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German Pages 234 [236] Year 1914
Kunst und Illusion Von
Julius Pap
Leipzig s Verlag von Veit & Comp. 0 1914
Druck von Metzger & Wittig in Leipzig.
Dem Andenken
Theodor Gomperz' in dankbarer Verehrung gewidmet
Vorwort. Das Wesentliche der folgenden Betrachtungen ist in dem ersten oder „Hauptteil" vollständig und zusammenhängend gegeben. Wer unter Verzicht auf strengere kritische Prüfung in Kürze von meiner Arbeit Kenntnis zu nehmen wünscht, mag sich auf die Lektüre dieses Stückes mit Ausschluß der entsprechenden Anmerkungen beschränken. Dagegen wäre die alleinige Durchsicht des „polemischen Teils" oder einiger seiner Abschnitte durchaus ungeeignet, eine zutreffende Vorstellung von dem Inhalt des Ganzen zu vermitteln. J a sie würde nicht einmal mein Verhältnis zu den dort besprochenen zeitgenössischen Ästhetikern in hinlänglichem Maße erkennen lassen. Die gebührende Auseinandersetzung mit den vornehmsten Illusions-Theorien ist in der Gesamtheit der grundsätzlichen Darlegungen p l u s den polemischen Kapiteln enthalten und nur dem Vereine beider zu entnehmen. Die vorgebrachten Einwände und Zweifel empfangen den eigentlichen Sinn erst von ihren positiven Voraussetzungen her. Auch habe ich nicht alle Kritik jenen selbständigen Ausführungen vorbehalten. Man kann eine Meinung nicht präzisieren und rechtfertigen, ohne sie anderen Urteilsmöglichkeiten, die sich jeweils der nächsten Umschau mit darbieten, sondernd und streitend gegenüberzustellen. So bekämpfe ich denn im Hauptteil oft an passender Stelle einzelne, typisch gefaßte Ansichten, während ich später im Anschluß an diese allgemein-kritischen Partien und mit häufigem Rückbezug, auf die individuelle Art eingehe, wie die betreffenden Ansichten bei bestimmten Autoren abgeschattet und verknüpft, ausgesprochen und verteidigt sind. Durch eine solche Anordnung scheint mir zugleich das Hausrecht des Verfassers und das Gastrecht der Mitforscher am besten gewahrt. Sie sichert dem ersten die Freiheit einer planmäßig fortschreitenden, übersichtlich-ökono-
Vorwort
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mischen Gestaltung; und sie schützt den zweiten vor dem sonst unausbleiblichen Schicksal, seine Gedanken zerpflückt, schematisiert, vergewaltigt zu sehen. Das Verfahren hat natürlich seine Nachteile, es bedeutet nichts weniger als eine vollkommene Lösung des allen wissenschaftlichen Schriftstellern nur zu wohl bekannten Polemik-Problems. Gleichwohl hat es sich mir nach wiederholten Versuchen, die bejahende und die verneinende Rede gänzlich zu trennen oder sie gänzlich zu vereinigen, als das im vorliegenden Falle zweckmäßigste empfohlen. Meine Untersuchung bewegt sich überwiegend in den Niederungen elementarer Fragen; sie ist vor allem auf den Erwerb möglichst klarer Grundeinsichten gerichtet. Damit hängt es zusammen, daß ich die psychologisch durchsichtigere „Anschauungs- Illusion", an der das für alle Kunst-Illusion gemeinsam Geltende besonders deutlich zutage tritt, sehr viel ausführlicher behandle als die gleichartigen, an sich noch interessanteren Tatsachen der anderen Geistessphären. Aus dem nämlichen Grunde habe ich meine Bemühungen fast ausschließlich der analytischen Seite der Aufgabe zugewandt und es mir im allgemeinen versagt, das lebendigfreie Zusammenspiel der seelischen Bewegungen im Kunsterlebnis schildern zu wollen. Solch einem Unternehmen wäre übrigens von vornherein nur halbes Gelingen beschieden gewesen, da es, streng genommen, eine dem Künstlerischen verwandte Fähigkeit erheischt, über die ich nicht verfüge. W i e n , Mai 1914.
J. Pap.
Inhaltsübersicht. Hauptteil
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1. D a s Wesen d e r n o r m a l e n A n s c h a u u n g s - I l l u s i o n . . . . Die normale Wirkung eines guten Gemäldes. Nicht Sinnestäuschung. Nicht bloße Vorstellung (Zeichenwirkung). Nicht Zweiheit von Darstellungsbild und Werkbild. Nicht Anschauung plus beziehendem Urteil oder Realitätsurteil (verneinendem oder fiktiv bejahendem, bzw. Suspension des Urteils) oder spezifischer Realitäts-Empfindung. Anschauungs-Illusion ist ein Mittleres in strengem Sinne zwischen Wahrnehmung und Vorstellung, der Unterschied der drei Kategorien besteht in Abstufungen einer besonderen, formal-psychischen Bestimmtheit der Funktion, der „Erlebnisfrische".
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2. D i e A b w a n d l u n g e n d e r n o r m a l e n A n s c h a u u n g s - I l l u s i o n Sinnennähe und -ferne. Allfällig begleitende Urteils-, Willens-, Gefühlsfunktionen. Zwei Typen der Illusionswirkung. Die illusionäre Anschauung selbst kann reicher oder ärmer, lebhafter oder gedämpfter sein. Ubergänge zur ekstatischen Wirkung.
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3. D a s W e s e n d e r e k s t a t i s c h e n A n s c h a u u n g s - I l l u s i o n . . Typen der Ekstase: Erregungsrausch, hypnotische Träumerei, Erkenntnis-Ekstase. Gemeinsame Eigentümlichkeiten des Anschauungslebens in der Ekstase. Allgemeinheit der Inhalte, Subjektivismus, Apriorismus. Hervortreten der optischen Erscheinung. Aufhebung des Unterschiedes von Sinnlich und Unsinnlich; die ekstatische Anschauung ist weder Wahrnehmung noch Vorstellung noch ein Mittleres, sondern formal-abstrakte Anschauung, Anschauung schlechthin („Vision"). Auf höherer Stufe verfließen auch die Grenzen von Anschauung und Gefühl, Anschauung und Gedanke, letztlich von Subjekt und Objekt. Die ekstatische Anschauungs-Illusion ist gleichfalls Vision. Ihr Ursprung und ihre Gelegenheiten.
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4. D i e A b w a n d l u n g e n d e r e k s t a t i s c h e n AnschauungsIllusion Die Zweiheit von Natur- und Werkbild in der ekstatischen Illusion. Die berauschende, die hypnotisch-bannende, die seherischerleuchtende Wirkung abbildlich darstellender Kunst. 5. A u g e n b l i c k s - I l l u s i o n . R a n d - I l l u s i o n . K o m p l i k a t i o n e n Zwischenformen von Ekstase und normaler Seelenlage. Spielstimmung. Moment-Eindruck, impressionäre Illusion. Die Illusion im peripherischen Sehen („Rand-Illusion"). Verwick-
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Inhaltsübersicht
lungsmöglichkeiten. Beispiele komplexer Formen der Illusionswirkung. Rückblick. Die Ansichten vom Wesen der KunstIllusion sind zumeist nur Ausdruck feststehender individueller Erlebnisweisen und einseitiger ästhetischer Neigung. 6. D e r ä s t h e t i s c h e W e r t d e r A n s c h a u u n g s - I l l u s i o n . . . Die Anschauungs-Illusion ist nicht an sich ästhetisch, k a n n aber fallweise ästhetischen Wert haben, und zwar in a l l e n ihren Abwandlungen. Es gibt keinen vorzugsweise ästhetischen Typus der Illusionswirkung. Eigenwert der Illusion als reiner, ruhiger Anschauung; die besondere Art, wie er erlebt wird. 7. D i e b i o l o g i s c h e n G r u n d l a g e n d e s ä s t h e t i s c h e n I l l u sions-Wertes Alle typisch menschlichen Erlebnisweisen können unter bestimmten Bedingungen einen sekundären ästhetischen Eigenwert gewinnen. Der Wert der Kunst-Illusion hat verschiedene Grundlagen. Einfluß der stufenweisen Anpassung an die nachahmende Kunst. Jeder Stufe entspricht ein bestimmter Typus der Illusionswirkung. Zeitliche Mittelstellung der reinen Anschauungs-Illusion zwischen Wahrnehmung und Vorstellung, typisches Auf und Ab des Sinneslebens. Verschiedene Entwicklungsreihen des Kunstgenießens. Teleologie der AnschauungsIllusion. 8. D i e n a t ü r l i c h e n A n a l o g a d e r k ü n s t l e r i s c h e r z e u g t e n Anschauungs-Illusion „Natürliche Illusion". Freie Wolken-Illusionen u. dergl. Schatten, trübe Spiegelungen wirken abbildlich. Trübe Medien, Nebel, Halbdunkel, Ferne, Verhüllungen, die die Form nicht unkenntlich machen, desgleichen subjektive Augenmängel (Kurzsichtigkeit), drücken das sinnliche Sehen zur Illusion, ja letztlich zur Vorstellung (Zeichenwirkung) herab. Streng genommen ist schon die an einen festen Standort dauernd gebundene Betrachtung nicht mehr vollsinnliche Anschauung. Wechselweises Hervortreten' der Erscheinung unter den Bedingungen der natürlichen Illusion. Beziehungen dieser zur KunstIllusion. „Malerische" Natur-Aspekte. Anregende Wirkung solcher auf das Kunstschaffen. Kurzsichtigkeit und malerischer Illusionismus. Abbildlich nachahmende Kunst unter den Bedingungen der natürlichen Illusion. „Potenzierte Illusion". Abwandlungen der natürlichen Anschauungs-Illusion. 9. D a s i l l u s i o n ä r e E r l e b n i s u n d d a s K u n s t w e r k Die Abwandlungen der anschaulichen Kunst-Illusion sind auch objektiv bedingt. Bestimmten Weisen des Kunst-Erlebens entsprechen bestimmte Darstellungsweisen. Beispiele. Stilisierende Naturdarstellung ist der Ekstase am gemäßesten. Stil das künstlerische A-priori. Idealität und Stil. Wirkung stilvoller Kunst auf den nüchternen Geist. Der Stil und sein variables Verhältnis zum Naturelemente spiegeln oft die ganze Geistesart eines Künstlers, eines Volkes, einer Zeit. — Abhängigkeit der objektiven von den subjektiven Wirkungsfaktoren, kausales Wechselverhältnis in der historischen Kunstentwicklung, ästhetische Berechtigung des Subjektivismus im Kunstgenuß. Es gibt keine unbedingt beste Kunstweise. Kritik der Maßstäbe: persönliche Eigenart, Naturwahrheit. Die Abweichung von der illusionistischen Wahrheit ist schon in
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frühen Perioden der Kunstentwicklung oft eine mehr oder minder bewußt-gewollte, auf ästhetischer Neigung beruhende. Beispiele. Aber auch jene Wahrheit selbst ist nicht eine einzige, immer gleiche. Relativität des historischen Fortschreitens künstlerischer Nachahmungstechnik, keine schlechthin wahre Darstellungsweise. Eben darum unbegrenzte Entwicklungsmöglichkeiten. Verhältnis des malerischen Illusionismus zur Erkenntnis der Erscheinungstatsachen. 10. D a s i l l u s i o n ä r e E r l e b n i s u n d d i e K ü n s t e
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Die vollfarbige naturalistische Malerei ist die einzige Kunst, die die normale Anschauungs-Illusion rein, ohne komplizierende Momente (Abstraktion), hervorbringen kann. Darstellerisch farblose Malerei und Zeichnung. Relief. Naturalistisch-farbige Plastik bewirkt unvollkommene Sinnestäuschung. Die Wirkung farbloser Plastik ist wesentlich zusammengesetzt, das Iiiusions-Element in ihr ist nur die in die Kunst übertragene natürliche Illusion, das illusionäre Erfassen des Gesamt-Organismus in der Außenform des (nackten oder verhüllten) Leibes. Daher die Beschränkung des Stoffgebietes auf den Menschen und einige Tiere. Bedeutung der Malerei und der Plastik für verschiedene Phasen des ausgedehnten Anschauungsprozesses. — Die WortPoesie vermag bestimmte, wenngleich wenig inhaltreiche Bildvorstellungen zu vermitteln, nicht aber illusionäre Anschauungen aufzurufen. Illusion der zeitlichen und örtlichen Gegenwart, des Sehen-Könnens, Gesehen-Habens u. dergl. Doch ist in der illusionistischen Gesamtwirkung der Poesie die Anschauung überhaupt nur ein untergeordnetes Element. 11. D i e n i c h t - a n s c h a u l i c h e n K u n s t - I l l u s i o n e n Die Gegensätzlichkeit einer frischen und einer abgeblaßten Erlebnisweise erstreckt sich auf alle seelischen Funktionen. Vorstellungsblasses Denken, Fühlen, Wollen. Die Kunst schafft wieder ein Mittleres. Denk-, Gefühls-Illusion (Ausnahmefälle echter Gefühlswirkung der Kunst), Willens-Illusion (das KunstErleben n i c h t schlechthin begehrungsfrei), Bewegungs-, Handlungs-Illusion. „Einfühlung" als illusionäre Versetzung in ein anderes Ich, komplexer Vorgang, wesentlich Denk-Illusion. Reaktive, sympathetische und introjektive Illusionen. Ausdruckskunst. Lyrik. Gefühls-, Kraft- und Bewegungs-Illusion in den nicht-nachahmenden Künsten. Ekstatische Gefühls-, Willens-, Kraft-Illusion. Ästhetischer Wert der Gefühls-Illusionen usw., seine Relativität. Auch echte Gefühle usw. als Kunstwirkung können ästhetisch sein. Das Ästhetische der Formenwirkung muß nicht auf Illusion beruhen. 12. D i e n a t ü r l i c h e n I l l u s i o n e n n i c h t - a n s c h a u l i c h e r A r t
.
Illusionärer Vor- und Nachklang echten Fühlens usw. Annahmen oder Hypothesen als Denk-Illusionen. „Illusionen" im vulgären Sprachsinn. Tat-Illusionen. Persönlichkeits-Illusionen. Pose, Rollenspiel, individuell und sozial, Bedeutung im geschichtlichen Leben. Verhältnis der natürlichen zu den Kunst-Illusionen. Verbindung, Wechselwirkung. Die Kunst kann auch Gegenstand natürlicher Illusionen sein. Das ästhetische KunstErleben selbst kann zur Illusion abblassen. Unvermeidlichkeit, Gefahr und Nutzen eines solchen unechten Genießens.
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13. D i e I l l u s i o n e n u n d d a s a k t u e l l e L e b e n 118 Die Illusionen sind die Mittler zwischen Phantasie und Wirklichkeit. Es ist kein Kriterium des Ästhetischen, aus dem Zusammenhang mit dem übrigen Leben schlechthin abgelöst zu sein. Stufengänge von enger und weiter Periodizität. Beispiele. Verwirklichung der Tat-Illusionen. Scheinbare Verwirklichung im Zauber. Nachahmende Darstellung hat ursprünglich oft magische, erst später illusionsästhetische Bedeutung. Verwirklichung von Persönlichkeits-Illusionen, gewollte Charakterwandlungen im Sinne eines realen oder idealen Vorbildes, „Imitatio". Das Mittleramt der Illusion ist jedoch nicht kausal zu verstehen. Ihre teleologische Bedeutung beschränkt sich auf allgemeinste Wirkungen. Dem Übungs-Effekt im besonderen stehen Nachteile gegenüber. Die Einfühlung fördert nicht die Kenntnis der menschlichen Seele. Namentlich ist der Nutzen der Gefühls- und Willens-Illusionen für die Charakterbildung ein imaginärer. Ästhetische Erziehung zur Moralität ist unmöglich. Freilich auch Schädigung der Moralität durch ästhetisches Genießen. Es gibt keine unwirksammachende Entladung nützlicher oder schädlicher Antriebe in der Illusion (Katharsis). Worin der wahre Vorzug idealistischer Kunst besteht. Polemischer Teil 129 Auseinandersetzung mit den einschlägigen Darlegungen von Konrad Lange, Karl Groos, J o h a n n e s Volkelt, Theodor L i p p s , O s w a l d K ü l p e , P a u l S o u r i a u , A l e x i u s v. M e i n o n g , S t e f a n W i t a s e k . Die leitenden Grundsätze und die Ergebnisse meiner eigenen Untersuchung. Anhang.
(Zur Psychologie der G e s i c h t s w a h r n e h m u n g ) . . Genaueres über die allgemeinen Tatsachen des visuellen Lebens, soweit sie das Illusionsproblem berühren, insbesondere über das Verhältnis von Erscheinung-, Form- und Ding-Sehen. Strenge Scheidung des deskriptiv-psychologischen Standpunkts sowohl von der konstruktiv-psychologischen als auch von der erkenntnistheoretischen Auffassung.
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Anmerkungen
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Hauptteil. 1. Das Wesen der normalen Anschauungs-Illusion. Illusion im Sinne des kunstpsychologischen Sprachgebrauchs ist der eigentümliche seelische Erfolg der sogenannten nachahmenden oder darstellenden Künste. Als ihr einfachster Haupttypus erscheint derjenige, den die abbildliche Darstellung einer wirklichen oder denkbaren Sinnenwelt begründet: die Anschauungs-Illusion. Wenn wir angesichts eines Gemäldes dieser Wirkung lebhaft inne werden, so sagen wir wohl in läßlich unbestimmter Rede: Die Dinge stehen leibhaft vor uns, man s i e h t sie. Wir drücken uns vielleicht genauer aus, oder wir geben uns und anderen eine erste Erklärung, indem wir von „Schein" und von „Täuschung" sprechen. Das bedeutet zunächst: objektiv unwirkliche Sehgebilde, objektiv unrichtiges Sehen. Der besondere psychische Zustand mag hierbei verschiedentlich gedacht sein: als Tendenz und Möglichkeit des Irrtums, als unklares Schweben zwischen Irrtum und Wahrheit, oder endlich als durchschaute, erkannte, b e w u ß t e Täuschung. Aber tatsächlich pflegt uns die Kunst in keiner Weise zu täuschen. Der unmittelbare Gesichtstrug, wie er uns namentlich vom Spiegelbilde her geläufig ist, kommt von vornherein kaum in Frage. Die farblos darstellenden Künste streben ihn grundsätzlich nicht an, die naturalistische Farbenplastik tut es zuweilen mit unbefriedigendem Effekt; die Flächenhaftigkeit der Malerei bleibt unter regulären Umständen immer bemerkbar. Abbildliche Wiedergabe gründet sich auf zureichende Ähnlichkeit, nicht auf UnUnterscheidbarkeit. Dennoch weckt jedes wohlgelungene Erzeugnis mimetischer Gestaltung, bis herab zum zeichnerischen Umrißentwurf, vollkommene Illusion. Dem entsprechen die genetischen Voraussetzungen des Erlebnisses. Wir müssen Malerei im allgemeinen gleichwie neue Arten von Malerei erst schauen lernen, und zwar lange nachdem wir Natur P a p , Kunst und Illusion
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Hauptteil
sehen gelernt haben. Die eigentliche Illusion ist oft ein gewolltes Ergebnis; ihr Zustandekommen fordert eine bestimmt gerichtete Aktivität, einen Nisus tonverteilender Aufmerksamkeit, der den aufdämmernden Eindruck festhält und hebt, andere konkurrierende zurückdrängt. Der Geist paßt sich an die Kunstform an; er stellt sich jedesmal speziell auf sie ein, anfangs durch bewußten Impuls, später mehr und mehr automatisch. Die behauptete Täuschung müßte also eine subjektiv mitbedingte Selbsttäuschung sein. Dergleichen ist der seelischen Erfahrung nicht gänzlich fremd. Wille und Einübung können das Sehen so weit positiv beeinflussen, daß der Inhalt des Gesichtsfeldes oder einzelner seiner Teile nach Ort, Stellung, absoluter Größe ins Richtige oder Unrichtige gleichmäßig verändert erscheint. Dies geschieht zumeist beim Gebrauch optischer Apparate; wenn der Spiegel die Dinge anders lokalisiert, die prismatische Brille sie verschiebt, das einfache Fernrohr sie umkehrt, Linsen alles vergrößern oder verkleinern: so heben wir derartige Modifikationen durch die entgegengesetzten innerlich wieder auf, ohne daß die Anschauung den Charakter wechselte. Dagegen vermag kein Machtgebot der Autosuggestion, innerhalb weitester Grenzen des Normalen, das gegebene Wahrnehmungsgebilde in seinen konstitutiven Formbestimmungen umzuwandeln, an Stelle der gesehenen farbigen Fläche ein gesehenes Stück Raumwelt zu setzen. Der schärfer Prüfende empfindet allezeit einen deutlichen Wesensunterschied zwischen der malerisch-bildnerischen Illusion und dem sinnlichen Augenschein irgendwelcher Herkunft. 1 Der Glaube an optisches Gaukelspiel hat schon die Benennung des Phänomens veranlaßt: Illusion = illusorisches Sehen. Daß er sich mit so zwingender Kraft stets wieder aufdrängt, beruht auf einer natürlichen Hinneigung unseres Interesses. Als das hervorstechende Spezifikum der Illusion erscheint die merkwürdige F r i s c h e , mit der wir ein nicht real Anwesendes schauend erleben. Wir finden innere Bilder vor, die mehr als alltägliche Vorstellung sind, die sich der sinnlichen Wahrnehmung unzweifelhaft nähern; und wir schätzen oft das Kunstwerk gerade um dieser Annäherung willen, die wir dann gerne, gefühlsmäßig urteilend und rühmend, zur Identität übertreiben. Zudem kennen wir aus dem gewöhnlichen Seelenleben lediglich jene zwei Kategorien einfacher Schaufunktionen und setzen stillschweigend voraus, daß auch der illusionäre Eindruck sich dem Entweder-Oder von Wahrnehmen und
1. Das Wesen der normalen Anschauungs-Illusion Vorstellen einfügen müsse.
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Man könnte ihn jedoch mit demselben
F u g der unsinnlichen wie der sinnlichen Gattung angleichen. bei geändertem Ausgangspunkt wunderbar
gedämpfte
funden und
statt
Denn
und Maßstab wird die Illusion
als wunderbar
frische Wirkung
als
emp-
bewertet.
In der T a t führt die Abkehr von der Täuschungsansicht nächst
dahin,
innertwerden abbildlich
die
Illusion
bloße
an ein Ding durch
gestaltende
Kunst
oder Zeichensystem; sie und
als
Phantasieanregung,
ein anderes,
ist
danach
zu-
als
Er-
zu begreifen.
wesentlich
h a t v o r der Beschreibung
ein
Die
Symbol-
durch
Sprache
Schrift nur so viel voraus, daß ihre Zeichen nicht
„willkür-
liche", sondern „natürliche" sind; vollends schwindet alle Eigenart gegenüber der Bilderschrift, der Gebärdensprache und lautmalenden Rede.
Wenn
die Kunstbetrachtung
das
Bezeichnete
räumlich
in
das Zeichen verlegt oder doch auf vage Weise in die Blickrichtung verlegt, Falle
so
der
streckt der
begründet Schrift:
sich
das
keinen
auf die relative
Abbildlichkeit
essentiellen
Unterschied
die sinnenfällige Ähnlichkeit
des
Lage des Objektes.
unabhängige
Wahrnehmung
vom
Systems
Daß des
er-
eine
von
Werkes
der
Illusion nicht vorangehen muß, h a t gleichfalls wenig zu besagen. In jeder Zeichendeutung verschiebt sich der Ton von den Sinnenbildern
auf
danken; Blick
die
bestimmt
sie geben
auf
das
den
Symbol
zugeordneten
vorwaltenden geheftet
ist.
Vorstellungen
oder
Ge-
während
der
der ganze Vorgang
der
Geistesinhalt, Ja
Assoziation kann unterbewußt verlaufen, so daß die reine beobachtung nur das Endglied antrifft.
Selbst-
Nun wird ohne Frage der
von einer künstlerischen Darstellung ausgehende Eindruck zuweilen einen abgeblaßt vorstellungsmäßigen Charakter annehmen: wir lesen gleichsam die Dinge von der Leinwand
ab.
Das ist jedoch
eben
die erlahmende und versagende Illusion, die Unvollkommenheit der Kunst. Funktion
Von der anderen
es,
eines
Ge-
mäldes setzt sich für das unbefangene Bewußtsein scharf ab
von
Abbild
Zeichen, werdend,
als
Seite her t r i t t das Zeichen aus seiner sobald
zum
als
Vorstellungsmotiv,
Illusion
erzeugt.
heraus,
Die Wirkung
allem Vorstellen im weitesten W o r t s i n n e ; sie erhebt sich
darüber
ebenso merkbar, wie sie hinter der Sinnlichkeit zurückbleibt.® Eine tiefer eindringende Charakteristik, die der
Sonderstellung
des Erlebnisses gerecht werden will, ohne sich doch von den geläufigen
Kategorien
zu entfernen,
sucht
es aus heterogenen 1*
Ele-
4
Hauptteil
menten als ein Zusammengesetztes abzuleiten. Allein die Illusion ist auch keine Summe oder Synthese von Eindrücken. Sie besteht nicht im abwechselnden Auftauchen des Darstellungsgehaltes und der sichtbaren Werkgestalt. Wenn der Anblick eines Dinges mich an ein ähnliches erinnert und ich zwischen den beiden Bildern hin und wider schwanke, so ist darin nichts von dem, was bei der Aufnahme nachahmender Kunst in mir vorgeht. 3 Kaum weiter fördert es, an ein Neben- oder Ineinander, eine Schichtung, einen Aufbau, ein System verschiedener Anschauungsbereiche zu denken, oder auch an das relative Vor- und Zurücktreten der Reihen, die Verbindung von Koexistenz und Sukzession. Das normale Seelenleben widerstrebt zwar keineswegs solcher Pluralität oder Spaltung; es zeigt in Wahrheit niemals vollkommene Einheit. Das geschlossene Gebiet des hellbewußten Geistesinhaltes bildet jeweils nur den zentralen Kern, den locker gefügte Gruppen dunkler Randphänomene mannigfach umspielen; wobei die Abgrenzung und Abstufung sich überall nach der Enge der Zusammengehörigkeit, nach den Graden der Wichtigkeit und Wesentlichkeit, nach Realität und Irrealität der Gegenstände vollzieht. Es wäre sonach in der Kunstbetrachtung bloß eine der gemeinen Rangfolgen verändert: Vorherrschaft des irrealen Kreises, begleitende Wirklichkeitswahrnehmung. Indessen, wo dieser Dualismus tatsächlich begegnet, wo neben den gemalten Dingen die bemalte Leinwand sich merklich behauptet, dort haftet doch jedenfalls die Illusion ausschließlich an dem ersten Komplex; sie kann durch das Begleitbild beeinträchtigt sein, aber ihre Artung wird durch sein Kommen und Gehen nicht beeinflußt, gleichwie es für die seelische Natur des Lesens belanglos ist, ob der gedruckte Buchstabe mit vorschwebt oder gänzlich entschwindet. 4 Die Illusion liegt vollends nicht in einer verbindenden Beziehung als Urteils- oder sonstigem Denkinhalt. Man kann das nachgeahmte Naturding auf das nachahmende Werk beziehen, und umgekehrt; man vergleicht sie nach Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, man erkennt das erste im zweiten, führt es darauf zurück, entnimmt es daraus oder legt es hinein, das heißt: man verfolgt die zwischen beiden waltende spezifische Relation, die eine Art vermittelnder Zuordnung ist. Andererseits bezieht man das dargebotene Ding auf ein individuell bekanntes oder typisch angenommenes Urbild und stellt die Identität der Form oder die
1. Das Wesen der normalen Anschauungs-Illusion
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Unterschiede fest. Letztlich vergleicht man wohl auch das subjektive Erlebnis mit jenem der natürlichen Wahrnehmung und beurteilt es überhaupt einordnend-klassifikatorisch. Die allgemeine Ansicht von der Illusion pflegt ja in die Illusion hineinzuspielen. Das Verführerische und die vermeintliche Evidenz gewisser nächstliegender Deutungen s t a m m t daher, daß sie nicht sowohl spätere Zurechtlegung als mit-vorfindliche Teiltatsache sind, daß sie im währenden Anblick des Werkes sich immer aufs neue einstellen, vielleicht sogar gegen die reifere Einsicht sich reflektorisch zwingend durchsetzen: jetzt, da ich vor dem Gemälde stehe, glaube ich zu sehen, ich „fühle" mich sehend. Also: Urteilstäuschung s t a t t Sinnestäuschung, Täuschungsbewußtsein s t a t t bewußter Täuschung. Nur ist das wieder nicht Illusion. Alle diese Denkbetätigungen sind fakultative Ingredienzien des umfassenderen Betrachtungsvorganges. Sie werden bei andauernder Beschäftigung mit dem Kunstobjekt stets ihren Platz finden, bald in differenzierter Form als selbständige Aussage, bald in unentwickelter Anlage als nebenhergehendes Wissen, als durchschlagender Untergrund von Bewußtheit. Das Ähnlich und Anders der Illusion kann f ü r unser Bewußtsein in die vorderste Reihe rücken und das Illusionsbild selbst beinahe verdecken; es kann zeitlich das Erst-Auffallende sein; die dunkel erkannte Ähnlichkeit kann seelisch früher d a sein als das Ähnliche. Gleichviel: Illusion kommt auch unabhängig von gedanklichen Momenten zustande, sie sind nicht Illusion und kennzeichnen sie nicht und bedingen sie nicht, sie setzen vielmehr die Urtatsache schon voraus. Es ist eben der vollendete oder sich vorbereitende illusionäre Effekt, was an die Sinnenwirklichkeit mahnt und mit ihr verglichen wird; es ist eben die illusionär vorschwebende Sache, was auf ein vorgestelltes Modell oder auf das sichtbare Medium bezogen wird. Die reine, einfache Wirkung darstellender K u n s t enthält keinen Hinweis auf ein Außerhalb, kein Wissen um Nachahmung, kein Ausdeuten und Gleichsetzen. Wir erfassen nicht Natur und Werk getrennt und wieder verbunden, sondern die Natur ersteht uns unmittelbar aus dem Werk, aus dem physisch vom Auge empfangenen Werk-Eindruck; wir leiten nicht das Urbild aus dem Ebenbild ab, um es wieder damit zu identifizieren, sondern das Urbild ist uns in und mit dem Ebenbild gegeben. „Anschauungs-Illusion" heißt mehr als: „auf Anschauung gegründete Illusion", „Illusion plus Anschauung"; die malerisch-bildneri-
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Hauptteil
sehe Illusion ist Anschauung, abbildlich vermittelte (kürzer: abbildliche) Anschauung. Und sie ist vor allem psychisches Ereignis, nicht psychologische Spiegelung. Wir müssen von der besonderen Frische des illusionären Schauens so wenig wie von der Sinnlichkeit des Sehens lebhaft erfüllt und durchdrungen sein. Es braucht uns kaum gegenwärtig zu sein, daß wir Illusion erfahren. Der bestimmt geartete Eindruck, den wir haben, borgt sein Gepräge nicht erst von der Selbstbeurteilung, der richtigen oder falschen; er bleibt derselbe, mag ich die Seltsamkeit seines Wesens beachten und fühlen oder sie gänzlich aus dem Sinne verlieren. Die eigentliche Illusion durchleben wir naiv, gedankenlos. 5 Nicht unentbehrlicher als das Beziehungsurteil ist das Realitätsurteil. Die Bejahung oder Verneinung der Existenz schlechthin heftet sich der Illusion wie der Vorstellung nur von außen her an. Der gemalte Mensch, so wie er sich darstellt, lebt oder lebte vielleicht, er ist freie Erfindung oder halbfreie Stilisierung, das Porträt ist ähnlich oder unähnlich, und das alles ist mir bekannt oder unbekannt, wichtig oder gleichgültig: das Wesen der abbildlichen Wirkung wird davon nicht berührt. Sie impliziert oder fordert aber auch nicht den Hinblick auf die enger verstandene Realität, die reale Anwesenheit oder Gegenwart. Die gemeine Sinneswahrnehmung ist stets in ein mehr oder minder klares Wirklichkeits-Bewußtsein eingebettet; die erkannte Sinnestäuschung besteht in einer Antithese von Anschauung und Urteil; ihre Formel lautet: Sehen plus Wissen um die Unwirklichkeit. Dagegen macht die unsinnliche Illusion auf leibhaftiges Zur-Stelle-Sein ihrer Gegenstände von vornherein keinen Anspruch. Die künstlerische Darstellung erstreckt sich nicht darauf, sie sagt über den absoluten Ort und die wahre Zeit nichts aus, ihre kleine Welt fügt sich der großen nicht anschaulich ein. Die Kunst drängt zur Wirklichkeit, bevor wir uns mit ihr in vollkommenes Gleichgewicht gesetzt haben, solange der Eindruck verworren und unsicher ist, das heißt solange die Illusion noch nicht reine jlllusion ist; oder aber bei sekundärem Urteilsirrtum, wenn sie uns für mehr als Illusion g i l t . Mit dem Glauben an sinnlichen Schein sind wir allerdings zugleich auf eine reale Entsprechung hingewiesen. Es ist das gedanklich untergeschobene Sehobjekt, nicht das gegebene Illusionsobjekt, was vergeblich nach Sein verlangt. Diese Tendenz kann zu verschiedenen Ergebnissen führen. Der auf Wahrheit ein-
1. Das Wesen der normalen Anschauungs-Illusion
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gestellte Intellekt muß die postulierte Realität verneinen. Da solch ein Denkeinwand die Bild-Illusion so wenig wie die Augentäuschung zu zerstören vermag, erheischt auch ihre Entstehung und Fortdauer weder Suspension der Realitätsfrage noch Abstraktion von der erkannten Irrealität. 8 — Die zweite Urteilsmöglichkeit, mit der übrigens die erste, negative, wieder nicht streitet, ist die h y p o t h e t i s c h e B e j a h u n g . Die Annahme oder Setzung im Sinne der Fiktion fällt unbedingt mit in den weiteren Bereich der Kunstbetrachtung; wir ergehen uns in dem Gedanken, das wirkliche Ding sichtbar-greifbar vor uns zu haben. Diese Hypostase des Illusionsgebildes bedeutet nicht bloß einen unverbindlichen Einfall; wir verhalten uns in ihr keineswegs logisch neutral, sondern wir gehen auf den fiktiven Tatbestand in gewissem Maße ein. Die Annahme realen Daseins kommt der entschiedenen Zuerkennung immerhin nahe; der geistige Vorgang zeichnet sich durch dieselbe überraschende Frische aus wie der illusionäre Eindruck, der ihn anregt; man darf ihn als hinzutretende U r t e i l s - I l l u s i o n deuten. Ein anderes aber bleibt die primäre A n s c h a u u n g s - I l l u s i o n . Das tektonische Denkmal, die Reliquie, die geschichtlich oder religiös bedeutsame Örtlichkeit können in hohem Grade eine geistige Gegenwart und Realität suggerieren, während vielleicht der Mangel ursprünglicher Wahrnehmungsdaten oder die Unvorstellbarkeit des Gegenstandes jede Bildlichkeit ausschließt oder sie doch auf zufällige und entbehrliche Surrogate einschränkt. Die Wirkungen des Males und des nachahmenden Kunstwerks, die lokal stellvertretende und die abbildliche Funktion sind nur per accidens gelegentlich vereinigt. Auch das AnnahmeUrteil macht nicht die Illusion, es konstituiert, vollendet oder verursacht sie nicht, sondern es knüpft sich an das fertige Ereignis; und es hat mindestens ebenso wohl bei der Täuschung seine Stelle. Wir setzen das Ding wirklich, dessen Trugbild wir sehen oder dessen Illusion wir haben. 7 Wie wenig die Tatsache der Unwirklichkeit oder Abwesenheit und ihre verschiedenen psychischen Entsprechungen für die Eigenart der Bild-Illusion von entscheidendem Belange sind, das zeigt besonders eindringlich die Gegenprobe eines nicht der Kunst-Erfahrung angehörigen Falles. Wir können die vor uns stehende Natur in aller relativen Vollständigkeit durch das Medium einer Kamera betrachten, in einer Lichtprojektion, die der naturalistischen
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Malerei wesentlich wirkungsgleich ist; und wir können die so erfaßten Gebilde genau wie die Spiegelbilder richtig lokalisieren lernen. Dann ist d a s i l l u s i o n ä r G e s c h a u t e real g e g e n w ä r t i g . Der Eindruck unterscheidet sich nach der ontologischen Seite gar nicht mehr von der gewöhnlichen Sinneswahrnehmung und kommt ihr seinem Grundcharakter nach gleichwohl nicht näher als die Kunst-Illusion. Wichtiger als die beurteilte Realität ist jene unmittelbar empfundene Quasi-Realität, die die abbildliche Darstellung selbst ihren Gegenständen verleiht. Verwandte Phänomene weist freiliqh das gesamte Anschauungs- und Denkleben in verschiedener Abschattung auf. Einen leisesten Hauch von Wirklichkeitsfarbe entlehnt ja alles irgend Vorgestellte dem bloßen seelischen Dasein. Diese unverlierbare R e a l i t ä t d e s E r l e b e n s erhöht sich zur R e a l i t ä t d e s I n t e r e s s e s und des W e r t e s ; aus der lebhaften und dauernden inneren Gegenwärtigkeit der Sache, aus der einläßlichen Beschäftigung mit ihr, den reicheren Zusammenhängen, in die sie eintritt, erwächst ihr bereits eine gewisse existenziale Würde und Schwerkraft. Damit kreuzt sich ein weiteres: die R e a l i t ä t d e r g l e i c h e n s e e l i s c h e n F o l g e n . Wir pflegen uns in der geistigen Verarbeitung des Unwirklichen, in der persönlichen Auseinandersetzung mit ihm, vielfach so zu verhalten, als ob wir es mit Wirklichem zu tun hätten; wir wenden ihm die besondere Aufmerksamkeit zu, machen es zum Mittelpunkt der besonderen Funktionsreihen, die sonst nur das Wirkliche anregt. Diese tatsächliche Identität des Widerhalls strahlt dann zurück auf den Ausgang und steigert die natürliche Überzeugungsmacht des Erlebnisses. Neben solchen psychischen Bedingungen gibt es mehrfache objektive Quellen einer mehr oder minder ausgeprägten Pseudo-Existenzialität. Jeder an ein äußeres Medium gebundene, also auch jeder durch Zeichen mitgeteilte Anschauungsstoff trägt das allgemeinste Merkmal des Seienden an sich: er wirkt als ein Außerhalb und Gegenüber, dessen bestimmte Gestaltung vom schauenden Geiste unabhängig ist; er hat die R e a l i t ä t des G e g e b e n s e i n s . Ein Höchstmaß von Wesenhaftigkeit kommt andererseits den Phantomen der Augentäuschung zu: die eigene R e a l i t ä t d e r S i n n l i c h k e i t , die sich trotz klaren Wissens um den Trug jederzeit behauptet, abseits von allen Beziehungen zu einem anders lokalisierten Urbild oder gar vom Begriff der optischen Wirklichkeit.
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Zwischen ihr und der abstrakten Gegebenheit des zeichensprachlich Festgelegten hält die Realität des Illusionsgebildes ungefähr die Mitte. Sie ist spezifischer Natur, unerreichbar auf anderem Wege; der bedeutsame Gehalt und die suggestive Als-Ob-Form, die die künstlerische Nachahmung oft besitzt, verstärken nur den innewohnenden Seinswert der Abbildlichkeit. Gleichwohl: das Wesentlichste der illusionären Wirkung ist nicht in dieser zugeordneten Empfindung zu suchen. Sie kann mit wechselnder Lebhaftigkeit beteiligt sein: auf die Qualität des Schauvorgangs hat dies keinen Einfluß. Die spezifische Realität des Spiegelbildes begründet nicht dessen Sinnlichkeit, sie entspringt der Sinnlichkeit; und Analoges gilt von der Illusion. 8 Die mimetische Kunstwirkung kennzeichnet sich nicht durch irgendein zu dem Naturbilde hinzutretendes Inhaltselement. Sie ist trotz der Zwiespältigkeit ihrer äußeren Grundlagen ebenso einfach und ebenso zusammengesetzt, wie die auf gewöhnlichem Wege zustande kommenden Anschauungen. Wenn wir in reiner Illusion ein Landschaftsgemälde betrachten, so findet sich in unserem Geiste unmittelbar nur die Landschaft vor, nicht anders als wenn wir diese mit Augen sehen oder die früher gesehene mit der Kraft der Erinnerung neu aufrufen. Die drei seelischen Tatsachen fallen durchaus in die gleiche Linie; die merkwürdige Erlebnisfrische, die den malerischen Effekt von der alltäglichen Vorstellung abhebt, ist nichts als ein Modikum derselben Eigenschaft, deren höchsten Steigerungsgrad die Sinnlichkeit der Wahrnehmung darstellt; sie ist gleichsam eine mildere, gebrochene Farbigkeit zwischen der vollgesättigten Hauptfarbe und stumpfem Grau. Die nähere Charakteristik der Bild-Illusion hängt mit davon ab, wie man die zwei natürlichen Kategorien der Anschauung psychologisch verstehen will. Das auszeichnende Merkmal der Wahrnehmung wird zumeist als L e b h a f t i g k e i t gedeutet. Dieser Begriff ist in klar differenzierter Fassung hier nicht anwendbar. Die Energie des Erlebens fällt mit dessen Frische keineswegs zusammen. Die Verschiedenheiten der ersten sind lediglich graduelle und relative, die der zweiten zugleich qualitative und absolute; außerdem variieren die beiden Wertigkeiten unabhängig von einander. Eine Vorstellung kann im Bewußtsein entschiedener hervortreten, sich eindringlicher geltend machen, uns angelegentlicher beschäftigen als eine gleich-
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zeitige Wahrnehmung; sie hört darum nicht auf, Vorstellung zu sein. So erfahren wir denn auch die häufig sehr starken Schauwirkungen der Kunst eben doch nur in der ihr eigenen unsinnlichen Weise; die Seele mag sich in der Illusion kräftig ausleben, aber die Illusion i s t nicht erhöhte Kraft des intuitiven Lebens. Noch weniger hat die I n t e n s i t ä t als Moment des Inhalts und des Gegenstandes mit den Rangstufen der Frische irgend etwas zu schaffen: vorgestelltes Hellweiß ist ebenso lichtstark wie gesehenes. — Eine andere Erklärung reduziert die fragliche Eigenschaft auf B e s t i m m t h e i t , R e i c h t u m und B e s t ä n d i g k e i t des Inhalts. In der Tat ist auch die hinreichend zuverlässige Erinnerung der Regel nach unbestimmter und ärmer (oder vielmehr: abstrakter) als das Sinnenbild. Das Gedächtnis führt die ursprüngliche geistige Assimilation weiter, es vereinfacht, wählt aus, akzentuiert, stabilisiert; es bewahrt vornehmlich abgesonderte Objekte und Örtlichkeiten mit wenigen stehenden Merkmalen. Die Wahrnehmung faßt gewöhnlich mehr als die ihr empirisch zugeordnete Vorstellung; in ihr erscheint alles stetiger gereiht, gleichmäßiger gefügt, mannigfaltiger und flüssiger, minder fest geprägt. Wir sehen trotz streng gesammelter Aufmerksamkeit sehr viel Nebensächliches, Störendes; Geist und Auge irren unvermerkt ab ins Weite und ins Kleine; die Umgebungen der Dinge und die minimen Einzelheiten der Dinge tauchen von ungefähr als mattere Randeindrücke mit auf und sind in ihrer Gesamtheit als dunkel geahnter Hintergrund jederzeit da. Dieser lückenlos fortlaufende, geschlossene Allzusammenhang, diese innere Struktur einer vorfindlichen Welt, in der unser hellbewußtes Ich sich nach Gefallen hierhin und dorthin wendet, gehört beinahe zur unmittelbaren Manifestation und Beglaubigung der Wirklichkeit. Dennoch handelt es sich bei solchen Unterschieden nur um apperzeptive Tendenzen zweiter Ordnung. Unter gewissen Bedingungen liefert das natürliche Sehen recht dürftige, schwankende Bilder; und die Vorstellung (die naturwahre wie die frei erwachsene) ist oft dank der Vereinigung vieler, aus getrennten Sinneserfahrungen herstammender Gedächtnisreste reicher als jede einzelne mögliche Wahrnehmung des gleichen Gegenstandes. J a sogar die eigentlich reproduzierende Erinnerung muß nicht notwendig ein Minus an Gehalt aufweisen. Wir vermögen uns Musikstücke und Reden mit sämtlichen feinsten Abschattungen des Klanges und der Betonung, die wir überhaupt beachtet haben,
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innerlich zu vergegenwärtigen oder die Erscheinung altbekannter Personen erschöpfend zu beschreiben. Mit derselben Genauigkeit arbeitet die neuschaffende Phantasie des komponierenden Tonkünstlers; ein so vollkommenes Zeichensystem wie die Notenschrift kann dann wieder das ganze akustische Gebilde dem geschulten Leser restlos vermitteln; mitunter gibt die Lektüre der Partitur der Vorstellung noch vieles, was das Gehör bei der Aufführung nicht erfaßt. Wir sagen freilich in allen diesen Fällen: ich h ö r e die Musik oder die Rede, ich s e h e den Mann vor mir. Selbstverständlich hören und sehen wir nicht. Und das nämliche gilt in bezug auf die Kunst-Illusion. Das gelungene malerische Konterfei entspricht dem Original schwerlich genauer als die Partitur dem erklingenden Tonwerk; trotzdem ist ein Gemälde mehr als eine Partitur schaubarer Gestaltungen. Auch bewährt sich die präziseste Wiedergabe nicht immer als die illusionskräftigste. Manche vage und sparsame Linienzeichnung erreicht den Zweck der künstlerischen Mimesis in vollkommenem Maße, während peinlich durchgeführte Schildereien, die auch das Ferne und Dunkle in größter Schärfe aufzeigen, mithin den natürlichen Augenschein an Reichtum überbieten, durchaus versagen. Deutlichkeit, Sättigung und Kontinuität kommen der Illusion nur dort zu, wo sie sich aus der Ähnlichkeit der Nachahmung ergeben; sie sind unter Umständen die Konsequenz der Illusion, nicht ihr Kern und Ursprung. Andererseits darf aber die abbildliche Anschauung auch nicht schlechthin ärmer als die urbildliche heißen. Wenn einige Kunstgattungen die natürliche Farbe, den körpergebenden Schatten, den raumschaffenden Hintergrund ausschalten, so bedingt dies freilich eine ausgesprochene Abstraktheit der Eindrücke, oder es fordert geradezu eine ständig begleitende und tragende Tätigkeit der Abstraktion; die reguläre Malerei gibt zu ähnlichen Verwicklungen kaum einen Anlaß. Die Illusion selbst ist weder konkrete noch abstrakte Bildlichkeit, weder intim ausmalendes noch einseitig heraushebendes Schauen. Das gleiche geistige Material begegnet abwechselnd als Wahrnehmung, als Phantasie, als Illusion. Die wandelbare Frische ist eine f o r m a l e Bestimmung des Seelischen. 9 Suchen wir also aus der Summe dessen, was bei der Betrachtung einer malerisch-bildnerischen Darbietung in uns vorgehen kann, das Unumgängliche der illusionären Wirkung auszusondern: so finden wir eine A n s c h a u u n g v o n e i g e n t ü m l i c h e m F o r m r
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t y p u s , die sich zwischen die K a t e g o r i e n der W a h r n e h m u n g u n d der V o r s t e l l u n g als ein M i t t l e r e s im s t r e n g e n S i n n e , das h e i ß t als ebenso e i n f a c h e , s e l b s t ä n d i g e und u n a b l e i t b a r e E r f a h r u n g , g l e i c h g e o r d n e t e i n r e i h t . In der Bild-Illusion hat die nachahmende Kunst eine neue Grundfunktion des schauenden Geistes geschaffen.10 2. Die Abwandlungen der normalen Anschauungs-IIlusion. In der Mittelstellung der Illusion liegt bereits die Möglichkeit großer Verschiedenheiten und mannigfacher Abwandlungen beschlossen. Der Bildeffekt kann in weitem Spielräume sich bald dem sinnlichen bald dem unsinnlichen Pole nähern und konträr entgegengesetzte Charaktere annehmen. Damit stellt sich, unbeschadet die merkliche Differenzierung der Haupttypen, eine Brücke zwischen Wahrnehmung und Vorstellung her, eine geschlossene Reihe mit fließenden Übergängen. Man denke ein Gemälde zum Flachrelief, zum Hoch- und Kastenrelief, zur plastisch-panoramatischen Bühne verkörperlicht, so gelangt man schrittweise in die Nähe der Sinnestäuschung; auf der anderen Seite führt der Weg von der Malerei sachte in die schematisch-bilderschriftliche Darstellung und von der natürlichen Symbolik in die mehr und mehr konventionelle, zur immer blasseren Phantasieanregung hinüber. 11 Noch reichere Gradationen lassen die beteiligten Urteilsfaktoren zu, nach Inhalt wie nach Form und vor allem nach der relativen Bedeutung im Gesamtvorgang. Das nächste und einfachste Urteil ist das agnoszierende: das Wiedererkennen des typischen Erlebnisses als solchen. Illusion ist sehr oft zwar nicht bewußte Täuschung, aber bewußte Illusion. Sie muß es nicht sein. Wir betrachten ein Gemälde wohl lange Zeit, ohne an die Kunst und an ihr Wunder zu denken, ganz der Anschauung hingegeben, das Wie hinter dem Was verlierend; wir erfahren Illusion, so wie wir zumeist wahrnehmen und vorstellen, ohne unseres Schauens recht eigentlich inne zu werden. Immerhin wird es an gewissen Ansätzen zu reflexiver Besinnung niemals fehlen. Es gibt eine Art negativer Bewußtheit, die sich nur bei Wegfall und Veränderung des Gegenstandes, im Übergang von und zu anderen seelischen Vorgängen, flüchtig aufleuchtend kundgibt, vergleichbar dem latenten elektrischen Strom, der nur beim Öffnen und Schließen in
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die Erscheinung tritt. Wir sehen manche Dinge wahrhaft erst im Augenblick, da sie verschwinden; und wir sind dann doch unmittelbar sicher, daß sie schon laiige vorher außer uns und in uns irgendwie da waren. So wissen wir auch um die illusionäre Daseinsform jedenfalls beim Eintritt in ihren Kreis und beim Aust r i t t ; und wir sind uns nachträglich klar, daß wir im Grunde während des ganzen Prozesses nie aufhörten, um sie zu wissen. 12 — Das durchschnittliche Verhalten in der Kunstaufnahme weist jedoch einen positiveren Einschlag von formal-kategorialer und sonstiger Beurteilung auf. Die außernatürliche Anschauungsweise der Illusion, die ihr rätselhaft widerspruchsvolles Gepräge weit über die erste Neuheit hinaus bewahrt und durch keine Gewöhnung endgültig einbüßt, wird seltener als Sehen und Phantasieren in gedankenloser Naivetät geübt; vielmehr ist ihre Sonderart von vornherein danach angetan, sich mehr oder minder energisch und dauernd aufzudrängen. Die Bewußtheit gewinnt sodann fortschreitend an Boden, indem sie auf die Vergleichs- und Ursprungsbeziehungen des Eindrucks übergreift und ihn bis ins Einzelnste durchsetzt; sie verdichtet sich zum ausgebildeten Urteil, das episodisch als Hauptinhalt heraustritt, und erhebt sich von unsicher tastender Frage zu prüfender Zergliederung, zu formulierter Aussage. Hierbei begründet es einen neuen tiefreichenden Unterschied, ob in unserer Auffassung das Ähnlich oder das Anders der Illusion, die Verwandtschaft mit dem natürlichen Sehen oder der Gegensatz dazu, überwiegt und voransteht. In loserem Zusammenhang mögen sich endlich noch andere Urteilsfolgen anreihen: die Analyse des Werkes als menschlicher und technischer Leistung, als gewollter Nachahmung mit besonderen Mitteln; Reflexionen über die Kunst in ihrer darstellenden Funktion, über den Künstler als Schöpfer; vielleicht theoretisch-psychologische Nutzanwendungen und allgemeine philosophische Ausblicke auf die Probleme von Welt und Geist, Sein und Schein — schweifende Seitenflüge des Denkens, die das ruhende Schaugebilde in weitestem Bogen umkreisen. Auch der Wille zur Illusion ist nicht immer der gleiche. Er kann auf der Stufe des Negativen verharren, sich nur zu Anfang und Schluß als Ein- und Ausschaltung, als momentane Anspannung und Lösung offenbaren; oder er wirkt nach dem erstgegebenen Impuls nur mehr als leiser Druck nachhelfend fort. Ein
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andermal steigert sich die triebhafte Hinneigung zum entschlossenen Ergreifen und Festhalten, zum gewaltsamen Erzwingen und Beherrschen. Es mag sogar volle Sinnlichkeit erstrebt und scheinbar erreicht werden, in einer Willensirrung, die sich mit Urteilstäuschung verbindet oder das Urteil mit betrifft: Wille zu sehen und sich sehend zu wissen. Dem schaffenden Willen antwortet der zerstörende: es kommt zu einem frei experimentierenden Spiel mit dem Eindruck. Andererseits erleben wir die Illusion auch völlig unwillkürlich. Dem Kunstgebildeten bietet sie sich der Regel nach zwanglos dar, ja sie ist eher erlitten und erlaubt als gewollt. Zuweilen schiebt sich ein illusionäres Bild gegen unseren Willen eigenkräftig vor, es ist „nicht wegzubringen": so im Falle der bekannten Vexierzeichnungen, wenn einmal die versteckte Figur gefunden ist, oder bei zufälligen Gestaltungen realer Objekte. Desgleichen fühlt man sich gelegentlich zwischen Natur- und Werkbild rein passiv hin- und hergeworfen. Und dieses Erleiden variiert wieder in reicher Skala zwischen sanftem, kaum empfundenem Bann und jäher Überwältigung. Wie der Gedanke, so heftet sich das Gefühl durchschnittlich in höherem Grade an die Funktion des abbildlichen Schauens als an die des gewöhnlichen Wahrnehmens oder Vorstellens; und die mannigfachen Elemente dieser Art tragen mit dazu bei, der KunstIllusion einen überaus wechselnden Aspekt zu leihen. Da sind die allgemeinsten Lebensgefühle, die alles seelische Geschehen begleiten, stärker oder schwächer anklingende Grundstimmungen, mit Lust oder Unlust wandelbar gepaart. Da sind die speziellen Betonungen der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, der Frische und Blässe, der Wesenhaftigkeit und Wesenlosigkeit, der Faßbarkeit und Unfaßbarkeit, des Verstehens und des Fragens; da ist das SchmeichelndHeimische der altvertrauten Welt, das Drangvoll-Stachelnde oder das Dumpf-Lastende der unerklärlich abweichenden Daseinsweise, das Aufrüttelnde oder Lähmende des zugespitzten Kontrastes, des Ineinander von Vertrautheit und Fremdheit. Innerhalb solcher Stimmungen entfalten sich auch konkretere Antwortgefühle, eigentliche Affekte. Das Staunen über die Natürlichkeit des Nicht-Natürlichen, die Bewunderung des Phänomens, des Künstlers, der Kunst, sie stufen sich ab vom leichten Kuriositätskitzel bis zum ernsten Problemgefühl und gehen bald in freudige Heiterkeit über, bald in Beunruhigung, stilles Grauen, Schrecken. Die malerisch-bild-
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nerische Illusion hat nicht nur für naive Geister etwas Komisches und etwas Unheimliches. Namentlich das letztere. In der Frühzeit kunsttechnischen Fortschreitens übt die abbildliche Darstellung an sich eine entschieden furchterregende Macht; und auch uns abgestumpftere Kunstgänger pflegt angesichts jedes außergewöhnlichen illusionären Effektes (der nicht gerade einen neuen Schritt zur Täuschung hin bezeichnen muß) eine Regung verwandter Art zu überkommen. Es können aber auch alle Gefühle schweigen, alle affektiven Werte in ruhiger Anschauung restlos aufgehen. 1 3 Zwischen den variablen Seiten einer psychischen Tatsachengruppe waltet stets ein Verhältnis der Abhängigkeit, das natürliche Haupttypen begründet. Solche Typen der Illusionswirkung sind zuvörderst durch die Qualität des Bildeindrucks, den Grad seiner anschaulichen Frische, bestimmt. Es ist selbstverständlich die der Wahrnehmung maximal angenäherte Illusion, der das vorzugsweise angleichende, die Ähnlichkeit betonende Urteil gilt, und die zugleich alle Gefühle der Ähnlichkeitsreihe wachruft. Ihr gesellen sich auch der Täuschungsglaube und die Annahme realer Gegenwart zu; sie erteilt dem Willen den kräftigsten Anstoß, weil sie seiner am meisten bedarf. Umgekehrt ruht bei der maximal eigenartigen Illusion der Nachdruck des Urteils auf der Nuance, das AndersBewußtsein herrscht vor, die Gefühle des Unterschiedes geben die Farbe, und das ganze Erlebnis verläuft in erleidender Aufnahme. Diese erste Polarität wird von einer zweiten gekreuzt. Es ergeben sich nämlich typische Extreme, je nachdem die Begleitvorgänge überhaupt lebhaft oder schwach beteiligt sind, also der Schwerpunkt durchaus in der Illusion selbst oder mindestens zeitweilig in ihrem Um- und Nebenher liegt. Hierbei bringt es die Paradoxie aller reflexiven Betrachtung mit sich, daß die Illusion im Kunsterlebnis einen um so breiteren Raum ] einnimmt, je weniger sie uns als solche interessiert, und da sie ihrem Wesen nach nichts ist als eine Form der Anschauung, so wird, je reiner wir sie erfahren, umso ausschließlicher der Stoffgehalt der Darstellung den Geist erfüllen. Die Gegensätzlichkeit der mannigfaltigen und der einfachen Wirkung findet übrigens schon innerhalb der primären Bild-Illusion ihren Platz. Diese ist vermöge einer besonderen apperzeptiven Bereitschaft, die nicht von der gegebenen Genauigkeit der Nachahmung abhängt, oft reicher und ausgeglichener als die natür-
Hauptteil liehe Wahrnehmung oder Phantasie. Wir sind vor einem Gemälde mehr als vor der Wirklichkeit geneigt, auf alles zu achten, Wichtiges und Gleichgültiges angelegentlich zu durchmustern und bis ins feinste mit dem Auge abzutasten. Es ist ein allgemeines Lebensgesetz, daß Variation in Nebenumständen den abstumpfenden Einfluß der Gewöhnung aufhebt. Das Alltägliche erlangt neue Bedeutsamkeit, das stets Übersehene fällt auf, wenn es u n t e r anderen Bedingungen, an unerwartetem Orte, in anderer Weise begegnet. Solange die Illusion noch nicht selbstverständlich geworden ist, muß ihr problematisches Wesen auch den sonst vernachlässigten Darbietungen der Außenwelt zu erhöhtem psychischen Dasein verhelfen. Die bewußte Täuschung macht ja gleichfalls die Dinge interessanter, nur ist hier der Erfolg ein minder entschiedener und nachhaltiger, da das variierende Moment als bloßer Wissensinhalt neben und hinter dem bekannten Bilde steht. Sogar die empfundenen Unvollkommenheiten der Kunst, die Schwierigkeiten des illusionären Auffassens, sind vielfach geeignet, den gleichen Anreiz zu üben. Funktionen, die sonst halb unbewußt verlaufen, können bei mäßiger Erschwerung, die eine stärkere und längere Inanspruchnahme bedeutet, hell in die Seele treten und reiche Inhaltsreihen aus sich entfalten. Eben weil es zwar möglich, aber zunächst doch nicht ganz leicht ist, in bemalter Leinwand die erfahrungsmäßige Natur zu schauen, geschieht dies nicht nach Art des gewohnten Sehens in flüchtiger, zum größten Teil dämmerhaft-instinktiver Orientierung, sondern jede erkennbare Tatsache heischt angespannte Aufmerksamkeit und lebhafte Vergegenwärtigung, jeder Komplex legt sich breit auseinander. In der Malerei bringt überdies die ebene Anordnung und Zusammenfassung, die dem Auge so sehr g e m ä ß ist, das Q u a n t u m des Bildstoffes eindringlicher zur Geltung; und die homogene Fläche dient einem gleichmäßigen Nexus von Gestaltungen als angemessenster Träger, einer in sachten Übergängen dahingleitenden Betrachtung als bequemster Tummelplatz. In dieselbe Richtung drängt endlich die mit der abbildlichen Wirkung häufig verbundene Illusion realer Gegenwart. Die einmal suggerierte wunderbare Möglichkeit, a l l e Eindrücke der sinnlichen Wahrnehmung gleichwertig nachzuerfahren, will am Einzelnen erprobt sein und lädt zwingend ein, mit freizügiger Bewegung sich in der Fülle der Gebilde zu ergehen. Aus wirklich gebotenem Reichtum erwächst dann wohl eine übergeord-
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nete Illusion der Unendlichkeit, die ihrerseits der ziellos vorwärtsjagenden Schaubegierde neue Nahrung gibt. Diese Wanderlust in der Illusion kommt namentlich einigen Klassen von Bildelementen zugute. Die normale Naturanschauung ist vorwiegend Dinganschauung. In sie, die auf Grund ausgedehntester Empirie ihre Inhalte bildet, fließen die Formtatsachen der Gestalt und Lokalfarbe, des Raumes und Lichtes, nur bruchstückweise und beiläufig ein, je nach ihrer Wichtigkeit als Kennzeichen; für sich in ihrer eigenen Existenz und Rangordnung werden sie gewöhnlich nicht beachtet. Das Gleiche gilt in gesteigertem Maße für die Faktoren der einseitig-zufälligen Augenblicks-Ansicht, der sogenannten optischen E r s c h e i n u n g oder Erscheinung schlechthin: Umriß und Schattenriß der Körper, perspektivische Verkürzung und Verjüngung, relative Licht- und Farbenwerte im Wechsel der Beleuchtung, der Luftbeschaffenheit, der Distanz, der Nachbarschaft. 14 All das pflegen wir nur unter speziellen äußeren Bedingungen klar und zwanglos wahrzunehmen. Der Regel nach hat unser triebhaft auf das Sachliche gerichteter Geist Mühe, sich den phänomenalen Gebilden zuzukehren, noch mehr Mühe, ihrer habhaft zu werden; sie entgleiten uns gleichsam unter dem Blick. Im sinnlichen Sehen mögen sie immerhin zuweilen die klar vorschwebende Dingwelt nebelhaft umgaukeln, sich vorübergehend einmengen und der Beobachtung halben Weges entgegenkommen; in den bleibenden Vorstellungsbestand gehen sie kaum jemals über. Umso reichlicher ist die mimetische Kunstwirkung mit undinglichen Anschauungswerten gesättigt. Zwar: die auf Abstraktion beruhende farblose Plastik vermag lediglich die eine von ihr herausgegriffene Eigenschaftsgruppe der Körperform apperzeptiv zu heben. Dagegen ist die Malerei vorzüglich befähigt, sämtliche Seiten der schaubaren Natur unserem Interesse nahezubringen und zu erschließen. In der Betrachtung eines Landschaftsgemäldes lassen wir den Blick behaglicher als sonst durch die Räume schweifen, die Rundungen der Körper mitfolgend umspielen, das Weben der Farbe und des Lichtes durchempfindend begleiten. Wir geben uns williger der Erscheinung hin; wir verweilen gerne bei ihrem Verhältnis zur absoluten Form; wir spüren (vielleicht abermals mit Gefühlen der Heiterkeit oder des leisen Grauens oder des Erkenntniseifers) den seltsamen Metamorphosen der Dinge nach: dem Schrumpfen und Schwinden des Großen und Weiten, P a p , Kunst und Illusion.
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der bunten Vielfältigkeit und den zarten Abschattungen des Einfarbigen, und wieder der beherrschenden Einheit mächtiger Tonmassen, die jede Körperschranke aufhebt, bis hinan zu der alles umfassenden Totalität des Gesichtsfeldes. Die zweidimensionale Nachahmung gründet sich auf phänomenale Ähnlichkeit, und sie macht darum das Phänomen erheblich faßbarer, als es gemeinhin ist: das Gemälde tritt uns gewissermaßen als materialisiertes Gesichtsfeld entgegen. Andererseits gelangen wir zu der normalen Erscheinungs-Illusion doch nur von der schon erfahrenen Dingund Form-Illusion aus, und nur durch sie vergewissern wir uns der abbildlichen Ähnlichkeit; diese direkt zu beurteilen sind wir außerstande, da wir die urbildliche Erscheinung immer sehr mangelhaft gesehen haben. Die Leistung der Malerei würde sich uns kaum als so überaus wunderbar darstellen, wenn nicht das Stück Natur und die Farbflecken, die es illusionskräftig wiedergeben, für uns fortdauernd zwei völlig disparate Gebilde wären, deren positive Beziehung wir bloß auf Umwegen abstrakt erkennen. Gerade das scheinbare Mißverhältnis von Erfolg und Mittel stimmt uns aber, so oft wir seiner bewußt werden, für die problematischeste der Kunstwirkungen empfänglich: das flache, schattenlose und indifferent belichtete Werk begünstigt die Eindrücke von Körper, Raum und Licht, an denen die funktionelle Besonderheit der Illusion sich am grellsten bewährt, der innere Widerstreit sich am schärfsten zuspitzt. 16 Das Interesse für nebensächliches Detail, für Form und Erscheinung wird ebenso wie dasjenige für die Illusion als solche besonders dort zu kräftigem Durchbruch gelangen, wo das sachlichstoffliche auf die Dauer nicht genügende Beschäftigung findet. Die anregende Macht der Abbildlichkeit kann aber auch dem an sich Beachtenswerten ein Plus von Bedeutung leihen und eine allgemeine seelische Erhöhung bewirken. Die Eigenart des Erlebnisses bestimmt die ganze Geistesverfassung: die Energie und Fülle der Bilder, die rege Urteils-, Willens- und Gefühlsbeteiligung, sie sind allesamt nur Ausfluß eines g e s t e i g e r t e n L e b e n s in d e r A n s c h a u u n g . Es ist das die weiteste Ausstrahlung der KunstIllusion; nicht ihre notwendige innerliche Entfaltung. Das abbildliche Schauen muß die neutrale Mittellage der Stimmung nicht verlassen; es kann sogar, in einem komplementären Typus, b e r u h i g t e s Schauen sein. Die Rätselhaftigkeit des Hergangs, die
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psychischen Erschwerungen und Erleichterungen, die Mängel und die Vorteile der künstlerischen Mittel, die Ausschaltung einiger Gruppen von Tatsachen und die Festlegung anderer, die tragende Einheitlichkeit des Werkes und der harte Widerstand des Werkes: alles wirkt ja nach der vorgängigen Disposition anregend und bereichernd oder dämpfend und beschränkend; wenn es nicht überhaupt unempfunden bleibt und keinerlei merkliche Abweichung des auffassenden Verhaltens bedingt. Endlich kann eben in der ver einfachten Anschauung eine Steigerung liegen, ein Zustand gesammelter und beherrschter Kraft; indem die illusionäre Apperzeption genau bestimmte Bahnen einhält, erhebt sie sich von bequemer Abstraktheit zu klärender Abstraktion. 16 Die Beeinflussung der seelischen Gesamtlage treibt nun auch über die Breite des Normalen hinaus bis zu Extremen, in denen das Bewußtseinsleben von Grund aus umgewandelt und damit die Illusion selbst zu einem anderen geworden ist. 3. Das Wesen der ekstatischen Anschauungs-Illusion. Die mimetische Wirkungskraft der Kunst bewährt sich nicht nur unter den Voraussetzungen des seelischen Alltags. Für die Psychologie der Illusion kommen gewisse außernormale Zustände zum mindesten als Grenzwerte mit in Betracht. Man bezeichnet diese Zustände wohl mit dem Sammelnamen E k s t a s e , E n t r ü k kung. Es ist jedoch nicht leicht, den Begriff in solcher Weite sicher zu fassen und einheitlich auszugestalten. Schon bei flüchtigem Überblick treten die Erfahrungstatsachen der sogenannten Ekstase in zwei deutlich gesonderte Reihen auseinander. Sie kann Steigerung oder Herabsetzung, Exaltation oder Depression sein; sie kann unter heftiger motorischer Entladung oder unter Hemmung aller muskulären Funktionen verlaufen. Den ersten Typus vertritt am reinsten der Rausch, den zweiten die Hypnose im Sinne schwerer Schlaftrunkenheit; etwas verwischter zeigt die entsprechenden Züge jede starke Erregung und jede tiefe Träumerei. Denselben Gegensatz läßt auch die mystisch-religiöse Praxis als Völkersitte erkennen: die Ekstase ist eine verschiedene, je nachdem man sich durch wilde Tanzbewegungen in sie hinaufarbeitet oder durch unbewegliches Verharren und Fixation des Blickes sich in sie versenkt. Der Unterschied hat gemeiniglich einen anderen im Gefolge: 2*
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den des vorwiegend emotionellen und des vorwiegend intuitiven Verhaltens. Im Bereiche ästhetischer Schönheits-Ekstase kehren die zwei Formen etwa als „Begeisterung" und „Verzückung" wieder. Allein von der hypnoiden Entrückung spaltet sich abermals ein anderer Grundtypus ab. Die Geisteslage des regungslos in sich Gekehrten kann träumerisches Dänimern oder sinnendes Brüten sein. Wer mit übernormaler Anspannung und Sammlung einem Gedanken, einer Anschauung nachhängt, der gleicht nicht nur der äußeren Haltung nach, sondern auch dem inneren Habitus nach einem im Halbschlaf Befangenen (wie ja schon der Sprachgebrauch „sinnen" und „träumen" beinahe gleichsetzt); und doch betätigt sich in ihm ein Äußerstes an seelischer Energie. Die Ekstase erscheint hier gewissermaßen als V e r t i e f u n g von positiver Wertigkeit gegenüber dem Tiefstand der Hypnose wie dem Höhenaufschwung des Rausches. Es ist die Stimmung metaphysisch-mystischen Erkennens, eines kontemplativen Denkens oberster Ideen, das als seherische Erleuchtung empfunden wird; desgleichen einer schauenden Versenkung, die mehr als bloße Verlorenheit bedeutet. — Andererseits könnte man vielleicht aus der Hypnose die Bet ä u b u n g oder Gebanntheit ausscheiden, die freilich als Überschwang l ä h m e n d e r Gefühle auch zum Affektrausch in Beziehung steht. Unter sie fallen der starre Schmerz, die stumme Trauer, der Schreckbann; nicht minder aber das Hingerissensein bewundernden oder ratlos erstaunten Schauens. 17 Obgleich nun die verschiedenen Ausbildungsweisen der Ekstase sich nach ihren Gesamt-Aspekten weiter von einander entfernen als vom normalen Tagesbewußtsein, so rücken sie in manchem Betracht doch wieder aufs engste zusammen. Sie schlagen überaus leicht ineinander um: vom Rasen zum Brüten ist nur ein Schritt Sie verlieren zeitweilig ihre scharfe Bestimmtheit und konvergieren dann gegen eine und dieselbe farblosere Stimmung, eine Ekstase schlechthin, die sich doch niemals rein verwirklichen wird. Endlich gibt es gemeinsame Charaktere von wesentlicher Art. So weist denn auch das Schauen in der Entrückung durchgängige Eigenheiten auf, die den Interessenkreis der Kunst-Illusion berühren. Zunächst eine weitgehende A l l g e m e i n h e i t der Inhalte, im wechselnden Sinne der Armut oder des verdichteten Reichtums, der Unklarheit oder der Schärfe, der ungewollten oder gewollten
3. Das Wesen der ekstatischen Anschauungs- Illusion
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Abstraktheit. Die Anschauung faßt nur die großen Züge, die großen Typen, die großen Komplexe. Für den Entrückten ist der bewegte Mensch nichts als ein lebendig Bewegtes, der glänzende Gegenstand ein Glänzendes, Hervorstechendes; oder all? Einzelheiten gehen zerrinnend unter in der ausgedehnten Gruppe und Lokalität, in der schwärmerisch durchmessenen Unendlichkeit des Naturausschnittes. Noch auffälliger ist die mit der Verallgemeinerungstendenz zusammenhängende S u b j e k t i v i t ä t der Ekstase, die schon im primären Gesichtseindruck die Wirklichkeit meistert. Man weiß, wie sehr jede heftige Erregung die Bilder der Dinge verändert; ähnlich wirkt die Trägheit des herabgestimmten Bewußtseins, ähnlich aber auch die einseitige Einstellung theoretischer Betrachtsamkeit. Die Schauinhalte sind in entscheidendem Grade von der jeweiligen seelischen Konstellation abhängig. Das Ich übt eine mehr als tonverteilende und verschiebende Macht; seine spezifische Bereitschaft lenkt nicht bloß den Gang der Aufmerksamkeit, sie setzt die ihr gemäßen, geforderten Tatsachen an die Stelle der gegebenen. Dem entrückten Geist tritt die Realität immer kongenial entgegen: als Kraftäußerung und Ausdrucksgeste oder als stilles, selbstbefriedigtes Dasein, in grillenhafter Sinn- und Gesetzlosigkeit oder in durchsichtig planvoller Gesetzmäßigkeit. Überall ist der normale Eindruck umgeprägt nach den Stimmungspostulaten des Gefühlswertes oder des Ruhewertes, der Erkennbarkeit oder der Rätselhaftigkeit. Der Erregte sieht nur Erregendes, der Träumer nur Traumhaftes, der Erleuchtete nur Lichtvoll-Klares. Auf letzter Stufe führt dann die Verdrängung der real dargebotenen Dinge zur Zersetzung der Dingwelt überhaupt. Die Gewohnheit und Fähigkeit, dinglich zu sehen, ist ja selbst das Ergebnis einer langwierigen, verwickelten Anpassung, die namentlich darauf abzielt, die Zufälligkeit des Standorts und der isolierten Ansicht überwinden zu lehren; die frei schaltende Subjektivität hält sich an den Urstoff der Anschauung: d a s A p r i o r i s c h - F o r m a l e und - P h ä n o m e n a l e bewältigt das Empirisch-Sachliche.18 Dem Traumverlorenen wird die sichtbare Natur zur unbegrenzten Weite, zum launigen Spiel von Hell und Dunkel, zur Arabeske, zum Teppich. Wir können uns nicht selten, aus trübem Hindämmern aufschreckend, eben noch überraschen, wie wir angelegentlich einen verirrten Sonnenfleck fixieren oder in den leeren blauen Himmel starren. Oder ein buntes Chaos füllt den Gesichts-
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kreis und hält den Blick hypnotisch gefangen; dann vollzieht sich beim Erwachen eine plötzliche Verwandlung: das flimmernde Gewirre wird von seltsamer Bewegung ergriffen und gerinnt alsbald zu fester Körperlichkeit; alles klärt sich, wir erkennen Dinge. In demselben Maße aber ist Benachbartes auseinander gerückt, Kleines ist groß geworden und Blaues grün: wir haben eine Frist lang Erscheinung geschaut. Form und Erscheinung sind die der Träumerei natürlich angemessene Eindruckswelt. Der verschleierte Sinn gewahrt nicht mehr Dinge, sondern Körper und Figuren; nicht Räumlichkeiten, sondern Räume und Felder; nicht Färbungen und Beleuchtungen, sondern farbiges Licht. Die Haupttatsachen der Phänomenalität werden in somnolenter Stimmung am zwanglosesten erfaßt und in ihr allein wahrhaft assimiliert, während sie für die nüchterne Wahrnehmung stets ein Fremdelement bleiben. Man macht bei wissenschaftlichem- oder künstlerischem Studium perspektivischer und koloristischer Werte die Erfahrung, daß man sich ihrer aus einer gewissen Achtlosigkeit und Zerstreutheit heraus leichter bemächtigt als durch angespannte Konzentration; man unterdrückt wohl auch willentlich die Aufmerksamkeit, um das entschlüpfende Phantom gleichsam im Trüben zu erhaschen, und kehrt immer wieder zum dämmerbewußten Schauen wie zu einer ersten Quelle zurück. Nur ist die also gesehene Erscheinung freilich nicht die des Kamerabildes; sie ist eben traumhafte Erscheinung: gedämpft ins Weiche, Zarte, Einförmige, verwischt ins Unentschiedene, Fließende, oder verzerrt ins Groteske. Und sie ist ekstatische Erscheinung: sie unterliegt ebenso wie Ding und Form dem Zug zur Allgemeinheit. Der Entrückte schaut mehr und mehr im konkret umschlossenen Raum den unendlichen Raum, Gestaltung an sich in den individuellen Gestalten, absolutes Licht im vielfältig gebrochenen, Linie und Farbe in den Linien und Farben. Auch dem optischen Sachverhalt gegenüber ist ein neutral anschmiegsames und einläßliches Auffassen letztlich doch nur dem wachen Geiste erreichbar. 19 Von der träumerischen Anschauung unterscheidet sich die vertieft-erkennende nur durch den anders gestimmten Apriorismus. Wenn jene sich gerade in den Abenteuern der Erscheinung gefällt, in der Irrationalität der Lichter, Schatten und Reflexe, die das starre Gefüge der Dinge zerreißen und auflösen, ihre wahre Farbe durchbrechen und verkleiden: so ergreift die seherisch for-
3. Das Wesen der ekstatischen Anschauungs-Illusion
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sehende Betrachtung die eigene Ratio der Erscheinung, die Erscheinung nicht als Chaos, sondern als Kosmos. Sie treibt die kennzeichnenden Leitpunkte, Linienzüge und Tonflächen des Totalphänomens kräftig heraus, berichtigt' und ergänzt aber zugleich nach den Maßstäben der Reinheit und Regelmäßigkeit, der Harmonie und Konsequenz, der systematischen Ordnung. Das Unzulängliche wird zum Vollkommenen oder zur deutlichen Ausweichung davon; die Zwischentöne streben zu den Hauptfarben hin oder zu einer ausgesprochenen Zwitterhaftigkeit und Gebrochenheit, die modellierenden Schatten verlaufen in stetigeren Übergängen, die perspektivischen Richtungslinien zeichnen sich mit mathematischer Schärfe ab. — In der Erregungs-Ekstase tritt der e n t " sprechende Hergang klarer an der ihr vorwiegend gemäßen Be-wegungstätigkeit zutage, oder an den Eindrücken des Gehörs, das zur emotionell-motorischen Sphäre in innigerer Beziehung steht als das Gesicht. Man vollführt selbst gebundene Zweckhandlungen mit weiter Geste und in zuckendem R h y t h m u s ; die Sprache n i m m t ähnliche Merkmale a n ; und nicht minder hört man aus f r e m d e r Rede neben einzelnen, interjektional wirkenden Sinnworten wesentlich die expressive Musik der Leidenschaft heraus: das Schwellen und Zittern der Stimme, den eigentümlichen T a k t und Tonfall der Affekte. Doch auch die gesehene N a t u r formalisiert sich dem Rauschergriffenen gar leicht zu einem Getümmel greller Kleckse, lebhaft geschwungener Kurven und keck vorspringender Massen. Übrigens ist die Hinneigung zu undinglichen, außerempirischen Inhalten nicht auf die originale Wirklichkeitsauffassung beschränkt. Die philosophische Meditation huldigt oft einem Symbolismus geometrischer Figuren. Desgleichen bestehen die bekannten merkwürdigen Visionen des Halbschlummers zum guten Teil in kaleidoskopisch wechselnden Musterungen oder in einem Spiel absonderlicher Menschen- und Dinggestalten, die unmittelbar aus solchen Musterungen hervorzugehen und mit ihnen sich zu wandeln scheinen. 8 0 Die Besonderheiten der ekstatischen Anschauung reichen noch tiefer hinab. Die völlige Bewältigung der Wirklichkeit durch das Eigenleben des Ich hebt den Gegensatz von Wirklich und Unwirklich auf. Rausch und Hypnose zeigen beiderlei Elemente gleichwertig nebeneinander gereiht oder durcheinander gemengt. Der Entrückte k a n n vermöge eines häufig eintretenden DoppelBewußtseins alles als irreal erkennen oder an allem zweifeln; das
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einzelne Gebilde wird niemals real oder irreal gesetzt. Allein auch der Unterschied der sinnlichen Wahrnehmung und der unsinnlichen Vorstellung verliert streng genommen seine Bedeutung. Die inhaltliche Allgemeinheit schreitet vor zur formalen, psychologische Abstraktion wird psychische Tatsache. Das S c h a u e n in der E k s t a s e ist f u n k t i o n e l l u n d i f f e r e n z i e r t e s Schauen, Schauen schlechthin. Diesen Sachverhalt verdeutlicht am besten das wohlbekannte Beispiel des Schlaftraums, der ja eine Art normaler Hypnose ist. Man spricht gerne von der sinnlichen Frische der Traumbilder. Darin liegt eine Urteilstäuschung ähnlich derjenigen, die zu der „Schein"-Theorie der Kunst-Illusion verführt; nur macht das Halbdunkel, das für den nüchternen Rückblick die ekstatischen Zustände umwebt, die Irrung noch schwerer erkennbar. Wenn wir -aus hellwachem Bewußtsein uns die Natur des Traumes zu deuten suchen, so stoßen wir auf Irrealbilder, die nichts von der Blässe •der Vorstellung an sich haben, denen keine primär empfundene Wirklichkeit gegenübersteht. Also: sinnliches Gaukelspiel, Halluzination. In Wahrheit ist nur die gewohnte Scheidelinie ausgelöscht. Der Schlafende kann gleichzeitig gewisse Dinge schauen und an andere denken; aber ein anschauliches Vorstellen abwesend gedachter Dinge kommt wenigstens im ganz tiefen Traum nicht vor. Jede neu auftauchende Phantasie gewinnt sofort den allgemeinen, unabgestuften Daseinswert der Traumwelt. Der Dualismus hat aufgehört zu bestehen, alles trägt die nämliche Farbe, besser: Farblosigkeit. Es ist einzig diese qualitative Unbestimmtheit, was das ekstatische Gesicht oder Schaunis, die Vision, be? gründet. Der Rausch, das Delirium, die Träumerei, die eine teilweise Zugänglichkeit für das real Gegenwärtige bewahren, spiegeln es in durchaus gleicher Weise wie das Unsichtbare und Imaginäre; und wenn ihre freien Bildschöpfungen nachträglich als halluzinierte Vorstellung erscheinen, so dürfen m'it demselben Recht oder Unrecht ihre Außeneindrücke als abgeblaßte Wahrnehmung bewertet werden; die im Rausche gesehene Natur erhält etwas Unsinnliches, Wesenloses, Immaterielles. In der Tat hat der übliche Gebrauch der Prädikate „Vision", „Gesicht", „Traum" je nach dem Vergleichsmaß eine verschiedene Spitze: diese Erinnerung steigt wie eine Vision in mir auf, dieses Schauspiel zieht wie eine Vision an mir vorüber. Nun kann man ja das Abnorme von den Vor-
3. Das Wesen der ekstatischen Anschauungs- Illusion
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aussetzungen der Alltäglichkeit aus zunächst kaum anders als hindeutend schildern, in unzulänglichen Analogismen und in antithetischen Wendungen, wobei widerstreitende Urteile von entgegengesetzten Seiten her das Problem beleuchten, ohne es zu lösen. So mögen wir denn allenfalls sagen: die Gesichte des Rausches und des Traumes sind zugleich eigentümlich lebensfrisch und eigentümlich schattenhaft. Schärfer bleibt die Fassung: die Visron ist dem Kategorienzwang des nüchternen Geisteslebens entzogen, sie ist die übergeordnete Kategorie, absolutes Schauen als wirkliche seelische Leistung. Wir befinden uns in der Ekstase jenseits von Ding und Eigenschaft, jenseits von Wahrheit und Wahn, jenseits von Sinnenschein und Phantasie. Die Mehrdeutigkeit des Sprachbegriffs „Erscheinung" entspricht dem inneren Zusammenhange der Tatsachen. Eine „Erscheinung haben" heißt so viel wie eine Vision haben; die ä u ß e r e „Erscheinung", der undingliche Aspekt, liefert den bevorzugten I n h a l t der Vision; ihr G e g e n s t a n d endlich ist „Erscheinung" im ontologischen Sinne, ein rein Vorfindliches mit phänomenaler Realität. 2 1 Der Verallgemeinerungsdrang der Ekstase macht bei diesem Typus nicht halt. In ihrem Bereiche ist die natürliche Schwierigkeit jeder strengen psychologischen Sonderung erheblich gesteigert; das intuitive Element läßt sich kaum noch aus dem Gesamtfluß des seelischen Geschehens lösen. Die Sinnesgebiete durchdringen einander aufs innigste. Die Gefühle beeinflussen nicht nur das Schauen, sie verwachsen damit bis zur Untrennbarkeit. Die Bildeindrücke gewinnen einen affektiven, die Affekte einen sensorischen Charakter, bis beide letztlich in einer noch abstrakteren Region zusammenfallen. Desgleichen sinkt die Schranke zwischen Bild und Begriff; Vision und Gedanke vermählen sich zur Idee, zur intuitiven Erkenntnis, die auch wieder eine gefühlsmäßige ist. Eine höchste Einheitlichkeit der Funktionen saugt alle Besonderheiten in sich auf. Die geläufigen Benennungen versagen; man schwankt in der nachträglichen Analyse, ob man von Licht-Empfindung, Licht-Gefühl oder bloß von Licht-Bewußtsein sprechen soll. Diese Ausgleichung steht im Einklang mit dem Phänomenalismus, der das Nicht-Ich beseitigt und die verschiedenartigen Erfahrungen des Ich auf dieselbe Stufe rückt; das aufnehmende, das schöpferische, das wirkende, das leidende, das zuständliche Erleben wird eins. Und nun die letzte Konsequenz der Ekstase: auch die
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fundamentale Zweiheit des Ich und seiner Erfahrungen scheint aufgehoben. Wir sind im äußersten Erregungsrausch ganz Leidenschaft, ganz Wille; wir sind in tiefster Kontemplation ganz Anschauung. Die Bilderwelt und die eigene Persönlichkeit fließen auf geheimnisvolle Art ineinander. Wir umfassen die Körperformen und erfüllen die Räume wie ein Stück unseres Selbst; wir sind irgendwie in allen ihren Wölbungen und Weitungen. Wir sind bei und in der Wolke hoch oben, dem Segel am Horizont, dem weißen Leuchten dort im Unendlichen; wir sind die Wolke, das Segel, das Leuchten. Wir sind, gleichnisweise zu reden, „außer uns", „entrückt", in „Ekstasis", im Ausstand der Seele; oder anders gewendet: die Welt ist in uns, der Ausstand ist zugleich ein Einstand, die Ekstase eine Enstase.— 2 2 Die Anwendung auf das Verhalten zu darstellender Kunst ergibt sofort, daß die Illusion in der Ekstase Sinn und Wesen verändern muß. Die Möglichkeit ihres Zustandekommens ist durch die elementare Suggestionskraft der Mittel, durch die augenfällige Ähnlichkeit der Nachbildung gesichert; die Beschaffenheit des Eindrucks wird keine andere sein als in aller ekstatischen Anschauung, unabhängig von Ursprung und Anlaß. Die dargestellte Natur verfällt der aprioristischen Umprägung durch das Subjekt, der mystischen Vereinigung mit dem Subjekt. Das Entscheidende aber ist, daß die feste Bestimmtheit des Anschaulichkeitsgrades und der Realitätsstufe sich verflüchtigt. Die I l l u s i o n w i r d Vision. Die Beziehung zu einer sinnlichen Gegenwart steht jetzt völlig außer Betracht; das Vergleichs- und Existenzial-Urteil ist nicht mehr bloß unwesentlich und fakultativ, sondern es fällt weg, weil es gegenstandslos ist. Auch für Suspension des Urteils fehlt jede Grundlage; wir setzen uns nicht hinweg über Wahr und Falsch, sondern es gibt kein Wahr und Falsch; die Gegensätzlichkeit von Sein und Nicht-Sein, von Sinnlich und Unsinnlich ist ausgetilgt. Mit Täuschung hat der Vorgang abermals nichts gemein: kein trügerischer Schein, vielmehr Erscheinung; keine Täuschung, höchstens Vertauschung, ein Quid-pro-quo gleichmöglicher und gleichberechtigter Bilder, das ja in der Ekstase überhaupt eher Regel als Ausnahme ist. Wie der Berauschte sehenden Auges die Personen „verwechselt", das heißt beim Anblick der einen die Vision der anderen hat, so schiebt sich dem entrückten Kunstbetrachter das Urbild an die Stelle des Abbildes; aber er hält nicht das
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Die Abwandlungen der ekstatischen Anschauungs-Illusion
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Abbild für das Urbild, noch auch erkennt er es als trügerisch. Die visionär gewordene Täuschung oder Halluzination deckt sich freilich mit der visionär gewordenen Illusion, doch nicht minder mit der also fortentwickelten Phantasie; all das sind nur mehr objektiv definierte Bedingungsbegriffe. Die Illusion als seelischer Typus verschwindet, Illusion bedeutet einfach: mimetisch angeregtes Schaunis. 23 Die Ekstase und die Kunst können einander zufällig begegnen. Der Stoff der Darstellung und die formalen Eigenschaften des Werkes können enthusiasmierend oder bannend wirken. Der normalen Illusion selbst wohnt häufig ein Antrieb zu extremen Stimmungen inner die problematische Daseinsweise der Dinge lädt zu affektvollem Ergreifen, zu träumerischem Verweilen, zu sinnender Beschaulichkeit ein. Allein es bedarf solcher Umwege nicht. Die Voraussetzungen der nachahmenden Kunst sind von Anfang an der ekstatischen Vision so günstig wie der differenzierten Illusion. Die Zwiespältigkeit, die ihr v o r der erfolgten apperzeptiven Anpassung eignet, die nach Lösung verlangende innere Antinomie des noch ungeklärten Eindrucks, mag in einem Mittleren sich versöhnen oder in einem Höheren sich aufheben. Die instinktiv erstrebte Illusion kann weder Wahrnehmung noch Vorstellung sein; also entweder eine neue Kategorie, oder die allgemeinere Kategorie, wie das Rausch- und Traumgesicht sie verwirklicht. Jede abbildliche Darbietung stellt die Seele vor eine Wahl: hier eine ungewohntere Spezialfunktion, dort ein abnormer Gesamtzustand, für den die Spezialität des Falles sich verliert; und es gibt Umstände, unter denen die zweite Art der Anpassung die näherliegende ist. 4. Die Abwandlungen der ekstatischen Anschauungs-Illusion. Auch die ekstatische Illusion wird in mannigfacher Gestalt erlebt. Die Aufhebung der Zweiheit von Wirklich und Unwirklich schließt gewisse Komplikationen nicht aus, die der bildinhaltlichen Zweiheit von Natur und Kunstwerk entspringen. Es können sich noch ungleich entschiedener als in der nüchternen Betrachtung getrennte Kreise nebeneinander halten; die Werkanschauung spielt herein, ohne die Illusion zu berühren und ohne sich der Qualität nach von ihr abzuheben. Denn auch sie wird nunmehr Vision; das Gemälde ist nicht eine leibhaftige Sache, nicht Leinwand und
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Pigmentschicht, sondern farbiges Feld. Andererseits bewährt sich gerade hier eine merkwürdige Fähigkeit der Ekstase, heterogene Inhalte zu irrationaler Einheit zu verschmelzen: wir ergreifen das Widerstreitende nicht etwa bloß gleichzeitig und auf gleiche Weise, sondern im gleichen apperzeptiven Vorgang. Oder es kommt mindestens zu einem ungewissen, zwitterhaften Verschweben, einem für die spätere hellbewußte Erinnerung schwer verständlichen Inund Auseinander; die beiden Komplexe stehen in engster Fühlung, die Dinge nehmen etwas von dem Eigenwesen des Gemäldes an, seinem Ton, seiner Flächenhaftigkeit, seiner Unbeweglichkeit, und umgekehrt: die Fläche des Gemäldes ist seltsam belebt und vertieft, das gemalte Licht halb und halb an sie gebunden, auf sie bezogen; das Werk selbst schimmert und strahlt von einem zauberhaften Kunst-Licht sui generis. Steinskulpturen erscheinen dem träumerisch Gebannten mehr und mehr als weiße Gestalten; eine Auffassung, die von der naiv-barbarischen Art, steinerne Menschen zu sehen, weit ab liegt: Natur und Kunst werden durch eine umfassendste Synthese zu einem einzigartigen Form- und Erscheinungsreiche ekstatisch in eins geschaut. Übrigens müssen in dem Maße, als bei fortschreitender Entrückung die undinglichen Werte den ersten Platz einnehmen, die zwei Kreise identisch werden und schon darum zusammenfallen. Wenn die hypnotisch geschaute Wirklichkeit einem Teppich, einem Gemälde gleicht, und wenn die malerische Wiedergabe auf optischer Ähnlichkeit beruht, so kann es nicht fehlen, daß die illusionäre Erscheinung schließlich unvermerkt in die Erscheinung des real gegebenen Werkes übergeht. Es ist das die Selbstauflösung der Illusion auf dem Gipfel der Ekstase, der Punkt, wo das Kunst-Schaunis vollends alles Unterscheidende abstreift. 24 Eine andere Variabilität folgt aus der Verschiedenheit der ekstatischen Zustände. Dem Erregungsrausch mit seinem motorischen Grundzug bieten die Künste der Ruhe vergleichsweise geringen Stoff und Anhalt. Das sympathetische Bewußtsein mag sich dem Kraftausdruck der dargestellten Bewegung hingeben, die Formen und Linien dynamisch beleben: darin stehen Malerei und Skulptur doch notwendig hinter dem mimischen Tanz und dem aufgeführten Drama zurück, deren untätige Anschauung von dem Rauschergriffenen wieder nur als Surrogat persönlicher Ausübung empfunden wird. Immerhin dürfen sich Blick und Geist schwär-
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mend in dem neueroberten Felde des Gemäldes tummeln, in der Weite des Raumes sich recken und dehnen, mit umklammerndem Griff die Fülle der Phänomene bewältigen. Auch vermag die K u n s t sehr wohl eine Kraftentladung feinerer Art anzuregen, eine nach innen gerichtete Ichbetätigung an und in der Bild-Vision. Der Wille zur Illusion s p a n n t sich zum Überschwänglichen; wir berauschen uns an der Schöpferlust, eine ganze N a t u r anschaulich herauf zu beschwören, am schwellenden Machtgefühl des wechselweisen Schaffens und Zerstörens; wir schwelgen im souveränen Spiel mit dem eigenen Erleben, in der freien Beherrschung der eigenen Seele und d a m i t der Welt. Die Stimmung berührt sich schon nahe mit der mystisch-seherischen, oder vielmehr: sie r ü h r t an jene Sphäre, wo Erkennen und Wollen im untersten Grunde zusammentreffen. 2 5 Die der Bildner- und Malerkunst gemäßesten Formen illusionärer E n t r ü c k u n g sind die Träumerei und der hypnotische Bann. Die Vorherrschaft der reinen Beschaulichkeit und der vollkommene Ruhecharakter bilden die verbindenden Momente. Dem Träumerisch-Gebannten widerstrebt jede eigene und fremde Bewegung, jede äußere und innere Veränderung; er weicht ihr aus, oder er wird von ihr aufgescheucht, das heißt er hört auf zu träumen. Mit der Veränderung ist auch die Zeit ausgeschaltet. Die einzelne E r f a h r u n g n i m m t teil an dem beharrenden Sein der Persönlichkeit, an der Zeitlosigkeit des in sich ruhenden Ich. Die abbildlich nachahmenden Künste aber verfestigen nicht nur die Beweglichkeit der N a t u r (wie auch das gestellte Tableau es t u t ) ; in dem dauernden Werk, das uns als solches auch in die werdende Ekstase hinein bewußt bleiben kann, scheint jene Außerzeitlichkeit der Faszination, jene Ewigkeit des J e t z t , gleichsam objektiviert. Die malerische Flach-Projektion fesselt uns überdies zwingend an den P l a t z ; sie gibt in doppeltem Sinne ein Ruhebild, indem sie dem Ruhenden das Ruhende zeigt. Darum ist insbesondere die Malerei recht eigentlich danach angetan, das Rätsel der K u n s t in seiner hypnotisierenden Wirkung zu bewähren; gleichwie umgekehrt der Dämmerzustand sich der Betrachtung von Malerei entschieden günstig erweist. W e n n m a n als dramatisch vorzugsweise die leidenschaftlich bewegte und mächtig erregende Handlung bezeichnet, so kann man unter dem Malerischen schlechtweg den traumhaft-bannenden Aspekt verstehen. Bei andauernder Versenkung in ein gutes Ge-
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mälde wird immer ein Stadium erreicht, da die Illusion in die Vision übergeht. Das gemeine Dasein weicht weiter und weiter zurück; wir treten in eine andere Existenz mit anderen Maßstäben und. Gesetzen; ein Zauberkreis hält uns gefangen. Wir gewahren die Metamorphose bald in leiser Verzückung, bald mit einem gelinden Einfließen von Beklemmung, von Schwindel — der Empfindung, die sich einstellt, wenn die sichere Bewußtseinsklarheit uns verlassen will. Wir leben nur noch im Schauen. Wir fragen nicht nach dem Namen der Personen, nach dem Sinn der Dinge und Geschehnisse. Um so reiner entfaltet zunächst die Form ihr Wesen und Weben. Die Tiefen beginnen sich nun erst wahrhaft aufzutun, die Gestalten sich zu runden, das Licht zu leuchten; alles ist räumiger und heller als sonst, und dennoch vergeistigter, dem Geist verwandter und näher als sonst; wir fühlen uns durch eine neue Unendlichkeit ergossen in grenzenloser Ausweitung und unbedingter Hingebung. Dann verdämmert auch dieses Reich. Die Natur entkörpert sich zum farbigen Hauch, sie erstarrt zur gespenstischen Hieroglyphe. Der Raum schwindet, die Zeit hält inne. Die Wandellosigkeit des Anblicks legt sich gebieterisch auf. Es wird sehr still. Das Bunte und Viele verbleicht, zerrinnt. Und in die große Einheit des Erscheinenden sind wir mit unserem innersten Selbst hinübergewandert. Kaum jemals angesichts der Wirklichkeit erfüllt sich die Einswerdung der Seele mit der Welt so restlos wie in der träumerisch-illusionären Anschauung. Wir sind ganz verloren im All, das zugleich ein Nichts ist. Wir atmen und schauen. Es ist das Nirwana der Kunst. In ähnlich hohem Grade kommt die Ruhe der malerischen Darstellung der kontemplativen Erkenntnis-Ekstase entgegen. Es gibt da Vor- und Zwischenstufen. Das Erkennen geht zuvörderst nur auf die einzelne phänomenale Tatsache in ihrer empirischen Zuordnung zum Ding, ihrem Verhältnis zu Körper und Raum, Lokalfarbe und Licht. Die Malerei, auf diese Gleichungen gegründet, erleichtert auch dem Beschauer deren Feststellung, die übrigens mehr Sache des nüchternen Interesses ist. Man meint häufig nichts anderes, wenn man sagt, daß die Kunst sehen lehre oder daß sie über die Voraussetzungen des Sehens, den Hergang des Sehaktes belehre. Der optische Tatbestand kann gewissermaßen unter dem dinglichen hervorschimmern, oder er haftet an den Dingen als eine Art Qualität: das Gebäude selbst, nicht sein
5. Augenblicks-Illusion.
Rand-Illusion.
Komplikationen.
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perspektivischer Umriß, verkürzt sich, das Grün der Wiese tönt sich ins Blaue ab usw. Oder es waltet der Eindruck des Werdens vor: aus dem Urgrund des farbigen Helldunkels tauchen die Körper schwebend auf, das Chaos fügt sich zum Kosmos, die Unform gebiert aus sich die Form. Von der anderen Seite her macht die abbildliche Wiedergabe auch die Erscheinung an sich klarer verständlich: ihre formale Gesetz- und Regelmäßigkeit, die verborgene Kontrapunktik ihrer Farben- und Linienmusik. Die Kunst lehrt jedoch mehr. Indem sie den Sinn auf die stofflose Lichtnatur hinlenkt, die den ihr entstiegenen Dingen eine empfindungsmäßige Wesenlosigkeit mitteilt, bereitet sie den Boden für das ekstatische Jenseits von Wirklich und Unwirklich, das in der seherischen Entrückung als ontologische Denkansicht ins Bewußtsein tritt. Ü b e r d e m i n d i v i d u e l l e n P h ä n o m e n e r h e b t sich die universelle P h ä n o m e n a l i t ä t . Gewisser und vollkommener als der sinnliche Anblick enthüllt uns das illusionäre Schauen die Welt als Erscheinung. Das Gemälde bringt den idealen Kern der Realität unmittelbar zutage; es ist der vorgehaltene Spiegel des Natur auffassenden Geistes, der vom Geist erfaßten Natur. Vermöge einer mystischen Symbolik geht die Anschauung völlig in den Gedanken ein und auf, der organisch aus ihr hervorwächst. Das Außer-sich-sein wird zur Transzendenz, das Wunder der Kunst erweitert sich zum allgemeinen Wunder alles Seins und Lebens. D i e i n n e r s t e I d e n t i t ä t v o n S e e l e u n d W e l t s t r a h l t uns aus dem K u n s t w e r k geheimnisvoll entgegen. Dieses ahnend-gehobene und abgründig niedertauchende Erkennen, dieser Erkenntnisrausch, von dem die obersten, umfassendsten Einsichten getragen sind, hat nichts mehr gemein mit der schlichten Deutlichkeit des alltäglichen Verstehens. Das Problem-Bewußtsein steigert sich zu metaphysischer Ergriffenheit, die Entdeckungsfreude zum Offenbarungsschauer, zum Gipfelgefühl eines ewigen Augenblicks alldurchdringender Erleuchtung. Die Summe aller Wahrheit liegt in dem einen Schaunis beschlossen, verdichtet zu einem Erlebnis von intensivstem Gehalt und unausschöpfbarer Tiefe. 26 5. Augenblicks-Illusion.
Rand-Illusion.
Komplikationen.
Der Übergangsregion zwischen den normalen und ekstatischen Zuständen gehört das an, was man zuweilen unter Spielstimmung versteht: eine Halb-Ekstase von willensfrohem, aktivem Charakter.
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Der Spielende neigt mehr oder minder entschieden zu dem Subjektivismus und Apriorismus der Entrückung, selbst in Tätigkeiten nachahmender Art; und seine eifervolle Beflissenheit steigert sich überaus leicht zu einem ausgesprochenen Erregungsrausch. Andererseits steht das spielende Verhalten doch auch in näheren Beziehungen zur normalen Existenz; es bewegt sich auf einem durchschnittlichen Niveau seelischer Kraft, es ist der nüchternen Erfahrung und Erinnerung aufs engste verknüpft. In der Aufnahme darstellender Kunst mag der Geist des Spieles den Trieb zu freiem Schweifen und Wandern der Anschauung verstärken, die Freude an Form und Erscheinung erhöhen. Dagegen steht es nicht in der Macht des experimentierenden Willens, die abstrakte Vision des Rausches und Traumes in den Bereich des klaren Bewußtseins einzuführen. Gleichwohl sind die eigentümlichen" Funktionsweisen der Ekstase auch der neutral gestimmten Seele keineswegs fremd. Unsere einzelnen Schauerlebnisse reihen sich nicht als fertige Größenwerte aneinander; sie werden und vergehen, sie haben ihre Geschichte. Der genaue Verlauf ist der eindringendsten Analyse nicht immer faßbar, und nur bei sehr verlangsamter Apperzeption treten deutlich gesonderte Phasen hervor. Dann erweist sich aber, daß gewisse ganz flüchtige Vor-, Nach- und Zwischenstadien der hellwachen Innenvorgänge mit dem ekstatischen Leben wesentliche Kennzüge teilen. Insbesondere sind alle ersten, augenblicklichen Gesichtseindrücke, wie sie dem sicheren Erkennen oft unmittelbar vorausgehen, den Eindrücken des Dämmerzustandes nahe verwandt. Auf die Kunst übertragen: Die I l l u s i o n des e r s t e n Blickes g l e i c h t d e r t r ä u m e r i s c h e n I l l u s i o n . Sie bedeutet ein unbestimmtes, unentwickeltes, im eigentlich genetischen Sinne noch undifferenziertes Schauen; nicht weniger und nicht mehr. Es ist abermals Urteilstäuschung, wenn wir der künstlerischen Momentwirkung eine sinnliche Energie, gleichsam die Frische eines status nascendi der Illusion, zuschreiben. Der trügerische Anschein beruht darauf, daß die abbildliche Anschauung während der Zeitspanne, deren sie bedarf, um zu voller Klarheit zu gelangen, sich von der urbildlichen Anschauung d e r s e l b e n S t u f e kaum unterscheidet; allein dieses unfertige Sehen ist eben nicht Sehen. Die erste aufschießende Impression, die wir von einem neu ins Gesichtsfeld gerückten Natur- oder Kunstobjekt empfangen, stellt
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sich dar als subjektive Verarbeitung unzureichender Daten, als automatisch vorschnelle Antwort auf einen allzu kurz währenden Reiz. Derartige aufs Geratewohl vorgreifende Bildentwürfe, die das Richtige oder Falsche treffen mögen, sind vom Sinnentrug so weit entfernt wie der T r a u m und enthalten nichts von Glauben oder Unglauben. Sie sind höchstens, in die halbklare Phase hinein beharrend, von einer zwangsmäßig hypothetischen Vorwegnahme realer Gegenwart begleitet. Auch dies t r ä g t freilich dazu bei, jene spezifische Sinnlichkeit der Augenblicks-Illusion vorzuspiegeln. Indem die nachfolgende ruhige Betrachtung s t a t t der geforderten sichtbaren Wirklichkeit bloß illusionäre Wahrheit findet, vollzieht sich ein Rückgang, der lebhaft empfunden und unwillkürlich mißd e u t e t wird: die Enttäuschung postuliert eine frühere Täuschung. Vielleicht k o m m t eine stetig festhaltbare Illusion gar nicht zustande, und wir beurteilen nachträglich den größeren Reizwert des ersten Bildes als größere Frische. Die nämliche Schein-Überlegenheit besitzt ja unter Umständen die träumerische Illusion gegenüber der nüchternen. Es handelt sich hier wie dort um einen Vorteil der unvollkommenen Auffassung. Eine solche kann an sich die positiven Anregungen der Illusion so gut wie ihre Hemmungen aufh e b e n ; es k o m m t im einzelnen Falle darauf an, ob die eine oder die andere Konsequenz entscheidend überwiegt; wie denn auch die erste Wirkung eines darstellenden Kunstwerkes durchaus nicht immer die packendste ist, vielmehr sehr häufig die Illusion erst aus einer geduldigen Versenkung in das Werk erwächst. — Übrigens fällt die Ding-Vision bereits an das Ende des AnfangsStadiums; in der allerersten Begegnung von Auge und Objekt beh a u p t e t das Undinglich-Phänomenale denselben natürlichen Vorrang, der es zum hauptsächlichen Schauinhalt der tiefsten Schlaftrunkenheit m a c h t . Und wie der Prozeß sich entfaltet, so klingt er ab, genauer: er schwillt an und ab zwischen periodisch wiederkehrenden Hoch- und Tiefpunkten. Wir haben mitunter die vergeblich gewünschte Illusion gerade im Moment des Hinwegsehens, im Nachbild, im l e t z t e n Blicke. Keine abbildliche Darstellung ist auf einen einzigen flüchtigen Blick berechnet. Immerhin h a t die Moment-Impression f ü r die K u n s t a u f n a h m e eine besondere, mehr als zufällige Bedeutung. Die Dauerformen der Illusion sind nicht selten erst das Ergebnis einer längeren Auseinandersetzung mit dem ungewiß aufblitzenden, haltP a p , Kunst und Illusion.
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Jos schwankenden Augenblicksbilde, das immer wieder vor der übermächtigen Körperlichkeit des Werkes verbleicht. Das Vorläufige kann nicht so glatt in das Endgültige übergehen wie bei der Wahrnehmung, und nur nach vielfachem Hin- und Herwogen verworrener Eindrücke stellt sich irgend ein bleibender Ausgleich her. Diese Art des Wettstreits nimmt den breitesten Raum ein, solange uns die Kunst überhaupt noch ein Neues ist, oder sobald wir neuen, verfeinerten, individuell abgestuften Mitteln und Methoden gegenüberstehen. Die vergleichsweise Ungewohntheit und Schwierigkeit der illusionären Auffassung hat neben und vor allen anderen variierend-bereichernden Wirkungen auch die, das impressionäre Stadium zu verlängern und zu verselbständigen; mag nun die unentwickelte Anschauung schließlich in der normalen Illusion zu durchgebildeter Eigenart ausreifen oder im hypnotischen Dämmerbild erstarren. Die Moment-Vision wird aber auch willentlich aufgesucht, als rätselhaftes Kuriosum und als elementare Keimform des hellbewußten Effektes. Wir kommen gern auf die Entstehungsphase zurück; die erlahmende Illusion belebt und festigt sich an der kräftigen Spontaneität der werdenden. Der beste Sinn des apperzeptiven Impressionismus liegt in solcher Möglichkeit, den ersten Blick physisch und seelisch jederzeit zu erneuern. Ihn ruhig-nüchtern festzuhalten, dies vermögen wir allerdings streng genommen nicht. Die Inhaltstypen und Kategorien des Überganges lassen sich nicht ohneweiters ins Dauernde umsetzen, so wenig wie jene der Ekstase in die Alltagsstimmung übertragbar sind. Die ursprüngliche Impression bleibt auch bei willkürlicher Wiederholung nur Ausgangspunkt und Ansatz; wenn nicht etwa ein sprunghaftes Umhereilen, das namentlich der Erregung gemäß ist, die Betrachtung geradezu in eine Folge erster Blicke auflöst. Daß j e d e Illusion werdende und im Werden gehemmte Illusion oder (was das Nämliche besagt) werdende und gehemmte Täuschung sei, dem widerspricht die untrüglich empfundene Einheit des normalen Kunsterlebnisses, das, in sich vollendet und befriedigt, auf keine Weise über sich hinausstrebt. 2 7 Wie das Nacheinander, so das Nebeneinander der Seele. Jene schattenhaften Begleitbilder, die gewöhnlich an den zentralen Aufmerksamkeitsbereich anschießen, sind gleichfalls den Erscheinungen der träumerischen Entrücktheit überaus ähnlich. Rand-Bewußtsein, Übergangs-Bewußtsein, Dämmer-Bewußtsein: überall der gleiche
5. Augenblicks-Illusion.
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Grundton, die gleiche innere Struktur, die gleichen Bildungen. Ob man eine Sache aus halbwachem Sinn heraus gewahrt, ob man ihr, mit Anderem beschäftigt, nur halben Anteil schenkt, oder ob man nur die halbe Zeit zur Verfügung h a t : die gewonnene Anschauung ist annähernd dieselbe. Der erste Blick, der leichthin streifende Blick der Gleichgültigkeit und der unbewegte Blick der Gebanntheit sind äquivalent; es ist immer ein einziger Blick für ein bestimmtes Raumfeld. In der ruhigen Wahrnehmung pflegt der seelischen Randregion die räumliche des Sinnesorgans zu entsprechen; was zum Mittelpunkt unseres Interesses wird, dem wenden wir vermöge einer angeborenen Zuordnung auch den Mittelpunkt des Auges zu; Nebensächliches lassen wir (bemerkend, aber nicht aufmerkend) buchstäblich beiseite. Darum hat schon das alltägliche „indirekte" oder „peripherische" Sehen, die Auffassung der weit außerhalb der geraden Fixationslinie gelegenen Dinge, etwas von träumerischem Schauen; auch gelangt es häufig nicht über vage Licht- und Farbeneindrücke hinaus. Die Hypnose, der die scharf analytische Zuspitzung der Aufmerksamkeit unbekannt ist, dehnt gleichsam nur den peripherischen Zustand auf das Zentrum aus: d a s u n g e s c h i e d e n e G a n z e w i r d g l e i c h m ä ß i g m i t d e m g a n z e n A u g e u m s p a n n t . 2 8 — Es gibt nun auch eine R a n d o d e r N e b e n - I l l u s i o n . Während wir die Hauptfigur eines Gemäldes fixieren, üben die Umgebung und der Hintergrund einen visionären Zauber aus, der vor dem prüfend-nachfolgenden Blick alsbald zerrinnt und, ebenso wie der impressionäre Effekt, merkliche Enttäuschung zurücklassen kann. Der geschlossene Allzusammenhang, dem die malerische Wiedergabe das Ding einfügt, wirkt in psychischem wie in optischem Betracht zumeist doch nur als Folie. Es ist die geläufigste Art, abbildlich nachahmende Kunst zu betrachten, daß das gesammelte Licht des Geistes auf den sachlich bedeutsamen Gegebenheiten der Darstellung ruht (etwa dem Tun und Ausdruck der Personen), gleichzeitig aber die Totalität der kleinen Welt, in weiteren und weiteren Ringen verdämmernd, eine unbestimmte Gegenwärtigkeit behauptet. Und diese einhüllende Atmosphäre um den nackten Stoffgehalt, dieser Zwielichtschimmer einer unendlichen Realität erscheint wohl gar als das letzt-entscheidende Element der Illusion. Die extremen Bewußtseinsverhältnisse sind im Grunde nur dann, wenn sie dauernd und uneingeschränkt herrschen, das Ab3*
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normale, die Ausnahme. Umfassender verstanden durchsetzt die Ekstase unser ganzes Innenleben. Sie schafft darin abgespaltete Bezirke, eingebettete Schichten, Enklaven; es ist, als ob in den chaotischen Randbegleitungen ein Stück von uns t r ä u m t e ; eine Traumseele lebt unter der Tagesseele fort, als ruhende Tiefe und nährender Schoß. Nicht minder kann leidenschaftliche Bewegtheit oder die Gehobenheit der Erleuchtung den Hintergrund und Horizont der nüchternen Anschauung geben. Zuweilen reicht die Macht des verständigen Willens mitten in die wahre Ekstase hinein; das wache Ich liegt still bereit, der Wiedergewinnung seines Primats gewärtig. Die normale Stimmung selbst steigt und sinkt unaufhörlich in der Richtung der Pole. Es ist ein stetes Hinüber- und Herüber-Strahlen, ein Hin- und Wider-Fluten zwischen den beiden Reichen. Desgleichen verbindet sich die eine Form der Entrückung mit der anderen. Die Doppeldeutigkeit sinnender Versenkung beruht zum guten Teil darauf, daß außergewöhnliche Erhellung eines Inhaltsbereiches eine gleich außergewöhnliche Verdunkelung aller übrigen bedingt, daß der seherisch Erkennende abseits von seinem Erkennen tatsächlich ein Schlaftrunkener ist. Die sogenannte Zerstreutheit ist gewöhnlich eine Synthese von Grübelei und Träumerei. Und wie maximale Erregung unvermerkt in nachtwandlerische Dumpfheit umschlägt oder auf letzter Stufe mit ihr ineins verfließt, so treffen auch partielle Überreizung und partielle Lähmung fast regelmäßig zusammen. Die Typen lösen einander in bunter Reihe ab, sie schieben sich über- und durcheinander; oder vielmehr: angesichts solchen Reichtums erweisen die Typenbegriffe jene Unzulänglichkeit, die jeder Abstraktion von der frei strömenden Wirklichkeit der Seele eignet. Das Erleben wird zu einem überaus schillernden, kaum noch bestimmbaren, das unaufhörlich sein Wesen ändert und in mannigfach gebrochener Kurve verläuft. Überlickt man nun die Abwandlungen der Kunst-Illusion nach der Gesamtheit ihrer erfahrbaren Kombinationen, so ergibt sich eine unerschöpfliche Fülle möglicher Einzelfälle, eine bis zum Singulären gehende Verschiedenheit des jeweiligen Verhaltens. Die Spielweite dieser zusammengesetzteren Vorgänge läßt sich nicht mehr in systematischer Kasuistik durchmessen, sondern nur durch beliebige Beispiele von ungefähr umstecken; die allgemeine Psychologie der Illusion mündet in individuelle seelische Geschichte. Unser Blick fällt auf ein Gemälde. Alsogleich und ungerufen
5. Augenblicks-Illusion.
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springen uns plastisch-runde Gestalten entgegen, deren Substanzialität uns abwechselnd mit heiterer Neugierde, mit wohligem Unheimlichkeitsschauer, mit Schrecken erfüllt. Wir weiden uns an ihrer kraftvollen Körperlichkeit, an der wundersamen Räumigkeit, die sie umfängt. Allmählich erwacht unser menschlicher Anteil an den Dingen, Menschen stehen vor uns in ihrer natürlichen Existenz; wir freuen uns ihrer Schönheit, wir fühlen ihre Zustände und Erregungen mit, wir bewegen uns und handeln in ihnen; wir sind ganz bei der Sache, wir haben das Gemälde vergessen. Dann weicht die Betörung. Wir sehen die Malerei als solche, mit breitem Pinsel hingelegt; wir treten näher und suchen nach dem Schlüssel des Geheimnisses, nach der Brücke zwischen Realität und Phantom. Wir bestaunen die Meisterschaft des Künstlers, seine zielsichere Beherrschung der Mittel, das Hexenstück einer aus Strichen und Klecksen emporsteigenden Welt. Wir berauschen uns an dem Schwung der Umrisse, an der Glut der Farben. Noch ein zusammenfassender Ausdruck der Bewunderung, und wir wenden uns ab. — Eine andere Folge. Ich empfange zunächst nur einen lyrisch-musikalischen Totaleindruck von Linienführung, Massenverteilung, Farbenhaltung, Strichgefüge. Ich erkenne Dinge, aber als eigentümlich flächenhaft gebundene, wesenlose Gebilde. Ich schaue mich in den Raum hinein, mit entschiedener Anspannung tiefer und tiefer grabend. Langsam, vom Rande her, wird es lebendig, auf eine unbegreiflich fremde, eigengesetzliche Weise. Das sonderbare Weben dieses Mikrokosmos übt seinen leisen Entrückungszwang; ich hänge daran in regungsloser Beschaulichkeit und Versonnenheit, ich tauche völlig darin unter. Doch eben die Stärke des Bannes macht mich plötzlich aufschrecken. Das zurückgedrängte Hellbewußtsein, zum Widerstand aufgefordert, ermannt sich. Ich besinne mich, überdenke das Geschehene und huldige ehrfürchtig dem vollzogenen Mysterium der Kunst. — Oder: das erste, was man vorfindet, ist ein farbiger Nebel, der sich hier und dort zu Formen ballt, verschwebt und sich wieder formt. Die Illusion flieht vor dem wandernden Blick einher, man jagt dem Spuk ewig nach, ohne ihn jemals sicher zu fassen, und an der Unversöhnlichkeit des Widerstreites entzündet sich immer neu die Abenteuerlust des Schauens. — Überhaupt geht in die zeitlich ausgedehnte Kunstbetrachtung stets auch die Desillusionierung durchbrechend ein. Sie kann gleichfalls eine verschiedene sein. Das ma-
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terielle Werk legt sich zwischen uns und das imaginäre Gegenüber, es heischt selbständige Beachtung und Untersuchung. Das rein Formale des Werkes zieht uns ab zu außer- und überillusionistischem Interesse. Die abbildliche Anschauung selbst erstirbt in blasser Vorstellung; es will nicht mehr zu einer wirklichen Illusion kommen. Endlich ist in gewissem Sinne schon die reflexive Erhebung über die Illusion eine Aufhebung der Illusion, das Bewußtsein des Zaubers eine Entzauberung. Von den unendlich zahlreichen Ausgestaltungen des seelischen Vorganges kann der Einzelne unbestimmt viele zu verschiedenen Zeiten erleben, viele auch bei Anderen zweifellos feststellen. Die Variabilität der persönlichen Erfahrung ist ihrerseits eine sehr ungleiche; sie sinkt bei manchen Individuen bis auf den Nullpunkt völliger Stabilität herab. Solche werden naturgemäß dahin neigen, die ihnen allein bekannte und von ihnen so benannte Illusion ohne weitere Umfrage für die einzig vorkommende oder die einzig vollkommene zu halten und ihre Ansicht vom Wesen der Illusion aus dem einen gegebenen Beispieltypus abzuleiten; während zugleich die Isoliertheit des beobachteten Tatbestandes die Richtigkeit seiner analytischen Beurteilung gefährdet. Der Gewöhnung, sich im spannenden Wechsel von Natur- und Werkbild zu ergehen, ist die dualistische Auffassung der mimetischen Wirkung gemäß. Das Übergewicht der Denkfunktionen in m e i n e r Art der Betrachtung muß mich den Kern des Erlebnisses in Vergleichsbeziehungen, Abstraktionen oder Annahmen erblicken lassen. Wenn ich ausschließlich Eindrücken von nahezu sinnlicher Frische zugänglich bin, so begünstigt das den Täuschungsglauben, gleichwie das konträr entgegengesetzte Verhalten der Vorstellungs- oder Zeichen-Theorie den Boden bereitet. Wer bloß im Dämmer des Halbtraums oder des flüchtigen Augenblickes zur Illusion gelangt, dem erscheint sie notwendig als Vision oder als Impression. Und entsprechend weiter. 2 9
6. Der ästhetische Wert der Anschauungs-Illusion. Die ganze Mannigfaltigkeit der Illusionstypen wird von einer obersten Verschiedenheit beherrscht: die Wirkung hat ästhetischen oder außerästhetischen Charakter. Wir beschäftigen uns mit guten abbildlichen Erzeugnissen, seien es nun Kunstwerke oder Photographien, aus mancherlei Interessen heraus und nicht einmal
6. Der ästhetische Wert der Anschauungs-Illusion
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immer in freiem Drang, nach unmittelbarer Wertschätzung. Die imaginäre Welt der Malerei, wie sie von den Wänden her auf mich eindringt, mag mir sogar lästig fallen, wenn Zwang, Pflicht oder Zufall mich gegen meine Stimmung bei ihr festhalten; sie verliert ihren Reiz, während sie doch ihre spezifische Anschaulichkeit bewahrt. Selbst die ekstatische Kunst-Vision ist nur fallweise ein glückliches Träumen; je nach der Gemütslage wird sie eher als peinlich schreckhafter Spuk und Bann, ihr Phänomenalismus als grauenhaft schwindelerregendes Entgleiten der festen Wirklichkeit empfunden; wie ja der Ekstase überhaupt keineswegs eine schlechthin beseligende Macht innewohnt. 3 0 Gleichviel: die Illusion k a n n ästhetischen Genußwert haben, und zwar als Illusion. Es gehört zur allbekannten Kunsterfahrung, daß uns oft Darstellungen von stofflich und formal gar nicht anziehender Art das lebhafteste Vergnügen bereiten; desgleichen, daß wir uns zeitweilig ganz im allgemeinen gestimmt fühlen, Kunst zu schauen und nicht Sinnenwirklichkeit, nachahmende Kunst und nicht etwa ornamentale. Die Illusion ist keine an sich gleichgültige Daseinsweise der Dinge. Sie ist noch weniger ein bloßes Surrogat der Sinnlichkeit, dessen Minderwert durch ein Plus an irgendwelchen anderen Werten aufgewogen sein müßte; sie ist nicht ausschließlich eine Vermittlerin schönerer außernatürlicher Gestaltungen oder das Vehikel einer günstigeren Anordnung, die verborgene Schönheitsgehalte der Natur ans Licht stellt; sondern sie wird um ihretwillen geschätzt. Aus der Aufgabe des Ersatzes würde das ausnahmslose Postulat der äußersten Annäherung an bewußte Täuschung folgen; in Wahrheit liegt sehr häufig das Anziehende vielmehr in einer ausgesprochenen Unsinnlichkeit, einer gemessenen Entfernung vom Augentrug. Irrig wäre freilich auch der entgegengesetzte Glaube, daß die Illusion an sich den natürlichen Schauwert steigert. Eine derartige Bedingtheit kann als sekundäre Komplikation statthaben; oder genauer: man darf sie dort annehmen, wo der Vorzug der abbildlichen vor der urbildlichen Anschauung auf bestimmte Objekte bezogen und eingeschränkt erscheint. Die Werte verbinden sich, sie potenzieren sich wechselseitig, der eine löst den andern aus, fördert ihn über die Schwelle; indem die Illusion das gegenständliche Interesse stachelt, läßt sie manche minder leicht an^ sprechenden Reize erst wirksam werden; indem sie an eine Sache fesselt, weckt sie erst deren eigene fesselnde Kraft. Überdies wird
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unter Umständen die unsinnliche Punktionsform peinliche Grellheiten der sichtbaren Realität mildern, störende Neben- und Folgemomente beseitigen, hemmende Gegentendenzen ausschalten. All das berührt nicht die Haupttatsache, daß die mimetische Wirkung eines reinen Eigenwertes fähig ist. 3 1 Dieses Wertes können nun sämtliche Abwandlungen und Seiten des Prozesses in wechselndem Maße teilhaftig sein. Die Illusion wird auch ästhetisch auf die mannigfachste Weise erlebt; so zwar, daß es unmöglich ist, den einen vollkommensten Typus, das eine wichtigste Element auszusondern. Um eine Rangordnung zu gewinnen, muß man entweder einseitig individuelle Genußgewohnheiten zum Maßstab nehmen oder logische Gesichtspunkte einführen, die im Bereiche des irrationalen Gefallens unzulässig sind, und die übrigens antinomisch widerstreitende Anwendungen gestatten. Welche Illusion ist die eigentliche, die echte? Die packend sinnennahe, dem Sehen maximal angeglichene? Oder die einzigartig differenzierte, fein abgetönte, die in ihrer gedämpften Frische nicht an die Wahrnehmung heranreichen, sondern Illusion bleiben will? Die graduell oder die qualitativ ausgezeichnete? Und wie bestimmt sich allenfalls die richtige Mitte? Ebenso: Ist die gewollte oder die ungewollte Illusion die allein des Namens würdige? Vor allem: ist es die naive, selbstvergessne, restlos im Schauen beschlossene, oder die klar bewußte, vom Urteil beleuchtete und gespiegelte? Die in sich ruhende oder die über sich hinausdeutende? Verleihen erst die Gefühlsbegleitungen der müßigen Bilderjagd ihren Sinn und ihr Recht? Oder darf nicht gerade die ganz kalte, ganz sachliche Illusion die Illusion par excellence heißen ? Ist die Gehobenheit des Verstehens oder die Ergriffenheit des Staunens das ästhetischere Verhalten? J a wer will sagen, ob es die freudige Erregung, die lachende Heiterkeit oder die schreckhafte Gebanntheit ist? Zieht die illusionäre Anschauung ihren besten Wert aus den gesättigteren Inhalten, dem kräftigeren Durchschimmern und Mitsprechen der phänomenalen Grundlagen? Oder bezeichnet eine gereinigte, gesammelte Dingauffassung die fortgeschrittenere Stufe? Überhaupt: verdient eine möglichst starke und reiche Wirkung den Preis oder eine möglichst ruhige, ausgeglichene, einheitliche? Endlich: ist der im hellen Geistesleben scharf determinierte Eindruck oder die dem Halbdunkel extremer Zustände entstiegene, gaukelnde Vision das höchste Ziel der künstlerischen
6. Der ästhetische Wert der Anschauungs-Illusion
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N a c h a h m u n g ? Ist die ekstatische Illusion mehr als die nüchterne? Soll die endgültig ausgereifte, sicher beharrende, oder die werdend flüssige, ungewiß schwebende Illusion als der schätzbarste Erfolg gelten?« Es liegt ungemein nahe, die alleinige Pointe der Kunst-Illusion in der Beziehung zur urbildlichen N a t u r zu erblicken. Wir erkennen lustvoll eine überraschende Ähnlichkeit im völlig Unähnlichen; wir spielen mit einer fiktiven Realität des Irrealen. Die Urteilsfreude ist alles: der funktionelle und inhaltliche W e r t des Vergleichens, des Setzens, des Wissens. Es sind n u r Varianten, wenn man mehr den Wechsel der disparaten Bilder als das verbindende Urteil betont oder die Willenslust mit heranzieht. Allein so gewiß die abbildliche Anschauung f ü r sich bestehen kann, so unzweifelhaft eignet ihr ein allerursprünglichster Reiz, den jeder Neben- und Nachgedanke eher verdrängt als aufhellend hebt. Die Illusion bedarf keines Beiwerks, weder um Illusion zu sein noch u m ästhetisch zu sein. Andere Auffassungen, die der unmittelbaren Schaufreude besser gerecht werden, rechnen doch nur mit einer erweiterten, geklärten, bewußteren Geistestätigkeit. Die ästhetische Bedeutung darstellender Kunst soll vornehmlich die sein, daß wir uns in ihrem Genuß intensiver als sonst schauend ausleben, d a ß wir inniger als sonst im Schauen uns selber wissen und fühlen. Eine besondere Wertquelle bilden hierbei die entschiedener hervortretenden Tatsachen der Form und Erscheinung; ihre Schönheit und Gesetzmäßigkeit, das Fesselnde einer sinnvollen Ordnung oder eines sinnlosen Chaos gesellen sich zu den dinglichen Schauwerten und geben dem inneren Vorgang eine W ü r d e , die der gemeinen W a h r n e h m u n g unerreichbar ist. Indessen, die Illusion kann vollkommene Befriedigung gewähren, ohne eine mittlere Höhe der Angeregtheit zu überschreiten, ohne neue Seiten der Dinge zu erschließen, ohne sich überhaupt anders als durch die eine formal-funktionelle Nüance vom natürlichen Sehen zu unterscheiden. Noch zahlreichere Gegeninstanzen widerlegen jene Ansicht, die sich ausschließlich an die entrückende Macht der malerisch-bildnerischen Gestaltung hält, an ihre Fähigkeit, in visionären Bann zu versetzen. So ersehnt und beglückend die Ekstase sein k a n n : sie verwischt und verflüchtigt mit der Eigenart der Eindrücke auch die feineren Reize der Eigenart. Es bleibt ungefähr gleich berechtigt, die träumerische Vision als Gipfel der
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Illusion zu feiern oder sie schlechthin nicht als Illusion anzuerkennen. 3 3 — Die fundamentale Einseitigkeit besteht überall darin, daß man den Wert der mimetischen Wirkung von vornherein außerhalb der Bildlichkeit und ihrer besonderen Qualität verlegt und ihn damit zu einem sekundären, vermittelten, uneigentlichen, also wenigstens prinzipiell ersetzbaren macht. Es wäre letzten Endes belanglos, ob wir Natur und Kunst vergleichend beurteilen oder beliebige andere Gegebenheiten, ob wir uns in der Illusion erhöht und bereichert fühlen oder in anderen Funktionen. Unbefangene Selbstbefragung wird eine solche Konsequenz abweisen müssen. Wie immer wir Kunst genießen: es gibt einen innersten Kern des Erlebnisses, dessen spezifischer Wert sich nicht weiter in fremde Elemente auflösen läßt. Dieser Grund- und Urwert tritt jedesmal frei heraus, sobald wir uns in ruhig nüchterner, gedankenloser Anschauung gefallen; und vielleicht gilt es manchem persönlichen Empfinden als der Triumph der Illusion, als die absolute Illusion, wenn das außerordentliche des Vorgangs bis auf einen unbemerkten Rest geschwunden ist, wenn das nachgeahmte Sehen die durchschnittliche Spielweite des wirklichen nach keiner Richtung verläßt, wenn keinerlei ungewohnte Inhalte und Stimmungen sich aufdrängen, wenn wir uns in der illusionären Welt mit dem nämlichen Gleichmut der Selbstverständlichkeit bewegen wie in der sinnlich realen. Hier will jedoch die Art, wie Genußwerte seelisch erlebt werden, näher in Betracht gezogen sein. Das wertgebende Element muß durchaus nicht lebhaft und scharf erfaßt sein oder gar im Mittelpunkt der Beachtung stehen. Wertakzent und Aufmerksamkeitsakzent, absoluter Wert und apperzeptiver Wert, treffen n u r begegnungsweise zusammen. Häufig genug versagt sich die Wertquelle geradezu der Erkenntnis. Wir fragen uns angesichts mancher Sache vergebens, was uns an ihr entzückt; erst die methodische Analyse, unterstützt von der differentiellen Vertauschungsprobe, vermag den wahren Reizfaktor herauszustellen, der nicht zu den gegenständlich charakteristischen Stücken des Ganzen gehört. Die geistige Tonverteilung folgt anderen Qualifikationen als der Schätzbarkeit. Es liegt in der Natur gewisser Inhaltsklassen, leichter oder schwerer in den Kreis der gesammelten psychischen Energie zu rücken. Die normal gestimmte Seele wendet sich triebmäßig den Dingen zu; sie sind es, die das hellwache Ich am stärksten
6. Der ästhetische Wert der Anschauungs-Illusion
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in Anspruch nehmen. Ferner hat das Einzelding wieder den Vorzug vor dem ausgedehnten Komplex, in den es eingestellt ist: der Örtlichkeit, der Geschichte, dem System; es verdrängt vollends das Abstrakte, dem es sich logisch unterordnet: die Gattung, den Typus, die Idee. Auch unter den Merkmalen der Dinge stechen die konkreten und individuellen hervor. Die Werteigenschaften sind aber gewöhnlich typische Bestimmungen, die einer Vielheit von Gegenständen zukommen. Wir genießen die gleiche Schönheit oder Schönheitsnüance in den verschiedenen Exemplaren, an denen sie sich verwirklicht; mit ihnen haben wir es in erster Reihe zu t u n ; nur in ekstatischer Verzückung kehrt sich das Verhältnis u m : das Ding wirkt als bloße Manifestation und Objektivation der Schönheit statt als ihr Eigner und Träger, gleichsam als rückstrahlender Spiegel statt als ausstrahlender Ursprung. Allein selbst diejenigen Funktionen, aus denen der eigentliche Genuß sich zusammensetzt: das Lustgefühl, der ergreifende Wille, die erleidende Hingabe, das Festhalten und Gefesseltwerden, sie fallen nicht notwendig ins volle Licht des Bewußtseins. Die Disjunktion von Lebhaftigkeit und inhaltlicher Intensität, die bei Empfindungen gelegentlich statthat, ist bei Gefühlen und Begehrungen so ziemlich die Regel. Ein großer Affekt ist, solange Anlaß und Reizbarkeit fortdauern, ständig da, ohne einen Augenblick schwächer zu sein; aber ich bin seiner in wechselndem Grade und zumeist doch nur in trüber Weise inne; er beschäftigt mich, von episodischen Durchbrüchen abgesehen, mehr in den Tiefen meines Wesens als in den Vordergründen des Bewußtseins, oder anders: er bildet eher den wallenden Saum als den Zentralstrang des inneren Geschehens. 34 — So wenig wie die Lust des Genusses nimmt das abgeleitete Gefühl und Urteil der Wertschätzung im Genüsse selbst eine beherrschende Stelle ein. Wir sind uns des Wertes oft bloß negativ bewußt; er kommt lediglich am Anfang und Schluß des Prozesses, beim Auftauchen und Verschwinden des Trägers, zum Vorschein. Unsere persönliche Beziehung zu der Sache gibt sich am deutlichsten v o r und n a c h der aktuellen Einwirkung kund, als bestimmtes oder dumpfes Bedürfnis, als Wunsch und Streben, als Unlust des Mangels, als Lust der vorwegnehmenden Erwartung oder der nachgenießenden Erinnerung. Dieser apperzeptive Objektivismus tritt umso unverkennbarer zutage, je mehr der Genuß sich zu währendem Ver-
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kehr gestaltet. Man denke etwa an das Verhalten des Städters gegenüber ländlicher Natur. Was während der besten Stunden eines Ausfluges den Geist erfüllt, sind nicht das Gefühlspathos und die vagen Totaleindrücke der Natur. Sobald die Erregung des ersten Grußes vorübergerauscht ist, gehen wir beschaulich von Ort zu Ort, wir mustern mit stillem Anteil Mensch und Tier, Pflanze und Stein, Fluß und Berg; alles Erleben scheint in Glanz getaucht und in Güte gehüllt, die festliche Stimmung ist über alles gebreitet, aber nur wie ein unfaßbares Weben, das die bunten Bilderfolgen zusammenhält und einigt. Gleich jedem nachhaltigen, weiter um sich greifenden Affekt bewährt sich auch jede hohe Freude zuletzt weniger in der Vorherrschaft des einen Gedankens und Gefühls, als in der allgemeinen Richtung, die das frohe Ereignis der Phantasie erteilt, den Gemütsdispositionen, die es schafft, vornehmlich aber in der Art, w i e wir unter seinem Einfluß sehen, denken und fühlen, in Form und Rhythmus der seelischen Reihen. Die Freude entfaltet ihre eigentümlichste Kraft gewissermaßen von einem Jenseits der bewußten Vorgänge her, als ihr organisatorisches Prinzip, als durchgehender idealer Grundbaß; sie ist mehr Zustand als Inhalt. Ein großes Glück umgibt uns wie ein ätherisches Element, wir bewegen uns darin frei atmend und gehen unbekümmert den Zufälligkeiten des Alltags nach; wir verschließen uns sogar trüberen Regungen nicht gänzlich, wenn äußere Gelegenheit oder das launige Getriebe der schweifenden Vorstellung sie mit sich führen; man überrascht uns zu Zeiten, wie wir ernsthaft vergnügt einen Trauermarsch pfeifen. Wir erfahren das Glück am tiefsten, wir eignen es uns am innigsten ein, indem wir uns ganz dem Leben und seinen nächsten Darbringungen hingeben. 35 Die Antinomie des Genießens verschärft sich um ein weiteres, wenn psychische Funktionsformen die Träger des Genußwertes sind. Diese Seite unserer Erfahrungen wird nicht bloß gemeinhin von anderen überschattet, sondern sie ist im Bewußtsein gar nicht primär vorhanden. Erst die nachfolgende Erinnerung vermag die Funktion als solche klar aufzufassen. Die unmittelbar begleitende Reflexion gewahrt sie nur auf unvollkommene Weise, von nebenher, aus der Ferne eines abgetrennten zweiten Ich; da sie überdies von geringem praktischen Belang, ja der sicheren Auseinandersetzung mit der Außenwelt eher hinderlich ist, steht ihr eine
6. Der ästhetische Wert der Anschauungs- Illusion
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angeborene, zwangsmäßige Tendenz der Vernachlässigung entgegen. Endlich
gehört
auch
der
seelische
Eigenwert
dem
allgemeinen
Klassentypus zu, der mehr oder minder weit umschriebenen gorie,
die
sich
zieht.
So
eben
gelangen
durch denn
ihren diese
Umfang
Genußfaktoren
schwer zu entschiedener inhaltlicher Darstellung. bedingter geschätzt
ganz
ent-
besonders
Nichts wird un-
und angelegentlicher aufgesucht, als die sub-
jektiven Zustände des Rausches und der hypnotischen Allein
Kate-
der Beachtung
Betäubung.
ihr Reiz entspringt gewiß nicht den wechselnden,
keines-
wegs immer erfreulichen Visionen und Emotionen, die ihren Ablauf bezeichnen; noch auch den oft unmerklich schwachen Grundgefühlen der Gehobenheit oder Dumpfheit; am wenigsten der etwa aufschimmernden Erkenntnis, daß wir berauscht oder betäubt sind. E s fehlt fast allezeit in der Ekstase die intensive Ekstase;
in
der
träumerischen
Gebanntheit
Lust an
ist sie schon
der
durch
die herabgesetzte Gesamt-Energie ausgeschlossen. Und ähnliches gilt f ü r die eigentlichen Funktionswerte. Wir pflegen uns bei eifervoller Denkbetätigung
nicht
verspüren,
wir
mit
daß
an.
Wir
ausdrücklich denken;
freuen
uns
oder des
zu sagen beides
Denkens
und
klingt in
den
es lustvoll doch
nur
Gedanken,
zu leise im
freien Strömen und Verweilen der Gedanken, wenngleich nicht in der Besonderheit dieses oder jenes Gedankens. sich die Bilderlust ohne Umschweif dern. die,
und
Ebenso befriedigt
Seitenblick in den
Bil-
Die natürlichste Art, schauend sich selbst zu genießen, ist sich
schauend
an
die
Dinge
zu
verlieren;
Schauenden ist wesentlich ein unbewußtes.
das
Glück
des
Wir mögen unter un-
gewöhnlichen Verhältnissen geteilten Sinnes dem Wissen um unser Schauen
Raum
geben; eine merkwürdige Variation, wie die
ab-
bildliche Betrachtung sie einführt, mag den Blick mehr als sonst nach
innen
lenken:
erstgegebenen
das
Funktionsbewußtsein
Inhalten vergleichsweise
bleibt
unentwickelt;
neben die
den
Vorherr-
schaft der Reflexion ist ein vereinzeltes und flüchtiges Zwischenspiel.
Darum sind wir j a so leicht geneigt, alles Vergnügen
mimetischer Schöpfung den offenkundigen oder versteckten heiten der Objekte zuzurechnen. reizlosem
an
Schön-
In Wahrheit kann auch bei völlig
Stoffgehalt die reine, naive, nüchtern kalte Anschauung
eines Gemäldes
ästhetischen
Charakter obersten Ranges
besitzen.
W i r verhalten uns dann zur K u n s t genau so wie ein andermal zur sichtbaren N a t u r und wieder ein andermal zum Reich der Phan-
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tasie. Wir durchleben und genießen die Illusion als das, was sie ist, eine Weise bildlichen Daseins, die vom Bezug auf ein Sinnlich-Reales nicht mehr enthält als die alltägliche vorstellende Vergegenwärtigung, und vom Bezug auf die seelische Innerlichkeit nicht mehr als jedwede seelische Leistung. Es reizt uns heute, so und nicht anders zu schauen, in dieser und nur in dieser Form eine Welt zu spiegeln. 86
7. Die biologischen Grundlagen des ästhetischen Illusions- Wertes. Die ästhetischen Eigenwerte psychischer Funktionen erwachsen auf breiter biologischer Grundlage. Die menschliche Natur ist auf ihre typischen Erlebnisse von vornherein eingerichtet; es liegt in ihr ein individuell sehr variables, aber den Hauptlinien nach generelles System angeborener und erworbener Anlagen oder Fähigkeiten, die nach wirklicher Ausübung verlangen. Diese Tendenzen treten so lange nicht fühlbar hervor, als das jeweilige Leben dem Typus im Großen gemäß bleibt, und sie werden oft von den Ansprüchen der praktischen Selbstbehauptung gleichwie den primären Lust-Unlust-Wirkungen der Dinge lange niedergehalten und verdunkelt. Sie können sich jedoch zu klar empfundenen Bedürfnissen verdichten, wenn der Gang der Tage ihnen nicht die normalen Befriedigungen zuträgt; und sie erlangen unter Umständen hinreichende Kraft, um sich sogar gegenüber den widerstreitenden Anforderungen der gemeinen Nützlichkeit und Annehmlichkeit erfolgreich geltend zu machen. Wir schätzen und genießen die entsprechenden Erfahrungen, wir suchen sie auf, wir führen sie durch geeignete Veranstaltung in Spiel und Kunst herbei. J a das lange und tief vorbereitete Erleben wird schließlich auch durch minder adäquate Anlässe und Gegenstände ausgelöst. Die vorgebildete Möglichkeit treibt aus eigener Macht zur Verwirklichung; die Seele, die vergebens der Gelegenheit harrt, ergreift einen beliebigen Vorwand, um sich das geforderte innere Ereignis zu schaffen. Teleologisch betrachtet stellen sich solche Vorgänge als Akte einer sekundären, regulativen Anpassung dar, geboten durch das Unvollkommene einer ersten Angepaßtheit, die der Wandelbarkeit des Lebens nicht gerecht wird. 3 7 Alle Genußwerte sind in gewissem Grade Stimmungswerte; die
7. Die biologischen Grundlagen des ästhetischen Illusions -Wertes
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W e r t e seelischen Erlebens sind es nur in besonders hohem Maße. Als hauptsächliche oder einzige Bedingung des akuten Funktionsbedürfnisses erscheint zunächst die Entbehrung: ungenützte Fähigkeiten melden sich vernehmlich an, ihre aufgespeicherte Potenz will sich entladen. Allein die Überfülle ü b t nicht selten die gleiche Wirkung wie der Mangel; die Gesetze der nachdauernden Reizung und der Gewöhnung bringen es mit sich, d a ß der allzu reichlich dargebotene Stoff das Bedürfnis weckt und mehrt. Beiden Einflüssen arbeiten wieder andere entgegen: wenn im Falle des Zuviel auf die Länge stets Ermüdung und Abstumpfung den Sieg behaupten, so hat andererseits auch anhaltende E n t b e h r u n g den Endeffekt, die Anlage zu verkümmern und (innerhalb der Schranken vitaler Notwendigkeit) das Verlangen abzutöten. Die sekundären Erlebnistendenzen gehen übrigens sowohl auf Inhaltsklassen wie auf Funktionsformen und Gesamtzustände; sie durchlaufen alle Stufen der Allgemeinheit und Besonderung; sie verflechten sich in äußerst beweglichem Wechselspiel und wirken bei der konkreten Bewertung vielfältig zusammen. Wir begehren bald schlechthin anzuschauen, bald sinnlich-leibhaftig anzuschauen; wir sehnen uns nach irgendwelcher Augenweide, oder gerade nach ländlicher Natur, nach festlicher P r a c h t , nach buntem Gewühl; wir wollen starke oder sanfte, klare oder dämmerige, reiche oder einfache, leicht oder schwer erzielbare Eindrücke oder ein Mittleres von all dem. Denn jede typisch menschliche Art des Lebens ist fakultativ wertvoll. 38 Eine weitere Verwicklung ergibt sich aber daraus, daß den verschiedenen Bedürfnissen nach typischen Erfahrungen ein anderes Grundbedürfnis gegenübertritt: ein Trieb zum Atypischen, zur Variation, zur Neuheit. Der Wechsel und die Verbindung von Alt und Neu, ihr antithetisches In- und Auseinander, ist ein Wesenselement alles Lebens. Leben heißt fortgesetzte Anpassung eines Beharrlichen an ein Veränderliches, sei es im Sinne der vorübergehenden Reaktion, sei es in jenem der Verwandlung; gen a u e r : Anpassung eines teils beharrenden, teils veränderlichen Ich an ebensolche Existenzbedingungen. Die psychophysische Aktivität und Passivität bewegt sich unaufhörlich von der Störung eines Gleichgewichtes zu seiner Wiederherstellung, von einem Geschehen durch ein Geschehen zur R u h e ; sie wird geweckt durch ein Neues, sie k n ü p f t das Neue an ein Altes, beseitigt es durch ein Altes
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oder führt selbst ein Neues herauf, das abermals zu einem Alten wird. Schon die einzelnen einheitlichen Akte und Affektionen zeigen diese Doppelseitigkeit. Unser Anschauen, Fühlen, Wollen, Denken hat lebendige Wirklichkeit nur im unmittelbaren Kontakt von Vergangenheit, Gegenwart und Z u k u n f t , in der engsten Beziehung eines Werdenden zu einem Seienden; jeder Inhalt und Zustand ist zugleich Vorgang, jede augenblickliche innere Gegebenheit tendiert zur Dauer und treibt zugleich über sich hinaus. So eignet denn auch den typischen Erlebniskategorien keine abDie menschliche Organisation ist solut starre Vorbestimmtheit. nicht auf eine Anzahl scharf umschriebener Empfänglichkeiten und Leistungen festgelegt, sondern sie scheint in der Plastizität ihrer Anlage zu immer wiederholter Andersgestaltung erschaffen. Der Geist bewahrt in gesunder Verfassung eine schwebende Mittellage zwischen der Abgeschlossenheit fertiger Instinkte und der offenen Zugänglichkeit f ü r das Instinktfremde, eine glückliche Vereinigung von Angepaßtheit und Anpaßbarkeit. Wir sind gewohnt, uns auch mit Ungewohntem abzufinden und neue Gewohnheiten anzunehmen; wir haben die Fähigkeit, Fähigkeiten zu erwerben. Dieses Vermögen aber, das eine aus steter Notdurft erwachsene Ergänzung aller übrigen Vermögen bildet, fordert gleich ihnen sein Maß von Ausübung. Es wirkt in uns ein immer wacher Drang nach neuem Leben, nach Differenzierung, Entwicklung, Erweiterung des Ich, nach Erfüllung seiner unbegrenzten Möglichkeiten, nach seelischen Abenteuern und Experimenten. Über den mannigfachen Trieben baut sich ein allgemeiner Trieb zum Anders auf, freilich auch ein Trieb zum Gleichen, zur vorgezeichneten Bahn. Die beiden komplementären Qualitäten, die allen unseren Erfahrungen tatsächlich zukommen, werden ihrerseits Gegenstand tiefster Bedürfnisse, die abwechselnd vorwalten und zeitweilig unsere Schätzungen bestimmen. 3 9 Die darstellende Kunst kann viele seelische Vermögen ins Spiel bringen, und da sie gemeinhin keine praktische Bedeutung besitzt, darf der Betrachter, unbehindert von näheren Rücksichten, seinem jeweiligen Erlebnisdrange folgen. Von diesem hängt es zunächst ab, ob die Illusion mit ihrem Um- und Nebenher überhaupt bewertet wird oder bloß der Stoff der Darstellung und die Werkform in Rechnung kommen, ob Anschauung, Urteil oder Wille in erster Reihe den Genußwert begründen, ob die Funktionsform, die Gesamt-
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Stimmung oder der Grad der Lebhaftigkeit und Anspannung, der wichtigste Lust-Faktor ist. Der Reiz der reinen Bild-Illusion hat mehrfache Wurzeln: zu dem Typisch-Menschlichen der Anschauung im allgemeinen gesellt sich als auszeichnende Qualifikation die Neuheit der Form; einen spezifischen Trieb zur Illusion vermag erst die Gewöhnung zu pflanzen. Hier greift jedoch eine andere Tatsachenreihe mitwirkend ein: die Erlernung und Einübung des illusionären Auffassens, die apperzeptive Anpassung an die Kunst oder an eine besondere Art von Kunst. Es gibt in unserem Verhalten gegenüber abbildlicher Mimesis gewisse Entwicklungsstufen, deren jeder eine bestimmte Reaktionsweise gemäß ist. Die ersten illusionären Eindrücke sind immer flüchtig aufblitzende oder dämmerbewußte Zufallseindrücke. Ein neues Verfahren malerischer Transposition läßt uns längere Zeit ratlos, sei es, daß wir nur ein unbefriedigend blasses, vages, verworrenes Naturbild empfangen, sei es, daß wir vollends nur bedeutungslose Flecken und Linien sehen; bis wir gelegentlich, das nicht mehr beachtete Werk mit dem Blick beiläufig streifend oder aus träumerischer Dumpfheit heraus von ungefähr das Auge erhebend/ mit einemmal „verstehen", das heißt die gewünschte Illusion erfahren. Die Schauerlebnisse der Schlaftrunkenheit und der Zerstreutheit sind schon vermöge des Übergewichts phänomenaler Inhalte geeignet, eine Brücke zur malerischen Darstellung zu bilden; namentlich die Übergangsregion eines halbtiefen Träumens vermittelt aufs beste zwischen der körperlich-räumlichen und der zweidimensionalen Welt. Die Ekstase und ihre Vorstufen lehren uns das Ding als Erscheinung und das Konterfei der Erscheinung als Ding schauen; im Zwielicht des Geistes stiftet sich der Bund zwischen Natur und Kunst. Die nüchterne Aufmerksamkeit mit ihrer zwangsmäßigen Einstellung auf das Sachliche ist ja der optischen Ähnlichkeit des nachahmenden Werkes gar nicht unmittelbar zugänglich; es muß gewissermaßen erst das Nebengedächtnis der Traumseele mobilisiert werden. Beim Erwachen zu normaler Helle behauptet sich dann eine Disposition für das zugeordnete Sachbild, eine triebhaft vorwegnehmende Hinneigung, die dem Willen des Künstlers entgegenkommt. So bewährt sich die hypnotische Vision als der gemeinsame Mutterboden, der Wahrnehmung und Illusion ungeschieden in sich trägt und die mählich erwachsenden Sonderfunktionen innerlichst verbindet. 40 P a p , Kunst und Illusion.
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Das nächste Problem der Anpassung besteht darin, den Zufall zu beherrschen, das Schwankende willentlich festzuhalten. Dies gelingt nicht sofort. Die mimetische Wirkungskraft muß sich öfters in glücklichen Momenten erprobt haben, der Funke muß wieder und wieder unversehens übergesprungen sein, bevor die lebendige Fühlung dem wachen Sinn unverlierbar erhalten bleibt. Die werdende Illusion entzieht sich immer aufs neue dem sicheren Griff, sie zerrinnt spukhaft in nichts oder sie verbleicht zur dürftigen Vorstellung, zur mühsamen Entzifferung einer Zeichensprache. Das vorläufige Ergebnis ist häufig ein unfreiwillig-freiwilliges Versinken oder Wiederversinken in visionäre Gebanntheit. Der Gesamt-Zustand richtet sich auf das einzelne Vorkommnis ein. Wir ziehen uns gleichsam vor dem unüberwindlichen Hemmnis mehr und mehr in uns selbst zurück; wir lassen das Ungewisse des ersten Bildes auf sich beruhen und ergeben uns in eine Anerkennung des Wunders, eine Bejahung des Rätsels, wie sie der Ekstase natürlicher ist als der normalen Bewußtseinslage. Das biologische Strebensziel des Gleichgewichtes wird auf die zweitbeste Art erreicht: der Geist umgeht die gestellte Aufgabe, er findet sich mit der nicht zu korrigierenden Unvollkommenheit seines Könnens schlecht und recht ab. Dieser Vorgang, der mit unter den Begriff der sekundären Anpassung fällt, findet im Kampf der Lebewesen mit ihrer Umgebung immer dann statt, wenn sie ein Andringendes weder entschieden bewältigen* noch erfolgreich vermeiden oder abstoßen kennen. Gleichwie eine physische Umklammerung, die jedwedes Flucht- und Abwehrbemühen mit sanftem, aber unnachgiebigem Druck zurückweist, manche Tiere in katapiektische Starre versetzt: so übt alles, was die begreifende Tätigkeit zugleich gebieterisch aufruft und gewaltsam niederhält, alles Geheimnisvoll-Unfaßbare, eine hypnotisierende Macht. Der Wille zur Erkenntnis erschöpft sich in haltlosen Anläufen, in fruchtloser Anspannung; schließlich flüchtet er in jene Region, wo das Rätsel seinen Stachel verliert, wo die Frage erstirbt, wo der halb entwickelte Eindruck aufhört, seelisch daseinsuntauglich zu sein. 41 Sobald nach hinreichender Schulung die abbildliche Anschauung sich regelmäßig und gehorsam einstellt, empfinden wir vorerst nur um so klarer die Seltsamkeit ihres Wesens. Die Beziehung zum Altbekannten, das Ähnlich im Anders, zwingt sich dem Urteil
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übermächtig auf. Das eigentliche Wertzentrum fällt in die Begleitungen der Illusion: die Freude am Vergleich, am Spiel mit den heterogenen Eindrücken, an der Fülle und Lebhaftigkeit der inneren Vorgänge, hat die Führung. Es ist die primitivste Weise des hellwachen Genießens, diejenige, über die der schlichte und ungepflegte Kunstsinn niemals hinausgelangt. Im ferneren Stufengang der ästhetischen Bildung sammelt sich die mimetische Wirkung immer mehr im reinen, ruhigen, unreflektierten Schauen. Das Entscheidende ist jetzt die eigenartige Nuance, die Variation. Der unvergleichliche Neuheitswert der Illusion gründet sich zum guten Teil darauf, daß in ihr nicht ein Äußerlich-Gegenständliches, sondern die Anschauungsfunktion als solche abgewandelt erscheint, daß sie die Kategorien des anschaulichen Welt-Daseins verschiebt und vermehrt. Die abbildliche Darstellung ist mehr als jede Sinnenwirklichkeit danach angetan, die beiden antagonistischen Grundbedürfnisse nach typischer und nach atypischer Erfahrung an ihrem gemeinsamen Kernpunkt zu fassen und In ihrer letzten Tiefe zu befriedigen. Sie erfüllt die erlesene Mission aller Kunst, neue Formen des Seelenlebens zu schaffen, neue Reiche und Horizonte zu erschließen; nicht minder aber den zweiten, höheren Beruf der Kunst, dem Alten neue Werte zu leihen, das Graugewordene zauberhaft zu verjüngen. Sie rührt an das Innerste unserer alltäglichen Existenz, indem sie die Schranken der Alltäglichkeit sprengt. Die Mittel malerisch-bildnerischer Vorführung sind so unendlich zahlreicher Modifikationen fähig, daß beinahe jedes wahrhaft originale Werk seine eigene illusionistische Methode hat. Darum wird es selbst bei lebenlangem Umgang mit der Kunst niemals dahin kommen, daß die Illusion ihren Variationswert gänzlich, dauernd und unwiederbringlich einbüßt. Andererseits verfällt auch sie in wachsendem Maße dem Gesetz der Gewohnheit: sie wird typisches Erlebnis und damit Ziel einer elementaren Erlebnistendenz. J e mehr der Vertrautheitscharakter vorwiegt, desto nachbarlicher reiht sich das abbildliche Schauen neben Wahrnehmung und Vorstellung als gleichgeordnete Form. Es tritt nicht länger durch Energie und Reichtum heraus; es ist selbstverständlich wie das Sehen und hat gleich diesem den Wert des Selbstverständlichen.. Das Bewußtsein des Genießenden bleibt nun4*
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mehr durchaus der Sache zugewandt; der Funktionsdrang entlädt sich in wahlloser Stoffbewältigung. Die also geläufig gewordene Illusion ist aber mit den verwandten Vorgängen auch durch real-zeitliche Beziehungen verbunden. Das gemeine Anschauungsleben pendelt unaufhörlich zwischen seinen beiden Kategorien; Wahrnehmungen gehen in die Vorstellung über, Vorstellungen, die uns stark beschäftigen, streben zur Wahrnehmung hin, sie wecken den Wunsch nach ihr, vielleicht den verwirklichenden Willen. Bei größeren Inhaltskomplexen und ausgedehntem Prozeß führt nun der Übergang durch ein Stadium, das eine ausgesprochene Bereitschaft für die illusionäre Vergegenwärtigung zeigt. Wenn wir von einer Lustreise heimkehren, mit Seheindrücken gesättigt, ja übersättigt, so fühlen wir uns immer noch fähig und gestimmt, mitgebrachte Photographien eifrig zu durchmustern; und wenn wir endlich auch dieser Betrachtung müde sind, so vergnügt es uns gleichwohl, die empfangenen Bilder noch eine Frist lang in der Erinnerung weiter zu verarbeiten. Umgekehrt mag es wohl begegnen, daß sprachliche Beschreibung oder malerische Darstellung einer Gegend, einer Szenerie, einer Naturerscheinung, uns erst dazu bewegt, den sinnlichen Anblick aufzusuchen oder uns eine Seite der überall sichtbaren Wirklichkeit erst gewahren und schätzen lehrt. Und nicht anders im Wechselspiel der allgemeinen, von der Art der Objekte unabhängigen Funktionstendenzen. Das Sehbedürfnis, das Illusions-, das Phantasiebedürfnis, sie verdrängen einander nach Maßgabe ihrer Befriedigung, in freiem An- und Abklingen, einem Wellengang von enger oder weiter Periodizität. Mit dieser Gesetzmäßigkeit verflicht sich eine zweite: die Proportionalität zwischen der Stärke des Anschauungsdranges und dem Grade der geforderten Anschauungsfrische, so zwar, daß das stärkere Verlangen einer höheren kategorialen Stufe zutreibt. Die leidenschaftliche Sehnsucht will sehen, die sacht aufkeimende begnügt sich mit ihren eigenen Bildschöpfungen, das wachsende Begehren liebt Illusion. Desgleichen können abstoßende Nebentendenzen, deren Kraft mit der Annäherung an den vollen Augenschein zunimmt, eine aufund absteigende Entwicklungsreihe des Wertverhaltens mit begründen. In solchem Gegeneinander der Hinneigungen stellt die Abbildlichkeit zeitweilig eine günstigste Bilanz, eine Optimallage dar; die Blässe des Gedächtnisses würde mir nicht genügen, die gegenwärtige Realität mich zu grell anmuten. Die Kunst- Illusion
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bedeutet also vielfach die Verselbständigung oder Integration einer natürlichen Durchgangsphase; sie kommt einer spezifischen Empfänglichkeit entgegen; sie füllt einen gegebenen Platz aufs beste aus. Sie ist nicht nur typisches Erlebnis, sondern sie nimmt auch ihre typische Stellung im Leben ein; sie bewährt sich der Folge wie der Ordnung nach als Zwischenform. Die Autonomie ihres Wertes wird dadurch nicht beeinträchtigt. Die Tatsache, daß der Wille zur Kunst dem Willen zur Natur periodisch vorangeht und nachfolgt, besagt keineswegs, daß der Kunstgenuß bloß Vorund Nachgenuß im Sinne des Surrogates ist, genauer: daß wir bloß darum zuweilen die Kunst vorziehen, weil wir der Natur gegenüber temporär unempfindlich, abgestumpft, aufnahmsuntauglich sind. Die Illusion kann uns, solange sie währt, absolut befriedigen, und der Anschauungstrieb an sich zielt weder auf Sinnlichkeit noch auf ihr Gegenteil ab, so gewiß es im Ganzen des seelischen Geschehens schlechthin keine festen Richtpunkte gibt. 42 Das schließt nicht aus, daß die altvertraute mimetische Wirkung seltener und unregelmäßiger, als die vom ungebrochenen Glanz der Neuheit umwobene, reinen Eigenwert besitzt. Die Gewöhnung mündet öfter und öfter in vorübergehende Verhärtung; wie beim alltäglichen Sehen, so vermag uns beim abbildlichen Schauen nur noch das sachlich Interessante zu fesseln. Darstellungen, die sich völlig traditioneller Methoden bedienen, treten zumeist als neutrale Vermittlungen auf und kommen insofern der lediglich mitteilenden Zeichensprache gleich. Die Zeichenwirkung selbst kann übrigens die nämliche Entwicklung durchmachen wie die Illusion. Auch das Lesen hat anfänglich einen ausgeprägten Funktionswert; man genießt es halb spielerisch durch, als eine neue, wunderbare Weise der geistigen Tätigkeit, des Verkehrs und der Kenntnisnahme. An der Würdigung des liebevollen Bemühens, das namentlich in Frühzeiten literarischer Bildung der äußeren Buchgestalt gewidmet wird, ist mindestens ein Rest jener naiven Lesefreudigkeit gewöhnlich beteiligt. Der Novize des Bücherkultus unterliegt sogar einer Hypnose der Lektüre, in der das Schriftbild mit dem Lautbild und dem Wortsinn zu mystischer Einheit verschmilzt, ähnlich wie in der träumerisch-visionären Illusion mitunter das Werkbild und das Naturbild sich ineinander schieben. Später treiben wir freilich das Lesen, das der Form nach nur äußerst geringfügige Variationen zuläßt, kaum jemals noch um
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seinetwillen. Ist aber ein künstlerisches Überlieferungssystem einmal annähernd so starr und konventionell geworden wie Druck und Schrift, dann hat der ästhetische Anpassungsprozeß bis auf weiteres sein Ende erreicht, um erst bei Bekanntschaft mit einer neuen darstellerischen Technik vollständig oder in abgekürzter Kurve von vorne zu beginnen, vorausgesetzt, daß wir dann noch geneigt sind, auf Neues in diesem Bereiche einzugehen. Die vollzogene relative Abstumpfung hat nichts gemein mit Desillusionierung. Die Illusion kommt zustande, und zwar noch prompter als vordem; bloß ihr Reizwert ist stärkeren Schwankungen unterworfen und psychologisch sehr viel schwerer bestimmbar. Vollends trifft es nicht zu, daß die Illusionsfähigkeit überhaupt die Tendenz hat, stetig abzunehmen, und daß der naive oder ungeschulte Sinn leichter zu wahrer Illusion gelangt als der verfeinerte und gereifte. Vielmehr macht uns gerade die künstlerische und allgemein geistige Kultur für neue abbildliche Effekte empfänglich; Illusion ist zum guten Teil ein Kulturprodukt. Der Ungebildete findet manche malerische Darbietungen unverständlich, die auf das erzogene Anschauungsvermögen die kräftigste Suggestion ausüben. Allerdings wird hinwiederum der Gebildete von gewissen rohen Schildereien (Zeichnungen der Wilden, Bilderbücher für Kinder) nicht den gleichen Eindruck gewinnen wie diejenigen, denen sie zugedacht sind. Es bedarf anderer Mittel, nicht eines größeren Aufwandes an Mitteln, um auf ihn zu wirken; wir sind wählerischer als das Kind und der Wilde, unser Schauen macht reichere und schärfere Unterscheidungen zwischen Gelungenem und Verfehltem, aber es reagiert auf das Gelungene ebenso pünktlich. Man kann nicht einmal sagen, daß der Naive mehr Lust an der Illusion h a t ; seine Lust ist nur unermüdlicher, und sie tritt gleichsam greifbarer an die Oberfläche der Seele. Zudem verwundert er sich mehr über die Illusion; er täuscht sich leichter über die Natur und die Grundlagen des Erlebnisses, über das Verhältnis zur Wirklichkeit und zu den Sinnen; er glaubt unbedenklicher an Augentrug, wenn nicht ah Spuk und Zauberei. Der persönliche Bildungsgang des Kunstfreundes kann übrigens auch in bezug auf die Illusion erhebliche Besonderheiten aufweisen. Der erste natürliche Verlauf kann sich in umgekehrter Folge wiederholen. Die Kunst, die lange nichts als Vermittlerin interessanter Dingbilder war, wird plötzlich eine Quelle ungeahnter
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Einsichten und Lustgefühle. Der reife Geist gewahrt das Problematische im scheinbar Selbstverständlichen; er findet im Doppelspiel mit Illusion und Desillusionierung die Genugtuung der Freiheit, des ruhigen Erhabenseins über den Zwang der Sinnenwelt. Vielleicht nähert sich dann die äußerste Verfeinerung wieder den Ursprüngen; wir kehren mit klarem Wollen zu den primitiven Eindrücken des Dämmerzustandes und des flüchtigen Augenblickes zurück, oder wir gefallen uns in Zwitterstimmungen eines reflexiv bewußten Träumens. Endlich leitet die träumerische Ekstase in die seherische über, die uns von dem konkreten Bilde zur schauenden Erkenntnis universeller Phänomenalität erhebt — eine letzte Anpassung, vermöge deren unser gesamter Weltbegriff sich auf die illusionäre Erfahrung abstimmt. Den biologischen Voraussetzungen ihres ästhetischen Wertes entsprechen die biologischen Wirkungen der Kunst-Illusion. Jede: Befriedigung eines sekundären Erlebnisdranges greift mittelbar in das primäre Zweckleben ein. Indem wir eine nützliche Fähigkeit spielend ausüben, üben wir sie zugleich ein; indem wir eine entbehrliche Fähigkeit spielend erwerben, pflegen wir die allgemeine Fähigkeit des Neu-Erlernens. Wenn die nachahmende Kunst die menschliche Schaufunktion frei weiterbildet, so erhält und steigert sie eben damit deren latente Bildsamkeit und hilft von ihrer Seite her die Seele zu steter Entwicklungsgeschmeidigkeit erziehen. Allein auch im Einzelnen kann die an sich zwecklose Tätigkeit a posteriori zweckdienlich werden. Durch den Aufmerksamkeitswert, den die Illusion unterschiedslos allen Dingen verleiht, schärft sie den Blick f ü r Tatsachen, die der entfernteren Nutzbarkeit nicht entbehren, und schafft einen Überschuß von Leistungsmöglichkeiten, der der Orientierung im Realen zugute kommt. Abermals durchdringen sich hier aufs innigste die vitalen Prinzipien der Angepaßtheit und der Anpaßbarkeit. Eine andere biologische Dauerwirkung beruht auf der entrückenden Macht abbildlicher Wiedergabe. Die träumerische Versenkung in die Illusion nährt die Fähigkeit und Lust zu träumen. Die Ekstase h a t aber nicht nur Erlebniswert, sondern auch Entdeckungswert; wir empfangen in ihr nicht nur ästhetische, sondern auch objektiv richtige und praktisch wichtige Anregungen zum erstenmal. Gar mancher fruchtbare Gedanke wächst aus stillem Dämmern hervor; die nüchtern-wache Erkenntnis holt sich oft
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die Keime ihrer besten Gehalte in den dunklen Gründen und Winkeln des Bewußtseins. Oder vielmehr: alles wahrhaft neue Wissen und Können wird aus einem solchen Regreß in die untersten Tiefen, in die ungeschiedene Einheit der Ekstase geboren; einer geistigen Involution, die den kräftigeren Anlauf und höheren Aufschwung der Entwicklung vorbereitet. Und diesen Übergängen selbst sind die Bedingungen der Abbildlichkeit gleichfalls in hervorragendem Maße günstig. Es ist vielleicht die weitreichendste teleologische Bedeutung der malerischen Illusion, daß sie eine rege Fühlung zwischen dem Dämmerleben und dem Tagesleben der Seele anbahnt und bewahrt, jenes stete Hin- und Widerfluten, das sich im Großen unserer Existenz so überaus segensreich erweist, und dessen willentliche Beherrschung ein oberstes Ziel persönlichen Vollkommenheits-Strebens darstellt. Auf ähnliche Weise üben wir im Spiel mit der impressionären Illusion die unschätzbare Fertigkeit, flüchtige Eingebungen zu bannen und klärend zu entfalten. Dem Gewinn stehen jedoch überall Verluste gegenüber. Das durch die Kunst geweckte Interesse für das Formale und Phänomenale muß, zum Übermaß gediehen und in die Naturanschauung übertragen, die sichere Sachwahrnehmung behindern. Vor allem mag je nach Umständen das stets erneute Schwelgen in den Mysterien der Kunst eine Spielund Traumseligkeit fördern, die den einfacheren Forderungen des Alltags abträglich ist und einer allseitigen Kultur der Geisteskräfte verhängnisvoll wird.
8. Die naturlichen Analoga der künstlerisch erzeugten Anschauungs-Illusion. Die Kunst-Illusion steht nicht nur in mehrfachen Zusammenhängen mit dem natürlichen Leben; dieses selbst enthält zahlreiche Typen von Schaueindrücken, die der abbildlichen Wirkung im Allgemeinsten ihres Wesens gleichartig sind und ihr als n a t ü r liche Illusionen verwandtschaftlich an die Seite treten. Schon frühzeitig erkannte man die nahe Analogie zwischen der Welt der Malerei und jenen irrealen, subjektiv wandelbaren Gebilden, die wir in chaotisches Wolkengeschiebe, in verwittertes Fels- und Mauerwerk, in feuchtfleckige und mörtelbeworfene Wände,
8. Natürliche Analoga der künstlerisch erzeugten Anschauungs-Illusion
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in unregelmäßige Musterungen verschiedenster Zugehörigkeit, bald unwillkürlich bald frei versuchend hineinschauen. Dieselbe mit keinerlei Urteilstäuschung verbundene Vertauschung der Bildinhalte findet bei anderen, noch gewöhnlicheren Anlässen statt. So oft wir einen Fremden erblicken, der einem Bekannten ähnelt, haben wir die ausgesprochen illusionäre Anschauung dieses Bekannten — eine Illusion, die zumeist von der Wirklichkeit im Aufkeimen erstickt wird, die aber auch zäh beharren und ständig wiederkehren kann. Entsprechend der Zwischenstellung aller Illusion im Auf und Ab des Sinnenlebens, begegnen derartige Subjektivismen zumal dann, wenn wir in jüngstvergangener Zeit mit einer Person viel verkehrt, in einer Umgebung uns lange aufgehalten haben, oder wenn etwas unsere Phantasie anhaltend beschäftigt, wenn wir es zu sehen wünschen und erwarten; wir finden die betreffenden Objekte überall gleich Vexierphantomen vor. Hypnotisch-träumerische Stimmung begünstigt die Vertauschung. Übrigens bedarf es nicht einmal eines äußeren Anhalts; im Dunkel oder schon bei momentanem Augenschluß tauchen zuweilen (unter normalen so gut wie abnormalen Bedingungen) unwirkliche Gestaltungen mit nahezu halluzinatorischer Frische vor uns auf. 4 3 Doch sogar im ganz regulären, auf unmittelbares Erkennen gerichteten und von der Sprache recht eigentlich als „Sehen" bezeichneten Gebrauch des Auges fehlt es nicht an Seitenstücken zu dem, was wir beim Anblick von Gemälden und Skulpturen erfahren. Gar häufig stellen sich uns Dinge und Geschehnisse in sichtbaren Begleitspuren oder Reflexen von illusionistisch wirkender Ähnlichkeit der Erscheinung dar. Ist es unzulässig, das von einem guten Planspiegel aufgefangene optische Bild dem malerischen Abbild äquivalent zu setzen, so hat hingegen das Schattenbild besseren Anspruch, als Vergleichsbeispiel herangezogen zu werden. Den nämlichen Dienst wie der Schlagschatten leistet freilich der Widerschein eines matten oder gleichmäßig getrübten Spiegels, der mit der Deutlichkeit der Formen auch die stereoskopische Räumigkeit verwischt. In sanftbewegtem Wasser oder in Pfützen, in blank gefirnißten Holztüren und Tischplatten, in geglättetem, aber nicht poliertem Metall schauen wir die Wirklichkeit als eine Art farbigen Schattenspiels. Andererseits entsinnlicht sich oft die Natur, indem sie sich halb verbirgt. Was der Blick durch unvollkommen transparente Medien, dunsterfüllte Atmosphäre, feuchtes
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oder betautes Fensterglas, dünnes Gewebe u. dgl. gibt, ist formalpsychologisch beurteilt nur noch Illusion, zuäußerst nur noch Vorstellung; auch die Betrachtung bei schwachem oder ungünstigem Licht verliert mehr und mehr den Charakter des Sehens. Unsere zeitweilige Freude an Nebel und Halbdunkel gilt gewöhnlich entweder den sanfteren, zu visionärer Träumerei anregenden Lichtempfindungen oder aber einer herabgemilderten, zur Illusion gebrochenen Anschaulichkeit. Ähnliches bewirkt ferner eine halb anschmiegsame Einhüllung oder Verschleierung, die die Form nicht grob entstellt. Wir erkennen den menschlichen Leib illusionär unter den Gewändern, das Knochengerüst und die Muskeln unter der Haut- und Fetthülle. In dieser ganzen Klasse von Erlebnissen geschieht es wohl noch leichter als in der echten Wahrnehmung, daß das Geschaute der Wirklichkeit nicht entspricht. Allein das falsche Bild unterscheidet sich qualitativ nicht von dem richtigen, das spielend oder zweifelnd entworfene nicht von dem für wahr gehaltenen; wenn wir im Nebel einen Baumstrunk bald als solchen bald als menschliche Gestalt auffassen, so wechseln bloß die Inhalte ab. Die reale Gegenwart und ihre Gewißheit begründen nicht die Sinnlichkeit, so wenig wie Irrealität und Negation sie aufheben. 44 Man darf weitergehen. Die natürliche Illusion ist eher Regel als Ausnahme. Das sogenannte Sehen erstreckt sich fast immer auf vieles, was streng genommen zu sehen nicht mehr möglich ist. Alle entfernteren Dinge, die außerhalb der Tragweite binokularer Tiefenempfindung liegen, sind uns wieder nur als stofflosluftige Schatten gegeben. Namentlich aber: schon die einseitige Betrachtung von festem Orte aus gewinnt auf die Dauer stets einen merklichen Stich ins Illusionäre. Die Schattenhaftigkeit der Ferne ergreift nähere und nähere Zonen, je unverrückter das Auge an unbewegten Objekten haftet. Eine extrem enge Abgrenzung der Sphäre wirklicher Sichtbarkeit könnte ergeben, daß wir Formen mit lokal fixiertem Organ überhaupt nicht sinnlich aufzufassen vermögen, daß die natürliche Plastik erst dann eine vollkommene wird, wenn wir uns gegen die Dinge hin und um sie herum bewegen. Dazu kommt es vergleichsweise selten; gemeinhin schaffen wir uns auf abgekürztem Wege, aus dem jetzt und hier verfügbaren Material, ein minder frisches, aber das Erkenntnisinteresse befriedigendes Bild. Die Zwischenstellung der Illusion verleugnet
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sich nirgends: von dem Eindruck einer in Dunst, Dämmerung oder Ferne halb verschwimmenden Landschaft führt eine geschlossene Skala nach oben zu ungebrochener Sinnlichkeit, nach unten zur ahnend-erratenden Phantasie; denn das g a n z Ferne, Dunkle, Trübe, hat höchstens noch Zeichenwert, assoziativen Andeutungsund Anregungswert. Bei freiem Ausblick ins Unendliche liegen die drei Reiche der Anschauung räumlich angeordnet und ausgebreitet mit fließenden Grenzen vor uns da. Und die räumliche Folge wird zur zeitlichen. Wir nähern uns dem unbestimmten Etwas dort am Horizont, das unsere Achtsamkeit fesselt, weil wir wissen, daß es nur dieses uns wohlbekannte Ding sein kann; wir treten damit aus der Zone der Symbolik in die der Illusion und endlich des Augenscheins; wir entfernen uns, wiederholt den Blick wendend, und messen geistig wie leiblich den gleichen Gang zurück. Nicht anders ergeht es uns, wo Nebel oder Dunkelheit allmählich eintreten und schwinden. Gerade dieser unmittelbare empirische Zusammenhang der Funktionsstufen und die Eignung der unteren, die oberste praktisch zu ersetzen, legt die Identifikation besonders nahe: wir glauben überall im gleichen Sinne schlechthin wahrzunehmen. 45 Gewisse individuelle Eigentümlichkeiten des Sehorgans können den illusionären Charakter des Fern- und Ruhebildes verstärken. Für den Kurzsichtigen, den Astigmatischen, der jeweils nur einen kleinen Umkreis wahrhaft sehend beherrscht, erweitert sich das Gebiet der natürlichen Illusion. Vollends lebt der Einäugige, dem die stereoskopischen Tiefenwerte fehlen und der zunächst auf die geringen Hilfen der Akkommodations- und Konvergenzunterschiede angewiesen ist, beinahe in einer zweidimensionalen Schattenwelt, solange nicht die Bildverschiebungen im bewegten Auge die für das ruhende Doppelauge bestehenden ersetzen.4® In den meisten dieser Fälle des natürlichen Lebens beruht die Unsinnlichkeit darauf, daß die Anschauung, ins Einzelne strebend, über die sichtbaren Formtatsachen hinausgeht, daß wir uns mit einem mehr oder minder undeutlichen, verwischten, armen Bilde nicht begnügen, sondern zu hinreichend bestimmten und gesättigten Inhalten vorschreiten. Genaue Vertrautheit mit der Sache und ihrem Gattungstypus gleichwie mit durchgängigen optischen Verhältnissen unserer Umgebung gestatten auch bei großer Dürftigkeit der sensorischen Anhalte eine zuverlässige illusionäre Auf-
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fassung. Dazu tritt ebenso wie in der Kunstaufnahme die spezifische funktionelle Einübung. Dem Sohne eines Nebellandes gelingt es besser als dem Südländer, sich im Nebel anschaulich zu orientieren; der Feldbewohner ist befähigter als der Städter, schauend die Weite zu durchdringen, der Arzt befähigter als der Laie, verborgene Leibesbeschaffenheiten in äußeren Reflexen zu beobachten. Solch eine erweiterte Kenntnisnahme muß nicht stattfinden; wir müssen überhaupt nicht auf Dinge und Formen achten. Sämtliche Voraussetzungen der natürlichen Illusion sind auch wieder danach angetan, die E r s c h e i n u n g mehr als sonst im Geiste hervortreten zu lassen; so zwar, daß die erste Wirkung vorzugsweise durch Bekanntheit, die zweite durch Unbekanntheit der Gegenstände unterstützt wird. Der Schlagschatten, der eine treu nachahmende Silhouette hinlegt, bringt damit zugleich die Umrißlinie des Urbildes der sicheren Erkenntnis nahe. In Halbdunkel, Nebel oder großer Entfernung sind Umrisse, Perspektive und Farbenwerte leichter feststellbar als unter anderen, der scharfen Sachwahrnehmung günstigeren Umständen. Auch das gewöhnliche Sehen von festem Orte aus schweift häufiger als das freibewegliche vom Dinge zur Erscheinung ab. Angesichts ungewohnter, verworrener oder regelloser Bildungen gelangt der Ruhende von vornherein nicht über den phänomenalen Eindruck hinaus: fremdartige örtlichkeiten, seltene Beleuchtungen, die unförmigen Anhäufungen eines Felsgebirges, zeigen die Natur als sinnloses (übrigens oft anziehendes) Licht- und Farbenspiel. Denselben Einfluß haben schließlich jene Defekte des Organs; dem Kurzsichtigen z. B. bieten sich die Hauptwerte der Erscheinung ungesuchter und bequemer dar als dem Sehtüchtigen. Der typische Fortgang der Schaufunktion, der eine stammes- und individualgeschichtliche Entwicklung stets aufs neue rekapituliert, wird durch die betreffenden Faktoren gehemmt, verlangsamt und eben dadurch klarer auseinandergelegt. Dauernd behauptet sich das Erscheinungsbild, wenn die Anordnung und Gestaltung der Dinge ein Gemenge von Hell und Dunkel, von Glanzstellen, Farbenreflexen, undeutlichen Spiegelungen schafft, das der Formwahrnehmung unüberwindliche Schwierigkeiten entgegensetzt. Das gleiche widerfährt uns, wenn wir durchscheinende oder stark reflektierende Substanzen, wie Nebel, Wasser, Feuer, Glühendes, für sich betrachten. Nehmen solche Gebilde nur einen Teil des
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Gesichtsfeldes ein, so erblicken wir sie zwar im kubischen Raum lokalisiert, doch zweidimensional ausgedehnt, ohne Scheidung von Eigenfarbe und Licht. Überall bewährt sich die enge Beziehung der reinen Erscheinungsschau zur Ekstase; die Begünstigungen der einen sind die der anderen; Nebel, Dämmerung, Ferne, Wasserund Feuergewoge sind allesamt überaus geeignet, den lang Verweilenden hypnotisch zu bannen. 47 Die stärker ins Bewußtsein fallende Erscheinung lenkt den Geist auch auf die phänomenale Ähnlichkeit zwischen der Körperwelt und ihrer malerischen Nachahmung hin. Ferne Berge, Städte, Inseln scheinen gewissermaßen in die Luft gezeichnet, in dämmerige Trübe getauchte Dinge wirken beinahe wie gemalt. Wenn wir illusionskräftige Gemälde als natürlich rühmen, so nennen wir umgekehrt die zur Illusion abgeblaßte Natur malerisch. Aus dem gleichen Grunde kann der Künstler selbst aus den Bedingungen der nichtkünstlerischen Illusion indirekten Nutzen ziehen. Der Schatten mag einer primitiven zeichnerischen Technik ohneweiters die Vorlage liefern. Einen matten Schwarzspiegel gebrauchten früher die Maler als Hilfsmittel der ebenen Übertragung. Die dunstige Atmosphäre der Meeresufer hat sich wiederholt im Gange der Kunstgeschichte dem Fortschritt des malerischen Illusionismus förderlich erwiesen (Venedig, Holland). Sogar Kurzsichtigkeit dürfte nach dieser Richtung gelegentlich Vorteile gewähren, obgleich dann die feinere Wiedergabe der Erscheinung doch nur durch mancherlei hinzutretende Mittel empirischer Ergänzung oder durch zeitweise Benutzung korrigierender Brillen gelingt. Auch der vollkommen sehtüchtige Maler mustert zuweilen bei der Arbeit nach der Natur das Urbild mit halb zugekniffenen Augen oder bloß mit e i n e m Auge. Die positive Bedeutung jener Gebrechen ist eine noch größere, wenn sie in reifem Alter plötzlich auftreten. Die Tatsache, daß die erworbene Zuordnung der sensorischen Reize zum Form- und Dingbilde mit einemmal gestört ist, die Anstrengung, den zerrissenen Zusammenhang wieder herzustellen, hebt den sonst automatisch-unbewußt verlaufenden Prozeß in eine hellere Region. Gezwungen, das Übel an der Wurzel aufzusuchen, gehen wir triebhaft auf die Erscheinung zurück; sie drängt sich, da die natürliche Fortleitung öfter und öfter unterbleibt, der Aufmerksamkeit als verselbständigtes Urstadium der Anschauung unabweisbar auf; wir sind in die Kind-
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heit des Gesichtsinnes versetzt und müssen von neuem mit dem beginnen, was wir längst ignorieren gelernt hatten. Gleichwohl muß man sich hüten, die Wichtigkeit derartiger Momente für die Kunst zu überschätzen und etwa neue illusionistische Richtungen wesentlich darauf zurückzuführen, daß ihre Urheber die Formwerte nur mit unzureichender Schärfe wahrnehmen. Die geistigen Einflüsse leiblicher Besonderheiten gestalten sich je nach der Persönlichkeit sehr verschieden. Wessen Schauinteresse a priori durchaus sachlich-analytisch gerichtet ist, dem wird Kurzsichtigkeit den Anlaß und die Möglichkeit geben, jedes Ding um so schärfer aus nächster Distanz auf seine kleinen Einzelheiten zu prüfen; wenn nicht etwa eben die hartnäckige Gewohnheit, das Auge dicht an die Dinge heranzubringen, die Mißbildung adaptiv verursacht hat. Die Hauptquelle phänomenaler Eindrücke und die vornehmste Vermittlung zwischen Natur und Kunst bleibt die träumerische Ekstase. Die natürliche und die Kunst-Illusion können sich vereinigen. Ein Gemälde ist denselben Veränderungen des Aspekts ausgesetzt wie andere Dinge; es verfällt den umformenden Kräften der Natur, es wird halb und halb Naturprodukt. Die Folgen sind allerdings fallweise verschieden. Ebenso wie im impressionären und visionären Kunst-Schauen kommt es darauf an, ob die Verwischung des Bildes mehr illusionsstörende oder mehr illusionserregende Elemente beseitigt. Manche Porträts üben gerade in dämmeriger Beleuchtung eine fast gespenstische Wirkung aus. Viele Kunstfreunde lieben es, Gemälde mit zwinkernden Augen oder einäugig durch ein Rohr zu betrachten. Die nämlichen Praktiken, die der Natur das Geheimnis der Erscheinung abgewinnen sollen, leisten, auf das Kunstwerk angewendet, den anderen Dienst, die Formauffassung zu begünstigen. Hierbei wird der Regel nach nicht sowohl die anschauliche Frische gesteigert, als das Zustandekommen der Illusion erleichtert; das erstere geschieht lediglich dort, wo die veränderten Bedingungen die phänomenale Ähnlichkeit positiv erhöhen, wo z. B. ein gemaltes Helldunkel sich mit wirklichem Helldunkel begegnet. Sinnestäuschung hat auch dann niemals statt, da man ja überhaupt nicht mehr sinnlich sieht, weder richtig noch falsch; die Kunst-Illusion ist nur der natürlichen Illusion angeglichen, was allerdings gelegentlich Urteilstäuschung veranlaßt: wenn wir in unbekannten finsteren Räumen Porträts antreffen, so halten wir sie wohl für Wirklichkeit. — In anderen Fällen aber wirken
8. Natürliche Analoga der künstlerisch erzeugten Anschauungs-Illusion.
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jene Naturfaktoren hauptsächlich hemmend, so daß wir die zunächst verhinderte Illusion erst durch eine besondere Anpassung erreichen müssen. Unvorteilhaft angebrachte oder beleuchtete, schlecht erhaltene, nachgedunkelte, mit trübem Firnis bedeckte Malereien wecken häufig gleichsam eine Illusion zweiter Ordnung. Das mag ästhetisch ein Minus oder ein Plus bedeuten. Der zauberhafte Reiz, den alte Gemälde als solche für zahlreiche Personen besitzen, geht vornehmlich von einer Art potenzierter Entsinnlichung aus. Diesen Eindruck sucht ein raffinierter Archaismus, der das verwitterte, vergilbte, matte, dunkle Aussehen alter Denkmäler nachbildet, bewußt zu erneuern; er nimmt die natürliche Illusion in die Kunst-Illusion auf. Aus der gleichen Wurzel wie die Neigung für das verfallene Werk stammt diejenige für das unfertige Werk, für Skizzen oder Skizzenhaftigkeit. Der hinreichend suggestive Entwurf ist ein vorwegnehmendes Abbild des Abbildes, er gewährt Illusion der Illusion; man empfindet ihn nicht als Surrogat, vielmehr als feinere, eigenartigere, erlesene Darbietungsweise. Nicht minder pflegen gewisse diskret-farbige, leichthändig gezeichnete und getuschte Reproduktionen wohlbekannter Gemälde die Erinnerung an die Originale zu illusionärer Vergegenwärtigung aufzufrischen; und je nach Laune finden wir vielleicht an der zwiefachen Vermittlung mehr Geschmack als an der einfachen. Analoge Komplikationen entspringen dem Stoffgebiet. Die malerische Wiedergabe einer Nebellandschaft sublimiert nochmals das Malerische des Urbildes. Auch bedingt oft die Kunstgattung eine stufenweise Nachahmung. Die Künste der Ruhe können Bewegung nur durch Stellung, Stellung nur durch Gestalt ausdrücken; sie machen aus dem handelnden Menschen zuerst eine posierende Figur und dann ein flächenhaftes oder ein fremdfarbiges Gebilde. Für den Betrachtenden wie für den Schaffenden müssen die zwei Stadien nicht tatsächlich seelisch auseinandertreten, so zwar, daß er abwechselnd auf gesonderte Etementenreihen und ihre Beziehungen zu achten hätte. Die adaptive Arbeit verläuft nicht selten unterbewußt; die potenzierte Illusion ist eine genau so einfache Erfahrung wie die reguläre, und es erscheint bloß die Entfernung von der Sinnlichkeit vergrößert, die Sonderart entschiedener ausgeprägt. Gewöhnlich wird indessen die Mehrheit der Grundlagen doch inhaltlich zur Geltung kommen. Die Doppel-Illusion entfaltet aus sich heraus ein doppelt
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reiches Erleben; sie schaltet in die Hierarchie der Bilder, die sich über der Werkerscheinung aufbauen kann, neue Zwischenglieder ein; zugleich sind die Schwierigkeiten der Funktion vermehrt, das allgemeine Energieniveau gehoben. Die Sachanschauung, die den Gipfel des zusammengesetzten Vorgangs bildet, stellt an unser auffassendes Vermögen die äußersten Ansprüche; sie beweist, welch verwickelter Anpassungen der menschliche Geist fähig ist; sie rückt die Grenzen seiner Möglichkeiten hinaus und entfesselt einen höchsten Selbstgenuß des Könnens. 48 Die Tatsachen der natürlichen Illusion verstärken den Vertrautheitscharakter der Kunst-Illusion, ohne doch deren relative Neuheit und selbständiges Fürsichsein aufzuheben. Die Kunst schafft dem Bedürfnis nach mittlerer Sinnennähe, wie es im Anund Abklingen der Funktionstendenzen rege wird, ungleich geeignetere Befriedigungsanlässe, als die Gelegenheiten des Alltags oder ein glückliches Ungefähr sie jemals zu liefern vermögen. Ihre Leistung ist es, eine eigentümliche Eindruckswelt, die sonst nur in kärglichen Ansätzen, in zerstreuten Bruchstücken oder in schwankend-flüssigem Zustand begegnet, planvoll und zwecksicher auszugestalten. Insofern wirkt die malerisch-bildnerische Illusion als eine abgewandelte Art nicht nur der Anschauung im allgemeinen, sondern der Illusion selbst, und sie verbindet im Besondersten ihres Wesens die Werte des Typischen und des Atypischen zu unlöslichem Ineinander. Von fast noch größerer Wichtigkeit aber sind die Analogismen des abbildlichen Effektes schon für seine erste Entstehung. Wie jedes Erlebnis eine Disposition zu gleichartigen Erlebnissen hinterläßt und der Erfolg jeder Übung auf verwandte Tätigkeiten übergreift, so bereitet die natürliche Illusion auf die Kunst-Illusion vor. Und dieser Einfluß erstreckt sich wieder auf sämtliche Abwandlungen des Vorgangs. Auch die nicht mimetische Illusion kann nüchtern-klare oder träumerischvisionäre, naive oder reflektierte, gewollte oder ungewollte Anschauung sein; sogar die dualistische Gegensätzlichkeit ist ihr nicht fremd: wir können zwischen dem uneigentlichen und dem echten Sehen hin und wider schwanken, etwa ferne Waldberge bald als grüne Kuppen bald als blaue Kulissen schauen. Unter solchen Typen mag je nach persönlicher Veranlagung und äußerer Umgebung der eine oder andere durchschnittlich vorwalten, und die einmal geschaffene Gewohnheit zwingt die seltenere, außer-
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natürliche Art der Illusion in ihre Bahn. So bilden sich innerhalb der gemeinen Erfahrung die mannigfaltigen Formen, in denen die nachahmende Kunst seelisch ihre Kraft bewährt, aufs bestimmteste vor. 9. Das illusionäre Erlebnis und das Kunstwerk. Die Verschiedenheiten der illusionsästhetischen Wirkungen, die von wohlgelungenen Bildwerken ausgehen, sind nicht bloß subjektiven Ursprungs. Das wirkliche Kunsterlebnis ist immer durch zwei Reihen von Faktoren bedingt. Der gleichbleibende Zug der Individualität und der Gewöhnung, die wechselnden Hinneigungen des Tages und der Jahre, sie bilden die unterste Grundlage des jeweiligen Verhaltens; die letzte Entscheidung über das Wie und Wieviel des Erfolges, seine feinste Vollendung und Differenzierung kommt der Regel nach von gewissen Eigentümlichkeiten der gegebenen Darstellung her. Die abbildliche Mimesis ist ebenso abwandlungsfähig wie ihr seelisches Widerspiel, und jede ihrer Weisen fügt sich einer besonderen Aufnahms- und Reaktionsweise besser als anderen, legt sie eindringlicher als andere nahe. Der Kunsttypus bestimmt den Typus der Illusion. Der Grad psychischer Frische, den die Anschauung erreichen soll und kann, ist für den hinreichend angepaßten Beschauer durch die Art der Nachbildung ziemlich genau festgelegt und nach oben wie nach unten kaum noch verschiebbar. Nicht zwar so, als folgte er ohneweiters aus dem Durchschnitt augenfälliger Gleichheiten und Ungleichheiten, aus der nackten Bilanz der fördernden und hemmenden Momente, dem Für und Wider der Illusion. Manche Umgestaltungen des Aspekts lassen sich durch apperzeptive Einübung restlos wettmachen; so die absolut verringerte Größe bei unveränderten Maßverhältnissen. Entsinnlichend wirkt streng genommen weniger die Verschiedenheit als der Mangel an Ähnlichkeit; die erste erschwert höchstens die Anpassung. Auch muß die größere Ähnlichkeit nicht zugleich die offenkundigere oder leichter erkennbare sein. Das auffassende Vermögen weiß oft geringfügige Andeutungen auszunützen und grobe Störungen zu überwinden. Gleichwohl: über die Sinnennähe der Illusion hat der Schauwille keine Macht. Wir sind nicht imstande, nach Belieben ein frischeres oder ein blasseres Bild zu gewinnen, sondern P a p , Kunst und Illusion.
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nur, ein so beschaffenes Bild entweder aufzurufen oder zu verbannen. 4 9 Minder zwingend, doch ebenso eindeutig können die anderen Variationen der abbildlichen Betrachtung durch das Kunstwerk selbst determiniert sein. Eine malerische Wiedergabe, die sich in mittlerer Entfernung vom Augentrug hält, und die alle Formelemente der sichtbaren Natur möglichst gleichmäßig überträgt, ist am meisten danach angetan, zu reinem ruhigen Schauen anzuregen und die funktionelle Befriedigung des illusionären Schauens zu gewähren. Ungleichmäßige Behandlung, zumal eine solche, die in einigen stark herausgearbeiteten Partien dicht an das Täuschende heranrückt, in den übrigen, mehr skizzenhaft gehaltenen erheblich dahinter zurückbleibt, wird uns zwischen Naturbild und Werkbild, Illusion und Desillusionierung in steter Bewegung erhalten, uns des Kunstwunders dauernd bewußt bleiben lassen, den Willen anspannen und auf die Gesamt-Stimmung einen belebenden Anreiz üben. Die scharfe Hervorhebung e i n e r Seite der Wirklichkeit, etwa des Umrisses, der Körperlichkeit, des Helldunkels, leitet zur abstrahierenden, mit spezifischen Klarheitsgefühlen verbundenen Genußweise hin. Wo der Pinselstrich und das Materielle des Werkes sich makroskopisch aufdrängt, wo die Einzelheiten um des Totaleindrucks willen erfahrungswidrig unterdrückt und ausgeschaltet sind, dort kommt es nur zu einer aufkeimenden Impression; da die naive Anschauung vom Ganzen zu den Teilen fortschreitet, bringt der erste Blick die Illusion, der zweite ihre Zerstörung. Eben darum aber, weil dem impressionistischen Künstler keine Rücksicht auf Gegenwirkungen die äußerste Ausnützung der verfügbaren Suggestionsmittel verbietet, kann jene werdende Illusion eine um so packendere sein. Die widerstreitenden Bildelemente stoßen mit ungebrochener Kraft und in hebendem Kontrast aufeinander. 5 0 Eine besondere Stellung nimmt dasjenige Verfahren ein, das die ganze Gestalt des naturnachahmenden Werkes den subjektiven Postulaten der Regelmäßigkeit oder der launig-freien Unregelmäßigkeit, der Klarheit oder der labyrinthischen Verworrenheit, des kraftvollen oder zarten Gefühlsausdruckes unterwirft. Man bezeichnet diese Veränderungen gemeiniglich als Stilisierung, ihr allgemeines Grundprinzip als Stil. S t i l i s t d a s A - p r i o r i d e r K u n s t . Seinen eigentlichen Herrschaftsbereich bilden die Künste der reinen Form: Musik und Ornamentik, in zweiter Reihe die empirisch ge-
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bundeneren Betätigungen des Tanzes, der Architektur, der gewerblichen Techniken. Auf die abbildliche Mitnesis überträgt er sich vornehmlich unter denselben seelischen Bedingungen, die auch schon für das untätige Schauen die sichtbaren Dinge nach persönlicher Erwartung und Hinneigung verwandeln. Jeder echte malerisch-bildnerische Stil stammt aus der Ekstase, er zeugt Ekstase, er spricht am vernehmlichsten zur Ekstase; er ist nichts als der objektiv herausgestellte Subjektivismus der Ekstase. Genauer: er ist dessen weitestgetriebene Konsequenz. Denn der apriorische Drang betätigt sich zuvörderst am Stofflichen der Darstellung; er beugt und bewältigt die natürliche Form; er steigert und vergeistigt die reale zu einer idealen Natur. Die idealistische Kunst hält uns die ekstatische Umprägung der Wirklichkeit vollendet entgegen; sie erhebt die Welt der Illusion in das Jenseits von Wahrheit und Wahn und lockt die Seele auf die Wege des Traums. Die Abbildlichkeit als solche wird durch die Erhöhung des Urbildes nicht berührt. Der Künstler kann einen idealen Gegenstand naturalistisch behandeln, das heißt ihn so vorführen, wie die Phantasie ihn bewahrt, wie er sein k ö n n t e , als denkbare Schauerfahrung, als adäquates Ebenbild einer geglaubten, angenommenen, gewünschten oder gefürchteten, vielleicht visionär vorschwebenden Über-Wirklichkeit. Der Künstler kann umgekehrt reale Objekte stilisierend wiedergeben, das heißt den Linien- und Farbenbestand oder die Körperformen, die das treu nachbildende Werk zeigen müßte, nach naturfremden Tendenzen so variieren, daß das Dargestellte f ü r die nüchtern-empirische Auffassung jede Daseinsfähigkeit verliert. Den ersten Fall vertreten viele religiöse Malereien der Spät-Renaissance, die den geöffneten Himmel sinnengerecht zu veranschaulichen suchen, den zweiten manche dekorative Genregemälde neuester Zeit, die alle Umrisse ins Geradlinige oder in geschwungene Kurven überführen. Zumeist vereinigen sich jedoch die beiden Leistungen: der Stil ist nur die fernere Ausstrahlung der idealschaffenden Potenz. In ihm ergreift die ekstatische Eigenherrlichkeit die Form und Erscheinung des Werkes, die tragende Basis der gesamten Kunstwirkung, und zwingt uns dadurch um so unwiderstehlicher zu sich herüber. Solcher Herkunft und Tendenz des Stiles ist es denn auch gemäß, daß er stets auf das Ganze geht, die drängende Fülle des Kleinen niederhält und bändigt. Die Art der Metamorphose besondert sich je nach der 5*
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Stimmung. Es gibt einen bewegten Stil des Rausches, der Leidenschaft, der schwärmerischen Fröhlichkeit, des beflügelten Übermutes; einen verschleiernden, dämpfenden Stil der Träumerei; einen chaotisch auflösenden Stil der dumpfen Gebanntheit, der Faszination; namentlich aber einen kosmisch ordnenden, normativ bindenden Stil des seherischen Erkennens, der erleuchteten Vernunft; jenen Stil schlechthin, der im anschaulichen A-priori das gedankliche und das moralische symbolisiert und gleichsam den der Natur vom Menschengeiste auferlegten Gesetzeswillen darstellt. 61 Je wirksamer aber der entrückende Zauber sich erprobt, um so weniger wird der Stil für sich empfunden, um so weiter befinden wir uns jenseits auch von Natur und Stil; gleichwie der wahrhaft begeisterte Künstler seinerseits das stilvolle Werk einheitlich konzipiert und geschaffen hat. Nur für das nüchterne Schauen ist die Linien- und Farbenmusik des Gemäldes etwas neben und über den gemalten Dingen, vielleicht mit ihnen zu einem engsten Ineinander verbunden, allein doch primär selbständig und abtrennbar, ein illusionsfremdes, wenn nicht desillusionierendes Element. Dem normal gestimmten Bewußtsein erscheint der Stil zunächst als irrationale Grille, als Manier. Das schließt ästhetische Wirkungen nicht aus. Die Manier hat ihren eigenen formalen Reiz; sie klingt mit dem Stoffgehalt harmonisch zusammen; sie erläutert und verklärt ihn wie die Melodie eines Liedes den Text, oder umgekehrt: sie gebiert ihn aus sich, vernatürlicht sich in ihm; sie steht zu ihm in komischem, groteskem oder schreckhaft anmutendem Kontrast, oder die Harmonie und Disharmonie bilden wieder eine gefühlsbetonte Gegensätzlichkeit: die Manier wird zur Karikatur. Endlich: der Stil umspielt das Naturgebilde wie ein halb verhüllendes Gewand und bereitet so das Vergnügen einer Illusion höherer Ordnung. Derartiges leistet insbesondere die koloristische Stilisierung, der „Ton" im engeren Sinne. Das Anziehende dieses von einer fortgeschrittenen Malerkunst so angelegentlich erstrebten Phänomens beruht für den alltäglich gelaunten Betrachter vorzugsweise auf dem gesteigerten Abbild-Charakter, den es verleiht. Die tonige Gesamtfarbe ergibt sich in der Weise, daß die einzelnen Farbenwerte gleichmäßig gebrochen und nach bestimmter Richtung verschoben werden. Es ist, als wäre über ein vollfarbiges Gemälde «in immaterieller Firnis, ein luftiger Schleier gebreitet; durch ein zwiefaches Medium erst gelangen wir zu den Dingen; wir empfangen
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kaum mehr als eine Ahnung von Körper und Raum. Aber auch der Ton selbst, soweit wir seine alles durchdringende Glut oder Kühle, seinen Einklang mit den Teilfarben, seinen unmittelbaren Stimmungswert verweilend genießen, ist nicht geradezu für das Auge da, sondern bloß illusionär faßbar. Ein ähnliches Verhältnis waltet innerhalb der linear stilisierenden Kunst zwischen der Naturform und der Stilform: wir schauen beide in einer und derselben Linie, die von beiden merklich abweicht, einer Resultante, in der die empirische Wahrheit und die geometrische Strenge sich verbinden, indem sie sich wechselseitig modeln. Alle diese Erlebnisweisen können gleichfalls objektiv begründet und veranlaßt sein. Die Zwiespältigkeit der Auffassung kann im Werke so vorgebildet sein, daß etwa die Stilform lediglich die kompositioneile Anordnung des Ganzen beherrscht, oder daß sie überwiegend in freier variierbares Beiwerk (Gewänder, Haare) verbannt ist. Gleichviel aber, ob solche Suggestionen statthaben oder nicht: die hellwache Psyche vermag die stilisierte künstlerische Darstellung nicht anders sich ungeteilt einzueignen als durch Preisgabe einer der zwei Komponenten. Der Stil sinkt oft zur Rolle eines gewohnten, unbeachteten Bestandstückes der abbildlichen Vermittlungsmethode herab. Seine reguläre Wirkung bleibt indessen diejenige, in der die natürliche Anschauung nach Inhalt und Funktionsform von Grund aus umgewandelt ist. Das künstlerische Stilbemühen entspringt einem unserer tiefsten Bedürfnisse, dem Wunsch, die spontanen Hervorbringungen und Forderungen des Geistes mit den unerbittlich widerstrebenden Gegebenheiten der Erfahrung zu vereinigen, das Empirische mit dem Apriorischen zu versöhnen. Das stilvolle Kunstwerk will eine schwerwiegende Unzulänglichkeit unserer Anlage, ein letztes Unvermögen der Anpassung an die Realität, wenigstens illusionär überwinden, eine ewige Kluft zwischen unseren angeborenen Fähigkeiten wenigstens f ü r Augenblicke schließen. Allein die nüchtern empfundene Harmonie der heterogenen Werte ist stets eine ziemlich unbestimmte, keineswegs lücken- und störungslose; die zergliedernde Betrachtung kommt über einen Rest notwendig fortbestehender Diskrepanzen nicht hinweg. Nur in der Entrückung, im seltenen Aufschwung und Niederstieg der Seele, gelangt der Schaffende wie der Empfangende zur reinsten Befriedigung des monistischen Strebens, zur idealen Einheit des Unvereinbaren. 6 2
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Der Subjektivismus des Schauens gehört nicht lediglich der Ekstase an; er kann noch auf anderem Wege als dem der formverändernden Stilisierung in die Mimesis eingehen und auf die Eindrücke des Betrachters überstrahlen. Er bekundet sich, auch ohne an der Wirklichkeit Gewalt zu üben, in der Auswahl und Anordnung des Stoffes. Bis zu einem gewissen Grade erzielt der Künstler die a priori geforderten Eigenschaften der Regelmäßigkeit, Klarheit und Ausdruckskraft, indem er natürliche Sonderfälle passend verwertet, die Dinge in akzentverrückende Situationen, in vorteilhafte Beleuchtungen versetzt, allenfalls die so gewonnenen Ergebnisse noch mäßig übertreibt; ein milderer Stilzwang, der sich mit dem stärkeren verbünden mag. Dieselben Mittel dienen oft der nicht minder eigenwillig-persönlichen Tendenz, die Lokalfarbe zu brechen, die Gestalt aufzulösen und die Erscheinung als solche zu betonen, sei dies nun einem Wissensinteresse, einem Gefühlsbedürfnis nach Verzerrung oder wieder dem spielerisch-ekstatischen Stimmungshang gemäß. 6 3 Andererseits werden durch ähnliche Kunstgriffe Körper, Raum und Licht auf besondere Weise durchgebildet; denn der Raum kann sich aus den Dingen verschiedentlich aufbauen und entwickeln, das durch ihn ergossene Licht sich an den Dingen vielfältig manifestieren. Hierbei lenkt die Autorität des Künstlers auch den Gang des Blickes und der Aufmerksamkeit, wie j a Überhaupt wohlberechnete Komposition, Farbenverteilung und Lichtführung neben dem formästhetischen Wert zugleich einen apperzeptiven Wert der Rang- und Folgeordnung besitzen. Ein Mindestmaß subjektiver Willkür erscheint übrigens schon im Elementaren der Nachahmung dadurch unvermeidlich gegeben, daß jeder bestimmte Typus des illusionistischen Verfahrens einen bestimmten Typus der Betrachtung voraussetzt und in die Darstellung mit hineinlegt. All das vermag eine geschichtlich erwachsene Kunstüberlieferung, die Praxis eines Meisters, ja das einzelne Werk, illusionsästhetisch aufs feinste zu differenzieren. Gleichzeitig spiegelt die Eigenart der Abbildlichkeit das eigenartige Anschauungsleben und weiter den ganzen geistigen Habitus der Menschen, die sie ersonnen haben und denen sie genehm war oder ist. Sie zeigt, wie in einer Zeitperiode die nüchtern scharfe Beobachtung der Außenwelt vorwaltet, wie in anderen eine nervöse Beweglichkeit sich meldet, die das Wechselnde im Fluge zu erhaschen liebt, und wie abermals in anderen Zeiten eine hoch ge-
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steigerte Lebensstimmung durchbricht, mit lang nachwirkenden Exaltationen und Erleuchtungen, mit grundaufwühlendem Stürmen und Drängen. Im großen gesehen erscheint der ästhetisch-historische Tatsachenkomplex der darstellenden Kunst auf weite Strecken hin von den beiden antagonistischen Prinzipien der illusionären Wahrheit und der freien Stilform beherrscht. Richtung und Grad ihrer Entfaltung, ihr variables Verhältnis zu einander, ihre mehr oder minder zwanglose Verbindung, die inneren Beziehungen des Stoffgebietes und des Gefühlsgehaltes zu dem so gearteten Naturund Stilsinn, sie geben einer Kunstweise die Signatur und bezeichnen nicht selten jene fundamentale Stellung des Ich zum Nicht-Ich, in der das Wesenhafteste einer Persönlichkeit, eines Volksgeistes, einer Kultur beschlossen liegt. Überall bleibt jedoch die lebendige Realität der Wirkung an die Bereitschaft des Aufnehmenden gebunden. Der innewohnenden Suggestionskraft des Werkes kann etwas in uns widerstehen oder ablenkend entgegenstreben; die gleichen Winke weisen verschiedene Geister in verschiedene Bahnen. Selbst bei vorhandener Disposition für den seelischen Vorgang ist dasselbe Objekt nicht immer gleich geeignet, ihn in Gang zu bringen. Kunstmittel, die den einen bereits kräftig anregen, lassen den anderen noch unbewegt; was man jetzt als zu wenig empfindet, wird künftig zu viel sein. So geschieht es, daß die Urteile über den Illusionswert einzelner Werke oft beträchtlich divergieren. Rückhaltloses Eingehen auf das Gebotene setzt mindestens die vollzogene Anpassung an den engeren Gattungstypus voraus. Daneben ist es wieder Sache einer allgemeineren Hinneigung, einer augenblicklichen Gelauntheit oder festen Anlage, ob und inwieweit wir in der ästhetischen Betrachtung von subjektiven Tendenzen beherrscht sind. Wir begnügen uns bald mit einem groben Ungefähr wunschgemäßer Daten, bald wählen wir mit schärferer Unterscheidung; wir schweifen frei in dem weiteren Erlebnisbereiche der Kunst umher, oder wir folgen gehorsam ihrer spezielleren Führung. Entscheidend hiefür ist teils die Stärke und Bestimmtheit der Funktionsbedürfnisse, teils der psychische Gesamtzustand. Die Nüchternheit bekundet am ehesten einen ausgesprochenen Objektivismus, eine rein nach außen gewandte Empfänglichkeit; freilich nur eben innerhalb der Schranken der seelischen Mittellage. Die Ekstase vergewaltigt das Kunstwerk wie die Natur, sobald es ihren Forderungen nicht
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streng entspricht; in jenem glücklichsten Falle aber, den die stilvolle malerische Darstellung schafft, kommt es wohl einmal zu einer vollkommenen Harmonie von Subjekt und Objekt, die dem künstlerischen Wollen und Können ebenso gerecht wird wie die nüchtern-unpersönliche, anschmiegsame Aufnahme. 54 Der Mangel an Selbstentäußerung und Anbequemung muß Das nicht hindern, daß das Kunsterzeugnis Freude bereitet. Gegenteil kann statthaben. Wir leihen einer Sache oft Werte, die von den Zwecken des Urhebers weit ab liegen und dennoch das nämliche seelische Daseinsrecht besitzen wie irgendwelche andere. Der ästhetische Wille des Genießenden durchkreuzt die eigengesetzliche Psychagogik des Werkes. Wenngleich eine historische Kunstweise der Regel nach die besten Bedingungen ihrer Würdigung bei den wohl orientierten, feinfühligen Zeit- und Kulturgenossen vorfindet, so mag ihr doch hin und wieder eine bewußt oder unbewußt abweichende Auffassung später Nachkommen oder fernstehender Fremdlinge entschieden zugute kommen. Ein solcher Fehlgriff in melius, der das Total-Erlebnis gänzlich verändert, steht einem ideellen Neuerschaffen gleich und wird zuweilen im Künstlergeiste tatsächlich der Keim entdeckerischen Schaffens. Demselben Schicksal verfällt die altgewohnte Kunst in Augenblicken, da die Sicherheit des eingeübten Verhaltens aufgehoben ist und das Bekannteste uns plötzlich sonderbar fremd anmutet; die neue Illusion ersteht auf den Trümmern der alten aus zeitweiliger Desillusionierung. Ein Gemälde wandelt sich unter dem getrübten Blick des Beschauers ganz so wie unter den Einflüssen der Natur: es wird ein Stück Natur und übt unter Umständen die ästhetischen Zufallswirkungen der Natur, die sich an die Stelle der früheren, regulären Wirkungen schieben. Die Illusion selbst kann ein uns nicht zugedachter Fund sein, ein Analogon der natürlichen Wolken-Illusionen, vielleicht deren Fortsetzung; sie kann ein glückliches Mißverständnis sein. Perspektivische Eindrücke zwingen sich gelegentlich dort auf, wo Größenverschiedenheiten und Verkürzungen der Dinge gemeint oder Rangabstufungen symbolisch ausgedrückt sind: so bei Wiedergabe von Personen ungleicher Würde und Wichtigkeit, von Tieren und Menschen ungleichen Alters, von mählich sich verbreiternden Flußläufen und Wegen. Die naturwahre oder die dekorativ stilisierte Abschattung der Lokalfarbe wirkt in manchen zweideutigen Fällen (z. B. an
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bemoosten Baumstämmen, an Felltieren, Vögeln) als modellierender Körperschatten, der Wechsel kontrastierender Töne als Gegensatz von Lichtpartien und reflexfarbigen Schatten. Sogar die rein geometrisch-chromatische Zierkunst liefert unbeabsichtigte Effekte, die für den Fortschritt der malerischen Praxis als nützliche Anhalte von Bedeutung sind. Man darf sagen: die Kunst-Illusion ist früher da als die illusionistische Kunst; so wahr die Veranlagung zum illusionären Schauen lange vor der technischen Möglichkeit ihrer Ausnützung, vor den Anfängen abbildlich imitativer Fertigkeit sich regt. Dieses Verhältnis besteht aber keineswegs nur auf den untersten Stufen der Entwicklung. Im geschichtlichen Werdegang hängt die Kunstweise geich sehr von der Genußweise ab, wie umgekehrt der Genußtypus vom Kunsttypus. Immer wieder erteilt der Ruf neuerwachter seelischer Fähigkeiten, die das zureichende Objekt ungeduldig vorwegnehmen, den Anstoß zu umgestaltender Bestrebung; immer wieder ordnet sich der Geist dem jeweils zustande gekommenen Werke unter. Es ist eine überaus fesselnde, freilich zumeist nur ahnungsweise lösbare Aufgabe der Erkenntnis, dem kausalen Hinüber und Herüber zwischen äußerer Kunstform und innerem Erlebnis durch das einzelne Menschenleben oder durch die Zeitepochen nachzuspüren; das stille Spiel zu verfolgen, wie die Eindrücke und Bedürfnisse sich teils dem geschichtlich Vorhandenen anpassen, teils sich darin verdichten und offenbaren, wie die beiden Mächte abwechselnd vorauseilend und zurückbleibend sich suchen, finden, fliehen, die Entwicklungsreihen auseinander treten und sich ineins verflechten, wie zu unablässigem Kreislauf die illusionär sinnvolle Kunst, dem Bewußtsein entgleitend und zurückgewonnen, in der Materie untergeht und aus der Materie sich neu gebiert. Die steigende ästhetische Bildung ändert an diesem Getriebe wenig. Sie macht unser genießendes Verhalten durchschnittlich nicht objektiver, nicht in erheblicherem Maße durch den Werk-Faktor bestimmt; und die Objektivität gibt kein Kriterium der Bildung: ästhetische Kultur ist Kultur des Erlebens, nicht des Verstehens. 65 Der darstellerische W e r t von Kunstwerken bemißt sich natürlich nach ihrer Wirkung auf den ihnen wohl angepaßten und zur Hingabe geneigten Beschauer. Wie es aber viele gleichberechtigte Wirkungen der malerisch-plastischen Nachahmung gibt, so auch viele gleichwertige Typen der Nachahmung selbst, die ihnen a
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potiori entsprechen. Man pflegt das eigentlich Künstlerische im Persönlichen der Kunst zu erblicken; und man fordert vom Schaffenden das Gegenteil dessen, was man dem Genießenden zur Pflicht macht: starke Subjektivität. Die schätzbarste Art illusionistischer Gestaltung wäre hiernach diejenige, die das mimetische Rüstzeug mit eigenrechtlicher Freiheit handhabt, also insbesondere die stilvolle gegenüber der kopienhaft naturalistischen Art. Ferner scheiden wir gewöhnlich den echten, innerlich wahren, lebendig-ursprünglichen Stil von der starren, seelenlosen, erklügelten oder ein besseres Vorbild grob veräußerlichenden Manier und Konvention. Allein es ist durchaus nicht unumgängliche Bedingung des reinsten Kunstgenusses, daß ein fremdes Ich irgend in uns Widerhall findet; und die Echtheit der formgebenden Stimmung entzieht sich der zuverlässigen Erkenntnis: es hängt vielfach nur von unserem Empfinden ab, ob wir eine Darstellungsweise als Stil oder als Manier zu bewerten haben. Noch weniger als auf eine Notwendigkeit der primären Geschmacksneigung läßt sich der Vorrang des künstlerischen Subjektivismus auf Leistungs- und Seltenheitswerte begründen. Wir müssen im währenden Anblick des Werkes weder an die Schaffenstätigkeit des Urhebers noch an seine Persönlichkeit und Gemütslage denken; und wenn wir es tun, so fallen diese Momente ästhetisch doch wieder nur insofern ins Gewicht, als sie Inhalt u n s e r e r Glaubens- oder Annahmeurteile sind, in denen w i r uns gefallen, und die an sich richtig oder falsch sein mögen. Zu ästhetisch charakterisierten Denkbetrachtungen gibt jedoch die maximal unpersönliche Kunst, ja die instrumental-technische Naturwiedergabe, gleichfalls hinreichenden Anlaß; denn die gelungene Photographie bleibt als Ergebnis physikalischer Vorgänge, als Frucht wissenschaftlicher Erfindung, als Meisterstück handwerklicher Arbeit, ebenso bewunderungswürdig wie das Gemälde als künstlerische Tat. Übrigens ist häufig ein sehr persönliches, einzigartiges und unersetzliches Kunstvermögen gerade an die möglichst ungetrübte Spiegelung der Wirklichkeit gewendet. Andererseits liefert auch die Wahrheit der Nachahmung keinen absoluten Maßstab kritischer Auslese. Wir bringen der Kunst früherer, in diesem Betracht zurückstehender Zeiten ein mehr als historisches Interesse entgegen, und zwar abgesehen von allen stofflichen Werten. Den Fortschritt in der Darstellung der
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Natur begleitet nicht ohneweiters eine Zunahme des ästhetischen Befriedigungsertrages. Wenn auf Gemälden des 15. Jahrhunderts im Widerspruch mit aller Luftperspektive das Entfernteste so deutlich und körperlich dasteht wie das Nächste, wenn wir dank einem doppelten Augenpunkt die vorderen Dinge in horizontalem Gegenüber, den hinteren Plan aus der Höhe herab schauen: so wirkt das auf den empfänglichen Kunstfreund nicht als Unwahrheit, sondern eher als ideale Sichtbarkeit, als überirdische Klarheit, Fülle und Weite. Den gleichen Erfolg, eine über das empirisch Mögliche hinausgehende Verständlichkeit des Aspekts zu schaffen, haben manche Eigenheiten der Malerei des beginnenden Cinquecento: die scharfe Zerlegung der landschaftlichen Raumtiefe in drei konventionell abgegrenzte, tonig unterschiedene Zonen und die peinlich durchgeführte Modellierung der Gestalten mit Hilfe dunkler Schatten, ohne Rücksicht auf störende Reflexe und abflachende Beleuchtungen. In anderen Fällen ersetzt ein Gewinn an sinnlichem Reiz den Abgang an Wahrheit: an der schattenlosunplastischen, rein lokalfarbigen Malweise vorklassischer Perioden kann uns eine satte Pracht der Töne erfreuen, die noch durch kein dazwischentretendes Schwarz gebrochen ist. So hat jede typische Entwicklungsform der Abbildlichkeit ihre besonderen Wertquellen, ihre relative Vollkommenheit, die freilich von der historischen Wirklichkeit der Kunst oft nicht erreicht wird. Der Vorzug des Primitiven mag dem Ursprung nach immerhin die Tugend der Not oder des Zufalls sein. Man hat anfänglich nur nach Wahrheit gerungen und in den fertigen Werken nichts als Wahrheit gefunden. Gleichwohl: die beiläufig mit erzielten Qualitäten tun ihre Wirkung; sie drängen sich in jenen Augenblicken der Entfremdung, da die alten Suggestionen von uns weichen, dem unbefangenen Auge auf und geben unter Umständen die Normen f ü r die weitere Ausgestaltung des Überlieferten. Die Abweichung von der phänomenalen Tatsächlichkeit ist vielfach schon auf sehr früher Stufe das Resultat eines mehr oder minder bewußten Strebens, verständig wählender Selbstbeschränkung oder freiwilliger Abkehr von wohl erkannten neuen Wegen und vorhandenen neuen Vorbildern. Man müht sich wohl auch gar nicht um eine harmonische Vereinigung der Werte; gerade der entschiedene Sieg über den Erfahrungszwang, die anschaulich vollzogene Befreiung vom Ungefähr der Natur, ist das zuhöchst Geschätzte. Ein kon-
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servativer Geist, dem die stärkeren Illusionseffekte als müßig spielerisches, der ernsten Kunst unwürdiges Kunststück erscheinen, trägt häufig zur Verwerfung des radikaleren Naturalismus das Seine bei. Alle diese Motive nähren auch die archaistischen Neigungen moderner Epochen; sie unterstützen und rechtfertigen die abstraktere Vorliebe für die altertümliche Schlichtheit als solche. Das besagt nicht, daß die Eindrücke, die der Moderne von primitiver Kunst erhält, sich mit denen des Zeitgenossen genau decken. Für den letzteren, der an die damals neue, relativ fortgeschrittene Weise gleichsam von vorne herantritt und sich auf sie einstellt, hat ihr Natürlichkeitswert doch notwendig einen stärkeren Akzent als für den rückblickenden Spätling, der, unter dem Einfluß eines vorgerückten mimetischen Könnens stehend, dem einstigen Wahrheitszauber jener Darstellungen nicht mehr so zugänglich ist wie ihren sonstigen, unmittelbarer ansprechenden Reizen, dem überdies manches an ihnen, was ehedem guten illusionären Sinn hatte, zur willkürlichen Manier geworden ist. 56 Viele Erzeugnisse früher Kunsttätigkeit. haben für uns kaum noch einen aktuellen Erlebniswert. Doch können wir uns gemeinhin ihre ursprüngliche seelische Bedeutung wenigstens vorstellend vergegenwärtigen. Die ältesten malerischen Versuche der Völker und Individuen sind zumeist nicht danach angetan, eine eigentliche Illusion zu wecken. Sie grenzen nahe an die Bilderschrift; ihre Grundlage ist nicht sowohl die abbildliche Wiedergabe der Erscheinung als die zeichenhafte Beschreibung der Sache. Zwar ahmt auch die einfache Umrißlinie ein phänomenales Faktum nach; den Elementen nach stellt bereits die dürftigste Zeichnung illusionistisch dar. Allein der Nexus der aufbauenden Teilstücke bleibt auf lange hinaus ein überwiegend gedanklicher oder phantasiemäßiger. Der urtümliche Maler zeigt uns die Einzelheiten der Dinge, wie er sie im Gedächtnis trägt, unbekümmert darum, ob sie in der Natur gleichzeitig sichtbar sind. Er zeigt das Äußere u n d das Innere von Gebäuden, den nackten Leib unter den Kleidern, das verborgene Herz im Leibe; er setzt Vorder- utnd Seitenansicht nebeneinander oder mengt sie durcheinander; er überträgt zeitliche in räumliche Folge. Er leiht dem sachlich Wichtigen eine übertriebene Größe (Kopf im Verhältnis zum Körper, Personen hohen Standes im Verhältnis zum Gefolge); er vernachlässigt das minder Kennzeichnende durchaus, selbst dann,
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wenn es der Anschauung unabtrennbar zugehört. So roh nun solch eine Schilderei erscheint: auch sie hat nicht bloß das eine Daseinsrecht der vorläufigen Unmöglichkeit besserer Leistung. Ihr beherrschendes Prinzip ist gewissermaßen das sprachlich-diskursive. Sie arbeitet für die Vorstellung und nach Art des Vorstellens: sie klärt, kürzt ab, betont, verfestigt; sie wandelt das Objekt ebenso eingreifend wie die stilistische Kunst, nur nach anderer Richtung. Sie tritt demjenigen, der ihre traditionelle Sprache versteht, mit allen Vorzügen des wohl eingeeigneten Erinnerungsmaterials entgegen, und ist darum einem mehr auf stehende Typen als auf lebendige Neuerfahrung orientierten Geist überaus genehm. In der Tat gestatten die Wirklichkeit und die ihr nacheifernde naturalistische Kunst niemals eine so scharfe und zeitlich konzentrierte Auffassung von Räumlichkeiten, wie die altägyptische Malerei, die Grundriß und Aufriß frei verbindet. Ähnlicher Verfahren bedient man sich noch heute dort, wo ein fachlich spezialisiertes Sachinteresse vorausgesetzt werden darf; z. B. in naturwissenschaftlichen Tafelwerken oder in erläuternden Stadtund Landschafts-Prospekten. Derartige Darbietungen erzeugen einen seltsamen, mitunter ausgesprochen ästhetischen Eindruck, der zwischen geometrisch-deskriptiver Präzision und malerischer Anschauungsfrische, zwischen absoluter Gegenständlichkeit und örtlich bestimmter Ansicht die Mitte hält. Für den Architekten oder den Geographen wird sogar ein guter Gebäudeplan oder eine Landkarte ästhetische Qualitäten obersten Ranges besitzen. 87 Die Mannigfaltigkeit der Kunstwerte reicht weiter. Auch innerhalb des reinen Illusionismus fehlt es an allgemein gültigen Kriterien vergleichender Abschätzung. Das geschichtliche Werden der malerischen Mimesis weist eine durchgängige doppelte Haupttendenz auf: den allmähligen Übergang von der beschreibenden in die abbildlich gestaltende Art und die stufenweise Durchbildung der phänomenalen Ähnlichkeit. Der Fortschritt erschließt der künstlerischen Behandlung immer neue Seiten der Welt des Auges (Raumtiefe, Helldunkel, Farbenwerte); er führt zum natürlichen Gleichgewicht der verschiedenen Faktoren, zum innigen Verband und zur einheitlichen Abstimmung des Ganzen, zur starken, ja ausschließlichen Betonung der Gesamtansicht. Die Entwicklung besteht jedoch von einem gewissen Punkte ab nicht mehr darin, daß die Illusion schlechthin gesteigert wird. Das moderne Plein-
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äir und der Impressionismus stehen dem Augentrug ferner als die niederländische Malerei des fünfzehnten Jahrhunderts. Dem entspricht es, daß die Schwierigkeiten der vom Beschauer geforderten Anpassung von Stufe zu Stufe wachsen; wir müssen leiseren Anregungen folgen lernen, von empfindlicheren Störungen absehen, bereitwilliger auf Fremdartiges eingehen, uns eine längere Einübung auferlegen; die Wirkung auf den nicht vorbereiteten Geist wird eine minder unmittelbare. Wenn uns aber die verfeinerte Technik größere Entsagung zumutet als die naive: der verfeinerte Geschmack lehrt uns eben in der Entsagung erlesene Reize finden. Während primitive Frühzeiten mit wechselndem, nie vollkommenem Erfolg und mit ungleicher Konsequenz zur Sinnlichkeit hinstreben, huldigt man später den Effekten einer gewollten Entsinnlichung und fühlt angesichts des beinahe Täuschenden nur den lästigen Widerspruch zwischen Absicht und Leistung, die Grobheit des Surrogates. In derselben Richtung bewegen sich andere Prädilektionen eines späten Feinschmeckertums: der Kultus des vergilbten alten Gemäldes, des matten Tons, der dürftigen Skizzenhaftigkeit, der ungewohnten archaischen oder exotischen Manier, kurz aller vielfach gebrochenen Abbildlichkeit. Die illusionistische Kunst und das illusionäre Erlebnis sublimieren sich mehr und mehr, ohne daß neben dem Feineren das Derbere ästhetisch überholt wäre. 6 8 Die Mehrheit der Möglichkeiten beginnt schon bei der außerästhetischen Tatsache der abbildlichen Treue. Die volle Naturwahrheit der Kunst hat zwei Seiten: die stoffinhaltliche und die formal-darstellerische; sie bedeutet realistische und illusionistische Wahrheit. Die erste, deren auch die zeichenhafte Beschreibung fähig ist, läßt sich mit genügend sicherem Urteilsentscheid ob-, jektiv feststellen; die zweite ist nichts anderes als die Eignung des Werkes, Illusion zu wecken, eine Eignung, die sich nur mit unserem Zutun erprobt. Sie beruht auf Ähnlichkeit, nicht auf Gleichheit; und Ähnlichkeit als solche hat kein absolutes Maximum, höchstens ein Optimum, das der persönlich wandelbaren Abschätzung unterliegt. 69 Wem eine an die Täuschung dicht heranreichende Malerei wenig zusagt, der erhält von ihr, bei mangelndem Willen zur Illusion, gewöhnlich auch nicht eine reine Anschauung; sie scheint ihm geradezu unwahr. Desgleichen urteilen wir sehr verschieden, je nachdem wir auf die Wahrheit des Ganzen oder des
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Einzelnen achten. Darum gibt es keine unbedingt beste Weise mimetischer Übertragung, weder als wirkliche Leistung noch als ideale Näherungsgröße; so sehr der G l a u b e an die erreichte letzte Vervollkommnung mitunter ein würzendes Ingrediens des Genusses ist. Ein erheblicher Neuerwerb der Nachahmungstechnik will stets durch Aufopferung alten Gutes erkauft sein. Der Maler kann nicht gleichzeitig die Illusion der Körperform und des Lichtes, des Total-Aspektes und der kleinen Details, auf die Spitze treiben; die optische Natur mancher Gegenstände erlaubt nur eine andeutungsweise Wiedergabe, und der Fortschritt liegt gerade in der ganz sachten Suggestion, im Aufgebot entlegenster Anregungen. Von den malerischen Systemen gilt ungefähr das Nämliche wie von den erdgeographischen Projektionssystemen, die ja gleichfalls der Aufgabe, das Dreidimensionale auf die Ebene zu bannen, genugtun sollen. Jedes in sich folgerichtige und gesetzliche Verfahren hat seine Vorteile und Mängel, jedes ist der Lösung bestimmter Probleme vorzüglich günstig; jedes heischt von uns irgendwelche Zugeständnisse. Der Grundsatz der zentralperspektivischen Projektion liefert nur eine allgemeine Richtschnur, einen weiten Rahmen, innerhalb dessen sich die reichsten Abwandlungen vollziehen. Es ist durchaus nicht das gegebene Ziel illusionistischen Bestrebens, gleichsam das Netzhautbild nach außen zu entwerfen oder das Kamerabild zu fixieren; es heißt das Wesen und die Voraussetzungen der Illusion verkennen, wenn man in einer noch zu erfindenden untadeligen Farben-Photographie das Muster wissenschaftlich exakter, instrumental gewährleisteter Wahrheit der Nachahmung sieht. Die physisch von einer Fläche aufgefangene Erscheinung entspricht keineswegs genau dem inneren Erscheinungs bilde (dem einäugig oder zweiäugig vermittelten). Auch muß der Photograph, um eine hinreichende und doch nicht übermäßige Schärfe der Umrisse, eine wohlabgestufte luftperspektivische Verschwommenheit des Hintergrundes, einen helleren oder dunkleren Durchschnittston zu gewinnen, die Objekte und Phänomene, den Ort und die Zeit der Aufnahme, die Expositionsdauer und die Einstellung der Linse sorgfältig wählen. Das Urteil darüber, was jeweils das Richtige sei, fußt abermals auf eigenen illusionären Eindrücken und Erfahrungen. 6 0 — Mit dem obersten Gipfel des Fortschritts entfallen aber auch die unverrückbaren Schranken des Fortschritts. Eben weil abbildliche Wahrheit nur Wirkungskraft
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und Anregungswert, nicht Identität für das Auge ist, eröffnen sich der naturnachahmenden Kunst an jedem Punkte ihrer Entfaltung die freiesten Ausblicke und die weitesten Bahnen. Wir mögen uns angesichts eines bewunderten Werkes gelegentlich in dem Gedanken ergehen, daß es nur die ewigen Gesetze seiner Gattung verwirkliche, oder umgekehrt: daß es die Grenzen seiner Gattung siegreich sprenge. Das gehört zu den ästhetisch berechtigten Irrtümern. Es ist unmöglich, die Erreichbarkeiten der Kunst von vornherein theoretisch abzustecken; sei es auch nur in Hinsicht der Stoffbereiche. Grelles Sonnenlicht und wilde Bewegung sind an sich ebenso darstellbar wie ruhende Körper in mittlerem Zimmerlicht; nur darf der Maler hier noch weniger als in anderen Fällen auf täuschende Spiegelung abzielen; er muß sich an einer blassen, sinnenfernen Bildlichkeit oder an einer spukhaft flüchtigen Heraufbeschwörung genügen lassen. Und so wird auch künftiges Entdeckergenie, unterstützt von der ihm antwortenden Erziehbarkeit des verstehenden Schauens, die illusionstechnischen Errungenschaften immer aufs neue zu mehren wissen. 61 Wie die mimetische Kunst nicht objektive Wahrheit bietet, so gründet sie sich nicht auf objektive Erkenntnis. Die Entwicklung des malerischen Illusionismus gestattet keinen Schluß auf eine in gleichem Maße vorschreitende inhaltliche Wandlung des menschlichen Sehinteresses und Sehvermögens. Die vorwaltende Hinneigung des nüchternen Geistes zum Sachlichen besteht vielmehr in der natürlichen Wahrnehmung allezeit fort, nicht minder die Schwierigkeit, die zarteren Nuancen der Erscheinung klar und scharf zu erfassen; so weit man darin vorwärts gelangt, ist die Malerei eher der gebende als der nehmende Teil; wir kommen zur Erscheinung auf dem Umweg über die Kunst-Illusion, und wir müssen Kunst schauen lernen, bevor sie uns sehen lehren kann. Der Maler selbst verfügt bloß über einen vergleichsweise dürftigen Grundstock sicheren Wissens um die optischen Tatsachen. Das Beste seiner Leistung schöpft er aus dem Sonder-Gedächtnis eines dumpferen Bewußtseins, indem er mit triebhaft versuchender Vorwegnahme direkt auf die Wirkung hin arbeitet; erst die nachträglich erprobte wirkliche Wirkung der vollendeten oder skizzierten Partie, das glückliche Zustandekommen oder das Ausbleiben eines zufriedenstellenden Ding- und Formeindrucks klärt ihn darüber auf, ob er die perspektivischen Verhältnisse, die Farbenwerte, die
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Lichttöne richtig geahnt hat; er erkennt sie, nachdem er sie gemalt hat. Es handelt sich bei Fortschritten der Darstellungstechnik nicht sowohl um Entdeckungen in der Natur, als um solche in der Kunst. Immerhin setzen die mählich verfeinerten Illusionsmittel auch eine feinere Reaktion auf phänomenale Ähnlichkeit und damit eine erhöhte Bewußtheit der anschaulichen Orientierung voraus; sie entstammen jenem innigeren Rapport zwischen dem hellwachen Leben und dem Dämmerleben der Seele, das sowohl Quelle als Frucht einer allgemein verfeinerten Geisteskultur zu sein pflegt. Wenn die subjektivistischen Umformungen und Brechungen der Naturwahrheit in einer Kunstweise bestimmte seelische Gesamthaltungen bezeugen, so erweist sich letzlich das Gleiche von der A r t der gewollten und erreichten Wahrheit. Nicht allein Stoff und Stil, auch der Stand der Perspektive, des Helldunkels, des ganzen Systems der Wirklichkeitsnachahmung, das scheinbar außerhalb der Subjektivität der einander folgenden Menschen und Geschlechter nach immanenten Gesetzen heranwächst, hat seine tiefere kennzeichnende Bedeutung. 62
10. Das illusionäre Erlebnis und die Künste. Die Malerei ist unter allen Künsten diejenige, die das Wesen der Bild-Illusion am klarsten erkennen läßt. Wenngleich ihre eigenste Wirkung die träumerisch-ekstatische bleibt, so bietet sie doch sämtlichen Abwandlungen des Erlebnisses freien Spielraum und günstige Anregung. Andererseits bringt nur sie den abbildlichen Eindruck in seiner reinen Gestalt hervor. Die Kunst der farbig flächenhaften Darstellung hat den einzigartigen Vorzug, die Formelemente der sichtbaren Wirklichkeit vollzählig wiedergeben zu können, ohne ins sinnlich Täuschende zu verfallen. Sie schaltet aus der nachzuahmenden optischen Erscheinung eine Reihe von Daten aus. Die primär empfundenen Tiefenwerte, die hauptsächlich das Zusammenarbeiten der beiden Augen liefert, sind in der perspektivischen Projektion nicht vertreten. Dieser Ausfall wiegt, schwer genug, um die Unsinnlichkeit der Illusion entscheidend zu begründen; für den Inhalt der Ding- und Formanschauung kommt er nicht in Betracht. Wir erkennen Körper- und Raumverhältnisse mit zulänglicher Sicherheit auf Entfernungen, die die Reichweite jener Tiefenempfindung erheblich übersteigen; wir entwerfen sie P a p , Knnst und Illusion.
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nach Maßgabe erfahrungsmäßig deutbarer Helligkeits- und Farbendifferenzen, Linien- und Flächen-Kombinationen; wir legen vermöge einer Art unterbewußter Rechnung das zweifach ausgedehnte Gebilde in die kubische Objektwelt auseinander. Und auch das Sehen aus der Nähe kann der empirischen Hilfen nicht entraten; der erscheinende Raum hat mit dem wirklichen Raum unmittelbar nichts zu schaffen. Die stereoskopischen Tatsachen sind ihrer sachlichen Bedeutsamkeit nach ein entbehrliches, durch andere Anhaltspunkte ersetzbares, gleichsam überzähliges BestandstQck der phänomenalen Realität. Die nüchterne Anschauung richtet sich aber vorzugsweise auf Dinge und Dingbestimmungen; und wenn wir im Kunstgenuß der dargestellten Erscheinung erhöhte Aufmerksamkeit schenken, so macht doch, weil wir die wahre Erscheinung kaum jemals deutlich erfaßt haben, das unterscheidende Minus sich nur ausnahmsweise als solches geltend. So wird es möglich, daß der Maler, indem er das optische Urmaterial vereinfacht, gleichwohl die Formmerkmale der Natur ungeschmälert bewahrt. Er allein steht nicht vor der Wahl: Täuschung oder inhaltliche Beschränkung; er allein gewährt dem hellwachen Geiste Illusion an sich, mit Ausschluß jedes ihr unwesentlichen, verwickelnden Momentes. Die farblose Zeichnung wirkt bereits merklich abstrakt, oder sie legt uns geradezu ein abstrahierendes Schauen, also ein doppeltes funktionelles Verhalten auf. Die Reliefkunst ist zum Teil in noch strengerem Sinne als die Malerei auf direkte Wiedergabe der Erscheinung gestellt: sie bildet den Empfindungsraum des örtlich ruhenden Augenpaares, die natürliche Reliefform des jeweils gesehenen Weltausschnittes in verjüngtem Tiefenmaßstab nach. Hierbei macht jedoch das Spiel der realen Lichter und Schatten, das der Künstler gemeinhin nur im Groben beherrscht, eine Darstellung von Licht- und Farbenwerten untunlich; während hinwiederum eine gleichmäßige Lokalfarbigkeit das phänomenalistische Leitprinzip durchbrechen würde. Die daraus folgende Notwendigkeit, auf mimetische Verwendung der Farbe überhaupt zu verzichten, fordert kompensatorisch eine sehr freie, bewegliche Behandlung, wenn die Ausdrucksfähigkeit des Systems nicht versagen soll. Doch schließt sich freilich an diesen Haupttypus eine reiche Skala von Übergangs- und Mischbildungen, deren jede ihren eigenen, mehr oder minder elastischen Gesetzen unterliegt. 93
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Die Rund-Plastik steht dem Relief methodisch ferner als die Malerei. Ihre feste darstellerische Grundlage sind die von Ort und Beleuchtung unabhängigen Beschaffenheiten der Dinge: Körperform und Körperfarbe. Die naturalistische Farben-Skulptur strebt von der Illusion in die Täuschung, vom Abbild zum Abklatsch hinüber. Diese Kunst, zu der der naive Geschmack allezeit am stärksten hinneigt, pflegt das vornehmere Empfinden entschieden abzustoßen. Das liegt nicht an der Grellheit, sondern an der schwer zu vermeidenden Unvollkommenheit des Effektes. Wirklich täuschende Imitationen müssen keineswegs unästhetisch wirken, obzwar ihr positiver Reiz, der bloß einem nebenher gehenden Wissen entstammt, von geringem Belang ist; man denke an künstliche Blumen, an ausgestopfte Tiere. Das zweite Beispiel lehrt zugleich, daß es keine ernste Schwierigkeit bereitet, von den Lebensäußerungen animalischer Wesen abzusehen, daß wir auch angesichts der sinnlich dargebotenen Gestalt die triebhafte Erwartung der natürlichen Bewegungen zu unterdrücken vermögen. An dem peinlich Starren, Totenhaften der Wachsfiguren und ähnlicher Erzeugnisse trägt nicht die Regungslosigkeit des fiktiv beseelten Körpers die Schuld. Es haftet an dem Ansehen des Wachses, des Holzes oder Steins, das sich für normale Distanzen kaum zum Verschwinden bringen läßt. Die völlig adäquate Reproduktion scheitert fast stets an den eigentümlichen Texturqualitäten der Stoffe: Glanz oder Glanzlosigkeit, Durch- oder Undurchsichtigkeit, optische Härte oder Weichheit, Glätte oder Rauhheit, mit allen ihren Abstufungen. Je kleiner aber der Abstand von der gewohnten Seherfahrung ist, desto störender wird der Mangel fühlbar. Die Unmöglichkeit, den Unterschied bestimmt zu fassen, hindert die ruhige Einstellung und Anpassung; je nach dem Schwanken der Aufmerksamkeit wechseln Spuk und Entzauberung in einem gewaltsam passiven Schaukelspiel, das statt der Machtfreude des schaffenden und zerstörenden Willens nur lähmendes Entsetzen und dumpfe Betäubung im Gefolge hat, das jedoch eben darum einem derberen Sinn in hohem Grade zusagen mag.64 Allein auch die farblose Plastik (besser: die die Farbe nicht mit nachahmende) ist an sich nicht ohneweiters danach angetan, Illusion zu wecken. Sie hebt eine einzige Eigenschaftsgruppe der Dinge heraus; sie gibt nichts als Körper; darin kann sie aber bis 6»
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zur anschaulichen Identität mit dem Urbild gehen. Ihre Wirkung ist zugleich ganz sinnlich und ganz abstrakt. Das Verwirrende der halben Täuschung erscheint hier glücklich vermieden. Dennoch besitzt diese Weise der Naturdarstellung für das Gefühl des Kunstgebildeten nur in einem besonderen, abgeleiteten Falle ästhetischen Charakter. Als weitaus vorzüglichster, j a als allein zulässiger Gegenstand jeder den rohesten Anfängen entwachsenen Skulptur hat sich von altersher der Leib des Menschen und einiger Tiere bewährt. Das ist aus den nächsten Voraussetzungen der nachahmenden Kunst kaum zu verstehen. Man kann nicht sagen, daß zwischen dem Menschen und der Werksubstanz eine optimale Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit des Oberflächen-Aspektes besteht; noch weniger, daß in dem Bilde, das wir vom Leibe empfangen, die Farbe und das Stoffgefüge von geringerer apperzeptiver Wichtigkeit sind als in demjenigen anderer Dinge. Das schlichte Braun der Baumstämme und Äste gleichwie ihre oft sehr einfache RindenStruktur haben schwerlich mehr kennzeichnenden Wert als die optische Artung unserer Haut; und sie stehen zu den Eigenschaften des Erzes oder des Marmors in keinem mimetisch ungünstigeren Verhältnis als jene. Trotzdem muß die selbständige plastische Nachbildung eines Baumstrunkes, wie sie mitunter im Kunstgewerbe (Behälter u.dgl.) begegnet, immer etwas von plumpschaler Nachäffung behalten, während der gezeichnete Strunk die beste Wirkung tun kann. Dasselbe gilt von den meisten Naturobjekten und technischen Produkten. Man suche in der Betrachtung monumentaler Standbilder gewisse Beigaben, die bloß als randbewußt mit wahrzunehmende Ergänzung und Folie dienen sollen, scharf zu isolieren: es sind bronzene Pflanzen, Geräte, Felsblöcke, statt in Bronze dargestellter Dinge, gleichgiltig, ob die Bronze den Dingen spezifisch angemessen ist oder nicht. Auch das Barbarische steinerner Wolkenmassen rührt nicht von der Unbeweglichkeit und Undurchsichtigkeit der Materie her, oder gar von der assoziativ vorgestellten Schwere und -taktilen Härte; sonst müßte die Versteinerung des weichen, atmenden Fleisches und der blutdurchschimmerten Haut uns ebenfalls anstößig sein. Das Relief veranschaulicht all dies mit gleichmäßig gutem Erfolge; es zeigt uns Blumen, Blattwerk, Früchte, Vögel — Gebilde, denen das koloristische und Textur-Element so wesentlich ist, daß die geforderte Abstraktion unser Vermögen zu übersteigen scheinen
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könnte. Was den Bereich der farblosen Skulptur aufs äußerste einengt, was ihre ästhetische Möglichkeit schlechthin von Ausnahmsbedingungen abhängig macht, ist nicht die naturfremde Farbe als solche, sondern ihre schroff antithetische, ein entschiedenes Absehen von ihr nahezu ausschließende Paarung mit der täuschend nachgeahmten Form. Die Leibesform der höheren Lebewesen dankt nun ihre Sonderstellung dem Umstände, daß sie in die Gesamtanschauung nicht als letzte starre Gegebenheit einzugehen pflegt, vielmehr eine weiter forschende Ausdeutung dringlicher heischt und widerstandsloser gestattet als irgendwelche andere Bildung. Schon bei flüchtigem Anblick des nackten Menschen erfassen wir, je nach Kenntnis und Interesse deutlich oder nur unbestimmt-ahnend, unter der offensichtlichen Grenzfläche in mehrfacher Schichtung das verborgene Innere: die Muskeln, die vermittelnden Fettlager, das Knochengerüst; wenngleich die äußere Gestalt zumeist der Haupteindruck, der Grundton des Akkordes von Bildern bleibt. Diese illusionäre Transparenz des menschlichtierischen Organismus, in der angespannt verweilenden Kunstaufnahme rein durchgenossen, mildert den unverhältnismäßig einseitigen Naturalismus der Form; die ideell aufgelöste Körperschranke verliert ihr brutal sinnliches Dasein; und die notwendige Abstraktion fällt um so leichter, als wir auch am realen Leibe die Farbe der Muskeln und Skeletteile nicht erkennen, also ihn schon überwiegend abstrakt zu schauen gewohnt sind — eine Tendenz, die die Kunst zu völliger Einheitlichkeit des Inhalts fortführt und steigert. Ergebnis: die b i l d n e r i s c h e W i r k u n g i s t eine w e s e n t l i c h z u s a m m e n g e s e t z t e , die s t r e n g gen o m m e n n u r a p o t i o r i als I l l u s i o n b e z e i c h n e t w e r d e n d a r f ; u n d die b i l d n e r i s c h e I l l u s i o n i s t n u r die in die K u n s t a n s c h a u u n g ü b e r t r a g e n e n a t ü r l i c h e Illusion. Es beleuchtet den ganzen Sachverhalt gleichsam von der Gegenseite her, daß die Wiedergabe eines toten Objektes, über das ein dünnes Tuch gebreitet erscheint, etwa die bedeckte Urne, die man häufig auf Grabmälern angebracht sieht, einen befriedigenden Eindruck hervorbringen kann. Die Darstellung des leicht verhüllten Leibes gehört zu den Triumphen fortgeschrittener plastischer Technik; das anschmiegsame Gewand potenziert die unsinnliche Durchschaubarkeit. Hingegen sind steife oder nachschleppende Kleidstoffe illu•sionswidrig; desgleichen freilich fettentstellte Leiber, die nichts von
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dem inneren Aufbau verraten. Bewegung bringt abermals ein illusionär auflockerndes Moment hinzu; vollends verschwindet die Roheit der materiellen Abformung, wenn seelischer Ausdruck die Achtsamkeit ablenkt. Auf die Wirkung der naturfarbigen Plastik, die von vornherein keine ruhige Betrachtung erlaubt, sind die gleichen Faktoren nur von geringem Einfluß. Andererseits hat strenge Stilisierung in der plastischen Kunst jeder Gattung noch mehr als in der Malerei die Nebenfunktion, die anschauliche Frische zu dämpfen und zu brechen; wobei die freie Formbehandlung sich mit frei andeutender Färbung vereinen mag. Dem ästhetisch Naiven sind derartige Unterscheidungen darum insgesamt fremd, weil die unnatürlich marmorweißen Dinge, die er sieht, seiner Hinneigung zum Grotesken ebenso wohl entsprechen wie die zwischen Wachs und Fleisch schillernde Halb-Lebendigkeit der naturalistisch bemalten Figur. J a auf primitivster Stufe dürfte sogar der gespenstische Eindruck des steinernen Menschen im Sinne eines eigentümlichen ästhetischen Fetischismus geschätzt und angestrebt sein. 65 Die Körperform, auf der sich die bildnerische Mimesis aufbaut, steht zur dämmerbewußten Anschauung in einem loseren Verhältnis als die Erscheinung. Sie ist klarer erkennbar und leichter nachahmbar; die Plastik erreicht lange vor der Malerei eine relative Höhe der Vollkommenheit, und die Anpassung, die sie verlangt, gilt nicht sowohl dem positiven Verständnis als der Abwehr der Störungen. Aus demselben Grunde liegt es außerhalb ihrer besonderen Anregungstendenz, in tiefste träumerische Entrückung zu versetzen. Schon dadurch, daß sie den Beschauer im Räume umherführt, unterhält sie eher eine mäßig gehobene als eine gedämpfte Stimmung. Denn wir können die räumliche Form nicht in wünschbarer Reinheit von einem oder wenigen Standorten aus erfassen; sie fordert Ortsbewegung an ihr entlang und um sie herum. Das plastische Kunstwerk par excellence ist das freistehende, auf Rundgang berechnete; die einseitige Orientierung auf einzelne feste Punkte hin leitet bereits deutlich zu malerischreliefmäßigen Zwischentypen über. Diesem Gegensatz entsprechend haben die verschiedenen abbildlich nachahmenden Künste auch für den geistigen Funktionsdrang eine ungleiche Bedeutung. Zwar üben sie alle die Macht, uns das eigene Schauen intensiver als sonst durchleben zu lassen und es inhaltlich reicher zu gestalten.
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In der alltäglichen Sehpraxis wird die ursprüngliche, umfassende Reaktion, wie sie vom Erscheinungsbild durch das Formbild zum Dingbild vorschreitet und sich erst mit Hilfe der leiblichen Bewegung vollendet, insbesondere am Anfang und Schluß stark verkürzt. Wir eilen über die impressionäre Vorstufe hinweg, wir verzichten auf die umkreisende Prüfung. Die Realität beansprucht gewöhnlich nur jenes mittlere Maß von Beweglichkeit, das die sachlich genaue Wahrnehmung gewährleistet. Die Malerei ist nun außerordentlich geeignet, die ersten Stadien des vollständigen Bildvorganges zu erneuter Bewußtseinswirklichkeit zu erwecken; sie hemmt jedoch seine letzte Entfaltung, indem sie uns physisch an den Platz bannt. Hier beginnt das Amt der echten Plastik, der allseitig sichtbaren Rundfigur. Sie bringt gerade den anderen Hauptteil des Gesamt-Prozesses aufs wirksamste in Gang; sie schenkt uns den erlesenen Genuß einer ewig flüssigen Anschauung, die dem Blick immer wechselnde Formmotive enthüllt und sich nur im steten Ringlauf der Eindrücke zum Ganzen zusammenschließt. 66 Ob die rein sprachlich darstellende Poesie fähig sei, eine eigentliche Anschauungs- Illusion hervorzubringen, möchte zunächst fraglich heißen. Unzutreffend ist jedenfalls die Meinung, daß sie überhaupt nicht anschaulich, sondern nur begrifflich beschreibt, daß die Sprache wesentlich Gedanken mitteilt, im vorstellenden Geiste aber nur Erinnerungen an Allbekanntes oder ganz persönliche, darstellerisch unverwertbare Assoziationen weckt. Der Dichter kann recht wohl nach seinem Willen neue Bilder aufrufen. Diese sind oft sehr bestimmt geartet, obzwar nicht eben r e i c h an Bestimmungen. Wir erkennen die charakteristische Leibeshaltung einer Person, so wie der Erzähler sie schildert, an lebenden oder gemalten Menschen mit großer Sicherheit in ihrer feinsten Nuance wieder, und analoge Feststellungen anderer Leser begegnen sich mit den unseren. Besäßen wir alle neben empfänglicher Phantasie auch hinreichende künstlerische Fähigkeit, wäre nicht ein solcher schon beim Individuum seltener Verein von Eigenschaften kaum jemals in einer natürlichen Gruppe durchgängig anzutreffen: wir könnten die Kurve jener Haltung präzis und in übereinstimmender Weise aufs Papier entwerfen. Vielleicht aber n u r sie! Vielleicht ist sie das Einzige, was uns die Person bildlich definiert. Dabei glauben wir fast immer, ziemlich v i e l zu schauen, weil das Ge-
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schaute uns absolut befriedigt. Wir erbieten uns wohl gar, eine detaillierte Analyse mit Wort oder Griffel zu geben. Wenn nun der Versuch, wie unvermeidlich, fehlschlägt, wenn wir über Aussehen, Gestalt, Miene, Kleidung der betreffenden poetischen Figur nichts irgend Entschiedenes auszusagen wissen oder wenn verschiedene Aussagen in den meisten Stücken widersprechend geraten: dann schlägt unser erstes Urteil in sein Gegenteil um; es scheint uns, daß wir schlechthin nichts wahrhaft schauen, oder alles Anschauliche dem Dichtergedanken willkürlich unterschieben. Mit Unrecht. Denn auch die illusionären Eindrücke der Malerei sind mitunter inhaltsarm; vollends sind es zumeist unsere Erinnerungen. Wir vermögen von mancher zweifellos bildkräftig vorgestellten Sache keine genaue Rechenschaft abzulegen; wir schwanken in der Beschreibung altvertrauter Umgebungsstücke, an denen wir doch kleine, in unserer Abwesenheit vollzogene Veränderungen sofort bemerken, und die wir, sobald sie uns in anderem Zusammenhange entgegentreten, scharf unterscheidend agnoszieren. Das Gedächtnis vereinfacht, es eliminiert Merkmale, die sich im klaren Sehen notwendig und ausnahmslos aufdrängen; auch ist Wahrgenommenes durchschnittlich leichter analysierbar als Erinnertes; darum kann Erinnerung doch ein Anschauungsvorgang sein. Und ähnlich steht es mit dem sprachlich suggerierten Bild: seine Abstraktheit macht es noch nicht zum bloßen Denkbegriff. Die Poesie verfügt über mannigfache Kunstmittel, durch die sie das Vorstellen eindeutig anregt, das heißt seine Tätigkeit zugleich energisch in Fluß bringt und in streng vorgezeichnete Bahnen lenkt. 67 Das Zeichensystem der Sprache ist auch nicht lediglich von konventioneller Art. Die direkte lautliche Nachahmung greift auf dem Wege angeborener Wechselbeziehungen der Sinne ausnahmsweise auf den Bereich des Gesichtes über. Regelmäßigeren Anlaß zu einer durchgeführten natürlichen Sprach-Symbolik bietet die zeitliche Seite wahrnehmbaren Geschehens. Selbst die prosaische Erzählung muß den Gang der Begebenheiten im Großen treulich einhalten. Über das Nacheinander der einzelnen Redeglieder entscheiden allerdings die Prinzipien des diskursiven Denkens, der logisch-grammatischen Gliederung. Doch schon bei normal lebhaftem Gefühlsanteil durchbrechen wir diese Ordnung mehr und mehr zugunsten der anschaulich historischen. Der Dichterkunst erschließt sich hier eine ergiebige Quelle von Darstellungsbehelfen.
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Je spezieller der zeitliche Verlauf mit der Dingform empirisch verknüpft ist, um so höheren Bildwert besitzt seine syntaktische Spiegelung. Noch wichtiger als die Folgeverhältnisse äußerer Vorgänge sind diejenigen unseres persönlichen Auffassens. Der natürliche Reihenfortschritt der Betrachtung ermöglicht eine malende Poesie, die dem ruhenden Objekt besser gerecht wird als die Künste der Ruhe dem bewegten. Andere Bestimmtheiten der subjektiven Funktion liefern gleichfalls brauchbare Elemente einer auf Ähnlichkeit gegründeten Wiedergabe. Wenn der Dichter nach denselben Gesetzen, denen die sinnlich-geistige Aufnahme der Realität unterliegt, die Teileindrücke auswählt, abgrenzt, verbindet, ihnen abgestufte Deutlichkeits- und Wichtigkeits-Akzente leiht: so schafft er die Form des apperzeptiven Verhaltens nach, eine Form, die sich unter Umständen mit schmiegsamster Besonderung den Gegenständen anpaßt. 68 Dennoch besteht für die eindringende Beobachtung kein Zweifel, daß die Wort-Poesie nicht den illusionistisch-anschaulich wirkenden Künsten beizuzählen ist. Ihre Nachahmungsmittel überschreiten nicht das Zeichenhafte; die Einfachheit ihrer visuellen Stoffgehalte entspricht der Tendenz des Vorstellungsvermögens, an das die sprachliche Schilderung sich wendet, in dessen Schranken sie gebannt bleibt. Die dichterisch vermittelten Anschauungen, so lebhaft und klar sie oft sind, unterscheiden sich der funktionellen Frische nach nicht von gewissen zusammenhängenden Phantasien, in deren freiem Spiel wir uns gerne ergehen. Wohl aber kann die einläßlich ausmalende Erzählung von einer allgemeinen Illusion der zeitlichen Gegenwart, des absoluten Jetzt, der aktuellen Augenblicklichkeit begleitet sein. Die apperzeptive Wahrheit, deren die poetische Darstellung fähig ist, weckt außerdem die Illusion der ö r t l i c h e n Gegenwart, des primär gegebenen Naturdaseins, die Urteils-Illusion, Wirkliches wirklich zu sehen. Ohnedies hinterläßt jede gelungene Schilderung alsbald die Illusion des Gesehenhabens; der neu empfangene Bildstoff haftet im Gedächtnis als ein von außen Zugeführtes, nicht spontan Erzeugtes, und weist nach zwingender Analogie auf einen vorangegangenen Augenschein hin; wir erinnern uns der Sache so, als ob wir sie gesehen hätten. Diese Wirksamkeiten verdoppeln sich, wenn der Dichter fingiert, im Angesicht der Dinge zu sprechen, und dem innerlich mitsprechenden Hörer oder Leser geradezu die Rolle des Sehenden auferlegt.
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Die nachbildende Rede tritt hier als unmittelbare, triebhaftpersönliche Reaktion auf, als eine jener impulsiven Äußerungen, die beinahe mit zum eifervollen Wahrnehmen gehören, durch die und in denen das Wahrnehmen erst zu seiner letzten seelischen Aufgipfelung, zur intensivsten Eineignung seiner Inhalte gelangt. Sinn und Zweck der Sprache wird eine Art Selbstaufklärung; der Ausdruck treibt rückstrahlend den Eindruck zu höchster Energie und Helle. Wir mißverstehen dann wohl unseren Zustand ähnlich wie im Falle der malerischen Illusion; die Gleichheit der Reaktion postuliert die Gleichheit des Anlasses; wir glauben in der Tat irgendwie zu „sehen". Der ästhetische Wert malender Poesie ist jedoch von allen derartigen Ingredienzien unabhängig. Auch ruhig-sachliche Beschreibung, die nichts als Vorstellung schafft, kann reizvoll sein. Nur setzt das anschauliche Verständnis und der Genuß einer treffenden sprachlichen Charakteristik voraus, daß gemeinsame typische Seherfahrungen einer Menschengruppe sich mit jenen des Sprechers hinreichend decken und seinen bestimmten Winken entgegenkommen.69 Wie die Wortpoesie hinter der abbildlichen Illusion zurückbleibt, so geht das aufgeführte Drama über sie hinaus. Die heute übliche Ausstattung der Bühne sucht der Täuschung möglichst nahe zu kommen; die Schauspielkunst stellt das Wahrnehmbare ihres Gegenstandes zum Teil sogar wirklich vor uns hin: den so gestalteten und erscheinenden Menschen, seine Miene und Rede, seine augenfälligen Bewegungen und Haltungen. Allein das Drama wendet sich gleich den meisten Dichtgattungen nicht mehr vornehmlich an das Sinnenleben in dessen verschiedenen Kategorien; darum pflegt uns auch das unzulänglich Täuschende szenischer Vorführungen kaum zu stören. Die gesehene und gehörte Tragödie muß nicht wesentlich anders wirken als die gelesene. Im seelischen Widerhall einer Dichtung ist die Anschauung zumeist nur ein untergeordnetes Element. Der Begriff Illusion verändert, auf das Poetische angewendet, seinen Hauptinhalt. 70 11. Die nicht-anschaulichen Kunst-Illusionen. Die Gegensätzlichkeit einer farbenfrischen und einer farblosen Erlebnisweise durchzieht die Gesamtheit aller seelischen Vorgänge, so verschieden im übrigen ihre Artung und Bedeutung sind. Ein
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blasses oder (anders verbildlicht) kaltes Gefühl hat überall dort seine Stelle, wo wir etwa sagen: ich erinnere mich meines damaligen Zornes, ich male mir eine große Leidenschaft aus, ich stelle mir die Freude dieses Mannes vor. Die Ausdrücke deuten auf eine der unsinnlichen Anschauung analoge Funktionsform hin, in der wir uns gegenständlich aufgefaßte, von der Beziehung auf unser augenblickliches Ich losgelöste Gemütsbewegungen inhaltlich adäquat vergegenwärtigen. Auf gleiche Weise entsinnen wir uns mancher einst von uns vertretenen Ansicht oder Idee. Die komplizierende Objektivation kann aber fehlen; Gefühle und Gedanken treten rein und einfach in vorstellungsblasser Form auf; die Erinnerung an längstvergangene schmerzliche Schicksale weckt ein schattenhaftes Etwas von Erregung. Diese funktionellen Typen stehen nicht nur der Bild-Vorstellung, sondern aller Anschauung auch durch einen gleichsam oberflächenhaften Charakter nahe; sie ermangeln der unmittelbaren Zugehörigkeit zum innersten Selbst, zum Kernpunkt des Ego, die das vollfrische Denken, Fühlen und Wollen auszeichnet, und die ihm zugleich das Gepräge des aktuellen, wirklichen, wahren, echten Erlebens im prägnanten Sinne verleiht. Auf der Fähigkeit, Affekte und Begehrungen in uns nachzuformen, ohne sie zu aktualisieren, beruht die wissenschaftliche wie die gemeine Psychologie, ja schon das elementare Verstehen sprachlicher oder mimischer Seelenkundgebungen. Ebenso fordert jeder Meinungsaustausch, jede Kritik, jedes tastende Oberlegen und Erwägen die versuchsweise Bildung unentschiedener, unechter, vorstellungsartiger Urteile; wir denken im Gespräch die fremden Gedanken zuerst unverbindlich nach, bevor wir ihnen zustimmen oder sie verwerfen, das heißt, bevor wir sie zu unseren eigenen machen oder sie endgültig außer uns halten und abweisen. 71 Die Kunst schafft nun wieder psychische Zwischen-Kategorien. Am engsten verbindet sich mit der Bild-Illusion die Urteils-Illusion oder Fiktion, in der wir auf das zu Denkende gewissermaßen halb eingehen. Durch sie erfassen wir den pragmatischen Grundgehalt der Erzählung und des Dramas. In der Wirkung der Poesie ist das Geschaute hauptsächlich nur Träger der gedachten Vorgänge, Eigenschaften, Zustände, Beziehungen. Die Geschichte gibt ihrem Helden den individuellen Umriß. Was seine äußere, durch einen Namen repräsentativ bezeichnete Personalität bestimmt, ist nicht
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sowohl sein Aussehen als seine Schicksale, Angelegenheiten und Situationen, die wir bildlos begreifend und wissend zur Totalität seiner Existenz zusammenfassen. Der Mann auf der Bühne, dessen Gestalt und Gebaren ich sehe, dessen Stimme ich höre, ist für mich der historische Wallenstein. An diese konstitutiven Fiktionen schließt sich dann als allfällige Begleitung das Bewußtsein der sinnlich-realen Anwesenheit, der zeitlichen Gegenwart, der Unendlichkeit des dargebotenen Weltausschnittes; ich habe die Illusion, Wallenstein wirklich vor mir zu sehen und Zeuge seines Lebens zu sein, in seiner Umwelt und Zeitperiode mitteninne zu stehen, eine ganze Menschheit aufs intimste zu kennen. Erfundene Geschichten können eine distinkte Illusion der Wirklichkeit schlechthin wecken; wir gefallen uns darin, sie als wahr, als einmal tatsächlich vorgefallen zu denken. So ist denn die epische und dramatische Dichtung, von Übergangstypen abgesehen, in erster Reihe illusionistische Gedankenkunst; während in den abbildlich gestaltenden Künsten, wenn sie Handlung darstellen, das Pragmatische notwendig hinter dem Schaubaren zurücktreten muß. 78 Als die wunderbarste Wirkung dichterischer Mimesis erscheinen jedoch dem sinnenden Kunstfreunde stets aufs neue die starken Gefühle der Spannung, Furcht, Hoffnung, des Mitleidens und der Mitfreude, der Bewunderung und des Abscheus, die durch irreale und unseren natürlichen Gemütsinteressen ferner liegende Geschehnisse in uns aufgerufen werden. Indem wir auf diese annähernd so reagieren, als ob sie wirklich wären und in den regulären Umkreis unserer Anteilnahme fielen, indem wir für die dargestellten Personen beinahe dieselben Gesinnungen und Wünsche hegen wie für geliebte oder gehaßte Personen unserer Umgebung: vollendet sich erst die Ebenbildlichkeit der Kunsterfahrung zur alles umfassenden Illusion eines anderen Seins, in das wir zeitweilig übergetreten sind. Die weitgehende Frische oder Wärme solcher Regungen verführt dazu, in ihnen echte Gefühle zu sehen, denen eben nur der reale Gegenstand oder der adäquate Grund fehlt; also eine bewußte Gefühlsirrung, entsprechend der für die Bild-Illusion angenommenen bewußten Sinnestäuschung. Die erste der beiden Regelwidrigkeiten begegnet ja im Leben noch häufiger als die zweite. Das aktuell fühlende Verhalten zeigt sich eigenherrlicher, von der Außenwelt unabhängiger als das wahrnehmende, das von vornherein auf neutrale Spiegelung angelegt ist; die sub-
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jektive Disposition beherrscht es in entscheidenderem Maße. Wenn wir vermöge augenblicklicher Gelauntheit oder eines dauernden Charakterzuges zum Schmerzlichen hinneigen, wenn wir unter der unbestimmten Nachwirkung eines kaum verwundenen Schmerzmotives stehen, wenn in unseren unveränderlichen Lebensverhältnissen eine permanente Leidspannung begründet liegt, wenn wir überdies viele Schicksalsgenossen kennen, so daß sich uns jede Mahnung zum Leid durch die Resonanz des allgemeinen Menschenleides verstärkt: dann genügt der leiseste Anstoß einer „traurigen", d. h. fakultativ trauerbetonten Phantasie- oder Denkvorstellung, die einmal in uns aufgetaucht ist, um den schlummernden echten Affekt zu wecken; und dann macht uns allerdings auch die Tragödie wahrhaft leiden. Die Gefühls-Illusion selbst zieht immer gewisse abstrakte, aber aktuelle Stimmungsgefühle oder Stimmungen im engeren Sinne nach sich, wie sie in anderen Fällen sogar ohne äußere Anregung, ja ohne Gegenstand, zu kommen und zu gehen pflegen; das Trauerspiel bewirkt vielleicht nicht echte Trauer, aber echte Traurigkeit, echten tiefen Ernst. Umgekehrt mögen auf dem Boden einer schon vorhandenen Stimmung, die sich mit dem emotionellen Grundton der Dichtung begegnet, die illusionären Gefühle besonders kräftig erwachsen. Gleichwohl ist der eigentümliche Erfolg der poetischen Mimesis nicht wirkliches Fühlen. Wie wir auf die Fiktionen der Kunst nur halb eingehen, so auch auf ihre affektiven Suggestionen. Das besagt nicht, daß die Stärke der Gemütsbewegung geringer ist. Alle Funktionsgattungen variieren nach mehrfacher Richtung; das Gefühl hat gleich der Anschauung seine inhaltliche Intensität, seine Bewußtseinsenergie, seine Frische. Ein zurückgedrängter großer Zorn ist mit lebhaft hervortretendem kleinen Ärger, die Illusion oder Vorstellung des Zornes mit schwächerem aktuellen Zorn keineswegs identisch. Vollends geht es nicht an, die Illusion als Vorstellung zu deuten. Die innere Beobachtung vermag die folgenden Typen deutlich auseinander zu halten: den regulären Gefühlseffekt einer dichterischen Darstellung; die ruhige Ausmalung von Gefühlen, die etwa bei der Lektüre beschreibender Psychologie statthat; endlich, abseits von beiden, das Operieren mit den Denkbegriffen der Gefühle in konstruktivpsychologischen, logischen oder sprachlichen Betrachtungen, die eine inhaltsgleiche geistige Nachbildung nicht erfordern. 73 Aus dieser Analogie mit der Anschauungs-Illusion ergibt sich
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ohneweiters, daß auch die Gefühls-Illusion eine wesentlich einfache Erfahrung ist. Sie besteht nicht im Wechsel oder Nebeneinander disparater Gefühle, des echten Leidens um den Helden und der Freude am Werk. Das Realitätsurteil kommt für ihre Charakteristik außer Betracht. Ihr fiktiver Gegenstand mag wirklich öder unwirklich, glaubhaft oder unglaubhaft sein, ich mag nach der Wirklichkeit fragen oder nicht: die psychische Haupttatsache bleibt dieselbe. Weder der Gedanke, daß unsere Erregung des zureichenden Grundes entbehre, noch die Abstraktion von der Grundlosigkeit, noch die Annahme, ich h ä t t e Grund erregt zu sein, macht das Erlebnis zu dem, was es ist; am wenigstens die Annahme oder der Glaube, d a ß ich wahrhaft erregt sei; Gefühls-Illusion ist nicht „Illusion, zu fühlen", nicht „Wahn, zu fühlen". Im übrigen läßt der elementare Vorgang die mannigfachsten Abwandlungen zu. Er nähert sich bald dem einen, bald dem andern Pol der kategorialen Reihe; das gemeine Gefühl erscheint in ihm häufig vereinfacht, nicht minder häufig voller entfaltet und breiter auseinandergelegt; das letztere namentlich dann, wenn im natürlichen Leben ein verweilendes Durchfühlen der Situation allzu peinlich wäre, oder wenn es unmöglich ist, weil der betreffende echte Affekt und seine realen Anlässe ihrer Artung nach zu raschem Handeln drängen. Ferner ist die Illusion eine bewußte oder unbewußte; sie wirkt sich einmal rein und gesammelt aus, das andere Mal weckt sie vielfältigen Widerhall; wobei zugleich die allgemeine seelische Energie bis zum Ekstatischen gesteigert oder gedämpft sein kann. Ähnlich steht es mit der Beteiligung der Willensfunktion an der Kunstaufnahme. Man pflegt das ästhetische Verhalten als begehrungsfrei zu denken. In Wahrheit schließt unter Umständen die vollständige Illusion auch die dem natürlichen Fall entsprechenden voluntativen Reaktionen ein. Wir ersehnen für den leidenden Helden Erlösung; wir möchten ihn befreien, wenn der Dichter unsere Phantasie dazu auffordert, wir wollen, ja wir tun es als stille Mithelfer: es gibt eine motorische Illusion, die der psychischen Seite wirklicher Handlung, Bewegung und Kraftspannung mehr oder minder nahekommt. Wir sind in die geschilderte oder gemalte oder szenisch auftretende schöne Frau illusionär verliebt, wenn es dem Künstler gefällt und gelingt, den spezifisch geschlechtlichen Liebreiz mit zu betonen; kein kunstempfänglicher
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Mann betrachtet eine ideegerecht dargestellte Phryne oder Danae mit derselben asexuellen Bewunderung der lebendigen Gestalt, die er einem schönen Mannesleib oder einem anmutigen Tierleib entgegenbringt. Was wir in dieser Hinsicht erfahren, ist auch nicht etwa bloß die vage Vorstellung eines möglichen Begehrens; vielmehr eine halb entspannte Sehnsucht, die aus dem Kreise der übrigen, eng verbundenen Illusionen der Regel nach nicht heraustritt. Und wie die aktive, so die passive Haltung: wir erleiden illusionär die unserer Macht entzogenen Geschehnisse des Dramas; wir unterliegen den durch sie postulierten Gefühlen, Gedanken, Bewegungen; wir sind von einem Zwang erdichteter Gegebenheiten und Notwendigkeiten beherrscht. Im gleichen Sinne reproduzieren wir endlich die seelischen Allgemeinzustände, die wesentlich durch die A r t der Vorgänge, durch Reihenbildung, zeitlichen Verlauf und abgestufte Betonung gekennzeichnet sind: Dauer-Affekte und Dauer-Stimmungen, Leidenschaft oder inneren Frieden — alles in einer formal ähnlichen Weise, die sich zu dem echten Zustand genau ebenso verhält wie der illusionär gebrochene oder kalt erinnerte Schmerz und Zorn zur heißen Wirklichkeit des Gemütes. Eine besondere Verwicklung des Tatbestandes erwächst daraus, daß wir die künstlerisch vermittelten Gefühle, Begehrungen, Zustände oft gleichsam auf fremde Rechnung, durch die Seele eines Andern hindurch, von seinem Standort aus erleben. Wir leiden nicht nur um den Helden und mit ihm, sondern auch in ihm; wir fühlen irgendwie seine Gefühle als die seinen. Diese Versetzung in ein zweites Ich, die man gewöhnlich als „ E i n f ü h l u n g " bezeichnet, ist selbst Illusion, und zwar wesentlich Denk-Illusion: ich verwandle mich fiktiv in das andere Individuum, das mir durch die Gesamtheit seiner inneren und äußeren Existenz definiert und gegeben ist; ich lebe mich bis zu einem gewissen Punkte in das Bewußtsein ein, ich sei die geschilderte Person; und ich rechne ihr eine in sich zusammenhängende Reihe meiner eigenen Erfahrungen, meist wieder illusionäre Funktionen aller Klassen, annahmsweise zu. Denn wie ich die Gefühle meines Alterego fühle, so denke ich seine Gedanken, ich will seinen Willen, ich bewege, halte und gebärde mich an seiner Statt, ich rede aus seinem Munde, ich schaue mit seinen Augen; ich mache mich in seinen Leidenschaften und Ekstasen, vielleicht in seinem
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Wahnsinn heimisch: ohne irre oder berauscht zu sein oder träumerisch zu dämmern, spiegele ich in mir die Bilder- und Gefühlsflucht des Deliriums oder Rausches, die verschwommenen Eindrücke und Ideen der Träumerei, das Außerhalb von Sinnlich und Unsinnlich, Real und Irreal. Ich nehme sogar die unterbewußten Hinneigungen und Bereitschaften des fremden Geistes und Charakters, sein latentes Wissen und Können an, um sie bei geeignetem Anlaß spontan zu bewähren. Der ganze Vorgang stellt neuerdings ein Mittleres dar zwischen vorstellender Nachbildung und einer wirklichen Verwandlung der psychischen Personalität, die nur unter Ausnahmsbedingungen möglich ist. Die Zweiheit des eigenen und des fremden Ich bleibt hierbei so lange aufrecht, als nicht überhaupt die Grenzen von Subjekt und Objekt in der All-Einheit der echten Ekstase aufgehoben sind; die normale Einfühlung bedeutet kein Jenseits von Ich und Er, sondern ich bin es, der sich in j e n e n fortdauernd einfühlt. Das geistige Hinüberwandern ist übrigens nicht an die Schranken menschlichen oder menschenähnlichen Lebens gebunden. Wir „schlängeln" uns mit einem neuen Leibesbewußtsein in der Schlange, wir wiegen uns als windbewegter Baum, schaukeln uns als Welle, richten uns als ragende Bergspitze auf; wir schweben als Wolke frei in der Höhe, heulen und jagen als Sturm dahin, wir weiten uns im unendlichen Raum. Wir können schließlich in alle unbewegten Dinge oder Dingkomplexe illusionär eingehen, wenn wir ihnen etwas von der Grundstimmung ruhigen Daseins leihen; nicht minder aber in Gruppen und Massen von Lebewesen, wenn wir sie als einheitlich beseelte und krafterfüllte Ganze zu denken vermögen. 74 Die reaktiven, die sympathetischen und die introjektiven Illusionen können sich derart verteilen, daß je nach den uns künstlerisch vorgeführten Persönlichkeiten das eine oder das andere Verhalten überwiegt. Doch nehmen wir auch in bezug auf dieselbe Person abwechselnd den Außen- und den Innenstandpunkt ein, wobei die zwei Funktionsreihen sich gegenseitig beleben und steigern; selbst inmitten der Einfühlung mag sich ein Untergrund freundlicher oder feindlicher Zuschauergefühle (Bewunderung oder Verachtung des Helden, Furcht um ihn oder vor ihm) behaupten. Wo diese vorwalten, wird uns das fremde Seelenleben oft zur bloßen Vorstellung verbleichen. All das geschieht teils nach unserer Hinneigung, teils nach dem Willen des Künstlers. Unter den
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darstellerischen Mitteln emotioneller Suggestion läßt die sachliche Vergegenwärtigung der äußeren Schicksale dem Aufnehmenden die größte Freiheit; immerhin ist hier das anlaßgemäße Fühlen von außenher zum mindesten der primäre Erfolg. Das Umgekehrte gilt von der direkten Schilderung innerer Vorgänge. Einen dritten, mittleren Weg eröffnet die Wiedergabe des triebhaften Ausdrucks. Die Wirkung ist in keinem Falle der Treue der Nachahmung proportional. Der natürlichste Ausdruck ist nicht der eindrucksvollste, da die Psyche sich niemals mit vollkommener Deutlichkeit und Eindringlichkeit unmittelbar äußert; ein wohlgesetzter Monolog bringt uns vielleicht die Geisteslage des Sprechers näher und bewegt uns tiefer als die Reproduktion des wortkargen Gestammels und der vereinzelten Ausrufe, in denen der einsam Fühlende sich tatsächlich zu ergehen pflegt. Der Ausdruck ist ja nur Zeichen, Vorstellungsmedium, ein „natürliches" zwar im Sinne kausaler Zuordnung, der Art nach aber dem Ausgedrückten durchaus unähnlich und disparat; die mimische Sprache ist keine mimetische, noch weniger eine abbildliche; sie verstehen bedeutet nicht, die Seele des anderen in seinem Antlitz schauen oder sie illusionär in uns reflektieren. Die naturwahr gemalte Miene und Geste des Gefühls weckt, für sich beachtet, eine packende Anschauungs-Illusion, vielleicht überdies die Urteils-Illusion der Wahrheit, der Echtheit, der Gegenwart; sie muß nicht eine starke GefühlsIllusion hervorbringen. Indem die Kunst auf diesen oder auf jenen Effekt ihre Akzente legt, ergeben sich zwei typische Weisen, Gemüts- und Willens-Tatsachen zu vermitteln. Ein zornig Tobender kann so geschildert sein, daß man das frischeste Bild eines Zornigen empfängt und ihn leibhaft zu sehen erklärt, hingegen sich weder von dem Affekt des Zornes noch von den dem fremden Zorn gewöhnlich antwortenden Regungen irgend persönlich ergriffen f ü h l t ; die Darstellung kann andererseits danach angetan sein, uns zu heftigem Zürnen, Mitzürnen und Gegenzürnen zu überreden, während sie dem kalt prüfenden Blick als Verzerrung erscheint. Dem naturalistischen Verfahren steht das rhetorische gegenüber, das, sobald die tragende Gefühlsstimmung sich zum Rausch erhöht, in das stilisierende übergeht. Die primitiv, beschreibende Malerei ist immer zugleich rhetorische Ausdruckskunst: ein in der Greifrichtung verlängerter Arm soll nicht nur die räumliche Bewegung energischer verbildlichen, sondern auch der P a p , Kunst und Illusion.
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Illusion eigener, leidenschaftlicher Körperbewegung als kräftigster Anreiz dienen. Dem psychischen Unterschied entspricht der physische. Die kalti Anschauung der Geberde ist von keinen anderen Kundgebungen begleitet als denen des Interesses und ästhetischen Vergnügens; die Gefühls- und Willens-Illusion drückt sich ihrerseits durch mancherlei Reflexe aus, die zum Teil mit dem dargestellten und gleichfalls suggerierten Ausdruck zusammentreffen. Die motorischen Illusionen entladen sich geradezu in den durch ihren Inhalt vorgezeichneten Bahnen; die Einfühlung in eine sprechende, gestikulierende, handelnde Figur hat Impulse und Ansätze zu muskulärer Tätigkeit im Gefolge, wenn sie nicht gar zu wirklicher Tätigkeit vorschreitet. Hinwiederum begünstigt das wirkliche Sprechen und Agieren einer Rolle rückwirkend den Gesamtvorgang der Einfühlung, ohne sein illusionäres Wesen aufzuheben: die eigentätig vollführte Bewegung bleibt ebenso wie die sinnlich gesehene im Erlebnis dramatischer Dichtung ein subalternes Element. — Nicht selten ist übrigens statt des Dargestellten die Darstellung selbst Gegenstand der Illusion. Die eifervolle Schilderung einer als gegenwärtig gedachten Landschaft gewährt oft neben der Illusion, persönlich zu sehen, auch die übergeordnete Illusion, das Gesehene persönlich zu verarbeiten; wir werden fiktiv zum Dichter, wir schaffen an dem Werke, indem wir es genießen. Desgleichen lädt uns eine gewisse schwunghafte Art des Zeichnens ein, die Linien, die gleichsam nur expressive Gesten im Angesicht der Wirklichkeit, Vehikel der Selbstaufklärung und apperzeptiven Aufgipfelung sind, im Geiste nachzuziehen, die Dinge malerisch vor uns hin zu entwerfen, also das Stück Natur nicht sowohl im Abbild zu erfassen, als es abbildend zu bewältigen, ja aus uns heraus neu zu gestalten. Das Erlebnis kann sich ins Ekstatische erheben: Spiegelung der Außenwelt und schöpferische Rückäußerung werden letztlich eins. Treten solche Fälle einer halb lyrischen Darstellung schon mehr und mehr aus dem Bereich der nachahmenden Kunst heraus, so gehört ihr die eigentliche Lyrik, die poetische Gefühlsaussprache in eigenem Namen, nur noch insofern an, als sie eine reale oder ideale Menschen- und Dingnatur, wenn nicht darstellt, so doch voraussetzt und zum Teil auf sie implizite hindeutet. Ihre gegenständlichen Grundmotive sind zumeist von typischer* einfacher Art und bedürfen keiner mimetisch aufbauenden Ge-
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staltung; allgemeine Stimmungen wie Schwermut oder Heiterkeit müssen schlechthin kein festes Objekt haben; die wechselnden Bilder und Denkvorstellungen, die der Gefühlsstrom mit sich führt, geben höchstens zu episodischen Schilderungen Anlaß. In fingierter Rolle tritt der Liederdichter nur ausnahmsweise auf. An den wirklichen Dichter und seine Lebensverhältnisse pflegen wir in der währenden Aufnahme lyrischer Poesie auch dann nicht zu denken, wenn wir mancherlei von ihnen wissen und uns wohl bekannt ist, daß die Voraussetzungen des betreffenden Gedichtes biographisch wahr, die darin verkündete Liebe und Begeisterung menschlich echt sind. Im Liede erscheint der Künstler doch lediglich als der einmalig so und so Redende, Denkende und Fühlende. Indem wir aber die Rede laut oder still, wirklich oder illusionär nachsprechen, indem wir uns die Gedanken und Gefühle in vollfrischer oder abgeblaßter Form zueignen, kann sich uns die nicht näher bestimmte Fremdpersönlichkeit alsbald gänzlich verflüchtigen. Wir verhalten uns dann weder reaktiv noch sympathetisch noch einfühlend; wir finden nicht hinter den Worten eine Erregung vor, der die unsere antwortet, sondern unsere Erregung entzündet sich an den Worten und strahlt in sie zurück. Es verbleibt nur die Zweiheit von Seelenvorgang und Ausdruck; die Einfühlung ist ersetzt durch ein illusionäres Bewußtsein, daß der poetische Klage- oder Liebesruf unserem eigenen bewegten Geiste frei entströmt. Auch die Künste der reinen, apriorischen Form können, so weit ihre Schöpfungen denen der Natur irgend analog sind, Illusion erzeugen. Zwar: die mehr oder minder abstrakten, wenngleich scharf und fein nuancierten, überaus wechselreichen Stimmungsgefühle, die das Gehörsbild eines Musikwerkes begleiten, sind zumeist von aktueller Art. Das Tongebilde stellt sich entweder als ihr Gegenstand und Anlaß dar, oder als ihr Ausdruck, als eigentümliche, vom gemeinen wie vom dichterischen Sprachausdruck abweichende und gleichwohl durchaus eindeutige seelische Kundgebung. Das sich musikalisch Äußernde mag ein unbestimmtes anderes Wesen sein, oder wir empfinden die Musik (vermöge derselben Umkehrung, die im Genuß der Lyrik statthat) als Aussprache u n s e r e r Innerlichkeit; das letztere zumal dann, wenn wir das Tonstück persönlich vortragen oder doch entsprechende motorische Illusionen haben, die ihrerseits mit physischen Muskelimpulsen in Zusammenhang stehen. Die Musik ist aber an sich 7*
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schon, als selbständige, wesenhafte Form, das Objekt von K r a f t und Bewegungs-Illusionen; wir versetzen uns einfühlend in das Auf und Ab der Melodie, das Wogen, Drängen, Zögern und Eilen der Klangmassen. Das gleiche gilt vom T a n z als K u n s t der reinen Bewegung. Die Stimmungseffekte der ornamentalen Linien- und Farbenkunst bestehen teils in reaktivem, teils in beziehungslosem Fühlen. Linienzüge entbinden außerdem nicht selten affektiv betonte, illusionäre Bewegungen der nachformenden Hand oder des mitfolgenden Körpers. W i r schlüpfen einschmiegsamen Gedankens in einen sich munter „schlängelnden" Bandfries, so gut wie in eine gemalte oder wirkliche Schlange; wir dehnen und wiegen uns in den Kurven, die wir als sehnend gestreckte, fröhlich sich schwingende, müde abschwellende beschreiben. Noch kräftiger reizen zu solcher Belebung stofflich erfüllte Körperformen. Namentlich wirkt das individualisierte Bauglied mit seinen durch die Gestalt ausgedrückten, der Regel nach bloß fiktiven dynamischen Verrichtungen k a u m anders, als der plastisch nachgebildete Mensch mit seinem leiblichen T u n und Erleiden; wir streben in den Säulen k ü h n empor, wir hüpfen in den Rundbogen hurtig die Wand entlang. Auch den umschlossenen architektonischen Binnenraum vermag ich illusionär mit meinem Dasein zu durchdringen. Der Totaleindruck mancher Baustile setzt sich aus mannigfach ineinandergreifenden Kraftvorstellungen zusammen, die der Einfühlung ents t a m m e n oder periodisch in sie münden. 7 6 Die Gefühls-, Willens- und Tat-Illusionen der K u n s t reichen noch häufiger als die malerisch-bildnerische Anschauungs-Illusion in ekstatische Zustände hinein. Es ist insbesondere der Erregungsrausch, dem sie von vornherein gemäß sind, und zu dem sie sich in zwanglosem Fortgang aufgipfeln. Dieser Typus der E n t r ü c k u n g gehört vornehmlich dem naiven Geiste zu, während das Bewußtsein des Gebildeten eher zu hypnotischer Beschaulichkeit neigt. Seine natürlichste Nahrung ist wilde Körpertätigkeit, die auf die Dauer immer rhythmisch-zuckende, schwunghaft gymnastische Form, das heißt den Charakter des Tanzes annimmt, gleichwie umgekehrt der eigentätig vollführte Tanz die stärkste exaltierende Macht ausübt. Ihm zunächst kommt darin die Musik, die ihm ursprünglich aufs engste gesellt war. Noch ausschließlicher gravitieren nach solchen seelischen Regionen der darstellende T a n z und die vertonte, ja schon die metrisch gebundene Poesie; K ü n s t e
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der stilvollen Naturnachahmung, die das Empirische mit dem Apriorischen zu einen suchen. Verse sind subjektivistisch umgewandelte Sprachnatur, gesungene und musikalisch begleitete Verse sind mehrfache Stilisierung; sie entspringen nur einer überschwänglichen Hochstimmung vollkommen frei und wirken nur auf sie vollkommen rein; mag nun der Gefühlston des Metrums u i d der Musik zu dem des poetischen Sinngehaltes in der Beziehung des Einklangs, des Kontrastes oder der Oberordnung stehen. Die psychischen Funktionen des Entrückten weisen insgesamt die nämlichen Besonderheiten auf, die sein Schauen kennzeichnen. Der Unterschied der aktuellen und nicht-aktuellen Vollzugsform verwischt sich; auch die Gefühle des Rausches und des Traumes sind weder farbenfrisch noch schattenhaft zu nennen. Zugleich entfällt der Gegensatz der adäquaten und inadäquaten Begründung. Das Gefühl, das überhaupt von den jeweils gegebenen Realobjekten unabhängiger ist als die Wahrnehmung, erlangt in der Ekstase völlige Freiheit; es vergewaltigt das Objekt mit seinem A-priori; die einmal heraufbeschworene Lust- oder Leidtrunkenheit macht jedes Begegnis zum neuen Lust- oder Leidbringer. Wenn wir in diesem Zustand einer dramatischen Aufführung beiwohnen, oder wenn das Drama selbst uns mählich in ihn versetzt, dann hat die geschaute und begriffene Handlung nur noch stellvertretendsymbolischen W e r t ; wir trauern nicht sowohl um den Helden, als wir unsere Trauer ihm zuwenden und an sein Schicksal anheften. Auf den obersten Stufen der Entrückung löst sich die emotionelle Bewegung gänzlich von den Dingen ab. Die wirklichen oder gedachten Motive entschwinden dem Geist. Die Typen des bedingten Anlaß-Affektes und der autonomen Stimmung fallen zusammen; die alte Regel: „kein Fühlen und kein Streben ohne Gegenstand" verliert jedwede Geltung; wir sind mindestens augenblicksweise ein einziger Aufruhr ohne Grund und Anhalt. Der Isoliertheit des Vorgangs entspricht eine weitgehende Abstraktheit des Inhalts. Schon im normalen Gefühlsleben machen sich gewisse sehr subtile Stimmungen bemerkbar, bald als das Ursprüngliche, bald als Verflüchtigungsreste und Klärungsprodukte, als fernere Ausstrahlungen, die von verschiedenen Seiten her sich kreuzen und verschmelzend die Seele füllen. Diese diffusen Regungen, die gewöhnlich alles sonstige innere Geschehen umspielend in sich begreifen, geben der
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Gemütslage des Ekstatikers das eigentliche Gepräge. Es herrscht in ihm eine vage Leidenschaftlichkeit, Bewegtheit, Unruhe, Gehobenheit, eine höchste Erregung als einfaches Gefühl. Den gleichen Wandlungen unterliegt das wollende und erleidende, das begehrende und handelnde Verhalten. Letztlich weicht jede Differenzierung einer allgemeinsten Erlebnisweise in der das Einswerden des Ich und des Nicht-Ich seine Vollendung erreicht. In manchen urzeitlichen Kulttänzen leitet die Kunst-Ekstase unmittelbar zur religiösen Ekstase und damit zur Mystik im engeren Sinne hinüber. Ein zielloser Kraftrausch und Drang, ein reines Sich-Fühlen im vegetativen Sein gebiert die Idee der absoluten Kraft und Wesenheit, die sich zur Gottheit personalisiert; und indem der Gott als substanzielle Gewalt, als lebende Notwendigkeit, als Natur- und Menschheitsseele ganz in uns waltet, verbindet er uns dem All, erweitert und erhöht er unser Selbst zur Identität mit dem gotterfüllten All. In dem Maße, als die wilde Körperbewegung, automatisch werdend, ihre Intensität weit über die alltägliche Fähigkeit hinaus steigert, entbinden sich in dem rasenden Dionysiasten ungeahnte Mächte; er ist Herr der Welt — und doch wieder nur ein verlorener Spielball im Unendlichen, ein mühelosschwerelos getragenes, wirbelnd-schwebendes Nichts. — Eine ähnliche pantheistische Ergriffenheit bewältigt uns auf den Gipfelpunkten der Tragödie großen Stils, der mächtig aufwühlendeil Schicksalsdichtung, die ja historisch von jenen religiösen Tänzen herstammt. In anderer, träumerisch gedämpfter Tönung überkommt sie uns zuweilen noch im Bereich später und verfeinerter Kunstübung, etwa angesichts einer stilvollen Landschaftsmalerei. Die anschauliche All-Einheit der ekstatisch erfaßten Natur, die Sprengung der dinglich individuellen Schranken, wird als Wirkung einer alles vereinigenden, alles durchdringenden, alles umschließenden und in ihren Schoß aufnehmenden Liebe empfunden, derselben göttlichen Seelen- und Wesertskraft, die auch uns den Dingen und sich selber vermählt.™ Daß der ästhetische Wert der künstlerisch erzeugten Gefühlsund Willens- Illusion ein spezifischer, daß er nicht Surrogat-, sondern Vorzugswert ist, liegt noch unverkennbarer zutage als die aiialöge Tatsache auf dem Gebiete der Anschauung. Manche Gemüts-Erregungen sind fast niemals in der aktuellen Form genußreich. Die primär unlustbetonten Affekte, die reaktive und die
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sympathetische Unlust selbst, sie erlangen nur ausnahmsweise sekundären Erlebniswert. Wir verlangen ungleich häufiger nach tragischer Dichtung und lieben sie gemeinhin sehr viel mehr als das Tragische in unseren eigenen währenden Schicksalen oder in denen unserer Nächsten; eben darum gilt uns die Freude am nachgebildeten Verhängnis als eines der seltsamsten Phänomene der Menschennatur. Gleichwohl gibt es auch einen Trieb zum echten Leid. In vielen Individuen tut sich zeitweilig eine irrationale, doch keineswegs pathologische Neigung hervor, das Schmerzliche. Furchtbare, grauenhaft Geheimnisvolle um seinetwillen aufzusuchen. Dies geschieht entweder, wenn fortgesetzte Erfahrung eine allzu tief eingeprägte Unglücksbereitschaft hinterlassen hat, oder nach allzu lang andauernder, eintöniger Sonnenhelle des Glücks, der Wohlhäbigkeit und Sicherheit, der angstentwöhnten Aufklärung, das heißt unter Umständen, die die Anlässe düsterer Gefühle beseitigen und das noch nicht abgestorbene Bedürfnis aufs äußerste spannen. In der Durchschnitts-Empirie des Tages und der Jahrö kann freilich der Nisüs des angeborenen Vermögens selten hinreichende Kraft erlangen, um den stets wirksamen, teleologisch begründeten Abwehr-Instinkt, der sich in erheblich stärkerem Maße gegen die aktuelle Unlust als gegen die illusionäre und die vorstellungsmäßige wendet, zu überwiegen, oder genauer: den Wert dem Unwert überzuordnen, eine wahre Lust am Leid, ein Wollen des Erleidens zu b e g r ü n d e n . " Die Schätzung der Gefühls-Illusionen ist in ganz besonders hohem Grade individuell bedingt und wandelbar. Ein Bedürfnis nach Emotion schlechthin besteht weit seltener als spezielle Tendenzen, die nur gewissen Anregungen der Kunst entgegenkommen, anderen widerstreben; wir wollen diesmal Heiteres fühlen, Trauriges lehnen wir beharrlich ab. Abermals entzieht sich hier das Wertverhalten einer richterlich-verbind liehen Festlegung. Es fehlt der Boden für den sicheren Entscheid, ob die normale oder die ekstatische Illusion, ob die vorzüglich frische, sattfarbige oder die fein abgetönte und differenzierte erstrebenswürdiger sei. Das ruhig nachbildende Erleben und Miterleben ferner Schicksale und Innerlich^ keiten hat schwerlich geringeren ästhetischen Reiz als das taumelnde Fortgerissensein. Desgleichen darf die Einfühlung in fremdes Wesen unter den Bewährungen des eigenen Wesens, deren e i n e sie ist, keinerlei Vorrang beanspruchen. Es läßt sich kaum sagen, ob Gefühl oder An-
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schauung als das letzte Ziel der Kunst zu gelten habe. Andererseits bedeutet aber auch der Übergang zum wirklichen Fühlen und Wünschen nicht notwendig einen Austritt aus dem ästhetischen Zustand. Es ist nicht nur der Ungebildete, der im Theater Tränen vergießt. Sogar der aus privatpersönlichen Erinnerungs-Assoziationen entspringende Affekt ist wohl am Platze, sobald sich in ihm ein spontaner Drang befriedigt; Abirrung und Verfälschung haben erst dann statt, wenn ohne und gegen unser Bedürfen schlummernde Leidenschaften, Schmerzen oder Freuden in uns aufgestachelt werden; ganz ebenso können jedoch die illusionären Gefühle sich unlustbringend aufdrängen und behaupten. Endlich ist die ästhetische Bedeutsamkeit der nachahmenden Kunst überhaupt nicht an den Nachahmungserfolg gebunden. Wenn uns das einzelne Werk in währender Gegenwart zu Betrachtungen über den Künstler, seine Welt und Zeit einlädt oder Anlaß gibt, so genießen wir das so gewonnene Charakterbild auf durchaus gleiche Weise wie das erst-empfangene Darstellungsbild. Vollends übt die sinnlich aufgefaßte Form in den mimetischen und frei schaffenden Künsten einen Zauber, der nicht der Vermittlung durch Analogismen des natürlichen Lebens bedarf. Eine schöne Melodie hat vielleicht gar keinen distinkten Stimmungsgehalt, kein bestimmtes Pathos oder Ethos; die Tonfolge ist unmittelbarer Grund der Lust, Gegenstand einer primären inhaltlichen Wertung. Manche Musik erquickt wie strahlendes Licht; wir müssen sie nicht erst mit einem Abglanz unserer Seele beschenken, um ihrer froh zu werden; vielmehr ist sie es, die uns mit einer neuen Erfahrung höchsten, wirklichsten Glückes bereichert. 78 12. Die natürlichen Illusionen nicht-anschaulicher Art Wenn die Wirkungen der Kunst die sattesten Farben des naturbestimmten Innenlebens erreichen können, so bietet dieses hinwiederum zahlreiche Tatsachen dar, die die mimetische Kunstwirkung bis zu völliger Wesensgleichheit vorbilden. Wir begleiten oft Ereignisse, die an sich wohl geeignet wären, die echten Gefühle und Wünsche zu wecken, die uns aber persönlich nicht allzu nahe gehen, mit ausgesprochen illusionären Reaktionen; wir nehmen sie vielleicht wie Vorgänge der Bühne oder des Romans auf, je nachdem sie uns in sinnlicher Gegenwart oder in sprach-
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licher Mitteilung begegnen. Ebenso mag die wechselnde Stimmung und Funktionsbereitschaft, die uns nicht selten auf einen regulär unzureichenden Anlaß mit aktueller Erregung antworten läßt, gelegentlich die entgegengesetzte Vertauschung bedingen und ein sonst triftiges Affektmotiv in die mittlere Wärmezone des Gemüts herabziehen. Die Erinnerung an einstige Schicksale oder die frei phantasierende Ausmalung neuer Schicksale wird vielfach getragen von Illusionen der Spannung und Überraschung, der Furcht und des Triumphes, der Liebe und des Hasses. Wir fühlen uns gewissermaßen in ein vergangenes oder ein künftig-mögliches Ego ein. Die meisten Menschen sind in derartigen Fällen des Unterschiedes von der echten Erfahrung nicht inne; sie glauben schlechthin zu fühlen; sie bezeichnen das Etwas, das sich in ihnen regt, einfach als Schmerz oder Zorn und reden davon wie von wirklichem Schmerz oder Zorn. Zu den Denk-Illusionen gehört jede Art fiktiver Annahme oder Hypothese, die wir in der Praxis des Alltags, im ästhetischen Spiel, in Gesellschaft und Staat, Recht und Sitte, endlich in der Wissenschaft zu bilden pflegen. Die Urteilsfunktion läßt mehrerlei Abstufungen zu. Unsere Aussagen besitzen verschiedenen Wahrheitswert, und wir bringen sie mit verschiedener Zuversicht vor. Der Gewißheit steht die sachlich bestimmte Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit gegenüber, dem Wissen oder überzeugten Glauben das Meinen, Vertrauen, Vermuten. Keiner von beiden Reihen ordnet sich die Annahme ein. Wahrscheinlichkeit ist ein Inhaltselement, Fiktionscharakter eine Form des geistigen Verhaltens. Die Meinung bleibt auch auf ihren untersten Stufen aktuelles Urteil; der Annahme aber eignet eine herabgeminderte Entschiedenheit, in der die gedämpfte Erlebnisfrische des Gedankens sich spezifisch ausprägt. Sie hat darum an der Einheit der zentralpersönlichen Stellungnahme keinen Anteil und ist nicht an sie gebunden; wir denken uns trotz gegenteiligen Wissens in imaginäre Tatbestände halb hinein; wir geben in raschem Wechsel widersprechenden Hypothesen Raum, während Meinungen nur unter dem Drucke neuer Argumente, Erfahrungen, Einwirkungen oder seelischer Gesamtentwicklungen sich mählich wandeln. Die Annahme hat insbesondere dort ihre Stelle, wo ein triebhafter Wille oder ein vorgängiges Interesse zu Ansichten hindrängen, die zunächst als zweifelswürdig, wenn nicht absurd erscheinen. Die Autosuggestion
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eigentlicher Urteile findet unter normalen Bedingungen an unverkennbaren Sachverhalten ihre Schranke. Die Form der Annahme fügt sich bequemer den Einflüssen des Eigennutzes, der Leidenschaft, Rechthaberei, Trägheit, dem Hang zum Gewohnten oder zum Ungewöhnlichen, so gut wie idealistischen Forderungen und dem logischen Bedürfnis nach Klarheit, Einfachheit, Einstimmigkeit. Der Aufregungssüchtige möchte die Sensationsnachricht der Zeitung glauben, er Würde sich am liebsten fraglos belügen lassen; der Parteifanatiker will den Führer als Helden verehren und dem Gegner das Schlimmste zutrauen, allem Augenschein zum Trotz; der Paradoxenfreund kämpft innerlich um die Wahrheit des Unwahrscheinlichen; der philosophische Doktrinär ist in der Tiefe seiner Seele entschlossen, überall Segen und Weisheit oder Übel und Unvernunft zu erblicken. Aber sie alle bringen es doch nur zu Fiktionen, obwohl sie vielleicht überzeugt zu sein wähnen und sich dementsprechend ausdrücken; dem unbefangen beobachtenden Menschenkenner bleibt der Abstand ihrer Sinneslage von vollkommener Zuversicht und echter Gläubigkeit nicht verborgen. Was der gemeine Sprachgebrauch Illusionen nennt, sind gewisse ständig wiederkehrende, willentlich aufgerufene und festgehaltene, vor kritischer Prüfung ängstlich bewahrte Lieblings-Fiktionen, deren gegeilt ständliche Haltlosigkeit wir so wenig deutlich erkennen und zu erkennen wünschen, wie ihre wahre psychische N a t u r ; mag es sich nun um allgemeine Ansichten und Gesinnungen handeln oder um konkrete Pläne, Erwartungen, Wertungen, um Urteile über Menschen und Dinge und namentlich über uns selbst. In den Illusionen werden wir unbewußt zu Dichtern an unserer Existenz. 79 Am schärfsten setzen sich der echte Tatwille und die echte motorische Empfindung von ihren illusionären Schattenbildern ab. Der Regel nach lassen der Eintritt oder das Ausbleiben der Bewegung, vielleicht ihr Ersatz durch ein nachahmendes Gehaben unwirksamer, zweckfremder Art, keinen Zweifel bestehen. Es kann aber auch ein wirkliches Tün ein anderes, inneres Tun gleichsam abbildlich begründen. Bei friedlichen Kraftspielen, bei Verstandes-* ja Glücksspielen haben wir eine lebhafte Illusion des Kampfes; wenn man am Schlüsse einer Kartenpartie den entscheidenden Trumpf mit überflüssigem Muskelaufwand auf den Tisch schlägt, so liegt darin etwas von handgreiflichem Niederstrecken des
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Feindes. Die Beteiligung an wenig bedeutenden, mühe- und gefahrlosen Redestreitigkeiten weckt die schmeichelnde Illusion eines großen Krieges und Sieges. Unbestimmter klingt dieselbe motorische Note im „Ringen" mit einer Aufgabe oder Arbeit an. In anderem Sinne verschiebt sich das seelische Äquivalent einer Handlung, die nur um ihrer ferneren Tragweite willen, als auslösender Impuls einer Reihe von Geschehnissen, Wichtigkeit besitzt. Indem wir ihre Folgen in wahrscheinlicher Berechnung oder wunschgemäßer Setzung voluntativ vorwegnehmen, vollziehen wir mit einer die bloße Vorstellung überschreitenden Frische ein umfassenderes Handeln. Analoge Erweiterungen des energetischen Bewußtseins haben dort statt, wo künstliche Anstalten die reale Kraftwirkung intensiv und extensiv steigern und es schwer machen, unseren Anteil an dem Erfolge von dem der Hilfsfaktoren zu scheiden. Wir apperzipieren das Werkzeug, das unsere Macht verstärkt und ausdehnt, illusionär als Organ unseres Körpers, seine Leistungen als die unserer Gliedmaßen, wobei wir uns oft sinnlich getäuscht glauben mögen; wir verspüren irgendwie die Spannung und W u c h t des stoßenden, hebenden, schlagenden Stockes, den Druck und Gegendruck in seiner tastenden Spitze; unser ganzes Ich ist durchdrungen von der erhöhten Kraft und Schnelligkeit* die der Schlittschuh oder das Fahrrad unserer Tätigkeit verleihen. Viele Sportübungen sind wenigstens nach dieser einen Seite Illusionsspiele; nicht minder manche Bräuche der Tracht: dickbauschige Hüllen, Stelzschuhe, hohe Hüte, Kopfaufsätze, Haareinlagen, nachschleppende und wehende Gewandstücke geben die Empfindung eines umfänglicheren Bewegungs- und Daseinsbereiches, einer übernatürlichen Größe. Der Reiter, der mit den Muskelh des Pferdes in direkter Fühlung steht, nimmt den Tierleib illusionär in die eigene Leiblichkeit auf; der Dirigent, der Kommandant lebt und herrscht in der Menschenmasse, die er mit suggestiven Geberden in Aktion setzt; auch kann innerhalb einer gleichförmig bewegten Masse jeder Einzelne sich als ihr Motor fühlen, wenn er nicht umgekehrt der Illusion des willenlosen Fortgerissenseins unterliegt. — Die elementarsten psychophysischen Verrichtungen können nach diesen und verwandten Schemen in abgeblaßt-unwirklicher Form geübt werden; wie der Akt des Essens im Betelkauen nachgebildet erscheint, so schaffen gewisse Praktiken der Völkersitte eine Illusion des sexuellen Liebesgenüsses. 80
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Im natürlichen Leben wie in der Kunst mögen endlich die mannigfachen Illusionen auf eine oberste Persönlichkeits-Illusion bezogen und durch sie zusammengehalten sein. Wir versetzen uns in real anwesende Mitmenschen nicht anders als in erdichtete Figuren, soweit sich die Entfaltungen ihrer Psyche unserem Verständnis erschließen. Neben der Einfühlung in das konkrete Individuum gibt es diejenige in einen vorschwebenden Typus, dem alles einzelne Denken, Fühlen und Wollen angeglichen wird. Viele durchaus normal veranlagte Personen zeigen in verschiedenen Gebieten ihrer Existenz gänzlich verschiedene Charaktere. Gleich dem Ich des wechselnden Bewußtseinsgehaltes ist auch das Ich der beharrenden Vermögen und Bereitschaften von unbedingter Einheitlichkeit weit entfernt. Die Seele befaßt in sich eine Mehrzahl streng isolierter oder lose verknüpfter Interessengruppen und Haupttendenzen, deren jede unter besonderen Umständen periodisch hervortritt und einer besonderen Kleinwelt differenziell zugeordnet ist: der Mann im Büreau, in der Familie, am Spieltisch, in der Einsamkeit. Gemeinhin ist aber doch das eine Ich das allein echte, die anderen bleiben allezeit Illusion. Es gibt Menschen, die von vornherein zu einem schnellfertig-sprunghaften, halbtiefen Eingehen auf fremde Sinnesweisen hinneigen; und einige Berufsarten drängen auf dieselbe Bahn: der Reisläufer, der Journalist, der Advokat. Allein auch für die ausschließliche und dauernde Verpflanzung in ein fiktives Ich fehlt es nicht an Motiven. Die Bestimmtheitsforderung unseres Geistes macht sich nirgends so nachdrücklich geltend wie in der reflexiven Vorstellung unseres Selbst; der Ehrgeiz, eine scharf und reich ausgeprägte Individualität zu sein, tritt unterstützend hinzu: die allgemeinste Eitelkeit ist die Eigenschaftssucht. Die spezielle Wahl fällt dann je nach natürlicher Disposition und geselligem Einfluß auf einen idealen Typus. So lebt man sich denn in die Rolle des Gentleman, des Gebildeten, des Sensitiven, des Enthusiasten, des Zynikers, des Weisen mehr und mehr ein; man lebt dem Bilde nach, das man von sich hat, das man in sich hegt und pflegt; man ist schließlich überhaupt nur mehr illusionärer Gefühle, Meinungen, Gesinnungen, Grundsätze fähig. Der also Verwandelte und Unverwandelte bewahrt vielleicht ein dunkles Wissen um das Eigentümliche seiner Lage und gefällt sich im freien Spiel mit dem usurpierten Charakter; oder er findet keinen Grund, ernstlich zu fragen, ob er in der Tat
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das sei, als was er sich innerlich darstellt; oder er hält seine sämtlichen Illusionen für echt, ihren hypothetischen Träger für wirklich, und ein langes Leben muß keine Gelegenheit zu einer entscheidenden Erprobung, keinen Zwang zur Besinnung oder gar zur Andersbesinnung mit sich führen. Der angenommenen seelischen Gesamthaltung wird die ungehemmte körperliche stets entsprechen. Die illusionäre Persönlichkeit strahlt aus dem sichtbar-hörbaren Gehaben hervor; zuweilen drücken wir sie darin willentlich aus. Ostentation hat an sich mit Unechtheit nichts zu schaffen. Man repräsentiert auch, was man ist; der tapfere Krieger stelzt als Held einher, der fromme Mönch trägt in der Demut des Wortes und der Geberde seine Heiligkeit beispielgebend zur Schau; sie weisen den Freunden und Feinden aufs eindringlichste ihre wahre Stärke und Furchtbarkeit, Güte und Sittenstrenge; wobei sie durch die elementare Rückwirkung, die jede Kundgabe übt, ihrer Tugenden selbst gewisser werden. Ebenso genießen wir einen imaginären Charakter reiner durch, wir befestigen uns in ihm, ja wir schaffen ihn erst recht eigentlich, indem wir ihn demonstrativ versinnlichen. Diese Bedeutung des äußeren Auftretens reicht so weit, daß schon für die ursprüngliche triebhafte Wahl des vorbildlichen Typus die angeborene Leibesbeschaffenheit und ihre Ausdrucksmöglichkeiten in Betracht kommen; stattliche Gestalt und sonore Stimme befähigen und reizen in gewissem Grade zur Einfühlung in kräftig männliches Wesen. Darum muß sogar die absichtsvoll genaue Durchführung der Rolle nicht notwendig auf Irreleitung abzielen. Man denkt oft kaum an die Wirkung auf den Fremden, an den falschen Eindruck, den er empfangen könnte. Pose ist als solche weder Täuschung noch Selbsttäuschung, vielmehr ein Mimodrama, das man zunächst für sich agiert, als Schauspieler, nicht als Betrüger; abgesehen davon, daß bewußte Verstellung mitunter wieder nur den Zweck verfolgt, in dem gläubigen Verhalten der Anderen ein Stimulans der Illusion zu gewinnen. Übrigens ist an der Charakter-Komödie des Lebens häufig eine ganze Gruppe in stiller Übereinkunft beteiligt. Wir lassen einen unserer Bekannten auf Grund sehr unzulänglicher Proben als Original gelten, wir gestehen ihm das Vorrecht naiver Grobheit, genialer Laune und kühner Ansichten zu, und er vertritt glücklich oder geschicklos die ihm angedichtete Eigenart. Wir nehmen die harmlosen Prahlereien des Kameraden N. N. keines-
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wegs buchstäblich, allerdings auch nicht einfach als Scherz; es ist eine Vorführung, an der wir Gefallen haben und die wir mitwirkend begünstigen. Wir verteilen gleichsam eine Anzahl interessanter Typen auf die Mitglieder unseres Kreises und inszenieren eine merkwürdige Tafelrunde; oder wir idealisieren uns insgesamt zu einer mustergerechten Elite: der Illusionismus der Höflichkeit. Wir bestärken und fördern uns wechselseitig in unseren persönlichen und gemeinsamen Verkleidungen; Gespräch und Betragen sind durchaus darauf eingerichtet, in standhaft gewahrter Fiktion jeden als den Ehrenmann, den Feinfühligen, den Feuerkopf zu behandeln, als den er sich gibt. Alle Illusionenjäger suchen diese konventionell-sozialen Hilfen eifrig auf; der Ruhmsüchtige, dem echter, frei zuströmender Ruhm vorenthalten ist, umgibt und findet sich instinktiv mit Menschen, die entweder bedingungslos oder unter Anspruch auf Gegenleistung zu bewundern verlangen. Namentlich aber verbünden wir uns aufs engste zu jenem gesellschaftlichen Suggestionsspiel, dessen Gegenstand die moralischästhetisch-metaphysischen Gefühle und Gedanken, die patriotischen oder parteipolitischen Gesinnungen sind. Das hohe Gebot lebt immer nur in erlesenen Seelen als wirklicher Glaube und Wille; die Menge ehrt das Ideal wesentlich als Schmuck des Daseins, als Poesie. Schöngeisterei, Cant, Anempfindung, romantischer Stimnungskult, wie sie bei festlichen oder alltäglichen Zusammenkünften gedeihen, sind abermals nicht sowohl Heuchelei und Lüge, als dumpf gewollte Illusion. Wir vermeiden es, nach dem genaueren Sinn des herkömmlichen Treibens zu forschen, die Qualität der geäußerten Andacht, Begeisterung, Rührung psychologisch abzuwägen; wir ziehen uns in ein Zwielicht des Selbstbewußtseins zurück, wo Echt und Unecht vor dem inneren Blick verschwimmen. Viele geschichtlich bedeutsame Kämpfe und Bewegungen sind ihrem seelischen Untergrund nach nichts als aufgeführte Massendramen. Das Übergewicht des sekundären Erlebniswertes tritt in einer wohl bemerkbaren Zufälligkeit und Gleichgiltigkeit der programmatischen Ziele oder in deren völliger Unbestimmtheit zutage; während untrügliche Einzelzüge den Mangel an Aktualität des Erlebens bezeugen. Es handelt sich letzten Endes um eine illusionäre Befriedigung psychischer Bedürfnisse, darunter auch des Kampftriebes; der ernsthaft geführte Kampf geht hauptsächlich nur um die Bedingungen und Mittel der Illusion, die Alleinherrschaft der Illusion,
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also um die Illusion; das Ziel und Werk mancher Revolution ist eine ungeheure Desillusionierung. Je weniger man zuversichtlich glaubt, je weniger man an den Glauben der Anderen glaubt, um so gewaltsamer hält man den Schein des allgemeinen Glaubens aufrecht. Die verfochtene Sache soll durch autoritären Zwang zur Legende werden, damit ich mich meiner halbschlächtigen Gefühle lebhafter und störungsloser erfreuen könne; dafür arbeite ich angestrengt, dafür bringe ich unter Umständen schwere Opfer — ganz wie für einen außerordentlichen Kunstgenuß. Insbesondere ist es der Verehrungstrieb, der sich in solch theatralischer Weise betätigt. Die Volksseele heischt einen Helden; wenn er nicht rechtzeitig zur Stelle ist, oder wenn die eigenherrliche Realität des wahren Helden uns allzu beschwerlich fiele, dann bekleiden wir den nächstbegegnenden Mann, der ihn darzustellen gewillt und geeignet ist, mit der Würde des Heros; wir behängen ihn mit allen unseren subjektiven Idealen; wir leihen ihm unsere Macht und bejubeln die geräuschvollen Handlungen, zu denen wir ihn drängen, als große Taten; ihre mitunter äußerst schwerwiegenden Folgen mögen wir überschauen oder nicht, sie sind jedenfalls nicht unser erstes Augenmerk. 8 1 Das natürliche Leben kann so gut wie die nachahmende Kunst ästhetisch bewertete Geistesfunktionen jedweder Kategorie aufrufen. Die Kunst behauptet auch keineswegs einen durchgängigen Vorrang. Es sind nicht die aktuellen Gefühlseffekte, auf denen ihr eigentliches Existenzrecht beruht. Diese werden zwar gelegentlich von hemmenden und störenden Momenten unberührt erscheinen, die der Wirklichkeit des Anlasses entspringen; ein andermal aber ist gerade die Wirklichkeit allein imstande, eine zureichende Hilfe und Würze des Affektes zu liefern. Vollends kommt der Ausschluß der Handlungs-Reaktion, der sich aus den Voraussetzungen der Kunst ergibt, dem Lustwert der Gefühle und Begehrungen nur faßweise zugute. Die Unmöglichkeit der Tat muß überall, wo nicht widrige Pflicht, sondern spontaner Drang uns eingreifen heißt, ein ruheloses, negativ ästhetisches Schwanken bedingen; die Tat würde das Gefühl nicht beeinträchtigen, vielmehr mit ihm eine Einheit genußreichen Sichausleljens bilden. Zudem sind bloß eine Minderzahl aller Emotionen und Strebungen Tatmotive. Der wahre Vorzug der Kunst besteht darin, daß sie sämtliche Illusionen vollkommener ausgestaltet. Sie stellt den Gegenstand deutlich und
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wirksam vor uns hin; sie gibt der Innerlichkeit einen ange^ messenen, kräftig suggestiven Ausdruck oder führt uns geraden Weges in sie ein; sie lenkt das einmal entfesselte geistige Geschehen bis ins Einzelne sicher und stetig, während der führerlose Funktionstrieb stets wieder auf öde Abwege gerät. So gewährleistet sie ein Optimum ästhetischer Schätzbarkeit, das außerhalb ihres Bereiches nur in seltenen Glücksfällen erreicht wird. 8 2 Die Illusionen des Lebens spielen übrigens vielfach in die Kunst-Illusionen hinein. Zu ihnen zählt oft schon das Gedankenbild, das wir uns von dem Künstler und seiner Umwelt in freien Seitengängen der Betrachtsamkeit zu machen lieben; es ist vielleicht nur der fiktive Entwurf eines Typus, dem wir illusionäre Gefühle weihen. Der Künstler mag seinerseits auf unterschiedliche Weise sein wahres oder angenommenes Ich im Werke absichtsvoll manifestieren und den Haupt-Inhalt des Werkes dazu in Beziehung setzen; wenn wir um die Unechtheit wissen oder an sie glauben, dann kompensieren wir wohl den störenden Denkeinwand durch eine Illusion der Echtheit, die der gewöhnlichen Realitäts- Illusion verwandt ist. Die Wahrheit der schöpferischen Stimmung und Geistesart ersetzt innerhalb des Interesses der Gebildeten die gegenständliche Wahrheit, nach der der Naive allezeit fragt, und die er hypothetisch noch festhält, wenn er jede objektive Wahrscheinlichkeit preisgeben muß. Darum nehmen wir den in einer Dichtung hervorgekehrten Charakter bereitwillig als den wirklichen ihres Urhebers, die ausgesprochenen Gefühle und Gesinnungen als tatsächlich gehegte; wir „sehen" den Mann so, wie er und wir es wünschen, und dieser Persönlichkeits-Eindruck bildet nicht selten die eigentliche Spitze des ästhetischen Erfolges. Von manchen Künstlern darf man sagen, daß das Ganze ihrer Tätigkeit die Darbietung eines idealen Ego ist, eine vergeistigte und verfeinerte Rollen-Pose, nur relativ verschieden von derjenigen des barbarischen Kriegers, der den Helden agiert. Überhaupt tritt die Kunst zuweilen in den Dienst vorhandener, individueller oder sozial verbreiteter Illusionen; und umgekehrt: das Schaffen wie das Genießen mimetischer Kunst zieht gute Nahrung aus schon geübten analogen Funktionen andersartigen Ursprungs. Dem Dichter wandeln sich Situationen und Episoden seines äußeren Daseins zu Elementen überlieferter Geschichts- und Sagenstoffe, und aus einem quasidramatischen Rollen-Bewußtsein erwächst der Keim eines
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Dramas. Der Leser findet sein stilles Dichten in der geformten Poesie veredelt wieder, und er antwortet ihr mit verdoppelter Resonanz; er eignet sich aus ihr neues Material zu künftigem Imaginationsspiel an und nimmt die von ihr angeregten Einfühlungen in sein habituelles Innenleben herein. Auch kann das natürliche Getriebe der Illusionen bereits der künstlerischen Erfindung nahe kommen. Es verdichtet sich im Geiste einiger Personen zu ungeschriebenen autobiographischen Romanen, die stets aufs neue durchgeträumt, ins Kleine ausgeführt und fortgesponnen werden. Gesellige Sitten illusionistischer Tendenz bezeichnen den Übergang zur bühnenmäßigen Veranstaltung. Bei besonderen Gelegenheiten ergeht man sich nicht nur in der gemeinsamen Fiktion eines höheren Menschentums, sondern man inszeniert unter Anwendung des Kostüms und einer ad hoc erlernten Umgangsmanier eine bestimmt ausgestaltete utopische Welt. Die sentimentale Schäferei der Vornehmen des achtzehnten Jahrhunderts, ihr etiketteloser Verkehr auf Landschlössern und in Tabagien, desgleichen das ungewohnt schlichte, heiter-leutselige, derb-biedere Gehaben zeitgenössischer Touristen und Sommerfrischler sind traditionelle Formen improvisatorischer Zustands-Komödie. 8 3 Endlich wird die Kunst als solche wie alle menschlichen Erfahrungsgebiete zum Gegenstand natürlicher Illusionen und entsprechender repräsentativer Betätigungen. Der Dilettant ahmt den Meister innerlich und äußerlich nach, und eine ergebene Korona huldigt ihm in stimmungslüstern-anempfinderischem Heroenkult. Seine Hervorbringungen wirken in Wahrheit lediglich als schauspielerische Gesten genialer Schöpferkraft; doch das anbetungsfrohe Publikum fordert nicht mehr, ihm genügt ein Minimum von Ähnlichkeit mit echter Kunst. Leise und laute Werbung tun das ihre, um auf beiden Seiten die Suggestion zu beleben, häufig mit erstaunlichem Erfolge. Ein trefflich organisierter literarischer Betrieb, die bequeme Möglichkeit, Erzeugnisse aller Art weithin bekannt zu machen und zwischen entfernten Menschengruppen Verbindungen herzustellen, fördert die Entstehung wohlgefälliger Luftgebilde von Weltruhm und Weltwichtigkeit. In Zeiten ausgebreiteter ästhetischer Interessen und einer historischen Bildung, die den Geist frühe schon mit Phantasien künstlerischer Kämpfe und Siege erfüllt, schwellen Scheinbewegungen auf, die in Zeitschriften und Büchern als Kultur-Revolutionen behandelt werden, und die P a p , Kunst und Illusion.
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doch im Grunde nur jugendliche Illusionsspiele größten Maßstabes sind, vergleichbar den troischen Schlachten der Knaben, die Homer gelesen haben. Aber auch der strenge Freund des Echten steht der Kunst nicht immer als ein echt Genießender gegenüber. Wir pflegen nicht nur aus zwingendem inneren Drang das Museum oder das Theater aufzusuchen oder nach einem Buch zu greifen; wir folgen oft weniger dem augenblicklichen Bedürfnis als der Gelegenheit und Gewohnheit. Da geschieht es wohl, daß man ein Dicht- oder Malwerk achtsam auffaßt und prüft, ohne doch die erzielbare und bei guter Bereitschaft prompt eintretende ästhetische Wirkung voll zu erfahren; der Genuß selbst bleibt Illusion oder Vorstellung. Angesichts altbekannter Kunsterscheinungen reproduzieren wir dann einfach den Inhalt früherer, stehend gewordener Urteile, Gefühle und Strebungen; unsere sprachlichen Äußerungen sind a potiori zu verstehen, das heißt auf den ästhetischen Optimalzustand zu beziehen. Im Neuheitsfalle kommt es zu einer versuchenden, uneigentlichen Geschmacksreaktion, deren gedanklicher Bestandteil zumeist unvermerkt aus dem Fiktiven ins endgültig Ausgemachte umschlägt und als kritischer Richtspruch im Gedächtnis verharrt. Solches Einschätzen abseits von wahrem Schätzen ist gleichsam mit einer Subjektivität zweiter Potenz behaftet; es besagt nicht mehr, als. daß wir unter günstigeren Umständen das Werk v i e l l e i c h t also bewerten w ü r d e n . Vielleicht: denn nicht alle Illusionen und Vorstellungen sind danach angetan, sich in natürlichem Fortschritt zur Aktualität zu erheben. Gleichwohl ist jene abgeblaßte Genußweise nicht gänzlich zu entbehren. Gepaart mit geringerer Energie der primären Gemütseindrücke, bezeichnet sie vielfach eine notwendige Durchgangsphase der Anpassung. Überdies ermöglicht sie erst eine Wissenschaft von der Kunst, eine maximal vielseitige, die gewaltige Mannigfaltigkeit ihres Stoffes einigermaßen beherrschende Ästhetik und Kunstgeschichte. Die beweglichste Individualität hat ihre Schranken; in keinem einzelnen Geiste kann alles an sich Wirkungsfähige mit ungebrochener Frische anklingen; in manche Sonderart vermag ich mich niemals über einen gewissen Punkt hinaus einzuleben, manche andere ist mir nur in der psychologischen Phantasie, wieder eine andere überhaupt nicht zugänglich. Aber auch die bloß vorgestellte, dem eigenen Ich nicht aktualisierbare psychische Tatsache darf Gegen-
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stand wissenschaftlicher Analyse sein, trotz der nicht durchaus vermeidlichen Täuschungen; jeder Wahrheitsweg ist zugleich ein Irrtumsweg. J e ausschließlicher indessen die Kunst für engere oder weitere Kreise aus einer Sache der freien Neigung und der Freude eine Angelegenheit des Wissens, der Bildung, der Pflichtübung wird; je mehr in uns das Bestreben vorwaltet, die Meisterleistungen der Völker und Zeiten insgesamt zu kennen und zu verstehen: um so häufiger weicht die echt ästhetische Haltung der neutralen Beobachtung oder der halben, lahmen Hingabe. Man möchte genießen, man soll genießen, man glaubt zu genießen; leider liegt das reale Ereignis nicht im Machtbereich des Willens, noch weniger eines Imperativs, der seine Richtung von fremder Autorität erhält. Der ununterbrochene, übermäßige Verkehr mit Kunst, den der Gebildete unterhalten muß, setzt den Durchschnittsstand der Empfänglichkeit tiefer und tiefer herab; zunehmende Differenziertheit und Launenhaftigkeit tragen das ihre dazu bei, die Wahrscheinlichkeiten voller Befriedigung zu verringern. Die ästhetische Kultur kommt hierbei so lange nicht zu ernstem Schaden, als die Fühlung mit den ursprünglichen Quellen wahren Wertes unverloren bleibt, als die stimmungslose Kenntnisnahme gemeinhin doch nur die Vorstufe eines liebevollen Eindringens und unverdrossenen Werbens ist, das wir uns für gute Stunden aufsparen. Wenn es aber bei der kalten Würdigung der Regel nach sein Bewenden hat, dann zerrinnt der letzte Sinn der Kunst; das kritische Urteil selber büßt seine relative Geltung, das sonst unveräußerliche Recht des persönlichen Gefallens ein; das J a und Nein der Meinung erscheint völlig haltlos, der eingeprägte Wissensinhalt zur toten Äußerlichkeit hin verschoben; die erstrebte Bildung wird schließlich illusorisch. An einer Malerei gibt es nichts Wesentliches zu lernen und zu begreifen, was nicht die seelische Verwirklichung ihres Daseinszweckes im echten Genuß beträfe. Kunstverständnis gedeiht einzig auf dem Boden des Kunsterlebnisses; es ist beinahe damit identisch. Das hindert nicht, daß die rein theoretische Kunstbetrachtung einen ästhetischen Charakter zweiter Ordnung haben kann, den funktionellen Reiz eines sportmäßigen Betriebes, für dessen Artung das Besondere des Gegenstandes belanglos ist. Zudem erzeugt die reflexiv für echt gehaltene oder als echt gesetzte illusionäre Wertung aus sich heraus echten W e r t ; wir erfreuen uns an dem Ge8«
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danken, daß wir uns freuen, daß uns diese lang ersehnte Freude widerfährt; gleichwie auch unsere primär echte Freude sich durch bewußte Spiegelung verdoppelt. Es ist die Frage, ob ohne jede Beimischung einer derartigen Illusion obersten Ranges ein ungetrübtes Wohlgefallen an Kunst noch irgend möglich wäre, sobald die ästhetische Verfeinerung den Gipfelpunkt des Wählerischen erreicht h a t ; ob eine reine Harmonie zwischen dem singulären Ich und dem singulären Werk jemals zustande käme, wenn sich nicht mit dem naiven Genuß der willentliche, indirekte verbündete. Derselbe Vorgang hat aber auch dort statt, wo es nicht an den persönlichen, sondern an den äußeren Bedingungen der aktuellen Befriedigung gebricht. Der Gebildete, dessen Aufnahmsfähigkeit für makellose, von ihm und anderen als mustergültig anerkannte Werke nur zu leicht halb versagt, ist hinwiederum sehr geneigt, dem Unzulänglichen eine fiktive Vollkommenheit zu leihen. Nach Begeisterung dürstend, lernt man auf schwach angedeutete Absichten des Künstlers lauschend eingehen, das Minus an Leistung, den Abstand zwischen Wollen und Können, aus eigenen inneren Mitteln wettmachen; man schwelgt in der Suggestion, eine große Schöpfung, einen großen Meister vor sich zu haben, ein menschlich Höchstes durchfühlend zu erfahren. Der Romantiker verehrt in der gegebenen Dichtung oder Malerei seinen Wunschtraum von Genialität, sein philosophisch-geschichtswissenschaftlich begründetes Ideal; der Ruf der Seele nach einem neuen Goethe oder Michelangelo eilt der Gunst der Zeit voraus und beschwört mangels der glücklichen Begegnung eine repräsentative Erfüllung herauf. Die weitere Steigerung des Raffinements führt dahin, daß das Halbgelungene, s t a t t als Surrogat zu dienen, vielmehr nachgerade bevorzugt ist, eben weil sich noch viel fremde Schönheit hineintragen läßt und das Gesamterlebnis dadurch irrealer, schattenhafter, zarter wird — eine Empfindungsweise, die an der Sympathie für urtümliche, werdende Kunst zuweilen mit beteiligt ist. — Die Wert-Illusion fordert stets als unabtrennbares Korrelat eine Illusion der Eigenart. Wir bilden uns von der Manier und Entwicklung des Künstlers, ja von seinen einzelnen Werken formelhafte Denk-Schemata, die wir den vorfindlichen Tatsachen unterlegen. Wir projizieren unser und des Künstlers Programm in das gelieferte Beispiel; wir erkennen darin eine vollendete Naturwahrheit oder Stilreinheit, wie sie der unbeeinflußte Blick schwerlich zu ge-
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wahren vermöchte. Sogar die tatsächliche Herkunft des Opus, die „ E c h t h e i t " im engsten Wortsinne, kann Inhalt der Illusion sein; es bereitet uns Vergnügen, das bewunderte Gemälde auf unverbindliche Weise unserem Lieblingsmeister zuzuschreiben, während wir im Innersten unseres Meinens ernste Zweifel hegen. Dieses seltsame Verhalten bildet sich in dem Maße zu extremer Einseitigkeit aus, als der psychische Akzent von den unmittelbaren ästhetischen Wirkungen auf das Nebenher, auf die anschließenden Denkfunktionen, abrückt. Die Idee der Kunstweise, des Künstlertypus, verknüpft mit Ideen letzter Werte, die Erfassung der Idee in der konkreten Form, sind jetzt das allein Wichtige und Fesselnde; die Kunst wird zur paradigmatischen Ästhetik. Das geschieht zumal in Epochen, da für den Menschengeist Abstraktionen eine Wesenhaftigkeit gewinnen, neben der die Realität beinahe zum Abbild verblaßt. Solch ein Zustand, der die Kultur des Genießens mindestens auf einer ihrer Höhen zeigt, birgt immerhin bei langer Dauer seine Gefahren für die Kultur des Schaffens. Die Übung jener ergänzenden Apperzeption, in der es auf die genaue Beschaffenheit und Eignung des Werkes wenig ankommt, ja der die ungefähre Gestaltung willkommener ist als die einzigartig bestimmte, muß alle schlechthin künstlerische Bemühung ihres Preises berauben, indem sie den Sinn für objektive Vollkommenheit ertötet. Der Maler, der vom Beschauer nicht mehr nur Bereitschaft, Anpassung und Hingabe an die erteilten Anregungen, sondern stille Mitarbeit und Nachhilfe erwarten darf und soll, entlastet sich von der produktiven Tätigkeit zugunsten der spekulativen; so kann es nicht fehlen, daß die spezifischen Fähigkeiten verkümmern und die Kunst als Techne, als zwecksichere Meisterschaft der Psychagogik, in Verfall gerät. Wenn jedoch die Neigung, Wollen für Können zu nehmen, bloß eine krisenhafte Entwicklungsphase darstellt, dann übt sie eher den entgegengesetzten Einfluß. Wo neue Ideale sich regen, neue Versuche gewagt werden, ein ganzes Neuland der Kunst matt aufdämmernd am Horizont erscheint, dort kann die Vorliebe für illusionären Genuß die ringenden Bestrebungen auf ihrem hemmnisreichen Wege ermutigen, die dürftigen, aber nutzbaren Anfänge vor dem Untergang in allgemeiner Verachtung behüten und dem Keimenden die unentbehrliche Frist des Reifens gewähren, so daß zu gutem Ende sehr wohl der imaginären Größe ein wahrhaft Großes entsteigen mag.
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13. Die Illusionen und das aktuelle Leben. Die Illusionen sind die natürlichen Mittler zwischen Phantasie und Wirklichkeit. Kein von fernher winkendes Glück oder Leid, keine künftig zu vollbringende Tat, kein zu erkämpfender schwerer Entschluß, denen die Seele sich nicht mit immer farbenfrischeren Entwürfen mählich näherte; kein vergangenes Gemütsereignis von einiger Eindruckskraft, das nicht auf gleiche Weise langsam in uns verbliche. Dieses An- und Abklingen ist zumeist an einen entsprechenden äußeren Hergang geknüpft. Gleichwie ein Ding im Gesichtskreis erscheint oder verschwindet und damit die Anschauung zur Sinnlichkeit oder Unsinnlichkeit determiniert, so rückt uns der Anlaß des Gefühls in jedem Sinne bald näher, bald ferner; er verdichtet und verflüchtigt sich, er erwirbt seine objektive Bedeutsamkeit und verliert sie, die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens und Aufhörens nimmt zu und ab, Vorbereitungen und Nachwirkungen von eigener Relevanz weisen mit abgetönter Eindringlichkeit voraus und zurück. Allein auch bei unvermittelt und unverändert gegebenem Motiv fügt es sich gar häufig, daß der Affekt nicht alsogleich zu voller Glut entflammt. Der große Zorn ist zwar, dem zureichenden Grunde gemäß, von Anfang an da; aber er tritt zunächst als kalte Vorstellung auf; unsere zentralpersönliche Anteilnahme muß sich erst entwickeln, wir müssen der echten Erregung erst eine Stätte schaffen, uns von Stufe zu Stufe in sie hinaufsteigern. Dasselbe Wandelspiel zeigen die anderen seelischen Funktionen. Unverbindliche Einfälle werden zu Fiktionen, diese zu echten Überzeugungen; und umgekehrt: in dem Maße, als die sachlichen Voraussetzungen eines Glaubens uns entgleiten oder zweifelhaft werden, nimmt er unvermerkt die neutrale Blässe des Gedächtnisurteils an. Die illusionären Übergänge sind als solche verschiedentlich bewertbar. Vielleicht empfinden wir den halben Zustand als mangelhaft und fühlen uns ungeduldig nach dem oberen oder unteren Extrem gedrängt. Immerhin gibt es im Auf und Ab der Emotionen manche Zeiten eines ästhetisch charakterisierten, wohligen Verweilens, und zwar unabhängig davon, ob das aktuelle Erlebnis primär inhaltlichen Wert besitzt oder nicht, ob in ihm der primäre Wert überwiegt oder nicht; das ungestümste Verlangen nach Realität läßt Raum für ein Stadium, in dem die
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antizipative Erfahrung sich genußbringend entfaltet und tiefinnerlich sich selbst genug ist. Die echte Sehnsucht, die Hoffnungen und Wünsche, die den Illusionen vielfach anhaften oder auf deren Boden sie gedeihen, können gleichfalls in hohem Grade ästhetisch lustvoll sein. J a ihr eigenartig feiner Zauber überstrahlt oft den Reiz des erreichten Zieles. Es ist das Unvergleichliche des Frühlings, daß er eine leise, aber truglose Ahnung und Witterung der reifen Naturherrlichkeit, eine botschaftsfrohe Illusion des Sommers bedeutet. Ähnlich stimmen uns jene intimen, bescheiden-dürftigen Landschaften, die die Jahreszeiten gleichsam nur in mattem Spiegelbilde erkennen lassen. Andererseits bin ich mir während glücklicher Sommerfahrten durch schöne Länder mitunter bewußt, daß ich mich in irgendeinem Winkel des Geistes auf den herbstlich wehmütigen Nachgenuß freue, den mir Abbildungen und Gedenkzeichen bereiten werden. Sogar dort, wo die Reihe sich eng und enger zusammenzieht, leben wir die Episode der Illusion samt den zugeordneten aktuellen Funktionen der Erwartung oder der Rückschau behaglich durch; zuweilen verlängern und verselbständigen wir sie künstlich. Schon die Tierwelt kennt die Gewohnheit, in Kampf, Jagd, Paarung und Fraß den Enderfolg tändelnd hinauszuschieben; verwandte Praktiken des Menschen leiten in kleinem Intervall zu den Erstlingen der Kunst hinüber. 8 4 Der Wilde zieht unter mimetisch - expressiven Tänzen zum Kriege aus, er stürzt vom Tanzplatz fort in die Schlacht; und er läßt die Kriegsstimmung in Tänzen wieder aushallen; den Eingang und Schluß bildet die farblose Phantasie und Erinnerung, durch schlichte Rede oder Zeichensprache mitgeteilt. Ebenso dichtet der moderne Mensch in illusionärer Vorwegnahme oder Wiederholung eines frischen Erlebnisses, wenn anders das natürliche Erleben mehr als Illusion war oder sein wird; desgleichen in gewissen mittleren Abschnitten eines psychischen Dauerverhaltens (etwa einer Leidenschaft), das nach seinen Gipfelpunkten a potiori echt heißen darf, das jedoch die ganze kategoriale Skala periodisch durchläuft. Demselben Gesetze folgt der die fertige Dichtung Genießende, so weit für seine Wahl und Neigung persönliche Schicksale entscheidend sind. Gerade in solchen Fällen ist die Kunst nichts weniger als ein Notersatz der Natur, vielmehr freier Ausfluß und erwünschte Entsprechung einer bestimmten Seelenlage, das adäquate Objekt, in und an dem die
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so geartete Reizung des Triebes sich entlädt. Der tanzende Krieger begehrt zuvörderst den Tanz, nicht die Schlacht, die ihm äugen-? blicks offensteht oder die er gesättigt verläßt; er begehrt in zweiter Linie die Schlacht, nicht ihren sofortigen Beginn oder Neubeginn, und er genießt ohne Eile seine eifervolle Begierde. Darum ist es kein Kriterium des Ästhetischen, aus jedem Zusammenhang mit unseren erstgegebenen, elementaren oder höheren Interessen und ihrer praktischen Betätigung gelöst zu sein. Man hat den dichterischen Appell an werkbereiten Patriotismus oder an opferwillige Religiosität niemals für kunstwidrig gehalten; selbst die gelegenheitsmäßige poetische Mahnung zu konkreter Überzeugungsprobe hat das zweifellose und anerkannte Recht, das der Möglichkeit eines reinen, wenngleich flüchtigen Eigenwertes entstammt. Nicht anders steht es aber um das Erotische der Kunst. Die Tänzerin, Sängerin, Schauspielerin, die in formschöner Darbietung weiblichen Reiz entfaltet und sexuell betonte Gefühle erregt, mag im Privatstande dem Theater-Habitué als Weib angehören, der Gegenstand der Liebeslieder oder das Modell des Aktgemäldes mag die Geliebte des Künstlers sein: die Kunstübung und Kunstwirkung muß deshalb keine außer-ästhetische sein. Der Erlebniswert seelischer Tatsachen hat mit überpersönlichen Rangordnungen nichts gemein. 8 8 Am reinsten bewährt sich das Grundverhältnis der illusionistischen Kunst zum Leben, wo nicht besondere Funktionsmotive, sondern allgemeine Funktionstendenzen ins Spiel kommen. Man rühmt es gerne als Endbestimmung der gemütbewegenden Mimesis, daß sie in die stets vorhandenen Lücken unseres zufälligen Schicksals eintrete, das individuelle Dasein zu unverkümmert reicher Menschlichkeit ergänze und vollende. In Wahrheit gewährt sie der Regel nach nur Illusion; der Drang nach wirklichem Fühlen will am Wirklichen gestillt sein. Die Kunst ist nicht eigentlich ein Komplement des Lebens. Wohl aber kann sie eine Brücke zum Leben, ein Hinüber und Herüber sein. Wie der einzelne Affekt gesetzmäßig an- und abklingt, so die Affektivität überhaupt; und immer sind es die mittleren, verbindenden Phasen, die im Zeichen der Kunst stehen. Es ergeben sich typische Stufengänge größten Maßstabes, die, einander durchkreuzend und umspannend, ganze Alters- und Geschichtsepochen füllen. Die Jugend gilt mit Recht als die Zeit der Illusionen. Entsprechend
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dem flüssigen Zustand aller Fähigkeiten herrscht in ihren psychischen Leistungen durchaus das Unentschiedene, illusionär Versuchende vor; die gesamte Persönlichkeit des jungen Mannes ist noch Vorstadium, Entwurf; die echte Art muß erst gefunden werden, erst wachsend sich festigen. Daher der Hang zur Pose, zum halbbewußten Rollenspiel; daher zugleich das durchschnittlich regere Kunstinteresse der Jugend und der Zug zu dilettantischer Betätigung. Nicht minder unterscheiden wir in der Entwicklung der Völker die Zeiten des Dichtens und Bildens, der Geste und Rede, das heißt des werdenden, sich illusionär ankündigenden Charakters, von denjenigen der Tat und der sie tragenden zuverlässigen Gesinnung, des sicheren Wissens und Denkens; den Prozeß der Wandlung mögen sachte Verschiebungen der staatlich-gesellschaftlichen Verhältnisse unterstützen. Das beseelende Prinzip mancher Literatur ist der innere Ruf nach einer wirklich herankommenden oder wirklich gewesenen Größe und Fülle des Lebens; sie bedeutet nichts als einen Aufschwung nach der besseren Zukunft oder Vergangenheit; die Illusion selbst hat den Beiklang der Verheißung, der Auferstehung. Aus anderen historischen Gruppen von Kunstwerken, deren Schöpfer und Publikum die Tatwerdung alter Wünsche schauten, spricht ein rückwärts gewandtes Bedauern, das nicht aus Enttäuschung zu fließen braucht, eine triebhafte Anhänglichkeit an eben die entschwundene Enge und Kleinheit, in der sich so trefflich dichten und träumen ließ; Generationen so gut wie Individuen empfinden ein seltsames H e i m w e h a u s d e r Erfüllung nach der Sehnsucht.86 Wenn die objektive Verwirklichung der Illusionen ausbleibt, ja sich als unmöglich darstellt, dann müssen sie entweder verblassen und weichen oder zum Dauerzustand erstarren. So ergeht es insbesondere im Falle jenen höheren Wunschbildungen, die einem absoluten oder relativen A-priori entspringen: den Idealen. In einer gewissen Fassung der Begriffe fallen „Ideale" und „Illusionen" als ewige Wachträume der Sehnsucht beinahe zusammen. Es kann sich aber auch das Unmögliche scheinbar verwirklichen. Wir täuschen uns, vom Gefühl genarrt, über Tatsachen; wir täuschen uns noch leichter über die Macht unseres Tuns. Mangelhafte Denkvorstellungen vom allgemeinen Naturlauf begünstigen den Trug: für den urtümlich raschgläubigen Geist endet die begierdevolle Illusion im Wunder. Schon die andeutend-nachahmenden
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Handlungen, in denen sie sich entlädt, schlagen unmittelbar in vermeintliche Realhandlungen um, ohne daß das motorische Verhalten sich änderte. Ansätze zu derartigen Irrungen sind uns allen nicht fremd. Wir pflegen angesichts wahrnehmbarer Vorgänge, an denen wir gemütlich interessiert sind, deren Ausgang aber von uns unabhängig ist, nicht nur eine bestimmte Entscheidung zu wünschen, sie fiktiv vorwegzunehmen und unwillkürlich agierend vorzubilden, sondern wir verspüren einen eigentümlichen, irrationalen Nisus, der sich darauf richtet, das Geforderte durch seelische Fernkraft herbeizuführen. Dieser Antrieb stammt aus frühen Jugendtagen her, da Möglich und Unmöglich, Natürlich und Wunderbar nur durch eine kaum bemerkbare, schwankende Grenzlinie getrennt waren. Dem Kind ist auch die Herrschaft über den eigenen Körper, dem es wie einem Stück Außenwelt gegenübersteht, noch halb und halb Mirakel; jede neu zu erlernende Geschicklichkeit der Gliedmaßen, vollends jede erstmalig versuchte und gelingende Einwirkung auf die Dinge scheint weniger durch differenzierte, wohl angemessene Impulse, als durch direkten Willensdruck und Befehl zustande zu kommen; und es ist auf lange hinaus nicht abzusehen, wie weit der Bereich des Vermögens sich erstreckt, welche Schranken es niemals überwinden wird. Hier liegt eine der Hauptwurzeln des Zauberglaubens. Es kann nicht fehlen, daß der oft wiederholte Nisus samt dem ihn begleitenden Gehaben zuweilen von dem ersehnten Ereignis gefolgt wird, und daß das bestochene Urteil fortan dem Vereine beider eine geheimnisvolle Gewalt zuschreibt. Der Wilde erzwingt durch suggestives Winken, Aussprengen von Wasser und sturmnachahmendes Pfeifen den Ausbruch des Gewitters. Nicht selten schillert eine volksübliche Handlung unklar zwischen dem Mimetischen und dem Magischen, oder die zwei Tendenzen sind gleichmäßig wirksam. Das Tragen gestalterweiternder Kleidungen und Waffen bezweckt neben der Illusion gesteigerter Leiblichkeit und neben der illusionistischen Repräsentation häufig zugleich eine übernatürliche Stärkung; man wächst, indem man das Rüstzeug anlegt, zum unbesiegbaren Riesen. Verwandtes gilt von einigen quasi-dramatischen Veranstaltungen. Die vielverbreiteten Gebräuche, die sich auf die „Wiedergeburt" des mannbaren Knaben beziehen, haben die Form eines besonders ernsthaften Spieles, das sogar außerhalb seines Rahmens, im öffentlichen Gespräch vorher und
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nachher, unverbrüchlich als wahres Geschehnis zu behandeln ist. Der Jüngling, der in den heiligen Begehungen als völlig umgeschaffenes Wesen auftrat, muß es fernerhin bleiben, er darf innerhalb einer gesetzten Frist Familie und Genossen nicht mehr kennen, sich seiner Knabenzeit nicht erinnern, und die Anderen begegnen ihm auf gleiche Weise. Allein diese extrem peinliche Wahrung der Fiktion ist religiös geboten und eine Voraussetzung magischen Erfolges; denn nach allgemeiner Überzeugung oder mindestens nach einem dunklen Wähnen wird der Jüngling in der Tat irgendwie verwandelt. Ebenso ist die eigentliche Komödie oft mehr als Komödie. Alle primitive Kunst nimmt gelegentlich den Sinn des Zaubers an; man darf sagen: n u r die zauberhafte Kunst verfestigt sich bereits auf frühester Stufe zu dauernder Werkgestaltung, zur Kunst im engeren Verstände; darum fällt sie allein dem an die Urzeit der Kultur herantretenden Forscher alsogleich in die Augen. Darstellungen aus dem religiösen Phantasiekreise haben sicherlich dem Ursprung nach durchgängig jenen außerästhetischen Charakter. Der Priester, der in der Rolle des Kriegsgottes abbildlich die Feinde vernichtet, entscheidet damit im vorhinein ihr wirkliches Schicksal; der Stein, der die Züge des Gottes weist, bewährt die Kräfte des Gottes; die gläubige Hypostase geht der annahmsweisen geschichtlich voran. Das Drama ist zuerst Sakrament, das Bildwerk Fetisch oder thaumaturgisches Instrument, die Kunst schlechthin Wunder. Wenn der religiöse Glauben später selbst zur ästhetischen Fiktion, die religiösen Gefühle zu gewollten Illusionen herabsinken, dann entzaubert sich auch die sakramentale Handlung dem aufgeklärten Teilnehmer, der in ihr nur die entfremdeten Reize heiliger Mysterienschauer und Seelenerschütterungen sucht, zur szenischen Aktion: die Tragödie ist geboren. 87 Die weiteste Kluft trennt Illusion und Aktualität, sobald es sich um kein Geringeres als die Gesamtpersönlichkeit handelt. Änderungen des menschlichen Charakters haben außerhalb pathologischer Bedingungen nur selten und langsam s t a t t ; der Wille vermag sie schwer zu lenken; aber sie sind möglich. Das Wunder der Wiedergeburt ist nicht immer bloß trügerischer Schein. Das vorfindliche Ich kann in treuer Arbeit an sich selbst einem anderen Ich-Typus zustreben, oder ein konkretes Fremd-Ich ist Vorbild der Metamorphose, so zwar, daß die Einfühlung in
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das Individuum der wirklichen Angleichung an den Typus die Bahn bereitet; die innere und äußere Nachahmung bedeutet jetzt Nachfolge, Imitatio. Größere Schritte nach vorwärts mögen von ekstatischen Erhebungen ausgehen, die sich als Zwischenphasen zweiter Ordnung einschieben und die entscheidenden Krisen des Prozesses bezeichnen. Die Sehnsucht nach voller Erlebnisfrische spannt sich allezeit gar leicht zum Überschwang. Auch der primitive Tatzauber hat eine seiner Hauptquellen in dem enthusiastischen Jenseits von Real und Irreal, in Rauscherfahrungen, die das nüchterne Bewußtsein mißverständlich auslegt; mimetische oder freie Bewegungen, in deren Gefolge ungewöhnliche Machtgefühle und glückliche Visionen auftraten, gelten künftig, verbunden mit dem inspirierenden Rausch oder abgelöst von ihm, als Mittel der Verwirklichung. Häufiger und zwingender jedoch als alle sonstigen Wünschbarkeiten weist das überragende Gut der persönlichen Vollkommenheit auf die Ekstase hin, gleichwie ihr schon die erste Empfängnis des Ideales angehört. Der Regreß auf die untersten Tiefen, der Umweg über die letzten Höhen, der sich stets eröffnet, wenn ein unbezähmbarer Drang auf fast übermächtige Hindernisse stößt, ist nirgends so unentbehrlich und so aussichtsreich wie dort, wo nicht sowohl Zustände erreicht und Vermögen erworben, als das alles tragende psychische Wesen erneuert werden soll. In der ekstatischen Einfühlung fallen die Gleichheit der Art und die wahre Identität zusammen. Der Weisheitsjünger hat Stunden der Erbauung, da er mit dem menschlichen oder göttlichen Vorbild gleichsam von Seele zu Seele um die Einswerdung ringt, in einer vergeistigtesten Form stillen wortlosen Gebetes; er hat ewige Augenblicke seliger Entrücktheit, da der Wunderwille siegreich am Ziele steht. So sehr dann die Rückkehr zum Alltag den Nachhall des mystischen Ereignisses dämpfen, das Apriorische des Ideals wieder dem irdisch Bedingten nähern m u ß : eine dauernde Wandlung ist doch vollzogen, ein neuer Grad der Entwicklung erklommen. Abermals geleitet uns auf solchem Gange die Kunst, die das erhabene Muster vor uns aufrichtet und seine Natur in uns überstrahlen läßt: die stets erneute, inbrünstige Anschauung eines geliebten Altargemäldes verwebt sich aufs innigste in die fortschreitende Läuterung des christlichen Lebenspilgers. J a vielleicht ist das Über-Ich, in das ich illusionär einkehre und dem ich wahrhaft nachzuleben verlange, nichts Anderes als das höhere Menschen-
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t u m des Künstlers, wie es sich in seinen Schöpfungen offenbart: Imitatio Goethei. 8 8 Das Mittleramt der illusionistischen Kunst will gleichwohl nicht kausal verstanden sein. Das rein befriedigende, ästhetische Erleben führt aus eigener Kraft niemals über sich hinaus. Es gibt keine primäre Grundtendenz, sondern wieder nur eine wechselnde Neigung, von der Vorstellung zur Illusion, von der Illusion zur aktuellen Erfahrung überzugehen; und die besondere Funktionsbereitschaft variiert nur in dem Maße, als der Stand unserer g a n z e n Existenz, von dem sie abhängt, sich verschiebt. Zudem sind die persönlichen Fähigkeiten zu echtem und zu abgeblaßtem Fühlen keineswegs immer in gleichem Ausbildungsgrade verbunden. Der Genuß von Illusionen wirkt wesentlich bloß auf das Bedürfnis nach Illusionen zurück: anreizend oder entspannend, gewöhnend oder abstumpfend. Wenn wir n a c h der Poesie die Natur aufsuchen, so hat dies nicht die Poesie als solche vollbracht; die Stimmung für Natur wie die Stimmung für Poesie sind das Erzeugnis umfassenderer Prozesse, die psychische Reihe die Resultante biologischer Reihen. Die Kunst mag zum Leben m a h n e n , ohne daß sie aufhörte, Kunst zu sein; aber sie kann weder als Hauptmotor noch als helfendes Teilmoment tatsächlich zum Leben t r e i b e n , insoweit sie den ersten Zweck der Kunst erfüllt, das heißt lustbringend bei sich selber festhält. Andererseits liegt es der Regel nach auch nicht in ihrer Macht, den auf wirkliche Erregung gerichteten Instinkt zu entladen, also vom Leben abzulenken. Die Katharsis der dichtenden oder Dichtung empfangenden Seele ist die Befreiung von dem Vor- oder Nachklang echter Affekte; die Aufgabe einer Prophylaxis der Affekte würde voraussetzen, daß dichterisch suggerierte Leidenschaft imstande sei, real begründete Leidenschaft vollgültig zu ersetzen; was einzig f ü r jene Ausnahmsfälle zutrifft, in denen der aufgesammelte Drang trotz mangelnden Anlasses die Aktualität erzwingt. Der Versuch, die Kunst an die Stelle des Lebens zu setzen, hat zumeist den gegenteiligen Erfolg, daß das Leben störend in den Kreis der Kunst eindringt; die unterdrückten Triebe, denen die adäquate Stillung in ungebrochener Funktionsfrische andauernd versagt wird, rächen sich an dem ihnen dargebotenen Schattengebilde; als kaum zureichendes Surrogat f ü r ein ihm Fremdes gebraucht, verliert es seinen absoluten Selbst-
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wert. Darum ist die Gewöhnung, von der künstlerisch geweckten Illusion zum wahren Gefühl, ja zu leiblicher Tat vorzuschreiten, nicht allein weit davon entfernt, unästhetisch zu sein; sie ist vielmehr gerade eine Bedingung des ästhetischen Verhaltens. Sehr lange fortgesetzte Fernhaltung des echten Gemütsereignisses wird freilich zuletzt das Bedürfnis ersticken; dieses Ziel negativer Askese erreicht man jedoch am sichersten und schnellsten, indem man auf jede Notauskunft halb beschwichtigender, halb stachelnder Art verzichtet. Die Kunst-Illusion hat kein Verdienst und keine Schuld daran, wenn später die aktuelle Bewährung des Vermögens eintritt oder ausfällt. Einen Einfluß, der den eigenen Bereich überschreitet, übt sie höchstens auf die natürlichen Illusionen. Das Übermaß des Genusses von Poesie zeitigt hier dasselbe Ergebnis wie der gänzliche Mangel: einen verstärkten Hang, das Leben als Roman oder als Drama zu nehmen. 8 9 Der teleologische Wert der illusionistischen Kunst liegt vornehmlich in ihren allgemeinsten Folgewirkungen. Indem sie neue Funktiorisformen schafft oder alte relativ neu erschafft, schult sie die Geschmeidigkeit der geistigen Anpassung; indem sie wechselweise in die tageshellen und die dunkleren Regionen der Seele führt, unterhält sie zwischen beiden einen wohltätigen Rapport. Was sie dagegen als spezielle Anleitung zum Nützlichen, als Ableitung f ü r Schädliches leistet, bleibt ein beiläufiger Nebenertrag. Motorische Nachahmung kann in beschränktem Ausmaß als technische Übung dienen, gleichwie umgekehrt die vorbereitende Einübung den illusionären Vorgenuß mit sich bringt; die Kriegstänze der Wilden sind zugleich militärische Exerzitien. Die Kehrseite bildet indessen die häufig sich einstellende Versuchung, auch den Ernstfall manövermäßig zu behandeln. Dieselbe Zweischneidigkeit eignet der Beschäftigung mit dichterischer, ja mit wissenschaftlichhypothetischer Naturdarstellung. Falsche wie richtige Fiktionen gleiten in zuversichtliche Urteile über; und die erworbene Gewandtheit in der die evidente Erfahrung vorwegnehmenden Konstruktion begünstigt je nach der sonstigen Erziehung und Anlage bald die Fruchtbarkeit des Findergeistes, bald die Gleichgültigkeit gegen Wahrheit. Bestechend ist der Anschein, daß poetische und natürliche Einfühlungen, sofern wir in ihnen reale oder typisch wahre Innerlichkeiten nachleben, eine vermehrte Kenntnis der menschlichen Seele hinterlassen, daß sie dem psychologischen Ver-
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ständnis die Pfade weisen und hinwiederum dessen äußerste Vervollkommnung darstellen. Allein die Illusion wirkt unmittelbar so wenig eine Einsicht wie eine Tat. Nicht einmal das echte Erlebnis muß irgendwelches genauere Wissen um das Erlebte begründen. Die Fähigkeiten der kalt objektivierenden Seelenprüfung und des wärmeren Fühlens, Mitfühlens oder Sich-Einfühlens schließen einander eher bis zu einem gewissen Grade aus. Die emotionale Illusion vermag nur indirekt, durch den lebhafteren Anteil und die gesteigerte Aufmerksamkeit, die sie gemeinhin bedingt, die Vorstellung der psychischen Tatsachen zu bereichern und den Blick für Einzelheiten zu schärfen. Vollends ist die Nutzbarkeit der Kunst für die sittliche Charakterbildung ein schmeichelndes Phantom. Ich kann ein Menschenalter lang idealistische Lyrik genießen und es doch allezeit bei den durch sie erregten WillensIllusionen, bei edlen Wünschen und Gefühlsaufschwüngen bewenden lassen; vielleicht trage ich als Enderfolg für das Leben bloß den Hang zu Cant, Deklamation und Pose davon. Nicht besser steht es um die verwandelnde Zaubermacht der reinen Formkünste. Den objektlosen Stimmungen und Spannungen, in die uns Tanz, Musik und Architektur hohen Stils versetzen, wohnt keinerlei Motivationskraft inne. E i n e ä s t h e t i s c h e E r z i e h u n g zur M o r a l i t ä t ist u n m ö g l i c h . Freilich auch eine ästhetische Verflüchtigung des Moralischen, eine unwirksam-spielerische Entladung der Vernunftantriebe ins Leere. Die ausgedehnteste Kunstpflege wird ihre Träger nicht verweichlichen, wenn ihr eine hinreichende Pflege des sittlichen Handelns das Gleichgewicht hält. Jede absichtsvolle Bemühung, die zwei Interessensphären zu vereinigen, schädigt beide aufs schwerste; an sich bringt keine der anderen Heil oder Verderben. Der pädagogische Glaube verwechselt mit ursächlicher Beziehung den gemeinsamen Ursprung aus einer tieferen Wesensartung, der zuweilen, bei großer Einheitlichkeit und gleichmäßiger Entwicklung der Individualität, den Geschmack und den Charakter abstrakt verähnlicht. 9 0 Die relative Isoliertheit der Werte schließt die Tatsache nicht aus, daß das Ästhetische oft sekundär-ethischen Wert erzeugt, indem es Gegenstand einer Kultur des Erlebens wird, die achtenswürdige sittliche Kräfte beansprucht und in Bewegung setzt. Solch ein Streben findet sich zwar vorwiegend auf die Bahn der Illusion gedrängt, weil es nur in dieser Form sich fessellos aus-
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wirken kann, unbeengt von dem Zufall der Schicksale und von der Starrheit angeborener Hinneigungen. Allein der Charakter bewährt sich dann eben in der Standhaftigkeit, mit der man Suggestionen aufrecht hält, in der entsagungsvollen Bescheidung, mit der man den Durst nach Aktualität zähmt und austilgt. Die außernatürliche Unabhängigkeit eines Lebens in selbstgeschaffenen oder selbstgewählten Figmenten mag sogar dem philosophischen, auf autonome Gestaltung des Daseins gerichteten Geist als sittliches Ideal freier Eigenherrlichkeit erscheinen. Demgegenüber läßt sich eine Wertungsweise behaupten, die die Illusionen überhaupt grundsätzlich verdammt, die in der Hingabe an jene halbschlächtigen, praktisch fruchtlosen Regungen nichts sieht als weibische Schwäche und Tändelsucht, Mangel an innerer Zucht, ja lasterhafte Verkehrtheit, ein bestimmungswidriges Heraustreten aus dem gesunden Wechselverhältnis zwischen Natur und Seele. Für eine derartige Beurteilung darf jedenfalls der Inhalt der Illusionen nicht in Rechnung kommen; die tatlose Autarkie des moralistischen Wortrausches steht moralisch durchaus auf gleicher Stufe mit der unfruchtbaren Selbstbefriedigung des sexuellen Triebes. Der Vorzugswert, den die höheren Illusionen fallweise besitzen, ist lediglich ästhetischer Wert, Erlebniswert. Wenn alles Leben sich in fortschreitender Wandlung eines Beharrenden kundgibt, so ist die illusionäre Metempsychose in ein transszendentes Über-Ich die größte und vollständigste Wandlung, die das wahre Ich, ohne seine Identität einzubüßen, erleiden kann; sie bedeutet die weiteste Spannung des Willens zum Anders im Gleichen, den stärksten Wellenschlag des ewigen Werdens, also das lebendigste Leben. Die Einfühlung in eine göttlich-erhabene Wesenheit rührt an das Ganze unserer Existenz in seinen bleibenden Kategorien wie in seinen unendlichen Horizonten. Die künstlerische Mimesis aber, die ihrerseits die Grundformen unserer Erfahrung variiert, während sie doch deren Urgehalt bewahrt, erlangt hier den wesensverwandtesten Stoff und nebenher den am tiefsten reichenden Nutzerfolg. Ihre angestammte Macht, eine allgemeine Gymnastik des Entwicklungsvermögens zu sein, erhebt sich in der Ziel und Muster setzenden Persönlichkeitsdichtung zu einzigartigem Siege. Der letzte Sinn der illusionistischen Kunst trifft zusammen mit der biologischen Bedeutung des Ideals. 91
Polemischer Teil. Die Empfindungs-Psychologie der Gegenwart erklärt die künstlerisch geweckte Anschauungs- Illusion auf gleiche Weise wie den natürlichen Wahrnehmungseindruck: das flächenhafte Sinnesbild verschmilzt mit assoziierten Erinnerungsresten und erhält dadurch erst seine wahre Form- und Sachbedeutung. Von dem Unterschied der beiden seelischen Tatsachen gibt diese Lehre keine Rechenschaft; gewöhnlich negiert sie ihn geradezu. W i l h e l m W u n d t („Völkerpsychologie", III. Band: Die Kunst, 2. Auflage Leipzig 1908) sagt, die Malerei täusche ein körperliches Bild auf der Ebene vor (S. 288—289); er rechnet selbst das Phänomen der umkehrbaren perspektivischen Figuren, also den willkürlich beeinflußbaren Effekt farbloser Linienzeichnungen, zu den „pseudoskopischen Täuschungen" (S. 28ff.); in ihnen so gut wie in der normalen Wahrnehmung statuiert er „Phantasiebildungen", „subjektive Ergänzungen", „Illusionen" (S. 28). Die alte Assoziations-Psychologie nahm überall ein Nebeneinander zweier, in der Beziehung der Symbolik stehender Komplexe an; ihr galt sogar im Sehakt das Sinnliche nur als vermittelndes Zeichen, das fast immer unbewußt bleibt; die gemeine Sachwahrnehmung war gänzlich zur Phantasievorstellung herabgesetzt, nicht minder die abbildliche Anschauung. Die neuere Konstruktion vermeidet solch eine grobe Schematisierung; für die Eigentümlichkeit der malerischen Illusion bietet sie gleichwohl keinen Raum. Auch die Gefühls-Illusionen im Kunsterleben werden von den betreffenden Autoren zumeist ohne nähere Bestimmung als wirkliche Gefühle aufgefaßt. Die zeitgenössische Illusions-Ästhetik bewegt sich vielfach abseits von der naturwissenschaftlich fundierten Psychologie. Ihre Hauptvertreter knüpfen an Gedanken unserer klassischen Dichter und romantischen Philosophen an; während eine engere Gruppe P a p , Kunst und Illusion.
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von Forschern, die eine Neuordnung des gesamten psychischen Tatsachenmateriales anstrebt, die so gewonnenen Begriffe auch zur Deutung der Kunst-Illusion verwendet.
1. Konrad Lange. K o n r a d L a n g e bezeichnet sein Hauptwerk: „Das Wesen der Kunst" (2. Auflage Berlin 1907) als Versuch einer illusionistischen Ästhetik. Er führt alle eigentlich ästhetische Wirkung der nachahmenden und nicht-nachahmenden Künste, ja sogar der Natur, auf Illusion zurück. Kein anderer Theoretiker hat diesem Erlebnistypus größere Bedeutung beigemessen, keiner ihm eine eingehendere Behandlung gewidmet. Die Illusion, die eine malerische Darstellung, etwa ein Reiterporträt des Velazquez, hervorbringt, besteht darin, daß wir uns in dem Bilde, obwohl es nur ein Bild ist, doch einen lebenden Reiter, etwa Philipp IV., vorstellen (S. 62). Wir übersetzen das Bild mit unserer Phantasie in die Wirklichkeit (S. 63, auch S. 246). Dieser Vorgang baut sich aus mehreren Teilvorgängen auf: der Stoff-, Licht-, Farben-Illusion, der Zeit-, Bewegungs-, HandlungsIllusion (Kapitel V). Der Musik gehören zunächst die Geräuschund die Bewegungs-Illusionen an (Kapitel VI); an den ersteren sucht Lange zu zeigen, daß genaue Naturnachahmung nicht nötig sei, um Illusion zu erzielen, daß es unter Umständen genüge, wenn nur an irgend eine Wirklichkeit erinnert wird (S. 107). Die KraftIllusion (Kapitel VII) tritt besonders in der Wirkung der Ornamentik und der Architektur hervor. Im Ornament zieht der Künstler nichts als die organische Kraft aus der Natur (S. 141). Die geometrische Zierform ist das konsequenteste Beispiel einer solchen Abstraktion (S. 143). Allen Künsten gemeinsam ist endlich die Gefühls-Illusion (Kap. VIII und IX). Im sichtbaren Kunstwerk erhält der tote Stoff durch die Form den Anschein, als hätte er Gefühl; wir deuten ihn in gefühlserfülltes Leben um; es entsteht bei der Anschauung eine objektive Gefühls-Illusion (S. 147). Wir pflegen hier das Gefühl fast immer als Eigenschaft eines anderen Menschen a n z u s c h a u e n (S. 152). Eigenes, wirkliches Fühlen ist am ästhetischen Kunstgenuß höchstens in sehr herabgeminderter Stärke beteiligt und dann durch Einmischung der Vorstellung „Kunst" wesentlich verändert (S. 164—165). Bei der Gefühls-
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Illusion selbst handelt es sich stets nur um eine Vorstellung von größerer oder geringerer Deutlichkeit (S. 175). Jede Kunst hat ihre besonderen illusionserregenden Mittel. Neben ihnen aber gibt es überall auch illusionsstörende (S. 220). Genauer: die einen wirken in der Richtung der Täuschung, die andern arbeiten der Täuschung entgegen (S. 221). Sogar in der Schauspielkunst wird die Illusion mindestens durch die Kulissen und Soffitten eingeschränkt (S. 226). Dementsprechend sind in der ästhetischen Kunstbetrachtung allezeit zwei Reihen von Vorstellungen gegeben: die Natur- und die Kunst-Reihe. Die zweite entschwindet dem Geiste nur dann vollständig, wenn es zu wirklicher Täuschung und Gefühlserregung kommt; dies widerstreitet aber dem Wesen des ästhetischen Genusses (S. 246 und 268). Die illusionsstörenden Elemente müssen nicht nur objektiv vorhanden sein, sondern auch subjektiv wahrgenommen werden, dauernd im Bewußtsein bleiben oder sich immer wieder aufdrängen. Die ästhetische Anschauung ist ja bloß Umdeutung, Phantasie auf Grund eines anders gearteten sinnlich Wahrnehmbaren (S. 246). Der Mensch, der ein Kunstwerk genießt, faßt es von Anfang an und während der ganzen Betrachtung als Kunstwerk auf (S. 252, auch S. 287). Die beiden Vorstellungen treten von vornherein zusammen auf und sind miteinander aufs engste verflochten. Das Gesamterlebnis ist durchgehend von einheitlicher Art, setzt sich aber allerdings aus zwei Elementen zusammen, etwa wie eine aus zwei Fäden gedrehte Schnur oder wie eine Mauer, die aus wechselnden Schichten verschiedenfarbigen Steines besteht (S. 252). Zu der illusionsstörenden Reihe gehört namentlich auch der individuelle Stil des Künstlers (S. 254); jede ästhetische Illusion schließt die Vorstellung der künstlerischen Persönlichkeit ein (S. 264). Aus dem so geschilderten Sachverhalt leitet Lange seinen Hauptsatz ab. Ä s t h e t i s c h e I l l u s i o n ist b e w u ß t e S e l b s t t ä u s c h u n g (S. 256). Sie ist eine dank der Gegenwirkung der zweiten Reihe nie perfekt werdende Täuschung: ein Getäuschtsein und Nicht-getäuscht-sein, Glauben und Nicht-glauben, Fühlen und Nicht-fühlen. Dies wird im einzelnen nur durch zeitlichen Wechsel möglich, obwohl im großen genommen die Reihen gleichzeitig gegenwärtig sind. Lange erläutert seine Annahme durch das Bild des bewegten Pendels (S. 257). Den empirischen Beweis für ihre Richtigkeit findet er in dem äußeren Verhalten des 9»
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Galeriebesuchers, der die Gemälde bald aus der Ferne, bald in der Nähe betrachtet, gelegentlich ein Auge schließt oder beide Augen halb zukneift u. dgl. m. (S. 274—275). Doch ist freilich das Nacheinander nicht so zu verstehen, als sei während der Dauer der einen Vorstellung die andere gänzlich ausgelöscht; sie wirkt vielmehr in der Regel bis zu einem gewissen Grade in jene hinein. Der Wechsel ist eine Art Kampf um den Blickpunkt des Bewußtseins (S. 275). Im Gesamtvorgang kann die erste oder die zweite Reihe überwiegen. Ein Kunstwerk wird dann ästhetisch am reinsten genossen, wenn die beiderlei Vorstellungselemente gleich deutlich und die mit ihnen zusammenhängenden Gefühle gleich stark sind (S. 286); was wieder voraussetzt, daß man zugleich die genaueste Kenntnis der Technik und das tiefste allgemeinmenschliche Empfinden hat (S. 287). Aus der zwiespältigen Natur der Kunst-Illusion erklärt Lange auch ihren Lustwert, der ihm als unzweifelhaft feststehende Tatsache gilt. Zwei Gesichtspunkte bieten sich ihm hier dar. Die bewußte Selbsttäuschung ist diejenige Form der Anschauung, die dem Menschen erlaubt, in kürzester Zeit die größte Zahl von Vorstellungen in sich aufzunehmen, ohne zu ermüden (S. 295). Danach läge die letzte Ursache der Kunst in dem Bedürfnis, möglichst viele Vorstellungen und Gefühle zu erleben. Das eigentlich Lusterregende wäre der Wechsel der Reihen als solcher, wofür es Analoga im außer-ästhetischen Leben gibt (S. 296). Das Hin und Wider der Kunst-Illusion ist jedoch überdies mit einem Gefühl geistiger Freiheit verbunden, das an sich schon eine Quelle hohen Genusses sein muß. Die bewußte Selbsttäuschung ist spielende Täuschung; wir wenden uns willentlich der einen und der anderen Vorstellung zu und sind dabei von der Empfindung schöpferischer Tätigkeit erfüllt. Die Freiwilligkeit allein macht allerdings ein Tun noch nicht ästhetisch lustvoll (S. 298, auch S. 55). Das Entscheidende in der Kunstwirkung ist das durch die Zweiheit der Inhalte bedingte freie Schweben über der Wirklichkeit (S.298). Lange nimmt für seine Illusions-Ästhetik das Verdienst in Anspruch, daß sie der Mannigfaltigkeit des künstlerisch Möglichen vollauf gerecht werde. Sie enthält kein Präjudiz für die realistische oder idealistische Richtung; sie läßt für beide innerhalb gewisser Grenzen einen weiten Spielraum offen. Ästhetische Norm ist nur der Illusionismus, der unter Anpassung an die äußeren Bedingungen
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der Kunst den Eindruck der Natur erstrebt (vgl. das ganze Kap. XIV). Wer alle Veränderungen der Natur, auch die durch die künstlerische Wirkung geforderten, meiden will, verstößt gegen das Wesen des illusionistischen Verfahrens. Sklavische Nachahmung der Wirklichkeit ist unmöglich; Kunst ist „Natur, gesehen durch ein Temperament", das heißt: Natur, umgestaltet durch eine künstlerische Persönlichkeit. Andererseits erscheint auch das absichtliche Verschönern und Typisieren als verwerflich; wohl aber hat diejenige Idealisierung, in der die Individualität sich unbewußt ausprägt, ihre Berechtigung. Übrigens besteht zwischen Naturalismus und Idealismus tatsächlich immer nur eine Gradverschiedenheit, insofern nämlich der Schwerpunkt entweder mehr in die erste oder die zweite der Vorstellungsreihen fällt (S. 385). Alle Künstler müssen auswählen, kombinieren, konzentrieren, das Zustandekommen des Natureindrucks selbst erfordert dies; doch gibt es viele Methoden, und die besondere A r t der Veränderung nennen wir Stil (S. 349—350). Lange unterscheidet dreierlei Stil: den persönlichen, den Materialstil und den historischen Stil. Dem letzteren mißt er indessen nur eingeschränkte Geltung bei. Archaische Kunstweisen betrachtet er als bloß geschichtlich bedingt und schlechthin überholt; die Zeitgenossen wurden durch sie in Illusion versetzt, wir werden es nicht mehr, wir vermögen also derartige Werke nicht mehr ästhetisch zu genießen (S. 372, 376 bis 377). Mit der Antithese des Natur- und des Kunst-Elementes in der illusionistischen Darstellung fällt jene des Inhalts und der Form wesentlich zusammen (S. 392). Die ästhetische Wirkung ist durch keinen dieser beiden Faktoren allein bestimmt, sondern durch ihr Verhältnis (S. 396, 431, überhaupt Kap. XV, XIX, XX). Die Bedeutung des Inhalts wird sehr überschätzt. Die formalen Reize (Harmonie, Rhythmus u. dgl., Farben- und Linienschönheit) sind zum Teil bloß Bequemlichkeitsreize, an sich schwach und wegen der Verbindung mit dem sinnlichen Leben geringwertig; zudem verbirgt sich in dem scheinbar Sinnlichen häufig wieder nur die Illusion (S. 565). Kunstschönheit ist nichts anderes als Illusionskraft (S. 390, 396). Und das Gleiche gilt von der Naturschönheit (Kap. XVII und XVIII). Wir schauen die Natur ästhetisch an, indem wir sie vermöge einer u m g e k e h r t e n I l l u s i o n als Bild, als Inhalt eines Gemäldes, einer Statue, einer Dichtung auffassen
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(S. 497). Darum nennen wir nur dasjenige in ihr ästhetisch schön, was Maler und Dichter schön finden (S. 494), das künstlerisch Darstellbare und Wirksame (S. 530f.); schön ist die Natur nur von Künstlers Gnaden (S. 532). Den Schluß des Werkes (Kap. XXI und XXII) bildet eine biologische Begründung der Ästhetik. Kunst und Spiel sind ein Ersatz der Wirklichkeit, den die Menschen sich schaffen, weil das Leben ihnen nicht alle Vorstellungen und Gefühle bietet, die sie zu erleben das Bedürfnis haben (S. 628, 650). Dieser höhere Zweck wird jedoch unbewußt erreicht, während der unmittelbare, eigentliche Zweck der Kunst und des Spieles ausschließlich in der Lust besteht; überhaupt geht unser nächstes psychisches Bedürfnis stets auf Lust; wir verlangen keineswegs nach Affekten um ihretwillen (S. 630, vgl. auch Kap. III, namentlich S. 40 und 45). Auf der niedrigen Entwicklungsstufe des Spiels, die man im Tierreich antrifft, ist der Inhalt das zugleich biologisch Nützliche und Genußbringende; der Mensch, dessen Instinkte an Stärke verloren haben, braucht den ästhetischen Reiz der Illusion als Stimulans, um die natürlichen Tätigkeiten energisch fortsetzen zu können (S. 627). Besondere Wichtigkeit gewinnt die bewußte Selbsttäuschung in der Anwendung auf die Unlustgefühle, die ja auch erlebt sein wollen; sie liefert hier das schmackhaft machende Gewürz (S. 651) oder, wie es in der ersten Auflage des Buches drastischer heißt, den Zucker, der den heilsamen Lebertran versüßt (II 58). Alle direkte Förderung lustfremder, außer-ästhetischer Zwecke, so auch alles Ideal-Tendenziöse, lehnt Lange entschieden ab und reklamiert die Kunst als Selbstzweck, l'art pour l'art. Die letzte definitorische Zusammenfassung seiner Theorie lautet: „Kunst ist jede Tätigkeit des Menschen, durch die er sich und anderen ein von praktischen Interessen losgelöstes, auf einer bewußten Selbsttäuschung beruhendes Vergnügen bereitet und dadurch unbewußt die Lücken des menschlichen Gefühlslebens ausfüllt, zur Erweiterung und Vertiefung des sinnlichen, ethischen und intellektuellen Wesens der Menschheit beiträgt." In einem neueren Vortrag „Über den Zweck der Kunst" (Stuttgart 1912, S. 14ff.) schränkt Lange den speziellen Surrogatwert der Kunst-Illusion erheblich ein und erblickt nunmehr ihren Hauptnutzen darin, daß sie „zum Denken und Fühlen in zwei Vorstellungsreihen" und damit zur seelischen Freiheit erzieht. Diese
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erscheint hier nicht nur als ästhetisch lustvolles Gefühl, sondern als Tatsache von evolutionärem Selbstwert; wie denn Lange dasselbe zwiespältig-freie Verhalten auch auf anderen Gebieten des höheren Geisteslebens vorfindet: in Witz, Komik und Humor, ja mit einigen Modifikationen sogar in Wissenschaft, Sittlichkeit und Religion. — K o n r a d L a n g e ist wohl der erste Ästhetiker, der das Problem der Kunst-Illusion ins Einzelne durchgedacht und in weitere Verzweigungen hinein verfolgt hat. Seine Darlegungen sind getragen von der umfassendsten Kenntnis älterer und neuerer Kunst und Kunstlehre, desgleichen von einem sehr lebendigen ästhetischen Empfinden und warmer Anteilnahme an den behandelten Fragen. Ich schätze in ihnen die ausgezeichnete Entwicklung und extreme Ausbildung einer Gesamtansicht, der typische Bedeutung zukommt, und in der man einmal ans Ende gehen mußte; zu dieser Ansicht selbst befinde ich mich durchaus im Gegensatz. Ich glaube nicht, daß jedweder ästhetische Wert an der Illusion haftet (vgl. oben S. 83, S. 102ff.). Es gibt in den nachahmenden und nicht-nachahmenden Künsten gleichwie in der Natur reine Formwerte von höchster Art. Ebenso kann das Ästhetische einen selbständigen und gewichtigen inhaltlichen Reiz einschließen. Das besteht sogar im Falle der primär unlustvollen Inhalte zu Recht. Der normale Tatbestand des Tragischen ist nicht, wie Lange will: Schmerz, versüßt durch Lust; vielmehr: Lust a m Schmerz. Die Illusion ist nicht einmal an sich lustvoll, so wenig wie irgend eine andere Erlebnisweise; und wiederum: jede andere Erlebnisweise kann den gleichen Befriedigungswert erlangen wie sie (vgl. oben S. 38ff. und 46ff.). Lange tut Unrecht, wirkliche Täuschung und echtes Gefühl schlechtweg aus der Kunst zu verbannen. Wenn uns ein starkes Bedürfnis nach aktuellem Fühlen und Schauen beherrscht, dann werden wir uns dieser und nur dieser Kunstwirkung wahrhaft ästhetisch erfreuen; die Illusion würde hier nicht eine Würze, d. h. ein Plus, sondern ein Minus bedeuten. Da Lange eine rein natürliche Illusion nicht kennt, verbindet sich mit seinem ausschließlichen Illusionismus ein radikaler Artismus. Ästhetisch genießen, kunstmäßig genießen, Illusion als solche genießen: das sind bei ihm fast identische Begriffe. Das außerkünstlerische Leben erhält nur insoweit, als es eben durch die Beziehung
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auf Kunst geadelt erscheint, ästhetischen Wert. Die Lehre von der „umgekehrten Illusion" ist wohl die gewaltsamste und unhaltbarste Konsequenz der Theorie. Ihren bestimmteren empirischen Anhalt bilden augenscheinlich gewisse Abwandlungen der natürlichen Anschauungs-Illusion (vgl. oben S. 57ff.). Allein auch diese Art ästhetischer und nicht-ästhetischer Illusion impliziert keineswegs den Gesichtspunkt der Kunst; ja sie weckt höchstens in letzter Linie den Gedanken an die Möglichkeit künstlerischer Behandlung. Was eine „malerische" Landschaft unserer Anschauung allfällig als zweite Inhaltsreihe darbietet, ist nicht das Bild einer bemalten Leinwand, sondern das Bild der undinglich farbigen Erscheinung; wir nennen sie malerisch, weil der von ihr ausgehende Eindruck der malerischen Illusion qualitativ ähnlich ist, nicht weil die Vorstellung der Malerei zu seinen Wesensbestandteilen gehört. Eher als in der Illusion könnte man vielleicht in Stil und Idealität das auszeichnende Spezifikum der Kunst erblicken. Seltsam, daß L a n g e s artistische Ästhetik gerade den eigentlich künstJerischen Faktoren einen vergleichsweise engen Raum anweist. Der Stil, den er gelten läßt, ist nur ein Prinzip der Auswahl, Betonung Verbindung, sowohl im Sinne der zu fördernden als der zu hemmenden Täuschung; kurz: ein Vehikel der Illusion. Von stilisierender Umgestaltung der Natur will Lange nichts wissen; wie er denn die geometrische Formgebundenheit der archaischen Kunst als bloßes Unvermögen beurteilt und die analogen neueren Versuche ablehnt. Dazu tritt eine zweite Einschränkung: Stil und Idealität müssen aus dem Unbewußt-Unwillkürlichen der Persönlichkeit fließen. In bezug auf das Hauptgeschäft des Künstlers, die positiv illusionistische Darstellung, betont Lange gerade umgekehrt das wissentlich zwecksichere Können und die klare Absicht, also abermals das Kunstmäßige par excellence (Kap. XVI). Die Unterscheidung dürfte kaum irgend anwendbar sein. Die Wirkung des Werkes, die doch einzig in Betracht kommt, bietet keinerlei zuverlässiges Kriterium für die Naivetät des Schaffenden. Und warum sollte das bewußte Streben nach Stil als unästhetisch zu bewerten sein? Auch lehrt die tatsächliche Erfahrung durchaus nicht, daß die Künstler der Regel nach ihrer auf Naturwahrheit gerichteten Bemühung klarer inne seien als ihrer Stilideale. Es kommt hierbei auf die persönliche Eigenart und den historischen Entwicklungsstand an, darauf, was jedesmal das selbstverständlich
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Gegebene und das noch zu Erringende ist. Die Maler der Renaissance, die von der sakralen Strenge des Byzantinismus herkamen und die Natur erst Schritt um Schritt erobern mußten, befanden sich in einer anderen Lage als die Künstler von heute, die eine befriedigend korrekte Wiedergabe der Wirklichkeit nicht mehr als Problem empfinden, während ihnen der Stil ein Mysterium geworden ist. Die Modernen können das Verlorene nur in bewußter Anstrengung zurückgewinnen; daß sie es können, beweisen die besten zeitgenössischen Erzeugnisse dieser Richtung, sobald man ihnen mit freier Empfänglichkeit begegnet. Lange steht dem echten Stil, dem Stil als Gegenpol und Komplement illusionistischer Natürlichkeit, mit ebensolcher subjektiver Abneigung gegenüber wie der naturalistischen Täuschung. Er wünscht ein möglichst elastisches System zu geben, das geeignet wäre, den Reichtum der historischen Produktion in sich aufzunehmen; er will nicht normative Ästhetik nach alter Art treiben. Gleichwohl normiert er alles: die Kunst, das künstlerische Schaffen und das ästhetische Genießen. Mein hauptsächlicher Widerspruch gegen Langes Theorie betrifft aber nicht die Wichtigkeit der Illusion und die Ausdehnung ihres Bereiches, sondern ihr seelisches Wesen. Bewußt kunstmäßig wie die darstellende Tätigkeit soll auch der Genuß des Werkes sein; und das besagt: er soll die Kunst als solche mit zum Gegenstand haben. Erst dann, wenn sie zum deutlichen Vorstellungsanhalt wird, kommen ihre Eigentümlichkeit und ihre Vorzüge zur vollen Geltung. Illusion ist „bewußte Selbsttäuschung". Es will mir vor allem scheinen, daß schon die Grundbegriffe Langes von Unklarheiten nicht frei sind. „Illusion" bezeichnet bei ihm zuweilen, in Verbindungen wie „illusionsfördernd", „illusionsstörend", die wirkliche Täuschung oder das echte Gefühl. Die terminologische Inkonsequenz wäre leicht zu bereinigen, wenn sie nicht auf einer tieferliegenden Zweideutigkeit beruhte, die auch der „bewußten Selbsttäuschung" eignet. Dieser Ausdruck beschreibt den ganzen doppelreihigen Prozeß, so zwar, daß das Hauptwort auf die erste, das Beiwort auf die zweite Inhaltsgruppe hinweist. Nun kann man, streng genommen, von bewußter Täuschung nur im Falle der Sinnestäuschung reden; ein Nebeneinander widersprechender aktueller Urteile, eines falschen Glaubens und eines ;besseren Wissens, ist im normalen Geistesleben unmöglich. Gerade
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den Augentrug aber perhorresziert Lange; er sagt (S. 250), daß der gemalte Vorhang des Parrhasios so wenig während der gelungenen Irreführung wie nach erfolgter Aufklärung ästhetisch wirken könne. Ich bestreite das