Lage und Kampf der Landarbeiter im ostelbischen Preussen: Band 2 Vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Novemberrevolution 1918/19 [Reprint 2021 ed.] 9783112481189, 9783112481172


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German Pages 360 [361] Year 1978

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Lage und Kampf der Landarbeiter im ostelbischen Preussen: Band 2 Vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Novemberrevolution 1918/19 [Reprint 2021 ed.]
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LAGE U N D KAMPF D E R L A N D A R B E I T E R

IM O S T E L B I S C H E N

PREUSSEN

(VOM ANFANG D E S 19. J A H R H U N D E R T S B I S Z U R N O V E M B E R R E V O L U T I O N 1918/19) BAND 8/11

ARC HIVALI SC HE F O R S C H U N G E N ZUR G E S C H I C H T E DER DEUTSCHEN ARBEITERBEWEGUNG V E R Ö F F E N T L I C H T VOM Z E N T R A L I N S T I T U T F Ü R

GESCHICHTE

DER AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN DER

DDR

H E R A U S G E G E B E N VON PROF. DR. DR. H. C. MULT. LEO S T E R N

BAND 8/II

LAGE UND KAMPF DER LANDARBEITER IM OSTELBISCHEN PREUSSEN (VOM ANFANG DES 19. JAHRHUNDERTS BIS ZUR NOVEMBERREVOLUTION 1918/19)

BAND II

Quellen

EINLEITUNG: HANS H Ü B N E R AUSWAHL UND B E A R B E I T U N G : HANS H Ü B N E R UND H E I N Z KÄTHE

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1977

Erschienen im Akademie-Verlag 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 ©Akademie-Verlag Berlin 1977 Lizenznummer 202 • 100/297/77 Gesamtherstellung: V E B Druckhaus „Maxim Gorki", D D R - 74 Altenburg Bestellnummer: 2127/8/II (753 046 3) • LSV 0286 Printed in GDR D D R 8 5 , - M (für Band I und II)

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Resolution zur Landarbeiterfrage, angenommen vom sozialdemokratischen Parteitag für Ostpreußen. Königsberg, 2. September 1900. Volkstribüne v. 4. September 1900. Merseburg, Rep. 77 CB S Nr. 29 II S. 96.

»I • •] „In Anbetracht des Umstandes, daß die Arbeiterbewegung auf dem Lande nur festen Fuß fassen und die Agitation nachhaltige Wirkung haben kann, wenn die Landarbeiter fest organisiert sind, beauftragt der Parteitag die Parteileitung in Königsberg, dieser Frage näher zu treten und die Organisierung der ostpreußischen Landarbeiter in die Wege zu leiten." [...]«

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Lenins Analyse der sozialökonomischen Verhältnisse im Ergebnis der fortschreitenden Entwicklung des Kapitalismus auf dem Lande. Geschrieben von Juni bis September 1901. W. I. Lenin, Die Agrarfrage und die „Marxkritiker", in: Werke, Bd. 5, Berlin 1955, S. 216-220.

»[• • •]

Zum Schluß unserer Ubersicht über die Daten der deutschen Agrarstatistik wollen wir noch einen Blick werfen auf das allgemeine Bild der Verteilung der in der Landwirtschaft beschäftigten Bevölkerung nach ihrer Stellung in der Wirtschaft. Wir nehmen natürlich nur die Landwirtschaft im eigentlichen Sinn (A 1, nicht aber A 1-6 nach der deutschen Klassifikation, d. h., wir zählen zu den Landwirten nicht die Fischer, Forstwirtschaftler und Jäger hinzu), und ferner nehmen wir die Angaben über jene Personen, für die die Landwirtschaft den Hauptberuf darstellt. Die deutsche Statistik teilt diese Bevölkerung in drei Hauptgruppen ein: a) Selbständige (d. h. wirtschaftende Eigentümer, Pächter u. dgl.), b) Angestellte (Verwalter, Vögte, Aufseher, Büropersonal u. a.) und c) Arbeiter, wobei letztere Gruppe wiederum in folgende vier Untergruppen zerfällt: c1) „Familienangehörige, die in der Wirtschaft des Haushaltungsvorstandes, des Vaters, Bruders usw. tätig sind". Mit anderen Worten, es handelt sich hier um Arbeiter, die Fa-

286 milienmitglieder sind, im Unterschied zu Lohnarbeitern, auf die sich die anderen Untergruppen der G r u p p e c beziehen. Es ist daher klar, daß m a n beim S t u d i u m der sozialen Zusammensetzung der Bevölkerung (und i h r e r kapitalistischen Entwicklung) diese mitarbeitenden Familienangehörigen nicht zu den Lohnarbeitern zählen darf, wie es gewöhnlich geschieht, sondern sie zu den Besitzern (a) rechnen muß, denn diese zur Familie gehörenden Arbeiter sind dem Wesen nach auch Mitbesitzer, Mitglieder der Besitzerfamilien, sind erbberechtigt usw. Es folgen die U n t e r g r u p p e n : c2) „Landwirtschaftliche Knechte u n d Mägde"; c3) „Landwirtschaftliche Tagelöhner und sonstige Arbeiter (Schäfer, Hirten) mit eigenem oder gepachtetem Land". Dies ist also eine G r u p p e von P e r sonen, die gleichzeitig Besitzer u n d Lohnarbeiter sind, d. h. eine Gruppe, die eine Zwischenstellung einnimmt, eine Übergangsgruppe, die gesondert betrachtet w e r d e n muß. Schließlich c4) „desgleichen ohne eigenes oder gepachtetes Land". Wir erhalten so drei H a u p t g r u p p e n : I. Grundbesitzer u n d deren Familienmitglieder; II. Grundbesitzer, die gleichzeitig Lohnarbeiter sind; III. keinen Boden besitzende Lohnarbeiter (Angestellte, Landarbeiter u n d Tagelöhner). Auf diese G r u p p e n verteilte sich n u n die Landbevölkerung Deutschlands in den J a h r e n 1882 u n d 1895 folgendermaßen:

Erwerbstätige Bevölkerung, die in der Landwirtschaft ihren Hauptberuf erblickt (in Tausenden) 1882

1895

a) Grundbesitzer c1) Angehörige der B e sitzerfamilien

2 253

2 522

+ 269

1 935

1899

— 36

I c 3 ) Tagelöhner mit Land (II) I + II b) Angestellte c-) Knechte und Mägde c 4 ) Tagelöhner ohne Land

4 188

4 421

+ 233

+

5,6%

866 5 054 47 1 589 1 374

383 4 804 77 1 719 1 445

— — + + +

483 250 30 130 71

-

55,8%

III

3 010

3 241

+ 231

+

7,7%

Zusammen

8 064

8 045

— 19

-

0,20/o

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Die erwerbstätige Bevölkerung in ihrer Gesamtheit hat somit abgenommen, wenn auch unerheblich. Innerhalb derselben sehen wir eine Abnahme der landbesitzenden Bevölkerung (I +11) und eine Zunahme der landlosen Bevölkerung (III). Das beweist deutlich, daß die Expropriation der Landbevölkerung, und zwar gerade der kleinen Landbesitzer, fortschreitet, denn wir wissen bereits, daß die Lohnarbeiter mit einem Stückchen Land zu den allerkleinsten Besitzern gehören. Ferner ergibt sich, daß unter den landbesitzenden Personen die Zahl der landbesitzenden Lohnarbeiter abnimmt und die Zahl der Besitzer zunimmt. Wir sehen folglich ein Schwinden der Mittelgruppen und eine Verstärkung der extremen: die Zwischengruppe schwindet, und es vollzieht sich eine Verschärfung der kapitalistischen Gegensätze. Unter den Lohnarbeitern wächst die Zahl derjenigen, die schon gänzlich expropriiert sind, und die Zahl der Landbesitzer geht zurück; unter den Besitzern wächst die Zahl der unmittelbaren Besitzer von Betrieben, und es sinkt die Zahl der im Betrieb des Haushaltungsvorstands beschäftigten Familienmitglieder. (Letzterer Umstand hängt vermutlich damit zusammen, daß die arbeitenden Mitglieder bäuerlicher Familien vom Familienoberhaupt meistens keine Entlohnung erhalten und daher besonders zur Landflucht neigen.) Wenn wir die Angaben über die nebenberuflich in der Landwirtschaft beschäftigte Bevölkerung nehmen, so sehen wir, daß diese ganze (aktive oder erwerbstätige) Bevölkerung von 3 144 000 auf 3 578 000, d. h. um 434 000 gestiegen ist, wobei diese Zunahme fast gänzlich auf die Gruppe der mitarbeitenden Angehörigen der Besitzerfamilien entfällt, die um 397 000 zugenommen hat (von 664 000 auf 1 061 000). Die Zahl der Besitzer hat um 40 000 zugenommen (von 2 120 000 auf 2 160 000); die Zahl der landbesitzenden Arbeiter hat um 51 000 zugenommen (von 9 000 auf 60 000) ; die Zahl der landlosen Arbeiter ist um 54 000 zurückgegangen (von 351 000 auf 297 000). Diese Riesenzunahme - in 13 Jahren von 664 000 auf 1 061 000, d. h. um 59,8 % - zeugt wiederum von der zunehmenden Proletarisierung, von der Zunahme der Zahl der Bauern, der bäuerlichen Familienmitglieder, die die Landwirtschaft nur noch als Nebenberuf betrachten. Wir wissen, daß der Hauptberuf in solchen Fällen vor allem in Lohnarbeit besteht (erst dann folgen Kleinhandel, Handwerk usw.). Faßt man sämtliche arbeitenden Mitglieder der Bauernfamilien zusammen, sowohl jene, denen die Landwirtschaft Hauptberuf ist, als auch die nur nebenberuflich in der Landwirtschaft Beschäftigten, so erhält man: 2 559 000 für das Jahr 1882, 2 960 000 für das Jahr 1895. Diese Zunahme kann leicht zu einer fal-

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sehen Auslegung und zu apologetischen Schlußfolgerungen Anlaß geben, insbesondere bei einem Vergleich mit der im großen und ganzen abnehmenden Zahl der Lohnarbeiter. In Wirklichkeit aber resultiert diese allgemeine Z u n a h m e aus einer Abnahme der Zahl der bäuerlichen F a milienmitglieder, denen die Landwirtschaft Hauptberuf ist, und einer Zunahme der Zahl derjenigen, denen sie Nebenberuf ist, so daß letztere 1882 n u r 21,7 % aller arbeitenden bäuerlichen Familienmitglieder ausmachten, 1895 dagegen bereits 35,8 %. Die Statistik der gesamten landwirtschaftlichen Bevölkerung zeigt uns also mit aller Anschaulichkeit gerade jene beiden Proletarisierungsprozesse, auf die der orthodoxe Marxismus stets hingewiesen hat und u m die die opportunistischen Kritiker mit solchen schablonenhaften Phrasen h e r u m z u k o m m e n suchen - einerseits fortschreitende Vertreibung der Bauernschaft von der Scholle, Expropriation der Landbevölkerung, die nach der Stadt flüchtet oder sich aus landbesitzenden Arbeitern in landlose Arbeiter verwandelt; anderseits Entwicklung des „Nebenerwerbs" d e r Bauernschaft, d. h. jener Vereinigung von Landwirtschaft und Industrie, die die erste S t u f e der Proletarisierung bedeutet u n d stets zu verstärktem Wachstum der Not f ü h r t (Verlängerung des Arbeitstages, Verschlechter u n g der E r n ä h r u n g usw.). Bis zu einem gewissen G r a d e sind diese beiden Prozesse, rein äußerlich betrachtet, einander sogar entgegengesetzt: zahlenmäßige Z u n a h m e der landlosen Arbeiter u n d zahlenmäßige Z u n a h m e der arbeitenden Mitglieder der bäuerlichen Besitzerfamilien. Vermengt m a n also diese beiden Prozesse oder ignoriert m a n einen von ihnen, so verfällt m a n leicht in die allergröbsten Fehler, wof ü r sich in Bulgakows Buch massenweise Beispiele finden lassen.

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W. I. Lenin zieht Schlußfolgerungen aus der Behandlung der Agrarfrage durch die deutsche Sozialdemokratie. Geschrieben im März 1902. W. I. Lenin, Das Agrarprogramm der russischen Sozialdemokratie, in: Werke, Bd. 6, Berlin 1956, S. 125-126.

»[...] mühen, eifriger wegung

Drittens werden auch wir russischen Sozialdemokraten uns bedie E r f a h r u n g e n Europas auszunutzen, und uns viel f r ü h e r , viel damit befassen, das „Dorf" f ü r die sozialistische Arbeiterbezu gewinnen, als es unseren westlichen Genossen gelungen ist,

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die nach Erringung der politischen Freiheit noch lange „tastend" die Wege für die Bewegung der Industriearbeiter gesucht haben; auf diesem Gebiet werden wir vieles „von den Deutschen" fertig übernehmen, auf dem Agrargebiet dagegen werden wir vielleicht auch etwas Neues schaffen. Und um unseren Ganz- und Halb-Landarbeitern späterhin den Übergang zum Sozialismus zu erleichtern, ist es überaus wichtig, daß die sozialistische Partei jetzt sofort für die Kleinbauernschaft „einzutreten" beginnt, daß sie alles für sie tut, „was in ihren Kräften steht", auf die Teilnahme an der Lösung der brennenden und verwickelten „fremden" (nichtproletarischen) Fragen nicht verzichtet und die gesamte werktätige und ausgebeutete Masse dazu bringt, in der Partei ihren Führer und Vertreter zu sehen. [• • •]«

118 Karl Liebknechts Ringen um die Landarbeiter. Aus einem Bericht des Regierungspräsidenten v. Moltke an den Innenminister. Potsdam, 20. April 1902. Merseburg, Rep. 87 ZB Nr. 203 S. 135-136. Unterzeichnet: v. Moltke. Abschr.

»Die Sozialdemokraten haben in letzter Zeit im Kreise Osthavelland eine rege Tätigkeit entwickelt. Es haben Versammlungen stattgefunden, in denen der sozialdemokratische Rechtsanwalt Liebknecht aus Berlin Vorträge über die wirtschaftliche und politische Lage der sozialdemokratischen Partei gehalten und die Anwesenden aufgefordert hat, eine lebhafte Agitation zu entfalten, um die kleinen Besitzer und die Arbeiter auf dem platten Lande für die Sozialdemokratie zu gewinnen. Infolgedessen sind die dortigen Sozialdemokraten eifrig bemüht, die Landbewohner zum Eintritt in den sozialdemokratischen Verband und zum Lesen sozialdemokratischer Blätter zu bewegen. So haben sie es erreicht, in Hennigsdorf eine Zweigniederlassung des Verbandes der Fabrik-, Land- und Hilfsarbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands zu errichten; auch in Nauen ist der Anschluß an diesen Verband beschlossen. In allen Gemeinden des Kreises Osthavelland werden zahlreiche Flugblätter verteilt, die den Zweck verfolgen, die Landarbeiter und die kleinen Besitzer für die Sozialdemokratie zu gewinnen. [• • •]«

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Kritik an den „patriarchalischen" Zuständen in Ostelbien aus eigener Anschauung heraus, o. D. Hellmut von Gerlach, Erinnerungen eines Junkers, Berlin o. J., S. 18, 28-29.

Natürlich rief der krasse Gegensatz zwischen der Paria-Existenz der Landarbeiter u n d dem behaglichen Leben auf den Schlössern meine Kritik wach. Nachdrücklicher noch als die Elendsexistenz der Arbeiter selbst aber w i r k t e auf mich die hündische Gesinnung, die durch die Unermeßlichkeit des sozialen Tiefstands hervorgerufen wurde. Ich v e r gesse nie die feierlichen Weihnachtsbescherungen in meinem väterlichen Schloß. J e d e Familie bekam kleine Gaben u n d dazu f ü r jedes J a h r , das sie im Gesindehaus verbracht hatte, einen Taler extra. Nachdem die Geschenke verabreicht und die f r o m m e n Lieder absolviert waren, k a m die Dankespolonaise. Dabei k ü ß t e n die alten Arbeiter und i h r e F r a u e n nicht n u r meinen Eltern, sondern auch uns Kindern die Hand. Schon als J u n g e von n e u n oder zehn J a h r e n e m p f a n d ich Scham u n d Ekel zugleich bei dieser Zeremonie. [• • J Die Landarbeiter standen auf einer sehr niedrigen Kulturstufe. Fast ihr einziges Vergnügen w a r der Schnaps, den sie bei festlichen Gelegenheiten (Weihnachten, Erntefest, Jagd) literweise aus der gutsherrlichen Brennerei erhielten. Die F r a u e n d e r Besitzer empörten sich oft ü b e r die am Sonnabend u n d Sonntag fast regelmäßig herrschende Besoffenheit, f r e u t e n sich aber gleichzeitig ü b e r den gutgehenden Betrieb der eheherrlichen Kartoffelbrennerei. Die herrschende Moral w u r d e eben richtig durch die Verse charakterisiert: Lern, lieber Sohn, das Leben kennen, Sehr nobel ist es, Schnaps zu brennen, Bedenklich schon, ihn zu verkaufen, Ganz unmoralisch, ihn zu saufen! Die Landarbeiter w a r e n politisch damals einzig ein F a k t o r zur Erhaltung der konservativen Herrschaft. Bei ihren Hundelöhnen konnten sie sich den Luxus einer eigenen Zeitung nicht leisten. Der Rittergutsbesitzer ließ ihnen auf seine Kosten entweder eine kleine konservative Tageszeitung oder g a r n u r ein f r o m m e s Sonntagsblättchen zustellen. Zu Weihnachten bekamen sie einen Kalender mit patriotischen Erzählungen oder christlichen E r m a h n u n g e n zu Demut, Gehorsam u n d Z u f r i e -

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denheit. Zu andern als konservativen Versammlungen wagte der Dorfwirt seinen Tanzsaal nicht herzugeben, da der Gutsbesitzer als Amtsvorsteher ihn bei unbequemem Verhalten in jeder Weise schikanieren konnte. Am Wahltag wurden die Arbeiter während der Mittagspause in geschlossenem Zuge zum Wahllokal geführt, vorn der Inspektor, hinten der Förster. Am Eingang zum Wahllokal übergab der Inspektor jedem Arbeiter den konservativen Stimmzettel, der gleich darauf von dem Gutsbesitzer als Wahlvorsteher in Empfang genommen wurde. [• • •]«

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Der Innenminister an den Landwirtschaftsminister über den Kampf der Sozialdemokratie für die Koalitionsfreiheit der Landarbeiter von 1901 bis 1902. Berlin, 24. März 1903. Merseburg, Rep. 87 B Nr. 309 S. 100—101, Bericht. Unterzeichnet: In Vertretung v. Bischoffshausen. Ausf.

»Euere Exzellenz beehre ich mich mit Bezug auf unseren gemeinschaftlichen Erlaß vom 18. Juli 1900 - M.d.I.C. 6896 M.f.L.I. Ab 3898 ergebenst mitzuteilen, daß nach den den Zeitraum vom 1. Oktober 1901 bis dahin 1902 umfassenden Jahresberichten der Regierungspräsidenten über den Stand der sozialdemokratischen Bewegung die auf Erlangung der Koalitionsfreiheit für die Landarbeiter gerichteten Bestrebungen der Sozialdemokratie nur in den Regierungsbezirken Königsberg, Potsdam, Frankfurt a/O., Magdeburg, Schleswig, Hildesheim, Münster und Kassel in bemerkbarer Weise hervorgetreten sind. Besondere Erfolge haben diese Bestrebungen jedoch ebensowenig erzielt wie in dem dem Berichtsjahre vorangegangenen Jahre. Im Regierungsbezirke Königsberg ist es dem Hannoverschen Verbände der Fabrik-, Land- und Hilfsarbeiter und Arbeiterinnen gelungen, im Kreise Wehlau eine Zahlstelle zu gründen, der sofort 42 Personen beigetreten sind und der jetzt 52 Mitglieder angehören sollen. Die Bewegung ist durch die seit dem Jahre 1900 jeden Sommer bei den Bauten der Provinzialverwaltung (Ausbau der Landespflegeanstalt) beschäftigten 70-80 Maurer dorten verpflanzt worden, da sie indessen bisher in den Wintermonaten vollständig einschlief, so ist ein Eingehen der Zahlstelle nach der bevorstehenden Beendigung der Bauten zu erwarten.

292 Im Regierungsbezirke Potsdam hat der Verband neue Zahlstellen in Hennigsdorf und Nauen, im Kreise Ost-Havelland, errichtet; überhaupt hat sich gerade in diesem Kreise die Agitation unter der Landbevölkerung besonders bemerkbar gemacht. Ferner hat sich in Zehdenick, Kreis Templin, ein Teil der ländlichen Ziegeleiarbeiter organisiert. Dagegen konnte im Kreise Nieder-Barnim, wo an mehreren Orten Versammlungen der Fabrik- und Landarbeiter stattfanden, eine wachsende Teilnahme der ländlichen Arbeiter nicht beobachtet werden. Der dortige Landrat führt dies auf die ungünstigen Arbeits- und Lohnbedingungen, vor allem aber auf die von den Arbeitgebern ergriffenen Gegenmaßregeln zurück, die bei dem Vorhandensein überschüssiger Arbeitskräfte mehr als sonst gefürchtet würden. In den übrigen Kreisen des Regierungsbezirks sind Bestrebungen zur Erlangung der Koalitionsfreiheit für die ländlichen Arbeiter nicht hervorgetreten. Im Regierungsbezirke Frankfurt a/O. wurde in einigen Versammlungen der Zusammenschluß zur Erlangung der Koalitionsfreiheit empfohlen.

[• • .]*

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Sozialdemokratische Initiative zur Gewinnung der Arbeiter in Westpreußen. Berlin, 3. November 1903.

ländlichen

Vorwärts v. 3. November 1903. »Für den Wahlkreis Elbing - Marienburg ist von den Elbinger Genossen eine neue Organisation geschaffen worden. Es ist ein Verein unter dem Titel „Sozialdemokratischer Verein des Elbing-Marienburger Wahlkreises" gegründet worden. Bisher bestand nur ein Sozialdemokratischer Verein für Elbing; durch die Neuorganisation soll besonders den Landarbeitern dieses Kreises Gelegenheit geboten werden, sich zu organisieren.«

293 122

Aus dem „Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands". Bremen, 18. bis 24. Sept e m b e r 1904. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Berlin 1904, S. 106—108, 213—214.

Parlamentarischer Bericht »[...] Am Schluß der diesjährigen Reichstagsverhandlungen brachten wir d a n n noch folgende Interpellation zur E r ö r t e r u n g : Seitens des H e r r n Justizministers, des H e r r n Ministers f ü r Landwirtschaft, Domänen u n d Forsten und des H e r r n Ministers des Innern des Bundesstaats P r e u ß e n ist am 6. Mai 1904 dem preußischen Abgeordnetenhause ein „Gesetzentwurf, betreffend die Erschwerung des Vertragsbruchs landwirtschaftlicher Arbeiter und des Gesindes" vorgelegt worden. Da dieser Gesetzentwurf im Widerspruch zu Vorschriften der Reichsgesetzgebung, insbesondere der Reichsverfassung, des Freizügigkeitsgesetzes, der Gewerbeordnung, des Bürgerlichen Gesetzbuchs und des Strafgesetzbuchs enthält, welche landwirtschaftliche Arbeiter und Dienstboten, die vermeintlich einem Arbeitgeber zu landwirtschaftlicher Arbeit oder zum Gesindedienst noch verpflichtet sind, in Verruf zu erklären geeignet sind, diejenigen mit S t r a f e bedroht, welche mit solchen landwirtschaftlichen Arbeitern oder Dienstboten irgend einen Dienstv e r t r a g schließen oder f ü r solche Arbeiter einen neuen Dienst vermitteln, u n d so Arbeitswillige hindern in Arbeit zu treten, so f r a g e n w i r : was gedenkt der Herr Reichskanzler zu tun, um dem Bundesstaat Preußen gegenüber die Reichsgesetzgebung zur Geltung zu bringen? In eingehender Rede wies unser Vertreter nach, daß der fragliche Gesetzentwurf nicht n u r den ländlichen Arbeitern und den Kleinbauern in schmählichster Weise ihre Rechte zu Gunsten des Großgrundbesitzes v e r k ü m m e r n würde, sondern auch gegen die Reichsverfassung u n d die in der Interpellation n a m h a f t gemachten Gesetze verstößt. Der Zweck des Gesetzes sei offenbar, die ländlichen Arbeiter an die Scholle zu fesseln, indem m a n ihnen den Fortzug von einem Unternehmer, der sie schlecht behandelt, erschwert. Indem m a n n u n einen jeden U n t e r n e h -

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mer, der kontraktbrüchige Arbeiter in Lohn nehme, bestrafen wolle, verkümmere man dem Landarbeiter die Freizügigkeit. Offenbar gehöre diese Frage aber auch zur Kompetenz des Reichs. Sie im preußischen Landtag für Preußen erledigen zu wollen, komme auf einen Bruch der Reichsverfassung hinaus. Die Fassung des Gesetzes schreibe die Bestrafung eines jeden vor, der einen kontraktbrüchigen Arbeiter in Dienst nimmt; nach ihr solle bestraft werden: „Wer Dienstboten, Gesinde oder landwirtschaftliche Arbeiter, von denen er weiß oder bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt wissen muß, daß sie einem anderen Arbeitgeber zur landwirtschaftlichen Arbeit oder zum Gesindedienst noch verpflichtet sind, in Dienst nimmt - " Also auch kein Fabrikant, Handwerker, Kaufmann, kurz kein Mensch dürfe einen solchen Arbeiter dann noch beschäftigen. Der kontraktbrüchige Landarbeiter soll dem Hungertode überliefert werden. Darin zeige sich neben der Rechtswidrigkeit die tiefe Unsittlichkeit dieses Gesetzentwurfs. Das Reich dürfe dessen Gesetzwerdung nicht dulden. Herr Nieberding suchte so gut es gehen wollte die preußische Regierung zu verteidigen, mußte aber zugeben, daß die Fassung des Gesetzes „etwas unklar" sei. Nicht auf den Wortlaut komme es an, sondern darauf, was der Verfasser hätte sagen wollen. Es sollten nämlich nur die Landwirte mit Strafe bedroht werden, die einen kontraktbrüchigen Landarbeiter als Landarbeiter beschäftigen wollen. Im übrigen meinte der Herr, die Rechte des Reiches seien durch den Gesetzentwurf nicht bedroht und deshalb werde der Reichskanzler in der Sache nichts tun. Durch seine Entschuldigung für die „unklare Fassung" hatte jedoch Herr Nieberding selber ein vernichtendes Urteil gefällt über die Schönstedtsche Gesetzmacherei, denn das erste Erfordernis eines jeden Gesetzes, besonders aber eines Strafgesetzes ist, daß es völlig unzweideutig und klar sein muß. Verschiedene Redner bürgerlicher Parteien rückten merklich ab von diesem Produkt, und von unserer Seite wurden die gequälten juristischen Entschuldigungsversuche des Herrn Nieberding in das rechte Licht gerückt. An der Hand einer Fülle von Tatsachen wies unser Redner nach, wie scheußlich jetzt schon häufig die Behandlung der Landarbeiter, auch der weiblichen, ist und wie wenig Schutz sie bei den Gerichten finden. Er faßte dann unser Endresultat über die Angelegenheit in den Worten zusammen: „Gewiß: es muß die Gesetzgebung eingreifen, aber nicht in der Weise, daß sie die Bestimmungen über die Bestrafung des Kontraktbruchs erweitert oder verschärft, sondern da-

295 durch, daß sie endlich ein Gesetz erläßt zum Schutze der Landarbeiter gegen Unterdrückung und Knechtung." [...]« Diskussion »l • •] Krasemann - Neu-Ruppin: Über die ländlichen Arbeiter ist noch kein Wort gesprochen worden. Ich empfehle Ihnen als Vertreter eines ländlichen Kreises den A n t r a g 43 (Nieder-Barnim). Das Elend der Landarbeiter ist unbeschreiblich; es bestehen geradezu russische Zustände. Bei uns herrschen die A r n i m s u n d die Eulenburgs. Sieht m a n ihre Schlösser, so meint man, im Dorado zu sein. Einige S t u n d e n weiter aber trifft m a n jämmerliche Arbeiterbehausungen. Die H ü t t e n der Steinklopfer gewähren besseren Schutz gegen Witterungsunbilden als diese Löcher. Und wie sind die Löhne? Die männlichen Arbeiter verdienen bei 12-13stündiger Arbeitszeit 80 Pf. bis 1,25 M., die F r a u e n 60-80 Pf. Arbeiterinnen, die morgens u m 2 U h r aufstehen und u m */23 zum Melken gehen, eine Arbeit, die bis V26 Uhr dauert, erhalten d a f ü r 25-30 Pf. (Hört! hört!) Sie sehen, in welchem Elend die Landbevölkerung lebt. U n d wie sieht es erst mit den Kinderchen aus! Die Schulen auf dem Lande sind so schlecht, daß wir uns nicht zu w u n d e r n brauchen, wenn w i r bei den Landarbeitern noch kein Gehör finden. Kinder von 9-10 Jahren erhalten im Sommer so gut wie gar keinen Schulunterricht, denn n u r von 6-8 Uhr ist Schule, d a n n geht es an die Feldarbeit. Aus eigner K r a f t k a n n sich die Landarbeiterschaft nicht befreien, fehlt ihr doch sogar das Koalitionsrecht, und jetzt sucht die preußische Regierung durch das Kontraktbruchgesetz neue Fesseln f ü r sie zu schmieden. Da sollte sich die Fraktion dieser unterdrücktesten Arbeiterklasse besonders annehmen. (Beifall.) [• • •]«

123

Entschiedener Protest des Parteitages der sozialdemokratischen Partei in Preußen gegen Maßnahmen zur Verschlechterung der Landarbeitergesetzgebung. Berlin, 28. bis 31. Dezember 1904. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der sozialdemokratischen Partei Preußens, Berlin 1905, S. 28, 80—81, 127.

»[.. .] Schwericke - Werder a. H.: Die Wohnungen der Landarbeiter sind noch weit schlechter als die Arbeiterwohnungen in den Städten. Zehn,

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zwölf Familien wohnen zusammen in einem Hause und drei bis vier Personen müssen gemeinsam eine Küche benutzen. Der Fußboden ist mit Ziegeln belegt, die Kammern sind nicht heizbar und haben keine Fenster, sondern höchstens ein Luftloch; sie werden nicht nur zum Schlafen benutzt, sondern auch zur Aufbewahrung von Kartoffeln und gepökeltem Fleisch. Klosetts sind meist überhaupt nicht vorhanden. Kein Wunder, daß solche Zustände Unsittlichkeit zeitigen! Dazu kommt, daß nach den Kontrakten alle Mitglieder der Familie für den Besitzer mitzuarbeiten gezwungen sind. Die Löhne betragen im Winter für Männer 1,10 bis 1,30 Mark, für Frauen 60 Pfennig bis 1 Mark pro Tag, und wer dafür nicht arbeiten will, der wird gezwungen, die Wohnung zu verlassen. Redner schildert einige Landarbeiterwohnungen, die er aus eigener Anschauung kennt. Die Polizei kümmert sich um diese Verhältnisse nicht. Es ist dringend notwendig, die Landarbeiter darüber aufzuklären, wie schlecht und teuer sie wohnen. Auch in den kleineren Gemeinden muß eine Wohnungsinspektion eingeführt werden. [•••]

Dr. Liebknecht - Berlin: Es wird ein Ruhmesblatt in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie bleiben, daß sie als erste die entsetzlichen barbarischen Zustände in den Rechtsverhältnissen des Gesindes und der landwirtschaftlichen Arbeiter in ausführlicher und sachlicher Weise behandelt hat und zwar unter der Schwurzeugenschaft der kompetentesten Zeugen, der Landarbeiter selbst. Auch ich verfüge aus meiner Praxis als Anwalt über ein reichhaltiges Material. Im Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch ist das Recht zum Prügeln des Gesindes ausdrücklich aufgehoben, aber trotzdem ist nach wie vor das Prügelrecht für Preußen anerkannt. Um das zu verstehen, muß man Jurist, sogar Kammergerichtsrat sein. (Heiterkeit.) Es wird nämlich gesagt, die preußische Gesindeordnung enthält gar kein Prügelrecht, sondern bloß eine prozessuale Bestimmung, die bei gewissen Mißhandlungen und Beleidigungen das Klagerecht der Dienstboten ausschließt, und diese gewissermaßen prozessuale Bestimmung ist aufrechterhalten. Das ist die Auffassung des Kammergerichts und des Reichsgerichts. In der Provinz Brandenburg bestehen auf einem Gut, das durch eines der schönsten Gedichte von Fontane berühmt geworden ist, Arbeitsverträge, die u. a. die Bestimmung enthalten, daß die Instleute ihre Kinder nur bis zum 15. oder 16. Lebensjahre bei sich im Hause behalten dürfen; wenn die Kinder vom 15. Jahre an für den Gutsbesitzer arbeiten wollen, dann dürfen sie noch weiter da bleiben, sonst müssen sie aus dem Elternhause heraus. (Hört! hört!) Das ist geradezu eine Erpressung.

297

[••J c) Resolution betr. den Schutz der Landarbeiter und des Gesindes. Der preußische Parteitag erklärt: Der dem preußischen Abgeordnetenhause vorgelegte „Entwurf eines Gesetzes betreifend die Erschwerung des Vertragsbruchs landwirtschaftlicher Arbeiter und des Gesindes" ist ein mit der Reichsgesetzgebung unvereinbares neues Ausnahmegesetz gegen die Kleinbauern, die ländlichen Arbeiter und das Gesinde. Dieser Gesetzentwurf sucht diese Arbeiterklasse zugunsten der Großgrundbesitzer vollends zu entrechten und auf die Stellung mittelalterlicher Höriger und Zwangsarbeiter herabzudrücken. Eine bis zur Unerträglichkeit gesteigerte Vermehrung des Elends der Kleinbauern, der ländlichen Arbeiter und des Gesindes sowie eine Vermehrung der Leutenot wäre die notwendige Folge eines solchen Ausnahmegesetzes. Gegen den Gesetzentwurf erhebt der preußische Parteitag nachdrücklichst Protest. Der preußische Parteitag fordert entgegen diesem Ausnahmegesetz : die rechtliche Gleichstellung der ländlichen Arbeiter und des Gesindes mit den gewerblichen Arbeitern; Beseitigung der gegen die ländlichen Arbeiter und gegen das Gesinde bestehenden Ausnahmegesetze, insbesondere des Gesetzes vom 24. April 1854 und der Gesindeordnungen; Arbeiterschutz durch Reichsgesetz f ü r die ländlichen Arbeiter und f ü r das Gesinde und ein volles, gesichertes Koalitionsrecht. Die traurige wirtschaftliche und rechtliche Lage der ländlichen Arbeiterbevölkerung und das Bestreben der herrschenden Klasse, die ländliche erwerbstätige Bevölkerung vollends rechtlos zu machen, legt den Parteigenossen die dringende Pflicht auf, die ländliche Bevölkerung über die Mißachtung ihrer Rechte aufzuklären und ihnen die Notwendigkeit eines festen Zusammenschlusses zum gemeinsamen Kampfe gegen Ausbeutung und Reaktion einzuprägen. Der Parteitag fordert daher die Parteigenossen auf, mit allen Kräften die Aufklärung und Organisation der Landarbeiter und des Gesindes zu betreiben, um die wirtschaftliche Notlage und die politische Unterdrückung des ländlichen Proletariats wirksam zu bekämpfen. [. • •}«

25 Ostelb. Landarbeiter

298 124 Aufruf zur Beteiligung der werktätigen Landbevölkerung an der Maifeier. Berlin, 30. April 1905. V o r w ä r t s (Berlin), N r . 101, 30. 4. 1905.

»Kleinbauern, Landarbeiter und Maifest. Warum feiert der ländliche Arbeiter und der Kleinbauer den Maitag nicht mit, wiewohl f ü r ihn, f ü r seine Familie in allererster Reihe eine Arbeiterschutzgesetzgebung nottut, wie sie die Maifeier anstrebt? Er feiert sie mit, freilich n u r geistig. Von der Betätigung der Mitfeier halten Ausnahmegesetze ihn zurück, die in dem größten Teil Deutschlands noch gegen die Kleinbauernschaft und den ländlichen Arbeiter gelten [...] Diese Sklavenketten zu zerreißen liegt im Interesse des ländlichen Proletariats, nicht minder aber im Interesse der industriellen Arbeiter und der gesamten Kultur [...] Der Landarbeiter ist nicht machtlos, wenn er sich seiner Lage bewußt wird und bewußt wird seiner Kraft. Seine K r a f t beruht in seiner Masse. Vereinzelt vermag der Arbeiter nichts, vereint mit seinen Arbeits- und Leidensgenossen gar vieles. Der Arbeiter ist dem ,Herrn' unentbehrlicher als der Herr ihm. Denkt an die Zusammenraffung der ländlichen Arbeiter in Ungarn, Italien, selbst in Rußland: überall ist dort durch die Empörung der Arbeiter ihre Lage in etwas gebessert. Pflicht der Arbeiter ist es, ihre Macht zu gebrauchen: hinein in die gewerkschaftlichen und politischen Vereine! Das ist der Ruf, der auch f ü r die ländlichen Arbeiter am 1. Mai gilt [...] Und den die ländliche Scholle bearbeitenden Kleinbauer und Landarbeiter darf die Siegeszuversicht am 1. Mai doppelt und dreifach erfüllen. Dein ist der Wald, dein die Heide, dein der Acker, wenn du n u r willst. Ja, du ackerst und du säest, und du nietest und du nähst, und du hämmerst und du spinnst, sag, o Volk, was du gewinnst? Nichts als die Unzufriedenheit mit dem Zustand der Dinge, solange die Menschenrechte, das Recht jedes Menschen auf Freiheit, Gleichheit und Glückseligkeit von der kleinen aber mächtigen Schar der Besitzenden mißhandelt wird und du, Arbeiter, die Mißhändler noch unterstützt. Her mit dem Grund und Boden für die Allgemeinheit, für alle! Artur Stadthagen«

299 125

Sozialdemokratische Organisationserfolge unter den ostpreußischen Landarbeitern. Berlin, 20. April 1906. Vorwärts v. 20. April 1906.

»Tausend politisch organisierte Landarbeiter (Instleute, Deputanten, Freiarbeiter, Knechte u n d kleine Besitzer) zählen jetzt in Ostpreußen die sieben fast rein ländlichen sozialdemokratischen Wahlkreisvereine. Die Zahl 1 000 f ü r eine ganze Provinz ist nicht groß. Wenn m a n aber bedenkt, u n t e r welchen schwierigen Verhältnissen in diesen im Reichstage u n d Landtage durch erzreaktionäre J u n k e r u n d Pfaffen vertretenen Wahlkreisen die Agitation betrieben w e r d e n muß, dann erscheinen tausend politisch organisierte, fast rechtlose Landarbeiter in einem ganz anderen Lichte.«

126

Aus „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften" von Rosa Luxemburg. Petersburg' 15. September 1906. Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 2, Berlin 1972, S. 138-139.

Und endlich das größte u n d wichtigste: das Landarbeiterelend. Wenn die englischen Gewerkschaften ausschließlich auf die Industriearbeiter zugeschnitten sind, so ist das bei dem spezifischen Charakter der englischen Nationalwirtschaft, bei der geringen Rolle der Landwirtschaft im Ganzen des ökonomischen Lebens eher eine begreifliche Erscheinung. In Deutschland wird eine gewerkschaftliche Organisation, u n d sei sie noch so glänzend ausgebaut, wenn sie lediglich die Industriearbeiter u m f a ß t u n d f ü r das ganze große Heer der Landarbeiter unzugänglich ist, i m m e r n u r ein schwaches Teilbild der Lage des Proletariats im ganzen geben. Es w ä r e aber wiederum eine verhängnisvolle Illusion, zu glauben, daß die Zustände auf dem flachen Lande unveränderliche und unbewegliche seien, daß sowohl die unermüdliche A u f k l ä r u n g s a r beit der Sozialdemokratie wie noch mehr die ganze innere Klassenpolitik Deutschlands nicht beständig die äußere Passivität des Landarbeiters u n t e r w ü h l e n u n d daß bei irgendeiner größeren allgemeinen Klassenaktion des deutschen Industrieproletariats, zu welchem Zweck sie auch u n t e r n o m m e n sei, nicht auch das ländliche Proletariat in A u f r u h r 25 »

300 kommt. Dies k a n n sich aber ganz n a t u r g e m ä ß nicht anders als zunächst in einem allgemeinen stürmischen ökonomischen K a m p f , in gewaltigen Massenstreiks der Landarbeiter äußern. [• • •]«

127

Mobilisierung der Landarbeiterinnen für die sozialistische Bewegung. Mannheim, 22. und 23. September 1906. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Berlin 1906, S. 414, 417-420, 421-430.

» [ • • •]

Da die Genossin Zetkin durch Unwohlsein verhindert ist, h e u t e zu referieren, wird P u n k t 3 der Tagesordnung vorweggenommen: „Agitation unter den Landarbeiterinnen". Berichterstatterin F r a u Zietz - H a m b u r g : Der F a n f a r e n r u f des Kommunistischen Manifestes: „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!" ist lange Zeit unbeachtet u n d ungehört a m Proletariat der Agrikultur vorübergerauscht. Kein W u n d e r ! Zur Zeit, da der Ruf des Manifestes h i n ausging in die Lande, u m zu wecken u n d zu scharen u m das Panier des Klassenkampfes alle, die da mühselig u n d beladen sind, w a r das Landproletariat k a u m befreit von den alten feudalen Fesseln der Leibeigenschaft und Hörigkeit. Und bevor diese alten Fesseln gefallen, w a r e n in Form von Gesindeordnungen, Ausnahmegesetzen und Polizeiverordnungen bereits n e u e f ü r sie geschmiedet. U n t e r dem Einfluß einer J a h r h u n d e r t e langen Tradition stehend, die sie an Unterwürfigkeit, Gehorsam u n d feudale Zwangsarbeit gewöhnt, in Unwissenheit, A r m u t , in Zucht und E h r f u r c h t vor dem G r u n d h e r r n und der Obrigkeit erzogen, konnte das Landproletariat aus sich h e r a u s unmöglich zum Klassenbewußtsein erwachen, wenn auch der Klassengegensatz zwischen „freien" Proletariern u n d mächtigen Besitzenden, zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern, längst aufs Land verpflanzt war. [•••]

Am 9. Oktober 1807 erschien in P r e u ß e n ein königliches Edikt folgenden Inhalts: „Nach dem Datum dieser Verordnung besteht f e r n e r h i n kein untertäniges Verhältnis, weder durch Geburt noch durch Heirat, noch durch Übernehmung einer untertänigen Stellung noch durch Vertrag. Mit dem Martini 1810 hört alle Gutsuntertänigkeit a u f ; nach dem

301 Martinitag 1810 gibt es in unseren sämtlichen Staaten nur freie Leute." (Lachen.) Aber ehe der Martinitag des Jahres 1810 herankam, hatte das Junkertum, welches vorzüglich verstand, die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Bauernbefreiung in ein großes Bauernlegen umzuwandeln, es durchgesetzt, trotz des Protestes des Ministers v. Stein, daß in einer neuen Gesindeordnung vom 8. November 1810 die alten Bestimmungen der Gesindeordnung von 1794 nicht nur wieder auflebten, sondern auch auf wirtschaftliche Dienste ausgedehnt wurde, um die von ihrer Scholle vertriebenen Bauern in der Gesindesklaverei festzuhalten. - Das „tolle" Jahr 1848 brachte endlich die Aufhebung der gutsherrlich-bäuerlichen Feudallasten. Dabei setzten es die „Edelsten und Besten" unserer Nation, die bezeichnenderweise fast alle ein Raubtier in ihrem Wappen führen, durch, daß ihre feudalen Vorrechte in bürgerliches Eigentum umgewandelt wurden, daß, abgesehen von dem Länderraub, die Milliarde Mark voll wurde, welche- die Bauern als Ablösungsgelder zu zahlen hatten, um einen kleinen Teil des Landes als freies Eigentum zu erhalten, welches ihre Vorfahren als freie Leute besaßen und bestellt hatten. Aber gleichzeitig erzwangen die Junker das Ausnahmegesetz vom 24. April 1854 gegen die Landproletarier, zu denen jetzt auch viele der Bauern durch das Bauernlegen und das Ablösen der Fronden degradiert waren. Würden unsere Bauern ein klein wenig mehr historischen Sinn haben, sich ein klein wenig mehr an diesen großen Raubzug gegen ihre Vorfahren erinnern - nimmermehr könnten sie den Kanitzen und Köckeritzen Schleppenträgerdienste leisten. (Sehr wahr!) Das erwähnte Ausnahmegesetz bedroht das Gesinde, welches sich hartnäckigen Ungehorsam oder Widerspenstigkeit zuschulden kommen läßt oder ohne gesetzmäßigen Grund den Dienst versagt oder verläßt, mit Geldstrafe bis zu 15 Mk. oder mit Gefängnis bis zu drei Tagen. Mit Gefängnis bis zu einem Jahr bedroht es die Landarbeiter, wenn sie gemeinsam höhere Löhne verlangen oder gemeinsam die Arbeit niederlegen, um Zugeständnisse zu erlangen. Dieses Gesetz wurde 1868 auch auf Hessen-Nassau und Schleswig-Holstein ausgedehnt. 1900 schuf Anhalt ein gleiches Gesetz. In Ost- und Westpreußen unterliegen die Instleute, im Regierungsbezirk Stralsund die Einlieger und Kätner besonderen Ausnahmebestimmungen, indem sie durch Polizeigewalt zum Antritt und zur Rückkehr zum Dienst gezwungen werden konnten. In Bayern bestimmt das Polizeistrafgesetzbuch, daß Gesinde und auf längere Zeit beschäftigte Tagelöhner, wenn sie zur Zeit der Aussaat und Ernte ohne gesetzlichen Grund die Arbeit verlassen, bis zu 14 Tagen mit Haft bestraft, von der Polizei zur Arbeit zurückgeführt und im

302 Wiederholungsfall mit Haft bis zu drei Wochen belegt werden können. Für Mecklenburg ward 1892 noch ein Gesetz geschaffen, das Hoftagelöhner und Hofgänger mit Geldstrafen bis zu 30 Mk. oder mit Haft bis zu 14 Tagen bedroht, wenn sie ohne Rechtsgrund den Dienst verlassen oder die Arbeit niederlegen oder den schuldigen Gehorsam verweigern. Das Bürgerliche Gesetzbuch hebt diese Ausnahmebestimmungen gegen ländliche Arbeiter auf, aber das Ausnahmegesetz von 1854 besteht weiter und § 95 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch besagt, daß alle landesgesetzlichen Bestimmungen über das Gesinderecht unberührt bleiben. Die Freisinnsmannen nehmen neben den übrigen bürgerlichen Parteien f ü r sich den Ruhmestitel in Anspruch, die Erhaltung der mittelalterlichen Gesindeordnungen bei Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuches mit verschuldet zu haben. (Lebhafte Zustimmung.) Und in ihrem neugeschaffenen Hamburger Aktionsprogramm der vereinigten Liberalen treten sie f ü r eine Reform, nicht etwa f ü r die Beseitigung der Gesindeordnung ein. Für das Gesinde gelten also nach wie vor all die vielen Gesindeordnungen, deren Deutschland fast 100 zählt, und die fast alle oder wenigstens zum größten Teile den Geist des finstersten Mittelalters atmen. Daneben existieren zahlreiche Polizeiverordnungen, ministerielle und statutarische Bestimmungen. Selbst f ü r Baden und die Rheinlande, wo der Code civil galt oder demselben nachgebildete Bestimmungen, sind in den sechziger Jahren neue Gesindeordnungen erlassen worden. Lediglich in Elsaß-Lothringen regelt der Code Napoleon den Dienstvertrag wie alle Verträge. Bezeichnend f ü r das heutige Gesinde- und Landarbeiterrecht ist vor allem, daß es diese unserer ganzen historischen und wirtschaftlichen Entwicklung Hohn sprechende Überbleibsel eines Rechtsverhältnisses aus einer weit hinter uns liegenden Rechts- und Wirtschaftsperiode in unsere Zeit hineinträgt und aufrechterhält, daß es die Bestimmungen der Gesindeordnung konserviert, die in der Zeit der vollsten Erbuntertänigkeit und der feudalen Gliederung der Gesellschaft wurzeln. Was die einstigen patriarchalischen Verhältnisse Angenehmes f ü r das Gesinde boten, daß es wirklich Hausgenosse w a r und den Schutz und Verkehr der Familie genoß, ist geschwunden; dagegen sind die Pflichten und Bürden des Gesindes erheblich vermehrt worden. (Sehr richtig!) Dabei wird faktisch das Züchtigungsrecht trotz seines ausdrücklichen Verbots ungeniert gehandhabt. Und den Rechtsweg gegen diese Gewalttätigkeiten hat man dem Gesinde auf alle mögliche Weise erschwert. Aus den buntscheckigen Bestimmungen der Gesindeordnungen wollen wir nur

303 einige hervorheben. § 51 der preußischen Gesindeordnung bestimmt: falls sich das Gesinde weigert, den Dienst anzutreten, hat die Obrigkeit Zwangsmittel anzuwenden. Bleiben diese fruchtlos und muß deshalb ein anderer Dienstbote gemietet werden, so muß das Gesinde nicht allein den Schaden ersetzen, sondern es verfällt in eine Strafe von 2-5 Talern oder eine entsprechende Gefängnisstrafe. § 76 besagt - und ähnliche Bestimmungen enthalten die meisten Gesindeordnungen die Befehle dieser Ausdruck ist sehr bezeichnend - der Herrschaft und ihre Verweise muß das Gesinde mit Ehrerbietung und Bescheidenheit annehmen. (Hört! hört!) Nach der Gesindeordnung von Frankfurt a. M. kann das Gesinde ohne Kündigung entlassen werden, wenn es einen übermäßigen Aufwand an Geld und Kleidung macht, wenn es durch Verabredung das Nebengesinde zum Aufkündigen des Dienstes „verleiten" will. Außerdem trifft den „Urheber" noch eine 3-6tägige Arreststrafe! Man sieht, das Wort von der Gesindesklaverei ist nur zu berechtigt. Trotz dieser rechtlosen Stellung der Landarbeiter und des Gesindes schreit das Agrariertum unausgesetzt nach neuen Knebelungsgesetzen, Beseitigung der Freizügigkeit, nach Bestrafung des Kontraktbruchs. Dabei haben zahlreiche Landarbeiter infolge ihrer Armut und infolge der hohen Personentarife der Eisenbahnen faktisch keine Freizügigkeit. Im preußischen Abgeordnetenhause wurde 1899 im Anschluß an die Besprechung eines Antrages Gamp über die „Leutenot" ein Antrag angenommen, der ein wunderbares Bukett junkerlicher Unverschämtheiten darstellte. Aus den 12 Punkten heben wir nur folgende hervor: Erschwerung des Kontraktbruches, größte Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse bei Festsetzung der Schulzeiten auf dem Lande, Verminderung der Beschäftigung von Arbeitern der Staatsbetriebe während der Erntezeit; sogar der Strafvollzug soll sich nach der Erntezeit richten; ferner wurde gefordert Einschränkung der Arbeiterfahrkarten auf den Eisenbahnen. Junge Leute unter 18 Jahren sollen nicht ohne Genehmigung der Eltern oder des Vormundes von der Heimat fortziehen dürfen. Dafür sollen aber Ausländer in größerem Umfange zugelassen werden, auch zum Gesindedienst, und Soldaten und Korrigenden sollen zur Landarbeit beurlaubt werden. Unsere Junker setzten alles daran, die teilweise faktische Aufhebung der Freizügigkeit zu einer allgemein gesetzlichen zu gestalten, um so der fortgesetzten Abwanderung der Landarbeiter in die Städte Einhalt zu tun. Für Preußen brachte dieses Bestreben die berüchtigte Vorlage zur Bestrafung des Kontraktbruches, für Reuß j. L., Braunschweig und Anhalt schufen die Landtage ähnliche Knebelungsgesetze, trotzdem sie da-

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mit gegen die Reichsverfassung verstoßen. Verschlimmert wird diese rechtlose Stellung der Landarbeiterschaft noch durch die Willkür, mit der die Herrschaften das wenige geltende Recht beugen, wogegen die Arbeiter und Arbeiterinnen in ihrer Unwissenheit und Armut machtlos sind. Namentlich in Ostelbien, wo noch Gutsbezirke bestehen, in denen der Gutsherr als Obrigkeit die Polizeigewalt ausübt, oft auch als Amtsvorsteher figuriert. Einige Beispiele mögen dies beleuchten. Bei dem Besitzer Reimer in Falkenau, Kreis Friedland, hatte sich das Dienstmädchen Siebert auf ein Jahr vermietet. Es mußte mit einem anderen, an Bettnässen leidenden Dienstmädchen im gleichen Bette nächtigen. Eine andere Liegestatt wurde ihm auf Verlangen nicht gegeben, bis es dann den Dienst verließ. Das Mädchen erhielt sodann eine Vorladung für einen am anderen Tage stattfindenden Termin nach einem weit entfernten Orte. Da es dem Mädchen nicht möglich war, zu erscheinen, wurde es einige Tage später vom Amtsdiener geholt. Dort erhielt es einen Strafbefehl über 3 Mk. oder 3 Tage Haft wegen Versäumung des Termins. Gleichzeitig wurde ihr erklärt, ein Dienstmädchen habe keinen gesetzlichen Grund, den Dienst zu verlassen. (Hört! Hört!) Sie werde gestraft, wenn sie nicht mehr in den Dienst zurückkehre. Als sie sich über ein zweites Strafmandat beim Landrat beschwerte, wurde sie abgewiesen. Nun jagte ein Strafbefehl den anderen. Die Eltern gerieten in begreifliche Angst und Aufregung. Am 2. Juni erhielt denn auch tatsächlich der Vater des Mädchens, der Amtsdiener war, vom Vertreter des Amtsvorstehers den Befehl, seine Tochter während der Pfingstfeiertage in die „Kluse" des Dorfes, einen ungesunden Raum mit einem Häuflein Stroh als Lager, einzusperren. Die Familie geriet über diesen Befehl in helle Verzweiflung und der Vater weigerte sich, sein Kind in die Kluse zu sperren. Die Folge war, daß der alte Mann seiner Ämter als Amtsdiener, Kirchendiener und Glöckner entsetzt wurde, die er 23 Jahre verwaltet hatte. Das Mädchen aber sperrte der Gendarm trotz allen Sträubens in die Kluse. Und die Mutter wurde noch gezwungen, der Tochter täglich das Essen dorthin zu bringen. So geschehen im Jahre des Heils 1906. (Große Bewegung.) - Ein anderes Bild. Ein 17jähriges Mädchen entlief vor Schimpfworten und Schlägen des Gutsbesitzers, eines schneidigen Leutnants. Da schickte dieser seinen Kämmerer zu Pferde nach: er solle das Mädchen mit Stricken an sein Pferd binden und nach dem Gute zurückbringen. (Laute Pfuirufe.) Nur ein Zufall rettete das Mädchen vor dieser Brutalität und Grausamkeit. Aber ihre Wäschekiste raubte ihr der freche Patron, und erst der Landrat schaffte sie ihr zurück. Der

305 Lohn f ü r drei Monate aber blieb bis auf einen kleinen Teil verloren. Den Gutsaufseher Haupt von dem Gute Cuckelwitz bei Breslau, der einen 16jährigen Arbeiter mit einem Peitschenstock mißhandelte und ihn am Halse gewürgt hatte, daß Blut floß, in Anklagezustand zu versetzen, lehnte der Staatsanwalt ab, weil ein Peitschenstock kein gefährliches Werkzeug sei. Wahrlich, Genossinnen, ich meine, wer rotes, warmes Blut in seinen Adern hat, der muß angesichts solcher, unserem Rechts- und Menschenbewußtsein Hohn sprechenden Verhältnisse aufgepeitscht werden zu einem leidenschaftlichen Kampfe gegen diese Gesellschaftsordnung. (Lebhafte Zustimmung.) Vollends in Knechtschaft verkauft sich ein großer Teil der Landarbeiterschaft durch das unbesehene Unterschreiben von Kontrakten, wie sie die Landwirtschaftskammern f ü r ganze Provinzen ausarbeiten. Sie gestatten durch die Bestimmung, daß nur bei ordnungsmäßigem Abgang der zurückgehaltene Lohn ausgezahlt werden muß, den Arbeiter häufig genug um seinen Lohn zu prellen. Denn als nicht ordnungsmäßiger Abgang gilt auch die sofortige Entlassung durch den Arbeitgeber, die fast immer zulässig ist, z. B. wenn sich der Arbeiter des „Aufwiegeins" schuldig macht, ferner wenn unverheiratete Mädchen schwanger werden, selbst wenn der Arbeitgeber selbst der Schwängerer war. Und in ihrer Unwissenheit sehen die armen Lohnsklavinnen im Gutsbesitzer und Ortsvorsteher den Inbegriff einer solchen Machtfülle, daß sie es gar nicht wagen, sich Recht zu suchen. [•••]

Damit sind wir schon mitten in der Schilderung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Landarbeiterschaft angelangt. Bei dem Landproletariat, diesem Paria unter der Arbeiterschaft, (sehr richtig!) vereinigen sich alle Qualen, um sein Leben aller Lebenswerte zu entkleiden. (Lebhafte Zustimmung.) Sehen wir beim Kleinbauern, daß er seine Scheinselbständigkeit nur aufrecht erhalten kann, indem er selbst entbehrt, sich überarbeitet, Weib und Kinder nach Kräften schindet, so müssen wir in bezug auf die Landarbeiter, ob es Tagelöhner, Instleute, Scharwerker, Hofgänger, Deputanten, Kätner, Schnitter oder Sachsengänger, Einlieger, Heuerlinge, oder ob es das Gesinde, Knechte und Mägde, Hirten usw. sind, erklären, daß sie unter den Rudimenten der Hörigkeit und Leibeigenschaft, verbunden mit der schlimmsten Ausbeutung leiden. (Lebhafte Zustimmung.) Trotz der von den agrarischen Schreiern so oft betonten „Leutenot" ist es den Ochsengrafen und Schnapsbrennern nie einge-

306 fallen, ihren Arbeitern auch n u r die nackte physische Existenz zu gewährleisten, geschweige denn ein menschenwürdiges Dasein. Wir finden in der Landwirtschaft neben überlanger Arbeitszeit die große Unsicherheit der Existenz. Denn infolge der technischen Entwicklung der Anwendung zahlreicher landwirtschaftlicher Maschinen ist die Landarbeit zum großen Teil Saisonarbeit geworden. Wurden doch 1895 in Deutschland 1696 landwirtschaftliche Betriebe gezählt, die Dampfpflüge, 20 673, die Säemaschinen, 35 014, die Mähmaschinen, 259 069, die Dampfdreschmaschinen, und 596 869, die andere Dreschmaschinen verwendeten. Wir finden des weiteren die ausgedehnte Frauen- und Kinderarbeit. Das Niederhalten der Löhne wird erleichtert durch die Konkurrenz der Ausländer, der Soldaten und Korrigenden. Erbärmliche, den geringsten sittlichen und hygienischen Anforderungen Hohn sprechende Wohnungen, die traurigsten Schulverhältnisse, das Fehlen vön Anregungen, erhebender Vergnügungen, sozialer und staatsbürgerlicher Betätigung, das alles bedingt, daß die Landarbeiter nicht nur rechtlos sind und körperlich ausgebeutet werden, sondern daß sie auch geistig vereinsamen und abstumpfen, daß sie das elendste, freudeloseste, licht- und sonnenärmste Dasein führen. Man muß das grause Elend der Landproletarier geschaut haben, um es ermessen zu können. Wenn Voltaire von den Leibeigenen des Mittelalters sagt, daß sie Sklaven sind mit ihren Gütern und Personen, bei ihrem Tode fällt ihr Hab und Gut dem Adel und den Mönchen zu. Werden sie krank, wagt kein Metzger, ihnen Fleisch zu geben, und der Apotheker verweigert ihnen die Medizin, die ihnen das Leben retten könnte. Wenn sie sterben, nehmen sie die Gewißheit mit ins Grab, daß es ihren Kindern nicht besser geht, oder wenn La Bruyère die hörigen Bauern mit menschenscheuen Tieren vergleicht, bei denen man erst, wenn sie sich aufrichten, sieht, daß sie Menschen sind, so könnte das ebenso gut auf moderne Landarbeiter geschrieben sein. 5 455 924 Landproletarier wurden 1895 gezählt. Von 1882 bis 1895 ist die Zahl der weiblichen Arbeiter von 2 224 901 auf 2 734 398 gestiegen. Die Zahl des männlichen Gesindes betrug 1882: 42 510, 1895: 25 359; die Zahl des weiblichen Gesindes 1882: 1 282 414, 1895: 1 313 956. Man sieht, die Zahl der weiblichen Landarbeiter und Dienstboten hat bedeutend zugenommen, die der männlichen abgenommen. Der größere Unternehmungsgeist, der Militärdienst usw. veranlassen die intelligenten männlichen Arbeiter zum Auswandern in die Städte; ist das doch der einzige Weg, um dem Elend daheim zu entrinnen. Die weiblichen Arbeiter entschließen sich schwerer zum Auswandern und - aus diesen

307 psychologischen Gründen - sehr schwer zum Rückwandern. Aber auch durch die Abwanderung wird das Höllenleben der Zurückgebliebenen nicht besser, da zahllose Ausländer als Ersatz importiert werden. Da dem Landproletariat nicht n u r das Koalitionsrecht, sondern, abgesehen von den armseligen Unfallverhütungsvorschriften, auch jeglicher Arbeiterschutz fehlt, ist die Ausbeutung von Männern, Kindern und Frauen grenzenlos, uneingeschränkt. Während der Sommermonate, namentlich zur Zeit der Ernte, sind Arbeitszeiten von 12-16, mitunter 18 Stunden, die Regel. Das schlimmste Arbeitstier ist natürlich die Frau. Gerädert, mit schmerzenden Gliedern, kehrt sie von der Feldarbeit oder der Arbeit im Herrschaftshause nach Hause zurück, dann muß sie noch ihre Pflichten als Hausfrau und Mutter erfüllen. Im Nebenamte ist ferner das eigene Vieh, das eigene Land zu besorgen. Ich habe in der Gegend des Zuckerrübenbaues in der Provinz Sachsen gesehen, wie des Morgens, wenn der Tag graute, die Frauen ihre Kinder aus den Betten reißen mußten und auf die Straße schickten, weil sie fürchteten, die Kleinen würden allein in der Wohnung Unheil stiften. Da saßen denn die Kinder fröstelnd vor den Haustüren oder schliefen auf der Steintreppe hockend wieder ein. . . . v. d. Goltz, der die Lage der Landarbeiter lediglich unter dem Gesichtswinkel behandelt: wie behält oder verschafft man dem Grundbesitz Arbeitskräfte? er muß, gezwungen durch die Tatsachen, oft genug scharfe Kritik üben. So betont er, daß die ungewöhnlich hohe Sterblichkeit der Kinder der Landarbeiter in erster Linie der mangelnden Pflege derselben zuzuschreiben sei, eine Folge des Umstandes, daß die Beschäftigung die Mutter außer dem Hause hält und sie zwingt, zu frühzeitig nach dem überstandenen Wochenbett schwere Arbeit zu leisten, wodurch auch das Leben der Mutter gefährdet wird. Das erbarmungswürdigste Geschöpf ist aber eine kranke Landarbeiterin und ein kranker Landarbeiter. Eine obligatorische Krankenversicherung gibt es nicht. Durch Landesgesetz oder Ortsstatut kann der Versicherungszwang ausgeübt werden. Aber die beiden größten Bundesstaaten, Preußen und Bayern, besitzen sie nicht. Tritt der Arbeiter der Gemeindekrankenkasse bei, so muß er die vollen Beiträge bezahlen, ohne den geringsten Einfluß auf die Gemeindeverwaltung zu haben. In der Folge unterbleibt meistens die Versicherung. Siechtum oder das größte Elend während der Krankheit, Mangel an ärztlicher Hilfe sind die Folgen. Etwas besser in dieser Beziehung steht es mit dem Gesinde. Die Herrschaft hat ihnen im Falle der Erkrankung sechs Wochen Verpflegung und ärztliche Behandlung zu gewähren. Ist aber Invalidität eingetreten,

308 dann wehe den Armen! Der 68jährige Invalide Specht lebt mit seiner gleichfalls 68jährigen Ehefrau im Armenhaus zu Kunzendorf bei Marienburg und erhält monatlich 10,55 Mk. Invalidenrente. Auf eine Beschwerde beim Ortsarmenverband durch unsere Elbinger Genossen ward seitens des Regierungspräsidenten erklärt, daß, da überall „Leutenot", der Mann täglich 70 Pf. verdienen könne. Eine Erhöhung der Rente w u r d e abgelehnt. (Hört, hört!) Eine 67jährige Arbeiterin Voigt aus Neudorf wurde mit ihrem Anspruch auf Invalidenrente abgewiesen, weil der Arzt erklärte, ihre Leiden - also Leiden wurden anerkannt - seien n u r Altersleiden. Auf dem Gute Wargenau in Ostpreußen waren ein paar alte, k r a n k e Invaliden in einem verseuchten Viehstalle untergebracht, wo sie elend hätten verkommen müssen, wäre nicht eine Kritik im „Ostpreußischen Landboten" erfolgt, worauf dann der Amtsvorsteher einschritt. - Beginnen die Landarbeiter alt zu werden, so sucht jede Gemeinde sie abzuschieben, bevor sie den Unterstützungswohnsitz erlangt haben, von allen verlassen, enden die Landarbeiter vielfach schließlich ihr kümmerliches Dasein auf der Landstraße oder, was nicht viel besser ist, im Armenhause. Die Fälle werden noch in aller Gedächtnis brennen, wo an verschiedenen Orten, in Preußen und Bayern, vor einigen Jahren Landarme tot im Armenhause gefunden wurden, bei denen der Arzt den Hungertod feststellte; in einem Falle w a r die Leiche zum Teil schon ein Fraß der Ratten geworden. (Hört, hört!) Und einer dieser Landarmen war noch dazu Kriegsveteran. Des Vaterlandes Dank war ihm in großartiger Weise zuteil geworden. Dabei wagten es 1899 bei Beratung des Invaliditätsgesetzes Konservative und fromme Zentrumsmänner zu behaupten, eines Schutzes im Alter und im Falle der Erwerbsunfähigkeit benötigten die Landarbeiter nicht, f ü r die werde in ausreichender Weise durch Gutsbesitzer und Gemeinden gesorgt. Vom Minister Bötticher mußten sie sich sagen lassen, er kenne ganze Landstriche, wo es zur Gewohnheit geworden, f ü r den landwirtschaftlichen Arbeiter absolut nichts zu tun, sobald er aufgehört habe, zu arbeiten. Es gebe sogar Arbeitgeber, die so weit gingen, daß sie, während sie ihre Arbeiter in der Woche an ihren Tischen verpflegen, ihnen sonntags nichts zu essen,geben, weil sie nicht arbeiten. (Hört, hört!) In den Schriften des Vereins f ü r Armenpflege und Wohltätigkeit ist bestätigt, daß diese grausame Praxis in allen Teilen Deutschlands obwaltet. 1891 f ü h r t e der konservative Abgeordnete Meyer-Arnswalde, gewiß ein unverdächtiger Zeuge, im preußischen Abgeordnetenhause aus, wie ein Gut und eine Gemeinde, oder zwei Gemeinden, die nebeneinander liegen, durch Ab-

309 schieben der Tagelöhner von dem einen zum andern, den Landarmenverband mit der Armenpflege belasten. Ja, der christlich-germanische Adel ist es so sehr gewohnt, seine Hände in die Taschen anderer zu stecken, daß er es selbst nicht verschmäht, die Altersrentner um ihre paar Pfennige zu prellen. So quittierte der Gutsbesitzer Ehlers in Zickhausen ein Jahr lang auf dem Postamte über die Altersrente für den Invaliden Voß mit dessen Namen. Der Staatsanwalt lehnte es ab, die Anklage zu erheben, weil „Ehlers des Glaubens gewesen sei, Voß sei, da er für ihn zu sorgen hatte und gesorgt hat, damit einverstanden, daß die Quittungen durch Ehlers vollzogen würden." Und da sage noch einer, daß wir nicht milde Staatsanwälte haben. (Große Heiterkeit.) Und welch fürstliche Begräbnisse werden den toten Landarbeitern bereitet. Rednerin erzählt einen Fall, wo die Leiche des Landarbeiters August Regefski auf dem Gute Kistigehnen auf einem Dungwagen zur letzten Ruhe gebracht wurde. Wahrlich, eine herrliche göttliche Weltordnung! Doch die maßlose Ausbeutung führt nicht nur zur Krankheit und zur frühzeitigen Invalidität, sondern ihr sowie den mangelhaften Schutzvorrichtungen ist auch die hohe Unfaüziffer für die Landproletarier geschuldet. Die Unfallstatistik für die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft beweist, daß in grausamer Weise die Zahl der Opfer auf dem Schlachtfelde der Landarbeit sich mehren. Seit 1889 ist eine Verzehnfachung der schweren Unfälle und mehr denn eine Verdoppelung der tödlichen eingetreten. Vielleicht wird man einwenden, daß früher viele Unfälle nicht zur Anzeige kamen. Aber tödliche Fälle sind doch stets gemeldet worden, und schließlich wäre es doch keine A u f hellung der Gegenwart, sondern nur eine Verdunkelung des Bildes der jüngsten Vergangenheit. Wie viele Arbeiter müssen da um ihre Rechte betrogen worden sein. Schon 1890 sprach der Kaiser Wilhelm II. auf einer Sitzung des Landesökonomiekollegiums seine Verwunderung darüber aus, daß so merkwürdig viele Fälle von Tötung und Verwundung von Arbeiterinnen in der Landwirtschaft vorkämen. Er werde die dafür verantwortlichen Unternehmer nicht mehr so leicht begnadigen. Die Besitzer zeigten eine große Gleichgültigkeit gegen das Leben der von ihnen beschäftigten Arbeiterinnen. Diese und nicht der Leichtsinn der Arbeiterinnen selbst sei für die Unfälle verantwortlich zu machen. So der Kaiser 1890. 1900 aber setzten es Schlot- und Krautjunker durch, daß den Berufsgenossenschaften eine Art Begnadigungsrecht eingeräumt ward, nämlich das Recht, dem Besitzer die Rückvergütung der Rente an die Genossenschaft zu erlassen. Dieses Begnadigungsrecht wird seitdem fleißig geübt. Und das Blutmeer steigt. Den Verletzten und Ver-

310 krüppelten aber neiden die Grundherren noch die paar Pfennige Rente. Im Landtage erhob der Nationalliberale Dr. Schröder - Kassel die Forderung, verletzten Kindern keine Rente zu geben und Renten von 25 Proz. und weniger nicht mehr auszuzahlen. Der Zentrümler Schmedding unterstützte den Antrag und Podbielski versprach, in diesem Sinne wirken zu wollen, wobei Schmedding hinzufügte, daß Renten unter 25 Proz. Schnapsrenten seien und daß es ein Skandal sei, daß den Kindern Renten bewilligt werden. Wir sind der Anschauung, daß es ein himmelschreiender Skandal ist, daß Kinder kapitalistisch ausgebeutet werden und Gefahr laufen müssen, ihre gesunden Glieder zu verlieren, bevor dieselben vollständig entwickelt sind! Aber die agrarische Unverschämtheit ging noch weiter. Auf der 20. Jahresversammlung des ostpreußischen landwirtschaftlichen Zentralvereins wurde der Antrag angenommen, daß die Unfallrente nur dann gewährt wird, wenn der Beschädigte weniger Lohn bezieht als der Unbeschädigte derselben Kategorie. Gelänge dieser Anschlag, wäre das ein vollständiger Bruch mit dem bisher geltenden Recht. Statt der Verstümmelung der Arbeiterschaft, die so unendlich viel Leid, Not und Elend über die Betroffenen bringt, Einhalt zu tun, statt den Anregungen des Reichsversicherungsamtes zu folgen und dessen Schutzvorschriften in Wirksamkeit zu setzen, wird also überlegt, wie die Folgen der Unfälle gänzlich auf die Arbeiter abgewälzt werden können. (Hört, hört!) Den Verstümmelten noch die Hungerpeitsche! (Hört!) Wir wüßten schon einen Weg, die Berufsgenossenschaften vor der Bezahlung der Kinderrenten zu bewahren; man erfülle unsere Programmforderung, Verbot aller Kindererwerbsarbeit, vor allem auch in der Landwirtschaft und bei häuslichen Diensten. (Sehr wahr!) Heute besteht nicht einmal eine gesetzliche Beschränkung, geschweige denn ein Verbot. 1895 waren nach der Berufsund Gewerbezählung in der deutschen Landwirtschaft 135 175 und als häusliche Dienstboten 35 001 Kinder im „Hauptberuf" tätig. In Wahrheit ist ihre Zahl eine weit größere. Ihre Zahl wird auf IV2 bis 2 Millionen geschätzt. Dieser große Umfang der Kinderarbeit auf dem Lande ist eine Folge der Not der Landarbeiter und wird im dialektischen Verlauf der Geschehnisse wieder eine Ursache derselben. Nicht nur weil die Kleinen die Schmutzkonkurrenten der Eltern werden, sondern weil durch die Erwerbsarbeit neben der sittlichen auch die körperliche Schädigung der Kinder erfolgt und ihre geistige Entwicklung hintangestellt wird, ja, mehr noch intellektuell verblöden. (Sehr wahr!) Dies wird noch durch die Schulversäumnisse gefördert. Und nach einer weiteren Beschränkung des Schulzwanges schreien dieselben Herren, die unaufhör-

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lieh über den Mangel an intelligenten und tüchtigen Arbeitern klagen. In junkerlicher Variation lautet daher der bekannte Ausspruch von Christus: „Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht beim Viehhüten, beim Rübenziehen, bei der Kartoffelernte und der Kornernte!" Katholische Geistliche vermitteln sogar den Verkauf kindlicher Arbeitskräfte nach Württemberg und Baden von Tirol. Man muß es gesehen haben, wie die Kinder in Gegenden des Zuckerrübenbaues mit krummen Rücken beim Rübenziehen und Rübenhacken im glühenden Sonnenbrand oder bei Sturm und Regen tätig sind, wie die Kleinen beim Kartoffelroden über den feuchten Boden kriechend die Schollen aufwühlen und die Kartoffeln herausklauben, um die Größe des Verbrechens ermessen zu können, das da täglich an der heranwachsenden Jugend begangen wird. Mit 17 Jahren sind die Buben steif und mit 40 Jahren sind sie Greise, schrieb kürzlich in heller Entrüstung ein Lehrer aus dem Schwarzwald, weil sie von morgens 2V2 Uhr bis abends I O V 2 Uhr bei der Ernte beschäftigt sind. Auf die Eltern, die ihre Kinder diesem degenerierenden Einfluß der Erwerbsarbeit preisgeben, wollen wir gewiß keinen Stein werfen. Sie sind es erstens nicht anders gewohnt und zudem ist die Not der Autokrat, der dies befiehlt. Das beweisen aufs schlagendste die Löhne der Landarbeiter und -Arbeiterinnen. Auf Grund amtlichen, statistischen Materials hat Dr. Saucke den jährlichen Arbeitsverdienst der erwachsenen Landarbeiter in fünf Klassen eingeteilt: 5. Klasse: Löhne von 300-420 Mk. 4. Klasse: Löhne von 420-540 Mk. 3. Klasse: Löhne von 540-660 Mk. 2. Klasse: Löhne von 660-780 Mk. 1. Klasse: Löhne von 780-900 Mk. Ferner konstatierte Dr. Saucke, daß annähernd drei Viertel aller Arbeiter in die beiden untersten Lohnklassen gehörten. Wir haben außerdem mit den halbproletarischen Existenzen zu tun, den Kleinbauern, deren Besitz nicht hinreicht zu ihrer Ernährung. Sie rackern sich selbst, ihre Frauen und Kinder ab bei der Bearbeitung des Bodens. Sie strömen in Scharen zur Industriearbeit in die nahen Städte. Ihr Besitz kettet sie nicht nur an den Ort, gibt sie nicht nur mehr der kapitalistischen Ausbeutung preis, sondern ist auch für die Aufklärung und Agitation ein großes Hindernis. Beim Mittelgrundbesitz sind im allgemeinen die Löhne höher als beim Klein- und Großgrundbesitz, v. d. Golz teilt die Landarbeiter in drei Kategorien, die Gutstagelöhner und Instleute, die Kätner oder Häusler, und die Einlieger. Dazu kommt dann das Gesinde und die Wanderarbeiter. Unter den letzteren haben wir die Einheimischen und die Ausländer. Die Einheimischen, meist „Sachsengänger" genannt, bilden zweifellos

312 das revolutionärste Element unter den Landarbeitern. Überwiegend sind es jugendliche, weibliche Arbeiterinnen. In großen Trupps werden sie gleich dem Vieh auf den Eisenbahnen befördert. Aber der Umstand, daß sie hinauskommen aus der Enge ihrer Heimat, daß sie während des Sommers mit sozial und intellektuell höher stehenden Arbeitern zusammenkommen, weitet ihren Blick, macht sie empfänglicher für die Ideen des Klassenkampfes. Dr. Kärger schätzt die Zahl der Sachsengänger für 1890 auf 75 000. Aber außer diesen haben wir auch in anderen Gegenden Wanderarbeiter. So hier im Süden die zur Wein-, Hopfen- und Kartoffel-, Korn- und Heuernte von den Höhen in die fruchtbareren Täler ziehen zur vorübergehenden Lohnarbeit. Wird der seßhafte Landarbeiter ausgebeutet, so der Wanderarbeiter erst recht. Die Ausdehnung der Arbeitszeit findet meist nur ihre Grenzen in der vollständigen Erschöpfung der Arbeiterschaft oder durch das Einbrechen der Dunkelheit. Eine Rücksicht auf den Menschen braucht absolut nicht genommen werden. Die Heimat hat ja für ihn zu sorgen, nicht der Arbeitgeber. Um die Löhne werden die Wanderarbeiter zum Teil noch geprellt durch die Vermittler, die für die .Arbeitsvermittelung einen Monatslohn und mehr beanspruchen. Zu Lohndrückern und zu einer Ursache der Landflucht werden die Ausländer, die alljährlich in großen Scharen (über 500 000) durch die Landwirtschaftskammern und Agenten vermittelt werden. Die Ausbeutung dieser Ärmsten ist eine so große, daß sie, insbesondere russische und italienische, von ihren Regierungen gewarnt werden, in Deutschland Stellung zu nehmen. Daß diese kulturarmen und bedürfnislosen Arbeiter das soziale Milieu der gesamten Arbeiterschaft jener Gegenden, in die sie kommen, gewaltig herabdrücken, liegt auf der Hand. Aber außerdem bilden sie eine eminente Gefahr in gesundheitlicher Beziehung für die Seßhaften durch die Einschleppung von Krankheiten. So sind die Wanderarbeiter auf dem Lande die alleinigen Träger der Syphilis. Trotzdem schreien wir nicht nach Grenzsperren und Einfuhrverboten für die Ausländer. Aber nicht minderen Rechts sollen die Ausländer sein, sondern freies Koalitionsrecht soll ihnen gewährt werden und die Praxis beseitigt werden, daß, wenn sie es ausüben, sie ausgewiesen werden. Ist das erreicht, dann werden wir sie durch unsere Agitation schon zu Klassenkämpfern heranziehen. Ihre Importation bedingt unter dieser Voraussetzung eine Beschleunigung des siegreichen Ausganges unseres Emanzipationskampfes. Die Gutstagelöhner vermieten sich gewöhnlich kontraktlich auf ein Jahr. Triumphierend weist nun v. d. Goltz deren Lohnsteigerung nach, die, [...] 60, 80, mitunter sogar 100 Mk. pro Jahr ausmache.

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Kätner oder Häusler besitzen, wenn oft auch nur nominell, ein Häuschen und ein Stück Land und gehen gegen Taglohn aufs Gut oder zum Bauern. Wie die Gutstagelöhner durch den Kontrakt, so sind sie durch den Besitz gebunden. Völlig freie Arbeiter sind die Einlieger, die zur Miete wohnen und gegen Barlohn als Tagelöhner gehen. Sie haben aber auch unter der Unsicherheit ihrer Existenz schwer zu leiden. Ihnen ähnlich sind die Deputanten, die ebenfalls gegen Bar und Naturalien für Tage und Wochen sich verdingen. In die häusliche Gemeinschaft aufgenommen ist das Gesinde, welches sich gewöhnlich gleichfalls auf ein Jahr vermietet, nebst Kost und Logis einen Jahreslohn erhält und zweifellos am unfreiesten ist. Sowohl v. d. Goltz als auch Weber kommen zu dem Resultat, daß die Barlöhne der Landarbeiter seit 1873 mehr ausgeglichen, sich aber wenig gehoben haben, zum Teil sogar heruntergegangen sind, daß aber überall die Naturallöhnung geringer geworden ist. Ein bedeutender Rückgang in der Viehhaltung läuft nebenher. Anstatt daß der Instmann zwei oder wenigstens eine Kuh weiden durfte, erhält er jetzt meist nur noch Futter für eine Ziege oder ein festes Milchdeputat. Daß die Ernährung durch die Verringerung des Milchkonsums und durch die Verdrängung des nahrhafteren Brotes durch die Kartoffel eine viel schlechtere geworden ist, versteht sich am Rande. Bei starker Familie reicht zudem nirgends das Deputat, v. d. Goltz, der die materielle Lage der Gutstagelöhner eine „gesicherte", wenn auch dürftige nennt, gibt selbst zu, daß dies „gesicherte" Einkommen davon abhängt, wie die Kartoffel- und Kornernte ausfällt, daß keine Krankheit die Familie heimsucht und - die Kinderzahl keine große ist. Bezeichnend für die Lage der Landarbeiter war die Äußerung, mit welcher der Abgeordnete Gamp sich gegen die Beschäftigung von Gefangenen auf dem Lande wandte: Ich habe darauf hingewiesen, daß der Grundbesitzer gar nicht Gefangene beschäftigen kann, ohne sich seine Arbeiter wesentlich zu verschlechtern, bei den jetzigen Bedingungen, die gestellt werden, daß die Gefangenen nur zehn Stunden im Sommer beschäftigt werden dürfen, daß sie drei- oder viermal in der Woche Fleisch bekommen müssen - was den freien Arbeitern nicht einmal möglich ist - kurz, daß sie in bezug auf die Unterbringung und Verpflegung besser behandelt werden müssen, wie dieses bei den Sachsengängern vielfach geschieht. Wenn andere Landwirte behaupten, daß „ihre Leute" jeden Tag Fleisch, dreimal die Woche Braten, täglich Gemüse und Kompott erhalten, so würden die Arbeiter, wenn man sie fragte, wohl mit dem bekannten Fritz Reuterschen Knecht antworten, der auf die Frage: „Ist Rindfleesch und Plumen nicht en schön Ge26 Ostelb. Landarbeiter

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rieht?" sagte: „Ja, Herr, aber man kriegt se man nicht!" (Heiterkeit.) Um die Lage der Einlieger zu verbessern, die im Winter arbeitslos sind, schlägt v. d. Goltz allen Ernstes vor, die Anwendung der Dreschmaschine einzuschränken, um durch den Handdrusch Beschäftigung f ü r den Winter zu schaffen. Die Herren wissen also keinen anderen Rat, als die Entwickelung rückwärts zu schrauben. In Mecklenburg haben Frauen und Männer mir weinend erzählt, sie müßten im Winter stehlen, um leben zu können. Tannenreiser und Wurzeln aus fremdem Walde müßten während der Nacht gestohlen werden, um dann f ü r die daraus fabrizierten Besen und Körbe Brot zu kaufen. Einen Begriff von dem Faulenzerleben der Landarbeiter geben folgende Mitteilungen. Auf dem Gute Eichwalde bei Elbing, das 48 Milchkühe, 20 Pferde und 12 Stück Jungvieh neben vielen Schweinen aufweist, sind zwei Dienstleute und zwei Dienstmädchen zur Besorgung all der Arbeiten beschäftigt. Bei dieser Arbeit verdienen Mann und Frau 469 Mk. jährlich, aber die freie Wohnung! v. d. Goltz hat darüber sehr interessantes Material zusammengetragen. Auf einem Gute in der Nähe von Ragnit - es gehört einem Herrn v. Bonin - stürzte einem Arbeiter die Decke über dem Kopf zusammen, was er schon mehrfach befürchtet und dem Inspektor prophezeit hatte. Als er darauf Gut und Arbeit verließ, erhielt er noch eine Anklage wegen Kontraktbruchs. In den Veröffentlichungen über das Gesundheitswesen des Staates Preußen, herausgegeben von der Medizinalabteilung des Ministeriums des Innern, werden die Wohnungen im Bezirk Bromberg als „vielfach menschenunwürdig" bezeichnet. Auch in den anderen Bezirken geben sie „zu vielfachen Beanstandungen Anlaß", zeigen eine „große Verbesserungsbedürftigkeit" oder sind „hygienisch unbefriedigend". In der Zentrumsdomäne Trier bilden Schmutz und Verfall innen und außen die Regel, wodurch die Bekämpfung des Typhus sehr erschwert wird. Schließlich sei in diesem Zusammenhange noch an das Wort des Kaisers erinnert, daß in Kadinen die Arbeiterwohnungen schlechter seien als die Schweineställe. Oft genug müssen Knechte und Mägde im Kuhstall schlafen. Die Hütekinder schlafen mit den Erwachsenen zusammen und sehen da Dinge, die ihren Charakter verderben. Am schlechtesten aber sind die Unterkunftsräume f ü r die Wanderarbeiter. Feste Wohnungen lohnen sich nicht, weil sie 7 bis 8 Monate leerstehen müssen. Aber selbst in den erst jüngst aufgeführten massiven Bauten hat die Trennung der Schlafräume nach Geschlechtern erst durch Polizeiverordnung erzwungen werden müssen. In Ostelbien ist dies nicht einmal durchgeführt. Als Wohnungen dienen ihnen Baracken, Ställe und Scheunen, in welchen die Arbeiter zu zehn

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und mehr zusammenliegen. Ob die Trennung der Geschlechter durchgeführt ist, ist nicht ersichtlich. Als Lagerstatt wird ihnen kurzes Preßstroh mit einer Wolldecke darüber dazu angewiesen, obgleich getrennte Schlafräume vorgeschrieben, schliefen Männer und Frauen bunt durcheinander. Welche Verstöße gegen Sitte und Anstand, welche Versündigung gegen die Gesundheit, welche Verhöhnung der Menschlichkeit spiegelt sich nicht in diesen Berichten! Und zu all dem noch die so vielfach menschenunwürdige Behandlung. Wie oft die Reitpeitsche oder der Gummischlauch als „Erziehungsmittel" seitens der gnädigen Herren angewandt wird, beweisen die vielen Gerichtsverhandlungen. Daß unter solchen Zuständen die sittlichen Verhältnisse auf dem Lande nicht die besten sind, liegt auf der Hand. Sie stehen im Durchschnitt weit unter dem der Städte. Um so mehr als den Landarbeitern das fehlt, was zur intellektuellen und sittlichen Wiedergeburt und zur Hebung der Stadtarbeiter führt, die Beteiligung an der Arbeiterbewegung, die Betätigung der Solidarität, die Entwicklung von Bürgertugenden. Es vereinigt sich alles in diesem trostlosen Dasein, um die Arbeiterschaft dem Schnapsteufel in die Arme zu treiben. Und unser christlich-germanischer Adel fördert den Schnapskonsum noch, um die Arbeiter zur Arbeit anzufeuern. Diese Verhältnisse bedingen auch, daß die sexuelle Moral eine tiefstehende ist. Der Prozentsatz unserer großstädtischen, vom Lande zugezogenen Ammen, die Mütter junkerlicher Bastarde sind, ist sicherlich nicht klein. Wenn man zudem Arbeiter und Arbeiterinnen Lasttieren gleich am Tage plagt und sie schlimmer denn Lasttiere in der Nacht in Baracken und Ställen hausen läßt, was soll da anderes gedeihen, als tierische Brutalität und Schamlosigkeit! (Sehr gut!) Wer unter gleichen Verhältnissen aufgewachsen und lebend rein an Seele und Charakter bleiben würde, der werfe den ersten Stein auf diese Ärmsten. Schuldig aber sind diejenigen, die solche Zustände aufrechterhalten und verewigen wollen. (Sehr wahr!) Nicht über die Landflucht, darüber, daß sie nicht noch größer ist, sollte man sich wundern. Dagegen helfen alle die ungesetzlichen Mittel nichts, die auf den Arbeitsvermittelungskonferenzen von den Vertretern der Landwirtschaftskammern vorgeschlagen werden. Da rät der eine Belehrung durch Klerus und Lehrer über die Vorzüge der Landarbeit an, der andere wünscht eine Instruktion im Heer und der dritte Ablehnung der Arbeitsvermittelung für alle Kontraktbrüchigen. Aber solange die traurigen Verhältnisse auf dem Lande herrschen, wird der Erfolg dieser Bestrebungen stets gleich Null sein. - Von bürgerlicher Seite, unter anderem von Frau Elisabeth v. Oertzen in 26 *

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der „Deutschen Monatsschrift", sind verschiedene Mittel vorgeschlagen worden, durch die den Landarbeitern suggeriert werden soll, sie seien gar nicht die rechtlosen, ökonomisch und sozial tiefstehenden Parias, sondern bedeuteten etwas. Durch einen Anteil an der Allmende, durch Weckung des „Gemeinschaftssinns", durch Segmentbeteiligung an der Gemeindevertretung, durch Erhöhung des Standesbewußtseins will man sie sozial heben. Die gute Absicht in Ehren - soweit sie nicht nur darauf hinausgeht, den Landproletarier an das Land zu fesseln - , aber alle diese Vorschläge der bürgerlichen Ideologen verkennen, wie diese immer, die Ursache des Übels und kurieren Symptome statt Krankheiten. Sie schrecken vor den Konsequenzen ihrer Einsicht zurück, weil sie sonst den Bestand der heutigen „göttlichen Weltordnung" gefährden müßten. Aber die Lohnarbeiterschaft wird ihr Erstgeburtsrecht nicht um ein Linsengericht verkaufen. Nicht Wohltaten heischt sie und Scheinreformen, sondern ihr ganzes Recht. (Stürmischer Beifall.) In diesem Sinne schlagen wir Ihnen die folgende Resolution vor: Resolution zur Landarbeiterinnenfrage. In Anerkennung des Grundsatzes, daß die Befreiung der Arbeiterklasse aus den Fesseln des Kapitalismus nur das Werk der Arbeiter selbst sein muß, wird es zur zwingenden Notwendigkeit, neben dem Proletariat der Industrie auch das der Agrikultur dem Heer der Klassenkämpfer einzureihen. Die Tatsache, daß das Landproletariat in rechtlicher, sozialer, ökonomischer und daraus folgernd im Durchschnitt auch in intellektueller Hinsicht tief unter dem Proletariat der Industrie steht, bedingt, daß die Agitation unter und für die Landwirtschaft einen doppelten Charakter tragen muß. Sie muß erstens sein ein wuchtiger Kampf um die Gleichstellung der Landarbeiterschaft mit der Arbeiterschaft der Industrie, in juristischer und sozialpolitischer Beziehung sowie in puncto Bildungsmöglichkeit. Wir fordern daher für die Landarbeiter: 1. Beseitigung der Gesindeordnungen und ländlichen Ausnahmegesetze. 2. Rechtliche Gleichstellung der Landarbeiter und des Gesindes mit der Industriearbeiterschaft. 3. Arbeiterschutz durch Reichsgesetz für die Landarbeiterschaft und das Gesinde, vor allem ein volles, gesichertes Koalitionsrecht. 4. Verbot der Kindererwerbsarbeit in der Landwirtschaft und bei häuslichen Diensten bis zum 14. Lebensjahre. 5. Ausgestaltung der Volksschulen auf dem Lande im Sinne des sozialdemokratischen Programms und Schulzwang für Elementarschule bis zu 14 Jahren.

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6. Obligatorischer Fortbildungsunterricht für Knaben und Mädchen. 7. Unterstellung der Landarbeiterschaft und des Gesindes unter sämtliche Arbeiterversicherungsgesetze. 8. Errichtung von landwirtschaftlichen Gewerbegerichten. 9. Feststellung der im Interesse der Gesundheit und Sittlichkeit unerläßlichen Bedingungen für die Landarbeiterwohnungen sowie eine energische Wohnungspolizei. Die Agitation muß zweitens sein eine planmäßige, energische, unermüdliche Aufklärungsarbeit unter der Landarbeiterschaft selbst, damit diese den Organisationen der Arbeiterklasse zugeführt, Solidarität übend den Segen der Solidarität kennen lernen. Damit sie, für heute sich eine hellere Gegenwart erringend, gleichzeitig kampffähiger werden und über die Erringung von Gegenwartsforderungen hinaus sich am Emanzipationskampfe der Arbeiter beteiligen. Diese Agitationsarbeit ist nach Ansicht der Konferenz nicht nur Sache der Genossinnen, sondern der Gesamtarbeiterbewegung. Die Konferenz verpflichtet daher die Genossinnen, bei dieser Agitationsarbeit überall nach besten Kräften mit Hand anzulegen, ferner solche Agitation anzuregen und gegebenenfalls selbst zu inszenieren. Die Konferenz empfiehlt des ferneren ein eingehendes Studium der einschlägigen Verhältnisse zum Zwecke der wirksameren Durchführung der Agitations- und Organisationsarbeit unter dem Landproletariat. Zur Begründung der darin enthaltenen Forderungen, die ich als das mindeste, wofür wir mit ganzer Macht eintreten müßten, ansehe, bedarf es nicht vieler Worte. Mein ganzes Referat ist die Begründung. (Sehr richtig!) Wenn ich von Arbeiterschutz in der Resolution spreche, so meine ich damit, daß es selbstverständlich ist, daß alles, was für die Industriearbeiterschaft besteht und erstrebt wird, in sinngemäßer Weise auf die Landarbeiterschaft ausgedehnt werden soll. Also z. B. Bestimmungen über „helle, geräumige, gut gelüftete Arbeitsräume" bedarf es in der Landwirtschaft nicht, wohl aber einen Normalarbeitstag, der nicht länger zu sein braucht als in der Industrie. Heute schon haben zahlreiche Landarbeiter und Arbeiterinnen sich einen Rückhalt gegen Ausbeutung und Unterdrückung durch ihre Mitgliedschaft im Verbände der Fabrik- und Landarbeiter geschaffen. Vielen ist durch Unterstützung des Verbandes der Lohn erhöht, die Arbeitszeit verkürzt, durch Gewährung von Rechtsschutz sind sie vor dem Gefängnis und vor Ubervorteilung seitens des Arbeitgebers bewahrt. Nicht umsonst ist daher

318 dieser Verband der bestgehaßte bei den Agrariern. In Mitteldeutschland bestehen reine Landarbeiterzahlstellen. In einer derselben versieht eine sehr tüchtige Frau, die gleichzeitig eine gute Genossin ist, seit Jahren den Posten eines Kassierers. Das ist etwas ganz anderes, als was vor kurzem die „Soziale Praxis" mich sagen läßt. Ihr Berichterstatter muß in Leipzig nicht haben hören können. Auf seinem letzten Verbandstage hat der Verband eine energischere und planvollere Agitation unter den Landarbeitern beschlossen. Diese gilt es nach besten Kräften zu unterstützen. Dasselbe gilt f ü r die im Norden und Osten namentlich mit vorzüglichem Erfolg begonnene politische Agitations- und Organisationsarbeit; diese muß in allen Teilen Deutschlands inszeniert werden. Im Osten sind besonders die Königsberger und Elbinger Genossen mit bewundernswerter Energie und mit gutem Beispiel vorangegangen, wobei ihnen der „Ostpreußische Landbote" vorzügliche Dienste leistet. Und wie viel Not haben sie durch ihr Eingreifen gelindert, wie viel Tränen getrocknet, wie viel Unrecht verhütet. Das Wort „Sozialdemokratie" ist dort f ü r die Landarbeiter gleichbedeutend mit „Helfer" und „Retter". Meilenweit wandern die Ärmsten, um sich Rat und Hilfe zu holen. Sie, die abgestumpft, in vollständiger Apathie dahinleben, erwachen zu neuem Lebensmut, wenn in den Lehren des Sozialismus ihnen ein Ausweg aus ihrem Elend gezeigt wird. Noch ein großes Feld harrt hier wie überall der Beackerung, der Bearbeitung zu einem Felde des Klassenkampfes. Indem wir bei unseren Schwestern und Brüdern auf dem Lande die heiße, brennende Sehnsucht nach Freiheit und Glück, nach Lebensfreude und Menschenwürde entfachen, gewinnen wir ihr Vertrauen, daß ihnen Hilfe und Erlösung n u r von der Sozialdemokratie kommt. Im Interesse der Landarbeiterschaft, im Interesse der gesamten Arbeiterklasse und ihrer Befreiung, im Hinblick auf ein großes, herrliches Menschheitsideal lasset uns daher heute geloben, was an uns liegt, ihr Vertrauen nicht zuschanden werden zu lassen. Lasset uns heute geloben, daß wir noch mehr wie bisher hinausgehen wollen in die Lande und, allen Anfeindungen und Verfolgungen zum Trotz, das Landproletariat scharen wollen um die Fahne der Sozialdemokratie. Trifft doch f ü r sie noch mehr als f ü r irgend ein anderes Glied der Arbeiterklasse das Wort unseres großen Lehrers Marx zu, daß sie nichts zu verlieren haben als ihre Ketten, aber eine Welt zu gewinnen. (Stürmischer, mehrfach wiederholter Beifall.) Auf Antrag der Genossin Kahler wird beschlossen, in Anbetracht des ausführlichen, erschöpfenden Referates von einer Debatte abzusehen. Eitzroth - Krefeld hatte diesem Antrage gerade mit Rücksicht auf die

319 Wichtigkeit der Materie widersprochen. Einstimmig schließt sich die Versammlung der Resolution der Referentin an und beschließt, ihr Referat als Aufklärungsbroschüre drucken zu lassen. [• • •]«

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Antrag der Sozialdemokraten im Reichstag auf unbeschränkte Koalitionsfreiheit für die Landarbeiter. Berlin, 20. Februar 1907. Verhandlungen des Reichstags. XII. Legislaturperiode I. Session. 239. Bd. Anlagen zu den Stenographischen Berichten, Berlin 1907, S. 758.

»•Antrag. Albrecht und Genossen. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen, dem Reichstag baldigst den Entwurf eines Gesetzes vorzulegen, durch welches das Vertragsverhältnis zwischen den in landwirtschaftlichen oder forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigten Arbeitern und ihren Arbeitgebern sowie das Vertragsverhältnis des Gesindes und deren Arbeitgeber durch reichsgesetzliche Vorschriften geregelt wird, welche insbesondere 1. alle landesgesetzlichen Vorschriften, welche Strafbestimmungen gegen ländliche Arbeiter oder gegen das Gesinde wegen Nichtantritt oder wegen Verlassens des Arbeitsverhältnisses oder wegen Vertragsverletzungen, Ungehorsams oder Widerspenstigkeit, wegen Verabredung und Vereinigung zum Behuf der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittels Einstellung der Arbeit oder wegen Aufforderung zu solchen Verabredungen enthalten, aufheben, 2. den in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigten Arbeitern und dem Gesinde das Recht gewährleisten, zur Wahrung und Förderung von Berufs- und Standesinteressen, namentlich zur Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittels Einstellung der Arbeit, Vereinigungen zu bilden und Verabredungen zu treffen und diesen Vereinigungen das Recht einzuräumen, öffentliche und Vereinsversammlungen zur Erörterung und Beschlußfassung über alle den Beruf und den Stand der Mitglieder betreffenden Angelegenheiten, mit Einschluß einer Einwirkung auf die Gesetzgebung und die Verwaltung, zu veranstalten,

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3. eine reichsgesetzliche Krankenversicherung f ü r das Gesinde und die ländlichen Arbeiter einführen, 4. die Zeit, die Dauer u n d die A r t der Arbeit so regeln, wie es die Erhaltung der Gesundheit, die Gebote der Sittlichkeit, die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter und ihr Anspruch auf gesetzliche Gleichberechtigung fordern. Berlin, den 20. F e b r u a r 1907. Albrecht. Auer. Bebel. Böhle. Bömelburg. Brey. Brühne. Dr. David. Dietz. Ehrhart. Eichhorn. Emmel. Fischer. Dr. F r a n k (Mannheim). Frohme. Geck. Geyer. Goldstein. Heine. Hengsbach. Hildenbrand. Hoch. Horn (Sachsen). Hue. Kaden. Ledebour. Legien. Lehmann (Wiesbaden). Metzger. Noske. Sachse. Scheidemann. Schmidt (Berlin). Schwartz (Lübeck). Severing. Singer. Stadthagen. Stolle. Stücklen. Dr. Südekum. Ulrich, v. Vollmar. Zubeil."«

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Die zwei Klassenlinien in der Sozialdemokratie im Hinblick auf die Landarbeiterfrage. Essen, 15. bis 21. September 1907. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Berlin 1907, S. 378-379, 380.

4 . • •] Schmidt - Sonnenburg: Wir hatten bei den vorigen Wahlen auf die Landarbeiter gerechnet, aber leider h a t uns unser V e r t r a u e n getäuscht. Die Schuld liegt an uns, weil wir die Agitation unter den Landarbeitern nicht genügend betrieben haben. Ich bitte Sie, den Parteivorstand zu beauftragen, daß er sich der Landarbeiterfrage m e h r annimmt, d a n n werden wir das nächste Mal besseren Erfolg u n t e r den Landarbeitern zu verzeichnen haben. Stieffenhofer - Charlottenburg: Die Landarbeiter sind zweifellos diejenigen Arbeiter, die Proletarier im eigentlichen Sinne des Wortes sind. Sie sind schlecht entlohnt, wohnen in schlechten Wohnungen, haben kein Koalitionsrecht, unterliegen nicht der Krankenversicherung,, kurz und gut, sie genießen noch nicht einmal die Rechte, die die übrigen Arbeiter genießen. Aus allen diesen G r ü n d e n ist es nötig, daß w i r uns dieser Leute annehmen. Wir h ä t t e n es am liebsten gesehen, w e n n w i r schon auf diesem Parteitage die Landarbeiterfrage besprochen hätten, aber das w a r nicht möglich. Zum mindesten bitte ich Sie, unsere Anträge dem Parteivorstand zur Berücksichtigung zu überweisen.

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Pfannkuch: Wie auf früheren Parteitagen, so muß ich Sie auch diesmal bitten, dem Parteivorstand keine Marschroute für die Tagesordnung des nächsten Parteitages zu geben. Die Verhältnisse können sich bis zum nächsten Parteitage wesentlich geändert haben. Der Antrag 62 stellt an den Parteivorstand ein ganz sonderbares Verlangen. Er soll vor dem nächsten Parteitag eine Darstellung der landwirtschaftlichen Arbeiterverhältnisse in den verschiedenen Teilen des Reiches sowie eine Zusammenstellung des auf dem Gebiete des Landarbeiterschutzes und der Landarbeiterorganisation bisher von der deutschen Partei und von den ausländischen Arbeiterparteien Geleisteten veröffentlichen. Wenn ich Sie daran erinnere, daß der Verein für Sozialpolitik das vorhandene Material in drei dicken Bänden gesammelt hat, so werden Sie mir zugeben, daß es nicht möglich ist, daß der Parteivorstand bis zum nächsten Jahre eine solche Arbeit leistet, zumal ja auch die Verhältnisse des Auslandes berücksichtigt werden sollen. Weiter soll der Vorstand sogar den Entwurf eines umfassenden Landarbeiterschutzprogramms ausarbeiten. Wir haben uns in Breslau mit der Landarbeiterfrage im allgemeinen und der Agrarfrage im speziellen beschäftigt, und es hat sich gezeigt, daß eine solche Arbeit nicht von heute auf morgen gemacht werden kann. Sie können deshalb heute den Antrag nur dem Parteivorstand zur Erwägung überweisen. Selbst wenn alle Beteiligten den guten Willen haben, ist es doch ganz unmöglich, vor dem nächsten Parteitag die Aufgabe zu erfüllen. Und Sie werden doch den Parteivorstand nicht in die Lage versetzen wollen, vor den nächsten Parteitag zu treten und zu sagen, daß es ihm nicht möglich gewesen ist, den Auftrag auszuführen? Es steht heute schon sicher fest, daß die Aufgabe in dem Zeitraum von einem Jahre unausführbar ist. Katzenstein: Das vorhandene Material über die Landarbeiterfrage in Deutschland ist einigermaßen ausreichend, um eine zusammenfassende Darstellung zu geben. Es ist auch nicht so ungeheuer groß, daß es nicht in absehbarer Zeit bewältigt werden könnte. Vielleicht könnte man in dem Antrag 62 die Worte „vor dem nächsten Parteitag" streichen. Es wird übrigens nicht eine Zusammenstellung des auf dem Gebiet des Landarbeiterschutzes und der Landarbeiterorganisation bisher von den Bruderparteien Geleisteten gefordert. Mit der von mir vorgeschlagenen Änderung bitte ich den Antrag 62 anzunehmen. Den Antrag 67 bitte ich Sie, dem Parteivorstand zur Berücksichtigung zu überweisen. Schmidt - Düsseldorf: Die Landarbeiterfrage wird für uns deshalb brennend, weil jetzt sogar das Zentrum dazu übergeht, in einzelnen Landesteilen die Landarbeiter zu organisieren. Natürlich kommt es ihm

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nicht darauf an, für die Landarbeiter Vorteile zu erringen, sondern es verfolgt nur demagogische Zwecke. Hat doch Giesberts neulich auf dem Katholikentage gesagt, daß an die Aufhebung der Gesindeordnung nicht zu denken ist! Es ist dringend notwendig, daß wir uns eingehender mit der Landarbeiterfrage beschäftigen. Ich bitte Sie, den Antrag 67 anzunehmen. [•••]

Molkenbuhr: Die Reichstagsfraktion hat von jeher die Interessen der Landarbeiter vertreten und einen ausreichenden Schutz für sie verlangt. Ich erinnere daran, daß wir die Ausdehnung der Krankenversicherung auf die Landarbeiter gefordert haben, wobei das Zentrum uns Widerstand geleistet hat. Auch beim Unfallversicherungsgesetz haben wir uns der Landarbeiter angenommen; ferner haben wir wiederholt die Beseitigung der Gesindeordnungen und aller Ausnahmegesetze für Landarbeiter und Gesinde gefordert. Wir haben das Koalitionsrecht für die Landarbeiter gefordert, wir haben verlangt, daß eine ganze Reihe von Arbeiterschutzbestimmungen über die Dauer der Arbeitszeit, über Frauen- und Kinderarbeit auf die Landarbeiter ausgedehnt wird. Wir haben ferner einen Kampf dagegen geführt, daß in einigen Einzelstaaten Kontraktbruchgesetze für Landarbeiter geschaffen werden. Das Material darüber steht unseren Agitatoren zur Verfügung, sie können davon Gebrauch machen. Der Antrag 62 verlangt, es soll mehr geschehen als bisher geschehen ist. Die Verhältnisse in den einzelnen Bundesstaaten sind so verschieden, daß wir dickleibige Bände herausgeben müßten, wollten wir nur ein einigermaßen vollständiges Material liefern. Mit der praktischen Agitation für den Schutz der Landarbeiter dürfen wir nicht bis zum nächsten Parteitag warten. Die Landarbeiterfrage Wird vielmehr bei dem Kampf um das preußische Wahlrecht eine große Rolle spielen. Für Preußen wird das Material, soweit es agitatorisch zu verwerten ist, natürlich zusammengetragen werden. Sie können sicher sein, daß sowohl der Parteivorstand als auch die preußischen Genossen alles tun werden, um das nötige agitatorische Material zu veröffentlichen. Auch das Handbuch für preußische Landtagswähler, das in Vorbereitung ist, wird die Landarbeiterfrage behandeln. Wenn aber alles vorhandene Material zusammengestellt und im Laufe des Jahres in der praktischen Agitation verwendet wird, ich weiß nicht, ob dann für den nächsten Parteitag ein Anlaß vorliegt, noch einmal das durchzukauen, was man das ganze Jahr hindurch gehört hat. [• • • ] «

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Der Provinzial-Parteitag für Ostpreußen über die Gründung eines Landarbeiterverbandes. Königsberg, 15. Dezember 1907. Königsberger Volkszeitung, Nr. 293, 16. 12. 1907. Merseburg, Rep. 77 CB, S, Nr. 29 IV. S. 133-134.

Es folgte der Bericht der Agitationskommission. Das Wort dazu erhält der Genosse Linde: Parteigenossen! Der Bericht der Agitationskommission liegt gedruckt vor, ich k a n n mich also auf einige Erläuterungen und Mitteilungen beschränken. Der Landbote ist w ä h r e n d der Reichstagswahl öfter als üblich erschienen, sogar ab u n d zu mit einer Beilage. Insofern sind wir dem Wunsche der Genossen aus der Provinz nachgekommen. Die Genossen in den Städten sollten aber m e h r u n d m e h r die Volkszeitung lesen. Der Landbote ist doch n u r f ü r die Landbevölkerung berechnet und k a n n n i m m e r m e h r den Ansprüchen der vorgeschritteneren Genossen genügen. Die Diskutierabende in der Provinz, die gewünscht werden, sind im Versuch stecken geblieben. Erfolge von Bedeutung haben wir im verflossenen J a h r e nicht zu verzeichnen. Aber mit welchen Mitteln h a b e n auch unsere Gegner gearbeitet? Terrorismus der tollsten Art, Lügen und selbst Urkundenfälschungen müssen herhalten, u m uns die Landarbeiter fernzuhalten und zu e n t f r e m d e n . Der folgende Brief zeigt unwiderleglich die A r t der gegnerischen Kampfesmethode: ,, , „ „ , Neu-Barwalde, den 6. Dezember 1907 H e r r n Linde! Teile Ihnen auf I h r Schreiben vom 4. Dezember mit, daß ich mit den sozialdemokratischen Sachen nichts m e h r zu t u n h a b e n will u n d bitte, mich aus dem Verein zu streichen. . ,, Achtungsvoll Ludw. Brosch. Die Genossen w e r d e n sich überzeugen, d a ß wohl die Unterschrift, nicht aber der übrige Inhalt des Briefes von Brosch h e r r ü h r t ; die augenfällige Verschiedenheit der Handschriften beweist das. (Der Brief wird herumgereicht und erregt unter den Delegierten Sensation.) Solche Briefe erhalten w i r sehr oft, und w e n n wir die Briefschreiber nach den Ursachen fragen, dann erhalten w i r zu unserm Erstaunen die Antwort, daß diese Briefe entweder ohne Wissen und Willen des Betreffenden geschrieben und unterschrieben sind oder der G u t s h e r r h a t seine wirtschaftliche Ubermacht ausgenutzt, den Arbeiter zum Austritt gezwungen, u n d in diesem Falle schreiben die Herren denn auch, wie oben, den Brief u n d der Arbeiter hat n u r zu unterschreiben.

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Die verlogene und so ungemein niedrige Kampfesweise des konservativen „Volksfreund", der in vielen Tausenden Exemplaren in jeder Woche umsonst an die Landleute verteilt wird, richtet ungeahntes Unheil unter den Landleuten an. Die Kriegervereine tun ebenfalls das menschenmögliche an Verleumdung. [ . . . ] Es folgt der dritte Punkt der Tagesordnung „Die Organisation der Landarbeiter". An Stelle des durch Krankheit behinderten Referenten, des Genossen Otto Braun, erhält hierzu das Wort der Genosse Linde: Wir können in Anbetracht der bedrückten Lage der 12 000 000 Landarbeiter nicht warten, bis die Regierung eine Besserung freiwillig herbeiführt oder ermöglicht. Wir müssen die Landarbeiter zur Selbsthilfe erziehen. Die bisherigen Mittel, Kalender und Flugblätter, haben nicht den gewünschten Erfolg gehabt. Gewerkschaft und Partei haben ein wesentliches Interesse an der Besserung der Lage der Landarbeiter, denn die Landarbeiter sind die Klasse, aus der die Streikbrecher stammen. Wir müssen deshalb nach neuen Mitteln suchen, um an die Landarbeiter heranzukommen. Die intelligenteren Landarbeiter sind bereits in die Städte gegangen. Die Junker haben nun eingesehen, daß das nicht so weitergehen kann. Sie fordern deshalb Zwangsmaßregeln von der Regierung, die ihnen die ausländischen Arbeiter, die Schulkinder und ehemaligen Soldaten ausliefern sollen. Die Vagabunden und Landstreicher sollen nach Ostelbien geschickt werden. Uneheliche Kinder sollen ebenfalls aufs Land gebracht werden. Auf den Gedanken, bessere Löhne und bessere Behandlung den Landarbeitern zuteil werden zu lassen, ist keiner der Junker gekommen. Für die Ausländer, die jetzt auch unzufrieden werden, schlägt man höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen vor, für die einheimischen hat man nur Ausnahmegesetze. Auch versucht man durch allerhand Mittelchen, die Seßhaftmachung zu erreichen. Der Zentrumsabgeordnete Heim machte bereits dahingehende Vorschläge. Er will den Landarbeitern ein kleines Eigentum scheinbar überlassen. Andere wollen den Dienstboten eine Prämie für lange Dienstzeit festsetzen. Das sind die Mittelchen, darüber unsere Gegner beraten und mit denen sie die Landarbeiterfrage lösen wollen. Dem entgegen müssen wir die Landarbeiter dazu bringen, durch sich selbst ihre Lage verbessern zu können, natürlich mit Unterstützung des gesamten Proletariats. Der Fabrik-, Land- und Hilfsarbeiterverband hat seit 17 Jahren Versuche gemacht, die Landarbeiter zu organisieren, aber ohne Erfolg. Das muß untersucht werden, damit man die Gründe findet und Abhilfe schafft. Die Landarbeiter sind unter sich so verschieden, auch die Ver-

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hältnisse in den verschiedenen Provinzen und Staaten sind völlig verschieden. Die Arbeitsbedingungen, Kontrakte, Art der Entlohnung sind überall anders. Die buntgewürfelten Verhältnisse lassen die Organisation in dem Fabrikarbeiterverband nicht zu. Auch die rechtlichen Verhältnisse sind sehr verschieden. In Ostpreußen stehen sogar Handwerker unter der Gesindeordnung. Wir müssen vor allen Dingen den Landleuten Rechtsschutz gegen den Kontraktbruch der Grundbesitzer gewähren. Diese Kontraktbrüche von Seiten der Grundbesitzer sind viel häufiger als die der Dienstboten und Arbeiter. Die schlimmste Bestimmung ist, daß die Instleute den Besitzern auch noch Scharwerker stellen müssen. Durch diese Bestimmung wird es dem Besitzer häufig sehr leicht möglich, die Leute im Oktober, wenn sie die Arbeiter nicht mehr brauchen, auf die Straße zu setzen. Die zu schaffende Organisation muß Rechtsschutz, Krankenunterstützung, Sterbegeld und Umzugsgeld gewähren. Rechtsauskunftsstellen, eine besondere Zeitung und Warnung vor schlechten Stellen in dieser Zeitung muß eingeführt werden. Das alles kann der Fabrikarbeiterverband nicht schaffen. Wir haben hier vor Jahren ein Statut zu einer Landarbeiterorganisation ausgearbeitet. Die Generalkommission hat diesem Statut zugestimmt und auch finanzielle Unterstützung zugesagt. Doch die Gründung der Organisation scheiterte damals an dem Widerstand des Fabrikarbeiterverbandes, der sich die Organisierung der Landarbeiter nicht nehmen lassen wollte. In den letzten Jahren hat dieser Verband die Frage zwar beraten, aber nichts Greifbares geschaffen. In der kürzlich stattgehabten Konferenz dieses Verbandes wurde wiederum eine Resolution angenommen, die die besondere Organisation der Landarbeiter ablehnt. Der Fabrikarbeiterverband will dieses Gebiet weiter allein bearbeiten, trotz der bisherigen Mißerfolge. Ich bin der Meinung, daß auch jetzt der Fabrikarbeiterverband nichts erreichen wird ; eben weil er nichts erreichen kann. Nur eine eigene Organisation könnte hier etwas ausrichten und nur eine solche verspricht Erfolg. Die kleinlichen Bedenken müssen fallen. Partei und Gewerkschaften sind lebhaft daran interessiert, die Landarbeiter besserzustellen und auf dem Lande festzuhalten. Bei einer energischen Bewegung für Schaffung dieser Organisation wird auch die Meinung des Fabrikarbeiterverbandes sich bald ändern. Die Generalkommission war für die Organisation und wird auch Mittel, die ja bei den großen Verpflichtungen ziemlich groß sein müssen, hergeben. Gemeinsam mit der Partei wird dann die Schaffung eines Landarbeiterverbandes möglich sein. Stimmen Sie der von mir vorgelegten Resolution zu. Es sind keine Einzelheiten vorgeschlagen. Nur der Anstoß, der jetzt dringend not-

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wendig ist, soll durch Resolution gegeben werden. Einzelheiten vorzuschlagen und zu befürworten halte ich in diesem Stadium f ü r nicht geboten. Meine Resolution soll der Anstoß sein, der den Stein ins Rollen bringt. Es muß der erste Versuch gemacht werden, die Landarbeiter zu organisieren, u m sie aus den Klauen des ostelbischen Junkertums zu befreien und dadurch uns allen bessere wirtschaftliche und politische Verhältnisse zu schaffen. (Lebh. Beifall.) Resolution zur Landarbeiterorganisation. In Erwägung, daß die wirtschaftlich elende und rechtlich unwürdige Lage der Landarbeiter, die unter einem schlimmen Ausnahmegesetz stehen, außer durch die Tätigkeit der sozialdemokratischen Abgeordneten in den Parlamenten n u r durch eine selbständige Landarbeiterorganisation gehoben werden kann. In weiterer Erwägung, daß im Hinblick auf das geringe Einkommen der Landarbeiter eine solche Organisation nur gemeinsam von Partei und Gewerkschaften geschaffen und durch dauernde tatkräftige Unterstützung seitens beider Körperschaften erhalten und ausgebaut werden kann, ersucht der Ostpreußische Parteitag den Parteivorstand, gemeinsam mit der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands die Gründung einer selbständigen Landarbeiterorganisation in die Wege zu leiten. Die Diskussion wird eröffnet. Mit zur Beratung stehen auch folgende Resolutionen von Königsberg-Land: 1. Nachdem der Versuch der J u n k e r und ihrer Regierung mißlungen ist, die Landarbeiter durch ein Kontraktbruchgesetz zu knebeln, gehen die J u n k e r mit aller Macht daran, die Landarbeiter durch Bildung kleiner Zwerggüter („Rentengüter") an das platte Land und an sich zu fesseln. Weil die Rentengüter absichtlich so klein geschaffen werden (5-6 Morgen), daß sie den Besitzer und dessen Familie nicht ernähren können und diese so gezwungen werden, auf den umliegenden Gütern zu arbeiten, warnt der Parteitag die Landarbeiter, solche Güter zu erwerben. Wird der Plan der Großgrundbesitzer, überall solche Rentengüter zu bilden, verwirklicht, dann sind die Inhaber in ihrer Lohnarbeit völlig auf die umliegenden Güter angewiesen und die Junker können die Hungerpeitsche noch rücksichtsloser schwingen, als es ihnen schon jetzt möglich ist, wo der Landarbeiter ungebunden ist und nach Industrieorten abwandern kann. Ebenso warnt der Parteitag die Landarbeiter vor allen anderen Versuchen, sich durch käufliche Erwerbung (Erbpacht u. a.) von Wohnhäusern seßhaft zu machen.

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2. Um ein genaues Bild über die Lohn-, Arbeits- und Wohnbedingungen der Landarbeiter zu gewinnen und damit dem Gerede der- Junker über die hohen Landarbeiterlöhne wirksam entgegentreten zu können, wird das Provinzialagitationskomitee beauftragt, statistische Erhebungen über die Lebenslage der Landarbeiter, der erwachsenen wie der jugendlichen, anzustellen und das Resultat dieser Erhebungen baldmöglichst zu veröffentlichen.1 [• • •]« 1 Nach einer ausführlichen Diskussion w u r d e n die Resolutionen einstimmig angenommen.

131 Die ostelbischen Landarbeiter im Spiegel der Berufsstatistik der Jahre 1895 und 1907. Die D e u t s c h e L a n d w i r t s c h a f t . H a u p t e r g e b n i s s e d e r Reichsstatistik. B e a r b e i t e t i m K a i s e r l i c h e n Statistischen A m t e , B e r l i n 1913, S. 85.

»Staaten und Landesteile

Ostdeutschland darunter: Ostpreußen Westpreußen Pommern Posen Schlesien Brandenburg mit Berlin

Jahr der Zählung

Mithelf. Knechte Mägde Angeund hörige Mägde

1907 1895

1040 437

395 540

1907 1895 1907 1895 1907 1895 1907 1895 1907 1895

148 58 125 38 108 40 167 58 297 155

73 93 35 44 43 55 40 76 107 155

1907 1895

183 77

66 85

177 —

28 —

14 —

14 —

18 -

63 —

29 —

Arbeiter Arbeiter Arbeiter m i t Ei- m i t D e - o h n e g e n - od. p u t a t Land Pachtland

80 116

201

814 908

9,2 13 11 14 10 14 11 15 12 18

44

16 26

21

119 155

27

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36

98 111

40

134 154

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