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German Pages 260 Year 2016
Werner Fitzner (Hg.) Kunst und Fremderfahrung
Image | Band 100
Werner Fitzner (Hg.)
Kunst und Fremderfahrung Verfremdungen, Affekte, Entdeckungen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt Einleitung | 7 »Molto strano«: Positionen zu Pontormo
Jasmin Mersmann | 17 Das Vertraute als das Fremde
Agnes Bube | 39 Vom fremden Neuen zum nicht mehr neuen Fremden
Herbert Grabes | 59 Fremderfahrungen in der Kunst
Marita Rainsborough | 77 Beruhigen und Befremden Zwei Tendenzen in Kunst und Philosophie
Tom Poljanšek | 97 Experimentieren, Fremderfahrung, Selbstrelativierung
Nicolas Constantin Romanacci | 119 Kunstbefremdung
Simone Neuber | 141 Originalität und Fremderfahrung
Lisa Katharin Schmalzried | 159 Die Grenzen der Gewohnheit
Philip Hogh | 177 Fremdheit als Aspekt der Form der Kunsterfahrung
Daniel Martin Feige | 197 Aspekte von Fremdheit im emotional-ästhetischen Erfahren
Werner Fitzner | 215
Fremdwerden
Stefan Niklas | 235 Autorinnen und Autoren | 253
Einleitung W ERNER F ITZNER
Kunst wird und wurde immer wieder in verschiedenen Modi als fremd erfahren und theoretisch in Begriffen der Fremdheit oder auch verwandten Konzepten, z.B. der Erstaunlichkeit oder des Verwunderns, aufgefasst. Besonders deutlich ist der Zusammenhang von Kunst und einem mit ihr auftretenden Gefühl von Fremdheit sicherlich da, wo neue zeitgenössische Kunstwerke auf den Plan treten und durch ihren provozierenden Gestus oder eine ihnen eigentümliche Unverständlichkeit Befremden evozieren. Jedoch ist künstlerische Fremdheit, die Kunstrezipientinnen begegnet, keinesfalls allein an radikale Provokation oder hermetische Unverständlichkeit zu binden. Solche künstlerischen Fremdheitsmodi mögen, in wiederum unterschiedlichen Ausprägungen und Intensitäten, in den Kunstwerken der Moderne, der Postmoderne und vielleicht der Gegenwart besonders prägend sein. Aber selbst in jenen Epochen und unserer Zeit kann künstlerische Fremdheit auch in ganz anderer Weise in Erscheinung treten. So z.B. in einem Kunstwerk, das bestimmte inhaltliche Perspektiven ungewohnt verknüpft und den Anschein von etwas Wunderbarem mit sich führt und damit entgegen unserer gewöhnlichen Alltagserfahrungen und -routinen dem eigenen Erleben einen neuen Dreh gibt, es gar beflügelt. Im Anfang des 20. Jahrhunderts – ihre Bewegung hatte ca. 1915 bis 1930 Bestand – haben die Russischen Formalisten, hauptsächlich auf die literarischen Künste bezogen, systematisch über Kunst und deren Verfremdungspotenziale nachgedacht. Vor allem Viktor Šklovskij hat die Techniken und Möglichkeiten literarischen Verfremdens untersucht. Im Fokus lag der Gedanke, dass künstlerisch anspruchsvolle Gestaltungen einerseits hinsichtlich der je bestehenden literarischen Überlieferung und Tradition sowie andererseits hinsichtlich der verbreiteten, eingeschliffenen Wahrnehmungsformen des Publikums verfremdend wirken und damit die allgemeine künstlerische Fortentwicklung in Gang halten
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sowie das Wahrnehmen erneuern. Für die Bildende Kunst haben diese Überlegungen des Russischen Formalismus einen wichtigen Nachhall in Max Imdahls Differenzierung vom wiedererkennenden Sehen und sehenden Sehen und in der Filmwissenschaft sind sie von Bedeutung für den neoformalistischen Ansatz von Kristin Thompson und David Bordwell. Der erwähnte Gedanke, wonach künstlerische Verfremdungen das Erfahren und mithin den Kontakt zur Umgebung neu wiederherstellen können, steht im Zentrum von Šklovskijs berühmten Aufsatz Die Kunst als Verfahren von 1916. Für Šklovskij liegt darin der Kern und die Funktion der Kunst überhaupt. Da seine Überlegungen einen so relevanten Hintergrund für das Nachdenken über den Zusammenhang von Kunst und Fremdheit bzw. Verfremdung bilden, sei hier eine wichtige Passage seines bekannten Aufsatzes einmal zitiert: »Und gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ›Verfremdung‹ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden; die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig.«1
Eine kunstwissenschaftliche und -philosophische Ergründung des Zusammenhangs von Kunst und Fremderfahrung, wie sie in den Beiträgen des vorliegenden Buches angestoßen wird, kann sich natürlich nicht nur auf die Thematik der künstlerischen Verfremdung konzentrieren. Es sind weitere Horizonte zu berücksichtigen – sowohl in historischer und geografischer Perspektive als auch inhaltlich und systematisch, hinsichtlich der Fragestellungen, die die mannigfachen thematischen Verwicklungen von Kunst und Fremdheit bergen. Ein paar dieser Fragen und Aspekte seien hier einmal exemplarisch angeführt: Das Phänomen von Fremdheit, die sich über Kunstwerke vermittelt oder durch sie anschaulich und greifbar wird, ist nicht bloß als eine je innerkulturelle Angelegenheit in den Blick zu nehmen, losgelöst von übergreifenden ästhetischen und kulturellen Zusammenhängen, etwa gar einzig auf Entwicklungen innerhalb der westlichen Künste bezogen. Der Umstand, dass einem gerade künstlerische Verhältnisse und Gegenstände anderer, fremder Kulturkreise fremd er1
Šklovskij, Viktor (⁵1994): »Die Kunst als Verfahren«, in: Striedter, Jurij (Hrsg.), Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München: Wilhelm Fink, S. 3-35. Hier: S. 15.
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scheinen, macht darauf aufmerksam, dass eine Debatte zu den Zusammenhängen von Kunst und Fremderfahrung bzw. Fremdheit für die inter- und überkulturellen Dimensionen stets sensibel bleiben sollte. Hieran kann noch die grundsätzliche Frage angeknüpft werden, inwiefern künstlerische Fremdheit nicht überhaupt an den Grenzen von Kulturen stattfindet, diese sogar mit markiert? Tritt künstlerische Fremdheit nicht häufig da auf, wo Kulturen sich fraglich sind, sich reflektieren, da, wo sie sich historisch selbst fremd werden, wo sie sich fortentwickeln und da, wo sie in wechselseitige Verbindung zueinander treten? Was auf einen fremd wirkt, geht für einen merklich nicht vollständig in bekannten und gewohnten Strukturen und Kategorien auf. Ähnlich verhält es sich in der ästhetischen Erfahrung von Kunstwerken. Besteht hier vielleicht eine wichtige Gemeinsamkeit des Erfahrens von Kunst und des Erfahrens von Fremdheit? Zwar müssen wir in unsere Erfahrungen von Kunstwerken unser spezifisches und allgemeines Wissen um Kunst nach Möglichkeit umfänglich einfließen lassen, um zu reichhaltigen, differenzierten und insofern angemessenen Kunsterfahrungen zu gelangen. Jedoch wäre andererseits eine Kunsterfahrung keine angemessene Erfahrung von Kunst, wenn sie nicht jenseits mitgebrachter konzeptueller Kategorien sowie zudem in gewissem Abstand zu den praktischen Einstellungen und Strukturierungen des Gewohnten grundsätzlich auch offen für das Eintreten von etwas Neuem und Überraschendem wäre, also auch darauf eingerichtet wäre, in Verwunderungen geraten zu können. Das aufseiten der Kunstwerke korrespondierende spezifische Potenzial, das Publikum immer wieder aufs Neue in Bann ziehen und erstaunen zu können, hängt womöglich entscheidend daran, dass Kunstwerke als je besondere, individuelle Objekte gelten und dass sie als Sinnesobjekte zählen, die in einzelnen, sinnlichen Erfahrungen zu rezipieren sind. Als solche sinnlichen und individuellen Objekte sind Kunstwerke für die Rezipienten nie gänzlich auszuschöpfen. Jeder beendete Rezeptionsvorgang bleibt, jenseits des Gewinns, den die Erfahrung des Kunstwerks eingebracht haben mag, unvollständig. Liegt in dieser strukturellen Unvollständigkeit, die die Rezeption von Kunstwerken als sinnlich dichten Objekten ausmacht, nicht auch eine Grundlage dafür anzunehmen, dass Kunstwerke stets eine Dimension der Fremdheit mit sich führen? Kunstwerke zeigen uns Grenzen unseres sprachlichen Kategorisierens auf. In der Auseinandersetzung mit Kunst und in der Begegnung mit Fremdem verlassen wir uns nicht gänzlich auf eigene Kategorien und eingeschliffene Vorstellungen. Sosehr Künstlerinnen in ihrer Arbeit zum Teil auch auf eine Aufhebung der Kluft zwischen Kunst und Leben abzielen, weicht Kunst doch, in verschiedenen Nuancen und Hinsichten, als etwas anderes von den alltäglichen, gewöhnlichen
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Bahnen ab. So sind kunstbezogene ästhetische Erfahrungen dezidiert verschieden von den maßgeblich praktischen Ausrichtungen, die das alltägliche Leben charakterisieren, wobei an Kunstwerken angestellte ästhetische Erlebnisse freilich in den gewohnt strukturierten Erfahrungen nachklingen oder diese gegebenenfalls gar dauerhaft modifizieren können, wie auch die Erfahrungen des gewöhnlichen Lebens in das kunstbezogene ästhetische Erfahren einfließen. Die Verschiedenheit dieser beiden Modi des Erfahrens ist vermutlich teilweise darin begründet, dass Kunstwerke fiktionale Räume ausbilden, die über die umgebende Wirklichkeit hinausführen, der umfassenden Realität entgegenstehen. Zu diesen Tendenzen der Abweichung der Kunst von der Realität kann als ein weiterer Aspekt z.B. hinzukommen, dass in Kunstwerken, im Rahmen der Möglichkeiten, die die einzelnen Künste zulassen, repräsentational oder expressiv auf fremde Kulturen Bezug genommen wird. Weiterhin konstituiert sich das Kunstfremde auch dadurch, dass Kunstwerke, auf verschiedenen Wegen, z.B., wie eben angerissen wurde, durch ihre anschauliche Fülle, durch einen sensiblen dargestellten Gehalt oder auch durch eine erregend neue Perspektive im ästhetischen Ausdruck, besondere Räume und Verhältnisse der Ambivalenz erzeugen und an ihr tatsächliches und potenzielles Publikum herantragen. Auch in dieser Weise weicht Kunst von den Haltungen und Verhältnissen ab, die uns im AlltäglichPraktischen gewohnt sind und selbiges maßgeblich im Gang halten. Künstlerisch erzeugte Ambivalenzverhältnisse können, wie uns die Geschichte der Kunst vielfach bezeugt, eben gerade dadurch, dass sie nicht ohne Weiteres einzuordnen sind, aufseiten des Publikums kognitiv und affektiv nur schwer auszuhalten sein. Kunst fordert von uns einen Umgang mit entsprechenden Ambivalenzen im Horizont unserer kulturellen Kompetenzen und Vereinbarungen. Besteht hier nicht vielleicht eine gewisse Parallele zu manchen Situationen der Begegnung bzw. Konfrontation mit kulturell oder politisch Fremdem? Sowohl die Konfrontation mit künstlerisch evozierter Ambivalenz als auch die Konfrontation mit Fremdem scheint regelmäßig eigentümliche Affekte, häufig Affekte der Ablehnung, zu erwecken. Sowohl künstlerisch erzeugte Ambivalenz, zumal dann, wenn sie in ihrer Intensität, gar bis hin zur Provokation, gesteigert auftritt, als auch politisch und kulturell Fremdes können so erlebt werden, dass sie die hergebrachten und gewohnten Strukturen stören oder so, dass sie sie bereichern. Künstlerische Fremdheit ist freilich nicht bloß eine Angelegenheit der Rezeption von Kunst. Sie spielt in verschiedenen Weisen z.B. auch in den vielfältigen Prozessen der Findung und Hervorbringung von künstlerischen Ideen und Kunstwerken eine Rolle. So mögen beispielsweise einer Künstlerin die Mittel ihres künstlerischen Schaffens als Medien künstlerisch-ästhetischen Ausdrucks geradezu in Fleisch und Blut übergegangen und damit, einerseits, zu Möglichkeiten
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des eigenen, persönlichen Ausdrucks geworden sein. Andererseits sind diese künstlerischen Ausdrucksmittel auch und gerade dann in jedem künstlerischen Produktionsvorgang der je nur ganz vage, vielleicht geradezu leiblich, oder doch konkreter als Zweck vorgestellten künstlerischen Idee neu anzumessen. In dieser kreativen Sphäre der medialen Neu-Findung und der Entstehung neuer Kunstwerke liegen einige wichtige Momente von Eigenheit bzw. auch Vertrautheit sowie von Fremdheit. Nicht nur werden in ambitionierten Vorgängen künstlerischen Schaffens und Explorierens bereits gewonnene und angeeignete künstlerische Mittel und Möglichkeiten zum einen in dem Maße genutzt, wie sie einem zur Hand und zugänglich sind, sowie zum anderen über dieses Maß auf noch fremdes, ungekanntes Terrain hinausgeführt, auch kann die Künstlerin in ihrer Produktivität sich sowohl als mit sich im Einklang bzw. vertraut erleben als auch für bislang unbekannte, fremde Aspekte ihrer selbst aufmerksam werden. Gerade wenn der Künstler sich im Schaffen dem medialen Prozess überlässt oder besser: überantwortet, kann für ihn ein gewisses Changieren von Momenten der Eigenheit bzw. Vertrautheit und der Fremdheit einsetzen. Dies findet, anders gewendet, mithin dann statt, wenn die erworbenen, idiomatischen künstlerischen Ausdrucksmittel produktiv aufs Neue aufs Spiel gesetzt werden und hierbei eine gewisse Relativierung erfahren. Die Beiträge des vorliegenden Bandes Kunst und Fremderfahrung setzen sich mit den angerissenen Fragen und Problemstellungen in direkter und indirekter Weise auseinander. Einige der angesprochenen Aspekte, wie z.B. die interkulturellen Perspektiven, die mit künstlerisch erzeugter Befremdung häufig verbundenen starken Affekte oder der Gegensatz von kunstbezogenem Erfahren und gewöhnlich-alltäglichem Erfahren, werden in mehreren der nachfolgenden Aufsätze betrachtet und bilden damit Verbindungslinien unter den einzelnen Beiträgen. Die Aufsätze dieses Buches nähern sich den Zusammenhängen von Kunst und Fremderfahrung jedoch auch aus ganz anderen Blickwinkeln als den eben skizzenhaft vorgestellten. So wird z.B. über die unterschiedliche Bedeutung von Erfahrungen des Erstaunens und Befremdens in Kunst und Philosophie nachgedacht oder darüber reflektiert, ob und inwiefern Fremdheit generell als ein konstitutiver Aspekt von Kunst gelten kann. Es wird in diesem Aufsatzband nicht nur eine bestimmte, einzelne Fragestellung zur Problematik von Kunst und Fremdheit verfolgt und keine einheitliche Deutungslinie angestrebt. Die Beiträge zu diesem Band sind mithin bewusst heterogen – es kommen etwa auch verschiedene fachliche Disziplinen sowie unterschiedliche methodische und kunstphilosophische Ansätze zu Wort. Der Ausdruck »Fremderfahrung« im Titel steht daher auch breit für verschiedene Facetten, in denen uns z.B. Kunst fremd ist, als fremd gilt, in einer Erfahrung von Fremdheit oder durch Verfremdung hervor-
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gebracht wird, Erfahrungen der Fremdheit erzeugt oder vermittelt etc. Hierbei kann der Band selbstverständlich keinerlei Vollständigkeit liefern. Mancher Leser wird einige durchaus wichtige Themensetzungen vermissen, z.B. Bertolt Brechts Überlegungen zu Verfremdungseffekten und zum Epischen Theater, oder sich vielleicht auch wünschen, dass die eine oder andere Perspektive ausführlicher dargestellt wäre. Das Anliegen des vorliegenden Buches besteht in erster Linie darin, für die Auseinandersetzung mit dem schon seit langem erkannten und immer wieder vorgebrachten Zusammenhang von Kunst und Fremdheit bzw. Fremderfahrung einige neue Anregungen zu geben und vielleicht auch denen, die bereits näher über diesen Gegenstand nachgedacht haben, weiterführende Winke und Hinsichten nahezubringen. Die ersten vier Aufsätze entfalten ihre Überlegungen anhand von Abbildungen bildnerischer Kunstwerke. Diese Texte sind tendenziell kunsthistorisch, kunstwissenschaftlich, auch literaturhistorisch, ästhetikgeschichtlich und kulturtheoretisch orientiert. Die darauffolgenden, anderen Beiträge sind, wobei sie, wie schon erwähnt, teilweise ganz unterschiedlichen Ansätzen folgen, philosophisch ausgerichtet. Die folgenden Zusammenfassungen der einzelnen Aufsätze geben einen ersten Überblick über diese und über das vorliegende Buch: Mit dem Aufsatz von Jasmin Mersmann wird zunächst eine kunsthistorische Perspektive eingenommen. Der Aufsatz setzt sich mit dem Werk des Malers Jacopo da Pontormo (1494–1557) auseinander, das bereits von dessen Biografen Giorgio Vasari in verschiedenen Hinsichten als befremdlich wahrgenommen wurde. Die Befremdungswirkung wird durch drei Dimensionen näher erläutert: eine Selbstentfremdung, die auf einer starken Auseinandersetzung mit der Malerei nördlich der Alpen beruht, ungewöhnliche Ikonografien, Darstellungen und Formgebungen sowie den sonderbaren Charakter, der Pontormo auszeichnete. Die Ausführungen lassen auch exemplarisch übergreifende Aspekte hervortreten, wie Kunst als fremd wahrgenommen werden kann. In dem folgenden Beitrag betrachtet Agnes Bube das Phänomen von künstlerischen Verfremdungen des Alltäglichen, wie sie etwa mit einigen Kunstwerken gegeben sind, die künstlerischen Prinzipien des Surrealismus folgen oder bspw. im Kontext oder in der Nachfolge der Fluxus-Bewegung stehen. Ausgehend von den Überlegungen Viktor Šklovskijs sowie einigen phänomenologischen Differenzierungen von Bernhard Waldenfels wird die Thematik zunächst durch eine detaillierte Betrachtung des Werks Schnürbecher von Ursula Burghardt entfaltet. Weitere Künstler, auf die dann näher eingegangen wird, sind z.B. Claes Oldenburg, Martin Stiefel oder auch Andreas Slominski. Insgesamt verfolgt der Aufsatz die These, dass entsprechende künstlerische Verfremdungen alltäglicher
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Verhältnisse ein besonderes Potenzial haben routinierte, alltägliche Wahrnehmungsweisen zu modifizieren und zu erneuern. Herbert Grabes knüpft mit seinem Aufsatz an die von ihm bereits publizierte Idee an, nach der die Ästhetik der Moderne und Postmoderne als Ästhetik des Fremden zu begreifen ist. Der Aufsatz setzt diese Überlegungen mit Blick auf die Literatur und Kunst der Gegenwart, der anhaltenden Phase nach der Postmoderne, fort. Es wird hinsichtlich der amerikanischen, englischen und deutschsprachigen Literatur sowie der internationalen Kunstszene, die im besonderen Fokus der Überlegungen liegen, erläutert, inwiefern die Ästhetik des Fremden prinzipiell, wenngleich zumeist in weniger radikalen, milderen Formen weiterhin besteht. Hierbei spielen Rückwendungen zu realistischen Darstellungsmodi eine Rolle, sowie neue, leise Annäherungen an das Schöne. Der Beitrag von Marita Rainsborough widmet sich verschiedenen Formen des Aufeinandertreffens der westlichen Kultur mit anderen, fremden Kulturen in der bildenden Kunst seit ca. der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Für frühere solcher Begegnungen, die sich, wie erläutert wird, gemäß der Konzepte des Exotismus und des Orientalismus begreifen lassen, ist es u.a. charakteristisch, dass bestehende Machtverhältnisse, etwa in der Form von Deutungsperspektiven der westlichen Kultur gegenüber jenen fremden Kulturen, perpetuiert werden. Demgegenüber sind entsprechende künstlerische Auseinandersetzungen, die spätestens seit den 1970er Jahren auftreten und sich durch die Konzepte der Kreolisierung und der Hybridisierung verstehen lassen, von kultureller Gleichrangigkeit bzw. von kritischen und emanzipatorischen Aspekten geprägt. Die Überlegungen entfalten sich entlang künstlerischer Beispiele von Paul Gauguin, Jean-Léon Gérôme sowie von Yinka Shonibare, Shirin Neshat und Kehinde Wiley. Tom Poljanšek diskutiert in seinem Beitrag das unterschiedliche Verhältnis von Kunst und Philosophie zum Staunen und Befremden. Während die Philosophie, wie verbreitet angenommen wird, zwar ihren Anfang im Staunen hat, geht es ihr tendenziell doch darum, initiale Beunruhigungen zu überwinden und zu beruhigtem Verstehen zu gelangen. Sie hat insofern eine thaumatophobe Tendenz. Hierin kann sie sich jedoch, wie durch Bezüge auf Aristoteles, Ludwig Wittgenstein und Wilfrid Sellars exemplarisch verdeutlicht wird, ganz unterschiedlich ausprägen. Der Kunst liegt demgegenüber am Befremden, sie ist thaumatophil. Wie im Zuge der Betrachtungen dann gründlich dargelegt wird, entwickelt Kunst ihre Möglichkeiten zu Befremden allerdings wiederum in Rahmen künstlerisch-ästhetischer Konsistenzen, stabilisierter Erwartungshorizonte, die etwa durch einzelne Werke, Werkgruppen oder auch Gattungen etabliert werden können.
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Nicolas Romanacci nimmt zunächst unter Bezugnahme auf sprachanalytischanthropologische Überlegungen Ernst Tugendhats sowie auch zen-buddhistische Ideen explorativ-experimentierende, schöpferische Prozesse in den Blick, wie sie in den Künsten, aber auch in den Wissenschaften prägend sind. Solche Prozesse sind, insbesondere auch vor dem Hintergrund bestimmter gesellschaftlicher Bewertungsstrukturen, für denjenigen, der tätig ist, mit einer gewissen Selbstrelativierung verbunden. Diese Gedanken werden dann näher auf das künstlerische Schaffen fokussiert und von den semiotischen Vorstellungen Nelson Goodmans her weiterentwickelt. Eine radikale Fremderfahrung kann im künstlerischen Explorieren demnach insofern veranschlagt werden, als darin Zeichensysteme, die die eigene Weltsicht bislang geprägt haben, aufgegeben werden, um neue semiotische Zusammenhänge zu erzeugen. Simone Neuber setzt sich in ihrem Aufsatz damit auseinander, inwiefern Fremdheit als ein konstitutives Merkmal von Kunst anzusehen ist und inwiefern es womöglich fruchtbar sein könnte, Kunst von der Begrifflichkeit der Fremderfahrung her zu verstehen. Dieser Thematik wird sich angenähert, indem zunächst gängige Definitionsansätze des Begriffs Kunst herangezogen werden. Es tritt als Auffälligkeit hervor, dass in diesen Ansätzen ein Begriff von Fremdheit nicht vorkommt. Vor dem Hintergrund von phänomenologischen Betrachtungen von Waldenfels wird dann allerdings herausgearbeitet, dass Kunst und Fremdheit in vergleichbarer Weise facettenreiche Phänomene sind. Gerade diese Vielfalt bringt jedoch möglicherweise das Problem mit sich, dass durch sie Kunst und Fremdheit in ihrem Zusammenhang nicht besonders scharf zu fassen sind. Der Aufsatz von Lisa Schmalzried nähert sich dem Zusammenhang von Kunst und Fremderfahrung aus der Perspektive der Frage, ob und inwiefern die Originalität eines Kunstwerks verantwortlich dafür ist, dass das Kunstwerk ein gutes Kunstwerk ist. Im ersten Teil des Aufsatzes wird hierzu zunächst geklärt, was unter der Originalität eines Kunstwerks zu verstehen ist. Hierbei erweist sich der Begriff der Fremderfahrung in einer bestimmten Hinsicht als relevant. Im zweiten Teil des Artikels wird dann ein Argument vorgestellt, wonach die, durch den Begriff der Fremderfahrung erläuterte, Originalität eines Kunstwerks sich positiv auf dessen Wert als Kunstwerk auswirkt. Fremderfahrung wird in dem Artikel an eine kunsthistorisch ausreichend informierte Person gebunden, die ein jeweiliges Kunstwerk relativ zu dessen relevanten künstlerischen Vorgängern als fremd erfährt. Philip Hogh widmet sich in seinem Beitrag zunächst dem Begriff der Erfahrung und erläutert diesen unter Bezugnahme auf David Hume und insbesondere Georg W. F. Hegel durch den Begriff der Gewohnheit. Erfahrungen macht ein Subjekt demnach im gelingenden oder misslingenden Ausführen seiner Ge-
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wohnheiten. Während im gelingenden Ausführen jeweilige besondere Gegebenheiten durch Gewohnheiten bewältigt werden können, schlägt dies im Misslingen fehl. Gerade dies ist ein auf eigentümliche Weise kennzeichnender Aspekt in der Erfahrung von Kunstwerken. In geschützten Räumen bieten Kunstwerke demzufolge Möglichkeiten, sich, im Sinne einer bestimmten Ästhetisierung, in einem gewissen Abstand zu den eigenen Gewohnheiten als fremd zu erfahren. Daniel Martin Feige verfolgt in seinem Aufsatz die These, dass Fremdheit nicht lediglich in besonderen, etwa expressiven oder repräsentationalen Momenten von Kunstwerken liegt, sondern allgemein und grundsätzlicher ein Aspekt der Form des Erfahrens von Kunstwerken ist. Für diese These wird ausgehend von Überlegungen Hegels sowie Theodor W. Adornos argumentiert. In hegelscher Perspektive, so wird erläutert, sind Kunstwerke für uns als entscheidend begrifflich orientierte Wesen deswegen fremd, weil sie, anders als etwa philosophische Gedanken, nicht übersetzbar, paraphrasierbar sind. Der gleiche Aspekt von künstlerischer Fremdheit, dass Kunstwerke nicht in diskursivem Denken aufgehen können, lässt sich auch und noch deutlicher mit Adorno verstehen. Der Beitrag Werner Fitzners geht zunächst auf Edmund Husserls phänomenologischen Begriff der Fremderfahrung ein und erläutert diese von Husserl her im Sinne einer grundlegenden wertend-emotionalen Erlebensebene. Das sich so ergebende Verständnis von Erleben wird dann, unter Bezugnahme auf den Begriff des Stils, in einer ästhetischen Perspektive gedeutet. Anschließend werden die Betrachtungen in einen Bezug zu Ronald de Sousas Emotionsphilosophie gesetzt. Vor allem von de Sousas Konzept der Schlüsselszenarien her ergibt sich eine weitere Möglichkeit zu verstehen, wie das grundsätzlich emotional verfasste Erleben von Fremdheit geprägt ist. Zum Abschluss werden die insbesondere an de Sousa gewonnenen Einsichten auf das Feld der Ästhetik bezogen und hierbei verschiedene Aspekte von Fremdheit angeführt. Der abschließende Aufsatz von Stefan Niklas widmet sich der verbreiteten Erfahrung, dass uns vertraute Dinge, bspw. auch Kunstwerke, mit der Zeit fremd werden können. Die Betrachtung ist orientiert an Georg Simmels kulturphilosophischen Überlegungen zu kulturellen Formen und zur Tragödie der Kultur. In dem Artikel wird die individuell-biografische und die kulturell-historische Dimension entsprechenden Fremdwerdens herausgearbeitet sowie auch die wichtige Wechselbeziehung zwischen den beiden Dimensionen beleuchtet. Ein besonderes Augenmerk wird auf die kulturelle Kontinuität gelegt, die sich auch im Fremdwerden kultureller Formen vollzieht, sowie, damit verbunden, die Möglichkeiten zu erneuter, produktiver Auseinandersetzung mit kulturell fremd Gewordenem.
»Molto strano«: Positionen zu Pontormo J ASMIN M ERSMANN
Klein und zusammengekauert sitzt er da, in einer braunen Jacke zwischen exotisch bunt gekleideten Gestalten (Abb. 1–2). Wir blicken auf ihn herab wie der blondlockige Knabe, der breitbeinig vor ihm steht und auf den Triumphwagen weist, auf dem Josef, der Sohn des Patriarchen Jakob, eine Nachricht entgegennimmt. Der Fremde schaut ein wenig schüchtern auf und zieht sich die Jacke zu als würde er frieren. Offenbar ist er aus einer anderen Zeit zu Besuch im alttestamentarischen Ägypten. Von Vasari erfahren wir, dass Jacopo da Pontormo (1494–1557) hier seinen Schüler Agnolo Bronzino unter das Volk gemischt hat.1 Der Junge ist nicht nur an die unterste Grenze des Pharaonenpalasts, sondern auch an den Rand des Bildes gerückt, das vier Episoden der Josefsvita in einem bewusst archaischen Verfahren simultan darstellt. Fast wirkt der Knabe wie ein alter ego des jungen Josef, der nach dem Verrat durch seine Brüder ein Fremder in Ägypten war. Gleichzeitig aber fungiert er als Identifikationsfigur für die Betrachter, die Pontormos Bruch mit den klassischen Bildnormen seit dem 16. Jahrhundert immer wieder fasziniert oder befremdet kommentierten. Die Tafel gehört zu einem vierzehnteiligen Zyklus, den der Bankier Salvi Borgherini 1515, anlässlich der Hochzeit seines Sohnes bei vier Florentiner Malern in Auftrag gegeben hatte.2 Vasari lobt das Bild in seiner 1568 publizierten
1
Vgl. Vasari (2004), S. 29 / (1568), S. 482. Vgl. dazu Pilliod (2001), S. 141-143 und Lugon (2002), S. 51-71, bes. S. 56. Die Infrarotreflektografie zeigt, dass Pontormo das Porträt erst nachträglich einfügte (vgl. Plazzotta/Billinge (2002), S. 666 und Abb. 9).
2
Die ursprünglich im Schlafzimmer der Brautleute im Palazzo Borgherini in Florenz angebrachten Tafeln sind heute auf mehrere Museen verteilt. Vgl. Braham (1979), S. 754-763 & 765.
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Vita als »die schönste Malerei [...] die Pontormo je geschaffen hat«.3 Von diesem Frühwerk ausgehend, beschreibt er Pontormos Stilentwicklung jedoch als Niedergang. Sein Befremden fasst er mit Begriffen wie »stravagante«, »bizzaro« und vor allem »strano«.4 Das wie das englische ›strange‹ im Sinne von ›fremd‹, aber auch ›befremdlich‹ verwendete Adjektiv gilt der eigenwilligen Ikonografie, Formensprache und Persönlichkeit des Malers gleichermaßen. Auch wenn von Tiraden der Kunstschriftsteller nicht unbedingt auf die Erfahrung zeitgenössischer Betrachterinnen geschlossen werden kann, ist die affektive Aufladung des Begriffs aufschlussreich für die Nähe von gefeierter novità und ambivalent bewerteter stravaganza. An den Reaktionen von Zeitgenossen und späteren Betrachtern von Pontormos Werk lässt sich exemplarisch die Frage reflektieren, in welchem Sinne Kunst als ›fremd‹ erfahren werden kann. Dazu werden im Folgenden drei Figuren des Befremdens untersucht: zunächst die vermeintliche Selbstentfremdung des Malers durch seine Beschäftigung mit nordischer Kunst; dann das Befremden der Betrachter angesichts ungewohnter Ikonografien oder verfremdeter Körperformen und schließlich die unterstellte Analogie von sonderbarem Charakter und sonderbarer Kunst. Abbildung 1: Pontormo, Josef in Ägypten, 1515-1518
London, National Gallery, 93 x 110 cm
3
Vasari (2004), S. 29 / (1568), S. 482.
4
Vgl. ebd., S. 37, 41, 45, 56, 57 / S. 485, 486, 487, 492 & 493.
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Abbildung 2: Pontormo, Josef in Ägypten, Detail
1. S ELBSTENTFREMDUNG Die Rezeption von Pontormos Werk zeigt beispielhaft, wie schmal der Grat zwischen der gelobten Offenheit gegenüber Inspirationen durch das Fremde und einer als pathologisch empfundenen Assimilation daran ist. Denn »strano« ist auch das Werk der »stranieri«, der Fremden und insbesondere der nordischen Künstler, deren Holzschnitte und Kupferstiche im frühen 16. Jahrhundert in Italien bekannt wurden.5 Schon die Josefstafel zeugt von Pontormos Auseinandersetzung mit ultramontanen Stichen, denn neben dem Florentiner Knaben hat sich auch ein fremdländisches Haus in die ägyptische Szenerie geschmuggelt, dessen Herkunft aus Lucas von Leydens Ecce-Homo-Holzschnitt von 1510 schon Sydney Freedberg erkannt hat.6 Während Vasari die nordischen Einschläge in der Josefstafel noch duldet, gehen ihm die Übernahmen in Pontormos Fresken im Kreuzgang der Certosa del 5
In seiner Vita Marcantonio Raimondis würdigt Vasari die wechselseitige Vermittlung zwischen »stranieri« und »Italiani« (1568, S. 311). Zur Dürerrezeption vgl. Falciani (2014a) und Ebert-Schifferer/Herrmann Fiore (2011).
6
Vgl. Freedberg (1961), S. 525.
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Galluzzo entschieden zu weit. Der Maler war 1523 zusammen mit Bronzino vor der Pest in die außerhalb von Florenz gelegene Kartause geflohen und hatte dort einen Passionszyklus geschaffen, der sich bis in die Linienführung der Vorzeichnungen hinein an Dürers Passionsstichen aus dem Jahr 1511 orientierte.7 – So sehr, dass Walter Friedländer die Fresken als »more archaic and more Gothic« bezeichnet als ihre Vorbilder.8 In seiner Vita beeilt sich Vasari zu betonen, dass die Nachahmung von Dürers Bildfindungen nicht an sich tadelnswert sei, sondern die Tatsache, dass Pontormo den deutschen Stil »in jeder Hinsicht«, also »in den Gewändern, dem Aussehen der Köpfe und den Gesten« übernommen habe.9 Ja der Maler habe sich der Manier des Meisters so sehr angeähnelt, dass sein früherer Stil »von dieser neuen Beschäftigung und Anstrengung verdorben und von dem unglücklichen Umstand dieses deutschen Stils [...] geschädigt« worden sei.10 Wisse Pontormo etwa nicht, dass »Deutsche und Flamen in diese Gegenden kommen, um sich den italienischen Stil anzueignen, den er mit aller Mühe versuchte loszuwerden, als wäre er schlecht?«11 Inwiefern der Austausch von Motiven und Formensprache zwischen Italien und Deutschland wechselseitig war, zeigt beispielhaft Pontormos Heimsuchung in Carmignano (1528/29), die der Maler – wenn auch stark transformiert – aus Dürers Stich der Vier Hexen abgeleitet hat (vgl. Abb. 3–5). Dürers eigene Komposition aber adaptiert ihrerseits, wie schon Erwin Panofsky bemerkte, eine römisch-antike Bildformel, die Gruppe der drei Grazien. »Es gehört«, so Panofsky, »zu den Rösselsprüngen der künstlerischen Entwicklung im 16. Jahrhundert, dass das Motiv in nordischer Verwandlung nach Italien zurückwirkt, wo die 7
Mit Blick auf Pontormos Vorzeichnung zum Auferstehungsfresko im Berliner Kupferstichkabinett schreibt Goldschmidt 1915: »Man sieht den zögernden, eckigen, absetzenden Strichen an, wie er sich mühte, ›deutsch‹ zu sein«. Goldschmidt (1915), Sp. 91.
8
Vgl. Friedländer (1990), S. 26 und Fasola (1946), S. 37-48. Zum Freskenzyklus vgl. Pilliod (1992), S. 77-88. Paradoxerweise verwendet Friedländer hier ausgerechnet den von Vasari geprägten Begriff des »gotico«, der soviel bedeutet wie »fremd« oder »barbarisch«.
9
Vasari (2004), S. 41 / (1568), S. 486: »... egli tolse la maniera stietta tedesca in ogni cosa, ne’ pani, nell’aria delle teste e l’attitutidni...«.
10 Ebd., S. 37 / S. 484: »... la vaghezza della sua prima maniera, la quale gli era stata data dalla natura tutta piena di dolcezza e di grazia, venne alterata da quel nuovo studio e fatica, e contanto offesa dall’accidente di quella tedesca...«. 11 Ebd. S. 485: »Or non sapeva il Puntormo che i tedeschi e’ fiamminghi vengono in queste parti per imparare la maniera italiana, che egli von tanta fatica cercò, come cattiva, d’abandonare?«
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klassische Gruppe im Typenrepertoire der Renaissance durch mannigfaltige Anpassung und Abwandlung fest verankert wurde.«12 Ralf Bormann spricht deshalb treffend von »Pontormos Aufspeicherung der von Dürer bereits ›nordisch‹ verstoffwechselten antiken Gruppe«, einer Art »Stille Post«, mit Hilfe derer Pontormo sich vom Figurenkanon der Hochrenaissance entfernt habe.13 Abbildung 3: Pontormo, Heimsuchung, 1528/29
Abbildung 4: Dürer, Vier Hexen, 1497
Carmignano, San Michele, 202 x 156 cm
Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, 19 x 13,1 cm
Was Vasari bemängelt, machte Pontormo für die nationalistische deutsche Kunstgeschichtsschreibung der 1920er und 30er Jahre gerade interessant. Neben seiner Formensprache war es auch Vasaris Charakterisierung des Künstlers als grüblerischem Perfektionisten, aufgrund derer Kurt Steinbart ihn als einen »uns blutsverwandte[n] Einsame[n]« beschrieb, der sich von der »statischen Hoch-
12 Panofsky (1977), S. 95. Schon Heinrich Wölfflin hatte sich unter rassetheoretischen Prämissen mit Dürers Auseinandersetzung mit der ihm »wesensfremden« italienischen Kunst beschäftigt. Wölfflin (1964), S. 15. 13 Bormann (2013), S. 173.
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klassik echt mediterranen Gepräges« abgekehrt und der »nordischen Dynamik« zugewandt habe.14 Abbildung 5: Römisches Relief mit den drei Grazien, 90-110
Berlin, Antikensammlung, Inv.Nr. Sk 890
Zugleich aber sei in Florenz ein »nordischer Geist« umgegangen, die Toskana »mit germanischen Elementen« durchsetzt gewesen, denn Pontormos Arbeiten seien »nur als künstlerische Niederschläge einer Rassenkreuzung voll und ganz verständlich«.15 Auch Heinrich Wölfflin behauptet, deutsche Künstler hätten zwar »von den Italienern gelernt, aber man hätte die fremden Vorbilder nicht aufgesucht, ohne dass ein verwandter Drang im eigenen Busen vorhanden gewesen wäre«: »Ohne dass sie ihnen mit verwandtem Auge entgegengekommen wären, hätten die Deutschen Italien gar nicht sehen können«.16 Gegen die These der »Blutsverwandtschaft« scheint der deutschnationale, später nationalsozialistische Kunsthistoriker Hermann Voss überzeugt, dass ein italienischer Künstler nordische Schöpfungen nur missverstehen könne.17 In der Josefstafel, so heißt es, würden »Spuren des Studiums nordischer Graphik sichtbar, aber nicht in der Form verständlicher Ablehnung oder Übernahme dieser 14 Steinbart (1939), S. 3-12. Vgl. auch Hetzer (1929). 15 Steinbart (1939), S. 8. 16 Wölfflin (1964), S. 232 & 20. 17 Vgl. Iselt (2010).
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und jener Figur, sondern als Verzerrung der ursprünglichen Motive zu spukhafter Phantastik.«18 Vor allem mit Blick auf die Passionsfresken in der Certosa del Galluzzo gibt er Vasari recht, »die sklavische Abhängigkeit Pontormos von Dürer [...] als einen Irrweg« zu bezeichnen.19 Die jüngere Forschung hat solche Einschätzungen freilich revidiert und die Fruchtbarkeit des wechselseitigen Austauschs betont.20 Als Korrektiv gegen nordische Stilverwirrungen wirkte nach Vasaris Dafürhalten Pontormos Auseinandersetzung mit dem Werk Michelangelos in den 1530er Jahren, die ihren Höhepunkt in der Ausführung zweier Gemälde nach Kartons des Meisters fand. Vasari zufolge führte Pontormos Versenkung in Michelangelos Werk zu einer Erweckung und dem Entschluss, ihn nach Kräften nachzuahmen.21 Sydney Freedberg geht sogar so weit zu behaupten, keinen anderen Fall zu kennen, in dem »an individuality so special and intense as Jacopo is so obsessed – possessed even – by another’s art« – mit insgesamt positivem Effekt.22 Andere Kritiker jedoch wittern gerade in Pontormos Michelangeloimitation eine ebenso verhängnisvolle Selbstentfremdung wie in seiner Auseinandersetzung mit Dürer. Bernhard Berenson zufolge entfernte die Michelangeloverehrung Pontormo vom rechten Weg und auch Voss sieht Pontormo dadurch »vollkommen aus der Bahn geworfen«.23 Emil Maurer, der Pontormos Auseinandersetzung mit Michelangelo eine umfassende Studie gewidmet hat, beschreibt diese hingegen differenzierter als ein Schwanken zwischen einer Einfühlung »bis zur Preisgabe des eigenen Stils« und der Appropriation von Michelangelos Formensprache im Sinne einer »manieristischen Umdeutung«.24 Wieviel Eigenes, wieviel Fremdes ist opportun? Wo hört kreative Anverwandlung auf und wo beginnt das Sichverlieren an einen fremden, im schlimmsten Fall ›falschverstandenen‹ Stil?
18 Voss (1920), S. 166. 19 Ebd., S. 168. 20 Vgl. z.B. den Katalogeintrag von Fara (2014), S. 206-208. Falciani zufolge wählte Pontormo seinen Stil je nach Sujet oder Genre. Vgl. Falciani (2014a), S. 201. 21 Vgl. Vasari (2004), S. 51 / (1568), S. 489. 22 Freedberg (1993), S. 189. 23 Vgl. Berenson (1896), S. 81 & Voss (1920), S. 174. 24 Vgl. Maurer (1967), S. 143.
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2. B EFREMDLICHE F ORMEN Während Vasari vor Pontormos Kreuzabnahme in der Cappella Capponi in S. Felicita in Florenz, die Leo Steinberg abermals auf nordische Vorbilder zurückführte, insbesondere an dem ungewöhnlichen, schattenlosen Kolorit Anstoß nahm, verschiebt sich mit seiner Kritik an dem benachbarten Verkündigungsfresko das Augenmerk auf den Verstoß gegen die klassischen Proportionen.25 Maria und der Engel seien »derart verunstaltet, dass man [...] die absonderliche Überspanntheit dieses Geistes darin erkenn[e]«.26 Pontormos ab 1537 freskierte Figuren in der Medicivilla in Castello schließlich verurteilt Vasari als »sehr missgestaltet« (molto difforme), unproportioniert (senza misura) und überhaupt »sehr seltsam« (molto strane).27 Seinen Höhepunkt aber findet das Befremden angesichts der heute verlorenen Fresken im Chor von San Lorenzo, der Stammkirche der Medici.28 Das von Cosimo I. in Auftrag gegebene Werk stand seit seiner Konzeption in Konkurrenz zu Michelangelos Jüngstem Gericht in der Sixtinischen Kapelle und beschäftigte Pontormo in seinem letzten Lebensjahrzehnt, von 1546 bis 1556. Entsprechend hoch war die Erwartung und umso größer die Enttäuschung bei der Enthüllung der nach Pontormos Tod von Bronzino vollendeten Fresken. Dem Chronisten Agostino Lapini zufolge teilte das Werk bei der Enthüllung 1558 die Gemüter: »manchen gefällt es, anderen nicht« (a chi piacque a chi no).29 Vasari gehörte ganz offensichtlich zur zweiten Gruppe. Er entrüstet sich nicht nur über die ihm unverständliche Ikonografie, sondern auch über die vermeintliche Verfremdung natürlicher Formen, die den Betrachter gleichsam in den Wahnsinn treibe und
25 Vgl. Steinberg (1974), S. 385-399 & Harbison (1984), S. 324-327. 26 Vasari (2004), S. 45 / (1568), S. 487: »...da un lato la Vergine, dall’altro l’Agnolo che l’anunzia, ma in modo l’una e l’altra stravolte, che si conosce, come ho detto, che la bizarra stravangaza di quel cervello di niuna cosa si contentava già mai.« 27 Ebd., S. 56 / S. 492: »... se bene sono in questa molte parti buone, tutta la proporzione delle figure pare molto difforme, e certi stravolgimenti et attitudini che vi sono pare che siano senza misura e molto strane.« 28 Die Mittelwand wurde vermutlich bereits durch den Anbau der Cappella dei Principi nach 1604 zerstört, endgültig aber verschwanden die Fresken durch die Maßnahmen zur Gebäudesicherung, die Ferdinando Ruggieri 1738 durchführte. Elena Ciletti vermutet, dass Reste der Fresken in der oberen Zone der Seitenwände erhalten sind. Ciletti (1979), S. 765-770. 29 Lapini (1900), S. 122.
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nur durch den Wahnsinn des Künstlers zu erklären sei.30 Der selbst vielfach kritisierte Bildhauer Baccio Bandinelli behauptet 1559 sogar, die ganze Stadt verurteile die Fresken in San Lorenzo »aus einem Munde« (per una bocha).31 Bei der Zerstörung der Fresken im Jahr 1738 geht Pater Giuseppe Richa so weit zu behaupten, der Verlust sei nicht zu bedauern (non è da piangersi).32 Was aber stieß die Betrachter derart ab? Ein Grund könnte die Vielzahl der nackten Leiber sein, die man als dem sakralen Ort unangemessen erachtete. In diesem Sinne äußerten sich zumindest der Prior von San Lorenzo und die für die Zerstörung der Fresken verantwortliche Maria Luisa de’Medici, deren Vater schon Michelangelos ignudi bedecken und Bandinellis Adam&Eva aus dem Florentiner Dom entfernen ließ.33 Der wenig prüde Vasari jedoch wird sich an den ignudi wohl kaum gestört haben. Seine Vorbehalte gegen Pontormo könnten dagegen privat motiviert sein – vermutet wurde gekränkte Eitelkeit oder Entrüstung darüber, dass man Pontormo seinem Freund Salviati bei der Auftragsvergabe in San Lorenzo vorgezogen hatte.34 Damit allein jedoch lässt sich die Vehemenz seiner Äußerungen kaum erklären. Das Aussehen der Fresken lässt sich nur aus vierzehn Zeichnungen und einem Kupferstich mit der Darstellung der Dekoration zu den Beerdigungsfeierlichkeiten für König Philip II. im Jahr 1598 rekonstruieren, in dem jedoch nur die obere Zone des Chors sichtbar ist (Abb. 6). Im Zentrum über dem Altar erscheint Christus in der Glorie, gerahmt von Putti mit den Leidenswerkzeugen. Teil des Rahmens ist die Darstellung der Schöpfung Evas aus der Leiste Adams durch einen bärtigen Gottvater. Rechts daneben repräsentierte Pontormo den Sündenfall, links die Vertreibung aus dem Paradies. Unter der Wandverhüllung war der Aufstieg der Seligen, über dem Altar das Martyrium des Kirchenpatrons Laurentius dargestellt. Der Fokus der meisten Beschreibungen aber lag auf der Darstellung der Opfer der Sintflut auf der linken Seitenwand (Abb. 7), wo zusätzlich auch das Opfer Noahs und die Segnung seiner Nachfahren, die Geschichte von Kain und Abel sowie die Gesetzesübergabe an Moses dargestellt war. Die rechte Wand zeigt die Auferweckung der Toten am Jüngsten Tag, die Arbeit der Stammeltern, das Opfer Isaaks und die vier Evangelisten. Das auffälligste Merkmal der Ikonografie – gerade auch im Vergleich mit Michelangelos 30 Vgl. Vasari (2004), S. 62f. / (1568), S. 494. 31 Bandinelli in einem Brief an Cosimo I. (um 1559), zit. nach Waldman 2004. Vasari dagegen schreibt, Bandinelli sei nach seinen Misserfolgen selbst »strano e fastidioso« geworden. Vasari (1568), S. 885. 32 Richa (1757), fol. 29. 33 Vgl. Ciletti (1979), S. 767, Anm. 6. 34 Vgl. Vasari (2004), S. 113f., Anm. 178.
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Fresko in der Sixtina – ist das Fehlen eines Jüngsten Gerichts: Christus ist hier nicht als Richter, sondern in der Glorie dargestellt.35 Er erweckt die Toten, während darunter Gottvater Eva erschafft – eine Szene, von der Vasari behauptet, dass er ihren Sinn nie habe begreifen können, obwohl er wisse, »dass Jacopo von sich aus Verstand besaß und mit gelehrten und gebildeten Personen Umgang hatte.«36 Fast klingt es, als mache sich Vasari hier zum Sprachrohr jener Autoren, die in Reaktion auf die protestantische Bildkritik auf die Verständlichkeit von Kunst insistierten, um sie in den Dienst der Konfessionalisierung zu stellen. Dabei waren gerade Vasaris eigene Fresken im Palazzo della Cancelleria von dem gegenreformatorischen Kunstschriftsteller Giovanni Andrea Gilio da Fabriano dafür kritisiert worden, dass sie wie Fremde »einen Dolmetscher oder Kommentator bräuchten«, um verstanden zu werden.37 Insofern die Heilsgeschichte davon ausging, dass mit Eva die Sünde in die Welt gekommen ist, die eine Erlösung erst notwendig machte, ist die Ikonografie, so ungewöhnlich die enge Zusammenstellung von Schöpfung und Parusie auch sein mag, doch weniger abwegig als von Vasari behauptet. Abbildung 6: Anonym, Blick in den Chor von San Lorenzo
Wien, Albertina, 28 x 41,9 cm 35 Vgl. dazu Cialoni (1999), S. 235-258. 36 Vasari (2004), S. 62 / (1568), S. 494: »Mai io non ho mai potuto intendere la dottrina di questa storia – se ben so che Iacopo aveva ingegno da sé e praticava con persone dotte e letterate –, cioè quello volesse significare in quella parte dove è Cristo in alto che risuscita i morti, e sotto i piedi ha Dio Padre che crea Adamo ed Eva.« 37 Gilio (1584), S. 96: »...per bene intenderle ci bisognerebbe o la Sfinge o l’interprete o il commento...«.
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Abbildung 7: Pontormo, Zeichnung zur Sintflut, 1546-1556
Florenz, Uffizien, 26,6 x 40,2 cm
Neben den ikonografischen Eigenheiten sind es denn auch vor allem die künstlerischen Verfremdungseffekte, die Vasari indignierten.38 Nirgends, so zürnt er, sei »eine Erzählordnung noch Maß, Zeit, Vielfalt bei den Köpfen oder eine farbliche Abstufung im Inkarnat, kurzum keinerlei Regel oder Proportion noch irgendeine perspektivische Ordnung beachtet« worden.39 Das Werk bereite deshalb kein Vergnügen, ja es stünde sogar zu befürchten, über dessen Betrachtung »verrückt und verwirrt zu werden, so wie [der Maler] scheinbar in der ihm zur Verfügung stehenden Zeit von elf Jahren sich selbst und jeden anderen zu verwirren suchte, der diese Malerei mit derartigen Figuren betrachtet«.40 Pontormo habe sich hier mehr denn je von seinem eigenen Stil entfremdet und die Natur im Bild vergewaltigt.41
38 Vgl. Vasari (2004), S. 62 / (1568), S. 494. 39 Ebd.: »...non mi pare, anzi in niun luogo, osservato né ordine di storia, né misura, né tempo, né varietà di teste, non cangiamenti di colori di carni, ed insomma non alcuna regola né proporzione, né alcun ordine di prospettiva...«. 40 Ebd., S. 62f. / S. 494: »... io crederei impazzarvi dentro et avvilupparmi, come mi pare che, in undici anni di tempo che gli ebbe, cercass’egli di avviluppare sé e chiunche vede questa pittura con quelle così fatte figure.« Schon die lange Arbeitszeit musste das Werk für den Schnelligkeitsfanatiker Vasari suspekt erscheinen lassen. 41 Ebd., S. 62 / S. 494: »... onde si vede, che chi vuol strafare e quasi sforzare la natura, rovina il buono che da quella gli era stato largamente donato.«
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Vasaris Beispiel blieb für die folgenden Kritiker maßgebend: Auch Raffaele Borghini kann 1584 keinen Geschmack an den Fresken finden.42 In seiner bekannten buchhalterischen Art moniert er neben der Unverständlichkeit der Ikonografie auch Verstöße gegen die veritas historica, vor allem die Darstellung von Überlebenden, die Nacktheit Noahs, das Fehlen von Tieren und eines Altars für Noahs Opfer.43 Im selben Jahr lobt Francesco Bocchi zwar die Kunstfertigkeit des Freskos, bemängelt aber die Verzerrungen und die mangelnde Ordnung, derentwegen das Fresko scheußlich anzusehen sei.44 In seinem Kunstführer von 1591 lobt er zwar die »mannigfaltigen und bizarren Haltungen« (varie & bizzarre attitudini), vermisst aber die Wahrscheinlichkeit.45 Der Herausgeber, Giovanni Cinelli, bezeichnet die Fresken 1677 als »im Ganzen sehr verworren« (tutta l’opera in se è molto confusa).46
3. S TRANEZZA UND STRAVAGANZA Seit Vasari wird die stranezza von Pontormos Figuren immer wieder mit der stravaganza ihres Schöpfers parallelisiert. Schon als Kind sei Pontormo melancholisch und einzelgängerisch gewesen (malinconico e soletario), später zunehmend verschlossen und merkwürdig (salvatico e strano).47 Melancholie wurde im 16. Jahrhundert ambivalent bewertet, sie konnte einerseits in den Wahnsinn führen, andererseits aber auch die Imagination wecken.48 Ähnlich stand es um die Einsamkeit, die Vasari für gefährlich hielt, auch wenn sie das Studieren be-
42 Borghini (1730), S. 396: »... non ne parlerò altramente, confessando o non intendere quel che egli si abbia voluto fare, o non vi aver dentro gusto alcuno.« 43 Vgl. ebd., S. 61. 44 Vgl. Bocchi [1584], zit. nach Barocchi (1962), S. 185: »È il colore dolce, maneroso e talmente morbido, che pare finito di alito, assai vago verso di sé e leggiadro; ma, posto in soggetto divisiato senza ordine, disunito in sua natura, spiacente alla vista, sconvenevole in ogni atto, assai mostra come poteva questo uomo in onore avanzarsi, se così gran virtù secondo la ragione avesse impiergato, usando l’arte e l’ingego saviamente, onde ne’ primi anni tanto di lode avea acquistato.« Vgl. dazu Boschloo (2008), S. 67, 73f. & Campbell (2000), S. 227-238. 45 Cinelli/Bocchi (1677), S. 253. 46 Ebd., S. 517. 47 Vasari (2004), S. 14 / (1568), S. 475; S. 66 / 495: »fu oltre ogni credenza solitario«; »Vita di Bronzino«: (1568), S. 862. 48 Vgl. Britton (2003), S. 653-675.
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günstigt.49 Vasari zufolge entsprachen »Ruhe, Stille und Einsamkeit« der Certosa genau Pontormos Charakter, den er explizit für den »seltsamen und neuen wunderlichen Stil« (stranezza e nuova ghiribizzosa maniera) der Passionsfresken verantwortlich macht.50 Auch im Fall der Verkündigung in S. Felicita wird die befremdliche Formensprache unmittelbar von der Seltsamkeit ihres Schöpfers abgeleitet: Engel und Maria seien »derart verunstaltet« (stravolte), dass man »die absonderliche Überspanntheit dieses Geistes« (la bizzarra stravaganza di quel cervello) darin erkenne.51 Allerdings ist auch die stravaganza nicht immer negativ konnotiert, denn auch wenn seine selbstkritische, grüblerische Art Pontormo oft im Weg stehe, sorgt sie Vasari zufolge doch auch dafür, dass er »ständig nach neuen Konzepten und ausgefallenen Arbeitsmethoden suchte«.52 Spätere Interpreten sind Vasaris Charakterbild gefolgt: Das deutsche Äquivalent zum italienischen »strano« ist das »Sonderbare« oder »Absonderliche«, das besonders von Voss vielfach aufgerufen wird.53 In ihrer »sonderbare[n] Mischung von Archaik und Raffinement« erscheinen ihm die Passionsfresken in der Certosa als »Schöpfung eines Sonderlings«.54 In San Lorenzo allerdings habe sich Pontormos »verquälte Unnatur« in »Delirien eines künstlerisch und seelisch aus dem Gleichgewicht Geworfenen [verstiegen], denen folgen zu müssen eine qualvolle Anstrengung« sei.55 Auch hier also ergibt sich eine Gleichung von verquältem Maler, gequälten Formen und qualvoller Betrachtung, denn man blicke dabei in »die verzwickte Phantasiewelt eines durch und durch problematischen, ja halb pathologischen Geistes«.56 Folglich durfte Pontormo in Margot und Rudolf Wittkowers Studie über die Kinder des Saturn als typischer Fall eines »genius bordering on insanity« bzw. von »deeply disturbed men and probably clinical cases« nicht fehlen.57 Der Sammler Jean Bousquet, der über sein Interesse am Surrealismus die Manieristen neu entdeckte, bezeichnet Pontormo als das »Ur49 Vgl. Vasari (2004), S. 54 / (1568), S. 491. 50 Vgl. ebd., S. 41 / S. 486. 51 Ebd., S. 45 / S. 487. 52 Ebd., S. 44 / S. 487: »...quel cervello andava sempre investigando nuovi concetti e stravanganti modi di fare...«. 53 Vgl. Voss (1920), der in seinem kurzen Pontormo-Kapitel gleich viermal das Adjektiv »sonderbar« verwendet (165, 166, 168, 176) – zusätzlich zur Beschreibung Pontormos als »Sonderling« (168), der »Sonderbarkeiten« (172) und »absonderliche Resultate« (172) hervorbringt. 54 Ebd., S. 168. 55 Ebd., S. 172-174. 56 Ebd., S. 166. 57 Wittkower/Wittkower (2007), S. 71. S.a. S. 60, 64, 69 & 70.
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bild des Melancholikers«, und noch Kurt Forster erkannte in dessen Bildnissen »die Einsamkeit des Menschen, um den alles in Kahlheit entgleitet, ins Bodenlose sinkt und einen Widerhall verweigert.«58 In San Lorenzo fand das Pontormo immer wieder unterstellte Bedürfnis nach Einsamkeit seinen sichtbaren Ausdruck in der Abmauerung des Chors, den Vasari zufolge über die gesamte Dauer der Ausmalung »keine lebende Seele« hätte betreten dürfen.59 Tatsächlich wissen wir, dass der Großherzog den Chor mindestens zweimal besichtigte; bemerkenswert aber ist, dass der verschlossene Raum immer wieder als eine Art Innenwelt des Malers beschrieben wird. Eine Entsprechung dazu findet sich in Vasaris Beschreibung von Pontormos Wohnund Arbeitsstätte, die er als »Behausung eines Phantasten und Eigenbrötlers« bezeichnet.60 Ihre Dachkammer sei sogar nur über eine Holzleiter zu erreichen gewesen, die der Maler stets hinter sich hochgezogen habe, um sich vor unerwünschten Gästen zu schützen. Auch wenn die Leiter ein Requisit der Legende sein mag61, weisen einige Einträge in dem Tagebuch, das Pontormo während der Arbeit an den Chorfresken führte, auf sein eigensinniges Verhalten hin.62 Einmal schläft er in seinen Kleidern ein, einmal lässt er Bronzino auf der Straße stehen, ein anderes mal stellt er sich in der Wohnung tot – ein Verhalten, das den Schüler zu einem Gedicht mit dem Titel Il Prigione/Das Gefängnis veranlasste.63 Philip Sohm hat Pontormo im Anschluss an Vasari »an impressive array of phobias« diagnostiziert, darunter Hypochondrie, Agoraphobie, Gerentophobie, Haptephobie und Necrophobie.64 Insgesamt spricht aus Pontormos Aufzeichnungen ein eigenwilliger, aber durchaus auch sozialer Künstler, der sich mit anderen zu gemeinsamen Mahlzeiten, Spaziergängen und Kunstbetrachtungen trifft.65 Auffallend ist jedoch die exzessive Beobachtung des eigenen Körpers, die zwar in der Tradition der Selbstsorge steht, aber in ihrer Fixierung und ihrer Verquickung mit Beschreibungen der an den jeweiligen Tagen in San Lorenzo gemalten Körperteile außergewöhnlich ist. Pedantisch verzeichnet Pontormo seine Speisen, seine Verdauung, Schmerzen und Schwindel und verbindet dies (wie in einem tacuinum 58 Bousquet (31985), S. 26 & Forster (1966), S. 108. 59 Vasari (2004), S. 58 / (1568), S. 493. 60 Ebd., S. 53 / S. 490: »casamento da uomo fantastico e soletario«. Vgl. Wittkower/Wittkower (2007), S. 69-70. 61 Vgl. Pilliod (2001), Kap. 5. 62 Pontormo (1988). Vgl. Sohm/Elkins. 63 Vgl. Bronzino (1988), S. 328. 64 Sohm (2007), S. 113. 65 Vgl. Fedi (1996).
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sanitatis üblich) mit Bemerkungen zu Mondzyklus und Wetter. Übergangslos werden diese Aufzeichnungen mit den langsamen Fortschritten des Freskos verknüpft: »Dienstag den Kopf des Putto gemacht, den gesenkten, zum Abendessen 10 Unzen Brot, und ein Sonett von Varchi bekommen«. Oder: »Samstag den Schenkel der Frau in dieser Lage: 19. Mai, Sonntag, Mittagsmahl und Abendessen mit Bronzino, und am Morgen setzte ich die Pfirsichbäume«.66 Selbstverständlich ist Pontormo nicht der einzige Künstler, dem die Vokabel »strano« beigelegt wurde: auch den Maler Paolo Uccello bezeichnet Vasari als »solitario, strano, malinconico e povero«, Pinturicchio als »strano e fantastico«, den alchemiebegeisterten Parmigianino als »salvatico«, »malinconico e strano«.67 Ähnliches gilt für den Bologneser Amico Aspertini, dessen Figuren Vasari als ebenso verrückt bezeichnet wie ihn selbst (capriccioso/pazzo).68 Zu überbieten ist die Stranifizierung dieser Maler nur noch von der »stranezza« von Pontormos Freund Piero di Cosimo, den Vasari mit einem ganzen Spektrum an Fremdheitsvokabeln (»salvatico«, »bizzarro«, »capriccioso«, »stravagante«, »fantastico« und immer wieder als »strano«) beschreibt, wobei all diese Begriffe auch positiv konnotiert sein können, wenn sie auf entsprechende Kunstwerke bezogen werden.69
4. B EFREMDLICHE F ORMEN Gegen biografistische Deutungen haben u.a. Victor Stoichita und Janet CoxRearick politische Interpretationen der Fresken in San Lorenzo vorgeschlagen.70 Cox-Rearick erkennt in der Hervorhebung Noahs und seiner Nachkommen einen deutlichen Hinweis auf die Medicidynastie und den Mythos der etruskischen Ursprünge von Florenz. Demzufolge wäre die Stadt nach der Sintflut von Noah gegründet worden, der identisch mit dem Etrusker Janus sei und ein Goldenes Zeitalter eröffnet habe, das nun von einem Neuen Noah – Cosimo de’ Medici –
66 Pontormo (1988), S. 55 / (2005), S. 27; vgl. Sohm (2007), S. 118. 67 Zu Paolo Uccello vgl. Vasari (1568), Bd. 1, S. 268; zu Pinturicchio ebd., S. 500; zu Parmigianino ebd., Bd. 2, S. 236. 68 Ebd., Bd. 2, S. 215: »Amico Bolognese, uomo capriccioso e bizzarro cervello, come sono anco pazze, per dir così, e capricciose le figure da lui fatte«. 69 Ebd., Bd. 2, S. 21 und 24. Im Alter sei er so »sonderbar und versponnen« (strano e fantastico), dass er niemanden mehr um sich haben konnte (ebd. S. 25). Waldman widerlegt Vasaris Beschreibung durch neue Quellen. Waldman (2000). 70 Vgl. Stoichita (1988) & Cox-Rearick (1992), S. 246-248.
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wiederhergestellt werde.71 Massimiliano Firpo vertritt dagegen eine ganz andere Deutung, die in den Fresken heterodoxes Gedankengut erkennt. Vasaris Unverständnis wäre dieser Interpretation zufolge nur vorgetäuscht, um den Großherzog zu schützen, der inzwischen einen radikalen Politikwechsel hin zu engen diplomatischen Beziehungen mit dem Vatikan unternommen hatte. Erstmals aufgebracht wurde die Hypothese von Charles de Tolnay, der das Freskenprogramm auf den Benedetto da Mantova zugeschriebenen Trattato utilissimo del beneficio di Giesù Cristo aus dem Jahr 1543 zurückgeführt hat, welcher in Anlehnung an Juan de Valdès und Calvin die Rechtfertigung aus dem Glauben allein vertrat. Allein diese Theologie könne erklären, wieso Christus in dem Fresko nicht als Richter gezeigt werde und wie hier Sündenfall, Gesetzübergabe und Erlösung zusammenhingen.72 So überzeugend die Parallelen im Detail auch sein mögen, bleibt es ein Rätsel, wie die Thesen eines Buches, das bereits 1544 auf den Index gesetzt wurde, an solch prominenter Stelle hätten präsentiert werden können. Carlo Falciani hat zudem auf die prominente Rolle des Heiligen Laurentius verwiesen, dessen Fürbitte für die im Chor begrabenen Medici innerhalb einer protestantischen Theologie nicht denkbar wäre.73 Vor allem die Rolle der Sintflut aber lässt sich mit dem Hinweis auf den Trattato nicht erklären. Falciani führt deshalb Matthäus’ Beschreibung vom Kommen des Menschensohns als Quelle für die Zusammenstellung von Parusie und Sintflut an: »Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand [...]. Denn wie es in den Tagen des Noach war, so wird es bei der Ankunft des Menschensohnes sein.« (Mt 24:36-37). Bezüglich der politischen oder häretischen Lesart der Fresken soll in diesem Rahmen keine Entscheidung getroffen werden. Nicht notwendig gegen, aber doch neben diesen Deutungen möchte ich die Formensprache selbst als Motiv für das Befremden stark machen. Friedländer hat die Zeit um 1520 als »antiklassische« Reaktion auf die Hochrenaissance beschrieben. Michelangelo und Raffael hätten Maßstäbe gesetzt, die 71 Cox-Rearick vermutet deshalb die Aramei der Accademia Fiorentina, insbesondere Pierfrancesco del Riccio, Pierfrancesco Giambullari und Gelli als Urheber des Freskenprogramms (ebd., S. 248). 72 Pontormo könnte das häretische Gedankengut über eine Predigt Benedetto Varchis aus dem Jahr 1549 erreicht haben, die eindeutige Übernahmen aus dem Beneficio di Cristo enthält. Vgl. Tolnay (1950). Kurt Forster, Massimo Firpo und Donatella Cialoni haben die Hypothese durch weitere Quellen zu untermauern versucht. Katja Burzer folgt in ihrer Vasari-Übersetzung diesem Urteil. Vgl. Forster (1967); Firpo (1997) & Cialoni (1999). 73 Vgl. Falciani (2014b), bes. S. 308-312.
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nachfolgende Generation habe sich daran abarbeiten oder davon absetzen müssen.74 In diesem Sinne lässt sich die sogenannte »maniera« als stilistische Verfremdung etablierter Normen beschreiben.75 Im Falle des eschatologischen Programms der Chorfresken in San Lorenzo war eine Durchbrechung des Systems jedoch auch inhaltlich gerechtfertigt: die in der Sintflut ertrunkenen Menschen haben ihre Ebenbildlichkeit durch den Sündenfall bereits verloren. Es ist eine bemerkenswerte Koinzidenz, dass Pontormo sich wie Leonardo da Vinci im Alter mit der Sintflut beschäftigte.76 Anders als in dessen apokalyptischen Szenarien stehen jedoch nicht die Wasserstrudel, sondern die aufgeschwemmten Körper im Vordergrund. Die fließenden Formen und die hellen Farben von Pontormos Figuren hatten schon früh eine Verwandtschaft mit dem Wasser. In seinem letzten Werk jedoch treibt er die Zerdehnung der Körper bis zur Auflösung der Form bzw. dem Zerfließen von Gestalt: Die Figuren werden gleichsam selbst zu Wasser. Sohm hat für Pontormos »knochenlose«, »wurmige« Kompositionen den suggestiven Begriff der »intestinal composition« geprägt.77 Nicht zuletzt dieser viszerale Stil könnte erklären, warum die Betrachter gleichsam viszeral darauf reagierten. Gerade vor dem Hintergrund der gegenreformatorischen Bildtheorie, die im positiven Sinn auf das Ansteckungsvermögen der Malerei setzte, wonach andächtige Figuren Andacht, verzückte Figuren Verzückung und kämpferische Figuren Kampfeslust wecken sollten, wird von den Betrachtern hier um die eigene seelisch-körperliche Gesundheit gefürchtet. Den psychischen Anteil daran spricht Vasari explizit an, wenn er sagt, dass er befürchte, durch die Auseinandersetzung mit den Verrücktheiten des Freskos verrückt zu werden. Fruchtbarer noch erscheint die von Heinrich Wölfflin 1896 formulierte Einsicht in die Leiblichkeit jeder Bilderfahrung: »Körperliche Formen können charakteristisch sein nur dadurch, dass wir selbst einen Körper besitzen. Wären wir bloß optisch auffassende Wesen, so müsste uns eine ästhetische Beurteilung der Körperwelt stets versagt bleiben. Als Menschen mit einem Leibe, der uns kennen lehrt, was Schwere, Kontraktion, Kraft usw. ist, sammeln wir an uns die Erfahrungen, die uns erst die Zustände fremder Gestalten mitzuempfinden befähigen.«78
74 Vgl. Friedländer (1990), S. 5-12. 75 Zu Pontormo als Manierist vgl. Cropper (2014), S. 343-353. 76 Zu Leonardos Sintflutzeichnungen vgl. Fehrenbach (1997), S. 291-331. 77 Sohm (2006), S. 120. 78 Wölfflin (1999), S. 3.
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Die Tatsache, dass ein fallender Stein keine Verwunderung auslöst, liegt nach Wölfflin nicht an einer vernünftigen Erklärung, sondern allein in gemachter Erfahrung: »Wir haben Lasten getragen und erfahren, was Druck und Gegendruck ist, wir sind am Boden zusammengesunken, wenn wir der niederziehenden Schwere des eigenen Körpers keine Kraft mehr entgegensetzen konnten, und darum wissen wir das stolze Glück einer Säule zu schätzen und begreifen den Drang alles Stoffes, am Boden formlos sich auszubreiten.«79
Wie es ist zu ertrinken, wie es ist zum Himmel aufzusteigen, wissen wir nicht aus Erfahrung, und trotzdem wird der »Druck und Gegendruck« in den Fresken körperlich erfahrbar und bedeutet einen Angriff auf die unbewusste Vorstellung von der Integrität des eigenen Körpers.80 Es droht die Gefahr »am Boden formlos sich auszubreiten« wie die ineinander verknäulten Körper der Ertrinkenden. Waren die Fresken vielleicht deshalb so befremdlich, weil sie nicht fremd genug blieben? Neuere Studien der historischen Anthropologie haben uns gegenüber der Behauptung konstanter Körpererfahrungen vorsichtig werden lassen. Welche Gerüche als Gestank, welche Töne als wohlklingend aufgefasst wurden, welcher Anblick welche Menschen in welcher Situation zu Tränen rührte und welcher Schmerz wie erfahren wurde, ist bekanntlich historisch variabel. Außerdem weiß schon Aristoteles, dass die gelungene Darstellung des Hässlichen durchaus als schön empfunden werden kann.81 Trotzdem ist es vielleicht kein Zufall, dass 350 Jahre später, in Gustav Klimts Deckengemälden für die Aula der Wiener Universität, wieder ineinander gewundene ›Wasserleichen‹ die Empörung ihrer Betrachter erregten: Auch ihr Schöpfer wurde für wahnsinnig erklärt, auch ihm warf man eine unverständliche Ikonografie, unangemessene Nacktheit, vor allem aber die Deformation der menschlichen Gestalten vor.82 – Sicher führt keine Linie von Pontormo zu Klimt, vielleicht aber von einem befremdeten Magen zum anderen. 79 Ebd. 80 John M. Krois hat im Anschluss an Henry Head den Begriff des »Körperschemas« für die Bilderfahrung fruchtbar gemacht. Es bildet eine Instanz, die unbewusst »die ständig sich verändernden Wahrnehmungsimpulse der Stellungen des Körpers in der Zeit zueinander in Beziehung setzt«. Krois (2011), S. 257f. 81 Vgl. Aristoteles, Poetik 1448b. 82 Vgl. Hermann Bahrs ironische Rede Gegen Klimt, welche die Stürme der Kritik bei der Ausstellung der Gemälde im Frühjahr 1900 dokumentiert. Bahr (2004), S. 31-102.
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Das Vertraute als das Fremde Über die Relevanz künstlerischer Verfremdungen des Alltäglichen A GNES B UBE
In unserer Lebenswelt sind wir auf vielfältige Art mit Fremdem konfrontiert. Dabei bestimmt sich das Fremde als Abweichung vom Vertrauten stets in Relation zum Eigenen. Das Verhältnis von Eigenem und Fremdem ist immer wieder anders und in seinen jeweiligen Bezügen beständig neu zu bestimmen. Auch in der Kunst zeigt sich das Zusammenspiel von Eigenem und Fremdem auf unterschiedliche Weise. Besonders wirkungsvoll ist es, wenn Kunst und Alltag aufeinandertreffen. Dementsprechend wird im Folgenden exemplarisch künstlerischen Verfremdungen des Alltäglichen nachgegangen. Sind sie der Schlüssel zu einer anderen Sichtweise des Alltäglichen? Wird über das Prinzip der Verfremdung in der Kunst der Gewinn eines anderen Erlebens der Wirklichkeit möglich? Was, wenn wir im Ort des Vertrauten in unserem Vertrauen verunsichert werden? Ein maßgeblicher Ort des Vertrauten des Menschen ist unser Alltag. Alltägliche Abläufe und alltägliche Handlungen sind uns vertraut – zu eigen. Hier vollziehen wir die immer gleichen Gesten und Muster, an die wir uns gewöhnen. In ihrer Regelmäßigkeit versichern sie den Menschen den Bereich alltäglicher Lebenswirklichkeit und geben dem Alltag einen festen Rahmen. Dabei beschränkt sich unsere gewohnte Wahrnehmung des Alltäglichen hauptsächlich auf das Funktionale. Auch unsere Beziehung zu den Dingen des Alltags ist bestimmt durch Funktion und Funktionalisierung. Das Verhältnis, das wir zu ihnen haben, ist vordergründig zweckbestimmt und definiert sich über die Gebrauchsfunktion. So sind alltägliche Dinge vor allem festgelegte Gebrauchsgegenstände, die kaum
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beachtet werden. Generell ist uns das Alltägliche so selbstverständlich, dass wir es meist gar nicht mehr bewusst wahrnehmen. Folglich ist auch unsere gewohnte Beziehung zum Alltäglichen durch automatisierte Handlungen und funktionalisierende Bewältigung bestimmt. Analog zu dieser festgelegten Haltung dem Alltäglichen gegenüber, versuchen wir ebenso die Wirklichkeit dingfest zu machen. Im Bestreben der Aneignung der alltäglichen Dinge, Strukturen und Gewohnheiten, zeigt sich auch unser weitgreifender Anspruch der Aneignung der Wirklichkeit – auf Weltbewältigung. Der Mensch bestätigt, systematisiert und versichert sich die Welt insbesondere in der Lebensrealität des Alltäglichen. Dabei beschränken wir unsere pluralistischen, ständigen Veränderungen unterworfenen Wirklichkeitswelten nicht selten zu einer eindimensional festgelegten »Wirklichkeitsgewohnheit«. Will man für die Wahrnehmung unserer Lebenswelt sensibilisieren, so gilt es, gerade das Banale, Unauffällige und Alltägliche zu stören. Da der Alltag nicht der Ort ist, unser Verhältnis zur Welt bewusst zu reflektieren, brauchen wir anderweitig Anstöße, die Gewohnheit zu brechen. Die Kunst kann uns dabei zum wertvollen Modell werden1. In der Kunst werden die automatisierten Handlungs- und Wahrnehmungsmuster des Alltags durch überraschende Verfremdungen aufgebrochen. Das Alltägliche wird in neuartige, mehrdimensionale Kontexte gestellt. Die Kunst inszeniert Blickwinkelwechsel, die der instrumentalisierten Sicht des Wirklichen die Erfahrung von Ambiguität entgegenstellen. Sie verweigert sich einfacher Bewältigung und erzeugt so eine Differenzerfahrung zum Gewohnten. Die Beziehung der Kunst zum Alltäglichen und die Notwendigkeit der Aufbrechung gewohnter Wahrnehmungsweisen durch die Kunst stellte unter anderem bereits der Literaturwissenschaftler und Vertreter des sog. »Russischen Formalismus« Victor Šklovskij heraus.2 Ihm zufolge besteht die Bestimmung der Kunst darin, dem alltäglichen Automatismus der Wahrnehmung entgegenzuwirken. So Šklovskij: »Um für uns die Wahrnehmung des Lebens wiederherzustellen, die Dinge fühlbar, den Stein steinig zu machen, gibt es das, was wir Kunst nennen.«3 Damit stellt Šklovskij den Raum der Kunst als Ort heraus, in dem die Dinge und das Leben wieder bewusst erfahren werden. Entsprechend schreibt er der Kunst auch nicht primär die Funktion zu bestimmte Inhalte zu transportieren und zu klären, sondern ihr Ziel sei eine Wahrnehmungsveränderung. In der Neubestimmung der habituellen Sicht der Dinge sieht er den eigent-
1
Vgl. hierzu auch Bube (2008).
2
Vgl. ebd., S. 1.
3
Šklovskij (1966), S. 14.
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lichen Sinn der Kunst. Sie soll Wahrnehmungen ermöglichen, die Wirklichkeit neu und anders erscheinen zu lassen. Dieses Anliegen findet sich vor allem in dem Prinzip der Verfremdung erfüllt. Wiederholt macht er in der von ihm verfassten »Theorie der Prosa« auf die Aufbrechung des Gewohnten und die Notwendigkeit der Verfremdung aufmerksam: »Um einen Gegenstand zu einem Gegenstand der Kunst zu machen, muß man ihn aus der Reihe der Fakten des Lebens herauslösen. […] Man muß den Gegenstand aus der Reihe der gewohnten Assoziationen herausreißen und ihn umdrehen wie ein Holzscheit im Feuer.«4 Die von Šklovskij beschriebenen Kunstgriffe der Verfremdung zielen dabei aber nicht ins Phantastische, sondern bewirken im Gegenteil eine Vertiefung ins Alltägliche – im wieder bewussten Wahrnehmen des unbewusst gewordenen Gewöhnlichen. Über die Erfahrung der Kunst sollen die Gegenstände des Lebens und das Leben selbst wieder wahrnehmbar gemacht werden. So zielt Šklovskijs Theorie der Kunst auf eine bewusste Wahrnehmung und Reflexion der alltäglichen Wirklichkeit. Diese Möglichkeit der Rückwirkung des Künstlerischen auf das Alltägliche möchte ich besonders hervorheben. Denn auch die Bildende Kunst vermag es, auf besondere Weise unser Verhältnis zur Alltagswirklichkeit zu verändern. Die Hinwendung zur konkreten Lebenswelt und der mögliche Gewinn eines anderen Erlebens durch die Kunst ist dabei ausschlaggebend. Auf unterschiedlichste Weise ermöglicht uns die Kunst verschiedene Fremd- und Differenzerfahrungen, die uns die Welt neu wahrnehmen und begreifen lassen. Auf die Bedeutung der Erfahrung eines Fremden, das uns überrascht und immer wieder neu herausfordert, macht auch der Philosoph Bernhard Waldenfels in seinen Schriften vielfach aufmerksam. Unsere modernen Wirklichkeiten konfrontieren uns ständig mit Erfahrungen, Ansprüchen und Möglichkeiten, die sich den gewohnten Ordnungs- und Bewältigungsmustern entziehen. »An den Grenzen der vertrauten Welt«, so Waldenfels, »lauert Unbekanntes und Unverfügbares«.5 Doch Waldenfels sieht dies nicht als Manko oder Problem, das nach Behebung oder Lösungsstrategien verlangt, sondern als Chance. Entsprechend setzt er sich in einem offenen Weltverständnis – entgegen eines Einheits- und Ganzheitsdenkens – mit Wegen der Neuorientierung auseinander. Anstelle von Bewältigungsstrategien setzt er variable und kontingente Ordnungen6 und begründet so das 4
Ebd., S. 75.
5
Waldenfels (31998), S. 193.
6
Mit dem Begriff »Ordnung« meint Waldenfels nicht nur die (großen) Lebens-, Gesellschafts- oder Weltordnungen, sondern allgemein jegliche Form eines geregelten Zu-
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Potenzial einer an Offenheit und Mehrdeutigkeit ausgerichteten Haltung. Diese erwächst unter anderem in der Aufrechterhaltung von offenen Fragen und in der Loslösung vom ständigen Erklärungs- und Einordnungszwang. In unterschiedlichen Kontexten macht Waldenfels immer wieder auf die produktive Kraft der Erfahrung des Fremden und der Wahrnehmung des Außerordentlichen, nicht zu Bewältigenden, diesseits unserer Ordnungsgefüge der Lebenswelt aufmerksam. Da das Leben in seiner Vielfalt heute nicht mehr in einer Gesamtordnung fassbar ist, bedeutet Ordnung immer eine Ordnung unter möglichen anderen Ordnungen. Wesentliches Moment seiner Theorie ist somit insbesondere das Bewusstsein des »möglichen Andersseins«.7 So zeigt sich auch ein angemessener Umgang mit dem Fremden nicht in einer Abwehrhaltung, sondern in einer offenen Auseinandersetzung, in der das Fremde als bereichernde Erweiterung des Bekannten, als Antrieb und Anreiz, als neue Blickpunkte Schaffendes und belebende Kräfte Freisetzendes8 wirken kann. Entsprechend folgert Waldenfels: »Eine Normativität, die nicht durch Anormales beunruhigt und durch Enormes überschritten wird, erstarrt zu einem künstlichen System, das seiner Antriebskräfte beraubt ist.«9 Waldenfelsʼ Ausführungen beziehen sich dabei insbesondere auch auf die Alltagswirklichkeit. Gerade dort können Offenheit und Fremderfahrungen ihr produktives Potenzial entfalten: »Soll das Außerordentliche sich nicht in einer höheren Welt abkapseln, aus deren Sicht die Niederungen des Gewöhnlichen umso flacher erscheinen, so muß der gewöhnliche Alltag in Prozessen der Verund Entalltäglichung selbst dem Außergewöhnlichen offenbleiben.«10 Gerade die Kunst agiert entsprechend, indem sie im Alltag und mit Dingen des Alltags arbeitet. Dabei erscheint das Alltägliche selbst als Anderes, die gewohnte Sicht gerät in produktiven Konflikt mit dem sich plötzlich auf neuartige Weise Zeigenden. Außerordentliches wird erfahrbar, ohne genau zu definieren, zu erklären, zu verallgemeinern. Es zeigen sich immer wieder andere Möglichkeiten, Wirklichkeit neu zu sehen. Kunst, die sich im Alltag ereignet oder aus Dingen des Alltäglichen besteht bzw. diese einbezieht, initiiert produktives Denken und Handeln, indem sie die Kunst zur »Stätte des Austauschs und der Auseinandersetzung«11 sammenhangs zwischen diesem und jenen. Siehe hierzu z.B. Waldenfels (1987), S. 17. 7
Vgl. z.B. Waldenfels (31998), S. 15ff.; Siehe auch Bube (2008), S. 7.
8
Vgl. ebd.
9
Waldenfels (1987), S. 189.
10 Waldenfels (31998), S. 10. 11 Waldenfels spricht davon, den Alltag als Stätte des Austauschs und der Auseinandersetzung zu begreifen. Vgl. ebd., S. 201.
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mit unserem Alltag macht. Hier sind im Sichtbaren bereits andere Sichtweisen des Alltäglichen verwirklicht. Auch Waldenfels beschreibt die besondere Rolle der Kunst. Als Phänomenologe stets das »Wie« der Erfahrung im Blick, begreift auch er die Kunst nicht primär als das, was man wahrnimmt, sondern vor allem als das, »demgemäß und womit«12 man wahrnimmt. So folgert er bezüglich der Kunst: »Ihre volle Produktivkraft erreicht sie […] dort, wo sie nicht nur Unsichtiges sichtbar macht, sondern das Gefüge des Sichtbaren und die Bedingungen des Sehens selbst noch verändert. Diese Einbildungskraft entführt uns nicht in eine andere Welt, sondern läßt uns die Welt als andere erscheinen. […] Damit ist der Kunst ein Ort vorgezeichnet, der nicht bloß der des Scheins, auch nicht des schönen Scheins ist.«13
Entsprechende Wirkungskraft erzielen meiner Ansicht nach auf besondere Weise künstlerische Verfremdungen des Alltäglichen. Sie fordern unseren Blick heraus und lassen uns die alltägliche Umwelt mit anderen Augen sehen – ohne in eine andere Welt zu führen. In der Pluralität, Mehrdeutigkeit und Heterogenität künstlerischer Verfremdungen erfährt der aufmerksame Betrachter die Durchbrechung des Selbstverständlichen. Er wird im Sinne von Waldenfels zur Reflexion angeregt, zum Neu- und Umdenken, zum Los- und Offenlassen bewegt. An die Stelle einer einfachen Bewältigung tritt ein immerwährender Prozess der Auseinandersetzung, der sich nie restlos erschöpft. In immer neu sich inszenierenden Interpretationsprozessen im jeweiligen Kontext entfalten sich aus dem Ungeklärten heraus neue Bezüge und Diskurse. Die spezifische Erfahrung des Vertrauten als Fremdes birgt dabei ein ganz eigenes Potenzial. Gerade durch ihren unmittelbaren Bezug zum Vertrauten und die Konfrontation mit davon abweichenden Erfahrungen ermöglichen künstlerische Verfremdungen des Alltäglichen ein produktives Ineinandergreifen der Alltagserfahrung mit mehrdimensionalen Neuerfahrungen. Das Fremde im Alltäglichen hält den Diskurs mit dem Alltäglichen aufrecht, im Ordentlichen wirkt das Außerordentliche. Der Ort des Unauffälligen wird zum Auffälligen, im Medium des Gewöhnlichen zeigt sich das Ungewöhnliche, am Alltäglichen selbst verwirklicht die Kunst etwas, was das Alltägliche übersteigt.14 Die eigene, gewohnte Sicht der Dinge und der Wirklichkeit tritt der neu sich zeigenden, fremden Verwirklichung entgegen. Weder das Eigene noch das Fremde löst sich auf, sondern beide stehen in einem aufeinander Bezug nehmenden Austausch, der nach 12 Waldenfels mit Bezug auf Maurice Merleau-Ponty. Ebd., S. 216. 13 Ebd., S. 209. 14 Vgl. Bube (2008), S. 5.
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Waldenfels produktiv ist.15 Auch er betont die Relevanz der unverzichtbaren Koppelung des Fremden an das Vertraute. Das Fremde muss noch eine Beziehung zum Gewohnten haben, um überhaupt als solches in Erscheinung treten und Wirkungskraft entfalten zu können.16 So Waldenfels: »Das Fremde, […] wäre nichts ohne das Eigene, dem es sich entzieht. Würden wir das Eigene abschaffen, so hätten wir damit auch das Fremde abgeschafft.«17 Das Fremde mitten in der uns vertrauten Welt aufzuzeigen, finden wir auf unterschiedliche Weise in der Kunst verwirklicht – zum Beispiel als bekanntes Vorgehen der Surrealisten. Ihr übergreifendes Prinzip und Verfahren war das der Verfremdung, mit dem sie das scheinbar Unmögliche möglich machen wollten, um das Bild einer rein rationalen Wirklichkeit in Frage zu stellen. Da die Surrealisten sich um Erweiterungen des Wirklichen bemühten, war insbesondere auch die Verwendung von wirklichen Dingen reizvoll. Indem sie Alltagsgegenstände ungewöhnlich kombinierten, schufen sie greifbare, tatsächlich vorhandene Dinge, in denen sich Irreales und Reales durchdringen. Berühmtes Beispiel einer solcherart eindrucksvollen Verfremdung eines gewöhnlichen Alltagsgegenstandes ist die »Pelztasse« aus dem Jahr 1936 von der Künstlerin Meret Oppenheim. Hintersinnig als Déjeuner en fourrure tituliert, zeigen sich dem irritierten Betrachter nicht rational zu erklären aber trotzdem real, mit Gazellenfell überzogen Tasse, Untertasse und Löffel. Die verwirrende Kombination heterogener Gegenstände war eine allgemeine Praktik der Surrealisten. Sie befreiten die Dinge aus ihren gewohnten Assoziationsbereichen und brachten Gegenstände zusammen, die normalerweise nicht zusammengehören. Ihr vordergründiges Ziel war die Irritation des Betrachters, um ihn aufmerksam zu machen und ihn zu neuen, poetischen Assoziationen zu stimulieren. Die Tatsache, dass die Dinge im gewohnten Funktionszusammenhang rational eindeutig bestimmt sind, macht die Wirkung ihrer Verfremdung besonders verblüffend. Dieses Überraschungsmoment lag ganz im Interesse der Künstler. Ihre Intention, die automatisierten, rational festgelegten Wirklichkeitsmuster zu unterlaufen, ließ sich äußerst wirksam am Musterfall der Automatisation im Alltag – am funktionalen Gebrauchsgegenstand verwirklichen.18 Auch über den Surrealismus hinaus hat sich das Prinzip der Verfremdung von Alltagsgegenständen in der Kunst etabliert. Die Kombination von Disparatem und die Veränderung gewöhnlicher Erscheinungsweisen ist auf vielfältigste 15 Vgl. z.B. Waldenfels (31998), Kap. II. 16 Vgl. Bube (2008), S. 5. 17 Waldenfels (2001), S. 18. 18 Vgl. Bube (2008), S. 2.
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Weise in den unterschiedlichsten künstlerischen Phänomenen zu finden. Das surrealistische Prinzip größtmöglicher Wirkung durch die Verknüpfung weniger heterogener Gegenstände zeigt sich auch in dem Werk Schnürbecher von Ursula Burghardt aus dem Jahr 1968 (Abb. 1). Abbildung 1: Ursula Burghardt, Schnürbecher, 1968
Fotografie: Privatbesitz Pamela Kagel
Zu sehen ist ein kleiner silberfarbener Becher aus Aluminiumblech, der gelocht und wie ein Stiefel mit einem einfachen, schwarzen Schnürband in ordentlichen parallelen Bindungen durchzogen ist, das mit einer Schleife abschließt. Durch den einzelnen verfremdenden Eingriff der Schnürung werden die Grenzen der gewohnten Erfahrung gesprengt, neue Blickpunkte geschaffen, die den Blick gleichzeitig fesseln und entfesseln. Durch die Verbindung eines einfachen, schlichten Blechbechers mit einem ebenso einfachen, schlichten Schnürband ist ein neuartiges Ding entstanden, das irritiert und vielfältige Assoziationen und Reflexionen in Gang setzt. Direkt vom Sichtbaren ausgehend, lässt sich das Werk auf verschiedene Kontexte und unterschiedliche Bedeutungsebenen mit multiplen Anschlussmöglichkeiten beziehen. In einem offenen, nicht zu synthetisierenden Nebeneinander verschiedener Aspekte und Interpretationsmöglichkeiten wird das Prinzip des möglichen Andersseins ersichtlich. Exemplarisch wird diese Arbeit im Folgenden ausführlicher betrachtet. Auf den ersten Blick fallen dem Wahrnehmenden die Löcher auf, denn sie sind es, die dem Becher seine ursprüngliche Bestimmung rauben. Der Schnürbecher zeigt sich als in sich widersprüchlich – als Paradoxon. Er ist Becher und
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zugleich kein Becher: er hat die Form eines Bechers, ist rund, hat Wand, Boden und Henkel, nur die gemeinhin anerkannte Funktion des Bergens von Flüssigkeit ist aufgehoben. Die Löcher lenken die Gedanken des Betrachters sofort auf diese übliche Gebrauchsfunktion, sie wird im wahrsten Sinne des Wortes durchschaubar. In diesem Zusammenhang erweist sich auch der Schnürsenkel als bedeutsam. In seiner Funktion der Bindung verweist er auf die ursprüngliche Bestimmung des Zusammenhaltens von Flüssigkeit des Bechers, gleichzeitig ist er aber auch als Symbol für den beengenden Zustand des »Eingeschnürtseins« zu verstehen. So gesehen stellt er die eindimensionale »Fesselung« des Bechers auf seine Gebrauchsfunktion in Frage. Denn hier ist ein Becher, von seiner üblichen Gebrauchsfunktion gelöst, wirklich geworden. Das rational-utilitaristisch Bestimmte hat sich ins Absurde und Unbestimmte verkehrt, so dass sich das neu entstandene Ding dem einfachen Aneignungs- und Bewältigungsprinzip entzieht. Es zeigt sich eine wirkungsstarke Differenzerfahrung zum Gewohnten, obwohl wir – einzeln für sich betrachtet – für uns nichts Ungewöhnliches sehen. Sowohl Becher aus Blech als auch Schnürsenkel und parallele Lochungen sind uns bekannt. Nur in dieser verwirrenden Kombination des alltäglich Vertrauten verwirklicht sich hier etwas, was das Alltägliche übersteigt und in Frage stellt. Auch unsere gebräuchlichen Begriffe scheinen plötzlich löchrig zu werden. Der Becher ist nicht gebrauchsfähig, aber trotzdem doch noch ein Becher. Oder ist vergleichsweise ein Eimer mit einem Loch etwa kein Eimer mehr? So zeigt sich dem Betrachter, dass ein Gegenstand, wenn er seine Funktion verliert, trotzdem noch als solcher existiert. Der Gebrauch macht nur eine Dimension aus. Diese Erkenntnis inszeniert sich an der sichtbaren Präsenz eines konkreten, körperhaften Gegenüber. Doch welche Bedeutungen besitzt der Becher denn neben der Gebrauchsfunktion noch? Reflektiert man den Becher aus dem Kontext der alltäglichen Lebenserfahrungen und bedenkt dabei den alltäglichen Umgang mit dem Becher, so wird einem bewusst, dass auch hier der Becher nicht ausschließlich Gebrauchswert besitzt, sondern oft mit weiteren Bedeutungen aufgeladen wird. So kann das austauschbare Produkt auch zu einer Dingindividualität werden, zu einem »Lieblingsbecher«, einem mit Rissen und abgestoßenen Stellen, vielleicht auch zu einem vererbten Erinnerungsstück, einem besonderen Geschenk oder zu einem ersten selbst gekauften Stück – einem Becher mit dem wir weit mehr verbinden als bloße Funktion. Vielleicht ergeben sich besondere Beziehungen zum Becher aber auch gerade aus der Benutzung, aus dem Körperkon-
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takt, den wir erfahren, wenn wir ihn beim Trinken an unseren Mund führen19 oder wenn wir uns an ihm die Hände wärmen, wenn er heiße Flüssigkeit birgt. All diese Bedeutungen und jegliche mehr können in einem Becher zusammengehalten, eingeschnürt sein. Sie erweisen sich als individuell und kulturell verschieden – eine universale, für alle bestimmende Festlegung gibt es nicht. Sicher nicht zufällig liegt dem Schnürbecher hier ein Becher zu Grunde, dessen Vorteil gerade in der Unzerbrechlichkeit liegt und dessen Material sich gerade dadurch auszeichnet, dass es dem Verfall lange trotzt, indem es nicht rostet. Neben der Spitzfindigkeit der Durchlöcherung des eigentlich Unverwüstlichen hinterfragt die ungewöhnliche Erscheinung des Schnürbechers so auch auf subtile Weise Produktdesign, Vermarktung und Wirtschaftlichkeit. Der einst praktische, unzerbrechliche Blechbecher aus dem Bereich »Camperbedarf« erfüllt mit dem Verlust seiner praktischen Gebrauchsfunktion – anders als wertvolle Statussymbole, erlesene Porzellanrelikte oder besondere Designobjekte – zunächst scheinbar keine Funktion mehr. Einzig neben den verschiedensten Bechern im Bereich »ungewöhnliche Geschenkartikel« oder »Scherzartikel« würde sicher auch ein witziger Schnürbecher seinen Absatz finden – nötig wäre nur die Umwandlung des durchlöcherten Schnürbechers zur »Schnürbecherattrappe«. Die daraus resultierende Ironie potenziert sich noch dadurch, dass der Schnürbecher kein Unikat, sondern Teil einer unlimitierten Auflage ist. Denn hier wird nicht ein Gebrauchsobjekt oder ein witziger »Verkaufsschlager« massenreproduziert, sondern ein vom Warenmarkt aus gesehen, nutzloses, nicht zu gebrauchendes Ding vervielfältigt. Doch nicht nur aus der Perspektive des Warenmarktes, sondern auch vom Kunstmarkt aus ist die unlimitierte Auflage »unwirtschaftlich«. Denn dieser profitiert gerade von der Begrenztheit der Kunstwerke. So lässt sich der Schnürbecher weder in den Waren- noch in den Kunstmarkt einfügen, sondern unterläuft auf kritisch-ironische Weise beide Systeme. Das Werk zeigt sich zusammenfassend als offenes, mehrdimensionales Ding, welches im produktiven Widerstreit seiner einzelnen Dimensionen steht. In der hier nur in Einzelaspekten angedeuteten Vieldeutigkeit, offenbart sich ein Werk, das den Blick öffnet. Obwohl man durch den durchlöcherten Schnürbecher zwar hindurchschauen kann, so entzieht er sich aber einer durchschauenden Interpretation. Festlegende Aneignungsversuche des Schnürbechers fassen nicht, bildlich gesprochen »rutschen« sie durch seine Löcher hindurch. Die künstlerische Verfremdung als konkret verwirklichte Erscheinung wirkt so als Modell offenen Wirklichkeitsbegreifens.
19 Auf diese Erfahrung greift auf besondere Weise ja auch die bereits erwähnte Pelztasse von Oppenheim zurück.
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Betrachtet man die Art und Weise, wie der Becher geschnürt ist – besonders akkurat und ordentlich – steigert sich die Ironie des Werkes nochmals auf anderer Ebene. Hier wird etwas auf das Sorgfältigste mustergültig geschnürt, was jedoch im üblichen Sinn in keiner Weise sinnvoll ist. Die eine Norm wird gebrochen, indem man eine andere ausführt. Das Ordnungsgefüge des Bechers wird durch die Ordnung des Schnürens aufgehoben. Der eigentlichen Unvereinbarkeit von Becher und Schnürung steht jedoch das harmonische Erscheinungsbild des Schnürbechers entgegen. Der Schnürsenkel zieht sich im Einklang mit dem Verlauf des Randes und des Bodens in gleichmäßigen Bindungen durch den Becher. Die schwarze Farbe harmoniert mit dem dunkel abgesetzten Henkel, der sich zudem genau gegenüber der Schnürung befindet. Insgesamt ist die Farbigkeit reduziert und zurückhaltend, was die Ruhe und den Einklang im stimmigen Erscheinungsbild noch unterstützt. So ist der Schnürbecher zwar anders, neuartig und irritiert, aber gänzlich fremd ist er nicht. Er ist zu akkurat geschnürt, um nicht »von dieser Welt zu sein«, sein Erscheinungsbild zu geometrisch harmonisiert. Wir sehen das, was wir kennen einerseits anders, verfremdet und in neuer Kombination und gleichzeitig sehen wir dieses Andere genau wie wir es kennen, in gewohnten harmonischen Wahrnehmungsmustern. So steht das Werk zwischen Vertrautem und Fremdem und initiiert einen unablässigen Austausch zwischen beidem. Die von Waldenfels beschriebene produktive Koppelung des Fremden an das Eigene ist hier gegeben. Wir sehen nicht eine andere Welt, sondern die Welt als andere und darin liegt das besondere Potenzial. Auf solcherart Wahrnehmungsveränderungen zielen vielfältige künstlerische Ansätze, die die uns vertrauten Wirklichkeiten neu und anders erscheinen lassen. Hierzu zählt beispielsweise auch die Position des Künstlers Claes Oldenburg. Ansetzend an gewöhnlichen Alltagsgegenständen schafft er mit seinen Materialund Dimensionsverfremdungen ungewöhnlich verwandelte Dinge, die uns zugleich fremd und vertraut erscheinen. So macht er auf das Alltägliche aufmerksam, das man normalerweise gar nicht mehr bemerkt und rückt uns das Triviale neu in den Blick. Eindrucksvoll in diesem Zusammenhang ist eine Dokumentaraufnahme aus dem Jahr 1966, die Oldenburg mit der Giant Toothpaste Tube auf der Oxford Street in London zeigt (Abb. 2). Mit unbewegt ernster Mimik passiert er unprätentiös den Gehweg – die Tube fest im Arm. Gerade die Nüchternheit und Selbstverständlichkeit mit der sich Oldenburg mit dem ungewöhnlich verfremdeten Gebrauchsobjekt durch den Alltag bewegt, irritiert. Dies zeigt nicht zuletzt die sichtlich verblüffte ältere Frau, die sich – am merkwürdigen Phänomen bereits vorbeigegangen – immer noch ungläubig danach umschaut.
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Abbildung 2: Claes Oldenburg mit der Giant Toothpaste Tube auf der Oxford Street, London 1966
Fotografie: Hans Hammerskiöld
Es fällt schwer, den ungewöhnlichen Gegenstand – zugleich Kunst- und Alltagsobjekt – klar zu fassen. Das liegt ganz im Interesse des Künstlers, dem es nicht darum geht neue Sichten der Dinge zu fixieren, sondern offene und mehrdimensionale Wahrnehmungen der Gegenstände zu initiieren. So formuliert der Künstler selbst: »Meine Absicht ist es, einen alltäglichen Gegenstand zu schaffen, der sich jeder Festlegung entzieht.«20 Das Ineinander von Kunst- und Alltagserfahrung vervielfältigt sich auch zusätzlich noch durch die Uneindeutigkeit der Situation. Handelt es sich hier bewusst um eine künstlerische Aktion Oldenburgs oder einfach um einen leicht anstrengenden Transport des Kunstobjekts, der die ganze Konzentration des Künstlers fordert? Hier wird im Vollzug einer alltäglichen Handlung selbst das Alltägliche unterlaufen und klarer Festlegung entzogen. Die zugleich überraschend witzige wie irritierende Situation bewegt den aufmerksamen Passanten zu Reflexionen über alltägliche Erfahrungen und Erwartungen. Eingefahrene Erfahrungen und Erwartungen zu brechen, ist auch bis heute das vordergründige Anliegen unterschiedlichster Formen der Aktionskunst im Alltag. Dabei ist gerade auch auf solche künstlerische Aktionen zu verweisen,
20 Oldenburg zit. nach Livingstone (1992), S. 49.
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die in ihrer scheinbar harmlosen Absurdität und spielerischen Ver-rückung des Gewohnten letztlich besonders eindrücklich wirken. Vor allem in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts ereigneten sich eine Vielzahl künstlerischer Aktionen, wie beispielsweise die sich explizit auf das Alltägliche richtenden Aktionen der Fluxus-Bewegung. Alltägliche Abläufe und Handlungen sollten mit anderer Bewusstheit und Aufmerksamkeit wahrgenommen werden. Über die Überführung einfacher, alltäglicher Handlungen in den Kontext der Kunst oder die Transformation gewöhnlicher Handlungen ins Außergewöhnliche oder Absurde öffneten sich Räume für Wahrnehmungsveränderungen und bewusste Reflexionen des Alltäglichen. Mit der Veränderung der gewohnten Zusammenhänge ergab sich auch eine Aufbrechung der üblichen Denkweisen. Besonders hervorzuheben ist ebenso die Haltung der Künstler, die sich durch Offenheit und eine wache Aufmerksamkeit dem Alltäglichen gegenüber auszeichnete. Diese bewusste und aufmerksame Haltung wollten sie entsprechend auch mit ihren Aktionen provozieren. So setzte sich beispielsweise der Künstler Ben Vautier 1966 mit gedecktem Tisch und Stuhl mitten auf eine vielbefahrene Straße in Nizza und speiste im Rahmen der Handlungsanweisung Essen Sie mitten auf der Mitte der Straße. Bei Clothespin Spring verteilte Albert M. Fine unauffällig Wäscheklammern an verschiedenen Gegenständen auf der Straße. Die japanische Gruppe Hi Red Center initiierte 1964 erstmals das Street Cleaning Event und säuberte in weißen Schutzanzügen mit Staubtüchern, chirurgischen Geräten, Wattestäbchen und Zahnbürsten ausgestattet, Gehsteig und Kanaldeckel eines abgesteckten Straßenbereichs in Tokio. Bis in die zeitgenössische Kunst tauchen immer wieder künstlerische Aktionen im alltäglichen Kontext auf, die in unsere gewohnten Strukturen eingreifen. Auf spielerische Weise schließt unter anderen der Künstler Martin Stiefel an die Fluxus-Events der 1960er Jahre an, zum Beispiel 2002 im Rahmen von »40 Jahre Fluxus und die Folgen« in Wiesbaden. Hierbei störte er eine gewöhnliche Marktsituation durch seine Aktion Wir rösten Leinwände im Toaster (Abb. 3), bei der er an einem eigenen Stand mit Toaster und passenden Leinwänden ausgestattet, selbige frisch geröstet zum Verkauf feilbot. Des Weiteren irritierte er im selben Jahr im Rahmen des YAM-Festivals in Kördorf/Neuwagenmühle durch eine präparierte Waschmaschine. Durch seinen Eingriff eigenständig zappelnd zur Fortbewegung fähig, ließ er sie in der Aktion Bachüberquerung einer Waschmaschine (Abb. 4) eine Holzbrücke passieren. Ihr nicht geradliniger »Gang« ließ sie schließlich in den Bach stürzen – was zur Entrüstung gerade zufällig vorbeiziehender Kanufahrer führte. Darüber hinaus agieren auf gleiche Weise präparierte Waschmaschinen in wechselnden Zusammenhängen und bre-
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chen – immer wieder neu – gewohnte Wahrnehmungsweisen. Als Actionpainting washing machine mit Farbdosen versehen, produzierte eine Waschmaschine dieses Werkkomplexes 2011 im Rahmen der »Blauen Nacht« in der Nürnberger Innenstadt im Parkhaus Sterntor eine blaue gestische Malerei, die kritisch ironisch auch gängige künstlerische Praktiken hinterfragt. Absurdität und Nonsens in den Arbeiten übersteigen in ihrer »Nichtfestgelegtheit« letztlich auf beunruhigende Weise das Alltägliche.
Abbildung 3: Martin Stiefel, Wir rösten Leinwände im Toaster, Wiesbaden 2002
Fotografien: Martin Stiefel
Abbildung 4: Martin Stiefel, Bachüberquerung einer Waschmaschine, Neuwagenmühle 2002
Fotografien: Martin Stiefel
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Bekannt sind zudem die Aktionen des Künstlers Erwin Wurm, der mit seinen One-Minute-Sculptures auch im öffentlichen Raum die gewohnten Bahnen des alltäglichen Lebens durchkreuzt. So irritierte 2004 beispielsweise die in Antwerpen durchgeführte Aktion Throw Yourself Away. Hierbei versah er Mülleimer mit Instruktionszeichnungen, sich kopfüber, vornübergebeugt, mit einem Bein und mit beiden Beinen in selbigen zu positionieren. Die provozierend ungewöhnlichen Handlungsanweisungen wurden entsprechend von Passanten realisiert und fotografisch festgehalten. In einem ähnlichen Zwischenraum von Humor und Ernsthaftigkeit, Tabubruch und Hintersinn sind im selben Jahr auch seine Aktionen im Café de Flore in Paris zu sehen. So sitzt eine Frau am Tisch, das Gesicht im Teller liegend21, ein Mann kauert auf dem Boden und beißt – sich an den Tischbeinen festklammernd – in die Tischplatte22, ein anderer steht mit je einem Fuß auf einem Teller aufrecht auf einem Tisch23, ein Kellner rührt mit dem Finger im Kaffee, den er serviert24. Wurms flüchtige Skulpturen unterlaufen gewohnte Handlungsabläufe und initiieren ein Spiel mit gesellschaftlich und kulturell geprägten Bildern und Denkweisen. Die gleichzeitig provozierend seltsam wie lustigen Momentaufnahmen wirken vor allem durch die ernsthafte Haltung, mit der sie ausgeführt werden. So wird auch hier die Aufmerksamkeit nochmal auf ganz eigene Weise auf das Bewusstsein des möglichen Andersseins gelenkt: »Through the deliberate application of the absurd, Erwin Wurm creates a distance between us and the everyday, between humanity and our environment. In this gap there exists the possibility to look again at ourselves and the world we inhabit, to remake the familiar. Wurm invites us to consider curious detail and strange, parallel possibilities.«25
Wirksame Eingriffe in festgefahrene Wahrnehmungen und Denkstrukturen bilden auch die Aktionen von Andreas Slominski. Auch er verkehrt Erwartungen – dort, wo wir es am wenigsten erwarten. Am 27. November 1996 führte er etwa in Vorbereitung auf die Skulptur.Projekte Münster 1997 seine Aktion Ausheben der Laterne für das Umlegen des Reifens durch (Abb. 5–6).
21 Elise, 2004, Café de Flore, Paris, c-print, 159,1 x 126,5 cm. 22 Vincent, 2004, Café de Flore, Paris, c-print, 159,1 x 126,5 cm. 23 Christian, 2004, Café de Flore, Paris, c-print, 159,1 x 126,5 cm. 24 Miroslav, Michel, 2004, Café de Flore, Paris, c-print, 107 x 144 cm. 25 Barlow (2004), S. 23f.
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Abbildung 5: Andreas Slominski, Ausheben der Laterne für das Umlegen des Reifens, Münster 1996
Fotografie: Christina Dilger, artdoc.de
Abbildung 6: Andreas Slominski, Ausheben der Laterne für das Umlegen des Reifens, Münster 1996
Fotografie: Roman Mensing, artdoc.de
Dabei ließ er eine gewöhnliche Straßenlaterne mit großem Aufwand und Einsatz eines Krans ausheben, um anschließend einen Fahrradreifen – von unten – umzulegen. Dem flüchtigen Blick offenbart sich hierbei zunächst nur eine gewöhnliche Baustelle. Erst ein längeres Verweilen lässt die Außergewöhnlichkeit der Situation erkennen. Das Gesehene provoziert dann sofort die Frage nach dem Warum. Wenn man denn einen Reifen um eine Laterne legen will, warum so umständlich und nicht einfach von oben? Aus der Perspektive einer Alltagsratio-
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nalität ist diese Frage nicht sinnvoll zu beantworten – das Vorgehen verbleibt in jeglicher Hinsicht absurd. Seine seltsame Intervention hinterlässt ein Gefühl der Ratlosigkeit. Mit Ironie und Hintergründigkeit stellt Slominski hier banale Selbstverständlichkeiten in Frage und ersetzt vertraute Muster durch unerwartete, groteske Handlungen. Anstelle des Naheliegenden verwirklicht Slominski das Mögliche. Dieser Sinn für das Alternative befreit Blick und Denken aus vorprogrammierten Strukturen. In der Absurdität und Unberechenbarkeit der künstlerischen Aktion Slominskis liegt schließlich ihr eigentliches Potenzial. Die nüchtern ernsthafte Realisierung des Abwegigen ist gleichermaßen amüsierend wie verstörend und gibt Anstöße, unsere alltäglichen Erfahrungen allgemein in ihrer Sinnhaftigkeit und Festgelegtheit zu reflektieren. Entsprechend stellt auch Dörte Zbikowski fest: »der Reiz von Slominskis Arbeiten [liegt A.B.] in jenem Schwebezustand zwischen Absurdität und Wahrscheinlichkeit, Vertrautheit und Fremdheit, Naheliegendem und Abwegigem, der die hintersinnige Poesie des Unmöglichen, letztlich des Durchbrechens von gewohnten Verhaltensmustern ausmacht.«26 Dabei erwirken auch seine Werke eine Schärfung der Aufmerksamkeit und Sensibilisierung der Wahrnehmung: »Indem er Situationen schafft, die verunsichern, provozieren und auf falsche Fährten locken, thematisiert er Wahrnehmung als solche. In einer von Bildern gesättigten Kultur, in der Sehen häufig ein unreflektierter Reflex ist, verleiten diese Werke, näher hinzusehen.«27 So forderte auf besondere Weise auch seine Aktion Baumstumpf 1998 in Berlin (Abb. 7) die Wahrnehmung heraus. Abbildung 7: Andreas Slominski, Baumstumpf
Standbild aus dem gleichnamigen Videofilm von Martin Kreyssig 26 Zbikowski (2012), S. 7. 27 Ebd., S. 9.
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Mit subtilem Gespür und scharfem Blick für Spielräume in vermeintlich festgelegten Strukturen ließ er mitten auf dem Sandweg der Promenade Unter den Linden als unscheinbare Stolperfalle einen Baumstumpf aus dem Grunewald pflanzen. Mit dieser verblüffenden Verrückung, die einem erst mit Verzögerung auch als solche bewusst wird, gelingt es Slominski wiederum das alltägliche Geschehen durch Verunsicherung zu stören. Der Moment, in dem wir uns wundern, lässt uns innehalten – aufmerken. Neben dem Stolpern der Füße gerät über den fehlplatzierten Baumstumpf auch unser Denken ins Wanken. Festgelegte Bilder, Ansichten und Handlungsabläufe erscheinen plötzlich willkürlich, fraglich und veränderbar. Gerade die solcherart fast unmerklichen Eingriffe der Kunst ziehen eine umso stärkere Wirkung nach sich, wenn man sie bemerkt. Entsprechend inszeniert auch der belgische Künstler Guillaume Bijl mit seinen sog. »Situationsinstallationen« subtile Verstörungen. 1993 brachte er in Koningshooikt in einer Privatwohnung ohne Stockwerk eine Fahrstuhltür mit Namensschildern von Firmen an, anlässlich der Documenta IX in Kassel ließ er fünfzehn ausgestopfte Vögel an unauffälligen Stellen in der Innenstadt aufstellen. Mit seinen Installationen regt Bijl auf nochmal eigene Art an, über Wahrnehmungsgewohnheiten nachzudenken – über das unreflektierte, gedankenlose Wahrnehmen im Alltag. Seine geplanten Verwechslungen von Realem und Fiktivem sind ebenfalls ein Beispiel für beunruhigende Eingriffe in Alltagserfahrungen, die, wie der Künstler selbst mehrfach betont, banale Selbstverständlichkeiten und vorprogrammierte Muster in Frage stellen.28 All diese ungewöhnlichen Eingriffe der Kunst, die Abweichungen vom »Normalen«, Störfaktoren in gewohnten Mustern rufen Aufmerksamkeit und Reflexionen hervor, die schließlich auch Rückwirkungen des Künstlerischen auf das Alltägliche ermöglichen. Im Verständnis, dass Kunst erkenntnisbildend ist und im Verstehen des Kunstwerkes als spezifische Form des Zugangs zur Welt, lässt sich entsprechend das besondere Potenzial der Kunst begründen. Die Kunst wird uns zum Modell, über Fremd- und Differenzerfahrungen die Welt neu wahrzunehmen und zu begreifen. Die verschiedenen künstlerischen Transformationen und Verfremdungen des Alltäglichen bringen je vielfältige Bedeutungsebenen und -verschiebungen hervor, die immer wieder ein Nachdenken auslösen. So dienen die einzelnen Werke und Aktionen der Verständigung über die Wirklichkeit. Die in der Kunst erprobte offene Haltung lässt uns dabei die Lebenswelt neu entdecken.
28 Vgl. z.B. Bijl zit. in Ferdinand (1998), S. 67.
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Besonders eindrücklich ist es, die möglichen anderen Sichtweisen des Alltäglichen im oder am Alltäglichen selbst zu erfahren. Der alltäglichen Nichtbeachtung enthoben wird uns das Alltägliche zum Ort der Reflexion und Blickwinkelerweiterung. Das Vertraute erscheint in neuer Art und Weise und wird aus den festen Wahrnehmungsrastern, aus dem Automatismus der Alltagswahrnehmung herausgehoben. Alltag wird anders als im Alltag üblich rezipiert – Wirklichkeit als veränderbares Konstrukt vor Augen geführt. Darin liegt letztlich auch eine lebensweltliche und erkenntnistheoretische Relevanz der Kunst begründet. Das Potenzial der Kunst in der Wirkung und Einflussnahme auf das Alltägliche liegt vor allem im Vollzug eines anderen Erlebens von Alltagsabläufen. Im konkreten Bezug zur Alltagserfahrung, in der wirkungsvollen Erfahrung der Abweichung vom Gewohnten am Gewohnten, beginnt man über das Gewohnte nachzudenken und als Ausschließliches in Frage zu stellen. Dabei überträgt sich die in der Kunst erfahrene Offenheit auf das Wirklichkeitsbegreifen. Dadurch, dass wir die Wirklichkeit über die künstlerische Verfremdung mehrdimensional erleben, begreifen wir sie entsprechend auch wie sie uns konkret begegnet – im Modus des Potenziellen. Auf eine Neuorientierung der alltäglichen Erfahrung durch die Kunst machte zum Beispiel auch der Kunstwissenschaftler Max Imdahl aufmerksam. In einer von ihm verfassten Laudatio für den Künstler Claes Oldenburg sprach er 1981 im Zusammenhang seiner Großplastiken von Alltagsgegenständen im öffentlichen Raum von einer »Entselbstverständlichung des Selbstverständlichen«29. Auch hier bewirkt die Aufbrechung des Gewohnten eine Wahrnehmungsveränderung und veränderte Einstellung dem Alltag gegenüber. Entsprechend folgerte Imdahl am Schluss seiner Rede: »Uns gerade aus den Grenzen dieser pragmatischen, rationalen Vernunft zu befreien und gerade auch an den nächsten Dingen unserer praktischen Lebenswirklichkeit das Unge-
29 In Bezug auf die Großplastik Große Kelle 1971/72 von Oldenburg stellt er entsprechend fest: »Die Monumentalisierung ist eine Verfremdung des bekannten Gegenstandes, die jedoch als dessen Neuerfahrung auf ihn zurückwirkt. Entselbstverständlichung des Selbstverständlichen (könnte man sagen) durch eine Neueinstellung des Beschauers, durch eine Bewußtseinsveränderung mit Bezug auf die realen Dinge vermöge eines exemplarischen Werkes, das nicht mehr vergessen werden kann, auch dann nicht, wenn man die Dinge der Welt, die uns täglich umgeben, so sieht, wie sie sind, zum Beispiel im gewohnten Maßstab. Sie bleiben dennoch nicht, was sie waren.« Imdahl (1989), S. 6.
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wöhnliche, Unselbstverständliche wahrzunehmen und nicht nur das Instrumentale – genau das ist die Botschaft, die wir dem Werke von Claes Oldenburg verdanken.«30
Dies ist letztlich auf verschiedenste Formen der künstlerischen Verfremdung des Alltäglichen zu übertragen. Indem die Kunst unsere alltäglichen Erfahrungen erweitert und unsere eingefahrenen Erwartungen bricht, öffnet sie unseren Blick für das mögliche »Anderssein« der Dinge und der Wirklichkeit. Die Welt ist nicht mehr das, was sie vorher war, wenn sich mit dem Blick auch der Geist öffnet.
L ITERATUR Barlow, Geraldine (2004): »Between a Smile and a Tear. The Instruction Drawings and One Minute Sculptures of Erwin Wurm«, in: Golonu, Berin (Hrsg.), Erwin Wurm. I Love My Time, I Don’t Like My Time, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, S. 23-30. Bube, Agnes (2008): »Die Neuentdeckung des Gewöhnlichen – über die lebensweltliche Relevanz der Kunsterfahrung«, in: Kongress-Akten der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik, Band 1, Ästhetik und Alltagserfahrung, http://www.dgae.de/kongress-akten-band-1.html vom 3.5.2016. Imdahl, Max (1989): »Laudatio für Claes Oldenburg« (1981), in: Claes Oldenburg – Coosje van Bruggen. A Bottle of Notes and Some Voyages – Eine Flaschenpost auf Reisen. Claes Oldenburg – Zeichnungen, Skulpturen und großformatige Projekte mit Coosje van Bruggen, Museumspädagogisches Beiheft zur Ausstellung, Wilhelm-Lehmbruck Museum der Stadt Duisburg. Livingstone, Marco (1992): Pop Art, München: Prestel. Šklovskij, Victor (1966): Theorie der Prosa, Frankfurt am Main: Fischer [zuerst 1925]. Ullrich, Ferdinand (Hrsg.) (1998): Guillaume Bijl. Installationen, Situationen und Kulturtourismus, Ausst.-Kat. Ruhrfestspiele Recklinghausen, Köln. Waldenfels, Bernhard (1987): Ordnung im Zwielicht, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ders. (31998): Der Stachel des Fremden, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ders. (2001): Verfremdung der Moderne. Phänomenologische Grenzgänge, Essener Kulturwiss. Vorträge, Band 10, Göttingen: Wallstein.
30 Ebd., S. 7.
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Zbikowski, Dörte (2012): Andreas Slominski – Reden wir nicht vom Tageslicht – I. Werke 1986–2003, Petersberg: Michael Imhof Verlag.
Vom fremden Neuen zum nicht mehr neuen Fremden Über den Wandel der Ästhetik nach der Postmoderne H ERBERT G RABES
Dass Literatur und Kunst Befremden auszulösen vermögen, ist – wie schon in dem Poetik- und Hermeneutik-Band Die nicht mehr schönen Künste von 1968 aufgewiesen wurde – keine neue Erfahrung. Dass sie dies jedoch nicht nur zuweilen, sondern in der Regel tun, ja eigens auf diese Wirkung hin angelegt sind, ist ein Kennzeichen jener Moderne, deren Beginn nun mehr als ein Jahrhundert zurückliegt. Kein Wunder, dass es inzwischen nicht mehr einfach ist, immer aufs Neue tatsächlich Befremden auszulösen, nachdem sich Leser wie Betrachter schon daran gewöhnt haben, dass die Künste nicht mehr schön sind. Dass Autoren wie Künstler sich jedoch weiterhin bemühen wenigstens etwas Fremdartigkeit zu erzeugen, werde ich im Hinblick auf die amerikanische, englische und deutsche Literatur und die internationale Kunstszene aufzuweisen suchen. Die Formulierung »nach der Postmoderne« im Titel mag dabei kontrovers erscheinen, weil viele der erkenntniskritischen Einsichten und stilistischen Grundeinstellungen der Postmoderne weithin noch in Geltung sind. Andererseits ist kaum zu übersehen, dass in den USA bereits seit den 1980er Jahren und in Deutschland seit den späteren Neunzigern eine signifikante Veränderung im Bereich von Literatur und Kunst zu beobachten ist. Zwar blieb die von mir »Ästhetik des Fremden« genannte Ästhetik der Moderne und Postmoderne weiterhin in Geltung, aber sie erhielt in aller Regel eine deutlich andere Ausprägung. Auf diesem Wandel und die möglichen Gründe für die lang anhaltende Dominanz der Ästhetik des Fremden in verschiedenen Varianten liegt der Fokus dieses Beitrags. Dabei werden sowohl philosophische wie
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psychologische, soziologische und anthropologische Aspekte einschließlich neuerer neurobiologischer Deutungen zum Tragen kommen. Das wohl auffälligste Kennzeichen des Wandels der Literaturästhetik nach der Postmoderne ist die Wiederkehr des Realismus in der Erzählprosa. Sie war in den USA bereits in den 1980er Jahren zu beobachten, als die avantgardistische Phase der Postmoderne ihre dominante Stellung einbüßte. Nach zwei Jahrzehnten metafiktionaler Demonstration der Unmöglichkeit oder zumindest unerträglichen Naivität jeder Art von Realismus zeigte von den späten 1970er Jahren an eine neue Generation von Autoren wie Raymond Carver und Frederick Barthelme mit ihrem »New Minimalism« oder »Dirty Realism« (wie er auch genannt wurde), dass das künstlerische Potenzial realistischen Erzählens keineswegs ausgeschöpft war. Bei der Lektüre der von Carver unter Titeln wie Will You Please Be Quiet, Please? (1976) und What We Talk About When We Talk About Love (1981) veröffentlichten Kurzgeschichten oder von Barthelmes Kurzgeschichtenband Moon Deluxe (1983) lässt sich gut beobachten, wie eine bloße Variation realistischer Erzählweise bereits eine deutlich veränderte emotionale und kognitive Wirkung herbeizuführen vermochte. Im Unterschied zur experimentellen postmodernen Erzählprosa lesen sich die Geschichten Carvers und Barthelmes zwar flüssig, aber zugleich überlegt man als Leser ständig, worum es eigentlich geht. Während vorher die ständigen Illusionsbrüche durch metafiktionale Einschübe stärkeres Befremden auslösten, lag die neue, mildere Fremdartigkeit dieses Minimalismus darin, dass – ähnlich wie bei der von Arthur Danto so genannten »Transfiguration of the Commonplace« in der Kunst – alles, was gezeigt wird, allzu alltäglich und banal erscheint, und man nach dem Sinn des Ganzen in dem zu suchen beginnt, was ausgelassen oder bestenfalls nur impliziert wurde. Für eine Ablösung der Metafiktion als künstlerisch dominante Erzählweise in den USA waren indes zwei Erfolgsautoren noch wichtiger: Don DeLillo und Paul Auster. Wie die Minimalisten erzeugen sie die Illusion einer realen Welt, die bei ihnen aber umfassende Ausmaße annimmt und – das ist der wichtigere Unterschied zum reinen Realismus – zugleich ahnen lässt, dass es in dieser Welt einen Bereich gibt, der sich aller rationalen Bemühung entzieht. In De Lillos Libra von 1988 geht es z.B. um die im Roman letztlich offen bleibende Frage, ob der Mörder John F. Kennedys Einzeltäter oder ein Auftragskiller war. In White Noise (1985) war es die Todesthematik in einer vom Medienkonsum determinierten Welt, die dem Geschehen etwas Unheimliches verlieh. Auf den 827 Seiten von Underworld (1997) wurde die von Ängsten vor der Atombombe und einem ungebremsten Kapitalismus bestimmte Zeit des Kalten Krieges imaginiert,
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und Falling Man (2007) war dem Angriff auf das World Trade Center am 9. September 2001 und dessen Auswirkungen gewidmet. Als noch leichter zugänglich, aber trotz der realistischen Erzählweise befremdlich erwiesen sich die von Paul Auster in seiner New York Trilogy (1985‒87) imaginierten Romanwelten. Und bei The Music of Chance (1990) insinuiert schon der Titel, dass es um eine vom Zufall bestimmte Welt geht, in der niemand wirklich heimisch werden kann. Wegen der Einbeziehung fantastischer Elemente, die etwa in Mr Vertigo, einem Roman von 1994, zentral ist, wurde denn auch nicht schon bei Auster, sondern erst beim großen Erfolg von Jonathan Franzens realistischem Sozialroman The Corrections (2001) von einer Tendenzwende gesprochen. Dabei hatte es schon vorher mit Jane Smileys A Thousand Acres (1991), Richard Fords Independence Day (1995) oder Anne Tylers A Patchwork Planet (1998) deutliche Anzeichen für eine Wiederkehr des amerikanischen mainstream realism gegeben. Diese Tendenz setzte sich auch nach der Jahrtausendwende fort mit erfolgreichen Generationen- und Familienromanen wie Jeffrey Eugenidesʼ Middlesex (2002), Richard Powersʼ The Time of Our Singing (2003), Louise Erdrichs The Master Butchers Singing Club aus demselben Jahr oder Geraldine Brooks March (2005). Während sich für belesene Rezipienten dabei die Frage nach der minimalen Variation im Déjà vu stellte, zeigte ein jüngerer Autor wie Jonathan Safran Foer, dass ein Einschub ungewöhnlicher Darstellungsmodi in eine realistische Erzählweise zwar zwischendurch Befremden auslöst, aber einer im Ganzen anrührenden Leserwirkung nicht im Wege stehen muss. In Everything Is Illuminated, einem Roman von 2002, in dem sich zwei Erzähler Briefe schreibend ergänzen, geht es um das typisch amerikanische Thema der Suche nach den roots, die sich irgendwo in der ukrainischen Provinz verliert. Fremdes begegnet dabei mehr als genug in diesem zugleich skurrilen und nachdenklich machenden Werk, das an literarischer Qualität vielleicht noch übertroffen wurde von dem sehr ungewöhnlichen Familienroman Extremely Loud and Incredibly Close aus dem Jahre 2005. Darin erscheint das tragische Geschehen verfremdet, weil es weithin aus der Perspektive eines neunjährigen Jungen erzählt wird, der durch den Tod seines Vaters beim Anschlag auf das World Trade Center ebenso traumatisiert ist wie sein Großvater durch den Verlust seiner Verlobten und seines ungeborenen Kindes beim Angriff auf Dresden im 2. Weltkrieg. Indem Foer beide Schicksale miteinander verband, gelang es ihm, seine amerikanischen Leser sowohl mit der Opfer- wie der Täterrolle zu konfrontieren, was außerhalb der fiktiven Welt des Romans wenige Jahre nach 9/11 sicher unmöglich gewesen wäre. Auch dabei wird die stark emotionale Leserwirkung durch eingeschobene befremdliche Dar-
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stellungsformen wie kryptische Fotos und eine seitenlange Kodierung von Text in Form von Telefonziffern nicht signifikant beeinträchtigt. Rückblickend lässt sich sagen, dass ansonsten der Déjà vu-Effekt beim neuen amerikanischen mainstream realism recht stark ist, weil zugleich auch sehr traditionelle Subgattungen reüssieren. Eine davon ist der historische Roman, der im engeren Sinne mit Charles Fraziers Bestseller des Jahres 1997 über den amerikanischen Bürgerkrieg, Cold Mountain, und mit einem weiteren Bürgerkriegsroman von 2005, Geraldine Brooksʼ March, erfolgreich wiederbelebt wurde und der als fiktional gestaltete Zeitgeschichte vor allem mit den bereits genannten Romanen von Don DeLillo voll zur Geltung kam. Noch umfangreicher vertreten ist eine zweite traditionelle Subgattung, der Familienroman, der zugleich zeitgeschichtliche, soziale und politische Aspekte enthält. Die bereits genannten einschlägigen Werke von Franzen, Eugenides, Powers, Erdrich und Foer sowie Jesmyn Wards Salvage the Bones (2011) demonstrieren zugleich, dass subtilere Variationen traditioneller Erzählmuster schon ausreichen, um ein wenig neue Fremdheit und eine veränderte ästhetische Wirkung zu erzielen. Im Unterschied zu den USA blieben in Großbritannien radikale postmoderne Erzählwerke wie diejenigen von Christine Brooke-Rose oder B.S. Johnsons The Unfortunates (1969) gegenüber einer weithin realistischen Romanproduktion Ausnahmen. Als postmodern angesehen werden können allerdings auch jene metafiktionalen Erzählstrategien, die in den 1980er Jahren in Romanen wie Salman Rushdies Midnight’s Children (1981), Julian Barnesʼ Flaubert’s Parrot (1984), John Fowlesʼ A Maggot (1985), Nigel Williamsʼ Witchcraft (1987) und Penelope Livelys Moon Tiger aus demselben Jahr für wiederholte Durchbrechungen der Realitätsillusion und damit für einiges Befremden sorgten. Gleichzeitig war aber eine erneute Konjunktur des realistischen Erzählens zu beobachten, z.B. in Werken wie Graham Swifts Waterland (1983) oder Kazuo Ishiguros The Remains of the Day (1989). Darin wird zwar verdeutlicht, dass die Darstellung der Vergangenheit eher ein subjektives Geschichtenerzählen als eine zuverlässige Wiedergabe ›der‹ Geschichte ist, aber weil dies nicht durch metafiktionale Kommentare geschieht, sondern nur über eine unfreiwillig erscheinende Selbstironisierung der Erzähler, ist die Wirkung weit weniger befremdlich. Diese Tendenz wurde in den 1990er Jahren stärker, und die Fremdartigkeit wird dabei immer mehr in die erzählte Welt transponiert. Eindrucksvolle Beispiele sind etwa Barry Unsworths Roman von 1992 über den Sklavenhandel im 18. Jahrhundert, Sacred Hunger, Michael Ondaatjes The English Patient aus demselben Jahr oder Louis de Bernières Captain Correliʼs Mandolin von 1994, ein
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extrem erfolgreicher Liebesroman aus der Zeit der deutschen Besatzung der griechischen Insel Cephalonia. In den historischen Themenbereich gehören ferner die von Hilary Mantel als Romane gestalteten ersten beiden Teile der Biografie des Kanzlers Heinrichs VIII., Thomas Cromwell, Wolf Hall (2009) und Bring Up the Bodies (2012). Laut einer Besprechung wurden diese beiden Werke mit dem Booker Preis ausgezeichnet, weil es sich um »a wonderful and intelligently imagined retelling of a familiar tale from an unfamiliar angle« handele – also um eine gelungene Variation des Bekannten.1 Ähnlich wie in den USA findet sich auch in Großbritannien die Wiederkehr des realistischen Familienromans, und diesbezüglich verdient vor allem The Gathering von 2007 der irischen Autorin Anne Enright genannt zu werden. Es ist – wie wir anschließend beim Blick auf die neuere deutsche Erzählliteratur sehen werden – zwar nicht mehr singulär, aber für den Wandel der Ästhetik bezeichnend, dass bei diesem Werk in einer Besprechung »the lightness and beauty of the prose« hervorgehoben wurde.2 Und was bleibt bei dieser ›leichten‹ und ›schönen‹ Prosa fremd an der neueren englischen Erzählliteratur? Bei dieser Frage kommt einem vor allem die Darstellung fremder Kulturen in den Sinn, wie sie mit großem Erfolg auch in späteren Werken von Salman Rushdie wie The Moor’s Last Sigh (1995) und Shalimar the Clown (2005) genutzt wurde. Zu solchen literarischen Beschwörungen von ›Imaginary Homelands‹ gehören z.B. auch Darstellungen des Lebens in Indien wie Arundhati Roys The God of Small Things (1997), Anita Desais Fasting, Feasting aus dem Jahr 1999 und der sich vor allem mit dem Kastenwesen befassende Roman Aravind Adigas, The White Tiger (2008), während Romesh Gunesekeras Reef von 1994 in ähnlicher Weise das Leben in Sri Lanka schildert. Typischer noch für die neuere Literaturszene in Großbritannien ist indes die Darstellung des Lebens der Migranten in England und der damit einhergehende, verfremdende Blick auf die englische Gesellschaft. Zu dieser sogenannten Diaspora-Literatur gehören anspruchsvolle Erzählwerke wie Hanif Kureishis The Buddha of Suburbia von 1990 mit einem Fokus auf interkulturelle Konflikte, Zadie Smiths Einblick in das multikulturelle Londoner Leben in White Teeth aus dem Jahre 2000, Monica Alis Darstellung des Schicksals einer jungen Frau aus Bangladesch, die mit 18 Jahren nach London kommt und mit einem viel älteren Mann verheiratet wird, in Brick Lane (2003), Andrea Levys Roman Small Island von 2004 über das Leben der Einwanderer aus Jamaika, Nirpal Singh Dhaliwals Tourism von 2006 mit seiner Auflistung herabsetzender Klischees über ver1
Bennett (2009).
2
Kennedy (2007).
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schiedene ethnische Migrantengruppen, Louise Doughtys Stone Cradle von 2006 über den gesellschaftlichen Status der Roma, Gautam Malkanis Londonstani von 2006 über die asiatische Kultur in London und Zadie Smiths Londoner Stadtviertel-Roman NW von 2012. Diese Diaspora-Literatur befasst sich also mit dem für die englische Bevölkerung sehr nahen Fremden und profitiert vom Spannungsverhältnis zwischen den verschiedenen Kulturen, weil es zu einer geschärften Wahrnehmung von Alltagsriten, unausgesprochenen Wertvorstellungen und kulturell geprägten Vorstellungen von ›schön‹ und ›hässlich‹ führt und somit Einblick in die Relativität von Ästhetik erlaubt. Ein 2009 erschienenes Werk von Sabine Nunius über die »New Approaches in the Contemporary British Novel (2000-2006)« trägt deshalb zu Recht den Titel Coping with Difference. Bei einem Bericht über die deutschsprachige Literatur nach der Postmoderne ist zunächst zu erwähnen, dass die Postmoderne darin etwas später begann als in der amerikanischen Literatur und auch deutlich später endete. Für die postmoderne Metafiktion hat Mirjam Sprenger als Beispiele Max Frischs Mein Name sei Gantenbein (1964), Peter Handkes Der Hausierer (1967), Wunschloses Unglück (1972) und Die Geschichte des Bleistifts (1982), Thomas Bernhards Das Kalkwerk (1970) und Alfred Anderschs Winterspelt (1974) angeführt, während Uwe Wittstock eine stärkere Verwendung postmoderner Elemente erst seit den frühen 1980er Jahren zu erkennen glaubt und dabei insbesondere auf Robert Gernhardts Ich Ich Ich von 1982 verweist. Inzwischen ist die postmoderne Periode auch im Bereich der deutschsprachigen Literatur zu Ende gekommen, selbst wenn ein Zeitsatiriker wie Max Goldt weiterhin in QQ von 2007, in Gattin aus Holzabfällen von 2010 und in Die Chefin verzichtet von 2012 in postmoderner Manier mit der Sprache spielt, um den Geschmackswandel, den Wechsel der Moden und die damit verbundene Relativität von Vorlieben und Abneigungen auf einfallsreiche Weise offen zu legen. War es das Besondere der Postmoderne, durch die Art der Darstellung Befremden auszulösen, so wurde danach auch in Deutschland zumeist wieder relativ traditionell erzählt und das Fremde in den Bereich des Dargestellten verlegt. So haben z.B. die Romane Christoph Ransmayrs eine ganz normale Handlung und sorgfältig gestaltete Figuren, aber was laut Wittstock darin auf »atemberaubend schöne Weise« dargestellt wird, ist immer Untergang oder Verfall, vom Weltuntergang nach den Gesetzen der Thermodynamik im Roman Strahlender Untergang von 1982 und den Leiden einer Expedition zum Nordpol in Die Schrecken des Eises und der Finsternis von 1984 über die erfundene Wirklichkeit in Die letzte Welt von 1988 bis zu derjenigen in den späteren Romanen Morbus Kitahara von 1995 und Der fliegende Berg von 2006. Und Martin Mo-
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sebach, dessen Erzählweise noch traditioneller und leichter ist, führt uns zwar nicht in die Fremdartigkeit des Verfalls, aber oft in fremde Kulturen, sei es auf mildere Weise nach Italien in Die schöne Gewohnheit zu leben (1997), in das deutlich fremdere türkische Dorfleben in Die Türkin (1999) und in das alte und das gegenwärtige Indien in Das Beben (2005) und Stadt der wilden Hunde (2008). Wenn man auf die deutschsprachige Literatur der Gegenwart blickt, ist natürlich Daniel Kehlmann als ein Erfolgsautor von internationaler Geltung seit seinem wissenschaftsgeschichtlichen Roman Die Vermessung der Welt von 2005 von besonderer Bedeutung. Wenn darin die Biografien des Naturforschers Alexander von Humboldt und des Mathematikers Carl Friedrich Gauß dazu dienen die Relativität selbst wissenschaftlicher Weltbilder zu demonstrieren, dann klingt das eher trocken, und dass eine solche Thematik unterhaltend wirken kann, liegt allein am Erzähltalent Kehlmanns, dessen Schreibweise zwar eher traditionell ist, zugleich aber erstaunlich frisch wirkt. »Wo aber ist dann das Fremde?« könnte man fragen. Und nur bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass wir es mit einem Werk nach der Postmoderne zu tun haben, in dem mit der für diese Epoche typischen Normverletzung gespielt wird. Ich zitiere Wittstock: »Wer […] Kehlmanns Geschichte für bare Münze nimmt und ihr gläubig folgt, tut das auf eigene Verantwortung. Jedes in Anführungsstriche gesetzte vorgebliche Zitat in dem Roman ist, wie Kehlmann in einem Interview sagte, frei erfunden, und im Gegenzug hat er all das, was er aus historischen Quellen in sein Buch übernahm, als Zitat nicht kenntlich gemacht.«3
Gut dass es sich nicht um eine Doktorarbeit handelt, sondern um Literatur, laut Derrida also um eine »institution of fiction which gives in principle the power to say everything, to invent and even to suspect the traditional difference between nature and institution, nature and conventional law, nature and history«.4 Es mag auch bezeichnend sein, dass Kehlmann in seinem Roman F (2013) zwar so zentrale Fragen behandelt wie die, ob unser Leben von einer Vorsehung oder vom Zufall bestimmt ist oder ob unsere Unterscheidungen zwischen Wahrheit und Lüge, Original und Fälschungen Sinn machen, dass diese ernsthaften Fragen aber ausgerechnet an der Geschichte dreier Hochstapler erläutert werden. Bei aller Annäherung der verschiedenen Diskurse unter der Ägide der Kulturwissenschaft sollten wir nicht vergessen, dass – wie in dem von Hans Adler und Lynn L. Wolff herausgegebenen Band Aisthesis und Noesis noch einmal dargelegt 3
Wittstock (2009), S. 163.
4
Derrida (1992), S. 37.
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wird – Literatur ein Wissen eigener Art ist, ein Wissen, das auch nach der Postmoderne nicht ganz ohne Fremdartigkeit zu haben ist. Im gegebenen Rahmen nun ein Blick auf die bildende Kunst nach der Postmoderne, um ein breiteres Fundament für die These eines neuerlichen Wandels der Ästhetik zu legen. Was die diesbezügliche Situation anbelangt, sieht man sich mit einer solchen Vielfalt von Medien, Darstellungsweisen und Themen konfrontiert, dass man sagen kann: Es gibt fast nichts, was es nicht gibt. Insbesondere wenn man an all das bei großen internationalen Ausstellungen wie der Kasseler documenta oder der Biennale in Venedig Gezeigte denkt, kommt es einem so vor, als ob alles, was nacheinander an Neuem seit dem Beginn der künstlerischen Moderne, also während der letzten mehr als hundert Jahre entstand, mit leichten Variationen in den letzten beiden Jahrzehnten noch einmal geschaffen wurde. Stilistisch gesehen dominiert so eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – und damit für Betrachter mit einem hinreichend ausgebildeten kunsthistorischen Gedächtnis das Déjà vu. Gerade dies aber muss eigentlich sehr fremdartig wirken angesichts einer bereits seit der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts am möglichst völlig Neuen, noch nie Dagewesenen orientierten und seit Beginn des Modernismus auf The Shock of the New, auf die schockierende Begegnung mit radikaler Innovation fokussierten Kunstentwicklung.5 Wenn das so nicht mehr gilt, müssen wir es in der Tat mit einem grundlegenden Wandel in der Ästhetik zu tun haben. Vor weiteren Schlüssen aber erst ein Aufweis der gegenwärtigen Vielfalt, der im gegebenen Rahmen allerdings nur exemplarisch sein kann. Zunächst einige Beispiele dafür, dass ein beträchtlicher Teil der gegenwärtigen Kunstschaffenden versucht, mit ausgesprochen Hässlichem, mit dem Präsentieren von Elend, Zerstörung und Verwüstung, von Ekel Erregendem oder Bedrohlichem noch eine befremdende Wirkung zu erzielen. Angesichts der Tatsache, dass man sich jedoch zumindest im Kreise der Kunstinteressierten an so etwas gewöhnt hat und viele einst als Bürgerschreck fungierende Werke bereits unter dem Titel der »klassischen Moderne« geheiligt worden sind, ist es trotzdem nicht ganz leicht, überhaupt noch in signifikantem Maße Befremden auszulösen ‒ und selbst wenn es gelingt, ist meist ein Déjà vu-Effekt unvermeidlich. Was das Hässliche anbelangt, kann ein von der 1994 verstorbenen Lee Godie geschaffenes Portrait als Beispiel dienen, das 2013 bei der Biennale im Rahmen der ›Outsider Art‹ ausgestellt wurde und was die melancholische Vorliebe für Untergang und Verwüstung anbetrifft, ein von Llyn Foulkes auf der documenta 13 präsentiertes Diorama einer verdorrenden kalifornischen Landschaft mit Zivi5
Vgl. Hughes (1980).
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lisationsmüll (Abb. 1). Befremdlich im Sinne des für den Einzelnen bedrohlich Erscheinenden wirkte hingegen z.B die pseudo-realistische Installation eines psychiatrischen Untersuchungslabors mit üppig verkabelten Geräten, Gummizelle, Dummies und viel Literatur über Geisteskrankheiten, die Thomas Zipp während der Biennale 2013 im Palazzo Rossini präsentierte. Vor allem auch Darstellungen wie die von Vann Nath realistisch wiedergegebene Folterverhörszene aus der Zeit der Diktatur der Roten Khmer in Kambodscha, die auf der documenta 13 zu sehen war, konnte einen das Gruseln lehren. Abbildung 1: Llyn Foulkes, The Lost Frontier, 1997-2005
Hammer Museum, Los Angeles
Um trotz aller Gewohnheit an Befremdliches doch noch eine schockierende Wirkung zu erzielen, wird im Extrem sogar auf die Ausstellung menschlicher Exkremente zurückgegriffen. Bei der Piero Manzoni-Ausstellung im Frankfurter Städel von 2013 mag die Ausstellung von dessen Exkrementen in Dosen als Verhöhnung des Kunstmarktes gedacht gewesen sein. Aber wenn im Feuilleton der FAZ unter der Überschrift »Künstlerscheiße in Dosen« zu lesen war, »Kunst ist, was ein Künstler gemacht hat – egal ob mit dem Pinsel oder seiner Körperbiologie«, fragt man sich schon, ob dem Kritiker die Absurdität seiner Formulierung bewusst war.6 Ganz sicher ernst gemeint sind jedenfalls die von dem spani6
FAZ 27.6.2013, S. 27.
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schen Performance-Künstler Santiago Sierra in der Sammlung Falckenberg der Hamburger Deichtorhallen im Herbst 2013 präsentierten großen Blöcke getrockneter menschlicher Exkremente aus Indien. Sie sollten, wie es hieß, auf die soziale Lage der dortigen Latrinenarbeiter aufmerksam machen. Da ist also Fremdes genug: Der Künstler ist aus Spanien, die Objekte stammen aus Indien und das massive Vorzeigen von Exkrementen ist wohl auch den meisten von uns fremd. Versehen mit einer politisch korrekten Botschaft ist das Ganze dann trendige Gegenwartskunst. Es handelt sich um Versuche, über zumindest vermeintliche Tabubrüche Aufsehen zu erregen. Doch das meiste, was heute ausgestellt wird, ist auf viel mildere Weise fremdartig. Nennen könnte man beispielhaft die auf der documenta 13 gezeigten, als Collage gleichzeitig existierender, aber radikal verschiedener Weltanschauungen und Wirklichkeiten gestalteten Wandbilder von Goshka Macuga oder die 2013 am Schloss von Versailles zu sehenden Baumskulpturen von Giuseppe Penone. Nicht nur gelegentlich taucht dabei die Frage nach der Grenze zwischen Kunst und Hobbyprodukten auf, z.B. beim Betrachten der vielen von dem Beamten Peter Fritz in der Tat als Hobby produzierten kleinen Modelle der verschiedensten Häuser, die zunächst im Trödel landeten, aber dann von Oliver Croy und Oliver Elser auf der Biennale als Kunstwerk präsentiert wurden. Um diese Grenze geht es ebenso, wenn Autobiographisch-Privates öffentlich gemacht und damit zum Kunstwerk erklärt wird – wie es z.B. bei einem auf der letzten documenta ausgestellten unscharfen Portrait einer Frau der Fall war, bei der es sich laut Begleittext um die Großmutter Buni Magda der Ausstellerin Ana Prvacki aus Serbien handelt. Auch wenn Alexander Tarakhovsky dort ein Video des wissenschaftlichen Prozesses einer DNA Sequenzierung von Genen im Angstzustand zeigte (Abb. 2), stellte sich die Frage nach einer Grenzziehung für die Kunst ‒ selbst wenn nicht zu bestreiten ist, dass wissenschaftliche Darstellungen ästhetisch ansprechend sein können. Unbedingt zu erwähnen ist außerdem noch, dass heute bei vielen Kunstwerken die Fremdheit darin besteht, dass sie aus für uns fremden Kulturen stammen, während ihre Wirkung im Gegensatz zur gegenwärtigen westlichen Kunstideologie oft ausgesprochen schön ist. Beispiele sind etwa ein ebenfalls auf der documenta 13 gezeigtes Gemälde des australischen Aborigine-Künstlers Warlimpirrnga Tjapaltjarri (Abb. 3), das in seiner subtil schillernden Farbgebung und seinen geometrischen Linien an ein vom Wind im Wüstensand geprägtes Muster erinnert oder das kürzlich auf der Biennale von der bolivianischen Künstlerin Sonia Falcone gezeigte Arrangement von Gewürzen in leuchtenden Farben.
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Abbildung 2: Alexander Tarakhovsky, Videostill aus DNA sequencing of genes affected by fear, 2012
Abbildung 3: Warlimpirrnga Tjapaltjarri, Tingari Men at Marawa, 2008 (Detail), 122 x 153 cm
© VG Bild-Kunst, Bonn 2016
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Wenn man versucht, sich über die Bedeutung des Fremden in der Ästhetik von Literatur und Kunst der Gegenwart klar zu werden, erscheint es hilfreich, zunächst den historischen Wandel im großen Rahmen zu betrachten. Vom Mittelalter bis zur Genieästhetik des 18. Jahrhunderts waren Literatur und Kunst in den religiösen, höfischen und bald auch bürgerlichen Bereich der Gesellschaft integriert und was geschätzt wurde, war das Schöne, das vor allem aus einer Variation des schon Bekannten bestand. Mehrere Jahrhunderte petrarkistischer Sonette, zahllose Darstellungen der Maria mit dem Kind und die vielen Portraits der Herrscher und reichen Bürger demonstrieren dies deutlich genug. Das Neue durfte nur wenig neuartig sein, um zu gefallen. Mit dem Geniekult und der Begeisterung für das Erhabene im 18. Jahrhundert wurde dies radikal anders. Dass sowohl das vom Originalgenie geschaffene absolut Neue wie das Erhabene als zunächst befremdlich erfahren wurden, musste in Kauf genommen werden, und mit dem Beginn der künstlerischen Moderne wurde die Fremderfahrung dann so sehr zur Grundlage von Literatur und Kunst, dass das Schöne und somit auch ein breites Publikum ausgeschlossen wurden. Die gebildete Schicht indes erkannte, dass das Experimentieren mit dem Ungewöhnlichen so interessant war, dass sich die Anstrengung lohnte, das anfängliche Befremden zu überwinden. Dies galt später auch für den Umgang mit dem erneuten Avantgardismus der Postmoderne, der mit dem Rückgriff auf populärere, bis dahin nicht als kunstfähig erachtete Darstellungsweisen, Genres und Objekte in einer Art »replenishment« die Sackgasse des als Zeichen von »exhaustion« gesehenen spätmodernen Formalismus und Minimalismus zu überwinden suchte.7 In einer späteren Phase der Postmoderne wurde die radikale Fremdartigkeit dann abgemildert und es entstand eine an die Ästhetik der Vormoderne erinnernde Ästhetik der Variation und subtilen Differenz. Bei den Autoren und Künstlern schwand immer mehr die Anxiety of Influence, die Furcht einer Nähe zum bereits Existierenden, aber zumindest eine Weile erschien den Kritikern dieser offene Rückgriff auf das schon Bekannte, auf zum Teil auch sehr traditionelle Darstellungsweisen als befremdlich, um nicht zu sagen abwegig.8 So weist z.B. Wittstock darauf hin, dass die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung noch 2007 besonders dafür gelobt wurde, dass sie einem exzellenten, aber stilistisch traditionellen Schriftsteller wie Martin Mosebach den Büchnerpreis verlieh und »damit die Grenzen der klassischen Moderne hinter sich gelassen habe«.9 Genauer wäre es wohl zu sagen, dass man sich damit am Ende jener Spätphase der Postmoderne befand, in der man zwar schon alle Stile nachahmen und variieren 7
Vgl. Barth (1967) & (1980).
8
Vgl. Bloom (1973).
9
Wittstock (2009), S. 110.
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konnte, nur nicht diejenigen aus der Zeit vor der Moderne. Von einem Wandel zu einer Ästhetik nach der Postmoderne würde man deshalb, zumindest was Deutschland anbetrifft, besser erst in Bezug auf die jüngste Gegenwart sprechen, in der es nicht nur – wie bereits zu Anfang vermerkt wurde – fast nichts gibt, was es nicht gibt, sondern in der traditionelle Darstellungsweisen wieder einen gewissen Reiz der Neuheit besitzen, nachdem sie so lange diskreditiert waren. Von den meisten Rezipienten werden sie wegen ihrer leichteren Zugänglichkeit ohnehin geschätzt. Dieser Prozess ist in der Literatur deutlich weiter fortgeschritten als in der bildenden Kunst. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Verlage daran interessiert sind, dass ihre Bücher bei möglichst vielen Lesern ankommen und hohe Auflagen erreichen. Weniger Fremdartigkeit und Sperrigkeit in der Darstellungsweise erscheint offenbar sehr willkommen, wobei dann das interessante Fremde in der dargestellten Welt gesucht wird. Die Galeristen und Kuratoren von Ausstellungen im Kunstbereich hingegen wollen offensichtlich weiterhin vor allem Aufsehen erregen. Vor allem möchten sie gerne selbst als kreative Regisseure agieren und suchen sich Künstler und Kunstwerke aus, die ein von ihnen selbst gewähltes, fast immer politisch korrektes, gesellschaftlich aktuelles, aber kaum je ästhetisch innovatives Konzept beispielhaft demonstrieren sollen. Und um überhaupt eine Chance zu bekommen, ausgestellt zu werden, folgen viele Künstler diesen aktuellen Trends, statt sie kritisch zu begleiten. Ein gutes Beispiel sind etwa die von Berlinde De Bruyckeres auf der Biennale 2013 präsentierten toten Baumstämme aus Wachs, die mit ihren Verbänden aus Decken die versehrte Natur darstellen sollen. Aber auch ein Künstler wie Ai Weiwei will nicht nur ästhetisch, sondern auch politisch wirken, wie zum Beispiel mit seinen ebenfalls in Venedig gezeigten vielen verrosteten Armierungseisen (Abb. 4), von denen man wissen muss, dass sie aus bei einem Erdbeben in der Provinz Sichuan zerstörten Schulen stammen, in denen viele Kinder umkamen, weil die Regierung diese Schulen schlecht gebaut hatte. Eine solche, radikalere Fremdartigkeit reduzierende Allegorisierung findet man heute fast überall dort, wo die Objekte selbst stärker befremdlich erscheinen. Den Kuben von Exkrementen in Hamburg wird das Provozierende zu nehmen versucht, indem sie für eine Anteilnahme am Schicksal indischer Arbeiter funktionalisiert werden. Das bedeutet, dass an die Stelle der demonstrativen Funktionslosigkeit autonomer Kunst, wie sie seit DADA in der frühen Moderne und vielen Happenings der frühen Postmoderne in provozierender Radikalität zelebriert wurde, nach der Postmoderne eine funktionale Indienstnahme der Kunst für meist politische, weltanschauliche, soziale oder ökologische Belange getreten ist.
72 | G RABES Abbildung 4: Ai Weiwei, Straight, Biennale Venedig 2013
Fotografie: Roman Mensing, artdoc.de
Damit erfolgt auch in dieser Hinsicht ein Rückgriff auf vormoderne Praktiken (vormodern im Sinne von vor der Ausbildung eines autonomen, selbstreferenziellen gesellschaftlichen Subsystems ›Kunst‹, wie es laut Luhmann im späten 18. Jahrhundert ausgebildet war). An die Stelle der vorherigen Indienstnahme der Kunst durch die Kirche, den Hof oder die reichen Bürger ist heute diejenige durch einflussreiche Galeristen, Direktoren großer Museen, Kuratoren wichtiger Ausstellungen und Verleiher von Preisen und Auszeichnungen getreten, die demonstrativ für ihre weltanschaulichen Ansichten missionieren und für die ästhetische Kriterien bestenfalls sekundär sind. Während man sich mokiert über die nationalsozialistische Arisierung der Kunst oder den kommunistischen Traktorrealismus, hält man es offenbar für fortschrittlich, auf jeden Fall für ›politically correct‹, wenn z.B. die European Environment Agency unter dem Titel »Abfall soll Kunst werden« einen »Waste smArt-Wettbewerb« initiierte.10
10 Vgl. Atelier 188 (2013), S. 8.
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Wie sehr heute die Politisierung des Kunstbereichs hierzulande fortgeschritten ist, kann man der Tatsache entnehmen, dass die politische Absicht einer einzelnen Kuratorin ausreichte, um sämtlichen deutschen Künstlern die Chance zu nehmen, bei der Biennale in Venedig 2013 ausgestellt und so international bekannt zu werden. Weil sie persönlich die Einteilung nach Nationen nicht gut fand, stellte Susanne Gaensheimer im deutschen Pavillon prinzipiell nur ausländische Künstler aus: »Nie war der deutsche Pavillon weniger deutsch. Die Kuratorin Susanne Gaensheimer unterzog ihn gleich einer zweifachen Entnationalisierung: Er findet diesmal im französischen Pavillon statt, und keiner der Künstler hat einen deutschen Pass«.11 Nur dass die Besucher wohl kaum dachten, »Deutschland ist jetzt ein Kosmopolit«, wie es ebenfalls in art spezial hieß, sondern eher, dass es offenbar gegenwärtig in Deutschland keine Kunstschaffenden gäbe, die man international vorzeigen könnte. Mit Ästhetik hat das Ganze jedenfalls primär nichts mehr zu tun, es sei denn, man interpretiert die Ästhetik des Fremden nun nur noch allzu oberflächlich als Ästhetik der Fremden. Da die Ästhetik des Fremden jedoch inzwischen die internationale Kunstszene beherrscht, macht das kaum noch einen Unterschied. Auch die Ästhetik der international hoch gehandelten Gegenwartskünstler aus der sogenannten Dritten Welt ist die des Fremden, eine Ästhetik, die ich (in Analogie zu Kants Konzeption der Ästhetik des Schönen als Symbol des SittlichGuten) als Symbol der flexiblen Differenz von Subjekt und Welt, Kultur und Natur interpretiert habe.12 Sie verlangt eine Überwindung spontaner Ablehnung des Fremden zugunsten einer Herausforderung eigener Problemlösungskompetenz und belohnt dies mit einer subjektiven Bewusstseinserweiterung. Bleibt die Frage nach dem Grund für die inzwischen über ein Jahrhundert andauernde Dominanz der Ästhetik des Fremden. Aus meiner Sicht gibt es für diese Persistenz vielfache Gründe. Aus philosophischer Sicht entspricht die Ästhetik des Fremden der epistemologischen Skepsis der Moderne, der ontologischen Skepsis der Postmoderne und in ihrer abgemilderten Form auch der pragmatischen Skepsis nach der Postmoderne. In psychologischer Hinsicht entspricht sie der empirischen Einsicht, dass einerseits das bereits Bekannte bald langweilt, andererseits das radikal Fremde starke Abneigung und sogar Aggressionen auslöst, während das nur etwas Fremde als interessant erfahren wird. Zudem bestätigt dieser Pragmatismus die neuere Auffassung, dass die Einheit des Subjekts nicht apriorisch gegeben ist, sondern angesichts äußerer wie innerer Erfahrung permanent neu hergestellt werden muss. Gemäß der Erkenntnisse der heutigen Neurowissenschaften wird: 11 art spezial Biennale Venedig (2013), S. 32. 12 Vgl. Grabes (2004).
74 | G RABES »etwas Neues, was erscheint, […] zunächst als ein Unbestimmtes gedacht. Dies wird gegenüber dem Bestimmten ausgegrenzt, gegen die Muster gesetzt, in denen sich die vormaligen Wahrnehmungen einschreiben konnten. Es ist so aber zugleich auch schon in ein Bestimmungsverhältnis eingebunden und so in seiner ersten negativen Kontur bestimmt. In dieser Zuordnung lässt es sich nun in seinem Anderssein immer weiter profilieren. So gewinnt es in der Relation zu dem ganz Anderen, dem weniger Fremden und dem dann doch im Anderen noch Analogen zusehends Profil. Es bindet sich ein und wird so Teil eines Gefüges der uns möglichen Relationen. Das zu Kennende weitet sich aus, das Fremde wird in seiner Fremdheit bekannt. Es entwickeln sich Raster, in denen das, was als Element erkannt ist, in einen Bezug genommen und im Bezug vereinnahmt wird. […] Dabei wird diese Fremde dann nicht einfach aufgesogen. […] Das Neue wird also nicht in ein starres Raster gesetzt, sondern verändert seinerseits zunächst lokal, aber – in einer Kaskadenwirkung – auch global das Gefüge des möglichen In-Bezug-Setzens.«13
In soziologischer, politischer und ethischer Hinsicht ist die Einübung in einen konstruktiven Umgang mit dem Fremden im Zeitalter der Migration ohnehin unverzichtbar und in anthropologischer Hinsicht ist eine Befähigung, die Differenz von Subjekt und Welt, Natur und Kultur als flexibel zu begreifen und sogar erleben zu können, evolutionär klar von Vorteil. Dennoch ist zu begrüßen, dass die moderne und postmoderne Ächtung des Schönen nachzulassen beginnt – jene arrogante intellektuelle Verachtung für das emotionale Bedürfnis nach dem, was nach Kant »directe ein Gefühl der Beförderung des Lebens bei sich führt«, ohne weitere Anstrengung und Überwindung von Fremdartigkeit.14 Wie die neuronale Ästhetik als Wissenschaft der Wahrnehmung zeigen konnte, haben wir seit frühester Kindheit in unserem Gehirn Wahrnehmungspräferenzen aufgebaut, und nach Breidbach werden »bestimmte Reizkombinationen […] schlicht bevorzugt. […] Es bestünde die Möglichkeit, […] dass das Schöne eine bestimmte Art der Kombinatorik einer bestimmten Art von Sinnesqualitäten darstellt«.15 Dies erklärt zugleich, weshalb »in verschiedenen Kulturen Unterschiedliches als schön empfunden wird« und so lässt sich das Verlangen nach dem Schönen wohl nur innerkulturell befriedigen.16 Allerdings ist das Verhältnis der Kulturen untereinander dynamisch – umso mehr in einer Zeit verstärkter gegenseitiger Berührung ‒ und somit auch (wie etwa die große Verbreitung westlicher Musik zeigt) eine Wandelbarkeit der Wahrnehmungspräferenzen gegeben. Insbesondere die »Kunst ist ein fortlaufendes In-Frage-Stellen 13 Breidbach (2013), S. 224f. 14 Kant (71990), S. 88. 15 Breidbach (2013), S. 63. 16 Ebd., S. 61.
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der Kategorien unserer Selbstversicherung« und sogar der Basis unserer emotionalen Reaktionen.17 Die Grenze zwischen dem als befremdlich Empfundenen und dem als schön Wahrgenommenen erscheint somit fließend, was in theoretischen Überlegungen im Bereich der Ästhetik nicht außer Acht gelassen werden sollte. In meiner Darstellung der Ästhetik des Fremden habe ich dies in einem Schema zu zeigen versucht.18 Was sich nach der Postmoderne beobachten lässt, vor allem in der Literatur, ist eine deutliche Verschiebung des Schwerpunkts vom zunächst unverständlich Erscheinenden zum nur noch Irritierenden und zuweilen fast, aber nur fast, Schönen. Damit wird der Bereich der Ästhetik in der Zeit nach der Postmoderne nicht unerheblich ausgeweitet und beginnt nach mehr als einem Jahrhundert von der Einengung auf das Schockierende befreit zu werden.
L ITERATUR Adler, Hans/Wolff, Lynn L. (Hrsg.) (2013): Aisthesis und Noesis. Zwei Erkenntnisformen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München: Fink. art. August 2013, Hamburg: Gruner + Jahr. art spezial Biennale Venedig 2013, Hamburg: Gruner + Jahr. Atelier. Zeitschrift für Künstlerinnen und Künstler, August/September 2013, Köln: Atelier. Barth, John (1967): »The Literature of Exhaustion«, in: Atlantic Monthly, August 1967, S. 29-34. Ders. (1980): »The Literature of Replenishment. Postmodernist Fiction«, in: Atlantic Monthly, Januar 1980, S. 65-71. Bennett, Vanora (2009): »Wolf Hall by Hilary Mantel«, in: The Times, 25. April 2009. Bloom, Harold (1973): The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. Oxford: Oxford University Press. Breidbach, Olaf (2013): Neuronale Ästhetik. Zur Morpho-Logik des Anschauens. München: Fink. Danto, Arthur (1981): The Transfiguration of the Commonplace. Cambridge: Harvard University Press.
17 Ebd., S. 215. 18 Vgl. Grabes (2004), S. 12.
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Derrida, Jacques (1992): »This Strange Institution Called Literature. An Interview with Jacques Derrida«, in: Attridge, Derek (Hrsg.), Jacques Derrida. Acts of Literature, New York: Routledge, S. 33-75. dOCUMENTA 13. Das Begleitbuch / The Guidebook (2012), Ostfildern: Hatje Cantz. Grabes, Herbert (2004): Einführung in die Literatur und Kunst der Moderne und Postmoderne. Die Ästhetik des Fremden. Tübingen und Basel: A. Francke. Hughes, Robert (1980): The Shock of the New. Art and the Century of Change, London: British Broadcasting Corporation. Jauß, Hans Robert (Hrsg.) (1968): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. Poetik und Hermeneutik III., München: Fink. Kant, Immanuel (71990): Kritik der Urteilskraft, Hamburg: Felix Meiner. Kennedy, Al (2007): »The Gathering by Anne Enright«, in: The Guardian, London, 28. April 2007. Nunius, Sabine (2009): Coping with Difference. New Approaches in the Contemporary British Novel (2000-2006), Münster: LIT. Sprenger, Mirjam (1999): Modernes Erzählen. Metafiktion im deutschsprachigen Roman der Gegenwart, Stuttgart: Metzler. Wittstock, Uwe (2009): Nach der Moderne. Essay zur deutschen Gegenwartsliteratur in zwölf Kapiteln über elf Autoren. Göttingen: Wallstein.
Fremderfahrungen in der Kunst Vom Exotismus und Orientalismus zur Kreolisierung und Hybridisierung M ARITA R AINSBOROUGH
D IE F ASZINATION /ABLEHNUNG IN DER K UNST
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Die Faszination des Fremden wie auch Vorurteile, Angst und Ablehnung des Fremden spiegeln sich in der Kunst z.B. im Bild des ›guten‹ und ›bösen Wilden‹ fremder Kulturen wie auch in der Auseinandersetzung mit dem Fremden in der eigenen Kultur. Der Umgang mit Fremdheit ist einem ständigen Wandel unterlegen und spiegelt sich sowohl im theoretischen Umgang mit Kunst im kunstwissenschaftlichen und/oder kunstgeschichtlichen Rahmen und der künstlerischen Praxis. Dies wird auch in den Kunstwerken selbst deutlich. Es lassen sich insbesondere die Konzepte Exotismus, Orientalismus, Kreolisierung und Hybridisierung bzw. Kreolität und Hybridität als Formen theoretischer Durchdringung in der Kunst konstatieren. Es soll in diesem Kontext der Frage nachgegangen werden, welche Arten von Fremdheit sich in den Konzepten vom Exotismus bis zur Hybridität in entsprechenden künstlerischen Konzepten und künstlerischen Inszenierungen ausmachen lassen. Außerdem sollen die aktuellen Konzepte der Fremderfahrung1 in der Kunst in Bezug auf ihre Implikationen, ihren emanzipa1
Waldenfels (62013), S. 13: »Beim Übergang von der individuellen zur kulturellen Fremderfahrung, der sich hier vollzieht, geht es nicht um bloße Erweiterung oder Vervielfältigung persönlicher Erfahrungen, als bedeute Interkulturalität eine Intersubjektivität im Großen. Vielmehr geht es darum, den Zusammenhang zwischen Mikroerfahrungen und Makrostrukturen vom Phänomen des Fremden her neu zu durchden-
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torischen Gehalt und möglichen Gewinn gegenüber den Konzepten von Exotismus und Orientalismus untersucht werden. Hinsichtlich des progressiven Potenzials der Hybridität als aktueller Form des Umgangs mit dem Fremden im Allgemeinen konstatiert Ha: »Die Hybridisierung selbst wird zum Synonym für das Bahnbrechende und Revolutionäre.«2 Ha stellt fest, dass Hybridität diese Erwartungen zumeist nicht erfüllen kann und in seiner kritischen Reflexion der Hybridität heißt es: »Die Hoffnung, durch nicht festlegbare in between-Kategorien hegemoniale Konzepte und gesellschaftliche Machtverhältnisse zu hinterfragen und zu destabilisieren, erweist sich in ihrer gesellschaftlichen Modernisierungswirkung als durchaus inkorporierbar. Nicht zuletzt können die transformativen Effekte der Hybridisierung affirmativ im Rahmen des Bestehenden verbleiben und müssen nicht notwendigerweise die Grenzen zwischen Dominanzen und Marginalitäten überschreiten.«3
Diese Einschätzung lässt sich auch auf das Konzept der Kreolität bzw. Kreolisierung übertragen.4 Huggan konstatiert darüberhinaus neue Formen des Exotismus – von Beyme spricht von »glomanticism« –, die mit den Prozessen der Globalisierung in Zusammenhang stehen, denen auch kulturelle Felder unterworfen sind.5 Huggan betont diesbezüglich die Momente »the aesthetics of decontextualisation and commodity fetishism«.6 Gilt nun diese kritische Einschätzung der Autoren gleichermaßen für die zeitgenössische Kunst im Bereich der Fremderfahrung oder gelingt es der Kunst, das emanzipatorische Potenzial der Begriffe Kreolisierung und Hybridisierung zu retten? Kann Kunst Autonomie bewahren und sich allgemeinen gesellschaftlichen Tendenzen entziehen? Des Weiteren soll untersucht werden, ob die Erfahrung von Fremdheit in der zeitgenössischen Kunst, in der die Kunst selbst oft zum Fremden wird und für den Kunstrezipienten zunehmend per se eine Fremderfahrung darstellt, nur noch im Sinne einer ken, und zwar derart, daß der Status der Subjekte und Kulturen mit in Frage steht.« Waldenfels unterscheidet zwischen alltäglicher, struktureller und radikaler Fremdheit. Vgl. ebd., S. 205. Nach ihm »geht die Fremderfahrung von einem fremden Anspruch aus, der unserer Eigeninitiative zuvorkommt.« Ebd., S. 14. 2
Ha (2005), S. 40.
3
Ebd., S. 16.
4
Glissant präferiert den Begriff Kreolisierung gegenüber Kreolität, da jener den Prozesscharakter betont.
5
Beyme (2008), S. 177: »Dieses Phänomen ist inzwischen als ›glomanticism‹ bezeichnet worden, eine verhängnisvolle Verbindung von Globalität und Romantik.«
6
Vgl. Huggan (2001), S. 16.
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allgemeinen ästhetischen Eigenschaft oder Ausdrucksqualität von Kunstwerken verstanden werden kann − in einer Entwicklung vom Fremden in der Kunst zur Kunst als Fremden im Sinne einer Auflösung des Fremden im Kunstfremden.
D ER H YPE
UM
K REOLITÄT
UND
H YBRIDITÄT
Ha konstatiert einen Hype in Bezug auf das Phänomen der Hybridität7 im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs, was in abgeschwächter Weise gleichermaßen für das Konzept der Kreolisierung gilt. Ha fragt: »Warum wird Hybridität als das Novum schlechthin verkauft, obwohl sie ganz offensichtlich über eine lange, wenn auch verschüttete Kulturgeschichte verfügt? Und warum ist ausgerechnet dieser Begriff gegenwärtig so dominant und sexy, obwohl er bis vor wenigen Jahren nur ein angestaubter Fachterminus in der Biologie war?«8
In diesem Zusammenhang geht Ha auf den technischen Terminus Hybridität im Rahmen naturwissenschaftlich-technischer Diskurse ein. Auf der Basis einer weiten diskursiven Verbreitung in diesem Bereich, seiner Ausstrahlungskraft auf andere Diskurse und der zentralen Stellung des Begriffs in verschiedenen kulturellen Diskursen kommt er zu dem Schluss, dass Hybridität »als kulturalistisches Überbauphänomen bzw. als Idiom spätkapitalistischer Produktions- und Verwertungszusammenhänge den Stellenwert einer postmodernen Metanarration einnimmt.«9 Und weiter: »Es scheint, dass Hybridisierung zu einem allgemeinen Entwicklungstrend wird, der zunehmend weitere Bereiche erfasst und sich universalisiert. In diesen Kontexten wird Hyb-
7
Graness/Schirilla (2001), S. 5: »Nach einem langen Entwicklungsprozess hat sich eine Schwerpunktbildung zum Begriff der Hybridität herausgeschält, ein Begriff, der im Rahmen der Postkolonialismustheorien zu einem Schlüsselbegriff geworden ist.« Zur Begriffsgeschichte und zur Abgrenzung von Begriffen wie Kreolisierung und Synkretismus vgl. Fludernik/Nandi (2001), S. 7-24. Es geht in diesem Konzept auch um die Entwicklung zwischenmenschlicher Solidarität. Ha formuliert in diesem Zusammenhang die Frage: »Wie ist es möglich, die vielbeschworene Solidarität in der Vielfalt und nicht in einer erzwungenen Einheit zu finden?« Ha (2004), S. 17.
8
Ha (2005), S. 39.
9
Ebd., S. 40.
80 | R AINSBOROUGH ridisierung zum Code erfolgversprechender Modelle und Technologien stilisiert und als Hoffnungsträger des technisch-zivilisatorischen Fortschritts gehandelt.«10
Ha stellt fest, dass es seit den 90iger Jahren zu einem explosionsartigen Anstieg der Verwendung des Begriffs in diskursiven Formationen gekommen ist. Mit dem Begriff wird Offenheit, Kombinierbarkeit, Kreativität und Modernität verbunden, die mit ihm angedachte Vermischung wird mit Fortschritt assoziiert. »Konträr zur vorherrschenden Auffassung wird im Hybriddiskurs die Vereinigung von Gegensätzen und Differenzen nicht negiert oder nur als theoretische Option erachtet, sondern experimentell erprobt und normativ fundiert.«11 Ha kommt zu dem Schluss: »So scheint auch das Hybridkonzept als allgemeines Sinnbild in der postmodernisierten Moderne für das Herannahen einer neuen Epoche zu stehen.«12 Bhabha macht die Kategorie der Hybridität in seiner Konzeption des third space zur kulturellen Metapher eines veränderten Umgangs mit Fremdheit. Hinsichtlich des Konzepts der Kreolität lässt sich ein vergleichbarer Hype im aktuellen kulturtheoretischen Diskurs konstatieren, verbunden mit neuartigen Erfahrungen im künstlerischen und lebensweltlichen Bereich in einer globalen Welt mit einer Faszination für neuartige Vermischungen. In diesem Konzept wird das Phänomen sprachlicher Mischformen, der Kreolsprachen, auf kulturelle, soziale und politische Gegebenheiten übertragen. Fremderfahrung wird als Kombinatorik und Vermischungsprozess von Andersartigem aufgefasst, in dem neue Formen entstehen, mit einer Präferenz für die Neukreation, in einem Prozess des Ineinander-Aufgehens. Es lässt sich beobachten, dass in der Kunsttheorie, Kunstgeschichte und im praktischen Schaffen der Künstler keine grundsätzlich andersartige Konzeption von Kreolität und Hybridität als im allgemeinen kulturwissenschaftlichen Diskurs vorliegt. Entsprechend der großen Bedeutung von Materialien, Medien, symbolischen Codes und mit ihnen verbundenen sinnlichen, emotionalen und kognitiven Erfahrungen wird das kombinatorische Element in diesen Bereich verlegt. So fällt das Kombinieren verschiedener Materialien, Medien, Genres und synästhetische Erfahrungen im Visuellen, Klanglichen, Haptischen u.a. in multimedialen Rauminstallationen auf. Als Beispiele dieser Ausrichtung hinsichtlich des Aspekts von Fremderfahrung kann insbesondere das Zusammenbringen verschiedener kultureller Erfahrungsräume mit interkulturellen, ethnografischen, geografischen oder auch politischen Vermischungen – oft in Form von Kooperation, Austausch und räumlich getrennter Erscheinungs10 Ebd., S. 40. 11 Ebd., S. 47. 12 Ebd., S. 51.
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weisen der künstlerischen Konzepte und/oder Produkte – in verschiedenen Medien und ihren Kombinationen angesehen werden. Diese spiegeln philosophische Konzepte, Phänomene der gesellschaftlich-politischen und ökonomischen Situation im globalen Kontext wie auch interkulturelle Differenzen aus unterschiedlichen religiös-kulturellen Lebensweisen der Menschen und die Auseinandersetzung mit dem Fremden.
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IM
E XOTISMUS
Das Phänomen des Exotismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzt zum einen die Faszination des Fremden bzw. eine Irritation durch das Fremde voraus und beinhaltet eine spezifische Form des eurozentristischen Blicks auf das Fremde in zumeist kolonialen Zusammenhängen und zum anderen stellt es eine Auseinandersetzung mit der eigenen Zivilisation und den mit ihr verbundenen Entsagungen dar, was insbesondere an der Beeinflussung der europäischen Kunst durch fremdländische Elemente und der gestalterischen Umsetzung der Fremderfahrung sichtbar wird.13 Segalen spricht von einer Ästhetik des Diversen. Sie kann als ein Konzept der Rezeptionsästhetik betrachtet werden, in dem mittels der Sinnenerfahrung von Fremdem ein Gefühl der Überraschung ‒ im Hinblick auf z.B. historische, geografisch/räumliche oder kulturelle Formen ‒ entsteht. Die spezifische Erfahrung des Exotischen betrifft demnach u.a. sowohl das Naturschöne als auch das Kunstschöne und wird von ihm als besonderer Typus der Erfahrung bzw. Fähigkeit angesehen, mit der auch eine Erfahrung des Selbst verbunden ist: »Die Fähigkeit, anders aufzufassen.«14 Dieses Gefühl bedeutet kein Aufgehen im Anderen, sondern ist gerade mit einer besonderen Erfahrung der Individualität und des Andersseins des Betrachters verbunden: »Möglicherweise ist einer der Charakterzüge des Exoten die Freiheit: die Freiheit gegenüber dem Objekt, das er beschreibt oder empfindet, jedenfalls in jener
13 Nach von Beyme hat der Exotismus schon eine längere Geschichte, da er schon in der Kunst von Dürer, Velázquez, Rubens und Rembrandt zu beobachten sei. Der Begriff sei 1599 zum ersten Mal gebraucht worden. Vgl. Beyme (2008), S. 7f. 14 Segalen (1983), S. 41: »Bei dem Wort ›Ästhetik‹ halte ich mich an den fest umrissenen Sinn einer genau umgrenzten Wissenschaft, den ihm die berufsmäßigen Denker aufgezwungen haben. Es ist die Wissenschaft vom Anblick und zugleich von der Hervorhebung der Schönheit des Augenblicks; es ist das wundervollste Mittel der Erkenntnis.«
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letzten Phase, wenn er sich ihnen entzogen hat.«15 Zum Bezug von Kolonialismus und Exotismus heißt es bei Segalen: »Das ›Koloniale‹ ist exotisch, aber der Exotismus geht weit über das Koloniale hinaus.«16 Segalen versucht demnach, eine allgemeine Ästhetik der Erfahrung des fremden Anderen zu erstellen. Als künstlerisches Beispiel seiner Konzeption nennt er insbesondere Paul Gauguins Bilder von Tahiti, die die Erfahrung des Exotischen zeigen. Die Ästhetik des Diversen wird malerisch umgesetzt in der flächigen, das Dargestellte zumeist in komprimierter, zentrierter Form arrangierenden Bildkomposition, der besonderen Farbwahl, dem unmittelbaren, emotiven Farbauftrag und der spezifischen Thematik. So wird die Erfahrung des Exotischen, das besondere Gefühl der Andersartigkeit für den Betrachter umgesetzt und auch ihm die Erfahrung des Exotischen ermöglicht. Abbildung 1: Paul Gauguin, Vairumati, 1897
Paris, Musée dʼOrsay, 73 x 94 cm
Nach Graham Huggan lässt sich Exotismus als ästhetisierender Prozess der Angleichung des Fremden an das Vertraute definieren. Damit ist, wie er unter Bezug auf Ahmad feststellt, zumeist auch ein Prozess der Fetischisierung ggf. mit einer Erotisierung verbunden.17 Es kann in diesem Zusammenhang von einer Domes-
15 Ebd., S. 61. 16 Ebd., S. 110. 17 Vgl. Huggan (2001), S. 10. Es lässt sich außerdem beobachten, »›daß männliches Begehren so durchgängig und systematisch mit Projektion und Kontrolle verbunden
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tizierung des Fremden und einer Angleichung des fremden Zeichensystems an das Bekannte und Verständliche gesprochen werden. Das Fremde wird in diesem Prozess aber nicht vollständig neutralisiert, sondern behält die Potenz des Überraschenden.18 Des Weiteren konstatiert Huggan dessen Ausbeutung legitimierende Funktion. »For the exotic is not, as is often supposed, an inherent quality to be found ›in‹ certain people, distinctive objects, or specific places; exoticism describes, rather, a particular mode of aesthetic perception – one which renders people, objects and places strange even as it domesticates them, and which effectively manufactures otherness even as it claims to surrender to its immanent mystery. The exoticist production of otherness is dialectical and contingent; at various times and in different places, it may serve conflicting ideological interests, providing the rationale for projects of rapprochement and reconciliation, but legitimising just as easily the need for plunder and violent conquest.«19
Die politischen Implikationen werden dabei zumeist nicht sichtbar: »Exoticism describes a political as much as an aesthetic practise. But this politics is often concealed, hidden beneath layers of mystification.«20 Im Prozess der Exotisierung wird der Fremde angeblickt, aber nicht als den Blick erwidernd verstanden, wodurch hierarchische Machtbeziehungen kreiert bzw. erhalten werden. Diese implizite Machttechnik des exotischen Blicks muss ‒ in politisch strukturierten Gesamtzusammenhängen positioniert ‒ als wesentliches, Machtrelationen zugrundeliegendes Moment betrachtet werden: »The exoticist rhetoric of fetishised otherness and sympathetic identification masks the inequality of the power relations without which the discourse could not function. In the imperial context, as Jonathan Arac and Harriet Ritvo have suggested, this masking involves the transformation of power-politics into spectacle.«21
Das ästhetische Spektakel steht im Zentrum des Exotismus. Huggan spricht in diesem Zusammenhang ergänzend von einer Ästhetik der Dekontextualisie-
ist‹.« Schmidt-Linsenhoff (1997), S. 12. Schmidt-Linsenhoff zitiert Ruth Noack, die in diesem Zusammenhang auf Kaja Silverman zurückgreift. 18 Huggan (2001), S. 14: »But to domesticate the exotic fully would neutralise its capacity to create surprises, thereby integrating it‚ into the humdrum of everyday routines.« 19 Ebd., S. 13. 20 Ebd., S. 14. 21 Ebd.
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rung.22 Das Fremde wird im ästhetischen Erleben aus seinen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen gelöst. Somit erhält die Auseinandersetzung mit dem Exotismus bei Huggan eine kritische Konnotation und wird mit Verschleierung, Ausblendung und Negierung von Ausbeutung in Zusammenhang gebracht. Saids Diskursanalyse des Orientalismus beschreibt das Phänomen der diskursiven Konstruktion des orientalischen Fremden und eine Genealogie der westlichen Normalisierungsmacht ausgehend von Gramscis Hegemoniebegriff und Foucaults archäologischem Diskurs- und genealogischem Machtbegriff, wobei Said im Unterschied zu Foucault allerdings auf den prägenden Einfluss von einzelnen Texten und Autoren besteht, eines Konstrukts bzw. einer Diskursformation, die historisch betrachtet im späten 18. Jahrhundert ihren Ausgangspunkt hat und insbesondere im 19. Jahrhundert erstarkt.23 Im Unterschied zum Exotismus als ästhetisierendem Verfahren der Dekontextualisierung ist der Orientalismus nach Said ein Macht-Wissen-Komplex, in dem die geografische Zone des Orients in Abgrenzung vom Okzident in wissenschaftlicher Forschung, in geografisch-landschaftlichen, gesellschaftlichen und psychologischen Betrachtungen und Detailstudien und in philologischen Untersuchungen u. a. anwendbares Wissen schafft. Auch künstlerische Aktivitäten wie insbesondere Malerei und Literatur sind in diesen Prozess involviert.24 Mit diesem Prozess sind oft Tendenzen der Romantisierung und Zivilisationskritik verbunden, was auch in der bildnerischen Auseinandersetzung mit dem Orient deutlich wird. Ein Beispiel dafür sind die Werke von Jean-Léon Gérôme (1824–1904), in denen z.B. landschaftliche Szenerien, Dorf- und Stadtansichten oder Haremsszenen in einer romantisierenden Bildsprache gezeigt werden. Bei Said heißt es: »Der Orientalismus entsprach stets mehr der ihn gebärenden Kultur als seinem vermeintlichen, ja ebenfalls vom Westen hervorgebrachten Gegenstand; daher ist seine Entwicklung sowohl durch eine innere Logik als auch durch komplexe Beziehungen zur Ursprungskultur geprägt.«25
22 Ebd., S. 16. 23 Said bezieht sich insbesondere auf Studien über den Orientalismus aus Frankreich, England und Amerika, er vernachlässigt die deutsche Forschung zum Thema. Vgl. Said (22010). Inzwischen liegt eine kritische Debatte über Saids Forschungsergebnisse vor und es wurde ein sogenannter New Orientalism entwickelt. Vgl. dazu Schnepel u.a. (2011). 24 Ein literarisches Beispiel stellt Goethes West-östlicher Divan dar. 25 Said (22010), S. 33.
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Abbildung 2: Jean-Léon Gérôme, Badende am Fluss, 1893
Collection Najd, 49 x 74 cm
Das Orientalische als Sinnbild des Fremden, als das Andere par excellence, steht dem Okzident gegenüber, wobei der Okzident insbesondere Vernunft symbolisiert, der Orient dagegen Unvernunft. Die Konstruktion des Anderen hängt in entscheidender Weise auch mit der Konstruktion der eigenen europäischen Identität zusammen, die in Abgrenzung vom Orientalen konstituiert wird. Der Orientalismus ist dabei nicht unabhängig von der Geschichte des europäischen Kolonialismus zu denken. Saids Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Orientalismus ist in die postkoloniale Theoriediskussion ‒ oft auch in kritischer Form ‒ integriert worden. Orientalismus und Exotismus müssen dabei vielfach zusammengedacht werden ‒ als sich ergänzende Phänomene.
K REOLISIERUNG
UND K UNST – K ONZEPT UND DER DOCUMENTA 11 UND Y INKA S HONIBARE
K UNST
Seit den Postavantgarden der 1970er Jahre lässt sich endgültig von der Tendenz zur Überwindung von Exotismus und Orientalismus als Konzepten der Erfahrung des Fremden sprechen. Ausgehend von den Begriffen der Kreolisierung und der Hybridität wird Fremdheit, auch in der zeitgenössischen Kunst, neu gedacht.26 Insbesondere die Diskurse der Postmoderne und des Postkolonialismus
26 Hinsichtlich dieser Begriffe im lateinamerikanischen Kontext verweisen Gugenberger und Sartingen auf das Konzept der Transkulturalität des Kubaners Fernando Ortiz, das der Négritude von Aimé Césaire, der Antillanité von Édouard Glissant, der Creolité
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liegen dieser Wandlung der Konzeptionen und ihrer künstlerischen Inszenierungen zugrunde. Beispiele dafür sind Ausstellungen wie Magiciens (1989) in Paris, Inklusion (1996) in Köln und Graz und Kunstwelten (2000) in Köln. Auch einige Programme der Lyoner Biennale für zeitgenössische Kunst und der Documenta spiegeln diese Entwicklung, insbesondere das der Documenta 11 (2002). Es lassen sich Neuperspektivierungen des métissage-Begriffs in der postkolonialen Theoriediskussion beobachten. Kreolisierung, ein von Anthropologie und Linguistik geprägter Begriff, lässt sich als ein spezifisches Konzept des Umgangs mit dem Fremden ansehen, das die Bedeutung von Vermischungen und Neukombinationen für gesellschaftliche Prozesse, Identitätskonstruktionen und individuelle Verortungen betont. Kreolisierung als kulturelles Konzept wird heute zumeist ausgehend von Glissant verstanden, als »Denkfigur [...], die auf kulturelle Berührung, Begegnung, Vermischung oder wechselseitige Transformation differenter Kulturen zielt und die eine enge Verbindung zum Konzept der Kreolität und zum Begriff der Hybridität aufweist.«27 Bei Glissant heißt es: »Ich behaupte also, daß die Welt sich kreolisiert.«28 Verbunden damit ist ein Konzept der Gleichrangigkeit aller Kulturen: »Denn Kreolisierung bedeutet, daß die in Kontakt gebrachten kulturellen Elemente unbedingt als ›gleichrangig‹ gelten müssen, sonst kann die Kreolisierung nicht wirklich stattfinden.«29 Und weiter: »Die Kreolisierung verlangt die wechselseitige Wertschätzung der heterogenen Elemente, die zueinander in Beziehung gesetzt werden, das heißt, daß in Austausch und Mischung das Sein weder von innen noch von außen herabgesetzt oder mißachtet wird. Warum spreche ich von Kreolisierung und nicht von Vermischung? Weil die Kreolisierung unvorhersehbar ist, während man das Ergebnis einer Mischung absehen könnte.«30
Das Konzept der Kreolisierung wird ‒ ausgehend von einer post/kolonialen Situation ‒ gleichzeitig als Überlebensstrategie angesehen und erhält somit eine existenzielle Bedeutung.31 Kreolität ist u.a. deshalb nicht mit Hybridität gleichzusetzen.
von Patrick Chamoiseau, Jean Barnabé und Raphaël Chamoiseau und auf das Buch des Anthropologen Néstor García Canclini Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad (1990). Vgl. Gugenberger/Sartingen (2011), S. 7f. 27 Müller/Ueckmann (2013), S. 9. 28 Glissant (2005), S. 11. 29 Ebd., S. 13. 30 Ebd., S. 14. 31 Vgl. Müller/Ueckmann (2013), S. 10.
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»Doch neben der Problematik nach dem Umgang mit multiplen traumatischen Erfahrungen für das kollektive und kommunikative Gedächtnis auf vier Kontinenten (Afrika, Amerika, Europa und Asien) geht es bei der Kreolisierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts konsequent um die – auch für Europa – drängende Frage, wie kulturelle Differenz zu fassen ist, ohne in Essentialismen oder in bloßen Multikulturalismus, d.h. einem Nebeneinander von Kulturen mit dem Ziel einer Festlegung von kultureller Vielfalt, zurückzufallen.«32
Für die Documenta 11 entwickelte Okwui Enwezor ein Ausstellungskonzept, das den Aspekt der Kreolisierung in den Mittelpunkt stellte, was sich in der Strukturierung der Ausstellung mit ihren verschiedenen Plattformen in fünf Kontinenten, der theoretischen Fundierung und der Auswahl der Künstler und Kunstwerke spiegelte.33 Der auf der Documenta 11 vertretene britisch-nigerianische Künstler Yinka Shonibare (geb. 1962) z.B. möchte in seiner Kunst in verschiedenen Medien ‒ in Installationen, Malereien, Fotografien, Performances oder Filmen ‒ die Beziehung zwischen Afrika und Europa in ökonomischer, politischer und historischer Hinsicht künstlerisch inszenieren. Er schreibt sich mit seiner Kunst in den postkolonialen Dialog ein, indem er die Frage nach der individuellen wie kollektiven Identität der Kolonialisierten wie der ehemaligen Kolonialherren thematisiert, gerade auch im Hinblick auf westliche Kunst- und Literaturgeschichte in ihrer Bedeutung für Identitätsfragen. Seine auf der Documenta 11 als Installation gezeigte Landpartie des 18. Jahrhunderts Gallantry and Criminal Conversation (2002), in der die Personen in historischen Kostümen aus afrikanischen Stoffen bekleidet sind, kann dafür als Beispiel gelten.34 Die zumeist in Paaren aus Mann und Frau arrangierten lebensgroßen, kopflosen Figuren und die von der Decke hängende historische Kutsche in grün sind auf bzw. über einem weißen Podest situiert.
32 Ebd., S. 12. 33 Hoffmann (2013), S. 407: »Der Kunstbegriff begründet sich folglich auch im Rahmen der elften Documenta immer noch über einen autonomen Status der Werke. Autonomie stellt sich jedoch als historisch variabel dar, hat keinen essentialistischen Status und muss in Abhängigkeit zum jeweiligen Kunstobjekt beschrieben werden.« Weiter konstatiert sie ein Festhalten an dem Anspruch der Originalität eines Werkes. Vgl. ebd., S. 409. Darüber hinaus stellt Hoffmann eine Verschiebung vom identitätslogischen zum differenzlogischen Denkmodell fest, beobachtet Entgrenzungstendenzen und ein Abrücken von einem homogenen Deutungsmodell der Kunstgeschichte im Sinne ihrer Pluralisierung. Vgl. ebd., S. 408 & 411f. 34 Die Installation besteht aus einer Pferdekutsche, Koffern, elf Puppen (ohne Kopf), Kostümen.
88 | R AINSBOROUGH Abbildung 3: Yinka Shonibare, Gallantry and Criminal Conversation, 2002
© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 Fotografie: Werner Maschmann
Die gezeigten Szenen haben deutlich einen erotisch/sexuellen Charakter, sodass insbesondere Sexualität und Erotik in den Fokus der im Kunstwerk evozierten Fremderfahrung rückt. Der Kontrast zwischen Kostümschnitt und Stoff in der afrikanisierten Kleidung symbolisiert z.B. die ökonomische Ausbeutung der afrikanischen Kolonien und die Problematisierung der Idee der Ursprünglichkeit einer Kultur. Die Stoffe mit afrikanischen Mustern und Farben sind niederländischen Ursprungs und werden im sogenannten ›wax-print‹-Verfahren aus Baumwollgewebe hergestellt. Deutlich wird hier nach Shonibare, dass Kultur als künstliches Konstrukt der Vermischung angesehen werden muss. Shonibares Kunstschaffen, das gleichermaßen als intervisueller und darüber hinaus auch als transvisueller Dialog mit der Kultur-, Literatur- und Kunstgeschichte im post/kolonialen Zusammenhang – auch hinsichtlich des Zusammenhangs von Macht und Begehren – anzusehen ist, thematisiert die Auseinandersetzung mit der Frage nach den Mischformen der Kulturen – den kreolisierten Kulturen. Das kombinatorische Moment der Kunst von Shonibare ist im Sinne einer Kreolisierung aufzufassen, wobei in seinem Kunstschaffen die Frage nach kulturellen Codes im Zusammenhang mit Dominanz und Herrschaft in der post/kolonialen
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Kultur thematisiert wird. Kreolisierung wird im Hinblick auf den Aspekt der Macht gedacht und künstlerisch inszeniert.
D AS D AZWISCHEN DES H YBRIDEN IN DER K UNST − S HIRIN N ESHAT UND K EHINDE W ILEY Nach Bhabha führen die zunehmend transkulturellen Lebensräume der Menschen zu Hybridisierungen in Zwischenräumen35, wobei im Unterschied zum Konzept der Kreolisierung das Differente beibehalten wird und sich nicht in der Mischform auflöst. Bhabha setzt dabei insbesondere auf das Respektieren des Anderen in seiner Andersartigkeit und das Aushalten von Diskrepanzen und Widersprüchen: »in that productive space of the construction of culture as difference, in the spirit of alternity or otherness.«36 Hybridität macht bei ihm den grundsätzlichen Charakter von Kultur aus: »then we see that all forms of culture are continually in a process of hybridity.«37 Sein Theorem der Hybridität, nach dem sich ein third space als Aushandlungsort des Differenten im Kulturellen und Gesellschaftlich/Politischen ergibt, setzt das Verständnis von Kultur als permanente ›Translation‹ voraus, in der sich die Frage nach dem ›Original‹ erübrigt: »The ›original‹ is never finished or complete in itself.«38 Das Dazwischen kann in der Kunst unterschiedliche Formen annehmen, so z.B. das Spiel mit traditionellen Kunstformen, einer klassischen Bildersprache und künstlerischen Motiven in der Konfrontation mit neuen Inhalten − als Hybridität in der Kunst. Die aus dem Iran stammende US-amerikanische Videokünstlerin, Filmemacherin und Fotografin Shirin Neshat39 (geb. 1957) kann als Beispiel für diese
35 Mit seinem Konzept der cultural difference wendet Bhabha sich gegen das der cultural diversity. In Interaktionen mit dem Fremden sollen sich auch neue Formen der Solidarität bilden. Vgl. Rutherford (1990), S. 209. Des Weiteren vgl. Bhabha (2011), S. 360. Bhabha fordert in diesem Prozess eine »Nähe der ›Differenz‹«. Vgl. dazu Bhabha (22010), S. 39. 36 Rutherford (1990), S. 209. 37 Ebd., S. 211. 38 Ebd., S. 210. 39 Shirin Neshat wanderte 1979 mit 17 Jahren aus dem Iran aus, versuchte 1990 eine Rückkehr in ihr Heimatland und verließ den Iran 1996 erneut. Sie wurde u.a. durch die Fotoserie Women of Allah (1993–1997) und ihre Videokunstwerke Anchorage (1996), Turbulent (1998), Rapture (1999) und Fervor (2000) berühmt. 1999 erhielt sie
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Konzeption der Hybridisierung in der Kunst angesehen werden. Sie beschreibt ihre Kunst als »cry for help«40 und empfindet sie über die Dimension des Politischen hinausgehend als existenziell und universell. Sie sieht ihre Kunst als Waffe ‒ »art is our weapon« ‒ und Form des Widerstands ‒ »culture is a form of resistance«. Im Exil lebend versteht sie sich auch als Kritikerin des Westens. Es beunruhigt sie zu sehen, dass Kultur dort zunehmend auf eine Form der Unterhaltung (»a form of entertainment«) reduziert wird. Iranische Frauen inspirieren sie und ihre Wandlung empfindet sie als allegorische Geschichte mit universeller Bedeutung, denn diese Frauen hätten eine neue Stimme gefunden, die auch ihr als Künstlerin eine Stimme verleihe (»their voice is giving me my voice«), was allgemein-gesellschaftliche Wirkungen auch über die Landesgrenzen hinaus habe. Sie entwickelt in ihrer Fotografie und Videokunst eine hybride visuelle Sprache. Abbildung 4: Shirin Neshat, I Am Its Secret, 1993
© Shirin Neshat, Courtesy Gladstone Gallery, New York and Brussels den Preis der 48. Biennale in Venedig. Neuere Videoarbeiten sind z.B. Zarin (2005) und Women without men (fünf Videoinstallationen, 2008). 40 Die Zitate sind Äußerungen von Neshat in ihrer Rede Art in Exile. Neshat (2010).
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Neshat rekurriert dabei in ihrem Kunstschaffen primär auf eine für den westlichen Betrachter fremde Bildsprache ‒ z.B. arabische Schriftzeichen auf Gesichtern, Händen und Füßen, arabische Gewänder, iranische Räumlichkeiten und Landschaften ‒, die durch Okkupation des Bildraums im Fotografischen und Filmischen Fremdes erfahrbar macht. Insbesondere die oft duale Teilung des Bildraumes in männlich und weiblich, die zumeist auf Kontrastwirkung ausgerichtete Farbensprache des Schwarz-Weiß und die Arbeit mit dem Gegensatz von Passivität und Aktivität bzw. Bewegung und Statik sowie das Ausnutzen von Symmetrieeffekten und Raumrichtungen steigern die Eindringlichkeit ihrer Bildsprache, wobei sie auch auf traditionelle westliche Gestaltungselemente rekurriert. Klangliche Arrangements und Gesang unterstützen die Bildeindrücke. So wird in der Videoinstallation Turbulent (1998) aufeinanderfolgend der Gesang eines Mannes vor einem großen Publikum und der Gesang einer Frau vor einem leeren Saal in dualer Bildaufteilung in schwarz-weiß gezeigt. Auch beim afrikanisch-stämmigen US-amerikanischen Künstler Kehinde Wiley (geb. 1977) fällt die Hybridität der Bildsprache auf. Er stellt in seiner Kunst insbesondere Personen afroamerikanischer Herkunft in Posen dar, die an Werke alter Meister wie Tizian, Rubens, van Dyck, Ingres und David erinnern. Afro-Amerikaner, Afrikaner, Afro-Brasilianer, Inder, Äthiopier und Araber werden in heroischen Posen präsentiert, insbesondere sozial Schwache, aber auch Pop- und Hip Hop-Künstler wie Michael Jackson und Ice-T.41 Wiley bedient sich dabei der klassischen Bildersprache, die einflussreichen, mächtigen Personen gesellschaftliche Bedeutung zuweist bzw. kunst/historisch dokumentiert, und reflektiert damit in seiner Kunst den Dialog zwischen Kunst und Macht. Seine Sympathie gilt den Unscheinbaren in der Gesellschaft, die auf seinen Bildern zu Helden werden und dabei in ihrer Alltagskleidung wie z.B. in Sportshirts oder Kapuzenpullis, mit Hut oder Baseballkappe präsentiert werden. Die Hintergründe sind zumeist mit Mustern und Ornamenten ausgestattet, die Anklänge an afrikanisches Textildesign, islamische Architektur, französischen Rokoko etc. bieten. Die traditionellen Goldrahmen, die kostbaren Muster und das Material Ölfarbe verstärken den Eindruck von Werthaftigkeit. Wiley geht es in seiner Kunst auch darum, Aspekte des Kolonialismus aufzudecken und zur Diskussion zu stellen, so z.B. hinsichtlich des heutigen Frankreichs in Bezug zu dessen eigener Kolonialgeschichte ‒ seine Darstellungen von Tunesiern und Marokkanern etwa verdeutlichen diese Bezüge in der postkolonialen Situation.
41 Wiley spricht Personen auf der Straße an, fotografiert sie, um sie später zu malen, so z.B. in Brasilien, in Marokko und Tunesien.
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© Kehinde Wiley. Used by permission
Des Weiteren kritisiert Wiley das Männlichkeitskonzept und die männliche Subjektweise der black masculinity, die die Aspekte Sportlichkeit, Hypersexualität und unsoziales Verhalten hervorheben. Sie betreffen sowohl das Selbstbild als auch das Fremdbild des schwarzen Mannes, was es zu entlarven gilt. Wiley zitiert Codes der US urban masculine ideology verbunden mit der gangsta ideology ausgehend von der Grundüberzeugung, dass Maskulinität ein zentrales Thema des Austragens postkolonialer Konflikte darstellt.42 Bei Nurse heißt es dazu: »masculinism is a core philosophy embedded in sexism, modernism, capitalism and imperialism.«43 Wileys Kunstschaffen stellt eine Auseinandersetzung mit symbolischen Codes dar, die sich sowohl auf formal-gestalterische Momente wie Komposition, Perspektive, Malweise und Materialwahl als auch auf inhaltliche Elemente wie Genre, Motivwahl, dargestellte Gestik und Mimik und kulturell/historische Bezüge bezieht. So greift er das Genre des traditionellen Herrscherbildnisses auf, das als Zentrum der Komposition einen Herrscher, oft mit Pferd, in Herrscherpose zeigt. Derart rekurriert z.B. Wileys Ölgemälde von Michael Jackson auf Rubens Portrait von Philipp II. von Spanien von ca. 1635 und 42 Vgl. Reddock (2004), S. xxvi. 43 Nurse (2004), S. 4.
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das Bild Napoleon leading the army over the Alps auf Jacques-Louis Davids Gemälde Bonaparte beim Überschreiten der Alpen am Großen Sankt Bernhard von ca. 1801. Es handelt sich bei Wiley um ein intervisuelles Spiel mit Werken der Kunstgeschichte, in dem Bedeutungsverschiebungen, Diskrepanzen und Überraschungen im Kombinatorischen insbesondere als Inter-Ikonizität zu beobachten sind. Der entstehende hybride Zwischenraum verweist auf Phänomene der gesellschaftlichen Bedeutungszuweisung im Bildnerischen in post/kolonialen Zusammenhängen. Die Darstellung subalterner Männlichkeit mit Mitteln klassischer Herrscherdarstellung für die Darstellung des Modells hegemonialer Männlichkeit in seinen historisch variablen Ausformungen, als Vorbild dient der aristokratische Typus, verdeutlicht die Bedeutung von Erfolg und Repräsentation von Macht für die Konstruktion souveräner Männlichkeit. »Men are valued as ›success objects‹ in a context of reputation« zitiert Keith Nurse den Autor Sampath.44 Der subalterne Mann spricht durch Wileys künstlerische Inszenierung, er eignet sich die Bildsprache des ehemaligen Kolonialherren an. »One could argue that this contest for power had also become interwoven with competing victimhoods, victimhood in a postcolonial context being seen as moral grounds for recuperating postcolonial leadership and political, social and sexual power.«45 Dies kann als subversiver Akt gedeutet werden, als Mimikry im Sinne Bhabhas. Hybride Fremderfahrung wird so im postkolonialen Sinne in Ermächtigungsstrategien umgedeutet.
R ESÜMEE Es lassen sich verschiedene Arten von Fremdheit in der Kunst ausmachen, wie insbesondere die verschiedenen Konzepte von Fremderfahrung vom Exotismus bis zur Hybridität verdeutlichen. Fremdheit kann als ästhetisches Gefühl des Diversen verbunden mit einer Erfahrung der individuellen Besonderheit in der Diskrepanzerfahrung ‒ u.U. einhergehend mit einer Dekontextualisierung ‒, die auch mit einer ideologischen Verblendung und Ausblendung in Zusammenhang stehen kann, verstanden werden, wie im Konzept des Exotischen deutlich wurde, oder auch, im Sinne der Ausführungen zum Orientalismus, als Kontrasterfahrung zur Konstruktion der eigenen Identität zur Erlangung von Herrschaftswissen, zum Teil durchaus verbunden mit einer romantischen Sehnsucht nach dem An-
44 Ebd., S. 25. 45 Reddock (2004), S. xxi.
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deren und einer Zivilisationskritik. Fremderfahrungen als Optionen der Vermischung entsprechen dem Konzept der Kreolisierung, während der Schwerpunkt im Konzept der Hybridisierung auf der Beibehaltung der Andersartigkeit und dem Gewinn durch Diskrepanzerfahrungen im Sozialen, Ethischen und Kulturellen liegt. Fremdheit wird bei den Künstlern Neshat, Wiley und Shonibare insbesondere als diskrepantes Element inszeniert, das in den Sehgewohnheiten aufgreifenden und gleichzeitig auch sprengenden bzw. verschiebenden Verfahren der Kreolisierung und/oder Hybridisierung neue Bildformen des Dazwischen schafft. Die exemplarisch im Aufsatz vorgenommene Betrachtung von zeitgenössischen künstlerischen Konzeptionen und künstlerischen Realisationen in ihrem institutionellen und gesellschaftlichen Umfeld zeigt trotz der deutlich werdenden Problematik Möglichkeiten für Fremderfahrungen in der Kunst auf, die über eine Rezeption im Sinne des Exotismus und Orientalismus und der kritisch konzipierten Kreolisierung und Hybridisierung hinausgehen. Die Erfahrung von Fremdheit in der zeitgenössischen Kunst ist deutlich mehr als eine allgemeine ästhetische Eigenschaft oder Ausdrucksqualität von Kunstwerken. Die Darstellung von Fremdem in der Kunst macht Kunst selbst zwar oft als Fremdes erfahrbar, so dass sich eine Auflösung des Fremden im Kunstfremden andeutet, doch dabei bleibt es in der zeitgenössischen Kunst nicht. Sie kann, wie die genannten Beispiele zeigen, kulturelle Fremderfahrungen ermöglichen, sodass der Erfahrungsraum des Eigenen gesprengt wird. Die Fremderfahrungen in der Kunst sind also mehr als eine Auflösung des Fremden im Kunstfremden, in dem sich die Kunst primär selbst als Fremdes inszeniert. Zeitgenössische Kunst stellt einen konzeptionellen und visuell-sinnlichen Raum der Andersartigkeit sowie von Sensibilisierungen, Distanzierungen, neuartigen Erfahrungen und veränderter Erlebnishaftigkeit in der Rezeption bereit. Die sinnliche Eindringlichkeit und konzeptionelle Durchdringung der unterschiedlichen thematischen Schwerpunkte lassen eine Veränderung durch Fremderfahrungen mittels der Kunst, die in diesem Prozess selbst durchaus als fremdartig erfahren werden kann, zumindest möglich erscheinen. Kunst stellt im Changieren zwischen Autonomie und Heteronomie einen emanzipatorischen Raum für Fremderfahrungen, einen spezifischen Raum der Begegnung mit dem Andersartigen, bereit.
F REMDERFAHRUNGEN IN
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Beruhigen und Befremden – Zwei Tendenzen in Kunst und Philosophie T OM P OLJANŠEK
Als Sokrates achtzehn Jahre alt war und noch nicht wusste, ob er Künstler oder Philosoph werden würde, fiel ihm beim Spaziergang am Strand zufällig ein Gegenstand in die Hände, der ihn sehr beunruhigte: Dieser faustgroße Gegenstand, das »zweideutigste Ding der Welt«1, erinnerte an »nichts« und schien dennoch nicht »gestaltlos«2, »von allen Ordnungen in gleicher Weise angezogen und abgestoßen«3. Sokrates zögerte eine Weile, warf den Gegenstand dann aber zurück ins Meer und »ging sehr schnell landeinwärts wie einer, dessen Gedanken, nachdem sie lange nach allen Seiten hin und her getrieben worden waren, anfangen sich zurechtzufinden«4. Er verwarf die Möglichkeit eines Dings, das sich dem menschlichen Verstehen grundsätzlich entzieht: So wurde Sokrates Philosoph. Nimmt man diese Episode ernst, so scheint es fast, als bestünde die Wette der Philosophie letztlich in der Annahme, dass verstehende Orientierung überall und grundsätzlich möglich ist, in der Annahme, dass letztlich alles mit rechten Dingen zugeht und die Frage nur ist: Wie genau? Die philosophische Grundgeste bestünde also in der imaginären Vorwegnahme der Intelligibilität der Welt – während die Kunst auf der anderen Seite auf dieses beruhigende Vorurteil verzichtet und mit der Möglichkeit rechnet, dass die Welt nicht vollständig intelligibel sein könnte. Diese kurze Episode aus Sokratesʼ fiktiver Vita, die Paul Valérys Dialog Eupalinos entnommen ist, beinhaltet in nuce den Gedanken, der im Folgenden ent1
Valéry (1992), S. 48.
2
Ebd., S. 51.
3
Ebd., S. 54.
4
Ebd., S. 55.
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faltet wird. Kunst und Philosophie verkörpern zwei Tendenzen, denen zwei verschiedene epistemische Grundgesten oder -haltungen entsprechen: Während die Philosophie tendenziell als Beruhigerin auftritt, indem sie die Möglichkeit universaler Orientierung durch Verständnis vorwegnehmend behauptet, um dann zu versprechen, diese schrittweise einzuholen, betätigt sich die Kunst häufig als Befremderin, die Menschen durch Konfrontation mit nicht restlos Verstehbarem aus der Selbstverständlichkeit ihrer alltäglichen Routinen herauszuprovozieren versucht.
P HILOSOPHIE ALS MIT B EFREMDEN
ERKLÄRENDER
U MGANG
Menschen sind zunächst und vor allem Wesen der Gewohnheit. Ihr Leben ist zu einem großen Teil von stabilisierten Erwartungen und Routinen getragen, die ihnen alltägliche Handlungssicherheit gewährleisten und die ihnen zugleich Aufmerksamkeit für Unerwartetes freihalten. Das meiste von dem, was Menschen alltäglich tun, müssen sie nicht noch einmal eigens mit Bewusstsein begleiten, es ist zunächst und zumeist nicht thematisch. Wer gelernt hat, Fahrrad zu fahren oder ein Tablet zu bedienen, wer sich auf eine Sache versteht, bewegt sich bei ihrer Ausübung in einem Kontinuum der Selbstverständlichkeit, in dem alles Notwendige wie selbstverständlich von der Hand geht. Explizit und teilweise mühsam Angeeignetes wird zur impliziten Routine, Wiederholung (bestimmter Handlungen) und Gewöhnung (an die Wiederkehr bestimmter Ereigniszusammenhänge) erzeugen eine »Zone der Vertrautheit« (Plessner),5 ein »Selbstverständliches« (Schütz),6 das als stabilisierter Erwartungshorizont nicht mehr eigens reflektiert und doch immer vorausgesetzt werden muss. »Im vertrauten Milieu der Heimat werden wir alles mehr oder weniger selbstverständlich finden […]. Alles geht wie von selbst, natürlich, als ob es so sein müßte, und auch wir gehen auf den vertrauten Wegen, ohne viel zu sehen. […] Die Macht der Gewohnheit läßt die sinnliche Anschauung verkümmern« formuliert Plessner.7 Als Gewohnheitswesen besitzt der Mensch einen natürlichen Hang zu partieller Unaufmerksamkeit, sofern dasjenige, was er als selbstverständlich voraussetzt, zugunsten von weniger Selbstverständlichem in die Latenz seines Welterlebens
5
Plessner (1982), S. 169.
6
Schütz (1971), S. 153.
7
Plessner (1982), S. 168.
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UND
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zurücksinkt.8 Das Selbstverständliche erscheint also als transparentes Medium, das die alltäglichen Vollzüge trägt. Dieses Medium wird nur sichtbar, wenn unerwartet etwas ins Getriebe der alltäglichen Routinen gerät, das diese zum Stocken oder Stolpern bringt. Ein solches Stolpern ist – antik verstanden – der Anfang der Philosophie. So findet sich bei Aristoteles (wie auch schon bei Platon) die Annahme, dass der ursprüngliche Anlass zum Philosophieren im Staunen, in der Verwunderung (thaumázein) liege: »Denn Verwunderung veranlaßte zuerst wie noch jetzt die Menschen zum Philosophieren, indem man anfangs über die unmittelbar sich darbietenden unerklärlichen Erscheinungen sich verwunderte, dann allmählich fortschritt und auch über Größeres sich in Zweifel einließ […]. Wer aber in Zweifel und Verwunderung über eine Sache ist, der glaubt sie nicht zu kennen.«9
Philosophie versteht sich so als eine Reaktion auf etwas, das sich nicht von selbst versteht, etwas, das aus dem Kontinuum der (Selbst-)Verständlichkeit herausfällt. Und ihre Aufgabe besteht dann darin, die beunruhigende Verwunderung durch Erklärungen zu überwinden: Wer noch staunt, wer noch verwundert ist, hat also bloß noch nicht genug verstanden. Im Großen und Ganzen aber – so lässt sich die implizite Annahme zusammenfassen, die hinter Aristotelesʼ Philosophiekonzeption steht – besteht zum Staunen gar kein Anlass: Die Welt ist grundsätzlich in Ordnung – und in ihrer Ordnung intelligibel. Die Welt ist geordneter Kosmos, in dem jedes Ding seinen bestimmten Platz besitzt. Und so muss sich nach erfolgreicher Erklärung die Verwunderung naturgemäß zu ihrem »Gegenteil und ›zum Besseren‹ umkehren nach dem Sprichwort, wie es auch in diesen Gegenständen der Fall ist, nachdem man sie erkannt hat«. Ein Kundiger (sophos) würde sich daher über »nichts mehr verwundern«, als wenn die Sache sich nicht so verhielte, wie er doch weiß, dass sie sich in der Tat verhält.10 Philosophie arbeitet somit an der Überwindung einer anfänglichen Verwunderung durch Erkenntnis. Das staunende Stolpern selbst fungiert somit als Anzeichen eines Erkenntnisrückstands, den es mithilfe von Philosophie zu überwinden gilt. Aristoteles ist mit diesem Philosophieverständnis nicht allein: So lässt sich seine Erläuterung, wonach, wer »in Zweifel und Verwunderung über eine Sache ist«, glaubt, »sie nicht zu kennen«, als eine frühe Vorwegnahme von Wittgensteins prägnanter Bestimmung der ›Form‹ eines philosophischen Problems aus 8
Vgl. zur Unsichtbarkeit des Vertrauten auch Blumenberg (2001), S. 95f.
9
Aristoteles, Metaphysik 982b.
10 Ebd. jeweils 983a.
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den Philosophischen Untersuchungen lesen, wonach ein philosophisches Problem die Form habe: »Ich kenne mich nicht aus« (§123).11 Das Sich-nichtAuskennen, den Zusammenhang nicht überblicken, mit einer Situation oder Sache unvertraut werden oder sein, stellt auch für Wittgenstein den Anlass philosophischer Bemühung dar, deren Ziel für ihn in einer »übersichtliche[n] Darstellung« (§122) besteht. Auch für Wittgenstein ist Anlass der Philosophie also ein Mangel an Übersicht, dem philosophisch Abhilfe verschafft werden soll, damit »gewisse Beunruhigungen verschwinden«.12 Folgt man Wittgenstein und Aristoteles, so besteht die Aufgabe der Philosophie im Wegarbeiten von Verwunderungen durch die Herstellung von Übersicht. Eine Unternehmung, deren Ziel also einer rationalen Ent-wunderung, einer rationalen Beruhigung irritierter Individuen gleichkommt. Woher aber rührt eigentlich die Irritation? Für Aristoteles scheint sich diese Frage in gewisser Weise gar nicht zu stellen. Vom Faktum alltäglicher Irritationen, die Anlass zur Erklärung geben, geht er einfach aus. Wittgenstein dagegen scheint die Philosophie selbst für die Irritation verantwortlich zu machen, bzw. genauer: philosophische Probleme sind für ihn das Ergebnis von Selbstmissverständnissen, Selbstirritationen der Sprache, das Ergebnis von Sprachspielen, in denen die Sprache nicht »arbeitet«, sondern »leerläuft« (§132) – oder gar nur noch »feiert« (§38). Entfernt sich die Sprache aus den pragmatischen Zonen ihrer Vertrautheit (ihrem »alltäglichen« oder »tatsächlichen« Gebrauch), so entstehen philosophische Probleme. Diese erscheinen als das Ergebnis eines Reibungsverlusts (»Wir wollen gehen; dann brauchen wir die Reibung! Zurück auf den rauhen Boden!« §107) der Sprache, der durch De-Situierung und DeKontextuierung der Worte aus ihren alltäglichen Anwendungsbereichen, durch »metaphysischen« Gebrauch also, entsteht (vgl. §412, §432). Die Philosophie selbst erscheint hier als eben die Verwirrung, die zu beseitigen sie sich anschickt. Und folglich besteht ihr Ziel eigentlich darin, jederzeit mit ihr aufhören zu können (§133), in der Wiederherstellung der »Einfachheit und Alltäglichkeit« (§129), der »vollkommenen Ordnung«, die auch noch im »vagsten Satze« steckt (§98). Wie für Aristoteles ist also auch für Wittgenstein die Welt eigentlich immer schon in Ordnung (nicht als Kosmos zwar, aber doch als die Welt unseres alltäglichen Sprachgebrauchs) – die Philosophie muss uns nur (wieder) in die Lage versetzen, diese Ordnung auch zu sehen. Die philosophischen Probleme werden ›gelöst‹, indem die Philosophie sich von der Verwirrung befreit, die sie selbst al11 Wittgenstein (2006). Die angegebenen Paragraphen beziehen sich jeweils auf diese Ausgabe. 12 Wittgenstein (2005), S. 310.
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so ist. Explizit betont Wittgenstein daher, dass es nicht Ziel seiner Untersuchung sei, »Neues mit ihr [zu T.P.] lernen […]. Wir wollen etwas verstehen, was schon offen vor unseren Augen liegt.« (§89) Eine etwas andere Nuancierung des Verhältnisses von Philosophie und Irritation findet sich bei Wilfrid Sellars. Für ihn ist das routinierte, alltägliche Zurechtkommen so, wie es ist, aus philosophischer Perspektive gerade noch nicht in Ordnung. Daher steht für ihn die Verwunderung weder als bloßer Anlass außerhalb der Philosophie, noch ist für ihn die Philosophie selbst Symptom einer autogenen Irritation. Verfremdung wird für Sellars vielmehr ein Teil der Aufgabe der Philosophie selbst: »To achieve success in philosophy would be, to use a contemporary turn of phrase, to ›know oneʼs way around‹ with respect to all these things, not in that unreflective way in which the centipede of the story knew its way around before it faced the question, ›how do I walk?‹, but in that reflective way which means that no intellectual holds are barred.«13
Und an anderer Stelle präzisiert er: »It is not until we have eaten the apple with which the serpent philosopher tempts us, that we begin to stumble on the familiar and to feel that haunting sense of alienation which is treasured by each new generation as its unique possession. This alienation, this gap between oneself and oneʼs world, can only be resolved by eating the apple to the core: for after the first bite there is no return to innocence. There are many anodynes, but only one cure. We may philosophize well or ill, but we must philosophize.«14
Philosophie hat Sellars zufolge also die Aufgabe, das implizite Sich-auf-etwasVerstehen, das unsere alltäglichen Routinen trägt, so in Frage zu stellen, dass wir es in ein explizites Verstehen umwandeln können: der Irritation kommt dabei ein positiver Wert zu, sofern sie das alltägliche Sich-Auskennen stört und so zu dessen eingehenderer Durchleuchtung zwingt. Philosophie wäre somit als eine mindestens zwei-phasige Praxis zu verstehen, deren erste Phase einer aktiven Entfremdung vom Selbstverständlichen gleichkommt, um in einer zweiten Phase an der Wiederaneignung einer (Selbst-)Verständlichkeit höherer Ordnung zu arbeiten; sie unterbricht das Kontinuum der Selbstverständlichkeit, verführt uns mit dem Apfel möglicher Erkenntnis zum Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit, um uns im zweiten Schritt zu einer reflektierten Selbstverständlichkeit (zurück) zu führen. 13 Sellars (1993), S. 1. 14 Sellars (1975), S. 295.
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Aristoteles und Sellars teilen somit die Vorstellung, dass die Irritation eine erkenntnisprovozierende Funktion besitzt. Die Verwunderung, die einem Bruch im Kontinuum des Selbstverständlichen gleichkommt, zwingt die Einzelnen in eine reflektierende Auseinandersetzung, innerhalb derer sie eine in ihrer grundsätzlichen Möglichkeit unangezweifelte Übersicht herstellen: Eigentlich ist also alles in Ordnung – und Aufgabe der Philosophie ist nur zu zeigen, inwiefern. Befremden erscheint hierbei jeweils als Anzeichen eines Erkenntnisrückstands, den es durch Philosophie aufzuholen gilt. Bei Wittgenstein liegt die Sache etwas vertrackter. Die Philosophie selbst stellt für ihn ein zu überwindendes Symptom einer Selbstverwirrung der Sprache dar. Philosophie ist in gewisser Weise selbst die Irritation, von der sie uns befreien soll. Diese Irritation provoziert aber nicht zur Erkenntnis, sie zwingt zur Besinnung: Eigentlich ist alles immer schon in Ordnung – ihr könnt, sollt, dürft mit dem Philosophieren also beruhigt wieder aufhören. »Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will. – Die die Philosophie zur Ruhe bringt, so daß sie nicht mehr von Fragen gepeitscht wird, die sie selbst in Frage stellen.« (§133) Philosophie ist somit entweder 1.) der Versuch, Irritation durch Erkenntnis zu überwinden, 2.) selbst eine »Sackgasse« (§436), Symptom unserer eigenen Verwirrung, oder sie stellt – wie in der Geschichte des stolpernden Tausendfüßlers – 3.) erkenntnisprovozierend das Kontinuum des Selbstverständlichen in Frage, um uns so zu einem tieferen Verstehen zu provozieren. In allen drei Fällen aber erweist sich die Philosophie letztlich als thaumatophob, als irritationsunfreudige Disziplin, sofern das Befremden nicht ihr Ziel, vielmehr ein zu überwindendes Übel oder ein unvermeidlicher Schritt auf dem Weg zu höheren Formen der (Selbst-)Verständlichkeit ist.
I NTERMEZZO : D ER V ERLUST DER NATÜRLICHEN S ELBSTVERSTÄNDLICHKEIT Es ist lohnenswert, an dieser Stelle kurz einzuhaken und auf ein Phänomen näher einzugehen, das sich in Sellars Verweis auf die Geschichte des stolpernden Tausendfüßlers bereits andeutet. Es lässt sich als der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit durch deren Thematisierung beschreiben. Die diabolisch an den Tausendfüßler gestellte Frage »How do you walk?« bringt diesen aus dem Tritt, weil er nicht explizit zu vollziehen imstande ist, worauf er sich implizit selbstverständlich verstand. Diese basale phänomenologische Evidenz, die sich etwa auch im bekannten »Sei natürlich!«- oder »Sei spontan!«-Paradox adressiert fin-
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det, besitzt eine einfache Struktur: Die explizite Thematisierung des implizit Vertrauten verunmöglicht es diesem, seine Funktion zu erfüllen, die gerade durch dessen Nicht-Thematisierung gewährleistet war. Explikation lässt das explizierte Implizite nie unangetastet.15 Diese einfache Grundszene, die den Charakter eines Evidenzszenarios besitzt, ist idealtypisch in Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater entfaltet.16 Hier gibt der Erzähler zu Protokoll, dass er »sehr wohl wisse, welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewußtsein anrichtet.«17 So habe er einmal, »sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen« einen grazilen Jüngling auf die Anmut seiner Haltung beim Abtrocknen seines Fußes hingewiesen.18 Doch dessen – von dieser Thematisierung provozierter – Versuch, die besagte Haltung bewusst noch einmal einzunehmen, missglückt (»wie sich leicht hätte voraussehen lassen«). Und so habe der junge Mann seine natürliche Grazie von diesem Augenblick an unwiederbringlich verloren. Der durch explizite Thematisierung provozierte Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit lässt sich – folgt man Kleists kleiner Erzählung – nicht durch ein Mehr an Reflexion wieder kompensieren. Man sieht schnell, worin hier der Gegensatz zu einem Erkenntnisoptimismus besteht, wie er exemplarisch in den vorgestellten philosophischen Positionen zum Ausdruck kommt: Diese unterstellen schlicht, dass epistemische Irritationen stets überwindbar oder als unzulässig auszuschließen sind. Sie halten sich an das kosmologische Vorurteil: Die Welt ist grundsätzlich in Ordnung – und als solche auch intelligibel.19 Philosoph wäre folglich derjenige, der am Glauben an die grundsätzliche Geordnetheit der Welt festhält, der auf der Überwindbarkeit der Verwunderung, »auf der Klassifikation des [irritierenden T.P.] Gegenstandes besteht«.20 Kleist nun scheint dieser Vorstellung eine Absage zu erteilen: Wenn es eine vorauszusetzende Ordnung geben sollte, so ist sie doch für endliche Reflexion nicht intelligibel. Erst »wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist« finde sich möglicherweise die Grazie wieder ein, stellt daher einer der Gesprächspartner am Ende der Erzählung wenig ermutigend in Aussicht. Für 15 Vgl. hierzu auch Luhmann (2000), S. 115. 16 Zum Begriff des Evidenzszenarios vgl. Poljanšek (2015). 17 Kleist (1978), S. 476. 18 Ebd., S. 477. 19 Vgl. zum Verhältnis dieser kosmologischen Vorstellung zum Konzept der imitatio in der Kunst: Luhmann (1997), S. 423ff., Blumenberg (2001), S. 54ff. 20 Ebd., S. 119.
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durch Bewusstsein bestrafte Wesen scheint epistemische Beunruhigung die einzig mögliche Haltung jenseits glücklich-benommener Naivität. Sie ist für sie unhintergehbarer status quo. Was dann noch bleibt, ist dessen entfaltende Darstellung, also: Kunst.
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ALS
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DER I RRITATION
Die eingangs zitierte Episode aus Sokratesʼ von Valéry imaginierter präphilosophischer Vita erweist hier ihren paradigmatischen Charakter: Als Sokrates »sich noch am Ausgangspunkt der möglichen Wege seines Daseinsvollzuges« vor der »Alternative von Philosophie und Kunst« befand und ihm das »objet ambigu« in die Hände fiel, gab er seinen thaumatophoben Impulsen nach, warf es zurück ins Meer – und wurde so Philosoph.21 Der »paradoxe[] Status vollendete[r] Unbestimmtheit«, der das objet ambigu auszeichnete, war ihm offenbar zu viel.22 Sofern der Philosoph sich dazu entscheidet, am »Principium der durchgängigen Bestimmung« der Welt festzuhalten, muss er die irritierende Verunsicherung verwerfen, die von der Annahme der Existenz eines solchen Gegenstandes ausgeht.23 Und so stellt das von Valéry imaginierte Objekt in seiner definitiven Unbestimmtheit einen Grenzfall dar, an dem sich exemplarisch das Verhältnis von Kunst und Philosophie entfalten lässt. Dabei verkörpert das objet ambigu als paradoxe Grenzfigur allerdings nicht jene »innere Anschauung« ohne adäquaten Begriff, als die Kant die »ästhetischen Ideen« charakterisiert, sondern den Gegenstand, der selbst objektiv durch Ambiguität und Unbestimmtheit bestimmt wäre.24 Während die Philosophie Unbestimmtheit nur als epistemisches Manko
21 Ebd., S. 88. 22 Ebd., S. 118. 23 Kant (2004), S. 606f. (B 600). Christoph Menke hat eine Interpretation dieser Szene vorgeschlagen, die sich stärker an der Frage nach der Herkunft des objet ambigu orientiert. Menke (2014), S. 30ff. 24 Man könnte geneigt sein, Kant vom ›kosmologischen Vorurteil‹ freizusprechen, sofern er die ›ästhetischen Ideen‹ gerade durch die Unmöglichkeit ihrer begrifflichen Adäquation bestimmt. Allerdings wäre dabei übersehen, dass Kant jene gerade als »innere Anschauungen« qualifiziert, die keine bestimmte Erkenntnis ermöglichen. Auch für Kant gibt es konstitutive Unbestimmtheit also nicht in der apriorisch geordneten Welt (der Erscheinungen). Jene Unbestimmtheit bezeichnet nur das Verhältnis
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begreifen kann, die keinem Gegenstand objektiv zukommen kann, sähe die Kunst ihre Aufgabe also gerade in der Darstellung und Realisierung irritierender Unbestimmtheit: »Die ästhetische Einstellung hat hier ihre Differenz zur theoretischen, indem sie die Unbestimmtheit gerade nicht zum provokanten Reiz des Fragens, des Suchens nach Merkmalen und spezifischen Differenzen nimmt, sondern sie auf sich beruhen läßt und genießt.«25 Der Künstler wäre somit derjenige, der den »Kosmos nicht als das garantierte Gegebene voraussetzt, sondern ihn als jederzeit erst zu erbringende Leistung des Menschen, als ständigen Übergang von der Unordnung zur Ordnung« ansieht.26 Kunst wäre folglich der Tendenz nach nicht-totalisierend und thaumatophil, Philosophie thaumatophob und totalisierend (d.i. die Ordnung des Ganzen vorwegnehmend behauptend). Aber auch ohne diese anspruchsvolle und philosophie-kritische Fassung der Kunst, die letztere als ein überlegenes Konkurrenzunternehmen zur Philosophie in Anschlag bringt (sofern sie dem kosmologischen Vorurteil von der apriorischen Aufgeräumtheit der Welt eine Absage erteilt), lässt sich aus diesen Überlegungen eine Leittendenz künstlerischer Praxis destillieren: Positiv formuliert besteht diese darin, dass »das Kunstwerk, in alter Weise gesagt, auf Staunen hin produziert« wird.27 Die Vorstellung, dass Kunst wesentlich mit dem Staunen verknüpft sei, ist selbstverständlich nicht neu.28 So findet sich etwa in Aristotelesʼ Poetik die Bespezifischer Anschauungen zum menschlichen Erkenntnisapparat. Kant (2009), S. 702. 25 Blumenberg (2001), S. 96. 26 Ebd., S. 95. 27 Luhmann (1997), S. 71. 28 In der jüngeren Philosophiegeschichte gibt es einige Autoren, die auf einen Zusammenhang von Kunst und Irritation hinweisen. In Heideggers Kunstwerkaufsatz etwa findet sich die Bemerkung, dass wir uns in der ästhetischen Erfahrung »jäh anderswo« befinden, »als wir gewöhnlich zu sein pflegen«. Heidegger (1960), S. 29. In Bezug auf die Kunst der Moderne und Postmoderne spricht Grabes gar von einer »Ästhetik des Fremden«, deren »Wirkungsspektrum von der nur leichten Fremdartigkeit des Irritierenden bis hin zum Unheimlichen oder sogar Erhabenen« reiche. Grabes (2004), S. 21. Beim »Poptheoretiker« Diedrich Diederichsen findet sich die Bemerkung, dass es »bei dem vom Kunstanspruch immer noch erfolgreich eingeklagten Aufmerksamkeitsplus nicht nur um ein Mehr an Aufmerksamkeit« gehe, sondern »auch und gerade um die Unterbrechung des üblichen Aufmerksamkeitsmanagements des Einzelnen.« Diederichsen (2008), S. 233. Und Eva Schürmann bezeichnet Kunst geradehin als ein »Medium der Unterbrechung intersubjektiv autorisierter Wahrnehmungsgewohnheiten«, das mit den »Routinen eines aufs Bescheidwissen und Verfügen zielenden Se-
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merkung, dass das Wunderbare (thaumaston) und die Überraschung (ekplisis) notwendige Merkmale sowohl der Tragödie als auch des Epos seien, wobei Aristoteles die für die Tragödie zentrale Figur der Wiedererkennung (anagnorisis) als unerwarteten oder überraschenden Eintritt des Wahrscheinlichen bestimmt.29 Zudem heißt es in dessen Metaphysik, dass der Philomyth (der Liebhaber der Sagen) dem Philosophen insofern ähnlich sei, als auch die Sage »aus Wunderbarem« bestehe.30 Hier deutet sich also bereits eine antike Verhältnisbestimmung von Kunst und Philosophie anhand des Staunenswerten an. Anders als die Philosophie wäre die Kunst dabei nicht an der Überwindung, sondern gerade an der Herstellung von Staunen und Irritation interessiert. Ein Spezifikum von Kunst wäre somit gerade die irritierende Unterbrechung des Kontinuums des Selbstverständlichen. Und so lässt sich das Verhältnis der Kunst zum Staunen gegenüber Kleist auch in etwas weniger fatalistischer Tonart artikulieren: Fasst man die befremdende Thematisierung des Selbstverständlichen als positiven Wert auf, den man gegen das bewusstlose Undsoweiter der Alltäglichkeit abhebt, so erweist sie sich als eine irritierende Praxis der Explikation des jeweils implizit als selbstverständlich Vorausgesetzten. In einer solchen Befremdung sieht Plessner eine notwendige Vorbedingung eines jeden Verstehens: »Man muß mit der Zone der Vertrautheit fremd geworden sein, um sie wieder sehen zu können. […] Die Kunst des entfremdeten Blicks erfüllt darum eine unerlässliche Voraussetzung allen echten Verstehens. […] Ohne Befremden kein Verständnis.«31 Analog bestimmt der russische Literaturkritiker Viktor Šklovskij ein solches Verfahren als die Methode der Kunst, deren Aufgabe für ihn einem Ankämpfen gegen die nihilisierenden, bewusstlos machenden Tendenzen der Routine gleichkommt:
hens bricht«. Schürmann (2008), S. 211. Jüngst hat auch Jesse Prinz die These vertreten, dass ästhetische Wertschätzung im Staunen (»wonder«) bestehe. Allerdings weicht seine Bestimmung des Staunens in wesentlichen Zügen von traditionellen Bestimmungen ab: So stellt für ihn die Enttäuschung von Erwartungen kein Charakteristikum des Staunens dar, sofern er davon ausgeht, dass wir auch über uns vertraute (»familiar«) Dinge (die Augen einer geliebten Person) staunen können. Prinz (2011), S. 83. Gegen Prinz würde ich einwenden, dass Personen (hierin den Kunstwerken sowie der Welt analog) zur Klasse der nicht-totalisierbaren Ganzheiten gehören, die immer weiter faszinieren können, sofern wir sie nie abschließend zu verstehen vermögen. Personen sind uns nie restlos vertraut. 29 Vgl. hierzu auch Attila (2002) & ders. (2000), S. 14. 30 Vgl. Aristoteles, Metaphysik 982b. 31 Plessner (1982), S. 169f.
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»So kommt das Leben abhanden und verwandelt sich in nichts. Die Automatisierung frißt die Dinge, die Kleidung, die Möbel, die Frau und den Schrecken des Krieges. […] Und gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, […] das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ›Verfremdung‹ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert.«32
Kunst wäre so zu verstehen als eine Praxis der Entselbstverständlichung des Selbstverständlichen, der Vermerkwürdigung des Gewöhnlichen, die das alltägliche Kontinuum des Selbstverständlichen zu ihrem Gegenstand hat und so das Gewöhnliche wieder zum Leuchten bringt.33 Der Spielraum der Kunst als Praxis der Entselbstverständlichung beschränkt sich allerdings nicht auf die Unterbrechung des alltäglichen Kontinuums der Selbstverständlichkeit. Zwar besteht in der Markierung eines solchen Bruchs immer die Eröffnungsgeste der Kunst (Vorhang auf, erster Takt, erster Satz, Eingang des Museums, Bilderrahmen), doch kann sie auch innerhalb solcher Rahmungen eigene Zonen der Selbstverständlichkeit, eigene Erwartungsräume stabilisieren, die sie dann wiederum überraschend durchbricht.
K ONSISTENZ UND B EFREMDEN IM R AHMEN DER K UNST Kunst muss also zunächst einen Bruch im Kontinuum des Selbstverständlichen markieren, um sich als außer-gewöhnlich zu inszenieren: »Man muß erkennen können, daß es um Kunst geht.«34 Sie bedarf deshalb im Allgemeinen der funktionalen Äquivalente von Rahmen (als Markierung aller zum jeweiligen Werk gehörigen Elemente). Es muss klar sein, wo ein Kunstwerk beginnt und wo es aufhört, dass etwa das Räuspern nicht zum Konzert gehört, wo die Zone alltägli-
32 Šklovskij (1969), S. 15. 33 Diese Auffassung der Kunst als Vermerkwürdigung des Gewöhnlichen zeigt deutliche Affinitäten zu der Art und Weise, wie etwa Heidegger in Sein und Zeit Strukturen der alltäglichen Selbstverständlichkeit durch Umkodierung gewöhnlichster Begriffe (Dasein, Zeug, Umwelt, Sorge, etc.) neu sicht- und adressierbar zu machen versucht. Die Phänomenologie scheint in weiten Teilen dieser Methode zu folgen: Thaumatophile Explikation des Selbstverständlichen. 34 Luhmann (2008), S. 303.
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cher Vertrautheit verlassen und die Zone ästhetischer Erfahrung betreten wird. Ohne Rahmung keine Kunst. Dabei ist es wichtig zu bedenken, dass die ästhetische Erfahrung eines Kunstwerks (in den meisten Fällen jedenfalls) nicht nur ein punktuelles Ereignis darstellt, sondern gattungsspezifische Verlaufsformen besitzt, die sich jeweils an durch das Werk vorgegebenen Serien von Eindrücken orientieren. (Bei Musikstücken, Texten und Theater ist dabei die Reihenfolge der das Kunstwerk auszeichnenden Eindrücke meist festgelegt, bei bildenden Künsten kommt hier eine gewisse Freiheit auf Seiten des Rezipienten ins Spiel.) Ästhetische Erfahrung besteht in einem spezifischen, am konkreten Werk orientierten und durch dieses angeleiteten »Strukturieren sinnlicher Wahrnehmungen«.35 Es muss also jeweils ein finiter Raum markiert werden, innerhalb dessen sich ästhetische Erfahrung vollzieht (was natürlich nicht ausschließt, dass man, von der Lektüre eines Romans inspiriert, vom Buch aufsieht und zwischendurch an etwas anderes denkt). Was innerhalb eines solchen Raums aufgeführt oder dargestellt wird, kann dabei verschiedenste, aber doch auch nicht willkürliche Formen annehmen: Die Irritationen müssen in den Rahmen des Kunstwerks eingehegt werden, dieses folglich irgendeine Form der ›Einheit‹, ›Totalität‹ oder ›Konsistenz‹ aufweisen.36 Zu klären ist dabei, wie das Verhältnis der Irritation zu einer solchen Form der Einheit genauer vorzustellen ist. Wie oben bereits erwähnt, nimmt Aristoteles an, dass das Wunderbare ein wesentliches Charakteristikum der Dichtung sei.37 Allerdings spricht er in seiner Poetik dem Dichter zugleich die Aufgabe zu, nur dasjenige darzustellen, »was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.«38 Auf den ersten Blick scheint nun das Wahrscheinliche gerade in einem Gegensatz zum Wunderbaren zu stehen. Wie soll ein Kunstwerk irritieren, wenn es sich an den Regeln der Wahrscheinlichkeit orientiert?39 Dieser Gegensatz verschwindet, wenn man sich klarmacht, dass Aristoteles mit der Ein35 Vogel (2013), S. 105. Allerdings scheint mir Vogels Begriff des »ästhetischen Verstehens« zu sehr an der Möglichkeit der Strukturierung der an einem Kunstwerk gemachten sinnlichen Wahrnehmungen als Ganzheit orientiert, die im Falle des Scheiterns »bestenfalls eine Erfahrung der Fremdheit« zurücklasse. Ebd., S. 114. Demgegenüber würde ich die ästhetische Erfahrung eher als eine spezifische Form der Strukturierung sinnlicher Wahrnehmungen begreifen, die sich auf nicht-totalisierbare Ganzheiten bezieht, worauf gerade ihre anhaltende Faszination beruht. Vgl. FN 29. 36 Vgl. hierzu ebd., S. 97. 37 Aristoteles, Metaphysik 982b. 38 Aristoteles, Poetik 1450b. 39 Vgl. hierzu auch Matuschek (1991), S. 33ff.
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forderung der Wahrscheinlichkeit des Dargestellten vor allem auf eine Vermeidung von Willkür abzielt: das Unerwartete muss innerhalb der Ordnung der jeweiligen Dichtung noch erklärbar und folgerichtig bleiben. Ist es das nicht, verliert es den Bezug zum Rest, ist die Überraschung weniger überraschend (wie wenn etwa der Mörder in einem Krimi erst in dem Moment auftaucht, in dem der Fall gelöst wird). Das Unerwartete muss sich retrospektiv doch als erwartbar erweisen, als an das Kontinuum der bisherigen Erfahrungen plausibel anschließbar. Die Wahrscheinlichkeit besteht, sofern wir Aristotelesʼ Perspektive nur etwas modernisieren, also in der immanenten, retrospektiven Folgerichtigkeit der Entwicklung – sie betrifft das Wie der Inszenierung des Wunderbaren.40 Wenn dabei nun die Grundkonstituenten der Folgerichtigkeit von Werk zu Werk variieren können, läuft Aristotelesʼ Forderung auf eine immanente Folgerichtigkeit (Konsistenz) hinaus, die jeweils im realisierten Mikro-Kosmos des Kunstwerks Geltung besitzt.41 Das Kunstwerk zeichnet sich somit durch eine immanente Folgerichtigkeit (oder zumindest deren enttäuschbare Unterstellung) aus – wobei die Rahmung selbst die minimale Ermöglichungsbedingung von Konsistenz darstellt (so etwa bei John Cages 4'33"). Innerhalb dieses Rahmens werden die Spezifika der Konsistenz jeweilig abgesteckt, wobei das einzelne Kunstwerk im Normalfall nicht das Ganze seines Kontextes kontrolliert, das heißt, sich für gewöhnlich darauf verlässt, dass seine Betrachter schon andere Werke seiner Art gesehen, gehört oder gelesen haben und von diesen aus mit bestimmten Normalitäts- und Konsistenzerwartungen an das Werk herantreten. So müssen Rezipienten zum Beispiel etwas mit der Vorstellung anfangen können, dass es sich um eine Performance, einen Roman, eine Oper oder ein Gemälde handelt (und die Wand, an die letzteres gehängt ist, nicht mehr dazu gehört) oder es muss im Allgemeinen als voraussetzbar angenommen werden, dass in einem Kriminalroman die gewohnten physikalischen Fallgesetze gelten (damit man überrascht sein kann, wenn eine Figur plötzlich ohne erkennbaren Anlass in die Luft aufsteigt). Natürlich gehört es dabei zu den Möglichkeiten der Kunst, mit ihrer eigenen Rahmung sowie auch den im und durch das Werk suggerierten immanenten Konsistenzen zu spielen. Sie kann Normalitätserwartungen (oder auch Erwartungen, die sie selbst erst evoziert) raffiniert unter40 Eine in dieser Weise modernisierte Interpretation der aristotelischen Poetik findet sich bereits bei Johann Jakob Breitinger, der in seiner Critischen Dichtkunst (1740) das Wunderbare als ein »vermummtes Wahrscheinliches« (S. 136) bestimmt, das zumindest in »einem andern möglichen Welt-Gebäude« (S. 87) möglich sein muss, wenn es poetisch überzeugen soll. Breitinger (1980). 41 Natürlich wäre auch ein Kunstwerk wenig faszinierend, das absolut antizipierbar, d.h. irritationsfrei ist (außer, wiederum, es ist dies auf raffinierte Weise).
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laufen oder auch bis in unerwartete Ödnis hinein steigern. Sie kommt aber um diese Charakteristika (Rahmung, Konsistenz) nicht herum. Dabei ist das Kunstwerk in der Lage, die Differenz von Vertrautheit und Irritation, die für seine Ausrahmung (aus der Alltäglichkeit) ohnehin konstitutiv ist, in sich selbst zu wiederholen: »Die Differenz von Sein und Schein bzw. von Alltag und Außeralltäglichem wird in der Welt des Scheins wiederholt.«42 Das Kunstwerk vermag beispielsweise durch die Wiederholung signifikanter Formen und Motive in sich selbst Zonen der Vertrautheit (d.h. stabilisierte Erwartungshorizonte) zu etablieren und diese durch Variation und Unterbrechung in raffinierter Weise wieder aufzulösen. (Ein bestimmter Hintergrundrhythmus ändert sich lange nicht und wird dann variiert; eine Romanhandlung erfüllt die Normalitätserwartung bezüglich der geltenden Naturgesetze, um plötzlich magische Elemente einzuführen.) Luhmann bringt diese Charakteristik der Kunst explizit mit dem antiken Konzept des Staunens in Verbindung: »Das staunende Vergnügen, von dem in der Antike die Rede gewesen war, bezieht sich auf die Einheit der Differenz: auf die Paradoxie, daß Überraschung und Wiedererkennen aneinander steigerbar sind. […] Es ist die Spezialisierung auf dieses Problem, was die Kunst sucht und sie vor dem normalen Wegarbeiten leichter Irritationen in den Wahrnehmungen des Alltagslebens auszeichnet.«43
Kunst kann sich also als eine Praxis der wiederholten Unterbrechung der mitunter von ihr selbst erst etablierten Zonen der Vertrautheit darstellen – wobei sich diese Unterbrechungen im besten Fall retrospektiv als Erwartungserfüllungen höherer Ordnung erweisen. Anhand dieser Überlegungen lässt sich nun eine provisorische Liste der verschiedenen Möglichkeiten künstlerischer Irritationen erstellen, die zwischen dem Wie und dem Was der künstlerischen Präsentation44 unterscheidet: • (Gewöhnliche) Präsentation von Ungewöhnlichem • Ungewöhnliche Präsentation von Gewöhnlichem • Ungewöhnliche Präsentation von Ungewöhnlichem
42 Luhmann (1997), S. 430. Vgl. zum Verhältnis von Staunen und antiker admiratio ebd., S. 234. 43 Ebd., S. 228. 44 Der Begriff »Präsentation« scheint mir an dieser Stelle geeigneter als der Begriff »Darstellung«, sofern er die verschiedenen Kunstgattungen umfasst.
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Dabei käme noch die gewöhnliche Präsentation des Gewöhnlichen – aber eben immer noch: innerhalb eines markierten Rahmens (sonst wäre sie vom Alltag nicht zu unterscheiden!) – als Grenzfigur künstlerischer Irritation in Frage: Wie etwa im Falle von Duchamps Readymades, die als Präsentation des Gewöhnlichsten an unerwarteter Stelle, nämlich an der Stelle, an der man sonst die Präsentation von Unerwartetem erwartet (Museum), charakterisiert werden können.45 Zu bedenken ist zusätzlich, dass das Kunsterleben an den Grenzen der einzelnen Werke nicht Halt macht: Die Einrahmung, die den Raum der zum Werk gehörigen Eindrücke absteckt, kann vom Betrachter auch über das isolierte Einzelwerk hinaus etwa auf ganze Schaffensperioden, das Gesamtwerk einer Künstlerin, oder auch auf eine ganze Stilrichtung erstreckt werden. Durch spezifische Arrangements, die versammelnde Ausstellung von Werken derselben Kunstepoche etwa, werden ästhetische Erfahrungen möglich, die sich innerhalb ganzer Serien verschiedener Einzelwerke bewegen. Für den Kenner steigern sich dabei die Möglichkeiten faszinativen Erlebens von Wiederholung und Differenz, Vertrautheit und Irritation: deutlicher wird sichtbar, wie verschiedene Werke Motive voneinander aufgreifen, neue einführen, ironisch verfremden oder bewusst vermeiden etc. So verortet sich also auch jedes einzelne Werk in einer jeweiligen ästhetischen Zone der Vertrautheit. Es kennt gewissermaßen seine Nachbarwerke sowie auch die »weltläufig vertrauten« (Luhmann) Kontexte, auf die es sich außerdem bezieht. Kunstwerke erscheinen (selbst wenn ihren Herstellern das im Einzelnen nicht bewusst sein sollte) für den entsprechend vertrauten Betrachter immer vor dem Hintergrund dieser Kontexte, die die irritierbaren Erwartungshorizonte strukturieren. Die korrelativen Einheiten ästhetischer Erfahrung sind also nicht so starr, wie es eine am Begriff des einzelnen Werkes orientierte Ästhetik gelegentlich suggeriert.
I MMERSION IN
NICHT - TOTALISIERBARE
G ANZHEITEN
Durch Wiederholung signifikanter Formen und signifikanter Formenfolgen (das können Worte, Phoneme, Farben, Striche, Töne, Gesten, Melodien, Wölbungen
45 Die aufmerksame Leserin wird bemerkt haben, dass sich dieser Fall auch unter die zweite Form künstlerischer Irritation subsumieren ließe. Im Hinblick auf die Prozessformen der Kunst ließe sich noch ergänzen: Etablierung und Unterwanderung von Zonen der Vertrautheit.
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usw. sein) schafft eine Künstlerin also stabilisierte Erwartungshorizonte, die irritierende Brüche und Variationen möglich machen. Die Konsistenz eines Werkes ermöglicht dabei eine im Werk selbst aufgehende Involviertheit seines Betrachters, die man als ›Immersion‹ beschreiben kann.46 Während sich also Konsistenz auf die Art der Verknüpfung der einzelnen Elemente eines Werks bezieht, bezeichnet Immersion eine (ins Werk) involvierte und aus dem bisherigen Vertrauten auf mögliches Nächstes fasziniert gespannte Erwartung. Ist die alltägliche Umwelt nicht immersiv genug, driftet das Bewusstsein schon einmal nach woanders ab: »Die Einbildungskraft (als produktives Erkenntnisvermögen) ist nämlich sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer andern Natur aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt. Wir unterhalten uns mit ihr, wo uns die Erfahrung zu alltäglich vorkommt; bilden diese auch wohl um: [...] wobei wir unsere Freiheit vom Gesetze der Assoziation [...] fühlen, nach welchem uns von der Natur zwar Stoff geliehen, dieser aber von uns zu etwas ganz anderem, nämlich dem, was die Natur übertrifft, verarbeitet werden kann.«47
Diese alltägliche Tendenz zur Emersion aus einer faden Gegenwart in eine interessantere Gegenwelt (als Gegen-Gegenwart) wird dabei durch das Kunstwerk aufgenommen und gesteigert.48 Ein wesentliches Charakteristikum der Kunst be46 Der Begriff Immersion wird heute gelegentlich in Bezug auf Computerspiele gebraucht, um das Gefühl zu beschreiben »von einer völlig verschiedenen Realität umgeben zu sein«. Murray (1997), S. 98f. [Meine Übersetzung T.P.] Vgl. auch Gander (1999), S. 1-16 sowie Pietschmann (2009). Mir scheint allerdings, dass diese Beschreibung noch zu eng ist, um allgemein die Art und Weise zu charakterisieren, wie wir uns bei einem Erlebnis von Kunst (etwa auch beim Hören von Musik) absorbiert fühlen. Ich würde daher vorschlagen das Phänomen der Immersion von der konkreten Imagination einer alternativen Wirklichkeit zu lösen. Es geht vielmehr ganz allgemein um als Immanenzen erlebbare Kontexte, die trotz ihrer Finitheit als konstitutiv unabgeschlossen erlebt werden. Ein Musikstück kann dann ebenso immersiv sein wie ein Roman, ein Film, ein Videospiel oder ein Gemälde, sofern es eben eine Immanenz der oben beschriebenen Form zur Verfügung stellt, die »jede auf die Kenntniss der Wirklichkeit gerichtete Stimmung zu unterdrücken« (Humboldt) imstande ist. 47 Kant (2009), S. 665. 48 Hier besteht eine inhaltliche Nähe zur Dynamik von De- und Reterritorialisierung, wie sie Deleuze und Guattari beschreiben. Bei Valéry findet sich dieser Topos im Eupalinos im Motiv der »Beweglichkeit« der Seele entfaltet, die zwischen aufmerksamimmersiver Zuwendung und emersiver Abwendung oszilliert. Vgl. Valéry (1990), S. 34f.
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steht deshalb darin »eine eigene Realität [zu etablieren T.P.], die sich von der gewohnten Realität unterscheidet«.49 Humboldt hierzu: »Der Dichter versetze uns, wie er seinem ersten und einfachsten Berufe nach zu thun verbunden ist, ausserhalb den Schranken der Wirklichkeit […]. Sobald also der Dichter nur dahin gelangt, in uns jede auf die Kenntniss der Wirklichkeit gerichtete Stimmung zu unterdrücken und alle sonst damit beschäftigten Kräfte unsres Geistes allein der Einbildungskraft unterzuordnen, so hat er seinen Zweck erreicht.«50
Kunstwerke stellen faszinative Immanenzen bereit, sie stellen – mit Heidegger gesprochen – »eine Welt auf«, die uns in ihren faszinativen Bann zu ziehen vermag.51 Der »Weltcharakter« des Kunstwerks besteht dabei aber gerade nicht in seiner Abgeschlossenheit, sondern in seiner durch Erwartungen nie restlos (vor)einholbaren Unabgeschlossenheit in einem finiten Rahmen. Das Kunstwerk wiederholt so die auch an jeder alltäglichen Irritation sich erweisende Unmöglichkeit, die Welt erwartungsgemäß restlos vorabzuwickeln. Das Kunstwerk ist im Erleben nicht zu totalisieren – und dennoch erscheinen die in ihm inszenierten Brüche und Irritationen (immer wieder, nicht unbedingt in jedem Einzelfall) als konsistent, als unerwartete Erwartungserfüllungen höherer Ordnung.52 Diese höhere Ordnung erweist sich dabei als eine nachträgliche Strukturierungsleistung, die das Ganze jedoch nicht im Vorhinein vorwegnehmend einzuholen vermochte bzw. vermag.53 Und hierin genau besteht die Analogie des Kunstwerks zur Welt, sofern man diese ebenfalls nicht als geordneten Kosmos voraussetzt, sondern als nicht-totalisierbare Ganzheit begreift.54 Kunstwerke stellen innerhalb ihrer jeweiligen Rahmung nie vollständig voreinholbare Verweisungszusammenhänge bereit, die die Möglichkeit ihres Verstehens im Sinne der strukturierenden (Vor-)Erfassung ihrer Ganzheit stets überschreiten: 49 Luhmann (1997), S. 228. 50 Humboldt (1963), S. 147. 51 Heidegger (1960), S. 40f. Was Heidegger das alltägliche »In-der-Welt-Sein« nennt, kann dem Involvierungscharakter nach dann als »Primärimmersion« beschrieben werden. 52 In diesem Punkt würde ich Matthias Vogels scharfsinniger Beschreibung der ästhetischen Erfahrung widersprechen, der das Verstehen eines Kunstwerks gerade als strukturierende Erfahrung dieses Kunstwerks als Ganzheit begreift. Vgl. FN 36. 53 Kant (2009), S. 700ff. 54 Luhmann spricht in diesem Sinne auch von »Welt-Kunst«. Vgl. Luhmann (2008), S. 209.
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Kunstwerke werden daher – wie Personen auch – niemals (vollständig) verstanden. Sie sind fortwährend irritierende, nicht-totalisierbare Ganzheiten.
K UNST
ODER
P HILOSOPHIE ?
Wittgenstein bemerkte einmal, dass man Philosophie »eigentlich nur dichten dürfte«.55 Tatsächlich nähert sich die Philosophie, wenn man sie nicht mehr als einen Versuch der verstehenden Überwindung von Irritationen begreift, der künstlerischen Praxis im hier angedeuteten Sinn. Eine Philosophie, die ihre taumatophilen Tendenzen entdeckt, suggeriert nicht die Möglichkeit abschließender Erkenntnis, sie betätigt sich vielmehr als Irritiererin von Ordnungssuggestionen, deren ordnende Funktion vor allem auf Nicht-Thematisierung oder auf einem gewohnheitsmäßigen Bewenden-Lassen bei Selbstverständlichem beruht. Menschen neigen dazu, ihre endlichen Orientierungsversuche mit der Ordnung der Welt zu verwechseln. Ihre Selbstverständlichkeiten sind Schutzschilde gegen die beunruhigende Unmöglichkeit der Vorwegnahme der Ordnung der Welt im Ganzen, deren Potenzial zur Irritation sie nie restlos auszumerzen in der Lage sind. Kunst ihrerseits veranschaulicht diese Unmöglichkeit exemplarisch: »The essential quality of poetry is that it makes a new effort of attention, and ›discovers‹ a new world within the known world. Man, and the animals, and the flower, all live within a strange and forever surging chaos. The chaos which we have got used to, we call a cosmos. […] But man cannot live in chaos. […] Man must wrap himself in a vision, make a house of apparent form and stability, fixity. In his terror of chaos, he begins by putting up an umbrella between himself and the everlasting whirl. Then he paints the underside of his umbrella like a firmament. Then he parades around, lives, and dies under his umbrella. Bequeathed to his descendants, the umbrella becomes a dome, a vault, and men at last begin to feel that something is wrong. […] Then comes a poet, enemy of convention, and makes a slit in the umbrella; and lo! the glimpse of chaos is a vision, a window to the sun.«56
Während eine thaumatophobe Philosophie versucht, einen Regenschirm zu konstruieren, der keine solchen Schnitte mehr zulässt, demonstriert eine thaumatophile Kunst (und möglicherweise auch eine solche Philosophie) die faszinierende Unmöglichkeit abschließenden Verstehens nicht-totalisierbarer Ganzheiten. Aus
55 Wittgenstein (1990), S. 483. 56 Lawrence (2005), S. 109f.
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der irritierenden Immanenz der Kunst werden die menschlichen Hoffnungen auf abschließende Entdeckung der Ordnung des Ganzen erkennbar als endliche Orientierungsversuche mit (häufig) deutlich überzogenem epistemischen Kredit. Demgegenüber schafft Kunst lokale, geschlossene Immersionssphären, die gleichwohl niemals abschließend verstanden werden können.57 Als endliche und dennoch nicht-totalisierbare Gebilde demonstrieren Kunstwerke dabei zugleich exemplarisch unsere Fähigkeit zur Navigation in dem konstitutiv unüberschaubaren Gelände, das wir gewöhnlich »Welt« nennen, ohne sich dabei in kosmologische Ordnungsphantasien zu flüchten. Kunst vermag den thaumatophoben Impuls, der oben als eine wesentliche Tendenz der Philosophie dargestellt wurde, in Thaumatophilie, Irritationsfreude zu verkehren: Sie macht die Annahme der apriorischen Aufgeräumtheit der Welt nicht mit – und führt zugleich die immersive Faszination vor, die im Erleben dessen besteht, »das nicht vorhergesehen, wohl aber erwartet werden kann.«58 »Die Kunst ist nicht das Chaos, wohl aber eine Komposition des Chaos, […] so daß die Kunst einen Chaosmos bildet, wie Joyce sagt, ein komponiertes Chaos – weder vorausgesehen noch vorgefaßt.«59 Und eine thaumatophobe Philosophie? Die hat, sofern sie mit dem kosmologischen Vorurteil weiter zu spielen gewillt ist, im besten Fall immer »zugleich etwas Spielerisches, Künstlerisches, Selbstironisierendes an sich. Man führt eine Konstruktionsanweisung aus und sieht, wie weit man kommt.«60
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57 Diese Eigenschaft teilen sie im Übrigen auch mit Personen: »immer ist hier die Bedeutung noch etwas Weiteres als das, was sich in unmittelbarer Erscheinung zeigt«. Hegel (1971), S. 61. 58 Valéry (1992), S. 495. 59 Deleuze/Guattari (2000), S. 242. 60 Luhmann (1992), S. 57.
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1. E INLEITUNG Beim explorativen Experimentieren, bei Forschungsprozessen in Wissenschaft und Kunst, setzt man sich als Experimentierender willentlich einer Fremderfahrung aus. Man konfrontiert sich mit einem Zustand des Nichtverstehen-Könnens, solange das erst noch zu Schaffende, das in diesem Sinn radikal Fremdartige, das Neuartige, noch im Entstehen begriffen ist – wobei grundsätzlich nie planbar oder vorhersehbar ist, ob überhaupt Neuartiges entsteht. Aufgrund dieser charakteristischen Offenheit von Forschungsprozessen, wird man immer mit der hohen Wahrscheinlichkeit eines Ausbleibens von konkreten Ergebnissen im engeren Sinn rechnen müssen. Ein Ausbleiben von konkreten Ergebnissen wird gegebenenfalls von Außenstehenden als ein Scheitern gewertet werden, auf Grundlage
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von lediglich ergebnisorientierten Bewertungen, verbunden mit einem Unverständnis für den von Ergebnissen unabhängigen Eigensinn und Eigenwert von explorativen Forschungsprozessen. In der Auseinandersetzung mit einem derartigen Unverständnis und festgelegten Erwartungshaltungen, wird der Forschende voraussichtlich in Folge mit dem Ausbleiben von Anerkennung leben müssen, mit Wertverlust und Verringerung der eigenen Wichtigkeit, was persönliche Belastungen darstellt, die sich negativ auf das Selbstverständnis und Selbstwertgefühl auswirken können. Sich derartigen persönlichen Belastungen – dem eigenen Nichtverstehen und dem Unverständnis Anderer – bewusst und willentlich auszusetzen, erfordert eine besondere Überwindung. Dieser eigentümliche Willensakt des ›Sich / Etwas / Aussetzens‹, den man als ›Wille zum Verstehen‹ bezeichnen könnte, ist notwendig mit einer Selbstrelativierung verbunden. Die Praxis der Selbstrelativierung soll in ihren unterschiedlichen Ausprägungen nachfolgend als eine Weise des Abstand-Nehmens von der eigenen Egozentrizität verstanden werden. Dafür ist es in einem ersten Schritt notwendig ein Verständnis für das Phänomen der ›Egozentrizität‹ zu entwickeln. Im Ausgang von einer sprachanalytisch-anthropologischen Studie von Ernst Tugendhat soll unter anderem gezeigt werden, in welcher Weise Egozentrizität begriffen werden kann im Zusammenhang mit der Fähigkeit von Menschen zum ›ich‹-Sagen, welche notwendig ist, um das raumzeitliche Referenzsystem, auf das sich propositionale Sprachen beziehen intersubjektiv gebrauchen zu können.1 Es soll nachvollziehbar gemacht werden, wie Menschen durch den Gebrauch einer propositionalen Sprache auf der einen Seite besondere Fähigkeiten entwickeln im Zusammenhang mit ihrer Egozentrizität, wie etwa das Vermögen zur Selbstaktivierung, welches bewirkt, dass man sich vom unmittelbaren Wollen zu lösen vermag, um somit situationsunabhängig auf zukünftige Vorhaben referieren zu können und um dadurch das eigene Handeln am begründbar ›Besseren‹ auszurichten. Auf der anderen Seite entwickeln sich für ›ich‹-Sager im Zusammenhang mit ihren besonderen Vermögen – vermittelt durch ihre Egozentrizität – notwendig auch spezifische Belastungen durch die eigene Egozentrizität und es ergibt sich ein eigentümliches Leiden an der Egozentrizität, wie es sich beispielsweise durch die belastende Erfahrung darstellt, grundsätzlich und fortwährend der Möglichkeit von Vorhaltungen Anderer und sich selbst ausgesetzt zu sein. Eine menschliche Grunderfahrung, deren Entstehungszusammenhänge sprachphilosophisch erläutert werden können. Durch diese Spannungen zwischen miteinander notwendig verbundenen Fähigkeiten und Belastungen ergeben sich wiederum Spannungen zwischen einerseits Notwendigkeiten und Motivationen von Egozentrizität zurücktreten zu wollen, andererseits dem Bedürfnis an 1
Vgl. Tugendhat (2006).
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der eigenen Egozentrizität zu haften, wegen ihrer grundlegenden Orientierungsfunktion für den Gebrauch einer propositionalen Sprache und wegen des mit der eigenen Egozentrizität verbundenen Verlangens nach Anerkennung und Wichtigkeit. Im Zusammenhang mit Überlegungen zum Grundbedürfnis des Menschen nach Anerkennung, Wertschätzung und Wichtigkeit, soll im Kontext der Untersuchung von möglichen Motivationen zur Selbstrelativierung die Tugend der ›intellektuellen Redlichkeit‹ hervorgehoben werden, die in einem weit verstandenen Sinn sowohl dem forschenden Wissenschaftler, als auch dem forschenden Künstler zukommt. Eine Tugend, die grundsätzlich für alle genuin kreativen Tätigkeiten erforderlich ist. Um dem praktischen Charakter experimentellen Handelns sprachlich gerecht zu werden, soll der Vorschlag gemacht werden, den Begriff der ›intellektuellen Redlichkeit‹ zu ersetzen mit der alternativen Rede von einem ›Willen zum Verstehen‹, wobei der Begriff ›Verstehen‹ in einem weiten Sinn gebraucht werden muss, welcher beispielsweise sprachliche, propositionale und auch nichtsprachliche Formen des Verstehens umfasst. Bezug genommen werden kann somit sowohl auf theoretische, als auch auf alle praktischen, nichtsprachlichen kreativen Tätigkeiten und Verstehensformen in Wissenschaft und Kunst. Der ›Wille zum Verstehen‹ kann als eine Voraussetzung verstanden werden, um sich befreien zu können vom Grundbedürfnis nach Anerkennung, um von diesem Grundbedürfnis unabhängig, explorativ experimentell zu handeln, in Hinblick auf den Versuch, Bedingungen und Möglichkeiten zur Kreation von Neuartigkeit zu schaffen. Dabei wird die Möglichkeit des Scheiterns aus der Sicht Anderer bewusst in Kauf genommen, mit dem Risiko des Ausbleibens von Anerkennung. Der ›Wille zum Verstehen‹ kann einen Akt des ZurücktretenWollens von der eigenen Wichtigkeit – einen Akt der Selbstrelativierung – unterstützen. Diesen Zusammenhängen soll nachgegangen werden, um darauf aufbauend die sprach-philosophischen Einsichten fortzuführen und zu erweitern, im Rahmen einer zeichen-philosophischen Untersuchung der nichtsprachlichen Praxis des explorativen Experimentierens in Wissenschaft und Kunst. Bezug genommen wird dabei in erster Linie auf die Arbeiten von Nelson Goodman. Es soll nachvollziehbar gemacht werden, in welcher Weise man jede genuin kreative Praxis in einer besonderen Ausprägung begreifen und praktizieren kann als nichtsprachlichen Akt der Selbstrelativierung. Diese Praxis der Selbstrelativierung ist – so verstanden – vergleichbar mit anderen Formen des AbstandNehmens vom eigenen Wollen in einem Kontext sogenannter mystischer Praxis, speziell im Zen-Buddhismus.
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Jede sogenannte ›mystische‹ Praxis, hier aus philosophischer Perspektive – unabhängig von theologischen Begrifflichkeiten oder bestimmten kulturellen Traditionen – verstanden als radikale Praxis der Selbstrelativierung, ist von grundsätzlich anderer Art als die Theoriestrukturen der meisten Religionen, die auf dogmatischer Schriftgläubigkeit aufbauen, mit allen damit verbundenen Problemen wie religiös motiviertem Fundamentalismus oder institutionalisierter Machtausübung mit den damit eröffneten Möglichkeiten zum Machtmissbrauch. Klassische Religionen, deren Kernannahmen sich auf die Vorstellung der Existenz einer höheren Macht beziehen, können aus heutiger, philosophischer Perspektive nur noch als problematische Ausformungen von Wunschprojektionen betrachtet werden.2 Für Menschen, die sich der Tradition der Aufklärung verbunden fühlen, bietet sich das explorative Experimentieren an als eine Möglichkeit in einer systematischen und praktischen Weise eine spirituelle Praxis einund auszuüben, ohne dabei den Anspruch der Vernunft aufgeben zu müssen. Die kreative Praxis des Experimentierens kann als eine konkrete Übungsmöglichkeit genutzt werden, um mit Belastungen umgehen zu lernen, welchen prinzipiell jeder Mensch, der eine propositionale Sprache spricht, ausgesetzt ist. Neben der Möglichkeit zur Ausprägung einer in diesem Sinn befreienden Lebenshaltung durch Selbstrelativierung, kultivieren Experimentieren und mystische Praxis ein spezifisches, emotional-kognitives Vermögen, auf die Wirklichkeit aufmerken zu können: das Vermögen zum Staunen. Die Praxis des explorativen Experimentierens ist grundlegend an den Gebrauch von nichtsprachlichen Symbolsystemen gebunden. Im begriffstechnischen Sinn: an die Referenz durch ›Exemplifikation‹, oder, einfacher formuliert, an die Praxis des Mustergebrauchs. Diese Art nichtsprachlicher Selbst- und Weltverständigung kann auf Grundlage der Arbeiten von Goodman differenziert analysiert werden, in Bezugnahme auf Goodmans Theorie der Notation und seine Auffassung von den ›Symptomen des Ästhetischen‹. In Zusammenhang mit den philosophischen Reflexionen wird auch kurz eingegangen auf die experimentelle Praxis von Künstlern wie John Cage, Gerhard Richter und Kasumi. Dem Beitrag liegt das methodologische Anliegen zugrunde, die Einsichten der analytischen Sprachphilosophie, ausgehend vom ›linguistic turn‹, in der pragmatisch ausgerichteten Tradition der Philosophie der ›normalen Sprache‹, anzubinden an zeichenphilosophische Untersuchungen zum Gebrauch nichtsprachlicher Zeichensysteme, insbesondere in Bezug auf die Arbeiten von Goodman.
2
Vgl. ebd., S. 123.
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2. S PRACHPHILOSOPHIE 2.1 ›ich‹-Sagen und ›ich‹-Sager Um ein für alle Teilnehmer einer Sprachgemeinschaft gleichermaßen zugängliches und praktikables raumzeitliches Referenzsystem zu etablieren – das auch unabhängig von Wörtern, die mit situationsabhängigen Zeigehandlungen verbunden sind (›deiktische‹ Wörter), funktioniert – ist es logisch notwendig, dass die Teilnehmer eines derartigen Referenzsystems erstens gegenseitig aufeinander Bezug nehmen können und dass jeder Sprachverwender auch auf sich selbst Bezug nehmen kann, durch das Beherrschen der Verwendungsweise des Wortes ›ich‹. Hierbei muss sich jede Person als Zentrum eines für Alle prinzipiell gleichermaßen zugänglichen Referenzsystems begreifen. Dieses Phänomen soll aus symboltheoretischer Sicht als ›Egozentrizität‹ bezeichnet werden. Sprecher der propositionalen Sprache können dabei kein Bewusstsein von sich haben, wenn sie nicht ein Bewusstsein von einer objektiven Welt hätten. In diesem Sinn ist mit der Etablierung von Egozentrizität schon notwendig eine erste Form der Selbstrelativierung verbunden. Denn niemand kann für sich alleine ›ich‹ sagen. Dieses Wort zu verstehen heißt zu verstehen, dass jeder, wenn er ›ich‹ sagt, auf sich selbst Bezug nimmt. So sind für einen Sprecher, sobald er ›ich‹ sagen kann, eine Vielzahl von anderen ›ich‹-Sagern Wirklichkeit. Mit der eigenen Egozentrizität ist das Empfinden für die eigene Wichtigkeit verbunden, welches wiederum notwendig relativiert werden muss, durch das Anerkennen der Existenz anderer ›ich‹-Sager. Das Phänomen der Egozentrizität kann somit in einem ersten Schritt über eine Analyse des Gebrauches des Wortes ›ich‹ erschlossen werden.3 2.2 sich wichtig nehmen und sich um sich sorgen Jeder ›ich‹-Sager wird sich, vermittelt durch seine Egozentrizität, als absolut wichtig begreifen, aber er hat gleichzeitig, mehr oder weniger reflektiert, auch ein Bewusstsein davon, dass auch alle anderen ›ich‹-Sager sich wichtig nehmen. Er befindet sich in einer Welt, in der er selbst auch Anderes wichtig nehmen und schließlich sich selbst angesichts der Welt mehr oder weniger unwichtig nehmen kann. Man spricht nicht nur davon, dass Menschen sich mehr oder weniger
3
Vgl. ebd., S. 29: »Für einen ›ich‹-Sager wandelt sich die rudimentäre Selbstzentrierung, die wohl zum Bewußtsein überhaupt gehört, zu einer Ego-Zentrizität um: man hat nicht nur Gefühle, Wünsche usw., sondern man weiß sie als seine eigenen Wünsche.«
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wichtig nehmen können, es ist auch davon die Rede, dass Menschen ›sich um sich sorgen‹. Was ist damit gemeint? Um das Phänomen der Sorge beim Menschen verstehen zu können, ist es in einem ersten Schritt notwendig, zu sehen, dass Menschen sich von ihrem unmittelbaren Wollen unabhängig machen können, indem sie ihr Handeln auf Zwecke beziehen.4 Kinder lernen fortgesetzt ihre Handlungen situationsunabhängig auszurichten, indem sie in zunehmendem Maße in der Lage sind sich etwas vorzunehmen, etwa einen Turm zu bauen, oder indem sie andere konkrete Dinge zu realisieren versuchen. Kinder können ihr Handeln immer besser auf bestimmte Vorhaben ausrichten, welche dann notwendigerweise in einem Spannungsfeld von Versuchen und Gelingen erfahren werden. Kinder bemühen sich immer mehr um ihre verschiedenen Vorhaben und deren Gelingen. Sie sorgen sich aber anfangs noch nicht um ihr Leben. Von Sorge sprechen wir erst, wenn Menschen ihre vielfältigen Vorhaben verbinden hinsichtlich eines Gesamtguten. Tugendhat weist darauf hin, dass bereits Aristoteles in Bezug auf die Rede von einem höchsten Gut von der besonderen Rolle der Frage an einen Mitmenschen, wie es ihm gehe, gesprochen hat. Auf diese Frage nach dem Gesamtbefinden könne man mit einem ›gut‹ oder ›schlecht‹ antworten, entscheidend ist in jedem Fall, dass hier keine einzelnen Aspekte bewertet werden, sondern etwas ›im Ganzen‹. »Was gemeint ist, läßt sich am einfachsten aus derjenigen Stimmung heraus gewinnen, in der es naheliegt zu sagen: ›am liebsten würde ich nicht mehr leben‹.«5
Eine solche umfassend negative Beurteilung der eigenen Belange in Bezug auf das eigene Leben steht in Verbindung mit der Grunderfahrung von Menschen, dass ihre Vorhaben immer der Möglichkeit des Scheiterns ausgesetzt sind. Menschen erleben sich in einer prinzipiellen Dimension der Unverfügbarkeit, sie erleben sich und ihre Vorhaben dem Zufall ausgesetzt, sie erfahren ihr Leben in Abhängigkeit von Kontingenz. In Verbindung mit dem Zeitbewusstsein von Menschen und dem damit verbundenen Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit kommt dem Tod in Bezug auf eine Bewertung des Gesamtbefindens eine zentrale Bedeutung zu. »Der Tod ist der herausragende Fall dieser Erfahrungen von Grenze und Ohnmacht. Vor dem Tod steht das egozentrische Wollen so fassungslos, weil bei ihm die Ohnmacht nicht nur das Wie der Zukunft betrifft, sondern diese selbst, ihr Ende. Das erscheint schrecklich, 4
Ebd., S. 31: »Das wiederum scheint nur möglich zu sein bei einem Wollen, das etwas zum Gegenstand hat, das es für gut hält.«
5
Ebd., S. 91.
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daher es nach Möglichkeit verdrängt wird. Dem Tod kommt für die Reflexion auf das ›im ganzen‹ eine eminente Bedeutung zu.«6
Für ›ich‹-Sager kann sich im Zusammenhang mit der Fähigkeit auf Zukünftiges referieren zu können ein Leiden an der Unverfügbarkeit der eigenen Belange ergeben, welches sich zu einer so grundlegenden Belastung ausweiten kann, dass der Mensch versuchen wird, diese durch einen Akt der Selbstrelativierung zu mildern. Die Fähigkeit des Menschen, auf sein Leben ›im Ganzen‹ zu reflektieren, kann derart belastende Auswirkungen mit sich bringen, dass diese Fähigkeit durch ihre negativen Auswirkungen in Folge eine Motivation zur Selbstrelativierung bedingen kann. »So ergibt sich eine Motivation zur nicht nur relativen Selbstrelativierung, zur Relativierung der eigenen Wichtigkeiten, der man nachgeben kann oder auch nicht. Das Zurücktreten von sich bedeutet einen Schritt zurück nicht nur vom Egoismus, sondern von der eigenen Egozentrizität.«7
2.3 Selbstaktivierung und Vorhaltungen Eine weitere Form der Selbstrelativierung ergibt sich aus einem Zurücktreten vom eigenen Wollen. Diese Form der Selbstrelativierung ist auf eine spezifische Art mit der Tatsache verbunden, dass Menschen Wesen sind, die sich fortwährend Vorhaltungen ausgesetzt fühlen, von Anderen und von sich selbst. Die Einsicht in die Notwendigkeit derartiger Belastungen macht nachvollziehbar, in welcher Weise jeder Mensch, der eine propositionale Sprache spricht, prinzipiell eine Motivation entwickeln kann, zu versuchen, sich von seiner Egozentrizität zu befreien. Anhand folgender Gedankengänge soll versucht werden, diesen Zusammenhängen nachzugehen: Ich würde gerne jetzt am Morgen noch weiter im Bett liegen bleiben, und obwohl ich weiß, dass es besser wäre aufzustehen, weil (…), bleibe ich liegen. Ich kann also Gründe nennen, warum es eigentlich besser wäre aufzustehen. Warum bleibe ich in manchen Fällen dennoch liegen? Durch die Verwendung von singulären Termini, durch die Referenz auf Wirklichkeit mit Wörtern befreit sich der Mensch von den Abhängigkeiten direkter Reaktionen. Parallel dazu ist der Mensch in der Lage sich vom eigenen Wollen 6
Ebd., S. 99.
7
Ebd., S. 107f.
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unabhängig zu machen, indem er sich etwas vornimmt, was gegen sein unmittelbares Wollen gerichtet ist, weil der Mensch Gründe nennen kann, warum eine zukünftige Handlung, alternativ zum momentan gewollten Handeln, ›besser‹ wäre. In diesem Sinn kann der Mensch durch den Gebrauch der Worte ›gut‹ bzw. ›besser‹ eine Selbstrelativierung vornehmen, indem er sich vom unmittelbar Gewollten befreit. Nun ist es aber so, dass man in manchen Fällen, obwohl man eben ›eigentlich‹ weiß, dass es besser wäre anders zu handeln, dennoch das unmittelbar Gewollte vorzieht. Warum? Um den hier angestrebten Punkt herauszuarbeiten ist es hilfreich, die vorgestellte Szene in der Früh im Bett liegen bleiben zu wollen, noch einmal zu durchdenken, beispielsweise in einer Variante als Szene zwischen Mutter und Kind. Sagt die Mutter liebevoll zum Kind, dass es jetzt besser wäre aufzustehen, etwa weil es nicht zu spät zum Kindergarten kommen soll, und das Kind bleibt dennoch liegen, wird die Mutter ihren freundlichen Ton ändern und dem Kind zu verstehen geben, dass sie langsam verärgert ist. Erst wenn das Kind den Ärger der Mutter zu spüren bekommt, wird es sich veranlasst sehen wirklich aufzustehen. Worauf es hier ankommt ist, dass der Bezug auf Gründe, warum eine alternative Handlung ›besser‹ wäre als das unmittelbar Gewollte, erfahrungsgemäß oftmals nicht ausreicht, um vom unmittelbar Gewollten abzusehen, wenn nicht noch zusätzlich ein affektiv-wertendes Moment wirksam wird, das ein Kind über Lob oder Tadel der Eltern mit der Zeit verinnerlicht, um sich zu Handlungen zu motivieren, die begründet ›besser‹ sind als das unmittelbar Gewollte. In der Ermunterung und im Vorwurf liegt ein affektiv-wertendes Moment und es scheint plausibel, dass das Motiviertwerden zu einem Ziel ohne dieses Gefühls- und Wertungsmoment gar nicht in Gang kommen kann.8 »So sehr also das Vermögen der ›ich‹-Sager zur Selbstaktivierung eine außerordentliche Erweiterung ihres Könnens darstellt – nur dadurch können sie sich Ziele setzen und etwas gut machen, eben deswegen aber auch Ziele verfehlen und etwas schlecht machen –, so ist es zugleich auch die Quelle eines unaufhörlichen Leidens an sich selbst und wechselseitigen Verdrusses. Es ist nicht nur eine Quelle zusätzlichen Leidens, dass zu den körperlichen Leiden und den Leiden über Verluste und der Sorge um die Zukunft hinzukommt, sondern es ist eine neue Art des Leidens, es ist ein Leiden an sich in dem engen Sinn, daß man an dem leidet, was in der eigenen Hand liegt, an der Selbstaktivierung.«9
8
Vgl. ebd., S. 58f.
9
Ebd., S. 63.
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3. E XKURS : R ELIGION ALS G EGENSATZ ZUR M YSTIK , ZUR P RAXIS DER S ELBSTRELATIVIERUNG Ein Anliegen der vorliegenden Untersuchung ist es nachvollziehbar zu machen, in welcher Weise das explorative Experimentieren unter anderem eine Praxis der Selbstrelativierung umfassen kann, welche wiederum verglichen werden kann mit Selbstrelativierungsprozessen im Zen-Buddhismus, verstanden als konsequenteste Form mystischer Praxis, welche dadurch charakterisiert werden kann, dass sie in erster Linie darauf abzielt den Übenden von der eigenen Egozentrizität zu befreien. Es muss an dieser Stelle betont werden, dass in Bezug auf diese Hauptmotivation Religion und Mystik, aus Erster-Personen-Perspektive, als nicht nur unterschiedliche Wege betrachtet werden sollten, sondern genau genommen als entgegengesetzte Formen mit Belastungen menschlicher Existenz umzugehen: Einmal der Weg der Selbstrelativierung in der Mystik, einmal der Weg der Wunschprojektion über die Vorstellung höherer Mächte in der Religion.10 Erkennt man den Kern traditioneller und zeitgenössischer mystischer Praxis (beispielsweise im Zen-Buddhismus) als Akt der Selbstrelativierung, ist man in der Lage eine derartige Praxis losgelöst von bestimmten konkreten kulturellen Traditionen oder Begrifflichkeiten, wie eben auch dem Begriff ›Mystik‹, zu begreifen und es ergibt sich die Perspektive, eine derartige Praxis der Selbstrelativierung als eine prinzipiell jedem Menschen zugängliche Möglichkeit zu verstehen sich von Belastungen des Menschseins zu befreien. Darüber hinaus erfordert die Praxis der Selbstrelativierung nicht zwingend sich aus der Welt zurückzuziehen durch ›meditative Versenkung‹, wie sie in bestimmten mystischen Traditionen praktiziert wird, im Gegenteil eröffnet die Praxis der Selbstrelativierung einen Weg, in besonderer Weise auf die Welt aufmerken zu können. Dieses Aufmerken-Können wird weiter unten mit dem Begriff des Staunens näher erläutert werden. »So komme ich zu einer Definition von Mystik, derzufolge sie (1) im Sichlösen vom voluntativen Haften (oder der Gier oder der Sorge) besteht, und dies (2) angesichts (statt in ›meditativer Versenkung‹) des Universums. [...] Daß ich versuche, von der Definition von Mystik die Bezugnahme auf einen bestimmten Bewusstseinszustand [oder eine bestimmte historische Praxis N.R.] fernzuhalten [...], hängt auch damit zusammen, daß ich aus der Perspektive der 1. Person bemüht bin, die Mystik als etwas zu sehen, was jedem Men-
10 Vgl. ebd., S. 122f.
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4. I NTELLEKTUELLE R EDLICHKEIT D ER W ILLE ZUM V ERSTEHEN
UND
K REATIVITÄT .
Eng verbunden mit der Egozentrizität von ›ich‹-Sagern und mit der Tatsache, dass Menschen, verbunden mit ihrer Fähigkeit zur Selbstaktivierung, dauernd einem Gefühl des Vorliegens von Vorhaltungen ausgesetzt sind, ist die Erfahrung, dass Menschen sich selbst wichtig nehmen, und um etwaigen Vorhaltungen entgegenzuwirken, in ihrem Tun auf Anerkennung aus sind. Mit dem Ausbleiben von Anerkennung verbindet man auch einen Wertverlust, da man die eigene Wichtigkeit und das Empfinden für den eigenen Wert grundlegend über die Anerkennung erfährt, die einem für das eigene Können entgegengebracht wird. Um Anerkennung zu erfahren, wird von einem verlangt, dass man das, was man macht ›gut‹ macht. Da bei genuin kreativen Tätigkeiten aber weder absehbar ist, ob der damit verbundene Forschungsprozess zu einem Ergebnis führt und hier, noch gravierender, genau betrachtet überhaupt (noch) keine Kriterien vorliegen können, was hierbei eigentlich als ›gut‹ zu bewerten wäre, stellt sich die Frage, wie man sich zu einer Tätigkeit motivieren kann, welche eben grundsätzlich mit der Möglichkeit des Ausbleibens von bewertbaren Ergebnissen und somit dem Ausbleiben von Anerkennung verbunden ist. »Die Egozentrizität der »ich«-Sager verwickelt sich also nicht nur durch die Sorge vor Vorhaltungen, die man sich machen kann, sondern durch die Sorge um Wertverlust, die Sorge vor dem Tadel und der Entrüstung, die man von anderen erfahren kann und die ihrerseits internalisiert werden: die Angst vor Scham und Schuld. Obwohl nun aber alles adverbiell Gute auf Anerkanntwerden bezogen ist, so geht es darin doch nicht auf. Hier [ergibt sich ein Problem: N.R.] […] wieweit kann man etwas gerne tun und es gerne gut tun, ganz ohne auf Beifall ausgerichtet zu sein, sogar in der Vorstellung?«12
Ob ich etwas ›gut‹ mache, wird bei den meisten Tätigkeiten nicht von mir selbst festgelegt werden können, da die Bewertungskriterien bei vielen Tätigkeiten durch die Sache vorgegeben sind und die Merkmale der Tätigkeit wiederum durch intersubjektive Übereinkunft festgelegt sind. So entscheidet etwa im Sport
11 Ebd., S. 117. 12 Ebd., S. 75.
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der Wettkampf, wer seine Sache gut oder besser ausübt. Das Motiviertsein durch das Gutseinwollen und das Motiviertsein durch das Gutscheinenwollen lässt sich hierbei also kaum unterscheiden. »Das ist bei kreativen Tätigkeiten anders, weil das Kreative darin besteht, daß das Kriterium für ›gut‹ nicht vorgegeben ist und auch nicht durch ein objektives Verfahren entscheidbar ist, sondern hier gehört es zur Tätigkeit selbst, zu überlegen, wie man sie am besten ausüben kann.«13
Es stellt sich nun die Frage, wie man nachvollziehbar machen kann, warum der kreativ Tätige handelt ohne dabei erwarten zu dürfen für sein Handeln mit Anerkennung rechnen zu können, wenn doch das Anerkennung Erfahren für den Menschen ein grundlegendes Bedürfnis darstellt, um die eigene Wichtigkeit zu bestätigen und zu bekräftigen, was einen Zuwachs an Selbstwertgefühl darstellt, wonach jeder Mensch unter normalen Umständen streben würde. »Woher kann er die Motivation nehmen, sich vom Beifall unabhängig zu machen und sich autonom nach dem Guten auszurichten? […] Wir stehen hier vor der durch Sokrates verkörperten Tugend der intellektuellen Redlichkeit. [...] In allem kreativen Tun gibt es eine analoge Haltung zu dem, was die intellektuelle Redlichkeit im Bezug auf das eigene Meinungssystem, also im Theoretischen, ist [...]. Da ich keinen Terminus kenne, der für diese Haltung im allgemeinen Fall verwendet wird, will ich den Terminus ›intellektuelle Redlichkeit‹ so erweitert verwenden.«14
Um dem Handlungscharakter experimenteller Tätigkeiten sprachlich gerecht zu werden, möchte ich an dieser Stelle vorschlagen den (so erweitert verwendeten) Begriff der ›intellektuellen Redlichkeit‹ zu ersetzen mit der Rede von einem ›Willen zum Verstehen‹ (in Anlehnung und in Erweiterung von Nietzsches Rede von einem ›Willen zur Wahrheit‹).15 Neben dem Vorteil, dass die Rede von einem ›Willen zum Verstehen‹ nun sowohl auf sprachliche, propositionale Verstehensformen, als auch auf nichtsprachliche Verstehensformen angewendet werden kann, deutet dieser Begriff schon auf den motivierenden, ›eigenwilligen‹ Charakter allen kreativen Schaffens hin. Der ›Wille zum Verstehen‹ vermittelt die Begeisterung am explorativen Experimentieren ›an sich‹, unabhängig von zu erwartenden Ergebnissen und unabhängig von den üblichen Erwartungshaltungen durch Andere, losgelöst auch von dem Grundbedürfnis nach Anerkennung. 13 Ebd., S. 77. 14 Ebd., S. 79f. 15 Vgl. ebd., S. 80.
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Darüber hinaus fällt es dem Menschen generell schwer, sich von einmal etablierten Sichtweisen loszulösen und zu trennen, da diese in unterschiedlichen Hinsichten immer auch eine Orientierungsfunktion haben. »Das Aussein auf wie man es am besten machen könnte – man denke z.B. an einen Maler oder auch einfach an die intellektuelle Redlichkeit von jemandem, der nach der Wahrheit seiner und der akzeptierten Meinungen fragt – ist allemal mühsam, es erfordert, gegen passiv-emotionale Gegenkräfte der üblichen Art anzugehen; im speziellen Fall der intellektuellen Redlichkeit im engeren Sinn kommt als weiteres Motiv hinzu, dass man sich von seinen eigenen – individuellen und kollektiven – Meinungen besonders dann nicht gerne trennt, wenn an ihnen eigene oder kollektive Interessen hängen; und in allen Fällen der intellektuellen Redlichkeit im weiten Sinn gibt es das positive Gegenmotiv der Lust am gut Scheinen, an der Zunahme von Wichtigkeit.«16
5. E XPLORATIVES E XPERIMENTIEREN ALS NICHTSPRACHLICHE P RAXIS DER S ELBSTRELATIVIERUNG Vorhaben dieses Abschnittes ist es, den sprachphilosophischen Ansatz um die Untersuchung von nichtsprachlichen Symbolsystemen zu erweitern. Beschrieben werden soll die nichtsprachliche Praxis des explorativen Experimentierens in Bezugnahme auf die symbol- und erkenntnistheoretischen Arbeiten von Goodman. In »Sprachen der Kunst« formuliert Goodman den »Entwurf einer allgemeinen Symboltheorie«. Ziel ist es, die unterschiedlichsten Formen des Symbolgebrauches des Menschen aus einer einheitlichen Perspektive beschreiben und auch präzise unterscheiden zu können. Ein Grundbegriff für die Untersuchungen Goodmans ist ›Referenz‹ bzw. ›Bezugnahme‹. Goodman untersucht die vielfältigen ›Weisen der Bezugnahme‹ als »Weisen der Welterzeugung« aus konstruktivistischer, nominalistischer und relativistischer Sicht. Kurz gesagt versucht Goodman zu zeigen, dass Menschen die Wirklichkeit immer nur durch ihre Weisen der Bezugnahme zugänglich wird, genauer, menschliche Wirklichkeit durch Symbolgebrauch konstruiert wird. Auch in der analytischen Sprachphilosophie, besonders im Rahmen anthropologischer Ansätze, ist es eine Grundannahme, dass es für Menschen charakteristisch ist auf Wirklichkeit nicht mehr nur unmittelbar zu reagieren, sondern auf Wirklichkeit situationsunabhängig referieren zu können durch Zeichengebrauch.
16 Ebd., S. 83f.
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5.1 Exemplifikation, Theorie der Notation und die Symptome des Ästhetischen Von grundlegender Bedeutung für ein Verständnis der nichtsprachlichen Praxis des Experimentierens ist Goodmans Begriff der ›Exemplifikation‹. Mit ihm beschreibt Goodman die Bezugnahme über nichtsprachliche Medien. Exemplifikation ist nach Goodman »Besitz plus Bezugnahme«.17 Was damit gemeint ist, veranschaulicht Goodman am einfachen Beispiel eines Stoffmusters. Wählen wir im Geschäft eines Polsterers anhand einer 10 x 10 cm großen, gezackten Probe einen Polsterstoff aus, sind in diesem Kontext nur bestimmte Eigenschaften des Musters relevant, wie seine Farbe, die Materialbeschaffenheit, die Struktur, aber nicht seine Größe oder der gezackte Rand. Die entscheidende Pointe für unseren Zusammenhang ist, dass das Experimentieren darauf abzielt Eigenschaften von Materialien, die wir bisher nicht beachtet haben, als bedeutungsvoll wirksam werden zu lassen. Bedeutung erhalten für uns Materialien bzw. Materialeigenschaften, wenn diese in einem von uns erschaffenen Zeichensystem als Bedeutungsträger Verwendung finden. Zeichensysteme sind durch ihre syntaktischen und semantischen Elemente charakterisiert, die von Menschen konventionell festgelegt werden. Syntaktische Elemente wären beispielsweise in einem Alphabet die Buchstaben, semantische Elemente die Wörter. Im Gegensatz zu sprachlichen Zeichensystemen sind die syntaktischen Elemente bei nichtsprachlichen Systemen nicht begrenzt, bei Bildern sind sie prinzipiell unendlich fein teilbar. Goodman spricht hier von ›syntaktischer Dichte‹. Eine präzise Analyse und den Vergleich verschiedenster Zeichensysteme, wie Zeichnung, Skizze, Tanz, Partitur usw., ermöglicht Goodmans Theorie der Notation, auf die hier im Detail nicht eingegangen werden soll. Entscheidend für das Thema Experimentieren ist lediglich, dass beim Experimentieren etablierte Zeichensysteme in syntaktischer und semantischer Hinsicht aufgegeben werden müssen, um neue Systeme etablieren zu können. Man muss sich demnach von seinen etablierten Sichtweisen befreien, im radikalen Fall begibt man sich in eine Umgebung, die im Wortsinn ›bedeutungslos‹ ist. Man schafft sich eine Situation des Nichtverstehen-Könnens und der Orientierungslosigkeit, da man weder syntaktische noch semantische Bezugspunkte mehr zur Verfügung hat. Man macht eine radikale Fremderfahrung, die notwendig mit einer Selbstrelativierung verbunden ist. Auf das Experimentieren in der Kunst bezogen, ist Goodmans Rede von den ›Symptomen des Ästhetischen‹ hilfreich. Unter Verwendung der erwähnten
17 Goodman (1997), S. 60.
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Theorie der Notation gelingt es Goodman, die aporetische Frage nach dem ›Wesen von Kunst‹ als falsch gestellt zu entlarven, um diese alternativ zu formulieren als die Frage nach dem »Wann ist Kunst?«18 Gemeint ist hierbei, dass generell das Fragen nach dem ›Wesen‹ einer Sache nicht mehr legitim ist aus der Perspektive einer zeitgenössischen Philosophie, die eben alternativ nicht mehr nach dem ›Wesen von Etwas‹ fragt, sondern in welcher Weise sich uns unser Selbst-, Fremd- und Weltverständnis vermittelt darstellt durch unseren Gebrauch von Zeichensystemen. Auf diesem Weg formuliert Goodman fünf ›Symptome des Ästhetischen‹, deren Anwesenheit, egal in welcher Kombination, lediglich Hinweise darauf geben kann, dass wir bestimmte Gegenstände bei Vorliegen dieser Symptome – innerhalb bestimmter kultureller Kontexte – als Kunst verstehen wollen.19 Goodman spricht von folgenden Symptomen: 1. syntaktische Dichte, 2. semantische Dichte, 3. relative Fülle, 4. [metaphorische] Exemplifikation, 5. multiple und komplexe Bezugnahme. Ich würde hier vorschlagen nur ›metaphorische Exemplifikation‹, verstanden als ›Ausdruck‹, als Symptom des Ästhetischen zu bezeichnen, da es eine aufschlussreiche Pointe der Erkenntnistheorie Goodmans ist, dass ›Exemplifikation‹ die Basis für einen sinnvollen Vergleich von Wissenschaft und Kunst darstellt.20 In Verwendung dieser Rede von den Symptomen des Ästhetischen ließe sich nun relativ einfach beschreiben, was beim explorativen Experimentieren in der Kunst geschieht, wenn man wirklich Neuartiges schaffen möchte. Einmal könnte man beispielsweise durch die Praxis des Experimentierens in einem bestimmten Material und mit bestimmten Techniken bewirken, dass sich, relativ gesehen, die syntaktische Dichte verändert. Es kann dabei beispielsweise zu einer Erhöhung der Dichte kommen. Was, einfach gesagt, bedeutet, dass man mehr Details als potenziell bedeutungsvoll annimmt, als das bei dem verwendeten Material bisher der Fall war. Es wäre aber auch genauso denkbar, dass man weniger Elemente als Bedeutungsträger verwendet. Entscheidend ist am Ende, dass eine Veränderung des syntaktischen Systems stattfindet. Des Weiteren wird man versuchen semantische Zuschreibungen erst einmal aufzulösen, spezieller: den Zusammenhang von Semantik (Bedeutung) und Syntax (Bedeutungsträgern). Bei konsequenter Handhabung dieses Verfahrens, wird dies dazu führen, dass man seine gewohnten Bedeutungszuschreibungen aufgeben muss, wenn man genuin Neuartiges schaffen will. Da wiederum der Akt der Bedeutungszuschreibung ein grundsätzlich an das Phänomen der Egozentrizität gebundenes Verfahren ist – 18 Vgl. Goodman (1990), S. 76-91. 19 Vgl. Goodman (1987), S. 192-196 & Goodman (1997), S. 232-234. 20 Vgl. Elgin (2011).
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gerade was dann auch die mit Kunst zum Ausdruck gebrachten Aspekte bezogen auf Selbst-, Fremd- und Weltverständnisse betrifft – muss ein derartiger Vorgang auch einen Akt der Selbstrelativierung mit sich bringen, besonders wenn an diese Aspekte auch persönliche Überzeugungen gebunden sind. Denn man muss sich dafür notwendig von seiner gewohnten Weltsicht, seinen Überzeugungen, seinen damit verbundenen Sinnzuschreibungen und auch den damit womöglich verbundenen emotional-kognitiven Anbindungen loslösen, in welchem Umfang auch immer. Dass für ein Üben in Selbstrelativierung keine vollkommene Loslösung von Bedeutungszuschreibungen vorausgesetzt werden muss, zeigt sich auch an Übungsmodellen im Zen-Buddhismus, wo man in bestimmten Traditionslinien anhand von kurzen ›Übungstexten‹, den sogenannten Kōans, die Loslösung von gewohnten Sinnstrukturen erfahren soll.21 Grundsätzlich spielt es keine Rolle, ob man im Kontext der naturwissenschaftlichen Forschung experimentiert oder als Künstler. Es geht generell um eine Auflösung der Verbindungen und der Beschaffenheit von syntaktischen und semantischen Strukturen. In Bezug auf den Zen-Buddhismus ließe sich sogar in diesem Zusammenhang verständlich machen, wie man aus symboltheoretischer Perspektive den – dann nur scheinbaren – Gegensatz der buddhistischen Rede von ›den Zehntausend Dingen‹ und gleichzeitiger Erfahrung ›des Nichts‹ im Zusammenhang mit meditativer Praxis verstehen könnte, wenn man Folgendes durchdenkt: schafft es der Künstler beim explorativen Experimentieren sich wirklich weitgehend von jeder semantischen Zuschreibung zu lösen, würde ja die Wirklichkeit für ihn, symboltheoretisch betrachtet, keinerlei ›Bedeutung‹ mehr haben, er stünde also in diesem Sinn wörtlich vor dem ›Nichts‹. Aus symboltheoretischer Perspektive wird ›das Nichts‹ aber nun nicht mehr ›ontologisch‹ gedeutet, also nicht mehr als ein in problematischer Weise Widerspruch ergebender ›Gegenstand‹, sondern im Hinblick auf den Gebrauch von Zeichensystemen, wobei eben die Deutung, dass ›das Nichts‹ nun so aufgefasst wird, dass kein Bezug genommen wird mittels eines Zeichensystems, nicht mehr widersprüchlich, sondern unproblematisch und dennoch aufschlussreich ist. Zurück zur Praxis: Gleichzeitig zur ›Leere‹ auf semantischer Ebene würde sich aber, so gesehen, die syntaktische Dichte auf einen unendlichen Wert zubewegen, man hätte ja prinzipiell eine unendliche Menge von möglichen syntaktischen Bedeutungsträgern zur Verfügung, da jedes beliebige Element in jeder beliebigen Kombination ein syntaktisches System bilden kann. Wichtig ist dabei, dass jede beliebige Zusammenstellung von Elementen als syntaktische Einheiten begriffen werden können, da dies ein rein konventioneller Akt ist. In diesem Sinn wäre es nachvollziehbar hier die Rede von den ›Zehntausend Dingen‹ zu verstehen als 21 Vgl. Dumoulin (1975), Kapleau (1994).
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einen unendlichen Reichtum an Möglichkeiten für die Bildung syntaktischer Systeme bei gleichzeitiger Erfahrung des ›Nichts‹, bezogen auf die dann möglichen Bedeutungszuschreibungen auf semantischer Ebene. So wären auch dann aus symboltheoretischer Perspektive – nur noch scheinbar widersprüchliche – Aussagen verständlich wie: »Wenn ihr sowohl die vielfältigen Formen als auch [ihre N.R.] Nicht-Form erfasst, begegnet ihr sogleich dem Tathâgata.«22
Wenn man in diesem Sinn auf semantischer Ebene keine Unterscheidungen mehr trifft im Moment des Experimentierens, dann löst man sich auch in spezifischer Weise vom ›Selbst‹. Um sich vom egozentrischen ›Ich‹ zu lösen, muss man sich von der ›unterscheidenden‹ Ratio, also vom Symbolgebrauch, lösen. »›Wenn Du den Esel gefunden hast, und nicht absteigen willst, dann ist dies die schwerste Krankheit‹ … Hier meint er: man klammert sich an das egozentrische ›Ich‹, verlässt sich auf die unterscheidende Ratio, und weiß nicht, dass man irrt.«23
5.2 John Cage, Gerhard Richter, Kasumi Als kurze Ergänzung zu den philosophischen Reflexionen sollen noch ausgewählte Künstler zu Wort kommen, um exemplarisch anzudeuten, in welcher Weise die beschriebenen Zusammenhänge praktiziert und reflektiert werden. Als eines der deutlichsten Beispiele für einen Künstler, dessen experimentelle Herangehensweise mit dem Zen-Buddhismus und einer künstlerischen Praxis der Selbstrelativierung in Verbindung steht, kann John Cage genannt werden. Cage hatte sich intensiv mit dem Zen-Buddhismus auseinandergesetzt.24 Die buddhistische Rede von der generellen Unbestimmtheit allen Daseins etwa, hatte sich bei Cage direkt auf dessen Methode der Komposition ausgewirkt. Dazu die folgenden Passagen, welche diese Zusammenhänge thematisieren: »Finally the Buddha shattered all the ego walls […], the Buddha found an unimaginable indeterminacy, in which nothing could be known with absolute certainty. The Diamond Sutra is the Buddhaʼs penultimate statement about the indeterminate and unknowable realms of the mind.«25 22 Dôgen-Zenji (2008), S. 61. 23 Shimizu (1981), S. 37. 24 Vgl. Larson (2012). 25 Larson (2012), S. 353.
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Und John Cage: »In the case of chance operations, one knows more or less the elements of the universe with which one is dealing, whereas in indeterminacy, I like to think […] that Iʼm outside the circle of a known universe, and dealing with things I literally donʼt know anything about.«26
Bei John Cage ist der Zusammenhang zwischen seiner künstlerischen experimentellen Praxis und meditativer Praxis bekannt und vielfach thematisiert worden. Etwas überraschender mag es zunächst anmuten, vergleichbare Aussagen aus dem Mund von Gerhard Richter zu hören, der auch gerade wegen seiner technischen Meisterschaft anerkannt wird, wobei die Thematisierung technischer Beherrschung den Blick darauf verstellen kann, dass Richters Herangehensweise grundsätzlich eine radikal experimentelle, ergebnisoffene ist. »Akzeptieren, dass ich nichts planen kann. [...] Das zu akzeptieren ist oft unerträglich und auch unmöglich, denn als denkender, planender Mensch demütigt es mich zu erfahren, dass ich derart machtlos bin […]. Der einzige Trost ist, dass ich mir sagen kann, dass ich die Bilder trotzdem gemacht habe, auch wenn sie wie in Eigengesetzlichkeiten gegen meinen Willen mit mir machen, was sie wollen, und irgendwie entstehen.«27
Aufschlussreich ist hierbei, dass sich Richter mehrfach auf Cage bezieht und er auch mit seiner Werkserie »Cage« (Richter WVZ 897/1-6, 2006) direkt auf ihn Bezug nimmt.28 Richter thematisiert hier insbesondere den Einsatz des Zufalls als wichtiges Element seiner Malerei und er betont, dass der Bezug auf ›Inhalte‹, generell auf ›Benennbares‹, auf ›Namen‹, etwas sei, das »wir uns abgewöhnen« müssen.29 So kann Richters Herangehensweise – und nicht etwaige ›Bildinhalte‹ – als das eigentliche Thema (zumindest) einiger seiner Bilder verstanden werden: »Indem er das ständige Hin und Her zwischen bewusster Kontrolle und ihrer Aufgabe zu einem zentralen Teil seiner Herangehensweise an die Bildkonstruktion macht, lässt Richter den ›Zufall als Thema und Methode‹ in seiner Malerei zu: ›Methode, um etwas Objektives entstehen zu lassen, Thema, um ein Gleichnis (Bild) zu schaffen für unsere Überlebensstrategie‹ […] Durch die kontinuierliche Arbeit des Malers, das Machen, das Unge26 Ebd. 27 Richter (2008), S. 252. 28 Vgl. etwa Richter (2008), S. 491. 29 Richter (2008), S. 65.
136 | R OMANACCI schehen-Machen und das Wieder-Machen gewinnt die Malerei ihr Potenzial zurück, als eine Analogie zum Leben zu agieren. Dogmatische Orthodoxie ist, in der Malerei wie im Leben, nichts als eine Vertuschung, um uns vor dem abzuschirmen, was man a priori nicht wissen kann. Die Bedeutung von Richters großen Abstrakten Bildern beruht also genau auf der Art und Weise ihrer Herstellung, ihrer Offenheit und Unbestimmtheit.«30
Noch einmal Richter zum Nichtverstehen, zu Orientierungslosigkeit und dem ›Willen zum Verstehen‹, als dem »dringenden Wunsch, etwas Sinnvolles« zu erschaffen: »Wenn ich ein Abstraktes Bild (bei den anderen ist die Problematik nicht unähnlich) male, weiß ich weder vorher, wie es aussehen soll, noch während des Malens, wohin ich will, was dafür zu tun wäre. Deshalb ist das Malen ein quasi blindes, verzweifeltes Bemühen, wie das eines mittellosen, in völlig unverständlicher Umgebung Ausgesetzten – wie das von einem, der ein bestimmtes Sortiment von Werkzeugen, Materialien und Fähigkeiten besitzt und den dringenden Wunsch hat, etwas Sinnvolles, Brauchbares zu bauen, das aber weder ein Haus noch ein Stuhl noch sonst irgend etwas Benennbares sein darf, der also draufloshaut in der vagen Hoffnung, dass sein richtiges, fachgerechtes Tun letztlich etwas Richtiges, Sinnvolles zustande kommen lässt.«31
Zum Abschluss noch ein Zitat aus einer persönlichen Konversation mit Kasumi32, einer zeitgenössischen Medienkünstlerin, die zur Thematik dieses Aufsatzes schrieb:
30 Borchardt-Hume (2012), S. 172f. 31 Richter (2008), S. 142. 32 Mit Kasumi (http://www.kasumifilms.com) war ich über die Thematik dieses Aufsatzes ins Gespräch gekommen, nachdem ich eine Aufnahme von ihr von J. S. Bachs »Chaconne« (BWV 1004) gehört hatte. (https://soundcloud.com/kasumi/johannsebastian-bach) An diesem Stück hatte ich mich auch schon als Gitarrist versucht, daher kannte ich es sehr gut. Meine Bewunderung und mein Staunen über die Musik Bachs fand ich wieder in Tugendhats Buch, da er hier im Zusammenhang mit dem Staunen von einer »Chaconne« spricht (wobei ich an die besagte Chaconne Bachs dachte), was wiederum den Bezug zu Kasumi ergab. Tugendhat (2006), S. 160: »Man kann z.B. etwas Schönes oder ein Kunstwerk einfach auf sich wirken lassen; wenn man aber darüber staunt, heißt das, man reagiert nicht nur subjektiv, sondern nimmt es als eigenständig Seiendes wahr, man verhält sich nicht nur ästhetisch, sondern kognitiv dazu, und diese objektivierende Einstellung wird noch verstärkt, wenn man darüber staunt, daß es dies gibt (›wie erstaunlich, daß es diese Chaconne gibt‹).«
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»Itʼs very interesting what you say… And I understand what youʼre talking about. This is one reason I really think that intensely practicing an instrument or some kind of artistic practice – is close to Zen. Making art (for me): a form of transcendence. […] This philosophy has been the core of my existence as an artist, musician and film-maker.«
6. S TAUNEN Die Begriffe Experimentieren, Fremderfahrung und Selbstrelativierung können in einen Sinnzusammenhang gebracht werden mit einem besonderen emotionalkognitiven Vermögen des Menschen: dem Staunen. Es soll noch gezeigt werden, dass das Staunen notwendig mit einer Fremderfahrung und Selbstrelativierung verbunden ist. Da auch das explorative Experimentieren notwendig mit diesen Erfahrungen in einem Zusammenhang steht, kann verständlich gemacht werden, dass das Experimentieren in gewisser Weise in der Erfahrung des Staunens kulminiert beziehungsweise dass das Experimentieren das Vermögen zum Staunen kultiviert. Das Vermögen zum Staunen kann wiederum in einen Zusammenhang zur Mystik als Praxis der Selbstrelativierung gebracht werden, wodurch der Vergleich zwischen Mystik und Experimentieren in einem weiteren Kontext anschaulich gemacht werden kann. Menschen erfahren sich zeitlebens in einem Kontrast von klein und groß. Als Kind erlebt man sich als klein und abhängig, man strebt danach Abhängigkeiten zu entwachsen und man ist auch als Erwachsener üblicherweise bestrebt möglichst unabhängig agieren zu können, um sich als wichtig zu erfahren, wobei derartige Abhängigkeitsverhältnisse immer irgendwie als relativierbar verstanden werden können. Eine besondere Form der Erfahrung des Kontrastes von klein und groß ergibt sich aus der dann nicht mehr als relativierbar im gewohnten Sinn zu verstehenden Erfahrung der Unwichtigkeit angesichts etwa der Unendlichkeit des Weltraums, angesichts des Universums. »Zweifellos haben wir es mit einer anthropologischen Konstanten zu tun: ›ich‹-Sager stehen als ›ich‹-Sager unweigerlich in relativen Verhältnissen von kleiner und größer im Verhältnis zueinander, aber sie haben angesichts von Universum und Schicksal ein Bewusstsein von, wenn sie es nicht verdrängen, nicht mehr nur relativer Größe und Kleinheit. So haben sich die Bezeichnungen vom ›Höheren‹ [...] und vom ›Erhabenen‹ ergeben.«33
33 Tugendhat (2006), S. 119.
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Im Zusammenhang damit wurde auch vom Aspekt des Numinosen gesprochen, den Rudolf Otto mit dem Geheimnisvollen (mysterium) und dem Staunenswerten (mirum) in Verbindung bringt.34 »Wenn ein Mensch in der Mystik sich im Zurücktreten von seinen Wichtigkeiten in ein Verhältnis zur Welt setzt, muß er anstelle des impliziten Wissens von einer Allheit [...] explizit auf die Welt aufmerken. Die taoistischen Mystiker z.B. taten das, indem sie von dem Himmel und Erde durchherrschenden Tao sprachen. Wie kann man sich dieses Aufmerken auf die Welt auf eine Weise verständlich machen, die heutigen Ansprüchen genügt?«35
Es bietet sich der Begriff des Staunens an. Das Staunen kann als eine besondere Emotion verstanden werden, die eine Sonderrolle einnimmt im Vergleich mit den anderen Emotionen. Schon Spinoza und Descartes haben dies so aufgefasst. Ohne näher auf die Überlegungen beider Philosophen eingehen zu müssen, kann angemerkt werden, dass die meisten Emotionen dadurch charakterisiert werden können, dass sie uns auf Objekte aufmerksam machen, die für uns ›gut‹ oder ›schlecht‹ sind. Das Staunen wiederum macht uns auf etwas aufmerksam, das erst einmal in keinem direkten Nützlichkeitsbezug zur Person steht, das Staunen macht aufmerksam auf etwas, das »rein kognitiv bemerkenswert ist.«36 »Soll man sagen, dass zum Staunen das Gefühl der Unbegreiflichkeit und Unerklärbarkeit gehört? Man könnte dann sagen, dass das auf ein Fragen nach Gründen angelegte Sichwundern und Staunen über etwas das gemeinsam haben, dass man in beiden auf das eigene Nichtverstehen gestoßen wird, und darin liegt offenbar der besondere emotionale Faktor, wodurch sich das Sichwundern und das Staunen vom bloßen Aufmerken unterscheiden.«37
Sowohl beim explorativen Experimentieren als auch in der Mystik werde ich auf das eigene Nichtverstehen gestoßen, genauer betrachtet: ich setze mich willentlich einer Situation jenseits des Erklärtwerdenkönnens aus bzw.: ich schaffe willentlich eine derartige Situation. In diesem Sinn umfasst das Staunen hier auch sich einer radikalen Fremderfahrung bewusst auszusetzen. Dieses Aussetzen bedeutet dabei nicht zwingend einen Rückzug ›aus der Welt‹, es vermittelt vielmehr im Gegenteil ein besonderes Aufmerken auf die Welt. Darüber hinaus be34 Vgl. Otto (2014). 35 Tugendhat (2006), S. 150. 36 Ebd., S. 156. 37 Ebd., S. 158.
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dingt das Nichtverstehen keineswegs, dass man bei dieser Erfahrung stehen bleiben muss. Gerade beim Staunen in der Forschung wird dies besonders deutlich. »Das Staunen würde rasch erlahmen, wenn man bei dem, worüber man staunt – dem Rembrandt, dem Käfer, der Zelle usw. –, nicht möglichst viel erklären wollte, aber dass es das gibt, erscheint als nicht erklärbar, im Gegensatz zum ›ist‹ eines Satzes, über den man sich wundert.«38
Sowohl beim explorativen Experimentieren als auch in der Mystik ist das Vermögen zum Staunen mit einer Selbstrelativierung verbunden. »Wir haben diese Möglichkeit, uns in das Wahrhaben von etwas auf eine Weise zu versenken, daß das eigene egozentrische Mittelpunkt-Sein in den Hintergrund tritt.«39
L ITERATUR Borchardt-Hume, Achim (2012): »›Dreh dich nicht um‹: Richters Bilder aus den späten 1980er Jahren.«, in: Godfrey, Mark u.a. (Hrsg.), Gerhard Richter. Panorama. Retrospektive, München: Prestel, S. 163-175. Dôgen-Zenji (2008): Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges, Heidelberg: Werner Kristkeitz. Dumoulin, Heinrich (Hrsg.) (1975): Mumonkan. Die Schranke ohne Tor. Meister Wu-menʼs Sammlung der 48 Koan, Mainz: Grünewald. Elgin, Catherine Z. (2011): »Making Manifest. The Role of Exemplification in the Sciences and the Arts«, in: Principia 15:3, S. 399-413. Goodman, Nelson (1987): Vom Denken und anderen Dingen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ders. (1990): Weisen der Welterzeugung, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ders. (1997): Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kapleau, Philip (1994): Die drei Pfeiler des Zen. München: O.W. Barth. Larson, Kay (2012): Where the heart beats. John Cage, Zen Buddhism and the inner life of artists, New York: Penguin Books. Otto, Rudolf (2014): Das Heilige, München: Beck [zuerst 1917].
38 Ebd., S. 159. 39 Ebd., S. 160.
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Richter, Gerhard (2008): »Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe«, in: Elger, Dietmar/Obrist, Hans U. (Hrsg.), Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe, Köln: Walther König. Shimizu, Masumi (1981): Das ›Selbst‹ im Mahāyāna-Buddhismus in japanischer Sicht und die ›Person‹ im Christentum im Licht des Neuen Testaments, Leiden: Brill. Thies, Christian (2009): Die philosophische Relevanz der Mystik. In: Thies, Christian (Hrsg.), Religiöse Erfahrung in der Moderne. William James und die Folgen, Wiesbaden: Harrassowitz, S. 133-151. Tugendhat, Ernst (2006): Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, München: C.H. Beck.
Kunstbefremdung S IMONE N EUBER
Dieser Aufsatz geht der Frage nach, ob und inwiefern Fremdheit als konstitutives Merkmal von Kunst angenommen werden kann. Um die Sinnigkeit der Annahme einer wesenhaften Kunstbefremdung einzuholen, ist zunächst geboten, sich knapp dem Problem möglicher Kunstdefinitionen zu widmen. Anschließend ist zumindest in groben Zügen etwas zur Fremdheit zu sagen, damit transparent wird, was denn eigentlich als kunstkonstitutiver Charakter angenommen würde, wenn Fremdheit als ein solcher gälte. Hier wird sich zeigen, dass Fremdheit ein denkbar vielscheckiger Begriff ist, sofern es, wie Waldenfels betont, »so viele Ordnungen, so viele Fremdheiten« gibt.1 Gerade darum, so die These, könnte Fremdheit einen fruchtbaren Horizont darstellen, der ein Grundmoment unserer vielschichtigen Erfahrung von Kunst als Kunst benennt. Inwiefern diese Annahme gängigen Annäherungen der Tradition keineswegs zuwiderläuft, wird in einer kursorischen Sichtung einiger exemplarischer Annäherungen an Kunst eingeholt. Ich ende mit der Frage, was Kunsterfahrung dennoch ihren distinkten Charakter gibt, um hierzu einen tentativen Vorschlag zu unterbreiten, sowie einer knappen Spekulation zu dem, was man als entlehnte Befremdung bezeichnen könnte, welche das Spektrum der als Kunst in Frage kommenden Gegenstände auffächert.
1. K UNST
UND IHRE
D EFINITION
Kunst wurde vielfältig definiert ‒ man denke an Qualitäten wie Schönheit, Erhabenheit oder (regelformale) Vollkommenheit, die als zentrale Anknüpfungs-
1
Waldenfels (1997), S. 33.
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punkte für die Ästhetik als Philosophie der Kunst galten. Oftmals war die theoretische Annäherung an Kunst mit einer spezifischen, ihr zugebilligten Funktion verbunden.2 Emphatische Reden von »Freiheit in der Erscheinung«3, »das Unendliche endlich dargestellt«4 oder »die sinnliche Darstellung des Absoluten«5 indizieren wohl einen funktionalen Höhepunkt, so dass die Kunst dem Gegenstandsbereich nach das Feld der spekulativen Philosophie teilt ‒ zumindest als dezidiert schöne Kunst. Der Bruch dieser Traditionslinie wird gern mit dem 19. Jahrhundert und »the Impressionist insistence on a surface of ugly strokes«, wie es Barnett Newman ausdrückte, markiert.6 Das Feld dessen, was einer philosophischen Ästhetik würdig ist, weitet sich gleichfalls aus.7 Die für die Theoriebildung zentrale Rolle übernahmen dann bisweilen das Erhabene oder weitere Funktionalisierungen, etwa das von Heidegger beschworene Aufstellen einer Wahrheit durch das Werk.8 Angesichts der Fülle disparatester Werke, bei denen man noch nicht einmal mehr unbedingt die sinnliche Wahrnehmbarkeit voraussetzen kann9, zeigten neowittgensteinsche Theoretiker wie Morris Weitz Unbehagen, ob eine klare Umreißung von Kunst dem doch eigentlich offenen Charakter von Kunst überhaupt gerecht werden könne.10 Doch mittlerweile blühen auch in den sogenannten ana2
Stephen Davies spricht hier von funktionalen Definitionen, die er von prozeduralen unterscheidet. Vgl. dazu Davies (1990) & ders. (2001), S. 171: »Functionalists argue that art is designed to serve a purpose, and something is an art work only if it succeeds in achieving the objective for which we have art. […] By contrast, proceduralists hold that something becomes an art work only if it is made according to the appropriate process or formula, regardless of how well it serves the point of art.«
3
Schiller (1971), S. 18, 34ff.
4
Schelling (2000), S. 291.
5
Hegel (1986), S. 100.
6
Newman (1992), S. 172.
7
Die vielfach zitierte Arbeit von Karl Rosenkranz Ästhetik des Hässlichen erschien 1853.
8
Vgl. Heidegger (1977).
9
Vgl. Adajian (2012).
10 Weitz (1956), S. 32: »›Art‹ itself, is an open concept. New conditions (cases) have constantly arisen and will undoubtedly constantly arise; new art forms, new movements will emerge, which will demand decisions on the part of those interested, usually professional critics, as to whether the concept should be extended or not. Aestheticians may lay down similarity conditions but never necessary and sufficient ones for the correct application of the concept. With »art« its conditions of application can
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lytischen Kreisen Definitionsversuche aufs Neue. Exemplarisch seien etwa bündel-theoretische11, institutionalistische oder historische Definitionen von Kunst genannt. Institutionalisten versuchen, der Kunst durch nicht-manifeste12 bzw. nicht-wahrnehmbare13, sondern relationale bzw. soziale Eigenschaften auf die Spur zu kommen (u.a. die Einbettung in bestimmte Kontexte der Kritik). Aktuell einflussreich implementiert Berys Gaut den von Weitz als Grund gegen die Definierbarkeit hervorgebrachten Punkt der Originalität, wenn er einige der traditionellen definitorischen Momente immerhin noch als Kriterien für Kunstwerke anführt.14 Nach Gaut sind prima facie Kandidaten der Besitz (1) ästhetischer Eigenschaften, (2) expressiver Qualität, (3) intellektuellen Reizes, (4) formaler Komplexität und Kohärenz, (5) einer Vermittlungsfähigkeit komplexer semantischer Gehalte, (6) Standpunkthaftigkeit, (7) Originalität, (8) Kunstfertigkeit, (9) die Zugehörigkeit zu einer etablierten Kunstinstitution bzw. -gattung sowie (10) die Intention der Kunst-Schöpfung. Wiederum alternativ fokussiert etwa Jerrold Levinson die Historie, um Kunstwerke durch ihre angemessene intendierte
never be exhaustively enumerated since new cases can always be envisaged or created by artists, or even nature, which would call for a decision on someoneʼs part to extend or to close the old or to invent a new concept. (E.g., ›Itʼs not a sculpture, itʼs a mobile.‹)«. 11 Nach Gaut (2000), S. 27 gilt: »a cluster account is true of a concept just in case there are properties whose instantiation by an object counts as a matter of conceptual necessity towards its falling under the concept. These properties are normally called criteria.« Genauer gilt dabei: die Kriterien »are jointly sufficient for the application of the concept«; allerdings gilt auch, »that if fewer than all the criteria are instantiated, this is sufficient for the application of the concept. Second, there are no properties that are individually necessary conditions for the object to fall under the concept […]. Thirdly, though there are no individually necessary and jointly sufficient conditions for the application of such a concept, there are disjunctively necessary conditions: that is, it must be true that some of the criteria apply if an object falls under the concept«. 12 Vgl. Carroll (2000), S. 13. Vgl. auch Danto (1981). Nach Dickie (1974), S. 34 gilt: »A work of art in the classificatory sense is (1) an artifact (2) a set of the aspects of which has had conferred upon it the status of candidate for appreciation by some person or persons acting on behalf of a certain social institution (the artworld).« 13 Vgl. Davies (2001), S. 171. 14 Gaut (2000), S. 28.
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Selbsteinbettung in einen bereits etablierten (Rezeptions-)Rahmen paradigmatischer Kunstwerke zu verstehen.15
2. K UNST
UND
F REMDHEIT
In den einleitenden Worten zum möglichen Wesen oder zumindest zu Kerncharakteren von Kunst fiel der Begriff der Fremdheit nicht ansatzweise. Dies, so könnte man mutmaßen, hat gute Gründe. Der Begriff der Fremdheit ist einfach nicht geeignet, dem, was Kunst ausmacht, auf die Spur zu kommen. Dennoch will ich versuchsweise annehmen, dass dies nicht zutreffend ist und das Thema dieses Bandes – Kunst und Fremderfahrung – als Ausgangspunkt für die Überlegung nehmen, ob und inwiefern es fruchtbar sein könnte, Kunsterfahrung als distinkte Fremderfahrung zu konzipieren. Versuchsweise sei daher angenommen, dass Kunst einen konstitutiven Fremdheitscharakter hat oder präziser: dass der, der sich auf einen Gegenstand als einen Gegenstand der Kunst bezieht, auf einen Gegenstand bezieht, der ihm genau aufgrund der Tatsache, dass er auf eine distinkte Art befremdet, als Kunstwerk erscheint. Es gilt nun, diese These zu präzisieren und auf ihre Tauglichkeit hin zu prüfen. Die Präzisierung beginnt mit der Abwehr einer bestimmten Lesart, unter welcher sie trivialerweise falsch ist. Ein möglicher Einwand könnte nämlich wie folgt lauten: Wir sind in der Lage, eher befremdliche Kunst von gefälliger, schöner und sonstiger Kunst zu unterscheiden. Damien Hirsts A thousand years, eine Käfiginstallation mit abgetrenntem Kuhkopf, der den Betrachter mit den Nebenerscheinungen des Siechtums konfrontiert (Fliegen, Maden, Blut), bewirkt im gemeinen Kunstbetrachter irgendwie doch ein größeres Befremden als es bei Monets mannigfachen Seerosen der Fall ist und vielleicht auch immer schon der Fall war. Der Kuhkopf schockiert vielleicht auf den ersten Blick; manch einer mag Ekel empfinden. Wenn der Kunstbegriff nun aber weit genug sein soll, Damien-Hirst-befremdliche Kunst und eher wenig bis gar nicht befremdliche Kunstwerke zu umfassen, dann kann Kunst nicht wesentlich an den Charakter der Befremdlichkeit gebunden sein, wie sie – zunächst nur intuitiv – Hirst exponiert, Monet aber nicht. Man kann hierauf auf drei Arten reagieren: Entweder versucht man, benannte Befremdlichkeit als kritisch einzubauen, was aber wenig erfolgsversprechend
15 Davies (2001), S. 173 fasst das Diktum wie folgt zusammen: »something is an artwork only in the event that it stands in the appropriate relation to artistic forebearers.« Vgl. dazu etwa Levinson (1979).
K UNSTBEFREMDUNG | 145
scheint; alternativ gibt man an dieser Stelle bereits auf Kunst und Fremdheit überhaupt engzuführen. Man kann aber auch annehmen, dass das Befremden, das hier nur recht grobschlächtig am Beispiel von Hirst exponiert wurde, bloß eine mögliche Manifestationsweise jener kunsteigenen Fremdheit ist, die hier versuchsweise als zentral für die Kunsterfahrung angenommen sei. Anders gesagt: Wenn Kunstwerke kraft eines ihnen wesentlichen Befremdens als Kunstwerke erfahren werden, dann bedeutet dies, dass sie nicht notwendig auf eine hirsteske Weise befremden. Der letzte Weg ist schon darum dem ersten vorzuziehen, weil Befremden in vielen Fällen etwas ist, das sich durch eine mehrmalige Konfrontation und durch geschichtliche Gegebenheiten wandelt. Wer A thousand years kennt, wird anders auf es reagieren als beim ersten Mal. Wer mit entsprechenden Kunstwerken vertraut geworden ist, kann sich in das Befremden, das solche Werke einst mit sich geführt haben mögen, kaum noch einfühlen. Sollen indes Kunstwerke nicht aufhören Kunstwerke zu sein, wenn das anfängliche distinkte Befremden sich modifiziert oder gar schwindet, dann muss man sich hüten Kunst voreilig an die Befremdlichkeit, wie sie etwa im Schockierenden liegt, zu binden. Auf diese Weise verlöre man leicht eine Bandbreite an Kunst aus dem Blick. Bestenfalls könnte man versuchen, sie über den Umweg der subjektiven oder gesellschaftlichen Erstlings-Befremdungen zur Zeit der Entstehung einzuholen. Doch wäre auch dies nicht nur zu vage, sondern verlöre aus dem Blick, dass auch die zeitgenössische Kunstlandschaft eine Fülle von Erfahrung zulässt, die weit über das grob skizzierte Befremden hinausreicht.
3. F REMDHEITSKOMPLEXE So verkürzend es ist, Kunsterfahrung auf Schockerfahrung zu reduzieren, so verkürzend ist es, Fremdheitserfahrung derart zu charakterisieren. Ich will mich, unter anderem um dies zu untermauern, knapp dem Facettenreichtum des Befremdlichen zuwenden, weil nur dann, wenn etwas mehr Klarheit über Fremdheit hergestellt ist, die Ausgangsthese substantialisiert werden kann. Besonders in der zeitgenössischen frankophilen Phänomenologie ist der Begriff des Fremden – eingeleitet unter anderem von Levinas’ Überlegungen zum radikal Fremden, die von Waldenfels für den deutschen Diskurs prägend aufgegriffen wurden – zentral. Die Diskussion ist zu kleinteilig, um hier auf sie einzugehen. Doch ist dies auch nicht nötig, da ein Holzschnitt recht unkontroverser Überlegungen für das Folgende ausreicht. Unkontrovers scheint zunächst, dass es sich bei dem, was fremd ist, um etwas handelt, was sich durch eine bestimmte
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Art der Erfahrung bzw. Zugänglichkeit definiert oder was diese zumindest erlaubt.16 Das Fremde ist, anders als das bloß Unterschiedene, nicht das, was sich von anderem abgrenzen lässt, sondern das, was in seiner Unterschiedenheit eine Erfahrung erlaubt, die das Eigene oder Vertraute an eine Bruchlinie bzw. Grenze führt. Sofern es relativ zu dem, was vertraut ist, fremd ist, ist alles was fremd ist, immer bloß fremd-relativ-zu. Bei Husserl ist die Fremdwelt mit der vertrauten Heimwelt korreliert17; mit Waldenfels gesprochen »[begleitet d]as Außerordentliche […] die Ordnungen wie ein Schatten.«18 Wenn Waldenfels im letztgenannten Zitat einen Plural bemüht und von Ordnungen redet, dann akzentuiert er die Tatsache, dass dasjenige, was vertraut ist, in verschiedenen Hinsichten und unter verschiedenen Beschreibungen vertraut ist. Wenn es relativ zu all diesen Dimensionen und Aspekten des Vertrauten Fremdes gibt, dann ist klar, dass das Fremde maximal umfassend ist. Es vermehrt sich mit den Ordnungen, die wir als mögliche Charakterisierungen des Vertrauten annehmen wollen. Und es vermehrt sich mit den Erfahrungsaspekten, die wir dem Vertrauten beilegen. Die erste Fahrt auf einem neuen Fahrrad ist so lange ungewohnt, bis uns etwa die Höhe und Form des Lenkers allmählich vertraut werden und wir uns in die Kurven legen, wie sonst auch – hier kann das Befremden unwohlig sein; die frisch gestrichene Wohnung mag uns beim Betreten in den ersten Wochen stets aufs Neue überraschen – hier mag das Befremden erfreulich sein. Die Einrichtung eines architektonisch gleichgestalteten Reihenhauses befremdet auf eine distinkte Weise, weil die vertraute Grundordnung mit unbekannten Elementen durchschossen ist – hier mag das Befremden verwirrend sein. Schließlich befremdet auch kulturell Außer-Ordentliches in vielfachen Kleinigkeiten, etwa schon dort, wo wir Federbettenschläfer uns in französischen Laken eigentümlich festgezurrt fühlen und die sanftfedrige Polsterung zwischen unseren Knien vermissen – hier mag das Befremden auch unbequem sein. All das sind Befremdungen, wenn auch meist recht unspektakuläre. Sie schockieren keineswegs.
16 Vgl. Waldenfels (1997), S. 25f. Im Hintergrund steht Husserls Überlegung zur »bewährbare[n] Zugänglichkeit des original Unzugänglichen«. Husserl (1950), S. 144: »In dieser Art bewährbaren Zugänglichkeit des original Unzugänglichen gründet der Charakter des seienden Fremden. Was je original präsentierbar und ausweisbar ist, das bin ich selbst bzw. gehört zu mir selbst als Eigenes. Was dadurch in jener fundierten Weise einer primordinal unerfüllbaren Erfahrung, einer nicht original selbstgebenden, aber Indiziertes konsequent bewahrenden, erfahren ist, ist Fremdes.« 17 Vgl. hierzu zentral Husserl (1973). Ferner Husserl (2008), Text 17 & Text 35. 18 Waldenfels (1997), S. 33.
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All dies war, wie gesagt, nicht mehr als ein holzschnittartiger Versuch, Facetten des Fremden zu umreißen. Natürlich kann das Fremde verstören und unheimlich sein; es kann einschüchtern und Feindseligkeit evozieren; Fremdes kann auch ekeln; Fremdes kann aber auch entrücken und verzücken, es kann reizen, faszinieren und fesseln. Mal sind diese Brucherfahrungen, die Fremdheit mit sich führt, stärker kognitiv, mal affektiv besetzt, zumeist sind sie beides. Der schiere physische Ekel und die nüchterne kognitive Einsicht, dass uns etwas epistemisch unzugänglich bleibt, sind seltene Grenzen, zwischen denen sich das breite Spektrum der zumindest skizzenhaft umrissenen Fülle abspielt. Man könnte an dieser Stelle natürlich viel weiter gehen. Doch ist dies nicht der richtige Ort dafür. Festgehalten sei hier nur der erfahrungsgesättigte Liminalcharakter, der für Fremdheit tragend ist. Wenn nun unter anderem Wilhelm Dilthey darauf abhebt, dass ein Grad von Befremden konstitutiv für das eigentliche Geschäft der hermeneutischen Auslegung ist, dann kommen wir der Kunst einen Schritt näher.19 Wenn Kunst konstitutiv befremden sollte – was noch zu erörtern ist – und wenn wir Dilthey hier zustimmen wollen, dann bedeutet die Bindung von Kunst an das polyvalent verstandene Befremden zunächst nur, dass Kunst konstitutiv ein Gegenstand der Hermeneutik im weiten Sinne ist, sofern sie eben befremdet. Dass Kunst nach Auslegung und Interpretation ruft, ist nun alles andere als kontrovers. Wenn Wesenskritiker wie Gaut auf die semantische Komplexität des Kunstwerks abheben oder Institutionalisten wie Danto den Ruf des Kunstwerks nach Interpretation akzentuieren, dann akzentuieren sie natürlich genau diesen Punkt, obschon sie den expliziten Rekurs auf Fremdheit vermeiden. Wenn die Bindung von Kunst und Fremdheit kontrovers ist, dann scheint der kontroverse Aspekt nicht darin zu liegen, dass Kunst an Auslegung gebunden ist, sondern darin, dass Fremdheit konstitutiv für das Geschäft der Auslegung oder Interpretation ist.
4. E IN E INWAND Ich stelle mich bezüglich des obigen Punktes recht dogmatisch an Diltheys Seite, um mich interessanteren Problemen der vorgeschlagenen Engführung von Kunst und Fremdheit zuzuwenden. Gegen diese Verbindung scheint es mindestens drei
19 Dilthey (1992), S. 225: »Die Auslegung wäre unmöglich, wenn die Lebensäußerungen gänzlich fremd wären. Sie wäre unnötig, wenn in ihnen nichts fremd wäre. Zwischen diesen beiden äußersten Gegensätzen liegt sie also. Sie wird überall erfordert, wo etwas fremd ist, das die Kunst des Verstehens zu eigen machen soll.«
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gute Gründe zu geben: Zum einen scheint Befremden – welcher Art auch immer – nicht hinreichend für Kunst zu sein. Doch selbst dann, wenn es um einen notwendigen Charakter geht, scheint der Rekurs auf Fremdheit zu forciert. War die zunächst skizzierte hirsteske Befremdung zu eng, um der Fülle der Kunstwerke gerecht zu werden, scheint die Bindung der Fremdheit an irgendwelche vertrauten Ordnungen wiederum viel zu weit. Insofern fast alles in irgendeiner Hinsicht fremd sein kann, scheint, wenn Fremdheit ein vorzüglicher Charakter der Kunst sein sollte, fast alles als Kunst in Frage zu kommen. Ferner und zunächst virulenter könnte man einwenden, dass diese weite Konzeption letztlich einer Besonderheit der deutschen Sprache geschuldet ist, die nur eine Vokabel für das hat, was in anderen Sprachen unterschiedlich benannt wird. Auch hier sei wiederum an Waldenfels’ Sichtung erinnert, die uns vor Augen führt, dass die Fremdheiten des Ortes (»externum, extraneum, peregrinum; ξένον; étranger; foreign«), des Besitzes (»αλλότριον; alienum; alien«) und der Art (»insolitum; ξένον; étrange; strange«) unterschieden werden können, die, wie hier indiziert, in unterschiedlichen Sprachen keinesfalls einheitlich mit einer Vokabel benannt werden.20 Man könnte vermuten, dass dies indiziert, dass es sich bei der Fremdheit gar nicht um eine begriffliche Einheit handelt. Die Fremdheit, die ich hier als pluralen Horizont der Kunst ausgeben will, scheint also nur für im Deutschen Verfangene als einheitliches Phänomen überhaupt in Frage zu kommen. Und das ist kein guter Horizont für die Kunsteinbettung. An dieser Stelle kann ich den letzten Einwand nicht hinreichend parieren. Aber ich will die Richtung einer Erwiderung andeuten, die darin besteht, dass die von Waldenfels benannten Facetten – möglicherweise gibt es noch mehr – so verstanden werden können, dass sie Dimensionen aufspannen, die einer an sich komplexen und vielschichtigen Fremdheit angehören. Betrachten wir, um die Richtung dieser Erwiderung zumindest grob zu umreißen, knapp und exemplarisch anderspersonale Erlebnisse, etwa die Gefühle Anderer. Dass bei dem, was sie zu ausgerechnet fremdpersonalen Erlebnissen macht, Ort, Besitz und Art enggeführt werden müssen, scheint kaum zu leugnen. Dass ein Gefühl mein Gefühl ist, ist ein eigentümliches Besitzverhältnis – wenn man hier diese stark reifizierende Rede für den Moment zulässt –, das genau dem geschuldet ist, dass ihm eine distinkte Art des Zugangs wesentlich ist, der sich etwa durch Unmittelbarkeit, ein nicht-inferentielles Wissen um die Zustände und durch ein infallibles Wissen um mindestens das Subjekt dieser Zustände auszeichnen mag. Prima facie scheint ferner nicht unplausibel, dass das, was die Zuschreibungsgrundlage zu mir selbst ausmacht, nicht unabhängig davon ist, dass die je erste Person (»ich«) sich als eine mit sich identisch wissende hinsich20 Waldenfels (1997), S. 20.
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tlich eines bestimmten Ortes, etwa des eigenen Leibes, konstituiert, der sich von anderen unterscheidet. Die erstpersonale Perspektive scheint unwillkürlich Ort, Art und Besitz eng zu führen, so eng, dass mindestens der Besitz als Art des Zugangs zu zählen scheint. Wenn nun aber genau diese Eigenheitssphäre dasjenige ist, relativ zu dem wir das Fremde bestimmen, dann liegt damit die Möglichkeit offen, diese knappe Überlegung auf die gesamten Eigenheitssphären und Eigenheitsordnungen auszudehnen – und ferner auf die ihnen korrelierte Fremdheit.21 Ob und inwiefern diese Überlegungen fruchtbar sind, ist an anderer Stelle zu verfolgen. Es sollte hier nur angedeutet werden, dass es sich die Kritik an der Einheitlichkeit nicht allzu leicht machen kann, sondern weitere Argumente vorgebracht werden müssen, die gute Gründe an die Hand geben, die Facetten als genuin begrifflich distinkt aufzufassen. Damit ist der genannte Einwand zwar nicht pariert, aber angedeutet, dass man diese begriffliche Frage keinesfalls durch den Hinweis auf Vokabeln in den Griff bekommen kann. Gesteht man dies zu, steht allerdings noch immer die Frage im Raum, ob hier Fremdheit nicht so weit aufgebläht wird, dass sie zum Moment von einer Fülle von Erfahrungen wird, die damit gar nicht mehr scharf zu fassen sind. Entsprechend hat die Bindung von Kunst an Fremdheit einen bestenfalls minimalen Informationswert. Es scheint sinnvoll, diesen Punkt zuzugeben, indes sogleich auch zu bemerken, dass hierin kein echter Einwand gegen die Bindung von Kunst und Fremdheit gesehen werden kann. Zum einen ist, wie bemerkt, anzuerkennen, dass Fremdheitserfahrung phänomenologisch plural ist. Eine adäquate Phänomenologie dessen, was befremdet, muss fein vorgehen, will sie nicht die Fülle des Fremden voreilig aus den Augen verlieren. Zum anderen scheint durch diesen breiten Horizont der Kunst keinesfalls ein Bärendienst erwiesen, da sie ihrerseits komplex, facettenreich und von einer internen Dynamik ist. Dass der Distinktionsgrad durch ein so breites Feld der Fremdheit recht minimal ist, kann nur dann zum Vorwurf gemacht werden, wenn er der Distinktheit der Kunsterfahrung nicht gerecht wird. Doch so distinkt ist die Kunst gar nicht, was, wie dargelegt, die Definition von Kunst gerade so schwierig macht. Damit stellt sich vornehmlich die Frage, ob es phänomenologisch sinnvoll ist, diese Bindung von Kunst und Fremdheit vorzuschlagen. Hat die Einbettung von Kunst in den Horizont der Fremderfahrung also eine Berechtigung – und bringt sie einen Gewinn? 21 Waldenfels (1997), S. 20 scheint gleichfalls davon auszugehen, dass die Tatsache, dass »hinter den deutschen Wörtern ›fremd‹ oder ›Fremdheit‹ […] ein komplexer Bedeutungsgehalt« steht, keinesfalls daran hindert Fremdheit in ihrer Heterogenität zum Ausgangspunkt einer phänomenologischen Analyse zu machen.
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5. V OM G EWINN UND DEM G RUND K UNST DER F REMDHEIT ZU DENKEN
IM
H ORIZONT
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass mit der vorgeschlagenen Bindung betont wird, dass Kunst wesentlich an Auslegung gebunden ist. Allerdings liegt in der Bindung noch mehr. Wenn Befremden eine distinkte Erfahrung ist, die dem Fremden eignet, dann wird ein Kunstwerk hierdurch natürlich auch als etwas bezeichnet, was eine bestimmte Erfahrung erlaubt. Allerdings wurde mehrfach darauf abgehoben, dass die Erfahrungen, die Kunstwerke erlauben, denkbar vielschichtig sind. Das Schockierende, das Erhabene, das Schöne sind Kandidaten, die eine vernünftige Umreißung zulassen sollte. Wenn es nun einen sie einigenden erfahrungsgesättigten Charakter gibt, der nicht auf die Trivialität, dass es eben eine distinkte »Kunsterfahrung« ist, hinausläuft, dann muss dieser eine denkbar vielschichtige Erfahrungsdimension sein. Fremdheit wäre hier ein denkbar pluraler Kandidat. Ferner hat sich gezeigt, dass die Fremdheit genau dadurch zu fassen ist, dass sie eine Abweichung von Ordnungen indiziert, die vertraut, gewohnt oder heimelig sind. Die Kunst aber als eine vom Alltag oder dem Gewohnten abgegrenzte Ordnung zu definieren, scheint fast allzu banal. Doch wenn Kunstwerke die Augen aufschlagen22, dann tun sie dies natürlich nur insofern sie der Alltagsblindheit entsteigen; wenn sie eine Reflexion erlauben oder Auslegungsdinge sind, dann darum, weil sie vertraute Normen transzendieren und diese zwingen, ihre Grenze an ihnen zu erfahren. In der Tat könnte man so weit gehen, Definitionen von Kunst als Versuche zu verstehen, den Abweichungscharakter der Kunst von vertrauten Ordnungen des – grob gefasst – Alltags genauer zu bestimmen. Wenn man bei einer Annäherung an Kunst daher auf Fremdheit rekurriert, dann wäre dies, recht verstanden, nur der Versuch, den je theoretisch waltenden Abweichungscharakter von einer vertrauten Ordnung an einer distinkten Erfahrung festzumachen. Entsprechend sei als weitere Plausibilisierung der Fruchtbarkeit dieser Liaison – wiederum holzschnittartig – daran erinnert, dass Fremdheit den philosophischen Annäherungen an Kunst keinesfalls fremd ist. Explizit kommt sie als Vorzüglichkeit der Sprache – auch der dichterischen – unter anderem auf, wenn Aristoteles bemerkt, dass die Vortrefflichkeit der Sprache in einem Spannungsverhältnis von Klarheit und Fremdartigkeit liege, da erst die Abweichung vom Gewöhnli-
22 Adorno (1973), S. 104.
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chen Erhabenheit, Bewunderung aber auch den Anreiz zum Verstehen provoziere.23 Auf die Einflüsse der aristotelischen Überlegungen kann hier nicht eingegangen werden. Doch ist durch derartige Momente das Fremdheitsspektrum auch keinesfalls erschöpft. Neben dem Befremden durch stilistische Abweichungen kennt der Kunstdiskurs nicht minder eine Fremdheit des Ursprungs, wenn die wahre Quelle des schöpferischen Prozesses in einem Zustand der Begeisterung, des jähen Anderswo oder göttlichen Wahns gesucht wird und der Künstler weniger als Schöpfer denn als inspirierter Mittler auftritt. Ist für Platon dies ein Grund, auf die hier waltende Blindheit hinzuweisen24, ist es für Heidegger ein Grund, sich für ein neues Geschick an die Dichtung und Kunst zu wenden, die ihm zufolge genau darum eine Welt aufstellen kann, weil sie mit der gewohnten Ordnung bricht und – um Heideggers gewaltvolle Nomenklatur des KunstwerkAufsatzes aufzugreifen – »das bislang geheuer Scheinende« umstößt und das Ungeheure aufscheinen lässt.25 Dies sind nur zwei Beispiele, an die sich weitere anknüpfen lassen: Adornos Rätselcharakter der Kunst nicht als distinktes Befremden zu lesen, fällt schwer. Wenn Immanuel Kant die schöpferische Einbildungskraft in einen Bereich stellt, dessen wahre Handgriffe der Natur nur schwerlich abgeraten werden können, dann ist der Kunst etwas radikal Unzugängliches eigen, das die kognitive Durchdringung verunmöglicht. Etwas bleibt – auf eine Weise – fremd, selbst dann, wenn es schön sein mag. Wer Kunst primär als Ausdrucksphänomen versteht, wird gleichfalls nicht umhin kommen anzuerkennen, dass es wesentlich um den Ausdruck eines Standpunkts, der nicht der je gerade eingenommene ist, geht. Wer Kunst lieber an einer distinkten Einstellung festmacht, etwa einer genuin ästhetischen Einstel23 So Aristoteles im dritten Kapitel seiner Rhetorik [1404b5ff.]. Vgl. hierzu ausführlich Rapp (2002), S. 827, 832. Boehm (1996), S. 284 bemerkt gleichfalls die Zentralität des »Einschub[s] eines Fremden«: »Das Fremde im Text markiert durch seine Abweichung jene Fallhöhe, die es braucht, um einem Geschehen allererst Bedeutung und Spannung zu verleihen.« Indem es »Transparenz und Kontinuität des Logos« störe, lasse es »jenes Mirabile wirksam werden […], um dessen affektive Zäsur es geht.« (mit Verweis auf Aristotelesʼ Poetik 1460a). Zum Verhältnis der beiden Bestimmungen vgl. Kraus (2005), v.a. S. 96f. 24 Platon, Apologie des Sokrates, 22b: »Ich erkannte auch bei den Dichtern wieder, dass sie nicht aufgrund von Wissen schüfen, was sie schüfen, sondern durch eine gewisse Anlage und inspiriert wie die Seher und Orakelsänger. Auch diese Leute nämlich sagen viel Schönes, haben aber keine Einsicht in das, was sie sagen.« 25 Heidegger (1977), S. 54.
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lung, einem interesselosen Wohlgefallen (Kant) oder einer distinkten psychischen Distanz (Edward Bullough), der wird schwerlich nicht annehmen, dass dies nicht auch eine Haltung ist, welcher der pragmatische Zugriff des Alltags fremd ist. Schließlich kann jede epistemische Leistung der Kunst nur dann zukommen, wenn sie sich einer anfänglichen Unbewusstheit fremd macht. Wenn Konrad Fiedler etwa anführt, dass in der Kunst »das Bewusstsein eines sichtbaren Seins gegeben ist«, dann ist es eben auf distinkte Weise gegeben, in der es sonst nicht gegeben ist.26 All das läuft natürlich auf die Plattitüde hinaus, dass die oftmals der Kunst zugesprochene Reflexionsleistung ihr genau dadurch zukommt, dass sie einen Standpunkt einzunehmen erlaubt, der nicht der gewohnte ist. Umso mehr überrascht, dass diese Plattitüde selten dazu geführt hat, Kunst und Fremderfahrung aufeinander zu beziehen. So ungeeignet scheinen die beiden Erfahrungsdimensionen füreinander gar nicht zu sein – und dies scheint auch einer Vielzahl von Annäherungen der Tradition bekannt, wenn man der beigebrachten kleinen Auswahl eine Evidenzkraft zuzusprechen bereit ist. Doch könnte man hier natürlich einhaken. Kunst lebt vielfach von Empathie, die wiederum von Identifikation lebt; häufig ist die Sprache der Prosa wenig von der Norm abweichend. Bedeutet das nicht, dass Kunst auch gerade das Vertraute ganz vertraut darbieten kann und dennoch Kunst ist? Natürlich kann es das bedeuten: Kunst ist sie aber genau, solange sie das Vertraute darbietet und Perspektiven auf es eröffnet, die nicht unmittelbar die eigenen und gewohnten sind. Wenn Kunst das Gewöhnliche zeigt, dann hört sie auf, es nur zu sein.27 Die Alltagssprache des Romans ist entsprechend gezeigte Sprache, die nicht verwendet wird, um jene Mitteilung zu machen, die der (fingierte) Sprecher mit ihr machen will. Sie wird bestenfalls vom Autor verwendet, um den Anschein einer alltäglichen Verwendung zu etablieren. In diesen Anschein können wir uns einleben. Doch selbst in jenen Fällen, in denen wir aktiv mit dem Werk interagieren, um dabei, wie Husserl bemerkt, zu helfen etwas am Werk zu konstituieren, transformieren sich unsere Reaktionen, um selbst auch – zumindest zum Teil – einen Darstellungscharakter zu gewinnen.28
26 Fiedler (1887), S. 144. 27 Vgl. dazu die Überlegungen von Walton (1990), S. 65 zu nicht-figurativer Kunst: »The imaginings Suprematist Painting prescribes are imaginings about parts of that work itself«. Vgl. dazu auch Figals Abgrenzung von Kunst und Design: »Breuers Sessel, ist ein Sessel, ohne ihn zu zeigen – und ist genau darum keine Kunst.« Figal (2012), S. 335. 28 Vgl. Husserl (1980), S. 465f. Sartre (1994), S. 216ff.
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Doch noch einen Einwand hat man hier zu machen. Gibt es nicht etablierte Begriffe wie die durch das Kunstwerk gewährte Reflexion, seine Transzendenz oder auch die von Gaut ins Spiel gebrachte Standpunkthaftigkeit, die ausreichen? Warum sollte man den Begriff der Fremdheit bemühen? Nun, weil er – anders als diese Annäherungen – beim Betrachter bleibt, um zu versuchen, die phänomenologische Grundkonstante dingfest zu machen, welche die Fülle der Grunderfahrungen von Kunst eint. Dass das Kunstwerk standpunkthaft ist, dass es eine Reflexion erlaubt, dass das Kunstwerk eine intrinsische Transzendenz hat, das zeigt sich eben daran, dass es irgendwie befremdet.
6. ABSCHLUSSÜBERLEGUNGEN Zumindest einige Indizien ließen sich für die These finden, dass der Horizont der Fremdheit ein noch wenig explizit bedachter Horizont für Kunst überhaupt ist. So facettenreich wie Fremdheitserfahrungen sind, so facettenreich ist der Spielraum der Kunst. Sie rührt an das Erstaunliche, das Unheimliche, das Schockierende, das Wundersame und das Ungewöhnliche, ferner das unalltäglich Schöne, Erhabene, Entzückende, Reizende und Verstörende. Ihr wohnt das ein, was unsere (sinnliche) Neugier fesselt, uns zu Erkundungen reizt und uns immer wieder herausfordert. Fassen wir Kunstwerke als Hort der tendenziell unabschließbaren Interpretation, des Gesprächs oder der unerschöpfbaren Auseinandersetzung, dann gründen sie jene Erfahrungen, weil sie letztlich radikal fremd bleiben und nie in einer Interpretation aufgehen. Fassen wir sie als Reflexionsordnungen, dann eröffnen sie diese Reflexion, weil sie der gewöhnlichen Ordnung eine ihr fremde Perspektive eröffnen. Der Horizont der Fremdheit reflektiert nicht nur besagten Reichtum der Kunsterfahrung und die ihr oftmals zugeschriebene Funktion, sondern ist auch geeignet, den dynamischen Charakter der Kunst einzufangen. Erinnert man sich an die mit Waldenfels festgestellte Pluralität von Ordnungen, die wiederum je Rubriken der Fremdheit binden, dann muss Kunst, wird sie aus dem Horizont der ordnungsrelativen Fremdheit gedacht, vielschichtig sein. Bedenkt man ferner, dass sich Ordnungen geschichtlich wandeln und der Kunstdiskurs selbst eine Ordnung ist, dann ist nur zu erwarten, dass Kunstschaffen ein dynamisches Geschehen wird, das sich früher oder später mit dem Kunstdiskurs selbst auseinandersetzt, um auch hier gängigen Paradigmen fremd zu werden; der Sturm und Drang ist hier mit Bezug auf die Regelästhetik ein Beispiel, das Ready-made mit Bezug auf die hohe Kunst und das Können überhaupt.
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Doch freilich ist nicht alles, was als fremd erfahren wird, schon Kunst. Und damit stellt sich die Frage, wo der Übergang vom Bloß-Befremdlichen zur eigentlichen Kunst liegen könnte, wenn man diesen Rahmen einmal angenommen hat. Ohne hier ins Detail zu gehen, sei ein abschließender Versuch gemacht, den angestoßenen Gedanken auch in diese Richtung fortzuspinnen. Fruchtbar scheint ein intentionalistischer Weg, also einer, der die Intentionen des Kunstschaffenden ins Spiel bringt und Kunst damit an intendiertes Befremden bindet. Kunstwerke könnten dann gefasst werden als Gegenstände, die mit der primären Intention29 geschaffen wurden, eine der facettenreichen Fremdheitserfahrungen UND eine Reflexion auf diese Erfahrung (und evtl. ihre Bedingungen) zu ermöglichen, wobei sie kraft der ihnen konstitutiven Fremdheit Gegenstand der – tendenziell unabschließbaren – Auslegung und theoretischen Kritik sind.30 Ohne Zweifel ist hier mehr Arbeit vonnöten. Mehr als Skizzen an die Hand zu geben, ob und inwiefern mit der Grundkonzeption von Kunst und Fremderfahrung ein fruchtbares Paar gegeben ist, war hier nicht der Zweck. Um das Bündel der Betrachtung zu schnüren, sei abschließend die Fruchtbarkeit des Fremdheitshorizontes noch nach einer anderen Richtung verfolgt, wenn sie auch reichlich spekulativ bleiben muss. Vielleicht – so könnte man im Kontext des Vorangegangenen überlegen – ist es ja letztlich genau der hier skizzierten intrinsischen Befremdungsmacht von Kunst zu verdanken, dass Kunstwerke, als sollte diese Fremdheit noch unterstrichen werden, in eigens geschaffene Dingbefrem-
29 Ich spreche von einer primären Intention, da auch philosophische Gedankenexperimente mit der Intention geschaffen werden, eine bestimmte alternative Ordnung zu präsentieren, um darauf zu reflektieren, ob diese alternative Ordnung denkbar ist. Allerdings geht es in diesen Fällen nicht um die Erfahrung und die Reflexion auf die Erfahrung, sondern vor allem um Entscheidungsfragen wie Denkbarkeit, Möglichkeit etc.; dasselbe gilt für Demonstrationen, die durch befremdliche Aktionen zur Reflexion auf unser Verhalten aufrufen mögen; hier sind gleichfalls jedoch nicht die Erfahrung des Befremdens und die Reflexion primär, sondern die erwünschte Änderung des Verhaltens. Dergestalt kann man natürlich fragen, ob Kunst, die auf eine Änderung des Verhaltens abzielt, nicht Kunst ist. Sie ist es, so lange der Primat bei der Erfahrung bleibt. 30 Man könnte sich über zahlreiche Punkte streiten, etwa darüber, ob die Intention de facto individuell vorliegen oder nur unterstellt oder darüber, ob die angestoßene Reflexion immer auch intendiert sein muss. Eine Entfaltung müsste ferner der Problematik guter vs. schlechter Kunst Rechnung tragen.
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dungskontexte31 eingebettet werden, wie etwa Rahmen, Podeste oder Museen, die auf je ihre Weise besagte Erfahrungsbrüche nochmals explizit einfordern. Mit ihnen kommen wir dann an die Quelle einer ihrerseits zunächst befremdlichen Explosion, nämlich zur Explosion der als Kunst in Frage kommenden Gegenstände. Die kleine Mär geht so: Jene Fremdheit, die aus der Kunsterfahrung in den von ihr zeugenden Diskurs wuchs und dann aus dem Diskurs in verschiedene, diesen unterstreichende institutionalisierte Dingbefremder, wächst spätestens seit Duchamps Fountain dank der durch diese Dingbefremder bereitgestellten Strukturen auch den Alltagsdingen zu, um die Alltagsdinge in dasjenige einzubetten, was als Kunst ihnen doch eigentlich gerade fremd sein wollte. Vielleicht ist es ja nicht zuletzt dies, was diese Kunst zunächst so befremdlich macht. Und vielleicht ist es die bloß sekundären Befremdungsunterstreichern entlehnte Befremdungsmacht dieser Objekte, die dieses Spiel dann doch recht rasch erschöpft.
L ITERATUR Adajian, Thomas (2012): »The Definition of Art«, in: Zalta, Edward N. (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, (Winter 2012 Edition), http://plato.stanford.edu/archives/win2012/entries/art-definition/> vom 7.5. 16. Adorno, Theodor W. (1973): Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Aristoteles (2002): Rhetorik, Berlin: Akademie Verlag. Ders. (2008): Poetik, Berlin: Akademie Verlag. Boehm, Gottfried (1996): »Das Alogon. Marginalien zur Ästhetik des Fremden«, in: Schuster, Reinhard (Hrsg.), Die Begegnung mit dem Fremden, Stuttgart/Leipzig: Teubner. Carroll, Noël (2000): »Introduction«, in: Ders. (Hrsg.), Theories of Art Today, Madison: University of Wisconsin Press, S. 2-23. Danto, Arthur (1981): The Transfiguration of the Commonplace, Cambridge: Harvard University Press. Davies, Stephen (1990): »Functional and Procedural Definitions of Art«, in: The Journal of Aesthetic Education, 24, S. 99-106.
31 Ich borge diesen Ausdruck von Bernhard Greiner, Thomas Hauschild und Dorothee Kimmich, den Veranstaltern einer gleichbetitelten Tagung an der Universität Tübingen im November 2004.
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Originalität und Fremderfahrung L ISA K ATHARIN S CHMALZRIED Originality is a thing we constantly clamour for, and constantly quarrel with. CARLYLE (1838), S. 12.
Welchen Einfluss hat die Originalität eines Kunstwerkes auf dessen Wert als Kunstwerk? Anders formuliert: wird ein Werk zu einem besseren Kunstwerk, wenn es originell ist? In der ästhetischen Debatte fordern manche, (gute) Kunst müsse originell sein.1 Andere argumentieren, (gute) Kunst müsse zwar nicht originell sein, aber die Originalität eines Werkes wirke sich durchaus positiv auf dessen Wert als Kunstwerk aus.2 Wieder andere bestreiten, dass Originalität für den Wert eines Kunstwerkes als Kunstwerk eine Rolle spielt.3 Es ist somit eine strittige Frage, ob und inwieweit die Originalität eines Kunstwerkes dessen Wert als Kunstwerk beeinflusst.4 Wie man diese Frage beantwortet, hängt u.a. davon ab, was man unter Originalität versteht. Ist ein Werk originell, wenn es einen neuen Kunststil prägt? Oder erklärt sich die Originalität eines Kunstwerkes aus Unterschieden zu vorhergegangenen Kunstwerken? Der erste Abschnitt dieses Artikels schlägt vor, dass man Originalität über Fremderfahrung – in dem Sinne der Erfahrung von etwas Fremden – erklären kann: Ein Kunstwerk ist genau dann originell, wenn es werkintern begründet ist, wenn eine ausreichend kunst-
1
Vgl. z.B. Kant (1963).
2
Vgl. z.B. Kulka (1982); Kieran (2005).
3
Diese Position ist meist damit verbunden, dass der Wert eines Werkes als Kunstwerk mit dessen ästhetischem Wert gleichgesetzt wird. Vgl. z.B. Beardsley (1958), S. 31f.; Lessing (1965), S. 470.
4
Vgl. Sibley (1985), S. 169.
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historisch informierte Person es im Vergleich zu seinen relevanten künstlerischen Vorgängern als fremd erfährt. Aufbauend auf diesem Verständnis von der Originalität verteidigt der zweite Abschnitt die These, dass sich die Originalität eines Kunstwerkes positiv auf dessen Wert als Kunstwerk auswirkt. Der Grundgedanke des Arguments ist, dass bei originellen Kunstwerken Neugier und Interesse werkintern begründet sind und dadurch auch der Versuch das Kunstwerk wertzuschätzen. Dass jemand versuchen soll ein Kunstwerk wertzuschätzen, ist eine Zielsetzung, die man Kunstwerken als Kunstwerken zuschreiben kann. Daher werden originelle Kunstwerke durch ihre Originalität einem selbstgesetzten Ziel gerecht, was sich positiv auf den Wert eines Kunstwerkes als Kunstwerk auswirkt.
I Wann ist ein Kunstwerk originell? Denken wir hierzu an drei Beispiele origineller Kunstwerke vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts: Picassos Les Demoiselles D’Avignon (1907), Kandinskys abstraktes Aquarell Ohne Titel (1910/1913) und Duchamps Fountain (1917). Diese Werke nehmen allesamt eine Sonderstellung in der Kunstgeschichte ein, leiteten sie jeweils eine Art kunstgeschichtlicher Revolution ein. Kandinskys Aquarell gilt als erstes abstraktes Gemälde der Kunstgeschichte, Picassos Werk bereitete den Weg für den Kubismus und Duchamps Fountain ist eines der ersten Ready-mades. Alle drei Kunstwerke begründen einen neuen Kunststil und vielleicht macht genau dies ihre Originalität aus: D1: Ein Kunstwerk ist genau dann originell, wenn es einen neuen Kunststil (mit-)begründet. D1 macht deutlich, weshalb Originalität eine kunsthistorisch bedingte Eigenschaft ist. Die Originalität eines Kunstwerkes hängt von dessen Stellung im kunstgeschichtlichen Kontext ab. Um Originalität beurteilen zu können, muss man daher über (gewisses) kunsthistorisches Wissen verfügen.5 Gemäß D1 muss man wissen, wann ein Kunstwerk entstanden ist und welche Rolle es für die Entstehung und Entwicklung eines Kunststils gespielt hat. D1 zufolge kann man jedoch erst mit einigem zeitlichen Abstand die Originalität eines Kunstwerkes beurteilen, nämlich genau dann, wenn man entscheiden kann, ob das Werk einen neuen Kunststil mitbegründet hat. Teilweise wird die Originalität eines Kunstwerkes tatsächlich erst nach einiger Zeit erkannt (und
5
Vgl. Kulka (1982), S. 117.
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das Kunstwerk als Kunstwerk geschätzt). Häufig kann man jedoch bereits zum Entstehungszeitpunkt die Originalität eines Werkes beurteilen. D1 kann dies nicht erklären. Gemäß D1 entscheidet außerdem letztendlich die Wirkung eines Kunstwerkes über dessen Originalität. Doch was wäre, wenn es den Kubismus niemals gegeben hätte, wenn weder Picasso noch sonst jemand nach Les Demoiselles d’Avignon ein weiteres Kunstwerk in diesem Stil gemalt hätte? In diesem Fall wäre Les Demoiselles d’Avignon nicht Ausgangspunkt eines neuen Kunststils. Insoweit wäre es nicht revolutionär, sondern wirklich einzigartig. Aber wäre es deswegen nicht mehr originell? M.E. würden wir auch in solch einem Fall dieses Bild als originell bezeichnen. Somit können originelle Kunstwerke Auslöser neuer Kunststile sein, müssen dies aber nicht sein. Den eben formulierten Einwänden kann man begegnen, deutet man D1 kontrafaktisch: D1*: Ein Kunstwerk ist genau dann originell, wenn es einen neuen Kunststil (mit-)begründen könnte. Laut D1* sollte ein originelles Kunstwerk zumindest potenziell eine kunstgeschichtliche Revolution auslösen können. Doch auch diese Forderung ist zu stark, bedenkt man, dass Originalität eine graduelle Eigenschaft ist.6 Ein radikal originelles Kunstwerk mag das Potenzial besitzen, einen neuen Kunststil zum Leben zu erwecken. Aber manches originelle Kunstwerk ist fest in einem Stil verwurzelt und kann dennoch originell sein. Zum Beispiel wird Brokeback Mountain durch die für einen Westernfilm besondere Themenwahl – die Darstellung einer homosexuellen Liebesgeschichte – originell. Auch wenn die Themenwahl teilweise entscheidend für einen Stil ist, bezweifle ich, dass man Brokeback Mountain das Potenzial zusprechen kann einen neuen Kunststil zu begründen. Um die Originalität eines Kunstwerkes zu beurteilen, muss man aber vielleicht gar nicht in die »kunstgeschichtliche Zukunft« des Werkes blicken, sondern in seine »kunstgeschichtliche Vergangenheit«. Die bereits erwähnten Beispiele origineller Kunstwerke brechen in gewisser Weise mit der kunstgeschichtlichen Tradition. Sie unterscheiden sich von Kunstwerken, die vor ihnen entstanden sind:7 D2: Ein Kunstwerk ist genau dann originell, wenn es sich von seinen relevanten künstlerischen Vorgängern unterscheidet. D2 erfasst den kunstgeschichtlich bedingten Charakter von Originalität. Um ein Werk mit seinen Vorgängern vergleichen zu können, muss man wissen, wel6
Vgl. z.B. Sibley (1985), S. 173.
7
Vgl. z.B. ebd., S. 170.
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che Kunstwerke vor dem betreffenden Werk entstanden sind. Aber es ist kaum möglich, noch notwendig, ein Kunstwerk mit allen früheren Kunstwerken zu vergleichen. Daher grenzt D2 den Vergleich auf die relevanten künstlerischen Vorgänger ein. Diese sind Kunstwerke, die in die gleiche(n) Kategorie(n) wie das betreffende Werk fallen. Kategorie sei hier in Kendall Waltons Sinne verstanden: »Such categories include media, genre, styles, forms, and so forth – for example, the categories of paintings, cubist paintings, Gothic architecture, classical sonatas, paintings in the style of Cézanne, and music in the style of late Beethoven – if they are interpreted in such a way that membership is determined solely by features that can be perceived in a work when it is experienced in the normal manner.«8
Um beispielsweise die Originalität von Michelangelos Pietà beurteilen zu können, hilft es wenig sie mit einem Roman zu vergleichen. Zweifelsohne wird sich die Pietà sehr stark von dem Roman unterscheiden, alleine deswegen, weil sie eine Skulptur ist. Die Pietà sollte man also mit anderen Skulpturen vergleichen und insbesondere mit anderen Pietà-Darstellungen. Erst dann fallen die Unterschiede auf, die das Werk originell machen.9 Um beurteilen zu können, was die relevanten künstlerischen Vorgänger eines Werkes sind, ist erneut kunsthistorisches Wissen vonnöten. Man muss beurteilen können, in welche Kategorie(n) das betreffende Kunstwerk fällt. Hierzu muss man beispielsweise wissen, welche Kunstkategorien es zur Entstehungszeit des Kunstwerkes gab, man sollte sich fragen, welcher Kategorie der Künstler das Werk zuordnen wollte und/oder welcher Kategorie das Publikum das Werk zuordnet.10 Nun mag man zu Bedenken geben, dass originelle Kunstwerke teilweise neue Kategorien erschaffen.11 Somit gibt es keine Vorgänger, die in die gleiche Kategorie fallen. Aber auch wenn originelle Kunstwerke neue Kategorien einführen, fällt es schwer sich vorzustellen, dass sie vollkommen losgelöst von allen anderen Kategorien sind. Auch wenn beispielsweise Fountain am Anfang der neuen Kunst-Kategorie der Ready-mades steht, sind Kunstwerke, die der »herkömmlichen« Kategorie der Skulptur angehören, eine relevante Vergleichsgruppe.
8
Walton (1970), S. 338f.
9
Vgl. Kieran (2005), S. 41f.
10 Vgl. Walton (1970), S. 357. 11 Vgl. Levinson (2004), S. 40f.
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Aber spricht D2 nicht einigen Kunstwerken ihre Originalität ab, denen man diese zugestehen sollte? Stellen wir uns vor, Kunstwerk A gelte laut D2 als originell. Einige Jahre später wird Kunstwerk B erschaffen. B’s Künstler wusste nichts von A. B unterscheidet sich nun von allen relevanten künstlerischen Vorgängern, nur nicht von A. Würden wir in solch einem Fall B nicht als genauso originell wie A bezeichnen wollen? Man sollte hier zwischen der Originalität eines Kunstwerkes und der des Künstlers unterscheiden.12 Der künstlerische Prozess, der zu A bzw. zu B führte, mag gleichermaßen originell gewesen sein, wenn man darunter Kreativität, Einfallsreichtum und ähnliches verstehen mag.13 Daher kann man sowohl den Künstler von A als auch den von B als originell bezeichnen. Daraus folgt aber nicht, dass A und B beide gleichermaßen originelle Kunstwerke sind. Originalität als kunsthistorisch bedingte Eigenschaft hängt von der Stellung eines Kunstwerkes im kunsthistorischen Kontext ab. Somit hat A das »Rennen« um die Originalität gewonnen. Diese Erwiderung mag zu vorschnell sein: Stellen wir uns vor, es gäbe eine isolierte Kultur, die in keinerlei Verbindung zu unserer westlichen Kultur steht. Im Jahre 2016 erschafft ein Künstler in dieser Kultur Kunstwerk C. Vergleicht man C mit den künstlerischen Vorgängern aus C’s Kultur, würde C gemäß D2 als originell gelten. Jedoch ähnelt C Les Demoiselles d’Avignon gravierend. Müssen wir nun C seine Originalität absprechen?14 Die entscheidende Frage bei diesem Beispiel ist, ob Les Demoiselles d’Avignon ein relevanter künstlerischer Vorgänger von C ist. Wenn beide Kunsttraditionen losgelöst voneinander existieren, ist es zweifelhaft, ob sie die gleichen Kategorien haben. Selbst wenn dies der Fall ist, liefert die Isolation von C’s Kultur einen Grund, weshalb Kunstwerke unserer Kunsttradition irrelevant sind. C kann man dann durchaus als originelles Kunstwerk bezeichnen. Dieses Beispiel zeigt erneut, dass die Frage, welche Werke als relevante künstlerische Vorgänger gelten, kunsthistorisches Wissen erfordert. Laut D2 lässt jedoch jeder Unterschied ein Kunstwerk originell werden. Vergleichen wir zwei Skulpturen miteinander, wobei die eine eine Kopie der anderen ist, so werden sich beide unterscheiden, bestehen sie doch aus unterschiedlichen Molekülen. Man würde aber zögern die Kopie auf Grundlage dieses Unterschiedes als originell zu bezeichnen. Für die Originalität eines Kunstwerkes er12 Vgl. Sibley (1985), S. 170; Osborne (1979), S. 228. 13 Auf die Frage, was einen Künstler originell werden lässt, kann im Zuge dieses Artikels nicht genauer eingegangen werden. Vgl. hierzu z.B. Tomas (1958); Beardsley (1965); Osborne (1979); Novitz (1999). 14 Vgl. Sibley (1985), S. 170f.
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scheint somit nur eine Veränderung im Hinblick auf künstlerisch relevante Aspekte und Eigenschaften relevant zu sein. Grob charakterisiert sind künstlerisch relevante Eigenschaften solche, die die Form, den Stil, die Wirkung und den Inhalt eines Werkes bestimmen. Verändert man eine künstlerisch relevante Eigenschaft, verändert man die Form, den Stil, die Wirkung und den Inhalt des Werkes. Sie sind also Eigenschaften, die den Wert eines Kunstwerkes als Kunstwerk mitbestimmen.15 Aber auch im Hinblick auf diese Aspekte genügt nicht jede Veränderung. Die Veränderung sollte groß genug bzw. bemerkenswert sein. Hiermit wird der graduelle Charakter von Originalität nicht in Zweifel gezogen. Selbst wenn man den graduellen Charakter betont, muss nicht jede noch so kleine Veränderung ausreichend für Originalität sein. Vielmehr muss eine gewisse Schwelle überschritten werden, damit man ein Werk als originell bezeichnen kann.16 Diese Gedanken kann man wie folgt in D2 integrieren:17 D2*: Ein Kunstwerk ist genau dann originell, wenn es sich im Vergleich zu seinen relevanten künstlerischen Vorgängern ausreichend künstlerisch unterscheidet. Gegen D2* mag man einwenden, dass die eben erwähnten künstlerisch relevanten Eigenschaften nicht alle künstlerisch relevant sind. Ein klassischer Formalist mag beispielsweise bestreiten, dass Eigenschaften, die den Inhalt eines Kunstwerkes bestimmen, künstlerisch relevant sind. An dieser Stelle kann somit der Streit darüber entbrennen, welche Aspekte eines Kunstwerkes für dessen Bewertung relevant sind.18 Hinzu kommt, dass von künstlerisch relevanten Eigenschaften zu sprechen klingt, als könne man definitiv und ein für alle Mal festlegen, welche Eigenschaften künstlerisch relevant sind. Jedoch scheint gerade manches originelle Kunstwerk eine Eigenschaft zu einer künstlerisch relevanten zu machen, von der man bis dato annahm, dass sie künstlerisch irrelevant ist.19 Originalität beinhaltet ein gewisses Maß an Unvorhersehbarkeit. Aber selbst wenn man eine befriedigende Charakterisierung künstlerisch relevanter Eigenschaften geben könnte, stellt sich die Frage, ab wann eine Veränderung ausreichend ist. Teilweise vermag eine scheinbar geringfügige Veränderung ein Werk 15 Dies bedeutet nicht, dass ein Kunstwerk nur im Hinblick auf Veränderungen originell sein kann, die, für sich genommen, den Wert eines Kunstwerkes positiv beeinflussen. Kieran (2005), S. 15f. bspw. vertritt diese stärkere These. Am Ende des Artikels werde ich kurz auf diese Problematik eingehen. 16 Vgl. Sibley (1985), S. 170. 17 Vgl. z.B. ebd., S. 173; Levinson (2004), S. 40. 18 Der Abschnitt II kommt auf diesen Aspekt zurück. 19 Vgl. Danto (2004), S. 33f.
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originell werden zu lassen, teilweise vermag eine größere Veränderung dies nicht. Der folgende Definitionsvorschlag versucht eine Antwort auf diese Einwände zu geben, indem er eine Art antwort-abhängiges Kriterium dafür einführt, wann eine Veränderung künstlerisch relevant und ausreichend ist. Der Grundgedanke ist folgender: D3: Ein Kunstwerk ist genau dann originell, wenn es eine Fremderfahrung hervorruft. D3 sollte nicht so verstanden werden, dass man sich selbst durch ein originelles Kunstwerk als fremd erfährt, sondern dass man das Kunstwerk als fremd erfährt. Fremderfahrung bedeutet hier also eher Befremden. Wie kann man D3 begründen? Überlegen wir hierzu, wie man auf ein originelles Kunstwerk reagiert. Kommentare wie »So etwas habe ich noch nie gesehen!«, »Wow, das ist mal was anderes!« oder »Was ist das denn?« sind nicht unüblich. Sie zeigen, dass originelle Werke etwas auslösen. Sie befremden als Kunstwerke, wirken ungewohnt, andersartig, erstaunlich oder auch verwirrend. Im Extremfall mag ein originelles Kunstwerk so fremd erscheinen, dass man Probleme hat, es überhaupt noch als Kunstwerk zu sehen.20 Damit ein Kunstwerk solch ein Befremden hervorrufen kann, muss es sich von seinen künstlerisch relevanten Vorgängern unterscheiden. Insoweit wird D3 der Intuition hinter D2 gerecht. Aber ein Kunstwerk wird nicht durch jede Veränderung als fremd erfahren. Ein Werk kann sich in zig Aspekten von seinen künstlerisch relevanten Vorgängern unterscheiden und dennoch kein Befremden hervorrufen, sondern vielmehr das Gefühl, dass man so etwas schon hundertmal gesehen (gehört oder gelesen) hat. Das Befremden ist somit der Prüfstein dafür, ob eine Veränderung groß genug bzw. bemerkenswert ist. Der Verweis auf die Fremderfahrung erfasst auch die Unvorhersehbarkeit der Originalität. Es kann passieren, dass ein Aspekt eines Kunstwerkes befremdet, von dem man vorab niemals gedacht hätte, dass dieser künstlerisch relevant ist. D3 kann auch den graduellen Charakter von Originalität erklären. Kunstwerke können in unterschiedlichem Ausmaß befremden. Gemäß D3 ist ein Kunstwerk umso origineller, umso mehr es befremdet. Aber kann ein Kunstwerk nicht befremden, ohne originell zu sein? Betritt beispielsweise ein Kunstlaie eine Kunstausstellung, mögen ihm alle Kunstwerke fremd erscheinen. Diese Schwierigkeit kann man auflösen, indem man sich erinnert, dass Originalität eine kunsthistorisch bedingte Eigenschaft ist und es somit ein gewisses kunsthistorisches Wissen braucht, um die Originalität eines Werkes 20 Die ersten Reaktionen auf Les Demoiselles d’Avignon fielen beispielsweise genau so aus. Vgl. Kulka (1982), S. 116.
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beurteilen zu können. Demnach sollte D3 so verstanden werden, dass die Fremderfahrung bei einer ausreichend kunsthistorisch informierten Person hervorgerufen wird, d.h. bei jemandem, der über genug Wissen verfügt, um das Werk in seinen kunsthistorischen Kontext einzuordnen und die relevanten künstlerischen Vorgänger kennt. Doch dieser Zusatz genügt noch nicht. Solch einer kunsthistorisch ausreichend informierten Person mag ein mittelalterliches Altargemälde als fremd erscheinen, fremd aus Sicht der heutigen Kunst. Man muss also einen weiteren Zusatz hinzufügen: Das Befremden sollte im Vergleich zu den relevanten künstlerischen Vorgängern hervorgerufen werden. Das mittelalterliche Altargemälde mag im Vergleich zur heutigen Kunst befremden, aber nicht im Vergleich zu seinen künstlerisch relevanten Vorgängern: D3*: Ein Kunstwerk ist genau dann originell, wenn jemand, der/die ausreichend kunsthistorisch informiert ist, es im Vergleich zu seinen relevanten künstlerischen Vorgängern als fremd erfährt. D3* kann einem weiteren Einwand gegen D3 begegnen. Ein Kunstwerk, das vor zweihundert Jahren originell war, sollte es heute noch genauso sein.21 Aber ist nicht etwas, was ich heute als fremd erfahre, mir morgen schon altvertraut? Als ich beispielsweise das erste Mal Schweizerdeutsch gehört habe, befremdete mich diese Sprache. Nach einigen Jahren in der Schweiz ruft das Schweizerdeutsche kein Befremden mehr hervor. Verschwindet nicht also die Fremderfahrung und mit ihr die Originalität mit der Zeit? Die Fremderfahrung, die D3* erwähnt, entsteht aber durch einen Vergleich. Das Schweizerdeutsche befremdet mich vor dem Hintergrund der Sprache, die ich alltäglich höre, nicht mehr. Vergleiche ich es aber mit dem Hochdeutschen, befremdet es mich erneut. Da also D3* von einer Fremderfahrung spricht, die im Vergleich zu relevanten künstlerischen Vorgängern entsteht, erklärt sich, weshalb die Originalität eines Kunstwerkes sich nicht über die Zeit hinweg verflüchtigt. Gemäß D3* ist ein Werk jedoch nur dann originell, wenn es de facto von einer ausreichend kunsthistorisch informierten Person als fremd erfahren wird. Ist diese Person aber beispielsweise abgelenkt oder unaufmerksam, dann mag ihr das Werk nicht als fremd erscheinen. Dies sollte nicht gegen die Originalität des betreffenden Werkes sprechen. Nun interpretiert D3* Originalität jedoch in gewisser Weise als antwort-abhängige Eigenschaft. Die Zuschreibung antwortabhängiger Eigenschaften hängt davon ab, dass das Publikum die zu der jeweiligen Eigenschaft passende(n) Reaktion(en) zeigt. Unter Umständen ist es möglich einem Kunstwerk eine antwort-abhängige Eigenschaft zu attestieren, auch wenn das Publikum die dazu passenden Reaktionen nicht zeigt. Oder es ist umgekehrt denkbar, dass man einem Werk eine bestimmte antwort-abhängige Eigenschaft 21 Vgl. Osborne (1979), S. 227.
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abspricht, auch wenn das Publikum eine entsprechende Reaktion zeigt. Sieht beispielsweise die schwer depressive Katja eine Komödie, mag sie nicht amüsiert reagieren. Deswegen kann die Komödie aber dennoch lustig sein. Auch muss ein Film nicht schon allein deswegen traurig sein, weil Betty, die der Protagonist an ihren Ex-Freund erinnert, in Tränen ausbricht. Die Erklärung hierfür ist, dass werkexterne Gründe in diesen Fällen die entsprechende Reaktion verhindern bzw. hervorrufen. Für die Zuschreibung von antwort-abhängigen Eigenschaften ist es entscheidend, ob werkinterne Gründe eine bestimmte Reaktion verhindern bzw. hervorrufen. Anders formuliert, muss man sich fragen, welche Reaktionen aus werkinternen Gründen gerechtfertigt wären. Würde Katja die Komödie lustig finden, wenn sie nicht depressiv wäre? Würde Betty auch dann weinen, wenn der Protagonist sie nicht an ihren Ex-Freund erinnern würde? Diesen Gedanken kann man auf D3*’s antwort-abhängige Analyse von Originalität übertragen: D3**: Ein Kunstwerk ist genau dann originell, wenn es werkintern gerechtfertigt ist, wenn jemand, der/die ausreichend kunsthistorisch informiert ist, es im Vergleich zu seinen relevanten künstlerischen Vorgängern als fremd erfährt.
II Mit dieser Analyse von Originalität im Hintergrund stellt sich die zweite Frage dieses Artikels. Wie beeinflusst die Originalität eines Werkes dessen Wert als Kunstwerk? Diese Frage verweist auf eine grundlegendere, nämlich wodurch der Wert eines Kunstwerkes bestimmt wird, d.h. welche Bewertungen angemessen und relevant für die Kunstkritik sind. Nicht jede sinnvolle Bewertung eines Kunstwerkes ist zugleich angemessen für die Bewertung des Werkes als Kunstwerk. Ob eine Skulptur ein guter Briefbeschwerer ist, ist beispielsweise irrelevant für die Frage, ob die Skulptur ein gutes Kunstwerk ist. Teilweise wird nun gefordert, dass man ein Kunstwerk als Kunstwerk bewerten können sollte, ohne dass man es hierzu in einen weiteren Kontext einordnen muss.22 Um aber die Originalität eines Kunstwerks zu beurteilen, muss man es in seinen kunsthistorischen Kontext einordnen. Demnach wäre Originalität irrelevant für die Kunstbewertung. Mit dieser Forderung wird nicht nur der Originalität ihre Relevanz für den Wert eines Kunstwerkes abgesprochen, sondern weiteren kunsthistorisch bedingten Eigenschaften. Auch um ein Werk als plagiiert, traditionell, einzigartig oder auch revolutionär zu bezeichnen, muss man es in
22 Vgl. z.B. Beardsley (1958), S. 31f.
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seinen kunsthistorischen Kontext einordnen. Im Folgenden soll der Fokus jedoch ausschließlich auf Originalität gelegt werden. Es wird ein Argument entwickelt, welches begründet, weshalb sich Originalität positiv auf den Wert eines Kunstwerkes als Kunstwerk auswirkt, auch wenn für die Zuschreibung kunsthistorisches Wissen vonnöten ist. Das Argument baut auf fünf Prämissen auf. Die erste Prämisse ergibt sich aus D3**: P1: Wenn ein Kunstwerk x* originell ist, dann ist es werkintern gerechtfertigt, wenn y*, der/die ausreichend kunsthistorisch informiert ist, x* im Vergleich zu x*’s relevanten künstlerischen Vorgängern als fremd erfährt. Die zweite Prämisse lautet: P2: Wenn es werkintern gerechtfertigt ist, wenn y*, der/die ausreichend kunsthistorisch informiert ist, x* im Vergleich zu x*’s relevanten künstlerischen Vorgängern als fremd erfährt, dann ist es werkintern gerechtfertigt, wenn x* bei y* Neugier und Interesse weckt. Zweifelsohne können Interesse und Neugier geweckt werden, ohne dass man ein Kunstwerk als fremd erfährt. Aber wenn man ein Kunstwerk als fremd erfährt, dann reagiert man häufig mit Neugier und Interesse. Jedoch ist dies keine psychologische Notwendigkeit. Etwas als fremd zu erfahren mag auch abschrecken oder Angst machen, so dass man versucht es zu meiden. Gerade wenn ein Kunstwerk radikal originell ist, mag dies eher abschreckend wirken. Man erfährt das Kunstwerk als so fremd, dass man (zunächst) Schwierigkeiten hat, es noch als Kunst zu sehen. P2 bezieht sich nun aber auf werkintern gerechtfertigte Reaktionen. Nehmen wir hierzu an, dass y* x* als fremd erfährt und x* y*’s Neugier und Interesse weckt. Nun können wir fragen, weshalb x* y*’s Neugier und Interesse weckt. Hierauf mag man erwidern, dass y*’s Neugier und Interesse geweckt wird, weil y* x* als fremd erfährt. Die Fremderfahrung ruft die Neugier und das Interesse hervor. Aber wodurch ist die Fremderfahrung gerechtfertigt? Der Grund, weshalb y* x* als fremd erfährt, liegt darin, dass sich x* im ausreichenden Maße von seinen künstlerischen Vorgängern unterscheidet. Insoweit ist y*’s Befremden werkintern gerechtfertigt. Y*’s Neugier und Interesse sind somit auch werkintern gerechtfertigt durch y*’s werkintern gerechtfertigtes Befremden. Hiermit wird nicht behauptet, dass y* definitiv mit Neugier und Interesse auf x* reagieren wird, wenn y* x* als fremd erfährt. Werkexterne Gründe mögen dies verhindern, beispielsweise wenn y* ein Traditionalist ist und allen künstlerischen Neuerungen skeptisch gegenübersteht. Aus werkinternen Gründen wären solch eine Neugier und ein Interesse aber gerechtfertigt, eben weil sich x* soweit von
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seinen künstlerisch relevanten Vorgängern unterscheidet, dass x* als fremd erfahren wird. Die dritte Prämisse stellt folgende Verbindung her: P3: Wenn es werkintern gerechtfertigt ist, wenn x* bei y* Neugier und Interesse weckt, dann ist es werkintern gerechtfertigt, wenn y* versucht x* wertzuschätzen. P3 sollte ebenfalls nicht so verstanden werden, dass y* immer versucht x* wertzuschätzen, wenn x* bei y* Neugier und Interesse weckt. Es geht erneut um werkintern gerechtfertigte Reaktionen. Was bedeutet es, dass y* versucht x* wertzuschätzen? Hierzu sollte y* x* wahrnehmen, d.h. lesen, anhören, betrachten etc. Man kann jedoch ein Werk wahrnehmen, ohne dass man es zugleich versucht wertzuschätzen. Hierzu muss man sich auf das Werk einlassen. Man muss das Werk genauer betrachten, anhören, lesen etc. Man muss sich Zeit nehmen. Nur so kann man das Werk wirklich kennenlernen und somit irgendwann zu einem Urteil darüber kommen, ob man das Werk als gutes Kunstwerk ansieht oder auch ob man das Kunstwerk rein persönlich wertschätzt. Wenn nun y* versucht x* wertzuschätzen, kann man als Grund hierfür anführen, dass x* bei y* Interesse und Neugier geweckt hat. Die Neugier und das Interesse versprechen in gewisser Weise, dass es etwas in x* gibt, was wertgeschätzt werden könnte. Dies wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass y*’s Interesse und Neugier an x* werkintern begründet sind. Die Gründe, die y*’s Neugier und das Interesse an x* rechtfertigen, rechtfertigen auch y*’s Versuch x* wertzuschätzen, auch wenn werkexterne Gründe dies verhindern könnten. Aber wird hier nicht die Begründungsstruktur verkehrt? Muss y* nicht bereits versuchen x* wertzuschätzen, damit es x* gelingen kann Neugier und Interesse bei y* zu wecken? Ich mag neugierig auf und interessiert an einem Kunstwerk sein, welches ich noch nicht gehört, betrachtet oder gelesen habe, beispielsweise wenn meine Lieblingsband eine neue Single ankündigt. Hier würde man wahrscheinlich aber nicht davon sprechen, dass die neue Single mein Interesse und meine Neugier (aus werkinternen Gründen) geweckt hat. Zu versuchen ein Kunstwerk wertzuschätzen bedeutet mehr als es nur wahrzunehmen. Teilweise mag ein Kunstwerk Interesse und Neugier wecken, auch wenn man es nur kurz gesehen, gehört oder betrachtet hat. Aber selbst wenn man bereits versucht hat, ein Kunstwerk wertzuschätzen, und dann erst Neugier und Interesse geweckt wird, muss man P3 nicht zurückweisen. Der Versuch ein Kunstwerk wertzuschätzen kann durch die Neugier und das Interesse intensiviert und verstärkt werden. Außerdem muss man das Zusammenspiel zwischen der Neugier und dem Interesse und dem Versuch ein Kunstwerk wertzuschätzen nicht als ein zeitlich klar definiertes Nacheinander verstehen.
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Die vierte Prämisse bringt folgenden Gedanken ins Spiel: P4: Es kann als von Kunstwerken intendiert angesehen werden, dass y* versuchen soll das Kunstwerk wertzuschätzen. P4 besagt nicht, dass jeder Künstler intendiert, dass y* versuchen soll sein Kunstwerk wertzuschätzen. Ein Künstler kann nicht wollen, dass irgendjemand versucht sein Werk wertzuschätzen, fürchtet er sich beispielsweise vor dem Urteil über sein Werk.23 Oder aber er mag explizit nicht wollen, dass y* versucht sein Werk wertzuschätzen. Handelt es sich beispielsweise um eine Fälschung, dann besteht die Gefahr, dass y* als ausreichend kunsthistorisch informierte Person diese als solche erkennt, was der Fälscher verhindern will. Bestimmte Reaktionen bzw. Effekte kann man als von einem Kunstwerk intendiert ansehen, ohne dass sie der Künstler intendieren muss. Kunstwerke können Hinweise darauf enthalten, wie ein Publikum reagieren sollte. Um ein plakatives Beispiel zu wählen, denke man an eine Sitcom. An einer Stelle erklingt ein hysterisches Hintergrundlachen. Dieses gibt Grund zur Annahme, dass auch das reale Publikum an dieser Stelle lachen sollte bzw. zumindest amüsiert sein sollte. Kunstwerke enthalten somit teilweise recht offensichtliche, teilweise implizitere Hinweise darauf, welche Reaktionen bzw. Effekte hervorgerufen werden sollen und insoweit als von dem Kunstwerk intendiert angesehen werden können. P4 trifft nun eine All-Aussage über alle Kunstwerke. Demnach scheint es weniger von den konkreten Eigenschaften eines einzelnen Kunstwerkes abzuhängen, dass man es als von ihm intendiert ansehen kann, dass y* versuchen soll es wertzuschätzen, sondern vielmehr davon, dass es sich um ein Kunstwerk handelt. Kunstwerke als Kunstwerke richten sich m.E. an eine Öffentlichkeit. In diesem Sinne kann es als von Kunstwerken intendiert angesehen werden, dass eine Öffentlichkeit sie wahrnimmt und zwar durchaus in dem Sinne, dass diese Öffentlichkeit das Werk genauer betrachtet und sich auf es einlässt, also versucht es wertzuschätzen. Dies zeigt sich auch darin, dass zu versuchen ein Kunstwerk wertzuschätzen ein typischer und gängiger Umgang mit Kunstwerken ist. P4 bezieht sich aber explizit auf y* als ausreichend kunsthistorisch informierte Person. Ein Verweis auf eine institutionelle Kunstdefinition mag dies begründen helfen. Ein Vertreter einer institutionellen Kunstdefinition wird wahrscheinlich zustimmen, dass Kunstwerke sich an eine Öffentlichkeit richten, aber hinzufügen, dass diese Öffentlichkeit eine Kunstwelt-Öffentlichkeit ist.24 Danto beschreibt diese wie folgt: »To see something as art requires something the eye
23 Vgl. Dickie (2004), S. 51. 24 Vgl. z.B. ebd., S. 53.
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cannot descry – an atmosphere of artistic theory, a knowledge of the history of art: an artworld.«25 Y* als ausreichend kunsthistorisch informierte Person gehört somit zur Kunstwelt. Demnach richten sich Kunstwerke als Kunstwerke an y*. Und wenn »sich an eine Öffentlichkeit richten« den Gedanken mit sich führt, dass diese Öffentlichkeit versuchen soll das Kunstwerk wertzuschätzen, dann kann man es als von Kunstwerken intendiert ansehen, dass y* versuchen soll sie wertzuschätzen.26 Eine Möglichkeit P4 ohne Bezug auf eine institutionelle Kunstdefinition zu begründen besteht darin die bereits angeklungene weitere Lesart von P4 zu akzeptieren: P4°: Es kann als von Kunstwerken intendiert angesehen werden, dass y versuchen soll, das Kunstwerk wertzuschätzen. Gemäß P4° wollen Kunstwerke als Kunstwerke wertgeschätzt werden. Wenn wir etwas als Kunstwerk ansehen, dann sehen wir es als von ihm intendiert an, dass man versuchen soll es wertzuschätzen. Kunstwerke sind insoweit nicht wählerisch, was ihr Publikum betrifft. Somit muss nicht extra begründet werden, weshalb auch y* versuchen soll ein Kunstwerk wertzuschätzen. Hiergegen mag man einwenden, dass einige Kunstwerke nur von gewissen Personen verstanden werden können, weil bestimmtes Wissen vonnöten ist. Dies sei nicht bestritten, jedoch spricht P4° nicht davon, dass y das Kunstwerk verstehen soll, sondern versuchen soll es wertzuschätzen. Bei diesem Versuch kann y scheitern. Auch mag man zu bedenken geben, dass manche Kunstwerke sich an ein bestimmtes Publikum zu wenden scheinen (und häufig von diesem besonders geschätzt werden). P4° behauptet jedoch nicht, dass es als von jedem Kunstwerk intendiert angesehen werden kann, dass y es wertschätzt. Es geht lediglich um den Versuch der Wertschätzung. Um P4 zu verteidigen kann man also entweder auf eine institutionelle Kunstdefinition verweisen oder aber die These stark machen, dass Kunstwerke sich an eine nicht vorselektierte Öffentlichkeit richten. Die fünfte Prämisse behauptet: P5: Wenn es als von einem Kunstwerk intendiert angesehen werden kann, dass y auf Weise α reagieren soll, und es aus werkinternen Gründen gerechtfertigt ist, wenn y auf Weise α reagiert, dann wirkt sich dies positiv auf den Wert des Kunstwerkes als Kunstwerk aus. P5 besagt also, dass es sich positiv auf den Wert eines Kunstwerkes als Kunstwerk auswirkt, wenn ein Effekt bzw. eine Reaktion als von einem Kunstwerk intendiert angesehen werden kann und dieser Effekt bzw. diese Reaktion 25 Danto (2004), S. 32. 26 Vgl. Dickie (1969), S. 254f.
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aus werkinternen Gründen gerechtfertigt ist. Denken wir beispielsweise an einen Horrorfilm. Durch den Handlungsverlauf, die dramaturgische Inszenierung etc. kann man es als von diesem Film intendiert ansehen, dass sein Publikum sich vor einem Monster fürchtet. Jedoch ist dieses Monster so schlecht animiert, dass das Publikum beim Anblick des Monsters vielmehr in Gelächter ausbricht. Ein werkinterner Grund verhindert somit, dass die dem Film zugeschriebene Absicht erfolgreich ist. Und dies scheint sich durchaus negativ auf die Bewertung des Horrorfilms auszuwirken. Vergleichen wir dieses Beispiel mit einem Fall, in welchem ein Effekt bzw. eine Reaktion, der bzw. die als von dem Kunstwerk intendiert angesehen werden kann, aus werkinternen Gründen gerechtfertigt wäre. M.E. kann man es als von Romeo und Julia intendiert ansehen, dass das Publikum bewegt und betroffen auf den tragischen Doppelselbstmord am Ende des Stückes reagiert. In diesem Fall scheint solch eine Reaktion auch aus werkinternen Gründen gerechtfertigt zu sein. Und dies ist auch ein Grund, weshalb man Romeo und Julia als gutes Kunstwerk ansieht. Für die Bewertung von Kunstwerken spielt es also eine Rolle, ob Reaktionen und Effekte, die als von den Werken intendiert angesehen werden können, werkintern gerechtfertigt sind. Laut P5 kann man Kunstwerke also danach beurteilen, ob sie ihre selbstgesetzten antwort-abhängigen Ziele aus werkinternen Gründen erreichen. Carroll spricht einen ähnlichen Gedanken an: »Thus, in large measure, the aesthetic success of an artwork is response dependent, i.e. the work depends on eliciting certain mandated responses, if it is to succeed on its own terms.«27 P5 formuliert also ein antwort-abhängiges Bewertungskriterium für Kunstwerke. Damit wird jedoch nur eine und nicht die einzige Möglichkeit einer angemessenen Kunstkritik aufgezeigt. Hierdurch wird deutlich, welche Werttheorie für Kunstwerke im Hintergrund dieses Argumentes steht, ohne dass diese Theorie im Zuge dieses Artikels ausbuchstabiert, geschweige denn zufriedenstellend begründet werden könnte.28 Grob kann man zwischen monistischen und pluralistischen Werttheorien unterscheiden. Gemäß einer monistischen Werttheorie gibt es für alle Kunstwerke nur einen einzig angemessenen Bewertungsmaßstab. Laut dem radikalen Ästhetizismus ist beispielsweise allein der ästhetische Wert ausschlaggebend für den Wert eines Kunstwerkes. Instrumentell definiert, ist ein Kunstwerk insoweit ästhetisch wertvoll, als es ihm gelingt eine ästhetische Erfahrung hervorzurufen.29 Der radikale Ästhetizismus wird P5 wahrscheinlich zurückweisen bzw. nur ästhetische Erfahrungen als relevante Reaktionen auf
27 Carroll (1998), S. 420. 28 Vgl. hierzu Schmalzried (2014). 29 Vgl. z.B. Beardsley (1958), S. 531.
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Kunstwerke ansehen.30 Das Problem des radikalen Ästhetizismus und von monistischen Werttheorien im Allgemeinen ist, dass sie stark normativ aufgeladen sind: Nur ein einziges Bewertungskriterium wird als relevant und angemessen für die Kunstkritik angesehen. Hiermit gerät man jedoch in Konflikt mit der tatsächlichen Multi-Dimensionalität der Kunstkritik. Wir beurteilen Kunstwerke anhand ihrer formalen Merkmale, aber auch anhand ihres Inhaltes und ihrer Wirkungen. Eine pluralistische Werttheorie kann dieser Vielschichtigkeit gerecht werden, indem sie unterschiedliche Bewertungskriterien als angemessen für die Kunstkritik ansieht. Für den Wert eines Kunstwerkes kann sowohl die reine Form des Werkes, sein Inhalt oder eben auch die Wirkung des Werkes entscheidend sein. P5 verweist auf ein Bewertungskriterium, das an der Wirkung von Kunstwerken ansetzt. Nachdem nun die fünf Prämissen dargestellt, erklärt und verteidigt wurden, ergibt sich folgendes Argument: P1: Wenn ein Kunstwerk x* originell ist, dann ist es werkintern gerechtfertigt, wenn y*, der/die ausreichend kunsthistorisch informiert ist, x* im Vergleich zu x*’s relevanten künstlerischen Vorgängern als fremd erfährt. P2: Wenn es werkintern gerechtfertigt ist, wenn y*, der/die ausreichend kunsthistorisch informiert ist, x* im Vergleich zu x*’s relevanten künstlerischen Vorgängern als fremd erfährt, dann ist es werkintern gerechtfertigt, wenn x* bei y* Neugier und Interesse weckt. P3: Wenn es werkintern gerechtfertigt ist, wenn x* bei y* Neugier und Interesse weckt, dann ist es werkintern gerechtfertigt, wenn y* versucht x* wertzuschätzen. P4: Es kann als von Kunstwerken intendiert angesehen werden, dass y* versuchen soll, das Kunstwerk wertzuschätzen. P5: Wenn es als von einem Kunstwerk intendiert angesehen werden kann, dass y auf Weise α reagieren soll, und es aus werkinternen Gründen gerechtfertigt ist, wenn y auf Weise α reagiert, dann wirkt sich dies positiv auf den Wert des Kunstwerkes als Kunstwerk aus. ______________________________________________________________ K:
Wenn ein Kunstwerk x* originell ist, dann wirkt sich dies positiv auf den Wert von x* als Kunstwerk aus.
30 Vgl. z.B. Lessing (1965), S. 470.
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Mit diesem Argument wird nicht behauptet, dass Originalität notwendig dafür ist, dass ein Kunstwerk ein gutes Kunstwerk ist. Es scheint durchaus gute Kunstwerke zu geben, die nicht oder nur wenig originell sind. Denken wir beispielsweise an Rubens Mädchen mit Fächer (1612/14), das eine Nachahmung von Tizians Dame in Weiß (ca. 1555) ist. Als Nachahmung ist Rubens Gemälde nur wenig oder gar nicht originell und dennoch kann man es als gutes Kunstwerk betrachten. Hier sei erneut auf den Gedanken einer pluralistischen Werttheorie verwiesen. Da Originalität nur ein Faktor unter mehreren ist, die den Wert eines Kunstwerkes bestimmen, ist nicht verwunderlich, warum Mädchen mit Fächer ein gutes Kunstwerk sein kann. Auch folgt aus dem obigen Argument nicht, dass Originalität eine hinreichende Bedingung für gute Kunst ist. Es ist durchaus vorstellbar, dass die Originalität eines Kunstwerkes von anderen negativeren Bewertungen »überstimmt« wird. Die Bewertungen auf Basis der unterschiedlichen Maßstäbe müssen nicht gleichermaßen positiv bzw. negativ ausfallen. In einer Hinsicht mag ein Kunstwerk lobenswert sein, in einer anderen nicht. Ein Kunstwerk kann somit beispielsweise originell sein, aber in (klassisch) ästhetischer Hinsicht wenig ansprechend, wie beispielsweise Les Demoiselles d’Avignon.31 Anknüpfend an diese Erwiderung mag man ein weiteres Bedenken gegen die Relevanz von Originalität für den künstlerischen Wert formulieren. Originalität wurde so beschrieben, dass durch eine Veränderung im Vergleich zu den künstlerischen Vorgängern eine Fremderfahrung hervorgerufen wird. Aber eben diese Veränderung mag das Kunstwerk im Hinblick auf einen anderen Bewertungsmaßstab zu einem schlechteren Kunstwerk machen.32 Sollte man erlauben, dass ein und dieselbe Veränderung ein Kunstwerk zugleich zu einem besseren und zu einem schlechteren Kunstwerk werden lässt? Auf Basis einer pluralistischen Werttheorie stellt dies kein Problem dar. Wir können uns beispielsweise eine literarische Tradition vorstellen, die viel Wert auf besonders realitätsnahe und facettenreiche Charakterbeschreibungen legt. Gelingt einem Werk eine solche Charakterbeschreibung mögen wir es in kognitiver Hinsicht loben. Nun entsteht ein neues Kunstwerk, das sich von seinen Vorgängern gerade durch sehr skizzenhafte Charakterbeschreibungen unterscheidet. Hierin liegt gerade seine Originalität, auch wenn in dieser Hinsicht sein kognitiver Wert geschmälert wird. Hier wird deutlich, dass man teilweise erst lernen muss die Veränderung, die zu der Originalität eines Kunstwerkes führt, wertzuschätzen. Originelle Kunstwerke mögen unter Umständen die bisher bestehenden Bewertungskriterien überfordern. Damit ist nicht gemeint, dass man originelle Kunstwerke nicht anhand von 31 Vgl. z.B. Kulka (1982), S. 117. 32 Vgl. z.B. Kieran (2005), S. 15.
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bestehenden Bewertungskriterien bewerten kann. Vielleicht sind sie aus »traditioneller« Sicht keine besonders guten Kunstwerke. Dies kann aber dazu führen, dass man eine neue Sichtweise auf Kunstwerke entwickeln muss. Daher braucht es teilweise Zeit, bis man originelle Kunstwerke nicht nur ihrer Originalität wegen wertschätzt, sondern auch im Hinblick auf andere Bewertungskriterien.
III Am Anfang dieses Artikels stand ein Zitat von Carlyle: Beständig würden wir lautstark Originalität fordern, um beständig mit ihr zu hadern. Das im zweiten Abschnitt entwickelte Argument begründet, weshalb wir Originalität fordern, wenn es uns um gute Kunst geht. Die Originalität eines Werkes wirkt sich positiv auf dessen Wert als Kunstwerk aus. Originalität trägt dazu bei, dass Kunstwerke ein selbst gesetztes Ziel erreichen, nämlich aus werkinternen Gründen eine kunsthistorisch ausreichend informierte Person als Publikum zu gewinnen. Dieses Argument baut auf einem Verständnis von Originalität auf, das Originalität über Fremderfahrung erklärt. Ist es werkintern begründet, wenn ein Kunstwerk von einer ausreichend kunsthistorisch informierten Person im Vergleich zu seinen künstlerisch relevanten Vorgängern als fremd erfahren wird, dann ist das Kunstwerk originell. Das Befremden liefert somit den Prüfstein dafür, ob und inwieweit eine Veränderung im Vergleich zu früheren Kunstwerken ausreicht, um ein Kunstwerk originell werden zu lassen. Wenn nun Originalität über solch ein Befremden erklärt wird, erklärt sich auch, weshalb wir und auch eine ausreichend kunsthistorisch informierte Person teilweise mit ihr hadern. Etwas, was befremdet, muss nicht unmittelbar ansprechen und es mag sogar unsere etablierten Bewertungskriterien überfordern.
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Die Grenzen der Gewohnheit Überlegungen zur Fremdheit in der Kunsterfahrung P HILIP H OGH
Um das Verhältnis von Fremdheit und Kunsterfahrung bestimmen zu können, ist es sinnvoll, zunächst damit zu beginnen, wie menschliche Subjekte überhaupt dazu in die Lage kommen, Erfahrungen machen zu können. Dies hängt natürlich zuallererst daran, was unter Erfahrung verstanden wird. Ich möchte im Folgenden den Begriff der Erfahrung von einem Begriff der Gewohnheit her entwickeln. Unter Gewohnheit kann grundsätzlich jede Form der Praxis verstanden werden, in die sich ein Subjekt im Prozess seines Werdens eingeübt hat und die es so dazu in die Lage versetzt, sich in unterschiedlichen Situationen durch den Vollzug derselben Praxis als dasselbe Subjekt zu erhalten. Gewohnheiten haben einerseits eine stabilisierende Funktion für die Subjektivierung und stellen andererseits Möglichkeiten bereit, auf der Grundlage bereits eingeübter Praktiken neue Praktiken auszuprobieren und dadurch Neues zu erschließen. Gewohnheiten haben so in ihrer Genese einen assimilierenden und befreienden Charakter. Sie können sich als Gewohnheiten nur herausbilden, indem sie unterschiedliche Situationen und Gegenstände als besondere Fälle desselben Allgemeinen behandeln. Was zuerst noch fremd und unbekannt ist, wird durch die Ausbildung von Gewohnheiten zu einem Bekannten gemacht. Damit wird aber nicht nur das Unbekannte auf ein Bekanntes reduziert, sondern ebenso der Umkreis des Bekannten erweitert. Durch die wiederholte und wiederholende Anwendung einer Praxisform stabilisiert sich das sie ausübende Subjekt selbst, indem es sich in der Wiederholung ein und derselben Praxisform in unterschiedlichen Situationen gegenüber diesen Situationen als dasselbe Subjekt erhält. Dabei bleiben die stabilisierende und die erschließende Funktion von Gewohnheiten aufeinander verwiesen, denn stabil bleibt ein Subjekt in der Ausübung einer Gewohnheit nur, wenn es diese immer wieder in wechselnden Situationen anwendet und erschlie-
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ßen kann sich das Subjekt der Gewohnheit nur dann etwas, wenn es eine bereits bestehende und damit schon stabile Praxisform auf etwas noch Unbekanntes anwendet. Wie für jede Praxisform gilt auch für Gewohnheiten, dass sie nicht gelingen müssen bzw. dass ihr Gelingen bei jeder ihrer Ausführungen auf dem Spiel steht. Den Erfahrungsbegriff verstehe ich an dieser Stelle nun so, dass sich mit ihm sowohl das Gelingen als auch das Misslingen von Gewohnheiten beschreiben lässt. Dabei sind mit dem Gelingen und dem Misslingen von Gewohnheiten jedoch unterschiedliche Formen von Erfahrungen verbunden. Gelingt die Ausführung einer Gewohnheit, so stellt sich das ein, was man in der gegenwärtig gebräuchlichen Terminologie epistemische Erfahrung nennen könnte: Wenn sich etwas erfolgreich als Fall eines Allgemeinen begreifen lässt, dann weiß man, worum es sich dabei handelt bzw. dann weiß man, was der Fall ist.1 Scheitert ein solcher Versuch aber, zeigt sich etwas nicht als Fall desjenigen Allgemeinen, das auf es angewendet wurde, so stellt sich in einer Situation, in der sich das Subjekt der Gewohnheit nicht einfach enttäuscht abwendet, eine komplexere Erfahrung als die epistemische ein. Von dem Besonderen, auf das ein Allgemeines angewendet wurde, lässt sich dabei dann nicht mehr sagen, von welchem Allgemeinen es ein Besonderes ist und damit: was es überhaupt ist. Es ist nicht mehr klar, was der Fall ist. Das Problem, vor dem das Subjekt der Gewohnheit dann steht, ist nicht allein ein kognitives.2 Es weiß im Falle des Scheiterns der Gewohnheit nicht nur nicht, als was es etwas denken soll, es weiß ebenso wenig, was es praktisch damit anfangen soll bzw. welche Praxis mit dem betreffenden Etwas erfolgreich vollzogen werden könnte. Wenn das Subjektsein des Subjekts jedoch gerade darin besteht, erfolgreich Gewohnheiten auszuführen, so steht im Falle des Scheiterns solcher Ausführungen nicht nur eine bestimmte Gewohnheit sondern das Subjekt selbst auf dem Spiel. Es wird im und durch das Scheitern der Gewohnheit auf seine eigenen Fähigkeiten zu deren Ausführung zurückgeworfen. Diese Form der Erfahrung ist aber nicht einfach als abstrakte Negation der epistemischen Erfahrung zu verstehen, die im Falle einer erfolgreich ausgeführten Gewohnheit gemacht worden wäre. Die Negativität dieser Erfahrung besteht ja nicht einfach darin, dass eine bestimmte epistemische Erfahrung nicht gemacht wird, sondern vielmehr darin, dass das Subjekt sich dabei selbst als ein Wesen erfährt, das nicht dazu in der Lage ist, seine Fähigkeiten so auszurichten, dass es erfolgreich eine Praxis ausführen kann. Es tritt sich somit selbst als ein Wesen gegenüber, das noch etwas anderes ist als das Subjekt seiner Tätigkeiten. Zwar 1
Vgl. Deines u.a. (2013), S. 13.
2
Vgl. ebd., S. 15.
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G EWOHNHEIT
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kann eine solche Erfahrung in vielerlei Zusammenhängen gemacht werden, sie stellt jedoch sicherlich einen paradigmatischen Fall dessen dar, was in der Erfahrung von Kunstwerken passiert. Bezogen auf den oben bereits benannten Aspekt, dass Gewohnheiten einen notwendig assimilierenden Charakter haben, sie also das Unbekannte und Fremde in ein Bekanntes verwandeln (müssen), wenn sie gelingen (sollen), bedeutet dies, dass im Falle des Scheiterns von Gewohnheiten in der Erfahrung von Kunstwerken nicht nur das jeweilige Werk als ein Fremdes bestehen bleibt, sondern auch, dass das jeweilige Subjekt sich dabei selbst zu einem Fremden wird bzw. mit einer fremden Seite seiner selbst konfrontiert wird. Diese Form der Störung des Subjekts der Gewohnheit findet im Falle der Kunsterfahrung jedoch in einem bereits stabilisierten und geschützten Rahmen statt. Zwar kann das Anschauen eines Films, in dem kunstvoll Menschen gefoltert und massakriert werden, in Ausnahmefällen auch traumatisierende Wirkungen haben, doch diese wären kaum mit den Wirkungen zu vergleichen, die die Bezeugung realen Folterns und Mordens hätte. Kunst bietet somit Möglichkeiten, sich in einem geschützten Raum als Subjekt aufs Spiel zu setzen, ohne dass dies so weit ginge, dass dabei das eigene Leben tatsächlich unmittelbar in Gefahr geriete.3 Die Teilnahme an ihr, d.h. ihre Erfahrung erfordert vom Subjekt ein Bewusstsein davon, dass das künstlerisch Dargebotene nur als Kunst real ist und nicht als außerkünstlerisches Geschehen, was es darum nicht weniger real macht.4 Hielte man das Geschehen in einem Film unmittelbar für real, so verfehlte man einerseits seinen Sinn, dem man jedoch erst dann auf die Spur kommen kann, wenn man das filmisch Gezeigte andererseits nicht für bloßen Schein, für bloße Illusion sondern als künstlerisch Reales versteht. Aber beide, die künstlerische und die außerkünstlerische Realität gehören zur geschichtlichen und sozialen Realität menschlichen Lebens. Vor diesem Hintergrund werde ich im Folgenden zunächst den Begriff der Gewohnheit unter Rückgriff auf Hume und Hegel genauer entwickeln. Sind Ge3
Wichtig ist hier die Betonung, dass die Kunst keine unmittelbare Gefahr für das Leben bzw. Überleben des Subjekts darstellt. Kunst kann natürlich solche Auswirkungen auf ihre Produzentinnen und Rezipientinnen haben, die ihre Existenz gefährden, gehört es doch generell zu dem, was Kunst ausmacht, dass sie das Leben ihrer Rezipientinnen verändert. Vgl. Bertram (2014), S. 51-58. Der entscheidende Punkt besteht hier nur darin, dass beispielsweise die Lektüre von Goethes »Die Leiden des jungen Werther« zwar unter zeitgenössischen Leserinnen zu Selbstmordversuchen geführt hat, es dazu aber natürlich einer bestimmten Interpretation, also einer subjektiven Zutat auf Seiten der Rezipientinnen bedurfte. Es war nicht das Buch, das die Leserinnen im Zweifel selbst umgebracht hat.
4
Diesen Gedanken entwickelt ausführlich Düttmann (2011).
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wohnheiten bei Hume konstitutiv dafür, überhaupt Erfahrungsschlüsse ziehen und somit etwas von der Realität erkennen zu können, so setzt Hegel seinen Gewohnheitsbegriff noch grundlegender an, indem er davon ausgeht, dass Gewohnheiten die Funktion der praktischen Herausbildung von Subjektivität haben und insofern als zweite Natur zu verstehen sind, die von keinem Subjekt willkürlich außer Kraft gesetzt werden kann (I). Daran anschließend werde ich die Fremdheit, die für das Subjekt der Gewohnheit in der Kunsterfahrung steckt, so deuten, dass sie für das Subjekt als Ermöglichung der Erfahrung der Gesetztheit und damit des naturhaften Scheins seiner Gewohnheiten einsichtig wird (II). Diese Erfahrung, die durch die Unterbrechung der Gewohnheiten dem Subjekt erst zu einem Bewusstsein seiner Gewohnheiten verhilft, ist unter anderem mit dem Begriff der Ästhetisierung als eine Form der Befreiung beschrieben worden,5 deren Grenzen ich abschließend im Verhältnis zum nicht auflösbaren konstitutiven Charakter der Gewohnheit bestimmen möchte. Das Spannungsverhältnis von Gewohnheit und Fremderfahrung soll so als dasjenige Moment moderner Subjektivität verständlich werden, worin Kunst und soziales Leben zusammenhängen (III).6
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Humes Gewohnheitsbegriff taucht im Kontext seiner theoretischen Philosophie dort auf, wo es ihm darum geht, auf welcher Grundlage Erfahrungsschlüsse möglich sind bzw. anhand welcher Kriterien entschieden werden kann, ob ein Erfahrungsschluss wahr ist. Dies diskutiert er wiederum auf der Grundlage seines Kausalitätsbegriffs. Diesem gemäß ist das Verhältnis von Ursache und Wirkung als ein gänzlich äußerliches Verhältnis zu verstehen. Das heißt: die Kenntnis der Ursache berechtigt mich keinesfalls dazu, aus ihr die Wirkung zu folgern: »jede Wirkung ist ein von ihrer Ursache verschiedenes Ereignis. Sie kann daher nicht in der Ursache entdeckt werden, und die erste apriorische Erfindung oder Vorstellung davon muß völlig willkürlich sein.«7 Da Hume es hier ganz antirationalistisch ausschließt, dass aus der Kenntnis eines Ereignisses auf das, was
5
Vgl. dazu Menke (2008) & ders. (2013).
6
Ich beschäftige mich im Folgenden nicht mit Hegels Ästhetik bzw. mit seiner Philosophie der Kunst, sondern allein mit seinem Gewohnheitsbegriff, der mir Möglichkeiten bereitzustellen scheint, mit denen Kunsterfahrung jenseits ihrer Hegelschen Konzeptualisierung artikuliert werden kann.
7
Hume (1982), S. 47.
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aus ihm folgen wird, ohne Erfahrung geschlossen werden kann, liegt die Annahme nahe, dass erst die Erfahrung eines Ereignisses als Ursache und die Erfahrung eines darauffolgenden Ereignisses als Wirkung dazu berechtigt, zwischen ihnen einen Kausalzusammenhang anzunehmen. Entscheidend ist für Hume aber die Frage, wie man vor dem Hintergrund der vollkommenen Unterschiedenheit von Ursache und Wirkung dazu kommen kann, aus der gegenwärtigen Erfahrung eines bestimmten Kausalverhältnisses darauf zu schließen, dass es sich zukünftig in vergleichbaren Fällen ebenso oder zumindest ähnlich verhalten wird: »Hinsichtlich der früheren Erfahrung kann eingeräumt werden, daß sie unmittelbare und zuverlässige Informationen nur über solche bestimmten Objekte und jene bestimmte Zeitspanne geben kann, von denen sie Kenntnis hatte. Weshalb diese Erfahrung jedoch auf die Zukunft und auf andere Objekte ausgedehnt werden sollte, die, soweit uns bekannt ist, nur dem Anschein nach gleichartig sein mögen: das ist die Hauptfrage, die ich hervorheben möchte.«8
Die Fähigkeit, über das der Erfahrung unmittelbar und zuverlässig Gegebene hinaus zu Schlüssen zu kommen, ist nach Hume keine, die apriori in der Vernunft begründet wäre, sondern er fasst sie – darin bereits Hegel vorgreifend – als in der Erfahrung erworbene Fähigkeit. Das wird an dem Beispiel deutlich, das Hume verwendet, um diesen Gedanken zu erläutern: Würde ein vollkommen vernünftiger Mensch, der noch keinerlei Erfahrungen gemacht hat, plötzlich auf die Welt geworfen, so könnte er zunächst nur eine Reihe von nacheinander ablaufenden Geschehnissen oder Ereignissen registrieren. Er wäre mangels Erfahrung nicht dazu in der Lage, ein Ereignis als die Wirkung eines anderen Ereignisses zu bestimmen. Er bliebe vielmehr mit Vernunft, aber ohne Erfahrung an das unmittelbar Vorfindliche verwiesen und gebunden.9 Hat derselbe Mensch jedoch eine gewisse Zeit auf der Welt verbracht und festgestellt, dass aus Ereignissen der Form A stets Ereignisse der Form B folgen, so ist er dazu in der Lage, beim Auftauchen eines Ereignisses A zu schließen, dass aus ihm ein Ereignis B folgen wird. Zu einer solchen Folgerung kann dieser Mensch nicht aus apriorischen Gründen kommen, denn dann wäre es gar nicht nötig gewesen, dass er erst bestimmte Erfahrungen gemacht haben muss, sondern es ist vielmehr die Gewohnheit, die ihn dazu befähigt.10 Diese wird von Hume folgendermaßen definiert: »Wo immer die Wiederholung 8
Ebd., S. 51.
9
Vgl. ebd., S. 61.
10 Vgl. ebd., S. 62.
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einer bestimmten Handlung oder eines Vorganges das Verlangen hervorruft, dieselbe Handlung oder denselben Vorgang zu erneuern, ohne dazu durch einen Denkakt oder Verstandesvorgang gedrängt zu sein, sagen wir stets, dieses Verlangen sei die Wirkung der Gewohnheit.«11 Etwas, was man getan hat, nochmals zu tun mit der Absicht, denselben Zweck zu realisieren, ist nach Hume die Art und Weise, wie Gewohnheiten realisiert werden. Erst auf dieser Grundlage ist es menschlichen Subjekten möglich, von der Wiederholung einer Handlung dasselbe oder zumindest ein ähnliches Ergebnis zu erwarten wie von früheren Durchführungen. Erst damit können Erfahrungsschlüsse der Form, die oben beschrieben wurde, gerechtfertigt werden. Auch wenn Hume die Gewohnheit als »große Führerin im Menschenleben«12 bezeichnet, so begreift er doch – und dies wird die Differenz zu Hegel hinsichtlich des Gewohnheitsbegriffs markieren – nicht »alle Arten und Stufen der Tätigkeit des Geistes«13 als durch Gewohnheit hervorgerufen oder produziert. So betont er, dass Sätze der Mathematik »sich durch bloße Denktätigkeit entdecken«14 ließen und für die Gültigkeit dessen, was eine solche Denktätigkeit hervorbringt, ist kein Bezug auf die Erfahrung notwendig. Zwar ist die Gewohnheit konstitutiv für die Rechtfertigung einer bestimmten Form von Denktätigkeiten, nämlich von Erfahrungsschlüssen, nicht aber für »alle Arten und Stufen der Tätigkeit des Geistes« und eben das ist der Kern von Hegels Theorie der Gewohnheit. Hegel kommt auf den Begriff der Gewohnheit in seiner Anthropologie zu sprechen, genauer: an der Stelle, an der es darum geht, wie die Seele Besitz von ihrem Leib ergreift. Zwar wird mit der Gewohnheit hier zunächst das Erlernen grundlegender sensorischer und motorischer Fähigkeiten beschrieben, doch bilden diese die Grundlage für die Entwicklung und den Erwerb komplexerer Fähigkeiten, die letztlich »teleologisch ineinandergreifend und hingeordnet auf den ›Endzweck‹ der Selbsterkenntnis und Selbstbefreiung des Geistes«15 verstanden werden müssen. Die Gewohnheit ist damit nicht nur als eine basale Form der Seele in ihrem Werden bestimmt, sondern sie beschreibt als sittliche Gewohnheit eine Form von sozialer Praxis, in der der Geist erst wahrhaft frei geworden ist. Hegels Theorie der Gewohnheit setzt ein mit der fühlenden Seele, die immerhin schon beginnt, ihre Empfindungen zu ihrem Gegenstand zu machen. »Das Selbstgefühl, in die Besonderheit der Gefühle (einfacher Empfindungen, 11 Ebd. 12 Ebd., S. 64. 13 Hegel (1986), S. 186. 14 Hume (1982), S. 41. 15 Merker (1990), S. 234.
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wie der Begierden, Triebe, Leidenschaften und deren Befriedigungen) versenkt, ist ununterschieden von ihnen.«16 Die natürliche bzw. hier die fühlende Seele empfindet erstmal nur sich selbst und das heißt: ihre Begierden, Triebe und Leidenschaften. Hegel sagt nun, dass die natürliche Seele in diese Empfindungen versenkt und von ihnen ununterschieden sei. Das heißt, es gibt hier noch keine Differenz von Leib und Seele, sondern nur ihre unmittelbare Einheit. Das impliziert, dass die Seele auf ihre Empfindungen noch nicht bewusst Bezug nehmen kann bzw. von ihrem Bezugnehmen auf ihre Empfindungen noch nichts wissen kann. Dies kann als frühkindlicher Zustand verstanden werden, in dem das werdende Subjekt seinen Empfindungen vollkommen ausgeliefert ist und nicht bewusst über sie verfügen kann. Wenn ich so meinen Empfindungen ausgeliefert bin, kann ich sie natürlich nicht im Lichte meiner Erfahrungen einschätzen. Ich kann nicht wissen, inwiefern sie der Realität angemessen sind oder nicht, das heißt, ich bin nicht frei in meinem Tun und Lassen – weder mir selbst noch anderem oder anderen gegenüber –, sondern werde noch von meiner Natur bestimmt. Im Laufe ihrer Entwicklungen werden Menschen aber dazu fähig, ihre Empfindungen, Bedürfnisse und Triebe zu kontrollieren und zu bearbeiten. Das heißt, die ununterschiedene Einheit der natürlichen Seele, in der das Selbst mit seinen Empfindungen vollkommen identisch ist, muss aufgebrochen werden, das Selbst muss zwischen sich und seine Empfindungen eine Differenz setzen, es darf sich nicht mehr so in sie versenken, dass es sich in ihnen verliert. Für Hegel macht sich die Seele darum gegenüber ihren Empfindungen zu einer »für sich seienden Allgemeinheit«.17 Statt in ihren Empfindungen vollkommen versenkt und mit ihnen identisch zu sein, erhält sich die Seele gegenüber ihren Empfindungen. Das heißt, sie bleibt auch dann, wenn sie sich ihren Empfindungen hingibt, dieselbe und ist in diesem Sinne gegenüber ihren besonderen Empfindungen dann ein Allgemeines. In die zunächst noch ununterschiedene Einheit der fühlenden Seele kommt also Differenz ‒ zwar noch nicht so, dass die Seele jetzt ihre einzelnen Empfindungen ganz genau voneinander unterscheiden könnte, aber zumindest so, dass die Seele weiß, dass sie nicht in einer einzelnen Bestimmung aufgeht, dass sie demgegenüber mehr, d.h. ein Allgemeines ist. Die Differenz, die Hegel hier aufmacht, ist die zwischen Seele und Leib. »Dies besondere Sein der Seele ist das Moment ihrer Leiblichkeit, mit welcher sie hier bricht, sich davon als deren einfaches Sein unterscheidet«.18 Aus der vormaligen Ununterschiedenheit, in der Geist und Körper, Seele und Leib 16 Hegel (1986), S. 182. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 183.
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schlicht ineinanderfielen und man von keiner Differenz zwischen Allgemeinem und Besonderem reden konnte, wird so ein Allgemeines – die Seele –, an dem sich ein besonderes Moment feststellen lässt – die Leiblichkeit mit ihren Empfindungen und Gefühlen. Dasjenige, was diese Differenz ermöglicht, ist für Hegel die Gewohnheit: »Daß die Seele sich so zum abstrakten allgemeinen Sein macht und das Besondere der Gefühle (auch des Bewußtseins) zu einer nur seienden Bestimmung an ihr reduziert, ist die Gewohnheit.«19 Diese wird von Hegel folgendermaßen bestimmt: »Dieses Sicheinbilden des Besonderen oder Leiblichen der Gefühlsbestimmungen in das Sein der Seele erscheint als eine Wiederholung derselben und die Erzeugung der Gewohnheit als eine Übung.«20 Dadurch, dass man immer wieder dasselbe tut, solange bis man es quasibewusstlos tun kann, ohne sich darauf konzentrieren zu müssen, bildet man Gewohnheiten aus. Hier geht es nach Hegel um das Erlernen oder Einüben von basalen Techniken, die für ein menschliches Leben unverzichtbar sind: Aufrecht stehen, Sehen, Sprechen, letztlich auch Denken. Etwas wird solange übend wiederholt, bis es buchstäblich in Fleisch und Blut übergegangen ist. »Durch die Gewohnheit werden Einschreibungsprozesse in den Körper der Subjekte in Gang gesetzt, die, ohne daß sie im einzelnen reflektiert werden, in sozialen Handlungsvollzügen zum Tragen kommen.«21 Das heißt, dass durch ein gewohnheitsmäßiges Üben und Lernen nicht nur der Leib geformt wird, sondern auch die Differenz zwischen Seele und Leib als solche erst hergestellt wird. Der Leib kann nun eben gemäß dem, was die Seele möchte, geformt werden. So hat der Leib sich durch die Gewohnheit so geformt, dass diese Formung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Sie ist fortan der Ausgangspunkt für alles, was ein Mensch tun will. In diesem Sinne ist sie Natur. Da dies aber erlernt und praktisch angeeignet wurde, ist es keine natürliche Qualität wie das Altern oder das Schlafen, sondern eine zweite Natur. »Die Gewohnheit ist mit Recht eine zweite Natur genannt worden, – Natur, denn sie ist ein unmittelbares Sein der Seele, – eine zweite, denn sie ist eine von der Seele gesetzte Unmittelbarkeit, eine Ein- und Durchbildung der Leiblichkeit, die den Gefühlsbestimmungen als solchen und den Vorstellungs- und Willensbestimmtheiten als verleiblichten zukommt.«22
19 Ebd. 20 Ebd., S. 184. 21 Stache (2006), S. 277. 22 Hegel (1986), S. 184.
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Nun hat die Gewohnheit für Hegel eine befreiende und eine einschränkende Funktion. Die Befreiung, die die Gewohnheit leistet, wird von Hegel als Verleiblichung der Seele begriffen, als Prozess, in dem die Seele sich »als ein subjektiver Zweck in der Leiblichkeit geltend« macht.23 Das Subjekt kommt durch Gewohnheit in die Lage, sich einen bestimmten Zweck zu setzen und den Leib entsprechend dieses Zwecks zu formen. Allerdings muss man hier beachten, dass das Subjekt zu dem Zeitpunkt, zu dem es sich in Gewohnheiten einübt, ja noch gar nicht über die Fähigkeit verfügt, sich autonom einen Zweck zu setzen und diesen zu verfolgen. Vielmehr findet die Verleiblichung der Seele im Falle der Gewohnheit als Einbildung eines vom Subjekt gerade nicht autonom gesetzten Zwecks statt. Durch Übung einer von außen an das Subjekt herangebrachten Praxis formt ein Wesen, bei dem Leib und Seele noch gar nicht differenziert sind, sich so, dass daraus eine Differenz von Leib und Seele entsteht, die es möglich macht, dass das Subjekt seinen Leib bewusst formen kann. Dieser Prozess hat also einerseits das Moment einer Befreiung und Ermächtigung, denn was das Subjekt dadurch erstmalig erhält, sind Handlungsmöglichkeiten und Kontrolle über den Leib. Andererseits aber kommen diese Befreiung und Ermächtigung nur durch eine fortgesetzte Disziplinierung und Unterwerfung des Leibs zustande. Neben das Moment der positiven Ermöglichung tritt also ein Moment der Negativität und Unfreiheit, das Hegel folgendermaßen bestimmt: »Obgleich daher der Mensch durch die Gewohnheit einerseits frei wird, so macht ihn dieselbe doch andererseits zu ihrem Sklaven und ist eine zwar nicht unmittelbare, erste, von der Einzelheit der Empfindungen beherrschte, vielmehr von der Seele gesetzte, zweite Natur, – aber doch immer eine Natur, ein die Gestalt eines Unmittelbaren annehmendes Gesetztes, eine selber noch mit der Form des Seins behaftete Idealität des Seienden, folglich etwas dem freien Geiste Nichtentsprechendes, etwas bloß Anthropologisches.«24
Die Versklavung durch Gewohnheit liegt also darin, dass die Gewohnheit im Subjekt wirkt wie Natur, d.h. gemäß Gesetzen, die das Subjekt zwar einsehen kann und selbst hervorgebracht hat, die es aber nicht mehr abschaffen kann. Gewohnheiten haben entsprechend die »Gestalt eines Mechanischen«.25 Das Subjekt kommt erst durch die Einübung von ganz basalen Praktiken, die zur Gewohnheit und zweiten Natur werden, dazu in die Lage, schwierigere Praktiken zu erlernen, so dass eine freie Tätigkeit des Geistes auch nur auf der Grundlage von Gewohnheiten möglich ist. Man kann die Gewohnheiten somit gar nicht 23 Ebd., S. 185. 24 Ebd., S. 189. 25 Ebd., S. 191.
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loswerden wollen, wenn man damit nicht auch alle weiteren Handlungsmöglichkeiten verlieren möchte. Wenn nun jede Tätigkeit des Geistes und damit auch jede Form von Praxis die Form von Gewohnheit hat, so ist der Gewohnheit aufgrund ihrer subjektbildenden Funktion ein Doppelcharakter eingeschrieben, dessen eines Moment in der Befreiung von natürlichen und zweitnatürlichen Bestimmungen des Subjekts und damit in der Erschließung von Neuem und Fremdem besteht, wohingegen dessen anderes Moment gerade in der Festlegung auf ein Allgemeines bzw. auf eine bestimmte Praxis liegt, die unterschiedslos auf Besonderes angewendet wird und somit das Subjekt immer nur dasselbe tun lässt. Befreiend sind Gewohnheiten immer dann, wenn ihre Herausbildung dazu führt, dass für das Subjekt neue Handlungsmöglichkeiten entstehen bzw. sich die Möglichkeit bietet, neue Erfahrungen zu machen; unfrei machen bzw. unfrei sind Gewohnheiten dagegen gerade dann, wenn von dieser Möglichkeit kein Gebrauch gemacht wird. Der Befreiungscharakter, der in der Genese von Gewohnheiten liegt, hat nun einen zeitlichen oder geschichtlichen Kern, denn in ihrer Genese sind Praktiken bereits darauf angelegt, eingeübt und wiederholt und somit zur zweiten Natur zu werden. Die Befreiung von der heteronomen Bestimmung durch Gewohnheiten geschieht durch die Genese neuer Gewohnheiten, die jedoch durch fortdauernde Wiederholung wiederum zur Heteronomie führen. In der Zeit verwandelt sich so der befreiende Charakter der Gewohnheit in einen stabilisierenden. Eine Befreiung von der Gewohnheit ist somit nicht möglich, lediglich eine Befreiung durch Gewohnheit zur Einübung neuer Gewohnheiten. Es fragt sich nun, in welches Verhältnis der befreiende und der stabilisierende Charakter der Gewohnheit in der Kunsterfahrung gesetzt werden bzw. was mit dem Doppelcharakter der Gewohnheit geschieht, wenn sie in der Kunsterfahrung aufs Spiel gesetzt wird.
II. E INSICHT
IN DEN
S CHEIN
Der Gedanke, dass Kunsterfahrung als etwas der Gewohnheit Fremdes diese gerade aufs Spiel setzt bzw. ihr Scheitern herausfordert, kann erst dann richtig verstanden werden, wenn geklärt ist, in welcher Hinsicht Kunsterfahrung und Gewohnheit gerade keinen Gegensatz ausmachen. Sich jeden Dienstag einen französischen Film anzuschauen ist nicht mehr oder weniger eine Gewohnheit als jeden Samstag einkaufen zu gehen. Man kann sich die Erfahrung von Kunst unter bestimmten sozialen und lebensweltlichen Voraussetzungen ohne weiteres zur Gewohnheit machen. Sofern man Zugang zu Kunstwerken hat und über genügend Zeit und finanzielle Mittel verfügt sie zu rezipieren, kann man sich genau
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dies zur Gewohnheit machen. Auch ist die soziale Form, in der in westlichen Gesellschaften Werke der bildenden Kunst ausgestellt oder musikalische Werke aufgeführt werden, in hohem Maße konventionalisiert: Bilder Giacomettis schaut man sich kaum in Kindergärten an, wohl aber in extra dafür vorgesehenen Museen oder Kunsthallen; Opern schaut und hört man sich meistens nicht in einer Bibliothek sondern in Gebäuden an, die schon nach ihnen benannt sind, in Opern(häusern) eben.26 Diese Form der Konventionalisierung ermöglicht es aber, dass die Rezipientinnen sich auf die jeweils dargebotenen Werke selbst einlassen und mit ihnen Erfahrungen machen können. Sie schafft den oben benannten Schutzraum, in dem dann auf gewohnte Weise das gemessen an den Gewohnheiten des Alltagslebens Ungewohnte und Fremde erfahren werden kann. Die Erfahrung von Kunstwerken kann so nicht nur problemlos in das soziale Leben der Rezipientinnen integriert werden, sie ist vielmehr meistens schon integriert. Gerade deswegen aber, weil sie Teil des sozialen Lebens der Rezipientinnen ist, kann die Kunsterfahrung überhaupt in diesem sozialen Leben auf die Rezipientinnen Wirkungen entfalten. Wären Kunsterfahrung und Gewohnheit vollkommen unvermittelt, könnte jene diese gar nicht in Frage stellen oder aufs Spiel setzen. Zwischen beiden besteht kein abstrakter Gegensatz. Die Gründe dafür, warum Kunsterfahrung dennoch nicht als eine Gewohnheit unter vielen verstanden und in der Form der Gewohnheit angemessen beschrieben werden kann, müssen also andere sein. Wie ich oben bereits betont habe, können Gewohnheiten wie alle Formen von Praktiken scheitern. Die Unterscheidung dreier Formen des Scheiterns mag nun hilfreich dafür sein, die Differenz bzw. das Verhältnis von Gewohnheit und Kunsterfahrung genauer zu bestimmen: 1. Als Gewohnheit kann die Praxis des Fahrradfahrens dann scheitern, wenn ich sie nicht richtig ausführe, wenn ich also meinen Leib nicht so kontrolliere und bestimme, dass ich diese Praxis erfolgreich ausführe. Es liegt zwar in meiner Absicht, die Praxis so auszuführen, d.h. meinen Leib so zu bestimmen, dass ich mich mit dem Fahrrad fortbewege, doch ist meine Ausführung so unzureichend und fehlerhaft oder das Fahrrad ist schlicht selbst so schlecht gebaut, dass ich es nicht schaffe, das Fahrrad mit eigenen Kräften fortzubewegen. Bei dieser Form des Scheiterns der Gewohnheit habe ich zunächst jedoch etwas richtig gemacht: ich habe einen Gegenstand richtigerweise als ein Fahrrad identifiziert, mit dem 26 Damit soll keinesfalls geleugnet oder ignoriert werden, dass gerade die moderne Kunst, insbesondere die Performance-Kunst, stetig daran gearbeitet hat, den institutionellen Rahmen ihrer Aufführung und Rezeption praktisch zu hinterfragen. Es gehört zur Kunst dazu, dass sie das auch kann, auch wenn es nicht jedes Werk und nicht jede Aufführung eines Werks tut. Vgl. dazu Fischer-Lichte (2004).
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ich dann die Praxis des Fahrradfahrens auszuführen versuche. Letzteres scheitert, doch ist der Versuch dem Gegenstand nicht unangemessen gewesen. 2. Ich kann aber auch versuchen, die Praxis des Fahrradfahrens mit einem Motorrad zu vollziehen. Auch hier werde ich es nicht schaffen, das Gefährt fortzubewegen, aber nicht deswegen, weil ich die Praxis des Fahrradfahrens nur mangelhaft ausführe oder es sich bei dem Motorrad um ein fehlerhaft konstruiertes Fahrrad handelt, sondern weil ich diese Praxis auf den vorliegenden Gegenstand nicht sinnvoll anwenden kann, er sich meiner Praxis nicht erschließt, weil er selbst anders beschaffen ist. Ich habe hier zwar nicht die richtige Praxis bzw. nicht die richtige Gewohnheit auf den Gegenstand angewendet, doch dieser erschlösse sich meiner Praxis dann, wenn ich die richtige Gewohnheit auf ihn anwendete. Der Gegenstand ist also nicht so verfasst, dass er sich der Form der Gewohnheit gar nicht erschließt, sondern eben nur so, dass er sich allein einer bestimmten Gewohnheit erschließt. Das Scheitern ist hier also das Scheitern einer dem Gegenstand unangemessenen Gewohnheit, die einem anderen Gegenstand angemessen wäre, genauso wie eine andere Gewohnheit dem Gegenstand angemessen wäre. 3. Bei Kunstwerken hat man es, im Unterschied zu Gebrauchsgegenständen, mit singulären Gegenständen zu tun.27 Zwar gibt es Kunstwerke, die eine große Ähnlichkeit zueinander aufweisen – Bilder derselben Malerin aus einer bestimmten Phase ihres Schaffens, Musikstücke einer bestimmten Epoche etc. –, doch zeichnen sich Kunstwerke gerade dadurch aus, nicht repräsentier-, d.h. nicht übersetzbar zu sein, so dass das, was sie ausmacht, nur durch sie selbst dargeboten und gezeigt werden kann. Das, was ein Werk zeigt und was ein Werk zu dem macht, was es ist, kann durch kein anderes Werk auf dieselbe Weise vollzogen werden. Wenn das so ist, dann erfordern Kunstwerke von ihren Rezipientinnen eine Praxis der Erfahrung, in der es nur um das jeweils erfahrene Werk geht und 27 Mit »singulär« meine ich hier primär die Unübersetzbarkeit und Nichtrepräsentierbarkeit von Kunstwerken. Dieser Gedanke markiert die Grenze zu Hegels Philosophie der Kunst, was Bertram hier pointiert ausdrückt: »Wir begreifen Kunstwerke nicht als Gegenstände, die etwas thematisieren, das sich auch in anderer Weise, zum Beispiel in philosophischer Begrifflichkeit artikulieren lässt. Wären Kunstwerke solche Gegenstände, wäre fraglich, warum Künstler nicht gleich philosophieren. Hegel muss voraussetzen, dass die von Kunstwerken thematisierten Orientierungen prinzipiell auch mittels Religion und Philosophie thematisiert werden können. Kunstwerke aber wären überflüssig, wenn sich das von ihnen Thematisierte einfach auf eine andere Weise sagen ließe. Und Letzteres ist auch nicht der Fall: Kunstwerke sind unübersetzbar. Genau dieser Unübersetzbarkeit trägt Hegel nicht in angemessener Weise Rechnung.« Bertram (2014), S. 76.
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um sonst nichts. Eben dazu ist eine Praxis, die die Form der Gewohnheit hat, aber nicht in der Lage, da eine solche sich ja gerade dadurch auszeichnet, dass sie Verschiedenes als Ausdruck eines Selben bzw. Besonderes als Fall eines Allgemeinen identifiziert und behandelt. Das Scheitern, mit dem man es hier zu tun hat, ist zwar auch ein Scheitern bestimmter Gewohnheiten, aber es passiert nicht deswegen, weil nicht die richtige Gewohnheit angewendet wurde, sondern weil überhaupt eine Gewohnheit angewendet wurde. Gewohnheiten eignen sich generell nicht dazu, ein Singuläres als ein Singuläres zu erschließen, sondern nur dazu, es als ein Allgemeines zu behandeln. Daraus lässt sich nun folgern, dass Kunstwerke es von ihren Rezipientinnen verlangen, als Singuläre bestimmt und erfahren zu werden, wodurch jedoch »alle Arten und Stufen der Tätigkeit des Geistes«28, denn soweit erstreckt sich nach Hegel der Bereich der Gewohnheit, scheitern und das heißt hier: sich als untauglich dafür erweisen, Kunstwerken als Gegenständen der Erfahrung gerecht zu werden. Was vom Subjekt der Gewohnheit – und das ist: das Subjekt überhaupt – verlangt wird, ist, seine auf die Realisierung eines Allgemeinen zielenden Vermögen so zu spezifizieren, dass sie gerade kein Allgemeines realisieren. Das scheint möglich zu sein, ist doch oben bereits einsichtig geworden, dass jede Gewohnheit einmal als Befreiung begonnen hat. Das Subjekt (der Gewohnheit) kann im Falle des Scheiterns der Gewohnheit neu ansetzen und eine Praxis vollziehen, die sich nur auf den Gegenstand als ein Singuläres richtet. Die Differenz zur Einübung von Gewohnheiten liegt im Falle der Kunsterfahrung nun jedoch darin, dass sich diese neu angesetzte Praxis nicht wiederholen und das heißt: nicht von diesem singulären Gegenstand ablösen und auf einen anderen anwenden und ebenso wenig zu einem anderen Zeitpunkt mit demselben Gegenstand noch einmal genauso durchführen lässt. Aufgrund dieser Unmöglichkeit der Wiederholung einer Erfahrung, die mit einem Singulären gemacht wurde, kann Kunsterfahrung in dem Sinne nicht zur Gewohnheit werden, dass eine Praxis, der sich ein Kunstwerk als ein Singuläres erschlossen hat, nicht mit demselben Erfolg auf ähnliche oder verwandte Werke angewendet werden kann. Vom Subjekt der Gewohnheit, das immer nur dasselbe tun kann, wird im Falle der Kunsterfahrung verlangt, immer etwas anderes zu tun und zwar etwas, das nicht als Vollzug eines Allgemeinen verstanden werden kann, eben weil das Subjekt über ein solches Allgemeines nicht verfügt. Kunsterfahrung – sofern sie die Erfahrung eines Subjekts und damit eines Subjekts der Gewohnheit sein soll –, die Kunstwerke als singulär zu verstehen beabsichtigt, beginnt somit als Versuch der Installierung einer Gewohnheit, als der Versuch eine Praxis zu vollziehen, die nicht nur einen, sondern viele Ge28 Hegel (1986), S. 186.
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genstände erschließt. Jedoch scheitert der Versuch, sich zu einer Gewohnheit zu verallgemeinern, an der Singularität des jeweils erfahrenen Werks. Auf die Realisierung eines Allgemeinen muss es das Subjekt auch in der Kunsterfahrung anlegen, doch diese Realisierung wird durch die Singularität des jeweiligen Kunstwerks nicht nur aufgeschoben, sondern abgebrochen. Das heißt dann aber, dass sich eine Verfahrensweise für das Gelingen von Kunsterfahrung nicht positiv angeben lässt, eben weil dies die Formulierung von allgemeinen Gelingenskriterien notwendig machte, die gegenstands- bzw. werkunabhängig bzw. für alle Kunstwerke gleichermaßen gültig sein müsste. Es ist an dieser Stelle wichtig, an eine eingangs gemachte Bestimmung der Form von Negativität zu erinnern, mit der man in der Kunsterfahrung konfrontiert ist. Kunsterfahrung ist darin negativ, dass sie über das Scheitern der Gewohnheit und damit durch das Ausbleiben einer epistemischen Erfahrung bestimmt ist. Dieses Ausbleiben wirft das Subjekt der Gewohnheit auf sein eigenes Vermögen zur Ausführung von Gewohnheiten zurück. Nun ist es nicht so, dass das Subjekt in der Kunsterfahrung nichts tut oder dass nichts mit ihm geschieht ‒ dann wäre Kunsterfahrung nur als abstrakte Negation der Gewohnheit bestimmt. In der Kunsterfahrung macht das Subjekt nicht nur durch ein bestimmtes Werk eine Erfahrung mit den Grenzen der Gewohnheit, wodurch ihm zunächst nur vorgeführt wird, dass es etwas nicht kann, sondern auch die Erfahrung, dass es jenseits der Gewohnheit selbst etwas ist, auch wenn es nicht weiß, was genau es ist. Bevor ein Subjekt zum Subjekt geworden ist, bevor es also durch Gewohnheiten zu einem stabilen Selbst gefunden hat, war es auch schon etwas, nur konnte es das selbst noch nicht wissen. Jetzt weiß es, dass es auch jenseits seiner Gewohnheiten etwas ist, nur bleibt dieses etwas unbestimmt. Menke zufolge ist es dieser präsubjektive Zustand oder besser: diese präsubjektive Periode, diese Vorgeschichte der Subjektivität, die vom Subjekt in der Kunsterfahrung erinnert werden kann bzw. erfahren wird.29 Anhand der Erfahrung eines Kunstwerks wird das Subjekt dann nicht, wie Kant sagen würde, des Funktionierens seiner Erkenntnisvermögen gewahr,30 sondern es kommt vielmehr zu der Einsicht, dass das, was es für selbstverständlich und natürlich hält: das Funktionieren seiner Erkenntnisvermögen bzw. das Funktionieren seiner Gewohnheiten, nicht natürlich, sondern geschichtlich und biographisch erworben ist. Der Schein von Natur, der der Gewohnheit als einer zweiten Natur anhaftet, wird so für das Subjekt in der Kunsterfahrung gerade dadurch einsichtig gemacht, dass es sich selbst als etwas unbestimmt Anderes denn als ein Subjekt von Gewohnheiten erfährt.
29 Vgl. Menke (2008), S. 73. 30 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft B 27ff.
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Es fragt sich dann natürlich sofort, in welchem Verhältnis das Subjekt der Gewohnheit und sein unbestimmt Anderes, das es doch selbst ist, zu setzen sind bzw. in welchem Verhältnis sie stehen. Menke hat das, was einem Subjekt in der Kunsterfahrung passiert: dass es sich selbst zu einem unbestimmt Anderen wird, als Ästhetisierung beschrieben. Diese vollzieht sich nicht jenseits der Gewohnheit, sondern gerade an der Gewohnheit.31 Ästhetisierung ist das, was einem Subjekt beim Versuch der Ausübung einer Gewohnheit durch ein Kunstwerk geschieht: Statt einen Zweck – und das heißt: ein Allgemeines – zu realisieren, führt die Singularität des Gegenstands der Erfahrung dazu, dass dasjenige, was sich normalerweise der praktischen Beherrschung in der Gewohnheit fügt, als Unbeherrschtes und Fremdes in den Vordergrund tritt: der Leib bzw. das Subjekt als ein sinnliches und in diesem Sinne ästhetisches Wesen. In der Kunsterfahrung tritt am Subjekt dessen eigene ästhetische Natur hervor, gerade weil es versucht, an einem singulären Gegenstand Gewohnheiten durchzuführen. In diesem Sinne findet in der Kunsterfahrung eine Befreiung von der Gewohnheit statt, die jedoch nur das, was jeder Gewohnheit vorausgesetzt ist: die noch unbeherrschte ästhetische Natur des Subjekts, nach außen kehrt. Durch Kunsterfahrung wird dann jedoch auch ersichtlich, dass das Subjekt selbst nicht darin aufgeht, ein Subjekt der Gewohnheit zu sein. Was dem Subjekt der Gewohnheit fremd ist und in der Kunsterfahrung hervortritt, gehört doch zum Subjekt dazu. Das Subjekt kann diese ihm fremde Seite seiner selbst durch Gewohnheit nicht loswerden. Insofern diese ästhetische Seite des Subjekts nur in bzw. an seinen Gewohnheiten auftauchen oder freigesetzt werden kann, bleiben Ästhetisierung und Gewohnheit bzw. das Subjekt der Gewohnheit und seine ästhetisierte Seite notwendig aneinander gebunden. Die Befreiung, die in der Ästhetisierung liegt, führt das Subjekt somit nicht über seine Gewohnheiten hinaus und zu etwas hin, was das Subjekt dann unabhängig von seinen Gewohnheiten sein könnte, sondern lediglich auf das hin, was der Gewohnheit als fremde und ebenso unbeherrschte wie zu beherrschende sinnliche Natur vorausgesetzt ist. Warum dies überhaupt als Befreiung und nicht als Regression auf etwas Vorsubjektives verstanden werden soll, wird erst verständlich, wenn man Gewohnheiten, anders als Hegel, nicht allein als etwas Anthropologisches begreift, das heißt nicht allein als etwas, wozu die menschliche Natur ohnehin und von sich aus kommt, sondern als etwas
31 Vgl. Menke (2008), S. 67-88.
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sozial und geschichtlich Produziertes.32 So verstanden sind Gewohnheiten diejenigen grundlegenden sozialen Praktiken, die einem Subjekt im Verlauf seines Werdens beigebracht werden, bis das Subjekt sie quasi bewusstlos und wie von selbst vollzieht. Die Festlegungen, die durch Gewohnheiten vollzogen werden, sind somit keine, die allein für ein bestimmtes Subjekt gelten, sondern sie sind bereits sozial gültige Festlegungen, also nichts anderes als soziale Konventionen, die den Rahmen dessen vorgeben, was soziale Akzeptanz findet. Die soziale Subjektivierung durch Gewohnheiten gibt der menschlichen Natur somit eine sozial akzeptierte Form, durch welche das Subjekt seine Vermögen so ausüben kann, dass es am sozialen Leben mit anderen teilzunehmen in der Lage ist. Da die spezifischen Gewohnheiten, die sich ein Subjekt in der Geschichte seines Werdens aneignen muss, nicht aus dem natürlichen Leben des Subjekts entspringen, sondern ihm erst beigebracht werden müssen, sind sie ohne Zwang und Disziplinierung gar nicht möglich. Die Ästhetisierung, die dem Subjekt in der Kunsterfahrung widerfährt, weist nun darauf hin, dass die Subjektivierung durch Gewohnheiten vom Subjekt nicht alles erfasst hat, sondern einen Bereich des Unbestimmten als Kehrseite des sozial Bestimmten mitproduziert hat. Die Befreiung der Ästhetisierung wäre dann eine Befreiung, die sich im Sozialen bzw. an den Gewohnheiten gegen dieses bzw. gegen diese vollzieht. So verstanden heißt Ästhetisierung, wie Menke mit Bezug auf Nietzsche ausgeführt hat, »sich, sein Selbst, gegen den sozialen Teilnehmer, der man bereits ist, hervorzubringen.«33 Das Subjekt ist in der Ästhetisierung, die mit ihm in der Kunsterfahrung stattfindet, gemessen an seiner sozialen Bestimmtheit als Subjekt der Gewohnheit unbestimmt und kein Teilnehmer an sozialen Praktiken, weil die Kunsterfahrung sich nicht in den Formen einer sozialen Praxis beschreiben lässt; doch zugleich findet diese dann als a-sozial zu verstehende Ästhetisierung innerhalb der sozialen Welt statt und zwar als aus dem Sozialen entspringende Negation des Sozialen. Das Fremde, als welches das Subjekt sich selbst in der Kunsterfahrung erfährt, weist somit darauf hin, dass weder das Subjekt noch die Kunst 32 Zwar begreift Hegel die Gewohnheit, wie Maik Puzic zu Recht betont hat, in erster Linie als anthropologische und nicht als soziale Bestimmung, doch scheint es mir hier angebracht zu sein, den sozialen Sinn der Gewohnheiten hervorzuheben, denn es ist gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Erkenntnisse von Säuglingsforschung und Entwicklungspsychologie schlicht nicht zu bestreiten, dass Menschen erst durch die soziale Einübung von Gewohnheiten, d.h. von sozial geteilten und akzeptierten Praktiken, überhaupt zu selbstbestimmten Wesen werden. Insofern bleibt Hegel in seiner anthropologischen Bestimmung des Gewohnheitsbegriffs noch hinter dem zurück, worauf der Begriff selbst bereits abzielt. Vgl. Puzic (2014), S. 170f. 33 Menke (2008), S. 125.
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in der sozialen Welt und das heißt: in der Bestimmtheit der gegenwärtigen sozialen Welt aufgehen. Sofern das Auslösen von Wirkungen auf die soziale Welt zur Kunst und ihrer Erfahrung dazugehört und das Subjekt dies als lustvoll erfährt, ist ihm zwar die identische Wiederholung einer einmal gemachten Kunsterfahrung nicht möglich, wohl aber der Wunsch danach bzw. das Wollen der Ästhetisierung. Da das ästhetisierte Subjekt keine bestimmten Absichten haben kann, kann auch nur das soziale Subjekt etwas wollen, aber das, was es will, wenn es seine Ästhetisierung will, ist eine Veränderung seiner selbst, die gleichbedeutend wäre mit der Aufhebung seiner selbst als wollendes Subjekt. Höbe es sich als wollendes, d.h. als soziales Subjekt auf, wäre sein eigenes Überleben jedoch unmöglich, denn um dieses sichern zu können, bedarf es der Gewohnheiten, in erster Linie der Befriedigung leiblicher Bedürfnisse. Das soziale Subjekt will zwar seine Ästhetisierung, jedoch muss es sie notwendig mit einer Grenze wollen. Das ästhetisierte Subjekt will nichts außer der Fortdauer seiner gegenwärtigen Lust, der es gerade keine Grenze setzt. Versöhnt werden können beide so nicht, wenn das heißen sollte, dass Ästhetisierung und Gewohnheit letztlich auf dasselbe hinausliefen, und doch gehören sie als die zwei Seiten ein und desselben Subjekts zusammen. Das ästhetisierte Subjekt will die Verlängerung seiner gegenwärtigen oder die Wiederholung seiner einmal empfundenen Lust gegen die sozialen Bestimmungen, die in ihm selbst als Gewohnheiten und als Vermögen zu ihrer Ausführung wirksam sind. Obwohl es etwas sozial Unbestimmtes begehrt, kann es dies nur im negativen Bezug auf bzw. in Abstoßung von sozialen Bestimmungen. Das soziale Subjekt kann seine Ästhetisierung wollen, jedoch muss es diese um der eigenen Fortexistenz willen immer mit einer Grenze, d.h. in selbst wiederum sozial bestimmten Formen wollen und genau dagegen sträubt sich die Ästhetisierung prinzipiell. Sie ist zwar nur als Negation des Sozialen möglich, d.h. in Bezug zu sozialen Bestimmungen, aber doch als deren Überschreitung. Eine Ästhetisierung, die sich dagegen von vorneherein in sozial bestimmten Formen abspielt, ist keine. Auch dann aber, wenn Ästhetisierung und Gewohnheit aus den genannten Gründen nicht zu versöhnen sind, wirken beide doch schon deswegen aufeinander ein, weil sie Bestimmungen derselben Subjekte sind. Wenn Ästhetisierungen Wirkungen auf Subjekte haben sollen, dann heißt das, dass sie ihr soziales Leben verändern können müssen. Sie verschwinden als Erfahrungen auch dann nicht – und vielleicht erst recht dann nicht – einfach ins Nichts, wenn das Subjekt von ihnen nicht genau sagen kann, was sie mit ihm gemacht haben. Mit dem Subjekt ist dann ja etwas passiert und je genauer es zu bestimmen vermag, was mit ihm passiert ist, desto schneller wird es wieder seinen Gewohnheiten nachgehen kön-
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nen. Kann es das aber nicht, weil die Erfahrung eines Singulären so beeindruckend und wirkmächtig war, so werden ihm seine Gewohnheiten insgesamt und so wird es sich selbst insgesamt als fremd erscheinen. Zwar wird es darum aus Selbsterhaltungsgründen nicht alle seine Gewohnheiten aufgeben können, aber diese werden ihm möglicherweise selbst nicht nur als nicht natürlich, sondern sogar als veränderungsbedürftig erscheinen. So fallen Ästhetisierung und Gewohnheit bzw. Ästhetisierung und Soziales nicht zusammen, aber die Erfahrung der Ästhetisierung kann andere Gewohnheiten und ein anderes Soziales wünschenswert machen. Prozesse der Ästhetisierung können so also zu einer »Entwöhnung« vom Gewohnten führen. Zwar können sich Subjekte an solche »Entwöhnungen« auch wieder gewöhnen, mit dem Ergebnis, dass die Entwöhnung bzw. die Ästhetisierung wiederum zur Gewohnheit wird.34 Dann droht der Stachel, den jedes Kunstwerk als ein Singuläres darstellt, jedoch wieder stumpf zu werden. Dass Kunstwerke und ihre Erfahrung sich dem nicht fügen müssen, ist nicht nur für die Ästhetisierung und die mit ihr verbundene Freiheit vom Sozialen unverzichtbar, sondern auch für die Freiheit, die innerhalb der sozialen Formen möglich ist, welche ohne ästhetisierende »Entwöhnungen« erstarrten.
L ITERATUR Bertram, Georg W. (2014): Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik, Berlin: Suhrkamp. Deines, Stefan/Liptow, Jasper/Seel, Martin (2013): »Kunst und Erfahrung. Eine theoretische Landkarte«, in: dies. (Hrsg.), Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse, Berlin: Suhrkamp, S. 7-37. Düttmann, Alexander Garcia (2011): Teilnahme. Bewusstsein des Scheins, Konstanz: Konstanz University Press. Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hegel, Georg W.F. (1986): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Dritter Teil: Die Philosophie des Geistes, Werke (WW), Bd. 10, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hume, David (1982): Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Stuttgart: Reclam. Kant, Immanuel (2009): Kritik der Urteilskraft, Hamburg: Meiner.
34 Vgl. Seel (2013), S. 212.
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Menke, Christoph (2008): Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ders. (2013): Die Kraft der Kunst, Berlin: Suhrkamp. Merker, Barbara (1990): »Über Gewohnheit«, in: Eley, Lothar (Hrsg.), Hegels Theorie des subjektiven Geistes in der ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse‹, Stuttgart: Frommann-Holzboog, S. 227-243. Puzic, Maik (2014): »Überlegungen zum Begriff der zweiten Natur im Anschluss an Anders, Hegel und Adorno«, in: Elbe, Ingo/Hogh, Philip/Zunke, Christine (Hrsg.), Oldenburger Jahrbuch für Philosophie 2012, Oldenburg: BIS, S. 157-177. Seel, Martin (2013): »Aktive Passivität. Über die ästhetische Variante der Freiheit«, in: Hindrichs, Gunnar/Honneth, Axel (Hrsg.), Freiheit. Stuttgarter Hegel-Kongress 2011, Frankfurt am Main: Klostermann, S. 195-214. Stache, Antje (2006): »Gewohnheit als Ein- und Durchbildung der Leiblichkeit. Zur Anthropologie in Hegels Enzyklopädie«, in: Arndt, Andreas u.a. (Hrsg.), Das Leben denken. Erster Teil, Hegel-Jahrbuch 2006, Berlin: Akademie Verlag, S. 274-279.
Fremdheit als Aspekt der Form der Kunsterfahrung D ANIEL M ARTIN F EIGE
I. E XPOSITION : E INIGE V ERWENDUNGSWEISEN DES B EGRIFFS F REMDHEIT MIT B LICK AUF K UNST In ganz unterschiedlichen Hinsichten kann davon die Rede sein, dass wir künstlerische Objekte und Ereignisse als fremd erfahren. Hören wir als Mitteleuropäer zum ersten Mal indische Musik, bleibt uns diese aufgrund ihrer andersgearteten mikrotonalen Struktur und Formsprache wahrscheinlich fremd. Sind wir ein etwas bornierter Anhänger spätromantischer Orchesterwerke dürften uns auch die expressiven Soloimprovisationen eines Cecil Taylors fremd bleiben. Geht es in dem ersten Beispiel um die mögliche Fremdheit von Kunstwerken aus anderen Kulturkreisen, so beruht das zweite Beispiel auf der Beobachtung, dass bereits in der eigenen Kultur künstlerische Praktiken keineswegs homogen sind und man immer nur mit bestimmten künstlerischen Praktiken der eigenen Kultur vertraut ist. In Wahrheit handelt es sich hier aber nur um zwei Varianten letztlich eines Beispiels, von dem sich beliebig viele weitere Varianten erzeugen ließen. Der Ausdruck Fremdheit kann hier letztlich durch Unverständlichkeit ersetzt werden, denn es handelt sich hier zunächst um bloß psychologische Fälle von Fremdheit – ob die Musik noch in einem weitergehenden Sinne als fremd zu qualifizieren ist, als in dem Sinne, dass sie mir schlicht und einfach unverständlich bleibt, ist eine andere Frage. Derjenige, dem indische Musik oder Free Jazz in diesem Sinne nichts sagen, hat nämlich in bestimmter Weise die Voraussetzungen nicht erworben, um die entsprechende Musik als diejenige, die sie ist, angemessen beurteilen und würdigen zu können. Fremdheit ist hier Ausdruck einer Unzulänglichkeit auf Seiten des Rezipienten. Auf solch eine These sollte
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man sich angesichts der genannten Beispiele verpflichten, weil sonst ein kruder Subjektivismus droht und man sich der Möglichkeit beraubt, auch im Reich des Ästhetischen von Fehlern im Urteilen sprechen zu können.1 Aus der These, dass ästhetisches Urteilen nur unzureichend von einer subjektivistisch rekonstruierten Rezeptionsgeschichte des Urteilenden her ausbuchstabiert werden kann,2 folgt dabei natürlich nicht, dass das, was jeweils angemessen ist, ohne Streit genau um diese Frage bestimmt werden kann.3 Variieren wir den zweiten Fall: Selbst dann, wenn wir Kenner des modernen Jazz sind, könnte uns Cecil Taylors Musik fremd bleiben – aber in anderer Weise als in den vorangehenden Beispielen, in denen die Musik dem Hörer insgesamt einfach als solche gänzlich unklar bleibt, weil dieser nicht weiß, worauf er hier überhaupt achten muss. In diesem Fall könnten wir anders als in den ersten beiden Beispielen anerkennen, dass Cecil Taylor ein bedeutender Künstler ist, aber aus welchen Gründen auch immer würde uns seine Musik irgendwie kalt lassen. Selbst ein derartiger Fall käme aber ohne das Prädikat Fremdheit aus und könnte in anderer Weise als die ersten Beispiele als Defiziens auf Seiten des Urteilenden im Sinne einer epistemischen Defiziens aufgefasst werden. Aufgrund besonderer Umstände wäre der Urteilende daran gehindert, Cecil Taylors Musik als die, die sie ist, angemessen wertzuschätzen – obwohl er anders als in den vorangehenden Beispielen durchaus zugestehen würde, dass sie ästhetische Qualitäten aufweist. Der Fall ist gleichwohl etwas komplizierter, schließlich wäre die Redeweise, dass meine persönliche Geschichte ein Umstand wäre, der ein epistemisches Defizit produziert, zumindest seltsam. Nichtsdestotrotz ist diese Redeweise nicht gänzlich abwegig, da wir uns ohne Probleme Kontexte vorstellen können – und hier paradigmatischerweise politische Kontexte –, wo wir die Redeweise verstehen, dass eine bestimmte Sozialisation ein epistemisches Defizit produziert; etwa allgemein in Form einer Blindheit gegenüber Ungerechtigkeit oder spezifischer in Form patriarchaler Vorurteile. Was gleichwohl auch mit 1
Vgl. in diesem Sinne auch Carroll (2008), S. 195f. Feige (2012), Kap. 3.4. Die Debatte, inwieweit man Fehler in Urteilen über Kunstwerke machen kann, ist offensichtlich auf die eine oder andere Weise mit der Frage verbunden, inwieweit man einen ästhetischen Realismus oder Anti-Realismus vertritt. Vgl. als Argumentation für eine realistische Position: McDowell (2009).
2
Schon Kant pocht zu Recht darauf, dass Urteile darüber, ob mir etwas gefällt oder nicht, von solchen Urteilen unterschieden werden müssen, die einen Anspruch auf Allgemeinheit erheben. Erstere nennt Kant ästhetische Sinnesurteile, letztere ästhetische Reflexionsurteile. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft §8.
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Vgl. für einen ambitionierten agonalen Begriff des ästhetischen Urteils auch Menke (2013), S. 56-81.
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Blick auf das Beispiel des Jazzkenners, dem Cecil Taylor fremd bleibt, nicht überschritten wird, ist ein Register von Aussagen, das in dem Sinne vor allem uns selbst betrifft, dass solche Aussagen eher etwas über uns als über die in Frage stehenden Kunstwerke aussagen. Nehmen wir demgegenüber noch einige letzte Beispiele, in denen Fremdheit jetzt auf der Objektseite auftaucht, so dass sie nicht bloß Ausdruck einer Unvertrautheit oder eines anderweitigen Defizits seitens des Urteilenden ist: Einige von Maurice Kagels Orchesterwerken weisen auf der Ebene ihres Klangs ein Moment der Fremdheit auf, das unter anderem dadurch zustande kommt, dass sie mit ungewöhnlichen Instrumentierungen mit außereuropäischen Instrumenten operieren. Viele Werke der Neuen Musik stellen künstlerische Reflexionen ästhetischer Prinzipien der Tradition auch dadurch dar, dass sie ihre Logik in verfremdeter Weise ausstellen, was unter anderem so zustande kommen kann, dass sie vormals als äußerlich verstandene Aspekte der musikalischen Praxis thematisch werden lassen. In beiden Fällen handelt es sich um spezifische ästhetische Verfahren, die zu Recht in Begriffen der Fremdheit charakterisiert werden können. Dasselbe gilt für Werke, die Fremdheit – um auf die Begrifflichkeiten Nelson Goodmans zurückzugreifen, die mir an dieser Stelle hilfreich zu sein scheinen – nicht exemplifizieren, die also anders als im Fall Kagels nicht sowohl fremd sind, als auch über Fremdheit sind, sondern vielmehr Fremdheit denotieren.4 Das wären solche Werke, die Fremdheit thematisieren, ohne dabei selbst fremd zu sein, und hier kann man an musikalische Werke und, was wohl noch naheliegender ist, an Romane und Gemälde denken, die über Fremdheit sind. Für die bislang genannten Gebrauchsweisen von Fremdheit ist insgesamt charakteristisch, dass Fremdheit mit Blick auf Kunst als ein besonderes Phänomen verstanden wird. Wenn mir etwas fremd bleibt oder ein Kunstwerk über Fremdheit ist, so ist offensichtlich, dass damit spezielle Umstände oder besondere künstlerische Verfahrensweisen gemeint sind. Im Rahmen der folgenden Überlegungen geht es mir demgegenüber darum, der Fremdheit mit Blick auf die Kunsterfahrung eine grundsätzlichere Rolle zuzuweisen. Man kann sagen, dass es mir um einen anderen Begriff der Fremdheit als in den genannten Fällen geht, für den charakteristisch ist, dass er logisch noch vor den genannten Phänomenen angesiedelt ist. Es geht mir, kurz gesagt, um eine Fremdheit, die in dem Sinne allgemein ist, dass sie für Kunst als Kunst konstitutiv ist. Meine diesbezügliche These lautet kurz und bündig: Fremdheit ist ein wesentlicher Aspekt der Form der Kunsterfahrung überhaupt. Diese These werde ich unter Rückgriff auf Motive zweier klassischer Positionen der philosophischen Ästhetik entwickeln, nämlich der Kunstphilosophien Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Theodor Wie4
Vgl. Goodman (1997), v.a. Kap. 1 & 2.
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sengrund Adornos.5 In einem Zusammendenken beider Positionen lässt sich, so meine leitende Hypothese, ein aufschlussreiches Verständnis von Fremdheit als einem grundsätzlichen Moment unserer Kunsterfahrung gewinnen. Ich beginne also mit einigen Bemerkungen zu Hegels Kunstphilosophie.
II. H EGELS P HILOSOPHIE DER K UNST : K UNST ALS BESONDERE G ESTALT DES ABSOLUTEN G EISTES Hegel bestimmt die Kunst bekanntermaßen als eine Gestalt des absoluten Geistes.6 Da diese Bestimmung nicht selbstverständlich ist und man zunächst vielleicht noch nicht einmal weiß, was Hegel hier im Blick haben könnte, möchte ich erst kurz festhalten, wie diese Erläuterung Hegels grundsätzlich zu verstehen ist. Geist ist ein wesentliches Charakteristikum dessen, was es heißt, dass wir die Lebewesen sind, die wir sind. Anders als man zunächst denken könnte, versteht Hegel unter dem Begriff des Geistes dabei gleichwohl keine metaphysische Substanz, die uns gegenüber den Tieren im Sinne einer weiteren Eigenschaft oder eines besonderen Vermögens auszeichnen würde. Anders als für Substanzdualisten – und hier kann man paradigmatisch natürlich an Descartes denken – bleibt für ihn grundsätzlich rätselhaft, wie die Interaktion zwischen solchen Substanzen zu denken sei; man kann sagen, dass er sich diesbezüglich im Mainstream der jüngsten Philosophie des Geistes in guter Gesellschaft befindet.7 Ebenso wenig versteht Hegel unter Geist ein Vermögen nach dem Vorbild dessen, wie Kant etwa die Spontaneität als einen Stamm der Erkenntnis im Sinne einer transzendentalen Bedingung für Erkenntnis überhaupt begriffen hat.8 Nicht allein bleibt eine vermögenstheoretische Rekonstruktion mit Blick auf die Ausübungen eines solchen Vermögens sozusagen immer monoton, weil sie die einzelnen Ausübungen nicht mehr qualitativ differenzieren kann, da jede Ausübung immer
5
Die Werke, die dabei im Hintergrund meiner Rekonstruktion stehen, sind folgende: Georg W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Band 1-3. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie.
6
Vgl. zur Herleitung dieser Bestimmung auch seine Überlegungen zur Kunstreligion in der »Phänomenologie des Geistes«: Hegel (1986a), S. 512ff. Vgl. dabei insgesamt als Versuch, Hegels Position für die heutige Kunstphilosophie fruchtbar zu machen auch Feige (2012).
7 8
Vgl. die bekannten Passagen etwa in der zweiten Meditation: Descartes (1992). Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, etwa die Einleitung in die transzendentale Logik.
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wieder nur ein- und dasselbe Vermögen kennt, das gewissermaßen dem Zugriff durch seine einzelnen Kontexte der Betätigung als Sakrosanktes enthoben ist. Vielmehr kann auch nicht in angemessener Weise Rechenschaft über das Vermögen abgelegt werden, da es letztlich immer einfach vorausgesetzt werden muss. Für Hegel kennzeichnet Geist weder Substanz noch Vermögen, sondern vielmehr Prozess und Produkt. Er versteht unter Geist insgesamt die kollektive wie historische Praxis, im Rahmen derer wir ausgehandelt haben, was es heißt, angemessen zu denken und zu handeln und das heißt: im Rahmen derer wir aushandeln, was es überhaupt heißt, zu denken und zu handeln. Denn Denken und Handeln sind normative Konzepte und man kann nicht in einem Schritt erklären, was Denken und Handeln ist, um dann in einem zweiten Schritt noch zu erklären, was richtiges Denken und gutes Handeln wäre – vielmehr ist die Form des Denkens das Wahre und die Form des Handelns das Gute.9 Wesentlich geschichtlich ist eine solche Praxis, weil sie immer konstitutiv unabgeschlossen ist im Licht zukünftiger Bestimmungen von Denken und Handeln; Hegels berühmtberüchtigte Redeweise von einem Ende der Geschichte widerspricht dieser Charakterisierung nicht, sondern artikuliert vielmehr den Gedanken, dass dieser Prozess der Selbstbestimmung seit der Moderne von uns nicht länger als ausgehend von einer externen Macht begriffen wird, sondern jetzt als ein Prozess verstanden ist, der wesentlich nichts anderes ist, als die Weise, in der wir uns – freilich 9
Ich folge in einer solchen Formulierung den neoaristotelischen Überlegungen, wie Michael Thompson sie in grundsätzlicher Weise entwickelt hat. Vgl. Thompson (2011). Wie unschwer zu erkennen sein sollte, folge ich diesen Überlegungen gleichwohl nicht darin, dass solche Formen selbst unhistorisch erläutert werden könnten. Hegel hat im Rahmen seiner Logik deutlich gemacht, dass es gerade nicht notwendigerweise bedeutet, den Gedanken der Form des Denkens und Handelns zu verabschieden, wenn man Formen als etwas begreift, das nicht restlos einer Bestimmung durch Inhalte entzogen ist – ohne dass Formen dadurch selbst in einen Inhalt kollabieren würden. Man kann beide Formbegriffe – den neoaristotelischen Formbegriff von Thompson und den Formbegriff von Hegels Logik – zugespitzt in folgender Weise kontrastieren: Während Thompson das Besondere als Exemplifikation eines Allgemeinen derart denkt, dass das Allgemeine eine immanente Form ist, die vom Besonderen exemplifiziert wird, denkt Hegel das Allgemeine als konstitutiv unabgeschlossen in dem Sinne, dass jedes zukünftige Besondere in die Bestimmung des Allgemeinen eingegangen sein wird. Für Hegel kann damit anders als für Thompson das Besondere letztlich niemals als ein Fall eines Allgemeinen bestimmt werden, sondern muss als Fort- und Weiterbestimmung des Allgemeinen bestimmt werden. Vgl. dazu insgesamt Hegel (1986c).
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nicht in einem bloß subjektivistischen oder aktivistischen Sinne – selbst bestimmen.10 Adressiert der Begriff des Geistes in dieser Weise insgesamt historische Lebensformen, für die als Charakteristikum von Hegel zugleich ausgewiesen wird, dass sie immer einen – wie auch immer einseitigen oder entwickelten – Begriff ihrer selbst haben, bezeichnet der absolute Geist drei unterschiedliche Praxiszusammenhänge in diesen Lebensformen. Sie werden von Hegel als funktional äquivalent verstanden, aber hinsichtlich ihres Modus, oder besser noch einmal: ihrer Form sind sie unterschiedlich. Es handelt sich hierbei um Kunst, Religion und Philosophie. Hegels leitender Gedanke lautet: Praxiszusammenhänge, die dem Register des absoluten Geistes angehören, sind derart zu erläutern, dass ihre Bestimmung in der Reflexion unserer grundlegenden Orientierungen besteht. Sie sind nicht einfach Praktiken, sondern vielmehr Praktiken über Praktiken.11 Versteht man Kunst in dieser Weise als Reflexionsgeschehen, so kann damit offensichtlich nicht der Inhalt der Kunst gemeint sein. Denn die Bestimmung der Kunst als eines Reflexionsgeschehens kann nicht sinnvoll heißen, dass jedes Kunstwerk auf sich selbst in dem Sinne reflektieren würde, dass es etwa seine künstlerischen Verfahrensweisen als künstlerische Verfahrensweisen notwendigerweise thematisieren und nicht bloß präsentieren müsste. Eine solche Erläuterung wäre selbst angesichts moderner Kunst, für die ein solches Reflexivwerden in dem Sinne in besonderer Weise charakteristisch ist, dass die Kunst hier immer auch um ihren eigenen Begriff ringt, zu exklusiv.12 Ebenso wenig kann die Charakterisierung der Kunst als eines Reflexionsgeschehens besagen, dass wir im Nachvollzug künstlerischer Formen noch auf etwas anderes in dem Sinne reflektieren würden, dass wir irgendwie noch über das Kunstwerk nachdenken würden. Denn das wäre wohl bloß eine Ablenkung von dem entsprechenden Kunst10 Vgl. zu einer solchen Explikation des absoluten Wissens grundsätzlich auch die Arbeiten von Terry Pinkard. Pinkard (1996), S. 169ff. Ders. (2012), Kap. 7. 11 Man kann auch im Sinne Arthur C. Dantos in eher exoterischer Weise – und vielleicht sogar zu exoterischer Weise – sagen, dass Kunstwerke so etwas wie eine eigentümliche und produktive Art von Spiegel sind, durch die wir uns selbst in einer bestimmten Weise ansichtig werden. Vgl. in diesem Sinne Danto (1964). Vgl. auch ders. (1991), v.a. Kap. 1. Vgl. im Sinne einer Aktualisierung dieses hegelianischen Leitgedankens auch Bertram (2014). 12 Vgl. im Geiste Hegels hierzu auch Danto (1996). Danto hat gleichwohl eine zu schlichte Lesart von der These vom Ende der Kunst, wenn er diese einfach im Sinne des posthistorischen Gedankens expliziert, dass in der Kunst jetzt alle vormals verbindlichen Verfahrensweisen und Präsentationsmodalitäten zu möglichen Mitteln der gegenwärtigen Kunstpraxis herabgesetzt werden.
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werk. Wenn überhaupt müsste man sagen, dass das Denken, das die Kunst exemplifiziert, insofern ein in spezifischer Weise verkörpertes Denken ist, dass es nicht bloß verkörpert ist – denn das ist alles Denken –, sondern sich zugleich als verkörpertes Denken selbst präsentiert. Kurz gesagt: Die erste Variante einer Erläuterung der Kunst als eines Reflexionsgeschehens wäre für einige, nicht aber für alle Kunstwerke charakteristisch, die zweite bestünde bloß in einer Ablenkung von dem entsprechenden Kunstwerk. Kunst als Reflexionsgeschehen zu erläutern heißt gegenüber den skizzierten problematischen Explikationen vielmehr, dass die Kunst hinsichtlich ihrer Form als Reflexionsgeschehen zu charakterisieren ist, nicht aber hinsichtlich ihres Inhalts. Diese Form ist so zu erläutern, dass sie wesentlich in einem Nachvollzug künstlerischer Formen besteht – der eben nichts anderes als eine bestimmte Form der Selbstthematisierung des Subjekts ist. Nochmal: Das Reflexionsgeschehen der Kunst ist als eine spezifische Form und nicht als so etwas wie der Inhalt der Kunst zu erläutern – eine Form, die in der Kunst eben wesentlich in dem Nachvollzug künstlerischer Formen besteht. Erläutert Hegel in diesem Sinne die Kunst als spezifische Form eines Reflexionsgeschehens, für das der Nachvollzug künstlerischer Formen konstitutiv ist, so erläutert er eine solche Form gleichwohl nicht formalistisch. Darauf hatte ich bereits mit Blick auf die Rolle, die Hegel der Geschichtlichkeit in der Explikation unserer Selbst- und Weltbezüge zuspricht, insistiert: Die spezifische Bestimmung der Form des Reflexionsgeschehens, das die Kunst ist, kann nicht vor den einzelnen Kunstwerken geschehen, sondern ist wesentlich nichts anderes als das, was in und durch die einzelnen Kunstwerke im Rahmen einer Tradition vorangehender Kunstwerke geleistet worden ist. Das Reflexionsgeschehen, das die Kunst ist, ist damit eines, das selbst eine Geschichte hat, da es sich mit jedem einzelnen Werk fortentwickelt. Mit der Bestimmung der Kunst als einer spezifischen Form eines Reflexionsgeschehens, deren Spezifik wesentlich darin besteht, dass sie in und durch einen Nachvollzug künstlerischer Formen zustande kommt, ist bereits ein Unterschied der Kunst zu Religion und Philosophie benannt – und dieser Unterschied scheint mir für die Frage der Fremdheit als eines konstitutiven Aspektes der Kunsterfahrung weiterführend zu sein. Operiert die Kunst im Medium der sinnlichen Gestalt, so operiert die Religion im Medium der Vorstellung und die Philosophie schließlich im Medium des Begriffs. Dass die Religion anders als die Kunst im Medium der Vorstellung operiert, bedeutet, dass das, was sie artikuliert, eine gewisse Autonomie gegenüber seiner Verkörperung gewinnt; die Heilsgeschichte kann eben so oder so erzählt werden und ihr Gehalt erschöpft sich nicht in einer bestimmten Erzählung bzw. ist nicht mit dieser identisch. Dass die Philosophie im Medium des Begriffs operiert, erläutert Hegel demge-
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genüber so, dass sie das objektive Moment der Kunst, das wesentlich so zu erläutern ist, dass künstlerischen Formen mit Blick auf das Subjekt eine gewisse Selbstständigkeit im Sinne eines Gegenübers eignet, und das subjektive Moment der Religion, das wesentlich darin besteht, dass die religiöse Vorstellung sich in der Innerlichkeit des Subjekts und nicht etwa in Ereignissen in der äußeren Welt abspielt – solche Ereignisse zum Kern der Religion zu erheben, hieße die Religion auf Aberglaube zu reduzieren – verbindet: Die Objektivität der Kunst ist zur Objektivität in Form des Gedankens geworden, die Subjektivität der Philosophie ist nun nicht mehr die Subjektivität der Vorstellung, sondern die Subjektivität des Denkens, das objektive Gehalte denkt.13 Wie bereits aus dieser Bestimmung der Rolle der Philosophie ersichtlich wird, sind für Hegel diese drei Formen eines Selbstverständigungsgeschehens nicht gleichermaßen gut als Reflexionspraktiken unserer Grundverständnisse geeignet. Die Kunst ist von der Religion abgelöst worden, beide sind heute wiederum in die Philosophie aufgehoben worden. Diese These darf nicht falsch verstanden werden; Hegel ist nicht der Meinung, dass Kunst heute weniger wert sei als im antiken Griechenland oder heutige Kunst ästhetisch minderwertig sei. Er ist vielmehr der Meinung, dass sie heute nicht länger die Funktion der Selbstverständigung in dem substanziellen Sinne erfüllen kann, wie sie das im antiken Griechenland getan hat.14 Das liegt daran, dass wir heute einen Standpunkt gewonnen haben, in dem das, was thematisiert wird, von seiner Verkörperung unterschieden werden kann – in und durch die Praxis der philosophischen Reflexion, deren Vorstufe diesbezüglich die Religion war.15 Um den plausiblen Kern dieses Gedankens kurz herauszuarbeiten: Einen philosophischen Gedanken zu verstehen heißt, ihn in eigenen Formulierungen und in beliebig vielen Varianten von Formulierungen artikulieren zu können und ihn im Lichte beliebig vieler Kontexte fruchtbar machen zu können. Das Verstehen eines philosophischen Gedankens artikuliert sich, kurz gesagt, in einer Übersetzungsleistung, die man 13 Vgl. dazu auch Hegel (1986b), S. 127ff. 14 Eine diesbezüglich einschlägige Formulierung Hegels lautet: »Der Gedanke und die Reflexion hat die schöne Kunst überflügelt.« Hegel (1986b), S. 24. 15 Es ist immer wieder fälschlicherweise behauptet worden, dass Hegel damit ein teleologisches Modell von Geschichte verfolgen würde. Eine solche Behauptung ist falsch. Hegel vertritt vielmehr ein retroaktiv-dialektisches Modell. Dieses besteht wesentlich darin, dass man die Alternative zwischen monotoner Kontinuität und radikalem Bruch unterläuft: Die Kontinuität der Geschichte besteht in nichts anderem als jeweils spezifischen Brüchen im Sinne der Ermöglichung neuer Möglichkeiten. Das bedeutet auch, dass historische Narrationen nur im Rückblick möglich sind, aber gerade niemals als prophetische.
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auch so erläutern kann, dass verschiedene Verkörperungen hier ein und denselben Gedanken artikulieren. Ein Kunstwerk zu verstehen heißt demgegenüber gerade nicht, es in dieser Weise übersetzbar zu machen, sondern es heißt vielmehr, es hinsichtlich seiner Form interpretativ zu erschließen – und Interpretation meint hier eher das spezifische Nachbuchstabieren und die Herausarbeitung der konkreten künstlerischen Form und nicht eine Art analoger Leistung zu dem, was philosophische Interpretation heißt.16 Es ist nun wesentlich für Hegels Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Philosophie noch einmal darauf zu pochen, dass beide nicht etwa transzendentale Formen meinen, sondern vielmehr kulturhistorische Errungenschaften, die eine Entwicklung kennen, bzw.: Die sogar nichts anderes sind als genau diese Entwicklung. In diesem Sinne kann Hegel festhalten, dass der Gedanke etwas, das thematisiert wird, in philosophisches Denken in unserem heutigen Sinne zu übersetzen, für einen antiken Menschen gänzlich unverständlich geblieben wäre. Denn der Inhalt etwa der religiösen Überzeugungen der griechischen Antike zumindest zu einer bestimmten Zeit dessen, was wir heute griechische Antike nennen können, war gar nichts anderes als ihre Verkörperungen in Skulpturen und Dramen. In diesem Sinne kann Hegel sagen: Die Dichter und Künstler haben nicht etwa: »Vorstellungen und Lehren [, die D.F.] bereits vor der Poesie in abstrakter Weise des Bewußtseins als allgemeine religiöse Sätze und Bestimmungen des Denkens vorhanden gewesen [wären D.F.] […] erst in Bilder eingekleidet und mit dem Schmuck der Dichtung äußerlich umgeben […], sondern die Weise des künstlerischen Produzierens war die, dass jene Dichter, was in ihnen gärte, nur in dieser Form der Kunst und Poesie herauszuarbeiten vermochten.«17
Das nicht deshalb, weil sie irgendwie naiv waren und die Möglichkeit der Philosophie übersehen hätten, sondern weil es letztlich überhaupt keinen Sinn macht, von Formen eines Reflexionsgeschehens auszugehen, die nicht selbst durch und durch geschichtlich bestimmt gewesen wären und das heißt: konkret wirksam im Sinne einer Realisierung in der Welt waren. Der Inhalt der Kunst ist somit ein spezifisch geformter Inhalt – und damit letztlich nichts anderes als die künstleri16 Motive eines derartigen Begriffs der Interpretation finden sich nicht allein bei Adorno, sondern auch bei Danto, wenn er festhält, dass unsere Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk wesentlich in einem Streit darum besteht, welche Eigenschaften es als konstitutive und nicht bloß als kontingente aufweist und aus welchen Elementen es besteht. Vgl. etwa die Illustrationen anhand von Gedankenexperimenten in Danto (1991), Kap. 4. 17 Hegel (1986b), S. 141.
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schen Formen selbst, die freilich nicht formalistisch im Sinne »bloßer« künstlerischer Formen oder eines selbstgenügsamen, von der übrigen Praxis abgekapselten Spiels zu erläutern sind. In bestimmter Hinsicht muss man Hegel hinsichtlich der Diagnose eines solchen Funktionswandels der Kunst in der Moderne zustimmen: Unser heutiges Selbstverständnis hängt nicht ausschließlich oder zuallererst daran, dass wir uns aus der Konfrontation mit Kunstwerken heraus als freie Subjekte verstehen. Vielmehr verstehen wir uns zuallererst dadurch als freie Subjekte, dass wir über den Begriff der Freiheit verfügen. Man kann nun sagen, dass sich bei Hegel eine Theorie der Kunsterfahrung präfiguriert findet, die mit einem Begriff der Fremdheit in aufschlussreicher Weise zurande kommt, wenn man festhält: Aus der Perspektive der Moderne und das heißt aus der Perspektive des philosophischen Denkens ist in der Kunst als Kunst ein Moment der Fremdheit wirksam. Verstehen wir uns einmal als Lebewesen, deren Grundorientierungen wesentlich begrifflich artikuliert sind, so muss das Moment der Unübersetzbarkeit der Kunst als ein Moment des Fremden verstanden werden. Denn dass der Inhalt der Kunst selbst ein spezifisch geformter Inhalt in dem Sinne ist, dass er letztlich nicht formalistisch erläuterte künstlerische Formen meint, heißt gerade, dass es keine Übersetzung eines Kunstwerks, sondern nur sein Nachbuchstabieren geben kann. Obwohl man mit Hegel gegen bestimmte Spielarten der Erfahrungsästhetik sagen muss, dass der Modus des Selbstverständigungsgeschehens, das die Kunst exemplifiziert, kein außerbegrifflicher oder nichtbegrifflicher Modus ist, ist es dennoch so, dass durch das Moment der irreduziblen Verkörperung heute in der Kunst als Kunst ein Moment der Fremdheit ins Spiel kommt und dass diese Verkörperung eben deshalb irreduzibel ist, weil sie nicht aufgehoben werden kann – denn das hieße ein Kunstwerk »inhaltlich« derart zu neutralisieren, dass man fälschlicherweise meinen würde, seine irreduzible Verkörperung, die selbst in Wahrheit nichts anderes als der Inhalt ist, zu überspringen.18 Der Nachvollzug eines Kunstwerks ist nämlich als ein solcher zu beschreiben, in welchem das Kunstwerk nicht unter einem Begriff subsumiert wird, sondern vielmehr das Allgemeine, das es ausdrückt, an die Besonderheit seiner Verkörperung gebunden bleibt. Hegel hat an verschiedenen Stellen das Verstehen von Kunstwerken als analog zum Verstehen von Handlungen beschrieben, insofern wir in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken etwas gegenübertreten, was kein vorhandenes Objekt ist, sondern gewisser18 Auch wenn Rüdiger Bubners Überlegungen vor allem von der Sorge umgetrieben werden, dass die sogenannten Wahrheitsästhetiken – und hierzu zählt Bubner gerade auch Hegels Philosophie der Kunst – letztlich eine heteronome Bestimmung der Kunst geben, so kann als wesentlicher Ausgangspunkt dieser Erfahrungswende der deutschen Ästhetik auch Bubners klassischer Beitrag gelten. Vgl. Bubner (1989).
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maßen selbst schon die Züge der Subjektivität trägt.19 Das gilt letztlich für alles, was sich im Register des absoluten Geistes abspielt, da das sich dort abspielende wesentlich in nichts anderem besteht, als einer Auseinandersetzung mit uns selbst. Aber: Das Kunstwerk trägt in eigentümlicher Form zwar die Züge der Subjektivität, ist jedoch offensichtlich nicht bloß selbst nicht Subjekt, sondern weist auch Momente des Anderen des Subjekts auf. Gemäß der hier vorgeschlagenen Rekonstruktion handelt es sich bei der Auseinandersetzung mit Kunstwerken ausgehend von der Moderne zwar um eine solche Auseinandersetzung, in welcher das Andere zugleich ein Eigenes ist, das Andere aber gleichwohl die Züge eines Anderen behält. Es ist Adornos Ästhetik, die diese Einsicht produktiv gewendet und in voller Konsequenz entwickelt hat.
III. ADORNOS ÄSTHETISCHE T HEORIE : D ER R ÄTSELCHARAKTER DER K UNST Für Kunstwerke ist nicht allein charakteristisch, dass sie unübersetzbar sind, sondern auch, dass sie etwas sind, womit wir Erfahrungen machen. Unter einer solchen Erfahrung kann man dabei mit Blick auf die Kunst durchaus etwas anderes verstehen als das, was in jüngeren Theorien ästhetischer Erfahrung unter diesem Begriff verhandelt worden ist – auch wenn sich das Folgende nicht notwendig mit diesen erfahrungsästhetischen Theorien beißt. Ich möchte hier vorschlagen, Kunsterfahrung im Register eines Begriffs zu erläutern, den Hans-Georg Gadamer geprägt hat: Im Register des Begriffs einer hermeneutischen Erfahrung.20 Ein derartiger Begriff qualifiziert etwas als Erfahrung, weil es sich nicht bruchlos in eine bestehende Ökonomie praktischer wie theoretischer Verständnisse einordnen lässt und gleichwohl nicht einfach jenseits derselben situiert ist. Kurz gesagt: Erfahrungen sind etwas, was man macht und damit etwas, was mit uns gemacht wird, aber nicht von uns aktiv hergestellt und gesteuert werden kann – was aber nicht heißt, dass hier einfach eine fremde Macht über uns hereinbrechen würde.21 Anders gesagt: Erfahrungen sind nicht Quantitatives in dem Sinne, dass sich hier Elemente – die einzelnen Erfahrungen – monoton auf eine Reihe des Immergleichen aufreihen würden, sondern eine Erfahrung zu machen heißt, dass noch das, was überhaupt ein Element ist, zur Disposition steht.
19 Vgl. dazu auch Pippin (2012). 20 Vgl. dazu Gadamer (1990), S. 352ff. 21 Im Register der Überlegungen Christoph Menkes könnte man gleichwohl sagen, dass sich darin so etwas wie eine gegenwendige Kraft ausdrückt. Vgl. Menke (2008).
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Grundlagen für ein Verständnis eines derart sich andeutenden transformatorischen Charakters der Kunst hat neben Martin Heidegger vor allem Adorno ausgearbeitet.22 Unsere Auseinandersetzung mit Kunstwerken ist, so der Grundgedanke, durch ein wesentlich passives Moment gekennzeichnet. Diese Bestimmung Adornos lässt sich als Erläuterung der mit Blick auf die Diskussion der einleitenden Beispiele vorgenommenen Charakterisierung verstehen, der zufolge Kunstwerke keine Projektionsflächen für subjektive Vorlieben sind, und als genauere Ausbuchstabierung dessen, was ich im Zusammenhang mit Hegel als künstlerische Formen charakterisiert habe: Unter dem Slogan des »Vorrangs des Objekts« verfolgt Adorno den Gedanken, dass Kunstwerke Ansprüche an uns stellen, sie richtig zu verstehen.23 Mit Blick auf Kunstwerke etwas falsch zu machen heißt gerade, ihrem Anspruch nicht gerecht zu werden. Ansprüche, die Kunstwerke an uns stellen, sind dabei nicht einfach Ansprüche, die von außen auf uns stoßen – in dem Moment der Fremdbestimmtheit in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken liegt vielmehr ein Moment der Selbstbestimmtheit, in der Unselbstständigkeit, die die Kunsterfahrung kennzeichnet, auch ein Moment der Selbstständigkeit. Diese muss man anders als Adorno gar nicht unbedingt negativitätsästhetisch erläutern, denn dadurch drohen letztlich alle Kunstwerke von der Theorie so behandelt zu werden, als würden sie immer wieder nur dasselbe vor Augen führen – bzw. sogar: symptomatisch ausdrücken. Man kann vielmehr im Sinne von Hegels Gedanken geltend machen, dass die Kunsterfahrung eine Erfahrung ist, die hinsichtlich ihrer Form ein Reflexionsgeschehen darstellt: In der Auseinandersetzung mit Kunstwerken setzen wir uns im Medium eines Anderen mit uns auseinander, das gleichwohl kein ganz Anderes ist, wie es nicht einfach ein Anderes im Sinne einer weiteren Variante des Eigenen ist. Folgt man Adorno – und wie wir gesehen haben auch Hegel – darin, dass Kunstwerke in gewisser Weise subjektanaloge Züge aufweisen, dann ist es eben nicht so, dass wir hier auf das ganz Andere stoßen, sondern auf etwas, das Züge eines Anderen im Eigenen gewinnt. Adorno kann man dabei so lesen, dass er im Rahmen der Explikation des Gedankens des Vorrangs des Objekts den bereits im Zusammenhang mit Hegel in Anschlag gebrachten Begriff der Verkörperung weiter spezifiziert: Künstlerische Objekte und Ereignisse zu verstehen heißt nicht, so etwas wie ihren Inhalt zu rekonstruieren und dabei auch noch zu schauen, wie er denn verpackt worden ist, sondern der Inhalt der Kunst ist nichts anderes als nicht-formalistisch erläuterte künstlerische Formen, die sich allein im interpretativen Ringen um einen 22 Vgl. vor allem Heidegger (2003). 23 Adorno (1973), S. 217. Von einem Vorrang des Objekts spricht Adorno in diesem Sinne auch in der »Negativen Dialektik«. Vgl. Adorno (1970), etwa S. 184.
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angemessenen mimetischen Nachvollzug artikulieren lassen. Von einem Inhalt der Kunst kann man dennoch sprechen, denn Adorno hat die Lektion Hegels verstanden, dass ein solcher Nachvollzug von Formen der Kunst selbst nicht formalistisch erläutert werden darf, sondern er immer schon in substanzieller Weise von Aspekten unserer Lebensform geprägt ist. Der Inhalt der Kunst ist nichts »neben« oder »über« den Formen der Kunst liegendes, sondern erschließt sich im Rahmen einer spezifischen Form des Verstehens von Kunst, das nach Adorno immer auch als ein nachvollziehendes Verstehen künstlerischer Formen erläutert wird. Wenn Adorno dabei von einem »Rätselcharakter« der Kunst spricht, so ist dieses Verstehen in charakteristischer Weise auch von Momenten eines Nichtverstehens geprägt – denn Kunstwerke weisen eine immanente Logizität auf, sind aber nicht in Begriffe diskursiven Denkens übersetzbar.24 Sie präsentieren ihre Elemente einerseits selbst dann noch in einer eigentümlich folgerichtigen und schlüssigen Form, wenn eine solche Form mit Blick auf die zeitgenössische Kunst auch nicht länger im Sinne einer traditionellen Idee von Einheit verstanden werden kann, sind andererseits aber nicht übersetzbar in Begriffe des diskursiven Folgerns und Schließens. Diese Schlüssigkeit und Logizität hat Adorno anhand des Begriffs des Formgesetzes erläutert.25 Den Begriff des Formgesetzes kann man so charakterisieren, dass er offene Konstellationen von Elementen meint. Elemente von Kunstwerken sind holistisch konstituiert, das heißt: Elemente eines Kunstwerks kann man nicht nacheinander abzählen, sondern man nimmt einzelne Elemente eines Kunstwerks immer schon vor dem Hintergrund anderer Elemente des entsprechenden Kunstwerks in den Blick, die wiederum ihre Kontur vor dem Hintergrund des aktuell in den Blick genommenen Elements erhalten. Man kann diesen Gedanken auch weniger temporal, also weniger im Sinne einer Phänomenologie der Kunstwahrnehmung erläutern und sagen: Das, was scheinbar in verschiedenen Kunstwerken übergreifend identisch ist, wird als das Element, das es in dem jeweiligen Kunstwerk ist, von diesem allererst als spezifisches konstituiert. Wenn ein in seinen manifesten Eigenschaften ununterscheidbarer C-Moll-Akkord in einer Klaviersonate von Beethoven und einer Improvisation von Bill Evans auftaucht, so ist damit dieser Akkord bloß in abstrakter Weise charakterisiert und eben nicht, wie er im entsprechenden Zusammenhang seinen Sinn gewinnt. Der entscheidende Punkt besteht darin, dass der Akkord nicht zuerst einfach ein C-Moll-Akkord ist und dann noch verwendet wird, sondern dass das, was er ist, nur ausgehend von seinen Relationen zu anderen Elementen in dem Kontext des entsprechenden Werks verständlich gemacht werden kann. Der Unterschied, um den es geht, ist nicht schon damit benannt, 24 Vgl. Adorno (1973), S. 184. 25 Vgl. ebd., etwa S. 133ff.
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dass das eine ein notiertes Werk, das andere eine improvisierte Performance ist. Es geht vielmehr darum, dass der Akkord eine spezifische Rolle im Ganzen der übrigen Akkorde des Werks bzw. im Ganzen der übrigen Voicings der Improvisation erhält. Elemente in einem Kunstwerk bestimmen sich somit wechselseitig und sind keine Atome, die man einfach in andere Kunstwerke verpflanzen könnte – da sie durch ihre Übertragung immer einen anderen Sinn gewinnen und damit nicht länger die Elemente sind, die sie waren bzw. man einen falschen, vergegenständlichenden Begriff des Elements eines Kunstwerks hätte, wenn man etwas derartiges noch sagen würde. Von Kunstwerken kann man in diesem Sinne sagen, dass jedes sozusagen eine ganz eigene Sprache spricht.26 Es spricht aber paradoxerweise eine Sprache, die zugleich keine Sprache ist, weil sie nicht übersetzbar ist, sondern nur mimetisch nachbuchstabiert werden kann. Als offen können solche Konstellationen gekennzeichnet werden, weil jedes Nachbuchstabieren andere Elemente des entsprechenden Kunstwerks entdecken wird. Über die Formulierung von Adornos »Ästhetischer Theorie« hinausgehend müsste man dabei gleichwohl mit Formulierungen seiner Vorlesungen von 1958/1959 festhalten, dass ein derartiger Nachvollzug des Kunstwerks nun weder in einer mechanischen Weise passiv ist, noch in einer Weise passiv ist, dass das Subjekt halt etwas machen muss, damit das Werk ihm eine passive Rolle auferlegen kann – man muss halt zuhören, sich konzentrieren, auf das richtige schauen usw.27 Vielmehr ist ein derartiger Nachvollzug gleichermaßen passiv wie aktiv, denn die jeweilige historische Gegenwart, im Lichte derer das Kunstwerk erschlossen wird, schreibt sich in es ein, ohne dass das eine Verzerrung dessen, was das Kunstwerk ist, meinen würde.28 Die Einsicht, dass Kunstwerken ein Moment des Fremden gegenüber dem diskursiven Denken eignet, wird von Adorno deutlicher als von Hegel produktiv gewendet. Man könnte auch sagen: Die Nichtproduktivität wird hier produktiv gewendet, insofern Adorno Kunst funktional ausgehend von einer negativitätsästhetischen Agenda bestimmt. Das Fremde gegenüber dem diskursiven Denken und einem an einem solchen Denken orientierten Begriff der Rationalität liegt darin, dass Kunstwerke eine spezifische Form von Rationalität aufweisen, die nicht eine solche Rationalität ist, wie sie in der Tradition der Philosophie in weiten Teilen recht monoton bestimmt worden ist. Damit komme ich zu einigen 26 Vgl. als kritische Analyse dieses Gedankens auch Bertram (2005), Kap. 5. 27 Vgl. Adorno (2009), S. 190. Vgl. als Ausbuchstabierung dieser ästhetischen Dialektik von Aktivität und Passivität, wenn auch freilich nicht mit der geschichtsphilosophischen Pointe, um die es mir hier geht, Seel (2013) & ders. (2014). 28 Vgl. in diesem Sinne auch Gadamers Überlegungen zur Wirkungsgeschichte. Gadamer (1990), S. 305ff.
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knappen abschließenden Bemerkungen zu dem hier ausgehend von Hegel und Adorno entworfenen Begriff der Fremdheit als Aspekt der Form der Kunsterfahrung.
IV. S CHLUSS : K UNST
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Möchte man den Versuch unternehmen, Fremdheit als ein Moment von Kunst überhaupt verständlich zu machen, so kann das nicht ausgehend von einer Generalisierung von Beispielen, in denen Kunst Fremdheit entweder denotiert oder exemplifiziert, geschehen – denn das wäre einfach eine stipulative Definition, da sich postwendend Gegenbeispiele finden lassen würden. Ebenso wenig kann man sich auf die Beobachtung berufen, dass viele künstlerische Objekte und Ereignisse irritierende und provozierende Verfahrensweisen und Themen durchspielen und derart ein Moment der Fremdheit in der Kunst wirksam ist. Ungeachtet der Tatsache, dass diese Beobachtung sicherlich auf einige Arten von Kunstwerken zutrifft, wäre eine solche Erläuterung nicht nur stipulativ, wenn man sie für die Kunst als solche generalisieren würde. Eine solche Auffassung brächte mit ihrem Pochen auf das Moment der Fremdheit mit sich, dass die Fremdheit ironischerweise gerade neutralisiert würde. Mit der Veränderung unserer Wahrnehmungsgewohnheiten würde das Irritierende und Provozierende der Kunst jeweils überwunden werden und ihre Fremdheit hätte sich abgenutzt, so dass eine solche Erläuterung letztlich nur einen kontingenten und potenziell überwindbaren Aspekt der Rezeption betreffen würde. Soll Fremdheit demgegenüber als ein nicht überwindbarer ebenso wenig wie defizienter Aspekt der Kunsterfahrung überhaupt profiliert werden, so muss man sie als Aspekt der Form der Kunsterfahrung begreiflich machen. Eine solche Fremdheit wäre konstitutiv für die Kunsterfahrung überhaupt, ohne dass das bedeuten würde, dass jede Kunsterfahrung notwendigerweise auch die Erfahrung von etwas Fremdem im einleitend skizzierten Sinne wäre. Wie ich zu zeigen versucht habe, lässt sich mit Hegel und Adorno im Sinne einer Spezifikation von Aspekten der Form der Kunsterfahrung geltend machen, dass diese strukturell immer ein Moment der Fremdheit einschließt. Dieses lässt sich so erläutern, dass das mimetische Nachbuchstabieren von Kunstwerken weder eine einfache Fortsetzung des diskursiven Denkens ist, noch das ganz Andere eines solchen Denkens, insofern derartige Nachbuchstabierungen ein wesentlicher Aspekt dessen sind, was uns zu den Subjekten macht, die wir sind. Das, was wir sind, erweist sich im Lichte jeder Kunsterfahrung als jeweils in spezifischer Weise zur Disposition stehend. Die entscheidende Lektion eines hegelianischen und adornitischen Denkens der
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Fremdheit als Aspekt der Form der Kunsterfahrung überhaupt erweist sich gegenüber anderen möglichen Konzepten einer solchen Form darin, dass der in Frage stehende Aspekt der Form als ein solcher zu erläutern ist, der selbst eine bestimmte Art von Geschichtlichkeit exemplifiziert. In keineswegs transzendentaler Manier und auch nicht im Sinne des Hervorhebens einer Eigenschaft aller Erfahrungen handelt es sich dabei vielmehr um etwas, was in und durch jedes einzelne Werk neu- und weiterverhandelt wird.29
L ITERATUR Adorno, Theodor W. (1970): Negative Dialektik, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ders. (1973): Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ders. (2009): Ästhetik (1958/59), Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bertram, Georg W. (2005): Kunst. Eine philosophische Einführung, Ditzingen: Reclam. Ders. (2014): Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik, Berlin: Suhrkamp. Bubner, Rüdiger (1989): Ästhetische Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Carroll, Noël (2008): The Philosophy of Motion Pictures, Oxford: Blackwell. Danto, Arthur C. (1964): »The Artworld«, in: The Journal of Philosophy, 19:62, S. 571-584. Ders. (1991): Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ders. (1996): Kunst nach dem Ende der Kunst, München: Fink. Descartes, René (1992): Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg: Meiner. Feige, Daniel M. (2012): Kunst als Selbstverständigung, Münster: Mentis. Gadamer, Hans-Georg (1990): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr Siebeck. Goodman, Nelson (1997): Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hegel, Georg W.F. (1986a): Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ders. (1986b): Vorlesungen über die Ästhetik. Band 1-3, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
29 Für hilfreiche Kommentare zu einer früheren Fassung dieser Überlegungen danke ich den Teilnehmern und Teilnehmerinnen der Tagung »Kunst und Fremderfahrung« sowie Andrea Sakoparnig.
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Aspekte von Fremdheit im emotional-ästhetischen Erfahren Einige Bemerkungen im Anschluss an Edmund Husserl und Ronald de Sousa W ERNER F ITZNER Die Begrifflichkeit, in der sich das Philosophieren entfaltet, hat uns [...] immer schon in derselben Weise eingenommen, in der uns die Sprache, in der wir leben, bestimmt. GADAMER (51986), S. 5.
Die nachfolgenden Erwägungen sind im Kern an der These orientiert, dass einerseits ästhetisches Erfahren und das Erfahren von Kunstwerken gut als affektives Geschehen zu begreifen ist und andererseits unsere Emotionalität weitgehend von der Perspektive der Ästhetik her verstanden werden kann. Der besondere Fokus wird darauf liegen, diese grundlegende Idee in Hinsicht auf Aspekte von Fremdheit hin zu beleuchten, die in jenem emotional-ästhetischen Erfahren eine Rolle spielen. Hierzu wird Fremdheit zunächst von Edmund Husserls Phänomenologie und dessen Begriff von Fremderfahrung her erläutert. Das sich so darbietende Verständnis von Erfahren wird dann im Sinne eines grundsätzlich gemütsmäßig-emotionalen, interpersonalen Erfahrens interpretiert. Damit eröffnet sich eine gewisse Sicht auf unser Erleben als ein im Kern emotional verfasstes und in unterschiedlichen Hinsichten von Fremdheit geprägtes Erleben sowie die Möglichkeit, diese Erlebens-Konzeption in einem ersten Zuge und grundsätzlich auf den Kontext der Ästhetik zu beziehen. Ronald de Sousas philosophische Betrachtungen über Gefühle bieten anschließend einen reichhaltigen Hintergrund und Fundus für eine Vertiefung der leitenden Perspektive des vorliegenden Auf-
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satzes. Nachdem einige relevante Parallelen der Ansätze von Husserl und de Sousa umrissen wurden, wird zuerst darauf eingegangen, wie von de Sousa her Fremdheit in unserem grundlegend emotional verfassten Erleben aufgefasst werden kann. Hierfür wird vor allem de Sousas Konzept der Schlüsselszenarien herangezogen. Die so eingeführten Auffassungen de Sousas werden schließlich dezidierter auf Themen der Ästhetik bezogen ‒ besonders auf die Felder des ästhetischen Wahrnehmens, des ästhetischen Urteilens über Kunstwerke sowie die Problematik ästhetisch-künstlerischer Innovation. Als maßgeblich stellt sich dabei de Sousas Position eines axiologischen Holismus heraus.
E DMUND H USSERL Fremderfahrung / Einfühlung, Vertrautheit und Unvertrautheit »Fremderfahrung« wurde als ein phänomenologischer Begriff von Husserl geprägt. Husserl beschreibt mit diesem Begriff zunächst einmal die Dimension unseres Perzipierens durch die wir andere Menschen erleben. Damit ist mit Fremderfahrung etwas anderes und tieferes gemeint als ein Befremdet-Sein, wie es sich etwa auf Reisen in anderen Ländern oder auf andere Weise auch in Anbetracht eines Kunstwerkes einstellen mag. Fremderfahrung ist mithin als grundlegende Dimension des Erlebens unabhängig davon wirksam, ob wir gerade etwas z.B. im Sinne einer Ungewohntheit oder einer Unvertrautheit als fremd empfinden. Nach meinem Verständnis von Husserls Phänomenologie stellt Fremderfahrung, vorläufig gesagt, eine grundlegende, affektive Ebene für unser bewusstseinsmäßiges Erfahren dar. In Richtung dieser Deutung weist bereits, dass die Begriffe Fremderfahrung und Einfühlung von Husserl weitestgehend synonym verwendet werden.1 Mit dem Begriff der Einfühlung bzw. Fremderfahrung wird bei Husserl also zunächst dargelegt, wie wir uns auf andere Menschen als psychisch erlebende Wesen beziehen.2 Demnach können einem das Erleben und die Erscheinungen eines anderen Menschen nicht wie das eigene Erleben unmittelbar, sondern nur indirekt zugänglich sein ‒ vermittels einer vom Selbst und der ursprünglichen Konstitution des eigenen Leibes ausgehenden analogisierenden Apperzeption. Durch diese ist einem jener Körper da als ein menschlicher Leib gegenwärtig sowie mit ihm das andere Psychische appräsentativ indiziert. Während zunächst
1
Vgl. Husserl (²1973), S. 124. Ders. (1973), S. 11, 260. Fischer (2010). Noras (2010).
2
Vgl. Husserl (²1973), S. 138ff.
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abgewandte Aspekte jenes anderen Leibes mit einer relativen Bewegung zueinander präsentativ anschaulich werden können, kann der Geist des anderen Menschen einem nicht zu ursprünglicher Gegebenheit kommen. Das Erleben jenes Menschen stellt sich einem im Fortlauf »von Phase zu Phase«3 mit dessen leiblichem »Gebaren«4 appräsentativ dar. In dieser Weise erfahre ich den Anderen, Fremden durch einen besonderen »Bewährungsstil«5, der mir in concreto mehr oder minder stimmig und gewohnt ist. Während ein einstimmiger Bewährungsstil Normalität und insofern Vertrautheit bedeutet, bringt mir ein unstimmiger Bewährungsstil ein eigentliches Empfinden von Fremdheit, Unvertrautheit. Meine Einfühlung stockt dann. Ich bin zu einem gewissen Grad von den leiblich geformten Expressionen des Anderen, dessen Gebaren bzw. Stil irritiert. Der Begriff des Stils kann hier durchaus in einem ästhetischen Sinne verstanden werden. Er bezieht sich allgemein zunächst auf das äußerliche zutage Treten innerer Motivationsverhältnisse bzw. Erlebenszusammenhänge ‒ an Personen, aber z.B. auch an von Personen hergestellten Gegenständen.6 Husserl zufolge intendieren wir nämlich nicht nur andere Personen fremderfahrend bzw. einfühlend, vielmehr konstituieren wir so unsere gesamte kulturelle Umwelt. Kulturelle Objekte unserer Umwelt ‒ theoretische und ästhetische Gegenstände sowie Gegenstände des Gebrauchs ‒ werden von uns als auch von anderen Personen und Personenkreisen intendiert sowie durch eine geschichtliche Tradition geistig bestimmt erlebt. Damit eignet den von einem erlebten Objekten stets eine Dimension der Relevanz auch für Andere, Fremde. Entsprechend meint Husserl: »Zudem gehören zur Erfahrungswelt Objekte mit geistigen Prädikaten, die ihrem Ursprung und Sinn gemäß auf Subjekte, und im allgemeinen auf fremde Subjekte und deren aktiv konstituierende Intentionalität verweisen: so alle Kulturobjekte (Bücher, Werkzeuge und Werke irgendwelcher Art usw.), die dabei aber zugleich den Erfahrungssinn des Fürjedermann-da mit sich führen (scilicet für jedermann der entsprechenden Kulturgemeinschaft, wie der europäischen, eventuell enger: der französischen etc.).«7
3
Ebd., S. 144.
4
Ebd.
5
Ebd., S. 143.
6
Vgl. Fitzner (2015), S.251ff. Letztlich kann »Stil« darüber hinaus auf den Zusammenhang von Motivationen allgemein bezogen werden, unabhängig davon, inwieweit diese äußerlich zutage treten. So hat man bspw. einen Stil des Wahrnehmens oder des Erinnerns. S.u.
7
Husserl (²1973), S. 124.
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Der mit dem grundlegenden einfühlenden In-der-Welt-sein intendierte und insofern auf Fremdsubjekte verweisende geistige Ausdruck und Stil, der in dem kulturellen und sozialen Umkreis, in dem man sich je aufhält, prägend ist, ist einem nun ebenfalls in Graden mehr oder minder zugänglich und eingängig. Eine Umgebung, die einem in der Weise, in der sie sich darbietet, minder stimmig erscheint, wird ein entsprechend schwächeres oder stärkeres Gefühl der Fremdheit oder Unvertrautheit evozieren und erhalten. Eine solche Umgebung, die bei Husserl in Abhebung von Heimwelt als Fremdwelt bezeichnet wird, ist einem strukturell, in ihrer ästhetischen Verfassung nicht geläufig.8 Anders als bei denen, denen diese Umwelt weitestgehend normal gilt, ist hier für einen selbst eine eigenständige routinierte Praxis gehemmt. Bei jeweiligen Gelegenheiten kann dies bspw. frustrieren oder Moment einer Faszination jener Welt gegenüber sein. Wertung und Fremderfahrung. Gefühle als Voraussetzung zum Erleben Husserl geht auch davon aus, dass die Erlebnisse, in denen wir uns durch die Welt bewegen und diese als kulturelle und personale Umwelt konstituieren können, grundlegend stets Erlebnisse des Gemüts bzw. Wertungen sind. Ohne Wertungen, die Husserl von der Bewusstseinssphäre des Gemüts her als affektive Erlebnisse begreift, als voraussetzende Unterlage des Erlebens würden wir demnach keinerlei kulturelle Umwelt erfahren können, hätten keinen Bezug zu Gegenständen und Menschen als kulturellen Gegenständen und Personen.9 In den Wertungen fundiert, sind für unsere alltäglichen Vollzüge gewöhnlich volitive, praktische Erlebnisse ‒ z.B. solche des Wünschens, Wollens und Strebens ‒ prägend. In dieser Weise ist einem die Welt eine geistig bestimmte Welt, unter anderem mit ästhetischen Objekten wie Kunstwerken sowie Gegenständen des Gebrauchs ‒ »der ›Tisch‹ mit seinen ›Büchern‹, das ›Trinkglas‹, die ›Vase‹, das ›Klavier‹ usw.«10. Rein gegenständliche Erlebnisse und, als deren objektseitige Korrelate, bloße Gegenstände ohne solche geistige Bestimmtheit existieren nach Husserl in unseren tatsächlichen, lebendigen Vollzügen nicht. Er kennzeichnet die Annahme solcher Erlebnisse und objektiver Erlebniskorrelate mithin als eine
8
Vgl. zu Husserls Differenzierung von Heimwelt und Fremdwelt etwa Husserl (2008), S. 157. Vgl. weiterhin meine im Anschluss an Husserl angestellten Überlegungen zur Ästhetik: Fitzner (2015), S. 147, 251ff. 272ff.
9
Vgl. hierüber grundlegend etwa Husserl (1952), S. 172ff.
10 Husserl (1976), S. 58.
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Abstraktion.11 Die zur Sphäre des Gemüts gehörigen Wertungen können mehr oder weniger durch ein Fühlen erfüllt sein und somit die in ihrem Fokus befindlichen Werte und Wertgegenstände mehr oder weniger adäquat erfassen. Gefühlsmäßig unerfüllte, leere Wertungsakte bezeichnet Husserl als Werthaltungen, emotional erfüllte Wertungen nennt er in Analogie zu Wahrnehmungen Wertnehmungen.12 Ein wertnehmendes ästhetisches Erfahren eines Kunstwerks begreift Husserl als ästhetischen Genuss.13 In solchem Genuss vertiefen wir uns in die erscheinende Gestalt und die Nuancen eines Kunstwerks als ästhetischen Wertobjekts.14 Husserls verschiedentliche Betrachtungen zur Fremderfahrung einerseits und zum gemütsmäßigen Werten andererseits legen es nahe anzunehmen, dass in der von ihm entwickelten Phänomenologie diese beiden Dimensionen zu einem erheblichen Maße identisch sind. Demzufolge wäre die Einfühlung als die hauptsächliche Grundlage unseres Erlebens und Konstituierens einer kulturellen, geistigen Umwelt zu verstehen, und unsere wertenden Emotionen als wesentlich intersubjektiv verfasst und in diesem grundsätzlichen Sinne von Fremdheit geprägt. In unserem jeweiligen fühlenden Bezugnehmen auf unsere Umwelt in ihrer Werthaltigkeit kommen demnach unablässig und unabänderlich, zwar nicht dem konkreten Inhalt ihres Erlebens nach, sondern eben appräsentativ, andere Personen als psychisch erlebende Wesen vor. Unser Erleben ist so verstanden vom Grunde her sozial. Es inkludiert Fremdheit als Interpersonalität und folglich Verhältnisse der Vertrautheit wie der Unvertrautheit. Obwohl seine Überlegungen vielfach auf sie hindeuten, hat Husserl die hier nahegelegte Übereinstimmung von Wertung und Einfühlung nirgends ausführlicher thematisiert. Das mag teilweise darauf zurückzuführen sein, dass die beiden Begrifflichkeiten aus unterschiedlichen Zusammenhängen und Phasen seines phänomenologischen Denkens herrühren. Während seine Konzeption des Wertens von der Differenzierung zwischen gegenständlicher, wertender und praktischer Sphäre her kommt und somit schon in den Anfängen seiner Phänomenologie besteht, rühren die Überlegungen zum Fremderfahren maßgeblich aus nachfolgenden Zusammenhängen, in denen es verstärkt darum ging, unser Erleben in interpersonaler Dimension zu erforschen.15 11 Vgl. Husserl (⁷1999), S. 57. Vongehr (2010), S. 118. 12 Vgl. zu Husserls Differenzierung von Werthaltungen und Wertnehmungen etwa Husserl (1952), S. 8ff. Husserl (2004), S. 72, 86. 13 Vgl. Husserl (1952), S. 8. 14 Vgl. hierzu ausführlicher Fitzner (2015), S. 211ff. 15 Auf der Linie der hier vorgeschlagenen Deutung von Husserls phänomenologischen Überlegungen liegt es, dass sich für seine Phänomenologie die Problematik eines be-
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Emotional-ästhetisches Erfahren: Stile des Vertrauten und Unvertrauten Was lässt sich von dieser Interpretation der Husserlschen Gedanken zu Wertung und Einfühlung her grundlegend in Hinsicht auf die Thematik eines unterschiedlich von Fremdheit geprägten emotional-ästhetischen Erfahrens festhalten? Zunächst ist unser Erleben, wie dargelegt wurde, bereits insofern als fortwährend durch Fremdheit geprägt zu verstehen, als wir jeweils in synchroner und diachroner Dimension Erlebensgehalte anderer Personen und kultureller Verbände appräsentativ mitintendieren. Man erlebt die Welt als eine kulturelle Welt, die auch von Anderen, Fremden erlebt bzw. konstituiert wird und wurde. Insofern das Erleben grundsätzlich emotional-wertend ist, sind mir durch dieses fortwährend jeweilige Aspekte und Zusammenhänge hervorgehoben. Das gemütsmäßigwertende Erfahren strebt anhaltend danach, einem Relevantes zur Abhebung zu bringen.16 In dieser Weise setzt sich das Erleben permanent fort, ist man stets zu weiterem Erleben motiviert und motivational mit jeweiligen Umwelten verflochten.17 Die motivationalen Verknüpfungen von Erlebens-Phasen bilden je individuell besondere Zusammenhangsformen, besondere Stile. Unser Erleben kann nun unter anderem insofern aus einer ästhetischen Perspektive verstanden werden, als es sich derart in Stilen vollzieht. Es ist jeweils von einem eigenen Stil innerlich geprägt, es prägt sich in individuellen motivationalen Zusammenhängen aus. So habe ich z.B. einen persönlichen Stil des Wahrnehmens, des Fühlens und Denkens, eine Art zu Gehen, eine Weise zu Reden und die Hände zu bewegen, letztlich meinen Lebensstil. Auch erfahre ich ein Kunstwerk auf solche persönliche Art. Ein entsprechender individueller Stil ist allerdings entscheidend durch den personalen und kulturellen Umkreis bestimmt, aus dem er rührt. Er konveniert grundsätzlich mit dem Stil dieses Umfeldes. Hierin besteht eine gewisse ästhetische Nähe von mir und meiner Kultur, durch welche ich mich grundsätzlich vertraut in dieser bewegen kann. Meine Heimwelt und Kultur ist mir inwendig kenntlich, in kennzeichnenden Zügen in mich eingegangen. So kann ich mich wesentlich habituell, ohne besonders zu überlegen in ihr zurechtfinden. Ich halte mich inmitten weitgehend vertrauter Geräusche,
wusstseinsmäßigen Solipsismus eigentlich nicht in einem schwerwiegenden Maße ergibt. Diese etwa für die Husserl-Forschung oder die Konzeption von Phänomenologie relevante Frage kann hier allerdings nicht angemessen erörtert werden. 16 Vgl. de Sousa (1987), S. 243f. Ebd. S. 243: »Emotions are, in part, patterns of attention.« 17 Vgl. hierzu grundlegend Husserl (1952), S. 220ff.
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Wörter und Klänge auf, wirke in einem Gefüge typischer Bewegungen, Gesten und Strukturen; derart vollzieht sich das Leben substanziell ohne intensive intentionale Fokussierungen auf mein kulturelles Umfeld charakterisierende und konstituierende Merkmale und Profile, zwischen den Bildern der Kultur. Ist einem ein Umfeld unvertraut, dann mag einem zwar durchaus deutlich sein, dass dieses Umfeld sich durch einen in sich stimmigen Stil ausprägt und die Menschen dieses Umkreises sich in dieser kulturellen Prägung durchgängig habituell verhalten können, aber einem selbst ist dieser Stil eben nicht eingängig. Eine Schicht so verstandener Fremdheit liegt zwischen dem Erlebenden (oder auch, wenn es sich um eine gemeinsame, geteilte Erfahrungssituation handelt: den Erlebenden) und dem erlebten kulturellen Umkreis. Jener unvertraute Stil kann nicht tiefgreifend an die Schichten der je eigenen Passivität und deren motivationale Strukturen anknüpfen.18 Insofern geschieht keine Involvierung. Die rezeptiven und aktiven Ebenen der Intentionalität sind auf eine gewisse Weise intensiviert, gewärtig, ein zeitweiser Impuls der Objektivierung in dem man sich auf jenes bezieht.
E DMUND H USSERL ‒ R ONALD DE S OUSA Die Emotionen bilden das zentrale Thema des philosophischen Schaffens von Ronald de Sousa.19 In dessen philosophischen Reflexionen zu den Emotionen bestehen einige Anknüpfungspunkte für die hier vorstelligen Gedanken. Freilich ergründet de Sousa die Gefühle nicht als ein Phänomenologe. Sein Ansatz ist methodisch unter anderem durch die Pluralität der Perspektiven und Bereiche charakterisiert, die er anführt, um die Emotionen als entscheidenden Bestandteil unseres mentalen Haushalts und unseres Lebens näher zu verstehen. So zieht de Sousa etwa evolutionstheoretische, physiologische und psychologische Forschungen heran, denkt über Gefühle in Hinsichten der theoretischen Philosophie und der praktischen Philosophie nach und kommt immer wieder auf Aspekte von Literatur und Kunst zu sprechen. Es wird im Sinne der leitenden Idee dieses Aufsatzes sogleich darauf eingegangen, inwiefern de Sousa Emotionen grund-
18 Vgl. zu den passiven und aktiven Formen der Motivation Husserl (1952), S. 220ff. 19 De Sousa verdeutlicht auf verschiedenen Wegen die Bedeutsamkeit der Emotionen für unser Leben und unser Selbstverständnis und geht insgesamt davon aus, dass die Emotionen ihren angemessenen Platz im Zentrum der Philosophie haben. Vgl. de Sousa (1990), S. 434: »Perhaps it is only a slight exaggeration to say that the philosophy of emotions is, or should be, at the core of philosophy and cognitive science.«
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sätzlich von der Ästhetik her versteht. Zuvor sollen jedoch noch zwei allgemeinere Momente herausgestellt werden, mit denen sich eine mutmaßliche Ferne zwischen einer Phänomenologie à la Husserl und der Emotionsphilosophie de Sousas etwas relativiert und eine Verbindung zwischen den beiden Denkweisen deutlich wird. Zunächst einmal begreift auch de Sousa Gefühle in Analogie zur Wahrnehmung. Bei Husserl kommt diese Analogie insbesondere in seinem oben angeführten Terminus der Wertnehmung zum Ausdruck. So wie sich uns durch Wahrnehmungen die Welt sinnlich erschließt, so ist uns nach Husserl durch Gefühle die Welt in ihrer Werthaltigkeit zugänglich. Durch Gefühle nehmen wir Husserl zufolge Gegenstände in dem Wert, den sie jeweils für uns haben, wahr. Damit ist für uns die Welt durch unsere Gefühle bedeutsam. De Sousa erhellt die Emotionen in seinem Ansatz unter anderem, indem er sie vergleichend und differenzierend zu den mentalen Zuständen der Überzeugungen, Wünsche und Wahrnehmungen in Beziehung setzt. Eine besonders weitreichende Analogie erkennt er zu den Wahrnehmungen.20 Insofern uns, wie auch de Sousa meint, durch Emotionen die Welt in ihren Werten zugänglich ist, teilen, wie er gelegentlich erläutert, Emotionen mit Wahrnehmungen und Überzeugungen, jedoch nicht mit Wünschen, eine mind-to-world direction of fit.21 Demnach ist uns hinsichtlich unserer Emotionen, Wahrnehmungen und Überzeugungen daran gelegen, repräsentational zur Welt zu passen. Demgegenüber versuchen wir betreffs unserer Wünsche die Welt uns anzumessen. Sowohl Wahrnehmungen als auch Emotionen können uns Informationen über die äußere Welt in unmittelbarer Kovarianz zu ihr geben. Hierin liegt ein wichtiger Unterschied zu den vergleichsweise trägen Überzeugungen. Der zweite allgemeinere Punkt ist mit dem soeben Erläuterten bereits weitgehend ausgeführt: Husserl und de Sousa stimmen darin überein, dass Gefühle einen werterschließenden Charakter haben. In diesem Zusammenhang beziehen sich beide zudem dezidiert auf die Axiologie als der Lehre von den Werten. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die philosophischen Gefühlskonzeptionen von Husserl und de Sousa in einigen grundsätzlichen Punkten einander ähnlich sind. Allerdings ist an dieser Stelle sogleich anzumerken, dass Gefühle und Werte für Husserls Phänomenologie zwar allein schon systematisch äußerst relevant sind, jedoch tendenziell ein offenes Arbeitsgebiet blieben und von Husserl nicht so umfassend in Augenschein genommen wurden, wie andere Phänomene und Zusammenhänge des Bewusstseins. Faustino Fabbianelli erklärt die systematische Stellung der Axiologie bei Husserl wie folgt: 20 Vgl. etwa de Sousa (1987), S. 19, 149ff. 21 Vgl. zu den »Richtungen des Passens« etwa ebd., S. 163 & ders. (2007), S. 121.
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»Als Vernunftwissenschaft stellt sie [die Axiologie W.F.], zusammen mit Logik und Praktik, einen der drei Teile von Husserls phänomenologischer Kritik der Vernunft dar: Architektonisch betrachtet entspricht sie der in der Kritik der Urteilskraft aufgestellten Lehre, durch die Kant das Gefühl der Lust und Unlust a priori bestimmt hatte.«22
Demgegenüber gehören mit den Emotionen auch die Werte zum thematischen Kernbereich der Philosophie de Sousas. Gelegentlich kennzeichnet er die von ihm vertretene philosophische Position entsprechend auch als axiologischen Holismus.23 Mit dieser Position geht unter anderem der lebendige Anspruch einher, die Emotionen und Werte hinsichtlich ihrer unfasslichen Vielfalt zu beachten. Gerade dieser Punkt hat für de Sousa tiefgreifend mit Ästhetik und ästhetischem Erfahren zu tun, wie wir noch sehen werden.
R ONALD DE S OUSA Fremdheit, Schlüsselszenarien Fremdheit tritt in unserem emotionalen Leben, wie in de Sousas Überlegungen deutlich wird, in verschiedenen Perspektiven auf. So hebt de Sousa den Umstand hervor, dass, insofern wir biologische Wesen, Hominiden, sind, auch unsere Emotionen zu einem erheblichen Maße durch Gene und von zig Jahren der Evolution geformt sind. Der evolutionär-biologische Hintergrund, aus dem man nun je in concreto hervorgegangen ist, ist einem selbst, den individuellen Vorstellungen und Zielen, denen man in seinem Leben nachgeht, gegenüber auf eine bestimmte Weise fremd.24 Einige Zwecke, die man als ein natürliches Wesen verfolgen kann und die aus evolutionärer Perspektive sinnvoll sind, können einem als moralischen Wesen, das eigenständig Entscheidungen zu treffen hat, durch die sich eine Identität formt, fremd sein.25 Eine beständige Fremdheit in unserem
22 Fabbianelli (2010), S. 39. Diese Parallele zwischen der ästhetisch-reflektierenden Urteilskraft bei Kant und dem fühlend-wertenden Erfahren, wie es von Husserl dargestellt wird, bildet einen weiteren gewichtigen Hintergrund für die Annahme eines grundlegend emotional-ästhetischen Erfahrens. 23 Vgl. etwa de Sousa (2011), S. 36ff. 24 Vgl. de Sousa (2007), S. 84ff. 25 Vgl. hierzu grundlegend de Sousa (2007). Etwa ebd. S. 84ff. 89ff. Vgl. etwa auch de Sousa (2011), S. 235ff.
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Leben, insofern wir eben auch natürliche Wesen sind.26 Auf eine andere, gewissermaßen oszillierende Weise ist einem Individuum die Gesellschaft, in der es lebt, fremd. Ein Individuum bestimmt sich einerseits in Bezug auf seine Gesellschaft, andererseits in Abgrenzung zu ihr ‒ für de Sousa eine tiefgreifende Grundlage für tragische Aspekte des Lebens.27 Um jedoch mit de Sousa zu verstehen, inwiefern wir als emotionale Wesen von Fremdheit geprägt sind, liegt es zunächst nahe nachzuvollziehen, wie wir nach seiner Auffassung die jeweiligen Emotionen biographisch kennenlernen und erwerben. De Sousa geht davon aus, dass wir mit dem Vokabular der Emotionen in Schlüsselszenarien [engl.: paradigm scenarios] vertraut gemacht werden.28 Er erläutert: »Paradigm scenarios involve two aspects: first, a situation type providing the characteristic objects of the specific emotion-type [...], and second, a set of characteristic or ›normal‹ responses to the situation, where normality is first a biological matter and then very quickly becomes a cultural one.«29
Der Erwerb eines Gefühlsrepertoires in Schlüsselszenarien beginnt entscheidend in der frühen Kindheit. Mit zunehmendem Alter können wir, was insbesondere mit Blick auf den ästhetischen Fokus dieser Betrachtungen relevant ist, unser emotionales Repertoire verstärkt durch Kultur, durch Kunst und Literatur, bereichern.30 De Sousa konzipiert den Erwerb von Emotionen in enger Analogie zum Spracherwerb. Dem liegt unter anderem der Gedanke zugrunde, dass eine gesteigerte Sprachbeherrschung grundsätzlich das Verständnis komplexerer emotionaler Schlüsselszenarien ermöglicht. Insbesondere Literatur kann gemäß dieser Perspektive zur Differenzierung unserer emotionalen Resonanzen beitragen. So mag einem im Nachvollzug einer literarischen Erzählung etwa ein komplexes Szenario des Empfindens von Schuld und Verantwortlichkeit anschaulich und damit dieses Gefühl um ein gewisses Maß zugänglicher werden. Allerdings sind Schlüsselszenarien nicht schlichtweg als besondere vergangene Episoden in Biografien zu begreifen. Sie sind vielmehr in unserem Erleben 26 Ebd., S. 246: »In biological terms, the intrinsic value of happiness is just a manipulative trick by our genes, to get us to do what they metaphorically purpose. We are all puppets of our alien genes.« 27 Vgl. de Sousa (1987), S. 329ff.: Three Basic Tragedies of Life. 28 »Schlüsselszenario« ist die gebräuchliche deutsche Übersetzung von de Sousas Terminus »paradigm scenario«. Vgl. de Sousa (2009). 29 De Sousa (1987), S. 182. 30 Vgl. hierzu ebd., S. 181ff.
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permanent aktuell, insofern wir die Welt durch unsere jeweiligen Schlüsselszenarien wahrnehmen. Wir interpretieren Situationen und Zusammenhänge gemäß unserer Schlüsselszenarien, weisen auftretenden Personen und Objekten entsprechende Rollen zu. Diese paradigmatischen Szenarien formen Wahrnehmungen und können sich ‒ im Ausgang von ihrer jeweils bestehenden Gestalt ‒ unter Umständen weiter gestalten und differenzieren.31 Insofern die Schlüsselszenarien ihren Gehalt und ihre Wirkung aus unserer gemeinsamen biologischen Grundlage und aus der gemeinsamen Kultur beziehen, sprechen wir, um de Sousas Analogie aufzugreifen, zu einem großen Teil emotional und in unseren Werthinsichten dieselbe Sprache. Insofern Schlüsselszenarien jedoch partikular sind, sich in den besonderen Zusammenhängen individueller Biografien ausprägen, sprechen wir in emotionalen Idiolekten. Es ist maßgeblich auf diesen Umstand zurückzuführen, dass wir als emotionale Wesen, in unseren jeweiligen Perspektiven und Gewichtungen verschieden voneinander und in diesem Sinne einander fremd sind. Mancher Dissens zwischen den Partnern einer Liebesbeziehung32 oder auch zwischen Vertretern verschiedener philosophischer Positionen33 gewinnt hieraus 31 Dass jede persönliche Entwicklung von dem ausgehen muss, was der betreffenden Person bereits wichtig und bedeutsam ist, stellt auch eine besondere Problematik für die Bestimmung von Sorge (Caring) und Liebe dar, die Harry G. Frankfurt in The Reasons of Love unternimmt. Vgl. Frankfurt (2004), S. 23ff. Frankfurt betont, dass eine Person nicht jenseits dessen, was ihr bereits wichtig ist, externe Gründe dafür haben könne, weiteres für wichtig zu halten. Seine Überlegungen führen Frankfurt u.a. zu folgendem, systematisch relevanten Punkt: »What is not possible is for a person who does not already care at least about something to discover reasons for caring about anything. Nobody can pull himself up by his own bootstraps. This means that the most basic and essential question for a person to raise concerning the conduct of his life cannot be the normative question of how he should live. That question can sensibly be asked only on the basis of a prior answer to the factual question of what he actually does care about.« Frankfurt (2004), S. 26. 32 Vgl. de Sousa (2015), S. 84f.: »Since all of us approach our relationships with unconscious paradigm scenarios firmly in place, it is easy to see why loversʼ arguments are as unpersuasive as they are intense: ›How could you fail to see how that would hurt me?‹ ›How can you possibly not understand?‹ The answer is always the same, though it is seldom made explicit: ›Because I have not studied your script, and you are failing to play your assigned part in mine.‹« 33 Vgl. de Sousa (2011), S. 139: »Despite its commitment to reason and argument, the broad lines of every philosopherʼs positions are determined by innate temperament. The arguments pile up later, to justify temperamental convictions. Thatʼs why conversions are about as rare in philosophy as they are in religion. No doubt it happens; a
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seine (oft repetitive) Dynamik. De Sousa bringt seine Überlegungen etwa wie folgt zum Ausdruck: »The mystery of personality, what Yeats called ›the labyrinth of anotherʼs being,‹ fascinates us in proportion to the difference of others from ourselves. The existence of that difference is guaranteed by the origins of our emotional repertoire and therefore of our world view, in paradigm scenarios the details of which are due to the chance circumstances of individual biography. As a result, the worlds of value, of pleasure, of emotional reality with which individual temperament and history have endowed us are just accessible enough to each other for us to know that they are irreducibly different.«34
Ästhetik. Emotionen und Fremdheit Wie lassen sich diese Auffassungen nun auf den vorliegenden ästhetischen Fokus beziehen? Zunächst können die individuellen emotionalen Ausprägungen, die de Sousa etwa mit dem Konzept der Schlüsselszenarien erläutert, auch in Bezug zu den oben thematisierten, persönlichen Stilen gebracht werden. Die Konstitution emotionaler Charakteristika in Schlüsselszenarien wirkt sich je individuell in sich wiederholenden und insofern gleichgestaltigen Mustern aus, in Strukturen der Selbstähnlichkeit, die eben als je persönliche Stile gelten können.35 Dass wir in Stilen leben, wahrnehmen, uns konkretisieren bringt, jenseits allen Erfahrens von Kunst, eine basale ästhetische Dimension mit sich. In dieser gestaltet sich unser Mit- und Zueinander. Insoweit emotionale Schlüsselszenarien garantieren, dass wir irreduzibel verschieden sind und die Welt verschieden wahrnehmen, ist klar, dass wir auch Kunstwerke verschieden wahrnehmen. Ein Gemälde, das ich gemeinsam mit einer Bekannten in einem Museum betrachte, vermittelt uns beispielsweise derart verschiedene Eindrücke, dass wir bestimmte Gewichtungen im Bild unterschiedlich empfinden, den emotionalen Charakter der dargestellten Szenerie etwas abweichend einschätzen oder auch über den ästhetischen Ausdruck anders urteilen. Ein solches Geschehen kann sich in mehrerlei Hinsicht als bereichernd herausstellen: so kann sich einem durch den Anderen eine weitere, selber bis dahin unbeachtete Ebene des Kunstwerks eröffnen und man kann die andere Person, ihre
youth might make a false start, as when an Aristotle is brought up by a Plato. But personally Iʼve never known an Aristotelian to turn into a Platonist, or a Kantian to switch allegiance to Utilitarianism.« 34 De Sousa (1987), S. 329f. 35 Vgl. de Sousa (2011), S. 277ff.: Repetition and Novelty.
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Perspektiven und Gewichtungen genauer kennenlernen. Der wechselseitige Bezug gestaltet sich. Ein genauer, weitestmöglich objektiver Blick auf die ästhetische Wertdimension eines Kunstwerks ergibt sich gerade durch, auch imaginative, Hinzuziehung unterschiedlicher emotionaler Auffassungen. So kann ein Regredieren bloß auf die jeweils eigene, subjektive Position abgeschnitten werden.36 Freilich ist die Fähigkeit zu einem realistischen Empfinden und Einschätzen von Kunstwerken hinsichtlich ihrer ästhetischen Wertigkeit insbesondere in der Auseinandersetzung mit solchen Zeitgenossen, deren diesbezüglichen Hinweisen und Gesten zu schulen, die ihre emotionale Konfiguration, ihr emotionales Sensorium ihrerseits erheblich in der Auseinandersetzung mit den Traditionen menschlichen Kunstschaffens und eben mit Kunst ausgebildet haben.37 Im Rahmen seiner zirkulären38 Bestimmung dessen, was ästhetischer Geschmack ist, gibt Frank Sibley eine nichtsdestotrotz gute, illustrative Auflistung von dem, was Kunstkritiker sprachlich und durch sonstiges Verhalten tun können, um einem Laien den ästhetischen Gehalt eines Kunstwerks näherzubringen und verständlich zu machen.39 Die sprachlichen Möglichkeiten, die er anführt, reichen vom Hinweis auf nicht-ästhetische Aspekte wie Farben, dunkle Stellen oder Linien bis hin zu bekräftigenden Wiederholungen oder Variationen des Gesagten.40 Insofern ästhetische Qualitäten zwar durch Kunstwerke präzise zum Ausdruck gebracht werden, jedoch ästhetische Begriffe sprachlich nicht derart präzise zu fassen sind, dass sich zu ihrer korrekten Verwendung notwendige und hinreichende Bedingungen angeben ließen sowie insbesondere: zu einer genauen und sensiblen Benennung 36 Vgl. de Sousa (1987), S. 187, 155. 37 Hier zählen selbstverständlich auch schriftlich festgehaltene Übermittlungen, auch solche bereits verstorbener »Zeitgenossen«. So lässt sich aus den Schriften Paul Valérys vieles zum ästhetischen Erfahren lernen, um nur ein Beispiel zu erwähnen. 38 Vgl. Sibley (1959) & ders. (1965). Der Zirkel besteht darin, dass Sibley ästhetische Qualitäten als solche Qualitäten bestimmt, zu deren Wahrnehmung Geschmack erforderlich ist und Geschmack als die Fähigkeit, durch die wir ästhetische Qualitäten wahrnehmen können. Vgl. zur Problematisierung und Auflösung des Zirkels: Beardsley (1973). 39 Vgl. Sibley (1959), S. 442ff. Vgl. als parallele Passage zur selben Problematik: Wollheim (1980), S. 111f. »It almost looks as though in such cases we can compensate for how little we are able to say by how much we are able to do. Art rests on the fact that deep feelings pattern themselves in a coherent way all over our life and behaviour.« Ebd. S. 112. 40 Vgl. zu der Terminologie von ästhetischen- und nicht-ästhetischen Eigenschaften z.B. Sibley (1959), ders. (1965), Beardsley (1973).
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von ästhetischen Qualitäten gerade nicht durchweg solche fasslichen Prädikate zur Verfügung stehen, wie Sibley sie allerdings in der Hauptsache vor Augen hat (er nennt etwa: »unified, balanced, integrated, lifeless, serene, somber, dynamic, powerful, vivid, delicate, moving, trite, sentimental, tragic«41), wird im Ziel einer solchen Konversation auch ein gemeinsames, einverständiges Schweigen in Anbetracht des Kunstwerks liegen, in einer gewissen ästhetischen Perspektive: das höchste der Gefühle. Es würde an dieser Stelle mithin nicht ausreichen, Kunstwerke bloß als Gegebenheiten aufzufassen, in Bezug auf die wir jeweils individuell verschiedene Erfahrungen machen und uns insoweit wechselseitig als einander fremd wahrnehmen können. Insofern Kunstwerke ästhetische und künstlerische Werte objektivieren42, sinnlich-anschaulich machen, stellen sie auch Fixpunkte dafür dar, besondere Erfahrungen zu teilen. Sie bilden kulturelle Bezugspunkte, auf die sich Individuen erfahrend richten und zu denen sie sich intra-, aber auch interkulturell austauschen können. Die Menge der möglichen und so auch der möglichen gemeinschaftlichen ästhetischen Erfahrungen stellt sich allerdings als schwindelerregend groß dar, wenn man einen der zentralen Gedanken des axiologischen Holismus von de Sousa heranzieht. De Sousa geht davon aus, dass die Zahl differenter Emotionstypen sowie mithin ihnen korrespondierender Werte gewaltig ist. Bezogen auf die Kapazitäten eines Individuums ist die Zahl möglicher differenter Emotionen praktisch unendlich.43 Die Emotionen für die wir Namen kennen bilden nach 41 Sibley (1959), S. 421. 42 Vgl. Husserl (2004), S. 293: »Das Kunstwerk ist eine Gestaltung, die berufen ist, einen ästhetischen Wert zu objektivieren.« 43 De Sousa bezieht sich hierbei auf die psychologische »multidimensional ›appraisal theory‹« von Klaus R. Scherer. Vgl. de Sousa (2011), S. 284, Scherer (2005). De Sousa (2011), S. 115f.: »Scherer proposes that in preference to an ontology of emotions that begins with a catalogue of discrete basic and compound emotions, we can capture the differences and affinities between any two emotions by referring to a set of appraisals in different dimensions. This results in a structuring of the space of emotions, which theoretically might enable us to count the number of possible emotions. The Geneva Appraisal Questionnaire lists twenty ›appraisal dimensions‹ [...]. One or two are binary: ›Did E require the person to react immediately?‹ Some seem to admit of only a limited range of three to five possible outcomes: ›How different is E from what the person expected at this moment?‹ But about half, involving judgments of likelihood, are presumably of the sort described as involving an interval scale varying between zero and one hundred, such as ›How probable is the occurrence of E in general?‹ A rough estimate of the resulting combinatorics, in a twenty-dimensional space
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dieser Auffassung nur relativ wenige Hot Spots in einem sehr weiten Raum unbenannter Emotionen.44 Die benannten Emotionen sind vielfach solche, die praktisch-motivational wirksam sind. Es handelt sich dabei in erster Linie zum einen um solche Emotionen, die evolutionär betrachtet wichtig für das Überleben waren. Zum anderen sind benannte Emotionen solche, im Lichte derer wir in der bestehenden Gesellschaft uns selbst und das Verhalten anderer vornehmlich begreifen. Sie formen die emotionalen Kategorien, in denen wir uns hauptsächlich verständigen und tragen insoweit zur sozialen Kohäsion bei.45 Die allermeisten Emotionen haben nach dem hier vorstelligen holistischen Ansatz demgegenüber keinen Namen und sind nicht, wie vor allem jene evolutionär überlebensrelevanten Emotionen, praktisch-motivational dringlich. Wir können sie maßgeblich durch Kunstwerke erfahren. Ästhetische Erfahrungen bieten demnach in interesselosen, nicht von praktischen Motivationen bestimmten Kontexten besondere Zugänge in den weiten und vielfarbigen Raum der Gefühle.46 Die hier vorgestellte, weiträumige Konfiguration unserer emotionalen Möglichkeiten, ihre Multidimensionalität, ist es unter anderem also, die de Sousa die Emotionen nach dem Modell ästhetischen Erfahrens verstehen lässt.47 Ästhetik und Kunst eröffnen die umfassende Vielfalt der Gefühle und bieten Gelegenheit, sie zu erkunden. Die Auffassung, dass Emotionen in der Hauptsache unbenannt und gerade im Zusammenhang damit nach dem Modell ästhetischen Erfahrens zu verstehen sind, entspricht zum einen dem oben angeführten Punkt, wonach zum Ausdruck ästhetischer Urteile nicht schlichtweg solch griffige Prädikate angebracht sind, wie sie z.B. bei Sibley eine zentrale Rolle spielen. Zudem entspricht sie auch Richard Wollheims mit einer Differenzierung Ludwig Wittgensteins vorgenommener Bestimmung der ästhetischen Einstellung wie auch des ästhetischen Ausdrucks als intransitiv.48 Der Bezug auf eine bestimmte ästhetische Einstellung (in which some dimensional leakage is to be expected, and some dimensions, as in string theory, are more tightly wound than others!) yields a large number of theoretically discriminable points, of an order of magnitude somewhere in the range of 1017.« 44 Vgl. ebd., S. 284. 45 Vgl. ebd., S. 116ff. 46 Vgl. ebd., S. 107-119: Emotions in Black-and-White and Color. 47 Vgl. etwa ebd., S. 113ff. Ebd., S. 37: »Thus, while it is useful to recognize a limited number of named emotions for the purposes of social communication and classification, the actual experience of emotion is better modeled by aesthetic experience, and the range of values emotions apprehend is better assimilated to the indefinitely many dimensions in which aesthetic experience can take us.« 48 Vgl. Wollheim (1980), S. 93ff. 110ff.
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oder einen besonderen ästhetischen Ausdruck impliziert demzufolge nicht, dass sich diese Besonderheit sprachlich noch spezifischer fassen ließe. Zum ästhetischen Ausdruck meint Wollheim etwa: »When we say LʼEmbarquement pour l'Île de Cythère or the second section of En Blanc et Noir expresses a particular feeling, and we mean this intransitively, we are misunderstood if we are then asked ›What feeling?‹«49 Kunstwerke sind uns, den hier dargelegten Auffassungen zufolge, in ihren ästhetischen Werten im Grundsatz durch unser Vermögen der Emotionen zugänglich. Fühlend können sich uns Kunstwerke in ihrer ästhetischen Wertigkeit eröffnen. Dabei sind Rezipienten wohl in unterschiedlichen Graden dazu in der Lage, jeweilige ästhetische Valenzen zu erfahren und zu erfassen. Je nachdem, wie die Schlüsselszenarien ausgebildet sind, hat man ein gutes Gespür für die ästhetischen Qualitäten bestimmter Kunstwerke oder sind einem jene verschlossen und fremd. Eine grundsätzlich prägende Fremdheit kann darin gesehen werden, dass der ästhetische Ausdruck von Kunstwerken, auch dann, wenn er einem fühlend zugänglich sein mag, sprachlich nicht einfach in ästhetische Urteilsprädikate zu kleiden ist und anschließend auf diese Weise weiter kommuniziert werden kann. Der Umstand, dass ästhetische Qualitäten dem sprachlichen Kategorisieren weitreichend entzogen sind, bringt mit sich, dass Kunstwerke ästhetisch nicht aus der Ferne, auf der Grundlage sprachlich vermittelter Zeugenschaft Dritter, sondern nur unmittelbar, durch direktes Erfahren einzuschätzen sind. Kunstwerke fordern stets die direkte sinnliche und emotionale Rezeption.50 Allein in Anbetracht der schieren Menge existierender Kunstwerke ist klar, dass die objektiv gegebenen Möglichkeiten zu solchem Erleben praktisch endlos sind. Dies gilt umso mehr, wenn man davon ausgeht, dass jedes einzelne Kunstwerk oder gar jeder verschiedene Moment eines solchen, z.B. eines Musik- oder eines Tanzstückes, eine Emotion »sui generis, or rather sui ipsius«51 ausdrückt. Die theoretische Aussicht auf vielfältiges ästhetisch-emotionales Erfahren erweitert sich dann nochmals, wenn im Sinne des axiologischen Holismus der 49 Wollheim (1980), S. 111f. 50 Dies stellt im Kern eine ästhetische Auffassung von Kunst dar. Vgl. Kant (141996), S. 130: »Ob ein Kleid, ein Haus, eine Blume schön sei: dazu läßt man sich sein Urteil durch keine Gründe beschwatzen. Man will das Objekt seinen eignen Augen unterwerfen.« (A 26, B 26). Vgl. zu Alternativen gegenüber einer ästhetischen Auffassung von Kunst etwa: Davies (2006), S. 35ff. Ein zentraler Aspekt von Konzeptkunst könnte gerade darin bestehen, dass in ihr das Erfordernis zu direktem sinnlichen Erfahren herabgesetzt ist und hier eher andere, mehr kognitive Zugangsweisen zählen. Vgl. dazu Goldie/Schellekens (2010), S. 62ff.: Appreciating Conceptual Art. 51 De Sousa (2011), S. 109.
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Reichtum differenter Emotionen beachtet wird. In dieser Perspektive steht der immensen Vielfalt durch Kunst bereits zum Ausdruck gebrachter Emotionen nämlich ein enormer Bereich ästhetisch noch nicht ausgedrückter, unbenannter Gefühle gegenüber. Rein von unseren psychischen Möglichkeiten zu emotionalem Erleben her betrachtet, ist demnach ein riesiges Reservoir potenzieller Kunstwerke und mithin potenzieller ästhetischer Erfahrungen anzunehmen. Künstlerisches Explorieren kann aus einer solchen Sicht als Zugang zu bislang unerfassten und insoweit fremden Emotionen verstanden werden. Allerdings können die historischen und gegenwärtigen Entwicklungen der Kunst kaum rein als eine Art des Erkundens unserer vielfältigen psychischemotionalen Möglichkeiten begriffen werden, ganz unabhängig von den jeweils gegebenen kulturellen Hintergründen. Wie Wollheim in Art and its objects differenziert erörtert hat, ist Kunst »essentially historical«.52 Demzufolge wird und wurde Kunst zu jeder Epoche unter dem in ihr geltenden Begriff von Kunst produziert und rezipiert.53 Was je als Kunst gilt, ändert sich mit der und durch die Geschichte der Kunst. Zu jeder Zeit wird das, was neu und verfremdend als Kunst hervortritt, vor dem Hintergrund bestehender Traditionen von Kunst erfahren und abgeschätzt.54 Auf die hier vorliegende Perspektive ästhetischer Emotionalität gewendet heißt das, dass ästhetisch-emotionale Entwicklungen nie frei in das riesige Feld unserer psychisch-emotionalen Potenziale hinein erfolgen, sondern durch die Geschichte und die Traditionen der Kunst eine innere Gewichtung haben. Bisher unerfahrene, noch fremde emotionale Dimensionen können Gestalt und Ausdruck in künstlerischen Innovationen bekommen, die historischgebunden, von den Hintergründen je bestehender Kunst ausgehen, jene aufnehmen und erweitern. Insoweit werden noch unerschlossene Emotionen durch künstlerische Verfremdung sinnlich zugänglich und sind emotionale und ästhetische Innovation eins.
52 Wollheim (1980), S. 151. 53 Vgl. ebd., S. 143ff. 54 Hier besteht eine leise Anschlussmöglichkeit an die insbesondere auf Literatur bezogenen Überlegungen zur Verfremdung und zur künstlerischen Evolution der Russischen Formalisten. Vgl. hierzu Striedter (51994). »Wenn Literatur nur durch Verfremdung wirksam wird und wirksam bleibt, müssen die auf diese Weise entstandenen neuen Formen, sobald sie ihrerseits kanonisiert und damit automatisiert worden sind, selbst wieder verfremdet werden. Die Theorie der Verfremdung mündet in eine Theorie der literarischen Evolution als einer ›Tradition des Traditionsbruchs‹.« Ebd., S. XXIV.
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Fremdwerden Zum Nachleben der kulturellen Formen im Zustand der Fremdheit S TEFAN N IKLAS
I. Dass uns manche Dinge nicht einfach fremd sind, sondern dass diese Dinge und besonders die eigenen Vorlieben für dieselben uns auch fremd werden können – diese Erfahrung ist vermutlich jedem aus der eigenen Biografie vertraut. Sie lässt sich gut nachvollziehen, wenn man an die Musik denkt, die man zu Schulzeiten gehört hat oder auch an die modischen Präferenzen, denen man gefolgt ist und die im eigenen Freundeskreis verbreitet waren. Wenn man nun zurückblickt, kann einem beispielsweise die szenekulturell bedeutsame Konstellation von Baggy Pants, Schiebermützen und »Cross Over«-Musik zwischen Rap, Rock, Jazz und Funk durchaus befremdlich vorkommen, mit anderen Worten ist diese ehemals vertraute Konstellation eigener habitueller Geschmacksurteile nicht nur fragwürdig, sondern überhaupt fremd geworden. Doch worin genau besteht der Unterschied zwischen Fremd-sein und Fremdwerden? Genauer gefragt: Wie unterscheiden sich diese beiden Modi der Beziehung zu bestimmten Gegenständen und Kontexten, die allgemein durch das Gefühl der Fremdheit charakterisiert sind? Zunächst einmal ist ›Fremdheit‹ begrifflich auf ›Vertrautheit‹ als ihr definitorisch wirksames Gegenteil bezogen. In diesem Sinn ist uns etwas dann fremd, wenn es uns eben nicht vertraut ist. Derart abstrakt ausgedrückt scheint es sich dabei um eine bloße Tautologie zu handeln (zumindest wenn ›fremd‹ und ›nichtvertraut‹ als identische Begriffe gelten). Da es hier jedoch darum geht, in welcher Weise etwas fremd ist, lässt sich vorläufig die Unterscheidung in Abhän-
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gigkeit davon treffen, ob etwas prinzipiell (kategorial) unvertraut oder aber aktuell (temporal, situativ) nicht vertraut ist. Diese Modi verhalten sich natürlich keineswegs exklusiv zueinander, da alles, was prinzipiell nicht vertraut ist, potenziell vertraut werden kann, sodass sich die zunächst prinzipielle NichtVertrautheit ex-post als eine bloß aktuelle Unvertrautheit herausstellt. Diese begrifflichen Zerlegungen führen allerdings nicht weiter, wenn man sie nicht sogleich auf Modi der Erfahrung selbst bezieht. Damit also aus einem analytischen auch ein »realer« Begriff von Fremdheit wird, muss zu seiner Bestimmung noch hinzukommen, dass Fremdheit als Fremdheit ausreichend intensiv empfunden wird, sodass tatsächlich eine (jeweils singuläre) Erfahrung dieser Fremdheit gemacht wird. Denn etwas, das mir einfach nur nicht vertraut ist, weil ich es mir (noch) nicht praktisch zu eigen gemacht habe, erscheint mir deswegen nicht schon als fremd. Das geschieht erst, wenn die unvertraute Beziehung zu dem entsprechenden Gegenstand auch in irgendeiner Weise für mich relevant und somit zu einem ›Thema‹ wird1 – und sei dies nur an den Rändern des Bewusstseins. Der Terminus ›Erfahrung‹ soll hier und im Folgenden in dem Sinn verstanden werden, der vor allem von John Dewey geprägt wurde.2 Dementsprechend wird mit ›Erfahrung‹ die Bildung einer Einheit im sogenannten Erlebnisstrom bezeichnet, die für diejenigen, die diese Erfahrung machen, durch die spezifische ›Qualität‹ der entsprechenden Situation auch als diese oder jene Erfahrung adressierbar wird: »Das war ein herrlicher Ausflug!« oder »Das war ein ganz furchtbares Konzert!« oder eben »Diese Art von Gesang ist mir ganz fremd!« können als einigermaßen typische Formen der Versprachlichung von solchen aus dem Erlebnisstrom hervortretenden Erfahrungseinheiten gelten. Wenn man die Unterscheidung von Fremdheit in prinzipielle Unvertrautheit und aktuelle Nicht-Vertrautheit nun auf Modi der tatsächlichen Erfahrung von Fremdheit bezieht, so erscheint die prinzipielle Unvertrautheit als das, was man gelegentlich auch die Erfahrung des »ganz Anderen« nennt. Das »ganz Andere« ist also etwas, das sehr weit außerhalb der eigenen Lebenswelt liegt und zu dem man momentan überhaupt keine affektiv verständige Beziehung aufbauen kann. Denn dazu müsste man zumindest ein paar einigermaßen vertraute Aspekte erkennen können, durch die man wenigstens qua bloßer Assoziation dem nahekommen würde, was man gerade als etwas radikal Fremdes erfährt. Von solchen radikalen Fremdheitserfahrungen und dem langsamen sukzessiven Aufbau von Vertrautheit erzählen bekanntlich viele Reiseberichte seit der Frühen Neuzeit. In Erzählungen dieser Art wird bereits der Übergang vom gänzlich Unvertrauten zu 1 2
Zur ›thematischen Relevanz‹ vgl. Schütz/Luckmann (2003), S. 258-272. Vgl. allgemein Dewey (1958) und auch das Kapitel »Having an Experience« in Dewey (1980).
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Zonen der wenigstens partiellen Vertrautheit deutlich; also zu der Erfahrung, dass einem zwar dieses und jenes fremd erscheint, es aber doch grundsätzlich möglich sein könnte, es sich als etwas Vertrautes anzueignen. Diese potenzielle Vertrautheit von etwas (nun nicht mehr prinzipiell, sondern bloß) aktuell Fremden bezieht sich also auf etwas, das im Umgang nur noch nicht vertraut ist. Dieses ›noch nicht‹ weist in die Zukunft, weswegen man hierbei von einer Fremdheit mit prospektivem Vertrautheitspotenzial sprechen kann. Wenn man dieses prospektive Potenzial nun umkehrt, so ist das Thema dieses Aufsatzes erreicht: Es geht um die Fremdheit mit retrospektiver Vertrautheit. Bei dieser Form von Fremdheit ist es nun nicht so, dass sich die für die Fremdheitserfahrung konstitutive Empfindung von Distanz in dem Moment der Konfrontation mit der betreffenden Erscheinung gleichsam spontan einstellen würde. Vielmehr ist hier die Erfahrung von Fremdheit das Ergebnis eines nur im Rückblick erscheinenden zunehmenden Distanzierungsprozesses. Während eine spontane Erfahrung von Fremdheit als Ausdruck von Unverbundenheit mit dem entsprechenden Gegenstand oder Unzugehörigkeit zu dem fraglichen Kontext verstanden werden kann, bedeutet die Erfahrung einer erst im biografischen oder historischen Verlauf entstandenen Fremdheit im Gegenteil den (nur scheinbar paradoxen) Aufweis von Zugehörigkeit. Denn die Erfahrung, dass einem etwas nicht einfach nur fremd ist, sondern fremd geworden ist und somit einmal vertraut war, bedeutet zugleich die mindestens implizite Anerkennung dieses nun fremden Moments als eine intrinsische Komponente des jetzigen Zustands. Mit anderen Worten geht es um die Anerkennung des Fremd-gewordenen als ein Teil von sich selbst. Und das Selbst, zu dem die fremdgewordene Erscheinung gehört, kann die eigene, individuelle Persönlichkeit bezeichnen oder aber einen übergeordneten historisch-kulturellen Zusammenhang. Wenn auch noch einigermaßen abstrakt, so ist damit nun das allgemeine Thema des Fremdwerdens umrissen: Es geht um die Fremdheit von etwas mit retrospektivem Vertrautheitscharakter – und um die damit einhergehende Anerkenntnis dieses Fremdgewordenen als (möglicherweise sogar konstitutiven) Teil der eigenen Geschichte. Diesen Phänomen- und Erfahrungskomplex des Fremdwerdens möchte ich im Folgenden auf den Bereich der Kunst beziehen (wenn auch nicht so sehr auf einzelne Kunstwerke), genauer auf das Beispiel literarischer Klassiker und auf die sogenannte »Alte Musik«. Ich möchte das aber nicht nur tun, um dem Thema »Kunst und Fremderfahrung« gerecht zu werden, sondern auch, weil die Konzentration auf fremdgewordene Kunst aus meiner Sicht die deutlichste Auskunft über das strukturelle Fremdwerden kultureller Formen im Allgemeinen geben kann. Außerdem soll am Umgang mit Kunst exemplarisch die kulturphilosophisch bedeutsame Verklammerung der indivi-
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duell-biografischen und der überindividuell-kulturellen Perspektive auf Fremdgewordenes hervortreten. Dabei lasse ich mich in vielen Punkten von Impulsen Georg Simmels leiten, besonders von seiner Theorie des Begriffs und des Konflikts (oder auch der »Tragödie«) der Kultur. Bevor ich nun auf die kunstbezogenen Beispiele eingehe, möchte ich jedoch noch eine weitere begriffliche Differenzierung vornehmen, die für die Klärung des thematischen Gegenstandsbereichs des Fremdwerdens – verstanden als Fremdheit mit retrospektivem Vertrautheitscharakter – angebracht ist. Das Fremdwerden von etwas (ehemals) Vertrautem ist nämlich etwas ganz anderes als die Erfahrung vertrauter Fremdheit: Mir kann beispielsweise der Klang der türkischen Sprache überaus vertraut sein, während ich buchstäblich kein Wort von dem verstehe, was in dieser Sprache gesagt wird. Türkisch als Sprache bleibt dann für mich bis auf Weiteres eine Fremdsprache, mit deren Klang ich im Umfeld meines Stadtteils jedoch so vertraut bin, dass ich mit ihr sogar meinen heimischen Bezirk (also eine ausgewiesene Zone der Vertrautheit) assoziiere. Hierbei ist jedoch lediglich das Gefühl der (partiellen) Fremdheit vertraut, was im Gegensatz zu einem vertrauten Umgang steht, der mir erst fremd wird. Der Unterschied besteht also darin, dass mir im einen Fall etwas, mit dem mir der Kontakt vertraut ist, ganz äußerlich bleibt, während im anderen Fall etwas intern zu meinem Leben gehört, von dem ich mich nun aber distanziert, das heißt entfremdet sehe. Allerdings kann mir natürlich das Leben in dem Stadtteil im Verlauf meines weiteren Lebens im Ganzen fremd werden – und mit ihm auch die vertraute Fremdsprache als eines Teils dieser Lebensphase.
II. Die Tatsache, dass einem etwas fremd geworden ist, bedeutet trivialerweise, dass es einst vertraut gewesen sein muss. Doch wenn diese triviale Feststellung Erfahrungscharakter bekommt, so bedeutet sie die Anerkenntnis, dass es einen ganzen Fundus von Dingen (und nicht nur Dingen) geben muss, die zu mir gehören, nicht obwohl, sondern gerade weil sie mir fremd geworden sind. Die Erfahrungen des Fremdwerdens können dabei sowohl auf den individuellen (biografischen), wie auch auf den kulturellen (historischen) Betrachtungsrahmen bezogen werden, wie an den folgenden Beispielen erläutert werden soll. Bei sehr produktiven Künstlern wie beispielsweise Picasso oder Miles Davis, die mehrfach die anerkannten Genregrenzen verschoben haben und sich auf diese Weise auch selbst sehr weit von ihren künstlerischen Ausgangspunkten entfernt haben, kann man sich eine gewisse Selbstentfremdung von den eigenen
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Werken zumindest sehr gut vorstellen. Doch auch jenseits (um nicht zu sagen diesseits) von Künstlerbiografien ist die individuelle Begeisterung und intensive Beschäftigung mit einem Künstler, einem bestimmten Werk oder einem entsprechenden Stil biografisch oft so schwankend, dass die intime Vertrautheit in Befremdung umkippen kann. So verwundert es nicht, wenn etwa ein Literaturhistoriker, der einmal ein Buch über einen berühmten Dichter – sagen wir über Georg Büchner – geschrieben und sich dafür völlig in Werk und Biografie dieses Dichters und in den Kontext dessen historischer Zeit versenkt hat, sich Jahrzehnte später mit einigermaßen befremdeter Distanzierung an diese »pubertäre« Phase zurückerinnert.3 Wenn der Literaturhistoriker aufgrund des Erfolgs seines Buchs zudem immer wieder mit Büchner als »seinem Thema« identifiziert wird, so kann er gar nicht umhin, die von außen angenommene Vertrautheit mit dem thematischen Gegenstand als identifikatorisches Merkmal seiner Person anzuerkennen; allerdings steht dies im Kontrast zur verlorenen Selbstidentifikation mit dem Thema, die ab irgendeinem Punkt nur noch im Medium der retrospektiven Reflexion auf die eigene Biografie möglich war. Diesen Fall als einen exemplarischen genommen, lässt sich festhalten, dass je stärker die Vertrautheit mit einer Sache ist, umso deutlicher auch zu bemerken sein wird, wenn die Intensität nachlässt. Mit anderen Worten ist die Wahrscheinlichkeit, dass einem etwas zumindest partiell fremd wird, umso größer, je intimer das Vertrautheitsverhältnis ist oder eben war. Denn so eng der vertraute Gegenstand in den aktuellen Lebenszusammenhang eingebunden ist, so unverbunden muss er dann erscheinen, wenn sich die Bedingungen und Zusammenhänge dieses Lebens in entscheidenden Punkten geändert haben werden. Befinden wir uns bis hierhin immer noch auf der Ebene biografischer Beispiele und entsprechend individueller Fremdheitserfahrungen, so verweist das Beispiel Büchners jedoch bereits auf die überindividuelle, kulturhistorische Ebene der Betrachtung. Denn die Auseinandersetzung mit einer solchen Figur wie Büchner entspricht nicht bloß irgendeiner privaten Obsession, sondern sie gilt einem bereits anerkannten »Klassiker« der deutschsprachigen Literaturgeschichte. »Büchner« ist die Chiffre, die für bestimmte, charakteristische Werke (beispielsweise für das Drama Woyzeck und die Erzählung Lenz) oder für das gesamte überlieferte (und manchmal auch imaginierte) Werk des Autors mit diesem Namen steht, wobei der Gehalt dieses Werkes zu einer geprägten Form und
3
Ich denke hier an den Literaturhistoriker Hans Mayer, der in den 1930er Jahren im Schweizer Exil das Buch Georg Büchner und seine Zeit schreibt, wovon er mehr als vier Jahrzehnte später in seinen Erinnerungen Ein Deutscher auf Widerruf (Mayer 1982) immer wieder mit distanziertem und zugleich erklärendem Gestus berichtet.
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als solche zu einem Teil der objektiven Kultur geworden ist, wie Simmel es ausdrücken würde.4 Die Transformation ehemals lebendiger Künstler und Werke – »lebendig« sowohl im basalen biologischen Verständnis, wie auch im Sinn der regen Auseinandersetzung – in zunehmend entrückte Bestandteile der objektiven Kultur wird für den deutschsprachigen Kontext vielleicht noch deutlicher anhand von Autoren wie Goethe, Schiller oder auch Thomas Mann. Als eine kulturelle Sprachgemeinschaft mit entsprechenden pädagogischen Institutionen »hat« man solche Klassiker eben, man bezieht sich auf sie, verweist auf sie, man vereinnahmt sie zu verschiedenen Zwecken, schmückt sich mit ihnen und muss sie dafür immer wieder als wertvoll propagieren – aber man muss sie deswegen nicht auch unbedingt lesen! Anders gesagt ist das, was Büchner im Lenz, Goethe im Werther oder Thomas Mann im einschüchternd dicken Zauberberg schreibt, nur selten auch subjektive, das heißt individuell angeeignete Kultur geworden. Vielmehr sind diese Texte im Maßstab des vergesellschafteten kulturellen Lebens jeweils zu kulturellen Formen geronnen, deren Bedeutsamkeit als konsequent objektivierte lediglich vorhanden ist und die somit ihren sogenannten Inhalten nach ganz und gar fremd geworden sind. (Dasselbe lässt sich analog auch von anderen Kunstformen sagen, zumindest für meine Generation etwa von Filmklassikern wie High Noon, Die Vögel oder Metropolis, die eher nur noch von echten Film»Nerds« geschaut und genossen werden.) Wenn es nicht so wäre, dass uns diese geronnenen Gehalte fremd geworden wären, bräuchten wir für die Lektüre etwa von Goethes Die Leiden des jungen Werther auch nicht die ganze Sekundärliteratur, die Anweisungen des Schulbuchs und die Kommentare der bemühten Lehrer. Dass wir den Werther überhaupt in der Schule lesen (müssen), ist also zum einen ein deutliches Indiz dafür, dass er uns eigentlich ganz fremd ist, im historischen Maßstab also fremd geworden ist. Zum anderen ist dieser Umstand wiederum ein Indiz dafür, dass der Werther gerade als ein fremd gewordener Teil eines historisch-kulturellen Zusammenhangs zu »uns« gehört, wobei sich in der schulisch verordneten Aneignung zeigt, dass er auch zu uns gehören soll und dafür immer wieder angeeignet werden muss. Dieser spezifische Modus der Fremdheitserfahrung, den man notdürftig als das Fremd-geworden-sein des Werther ansprechen kann, bedeutet eine spezifische Art der Distanz diesem Werk gegenüber, die für die ebenso weitgehend unhinterfragte wie häufig gelangweilte Ehrerbietung notwendig ist.
4
Zum Begriff der aus dem Strom des Lebens geronnenen »Form« und zur Terminologie von subjektiver und objektiver Kultur, vgl. Simmel (1996), (1999) und (1989), S. 617ff.
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III. Sicherlich mag wenigstens einigen von uns – zumindest der ein oder anderen sensibleren Seele – der Werther oder auch der Lenz nach kürzeren Anlaufschwierigkeiten dann doch etwas sagen und uns also »wieder« vertrauter erscheinen. Schwieriger wird diese Aneignung von etwas als ein wieder Vertrautes jedoch, je weiter eine kulturelle Form im historischen »Bestand« der objektiven Kultur herabgesunken ist. Simmel war der Meinung, dass die »Tragödie der Kultur« darin bestünde, dass die ›objektive Kultur‹ sich immer weiter vermehrt, während die ›subjektive Kultur‹ der Individuen (also die Möglichkeiten sich Aspekte der objektiven Kultur anzueignen und durch produktive Leistungen eine Synthese objektiver und subjektiver Kulturgehalte zu erzeugen) dahinter zwangsweise immer weiter zurückbleibt.5 Der Grund für das Auseinandertreten von objektiver und subjektiver Kultur liegt Simmel zufolge darin, dass sich ›das Leben‹ (verstanden als die allgemeine Aktivität produktiver menschlicher Äußerung) immer neue Formen schaffen muss, da es sich nur in solchen Formen stabilisieren und sich selbst begegnen kann. Dadurch kommen immer weitere objektivierte Formen hinzu, die nach einer Weile auch ihrerseits wieder als unzureichend erscheinen und deswegen durch immer neue Formen ersetzt werden, wobei die früheren Formen aber keineswegs verschwinden. Es handelt sich dabei um eine verständlicherweise sehr umstrittene »Diagnose«, gegen die nicht zuletzt Ernst Cassirer opponiert hat.6 Man muss Simmels Einschätzung, dass es sich hierbei tatsächlich um eine »Tragödie« in dem engen Sinn eines aufgrund seiner inneren Logik unausweichlichen Prozesses mit fatalem Ende handeln würde, auch gar nicht teilen. Die Beobachtung aber, dass die objektivierten Kulturgehalte nicht mehr alle in gleicher Weise angeeignet werden können (das heißt weder von einzelnen Individuen, noch von deren Gesamtheit in einer irgendwie ausgewogenen, quasi arbeitsteiligen Distributionsform), und dass der subjektiv-individuelle Anteil an der letztlich unübersehbaren Gesamtheit kulturell-objektiver Möglichkeiten folglich geradezu homöopathisch gering ausfällt, lässt sich wohl kaum noch sinnvoll zurückweisen (zumal auf dem Stand des beginnenden 21. Jahrhunderts). Und doch muss Simmels Beobachtung mit Blick auf den Umgang mit den zumindest scheinbar überkommenen, nicht gänzlich verschwundenen, aber nun-
5
Vgl. den einschlägigen Aufsatz zu »Begriff und Tragödie der Kultur«, Simmel (1996), und die entsprechenden Passagen im 6. Kapitel »Der Stil des Lebens« in der Philosophie des Geldes, Simmel (1989).
6
Vgl. Cassirer (2011).
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mehr fremden kulturellen Formen sicherlich präzisiert werden. Denn die Beziehung zu den fremdgewordenen Formen ist ja erkennbar eine andere als zu solchen, die wir überhaupt nicht mehr bemerken (und die uns somit auch nicht als fremd erscheinen können) und nochmals eine andere Beziehung als zu solchen Formen, die uns zwar prinzipiell vertraut sind, aber gemessen an unseren Erwartungen und Bedürfnissen als nicht (mehr) angemessen erscheinen und somit bestenfalls in einem polemischen Sinn »befremden«. Wir interagieren auf andere Weise mit Gegenständen, die fremdgewordenen Formen entsprechen, denn diese stellen schon aufgrund der Erfahrung ihrer Fremdheit Forderungen an uns, insofern das Fremde als unverstandene Erscheinung eben das Verstehen herausfordert. Vor allem aber zwingt uns die Einsicht, dass die Fremdheit hier das Ergebnis eines historischen Prozesses ist und somit auf eine historisch frühere Vertrautheit verweist, zu der Anerkenntnis, dass hier sehr wohl eine Verbindung zu uns besteht, wie verschüttet auch immer diese Beziehung sein mag. In der Begegnung mit einer fremdgewordenen kulturellen Form wird uns sicherlich in besonderer Weise bewusst, dass die objektive Kultur unsere individuell-subjektiven Möglichkeiten bei weitem übersteigt. Zugleich aber – und dies steht, wenn nicht im Widerspruch, so doch in einem gewissen Kontrast zu Simmels These – wird uns in der Erfahrung einer historisch gewordenen Fremdheit nicht bloß der Abstand, sondern eben auch die unweigerliche, durchaus unverstandene Verbindung zu solchen objektivierten kulturellen Gehalten (etwa in Form fremdgewordener Kunst) bewusst.
IV. Diese Überlegungen müssen nun dringend wieder an einem Beispiel konkretisiert werden. Denn wie schon angedeutet, würden die fremdgewordenen Formen überhaupt keine Relevanz haben, wenn sie uns nicht in konkreten Erscheinungen begegnen und in der Begegnung potenziell zu Erfahrungen würden. Man stelle sich vor, dass man beispielsweise beim Frühstück Radio hört und dabei beabsichtigt oder zufällig einen sogenannten Kulturradiosender eingestellt hat. Und während man gerade eben noch den Nachrichten zugehört hat und nun nicht richtig aufgepasst hat, welche Sendung wohl folgen würde, erklingt plötzlich etwas, das man zwar noch irgendwie in den Bereich europäischer Kunstmusik einordnet, das aber trotzdem nicht viel mit Mozart, Beethoven und den anderen »Klassikern« zu tun hat, irgendwie älter klingt und schließlich vom Kommentar der Moderatorin auch tatsächlich als »Alte Musik« ausgewiesen wird. Ich gehe nun davon aus, dass »Alte Musik« (eine Bezeichnung, die offensichtlich
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nicht ein Genre bezeichnet, sondern generell die Musikstile nach der Antike und in etwa bis zum Barock zusammenfasst) regelmäßig die Erfahrung von Fremdheit auslöst. Davon ausgenommen ist natürlich die Gruppe der Liebhaber solcher Musik, die aber wohl eine verhältnismäßig kleine Gruppe und letztlich eine fetischistische Szenekultur wie jede andere bildet. Die Tatsache, dass es eine solche »Alte Musik«-Szene gibt, unterstreicht also noch, dass der relative Normalfall eben die Nicht-Vertrautheit mit dieser Musik ist, und dass in unvorbereiteter Begegnung eher das Gefühl der Fremdheit vorherrscht. Für das Beispiel der »Alten Musik« ist jedoch entscheidend, dass die von ihr ausgehende Fremdheit oder Befremdlichkeit in der Regel weder erschreckend noch reizvoll wirkt, sondern sich zu großen Teilen aus Langeweile aufgrund der sinnlich-sinnhaften Unverbundenheit mit der gehörten Musik speist: »Das sagt mir nichts, denn es sagt uns halt nichts mehr«. Es wird wohl auch kaum jemand während eines Konzerts mit »Alter Musik« entgeistert aufspringen oder sich nachträglich im Feuilleton dazu genötigt fühlen, den Komponisten postum als einen Verrückten zu bezeichnen. Der Grund dafür ist, dass die sogenannte »Alte Musik« – ganz im Gegensatz zu dem Effekt, den seinerzeit die sogenannte »Neue Musik« auf ihr Publikum hatte – keineswegs in die (hoch-)kulturelle Welt bildungsbürgerlicher Praktiken einbricht und dort wie ein mit dieser Kultur unverbundener Teil Irritation und Unverständnis auslöst. Vielmehr war die »Alte«, sagen wir die spätmittelalterliche Musik schon da, sie bricht nicht in das Gewohnte herein, sondern liegt gewissermaßen im Keller des Kulturerbes herum, von wo sie für ein Konzert oder eine Radiosendung wieder nach oben geholt wird. Diese Metaphorik hat natürlich den Nachteil so zu tun, als ob im »Keller« nichts mit den Werken passierte und sie schlicht konserviert würden – was aber erkennbar nicht der Fall ist, da fremdgewordene Werke eben nur durch erneute Aneignung erscheinen können und durch die Praxis der Aneignung unweigerlich verändert, gewissermaßen weiterkomponiert werden.7 Worauf es hier aber ankommt, ist die Tatsache, dass die Werke der »Alten Musik« als imaginär inventarisierte nicht von außen in den aktuellen Kontext kultureller Praktiken kommen. Zu sagen, dass die »Alte Musik« eben nicht so empfunden wird, als würde sie von außen eindringen, zielt darauf, dass erst gar nicht in Zweifel steht, dass diese Musik ein integraler Bestandteil der historisch-musikalischen Kultur ist, in der sie eben gelegentlich wieder aufgeführt wird. Sie ist mit anderen Worten ein 7
Die These, dass musikalische Werke durch die Praxis ihrer Darbietung unweigerlich weiterkomponiert werden, ohne dadurch zu anderen Werken zu werden, hat Daniel Martin Feige für den Jazz und die europäische Kunstmusik (und dadurch exemplarisch für Musik überhaupt) überzeugend expliziert. Vgl. Feige (2014).
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fremder Teil im anerkannten Kontinuum dieser Kultur (wie auch immer man diese Kultur nun definitorisch weiter eingrenzen will). Die Persistenz von kulturellen Formen im Zustand der Fremdheit kann man in Analogie zu Simmels berühmtem »Exkurs über den Fremden« aus seiner Soziologie8 auch so beschreiben: Während der Fremde (als Typus) derjenige ist, der heute kommt und morgen bleibt, so ist das Fremdgewordene dasjenige, das vorgestern vertraut war, gestern seine Vertrautheit verloren hat und heute immer noch da ist. Um diesen Gedanken an der Gegenüberstellung von »Neuer« und »Alter Musik« noch einmal (wenn auch einigermaßen verkürzt und dabei eine subjektive Erfahrung notgedrungen verallgemeinernd) zu verdeutlichen: »Neue Musik« wirkt (bis heute) so fremd, weil sie irritiert; »Alte Musik« wirkt hingegen fremd, weil sie altmodisch und letztlich historisch überholt ist. Beides kann durchaus als unzeitgemäße Musik verstanden werden. Doch während die »Neue Musik« der bildungsbürgerlichen Kultur ihr Anderes zeigt, führt die »Alte Musik« lediglich ihr Früheres vor. Für eine Perspektive, die sich an der Kulturphilosophie Simmels orientiert, ist zusammenfassend nun folgendes entscheidend: Die beschriebene Verwandlung von angeeigneten, intellektuell und praktisch vertrauten Formen der Kultur in fremdgewordene (Simmel würde vermutlich sagen: entfremdete) und allgemeiner noch die Transformation lebendiger Ausdrucksweisen in geronnene Formen, die als solche irgendwie weiter vorhanden sind und auch als ein Teil der Vergangenheit der aktuellen, eigenen kulturellen Situation anerkannt werden – dieser Prozess also ist schlicht ein Strukturmerkmal der modernen Kultur, die nicht alles behalten und doch kaum etwas vergessen kann. Das Fremdwerden vertrauter kultureller Gehalte und Formen gehört also wesentlich zum Begriff der (modernen) Kultur überhaupt. Das bedeutet auch, dass die Kontinuität von Kultur im Allgemeinen wie auch die Kontinuität einer bestimmten Kultur nicht nur über die vertrauten Gehalte und selbstverständlichen Praktiken hergestellt werden, sondern gerade auch über die fremd gewordenen Erscheinungen. Bisher habe ich immer nur betont, dass die Feststellung, dass einem etwas fremd geworden sei, immer zugleich die Anerkennung der prinzipiellen Kontinuität bedeutet, die über alle historischen Brüche hinweg von der fremd gewordenen Sache auf verschlungenen Wegen immer zu »uns«, das heißt zu einem selbst führt. Darüber hinaus bedeutet die explizite Erfahrung des Fremdgewordenen aber auch die mindestens implizite Anerkennung und Einsicht, dass auch die aktuell vertrauten Formen und Gehalte, die selbstverständliche symbolische Infrastruktur unseres Hier und Jetzt, selbst fremd werden können und mit größter Wahrscheinlichkeit auch zukünftig einmal fremd geworden sein werden. Außer8
Simmel (1992), S. 764-771.
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dem folgt aus der These von der Kontinuität des Fremdgewordenen auch, dass nur etwas, das bereits ausreichend fremd geworden ist und somit zu einer gewissen Kuriosität in Halbdistanz geworden ist, überhaupt die Chance auf erneute intensive Aneignung hat und so zum Gegenstand einer produktiv aktualisierenden Renaissance werden kann. Ebendies zeigt sich erneut an der »Alten Musik«, die ja nicht gänzlich vergessen, sondern nur weitgehend unverstanden ist und durch die Bemühungen um historische Aufführungspraxis und die Förderung öffentlich-rechtlicher Kultursender und anderer Institutionen nun wiederbelebt werden soll. Wenn ich zuvor die spontane Reaktion auf diese Musik mit Langeweile umschrieben habe, so muss das Urteil ja nicht bei solch müder Abwehr stehen bleiben, sondern kann mit nur etwas Geduld auch das im affirmativen Sinn Kuriose darin entdecken und sich so herausgefordert fühlen, den fremden Klängen eine Chance zu geben. Die wirkliche Aneignung erfordert zwar wiederum Anstrengungen, die vermutlich nur in den angesprochenen Kreisen oder unter ohnehin offenherzigen Berufsmusikern und Musikwissenschaftlern zu finden sein werden, aber die Voraussetzung dafür ist eben, dass man sich von der Sache hat befremden lassen und dabei nun nicht stehen bleiben will. Das Nachleben der kulturellen Form der »Alten Musik« wird also erst ermöglicht durch den Zustand der Fremdheit, in dem sie sich aktuell befindet. Dieser »Zustand« besteht natürlich wesentlich im Gefühl von Fremdheit, einem Gefühl, das im historisch-kulturellen Maßstab aber kurz gesagt aufgrund des verfügbaren Wissens überindividuell geteilt wird.
V. Ich möchte noch einmal kurz auf das Beispiel des Literaturhistorikers zurückkommen, dem »sein« Büchner als Identifikationsfigur und als Thema im Laufe seines Lebens fremd geworden ist. Es handelte sich dabei um ein Beispiel, das zunächst im Kontext einer individuellen Biografie steht, das ich aber sogleich zum Anlass genommen habe, um von der individuell-biografischen zur kulturellhistorischen Betrachtungsebene zu wechseln. Ich habe das sogar ohne größere Erläuterungen getan und damit schlicht behauptet, dass die Erfahrung des Fremdwerdens nicht nur gleichermaßen, sondern im Prinzip auch auf gleiche Weise auf beiden Ebenen wirksam ist. Allerdings ist der unbekümmerte Wechsel von der individuellen zur überindividuellen Ebene stets mit methodischen Schwierigkeiten belastet und erfordert weitergehende Begründung. Im konkreten Fall besteht das zentrale Problem darin, dass die Beschreibung der biografischen Erfahrung des Fremdwerdens implizit auch als Modell für das Fremdwerden von
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vormals Vertrautem im historisch-kulturellen Maßstab verwendet wird. Doch umgekehrt soll das Fremdwerden als historisch-kultureller Prozess nun seinerseits die Bedingungen der entsprechenden individuellen Erfahrung erklären. Zumindest auf den ersten Blick scheint es sich bei dieser theoretischen Konstruktion um nichts anderes als einen Zirkelschluss zu handeln. Ein Zirkelschluss ist aber grundsätzlich methodisch nicht zulässig, weswegen der Verdacht, dass es sich um eine zirkuläre Erklärung handle, entkräftet werden muss, indem gezeigt wird, dass dies nur scheinbar der Fall ist. Hierzu will ich erneut auf einen Ausdruck von Simmel zurückgreifen, der mit Recht als entscheidender Grundbegriff seiner Soziologie aufgefasst wird, nämlich den Begriff der ›Wechselwirkung‹. Ich sage jedoch bewusst, dass ich nur den »Ausdruck« von Simmel aufgreifen will, weil es mir hier nicht so sehr um den spezifisch soziologischen Begriff von ›Wechselwirkung‹ geht, der auf die gesellschaftskonstitutive »Summe« der Beziehungen von Individuen, Gruppen und Institutionen untereinander und zueinander zielt.9 Vielmehr ist es die logische Struktur dieses Begriffs, auf die ich Bezug nehmen will, um zu zeigen, dass auch die biografische und historische Zeit des Fremdwerdens in wechselseitigen Wirkungsverhältnissen zueinander stehen. Ich glaube im Übrigen nicht, dass ich damit den Zusammenhang von Simmels Begriffsarbeit (die aufgrund von Simmels Tendenz, seine Referenzen und Gegner zu verschweigen10, stellenweise etwas undeutlich wirkt) wirklich verlasse, sondern lediglich in Bezug auf mein Problem akzentuiere. Kurz gesagt geht es bei Simmels Begriff der ›Wechselwirkung‹ darum, dass die Individuen zu ihrer ›Vergesellschaftung‹ und zu den objektivierten kulturellen Formen, die die sinnhaften Gehalte und überhaupt die sinnhafte Infrastruktur menschlichen Lebens bilden, immerzu in Wechselbeziehung stehen und deswegen auch nur in Wechselwirkung dazu erklärt werden können. Eine solche Perspektive ist darum bemüht, explanatorische Reduktionen zu vermeiden, die jeweils nur auf einen Pol innerhalb der Begriffspaare von Individuum und Gesellschaft oder von Subjekt (›subjektive Kultur‹) und Kultur (›objektive Kultur‹) setzen. Eine antireduktionistische Ausrichtung dieser Art wäre mit dem scheinbar naheliegenden Label »Relativismus« aber sehr schlecht bezeichnet, vielmehr handelt es sich – und zwar in Analogie zum klassischen amerikanischen Pragma9
Vgl. zur Profilierung des Begriffs der Wechselwirkung Simmel (1989b), S. 129ff. Zur Einsatzstelle dieses Begriffs in der Soziologie vgl. dort etwa das erste Kapitel »Das Problem der Soziologie«, Simmel (1992), S. 13-62. Vgl. auch Köhnke (1996), bes. S. 387.
10 Klaus Christian Köhnkes umfassende Studie über den jungen Simmel kann allerdings eine Vielzahl dieser ungenannten Bezüge Simmels nachweisen, vgl. Köhnke (1996).
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tismus, mit dem Simmels Philosophie diesen entscheidenden Zug (vermutlich unwissentlich11) teilt – hierbei um eine relationalistische Position.12 Eine solche Position bewertet eben die Beziehungen zwischen Elementen als die vorgängige und letztlich erklärende Größe und nicht die Elemente als solche. Dieser methodische Vorrang der Beziehung bedeutet, dass nicht die Subjekte und Objekte als konstitutive Momente angenommen werden, zwischen denen die (in der Regel vom Subjekt ausgehende) Beziehung besteht, vielmehr bezeichnet die Beziehung den Prozess einer Auseinandersetzung, die überhaupt erst die dynamischen Pole von Subjekten und Objekten dieser Beziehung hervorbringt. Ohne den Vorrang der wechselseitigen Beziehung wäre gar nicht verständlich, wer oder was hier Objekt für ein Subjekt ist und umgekehrt. Entsprechend ist auch ein Individuum, was es »ist«, nur in Beziehung zur Gesellschaft – nämlich ein Teil von etwas »Größerem« und zudem dieses spezielle Individuum. Und die Gesellschaft ist ihrerseits, was sie »ist«, nur in Beziehung zu den Individuen, aus deren Aktivität sie gewissermaßen entsteht ‒ und sie besteht auch nur in dieser Aktivität fort. Dasselbe gilt für Gruppen als der mittleren und vermittelnden Größe, die ebenfalls in Wechselbeziehung zu den beiden Polen von Individuum und Gesellschaft stehen. Der Rekurs auf Wechselwirkung ist somit aus prinzipiellen Gründen gerade kein logischer Zirkel, zumindest nicht in jenem schlechten Sinn, den es zu vermeiden gilt. Denn der Vorwurf der Zirkularität zielt auf die Diskreditierung von Erklärungen, die fälschlicherweise auf das schließen, was sie ohnehin vorausgesetzt haben. Etwas karikierend dargestellt, wäre das etwa dann der Fall, wenn man die Frage nach der »Größe« von Goethes Dichtung letztlich dadurch zu erklären versuchte, dass er ein »großer« Dichter war (während seine Größe als Dichter in der Größe seiner Dichtung bereits vorausgesetzt war). Das Problem des Zirkelschlusses kann nur entstehen, wenn man eine einfache, unidirektionale Relation von ›Explanans‹ und ›Explanandum‹ annimmt und diese versehentlich (oder aus strategischen Gründen sogar absichtlich) miteinander verwechselt. Wie verhält sich das nun bei der Übertragung der biografischen auf die historische Ebene? 11 Gegen eine bewusste Übereinstimmung Simmels mit pragmatistischen Positionen spricht seine (durchaus unqualifizierte) Polemik gegen die Philosophie, die unter diesem Namen firmierte, in seinem Vortrag »Der Konflikt der modernen Kultur«, Simmel (1999), S. 196ff. 12 Auch Köhnke charakterisiert Simmels Position als ›Relationalismus‹, vgl. Köhnke (1996), S. 480. Den Vergleich zum amerikanischen Pragmatismus, der gerade in der aktuellen Diskussion als relationalistisch charakterisiert wird, zieht Köhnke jedoch nicht.
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Wenn man die biografische Erfahrung des Fremdwerdens von vormals Vertrautem als das Modell deklariert, mit dem man auch den übergreifend kulturellhistorischen Typus dieser Erfahrung erklären wollte, dann würde man zunächst einmal eine bloße Analogie festhalten, die möglicherweise aufschlussreich ist. Diese Analogie würde aber dann zu einem Zirkelschluss, wenn man schließlich die Bedingungen der biografischen Erfahrung des Fremdwerdens durch das Modell des kulturellen Fremdwerdens erklären würde, das ja seinerseits erst aus dem Modell des biografischen Fremdwerdens gewonnen wurde. Die Perspektive, die sich aus dem Begriff der ›Wechselwirkung‹ ergibt, vermeidet den unzulässigen Zirkel jedoch, indem sie sich gar nicht erst auf den Standpunkt der einen Seite stellt, um daraus die andere zu erklären. Sie begibt sich vielmehr in die Mitte zwischen die Pole der wechselweisen Konstitution und Formung der zu erklärenden Vorgänge, die bezogen auf das Fremdwerden als die unterschiedlichen »Aggregatzustände« (biografisch-individuell / historisch-kulturell) der Erfahrung fremd gewordener Gehalte erkannt wurden. Zwar muss auch hier die Beziehung zwischen der biografischen und der historischen Erfahrung zunächst qua Analogiebildung aufgezeigt werden, doch bleibt die Perspektive der Wechselwirkung eben nicht dabei stehen, sondern bemüht sich gerade um die Begründung dieser Analogie in der wirklichen Beziehung der wechselseitigen Bedingtheit von kulturellen Formen und individueller Formung bzw. Realisierung. Es handelt sich dann mit anderen Worten nicht bloß um eine formale, sondern um eine materiale Analogie: Da sich die Erscheinungsweisen tatsächlich wechselseitig erzeugen, muss ihre Erklärung auf Wechselwirkung lauten. Diese theoretische Perspektive bleibt zudem systematisch fallibel (was bei Zirkelschlüssen ja gerade nicht der Fall ist), insofern sich die Annahme bestimmter Wechselwirkungen auch als empirisch falsch herausstellen kann. Die Empfindung eines Individuums, dass ihm im Verlauf seines Lebens etwas bestimmtes fremd geworden ist, korrespondiert folglich in einem strengen Sinn mit dem historischen Prozess der Kultur, immer neue Formen hervorzubringen, ohne die alten dadurch im gleichen Maße zu verlieren. Und dieser für den Kulturprozess konstitutive Vorgang ist seinerseits fundiert und wird realisiert durch die jeweiligen Vertrautheits- bzw. Fremdheitsbeziehungen, die die Individuen zu kulturellen Hervorbringungen unterhalten, etwa zu den Erscheinungsweisen der Kunst.
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VI. Abschließend noch eine Bemerkung zur umständlichen Terminologie: Ich habe durchgängig vom ›Fremdwerden‹ gesprochen, was zugegebenermaßen ein reichlich gestelztes Kunstwort im Vergleich zum näherliegenden Ausdruck der ›Entfremdung‹ darstellt. Die Entscheidung für das Kunstwort ist jedoch nicht dadurch motiviert, den Terminus der Entfremdung zu ersetzen. Im Gegenteil soll dieser als der generische Terminus behalten werden, von dem sich aber das Fremdwerden als besonderer Modus von Entfremdung unterscheiden lässt: Jedes Phänomen des Fremdwerdens ist auch eines der Entfremdung, aber nicht jeder Entfremdungsprozess stellt auch ein Fremdwerden im hier beschriebenen Sinn dar. Allerdings geht es nicht nur um die terminologische Unterordnung, da der (provisorische) Begriff des Fremdwerdens sich nicht darin erschöpft, ein Spezialfall der übergeordneten Klasse der ›Entfremdung‹ zu sein, sondern durch den Bezug auf die Erfahrung verschütteter Vertrautheit auch partiell über diesen Begriff hinausgeht. Der sozialphilosophische Begriff der Entfremdung bezeichnet letztlich alle historischen Prozesse, deren Ergebnis ein existenzieller Abstand der Individuen und Gruppen zu kulturellen Erzeugnissen ist. Das paradigmatische Beispiel und der historische Modus und Motor solcher Prozesse ist die gesellschaftliche Differenzierung durch Arbeitsteilung (wie sich bei Marx, Weber, Simmel und anderen nachlesen lässt). Doch gesellschaftliche Entfremdung in einer arbeitsteiligen Gesellschaft wird von den in solchen Gesellschaften lebenden Individuen für gewöhnlich ganz einfach vorgefunden und referiert nicht notwendigerweise auf die Erfahrung, dass etwas fremd geworden ist und also vormals vertraut war. Mehr oder weniger marxistisch gesprochen ist Entfremdung zunächst nur ein abstrakter Zustand, in dem sich eine gesellschaftliche Klasse befindet und dessen sich die »Klasse« erst bewusst werden muss (wodurch sie sich auch ihrer selbst bewusst wird). Hier geht es also nicht um die Anerkennung einer Zugehörigkeit des Fremden zum eigenen Selbst, sondern um die Ansprüche auf das Fremdgemachte, das unter den gegebenen Bedingungen nie vertraut werden konnte. Neben diesem Unterschied in der spezifischen Extension der Begriffe (den ich hier nur andeuten konnte) möchte ich mit derjenigen Art von Entfremdung, die ich das Fremdwerden nenne, zudem einen etwas anderen Akzent bezüglich der Bewertung solcher Prozesse setzen. Denn es muss sich nicht unbedingt um einen »tragischen« Prozess von Entfremdung im Sinne Simmels handeln, wenn etwas ehemals Vertrautes zu etwas Fremden wird. Vielmehr bedeutet das Fremdwerden auch die Voraussetzung für eine lebendige Wiederaneignung, und zwar sowohl in temporaler als auch in logischer Hinsicht. Nach diesem Ver-
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ständnis handelt es sich um eine produktive Form von Entfremdung, die individuelle wie kulturelle Selbstreflexion auf die früheren Momente ermöglicht, die als eigene, zu einem selbst gehörige (an-)erkannt werden. In der nun entstandenen Distanz durch Unvertrautheit können also neue Perspektiven auf die ein oder andere alte Sache entstehen. Manche Kunstwerke werden überhaupt erst dadurch interessant oder sogar zu einem gefeierten Kulturgut, wenn die historische Patina ihnen eine gewisse fremde Anmutung verleiht und es ist gerade das Unverstandene, im Sinn des nicht mehr Verstandenen, das diese Funktion haben kann. Es muss auch gar keine explizite, diskursive Reflexion stattfinden, damit es zu produktiven Effekten in der Rezeption von fremdgewordenen kulturellen Formen und speziell Kunstwerken kommt. Doch obwohl es wichtig ist, den produktiven Zug des Fremdwerdens herauszustellen, darf dieser Aspekt natürlich auch nicht überbewertet werden. Denn nicht alles, was fremd geworden ist, ist dadurch auch (wieder) interessant oder nur irgendwie exotisch – oft wird es eben in seiner Unverstandenheit einfach nur obsolet.
L ITERATUR Cassirer, Ernst (2011): »Die ›Tragödie der Kultur‹«, in: Ders.: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien [1942], Hamburg: Meiner, S. 108-132 (ECW 24: 462-486). Dewey, John (1980): Art as Experience, New York: Perigee Books [zuerst 1934]. Ders. (1958): Experience and Nature, New York: Dover [nach der 2. Auflage von 1929]. Feige, Daniel Martin (2014): Philosophie des Jazz, Berlin: Suhrkamp. Köhnke, Klaus Christian (1996): Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Mayer, Hans (1982): Ein Deutscher auf Widerruf, 2 Bände, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas (2003): Strukturen der Lebenswelt, Konstanz: UVK. Simmel, Georg (1989a): Philosophie des Geldes, Georg Simmel Gesamtausgabe [GSG] Bd. 6, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ders. (1989b): Über sociale Differenzierung, in: GSG Bd. 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ders. (1992): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, GSG Bd. 11, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Ders. (1996): »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«, in: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, in: GSG Bd. 14, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 385-416. Ders. (1999): Der Konflikt der modernen Kultur. Ein Vortrag, in: GSG Bd. 16, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 181-207.
Autorinnen und Autoren
Bube, Agnes, geb. 1975, studierte Kunst und Germanistik (Lehramt) in Hannover, danach Promotionsstudium, ab 2002 Lehre in wahrnehmungsorientierter Kunstwissenschaft und Kunstvermittlung, seit 2007 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gestaltungspraxis und Kunstwissenschaft (IGK) an der Philosophischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover. Letzte Veröffentlichung: Imdahls Ikonik und ihre zeitgenössische Relevanz – Perspektiven wahrnehmungsorientierter Kunstwissenschaft und Kunstvermittlung (Kongress-Akten der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik, Band 3, 2015). Feige, Daniel Martin, studierte zunächst Jazzklavier, dann Philosophie, Germanistik und Psychologie an den Universitäten Gießen und Frankfurt am Main. 2009 Promotion in Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von 2009-2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB 626, Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Seit 2015 Juniorprofessor für Philosophie und Ästhetik unter besonderer Berücksichtigung des Designs an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Monografien: Kunst als Selbstverständigung (Münster 2012), Philosophie des Jazz (Berlin 2014), Computerspiele. Eine Ästhetik (Berlin 2015). Fitzner, Werner, Studium Kunstgeschichte, Philosophie und Germanistik in Greifswald. 2008 Magisterabschluss mit einer Arbeit im Fachbereich Germanistik/Neuere deutsche Literatur zum Avantgardefilm Jonas von Ottomar Domnick. 2014 Promotion in Philosophie zu einer phänomenologischen Ästhetik nach Edmund Husserl (Wertendes Erleben. Ästhetik aus der Perspektive von Edmund Husserls Phänomenologie). Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Greifswald, im Bereich Ästhetik und Kulturphilosophie. Habilitationsprojekt: Eine philosophische Betrachtung zum Verhältnis von Tod und Gemeinschaft seit der Moderne.
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Grabes, Herbert, Prof. Dr. Dr. h.c. (mult.), (1936-2015), Studium Philosophie, Englisch und Deutsch an der Universität Köln; 1962 Promotion in Philosophie; 1969 Habilitation in Englischer Philologie. 1970-2004 Professor für Englische und Amerikanische Literatur an der Universität Gießen. Monografien (Auswahl): Speculum, Mirror und Looking-Glass. Kontinuität und Originalität der Spiegelmetapher in den Buchtiteln des Mittelalters und der englischen Literatur des 13.-17. Jahrhunderts (Tübingen 1973), Das amerikanische Drama des 20. Jahrhunderts (Stuttgart 1998), Einführung in die Literatur und Kunst der Moderne und Postmoderne. Die Ästhetik des Fremden (Tübingen 2004). Hogh, Philip, Jg. 1979, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Forschungsschwerpunkte liegen in der Sozial- und Moralphilosophie vor allem der kritischen Theorie, der kontinentalen und (post)analytischen Sprachphilosophie und der Gegenwartsästhetik. Wichtigste Veröffentlichungen: Kommunikation und Ausdruck. Sprachphilosophie nach Adorno, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2015; Sprache und Kritische Theorie (hrsg. mit Stefan Deines), Frankfurt am Main und New York: Campus 2016. Mersmann, Jasmin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Habilitationsprojekt über die Formung von Lebewesen in der Frühen Neuzeit. Postdoc-Fellowships am IKKM Weimar und am IFK Wien mit einem Projekt zur Geschichte des Teufelspakts. 2012 Dissertation: Lodovico Cigoli. Formen der Wahrheit um 1600 an der HU Berlin. Promotionsstipendien der Gerda-Henkel- und der Andrea-von-BraunStiftung. Magister an der HU Berlin. Maîtrise an der Université PanthéonSorbonne Paris I. Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Neueren/Neuesten Geschichte in Freiburg, Paris und Berlin. Neuber, Simone, studierte Philosophie und Neuere Englische Literatur in Tübingen. 2011 Promotion (Scheinbeziehungen. Von Scheingefühlen und anderen Scheinproblemen der analytischen Ästhetik, Münster 2013). Sie ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie des Geistes, Phänomenologie (insbesondere Heidegger und Sartre), Ästhetik. Niklas, Stefan, (geb. 1983), ist derzeit Visiting Scholar an der Ruskin School of Art, University of Oxford. Er studierte Kulturwissenschaften und Philosophie an der Universität Leipzig, promovierte an der Universität zu Köln im Fach Philo-
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sophie mit einer Arbeit über mobiles Musikhören als ästhetische Erfahrung (Die Kopfhörerin, Paderborn: Fink 2014) und war von 2013 bis 2016 an der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne Postdoc in der Nachwuchsforschergruppe »Transformations of Life«. Seine Arbeitsschwerpunkte betreffen neben Ästhetik vor allem Kulturphilosophie und Wissenschaftstheorie (der Kulturforschung) sowie die Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert. Poljanšek, Tom, studierte Philosophie und Germanistik in Tübingen. Er promoviert seit 2013 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Stuttgart. Arbeitsschwerpunkte: Sozialphilosophie, Phänomenologie, Technikphilosophie, Ästhetik. Publikationen (Auswahl): Sinn und Erwartung. Über den Unterschied von Sinngegenständlichkeit und Referenzialität, in: ZphF 69 (4/2015), 502-524. Genauigkeit und Seele. Kritik des philosophischen Erkenntnisanspruchs nach Musil und Valéry, in: Hüsch, Singh (Hrsg.): Literatur als philosophisches Erkenntnismodell, Tübingen 2016 (im Druck). Die Vorstrukturierung des Möglichen. Latenz und Technisierung, in: Jahrbuch Technikphilosophie 2017 (im Erscheinen). Rainsborough, Marita, studierte Germanistik, Lusitanistik und Philosophie an der Universität Hamburg und Bildende Kunst an der Kunsthochschule Hamburg. Sie habilitiert an der Universität Hamburg und ist Dozentin für Romanische Literaturwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Die Publikation ihrer Dissertation trägt den Titel: Die Konstitution des Subjekts in den Romanen von Rachel de Queiroz. Eine diskursanalytische Untersuchung (Frankfurt am Main 2014). Außerdem hat sie Aufsätze zum Kosmopolitismus, zu Foucault und zur Emotionalität in Literatur und Film veröffentlicht. Romanacci, Nicolas Constantin, promoviert zum Thema Medien der Erkenntnis – Experimentalsysteme in Wissenschaft und Kunst an der Eberhard Karls Universität Tübingen bei Prof. Klaus Sachs-Hombach. Leitung der Reihe Philosophie und Kunst im H2 – Zentrum für Gegenwartskunst, Augsburg. Philosophiestudium an der LMU München; Schreinerlehre; Studium Gestaltung an der Akademie für Gestaltung im Handwerk, München; an der Fakultät für Gestaltung in Augsburg und an der I.S.I.A. Urbino, Italien. 2010 Master of Arts in Bildwissenschaft, Donau-Universität Krems. Seit 2010 Lehraufträge in freie Gestaltung, Medientheorie u.a., Hochschule Augsburg, Fakultät für Gestaltung; Freischaffender Künstler.
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Schmalzried, Lisa, (geb. 1984), studierte Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie an der LMU München und an der University of St. Andrews. 2012 wurde sie an der LMU München promoviert. Seit 2011 arbeitet sie als (Ober-)Assistentin am Philosophischen Seminar der Universität Luzern und arbeitet an ihrer Habilitation zum Thema »Menschliche Schönheit«. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Ästhetik und Ethik. Bücher: Dieter Frey & Lisa Schmalzried, Philosophie der Führung (Heidelberg: Springer 2013); Lisa Schmalzried, Kunst, Fiktion und Moral (Münster: mentis 2014).
Image Annette Jael Lehmann Environments: Künste – Medien – Umwelt Facetten der künstlerischen Auseinandersetzung mit Landschaft und Natur Mai 2018, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1633-0
Sabiene Autsch, Sara Hornäk (Hg.) Material und künstlerisches Handeln Positionen und Perspektiven in der Gegenwartskunst Februar 2017, ca. 240 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3417-4
Astrit Schmidt-Burkhardt Die Kunst der Diagrammatik Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas November 2016, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3631-4
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Image Leonhard Emmerling, Ines Kleesattel (Hg.) Politik der Kunst Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken Oktober 2016, ca. 240 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3452-5
Goda Plaum Bildnerisches Denken Eine Theorie der Bilderfahrung Juli 2016, 328 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3331-3
Lilian Haberer, Annette Urban (Hg.) Bildprojektionen Filmisch-fotografische Dispositive in Kunst und Architektur Juni 2016, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1711-5
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Image Henry Keazor, Christiane Solte-Gresser (Hg.) In Bildern erzählen Frans Masereel im intermedialen Kontext
Anna Grebe Fotografische Normalisierung Zur sozio-medialen Konstruktion von Behinderung am Beispiel des Fotoarchivs der Stiftung Liebenau
Juli 2017, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2821-0
September 2016, 262 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3494-5
Julia Bulk Neue Orte der Utopie Zur Produktion von Möglichkeitsräumen bei zeitgenössischen Künstlergruppen
Birgit Wudtke Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung Künstlerische Strategien in der digitalen und postdigitalen Phase
März 2017, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-1613-2
September 2016, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3280-4
Judith Bihr Muster der Ambivalenz Subversive Praktiken in der ägyptischen Kunst der Gegenwart
Franziska Koch Die »chinesische Avantgarde« und das Dispositiv der Ausstellung Konstruktionen chinesischer Gegenwartskunst im Spannungsfeld der Globalisierung
Januar 2017, ca. 360 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3555-3
Susi K. Frank, Sabine Hänsgen (Hg.) Bildformeln Visuelle Erinnerungskulturen in Osteuropa Dezember 2016, ca. 350 Seiten, kart., ca. 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2717-6
Johanna Gundula Eder Homo Creans Kreativität und Kreativitätsbildung im Kontext transmedialer Kunst November 2016, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3634-5
August 2016, 746 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2617-9
Jesús Muñoz Morcillo Elektronik als Schöpfungswerkzeug Die Kunsttechniken des Stephan von Huene (1932-2000) August 2016, 376 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3626-0
Sabine Flach Die WissensKünste der Avantgarden Kunst, Wahrnehmungswissenschaft und Medien 1915-1930 Juni 2016, 354 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3564-5
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Erhard Schüttpelz, Martin Zillinger (Hg.)
Begeisterung und Blasphemie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2015 Dezember 2015, 304 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3162-3 E-Book: 14,99 €, ISBN 978-3-8394-3162-7 Begeisterung und Verdammung, Zivilisierung und Verwilderung liegen nah beieinander. In Heft 2/2015 der ZfK schildern die Beiträger_innen ihre Erlebnisse mit erregenden Zuständen und verletzenden Ereignissen. Die Kultivierung von »anderen Zuständen« der Trance bei Kölner Karnevalisten und italienischen Neo-Faschisten sowie begeisternde Erfahrungen im madagassischen Heavy Metal werden ebenso untersucht wie die Begegnung mit Fremdem in religiösen Feiern, im globalen Kunstbetrieb und bei kolonialen Expeditionen. Der Debattenteil widmet sich der Frage, wie wir in Europa mit Blasphemie-Vorwürfen umgehen – und diskutiert hierfür die Arbeit der französischen Ethnologin Jeanne Favret-Saada. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 18 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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