 66 Rikli, Arnold 17, 72, 98, 109 Rösler, Gustav 30 Rollett, Alexander 88 Rosegger, Peter 87 f. S Sachs, Milan 76 Schelmerding, Ernst 21 f. Scherer, August 152 Schindler, Josef 15, 23 Schlag 23, 32 Schlenz, Maria 120 f., 133, 196 Schmid, Hans Hermann 49 Schmidtbauer, Matthäus 81 f. Schnitzer, Moritz 24, 29, 35, 46, 50, 75, 89 Schnorfeil, Anton 14 Schönerer, Georg v. 28 Schroth, Johannes 13–17, 66, 89, 97–101 Schürer von Waldheim, Friedrich (Fritz) Rudolf Victor 77 Schwab, Günther 136 Senetz, Adolf 173, 181 Simon, Gustav 191 f. Simoni, Georg 23, 87 Simons, Erich 191 f. Sittler, Paul 172 Sonderegger, Laurenz J. 22 Spiller, Philipp 148 Sprauer, Ludwig 177, 181 f. Spude, Hugo 157 Starck, Simon 28 Steinach, Eugen 95 f., 174 Strobl, Karl 130 Strohal, Richard 138 Stumpfl, Friedrich 123 Sudetendeutsche Landsmannschaft 64 Syphilis 76, 94, 103, 140, 192 T Tandler, Julius 97 Thetter, Rudolf 113 f., 137 Thure-Brandt-Massage 76, 172 Trampler, Kurt 139, 184 Treben, Maria 135 Treiner, Rosa 138 Troppau 28, 30 f., 47 f., 51 f., 56–59, 65, 67
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Register
Tuberkulin 83 Tuberkulose 20, 48, 76 f., 94, 129, 137, 140, 150, 166, 186 f., 190, 192, 194 Turnen 15, 27, 32, 44 f., 72 f., 78, 81, 84, 135, 148, 160, 193 Typhus 17, 35 f., 115, 153, 155, 169, 186, 188 U Ude, Johannes 46, 92 f., 99, 109, 126, 136, 196 Uiberreither, Siegfried 126 V Vegetarismus 17, 24, 30, 35, 50, 72, 86, 88 f., 92, 98, 135, 174, 176 Volksheilkunde 11, 13, 17, 19, 37 f., 75, 83, 101–103, 117, 126 f., 134, 144, 154, 176, 194–198
W Waerland-Bewegung 134 Wagner, Robert 177–181 Wasserfuhr, Hermann 168 Weidinger, Hermann Josef 143, 197 Wernicke, Erich 153 Wersin, Otto 151, 155 Widowitsch, Christine 125 Willisch, Johann 56 Winternitz, Wilhelm 24, 71, 77, 104 Withalm, Berthold 127 f., 136 Wohlfahrt (Zeitschrift) 23 Z Zedtwitz, Adolf v. 21, 72 Zedtwitz, Curt v. 23 Zeileis, Valentin 104–106, 118, 144 Zimmer, David 24, 30, 40, 46, 54
medizin, gesellschaft und geschichte
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beihefte
Herausgegeben von Robert Jütte.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0941–5033
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alter Menschen in Niedersachsen 1945–1975 2016. 425 S. mit 13 Abb., 30 Graf. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11332-8 Susanne Kreutzer / Karen Nolte (Hg.) Deaconesses in Nursing Care International Transfer of a Female Model of Life and Work in the 19th and 20th Century 2016. 230 S. mit 6 Abb. und 9 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11355-7 Pierre Pfütsch Das Geschlecht des „präventiven Selbst“ Prävention und Gesundheitsförderung in der Bundesrepublik Deutschland aus geschlechterspezifischer Perspektive (1949–2010) 2017. 425 S. mit 24 s/w-Abb., 22 Farbabb. und 64 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11638-1 Gabrielle Robilliard Tending Mothers and the Fruits of the Womb The Work of the Midwife in the Early Modern German City 2017. 309 S. mit 10 s/w-Abb und 4 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11668-8 Kristina Lena Matron Offene Altenhilfe in Frankfurt am Main 1945 bis 1985 2017. 303 S. mit 25 s/w-Abb., kt. ISBN 978-3-515-11659-6 Sylvelyn Hähner-Rombach / Karen Nolte (Hg.) Patients and Social Practice of Psychiatric Nursing in the 19th and 20th Century 2017. 211 S. mit 7 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11716-6 Daniel Walther Medikale Kultur der homöopathischen Laienbewegung (1870 bis 2013) Vom kurativen zum präventiven Selbst? 2017. 360 S. mit 19 Diagr. und 4 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11883-5 Christoph Schwamm Irre Typen? Männlichkeit und Krankheitserfahrung von Psychiatriepatienten in der Bundesrepublik, 1948–1993 2018. 232 S. mit 24 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12139-2
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