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German Pages [271] Year 2011
Kunst & Leben
Studien zur Kunst 23
Isabel Wünsche
Kunst & Leben Michail Matjuschin und die Russische Avantgarde in St. Petersburg
2012 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Michail Matjuschin, Malerisch-musikalische Konstruktion, 1918, Öl auf Holz; 51 x 63 cm; Sammlung George Costakis, Staatliches Museum für zeitgenössische Kunst Thessaloniki, Inv.-Nr. 155.78 © 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český Těšín Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-20730-4
Inhaltsverzeichnis Vorwort .......................................................................................................... I.
Organische Anschauungen in der St. Petersburger Avantgarde . ............................................................................................. Anti-urbanistische Tendenzen in der russischen Moderne ........................... Organisch-ganzheitliche Weltbilder in der St. Petersburger Avantgarde ....... Der Evolutionsgedanke in der Kunst . ......................................................... Die Kunst als Medium zur Entwicklung von kosmischem Bewusstsein ....... Schöpferische Intuition: Die Wahrnehmung der Welt als organisches Ganzes . .................................................................................... Faktura: Der lebendige Stoff der Natur .......................................................
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II. Michail Matjuschin und die Organische Kultur in der St. Petersburger Avantgarde . .............................................................. 60 1. Michail Matjuschins künstlerischer Werdegang . .................................... 64 Das Studio von Jan Ciągliński . .............................................................. 65 Nikolai Kulbin und sein Kreis der Impressionisten ................................ 76 Jelena Guro und Michail Matjuschin ..................................................... 89 2. Die Herausbildung von Michail Matjuschins organischem Weltverständnis ..................................................................................... 106 Die universelle Bewegung der Natur in den Wurzelskulpturen ............... 110 Die Erfahrung des unendlichen Raumes in der Natur ............................ 116 Die Idee einer neuen Dimension des Raumes im Kubo-Futurismus ....... 122 Die Auseinandersetzung mit dem Kubismus in den Kristallbildern ........ 131 3. Neue künstlerische Wahrnehmungsweisen der Welt ............................... 140 Die Evolution von Kunst und Leben . .................................................... 141 Räumlicher Realismus und Erweitertes Sehen ........................................ 145 SORWED und Organische Kultur ........................................................ 155 Synästhetische Erfahrungen in der neuen Kunst .................................... 164 4. Organische Kultur zur Gestaltung einer neuen Lebenswirklichkeit ....... 174 Die wissenschaftlich-experimentelle Forschungsarbeit der Abteilung für . Organische Kultur am GINKhUK . ....................................................... 175 Michail Matjuschins pädagogisch-praktische Tätigkeit an der Petrograder Kunstakademie . .................................................................. 187 Die Kultur der organischen Farbgestaltung ............................................ 194 Das Handbuch der Farbe ....................................................................... 204 5. Michail Matjuschins Organische Kultur und die Ideale der frühen St. Petersburger Avantgarde . .................................................................. 215 Organische Kultur als Weltanschauung .................................................. 216
6 | Inhalt
Organische Kultur als Gesamtkunstwerk . .............................................. 218 Die Utopie der Organischen Kultur ....................................................... 222
Dokumente ................................................................................................... 227 M. W. Matjuschin, Anleitung für eine neue Teilung der Töne, 1910–15 ..... 227 M. W. Matjuschin, Die Empfindung der vierten Dimension, 1912–13 ...... 228 M. W. Matjuschin, Nicht Kunst, sondern das Leben, 1923 . ....................... 229 M. W. Matjuschin, Die Gesetzmäßigkeit der Veränderung von Farbkombinationen, 1932 . ......................................................................... 230 Abkürzungsverzeichnis .............................................................................. 241 Auswahlbibliographie ................................................................................. 242 Abbildungsnachweis . ................................................................................. 253 Personenregister ......................................................................................... 254
Vorwort Die vorliegende Monographie ist die erste zusammenfassende Gesamtdarstellung zum vielfältigen künstlerischen und theoretischen Schaffen von Michail Matjuschin, einem Künstler, der gewöhnlich nur als Komponist der kubo-futuristischen Oper „Sieg über die Sonne“ von 1913 Erwähnung findet. Matjuschin war jedoch nicht nur ein erfolgreicher Musiker, sondern auch ein einflussreicher Maler, Lehrer und Kunsttheoretiker sowie ein Hauptvertreter der russischen Avantgarde in St. Petersburg. Als Mitbegründer des Bundes der Jugend bildete er gemeinsam mit Jelena Guro ab 1910 den Mittelpunkt der St. Petersburger Avantgarde; er entwickelte seine Ideen in engem Austausch mit Nikolai Kulbin, Pawel Filonow und Kasimir Malewitsch. Nach der Oktoberrevolution gründete Matjuschin das Studio für Räumlichen Realismus an der reformierten Petrograder Kunstakademie und leitete die Abteilung für Organische Kultur am Staatlichen Institut für Künstlerische Kultur (GINChUK). In den 1930er Jahren beschäftige er sich vor allem mit farbtheoretischen Überlegungen und ihrer praktischen Anwendung in Kunst, Architektur und Design. Das Buch gliedert sich in zwei Teile, einen allgemeinen Einführungsteil zu den künstlerischen, kulturellen und weltanschaulichen Besonderheiten im Schaffen der St. Petersburger Avantgarde und einen Hauptteil zum künstlerischen Werk von Michail Matjuschin. Die St. Petersburger Avantgarde war weltoffen und kosmopolitisch; viele ihrer frühen Vertreter waren intellektuell gebildet, interessierten sich für metaphysische Fragestellungen und okkultes Wissen und beschäftigten sich insbesondere mit der psychophysiologischen Dimension des künstlerischen Schaffensprozesses und der Rezeption der Kunst. Der Einführungsteil untersucht das Schaffen der St. Petersburger Avantgarde im Hinblick auf anti-urbanistische Tendenzen in Literatur und Kunst, ihre organisch-ganzheitlichen Weltbilder und die Interpretation des Evolutionsgedankens, ihre Überzeugung, dass die Kunst ein Mittel zur Erlangung von kosmischem Bewusstsein sein könne, sowie ihre Überlegungen zum Wesen der schöpferischen Intuition und der Bedeutung von faktura. Der Hauptteil des Buches ist dem vielfältigen künstlerischen Schaffen von Michail Matjuschin gewidmet, wobei sowohl der Einfluss von Jan Ciągliński, Nikolai Kulbin und Jelena Guro auf dessen Entwicklung als auch sein Austausch mit Pawel Filonow, Alexei Krutschonych und Kasimir Malewitsch genauer beleuchtet werden. Es folgt eine detaillierte Analyse von Matjuschins organisch-ganzheitlichem Weltverständnis und des daraus abgeleiteten Kunstkonzepts der Organischen Kultur, das sowohl den Räumlichen Realismus als auch das Erweiterte Sehen und die SORWED-Methode umfasst. Daran schließt sich die Untersuchung von Matjuschins Organischer Kultur zur Gestaltung einer neuen Lebenswirklichkeit in den 1920er und 1930er Jahren an, so wie er sie in seiner wissenschaftlich-experimentellen Forschungsarbeit am GINChUK und in seiner pädagogisch-praktischen Tätigkeit an der Petrograder Kunstakademie und gemeinsam mit seinen Schülern als Berater für architektonische Farbgestaltung
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und als Autor des Handbuchs der Farbe realisierte. Abschließend wird Matjuschins Teilhabe an den Idealen der frühen St. Petersburger Avantgarde im Hinblick auf die weltanschauliche Dimension und die Gesamtkunstwerksideen der Organischen Kultur sowie der utopische Gehalt seines Kunstkonzepts analysiert. Da sich diese Publikation mit ihrer kunst- und kulturhistorischen Perspektive nicht nur an die slawistische Fachwelt wendet, sondern für ein breiteres akademisches Publikum gedacht ist, folgt die Schreibweise der russischen Künstler- und Eigennamen im Haupttext der in Deutschland üblichen Form bzw. der Duden-Transkription. In den Fußnoten wird bei der Angabe von russischsprachigen Publikationen hingegen die wissenschaftliche Transliteration verwendet. Für den Hauptort des Geschehens, die russische Metropole mit den wechselnden Namen St. Petersburg (bis 1914 und wieder seit 1991), Petrograd (1914–1924) und Leningrad (1924 bis 1991) wird allgemein und zeitübergreifend die heute gültige Bezeichnung St. Petersburg verwendet, in der konkreten historischen Diskussion jedoch der damals übliche bzw. im jeweiligen Zeitraum dominierende Name der Stadt benutzt, z. B. Petrograder Kunstakademie für den Zeitraum 1918 bis 1926 (obwohl es ab 1924 die Leningrader Kunstakademie war). Alle Übersetzungen, soweit nicht anders angegeben, stammen von mir. Die Auswahlbibliographie umfasst die wichtigste Primär- und Sekundärliteratur; eine vollständige Bibliographie aller verwendeten Archivmaterialien und Literaturquellen ist online verfügbar. Die vorliegende Publikation ist das Ergebnis meiner langjährigen Beschäftigung mit dem Werk von Michail Matjuschin im Kontext der russischen Avantgarde in St. Petersburg; sie wäre ohne den lebendigen Austausch mit Fachkollegen nicht denkbar gewesen. Ich möchte insbesondere Milica Banjanin, John E. Bowlt, Paul Crowther, Christopher Dempsey, Charlotte Douglas, Wolfgang Eimermacher, Zoia Ender, Nina Gourianova, Maria Gurenowitsch, Linda Henderson, Jeremy Howard, Irina Karassik, Alexei Kostroma, Anna und Nikolai Kostrow, Jewgeni Kowtun, Christina Lodder, Alexander Morosow, Natalia Nassonowa, Nikita Nesmelov, Alla Powelichina, Ada Raev, Patricia Railing, Dmitri Sarabjanow, Jane Sharp, Galina Wassilewa und Ljudmila Wostrezowa für die anregenden Gespräche und ihre Expertise in Detailfragen danken. Die Realisierung dieses Buchprojekts wäre ohne die Unterstützung der School of Humanities and Social Sciences der Jacobs University, Bremen nicht möglich gewesen. Ich danke Henrik Birus und Freia Hardt sowie Bianca Bergmann, Rena Dickel, Elina Knorpp, Jan-Helge Weidemann und meinen Student Assistants für die Unterstützung meiner wissenschaftlichen Arbeit. Darüber hinaus danke ich den Mitarbeitern des Staatlichen Museums für Geschichte der Stadt St. Petersburg, des Staatlichen Russischen Museums, des ehemaligen Leningrader Staatlichen Archivs für Literatur und Kunst in St. Petersburg, des Staatlichen Majakowski-Museums, der Staatlichen Tretjakow-Galerie und des Russischen Staatlichen Archivs für Literatur und Kunst in Moskau sowie des Museums Ludwig und des Rheinischen Bildarchivs in Köln, des Nationalmuseums in Warschau, des Stedelijk-Museums in Amsterdam, des Museums für zeitgenössische Kunst in Thessaloniki, des A-Ya-Archivs der Rutgers Uni-
Vorwort | 9
versity in New Jersey und der Artist Bookworks für die Unterstützung bei meinen Recherchen und die Bereitstellung der Abbildungsvorlagen. Mein ganz persönlicher Dank gilt Rosemarie Wünsche für die kritische Durchsicht des Manuskripts sowie Kevin Pfeiffer für seine persönliche Unterstützung und die bildtechnische Betreuung des Buchprojekts. Elena Mohr und ihrem Team vom Böhlau-Verlag möchte ich für das Interesse und die professionelle Realisierung der Publikation danken. Berlin im Februar 2011 Isabel Wünsche
I. Organische Anschauungen in der St. Petersburger Avantgarde Die Kunst der russischen Avantgarde ist unter vielfältigen Gesichtspunkten diskutiert worden. Im Mittelpunkt der Betrachtung standen dabei vor allem ihr revolutionärer Charakter und die utopischen Gesellschaftsvisionen der Bewegung, ihre politisch-agitatorischen Gestaltungen, die bildkünstlerischen Neuerungen von Kasimir Malewitsch, Wladimir Tatlin, Pawel Filonow u. a., der Einfluss des Primitivismus sowie die Bezüge zur Ikonenmalerei und der russischen Volkskunst in der Malerei von Natalja Gontscharowa und Michail Larionow, die konstruktiven und utilitären Aspekte des Konstruktivismus und der Produktionskunst sowie der totalitäre Charakter der Bewegung als wegbereitend für die Kultur der Stalinzeit. Bis in die Gegenwart ist die russische Avantgarde vor allem als eine künstlerische Bewegung der Moderne in enger Verbindung mit – oft sogar als ein Ergebnis – der Oktoberrevolution beschrieben worden; als eine Bewegung, die sich auf den Aufbau der neuen sozialistischen Gesellschaft konzentrierte, indem sie proletarisches Leben in modernen, industrialisierten Städten organisierte. Daher ist der urbane, ideologische und utilitäre Charakter der Bewegung besonders betont worden, während ihre Bezüge zur Natur übersehen oder nur am Rande gestreift worden sind. Nach wie vor wird die russische Avantgarde als ein paradigmatisches Beispiel für die Kunst der Moderne, die in der kubistisch-konstruktivistischen Tradition steht, betrachtet, obwohl Charlotte Douglas und Christina Lodder bereits in den 1980er Jahren gezeigt haben, dass diese Betrachtungsweise zu eingeschränkt ist und der russischen Avantgarde als Ganzes nicht gerecht wird. In ihrem Buch „Russian Constructivism“ demonstriert Lodder, dass organische Prinzipien die Grundlage der konstruktivistischen Entwürfe von Wladmir Tatlin und Pjotr Mituritsch bildeten.1 Douglas zeigt in ihrem Aufsatz „Evolution and the Biological Metaphor in Modern Art“, dass die antikubistischen Tendenzen von Künstlern wie Dawid Burljuk, Pawel Filonow, Nikolai Kulbin, Michail Matjuschin und auch Kasimir Malewitsch nicht in die kubistischkonstruktivistische Interpretationslinie passen, sondern einer grundlegenden organischen Ästhetik entspringen.2 In den 1980er und 1990er Jahren hat sich die Forschung zur Kunst der russischen und sowjetischen Avantgarde auch mit dem künstlerischen Werk und den kunsttheoretischen Anschauungen dieser Künstler befasst. Dabei sind Matjuschin ebenso wie Filonow und Mansurow vielfach als Außenseiter innerhalb der russischen Avant-
1 Christina Lodder, Organic Construction: Harnessing an Alternative Technology, in: Russian Constructivism, New Haven 1983, S. 205–223. 2 Charlotte Douglas, Evolution and the Biological Metaphor in Modern Russian Art, in: Art Journal, Vol. 44, Summer 1984, No. 2, S. 153–161.
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garde charakterisiert und betrachtet worden.3 Generell hat sich in der AvantgardeForschung eine gewisse Tendenz herausgebildet, die nicht-konstruktivistischen „organischen“ Bestrebungen von Künstlern wie Filonow, Mansurow, Matjuschin, Tatlin und Mituritsch als eigenständige und zumeist individuelle Sonderformen innerhalb der Entwicklung der russischen Avantgarde zu behandeln. Ganzheitliche Weltbilder und organische Betrachtungsweisen waren insbesondere in der vorrevolutionären St. Petersburger Avantgarde, d. h. im Kreis der Impressionisten und der Dreieck-Gruppe von Nikolai Kulbin und in der Künstlervereinigung Bund der Jugend, vorherrschend. Organische Ansätze lassen sich aber auch im künstlerischen Werk von Malewitsch, Tatlin und Mituritsch finden. Die St. Petersburger Avantgarde war weltoffen und kosmopolitisch; viele ihrer frühen Vertreter waren intellektuell gebildet, interessierten sich für metaphysische Fragestellungen und okkultes Wissen und beschäftigten sich mit der psychologischen Dimension des künstlerischen Schaffensprozesses und der Rezeption der Kunst. Diese Künstler orientierten sich stark an den künstlerischen Entwicklungen in Westeuropa; sie unterhielten enge Verbindungen zur Münchner Kunstszene und bemühten sich um den Austausch und die Zusammenarbeit mit Künstlern im Baltikum und in Skandinavien.4 In ihren künstlerischen Experimenten waren die Künstler der frühen St. Petersburger Avantgarde weniger radikal als ihre Moskauer Künstlerkollegen. Im Gegensatz zum Interesse der Moskauer Avantgarde an der Ikonenmalerei und der russischen Volkskunst, rezipierten moderne Künstler in St. Petersburg vor allem den Impressionismus und den Symbolismus und interessierten sich für eine Vielzahl von nichtwestlichen künstlerischen Ausdrucksformen, darunter zum Beispiel die so genannten primitiven Skulpturen der außereuropäischen Völker, chinesische Kalligraphie, persische und indische Miniaturmalerei. In seiner letzten Saison 1913–14 3 Andrei Nakov fasste 1981 in seinem Kapitel „Nouvelle Vision et Culture Organique“ die künstlerischen Bestrebungen von Matjuschin, Filonow und Mansurow am GINChUK zusammen: Ders., Abstrait/Concret. Art Non-Objectif Russe Et Polonais, Paris 1981, S. 119–138. Vgl. auch ders., Russische Avantgarde, Genf 1984, S. 76–82. Jewgeni Kowtun charakterisierte die künstlerischen Bestrebungen von Matjuschin zusammen mit denen von Larionow und Filonow als „dritten Weg der Gegenstandslosigkeit“: Ders., Der dritte Weg der Gegenstandslosigkeit, in: Die Grosse Utopie. Die Russische Avantgarde 1915–32, Ausst.-Kat., Frankfurt Main 1992, S. 47–55. In seinem Buch zur russischen Avantgarde hat Jean-Claude Marcadé sowohl Filonow als auch Matjuschin ein eigenes Kapitel gewidmet, wobei die Darstellung von Matjuschins Schule stärker durch das dokumentarische Bildmaterial als durch eine detaillierte Behandlung im Text besticht: Ders., L’Avant-Garde Russe 1907–1927, Paris 1995, S. 345–349. Vgl. auch Ausstellungskataloge zu Filonow, Matjuschin und Mansurow: Filonov, Ausst.-Kat., Paris 1990; Jürgen Harten, Jewgenija Petrowa (Hg.), Pawel Filonow und seine Schule, Ausst.-Kat., Düsseldorf, Köln 1990; Heinrich Klotz (Hg.), Matjuschin und die Leningrader Avantgarde, Ausst.-Kat., Karlsruhe, Stuttgart-München 1991; Pavel Mansurov i Petrogradskij Avangard, Ausst.-Kat., Nizza, St. Petersburg 1995. 4 John E. Bowlt, The St. Petersburg Ambience and the Union of Youth, in: ders., Russian Art 1875– 1975: A Collection of Essays, New York 1976, S. 112–129; Jeremy Howard, The Union of Youth: An Artists’ Society of the Russian Avant-Garde, Manchester 1992, S. 57, 86, 120–21, 156.
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diskutierte der Bund der Jugend jedoch nicht nur spirituelle Themen und metaphysische Fragen, sondern präsentierte auch neoprimitivistische, kubistische und futuristische Tendenzen in der Kunst. Es war das lebendige Interesse an dem Verhältnis des Menschen zur Natur und am künstlerischen Schaffensprozess von Nikolai Kulbin, Woldemar Matwej (Wladimir Markow) und Michail Matjuschin, das die St. Petersburger Avantgarde schließlich zur Abstraktion drängte und zur Entstehung der Organischen Schule führte.
Anti-urbanistische Tendenzen in der russische Moderne Die Moderne ist unmittelbar mit der Entstehung von modernen Großstädten und der Herausbildung des urbanen, bürgerlichen Lebens verbunden. Die Stadt wurde „nicht nur in zunehmendem Maße Wohngebiet und Arbeitsstätte des modernen Menschen“, sondern auch zum initiatorischen und beherrschenden Mittelpunkt des ökonomischen, politischen und kulturellen Lebens, „der die entlegensten Völker der Welt in seinen Bannkreis zieht und die verschiedenartigsten Gebiete, Menschentypen und Tätigkeitsbereiche zu einem Kosmos zusammenflicht.“5 Die Überzeugung, dass sich das urbane Leben in den dicht besiedelten Städten grundlegend vom traditionellen Leben im ländlichen Raum unterscheidet, hat die intellektuellen und künstlerischen Auseinandersetzungen der Moderne entscheidend geprägt. Die dominierende Stellung der Großstadt in der Moderne ist eine Folge der Konzentration von industriellen, kommerziellen, finanztechnischen und administrativen Einrichtungen und Tätigkeitsbereichen, von Medien des Transports und der Kommunikation, von Freizeitanlagen und kulturellen Einrichtungen, wie sie Presse, Rundfunksender, Theater, Bibliotheken, Museen, Konzertsäle, Opernhäuser, Krankenhäuser, Universitäten, Forschungs- und Verlagszentren, Berufsorganisationen sowie religiöse und Wohlfahrtseinrichtungen in den Städten darstellen.6 Seit der Herausbildung der modernen Großstädte haben sich Schriftsteller und Künstler und die neue Wissenschaftsdisziplin der Urbanistik mit den spezifischen Formen des Lebens, Denkens und Verhaltens von Stadtbewohnern beschäftigt. Charles Baudelaire war einer der ersten, der in seiner Lyriksamlung „Les fleurs du mal“ von 1857 die neuen Formen der modernen, urbanen Existenz, die sich mit der Haussmannisierung von Paris herausgebildet hatten, als eine typische Lebensform der Moderne beschrieb.7 Er beschäftigte sich mit den Phänomenen des Großstadtlebens und untersuchte deren Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen der Menschen und die individuelle Psyche. Seine Großstadtmenschen sind fasziniert vom Hässlichen und Abnormen und hin und her gerissen zwischen den Mächten 5 Louis Wirth, Urbanität als Lebensform (1938), in: Ulfert Herlyn (Hg.), Stadt- und Sozialstruktur. Arbeiten zur sozialen Segregation, Ghettobildung und Stadtplanung, München 1974, S. 42–43. 6 Wirth 1974, S. 45. 7 Charles Baudelaire, Les fleurs du mal, Paris 1857.
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des Hellen und Guten und denen des Dunklen und Bösen; ihre Gemütslage ist von einer Mischung aus Widerwillen und Verdruss verbunden mit einer Entfremdung gegenüber dem Dasein bestimmt. Für Baudelaire und andere symbolistische Dichter wie Arthur Rimbaud, Paul Verlaine, Stéphane Mallarmé und Emile Verhaeren war die Stadt weniger ein fester geographischer Ort, sondern sie beschrieben das Leben in der Stadt atmosphärisch und von innen heraus. Auch die Auseinandersetzung mit dem Großstadtthema in der russischen Dichtung und Kunst der Jahrhundertwende war ambivalent. Symbolisten wie Futuristen waren einerseits fasziniert von den Rhythmen und Ikonen des modernen Lebens und sahen andererseits die Schattenseiten des Großstadtlebens – Armut und Verelendung, Schmutz und Krach, fadenscheinige Vergnügungen und Verderbnis. Sie betrachteten den Dichter als einen Menschen, der die komplexe Realität des modernen Lebens erfasst und thematisierten die Künstlichkeit der Stadt, die individuelle Furcht vor der anonymen Masse sowie die unterschwellige Vorahnung einer großen Katastrophe.8 Historisch betrachtet beschreibt der Gegensatz von städtischem Leben und ländlichem Dasein in der russischen Literatur und Kunst das Aufeinandertreffen von westlicher Zivilisation und östlicher Kultur – ein Konflikt, der die Diskussionen zwischen Westlern und Slawophilen dominiert und das kulturelle und intellektuelle Leben in Russland im neunzehnten Jahrhundert bestimmt hatte. Im Zentrum der Beschäftigung der russischen Symbolisten mit dem Großstadtthema stand St. Petersburg, die neue russische Hauptstadt, die ihre Gründung Peter I. und seinem Willen, die russische Kultur zu europäisieren, verdankte. Die Geschichte der Stadt mit ihren historischen und mythischen Ereignissen, die fremdländische Prägung der Architektur und das nordische Klima mit seinen Fluten machten St. Petersburg zu einer Kombination aus Schönheit und Alptraum und verstärkten den ambivalenten Charakter des Großstadtthemas.9 In seinem Roman „Petersburg“ thematisiert Andrej Bely den grundlegenden Konflikt im intellektuellen Leben Russlands seit Peter I., d. h. die historischen und kulturellen Widersprüche, die sich aus der Konfrontation des ländlichen, bäuerlichen Lebens mit der modernen, westlichen Zivilisation ergaben.10 Andere symbolistische Dichter wie Innokenti Annenski, Alexander Block und Waleri Brjussow verbanden mit dem Mythos von St. Petersburg den Großstadtmythos der westeuropäischen Literatur der Jahrhundertwende.11 Generell war der Urbanismus im russischen Symbolismus jedoch weniger von der Behandlung des Großstadtthemas in der Literatur als von den symbolistischen 8 Kjeld Bjornager Jensen, Russian Futurism, Urbanism, and Elena Guro, Arhus 1977, S. 119–130, 190–191. 9 Ebenda, S. 4. Vgl. auch Boris Groys, Die Erfindung Russlands, München, Wien 1995, S. 167–179; Karl Schlögel, Petersburg. Das Laboratorium der Moderne 1909–1921, München 2002, S. 25–86. 10 Andrei Belyj, Peterburg, St. Petersburg 1913. 11 Dabei behandelten Remisow und Bely das urbanistische Thema anhand des traditionellen St. Petersburg, Sologub als eine kleinstädtische Kopie der Hauptstadt und Brjussow und Annenski als ein gesamteuropäisches Phänomen. Vgl. Christa Ebert, Symbolismus in Rußland. Zur Romanprosa Sologubs, Remisows, Belys, Berlin 1988, S. 174.
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Werken von Baudelaire, Verlaine und Verhaeren beeinflusst.12 Er bestand weniger in einer Beschreibung der Stadt als einem spezifischen Ort, sondern vielmehr in einer atmosphärischen Charakterisierung des Lebens in der Stadt; er bedeutete „nicht über die Stadt, sondern in der Sprache der Stadt zu schreiben“.13 Im frühen zwanzigsten Jahrhundert führte die Behandlung des Großstadtthemas in der russischen Literatur zu einem neuen Stil, der mit einer neuen Metrik, neuen Rhythmen, Veränderungen in Syntax und Vokabular verbunden war; betont wurde die subjektive Erfahrung des Menschen in seiner urbanen Umwelt, wobei die äußere Welt der Erscheinungen und die innere Welt der Erfahrungen oft miteinander verschmolzen wurden.14 Der russische Futurismus wird generell mit dem Urbanismus in Literatur und Kunst identifiziert. Der bekannteste Vertreter dieser Richtung ist Wladimir Majakowski; er charakterisierte den Futurismus als „die Dichtung der Stadt, der modernen Stadt.... Telefone, Flugzeuge, Expresszüge, Fahrstühle, rotierende Maschinen, Bürgersteige, Fabrikrohre, die steinerne Grammatik der Häuser, kurzum – das sind die Elemente der Schönheit der neuen städtischen Natur“.15 Seine Großstadt ist eine spröde Schönheit, sie galt ihm als Ausdruck des modernen Lebens, das einerseits fasziniert, zugleich aber auch immer böse, grausam und hässlich ist. Ebenso ambivalent sind die Erfahrungen seiner Großstadtbewohner: „Wir Städter kennen keine Wälder, Felder, Blumen – uns sind die Straßentunnel mit ihrer Bewegung, ihren Geräuschen, ihrem Donnern, den Feinheiten, den abendlichen Kreisläufen bekannt. Die Hauptsache aber ist die Veränderung des Lebensrhythmus. Alles wurde blitzartig schnell, wie auf dem Band des Kinematographen. Die ruhig fließenden, langsamen Rhythmen der alten Dichtung entsprechen nicht der Psyche des modernen Städters. Fieberhaftigkeit, das ist es, was das Tempo des Zeitgenossen symbolisiert. In der Stadt gibt es nichts gleichmäßig Fließendes und keine runden Linien – Hässlichkeit, Brüche, Zickzack, ist es, was das Bild der Stadt charakterisiert.“16
Majakowski zeigte eindrücklich, wie sehr ihn das moderne Großstadtleben einerseits beeinflusste und wie stark er andererseits dessen Lebensbedingungen ausgeliefert war. Doch auch Avantgarde-Künstler wie Welimir Chlebnikow, Jelena Guro und Wassili Kamenski betrachteten die Stadt sowohl als Inspirationsquelle als auch als einen Ort, der den Menschen körperlich und seelisch verdirbt. Viele ihrer Werke entstanden in direkter Auseinandersetzung mit dem Großstadtleben und tragen oft anti-urbanistische Züge. Anti-Urbanismus war nichts Neues in der russischen Kunst und Kultur. Ein latenter Anti-Urbanismus im russischen Denken lässt sich auf die Anschauungen der Slawophilen zurückführen, die sowohl konservative als auch progressive Posi12 13 14 15
Jensen 1977, S. 5. Vadim Šeršenevič, Zelenaja ulica, Moskau 1916, S. 45, zit. in: Jensen 1977, S. 5. Jensen 1977, S 5. V. Katan’jan, Majakovskij. Literaturnaja chronika, 4. Aufl., Moskau 1961, S. 56, zit. in: Jensen 1977, S. 6. 16 Ebenda.
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tionen innerhalb der russischen Intelligenzia beeinflussten. Liberale, sozialistische und neo-populistische Intellektuelle sowie Anhänger von Lew Tolstoi waren sich im späten neunzehnten Jahrhundert einig in ihrer grundlegenden Kritik an den Städten „als Bastionen von Dekadenz, Prostitution, gesichtsloser Anomie und grassierender Lasterhaftigkeit“.17 Die Klage über die Dekadenz des Großstadtlebens wurde zu einem dominierenden Thema in den intellektuellen Diskussionen nach der Revolution von 1905. Die Kriegs- und Bürgerkriegsjahre von 1914 bis 1921 hingegen brachten neue Formen von Anti-Urbanismus: Angriffe von Bauern auf die Städte und die Flucht von Städtern aufs Land, wo sie Sicherheit und Überlebensmöglichkeiten zu finden hofften.18 Nach der Oktoberrevolution wurde die Errichtung von Großstädten zu einem Hauptziel der bolschewistischen Politik und zum Kern des Programms für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft in der Sowjetunion. Lenin hatte bereits 1913 erklärt: „Großstädte sind die Zentren des ökonomischen, politischen und intellektuellen oder geistigen Lebens der Menschen und stellen den Motor des Fortschritts dar“, und Trotzki verkündete in den 1920er Jahren: „Die Großstadt lebt und führt. Wenn man die Großstadt aufgibt... dann wird die Revolution nicht fortgeführt, sondern ein gewaltsamer und blutiger Prozess des Niedergangs. Wenn man dem bäuerlichen Russland die Führung durch die Großstadt entzieht, wird es nicht nur niemals zum Sozialismus gelangen, sondern wird nicht einmal in der Lage sein, sich selbst auch nur für zwei Monate zu erhalten und zu Dung und Torf für den Weltimperialismus werden.“19
Sowohl die Urbanisten als auch die Gegner des Urbanismus waren von der antiurbanistischen Tradition in der russischen Kultur geprägt und wurden in ihrem Handeln von den „verrotteten“ Städten, die sie um sich herum sahen, motiviert; sie waren sich aber uneins darin, ob die Städte als solche von neuen ersetzt werden oder ganz aus der sozialistischen Landschaft verbannt werden sollten.20 Die literarische und künstlerische Avantgarde in Russland war eine urbane Bewegung, trotzdem sollte nicht vergessen werden, dass Russland weitgehend von bäuerlichem Leben dominiert war, das sowohl die Herkunft als auch die Kindheit und Jugend zahlreicher späterer Mitglieder der russischen Avantgarde prägte. Dawid Burljuk wurde auf dem Bauernhof Semirotowschtschina bei Charkow geboren, die Familie lebte bis 1914 auf dem Gut des Grafen Mordwinow bei Cherson. Wassili Kamenski verbrachte seine Kindheit an der Kama in der Umgebung von Perm, wo er später selbst einen Bauernhof hatte. Alexei Krutschonych stammte aus einer Bauernfamilie bei Cherson; Welimir Chlebnikow wurde als Sohn eines Naturkundlers 17 Richard Stites, Revolutionary Dreams: Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution, New York, Oxford 1989, S. 192. 18 Ebenda. 19 Ebenda, S. 197. 20 Ebenda.
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in einem Dorf bei Astrachan geboren. Jelena Guro verbrachte ihre Kindheit und Jugend auf dem Familiengut Potschinok bei Nowoselje im Gouvernment Pskow; Michail Matjuschin stammte aus der kinderreichen Familie eines leibeigenen Bauern in Nishni Nowgorod. Kasimir Malewitsch wurde in Kiew geboren, verbrachte jedoch eine unstete Kindheit in der ukrainischen Provinz und erhielt eine fünfjährige Ausbildung auf einer Landwirtschaftsschule. Wladimir Tatlins Werk wurde entscheidend von seiner Jugendzeit als Schiffsjunge und Matrose geprägt. Während die städtische Entwicklung von Moskau und St. Petersburg zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts viele junge Dichter und Maler inspirierte und die Bewegung ihre Triumphe in Dichterlesungen, Ausstellungen, Diskussionsveranstaltungen und Theateraufführungen in modernen Großstädten wie Moskau, St. Petersburg, Kiew oder Tiblissi feierte, wurden eine ganze Reihe von Avantgarde-Ideen und Manifesten nicht in den Großstädten, sondern in den Wohnungen und Datschen der Künstler außerhalb dieser städtischen Zentren formuliert. Nikolai Kulbin traf sich mit seinen Freunden und Künstlerkollegen auf seiner Datsche in der finnischen Künstlerkolonie Kuokkala. Dawid Burljuk versammelte seine Freunde Welimir Chlebnikow, Michail Larionow, Benedikt Liwschiz und Wladimir Majakowski zur Gründung der Dichtervereinigung Gileja (Hylaea) zum Jahreswechsel 1911–12 auf dem Anwesen des Grafen Mordwinow in Tschernjanka bei Cherson unweit des Schwarzen Meeres, wo sein Vater als Gutverwalter tätig war. Der Erste All-Russische Kongress der Kubo-Futuristen, auf dem Alexei Krutschonych, Kasimir Malewitsch und Michail Matjuschin die Arbeit an der Oper „Sieg über die Sonne“ aufnahmen und die Herausgabe von mehreren futuristischen Büchern zu planen begannen, fand im Juli 1913 auf der Datsche von Jelena Guro und Michail Matjuschin im finnischen Uusikirkko in Karelien statt.21 Das zunehmende Bewusstsein von den Schattenseiten des Großstadtlebens im frühen zwanzigsten Jahrhundert war mit einer Aufwertung des Lebens in der Natur verbunden; eine Reihe von Dichtern und Malern der Avantgarde stellte den Beschreibungen des bewegten, modernen Großstadtlebens ihre Erinnerungen an eine glückliche Kindheit auf dem Land und ein Leben im Einklang mit der Natur entgegen. Die Werke von Wassili Kamenski sind eng mit seinen Erinnerungen an die Region von Perm verbunden, wo er seine Kindheit „in einem Haus beim Anlegeplatz an der Kama unter Schleppern, Lastkähnen, Flößen, Booten, Schauermännern, Matrosen, Kahnführern, Kapitänen...“ verbracht hatte.22 Er kultivierte sogar den Mythos, dass er auf einem Boot auf der Kama geboren worden sei. Sein dichterisches
21 Manifest des ersten pan-futuristischen Kongresses der Sänger der Zukunft am 18. und 19. Juli 1913 in Uusikirkko, in: Sieg über die Sonne. Aspekte russischer Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 1983, S. 107–108. 22 Anatolij Mailkov, Rycar’ kamskogo obraza, in: Moskovskij Komsomolec, vom 29. November 2006, online-Ausgabe wwww.mk.ru/blogs/idmk/2006/11/29/ROG/87364/ am 7. April 2009.
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Schaffen wird von impressionistischer Naturbeschreibung der Region um Perm sowie von Jagd- und Fischfangmotiven bestimmt.23 Zwischen 1908 und den 1930er Jahren lebte Kamenski das geschäftige, urbane Leben eines futuristischen Dichters. Er arbeitete als Editor der Moskauer Zeitschrift Frühling (Wesna), schrieb seine bekannten Eisenbeton-Gedichte (shelesobetonnye poemy), beteiligte sich an einer Vielzahl futuristischer Publikationen und Aufführungen, bereiste Russland zusammen mit Dawid Burljuk und Wladimir Majakowski, um den Futurismus zu propagieren, und trat zusammen mit Wladimir Golzschmidt auf, der sich als „Futurist des Lebens“ bezeichnete und ein Leben voller Gesundheit, Sonnenschein und Glückseligkeit propagierte und die „Sinnesfreuden des Körpers“ preiste.24 Nach einer bemerkenswerten Karriere als futuristischer Dichter und einer der ersten russischen Piloten25 kehrte Kamenski jedoch 1932 in die Region von Perm zurück und verbrachte den Rest seines Lebens im Dorf Troiza. 1910 veröffentlichte Kamenski sein erstes Prosawerk, den Roman „Die Lehmhütte“, in dem er eine „Rückkehr zur Natur“ in der Tradition von Jean-Jacques Rousseau verkündete.26 Der Hauptheld Philip verlässt die Stadt, in der Chaos, Hölle und Tod herrschen; er kehrt zurück aufs Land, lässt sich in einer Lehmhütte im Wald am Flussufer nieder und findet sein Glück in der Ehe mit dem Bauernmädchen Marijka. Die Abkehr von der Großstadt und seine Hinwendung zu Mutter Natur ließen ihn ein paradiesisches Leben als Bauer finden und an den „enormen Mysterien der Erde“ teilhaben. Auch das Werk des futuristischen Dichters Welimir Chlebnikow ist von einem latenten Anti-Urbanismus und der Anwendung von organischen Prinzipien auf das künstlerische Schaffen gekennzeichnet. Chlebnikow war ein Visionär, der sich die zukünftige Welt als eine gut gestaltete Umwelt vorstellte, in der Kunst, Wissenschaft und Leben organisch miteinander verbunden wären.27 Bevor er sich 1908 in St. Petersburg niederließ, studierte er Mathematik und Naturwissenschaften an der Universität von Kasan. Seine Liebe zur Natur und sein Interesse für Pflanzen und Tiere wurden von seinem Vater gefördert, der Organisator und erster Direktor des Astrachaner Naturreservats im Wolga-Delta war. Mit seinem Vater teilte Chlebnikow auch das Interesse an der Ornithologie; den Sommer 1905 verbrachte er gemeinsam mit seinem Bruder Alexander auf einer Vogelbeobachtungsexpedition im Ural.28
23 Vladimir Markov, Russian Futurism: A History, Berkeley, London 1968, S. 327. 24 Ebenda, S. 328. 25 Vgl. Vladimir Bubrin, Mud Huts and Airplanes: The Futurism of Vasily Kamensky, Ph.D. Dissertation, University of Toronto 1982. 26 Vasilij Kamenskij, Zemljanka, St. Petersburg 1910. Vgl. auch Markov 1968, S. 29–32. 27 Peter Stobbe, Velimir Chlebnikov’s My i Doma: Language and Architecture – An Interdisciplinary Approach, in: Willem G. Weststeijn (Hg.), Velimir Chlebnikov (1885–1922): Myth and Reality, Amsterdam 1986, S. 375. 28 Velimir Khlebnikov, in: A Legacy Regained: Nikolai Khardzhiev and the Russian Avant-Garde, St. Petersburg 2002, S. 124–125.
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Chlebnikow stellte die Erde mit ihren natürlichen Lebensformen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen, wenn er als „Vorsitzender des Erdballs“ auftrat, Studien zur Migrationsbewegung der Vögel durchführte oder neue Konzeptionen für die Naturwissenschaften entwarf.29 In seinem dichterischen Werk ging er von der russischen Folklore und der slawischen Mythologie, dem ländlichen Leben und der Idylle aus, bevor er sich dem Zusammenhang von historischen Ereignissen und Zeitabschnitten, dem Problem der Sprache, nationalen Fragen und der Kriegsthematik zuwandte. Auch seine Überlegungen zu einer Stadtlandschaft der Zukunft, so wie er sie in seinem Aufsatz „Wir und die Häuser“ darlegte,30 waren darauf gerichtet, die Einheit von Mensch und Natur und den Frieden zwischen Mensch und Tier wiederherzustellen. Im Gegensatz zur zeitgenössischen Architektur der Mietskasernen, die er als „Rattenkäfige“ bezeichnete, stellte sich Chlebnikow die zukünftige Stadt als ein harmonisches Gebilde vor, das von einer Fülle an Licht und Raum und organischen Prinzipien geprägt wäre; eine Architektur, „wo gläserne Osterglocken in Büschen aus Eisen stehen und Städte, so schlank wie ein Netz am Meer und gläsern, wie ein Tintenfaß, einen inneren Kampf um Sonne und um ein Stück Himmel führen, als wären sie die Pflanzenwelt“.31 Er verurteilte die zeitgenössischen Mietskasernen als einen Auswuchs des mittelalterlichen Schlossbaus, die „von gemeinsamen Mauern“ platt gedrückt und in „das Mischmasch einer Straße“ gequetscht worden waren32 und schlussfolgerte: „das düstere Leben im Innern einer Mietskaserne unterscheidet sich nur unwesentlich von einem Leben in Einzelhaft“.33 Von seiner Kritik an der traditionellen Stadtarchitektur der undurchlässigen festen Mauern leitete er seine Idee von mobilen Wohneinheiten aus Glas ab: „Ein Behälter aus gebogenem Glas bzw. eine Reisekajüte ... mit einer Tür versehen, mit Ringen und auf Rädern, die samt ihrem Bewohner auf einen Zug (besondere Gleise, Plattformen mit Platznummern) oder auf ein Schiff gestellt werden konnte und in der sich ihr Bewohner, ohne sie verlassen zu müssen, auf Reisen begab“.34
Die Formen der von ihm entworfenen transportablen Wohneinheiten aus Glas waren vom Wachstum der Naturformen abgeleitete und von Transparenz und Leichtigkeit sowie von den gekurvten Formen der organischen Natur geprägt.35 Darüber hinaus 29 Vgl. V. V. Chlebnikov. Sobranie sočinenij, hrsg. von N. Stepanov und Ju. Tynianov, 4 Bde., Leningrad 1928–33. Deutsch als: Velimir Chlebnikov, Werke. Poesie. Prosa. Schriften. Briefe, hrsg. von Peter Urban, Hamburg 1985. 30 V. V. Chlebnikov, My i doma, 1914–15, in: Chlebnikov 1928–33, Bd. 4, S. 275–286. Deutsch in: Chlebnikov 1985, S. 233–242. Das Manuskript stammt von 1914–15 und war mit dem Pseudonym „Lunev“ (339) unterschrieben; der Text wurde erstmals 1930 publiziert. 31 Chlebnikov 1985, S. 233. 32 Ebenda, S. 235. 33 Ebenda, S. 236. 34 Ebenda. 35 Zum Text gehörte die gleichnamige Zeichnung „Doma buduščego“, 1912–14, Tusche auf Papier, 6 x 14 cm, RO IRLI, F. 656, No. 313, L. 1, in: Alla Povelichina, Galina Vasil’eva und Ulla Pennanen (Hg.), Vozvrat k prirode. Peterburgskie chudožniki russkogo avangarda XX veka, Ausst.-Kat.,
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schlug er den Bau einer Reihe von standardisierten Eisenstahl-Skelett-Gebäuden vor, deren offene Räume von den Bewohnern mit ihren mobilen Glas-Wohneinheiten gefüllt werden konnten. Zu seiner neuen Stadtarchitektur gehörten dreizehn ungewöhnliche Haustypen: (1) Häuser-Brücken, die aus Turm-Pfeilern und halbkreisförmigen Bögen bestanden und vornehmlich an Flüssen errichtet wurden; (2) Häuser-Pappeln – schmale, von der Spitze bis zum Boden mit Ketten aus Glaskajüten umwundene Türme; (3) Unterwasser-Paläste als Auditorien; (4) Haus-Boote als künstliche Wasserreservoirs; (5) Häuser-Häute, d. h. einfach und doppelt aufgespannte Zimmer-Gewebe für Hotels und Heilanstalten sowie auf Bergrücken und Meeresufern; (6) Schachbrett-Häuser – leere Zimmerlücken in Schachbrettmuster; (7) Häuser-Wiegen, d. h. an einer Kette zwischen Fabrikschloten hängende Hütten für Denker, Matrosen und Budetljane; (8) HäuserHaare bestehend aus einem Budetljanin-Zimmer-Haar, das sich entlang der Seitenachse bis zu einer Höhe von 100 bis 200 Klaftern emporzieht; (9) Häuser-Schalen – gläserne Kuppeln in 5–200 Klafter Höhe für diejenigen, die sich von der Erde abgewandt haben; (10) Häuser-Trompeten, bestehend aus einem doppelten, zu einer Trompete gedrehten Zimmerblatt, mit einem großen Innenhof, der von einem Wasserfall besprengt wird; (11) das Bücherhaus in Form eines aufgeschlagenen Buches; (12) Häuser-Krempen, bei denen der Boden als Lehne für leere Wohnräume ohne Zwischenwände dient; (13) Häuser auf Rädern für die Zigeuner des zwanzigsten Jahrhunderts.36 Der Bau von standardisierten Eisenstahl-Skelett-Gebäuden im ganzen Land, vielleicht sogar auf der ganzen Welt, sollte es den Bewohnern der mobilen GlasWohneinheiten ermöglichen mit dem Zug, dem Dampfschiff oder dem Zeppelin an jeden beliebigen Ort zu reisen, ohne dass sie ihre Wohnung je verlassen mussten – ein Traum, der unzweifelhaft von Chlebnikows eigenen Reisestrapazen inspiriert war. Das Bauprojekt insgesamt sollte vom öffentlichen Sektor realisiert werden, um „die Schrecken der Willkür des privaten Wohnbaus“ zu überwinden, die Menschen, die „in der Gefängnishaft eines Mietshauses leben müssen“, zu befreien und den ungleichen Kampf „zwischen den vielen, die ein Haus bewohnen, und dem einen, der es besitzt“, zu beenden.37 Trotzdem gestaltete Chlebnikow Privatpersonen das Recht zum Bau von Häusern außerhalb der Stadt, an ihren Rändern, in Dörfern, Wüsten und auch zum eigenen, persönlichen Gebrauch.38 Der Staat hingegen sollte die Gestaltung der Straßen übernehmen. Chlebnikows Text beschäftigt sich aber nicht nur mit individuellen Gebäudetypen, sondern mit der Stadt als lebendigem Organismus, der die menschlichen Joensuu 1996, Kat. 20. Vgl. auch E. F. Kovtun, A. V. Povelichina, „Utes iz budiščego“. Architekturnye idei Velemira Chlebnikova, in: Techničeskaja ėstetika 5–6, 1976, S. 40–42; Lodder 1983, S. 207–208; Nina Smurova, Urbanistische Phantasien in der künstlerischen Kultur Rußlands Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, in: Avantgarde 1900–1923. Russische-sowjetische Architektur, Ausst.-Kat., Tübingen 1991, S. 56–61. 36 Chlebnikov 1985, S. 239–241. 37 Ebenda, S. 238. 38 Ebenda, S. 238–239.
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Lebensbedingungen beeinflusst. Sein Entwurf umfasst die unterschiedlichen Komponenten des städtischen Lebens wie zum Beispiel die Gebäude und Straßen, das Verkehrssystem und die Kommunikationswege sowie die Stadtumwelt selbst. Insgesamt gibt er die Idee der Stadt nicht auf – in dieser Beziehung bleibt er Urbanist39 – aber in einer Zeit von schnell voranschreitender Urbanisierung und großem technologischen Fortschritt erkannte Chlebnikow auch die zerstörerischen Effekte, die die Trennung des Menschen von seiner natürlichen Umwelt mit sich brachte. Seine architektonischen Ideen und urbanistischen Überlegungen waren auf eine Erneuerung der Einheit von Mensch und Natur und ein friedvolles Miteinander von Menschen, Pflanzen und Tieren gerichtet. Mit seinem Entwurf einer zukünftigen Stadt befreite er die Menschen aus ihrem Käfigdasein und bot ihnen ausreichend Platz, Licht und saubere Luft; zugleich ließ er die Erde frei für Pflanzen und Tiere, denn keine einzige Tierart durfte aussterben.40 Das eigentliche Novum seiner Architektur war aber ihre Öffnung zum Himmel. Chlebnikows Stadt ist dynamisch und expandiert vertikal, die Straßen, Überführungen und Brücken auf verschiedenen Ebenen verbinden die unterschiedlichen Gebäude miteinander; die Menschen halten sich auf den Hausdächern auf.41 Indem er seine Stadt himmelwärts baute, gewährte Chlebnikow allen Bewohnern Zugang zu Licht und sauberer Luft, denn „das Dach an sich ist ins Blau des Himmels geschmiegt und steht den Staubwolken des Schmutzes fern“.42 Zugleich propagierte er einen gesünderen Lebensstil: „Das Volk wird sich nicht mehr in den lasterhaften Straßen, mit ihren schmutzigen Verlangen, .... versammeln, sondern sich auf den herrlichen und jungen Dächern drängen, um mit Taschentüchern das Auslaufen eines Wolkenungeheuers zu begrüßen und die Lieben mit den Worten ‚Auf Wiedersehen‘ oder ‚Lebewohl‘ zu begleiten.“43
Seine Architektur vermittelte auch eine neue Erfahrung des urbanen Raumes: „Auf eine Stadt blickt man heute von der Seite, in Zukunft – von oben... Mit den Strömen der Flieger und dem Gesicht der Straße über sich, wird die Stadt um ihre Dächer zu eifern beginnen statt um ihre Mauern“44 und war mit neuen Arten der Fortbewegung verbunden: „Als sie vergessen hatte, wie man zu Fuß geht oder sich auf den mit Hufen bewaffneten Mitbrüdern fortbewegt, lernte die Menge, über die Stadt zu fliegen und von oben kommende Blicke-Regen hinabzusenden...“45 Chlebnikows Stadt ist geplant für Bewohner, die die Gravitation überwunden haben; ihre Hauptansicht ist auf den Himmel gerichtet. In seinem Aufsatz „Felsen aus der Zukunft“ 39 Kovtun/Povelichina 1976, S. 41. 40 V. V. Chlebnikov, Lebedija buduščego, in: Chlebnikov 1928–33, Bd. 4, S. 289. Deutsch in: Chlebnikov 1985, S. 245. 41 Chlebnikov 1985, S. 233. 42 Ebenda, S. 233–234. 43 Ebenda, S. 234. 44 Ebenda, S. 233. 45 Ebenda, S. 234.
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von 1921–22 beschäftigte er sich weiterführend mit der Verbindung zwischen seiner Architektur und ihrer Bewohner bei der Überwindung von Gravitation und der Eroberung des Alls.46 Chlebnikows Architekturvision war von natürlichen Formationen und Prozessen in der Natur inspiriert. Zu einer Zeit der allgemeinen Faszination mit der Geometrisierung in der kubistischen und suprematistischen Kunst, lehnte Chlebnikow die Ästhetik der geraden Linie ab und betonte stattdessen Bewegung und Wachstum, so wie sie in fließenden und gerundeten Formen zum Ausdruck kommen.47 Seine scheinbar wachsenden Strukturen werden von der Idee von Mobilität, Transparenz und Entmaterialisierung beherrscht. Doch obwohl er seine Inspiration von den organischen Formen und strukturellen Prinzipien der Natur ableitete: „die Stadt selbst wird zum ersten, noch schülerhaften Versuch einer Übungspflanze höherer Ordnung“48, ist Chlebnikows Architektur nicht deren direkte Imitation. Transparent, hell und glänzend wie ein „Glas-Wald“ wächst Chlebnikows Stadt der Zukunft zum Himmel; sie wiederholt nicht die Natur, sondern ergänzt diese und gibt der Natur Raum zu sein und sich zu entwickeln.49
Organisch-ganzheitliche Weltbilder in der St. Petersburger Avantgarde Die anti-urbanistischen Haltungen in der russischen Avantgarde waren mit organischganzheitlichen Weltanschauungen verbunden. Unter dem Eindruck der naturwissenschaftlichen Entdeckungen, technischen Erfindungen und neuen Welterfahrungen des neunzehnten Jahrhunderts hatten sich in Russland um die Jahrhundertwende nicht nur Wissenschaftler und Intellektuelle, sondern auch Künstler organischen Weltkonzepten zugewandt. Auch zahlreiche Mitglieder der russischen Avantgarde vertraten eine pantheistisch, neo-vitalistisch oder monistisch geprägte Weltanschauung. Jelena Guro und Nikolai Kulbin waren Pantheisten, sie betrachteten das Universum als beseeltes Wesen und glaubten die Manifestationen der Weltseele in allen Erscheinungen und Prozessen der organischen und anorganischen Natur finden zu können. Pawel Filonow vertrat eine neo-vitalistische Weltanschauung, er begründete die Einheit von Materie und Geist mit dem Wirken einer vitalen, inneren Kraft. Michail Matjuschin war ein Anhänger des Monismus, dessen Vertreter an die Einheit von Materie und Geist und die Existenz von einheitlichen, der Natur zugrunde liegenden Gesetzen, glaubten. Auch Kasimir Malewitsch sprach von der allgemeinen
46 V. V. Chlebnikov, Utes iz budiščego, in: Chlebnikov 1928–33, Bd. 4, S. 296–299. Deutsch in: Chlebnikov 1985, S. 299–304. Vgl. auch Kovtun/Povelichina 1976, S. 41–42. 47 Kovtun/Povelichina 1976, S. 40. 48 Chlebnikov 1985, S. 236. 49 Ebenda.
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Einheit der Natur und von einer universellen Bewegung als Ursache alles Seins.50 Die Anschauungen dieser Künstler wurden nicht nur vom Pantheismus der Renaissance, dem Vitalismus des achtzehnten Jahrhunderts und der romantischen Naturphilosophie geprägt, sondern waren insbesondere den Ideen von Jean-Baptiste Lamarck und Charles Darwin, Gustav Theodor Fechner, Wilhelm Ostwald und Wilhelm Wundt, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche und Henri Bergson verpflichtet. Die ganzheitlich-organischen Weltanschauungen schienen von den jüngsten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen bestätigt zu werden. Die Begründung der Zelltheorie 1839 durch Matthias Schleiden und Theodor Schwann verbunden mit der Entdeckung der Zelle als kleinster lebender Einheit in der organischen Natur, die Formulierung des Energieerhaltungssatzes in den 1840er Jahren durch Julius Robert Mayer und Hermann von Helmholtz, mit dem sie den Zusammenhang aller Naturprozesse und die Einheit aller Bewegungsformen in der Natur begründeten, die Erkenntnis über den Atomaufbau der chemischen Elemente, wie er von Dmitri Mendelejew und Julius Lothar Meyer in den 1980er Jahren im Periodensystem dargestellt wurde, ebenso wie die vielfältige Nutzung der elektrischen Energie und die Anwendung von Phänomenen wie des Elektromagnetismus, der Radioaktivität und der Röntgenstrahlen schien einerseits auf eine alles durchdringende energetische Kraft und andererseits auf eine alles verbindende kosmische Bewegung hinzuweisen; sie vertieften das Verständnis von einem einzigen organischen Weltganzen. Fragen nach dem Wesen von Materie, Energie und Bewegung, nach den Wechselwirkungen zwischen den Dingen, nach den sichtbaren und unsichtbaren Beziehungen zwischen Organismus und Umwelt, Welt und Kosmos sowie nach dem ursächlichen Zusammenhang von Materie und Geist traten in den Mittelpunkt der Überlegungen. Künstler wie Filonow, Kulbin, Malewitsch und Matjuschin betrachteten den Menschen als integralen Bestandteil der Natur; sie waren überzeugt, dass das menschliche Dasein den Gesetzen der Natur unterworfen sei und sich ihre künstlerische Tätigkeit an den Gesetzen der Natur ausrichten müsse. Malewitsch schrieb: „über die Natur können wir nicht siegen, denn der Mensch ist Natur,...“.51 Tatlin betrachtete den Menschen als „... ein organisches Wesen, bestehend aus Skelett, Nerven und Muskeln“;52 Kulbin sprach von den „Zellen des Körpers der lebendigen Erde“, die dazu berufen waren, ihr Verlangen zu erfüllen.53 Filonow formulierte seine Theorie der „gemachten Bilder“ im Angesicht und „im Namen der ewigen und großen Kraft, die in uns lebt, der Kraft der Schaffenden, die die Erde schmücken, der Kraft der Menschen, die im Sterben erkennen, daß sie auf der Erde ihre Spur und ihr 50 K. Malevič, O Novych Sistemach v Iskusstve, Witebsk 1919, S. 101. Deutsch als: Kasimir Malewitsch, Über die neuen Systeme in der Kunst, Zürich 1988, S. 15. 51 Malewitsch 1988, S. 7. 52 V. E. Tatlin, Chudožnik – organizator byta, in: Rabis, Nr. 48, vom 25. November 1929, S. 4. Deutsch in: Larissa Alexejewna Shadowa (Hg.), Tatlin, Dresden 1987, S. 329. 53 N. I. Kulbin, Značenie teorii iskusstva, in: ders. (Hg.), Studija impressionistov. Kniga 1-aja, St. Petersburg 1910, S. 8–9.
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Werk hinterlassen haben....“54 Die Künstler gelangten zu der Überzeugung, dass der Mensch als organischer Bestandteil der Natur nach Naturerkenntnis streben und in seiner schöpferischen Tätigkeit den organischen Prinzipien der Natur folgen müsse. Die Rolle des menschlichen Individuums in seiner natürlichen Umwelt verstanden sie als seine aktive Teilnahme am fortschreitenden Weltprozess, als Kultivierung seiner eigenen Evolution.55 Das Verhältnis des Künstlers zur Natur war ein viel diskutiertes Thema; die Kunst sollte nicht länger die sichtbare Wirklichkeit abbilden oder eine höhere Wirklichkeit spiegeln, sondern menschliches Äquivalent der schöpferischen Tätigkeit der Natur sein. Naturphänomene, die Bewegung und organisches Wachstum umfassten, dienten als Grundlage für ihre künstlerischen Konzepte und theoretischen Überlegungen. Bei ihrer Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen, die die Natur nicht länger imitieren und die Kunst von Realismus, Rationalismus und Mystizismus befreien würden, wandten sich die Künstler der frühen St. Petersburger Avantgarde daher zunehmend organischen Prinzipien und den Wirkungsweisen der Natur zu. In ihrem Aufsatz „Die Grundlagen der neuen Schöpfung und die Gründe für das Unverständnis ihr gegenüber“, der 1913 im dritten Sammelband des Bundes der Jugend veröffentlicht wurde, forderte die Malerin Olga Rosanowa, dass der Künstler kein „passiver Imitator der Natur“, sondern ein „aktiver Sprecher von seinem Verhältnis zu ihr“, sein müsse.56 Sie fragte danach, wie der Künstler mit den Phänomenen der Natur umgeht und wie er die sichtbare Welt auf der Grundlage seines Verhältnisses zur Natur darstellt: „Der Künstler der Vergangenheit richtete seine Aufmerksamkeit auf die Natur, er vergaß das Bild als ein bedeutendes Phänomen und als ein Ergebnis, es wurde lediglich eine blasse Erinnerung dessen, was er sah, eine langweilige Assemblage von vorgefertigten, unteilbaren Darstellungen der Natur, die Frucht von Logik mit ihren unveränderlichen, nicht-ästhetischen Merkmalen. Die Natur versklavte den Künstler.“57
Auch Kasimir Malewitsch beklagte, dass der Künstler bis in die Gegenwart ein „Sklave der Natur“ gewesen sei, und „der schöpferische Drang ... bisher in die realen Formen des Lebens eingezwängt“ wurde.58 Er bestand darauf, dass der moderne Künstler nicht die Formen der Natur nachahmen, sondern eigene Formen gleich der Natur schaffen müsse. In Analogie zu den Bausteinen der Natur – den Zellen und Molekülen – begann er seine Werke aus einfachen, geometrischen Elementen aufzubauen, die als neue, elementare Bausteine seiner künstlerischen Welt dienten: „In der 54 P. Filonov u. a., Intimnaja masterskaja živopiscev i risoval’ščikov „Sdelannye kartiny“, Flugblatt, St. Petersburg 1914. Deutsch in: Harten/Petrowa 1990, S. 70. 55 Douglas 1984, S. 153–161. 56 Ol’ga Rozanova, Osnovy novogo tvorčestva i pričiny ego neponimanija, in: Sojuz molodeži, Nr. 3, März 1913, S. 15. 57 Ebenda, S. 16. 58 K. Malevič, Ot kubizma k suprematizmu. Novyj živopisnyj realizm, Petrograd 1915. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S. 140.
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Kunst des Suprematismus werden die Formen leben wie alle lebendigen Formen der Natur.... Jede Form ist frei und individuell. Jede Form ist eine Welt.“59 Pawel Filonow forderte, dass sich der Künstler in seiner schöpferischen Tätigkeit an den Prinzipien der lebendigen Natur orientiere indem er die vielfältigen künstlerischen Formen der Nachahmung der Natur durch „den wissenschaftlichen, analytischen, intuitiven Naturalismus, die Initiative dessen, der alle Prädikate des Objekts, der Phänomene der ganzen Welt, die sichtbaren und die dem bloßen Auge nicht sichtbaren Phänomene und Prozesse im Menschen selbst untersucht“, ersetzt.60 Wladimir Tatlin und Pjotr Mituritsch fanden die Inspiration für ihre Konstruktionen in den organischen Formen der Natur. Für sie bildeten Naturprinzipien wie der Vogelflug und die Fortbewegung von Insekten, Reptilien und Amphibien die Grundlage aller Technik. Tatlin stellte heraus: „Außer dem ‚Was‘ ist das ‚Wie‘ sehr wichtig, wichtig ist die organische Form. Zu diesem Zweck nehmen wir eine Analyse der vorhandenen Gegenstände vor, nutzen die technische Anlage als Muster für die Form der künftigen Gegenstände und nutzen schließlich auch die Erscheinungen der lebenden Natur als Muster. Das sind unsere Hauptaufgaben bei der Organisation der neuen Gegenstände und der neuen Lebensweise.“61
Die Beobachtung und Nutzung von Naturprinzipien wurde zur Grundlage ihrer Entwicklungen; bei ihrer Arbeit an den Flugapparaten war es für Tatlin die Konzentration auf das Material und die Verwendung von gekurvten Formen und für Mituritsch die Orientierung am Prinzip der Wellenbewegung, die sie zu den konstituierenden Elementen ihres „organischen Konstruktivismus“ führten.62 Sie waren überzeugt, dass ihre künstlerischen Experimente zu alternativen und menschlicheren Formen der Technik führen würden.
Der Evolutionsgedanke in der Kunst Die organisch-ganzheitlichen Weltanschauungen der frühen russischen Avantgarde und die Suche der Künstler nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen, die in der Lage wären, die Beziehungen zwischen Mensch und Natur aufzuzeigen, wurden nachhaltig von der Evolutionstheorie beeinflusst. Diese lieferte nicht nur die Begründung für die organische Entwicklung von Natur und Leben, sondern bildete zugleich die Grundlage für das Verständnis vom dynamischen Charakter und der Einheitlichkeit der Welt sowie für die Idee, dass natürliche Veränderungen im Ergeb59 K. Malevič, Ot Kubizma i Futurizma k Suprematizmu. Novyj Živopisnyj Realizm, Moskau 1916. Deutsch in: Uwe M. Schneede (Hg.), Chagall, Kandinsky, Malewitsch und die russische Avantgarde, Ausst.-Kat., Hamburg, Zürich; Ostfildern-Ruit 1998, S. 270. 60 P. N. Filonov, Deklaracija „Mirovogo rascveta“, in: Žizn’ iskusstva, Nr. 20, Petrograd, 22. Mai 1923, S. 14. Deutsch in: Harten/Petrowa 1990, S. 76. 61 Tatlin 1929, S. 4. Deutsch in: Shadowa 1987, S. 330. 62 Lodder 1983, S. 205–223.
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nis der Wechselwirkungen zwischen dem Organismus und seiner Umwelt entstehen. Der Evolutionsgedanke spielte daher eine wesentliche Rolle bei der Suche nach einer Theorie, die eine ganzheitliche Betrachtung von Mensch und Natur in ihrer kosmischen Verankerung ermöglichen konnte. Die Darwinsche Evolutionstheorie hatte Russland in den 1860er Jahren erreicht.63 Sie fiel im Russland der Reformära auf fruchtbaren Boden, denn sie eröffnete die Möglichkeit einer grundlegenden Zusammenfassung der empirischen Erkenntnisse in den Wissenschaften vom Leben, bot eine neue philosophische Orientierung, wurde als Ruf nach sozialer Aktion verstanden sowie generell als neue Interpretationsmethode betrachtet. Die Beschäftigung mit dem Darwinismus blieb daher nicht auf biologische Forschungslabore beschränkt, sondern fand auch Aufnahme in die Sozialwissenschaften und bot eine breite philosophische Grundlage für die Gesellschaftsmodelle der Realisten und Populisten. Doch trotz der allgemein positiven Aufnahme des Darwinismus in Russland erklärten die meisten Anhänger der Evolutionstheorie Darwins Analyse als zu einseitig von den sozialökonomischen Verhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft in England abgeleitet, sie lehnten sowohl „natürliche Auslese“ als Mechanismus des Evolutionsprozesses als auch seine aggressiven Begriffe „Kampf ums Dasein“, „Konkurrenz“ und „Überleben“ ab. Nikolai Tschernyschewski kritisierte, dass der Darwinismus, indem er eine auf „Konkurrenz“ und „Kampf“ basierende Evolution des Organismus postulierte, Gewalt zu rechtfertigen schien.64 Ilja Metschnikow versuchte „natürliche Auslese“ durch eine Reihe anderer Faktoren zu ersetzen, im Lamarckschen Sinne sprach er von der Vererbung der erworbenen Eigenschaften und einer inneren „speziellen Tendenz zur Perfektion“ im Organismus.65 Nikolai Noshin betrachtete im Gegensatz zu Darwin nicht den „Kampf ums Dasein“, sondern „Kooperation von ähnlichen Individuen“ als Quelle der biologischen und gesellschaftlichen Evolution.66 Der einflussreiche Anarchist Pjotr Kropotkin fand da, wo Darwin Konkurrenz innerhalb der Art sah, „Kooperation“ als treibende Kraft des Evolutionsprozesses und betrachtete das Prinzip „gegenseitiger Hilfe“ als universelles Naturgesetz.67 Selbst der orthodoxe Darwinist Kliment Timirjasew vermied den Begriff „Kampf ums Dasein“; 63 Charles Darwins Theorie wurde ab 1861 in Russland diskutiert; eine erste summarische Darstellung seines Werkes On the Origin of Species erschien 1861. Darwins 1871 veröffentlichtes Buch Descent of Man erschien noch im selben Jahr in drei russischen Übersetzungen. Vgl. Loren R. Graham, Science in Russia and the Soviet Union: A Short History, Cambridge, Mass. 1993, S. 56–76; Daniel P. Todes, Darwin without Malthus: The Struggle for Existence in Russian Evolutionary Thought, New York 1989; Alexander Vucinich, Science in Russian Culture 1861–1917, Stanford 1970, S. 104–108; ders., Russia: Biological Sciences, in: Thomas F. Glick (Hg.), The Comparative Reception of Darwinism, Austin 1972, S. 227–268; ders., Darwin in Russian Thought, Berkeley 1988. 64 Graham 1993, S. 64–65. 65 Todes 1989, S. 92. 66 N. D. Nožin, Naša nauka, in: Knižnyi Vestnik, Nr. 7 (1866), S. 175, zit. in: Vucinich 1972, S. 250. 67 Petr A. Kropotkin, Mutual Aid: A Factor of Evolution, London 1902. Vgl. Graham 1972, S. 62– 70.
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er bevorzugte „Harmonie“ anstelle von „Kampf“ und interpretierte Darwins „natürliche Auslese“ als Methode der Natur, um Harmonie zu erreichen.68 Die Interpretation des Darwinismus als harmonische Entwicklung in Natur und Gesellschaft reflektierte den Populismus der 1870er Jahre. Die Populisten verbanden die Positionen der Slawophilen, die diese in der Auseinandersetzung mit den Westlern um den nationalen Charakter der slawischen Kultur und die historische Zukunft Russlands in den 1840er und 1850er Jahren vertreten hatten, mit der Begeisterung für die moderne Wissenschaft und dem Glauben an das Individuelle als motivierende Kraft der Geschichte; sie neigten zum utopischen Sozialismus.69 Dabei brachten die Populisten den Evolutionsgedanken mit der von den Slawophilen propagierten orthodoxen Idee der sobornost’ in Verbindung. Der von dem slawophilen Publizisten und Laientheologen Alexei Chomjakow in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts geprägte Begriff der sobornost’ meinte die gemeinschaftlich bekundete freie Glaubensbereitschaft der orthodoxen Christen. Er bezeichnete eine Form orthodoxen Zusammenlebens, die durch die Einheit der Freiheit, den Sieg der Harmonie über das Chaos und der Liebe über Hass und Tod geprägt war.70 Als Ideal der ganzheitlichen Entfaltung des Individuums und seiner sozialen Integration in eine harmonische Gemeinschaft richtete sich sobornost’ gegen die Entfremdung des Menschen in der spätbürgerlichen Gesellschaft und bildete zugleich die theoretische Grundlage für die utopischen Entwürfe zur harmonischen Integration des Individuums in eine Gemeinschaft, die auf religiösen Grundsätzen und ästhetischen Maßstäben gründete. Die Verbindung des orthodoxen Gemeinschaftsideals der sobornost’ mit der slawophilen Idee von der Besonderheit des russischen Wesens vollzog Nikolai Daniljewski in seinem 1871 erschienenen Werk „Russland und Europa“, in dem er der gewalttätigen und individualistischen Natur des westlichen Menschen das Streben nach Harmonie und Kooperation des östlichen Menschen gegenüber stellte und zu einer Förderation der slawischen und byzantinischen Staaten unter der Führung Russlands aufrief.71 In seinem folgenden Aufsatz „Der Darwinismus: Eine kritische Studie“ machte er den Darwinismus zum Gegenstand einer grundlegenden Kritik am Wesen der westeuropäischen Wissenschaft, die er als zutiefst materialistisch, atheistisch und intellektuell oberflächlich verdammte. Er kritisierte die Aufhebung des teleologischen Prinzips in der Natur durch den Zufall und den „Kampf ums Dasein“ als Mechanismus der natürlichen Auslese und stellte Darwins „chaotischer“ natürlicher Ursache die schrittweise Entfaltung des höchsten „intellektuellen Prinzips“ als universelles Naturgesetz gegenüber.72 68 69 70 71
Todes 1989, S. 159–165. Vucinich 1970, S. 21–30. Nicolas Zernov, The Church of Eastern Christians, New York 1944, S. 64. Nikolai Danilevskij, Rossija i Evropa, St. Petersburg 1871. Deutsch in: Frank Golczewski, Gertrud Pickhan (Hg.), Russischer Nationalismus. Die russische Idee im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1998, S. 181–183. 72 Nikolai Danilevskij, Darvinizm: Kritičeskoe issledovanie, 2 Bde., St. Petersburg 1885–89. Vgl. auch Vucinich 1970, S. 276; Graham 1993, S. 70.
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Die Populisten betonten die Bedeutung der Rolle des Individuums im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess. In der Überzeugung, dass die Gesellschaft mit den Gesetzen der Natur korrespondiere, verbanden sie Darwins Lehre von einem natürlichen Entwicklungsprozess von einfachen zu komplizierten Formen in der Natur mit ihrem Glauben an die Höherentwicklung bzw. an den Fortschritt in der Gesellschaft. Indem sie den einzelnen Organismus als ein Agens im Prozess seiner Anpassung an die Umwelt und nicht als Produkt der natürlichen Auslese betrachteten, postulierten sie ein symbiotisches Verhältnis von Organismus und Umwelt. Die Vorstellung von der aktiven Teilhabe eines jeden Organismus (einschließlich des Menschen) an seiner Höherentwicklung und an der Zukunft der Art muss als ein generelles Merkmal der geistig-kulturellen Bestrebungen in Russland im ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert betrachtet werden. In der Verbindung des Evolutionsgedankens mit der Idee vom Fortschritt in Natur und Gesellschaft behielten russische Wissenschaftler und Intellektuelle in gewisser Weise Lamarcks teleologische Orientierung bei. Zugleich interpretierten sie Fortschritt in der Natur mit Höherentwicklung der Spezies und in der menschlichen Gesellschaft mit geistiger Vervollkommnung und Verbesserung des moralischen Zustandes der Menschheit. Die Frage, mit welchen Mitteln und auf welchen Wegen der Mensch bewusst an seiner Höherentwicklung wirken könne, sollte Wissenschaftler, Philosophen und Künstler der folgenden Generation intensiv beschäftigen.73 Die allgemeine Aufnahme des Evolutionsgedankens in Russland mit dem Verständnis von einem kontinuierlichen organischen Entwicklungsprozess von einfachen zu komplexen Formen in Natur und Gesellschaft blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Kunst. Unter dem Einfluss der Evolutionstheorie kamen russische Künstler und Intellektuelle zu der Überzeugung, dass, so wie sich alle Erscheinungen in der Natur und in der Gesellschaft in ständiger Entwicklung befanden, auch die Kunst dem Prozess der natürlichen Evolution folgen musste, d. h. wie die Natur mussten sowohl die künstlerischen Formen als auch das Schaffen des Künstlers einem ständigen Wandel unterliegen, der dem allgemeinen Naturgesetz der Evolution folgte. „Die Evolution in der Kunst ist immerfort in Bewegung, denn alles in der Welt ist in Bewegung...“ schrieb Malewitsch.74 „Evolution und Revolution in der Kunst dienen dem alleinigen Zweck, zur Einheit des Schaffens zu gelangen – zur Zeichengestalt statt Naturnachahmung.“75 Diese Auffassung war mit einem grundlegenden Wandel im Verständnis vom Kunstwerk verbunden. In einer Kunst, die sich in einem ständigen Entwicklungsprozess befand, konnte das Kunstwerk nicht mehr ausschließlich das Endprodukt eines einmaligen Schöpfungsaktes des Künstlers sein, sondern bezeichnete vielmehr ein Entwicklungsstadium im Gesamtprozess der geistigen Entwicklung des Men73 Isabel Wünsche, Harmonie und Synthese. Die russische Moderne zwischen universellem Anspruch und nationaler kultureller Identität, München 2008. 74 Malewitsch 1988, S. 11. 75 Ebenda.
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schen. Das Kunstwerk als Ausdruck der schöpferischen Tätigkeit des Künstlers war zugleich ein Spiegelbild seines natürlichen Entwicklungsstandes und seines Begriffes von der Welt; es stellte einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Schöpfertum des Menschen und seiner natürlichen Entwicklung her. Avantgarde-Künstler wie Kulbin, Larionow, Malewitsch und Matjuschin waren überzeugt, dass die psychophysiologische Entwicklung ebenso wie das künstlerische Schaffen des Menschen auf die tatsächlichen Lebensbedingungen reagierte und die Kunst die Entwicklung des menschlichen Körpers und seiner Sinne reflektierte. Die Auffassung vom Kunstwerk als Widerspieglung des gegenwärtigen Stadiums im Prozess der geistigen Entwicklung der Menschheit findet sich auch bei Wassily Kandinsky. Kandinsky, der das Kunstwerk als Einheit aus innerem Wesen, d. h. der Emotion der Seele des Künstlers, und äußerer Form, d. h. als materiellen Ausdruck des abstrakten Inhalts, betrachtete, gelangte zu der Überzeugung, dass alle Kunst aufgrund ihres Inhalts ewig und unveränderlich ist, zugleich jedoch ständig ihre Formen verändert. Daraus schlussfolgerte er: „... so wie sich der Geist unaufhörlich verfeinert und sich dabei selbst der Materialität der Seele entledigt, so müssen die Mittel der Kunst entsprechend und teilweise im voraus ‚verfeinert‘ werden.... Sie [die Kunst – I.W.] muss die geistige Evolution anführen, indem sie ihre Formen zu immer größerer ‚Verfeinerung‘ führt und prophetisch den Weg weist.“76
Künstler wie Malewitsch und Filonow hingegen betrachteten die künstlerische Form nicht nur als Reflexion des geistigen Entwicklungsstandes des Menschen, sondern auch als selbständigen und lebenden Organismus, der seine eigene Evolution entsprechend der ihm immanenten Gesetze und innewohnenden natürlichen Kräfte vollzieht. Diese Auffassung von Bewegung, Wandel und Veränderung von organischen Formen in Natur und Kunst wird besonders deutlich in Filonows Verständnis von der reinen evolutionären Form: „Eigentlich ist eine reine Form in der Kunst jedes beliebige Ding, das mit offengelegter Verbindung zu der sich in ihm abspielenden Evolution gemalt ist, d. h. mit der allsekundlichen Umwandlung in etwas Neues, wie auch mit den Funktionen und dem Werden dieses Prozesses.“77 Damit stellte die künstlerische Form für Filonow nicht nur eine einseitige und passive Reflexion der menschlichen Tätigkeit dar, sondern ihre Entwicklung folgte denselben natürlichen Gesetzen wie die ihres Schöpfers, und zwischen beiden musste sich ein wechselseitiges Verhältnis einstellen. So wie der Evolutionsgedanke ein neues Verständnis von der Stellung des Menschen im Gesamtzusammenhang der Entwicklung des Lebens auf der Erde geschaffen hatte, bildete er auch die Grundlage für ein neues Verständnis von der Stellung 76 V. V. Kandinskij, Soderžanie i forma, in: Salon 2 – Meždunarodnaja chudožestvennaja vystavka Vladimira Izdebskago, Ausst.-Kat., Odessa 1910–11, S. 15. 77 P. P. Filonov, Kanon i zakon 1912, zit. in: Jewgeni Kowtun, Der Augenzeuge des Unsichtbaren. Über das Werk von Pawel Filonow, in: Harten/Petrowa 1990, S. 18.
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und Bedeutung des Künstlers im Verlaufe der Kunstgeschichte. Der Künstler war nicht länger derjenige, der die ihn umgebende Natur studierte und darstellte, sondern so wie sein physisches und psychisches Wesen am Entwicklungsprozess der Natur teil hatte, so reflektierte sein künstlerisches Schaffen ein bestimmtes Entwicklungsstadium im gesamten Weltprozess. Die im russischen Denken vorgenommene Ersetzung von „natürlicher Auslese“ durch die aktive Rolle des Organismus in seiner organischen Evolution und des Menschen in seinem eigenen Entwicklungs- und Sozialisierungsprozess bestimmte auch das Verständnis von der aktiven Rolle des Künstlers im künstlerischen Schaffensprozess und die Überzeugung von der Möglichkeit seiner bewussten Einflussnahme auf die Entwicklung der Kunst. Die frühe russische Avantgarde betrachtete den Künstler als einen Vorreiter der Bewusstwerdung der schöpferischen Evolution der Menschheit, als einen Menschen, der in der Lage sei, die Weltprozesse klarer als seine Mitmenschen-Nichtkünstler zu erfassen und zu erkennen. Künstler wie Filonow, Kulbin, Kandinsky, Malewitsch und Matjuschin waren überzeugt, dass der Künstler mit der Ausarbeitung neuer künstlerischer Ausdrucksmittel und Stile unmittelbaren Einfluss auf die Entwicklung der Sinneswahrnehmung und das geistige Vorstellungsvermögen des Betrachters erlangen konnte, die mit psychophysiologischen Veränderungen in der Seele des Menschen und mit einem qualitativen Wechsel im menschlichen Bewusstsein verbunden wären. Sie forderten, dass die Kunst Gebrauch von der Ganzheit der Psyche, ihrer Vitalität, ihrer Kapazität für Neuheit und wahres Schöpfertum machen sollte, um eine den natürlichen Lebensumständen des Menschen entsprechende Kunst zu schaffen und damit aktiv an der Formung der menschlichen Wahrnehmung und des Verständnis von der Welt teilzunehmen und die natürliche Entwicklung des Menschen voranzutreiben.78 Die frühe russische Avantgarde gelangte zu der Überzeugung, dass es Aufgabe des Künstlers sein müsse, die Prinzipien der Natur zu studieren und sein Schaffen an ihnen auszurichten, um den Zeitgenossen seine besondere Welterfahrung durch das Medium der Kunst zu vermitteln. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, musste sich der Künstler selbst als erster einer grundlegenden Bewusstseinsveränderung unterziehen und diese auf der Leinwand für den Betrachter erfahrbar machen. Für Malewitsch bestand der Genius des Künstlers darin, mit seinem Schaffen unmittelbaren Einfluss auf den „Fluss des Lebens“ zu nehmen: „Dem Künstler ist die Gabe verliehen, dem Leben seinen schöpferischen Tribut zu entrichten und den Lauf des wandelbaren Lebens zu beschleunigen. Nur in der absoluten Schöpfung kommt er zu seinem Recht.“79 Tatlin betrachtete den Künstler als „Initiativeinheit“ bei der formgestalterischen Tätigkeit der Gesellschaft und die Kunst als Mittel zur Humanisierung der Gesellschaft.80 Filonow forderte vom Künstler durch die Sensibilisierung 78 Charlotte Douglas, Suprematism: The Sensible Dimension, in: The Russian Review, Vol. 34, July 1975, No. 3, S. 266–281. 79 Malevič 1916, in: Schneede 1998, S. 262. 80 Anatolij Strigalev, Vladimir Tatlin. Eine Retrospektive, in: Anatolij Strigalev, Jürgen Harten (Hg.), Vladimir Tatlin. Retrospektive, Ausst.-Kat., Düsseldorf, Baden-Baden, Köln 1993, S. 8–52.
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seines Bewusstseins zur Transformation der menschlichen Wahrnehmung voranzuschreiten: „Künstler, du mußt für dich selbst kritisch denken, voraussehen, machen, schaffen, erfinden. Erwirb ein Maximum an bildnerischer Kraft; erwirb weltumspannende Ideologie, wissenschaftliche Wahrnehmung und ihre Erfordernisse.“81 Im Bewusstsein dieser historischen Mission wandten sich Avantgarde-Künstler der Kunstgeschichte zu, um die Gesetze und historischen Inhalte des Auftretens unterschiedlicher Stilformen in der Kunst zu analysieren und die Gesetze für die Kunstentwicklung in der Gegenwart abzuleiten. Künstler wie Kulbin, Kandinsky, Malewitsch und Matjuschin sahen sich am offenen Ende eines langwierigen künstlerischen Entwicklungsprozesses, der die Geschichte der Weltkunst umfasste und zugleich ihre Position in der Geschichte der Weltkunst und die künstlerischen Aufgaben der Gegenwart bestimmte. Sie waren überzeugt, dass sich die Kunst kontinuierlich und in Übereinstimmung mit der psychophysiologischen Entwicklung der Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen von ihren Anfängen in den primitiven Piktogrammen der frühen Gesellschaften bis zu den Ismen der Gegenwart entfaltet hatte: „Wir sehen, welche Vollkommenheit der Mensch in der Kunst erreicht hat, und wie sehr überhaupt alle seine Werkzeuge, auch die seiner Kunst im Ganzen, noch verfeinert werden müssen, um sein Bild der neuen Welt in jeder künstlerischen Beziehung, sei es der wissenschaftlichen oder der schöpferischen, vollkommener zu machen. Alles, was der Detail-Mensch schafft, ist Element seines gesamten, kollektiven Weltbildes.“82
Dabei führten sie die gravierenden stilistischen und inhaltlichen Unterschiede in der Erscheinung und die Ungleichzeitigkeit in der Entwicklung der Kunst in unterschiedlichen Ländern der Welt auf verschiedenartige Umweltbedingungen zurück, die die biologische und geistige Entfaltung von Mensch und Kultur in diesen Regionen in unterschiedlicher Weise bestimmt hatten. Die Betonung der Bedeutung von Umweltfaktoren für die allgemeinen Entwicklungsprozesse ist charakteristisch für die russische Avantgarde, wobei es den Künstlern auch in der Kunst nicht um „natürliche Auslese“, sondern um ein symbiotisches Verhältnis von Organismus und Umwelt ging. Die russische Interpretation des Darwinismus, die auf der Idee von harmonischer Entwicklung, „Kooperation von ähnlichen Individuen“, dem Prinzip „gegenseitiger Hilfe“ sowie vom Glauben an eine spezifische innere „Tendenz zur Perfektion“ des Organismus statt auf „Kampf ums Überleben“ und „natürlicher Auslese“ gründete, bildete auch die Grundlage für die generelle Untersuchung der Weltkunst durch die Avantgarde sowie für den synthetischen Umgang mit den künstlerischen Errungenschaften unterschiedlicher Zeiten und Nationalitäten. Wie Naturwissenschaftler und Intellektuelle das dynamische Prinzip in Natur und Gesellschaft mit dem Glauben an Höherentwicklung bzw. Fortschritt verbanden, glaubten Kunsttheoretiker und Künstler der Zeit, dass die Entwicklung in der Kunst dem natürlichen und 81 Filonov 1923, S. 14. Deutsch in: Harten/Petrowa 1990, S. 78. 82 Malewitsch 1988, S. 7.
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gesellschaftlichen Fortschritt folgt. Diese Auffassung führte sie zu der Überzeugung, dass die Kunst wie die Natur und die Gesellschaft nach immer größerer Perfektion strebe: „Die Vollendung der Welt ist die Vollendung des Menschen, und seine Vollendung ist ein Organismus des ewig sich Wandelnden und in Neuem Gipfelnden, denn seine Konstruktion, sein System sind nichts anderes als das Instrument zur Eroberung des Unendlichen.“83 Die Lamarcksche Konzeption von der Vererbung erworbener Eigenschaften und einer spezifischen, inneren Tendenz zur Perfektion des Organismus verbunden mit der allgemeinen Idee von Fortschritt und Streben nach Vervollkommnung in Natur und Kunst schloss zugleich die Vorstellung einer dialektischen Aufhebung der erlangten künstlerischen Werte in neu entwickelten Ausdrucksformen und Stilen ein. Das Verständnis von der menschlichen Kunst als ein Bestandteil und als spezifischer Ausdruck des natürlichen Entwicklungsprozesses der Welt, d. h. die Betrachtung der Kunstgeschichte als eine zusammenhängende historische Abfolge von künstlerischen Stilen, ermöglichte für den Künstler wie für den Betrachter zugleich die historische Rezeption dieser Erscheinungen. Die synthetische Interpretation der Kunstgeschichte durch die russische Avantgarde, die von der Vorstellung einer dialektischen Aufhebung des Vergangenen im Neuen getragen wurde, fand ihren deutlichsten Ausdruck in der von Malewitsch in den 1920er Jahren ausgearbeiteten Theorie vom Ergänzungselement. Malewitsch ging davon aus, dass jeder Stil der modernen Malerei von einem spezifischen formalen Element charakterisiert wird, das zum malerisch-formalen Komplex seines Vorgängersystems hinzugetreten war. Dieses formale Element, d. h. das Ergänzungselement, das Malewitsch im Ergebnis seiner Untersuchung der Evolution der modernen Malerei nach ihren Merkmalen und Gesetzmäßigkeiten sowie nach den Wechselwirkungen und Veränderungen zwischen den stilistischen Systemen formulierte, hatte „die Gestalt einer Formel oder eines Zeichens, das auf die gesamte Zusammensetzung und auf das die Elemente verbindende Bauprinzip verweist“.84 Es diente ihm zur Beschreibung des „spezifischen Komplexes von malerischen und formalen Elementen und Verfahren“ des Impressionismus, Cézannismus, Kubismus, Futurismus, Suprematismus und zur Erklärung der Übergänge von einem System zu einem anderen und bildete zugleich die Grundlage für sein pädagogisches Programm der malerischen Ausbildung.85 Diese formale Methode einer stilistischen Analyse gründete nicht nur auf dem visuellem Eindruck, sondern vor allem auf der Annahme, 83 Ebenda, S. 17. 84 K. S. Malevič, LGALI, F. 244, Op. 1, Ed. khr. 69, L. 21, zit. in: Irina Karassik, Das Institut für Künstlerische Kultur (GINCHUK), in: Klotz 1991, S. 42. Vgl. auch Evgenij Kovtun, Publikacii Maleviča. O teorii pribavočnogo ėlementa v živopisi, in: Dekorativnoe iskusstvo 11, 1988, S. 33– 41; Matthew G. Looper, The Pathology of Painting: Tuberculosis as a Metaphor in the Art Theory of Kazimir Malevich, in: Configurations – A Journal of Literature, Science and Technology, Vol. 3, Winter 1995, No. 1, S. 27–46. Anschauungstafeln zum Ergänzungselement vgl. Troels Andersen (Hg.), Malevich, Ausst.-Kat., Amsterdam 1970, S. 115–133. 85 Ebenda.
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dass die äußere, d. h. die künstlerische Form, als Beweis für physiologische und psychische Stadien des Seins und der natürlichen Evolution des Menschen dienen könne. Malewitschs Theorie war zugleich der Versuch, den Suprematismus in den Kontext der Kunstgeschichte zu stellen, um die organischen und evolutionären Prinzipien herauszustellen, die die gegenstandslose Malerei diktierten.
Die Kunst als Medium zur Entwicklung von kosmischem Bewusstsein Die Aufnahme und Verarbeitung des Evolutionsgedankens im künstlerischen Denken war mit einer grundlegenden Akzentverschiebung in der Kunst verbunden; an die Stelle von ästhetischen Problemstellungen traten erkenntnistheoretische Fragen nach den Bedingungen und dem Wesen der menschlichen Wahrnehmung und des künstlerischen Schaffens. Das menschliche Wesen in seiner biologischen wie mentalen Struktur war Bestandteil eines universellen Entwicklungszusammenhangs geworden, der Künstler konnte nicht länger als Unbeteiligter auf die ihn umgebende Welt schauen, sondern die eigene, menschliche Natur und Wahrnehmungsfähigkeit wurde zum Untersuchungsgegenstand der Kunst. Die frühe russische Avantgarde suchte die Gesetze für eine neue Kunst in der Natur und in der Psyche des Menschen, sie richtete den Blick nach innen. Im Zentrum der neuen Kunst stand nicht mehr die gegenständliche Umwelt, sondern die Eigenwertigkeit der künstlerischen Mittel sowie die Eigengesetzlichkeit der schöpferischen Tätigkeit und der Prozesse der menschlichen Wahrnehmung und Erkenntnis. An die Stelle der traditionellen Themen und Bildsujets der Kunst traten psychophysiologische Fragestellungen, die den Weg zu einem „neuen Realismus“ und zur gegenstandslosen Kunst wiesen. Eine zentrale Frage bei der Suche nach einer komplexen sinnlich-geistigen Wahrnehmung der Welt war die Frage nach dem Verhältnis von dem, was der Mensch tatsächlich sieht, und dem, was er weiß. Avantgarde-Künstler wie El Lissitzky, Matjuschin, Mituritsch und Kusma Petrow-Wodkin befassten sich in der zweiten und dritten Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts intensiv mit den Prozessen und der Entwicklung der visuellen Wahrnehmung des Menschen.86 Auf der Grundlage ihrer Beschäftigung mit der Natur des menschlichen Auges, der Physiologie des Sehens und der Sinnesempfindungen gelangten sie parallel zu den theoretischen Überlegungen von Ernst Cassirer und Erwin Panofsky zu der Auffassung, dass die alte Perspektive „den Raum begrenzt, endlich gemacht, abgeschlossen“, ihn „nach der Anschau-
86 El Lissitzky, K. und Pangeometrie, in: Carl Einstein, Paul Westheim (Hg.), Europa Almanach. Malerei, Literatur, Musik, Architektur, Plastik, Bühne, Film, Mode, Potsdam 1925, S. 103–113; Michail Matjuschin vgl. Kapitel II.3; Pjotr Mituritsch vgl. Lodder 1983, S. 217–223; Kuz’ma S. Petrov-Vodkin, Chlynovsk. Prostranstvo Evklida, 1930–32, Samarkand, Leningrad 1970.
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ung der euklidischen Geometrie als starre Dreidimensionalität erfasst habe“87 und versuchten, die grundlegende Diskrepanz zwischen dem physiologischen Sehen und der perspektivischen Konstruktion durch neue künstlerische Darstellungsweisen zu überwinden. Die Unendlichkeit des Raumes betrachteten sie zugleich als Grundlage für die Entfaltungsmöglichkeit der Seh- und Wahrnehmungsweisen und des menschlichen Geistes. Die intensive Beschäftigung der Avantgarde mit der Natur der visuellen Wahrnehmung des Menschen war zugleich mit einer Neubefragung der Auffassungen vom Raum verbunden und resultierte in einer Konzentration auf die Entwicklung des menschlichen Raumgefühls. Die Künstler stimmten darin überein, dass das menschliche Sehen im Ergebnis der allmählichen Höherentwicklung des primitiven Raumsinnes, d. h. des Tastsinnes, von einfachen Lebewesen wie Würmern und Schnecken entstanden war. Sie schlussfolgerten daraus, dass der Mensch durch die Erweiterung seines visuellen Raumsinnes, des Sehens, und die allseitige Entfaltung seiner Wahrnehmungs- und Sinnesfähigkeiten ein neues Raumverständnis entwickeln würde. Aufgabe der neuen Kunst musste es deshalb sein, nicht nur visuelle Empfindungen beim Betrachter auszulösen, sondern auf die Gesamtheit seiner Sinne zu wirken. Die Erweiterung des sinnlich-emotionalen und geistigen Erfahrungsfeldes durch die Kunst sollte die Evolution des modernen Menschen vorantreiben und ihn dazu befähigen, die Welt auf ganz neue Weise zu erfahren und zu begreifen. Maler wie Filonow, Kandinsky, Kulbin, Malewitsch, Matjuschin, Mituritsch, Rosanowa und Tatlin betrachteten die Kunst unter dem Gesichtspunkt ihrer psychophysiologischen Wirkungsweise auf den Betrachter und gelangten auf unterschiedliche Weise zu der Erkenntnis, dass die Überwindung der alten Sehgewohnheiten durch die neue Kunst mit einer grundlegenden Erweiterung des menschlichen Empfindungs-, Vorstellungs- und Denkvermögens einhergehen müsse. Kulbin hatte es bereits 1910 zum Anliegen seines malerischen Schaffens gemacht, sich „nicht auf Farbe und Form“ zu beschränken, sondern auch „die Seele, den Ton, die Bewegung und anderes“ darzustellen, was der Widerspieglung des poetischen Erlebnisses diente.88 Dawid Burljuk stellte 1912 fest: „Die frühere Malerei sah nur, jetzt fühlt sie. Früher stellte sie einen Gegenstand in zwei Dimensionen dar, jetzt haben sich weitere Möglichkeiten eröffnet.“89 Malewitsch schrieb 1919: „Weil die Welt sehen noch nicht bedeutet, sie mit den Augen zu sehen, sondern sie auch dem Wissen oder dem ganzen Wesen sichtbar ist, ... oder anders, das Gehirn spiegelt seine realen Zustände von der psychischen Welt wieder.“90 Tatlin fasste 1918 zusammen:
87 Erwin Panofsky, Die Perspektive als „symbolische“ Form, in: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin 1964, S. 99–167. Vgl. auch Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Form, 3 Bde., Berlin 1925. 88 N. I. Kul’bin, [ohne Titel], in: Odessa 1910–11, S. 19. 89 David Burljuk, Kubizm, in: Poščečina obščestvennomu vkusu, Moskau 1912, S. 95–101. 90 Malewitsch 1988, S. 23.
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„seit 1912 rufe ich meine Berufsgenossen zur Vervollkommnung des Auges auf“91 und resümierte 1920: „Wir glauben nicht mehr dem Auge, wir stellen das Auge unter die Kontrolle des Tastsinns.“92 Filonow unterschied zwischen dem sehenden und dem wissenden Auge. Das erstere, das physiologische Instrument der visuellen Wahrnehmung des Menschen, sieht nur Farbe und Form der Gegenstände; das geistige Auge hingegen erschließt in den Erscheinungen der Wirklichkeit eine ganze Welt unsichtbarer Eigenschaften und Prozesse.93 In der Überzeugung, dass es Aufgabe der neuen Kunst sei, aktiven Einfluss auf die geistige Evolution des Menschen zu nehmen, die Formen der herkömmlichen Art des Empfindens und Denkens zu überwinden und den Betrachter zu einem vollkommen neuen Weltverständnis zu führen, konzentrierten sich die Künstler der frühen Avantgarde darauf, neue künstlerische Formen und Stile zu entwickeln, die in der Lage wären, die Welt komplexer zu erfassen. Sie waren überzeugt, dass eine derartige Kunst den Menschen schließlich von der Erde erheben und zu kosmischem Bewusstsein führen könnte. Bei ihrer Suche nach einem ganzheitlichen Zugang zur Kunst, der die Vervollkommnung der menschlichen Sinnesorgane befördern und zu einer geistigen Erneuerung führen würde, fanden sie Inspiration in den Schriften des russischen Mathematikers und Philosophen Petr Ouspensky, insbesondere in seinen Büchern „Die vierte Dimension: Die Lehre von einer unergründlichen Welt“ und „Tertium Organum. Der Dritte Kanon des Denkens – Ein Schlüssel zu den Rätseln der Welt“.94 Matjuschin, der Auszüge aus „Tertium Organum“ 1913 im dritten Sammelband des Bundes der Jugend veröffentlichte,95 ebenso wie Kulbin, Larionow und Malewitsch entnahmen der Lektüre von Ouspensky die Begrenztheit der Fähigkeiten der menschlichen Sinnesorgane und den Glauben, dass der Mensch durch die Kunst zu einem höheren Stadium von „kosmischem Bewusstsein“ gelangen könne.96
91 V. E. Tatlin, Otvečaju na „pis’mo k futuristam“, in: Anarchija, Nr. 30, vom 29. März 1918, [keine Seitenangabe]. Deutsch in: Shadowa 1987, S. 251. Vgl. auch Jean-Claude Marcadé, Über die neue Beziehung zum Material bei Tatlin, in: Jürgen Harten (Hg.), Vladimir Tatlin. Leben, Werk, Wirkung, Köln 1993, S. 30. 92 V. E. Tatlin, u. a., Naša predstojaščaja rabota, in: VIII. S’’ezd Sovetov. Ežednevnyj bjulleten’ s’’ezda, Nr. 13, vom 1. Januar 1921, S. 11. Deutsch in: Shadowa 1987, S. 258. Vgl. auch Marcadé 1993, S. 30. 93 Pawel Filonow, in: Russian Literature, 1982, XI, S. 264. Vgl. auch Jewgeni Kowtun, Einige Termini der analytischen Kunst, in: Harten/Petrowa 1990, S. 95. 94 Petr D. Uspenskij, Četvertoe izmerenie. Opyt issledovanija oblasti neizmerimogo, St. Petersburg 1909; ders., Tertium Organum: Ključ k zagadkam mira, St. Petersburg 1911. Deutsch als: P. D. Ouspensky, Tertium Organum. Der Dritte Kanon des Denkens. Ein Schlüssel zu den Rätseln der Welt, Weilheim 1973. 95 M. V. Matjušin, O knige Mecanže-Gleza „Du Cubisme“, in: Sojuz molodeži, Nr. 3, März 1913, S. 25‑34. Deutsch in: Klotz 1991, S. 72–76. 96 Linda Dalrymple Henderson, The Fourth Dimension and Non-Euclidean Geometry in Modern Art, Princeton 1983, S. 238–299.
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Ouspensky stammte aus einer gebildeten Moskauer Künstlerfamilie. Er studierte Biologie, Mathematik und Psychologie und begann sich um die Jahrhundertwende intensiv mit der Frage der vierten Dimension, einem Mode-Thema der Zeit, zu beschäftigen. Danach arbeitete er als Journalist und reiste durch Russland, Europa und den Orient. 1907 kam Ouspensky mit der Theosophie in Berührung, die ihn nachhaltig beeinflusste; 1908 siedelte er nach St. Petersburg über und begann okkulte Literatur zu studieren, psychologische Experimente mittels yogischer und magischer Methoden durchzuführen und Bücher zu veröffentlichen; 1913–14 reiste er nach Ägypten, Ceylon und Indien.97 Nach einem Zusammentreffen mit dem griechischarmenischen Esoteriker George Gurdjieff 1915, wandte sich auch Ouspensky der Esoterik zu und begann die Lehren und Praktiken seines Lehrers in England und den USA zu verbreiten. In den 1920er Jahren trennte er sich jedoch von Gurdjieff und entwickelte seine eigene Lehre. Ausgehend von Kants Verständnis, dass Raum und Zeit nicht Eigenschaften der Welt darstellen, sondern nur Eigenschaften der menschlichen Erkenntnis von der Welt seien, die durch die Sinnesorgane erlangt werden, sowie von Charles Howard Hintons Überzeugung, dass „die Anschauung des Raumes sozusagen gefärbt sein muss von den Umständen (der psychischen Tätigkeit) des Wesens, das sie gebraucht“, kam Ouspensky zu dem Schluss, dass die Welt, so wie wir sie normalerweise begreifen, Ergebnis der unvollkommenen Wahrnehmung und der Unzulänglichkeit der herkömmlichen Logik und des intellektuellen Denkens ist.98 Aus der Einheitlichkeit der menschlichen Erfahrung leitete er die Existenz einer einzigen Wirklichkeit ab; einer Welt, in der die Zeit räumlich existiert und folglich das Gesetz der Kausalität außer Kraft gesetzt ist; einer unendlichen und unlogischen Welt, in der nichts messbar ist, aber alle Dinge belebt und beseelt sind; einer Welt der Einheit der Gegensätze, in der es keinen Unterschied zwischen wirklich und unwirklich, subjektiv und objektiv gibt, wo jedwedes Ding eins mit dem Ganzen ist und dieses in sich einschließt.99 Auf der Grundlage der Erkenntnis, dass „die Bedingungen der Dreidimensionalität der Welt in unserer Psyche, in unserem Aufnahmeapparat“ begründet liegen, schlussfolgerte Ouspensky: „Wir werden genau dort die Bedingungen der Möglichkeit zur Erfahrung einer höher-dimensionalen Welt finden.“100 Er suchte die Entstehung eines höheren Bewusstseins in der Entwicklung der menschlichen Wahrnehmung vom Raum, d. h. er sprach davon, dass der Mensch ein Raumgefühl entwickeln müsse, mit dem eine „vierte Einheit des psychischen Lebens“ verbunden wäre, in der immer „ein Element des Wissens oder der Idee mit einem gefühlsmäßigen Element vereint ist“.101 97 Ouspensky 1973, S. 304–306. Vgl. auch Maria Carlson, „No Religion Higher Than Truth“: A History of the Theosophical Movement in Russia 1875–1922, Princeton 1993, S. 73–76. 98 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1930, zit. in: Uspenskij 1911, S. 18; Charles Howard Hinton, A New Era of Thought, London 1888, zit. in: ebenda, S. 22. Deutsch in: Ouspensky 1973, S. 17, 21–22. 99 Uspenskij 1911, S. 236–238. Deutsch in: Ouspensky 1973, S. 235–238. 100 Ebenda, S. 71. Deutsch in: Ebenda, S. 71. 101 Ebenda, S. 75. Deutsch in: Ebenda, S. 75.
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Ouspensky war überzeugt, dass das Bewusstsein des zeitgenössischen Menschen nur eine Übergangsform eines höheren Bewusstseins darstellte, das sich bei geeigneter Vorbereitung und Übung bereits in der Gegenwart bei einigen Menschen offenbaren könne. In der Entwicklung der psychischen Seite des Menschen glaubte er den Weg für dessen Höherentwicklung ebenso wie zur Erkenntnis der vierten Dimension gefunden zu haben. Dabei begriff er mystische Erfahrungen, wie sie in der christlichen Mystik von Plotin bis zu Jakob Böhme, der indischen Mystik des Vedanta, der chinesischen Mystik von Laotse und Dschuang Dsi, der islamischen Mystik des Sufismus, der Theosophie sowie in Hypnose, Narkose und Epilepsie, die im Blickpunkt der zeitgenössischen Psychologie standen, erfahrbar geworden waren, im Sinne von William James als „Erkenntnis durch erweitertes Bewusstsein“.102 In Hintons Übungen mit verschiedenfarbigen Würfeln sah er eine Möglichkeit der „Entwicklung des Vorstellungsvermögens, das die Illusion der Perspektive überwindet, die Erweiterung der Bewusstseinsgrenzen zur Folge hat“.103 Der unmittelbare Zusammenhang von mystischen Erfahrungen und den Erkenntnissen der experimentellen Psychologie schien für ihn auf die Möglichkeit der Zusammenführung von östlichen Weisheitslehren und westlicher Wissenschaft zu einer neuen Qualität der Welterfahrung hinzudeuten. In der Synthese von wissenschaftlichen Erkenntnissen, philosophischen Ideen, religiösen Moralgrundsätzen, mystischen Erfahrungen und kontemplativer Schau glaubte Ouspensky den Weg zur Vervollkommnung der Menschheit und zur Erfahrung der vierten Dimension gefunden zu haben. Dabei verschmolz er die Ideen der Entfaltung von „kosmischem Bewusstsein“, wie sie von dem kanadischen Psychiater Richard Maurice Bucke und dem englischen Dichter und Philosophen Edward Carpenter diskutiert worden waren,104 mit theosophischem Gedankengut und Zügen von Solowjews bogotschelowek und Nietzsches Übermenschen.105 Ouspensky charakterisierte „kosmisches Bewusstsein“ als „ein Bewußtwerden des ewigen Lebens und der ewigen Gesetze des Weltalls“ und fügte hinzu: „Gleichzeitig mit dem Erwachen
102 Ouspensky war aufs engste mit den Schriften von Swami Vivekananda, Swami Abhedananda, Ramacharaka und Mitrofan Lodyshenski vertraut und publizierte über das mystische Denken des Ostens. Daneben studierte er die psychologischen Arbeiten von Gustav Theodor Fechner, William James und Wilhelm Wundt. 103 Uspenskij 1911, S. 22. Deutsch in: Ouspensky 1973, S. 21–22. 104 In Tertium Organum beschäftigt sich Ouspensky sowohl mit Richard Maurice Buckes Buch Cosmic Consciousness (1901), das erst 1915 in russischer Sprache erschien, als auch mit Edward Carpenters From Adam’s Peak to Elephanta (1892). Vgl. Uspenskij 1911, S. 276–298. Deutsch in: Ouspensky 1973, S. 276–298. Fernerhin kannte er Carpenters The Art of Creation (1904) und schrieb die Einführung zu dessen Buch Love and Death, das 1915 und 1916 als Ljubov i smert’ in St. Petersburg herausgegeben wurde. Er übersetzte auch dessen Buch The Intermediate Sex, das unter dem Titel Promežutočnyj pol 1916 in Russland erschien. 105 Uspenskij 1909, S. 95. 1913 hielt Ouspensky in St. Petersburg die Vorlesung „Über den Übermenschen“, vgl. Bernice Glatzer Rosenthal, Nietzsche in Russia, Princeton 1986, S. 47.
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des kosmischen Sinnes tritt eine Erleuchtung aller Verstandeskräfte ein, die an sich schon den Menschen auf eine höhere Ebene des Daseins versetzt.“106 Ouspensky betrachtete Wissenschaft und Philosophie als organisierte Formen der intellektuellen Erkenntnis der Welt der dritten Dimension, Religion und Kunst aufgrund ihrer moralischen bzw. gefühlsmäßig ästhetischen Orientierung als organisierte Formen der Erkenntnis einer höherdimensionalen Welt.107 Er stellte der experimentellen Methode in der Wissenschaft und der spekulativen Methode in der Philosophie die Suche nach Gott und der Wahrheit in der Religion und nach Schönheit in der Kunst gegenüber. In Analogie betrachtete er die Begriffe der Sprache als Mittel zur Formulierung von intellektueller Erkenntnis in Wissenschaft und Philosophie der dreidimensionalen Welt, die Kunst aber als Medium zur Reflexion emotionaler und geistiger Bewusstseinsinhalte einer höheren Realität. Damit vertrat er die Auffassung, dass die Sprache als Werkzeug der Wissenschaft kein komplexes Bild von der Welt als organisches Ganzes geben könne, die Kunst hingegen als Mittel zur Bildung von kosmischem Bewusstsein dienen könne: „Der Inhalt der emotionalen Gefühle, [...] kann niemals gänzlich auf Begriffe oder Ideen beschränkt werden und kann daher niemals korrekt und genau in Wörtern ausgedrückt werden. [...] Die Interpretation emotionaler Gefühle und emotionalem Verständnisses ist das Problem der Kunst. In Verbindungen von Wörtern, in ihrer Bedeutung, ihrem Rhythmus und ihrer Musik; in Klängen, Farben, Linien, Formen – erschaffen die Menschen eine neue Welt und versuchen, darin das auszudrücken und zu übermitteln, was sie fühlen, was sie jedoch nicht einfach in Worten, d. h. in Begriffen ausdrücken und übermitteln können. [...] Die Verbindung von Gefühlen und Gedanken von hoher Intensität führt zu einer höheren Form des psychischen Lebens. Somit haben wir in der Kunst schon die ersten Experimente mit einer Sprache der Zukunft. Die Kunst greift der psychischen Evolution voraus und erahnt ihre zukünftigen Formen.“108
Daraus leitete Ouspensky die Bedeutung der Kunst und die historische Mission des Künstlers im Prozess der weiteren Evolution des menschlichen Bewusstseins ab: „Auf der gegenwärtigen Stufe unserer Entwicklung haben wir kein stärkeres Instrument zur Erkenntnis der Welt der Ursachen als die Kunst…. Nur jener feine Apparat, der die Seele eines Künstlers genannt wird, kann die Widerspiegelung des Noumens im Phänomen verstehen und fühlen. In der Kunst muß man den ‚Okkultismus‘ – die verborgene Seite des Lebens – studieren. Der Künstler muss ein Hellseher sein: er muß das sehen, was andere nicht sehen; er muß ein Magier sein: er muß die Macht besitzen, andere das sehen zu lassen, was sie selbst nicht sehen, was er aber sieht.“109
106 Uspenskij 1911, S. 278. Deutsch in: Ouspensky1973, S. 278. 107 Ebenda, S. 204–205. 108 Ebenda, S. 74–75. Hervorhebungen vom Autors. 109 Ebenda, S. 142. Hervorhebungen vom Autors.
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Ouspenskys Ideen fielen bei der frühen russischen Avantgarde auf fruchtbaren Boden; sie beeinflussten sowohl Kruchonykhs zaum-Sprache und Malewitschs Alogismus und Suprematismus als auch die künstlerischen Experimente von Filonow, Kulbin, Matjuschin, Mituritsch, Rosanowa und Tatlin. Diese Künstler waren überzeugt, dass die neue Kunst dazu berufen war, aktiven Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschen zu nehmen; sie verbanden ihre Idee, neue Bewusstseinsformen zu entwickeln, mit der Vorstellung von der Wahrnehmung einer höheren Dimension des Raumes, d. h. mit der Frage nach der vierten Dimension. Dabei war die Suche der russischen Avantgarde nach einem Verständnis von der vierten Dimension weniger vom geometrischen Ansatz der Franzosen, sondern stärker von psychophysiologischen Überlegungen bestimmt, d. h. sie betrachteten diese als Erlangung eines höheren Bewusstseinszustandes.110 Der unmittelbarste künstlerische Ausdruck der Auseinandersetzung mit der Natur des menschlichen Sehens und der Darstellung des unendlichen kosmischen Raumes war der Rayonismus, den Michail Larionow und Natalja Gontscharowa in den Jahren 1911 und 1912 entwickelten. Larionow gelangte zu der Überzeugung, dass das menschliche Auge nur ein unvollkommenes Instrument der Erkenntnis darstellt: „Unser Auge ist ein so unvollkommenes Instrument, daß vieles, was wir vermeintlich mit Hilfe unseres Sehvermögens an die Gehirnzentren übermitteln, dort nur dank unserer anderen Sinnesorgane dem realen Leben entsprechend ankommt.“111 Rayonismus bedeutete nicht das zu malen, was der Künstler zu wissen glaubte, sondern das, was er tatsächlich sah, d. h. die Summe der Lichtstrahlen, die von den Gegenständen ausgehen, von ihnen reflektiert werden und sich im Raum überlagern; es war die reine, ungegenständliche Malerei des unendlichen kosmischen Raumes, die das „unaufhörliche und intensive Drama der Strahlen, die die Einheit aller Dinge 110 Zur Idee der vierten Dimension bei den französischen Kubisten vgl. Tom Gibbons, Cubism and ‚the Fourth Dimension‘ in the Context of the Late Nineteenth-Century and Early TwentiethCentury Revival of Occult Idealism, in: Journal of the Warburg and Courtand Institutes XLIV, 1981, S. 130–148; Marianne L. Teubner, Formvorstellungen und Kubismus oder Pablo Picasso und William James, in: Kubismus. Künstler-Themen-Werke, Ausst.-Kat., Bonn, Köln 1982, S. 9–57; Linda Dalrymple Henderson, A New Facet of Cubism: „The Fourth Dimension“ and „Non-Euclidean Geometry“ Reinterpreted, in: The Art Quarterly 34, Winter 1971, S. 410–433; diess. 1983, S. 44–116; diess., Mystik, Romantik und die vierte Dimension, in: Maurice Tuchman, Judi Freeman (Hg.), Das Geistige in der Kunst. Abstrakte Malerei 1890–1985, Ausst.-Kat., Stuttgart 1988, S. 219–237. Zum Verständnis der vierten Dimension bei den Russen vgl. Linda Dalrymple Henderson, The Merging of Time and Space: The Fourth Dimension in Russia from Ouspensky to Malevich, in: The Structurist 15–16, 1975–76, S. 97–108; diess. 1983, S. 238– 299. Ein kritischer Kommentar, vgl. Rüdiger Ganslandt, „Es gilt also die Wahrheit zu suchen“ – Raumkonzepte der Jahrhundertwende im Kubismus, in: Hans Holländer, Christian W. Thomsen (Hg.), Besichtigung der Moderne, Köln 1987, S. 147–156. 111 Michail Larionov, Lučistskaja živopis’, Juni 1912, in: Oslinyj chvost i mišen’, Moskau 1913, S. 121. Vgl. auch Andrei Boris Nakov (Hg.), Mikhail Larionov. La Voie vers l’Abstraction / Der Weg in die Abstraktion. Œuvres sur papier / Werke auf Papier 1908–1915, Ausst.-Kat., Frankfurt Main, Geneva 1988, S. 215. Deutsch in: ebenda, S. 209.
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fortsetzen“ zu erfassen suchte.112 Das rayonistische Kunstwerk stellte damit eine Synthese von objektiven physikalischen Erscheinungen in der subjektiven Darstellungsweise des Künstlers dar, es war nicht rein subjektiver Ausdruck der Künstlerindividualität, sondern eine pseudo-objektive Darstellung der physikalischen Phänomene des Lichts in ihrer natürlichen Wirkung auf die menschliche Wahrnehmung. Auch Malewitschs alogische Bilder von 1913–14, darunter zum Beispiel „Aviator“ (1914), „Ein Engländer in Moskau“ (1914) und „Frau neben einer Litfasssäule“ (1914), waren der Versuch, die herkömmliche Wahrnehmung des Menschen durch die Verwendung unterschiedlicher Blickpunkte, durch perspektivische Verzerrungen und verstellte Blicke sowie durch die irrationale Zusammenführung von verschiedenartigen stilistischen Elementen und die absurde Zusammenstellung von Gegenständen auf der Leinwand, die sich überlagerten und gegenseitig fragmentierten, ein vollkommen neues Bild von der Wirklichkeit vorzuführen und Auge und Verstand des Betrachters zu neuen Verarbeitungsmethoden zu zwingen.113 Die plastischen Konstruktionen von Mansurow, Matjuschin, Mituritsch, Rosanowa und Tatlin, die vom Kubismus angeregt wurden, aber vor allem im Ergebnis ihrer Überlegungen zu den psychophysiologischen Grundlagen der menschlichen Wahrnehmung und des künstlerischen Schaffensprozesses entstanden, beschränkten sich nicht allein auf die visuelle Wahrnehmung des Betrachters, sondern sprachen zugleich dessen taktiles Empfinden und seine Raumvorstellungen an; sie richteten sich an die Gesamtheit der menschlichen Sinne.114 Die Simultanität der materiellen wie räumlichen Momente dieser Werke war ein Ergebnis der Verarbeitung kubistischer und futuristischer Elemente im Sinne ihrer psychologischen Wirkung auf das Vorstellungsvermögen des Betrachters. Die Künstler setzten die Kunst als Medium zur Bewusstseinserweiterung und zur allseitigen Entfaltung der Wahrnehmung des Menschen ein. Die neue organische Kunst strebte nach Totalität in der Darstellung der Welt und in ihrer Wirkung auf die menschliche Psyche.
Schöpferische Intuition: Die Wahrnehmung der Welt als organisches Ganzes Die Bestrebungen, eine neue, organische Wahrnehmung und ganzheitliche Erfahrung der Welt in der Kunst auszudrücken, resultierte in der Auseinandersetzung der russischen Avantgarde mit dem Wesen der schöpferischen Intuition. Intuition bezeichnet ein „nicht-kursives Denken, dessen Vorgänge im Einzelnen nicht bewusst werden, sondern das in seiner Schau plötzlich Zusammenhänge sehen lässt,
112 Mikhail Larionov, Le Rayonisme Pictural, in: Montjoie 4–6, April–Juni 1914, S. 15. 113 Charlotte Douglas, Swans of Other Worlds: Kazimir Malevich and the Origins of Abstraction in Russia, Ann Abor 1976, S. 33. 114 Lodder 1983, S. 8-18, 29-33, 205-223.
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die sich auch bei objektiver Nachprüfung als richtig erweisen“.115 Wie experimentell nachgewiesen werden konnte, beruht Intuition auf alten Urteilen, Erfahrungen und Erinnerungen, die momentan jedoch nicht bewusst sind; sie wird gewöhnlich von einem starken Evidenzerlebnis begleitet.116 Im Gegensatz zur landläufigen Auffassung von Intuition als der Fähigkeit, etwas ohne logisches Denken oder eine erlernte Fähigkeit zu verstehen, begreift die zeitgenössische Forschung Intuition als eine Erkenntnisform, die auf Wissen und Erfahrung gründet und eine Art von Informationsverarbeitung beinhaltet, die stärker implizit als explizit, jedoch grundsätzlich nicht irrational zu sein scheint.117 In Kunst und Dichtung ist schöpferische Intuition als „die grundlegende Kraft zu echter Erneuerung“ beschrieben worden, „die Freiheit, im Werk sowohl von den Dingen als auch von dem eigenen ,ich‘ eine immer authentischere Offenbarung zu erlangen“ und den schöpferischen Kräften immer tiefer gehend zu folgen.118 Die Künstler der frühen russischen Avantgarde waren sich einig, dass die Formen der neuen Kunst, die unabhängig vom logisch-rationalen Verstand, von der Darstellung eines Gegenstandes oder der Vermittlung einer narrativen Idee auf die Betrachter wirken sollten, nicht der gegenständlichen Welt entlehnt werden durften, sondern der schöpferischen Intuition des Künstlers entspringen mussten. Intuition bezeichnete für sie den inneren Drang des Künstlers zu schaffen, frei und unabhängig von den Erscheinungen der gegenständlichen Welt, von einem praktischen Zweck und äußeren Vorgaben. Der Intuition zu folgen hieß für sie, sich von den Gegenständen, Bedingungen und Konventionen der äußeren Welt freizumachen und entsprechend der inneren Gesetze der Natur zu schaffen. Schöpferisch tätig zu sein bedeutete für diese Künstler, über die eigenen Grenzen hinauszugehen, sich allein von ihren inneren Regungen und Empfindungen leiten zu lassen: „Nur derjenige ist schöpferisch, der sich selbst als etwas absolut Neues, ein mit Nichts Vergleichbares der Zukunft empfindet.“119 Zugleich war die schöpferische Intuition das, was den Künstler vom NichtKünstler unterschied und zum Vorreiter der geistigen Evolution der Menschheit machte. Dabei war „Künstlertum“ nicht an eine spezifische Ausbildung oder an erlernte Fähigkeiten gebunden, sondern wahre Kunst, d. h. Kunst, die einzig und allein der Intuition ihres Schöpfers entsprang, konnte sowohl vom Künstler als auch 115 Uwe Henrik Peters, Lexikon der Psychiatrie, Psychotherapie, medizinischen Psychologie, 6. Aufl., München 2007, S. 272. 116 Ebenda. 117 K. S. Bowers, G. Regher, C. Balthazard, K. Parker, Intuition in the Context of Discovery, in: Cognitive Psychology 22, 1990, S. 72–110. Vgl. auch Emma Policastro, Creative Intuition: An Integrative Review, in: Creativity Research Journal, Vol. 8, 1995, Nr. 2, S. 111. 118 Jacques Maritain, Creative Intuition in Art and Poetry, Bollinger Series 35, New York 1953, Bd. 1, S. 223. 119 Ol’ga Rozanova, Suprematizm i kritika, in: Anarchija, vom 2. Juni 1918. Deutsch in: Künstlerinnen der russischen Avantgarde / Women-Artists of the Russian Avantgarde. 1910–1930, Ausst.Kat., Köln 1979, S. 245.
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vom Nicht-Künstler geschaffen werden, solange dieser allein seinem inneren Drang nach schöpferischem Ausdruck folgte und originäre Werke schuf. Freies künstlerisches Schaffen auf der Grundlage der schöpferischen Intuition entdeckte die frühe russische Avantgarde deshalb am deutlichsten in den Zeichnungen von Kindern, in der heimischen Volkskunst und der Kunst von so genannten primitiven Naturvölkern; sie schenkte diesen Kunstformen große Aufmerksamkeit.120 Woldemar Matwej veröffentlichte Bücher zur chinesischen Dichtkunst, zur Kunst der Osterinseln und zur afrikanischen Kunst121 und resümierte in seinem Aufsatz „Die Prinzipien der neuen Kunst“, der im ersten und zweiten Sammelband des Bundes der Jugend veröffentlicht wurde: „Die antiken Völker und der Osten kannten unsere wissenschaftliche Rationalität nicht. Sie waren Kinder, deren Gefühle und Vorstellungen die Logik dominierten. Sie waren naive, unverdorbene Kinder, die die Welt der Schönheit intuitiv durchdrangen und die nicht vom Realismus oder von wissenschaftlichen Erforschungen der Natur bestochen werden konnten.“122
Larionow sammelte lubki, volkstümliche Holzschnitte, und stellte diese 1913 in Moskau aus. Kulbin beschäftigte sich mit intuitivem Malen; in seiner Ausstellung „Neue Tendenzen in der Kunst“ zeigte er Bilder eines blinden Malers und in seiner Dreieck-Ausstellung stellte er fünf Bilder von dem Bauernmaler Pjotr Kowalenko aus, den Dawid Burljuk für die Avantgarde entdeckt hatte.123 Chlebnikow bestand darauf, dass zwei Gedichte eines dreizehnjährigen Mädchen in „Der Teich der Richter“ (Sadok sudej) aufgenommen wurden; Krutschonych gab den Band „Ferkel“ (Porosjata) gemeinsam mit einem elfjährigen Mädchen heraus; Matjuschin verwendete eine Zeichnung von Guros siebenjähriger Nichte für den Buchumschlag von „Himmlische Kamelfohlen“ (Nebesnye werblushata).124 Der schöpferischen Intuition zu folgen bedeutete für die frühe russische Avantgarde die Sensibilisierung der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit und wurde zu einer Methode, das herkömmliche Denk- und Vorstellungsvermögen zu überwinden und eine Revolution im menschlichen Bewusstsein einzuleiten. Schöpferische Intuition bezeichnete daher keine spirituelle oder religiöse Erfahrung, sondern war die höchste Form der inneren intellektuellen Erfahrung des Künstlers, die sowohl rational-logische als auch sinnlich-emotionale Qualitäten einschloss. Zugleich wurde 120 Vgl. John E. Bowlt, Esoterische Kultur und Russische Gesellschaft, in: Tuchman/Freeman 1988, S. 177–178. 121 Vgl. Vladimir Markov [Voldemar Matvej], Iskusstvo ostrova paschi, St. Petersburg 1914; ders., Svirel’ Kitaja, St. Petersburg 1914; ders., Iskusstvo Negrov, Moskau 1919. 122 Vladimir Markov [Voldemar Matvej], Principy novogo iskusstva, in: Sojuz molodeži, Nr. 1, April 1912, S. 10 und Sojuz molodeži, Nr. 2, Juni 1912, S. 5–18. Vgl. auch A. N. Inšakov, V. Markov i ego „Principy novogo iskusstva“, in: Voldemar Matvej i Sojuz Molodeži, Moskau 2005, S. 103– 112. 123 Bowlt 1976, S. 116. 124 Bowlt 1988, S. 172–178.
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sie als eine Möglichkeit betrachtet, die Erscheinungen der äußeren Natur mit den Erfahrungen der inneren Welt zu verbinden. Indem sich der Künstler nicht mehr an den äußeren Bedingungen und Traditionen der Kunst orientierte, sondern der inneren Kraft seiner Vorstellungen und Erfahrungen folgte, war er in der Lage, eine neue Kunst zu schaffen, die über alles Vergangene hinausging. Mit dieser Auffassung knüpfte die frühe russische Avantgarde an Henri Bergsons philosophische Überlegungen zur schöpferischen Intuition an. Bergsons Ideen hatten Russland in der ersten Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts erreicht.125 Sie wurden von russischen Intellektuellen und Künstlern mit Begeisterung aufgenommen und blieben bis in die 1920er Jahre populär, denn sie entsprachen sowohl der neo-romantischen Tendenz in der Kunst der russischen Moderne als auch der stark intuitiv geprägten Tradition in der russischen Religionsphilosophie.126 Bergsons bekanntestes Buch, „L’Evolution créatice“, wurde 1909 in Russland veröffentlicht, zu einer Zeit als der Einfluss von Nietzsche auf das russische Denken abnahm.127 Bergsons optimistischere Philosophie, in der Intuition eine Erkenntnismethode ist, mit der die Wirklichkeit klarer gesehen werden kann, und diese es dem Menschen ermöglicht, ein reicheres und intensiveres Leben von „schöpferischer Evolution“ zu leben, wirkte besonders anziehend auf Künstler und Intellektuelle nach der Revolution von 1905.128 Bergson leitete die Gesetze von Bewegung und Veränderung im Universum vom Konzept des Lebens ab. Sein élan vital, das an keine physische Daseinsform gebunden ist, durchwirkt als geistiges Prinzip das Universum und treibt dessen Entwicklung voran. Nur mittels der Intuition ist es dem Menschen möglich, diese universelle Realität in ihrer kontinuierlichen Veränderung zu erfassen. Bergson formulierte die zentrale Idee der Intuition in seinem Essay „Introduction à la métaphysique“: „Intuition heißt jene Art von intellektueller Einfühlung, kraft deren man sich in das Innere eines Gegenstandes versetzt, um auf das zu treffen, was er an Einzigem und Unausdrückbarem besitzt.“129 Er vertrat die Auffassung, dass das menschliche Bewusstsein imstande sei, die ganze Wirklichkeit aus sich selbst heraus zu denken, doch während der menschliche Verstand die Kenntnis des Raumes auf die Zeit überträgt 125 Ab 1900 erschienen u. a. folgende seiner Werke in russischer Sprache: Henri Bergson, Smech v žizni i na scene, St. Petersburg 1900; ders., Tvorčeskaja ėvolucija, Moskau 1909; ders., Vremja i svoboda voli, Moskau 1911; ders., Vremja i svoboda voli: S priloženiem traktata togo že avtora. Vvedenie v metafiziku, St. Petersburg 1912; ders., Vosprijatie izmenčivosti, St. Petersburg 1913. Eine fünfbändige Ausgabe von Bergsons Werken wurde 1913–14 herausgegeben, vgl. Sobranie sočinenij Bergsona, hrsg. von M. I. Semenov, 5 Bde., St. Petersburg 1913–14. Für eine zusammenfassende Darstellung vgl. Hilary L. Fink, Bergson and Russian Modernism 1900–1930, Evanston, IL 1999, S. 3–26. 126 Fink 1999, S. 8, 17, 19–20. 127 Rosenthal 1986, S. 27–29. 128 Fink 1999, S. 25. 129 Henri Bergson, Introduction à la métaphysique, in: Revue de Métaphysique et de Morale, 29. Januar 1903, S. 1–36. Russisch als Bergson 1912; Deutsch als: ders., Einführung in die Metaphysik, Jena 1909, S. 4.
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und diese mathematisch berechenbar macht, vermag allein die Intuition, in welcher sich das erkennende Subjekt bis zur Identifikation mit seinem Gegenstand einlässt und so diese Zeit als Dauer erfasst, die Wirklichkeit als kontinuierliche, unendliche Mannigfaltigkeit in ihrem schöpferischen Vorantreiben zu erleben. In der Intuition fanden die exakten Wissenschaften und die Metaphysik zusammen; sie konnte die Wissenschaft sowohl als praktische als auch als spekulative Untersuchungsmethode ergänzen und wurde zu einer Methode, um über eine Wirklichkeit zu reflektieren, die sich unaufhörlich verändert und im ständigen Werden begriffen ist.130 Bergsons Ideen wurden von dem russischen Philosophen Nikolaj O. Losskij diskutiert und in die breitere Diskussion zur organischen Wahrnehmung der Welt und der schöpferischen Intuition in der russischen Kulturtradition integriert. Mit der Veröffentlichung seiner Schrift „Die Grundlehren der Psychologie vom Standpunkt des Voluntarismus“ hatte Losskij 1903 seinen Magister in Philosophie erhalten;131 seine Dissertation „Die Grundlegung des Intuitivismus“ erschien 1906.132 Von 1907 bis 1922 lehrte er Philosophie an der Universität in St. Petersburg; nach seiner Konvertierung zurück zur Russisch-Orthodoxen Kirche und seiner Kritik an den Exzessen nach der Revolution wurde er 1922 entlassen und ging ins Exil nach Frankreich.133 Obwohl es keine unmittelbaren Hinweise darauf gibt, dass Mitglieder der St. Petersburger Avantgarde wie Guro, Kulbin und Matjuschin persönlich mit Losskij bekannt waren oder seine Vorlesungen an der St. Petersburger Universität besucht hätten, lässt sich schwer vorstellen, dass sie angesichts ihrer ganzheitlichorganischen Weltanschauung, ihrer Suche nach einem neuen Zugang zu Kunst und ihrer Lektüre der zeitgenössischen philosophischen und wissenschaftlichen Literatur nicht auf seine Schriften gestoßen sein sollten. Losskij behauptete, dass die organisch, idealistisch-realistische Weltanschauung konsequenter als alle anderen sei und formulierte sein Konzept des Intuitivismus als die adäquateste Methode, mit der sich die Welt als organisches Ganzes fassen ließe.134 Die systematische Entwicklung seines idealistisch-realistischen Weltbildes war ein Versuch, den vor-Kantschen Rationalismus, insbesondere Leibnitz’ Monadologie, mit der starken Tradition eines mystischen Rationalismus in der russischen Philosophie von Wladimir Solowjew und Sergei Trubetskoy zu vereinen.135 Sein Hauptwerk dieser Periode, „Die Welt als organisches Ganzes“, erschien 1915 als eine Reihe von 130 Bergson 1909b, S. 46. 131 N. O. Losskij, Fundamental’nye doktriny psichologii s točki zrenija Voljuntarizma, St. Petersburg 1903. Deutsch als: ders., Die Grundlagen der Psychologie vom Standpunkte des Voluntarismus, Leipzig 1904. 132 N. O. Losskij, Obosnovanie intuitivizma, St. Petersburg 1906. Deutsch als: ders., Die Grundlegung des Intuitivismus. Eine Propädeutische Erkenntnistheorie, Halle 1908. 133 B. Jakowenko, Nikolaj Onufriewitsch Losskij und seine Lehre, in: Festschrift N. O. Losskij zum 60. Geburtstage, Bonn 1934, S. VII; V. V. Zenkovsky, A History of Russian Philosophy, London 1953, Bd. 2, S. 657–658. 134 Zenkovsky 1953, Bd. 2, S. 661. 135 Losskij 1908, S. 189–196; Zenkovsky 1953, Bd. 2, S. 658–660.
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Aufsätzen in der Zeitschrift „Fragen von Philosophie und Psychologie“ und wurde 1917 als Buch veröffentlicht.136 Auf der Grundlage der Auffassung „alles ist immanent in allem“, entwickelte Losskij die Idee einer alles durchdringenden universalen Einheit.137 Er schreibt: „Diejenigen, die eine organische Weltanschauung vertreten, begreifen das Universum folgendermaßen: sie betrachten jedes Element der Welt, egal ob ein Atom, die Seele oder ein Ereignis wie zum Beispiel Bewegung, als einen Aspekt der Welt, der mittels Analyse erkannt werden kann, und nicht unabhängig, sondern nur auf der Grundlage eines Weltganzen, nur in einem universellen System, existiert.“138
Zugleich entwickelte Losskij seine Konzeption des Intuitvismus als Antwort auf und Alternative zu Bergsons Philosophie.139 Er würdigte „die großen Leistungen von Bergson“, die im Nachweis „der organischen Natur der Bewegung“ und in der Aufdeckung dessen lag, dass wir diese durch Analyse in einer bestimmten Anzahl von Positionen eines bewegten Körpers entdecken können, sie als Ganzes aber mehr als die Summe ihrer Elemente ist.140 Er stimmte fernerhin mit Bergson darin überein, dass „der zeitliche Verlauf ein unendlicher schöpferischer Wechsel ist, ein kontinuierlicher Fluss, und nicht die totale Summe von momentanen Positionen im Ruhezustand“ und fand Bergsons Behauptung, dass „dieser Prozess ein historisches System ist, in dem die gesamte Vergangenheit die Gegenwart und die Zukunft nicht durch ihre Effekte, sondern unmittelbar beeinflusst, so dass dieser Prozess an Umfang wie eine Lawine anwächst“ außerordentlich wertvoll.141 Hingegen stimmte Losskij nicht mit Bergsons Auffassung von der Substanz überein, d. h. der Auffassung, „es gibt keine, sich verändernden Dinge… Bewegung setzt keinen sich bewegenden Körper voraus“ und kritisierte ihn dafür, dass er „die Existenz von Substanzen“ ablehnte.142 In der Tradition von Leibnitz betrachtete Losskij die Welt als „eine Einheit von vielen Substanzen“, die sich in ihrer Herkunft deutlich voneinander unterscheiden und daher unabhängig in ihrer Beziehung zueinander sind;143 im Gegensatz zu Leibnitz ging er jedoch davon aus, dass es Wechselwirkungen zwischen diesen grundlegenden „Einheiten des Seins“ (substanzialnye dejateli) 136 N. O. Losskij, Mir kak organičeskoe celoe, St. Petersburg, 1917. Englisch als: N. O. Lossky, The World as an Organic Whole, Oxford, London 1928. 137 Zenkovsky 1953, Bd. 2, S. 661. 138 Lossky 1928, S. 18. 139 N. O. Losskij, Nedostatki gnoseologij Bergsona i vlijanie ich na ego metafiziku, in: Voprosy filosofii i psichologii, Vol. 24, 1913, Nr. 118, S. 224–235; ders., Intuitivnaja filosofija Bergsona, Moskau 1914. Vgl. Fink 1999, S. 29–36; L. Usenko, Načalo impressionizma v Rossii i filosofija intuitivizma, in: Elena Guro, Nebesnye Verbljužata. Bednyj Rycar’. Stichi i Proza, Rostov am Don 1993, S. 278–284. 140 Lossky 1928, S. 3–4. 141 Ebenda, S. 49–50. 142 Ebenda. 143 Ebenda, S. 62.
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geben müsse.144 Damit wandte Losskij die Idee der Schöpfung nicht auf die Welt als Ganzes an, sondern nur auf ihre grundlegenden „Einheiten des Seins“, die er, wie Leibnitz, als Schöpfungen des Absoluten betrachtete.145 Losskij betonte, dass der Intuitivismus eine empirische Theorie sei, der „die organische lebendige Einheit der Welt“ besonders hervorhebt.146 Sein Intuitivismus behauptete, „dass die Erkenntnis keine Kopie, kein Symbol und keine Erscheinung der Wirklichkeit im erkennenden Subjekte, sondern die Wirklichkeit, das Leben selbst ist, welches bloß einer Differenzierung durch Vergleichung unterworfen wird“ und hob damit „den Gegensatz von Erkenntnis und Sein“ auf.147 Aus diesem unmittelbaren Zusammenhang von Erkenntnis und Sein im Intuitivismus ergibt sich, dass der Prozess des Begreifens des Seins den Prozess der realen Verwirklichung des Seins in sich fasst, womit der Intuitivismus in der Erkenntnistheorie den Gegensatz von Rationalem und Irrationalem überbrückt.148 „Deswegen“, so schreibt Losskij, „gehört diese Frage nach der Lehre des Intuitivismus zur Ontologie, nicht aber zur Erkenntnistheorie.“149 Im Gegensatz zu Bergsons Auffassung von der Welt als „ein Fluss von Veränderungen“, vertrat der russische Intuitivismus die Erfahrung der Welt als organisches Ganzes. Mit seinem Intuitivismus unternahm Losskij den Versuch, Rationalismus und Idealismus miteinander zu versöhnen und vertiefte zugleich das Streben nach einer universalen Synthese in der russischen Philosophie des ausgehenden neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts.150 Die Auseinandersetzung mit dem Wesen der schöpferischen Intuition bedeutete für die russische Avantgarde die Anwendung der Psychologie auf die Kunst. Dabei betrachteten Avantgarde-Künstler die menschliche Psyche als einen gesetzmäßigen und zugänglichen Teil des Universums, der wie alle anderen Erscheinungen der Natur denselben Naturgesetzen folgte. Sie waren überzeugt, dass der Künstler von Natur aus mit einer besonderen Sensibilität ausgestattet worden war und deshalb Empfindungen zu reflektieren vermochte, die vom durchschnittlichen Zeitgenossen nicht wahrgenommen werden konnten. Durch die Darstellung der von ihm erfahrenen Empfindungen im Kunstwerk würde der Künstler in der Lage sein, an der Verfeinerung des menschlichen Empfindungsvermögens zu arbeiten, zur Weiterentwicklung der menschlichen Psyche beizutragen und die Zeitgenossen zu einem neuen Weltverständnis zu führen. Deshalb erklärte die Avantgarde den Künstler zum Wegbereiter der Evolution des menschlichen Bewusstseins. 144 Ebenda, S. 57. 145 Ebenda, S. 74. 146 Losskij 1908, S. 96, 349–350. 147 Ebenda, S. 342. 148 Ebenda, S. 346. 149 Ebenda, S. 343. 150 Simon Frank, Die russische Philosophie, ihre Eigenart und ihre Aufgabe, in: Festschrift N. O. Losskij zum 60. Geburtstage, Bonn 1934, S. 63–68.
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In enger Anlehnung an die zeitgenössische Psychophysik betrachteten Künstler wie Filonow, Kulbin, Matwej, Malewitsch, Matjuschin und Rosanowa die Empfindungen als Wirkung von materiellen Reizen auf die Psyche des Menschen, die normalerweise zu schwach waren, den Schwellenwert der menschlichen Sinneswahrnehmung zu überschreiten. Nach dem intuitiven Prinzip zu arbeiten, bedeutete für sie deshalb die Sensibilisierung von Empfindungen, die unterhalb des Schwellenwertes lagen und vom menschlichen Nervensystem nicht zu visuellen, akustischen und taktilen Eindrücken verarbeitet werden konnten. Sie schlussfolgerten, dass es Aufgabe des Künstlers sei, durch intuitives Schaffen seine eigenen inneren Erfahrungen zu kultivieren, diese im Kunstwerk sichtbar zu machen und auf diese Weise an den Betrachter zu vermitteln. Indem der Künstler seiner Intuition folgte und seine inneren Empfindungen im Kunstwerk materialisierte und erfahrbar machte, wirkte er unmittelbar auf die Psyche des Betrachters. Nikolai Kulbin gehörte zu den ersten Künstlern, der forderte, Kunst, Literatur und Musik von den konventionellen Mustern des Akademismus zu befreien und durch das „intuitive Prinzip“ zu ersetzen. Mit seiner Konzentration auf die psychophysiologischen Mechanismen der menschlichen Wahrnehmung der Welt durch die Kunst gehörte Kulbin zugleich zu den ersten in russischen Künstlerkreisen, der vage davon sprach, dass es möglich sei, durch intuitives Schaffen zu höheren Bewusstseinsformen vorzudringen und zur Erkenntnis der vierten Dimension zu gelangen:151 „Es ist möglich, die akademischen Gesetze zu verletzen, indem man versucht, in die sogenannte ‚vierte Dimension‘ hinüberzugehen und die innere spirituelle Welt des Menschen zu vermitteln – deshalb stellt der Künstler auf der Leinwand wahrheitsgetreu dar, wie ihm seine Umgebung erscheint.“152
Damit war das Kunstwerk für ihn nicht mehr eine bloße Darstellung der sichtbaren Welt, sondern präsentierte eine breitere psychologische Wirklichkeit, in der Objektives und Subjektives, Natur und göttliche Seele miteinander verschmolzen. Kulbins Ideen hatten unmittelbaren Einfluss auf Matwejs „freie Kreativität“, Krutschonychs zaum-Sprache und Malewitschs Suprematismus. Woldemar Matwej betonte die Eigengesetzlichkeit der Kunst; er betrachtete die künstlerische Wirklichkeit als etwas, das jenseits der natürlichen Welt liegt und „völlig neue Welten eröffnet und Wunder erzeugt“.153 Er forderte vom Künstler, seinen Empfindungen frei zu folgen, um seine innersten Regungen zu befreien; deren Quelle suchte er in den verborgensten Winkeln der menschlichen Seele sowie in den unterbewussten Bewegungen der Hand und im Denken des Künstlers: „Der Mensch besitzt einen Ozean von Eindrücken. Er erhält oft Stimuli, die er nicht sehen, sondern nur fühlen kann: indem er frei schafft, seinem Gefühl folgt, stellt er einen 151 Howard 1992, S. 30. 152 V. Jančeveckij, Vystavka impressionistov „Treugol’nik“, in: Rossija, vom 24. März 1910, S. 4, zit. in: Howard 1992, S. 3. 153 Markov April 1912, S. 13.
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Gegenstand völlig entgegengesetzt dazu dar, wie er ihn sieht. Hinter der äußeren Hülle jedes Gegenstandes verbergen sich seine Geheimnisse, sein Rhythmus – und dem Künstler ist die Fähigkeit gegeben, dieses Geheimnis zu enthüllen, auf den Rhythmus des Gegenstandes zu reagieren und Formen zu finden, um diesen Rhythmus zu manifestieren.“154
Wie für Kandinsky wurde auch für Matwej die Kunst von einer inneren Notwendigkeit bestimmt, die der menschlichen Seele entsprang. Nur durch die Anwendung des Prinzips der „freien Kreativität“ konnte der Künstler Formen schaffen, die in der Lage waren, die Erfahrungen des Künstlers in seiner Auseinandersetzung mit der Natur und mit der inneren Welt seines „Ichs“ auszudrücken.155 Dabei unterschied Matwej drei charakteristische Stadien, die das künstlerische Schaffen in unterschiedlichem Maße bestimmen: 1) das versteckte unterbewusste Ich; 2) das versteckte Ich, das organisch mit dem Individuum verbunden ist und atavistisch von ihm übertragen wird sowie 3) das Ich, das die äußere Erscheinung der beiden verborgenen, individuellen Ichs repräsentiert.156 Er war überzeugt, dass der Natur des Menschen das Streben nach anderen Welten eigen ist und betrachtete das wahre Schöpfertum der „freien Kreativität“ als sichersten Weg zu neuen Bewusstseinshorizonten. Auf der Grundlage dieses schöpferischen Prinzips war es für Matwej möglich, innere und äußere Natur, sinnliche Empfindungen und rationale Analyse, Gefühl und Verstand, Natürliches und Übernatürliches im Kunstwerk zur Einheit zu führen, denn das „freie Schaffen“ des Künstlers war „nicht einfach ein Bedürfnis, um originell zu sein, Streiche zu spielen oder lächerliche Affektiertheit zu demonstrieren“, sondern ein Mittel, um „die schöpferischen Bedürfnisse der menschlichen Seele zu befriedigen“.157 Olga Rosanowa stimmte mit Kulbin und Matwej darin überein, dass sich die Malerei im Ergebnis der Wechselwirkung von Naturwahrnehmung und individuellem Empfinden des Künstlers entfaltet. Sie betrachtete die Natur als Ausgangspunkt der künstlerischen Tätigkeit, da der primäre Schaffensdrang des Künstlers für sie aus seiner Konfrontation mit der Natur erwuchs, und fragte danach, wie die menschliche Seele die Welt reflektiert. Das Verlangen des Künstlers, die Welt zu durchdringen und, indem er sie reflektiert, sich selbst zu reflektieren, galt ihr als der intuitive Impuls, der das Subjekt auswählt. Diesen intuitiven Impuls betrachtete sie als das erste psychologische Stadium im Prozess des künstlerischen Schaffens, der von der individuellen Verarbeitung und Transformation des „Naturmaterials“ gefolgt wurde. Die Konsequenz des aktiven Strebens, die Welt auszudrücken, bildete für sie jedoch die Abstraktion, da nur diese in der Lage war, eine unlösbare Kombination der Konzeption der künstlerischen Mittel und der Konzeption der künstlerischen Intentionen herzustellen. Damit stellte Rosanowa einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen intuitivem Prinzip, individueller Transformation des Sichtbaren und abstrakter Schöpfung in der Kunst her: „Nur das intuitive Prinzip macht uns mit der Welt bekannt. Und nur das abstrakte 154 Markov Juni 1912, S. 16–17. 155 Ebenda, S. 15. 156 Ebenda, S. 13. 157 Ebenda, S. 14.
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Prinzip – Kalkulation – als die Konsequenz des aktiven Strebens, die Welt auszudrücken, kann ein Bild bauen.“158 Die neue Kunst bedeutete für sie keine passive Imitation der Natur, sondern war aktiver Ausdruck der Beziehung des Künstlers zur Natur. Im Idealfalle sollte der Künstler spontan von einem kreativen Stadium zum nächsten schreiten und das intuitive, das individuelle und das abstrakte Prinzip würden organisch, nicht mechanistisch, miteinander verbunden sein. Auch in Pawel Filonows Schaffen spielte die Intuition als „ein unterbewußtes, analytisches Begriffsvermögen“, das die Kreativität des Menschen bestimmt, eine große Rolle.159 Er definierte Kreativität als die Fähigkeit des Menschen, Material durch analytische und intellektuelle Arbeit zu organisieren und betrachtete die künstlerische Tätigkeit als eine Aktivität, die der intellektuellen Kraft und Energie des Menschen entspringt, während er das natürliche Material bearbeitet, aus dem er den Gegenstand formt. Diese künstlerische Kreativität, die er mit „Gemachtheit“ (sdelanost) gleichsetzte, bedeutete für ihn die künstlerische Darstellung bzw. Verwirklichung der Konzeption des Künstlers von den Phänomenen der äußeren und der inneren Welt: „Kreativität, d. h. Gemachtheit, was auch immer im Gemälde dargestellt ist, ist vor allem die Reflexion und Aufzeichnung (durch das Material) eines Kampfes – eines Kampfes, für die Entwicklung einer höheren intellektuellen Ebene des Menschen, für das Dasein und (die Wirkung) dieser höheren psychologischen Kunst auf den Betrachter, d.h. sie macht den Betrachter höher, fordert ihn auf, so zu sein.“160
Dabei umfasste Kreativität für Filonow sowohl die Einflussnahme des Künstlers auf sich selbst im Verlaufe der schöpferischen Tätigkeit, die Arbeit am eigentlichen Werk und an den tatsächlichen Kräften des Gegenstandes als auch die Wirkung des Werks auf den Betrachter und auf seinen Schöpfer.161 Die Wirkung der Kunst lag für ihn in der aktiven Kraft des Intellekts des Künstlers, die in ihrer Materialisierung im Kunstwerk unmittelbar auf den Betrachter wirkte und Einfluss auf die Evolution von dessen Intellekt nehmen konnte: „Vorwärts die erste Weltrevolution in der Psychologie des Künstlers und in der Kunst!“162 Kasimir Malewitsch forderte eine Revolution des Bewusstseins, einen Wechsel der alten „Gewohnheiten des Verstandes“, da die Gegenstände den Verstand an die eingeschränkte Form der Vernunft binden.163 Im Sinne Bergsons sprach er von „Intuition“, „intuitiver Vernunft“, „intuitivem Willen“ als aktivem schöpferischen Prinzip, das gesetzmäßig ist und dem Menschen im Verlaufe des Evolutionsprozesses zunehmend be158 Rozanova 1913, S. 14. Vgl. auch V. N. Terechina, Vladimir Markov i Ol’ga Rozanova o „Principach Novogo Tvorčestva“, in: Matvej 2005, S. 125–136. 159 P. N. Filonov, Osnovnye položenija analitičeskogo iskusstva, 1923b, RGALI, F. 2348, Op. 1, Ed. 10, in: Nicoletta Misler, John Bowlt (Hg.), Pavel Filonov: A Hero and His Fate, Austin 1983, S. 145. 160 Ebenda. 161 Ebenda, S. 148. 162 Filonov, 1923, S. 13–15. Deutsch in: Harten/Petrowa 1990, S. 78. 163 Douglas 1975, S. 271.
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wusster wird. Er schlug zwei Wege einer grundlegenden Bewusstseinsveränderung vor: 1) das innere Bewusstsein zu entwickeln und 2) räumliche Beziehungen mit anderen Objekten zu vermeiden. Als Aufgabe des Künstlers betrachtete er es, durch intuitives Schaffen die direkten Erfahrungen des Menschen zu kultivieren.164 Während seine alogischen Bilder mit ihren endlosen Kombinationen von fragmentierten Gegenständen die perspektivische Darstellung zerstörten, die Illusion des dreidimensionalen Raumes jedoch nicht überwunden hatten, bedeutete die flächige Malerei rein geometrischer, suprematistischer Formen „das Empfinden, dass kein Gegenstand da ist“ – das Empfinden einer gegenstandslosen Umwelt bzw. des kosmischen Raumes. Die Formen seines „neuen malerischen Realismus“, des Suprematismus, entstanden im Ergebnis intuitiven künstlerischen Schaffens aus dem Nichts; sie waren „malerische Modelle“ der neuen Wahrnehmung und Empfindung des Raumes.165 Zugleich umfasste Malewitschs suprematistische Malerei ein breites Spektrum von Empfindungen und sinnlichen Erfahrungen, die sich alle auf energetische Bewegungen im Raum konzentrierten, so zum Beispiel die Empfindung des Fluges, die Empfindung der Ströme einer Telegrafenübertragung, die Empfindung der Magnetanziehung, die Empfindung der Bewegung und ihrer Gegenwirkung, die Empfindung des Weltalls.166 Mit seiner neuen Formensprache hoffte Malewitsch die alten Limitierungen der Wahrnehmung zu überwinden und eine neue Einheit zwischen dem Menschen und dem Universum herzustellen: „Die Malerei ist für uns zu einem Körper geworden, in dem der Maler seine Vernunft und Geisteszustände, die Struktur seines Verständnisses von der Natur und des Verhältnisses zwischen ihm und der Natur, so wie sie auf ihn wirkt, ausdrückt.“167 Wie Krutschonychs zaum-Gedichte waren auch Malewitschs suprematistische Bilder Ausdruck einer höheren Wirklichkeit, einer Realität, die mit dem samadhi Stadium im Yoga verglichen worden ist, so wie es von Vivekananda gelehrt und von Ouspensky und Mitrofan Lodyshenski in Russland verbreitet wurde.168 Die organische Qualität der Arbeiten von Wladimir Tatlin und Pjotr Mituritsch lag sowohl in ihren formalen Qualitäten als auch in dem grundlegend nicht-mechanistischen, intuitiven Zugang, der die Organisation ihrer Werke kennzeichnete. Tatlin stellte künstlerische Intuition über mathematische Berechnung und technologisch-konstruktive Kenntnisse und wurde von El Lissitzky für seine „intuitiv
164 Ebenda, S. 271–281. Vgl. auch Douglas 1976, S. 49–63. 165 Larissa A. Shadowa, Suche und Experiment. Aus der Geschichte der russischen und sowjetischen Kunst zwischen 1910 und 1930, Dresden 1978, S. 50. 166 So lauten die Titel seiner suprematistischen Abbildungen in: Kasimir Malewitsch, Die gegenstandslose Welt, München 1927. 167 Andersen 1970, S. 116. 168 Vivekananda lehrte eine Version des Advaita, eine Schule der vedantischen Philosophie. Sein Buch Raja-Yoga, die Veröffentlichung seiner Vorlesungen in den USA 1895–1896, wurde 1906 ins Russische übersetzt. Er inspirierte auch Ouspensky.
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künstlerische Beherrschung des Materials“ kritisiert.169 Er forderte vom Künstler, die Technik mit den Tatsachen der neuen Wechselbeziehungen der Materialformen in seiner Arbeit zu konfrontieren. Für ihn unterschied sich die Schaffensmethode des Künstlers qualitativ von der des Ingenieurs, da die Formen von komplizierter Kurvatur andere, plastische, materielle und konstruktive Wechselbeziehungen in der Bearbeitung erforderten.170 Tatlins malerische Reliefs von 1913–14, die allein durch den Kontrast der verwendeten Materialien und Formen in ihrer Dreidimensionalität wirken, sprachen nicht nur die visuelle Wahrnehmung des Betrachters an, sondern waren ebenso an sein taktiles und räumliches Empfinden gerichtet. Diese Raumskulpturen, die sich schrittweise vom Bildrahmen zu lösen begannen und in den Eck-Konter-Reliefs von 1917–18 nahezu frei im Raum schwebten, bedeuteten die Aufnahme des Raumes als aktives Element in die Kunst. Sergei Issakow erkannte bereits 1915 das humanistische Potential, das Tatlins Materialkultur zugrunde lag, wenn er zusammenfasste: „Er offenbart das verborgene Leben des Materials, das den Fortgang unserer Industrie bestimmt und eine heftige Divergenz zwischen Ideologie und Wirklichkeit erzeugt, er erschließt die Gesetze der tief in der Materie schlummernden Energien und überträgt sie in die Sphäre des Schönen, dadurch wird er selbst zum Herrn der materiellen Welt und weckt die Hoffnung, dass irgendwann einmal die ganze Menschheit die Mittel und die Kraft finden wird, das erniedrigende Joch der Maschine abzuwerfen.“171
Mituritsch entwickelte seine Theorie vom tschuwstvo mira, dem sechsten Sinn bzw. Gefühl vom Weltsinn, als eine „grundlegend kognitive Kraft“, die dem Menschen erhöhte Einsicht in die Naturphänomene geben und ihn befähigen sollte, die Welt klarer zu sehen und die Grenzen der Wahrnehmung durch die fünf Sinne zu überschreiten.172 Dabei meinte tschuwstvo mira keine metaphysische Vorstellung von der Welt, sondern war als perfekter und konkreter Weltsinn gedacht, der unmittelbar mit dem schöpferischen Schaffensprozess in Wissenschaft und Kunst verbunden war und die Voraussetzung für die Untersuchung der Naturphänomene bildete. Die Wahrnehmung der Welt durch diesen neuen Sinn sollte die Kraft haben, zu neuen Darstellungen in der Kunst, neuen Auffassungen in der Wissenschaft und neuen Formen in der Technik zu führen. Zugleich galt Mituritsch die Kunst als das eigentliche Mittel zur Sensibilisierung der menschlichen Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit und zur Vermittlung des tschuwstvo mira. Überzeugt von der formativen Rolle der Kunst richtete er besonderes Augenmerk auf die künstlerische Ausbildung und die ästhe169 Vgl. Hubertus Gaßner, Auf der Suche nach Materialgerechtigkeit. Mißverständnisse und gekrümmte Linien, in: Harten 1993, S. 38. 170 Vladimir Tatlin, Iskusstvo v tekhniku!, in: Vystavka rabot zaslužennogo deiatelia iskusstv V. E. Tatlina, Moskau-Leningrad 1932, S. 6. Deutsch in: Shadowa 1987, S. 334. 171 S. K. Isakov, K „kontrrel’efam“ Tatlina, in: Novyj žurnal dlja vsech, Petrograd 1915, Nr. 12, S. 49–50. Deutsch in: Shadowa 1987, S. 361. 172 Maj Miturič, P. Miturič, Čuvstvo mira, in: Tvorčestvo 4, 1976, S. 14–17. Vgl. auch Lodder 1983, S. 217–218.
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tische Erziehung. Der Künstler verwirklichte und vervollkommnete seinen neuen Weltsinn in der künstlerischen Tätigkeit, der Nicht-Künstler aber konnte ihn durch die Kontemplation über das Kunstwerk, in dem tschuwstvo mira gegenwärtig war, entwickeln. Er schreibt: „Kunst, die den Inhalt eines neuen Weltgefühls verkörpert, ist wirklich schöpferische Kunst weil sie das produziert, was zuvor nicht existierte. Solche Kunst führt den Betrachter auf neue Wege, die Welt, alle Dinge, ihre neuen Festsetzungen und wechselseitigen Verbindungen zu sehen. Diese Kunst ist wirklich effektiv und mobilisiert neue Kräfte.“173
Mituritsch betrachtete die Kunst als eine Kraft, die neue Wege für die wissenschaftliche Forschung und die Möglichkeiten der Technik weisen könne. Dabei suchte er die Verbindung zwischen Kunst und Technik in der Natur. Er forderte vom Künstler, das, was um ihn herum passierte, gründlich und objektiv zu erforschen, um es zu verstehen, denn die künstlerischen Formen der Wahrnehmung sollten als Richtlinien für die wissenschaftliche Forschung dienen – nicht umgekehrt.174 Kulbins Intuitionismus, Matwejs freie Kreativität, Rosanowas Schöpfertum, Filonows analytische Kunst, Malewitschs Suprematismus, Tatlins Materialkultur und Mituritschs tschuwstvo mira waren weder rein analytisch-intellektuell noch rein sinnlich-emotional, sondern strebten danach, die herkömmliche analytische Logik durch die Aufnahme einer Vielzahl von sinnlich-emotionalen Erfahrungen zu erweitern, um auf die menschliche Psyche zu wirken und ein neues Verständnis von der Welt zu vermitteln und damit aktiven Einfluss auf die Erweiterung des menschlichen Bewusstseins zu nehmen und eine organische Wahrnehmung des Weltganzen zu ermöglichen.
Faktura: Der lebendige Stoff der Natur Das Streben nach einer Erweiterung und Intensivierung der von der Kunst angesprochenen menschlichen Erfahrungen und Sinneswahrnehmungen war mit einer Neubefragung der künstlerischen Mittel verbunden. Dabei gingen die Künstler von der Eigengesetzlichkeit der Malerei aus und untersuchten deren elementare Mittel, d. h. Linie, Form, Farbe und Textur sowie deren psychophysiologische Wirkung auf den Betrachter. Im Prozess des künstlerischen Experimentierens mit dem Material und im Streben nach einer Befreiung der menschlichen Sinne begannen sich Maler wie Filonow, Malewitsch, Matwej, Rosanowa und Tatlin über die Verwendung von Farbe und Form hinausgehend mit Fragen von Material und Textur, Rhythmus und Oberflächenspannung zu beschäftigen. Linie, Farbe und Textur müssen als grundlegende Elemente in der Kunst der russischen Avantgarde und bei der Herausbildung der abstrakten Malerei betrachtet werden. Als malerische Grundkategorien wurden sie intensiv in den Schriften 173 Ebenda. 174 Lodder 1983, S. 217–223.
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der Künstler diskutiert. Kandinsky bezeichnete Farbe und Linie als die künstlerischen Elemente, die „die wesentliche, ewige unveränderliche Sprache der Malerei“ konstituieren.175 Dawid Burljuk bestimmte Linie, Oberfläche, Farbe und Textur als Grundkomponenten der reinen Malerei.176 Larionows Rayonismus gründete auf der Eigengesetzlichkeit von farbigen Linien, die die Bewegung des Lichts verkörpern: „Tatsächlich aber darf sich ein Gemälde nur nach seinen eigenen Gesetzen aufbauen – genau wie sich die Musik nach ihren eigenen Gesetzen aufbaut. Die ureigenen Gesetze der Malerei sind: Farbmasse und Textur.“177 Malewitsch betrachtete „Farbe und Faktur“ als die eigentlichen Werte der malerischen Schöpfung, die „das Wesen der Malerei“ ausmachen, bis in die Gegenwart jedoch „vom Sujet getötet“ worden waren.178 Für Filonow war Textur das Prinzip, mit dem die Oberfläche eines Gegenstandes behandelt und entwickelt wird; es beinhaltete für ihn das Verständnis von „der Bedeutung bzw. der Vieldeutigkeit der Oberflächeneigenschaften des Gegenstandes, so wie sie mit der Beschaffenheit des Materials, aus dem der Gegenstand gemacht ist, wechselwirken“.179 Die Beschäftigung der russischen Avantgarde mit den grundlegenden Elementen, fundamentalen Prinzipien und schöpferischen Prozessen, die das Kunstwerk ausmachen, fand ihren Niederschlag in der Diskussion von faktura, ein Begriff, der gewöhnlich mit „Textur“ oder „Struktur“ übersetzt wird.180 Dawid Burljuk verwendete den Begriff der faktura als erster 1912 in seinem gleichnamigen Text in dem kubo-futuristischen Band „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“; Larionow benutzte ihn im selben Jahr in seinem „Rayonistischen Manifest“.181 Zwischen 1912 und 1920 wurde der Begriff faktura von einzelnen Mitgliedern der Avantgarde weiter entwickelt. Die Mitglieder des Bundes der Jugend führten in ihren ersten beiden Sammelbänden von 1912 eine intensive Diskussion über die Materialien und Prozesse des künstlerischen Schaffensprozesses; diese kulminierte 1914 in der Veröffentlichung des Buches „Schaffensprinzipien in den bildenden Künsten: Faktura“ von Woldemar Matwej.182 Während faktura, so wie der Begriff von der frühen russischen Avantgarde gebraucht wurde, von der Verwendung von Naturmaterialien und einem ganzheitlichmetaphysischen Zugang zur Kunst bestimmt war, benutzten ihn die Konstruktivis175 Kandinskij 1910–11, S. 15. 176 Burljuk 1912a, S. 98. 177 Larionov 1912, in: Nakov 1988, S. 214. Deutsch in: ebenda, S. 207. 178 Malevič 1916, in: Schneede 1998, S. 263. 179 Filonov 1923, in Misler/Bowlt, 1983, S. 147. 180 Allgemeine Ausführungen zu faktura vgl. Yve-Alain Bois, Malevitch, le carré, le degree zero, in: Macula 1, 1976, S. 28–49; Margit Rowell, Vladimir Tatlin: Form/Faktura, in: October 7, Winter 1978, S. 83–108. D. K. Bernštejn, Tatlin, Punin, Matvej i Faktura, in: Matvej 2005, S. 137–153. 181 David Burljuk, Faktura, in: Poščečina obščestvennomu vkusu 1912, S. 102–110; Larionov 1912, in: Nakov 1988, S. 214. Vgl. auch Benjamin Buchloh, Von der Faktur zur Faktografie, in: DURCH 6/7, 1990, S. 3–35; Bernštejn 2005, S. 137–153. 182 Markov April 1912, S. 5–14 und Juni 1912, S. 5–18; ders., Principy tvorčestva v plastičeskich iskusstvach: Faktura, St. Petersburg 1914; Rozanova 1913, S. 14–22.
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ten später, um eine strenge materialistische Ideologie und utilitäre Orientierung in ihrer künstlerischen Produktion zum Ausdruck zu bringen.183 Nikolai Tarabukin formulierte 1916 eine Definition von faktura, die im Wesentlichen für die gesamte Laboratoriumsphase des Konstruktivismus gültig bleiben sollte. Er schreibt: „Die Form eines Kunstwerks ergibt sich aus zwei fundamentalen Bedingungen: dem Material oder Medium (Farben, Klänge, Wörter) und der Konstruktion, die das Material in ein zusammenhängendes Ganzes fasst und ihm künstlerische Logik sowie seine tiefe Bedeutung verleiht.“184 Woldemar Matwej betrachtete alle Kunstwerke als ein Ergebnis des menschlichen Bedürfnisses, Material zu formen: „Dinge zu dekorieren und zu gestalten gibt dem Menschen die Möglichkeit, die dem Material innewohnenden Formen und ‚Klänge‘ hervorzubringen – das ist, was wir faktura nennen. Das Material ist die Mutter der faktura. Jedes neu entstandene Material kann neue Elemente bieten, von denen sich endlose neue Varianten von Fakturen schaffen lassen.“185
Er erklärte: „Das organische Leben auf der Erde ist ein Chaos wechselnder Fakturen“186 und definierte faktura als „eine Eigenschaft der Oberfläche des Gemäldes, die von unseren Augen und Sinnen wahrgenommen wird“;187 fügte jedoch hinzu, dass der Begriff auch auf die Bildhauerkunst, Architektur und alle anderen Kunstformen angewandt werden kann, in denen die Verwendung von Farbe, Ton und anderen Techniken eine bestimmte Empfindung beim Betrachter hervorruft.188 Faktura als künstlerisches Grundprinzip bzw. eine grundlegende Qualität der Kunst verkörperte für ihn die spezifische Kombination von Materialien, die im schöpferischen Prozess verwendet werden und die bestimmte Sinneswahrnehmungen beim Betrachter des Kunstwerks auslösen und damit eine Verbindung zwischen innerer und äußerer Welt schaffen.189 Matwej analysierte Kombinationen von verschiedenartigen Materialien in Natur und Kunst; organische, mechanische und ästhetische Verbindungen zwischen Materialien und die Abhängigkeit eines Materials von einem anderen bzw. die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Materialien.190 Dabei betonte er: „es wäre ein Fehler zu denken, dass die faktura eines Gegenstandes nur durch die Auswahl des Materials,
183 Zur Rolle von faktura im russischen Konstruktivismus vgl. Lodder 1983, S. 94–105; Buchloh 1990, S. 3–35. 184 Nikolai Tarabukin, Le dernier tableau, Paris 1972, S. 102, zit. in: Buchloh 1990, S. 5. 185 Markov 1914, S. 2. 186 Matwej beschäftigte sich in seinem Buch inbesondere mit Materialkombinationen in der Ikonenkunst sowie in der primitiven und afrikanischen Kunst. 187 Markov 1914, S. 1. 188 Ebenda. 189 Ebenda, S. 25. 190 Ebenda, S. 1–12.
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die Methoden seiner Behandlung und seine Komposition erreicht wird.“191 Er unterschied zwischen materieller faktura (Materialauswahl, Glanz, Farbpigment) und nicht-materieller faktura (die Qualität von Linien, Farbkombinationen, Kontraste, Verwendung von Werkzeugen, Methode oder Ansatz). Darüber hinaus betrachtete Matwej nicht nur Materialien an sich, sondern auch die kulturellen Traditionen, in denen sie verwendet worden waren, die Bedingungen des künstlerischen Schaffensprozesses, ebenso wie die Rolle des Künstlers. Faktura umfasste für ihn damit nicht nur die rein physischen Eigenschaften des Kunstwerks, sondern war auch Ausdruck der technischen Fähigkeiten und des geistigen Bewusstseins des Künstlers und wurde von den künstlerischen Traditionen, der sozialen Umwelt und den historischen Bedingungen, unter denen das Werk geschaffen wurde, beeinflusst. Zugleich betrachtete Matwej faktura als eine spezifisch russische, künstlerischkulturelle Qualität, die ihren Ursprung in der Ikonenmalerei mit ihrer reichhaltigen Fülle an Materialien hatte: „Wir sehen Malerei umgeben von getriebenem Silber, umgeben von Malerei, und wiederum umgeben von getriebenem Silber; wir sehen Ikonen geschmückt mit Papierblumen, Perlenschnüren, Tüchern, mit Lampen, die davor hängen, mit flackernden Kerzen und bedeckt mit Ruß....“192 Diese Vielfalt der verwendeten Materialen und Fülle an sinnlichen Eindrücken versinnbildlichte für Matwej das Zusammentreffen zweier Welten im Kunstwerk, „die innere, nicht-reale Welt und die äußere, wahrnehmbare Welt... durch die allgemeine faktura gelangen wir zur Mystik; mit anderen Worten, durch ihre symbolische Form erhalten wir ein Verständnis und eine Wahrnehmung von neuen Welten und von Schönheit“.193 Matwejs Verständnis von faktura als einer Kombination aus Material, Stil und Empfindung bzw. der Wahrnehmung des Kunstwerks, umfasst eine religiös-transzendente Dimension; sie verkörpert einen ganzheitlichen Zugang zum künstlerischen Schaffen, das den lebendigen Stoff der äußeren Welt der Natur mit der spirituellen Erfahrung der inneren Existenz des Menschen verbindet. Olga Rosanowa betonte in ihrem Aufsatz „Die Grundlagen der neuen Schöpfung und die Gründe für das Unverständnis ihr gegenüber“ von 1913, dass es die Natur sei, die „das Rohmaterial zur Verfügung stellt“, aus dem der Künstler die charakteristischen Eigenschaften des gewöhnlichen Materials auswählt, um seine Werke auf der Grundlage der Wechselwirkungen dieser Eigenschaften zu schaffen.194 Sie war überzeugt, dass es nur dem modernen Künstler gelungen war, „die ganze Substanz der Prinzipien... [wie] z. B. des Dynamismus, des Volumens und des Gleichgewichts im Bild, der Prinzipien von Schwere und Leichtigkeit, der linearen und flächenmäßigen Verschiebung, des Rhythmus als normierte Aufteilung des Raums, der Einebnung, der Dimension von Ebene und Oberfläche, der Komposition, der chromatischen
191 Ebenda, S. 7. 192 Ebenda, S. 59. 193 Ebenda, S. 60. 194 Rozanova 1913, S. 14.
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Beziehung sowie vieler anderer Prinzipien“ zu erfassen und zu verarbeiten.195 Sie betrachtete die Aufnahme dieser neuen qualitativen und nicht nur quantitativen Prinzipien in die künstlerische Praxis als Symbol für den Anbruch einer neuen Ära im künstlerischen Schaffen und die Entstehung einer eigengesetzlichen und reinen natürlichen Kunst.196 Rosanowas Hervorhebung von Prinzipien wie Dynamismus, Gleichgewicht, Oberflächenspannung und Farbbeziehungen demonstriert ihr lebhaftes Interesse an energetischen Zuständen – ein Interesse, das das Schaffen zahlreicher AvantgardeKünstler in den 1910er und 1920er Jahren prägte und stark von Wilhelm Ostwalds energetischem Monismus beeinflusst war. Ostwalds wissenschaftliche Arbeiten waren weit verbreitet und ausgesprochen populär in Russland.197 Auf der Grundlage von Ostwalds Energetizismus und der wissenschaftlichen Philosophie von Ernst Mach und Richard Avenarius entwickelte der Mediziner und engagierte linke Marxist Alexander Bogdanow seine Tektologie (Tektologija), eine universelle Organisationstheorie, deren Ziel es war, das gesamte Wissen der Menschheit auf der Grundlage von Ostwalds Energetizismus zusammenführen, um die zunehmende Spezialisierung und Aufspaltung der Disziplinen zu überwinden und zu einer neuen Einheit zusammenzuführen.198 Bogdanows wissenschaftliche Prinzipien der Organisation wurden zu einem grundlegenden Modell für die abstrakte Kunst in Russland zwischen 1918 und 1924, weil sie die Notwendigkeit einer Kunst, die auf dem Materialismus und wissenschaftlichen Prinzipien anstelle von Metaphysik und idealistischem Denken basierte, begründete und damit auch auf den wachsenden Druck reagierte, dass der Künstler Werke von gesellschaftlicher Bedeutung schaffen müsse.199 Für Wladimir Tatlin bedeutete faktura die Anerkennung der spezifischen Eigenschaften des Materials und die Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der Materialien in der Konstruktion, die für ihn auf den Prinzipien der Natur gründeten und in der organischen Form und der sozialen Funktion des Gegenstandes zum Ausdruck kamen. Im Gegensatz zu den meisten russischen Konstruktivisten, die ihre Formen der Maschinenwelt entlehnten und sich an den utilitären Idealen der industriellen Produktion orientierten, ließ sich Tatlin bei seinen Entwürfen von 195 Rozanova 1913, S. 20. Deutsch in: Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack. Russische Futuristen, Hamburg, Zürich 1988, S. 40. 196 Ebenda. 197 Zwischen 1888 und 1913 wurden mehr als dreißig seiner Bücher auf Russisch veröffentlicht, manche in mehreren Auflagen. 198 A. A. Bogdanov, Vseobščaja organizacionnaja nauka (Tektologija), 2 Bde., St. Petersburg, Moskau 1913+1917. Deutsch als: A. Bogdanow, Allgemeine Organisationslehre. Tektologie, 2 Bde., Berlin 1926–1928. Vgl. auch George Gorelik, Bodganov’s Tectology: Its Nature, Development and Influence, in: Studies in Soviet Thought 26, 1983, 39–57. 199 Charlotte Douglas, A Lost Paradigm of Abstraction: Alexander Bogdanov and the Russian AvantGarde, in: The Russian Avant-Garde: Representation and Interpretation, Conference Papers, St. Petersburg 2001, S. 203–211; diess., Energetic Abstraction: Ostwald, Bodganov, and Russian Post-Revolutionary Art, in: Bruce Clarke, Linda Henderson (Hg.), From Energy to Information: Representation in Science and Technology, Art, and Literature, Stanford 2002, S. 76–94.
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organischen Formen leiten, die er als die ästhetischsten und ökonomischsten Elemente in Kunst und Technik betrachtete. Vom Künstler der Materialkultur forderte er, dass er „das Spektrum unseres Denkens auf die Materialien und ihre Wechselbeziehungen ausdehnen“ solle und „im Material selbst die Vorbedingung zur Form ausfindig“ machen müsse.200 Er ermutigte die Künstler, die Materialien nicht nur nach ihren physikalischen Eigenschaften, wie Farbe, Faktur, Kompaktheit, Elastizität, Gewicht, Festigkeit und anderen auszuwählen, sondern auch ihre organische Form und ihr energetisches Potential sowie die klimatischen und ökonomischen Bedingungen des Landes zu berücksichtigen.201 Bei seiner Suche nach neuen Formen in Kunst und Design verband er seine Untersuchungen von verschiedenartigen Materialien und deren physikalischen Eigenschaften mit seinen Studien der Strukturprinzipien der organischen Natur und den Anwendungen der modernen Technik. Seine Entwürfe für Alltagsgegenstände wie zum Beispiel sein Stuhl aus gebogenem Holz, die Babytrinktasse und sein Flugapparat Letatlin waren weniger von den technischen Verfahren der industriellen Großproduktion bestimmt als von der Übertragung von natürlichen Formen und organischen Prozessen auf die Technik. Seine Funktionalisierung von Naturformen und Anwendung von bionischen Prinzipien wurde wesentlich von den wegweisenden Studien zur Philosophie der Technik von Ernst Kapp und Pjotr Engelmeier beeinflusst. Auf der Grundlage von Darwins biogenetischer Theorie der Entwicklung und den Erkenntnissen der zeitgenössischen Physiologie hatte Kapp seine technogenetische Theorie der Kultur entwickelt, worin er alle Werkzeuge und Waffen als Projektionen und Ableitungen menschlicher Organe erklärte.202 Engelmeier betrachtete in seiner vierbändigen „Philosophie der Technik“, einem Standardwerk der Zeit, die Technik als ein biologisches und anthropologisches Phänomen und diskutierte die Rolle der Technik in der Kultur- und Wirtschaftsgeschichte sowie die Wechselwirkungen zwischen Technik, Kunst, Ethik und anderen sozialen Faktoren.203 Die Werke beider Autoren wurden im theoretischen Unterricht an den Moskauer Höheren Künstlerisch-Technischen Instituten (WChUTEIN) behandelt, wo Tatlin von 1927 bis 1930 an der Holz- und Metallwerkstatt (Dermetfak) und der Keramikwerkstatt unterrichtete. Bei der Konstruktion seines Flugapparates, Letatlin, in den 1920er Jahren, ignorierte Tatlin vorsätzlich die Forschungsergebnisse der modernen Aerodynamik und benutzte den Vogelflug als Modell für seinen Gleiter, denn er wollte, wie er es formulierte, „der Menschheit das Gefühl des Fliegens zurückgeben, weil der Flug mit der
200 Tatlin 1929, S. 4. Deutsch in: Shadowa 1987, S. 329. 201 V. E. Tatlin, Problema sootnošenija čeloveka i vešči. Ob’javim vojnu komodam i bufetam, in: Rabis 15, vom 14. April 1930, S. 9. Deutsch in: Shadowa 1987, S. 330–331. 202 Ernst Kapp, Die Organprojektion, in: ders., Grundlinien einer Philosophie der Technik: Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten, Braunschweig 1877, S. 29–39. Vgl. auch Radiu Stern, Letatlin: Natur versus Technik, in: Harten 1993, S. 59–63. 203 Petr K. Engelmejer, Filosofija techniki, 4 Bde., Moskau 1912. Vgl. auch Carl Mitcham, Thinking through Technology: The Path between Engineering and Philosophy, Chicago 1994, S. 28–29.
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Maschine, d. h. dem Flugzeug, sie dieses Gefühls beraubt hatte“.204 Obwohl Tatlin sich seine Flugmaschine als Fahrrad der Zukunft vorstellte, das als Massentransportmittel dienen sollte, war sein Gleiter keine rein funktionale Maschine, die mit anderen Prototypen des von Menschen angetriebenen Flugs in dieser Zeit konkurrierte, sondern die künstlerische Imitation eines Vogels. Mit seiner Konzentration auf die physikalischen Eigenschaften und die soziale Funktion des Kunstwerks verband Tatlin Matwejs metaphysisches Verständnis von faktura und Rosanowas Interesse an den energetischen Qualitäten. Er betrachtete faktura als eine Denkweise, die sowohl die Eigenschaften der einzelnen Materialien als auch die Merkmale ihrer Wechselwirkungen berücksichtigte. Pawel Filonow definierte Textur als Prinzip der Oberflächenbehandlung eines Gegenstandes, das die Wechselwirkungen zwischen der Vielschichtigkeit der Oberflächenmerkmale und der Beschaffenheit des Materials reflektiert.205 Er setzte der momentanen Wahrnehmung des Gegenstandes im statischen Zustand und seiner Darstellung ausschließlich durch Farbe und Form in der traditionellen Kunst, die er als Realismus bezeichnete, seinen analytischen Realismus, d. h. die Widerspieglung der unterschiedlichen dynamischen Prozesse, die gleichzeitig im Gegenstand ablaufen, entgegen.206 Dabei unterschied Filonow zwischen zwei, einander entgegen gesetzten Zugängen zur Kunst: Kanon und Gesetz (kanon i sakon). Kanon bezeichnet die nach außen gerichtete Vereinfachung und Geometrisierung der sichtbaren Form, so wie sie von den Kubisten vorgenommen worden war; sie bedeutete für Filonow ein „voreingenommenes“ Entwickeln der plastischen Form.207 Gesetz hingegen beschreibt die organische Entwicklung der Form, indem der Künstler diese von innen her nach außen verfolgt, um die verborgenen Tendenzen der Formbildung und ihre potentiellen Strukturen aufzuzeigen.208 Der Künstler der analytischen Kunst folgte dem Gesetz, er erfand seine Formen nicht, sondern vollzog ihre Selbstentwicklung und Selbstoffenbarung von einfachen zu komplexeren Strukturen in Analogie zur biologischen Evolution von Einzellern zu höheren Lebewesen. Mit dem Gegensatzpaar Kanon und Gesetz unterschied Filonow zwei einander entgegen gesetzte Verfahren in der Kunst, die für ihn zugleich die Verschiedenartigkeit der Entwicklung der modernen Kunst in Ost und West charakterisierten: „Ich bestimme die russische Kunst (generell) als außergewöhnliche Spielart der allgemeineuropäischen Kunst (generell) aufgrund der ‚arteigenen‘ Besonderheiten ihrer Faktur: das Schwere, Rohe der spontan ausgeführten Faktur, der organischen Ästhetik. Dies zeugt davon, dass der Künstler aus dem Innersten heraus und nicht gemäß dem Kanon schafft. 204 Kornelij Zelinskij, Letatlin, in: Večernjaja Moskva, 6. April 1932, No. 80 (12507). Deutsch in: Shadowa 1987, S. 331–332. Vgl. auch Jyrki Siukonen, Uplifted Spirits, Earthbound Machines. Studies on Artists and the Dream of Flight, 1900–1935, Helsinki 2001, S. 121–171. 205 Filonov 1923, in: Misler/Bowlt 1983, S. 147. 206 Ebenda. 207 Filonov 1912, in: Kowtun 1990, S. 94. 208 Ebenda.
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Hier tritt der Geist des Künstlers dynamisch in das Material des Objektes ein, wobei er über die Bedingung der Darstellung dominiert und den Kanon unbewußt oder bewußt zurückweist....“209
Mit dem Begriff der faktura führte die russische Avantgarde eine neue Kategorie in die Kunst ein, mit der sie sich zugleich deutlich von den künstlerischen Bestrebungen des Westens abgrenzte. Für die frühe russische Avantgarde bestimmte nicht die „rationale“ Bildidee die Verarbeitung des künstlerischen Materials, sondern die Natur des künstlerischen Materials, d. h. die ihm eigenen organischen Qualitäten und natürlichen Gesetze – oder die, die als solche betrachtet wurden – konstituierten das Kunstwerk. So betonte Matwej in seinem Buch: „Allgemein gesprochen muss bemerkt werden, dass das zeitgenössische Europa, das so große Errungenschaften auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik erreicht hat, sehr arm im Hinblick auf die Entwicklung der plastischen Prinzipien ist, die uns von der Vergangenheit hinterlassen worden sind.... Europas wissenschaftlicher Apparat behindert die Entwicklung von solchen Prinzipien wie das Prinzip des Gewichts, der Fläche, der Dissonanz, der Ökonomie, des Symbols, der Dynamik, des Leitmotivs, der Skalen u. a. m.“210
Damit verkörperte das Prinzip der faktura einen grundlegenden Unterschied im künstlerischen Ansatz von Ost und West, es offenbarte den Gegensatz zwischen dem russischen Verständnis vom Prozesscharakter der künstlerischen Tätigkeit und der westeuropäischen Orientierung auf das stilistische Ergebnis der künstlerischen Bilderfindung. Im Gegensatz zur westeuropäischen Moderne stellte die russische Avantgarde die Eigengesetzlichkeit des künstlerischen Materials, d. h. das Prinzip der faktura, über das Prinzip der künstlerischen Innovation. Der Begriff faktura bezeichnete keinen stilistischen oder expressiven Kunstgriff, sondern die Art und Weise der Auswahl und Behandlung des Materials im Prozess der schöpferischen Tätigkeit; sie bestimmte die russische Kunst von der Ikonenmalerei bis zur Avantgarde. Die Überzeugung, dass die Kunst ein Medium sein könne, die Strukturen des Kosmos in seinen sichtbaren materiellen wie seinen unsichtbaren nichtmateriellen und energetischen Aspekten zu enthüllen, wurde von vielen Künstlern der frühen St. Petersburger Avantgarde geteilt und bildete die Grundlage für ihren Zugang zur Kunst. Diese Künstler machten die Entwicklungsprozesse, Kräfte und Formen der Natur zum Modell ihres künstlerischen Schaffens; ihre organische Ästhetik wurde von ihren pantheistischen, neo-vitalistischen oder monistischen Anschauungen und vom Evolutionsgedanken beeinflusst. Sie verbanden unmittelbare Naturbeobachtung mit wissenschaftlichem Denken und mit einem starken Interesse an der Natur der menschlichen Seele und an psychophysiologischen Fragestellungen.
209 Filonov 1923, S. 14. Deutsch in: Harten/Petrowa 1990, S. 78–79. 210 Markov April 1912, S. 7 und 11.
II. Michail Matjuschin und die Organische Kultur in der St. Petersburger Avantgarde
1
Das Werk des Musikers, Malers und Kunsttheoretikers Michail Matjuschin (1861–1934) hat bis in die Gegenwart nur relativ geringe Beachtung und Würdigung erfahren. In frühen Darstellungen zur Kunst der russischen Avantgarde wird Matjuschin lediglich als Komponist der futuristischen Oper „Sieg über die Sonne“ erwähnt.211 Die intensive Erforschung des russischen Kubo-Futurismus in den 1980er Jahren hat dann gezeigt, dass Matjuschin nicht nur als Musiker und Komponist tätig war, sondern mit seinen Aktivitäten als Maler, Theoretiker, Kunstkritiker und Herausgeber ein wichtiger Organisator der St. Petersburger Avantgarde war. Die Publikation des historischen und künstlerischen MaMichail Matjuschin am Klavier, ca. 1912 terials zur Oper „Sieg über die Sonne“ 1983 durch die Akademie der Künste in West-Berlin bildet eine wichtige Grundlage für die Beschäftigung mit Matjuschins vielfältigem künstlerischen Werk.212 Sehr verdient um das künstlerische Schaffen von Matjuschin hat sich die russische Kunsthistorikerin Alla Powelichina gemacht. Von ihr stammte in den 1970er Jahren die erste zusammenfassende Überblicksdarstellung zu Matjuschins künstlerischen Bestrebungen.213 1990 organisierte sie in Leningrad mit der Ausstellung „Michail 211 Avantgarde Osteuropa 1910–1930, Ausst.-Kat., Berlin 1967, S. 89; Camilla Gray, Die russische Avantgarde der modernen Kunst 1863–1922, Köln 1963, S. 93, 174. 212 Sieg über die Sonne 1983. 213 Alla Povelikhina, Matyushin’s Spatial System, in: The Structurist 15–16, 1975–76, S. 64–71. Deutsch als: Alla Powelichina, Der Raumrealismus Matjuschins, in: Die Kunstismen in Russland / The Isms of Art in Russia. 1907–1930, Ausst.-Kat., Köln 1977, S. 27–41.
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Matjuschin und seine Schule“ die bisher umfangreichste Repräsentation des vielfältigen musikalischen, malerischen und kunsttheoretischen Werks dieses Künstlers.214 Durch die Zusammenarbeit des damaligen Staatlichen Museums für Geschichte der Stadt Leningrad mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe konnte diese Ausstellung 1991 in reduzierter Form unter dem Titel „Matjuschin und die Leningrader Avantgarde“ im Kunstverein in Karlruhe gezeigt werden. Der Katalog dieser Ausstellung bildet bis in die Gegenwart die wichtigste Quelle für die Beschäftigung mit dem künstlerischen Werk von Matjuschin.215 Der russische Kunsthistoriker und Kurator am Staatlichen Russischen Museum Jewgeni Kowtun hat Anfang der 1990er Jahre mit dem Begriff vom „dritten Weg der Gegenstandslosigkeit“ in der russischen Avantgarde den Weg für die Betrachtung der Organischen Schule frei gemacht, wobei er damit sowohl das künstlerische Werk von Jelena Guro, Michail Matjuschin und Pawel Filonow als auch von Natalja Gontscharowa und Michail Larionow beschrieben hat.216 In der Ausstellung „Die große Utopie. Russische Avantgarde 1915–1932“ wurde 1992 dann erstmals die analytische Kunst von Filonow und die organische Kultur von Matjuschin als eine eigenständige Gruppierung innerhalb der russischen Avantgarde behandelt.217 Ich habe in meinen Publikationen des vergangenen Jahrzehnts die Idee von der „anderen Seite“ der russischen Avantgarde wiederholt aufgegriffen.218 Darüber hinaus haben sich zwei wichtige russische Sammler sehr verdient um das Werk von Matjuschin und seinem Kreis gemacht und entscheidend zu dessen Aufarbeitung beigetragen. Die Sammlung von George Costakis in der Staatlichen Tretjakow-Galerie in Moskau und im Museum für zeitgenössische Kunst in Thessaloniki enthält wichtige Werke von Guro, Matjuschin, den Geschwistern Boris, Georgi, Marija und Xenja Ender und Nikolai Grinberg, die seit den 1970er Jahren regelmäßig in internationalen Ausstellungen gezeigt worden sind.219 Der Majakowski-Spezialist Nikolai Khardzhiev hat sich nicht nur intensiv mit der Dichtung des 214 Chudožnik M. V. Matjušin u ego škola. Vystavka proizvedenij, Staatliches Museum für Geschichte der Stadt Leningrad, 1990. Zu dieser Ausstellung erschien bedauerlicherweise kein Katalog. 215 Klotz 1991. 216 Kowtun 1992, S. 47–55. 217 Frankfurt Main 1992. 218 Isabel Wünsche, Biocentričnijat Moderniz’m: drugata strana na avangarda, in: Sledva 6, August 2003, S. 20–33; diess. Biocentric Modernism: The Other Side of the Avant-Garde, in: Vojtech Lahoda (Hg.), Local Strategies. International Ambitions: Modern Art in Central Europe, 1918– 1968, Prag 2006, S. 125–132. 219 Stephan von Wiese (Hg.), Werke aus der Sammlung Costakis. Russische Avantgarde 1910–1930, Ausst.-Kat., Düsseldorf 1977; Margit Rowell, Angelica Zander Rudenstine (Hg.), Art of the Avant-Garde in Russia: Selections from the George Costakis Collection, Ausst.-Kat., New York 1981; diess., Russische Avantgarde aus der Sammlung Costakis, Ausst.-Kat., München 1984; Anna Kafetsi (Hg.), Russian Avant-Garde 1910–1930. The G. Costakis Collection, Ausst.-Kat., 2 Bde., Athen 1996; Margit Rowell (Hg.), Russische Avantgarde aus der Sammlung Costakis, Ausst.-Kat., Hannover 1984; Miltiades Papanikolaou (Hg.), Avant-Garde: Masterpieces of the Costakis Collection, Ausst.-Kat., Thessaloniki 2000; ders., Licht und Farbe in der russischen
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Kubo-Futurismus beschäftigt, sondern auch eine umfangreiche Sammlung von literarischen und künstlerischen Werken der russischen Avantgarde zusammengetragen, darunter auch Bilder und graphische Arbeiten von Guro und Matjuschin sowie Texte zu ihren Kunstanschauungen. Ein kleiner Teil des von ihm zusammen getragenen Materials befindet sich heute im Staatlichen Majakowski-Museum in Moskau; der größere Teil wird in der Khardzhiev-Chaga Collection im Stedelijk-Museum in Amsterdam aufbewahrt.220 1999–2000 folgten dann die Ausstellung „Organica: The Non-Objective World of Nature in the Russian Avant-Garde of the 20th Century“ in der Galerie Gmurzynska in Köln und 2001 die Ausstellung „Organica: New Perception of Nature in the Russian Avant-Gardism of the 20th Century“ im Moskauer Kunstzentrum; beide knüpften unmittelbar an die Personalausstellungen zum Schaffen von Matjuschin 1990 und zum Werk von Guro 1994 im Staatlichen Museum für Geschichte der Stadt St. Petersburg an, fassten den Begriff der Organischen Schule jedoch weiter, indem sie nicht nur den Kreis um Matjuschin und Guro berücksichtigten, sondern auch Pawel Mansurow, Pjotr Mituritsch, Pawel Kondratjew und Wladimir Sterligow mit einschlossen.221 An der Wende vom zwanzigsten zum einundzwanzigsten Jahrhundert hat dann eine neue Generation von Wissenschaftlern begonnen, sich mit unterschiedlichen Aspekten im künstlerischen Werk von Matjuschin und seinem Kreis zu beschäftigen.222 Im Mittelpunkt meiner Dissertation stand Matjuschins Kunstkonzept der organischen Kultur;223 Margareta Tillberg hat sich in ihrer Dissertation mit Matjuschins Farbtheorie im Kontext der politisch-ideologischen Debatten in der Sowjetunion
Avantgarde. Die Sammlung Costakis aus dem Staatlichen Museum für zeitgenösische Kunst Thessaloniki, Ausst.-Kat., Köln 2004. 220 Khardzhiev 2002. 221 Alla Povelikhina (Hg.), Organica: The Non-Objective World of Nature in the Russian AvantGarde of the 20th Century, Ausst.-Kat., Köln 1999; diess., Organika: Bespredmetnyj mir prirody v russkom avangarde XX veka, Moskau 2000; Alla Povelikhina, Marina Loshak und Nadya Bukreeva (Hg.), Organika. Novaja mera vosprijatija prirody chudožnikami russkogo avangarda 20 veka / Organica: New Perception of Nature in the Russian Avant-Gardism of the 20th Century, Ausst.-Kat., Moskau 2001. 222 In den 1990er Jahren entstanden eine Reihe von Diplom- und Magisterarbeiten zum Werk von Matjuschin und zu seinem Kreis, vgl. Jennifer Cahn, Michail Matyushin: Artistic Simultaneity in the Natural World, MA Thesis, University of Southern California, Los Angeles 1991; Isabel Wünsche, Erweitertes Sehen und Organische Kultur: M. V. Matjušins Handbuch der Farbe, Diplomarbeit, Humboldt-Universität zu Berlin 1992; Kyllikki Zacharias, Un Figlio Dell’Avanguardia Pietroburghese: Boris Ender (1893–1960), Magisterarbeit, Universita Degli Studi di Roma „La Sapienza“ 1992–93; Christopher Dempsey, Matiushin’s Victory over the Sun, MA Thesis, University of Michigan 2001. 223 Isabel Wünsche, Das Kunstkonzept der Organischen Kultur in der Kunst der Russischen Avantgarde, Dissertation, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Ketsch: Mikroform Dissertations, 1997.
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beschäftigt.224 Mit der Ausstellung „Professor Mikhail Matiushin and his Students 1922–1926“ würdigte Nikita Nesmelow im Oktober 2007 Matjuschins engagierte Lehrtätigkeit an der Petrograder Kunstakademie und seinen nachhaltigen Einfluss auf die folgende Künstlergeneration.225 Matjuschins Schriften und Dokumente zu seinem künstlerischen Schaffen werden in St. Petersburg im Staatlichen Museum für Geschichte der Stadt St. Petersburg, im Staatlichen Russischen Museum, in der Handschriftenabteilung des Staatlichen Institutes für russische Literatur im Puschkin-Haus und im ehemaligen Leningrader Staatlichen Archiv für Literatur und Kunst sowie in Moskau in der Staatlichen TretjakowGalerie, im Staatlichen Majakowski-Museums und im Russischen Staatlichen Archiv für Literatur und Kunst sowie in verschiedenen Privatsammlungen aufbewahrt.226 Matjuschins Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen befinden sich heute im Staatlichen Museum für Geschichte der Stadt St. Petersburg und im Staatlichen Russischen Museum in St. Petersburg, in der Staatlichen Tretjakow-Galerie und im Staatlichen Majakowski-Museum in Moskau, in der Sammlung von George Costakis in Moskau und Thessaloniki, in der Khardzhiev-Chaga Collection im StedelijkMuseum in Amsterdam und in der Sammlung Ludwig im Museum Ludwig in Köln sowie in anderen öffentlichen und privaten Einrichtungen. Die Bestands- und Ausstellungskataloge dieser Sammlungen bilden eine wichtige Grundlage für die Beschäftigung mit Matjuschins künstlerischem Werk.227 Auch in den Ausstellungskatalogen der Galerie Gmurzynska vormals in Köln, jetzt in Zürich, in deren Besitz sich in den frühen 1980er Jahren verschiedene Arbeiten von Matjuschin und seinem Kreis befanden, sind dessen Werke vertreten.228 Mit der Rekonstruktion des Holzhauses auf der Pesotschnaja uliza 10 in St. Petersburg und der Eröffnung des Matjuschin-Hauses als Museum der Petersburger Avantgarde 2005 hat die Beschäftigung mit der Organischen Schule der russischen Avantgarde eine neue Heimstatt gefunden (Abb. 2).229 Die Dauerausstellung des Museums, eine Filiale des Staatlichen Museums der Geschichte der Stadt St. Petersburg, zeigt wichtige Werke des Matjuschin-Kreises in ihrer ursprünglichen Umgebung. 224 Margareta Tillberg, Coloured Universe and the Russian Avant-Garde: Matiushin on Colour Vision in Stalin’s Russia 1932, Ph.D. Dissertation, Universität Stockholm, 2003. Russisch als: Margareta Til’berg, Cvetnaja vselennaja. Michail Matjušin ob iskusstve i zrenii, Moskau 2008. 225 Nikita Nesmelov, Professor Michail Matjušin i ego učeniki 1922–1926 godov / Professor Mikhail Matiushin and his Students 1922–1926, Ausst.-Kat., St. Petersburg 2007. 226 Für eine Zusammenfassung des Quellenmaterials vgl. B. N. Kapeljuš, Archivy M. V. Matjušina i E. G. Guro, in: Ežegodnik otdela rukopisi Puškinskogo doma na 1974 god, Leningrad 1976, S. 3–23. 227 Angelica Zander Rudenstine (Hg.), Russische Avantgarde Kunst. Die Sammlung George Costakis, Köln 1982; Evelyn Weiss (Hg.), Russische Avantgarde 1910–1930. Sammlung Ludwig, Köln, München 1986; diess., Russische Avantgarde im 20. Jahrhundert. Von Malewitsch bis Kabakov. Die Sammlung Ludwig, Köln, München 1993. 228 Vgl. Köln 1977; Köln 1979, S. 153–158; 89–98. 229 Ju. V. Mezerin (Hg.), Michail Matjušin. 1861–1934, Ausst.-Kat., St. Petersburg 2005; House on Pesochnaya, Ausst.-Kat., St. Petersburg 2007.
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2 Das rekonstruierte Matjuschin-Haus in St. Petersburg, Filiale des Staatlichen Museums für Geschichte der Stadt St. Petersburg
1. Michail Matjuschins künstlerischer Werdegang Michail Wassiljewitsch Matjuschin (Abb. 1) wurde 1861 in Nishni Nowgorod geboren. Er begann frühzeitig zu zeichnen und Gitarre, Harmonika und Geige zu spielen. Nach dem Besuch der vierklassigen städtischen Schule wurde er in die Nishni Nowgoroder Filiale der Russischen Musikgesellschaft aufgenommen, wo er eine grundlegende allgemeine und musikalische Ausbildung erhielt. 1874 zog er gemeinsam mit seiner Mutter nach Moskau und begann 1876 am Moskauer Konservatorium Violine zu studieren. Zugleich widmete er sich der Beschäftigung mit der bildenden Kunst. Er besuchte die Museen der Stadt und zeigte sich besonders beeindruckt von der Malerei von Alexander Iwanow und Ilja Repin. Nach Abschluss des Konservatoriums und bestandener Aufnahmeprüfung für das St. Petersburger Hoforchester zog er in die damalige russische Hauptstadt, wo er von 1882 bis 1913 als erster Geiger am Hoforchester tätig war. In den 1890er Jahren befasste sich Matjuschin intensiv mit der Malerei, er zeichnete nach der Natur und studierte Malerei an der Schule der Gesellschaft zur Förderung der Künste in St. Petersburg.230 230 M. V. Matjušin, Tvorčeskij put’ chudožnika, 1932–34, Nachlass von Nikolai Kostrow, S. 43, 53, 59. (Wenn nicht anders angegeben stammen im Folgenden alle Seitenangaben aus diesem Exemplar).
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Das Studio von Jan Ciągliński Matjuschin, der fast eine Generation älter als die meisten seiner in den 1880er Jahren geborenen späteren Künstlerkollegen war, begann seine künstlerische Entwicklung in der Tradition des französischen Impressionismus. Impressionistische Tendenzen waren relativ stark in der russischen Malerei im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts vertreten, sie entsprachen dem allgemeinen Geschmack und bestimmten die akademische Lehre in Russland. Bei der Rezeption des französischen Impressionismus konzentrierten sich russische Künstler vor allem auf die tatsächliche Beobachtung der Natur und die Vermittlung einer Idee oder eines Gefühls. Die Verbindung eines Natureindrucks mit einer Stimmung oder einem Gefühl gründete auf der Überzeugung, dass die Natur bestimmte Gefühle wecken könne. Diese geistige Dimension der Sinneswahrnehmung war typisch für die russische Kunst und stand in vielfacher Hinsicht romantischem Gedankengut und der nordischen Stamning Malerei näher als den formalen künstlerischen Konzepten der Franzosen.231 Unter dem Eindruck der zeitgenössischen Kunstentwicklung in Frankreich hatten Maler wie Ilja Repin und Wassili Polenow, die in den 1870er Jahren in Paris gelebt und gearbeitet hatten, stilistische Merkmale des französischen Impressionismus in ihre realistische Kunstkonzeption und Malweise aufgenommen und sich einer spezifisch visuellen Beobachtung der Natur zugewandt. Ihre Schüler Walentin Serow, Konstantin Korowin und Isaak Lewitan führten die impressionistische Behandlung von Licht, Farbe und Atmosphäre in die russische Malerei ein. Sie verbanden die malerische Technik des Impressionismus mit subjektiv-sinnlichen Erfahrungen und atmosphärischen Effekten, wobei sie danach strebten, nicht nur persönliche Empfindungen, sondern auch eine geistige Wahrheit auszudrücken und ein neues Gleichgewicht von Bildsujet und künstlerischem Stil zu erlangen.232 Sie erneuerten die traditionelle Stimmungslandschaft durch die Aufnahme neuer visueller Erfahrungen und die Darstellung von sinnlichen und atmosphärischen Effekten. Die Konzentration auf die visuellen Effekte der Landschaft war mit einer Zunahme des subjektiv-assoziativen Gehaltes der Malerei verbunden. Der Versuch, die malerischen Qualitäten des französischen Impressionismus mit subjektiven Empfindungen und den nationalen Traditionen der russischen Malerei zu synthetisieren, d. h. die impressionistische Malweise auf die Darstellung von nationalen und sozialen Themen anzuwenden, führte in den späten 1890er Jahren zu einer Poetisierung der Natur in der Malerei von Ilja Repin, Nikolai Dosekin, Michail Nesterow und anderen.233 Um die Jahrhundertwende wurde der Impressionismus nicht länger als eine künstlerische Bewegung oder ein spezifischer Stil behandelt, sondern als eine Möglichkeit der künstlerischen Darstellung von visuellen Eindrücken und inneren Emp231 Alison Hilton, The Impressionist Vision in Russia and Eastern Europe, in: Norma Broude (Hg.), World Impressionism: The International Movement 1860–1920, New York 1990, S. 387. 232 Ebenda, S. 381–392. 233 Ebenda, S. 399.
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findungen betrachtet; er war zum Markenzeichen der modernen Kunst geworden. Der Impressionismus umfasste zwei wesentliche Merkmale, die grundlegend für die Entwicklung der modernen Kunst in Russland waren: einerseits verkörperte er eine neue Art der Wahrnehmung der Welt und andererseits benutzte er die Farbe als künstlerisches Ausdrucksmittel, um Eindrücke und Stimmungen wiederzugeben. Die Verbindung von objektiv-analytischen und subjektiven Qualitäten in der russischen Interpretation des Impressionismus erklärt, warum dieser künstlerische Stil, der ursprünglich die Bewegung der russischen Wanderer charakterisiert hatte, Bedeutung für die Entwicklung der modernen Kunst und für die künstlerischen Experimente der Avantgarde erlangen konnte. Der Impressionismus existierte in Russland als eine stilistische Tendenz, die sowohl die Realisten als auch die Symbolisten und Futuristen beeinflusste, wurde jedoch niemals zum ausschließlichen Merkmal irgendeiner Schule, sondern zum Ausgangspunkt für unterschiedliche Schulen und Bewegungen, realistische wie modernistische.234 Dawid Burljuk fasste diese Tendenz 1912 in seinem Beitrag für den Almanach des Blauen Reiters zusammen: „Der Realismus verändert sich in Impressionismus.... Der Realismus ist nur eine Spezies des Impressionismus. Der Impressionismus aber, d. h. das Leben durch das Prisma eines Erlebnisses, ist schon ein schöpferisches Leben des Lebens.“235 Maler wie Kulbin, Larionow, Malewitsch und Matjuschin nahmen ihren Ausgang vom Impressionismus, den sie als eine grundlegende Wende in der Kunstgeschichte betrachteten. Sie verbanden die veränderte Darstellung der Wirklichkeit in der impressionistischen Malerei mit der Idee von einem natürlichen Wandel der Wahrnehmung der Welt durch den Menschen und betrachteten die Farbe als ein geeignetes künstlerisches Mittel, um das Wesen der Dinge, das sie jenseits der Erscheinungen der äußeren Welt suchten, zum Ausdruck zu bringen. Der Impressionismus, den sie als Ausdruck der reinen, unvoreingenommenen Beobachtung der Natur durch farbige Äquivalente begriffen, stellte für sie eine künstlerische Möglichkeit dar, die Geheimnisse des Universums zu enthüllen. Im Gegensatz zu den französischen Impressionisten konzentrierten sich die russischen Anhänger des Impressionismus deshalb nicht nur auf die momentane Erscheinung eines bestimmten Ortes in der Natur, sondern verstanden den Impressionismus als eine grundlegende Technik in ihrem Streben nach Naturwahrheit. Darüber hinaus verband die Avantgarde mit dem Begriff des Impressionismus nicht nur eine stilistische Tendenz, sondern zugleich auch die Idee von einem „neuen Sehen“, das die visuellen Experimente der Neo-Primitivisten und Kubo-Futuristen ankündigte. Matjuschin kann als „Franzose“ unter den Kubo-Futuristen charakterisiert werden, da er sich immer an Paris orientierte, einen französischen Habitus und Lebensstil pflegte und in seinem malerischen Schaffen von der modernen französischen 234 Jensen 1977, S. 188. Er bewertet expressionistische Tendenzen als eine Intensivierung des Impressionismus. 235 D. Burljuk, Die Wilden Rußlands, in: Wassily Kandinsky, Franz Marc (Hg.), Der Blaue Reiter, München 1912, S. 13.
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Malerei ausging. Seinem lebhaften Interesse an der französischen Kunst und Kultur entsprang vermutlich auch die 1885 geschlossene Ehe mit einer in St. Petersburg lebenden Französin, aus der vier Kinder hervorgingen.236 Matjuschin sprach fließend Französisch, gehörte dem französischen Klub in St. Petersburg an und reiste 1900 als Dolmetscher mit dem Bruder seiner Frau nach Paris. Diese Reise bot ihm die Möglichkeit, die Weltausstellung zu besuchen und sich vor Ort mit den neusten Entwicklungen in der modernen Malerei vertraut zu machen. Er studierte die Werke von Jacques-Louis David und der französischen Impressionisten Edouard Manet, Claude Monet und Edgar Degas und begeisterte sich insbesondere für die „Abfolge farbiger Schnüre“ und die „extreme Expressivität von Licht und Bewegung“ in den Alpen-Panoramabildern von Giovanni Segantini.237 Wesentliche Impulse für seine künstlerische Entwicklung erhielt Matjuschin von dem polnischen Maler Jan Ciągliński (Jan Franzewitsch Zionglinski, 1858–1912), der ein charismatischer Lehrer und „ein enthusiastischer Anhänger des Impressionismus in Russland“ war.238 In Ciągliński fand Matjuschin einen aktiven Verfechter des französischen Impressionismus, der einen beobachtenden Zugang zur Natur vertrat und sein künstlerisches Schaffen auf die unmittelbare Wahrnehmung der Natur und die wesenhafte Erkenntnis der Unendlichkeit der Welt ausrichtete.239 Ciągliński war Sohn eines Rechtsanwalts und wuchs in Warschau auf.240 Im Alter von fünfzehn Jahren begann er Unterricht bei dem Historien- und Landschaftsmaler Wojciech Gerson zu nehmen und ab 1877 besuchte er dessen Malklasse. Aus Rücksicht auf die Familie verband er seine künstlerischen Studien jedoch mit einem 236 Die Ehe, aus der die vier Kinder Anna (*1892), Lydija (*1894), Nikolai (*1895) und Marija (*1897) hervorgingen, war unglücklich. Matjuschin verließ die Familie gegen Ende der 1890er Jahre. Vgl. Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, S. 52; vgl. auch Dokumente im NBA ACh und CGIA, F. 7, Op. 3, Ed. 251a. 237 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, S. 52. Deutsch in: Klotz 1991, S. 95. 238 Evgenij Lansere, Dnevnik, 16. April 1894, in: O. I. Podobedova, Evgenij Evgen’evič Lansere, Moskau 1946, S. 15. W. F. Kruglow berichtet, dass Ciągliński „viel für die Popularisierung der Ideen des Impressionismus in Petersburg tat“, vgl. Russkij impressionism: Živopis’ iz sobranija russkogo muzeja, Ausst.-Kat., St. Petersburg 2000, S. 378. 239 Andrej Rubcov, Zavety Ciongliskogo, St. Petersburg 1913, These 7. 240 Biographische Angaben zu Ciągliński vgl. S. Jaremič, J. F. Cionglinskij, in: Posmertnaja Vystavka Proizvedenij J. F. Cionglinskago, Ausst.-Kat., St. Petersburg 1914, S. 7–9; Chudožestvennoe curriculum vitae Jana Franceviča Cionglinskago, in: ebenda, S. 10–12; Jozef Ciągliński, Jan Ciągliński. Zasady, zycie, puscizna, Warschau 1937; Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, hrsg. von Ulrich Thieme und Felix Becker, Leipzig 1912, Bd. 6, S. 557–558; Saur. Allgemeines Künstlerlexikon: Die bildenden Künstler aller Zeiten und Völker, hrsg. von Günter Meißner, München 1992—, Bd. 12, S. 126–127; Slownik Artystow Polskich i obcych w Polsce dzialajacych: malarze, rzezbiarze, graficy, Warschau 1971, Bd. 1, S. 347–348; Encyklopedia Sztuki Polskiej, Krakow 2002, S. 98; M. A. Gurenovič, Jan Cionglinskij – „plamennyj žrec Apollona“, in: Antikvarnoe Obozrenie 4, Dezember 2007, S. 26–28; diess., K tvorčeskoj biografii Jana Cionglinskogo. Po materialam Otdela risunka Russkogo muzeja i Nacional’nogo muzeja v Varšave, in: Stranicy istorii otečestvennogo iskusstva XV, St. Petersburg 2009, S. 74–91; diess., Cionglinskij, in: Tri Veka Sankt-Peterburga, Bd. 2, Devjatnadcatyi Vek, Buch 7, St. Petersburg 2009, S. 735–740.
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Medizinstudium an der Warschauer Universität. Nachdem er einigen Erfolg als Maler vorweisen konnte, wandte sich Ciągliński ganz der Kunst zu; 1878 zog er nach St. Petersburg und studierte von 1879 bis 1885 Malerei an der dortigen Kunstakademie. Zusammen mit Walentin Serow und Michail Wrubel war er ein Schüler von Pawel Tschistjakow, einem einflussreichen Lehrer, der die Methode des integrativen Sehens lehrte und die Synthese von unmittelbarer Naturbeobachtung und dem wissenschaftlichen Studium der Natur propagierte.241 1894 ging Ciągliński nach Paris und studierte kurzzeitig im Studio von JeanJoseph Benjamin-Constant, einem Künstler, mit dem ihn ein lebendiges Interesse am Dekorativen und Exotischen verband.242 Sein Aufenthalt in der französischen Hauptstadt erlaubte es ihm, sein Wissen über den Impressionismus zu vertiefen und seine eigene malerische Technik zu vervollkommnen. Er zeigte seine Bilder in den Ausstellungen der Welt der Kunst (1899–1903, 1911, 1912) und dem Bund Russischer Künstler (1903–1910) sowie auf den internationalen Ausstellungen in München (1890, 1895, 1897, 1898) und Berlin (1891) und auf den Weltausstellungen in Chicago (1893), Paris (1900) und Rom (1911).243 Zu Lebzeiten hatte er zwei Einzelausstellungen, eine in der Gesellschaft zur Förderung der bildenden Künste 1903 in Warschau, die andere 1909 im Kunstmuseum der Stadt Riga. Ciągliński war darüber hinaus auch Organisator der wenig bekannten unabhängigen Ausstellungen, die zwischen 1894 und 1899 alljährlich auf dem Newski Prospekt in St. Petersburg stattfanden.244 1885 eröffnete Ciągliński sein eigenes privates Studio auf dem Litejni Prospekt (Abb. 3), ab 1888 unterrichtete er eine Klasse für Zeichnen an der Gesellschaft zur Förderung der Künste in St. Petersburg und 1902 übernahm er die Naturklasse der Höheren Kunstschule der Kunstakademie. 1906 wurde er in die Akademie aufgenommen und 1911 zum ordentlichen Mitglied der Akademie gewählt.245 Als Lehrer an der Schule der Gesellschaft zur Förderung der Künste sowie in seinem eigenen privaten Studio und Salon auf dem Litejni Prospekt übte er im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts großen Einfluss auf die künstlerische Entwicklung der zukünftigen Avantgarde aus. Ciągliński reiste leidenschaftlich gern, er lebte, wie er es selbst beschrieb, um „zu schaffen, unterwegs zu sein, zu reisen“.246 Er interessierte sich insbesondere für den Süden und den Fernen Osten und zog die Inspiration und Motive für seine Bilder aus seinen ausgedehnten Reisen. Er reiste nicht nur häufig auf die Krim, nach Ita241 N. M. Moleva, E. M. Beljutin, P. P. Čistjakov. Teoretik i pedagog, Moskau 1953, S. 41–93. 242 Vgl. Orientalizm w malarstwie, rysunku i grafice w Polsce w XIX i w I. połowie XX wieku, Ausst.Kat., Warschau 2008. 243 Gurenovič 2009a, S. 78–79. 244 Ebenda. 245 Die Akademie zeichnete ihn 1880 mit zwei kleinen Silbermedallien, 1881 mit zwei großen Silbermedaillen und 1884 mit einer kleinen Goldmedaille aus und ernannte ihn 1885 zum Künstler ersten Klassenranges. Vgl. Saur 1992, Bd. 12, S. 126–127. 246 Rubcov 1913, These 184.
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3 Karl Karlovich Bułła, Jan Ciągliński mit Studenten in seinem Studio in St. Petersburg, ca. 1910
lien und Spanien, sondern auch in den Kaukasus (1891, 1892), die Türkei (1893), nach Marokko (1898), Palästina (1901), Ägypten (1903), Griechenland (1905), Indien (1907), durch die Sahara (1909), nach Tunis (1911) und Turkestan (1912) – wobei er immer mit einer umfangreichen Sammlung an Landschaftsskizzen und kleinformatigen Ölgemälden zurückkehrte, die seine unmittelbaren atmosphärischen Eindrücke und sein Interesse und Verständnis für Farbe und Farbbeziehungen reflektierten.247 Zu diesen Werken gehört auch das Ölbild „Der Berg Tabor“, das 1901 während seiner Palästinareise entstand (Tafel 2a). Arkadi Rylow berichtet, dass Ciągliński nach der Rückkehr von seinen Reisen gewöhnlich seine Freunde in sein Studio einlud, um ihnen seine Studien zu zeigen. Diese impressionistischen Skizzen, zusammen mit den Ausführungen des energiegeladenen Künstlers, machten gewöhnlich einen tiefen Eindruck auf sie.248
247 Jaremič 1914, S. 9; Chudožestvennoe curriculum vitae 1914, S. 11. Viele dieser Landschaftsskizzen wurden später vom Künstler in verschiedenen Serien und Alben zusammengestellt. 7 Landschaftsskizzen befinden sich in der Tretjakow-Galerie in Moskau, 14 in der Sammlung des Staatlichen Russischen Museums in St. Petersburg und 199 im polnischen Nationalmuseum in Krakau. 248 Arkadij Rylov, Vospominanija, Leningrad 1960, S. 136.
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Ciąglińskis zweite Passion war die Musik. Er spielte Klavier, besuchte regelmäßig Konzerte und Theateraufführungen und war mit zahlreichen Musikern und Sängern befreundet, von denen er viele auch porträtierte. Dazu gehörten die Komponisten Peter Tschaikowski und Sergei Rachmaninow, die Pianisten E. Hofman und L. Godowskoi sowie die Sänger A. Bolschaja, A. Dore, I. Jerschow und T. Parwis.249 In seinem Studio auf dem Litejni Prospekt erklang die Musik von Frédéric Chopin, Robert Schumann und Frédéric Liszt; Ciągliński spielte selbst oft Klavier während des Unterichts, da er glaubte, dass die Musik seine Schüler inspirieren würde.250 Obwohl Ciągliński ein fleißiger Maler von Landschaften en pleinair und psychologischen Porträts war, überstieg sein Ruf als herausragender Lehrer sein Ansehen als Maler bei weitem. Alexander Benois erinnerte sich: „Ciągliński redete viel und schön über die Kunst, er hatte ein richtiges und treffsicheres Urteil, war Feuer und Flamme für die Kunst“;251 er fand im Hinblick auf sein künstlerisches Werk jedoch nur einige seiner Skizzen in Bezug auf die Frische der Farben und die Sättigung des Lichts bemerkenswert.252 Mit seiner charismatischen Persönlichkeit und seinen begeisterten Reden über die Kunst zog Ciągliński viele Schüler an, zu ihnen gehörten Iwan Bilibin und Jewgeni Lansere von der Welt der Kunst sowie Juri Annenkow, Lew Bruni, Jelena Guro, Pawel Filonow, Michail Matjuschin und Woldemar Matwej von der zukünftigen Avantgarde. Matwej hob hervor, dass Ciągliński mit seinem überschwänglichen Temperament echtes Leben in den Unterricht brachte und alle Studenten in seinem stets übervollen Studio sein Wissen und seine Erklärungen nutzen konnten, denn er sprach laut, bildhaft und ungezwungen: „Er erklärte und analysierte jeden Pinselstrich, jede Farbverbindung und jede Lichtnuance; der Körper war für ihn ‚das Farbbouquet‘“.253 Ciąglińskis Lehrmethoden waren völlig entgegengesetzt zu denen an der Kunstakademie: „Jan F. brach mit der akademischen Tradition indem er Teile des Modells mit Kleidung und farbigen Tüchern bedeckte, es in Netze oder transparente Stoffen hüllte oder das Modell mit Hilfe von Schirmen, Stellwänden oder Tafeln in einen Halbschatten stellte, ... so dass einige Körperteile ins helle Licht traten, womit er einen starken Kontrast zwischen Licht und Schatten erzielte.“254 Auch Filonow schätze die Aufgeschlossenheit und Unterstützung seines Lehrers: „Nur an Zionglinski kann ich mich mit Hochachtung und Liebe erinnern: Er störte mich nicht bei der Arbeit, mehr noch, er unterstützte sie laut und begeistert.“255 Matjuschin be249 Vgl. Gurenovič 2009a, S. 78. 250 G. K. Kryžitskij zit. in: Gurenovič 2007, S. 28. Vgl. auch Voldemar Matvej, V Masterskoj J. F. Cionglinskogo. Iz Vospominanij Učenika, in: Solnce Rossii, 1913, Nr. 2, S. 1–3, auch in: Matvej 2005, S. 14–15. 251 A. N. Benua, Moi vospominanija v 5 knigah, Moskau 1980, Bd. 4, S. 103. Deutsch in: Klotz 1991, S. 95. 252 A. N. Benua, Istorija russkoj živopisi v XIX veke, 3. Aufl., Moskau 1999, S. 380. Vgl. Gurenovič 2009a, S. 76. 253 Matvej 2005, S. 15. 254 Ebenda. 255 P. Filonov, Dnevnik, 30. Mai 1936, zit. in: Harten/Petrowa 1990, S. 98.
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stätigte, dass Ciąglińskis Studio ein Ort war, „von dem neue Grundsätze über Form und Farbe in der Malerei ausgingen“.256 Ciąglińskis Grundsätze über die Kunst und das Leben, die er in Form von Aphorismen verkündete, wurden von seinen Schülern niedergeschrieben und 1913 von Andrei Rubzow unter dem Titel „Ciąglińskis Vermächtnis“ veröffentlicht.257 Sie geben einen guten Einblick in Ciąglińskis ästhetische Ansichten und seine pädagogischen Prinzipien. Ciągliński vertrat eine ganzheitliche Weltanschauung und sprach von einem generellen Zusammenhang aller Formen in der Natur. Er betrachtete das Licht als eine alles durchdringende Kraft sowie als Grundbedingung des Lebens und machte dieses zur Grundlage seiner Malerei.258 Zugleich verstand er die künstlerische Tätigkeit als einen unerschöpflichen Schaffensprozess, in dem der Mensch versucht, sich Naturwahrheit und Schönheit anzunähern. Der Sinn der Kunst lag für ihn deshalb nicht darin, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sondern im Akt des schöpferischen Tuns selbst: „Künstler ist nur derjenige, der schafft um zu schaffen, darin Genuss findet. Aber derjenige, der für irgendetwas schafft – der ist ein Karrierist.“259 Den Künstler betrachtete Ciągliński als einen besonders sensiblen Menschen, dem die Fähigkeit gegeben ist, die Welt mit besonderer Klarheit zu sehen und die Geheimnisse der Natur aufzuspüren: „Die Natur souffliert nur dem Künstler, einem anderen sagt sie nichts.“260 Aufgabe des Künstlers war es daher, die Dinge nicht so zu sehen, wie sie erscheinen, sondern so wie sie sind und das Unerfassbare, das Innere, das Psychische des Gegenstandes in einer wahrnehmbaren Form auszudrücken.261 Malerei bedeutete für Ciągliński die Erscheinungen der Natur in die Sprache der Farben zu übersetzen;262 er betonte, dass man, wie in der Musik, den Eindruck „nur durch das wechselseitige Verhältnis der Töne und ihres Spiels“ erreichen kann263 und rief seine Schüler dazu auf, die Sprache der Kontraste der malerischen Werte und insbesondere die Kraft der Valeurs, den Charakter der Farbtöne und die Schattierungen zu nutzen.264 Als leidenschaftlicher Impressionist betrachtete Ciągliński die Farben, Farbtöne und Farbkombinationen als das Hauptelement der Malerei. Er entwickelte einen malerischen Stil, der weniger von der minutiösen Durcharbeitung der Details als vielmehr von impressionistischer Unmittelbarkeit, der Konzentration auf die Sprache der Farbtöne und die malerischen Technik sowie einer gewissen Gleich256 M. V. Matjušin, Russkie kubo-futuristy. Vospominanija, 1932–34, in: Nikolaj Chardžiev (Hg.), K istorii russkogo avangarda (The Russian Avant-Garde), Stockholm 1976, S. 135. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S. 109. 257 Rubcov 1913. Michail Matjuschin schreibt in seinen Erinnerungen, dass Rubzow der Adoptivsohn von Ciągliński war, das konnte jedoch nicht bestätigt werden. 258 Ebenda, Thesen 1 und 2. 259 Ebenda, These 26. 260 Ebenda, These 19. 261 Ebenda, These 116. 262 Ebenda, These 50. 263 Ebenda, These 60. 264 Ebenda, These 44.
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gültigkeit gegenüber Linien und Formen bestimmt wurde.265 In der bewussten Verwendung der natürlichen Eigenschaften der Farben glaubte er, ein wirksames Mittel für die plastisch-allumfassende Wiedergabe der Gegenstände gefunden zu haben. Bei seiner Suche nach neuen, künstlerischen Ausdrucksmitteln verwendete er häufig neue und ungewöhnliche Farbkombinationen.266 Darüber hinaus lag die Bedeutung der Kunst für Ciągliński nicht in der realistischen Abbildung des Wahrgenommenen, sondern in der Entwicklung und Verfeinerung des Sehens. Er forderte von seinen Schülern, sich „einen naiven Blick auf die Natur“ zu erhalten und das Auge nicht in einer „einzigen Technik“ zu entwickeln267 und lehrte sie, sowohl bewusst und unvoreingenommenen zu sehen als auch die herkömmliche Art des Sehens zu verbessern, um eine komplexe Wahrnehmung der Welt zu entwickeln. In der Tradition von Pawel Tschistjakow unterwies er seine Schüler in der Methode des integrativen Sehens, d. h. in der Darstellung des Gegenstandes nicht aufgrund seiner äußeren Form, sondern durch die Vergegenwärtigung der Funktionen und Prozesse, die im Inneren des Gegenstandes ablaufen,268 denn er war überzeugt, dass die einzelnen Dinge und Erscheinungen innerlich miteinander verbunden seien. Im Bestreben, die natürlichen und funktionalen Zusammenhänge zwischen den Teilen des Beobachteten zu erfassen, richtete Ciągliński das Augenmerk seiner Schüler insbesondere auf die Bewegung, darauf, dass alles in der Natur strömt, fließt, sich bewegt. Um den Fluss des Lebens und das Phänomen der Bewegung in der Malerei wiederzugeben, forderte er, dass das Auge zuerst „an irgendetwas Bestimmtem hängen und von dort aus zu analysieren beginnen“ muss.269 „Vor allem malt das Wesen der Bewegung, analysiert die Form, ...“ so dass die „äußere Kontur nirgends für sich selbst ist, sondern als Resultat eurer inneren Analyse dargestellt ist....“270 Auf der Grundlage von genauer Beobachtung, innerer Analyse und dem bewussten Einsatz von Licht und Farbe, lehrte Ciągliński seine Schüler, die wesentlichen Merkmale der Natur zu erfassen. Er forderte von ihnen, das zu schaffen, was sie sahen – ohne jede Voreingenommenheiten und Vorurteile – selbst wenn sie Verrücktes sahen.271 Bei Ciągliński lernte Matjuschin, nicht „einzelne Teile“ zu studieren, sondern das Auge ins Innere der Form zu richten, das „gegenseitige Verhältnis“ der inneren Formen zu suchen und wie die „Röntgenstrahlen“, „die Verbindung einer Form mit einer anderen, eines Muskels mit einem anderen einzufangen“, um jede
265 Zu Ciąglińskis Zuordnung zum russischen und polnischen Impressionismus vgl. St. Petersburg 2000; Zdzisław Kepiński, Impresjonizm polski, Warschau 1961; Barbara Kokoska, Impresjonizm polski, Ausst.-Kat., Krakau 2001. 266 N. Kravčenko zit in: Gurenovič 2007, S. 27. 267 Rubcov 1913, Thesen 70 und 74. 268 Ebenda, These 169. 269 Ebenda, These 158. 270 Ebenda, These 169. 271 Ebenda, These 108.
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einzelne Form aufs genaueste zu bestimmen und „die Wechselbeziehungen aller Teile eines Körpers untereinander“ darzustellen.272 Ciągliński war überzeugt, dass wahre Kunst nur der Synthese der intuitiven und rationalen Fähigkeiten des Menschen entspringen könne und betrachtete rein verstandesmäßiges wie rein instinktives Verhalten als einseitig und inadäquat für die Kunst. Vom Künstler forderte er, von seinem Instinkt auszugehen und diesen mit einer klaren rationalen Analyse, „die eine Eigenschaft des Verstandes ist“, zu verbinden:273 „Jeder kann sehen, nur der Künstler kann analysieren.“274 Die Intensivierung der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit durch die Verbindung des Sehens mit dem analytischen Denken und die intellektuelle Zusammenfassung der durch das Auge wahrgenommenen Seheindrücke galt Ciągliński als Weisheit des Künstlers und als künstlerische Methode, um sein grundlegendes Weltverständnis im Kunstwerk auszudrücken: „..., ich sage, man muss die Form möglichst streng analysieren, ihre allgemeinen Verbindungen und Wechselwirkungen suchen, sie für keine Sekunde aus der allgemeinen Aufmerksamkeit verlieren. Führt die Augen möglichst weit auseinander, um alles zusammen zu sehen; nur dann wird eure innere Analyse mit einer großen Synthese vollendet werden.“275
Dabei legte Ciągliński besonderen Wert auf das Verständnis von dem inneren Zusammenhang der Formen und ihres wechselseitigen Verhältnisses. Eine seiner Grundforderungen, die insbesondere für Filonow von entscheidender Bedeutung sein sollte, bestand darin, den inneren Gesetzen der Natur folgend vom Wesen des Gegenstandes zu seiner Erscheinung zu gelangen, immer von einer detaillierten Analyse der inneren Struktur des Gegenstandes auszugehen und dann zur Synthese in der Darstellung voranzuschreiten. Er ermahnte seine Schüler: „Richtet das Auge ins Innere der Form. Beginnt niemals mit der Kontur. Die Kontur ist die Synthese des Ganzen, die ihr eben mit Hilfe der Analyse begonnen habt. Vor allem malt das Wesen der Bewegung, analysiert die Form, und wenn ihr schon die Spuren eures inneren Suchens auf dem Papier habt, dann vollendet sie bereits mit der Kontur, umreißt von allen Seiten, wie man die Form genauer und stärker verdichten kann, damit die äußere Kontur nirgends für sich allein steht, sondern als Resultat eurer inneren Analyse dargestellt ist.“276
Ciąglińskis Überzeugung, dass integratives Sehen die Grundlage der Malerei sein müsse, fand seinen Niederschlag in Filonows Formula vom „sehenden Auge“ und vom „wissenden Auge“ ebenso wie in Matjuschins Methode des Erweiterten Sehens 272 Ebenda, Thesen 134 und 169. 273 Ebenda, These 190. 274 Ebenda, These 25. 275 Ebenda, These 169. 276 Ebenda.
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und seiner SORWED-Theorie. Unter dem Einfluss von Ciągliński gelangten seine Schüler zu der Überzeugung, dass die „Wahrheit“ in der Kunst in der Naturbeobachtung und in der Weiterentwicklung des menschlichen Sehens läge. Im Studio von Ciągliński studierte Matjuschin insbesondere den Zusammenhang von Licht und Farbe; er untersuchte „das Licht und alle jene Farbtöne, die die sichtbare Bewegung und das Leben des gesamten Körpers im Raum darstellen und umfassen“.277 Bei seiner intensiven Beschäftigung mit der Natur des Lichts und der Wirkung von warmen und kalten Tönen gelangte er zu der Überzeugung, dass das einfallende Licht sich auf der Erde in allem reflektiert, was wir sehen und sich vor allem im Warmen und Kalten niederschlägt, d. h. in den warmen Tönen der Sonne, die vom hellen Gelb bis zum gedämpften Rot reichen, und in den kalten Tönen der Schatten, die sich vom Kanariengrün bis zum Dunkelviolett erstrecken.278 In Ciąglińskis Studio entwickelte Matjuschin auch die Idee von der Farbgebung der Schatten durch eine Zusammenstellung kalter Farbtöne. Diese seine intensive Beschäftigung mit den malerischen Effekten von Licht und Farbe, insbesondere mit der Leuchtkraft von kühlen Farbtönen wie Grün und Blau wird in seinem Bild „Schneesturm“ von 1906 deutlich (Tafel 4a).279 Dieses kleinformatige Ölbild mit seinem sparsamen Farbauftrag zeichnet sich durch die intensive Farbigkeit und leuchtende Wirkung seiner Grün- und Blautöne aus, die sich in Ringen um das intensive Licht der Laterne legen. Matjuschin erinnerte sich später: „Bereits im Studio Ciąglińskis wurde ich darauf aufmerksam, dass die kalten blauen und grünen Farben unter Lichteinwirkung eine außergewöhnliche Leuchtkraft hervorriefen, weitaus größer als die der warmen Farben.“280 Unter dem Einfluss von Ciągliński gelangten Matjuschin und andere Schüler zu der Auffassung, dass die Lichterscheinungen der sichtbaren physikalischen Umwelt grundlegend studiert und geprüft werden müssen, damit sie für die Darstellung eines bestimmten Inhaltes genutzt werden können. Außerdem stellten sie fest, dass sich das farbige Milieu der Welt grundlegend von „dem grünen und schwefelgelben Farbgemisch“ ebenso wie von „den roten fleischfarben und lehmhaltig-toten Farben“ unterscheidet, mit dem die alten Meister ihre Leinwände gefüllt hatten. Sie suchten eine neue künstlerische „Wahrheit“ in der Verwendung von fliederfarbenen und violetten Tönen sowie im Smaragdgrünen und den verwandten hellen Veronesetönen und entwickelten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts einen „entfalteten Farbimpressionismus“.281 Bei ihrer intensiven Suche gelangten sie zu der Überzeugung, dass jene „Wahrheit“ für den Künstler die Natur und die Bewegung darstellen müsse. 277 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, S. 58. 278 Ebenda. 279 Michail Matjuschin, Schneesturm (V’iuga), 1906, Öl auf Leinwand; 27 x 19 cm; Staatliches Majakowsky-Museum Moskau, 11490. 280 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, S. 63. Vgl. auch Matjušin, Russkie kubo-futuristy 1932–34, in: Chardžiev 1976, S. 137. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S. 113. 281 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, S. 59.
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Obwohl Ciągliński ein hervorragender Lehrer war, der neue Grundsätze über Form und Farbe in der Malerei vermittelte, fühlten Schüler wie Guro, Matjuschin und Matwej um 1905, dass er „die neuen Tendenzen in der Kunst nicht“ verstand und „sich feindlich gegenüber jedem Versuch verhielt, einen anderen Weg als den des Impressionismus zu beschreiten“.282 Ciąglińskis Auffassung, dass das Wesen der Kunst darin besteht, die innere Struktur und die psychische Dimension des Gegenstandes durch die Synthese von Licht, Farbe und Beobachtung der Natur in einer wahrnehmbaren Form in der Malerei auszudrücken, wurde zum Ausgangspunkt für Matjuschins weitere künstlerische Entwicklung.283 Von Ciągliński übernahm er auch den visuellen Zugang zur Kunst, d. h. die Auffassung, dass die Welt durch intensive Beobachtung und Analyse wahrgenommen und erfahren werden könne. Doch während Ciągliński den Impressionismus als absolute malerische Methode lehrte, betrachtete Matjuschin diesen nicht als ausschließliche künstlerische Technik, sondern als generelle Grundeinstellung zur Natur und zur Welt. Er feierte den französischen Impressionismus als neue visuelle Kultur und Wahrnehmungsweise der Welt und kritisierte im Sinne von Ciągliński zugleich die Vernachlässigung von innerer Tiefe, d. h. die fehlende Wiedergabe der inneren Verbindungen zwischen den einzelnen Gegenständen und ihrer Umgebung: „Die Impressionisten weiteten das Auge. Sie umfuhren mit dem Auge einen breiten Raumausschnitt und registrierten mit Freude eine neue Farbigkeit. Aber sie schafften es nicht, das so zu öffnen, dass es gleichzeitig die ganze Erde umfasste. Sie sahen die glänzende Oberfläche, nicht aber den Körper selbst. Sie waren zu sehr auf eine bessere Methode aus, die Lichtvibrationen wiederzugeben, und konnten deshalb das Leben, die Kraft und Struktur eines jeden Körpers in seinem ganzen Volumen und in der Bewegung im Weltzusammenhang nicht sehen und spüren.... Das geweitete Auge erreichte keine Tiefenschärfe. Die Idee der Peripherie des allgemeinen Weltkörpers war hier nicht richtig verstanden worden.“284
Das Jahr 1905 wurde zu einem Wendepunkt in der künstlerischen Entwicklung von Matjuschin. „Vom ‚silbrigen‘ Impressionismus Ciąglińskis“ fand er, wie er es selbst beschrieb „allmählich, aber immer überzeugter, zu einem heller leuchtenden, offeneren Impressionismus“.285 1906 verließ er das Studio von Jan Ciągliński.
282 Matjušin, Russkie kubo-futuristy 1932–34, S. 62, in: Chardžiev 1976, S. 136. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S. 111–112. 283 Rubcov 1913, These 116. 284 M. V. Matjušin, „Opyt chudožnika novoj mery“. Stat’ja, 1926, RGALI, F. 134, Op. 2, Ed. 21, in: Chardžiev 1976, S. 172. Deutsch in: Klotz 1991, S. 87. 285 Matjušin, Russkie kubo-futuristy 1932–34, S. 62, in: Chardžiev 1976, S. 137. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S. 112.
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Nikolai Kulbin und sein Kreis der Impressionisten Nachdem Matjuschin das Studio von Ciągliński verlassen hatte, studierte er zwei Jahre bei Léon Bakst und Mstislaw Dobushinski an der privaten Kunstschule von Jelisaweta Swanzewa. Dort erhielt er jedoch keine starken Anregungen und Impulse mehr, sondern begann eigene künstlerische Wege zu gehen. Der Eklektiker Dobuschinski und der dekorative Symbolist Bakst konnten ihm wenig mit auf den Weg geben, aber „sie störten uns nicht in unserer künstlerischen Entwicklung“, wie er später resümierte.286 Wichtiger für Matjuschins künstlerische Entwicklung war jedoch die Begegnung mit Nikolai Iwanowitsch Kulbin (1868–1917), der mit seinem Kreis der Impressionisten und seiner Dreieck-Gruppe Ende des ersten Jahrzehnts des zwanzigsten Jahrhunderts den Mittelpunkt der neuen Kunst in St. Petersburg bildete. Kulbin, der in Helsingfors geboren worden war, besuchte das Gymnasium in St. Petersburg und studierte von 1887 bis 1893 Medizin an der St. Petersburger Militärakademie.287 Er engagierte sich in der Semstwo-Bewegung, der örtlichen Volksvertretung, die als Organ der Selbstverwaltung in Russland zwischen 1864 und 1917 Bereiche wie das Gesundheits-, Bildungs- und Verkehrswesen, die Wohlfahrtspflege und die Armenfürsorge, die Industrie, den Handel und die Landwirtschaft kontrollierte.288 Nach Abschluss seines Medizinstudiums begann er 1893 in der Klinik von Professor O. I. Pasternazki zu arbeiten. Zur selben Zeit nahm er auch seine Lehrtätigkeit an der Anwärterschule der St. Petersburger Militärakademie auf, er wurde Mitglied der Gesellschaft zum Schutz der Volksgesundheit und übernahm das Amt des Sekretärs der biologischen Fachabteilung für die Erste All-Russische Hygiene-Ausstellung. Mit der Veröffentlichung seiner Dissertation über das Wesen von Alkoholvergiftungen erhielt Kulbin 1895 den Doktortitel.289 Kulbin begann auf dem sich neu herausbildenden Gebiet der Psychometrie zu arbeiten, wobei er sich insbesondere mit der Erforschung der Sinneswahrnehmungen beschäftigte. Er interessierte sich für die Arten, Eigenschaften und Wechselwirkungen von Sinneswahrnehmungen, die Hauptprinzipien der quantitativen Analyse von Empfindungen und die Klassifikation von Reizerscheinungen und Sinneseindrücken und konzentrierte sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit auf neue Methoden zur Untersuchung, Analyse und Klassifikation von Sinneseindrücken.290 Zwischen 1896
286 Ebenda. 287 Zu seiner wissenschaftlichen Biographie von Nikolai Kulbin vgl. Curriculum Vitae, in: Kul’bin 1895, S. 175–177; Howard, 1992, S. 226. 288 Terence Emmons, Wayne S. Vucinich, The Zemstvo in Russia: An Experiment in Local SelfGovernment, Cambridge 1982. 289 N. I. Kul’bin, Alkogolizm. K voprosu o vlijanii chroničeskago otravlenija ėtilovym alkogolem i sivušnym maslom na životnych, St. Petersburg 1895. 290 N. I. Kul’bin, Čuvstvitel’nost’. Očerki po psichometrii i kliničeskomu primeneniju eja dannych, St. Petersburg 1907, S. 2–3.
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und 1907 veröffentlichte Kulbin eine Reihe von wissenschaftlichen Studien291 und sein zweites Buch „Das Empfindungsvermögen. Grundzüge der Psychometrie und der klinischen Anwendung ihrer Tatsachen“.292 In dieser Publikation legte er die Grundlagen, Forschungsfragen und Ziele seiner psychophysiologischen Studien im Kontext von zeitgenössischer Physiologie, experimenteller Psychologie, Naturphilosophie und Erkenntnistheorie dar. Er betrachtete die Erforschung der Sinneswahrnehmung als Grundlagenforschung, denn „die Erforschung von Sinneseindrücken muss als Grundlage für das Studium des Lebens und der Welt als Ganzes dienen“ und daher den Ausgangspunkt für alle Wissenschaften bilden und relevant für viele Fachbereiche sein.293 In seiner theoretischen Herangehensweise an die Untersuchung von Sinneswahrnehmungen folgte Kulbin dem Ansatz von Wilhelm Wundt, so wie ihn dieser in seinem „Grundriss der Psychologie“ dargelegt hatte.294 Er war überzeugt, dass eine Unterscheidung zwischen der metaphysischen und der empirischen Psychologie vorgenommen werden müsse und behauptete, dass spekulative Hypothesen und blindes Vertrauen keinen Platz im wissenschaftlichen Studium der Psychologie hätten.295 „Die Psychologie“, so schreibt er, „ist eine experimentelle und beobachtende Wissenschaft“; in seinen eigenen Studien vertrat er einen mathematischen Ansatz.296 Die Überzeugung, dass die Mathematik ein grundlegendes Hilfsmittel bei der Analyse von Empfindungsvermögen und Sinneswahrnehmungen sein müsse, teilte er mit Gustav Theodor Fechner, der 1860 das Gebiet der Psychophysik begründet hatte. Psychophysik als Teildisziplin der Psychologie beschäftigt sich mit dem wissenschaftlichen Studium der Beziehung zwischen physischen Stimuli und ihren subjektiven Korrelaten oder Empfindungen.297 Kulbin betrachtete das Sammeln und die Analyse von empirischen Messwerten als das unmittelbare Ziel der Psychophysik. Er bestand darauf, dass die Untersuchung des Empfindungsvermögens auf qualitativer und quantitativer Analyse der Sinneseindrücke beruhen müsse, da nur eine solche Herangehensweise eine detaillierte Klassifikation der Empfindungen ermöglichen würde.298 Kulbin war überzeugt, dass die Sinneseindrücke, die wir im Alltag erfahren, so komplex sind, dass sie in elementare Empfindungen aufgespalten werden müssen, die nicht weiter unterteilt werden können, ohne dass sie ihre Besonderheiten verlieren. Diese elementaren Empfindungen bildeten für ihn die Elemente des Empfindungsvermögens und die Grundlage für die Analyse der Sinneseindrücke.299 Er interessierte sich insbesondere für die Ermittlung, Untersuchung und Messung des Schwellenwertes, d. h. den Punkt an dem ein Stimulus bzw. eine Veränderung im 291 Kul’bin 1895, S. 175–177. 292 Kul’bin 1907. 293 Ebenda, S. 4. 294 Wilhelm Wundt, Grundriß der Psychologie, 4. Aufl., Leipzig 1901 zit. in: ebenda, S. 5. 295 Ebenda, S. 5–6. 296 Ebenda. 297 Gustav Theodor Fechner, Elemente der Psychophysik, 2 Bde., Leipzig 1860. 298 Kul’bin 1907, S. 6. 299 Ebenda, S. 6–7.
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Wert eines Stimulus festgestellt werden kann, so dass eine unterschwellige Empfindung zu einer bewusst wahrnehmbaren Empfindung wird. Er hielt die Untersuchung von solchen unterschwelligen Empfindungen für sehr bedeutsam, weil, wie er es formulierte, „eine unbewusste [unterschwellige] Empfindung, wenn sie von einer halb-bewussten Empfindung ergänzt wird, diese zu einer bewussten Empfindung werden lassen kann“.300 Diese Vorstellung von der Aufzeichnung, Analyse und Nutzung von unterschwelligen Empfindungen sollte auch Kulbins Zugang zur Kunst und zum künstlerischen Schaffen bestimmen. Kulbins wissenschaftliche Arbeit wurde grundlegend von seiner organisch-ganzheitlichen Weltanschauung beeinflusst. Er war Panpsychist, d. h. er betrachtete die Welt in der Gesamtheit ihrer organischen und anorganischen Formen als lebendig.301 Bewegung und Wachstum schrieb er dem Wirken einer den Dingen innewohnenden Lebenskraft zu, die er als eine Manifestation der Weltseele begriff. Er stellte einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Bewegungszustand unterschiedlicher Formen der Materie und ihrer inneren Struktur her, wobei er zwischen wachender und schlafender Materie unterschied. Wie die romantischen Naturphilosophen begründete er den bewegungslosen bzw. „schlafenden“ Zustand der Materie von Steinen mit dem einfachen und symmetrischen Aufbau der Kristallstruktur; die Erscheinungen der lebendigen Natur verband er hingegen mit komplizierten Formen. Daraus schlussfolgerte er: „... je komplizierter der strukturelle Aufbau eines Wesens, desto lebendiger ist es.“302 Symmetrie aber bedeutete für Kulbin Harmonie und absolute Symmetrie die Abwesenheit von Leben, während er das Leben selbst mit Dissonanz assoziierte. Harmonie und Dissonanz wurden ihm zum grundlegenden Gegensatzpaar und Wirkungsprinzip des Universums, das die gesamte Natur bestimmte und damit auch die Grundlage der Kunst bilden musste: „Harmonie und Dissonanz sind die Haupterscheinungen des Weltaufbaus. Sie sind universell und der gesamten Natur eigen. Auf ihnen gründet die Kunst.“303 Nach einer erfolgreichen Karriere als Arzt und Forscher wandte sich Kulbin in seinen Vierzigern der Kunst zu. Zwischen 1908 und 1910 organisierte er drei wichtige Ausstellungen moderner Kunst – „Neue Tendenzen in der Kunst“ (St. Petersburg, 1908), „Die Impressionisten“ (St. Petersburg 1909, Vilnus 1909–10) und „Dreieck“ (St. Petersburg, 1910).304 Diese Ausstellungen wurden zusammen mit den sie begleitenden Vorträgen, Diskussionen und Publikationen zu wichtigen Plattformen für die moderne Kunst in St. Petersburg. 1911 gründete er die ARS Gesellschaft und 1912 die Zuschauer-Gesellschaft, und zusammen mit Boris Pronin und Nikolai 300 Ebenda, S. 10. 301 Ebenda, S. 4. 302 N. I. Kul’bin, Svobodnoe iskusstvo, kak osnova žizni, in: ders. (Hg.), Studija impressionistov. Kniga 1-aja, St. Petersburg 1910, S. 3–4. 303 Ebenda, S. 3. 304 Zu seiner künstlerischen Biographie vgl. Biografičeskaja spravka, in: Boris Kalaušin (Hg.), Kulb’in. Kniga Vtoraja, Almanach „Apollon“, Band 1, Buch 2, St. Petersburg 1995, S. 233–235; Howard 1992, S. 8–40.
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Jewrejnow 1911 das Künstlerkabarett „Streunender Hund“, das zwischen 1911 und 1914 zu einem Zentrum der Aktivitäten der St. Petersburger Avantgarde wurde.305 Fernerhin war es Kulbin, der den Besuch des Komponisten Arnold Schönberg 1912 und den des italienischen Futuristen Filippo Marinetti 1914 in St. Petersburg arrangierte.306 Darüber hinaus zeigte Kulbin seine Werke in zahlreichen Ausstellungen, er hielt unzählige Vorträge zu einer Vielzahl von Themen und veröffentlichte Aufsätze zur modernen Kunst, illustrierte zahlreiche Bücher und Sammelbände und beteiligte sich an der Ausgestaltung des Terioki Theaters der Schauspielerkooperative und F. N. Falkowskis Theater Pique Dame.307 Als gebildetes und angesehenes Mitglied der St. Petersburger Intelligenzia,308 ermöglichte Kulbin zugleich den Austausch zwischen der älteren Generation der Symbolisten und der jungen, aufstrebenden Avantgarde. Symbolisten wie Léon Bakst und Alexander Benois und Avantgarde-Künstler wie Guro, Matjuschin und Matwej zeigten ihre Werke in den von ihm organisierten Ausstellungen und beteiligten sich an den öffentlichen Veranstaltungen (Abb. 4).309 Kulbin war darüber hinaus bestens über die symbolistischen Kreise und die Beschäftigung mit dem Okkultismus in den Salons von St. Petersburg informiert; er war ein guter Freund von Alexandra Unkowskaja, einer Musiklehrerin und Theosophin, die ihn mit den Schriften von Ouspensky vertraut machte, und arbeitete mit dem symbolistischen Theaterautor und Regisseur Nikolai Jewrejnow zusammen.310 Insgesamt war Kulbin eine interessante Übergangsfigur, einerseits im Alten verwurzelt und andererseits dem Neuen mit ganzer Kraft zugewandt, „vor allem ein dekadenter Künstler der neunziger Jahre, danach ein Dilettant im Impressionismus.... Aber ihm kommt zweifellos die Ehre zu, den ersten Auftritt von jungen Malern organisiert
305 A. E. Parnis, R. D. Timenčik, Programmy Brodjačej Sobaki, in: Pamjatniki Kul’tury. Novye Otkrytija, Ežegodnik, Leningrad 1983, S. 160–257. 306 Zu Schönbergs Besuch in St. Petersburg vgl. Iris Pfeiffer, Schönberg in St. Petersburg, in: Schönberg, Kandinsky, Blauer Reiter und die Russische Avantgarde, Ausst.-Kat., Wien 2000, S. 178– 180. Zu Marinettis Auftritt in St. Petersburg vgl. Matjušin, Russkie kubo-futuristy 1932–34, in: Chardžiev 1976, S. 154. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S. 132; Benedikt Livšic, Polutoraglazyj strelec, Leningrad 1989, S. S. 470–507. Deutsch als: Benedikt Liwschiz, Der anderthalbäugige Schütze, Bad Breisig 2004, S. 123–145. Vgl. auch Markov 1968, S. 147–163. 307 Vgl. Howard 1992, S. 226; Kalaušin 1995, S. 233–235; ders., Vystavki, in: ebenda, S. 239–240; Bibliografija, in: ebenda, S. 255–259. 308 Kulbin war nicht nur Militärarzt und Professor an der St. Petersburger Militärakademie, sondern wurde 1907 auch zum Staatsrat ernannt. 309 An der Ausstellung „Neue Tendenzen in der Kunst“ 1908 beteiligten sich sowohl Léon Bakst und Alexander Benois als auch Dawid und Wladimir Burljuk, Alexandra Exter, Kulbin, Aristach Lentulow, Anna Ostroumowa-Lebedewa, Jossif Schkolnik und Eduard Spandikow, vgl. Donald E. Gordon, Modern Art Exhibitions 1900–1916: Selected Catalogue Documentation, München 1974, Bd. 2, S. 270–271. Kamenski, Kulbin, Matjuschin, Schkolnik und Spandikow beteiligten sich 1909 an der Ausstellung „Impressionisten“, vgl. ebenda, S. 321–322. 310 Bowlt 1988, S. 173.
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4 Nikolai Kulbin mit den Teilnehmern der Dreieck-Ausstellung, St. Petersburg, 1910
und ihnen den Weg geebnet zu haben“.311 In den intellektuellen Zirkeln und künstlerischen Kreisen von St. Petersburg wurde Kulbin schnell als jemand bekannt, der die traditionelle Kunst schätzte, jedoch insbesondere alle neuen Tendenzen und Bewegungen in der Kunst enthusiastisch begrüßte und unterstützte. Seine Wohnung wurde zu einem beliebten Treffpunkt für junge Künstler, die eine Unterkunft, etwas zu essen oder moralische Unterstützung benötigten. Kulbin war auch auf das engste mit Wassily Kandinskys Ideen vertraut und vermittelte diese in Russland. Kandinsky, der sich 1896 in München niedergelassen hatte, nahm 1910 Kontakt mit Kulbin auf, in der Hoffnung, dass ein künstlerischer Austausch und gemeinsame Ausstellungen zwischen Kulbins Kreis und dem Blauen Reiter zustande kommen würden.312 Die beiden standen bis zum ersten Weltkrieg in engem Austausch; durch ihren Briefwechsel war Kandinsky bestens über die künstlerischen Entwicklungen in St. Petersburg informiert.313 Im Dezember 1911 hielt 311 Matjušin, Russkie kubo-futuristy 1932–34, in: Chardžiev 1976, S. 140. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S. 112. 312 Vgl. John E. Bowlt, Vasilii Kandinsky: The Russian Connection, in: John E. Bowlt, Rose-Carol Washton Long (Hg.), The Life of Vasilii Kandinsky in Russian Art: A Study of „On the Spiritual in Art“, 2. Aufl., Newtonville, Mass. 1984, S. 1–41. 313 Vgl. Pis’ma V. V. Kandinskogo k N. I. Kul’binu, 1910–1912, hrsg. von E. F. Kovtun, in: Pamiatniki kul’tury. Novye otkrytija, Ežegodnik 1980, Leningrad 1981, S. 399–416.
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Kulbin nicht nur seine eigenen beiden Vorträge „Neue Tendenzen in der Kunst“ and „Harmonie, Dissonanz und enge Kombinationen in Kunst und Leben“ auf dem Zweiten Gesamtrussischen Kongress der Künstler in St. Petersburg, sondern trug auch die russische Version von Kandinskys Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ vor und im Februar 1912 sprach er auf einer Diskussionsveranstaltung der Moskauer Künstlergruppe Karobube erneut über Kandinskys Ideen.314 Kulbins Aufsatz „Die Freie Musik“ erschien wiederum in dem von Kandinsky und Franz Marc 1912 veröffentlichten Almanach des Blauen Reiters.315 Kulbin und Kandinsky teilten ähnliche Weltanschauungen und Kunstauffassungen, beide glaubten an den Anbruch einer neuen Epoche des großen Geistigen, daran, dass ein noch nie dagewesenes Blühen der Kunst nahe bevorstehe.316 Sie teilten den subjektiv-intuitiven Zugang zur Kunst und das Interesse an der Theosophie und bedienten sich musikalischer Analogien für die Formulierung ihrer Ideen. Kulbin erklärte die Bauprinzipien der Natur zum Ausgangspunkt des künstlerischen Schaffens; er sprach von einer „großen Kunst, die in der Natur existiert, natürlicher Kunst“317 und propagierte eine „freie Kunst“, die sich nach den Gesetzen der Natur richtet. Eine solche Kunst sollte das Schaffen des Künstlers weder durch festgelegte Farben oder Töne noch durch kanonische Formen und Gesetze einschränken. Er entwickelte seine Kunst und Kunsttheorie auf der Grundlage seiner physiologischen und neurologischen Studien, d. h. er versuchte die von ihm im Labor durchgeführten Untersuchungen zu den Mechanismen und Effekten von unterschwelligen Empfindungen auf die Kunst anzuwenden. Im Gegensatz zu den romantischen Naturphilosophen betrachtete er nicht mehr das Auge oder Ohr, sondern die menschliche Psyche als Ort der Wechselwirkung zwischen der materiellen Welt des Gegenständlichen und der immateriellen Welt der Gefühle. Für Kulbin verursachte die physikalische Aktion der universellen Bewegung von Farbe oder Klang psychische Effekte in der Seele des Betrachters. Diese äußeren Erregungen gelangten auf vorgeschriebenen physiologischen Nervenbahnen direkt ins menschliche Gehirn, wo sie in bildliche oder akustische Eindrücke umgewandelt wurden. Seine Vorstellung, dass unterschwellige, äußere Reize, sobald sie einen bestimmten Schwellenwert überschreiten, Erregungen im menschlichen Gehirn hervorrufen, die dieses zu Sinneseindrücken verarbeitet, entsprach den Erklärungen der zeitgenössischen Psychologie, wie sie sowohl in Gustav Theodor Fechners Psychophysik, in
314 N. I. Kul’bin, Novyja tečenija v iskusstve, in: Trudy Vserossijskogo S’’ezda chudožnikov v Petrograde, dek. 1911 – janv. 1912, St. Petersburg 1911, Bd. 1, S. 40; ders., Garmonija, dissonans i tesnyja sočetanija v iskusstve i žizni, in: ebenda, S. 35–40; V. V. Kandinskij, O duchovnom v iskusstve, in: ebenda, S. 47–76. 315 N. I. Kul’bin, Svobodnaja muzyka. Primenenie novoj teorii chudožestvennogo tvorčestva k muzyke, St. Petersburg 1909, auch in Kul’bin 1910, S. 15–20. Deutsch als: Nikolai Kulbin, Die freie Musik, in: Kandinsky/Marc 1912, S. 69–73. 316 Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 3. Aufl., München 1912, S. 36–39. 317 Kul’bin 1910, S. 9–12.
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Johannes Müllers Lehre von den spezifischen Sinnesenergien als auch in Wilhelm Wundts Arbeiten zu finden waren.318 Kulbin betonte die subjektiven Grundlagen der Kunst und suchte deren Quellen in der Natur und in der Psyche des Künstlers. Er betrachtete die Kunst als eine Sprache von Symbolen, die das Verhältnis des Menschen zur Welt zum Ausdruck bringt und das Kunstwerk als einen Versuch, die menschliche Wahrnehmung der Natur und den Platz des Menschen in der Welt zu reflektieren. Er war überzeugt, dass die Kunst die subjektive Welterfahrung des Künstlers widerspiegelt und ohne Vorkonzeption, Stilisierung oder Überlegung spontan die inneren Erfahrungen des Künstlers ausdrückt: „Das eigene Ich weiß nichts außer dem, was in den eigenen Empfindungen ist, und indem es diese Empfindungen verarbeitet, schafft es seine eigene Welt.“319 Deshalb hielt er den beobachtenden Zugang zur Kunst für grundlegend; er rief zu wissenschaftlicher Analyse und zum Experiment im künstlerischen Schaffen auf: „Die einzige Methode für die Wahrheit ... ist das Experiment, Beobachtung und Verallgemeinerung und dies alles gründet auf den Eindrücken des Forschers.“320 Er forderte, Kunst, Literatur und Musik von den konventionellen Mustern des Akademismus zu befreien und durch das „intuitive Prinzip“ zu ersetzen und rief den Künstler dazu auf, die Natur zu studieren, um in die Ideen dieser großen Lehrmeisterin einzudringen, zur Intuition zu gelangen und die Fähigkeit zu erhalten, etwas noch nie Dagewesenes, jedoch Schönes zu schaffen.321 Mit der Betrachtung des künstlerischen Schaffens als Bewusstwerdungsprozess, d. h. als subjektive Reflexion der natürlichen Welt in der Seele des Künstlers, fasste Kulbin das Kunstwerk nicht mehr als Repräsentation der den Künstler umgebenden äußeren Welt, sondern als Seelenausdruck der inneren Wirklichkeit seines Schöpfers: „In der Malerei beschränke ich mich nicht auf Farbe und Form, sondern stelle auch die Seele, den Ton, die Bewegung und anderes dar; sofern das für die Widerspieglung des poetischen Erlebnisses notwendig ist. Die Welt des Künstlers ist die Wiedergabe seiner Gefühle, seines Willens und seines Bewusstseins.“322
Als Eingeweihter war der Künstler zugleich dazu berufen, sein neu erlangtes Bewusstseins von der Welt durch eine geeignete künstlerische Methode an den Be318 Fechner 1860; Johannes Müller, Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen. Eine physiologische Untersuchung, Coblenz 1826; ders., Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, 2 Bde., Coblenz 1833–40; Wilhelm Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, Leipzig 1874; ders., Grundriß der Psychologie, Leipzig 1896. Vgl. auch Monika Fick, Sinnenwelt und Weltseele. Der psychologische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende, Tübingen 1993, S. 33–48. Bei seinen Untersuchungen zur physischen Aktion von Farbe und Ton und deren Wirkung auf die Psyche des Betrachters stützte sich Kulbin auch auf Hermann von Helmholtz’ Theorie von den Äquivalenten. 319 Kul’bin 1910, S. 12. 320 Ebenda, S. 3–14. 321 Kul’bin 1911, Bd. 1, S. 39. 322 Kul’bin 1910–11, S. 19.
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trachter zu vermitteln, um auch diesen zur Erleuchtung zu führen. Durch die Materialisierung seiner subjektiv-emotionalen Welterfahrung im Kunstwerk löste der Künstler beim Betrachter bestimmte Empfindungen aus, und erst in der Verarbeitung der von ihm in der Seele des Betrachters ausgelösten Erregungen erlangt das Kunstwerk seine eigentliche Wirkung. Das Kunstwerk wurde zum Vermittler einer höheren psychologischen Wirklichkeit, die im Ergebnis des Zusammenwirkens von Künstler und Betrachter entstand: „Mein Weg in der Kunst ist die Machtergreifung des unbewussten Schaffens durch psychologisches Training und die Machtergreifung der schöpferischen Vorstellung des Betrachters durch eine erregende Technik. Der Künstler und der Betrachter schaffen das Bild gemeinsam.“323 Ziel der Kunst musste es deshalb sein, durch die freie Wahl der künstlerischen Mittel und des Sujets, die intensivste Erregung der menschlichen Seele zu bewirken: „Das Leben ist vom Spiel der vielfältigen Beziehungen zwischen Harmonie und Dissonanz und von ihrem Kampf bedingt.... In der Musik, in den plastischen Künsten, und in der Literatur, beruhigt Harmonie den Betrachter, Dissonanz aber erregt ihn.“324 Aufgrund der besonderen Wirkung, die Kulbin der Dissonanz im Prozess der Aneignung des Kunstwerks durch den Betrachter zuschrieb, schlug er die Verwendung von „engen Kombinationen“ vor, d. h. Kombinationen von im Spektrum eng beieinander liegenden Farben in der Malerei oder Kombinationen von benachbarten Tönen der Tonleiter in der Musik, da diese starke unterbewusste Erregungen in der menschlichen Seele verursachen: „Die engen Vereinigungen der Töne rufen bei den Menschen ganz ungewöhnliche Empfindungen hervor. Das Vibrieren der engvereinigten Töne wirkt grösstenteils anregend... Das Vibrieren der engen Vereinigungen, ihr Gang, ihr mannigfaltiges Spiel, geben eine viel leichtere Möglichkeit das Licht, die Farben und alles Lebende darzustellen, als die gewöhnliche Musik. Leichter ist es auch, lyrische Stimmung zu erzielen.“325
Mit seinen „engen Kombinationen“ bezog sich Kulbin direkt auf Hermann von Helmholtz’ Lehre von den Tonempfindungen, in der dieser Dissonanz als ein bedeutendes Mittel hervorgehoben hatte, um Ausdruck und Kontrast in der Kunst zu erzielen.326 Charlotte Douglas hat fernerhin auf Gemeinsamkeiten von Kulbins „engen Kombinationen“ und Odgen Roods „kleinen Intervallen“ verwiesen, die durchaus eine Beeinflussung Kulbins durch Roods Farbtheorie glaubhaft machen können.327
323 Ebenda. 324 Kul’bin 1910, S. 3–5. 325 Ebenda, S. 17. Deutsch in: Kulbin 1912, S. 70. 326 Hermann von Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als Physiologische Grundlage für die Theorie der Musik, Braunschweig 1863. Russisch als: Gel’mgol’c, O Fiziologičeskich Pričinach Muzykal’noj Garmonii, St. Petersburg 1896. 327 Odgen Rood, Modern Chromatics with Application to Art and Industry, London, New York 1879. Vgl. Charlotte Douglas, Colors without Objects: Russian Color Theories (1908–1932), in: The Structurist 13–14, 1973–74, S. 30–41.
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Mit seinem psychologisch-symbolistischen Zugang zur Kunst schuf Kulbin die Voraussetzungen für eine komplexe Kunst, in der sich Literatur, Musik und plastische Künste zu einer Einheit verbanden. Dabei führte er die Dichtung auf besondere Aktivität des menschlichen Bewusstseins, die Musik auf die des Gefühls und die Skulptur auf die des Willen zurück.328 Er machte die Physiologie des Sehens und des Hörens zur Grundlage seiner Farb-Musik-Theorie und schlussfolgerte, dass die Farben „von ihrem Einfluss der Töne auf den optischen Apparat des Auges und des Gehirns“ und umgekehrt, dass die Töne bezüglich der Aktion der Farben wahrgenommen werden können.329 In derselben Weise verknüpfte er die Dichtkunst mit Malerei und Musik, d. h. er verband Farben mit Konsonanten und Vokale mit musikalischen Tönen.330 Kulbins Vorstellung, dass die Kunst nicht die Erscheinungen der sichtbaren Welt reflektiert, sondern auf die inneren Zustände des Menschen reagiert, sein synthetisches Kunstverständnis und seine synästhetischen Bestrebungen ebenso wie die Verweise auf „Intuition“, „Gefühl, Wille und Bewusstsein“ beweisen seine Vertrautheit mit theosophischem Gedankengut und die Kenntnis von Ouspenskys Lehren. Er machte das Dreieck zum Wahrzeichen seiner Künstlervereinigung und seiner Ausstellungen. Dieses theosophische Symbol der menschlichen Seele verkörperte mit seinen drei Seiten Idee, Gefühl und Willen.331 Dabei war Kulbin im Gegensatz zu Ouspensky und Hinton weniger an den Raumvorstellungen der nicht-euklidischen Geometrie, sondern vielmehr an der psychologischen Dimension des Übernatürlichen interessiert. Kulbins eigene Malerei war eklektisch und zeigte neben symbolistisch-impressionistischen Zügen auch Einflüsse der russischen Ikonenmalerei, des Kubismus und von Paul Gauguin. Aufgrund seines betont intuitiven Zugangs zur Kunst schenkte Kulbin Kinderzeichnungen, so genannter primitiver Kunst und Experimenten mit automatischem und intuitivem Malen besondere Aufmerksamkeit und versuchte sich selbst im intuitiven Malen.332 Insgesamt vertrat Kulbin eine Auffassung, die die impressionistische Malerei mit einer symbolistischen Kunstauffassung und seinen psychophysiologischen Studien verband. Der von ihm proklamierte „Impressionismus“ hatte wenig mit der gleichnamigen französischen Bewegung zu tun, sondern stand in enger Beziehung zum Symbolismus; er war eine subjektive Interpretation des Impressionismus, die vor allem die psychologischen Grundlagen des künstlerischen Schaffensprozesses und der menschlichen Wahrnehmung betonte und auch
328 N. I. Kul’bin, [ohne Titel], in: A. Kručenych, V. Chlebnikov, Slovo kak takovoe, St. Petersburg 1913, [keine Seitenangabe] 329 Kul’bin 1910, S. 15–26. Vgl. auch Kulbin 1912, S. 70–72. 330 Kul’bin 1913. 331 K. L’dov, Chudožniki-revolutionery, 1910, in: Howard 1992, S. 22. 332 In der Ausstellung „Neue Tendenzen in der Kunst“ waren Gemälde eines blinden Malers ausgestellt; in der Dreieck-Ausstellung wurden fünf Bilder von dem Bauernmaler Pjotr Kowalenko und Kulbins intuitive Arbeiten „Blau auf Weiß” und „Weiß auf Grün” gezeigt.
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als „Intuitionismus“ bezeichnet werden kann. Seinen Zuhörern erläuterte er den Impressionismus wie folgt: „Wir sind Impressionisten, wir stellen unsere Impressionen auf der Leinwand dar, das ist Impression. Wir reflektieren die Dinge auf der Leinwand, wie wir sie sehen, ohne die banalen Bemerkungen anderer über die Farbe des Körpers in Betracht zu ziehen. Alles in der Welt ist relativ. Sogar die Sonne wird von einigen als gold, von anderen als silbern, von anderen als rosa und von wieder anderen als farblos gesehen. Der Künstler hat das Recht, die Dinge so zu sehen, wie sie ihm erscheinen – das ist sein absolutes Recht....“333
Kulbin verband das romantische und symbolistische Streben, das Verhältnis der menschlichen Seele zur Natur auszudrücken, mit einer am Impressionismus und Post-Impressionismus orientierten Darstellung der wesentlichen Merkmale der sichtbaren Welt durch farbige Äquivalente. Dies wird auch in seinem Ölgemälde „Meeresblick“ von 1905–07 deutlich (Tafel 3). Das Werk zeigt eine imaginäre Meereslandschaft, die im Wesentlichen auf dem Farbkontrast der Komplementärfarben Orange und Blau gründet. Der schmale Uferstreifen im braunen Erdton im Vordergrund ist durch ein Band von Farbstreifen in leuchtendem Orange, Braun, Hellblau und Dunkelblau vom Meer abgesetzt. Die Wasseroberfläche des Meeres wird von einem dichten Teppich in Gelborange und Mittelblau gebildet, der nur in der Mitte von einem blauen Band unterbrochen wird. Dieser feingliedrige Farbkontrast von Orange und Blau scheint das reflektierte Licht der untergehenden Sonne auf der Meeresoberfläche wiederzugeben. Im Gegensatz dazu ist der orangefarbene Himmel im Hintergrund von eher ornamental aufgefassten, blauen Wolkengebilden bedeckt. Die horizontale Schichtung der Naturformationen von Meer und Himmel in den Komplementärfarben Orange und Blau schaffen eine intensive visuelle Dynamik, die noch von dem von ihr ausgelösten Simultankontrast verstärkt wird. Kulbins „Meeresblick“, eine seiner abstraktesten Kompositionen, ist weniger eine Darstellung der Naturerscheinungen der äußeren Welt als vielmehr eine Darstellung der inneren Welt des Künstlers. Auf typisch russische Weise synthetisierte er die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Psychophysiologie der menschlichen Wahrnehmung mit seiner metaphysischen Weltsicht und der Begeisterung für die sinnlich-emotionalen Qualitäten der Farbe. Die Kunst von Kulbins Kreis war vorwiegend symbolistisch und symbolistischimpressionistisch, die Mitglieder seiner Gruppe befassten sich mit der Natur unter optischen und/oder metaphysischen Gesichtspunkten. Ihre Malerei war von einem „realistischen“ Symbolismus dominiert, wobei die Grenzen zwischen „realistischem“ und „idealistischem“ Symbolismus durch den generell psychologischen Zugang zur Kunst fließend waren und unterschiedliche stilistische Tendenzen einschlossen. Dazu gehörten zum Beispiel die dekorative Art Nouveau-Malerei von Nikolai Kalmakow und Ludmila Schmit-Ryshowa, ein vom französischen Impressionismus abgeleiteter, momentaner, naturalistischer Zugang zum Physischen in der Malerei von Konstan333 Vasilij Kamenskij, Put’ ėntuziasta, 1931, Perm 1968, S. 84–85.
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tin Jewsejew und Dawid Burljuk, die divisionistische Verwendung von Pinselstrichen reiner Farbe bei Leonid Baranow, die expressive Farbverwendung als Äquivalent für Emotionen von Sophia Baudouin de Courtenay sowie der synästhetische Gebrauch der Farbe als Klang von Alexander Nikolajew und Nikolai Sinyagin.334 Kulbins Verdienst für die Entwicklung der russischen Avantgarde bestand weder in einer eigenständigen Kunsttheorie noch in einem herausragenden künstlerischen Œuvre, sondern vielmehr in seiner Funktion als Anreger und Vermittler zwischen den verschiedenen künstlerischen Bewegungen zwischen Ost und West, Altem und Neuem, Kunst und Wissenschaft, Natur und Kunst. Als unermüdlicher Förderer der neuen Kunst und offen für alle Strömungen und Tendenzen, bot er jungen, noch unbekannten Künstlern nicht nur die Möglichkeit, ihre Bilder in den von ihm organisierten Ausstellungen zu zeigen, sondern half ihnen auch, ihre Ideen zur neuen Kunst in Diskussionsveranstaltungen zur Debatte zu stellen. Außerdem war Kulbin eine unerschöpfliche Quelle für Informationen über neue Ideen und Bewegungen im Ausland. Mit seinen eklektischen kunsttheoretischen Vorträgen stellte er der russischen Öffentlichkeit Ideen unterschiedlichster Art und interessantes Material aus allen Wissenschaftsbereichen zur Verfügung; sie bereiteten den Boden für eine neue, eigenständige Kunst und Theorie der Avantgarde. Die phänomenale Wirkung seiner öffentlichen Auftritte schilderte Benedikt Liwschiz in seinen Memoiren: „Er war ein Hausierer, der jedes Mal einen Haufen neuer Ideen anschleppte: die allerletzten Neuigkeiten des westeuropäischen Denkens, den anstehenden ‚Modeschrei‘, nicht nur auf dem Gebiet künstlerischer, musikalischer und literarischer Richtungen, sondern auch in der Sphäre von Wissenschaft, Politik, Öffentlichkeit und Philosophie. Das war ein Haufen unverarbeiteten Rohstoffs, den er sich selbst noch nicht angeeignet hatte; ... wobei die gerade von ihm gezähmten Ideen sogleich nach allen Seiten von ihm wegkrochen,... wie die vielen Broschüren, Zeitschriften, Bücher, Noten, Reproduktionen und Fotos, die er stets bei seinen Vorlesungen zeigte und die nach der Begutachtung durch das Publikum selten vollständig zu Nikolai Iwanowitsch zurückkamen.“335
Obwohl junge Künstler wie Guro, Matjuschin und Matwej Kulbins symbolistischen Zugang zur Kunst und „den Eklektizismus, die Dekadenz und den ‚Wrubelismus‘“336 ablehnten und sich 1910 von seinem Kreis der Impressionisten trennten, hat dieser mit der psychophysiologischen Dimension seiner Kunsttheorie ebenso wie mit seinen Vorlesungen zu zeitgenössischen Bewegungen in der Kunst, philosophischen Ideen und den neusten wissenschaftlichen Entdeckungen den Werdegang und die gesamte Entwicklung der St. Petersburger Avantgarde entscheidend beeinflusst. Matjuschin wurde nicht nur nachhaltig von Kulbins Verbindung vom Symbolismus und Impressionismus und seinen wissenschaftlichen Studien angeregt, sondern 334 Howard 1992, S. 34. 335 Livšic 1989, S. 359. Deutsch in: Liwschiz 2004, S. 47. 336 Matjušin, Russkie kubo-futuristy 1932–34, in: Chardžiev 1976, S. 140. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S 112.
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teilte mit ihm auch ein lebendiges Interesse an einer neuen Musik. Kulbin folgte in der Musik den atonalen Theorien von Arnold Schönberg.337 Seine „freie Musik“ richtete sich nach denselben Gesetzen der Natur, wie die Musik und die ganze Kunst der Natur. Sein Aufsatz „Die freie Musik“ erschien 1910 im Sammelband „Studio der Impressionisten“ und wurde 1912 im Almanach des Blauen Reiters veröffentlicht.338 So wie Kulbin mit seiner freien Musik versuchte, das Licht, den Donner, das Sausen des Windes, das Plätschern des Wassers, den Gesang der Vögel wiederzugeben,339 strebte Matjuschin in seinen Kompositionen danach, Naturgeräuschen wie „das Geheul des Windes, das Geräusch eines Schrittes, eines Schlages in sich unterschiedlich wiederholenden Rhythmen“ zu erfassen und die Vielfalt der Timbres so zu erweitern, dass die Klanggeräusche vom „Gebrüll eines verwundeten Gorillas bis zum Piepsen eines Vogeljungen, dem Geheul von Fabriksirenen und dem Prasseln eines Motors“ reichten.340 Die musiktheoretische Tätigkeit beider Künstler war darauf gerichtet, eine Musik zu schaffen, die denselben Gesetzen wie die Natur folgte, so dass ihre Klangmöglichkeiten nicht von den Tonstufen eines künstlichen Systems eingeschränkt wurden, sondern in der Lage waren, die Klangfülle und die musikalische Vielfalt der Natur wiederzugeben. Ebenso wie für Kulbin bedeutete die Verwendung von Viertel- und Achteltönen in der Musik für Matjuschin eine Differenzierung des traditionellen Tonumfangs zu größerer Klangfülle und musikalischer Vielfalt. Von der freien Musik bzw. der Viertelton-Musik versprachen sich beide eine stärkere Annäherung an das wahre Wesen der Natur sowie eine Intensivierung der akustischen Empfindungen des Menschen: „An dem realen Hören und Sehen in der Natur entwickelte ich meine Studien in Vierteltönen, dabei benutzte ich die Geige, um die menschliche Stimme, das Fallen von Regentropfen usw. wiederzugeben. Ganz und gar von der Natur habe ich die Stürme abgeschrieben und das glückselige Zirpen der herbstlichen Heuschrecken in ‚Herbsttraum‘.“341
Mit der Erweiterung der musikalischen Möglichkeiten glaubten Kulbin und Matjuschin, unmittelbaren Einfluss auf die sinnlich-akustische Wahrnehmung der Menschheit nehmen zu können, da die feinen Zusammensetzungen und Veränderungen der Töne einerseits individuelle Stimmungszustände und die Illusion der Natur besser wiedergeben konnten und andererseits in der Lage waren, intensiver auf die Seele des Menschen zu wirken und seine Hörwahrnehmungen stärker zu differenzieren.342 Nach Diskrepanzen mit Kulbin und seinen Anhängern 1909 ergriffen Guro und Matjuschin die Initiative zur Gründung des Bundes der Jugend, zogen sich allerdings aufgrund von Unstimmigkeiten innerhalb der Gruppe im Januar 1910 von allen Ak337 Evgenia Petrova, Music and Russian Avant-Garde Art, in: Wien 2000, S. 81–83. 338 Kulbin 1912, S. 69–73. 339 Ebenda, S. 69. 340 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, S. 114. Deutsch in: Klotz 1991, S. 91. 341 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, Exemplar RO GMISPb, S. 203, zit. in: Powelichina 1983, S. 291. 342 Kulbin 1912, S. 70–72.
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tivitäten der Vereinigung zurück und traten dem Bund erst im November 1912 wieder bei. Die St. Petersburger Künstlervereinigung Bund der Jugend kann jedoch als unmittelbarer Nachfolger von Kulbins Kreis betrachtet werden. Wie dieser verfolgten die Mitglieder der Vereinigung kein programmatisches Ziel und vertraten keine vorgefertigte Ideologie. Unter der Leitung von Eduard Spandikow, Jossif Schkolnik, Saweli Schleifer und mit der finanziellen Unterstützung von Lewki Shewershejew bemühte sich der Bund, Künstler ohne Dogma und Vorbedingungen zusammenzubringen, um „die Probleme der modernen Kunst zu studieren und Ausstellungen zu organisieren.“343 Erklärtes Ziel der Vereinigung war es, „... ihre Mitglieder mit den modernen Bewegungen in der Kunst vertraut zu machen, ihren ästhetischen Geschmack durch die gemeinschaftliche Kenntnis des Zeichnens und der Malerei zu entwickeln und so auch den Meinungsaustausch in Fragen der Kunst zu fördern und die gegenseitige Annäherung von Kunstinteressierten zu vermitteln“.344 Der Bund der Jugend betrachtete sich als Teil der modernen europäischen Bewegungen in der Kunst; die Mitglieder standen im Kontakt mit Künstlern in den baltischen Republiken und in Skandinavien und bemühten sich aktiv um Verbindungen zu Künstlergruppen im Westen.345 Doch zugleich trat die Vereinigung auch als Vermittler zwischen Ost und West auf. Mit ihren Ausstellungen zwischen 1910 und 1913 förderten sie den lebendigen Austausch zwischen der St. Petersburger und der Moskauer Avantgarde, ihre Diskussionsveranstaltungen galten der Auseinandersetzung mit der eigenen Kunst im Verhältnis zur westeuropäischen Moderne. Mit ihren Veröffentlichungen der Manifeste von westeuropäischen Künstlergruppen aber auch von Reproduktionen persischer, chinesischer und indischer Kunst und chinesischer Lyrik sowie mit Aufsätzen zur Kunst Persiens, Afrikas und der Osterinseln unterstützte der Bund die allgemeine Verbreitung und den Austausch von Kenntnissen über alte und neue, östliche und westliche Kunst. Die Theaterinszenierungen „Choromnyja Deistva“ und „Zar Maximilian und sein ungehorsamer Sohn Adolf“ von 1911 sowie die Aufführungen von „Sieg über die Sonne“ und „Wladimir Majakowski“ von 1913 zielten auf eine neue Synthese von Dichtung, Malerei, Darstellung und Musik. Damit stand die Gruppe ganz in der Tradition der St. Petersburger 343 Howard 1992, S. 43. 344 Ustav obščestva chudožnikov „Sojuz molodeži“, vom 2.2.1910, RGALI, F. 336, Op. 5, Ed. 4, L. 4 iob. 345 Die zweite Ausstellung des Bundes des Jugend fand in Riga statt. Eine Delegation des Bundes reiste im Herbst 1910 nach Finnland und Schweden, um skandinavische Künstler einzuladen; 1913 nahm der Bund erneut Kontakt mit finnischen und schwedischen Künstlern auf. Der erste Band der Zeitschrift enthielt Aufsätze zur zeitgenössischen Kunst von Matwej, Schkolnik und Spandikow; im zweiten Band erschienen Aufsätze zur modernen Kunst und Texte der italienischen Futuristen, der Neuen Künstlervereinigung München und von Kees van Dongen; im dritten Band wurden Aufsätze von Baller, Burljuk, Matjuschin, Rosanowa und Spandikow sowie Gedichte und Prosa von sechs Gileja-Mitgliedern veröffentlicht; im vierten Band, der nicht zustande kam, sollten Wilhelm Worringers Einfühlung und Abstraktion, Aufsätze zum Werk von Archipenko, Larionow und Tatlin, Guros und Matjuschins Aufsatz über die vierte Dimension, das Kredo des Bundes, Rosanowas Text „Das auferstandene Rokhombol“ erscheinen.
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Kunstszene mit ihrer symbolistischen Orientierung und ihrer westeuropäischen Ausrichtung. Zahlreiche Mitglieder des Bundes der Jugend, die zu Kulbins Kreis gehört und an seinen Ausstellungen teilgenommen hatten, entwickelten ihre Ideen in enger Anlehnung an dessen kunsttheoretische Ansichten. Sie suchten nach dem Neuen in der Kunst, wobei sie dieses mehr in der Psyche des Menschen, in seinen persönlichen Erfahrungen und Gefühlen als in der sichtbaren Wirklichkeit der gegenständlichen Welt zu finden glaubten. Sie beschäftigten sich insbesondere mit Fragen nach der Natur und dem Inhalt der Kunst, dem Wesen des künstlerischen Schaffensprozesses und der menschlichen Wahrnehmung. Doch während Kulbin nach einer freien und uneingeschränkten Verwendung von Form, Farbe und Inhalt suchte, strebten die Mitglieder des Bundes nach neuen künstlerischen Methoden, um die alten Traditionen der Kunst zu überwinden. In der Auseinandersetzung mit den künstlerischen Prinzipien des Symbolismus und Impressionismus, der primitiven Kunst und dem nordischen Expressionismus sowie Kubismus und Futurismus gelangten junge Künstler wie Filonow, Malewitsch, Matjuschin, Matwej, Rosanowa und Tatlin schrittweise zu eigenen künstlerischen Lösungen und legten das Fundament für die neue organische Kunst eines ganzheitlichen Menschen.
Jelena Guro und Michail Matjuschin Die wichtigste und einflussreichste Inspirationsquelle in Matjuschins Leben war seine zweite Frau, Jelena Genrichowna Guro (1877–1913). Er war tief beeindruckt von ihrem so unmittelbaren Verhältnis zur Natur und der Intensität ihres künstlerischen Schaffens und glaubte, niemals zuvor jemandem begegnet zu sein, der eine so intensive Bindung zur Natur hatte und so vollkommen in ihr aufging.346 Noch nach ihrem Tod schwärmte er von ihrer ungewöhnlichen Verbundenheit mit der Natur und sprach „über den schwierigen Weg ständiger Beobachtung und ihre Fähigkeit, Wandel, Wachstum und Bewegung der Natur in ihren Bildern festzuhalten“.347 Die Dichterin und Malerin Jelena Guro stammte aus einer St. Petersburger Adelsfamilie, ihr Vater war französischer Abstammung und diente als Offizier in der russischen Infanterie, ihre Mutter war die Tochter des bekannten Pädagogen und Verlegers Michail Tschistjakow.348 Guro wuchs in St. Petersburg auf, verbrachte den 346 M. V. Matjušin, Rabočaja tetrad’, 1924–1934, RO IRLI, F. 656, L. 36–37, zit. in: Milica Banjanin, Nature and the City in the Works of Elena Guro, in: Slavic and East European Journal 30, 1986, S. 232. 347 Matjušin, Russkie kubo-futuristy 1932–34, in: Chardžiev 1976, S. 145. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S. 122. 348 Die umfassendsten Informationen zu Guros Lebes und Werk vgl. Elena Guro: Poėt i chudožnik, 1877–1913. Katalog vystavki. Grafika. Rukopisi. Knigi, Ausst.-Kat., St. Petersburg 1994, S. 64– 69; Kevin O’Brian, Guro’s Life and Legacy, in: Elena Guro, Sočinenija, hrsg. von G. K. Perkins, Oakland 1996, S. 375–388. Weitere Informationen vgl. Mikhail Matiushin, Draft of a Biography
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größten Teil ihrer Kindheit und Jugend jedoch auf dem Familiengut Potschinok bei Nowoselje in Gouvernement Pskow. Sie erhielt eine umfassende Bildung und lebte von einer Pension, die es ihr ermöglichte ihre künstlerischen Interessen zu verfolgen und auch einige Unternehmungen der Kubo-Futuristen mit zu finanzieren. Ihre künstlerische Ausbildung erhielt Guro in der Klasse von Jan Ciągliński an der Schule der Gesellschaft zur Förderung der Künste (1890–1902) sowie in dessen privatem Studio auf dem Litejni Prospekt (1903–1905). Dort begegnete sie auch Matjuschin, ihrem späteren Ehemann, und zusammen wechselten die beiden 1906 auf die private Kunstschule von Jelisaweta Swanzewa, wo sie bei Léon Bakst und Mstislaw Dobushinski studierten. Während Matjuschin dort kaum Anregung und Unterstützung für seine eigene malerische Entwicklung fand, stand Guro dem dekorativen Stil dieser Künstler näher; sie entwickelte ihre bildkünstlerische Sprache schrittweise aus den stilisierten Formen des Art Nouveau. Darüber hinaus befand sich im Haus von Swantsewas Kunstschule auch Wjatscheslaw Iwanows Wohnung, wo die Symbolisten im legendären „Turm“ zu ihren wöchentlichen Treffen zusammen kamen.349 Guro und Matjuschin standen diesem Kreis und symbolistischen Gedankengut zu dieser Zeit nahe. In Iwanows Salon machten sie die Bekanntschaft der symbolistischen Dichter Alexander Block, Andrei Bely, Alexei Remisow und Fjodor Sologub sowie der Kunst- und Religionsphilosophen Nikolai Berdjajew, Sergei Bulgakow und Pawel Florenski.350 Guro hatte ihr künstlerisches Debüt 1904 mit der Veröffentlichung ihrer Illustrationen für die russische Ausgabe von George Sands Märchen „Contes d’une Grand-mère“351 und ihr literarisches Debüt 1905 mit der Kurzgeschichte „Zeitiger Frühling“, die im Sammelband junger Schriftsteller erschien.352 Ihr erstes Buch „Der Leierkasten“, eine Sammlung von Erzählungen, Prosaminiaturen, Gedichten und of E. G. Guro, in: Anna Ljunggren, Nina Gourianova (Hg.), Elena Guro: Selected Writings from the Archives, Stockholm 1995, S. 128–132; N. Chardžiev, T. Gric, Kratkaja letopis’. Elena Guro k 25-letiju so dnja smerti, in: Knižnye novosti, 1938, Nr. 7, S. 40–41; Markov 1968, S. 14–23; E. F. Kovtun, Elena Guro. Poėt i chudožnik, in: Pamjatniki kul’tury. Novye otkrytija. Ežegodnik 1976, Moskau 1977, S. 317–326; Matjušin, Russkie kubo-futuristy 1932–34, in: Chardžiev 1976, S. 135–149; Zoia Ender, Elena Guro: Profilo Biografico, in: Rassegna sovietica 5, 1978, S. 67–93; Jensen 1977, S. 30–130; Nils Ake Nilsson, Elena Guro—An Introduction, in: Anna Ljunggren, Nils Ake Nilsson (Hg.), Elena Guro: Selected Prose and Poetry, Stockholm 1988, S. 8–18; Jewgeni Kowtun, „Die Geschöpfe lieben Aufmerksame“. Über das Œeuvre von Jelena Guro, in: Klotz 1991, S. 34–39; Eva Hausbacher, „… denn die Geschöpfe lieben Aufmerksame.“ Weiblichkeit in der Schrift Elena Guros (1877–1913), Frankfurt Main 1996, S. 18–29; Elena Guro, in: Khardzhiev 2002, S. 99–100. 349 Christa Ebert, Vjačeslav Ivanovs „Turm“ – Experiment einer neuen Kultur- und Theaterauffassung, in: Zeitschrift für Slawistik 36, 1991, Nr. 2, S. 160–168. 350 Kovtun 1977, S. 317. 351 Žorž Sand, Babuškiny skazki, Charkow 1905. 352 Elena Guro, Rannjaja vesna, in: Sbornik molodych pisatelej, St. Petersburg 1905, S. 119–125. Deutsch in: Elena Guro, Lieder der Stadt. Prosa und Zeichnungen, hrsg. von Peter Urban, Berlin 2003, S. 7–9. Vgl. auch Ljunggren/Nilsson 1988, S. 75–83.
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zwei Dramen mit eigenen Illustrationen, erschien 1909.353 1912 folgte ihr zweites Buch „Herbsttraum“, das aus dem gleichnamigen Stück sowie Prosa und Gedichten begleitet von ihren Illustrationen bestand.354 Ihr Buch „Himmlische Kamelfohlen“ wurde 1914 postum veröffentlicht;355 ihr Buchmanuskript „Der Arme Ritter“ blieb unvollendet und wurde erst in den 1980er Jahren herausgegeben.356 1907 zogen Guro und Matjuschin in die gemeinsame Wohnung in der Lizejskaja uliza 4; ab 1908 waren sie in der St. Petersburger Avantgarde aktiv. Zwischen 1908 und 1910 gehörten sie Kulbins Kreis an und beteiligten sich an dessen Ausstellungen. In der Ausstellung „Die Impressionisten“ von 1909 zeigte Guro fünf Zeichnungen zu ihrem Buch „Der Leierkasten“ und Matjuschin drei Studien von der südlichen Meeresküste des Kaukasus. In der Dreieck-Ausstellung von 1910 waren sie gemeinsam mit Kamenski als die Gruppe Der Kranz (Wenok) vertreten; Guro stellte die Komposition „Rosa Himmel“ sowie drei Studien aus und Matjuschin zeigte zwei Studien.357 Matjuschin beteiligte sich fernerhin 1909–10 mit vier Landschaftsbildern vom Schwarzen Meer an Wladimir Isdebskis internationalem Salon in Odessa.358 Durch die Bekanntschaft mit Kulbin lernten Guro und Matjuschin 1909 Wassili Kamenski und die Brüder Burljuk sowie 1910 Welimir Chlebnikow und 1912 Alexei Krutschonych, Kasimir Malewitsch, Benedikt Liwschiz und Wladimir Majakowski kennen. Zusammen mit Matjuschin gründete Guro 1909 den Kranich-Verlag (Shurawl), gleichzeitig beteiligten sie sich an der Herausgabe von Werken zur modernen Dichtung, so übernahmen sie 1909 die graphische Gestaltung des literarisch-künstlerischen Almanachs des Verlags Brandung (Priboi) und wirkten nachfolgend an der Herausgabe des ersten und zweiten Gedichtbandes 353 Elena Guro, Šarmanka, St. Petersburg 1909. Das Buch wurde 1914 erneut veröffentlicht. 354 Elena Guro, Osennij son, St. Petersburg 1912. 355 Elena Guro, Nebesnye verbljužata, St. Petersburg 1914. Spätere russische Ausgaben vgl. Guro 1993; Elena Guro, Nebesnye Verbljužata. Izbrannoe, St. Petersburg 2002. Englische Übersetzung vgl. Elena Guro, The Little Camels of the Sky, hrsg. von Kevin O’Brian, Ann Abor 1983. 356 Elena Guro, Bednyj rycar’, St. Petersburg 1912–13, RO GPB, F. 1116, Ed. 3, L. 48. Veröffentlicht in: Ljunggren/Nilsson 1988, S. 131–214. Vgl. auch Elena Guro, Žil na svete rycar’ bednyj, hrsg. von Evgenij Binevič, St. Petersburg 1999. 357 Jelena Guro, 5 Zeichnungen für das Buch „Der Leierkasten“; Michail Matjuschin, 3 Studien vom südlichen Meeresufer des Kaukasus, in: Katalog vystavki kartin „Impressionisty”, Ausst.-Kat., St. Petersburg 1909. Jelena Guro, Rosa Himmel, 3 Studien; Michail Matjuschin, 2 Studien; Wassili Kamenski, Die Pfauhenne des Schwanzes für einen Kinderspaß, vgl. Katalog vystavki kartin „Treugol’nik“, Ausst.-Kat., St. Petersburg 1910. Matjuschin gab auch an, sich 1908 an Kulbins Austellung „Neue Tendenzen in der Kunst“ beteiligt zu haben, ist jedoch nicht im Ausstellungskatalog vermerkt. Vgl. Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, S. 74, 82–83; ders. 1934, S. 4; Gordon 1974, Bd. 2, S. 321. 358 Michail Matjuschin, Gagra „Schlucht Žuekvara“, Gagra „Steine“, Gagra „Pappel“, Suchumi mit den Bergen Chernjavskij, vgl. Salon. Katalog internacional’noj vystavki kartin, skul’ptury, gravjury i grafiki, Ausst.-Kat., Odessa 1909. Vgl. auch Gordon 1974, Bd. 2, S. 406; Vladimir Kruglov, The Vladimir Izdebsky Salons, in: Vladimir Izdebsky: The Return Cycle, St. Petersburg 2005, S. 43–59.
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von „Teich der Richter“ mit.359 Daneben war Guro weiterhin auf literarischem und Matjuschin auf musikalischem Gebiet tätig. Matjuschin unterrichtete ab 1909 am nationalen Konservatorium und komponierte 1909 eine Kanzone zu Guros Stück „Der Bettler Harlekin“, die in ihrem Buch „Der Leierkasten“ veröffentlicht wurde. Ihr Buch „Herbsttraum“ enthielt einen Notenauszug von einer seiner Kompositionen für Geige. Daneben begann sich Matjuschin ab 1910 mit den Vierteltönen in der Musik zu beschäftigen.360 1912 zogen Guro und Matjuschin in das traditionelle russische Holzhaus auf der Pesotschnaja uliza 10, das zu einem beliebten Treffpunkt der St. Petersburger Avantgarde wurde.361 Wie zahlreiche Mitglieder der russischen Intelligenzia hatten auch Guro und Matjuschin eine Datsche in Karelien362 – dieser Ort diente ihnen nicht nur als ein Rückzugsort, sondern dort kamen zwischen 1910 und 1913 auch die Mitglieder der St. Petersburger Avantgarde zusammen, um ihre Ideen zu diskutieren und ihre Veranstaltungen und Publikationen zu planen. Guro starb dort im Mai 1913 im Alter von 36 Jahren an Leukämie. Wie Kulbin war auch Guro eine Übergangsfigur; ihr Werk verbindet das literarische und künstlerische Erbe des Symbolismus mit neuen Tendenzen in der Kunst der Avantgarde. Ihre Tagebuchaufzeichnungen und Notizen belegen, dass sie den russischen Symbolisten Block, Bely und Brjussow näher stand als den russischen KuboFuturisten Chlebnikow, Krutschonych und Majakowski, mit beiden teilte sie jedoch grundlegende philosophische Anschauungen und künstlerische Interessen.363 Guro wurde von den Symbolisten geschätzt, Block und Iwanow luden sie ein, an ihren
359 Literaturno-chudožestvennye almanachi, Kniga pervaja, St. Petersburg 1909. Matjuschin gestaltete den Umschlag und 12 Illustrationen, Guro fertigte die graphischen Details (Marken, Bänder, Schlußvignette) und 2 Illustrationen zum Almanach. Herausgeber von Sadok sudej I (1910) war D. Burljuk, die Dichtung stammte von Kamenski, J. Nisen, N. Burljuk, Guro, S. Mjasojedew, D. Burljuk, A. Gei, Chlebnikow, die Illustrationen von W. Burljuk. Matjuschin war alleiniger Herausgeber von Sadok sudej II (1913) mit Texten von Liwschiz, Chlebnikow, D. Burljuk, N. Burljuk, Majakowski, Krutschonych, Guro und Nisen sowie Illustrationen von W. Burljuk, Gontscharowa, Larionow, Guro und Matjuschin. Vgl. auch Margit Rowell, Deborah Wye, The Russian Avant-Garde Book 1910–1934, Ausst.-Kat., New York 2002, S. 62–63. 360 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, S. 61–62, 113. Vgl. Juan Allende-Blin, Sieg über die Sonne. Kritische Anmerkungen zur Musik Matjušins, in: Musik-Konzepte 37, 1984, S. 170; Wolfgang Mende, Musik und Kunst in der sowjetischen Revolutionskultur, Köln 2009, S. 48–49; Igor Vorob’ev, Anastasija Sinajskaja, Kompozitory russkogo avangarda: Michail Matjušin, Artur Lur’e, Vladimir Ščerbačev, Gavriil Popov, Aleksandr Mosolov, St. Petersburg 2007, S. 19–48. 361 Alla Povelichina, S.P.B. Pesočnaja 10, in: Naše Nasledie 2, 1989, S. 117–121. Vgl. auch St. Petersburg 2007. 362 Vilho Hämäläinen, Die russische Sommerhausbesiedlung auf der Karelischen Landenge am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Neue Serie, Bd. 34, 1986, Nr. 4, S. 518–538. 363 Vgl. Elena Guro, Iz zapisnych knižek, 1908–1913, hrsg. von Evgenij Binevič, St. Petersburg 1997; Ljunggren/Nilsson 1988, S. 19–67.
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Treffen und Publikationen teilzunehmen;364 sie beteiligte sich jedoch stärker an den Publikationen und Ausstellungen der Kubo-Futuristen, obwohl sie deren lauten und aggressiven Ton ablehnte und auf ihren Veranstaltungen selbst so gut wie nie öffentlich in Erscheinung trat.365 Insgesamt kann sie weder dem Symbolismus noch der Avantgarde zugeordnet werden; in ihrem dichterischen und bildkünstlerischen Werk verarbeitete sie eine Vielzahl von künstlerischen Anregungen und geistigen Einflüssen und führte diese zu einem eigenständigen, organischen Ganzen zusammen, mit dem sie eine Brücke vom Symbolismus zur Avantgarde schlug – eine Tatsache, die die Wertschätzung ihres komplexen künstlerischen Werks erschwert und verzögert hat. Unter den russischen Kubo-Futuristen war Guro eine Ausnahme, sie war nicht nur die einzige Frau, sondern auch die einzige, die in einer Adelsfamilie in St. Petersburg aufgewachsen war. Sie war gebildet und vertraut mit der ganzen Breite der europäischen Kunst, Literatur und Kultur. Sie schätze die Werke der russischen Symbolisten und bewunderte auch die Werke von Charles Baudelaire, Francis VieléGriffin und Emile Verhaeren.366 Darüber hinaus fühlte sie sich insbesondere von der deutschen Romantik und der deutsch-österreichischen Literatur angezogen;367 und zeigte ein lebendiges Interesse für die skandinavische Kultur und Folklore.368 Guro zog ihre Inspiration aus der unmittelbaren Beobachtung der Natur; die Natur wurde zum bestimmenden Thema ihrer Malerei und Dichtung. Seit ihrer frühen Kindheit verbrachte sie die Sommermonate auf dem Land; bereits mit acht Jahren begann sie Pflanzen, Tier und Bäume zu zeichnen und zu malen und ihre Eindrücke, Gefühle und Gedanken über die Natur und das Leben aufzuschreiben. Aus ihren Tagebuchaufzeichnungen und Werken wird deutlich, dass die Natur, insbesondere die Erfahrung der Landschaft in der Region von Pskow und auf der karelischen Landenge um Uusikirkko die Grundlage für ihr künstlerisches Schaffen bildeten.369 Ihr erstes 364 Vgl. Milica Banjanin, Of Harlequins, Dreamers, and Poets: A Study of an Image in the Works of Elena Guro, in: Russian Language Journal, Vol. 36, 1982, Nos. 123–124, S. 226; Jensen 1977, S. 41–42 365 Ihre Werke waren in den futuristischen Sammelbänden Teich der Richter I + II, Die Drei (1913), Brüllender Parnass (1914) und Der entzückte Wanderer (1916) vertreten. Zu Guros Verhältnis zum russischen Kubo-Futurismus vgl. Markov 1968, S. 14–22; Nina Gur’janova, Elena Guro i russkij avangard, Scando-Slavica 36, 1990, S. 87–99. Ihr gemeinsames Auftreten mit Majakowski auf der ersten Diskussionsveranstaltung des Bundes der Jugend am 24. März 1913 muss als Ausnahme betrachtet werden. Vgl. Chardžiev/Gric 1938, S 40. 366 Milica Banjanin, The Prose and Poetry of Elena Guro, in: Russian Literature Triquaterly 9, 1974, S. 303; diess. 1986, S. 236. 367 Durch Iwanow und seinen Kreis war Guro mit den Werken der deutschen Romantiker Novalis, Schelling und Schlegel vertraut. Zu den naturphilosophischen Einflüssen in ihrem Werk vgl. Ekaterina Bobrinskaja, Naturfilosofskie motivy v tvorčestve Eleny Guro, in: Voprosy iskusstvoznanija 11, Februar 1997, S. 159–178. Zu Guros freier Übersetzung von Peter Altenberg vgl. Nils Ake Nilsson, Elena Guro and Peter Altenberg, in: Ljunggren/Gourianova 1995, S. 26–28. Zum möglichen Einfluss von Rainer Maria Rilke vgl. Markov 1968, S. 20. 368 Nils Ake Nilsson, Russia and the Myth of the North: The Modernist Response, in: Russian Literature 21, 1987, S. 132–140; Ljunggren/Nilsson 1988, S. 8–13; Hausbacher 1996, S. 189–191. 369 Elena Guro’s Diary, in: Ljunggren/Nilsson 1988, S. 19–67.
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veröffentlichtes Gedicht „Zeitiger Frühling“ war wie Kamenskis erstes Werk von den Erinnerungen an eine glückliche Kindheit geprägt und nahm bereits ihr künstlerisches Credo, ihre Liebe zur Natur und ihr Mitgefühl mit allen lebendigen Wesen, vorweg.370 Unter dem Einfluss des Symbolismus beschäftigte sich Guro zwischen 1905 und 1910 jedoch nicht nur mit der Darstellung und Beschreibung von Natureindrücken, sondern auch mit dem Großstadtthema. Ihr Urbanismus orientierte sich am Großstadtleben von St. Petersburg; sie betrachtete die Stadt weniger als einen konkreten historischen und geographischen Ort, sondern beschäftigte sich vielmehr mit den subjektiven Erfahrungen des urbanen Lebens und seinen sozialen und philosophischen Konsequenzen. Guro fühlte sich gleichermaßen angezogen und abgestoßen von der modernen Großstadt; in ihrer urbanistischen Prosa verband sie die vielfältigen Eindrücke und Erfahrungen, die einzelne Menschen im Stadtmilieu machten, mit den Reflexionen ihrer Gedanken und inneren Stimmungen.371 Wie viele Symbolisten charakterisierte sie die Großstadt mit ihren dahinströmenden Menschenmassen, ihrer steinernen Architektur, den gewundenen Straßen, Laternen, Straßenschildern, Rohren u. a. als mystisch und voller Geheimnisse und entwarf mit der zusammenhangslosen Aneinanderreihung von visuellen und akustischen Eindrücken aus dem Straßenleben ein Bild von den Alltagserfahrungen der Menschen in der Stadt.372 Doch die Abgeschlossenheit der Stadt mit ihren Mauern aus Stein sowie die Geschäftigkeit und Lautstärke ihres Tagesgeschehens verlor für Guro zunehmend an Inspirationskraft. Die Stadt wurde zu einem Ort, wo nur die Nacht mit ihren Lichtern, Stimmen und Schatten noch geheimnisvoll war und mystische Seiten hatte, die die Fantasie des Künstlers anzuregen vermochten, während die Tagesatmosphäre der Stadt keinen Raum für die Gefühle des Menschen ließ und die schöpferische Kreativität des Künstlers einengte und zerstörte.373 Zugleich betrachtete Guro die Stadt als ein Gebilde, das der Konstruktion und Organisation männlicher Rationalität entsprungen war, als eine Umgebung, die der weiblich-mütterlichen Natur des Lebens widersprach, diese unterdrückte und zerstörte. Sie thematisierte die Psychologie der zwischenmenschlichen Beziehungen in der Stadt und das Problem der Unterdrückung der Frau.374 In ihrem letzten urbanistischen Werk, dem Gedicht „Die Stadt“ von 1910, hatte die Stadt mit ihrer erbarmungslosen Herrschaft von Technik und Gewalt alle Schönheit verloren, weil sie ihre Potenz für Liebe und Träume eingebüßt hatte.375 Die zunehmende Verdüsterung der Großstadtdarstellungen in ihrem literarischen Werk führte Guro zu einer ausgeprägten anti-urbanistischen Haltung; nach 1910 370 Vgl. Jensen 1977, S. 35–36; Vera Kalina-Levine, Through the Eyes of the Child: The Artistic Vision of Elena Guro, in: Slavic and East European Journal 25, 1981, S. 32–34. 371 Banjanin 1986, S. 236. 372 „Pered vesny“, „Pesni goroda“, „Tak zhizn idet“, „Koncert“, „Svet luny“ in: Guro 1909. 373 Ebenda. Vgl. auch Jensen 1977, S. 81–130; Banjanin 1974, S. 303–315. 374 Ebenda. Vgl. auch Banjanin 1974, S. 309–310; diess. 1986, S. 239–241; Jensen 1977, S. 105– 114. 375 Elena Guro, Gorod, März 1910, in: Rykajuščij parnas, St. Petersburg 1914, S. 75 sowie in: Očarovannyj strannik. Almanach vesennij, Nr. 1, 1916, S. 1. Vgl. auch Jensen 1977, S. 118.
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verschwand der Urbanismus gänzlich aus ihrem literarischen Schaffen. Während die meisten Künstler der Avantgarde fasziniert und begeistert von den Abenteuern der städtischen Kultur und den Möglichkeiten der modernen Technik waren, empfand Guro die Großstadt als zutiefst lebensfeindlich und betrachtete diese als Quelle rationalistisch-mechanistischer Zerstörung von Natur und Leben.376 Die lebendige Natur der Wiesen, Wälder und Meere diente ihr als Gegenentwurf zur toten Stadt, einem Ort geistigen Leidens, männlicher Dominanz und der Erniedrigung der Frau; ihr Anti-Urbanismus nahm zunehmend die Form einer Warnung vor den Gefahren der Großstadt, vor Demütigung und Leblosigkeit an.377 Guros frühe urbanistische Dichtung beeinflusste jedoch das Werk des jungen Wladimir Majakowski und ihr Anti-Urbanismus blieb nicht ohne Wirkung auf Wassili Kamenski.378 Mit ihrer Hinwendung zur Natur und ihrer tiefen Verehrung der natürlichen Schöpferkraft wurde Guro zur geistigen Mutter der Organischen Schule der russischen Avantgarde. Ihr Weltverständnis und ihre Kunst gründeten auf subjektivemotionalem Naturerleben und spirituell-ganzheitlicher Welterfahrung. Mit Kulbin teilte sie eine panpsychistische Weltanschauung, der Kosmos war für sie nicht leer und von Finsternis erfüllt, sondern voller Seele und Lebendigkeit: „Es gibt keinen Ort im All, der geistlos wäre. Wer überall die Seele sieht und alles lebendig weiß, wird niemals in Finsternis verfallen.“379 Sie betrachtete die organischen wie anorganischen Lebensformen des Universums als Manifestationen der alles durchdringenden Weltseele, die alle Geschöpfe mit Leben, Seele und Empfinden erfüllte. Im Gegensatz zu Kulbins stärker wissenschaftlich geprägten Weltanschauung, wurde Guros Panpsychismus nachhaltig von ihrer tiefen Religiosität geprägt, in der sie den christlichen Glauben mit dem Buddhismus und der romantischen Naturphilosophie, mystischem Denken in der Tradition von Franz von Assisi, Jacob Böhme und Emanuel Swedenborg,380 dem neuen Kult eines einfachen Lebens in Harmonie mit der Natur, so wie er von Lew Tolstoi, Alexander Dobroljubow und der russischen Gottsucher-Bewegung propagiert wurde,381 sowie dem zeitgenössischen Interesse an Theosophie, Spiritualismus und Okkultismus verband.382 376 Kovtun 1977, S. 320–321. 377 Jensen 1977, S. 81–130; Banjanin 1974, S. 303–315; diess. 1986, S. 230–247; diess., Elena Guro: From the City’s „Junkyard“ of Images to a Poetics of Nature, in: Natalia Baschmakoff, Olga Kušlina und Igor Loščilov (Hg.), Škola Organičeskogo Iskusstva v Russkom Modernizme. Sbornik statej, Helsiniki 1999, Bd. 1, S. 30–42. 378 Zum Einfluss auf Majakowski vgl. N. Chardžiev, V. Trenin, Poėtičeskaja kul’tura Majakovskogo, Moskau 1970, S. 193–195. Jensen 1977, S. 170–187. Zu Guros Einfluss auf Kamenski vgl. Chardžiev/Gric 1938, S. 41; Markov 1968, S. 29–32; Jensen 1977, S. 131–133. 379 Guro 1912–13, in: Ljunggren/Nilsson 1988, S. 143–144. Deutsch in: Kowtun 1991, S. 34. 380 Bobrinskaja 1997, S. 161. 381 Ebenda, S. 163–166. Vgl. auch Nina Gur’janova, Tolstoj i Nicše v „Tvorčestve Ducha“ Eleny Guro, in: Europa Orientalis, Vol. 13, 1994, Nr. 1, S. 63–76. 382 Vgl. Thomas E. Berry, Spiritualism in Tsarist Society and Literature, Baltimore 1985, 157–160; Bobrinskaja 1997, S. 162–166; Bowlt 1988, S. 165–183; Maria Carlson, Fashionable Occultism: Spiritualism, Theosophy, Freemasonry, and Hermeticism in Fin-de-Siecle Russia, in: Bernice Glat-
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Guros mystisches Natur- und Gottverständnis speiste sich aus einer Vielzahl von Quellen und Einflüssen. Unter den zahlreichen Büchern, die Guro und Matjuschin um 1910 lasen, waren die Werke von Henri Bergson, Gaston Bonnier, Camille Flammarion, Gustave Le Bon, Otto Lehmann, Jacques Loeb, Friedrich Nietzsche, Petr Ouspensky und Lew Tolstoi.383 So ergänzte sie zum Beispiel Bergsons Lebensphilosophie mit einer spirituellen Dimension, so wie sie in der Religionsphilosophie von Nikolai Berdjajew und im russischen Intuitivismus von Nikolai Losskij und Dmitri Boldyrew angelegt war.384 Darüber hinaus waren es insbesondere die Ansichten des französischen Astronomen und Spiritisten Camille Flammarions, die bei Guro auf fruchtbaren Boden fielen. In seinem Buch „Dieu dans la nature“, dass Guros Großvater unter dem Titel „Bog w prorode“ 1869 herausgegeben hatte,385 unternahm der Autor den Versuch, die wichtigsten Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft, insbesondere die naturwissenschaftlichen Studien von Carl von Linné, Georges Cuvier, Geoffroy Saint-Hilaire, Alexander von Humboldt und Charles Lyell, die Evolutionstheorien von Jean-Baptiste de Lamarck, Charles Darwin und Alfred Russel Wallace, die chemischen Arbeiten von Antoine Laurent de Lavoisier, Justus von Liebig, Friedrich Wöhler und Marcelin Berthelot zu erklären. Er wandte sich mit Nachdruck gegen den wissenschaftlichen Materialismus von Ludwig Büchner, Jacob Moleschott und Carl Vogt und versuchte, die moderne Naturwissenschaft mit der Vorstellung von einem Schöpfergott zu vereinbaren. Er sprach von einer „Macht, die die Gestirne lenket und den Abglanz ihrer Herrlichkeit durch die Unermesslichkeit des Himmels ergießt“, einer „Kraft, die den Bau der Mineralien und Pflanzen auf der Erde bestimmt“, einer „Ordnung, welche die Harmonie des Alls begründet“, und davon, dass diese „sich uns ... unter einer anderen Gestalt offenbaren“ wird, „deren Zeugnis nicht weniger unwiderstehlich zu Gunsten des Urgeistes ausfallen wird, der die Geschicke des Universums leitet“.386
zer Rosenthal (Hg.), The Occult in Russian and Soviet Culture, Ithaca, London 1997, S. 135–152; Charlotte Douglas, Jenseits des Verstandes: Malewitsch, Matjuschin und ihre Kreise, in: Tuchman/Freeman 1988, S. 185–199; Edward Kasinec, Boris Kerdium, Okkulte Literatur in Rußland, in: ebenda, S. 361–365; Wladimir Kruglow, Die Epoche des großen Spiritismus. Symbolistische Tendenzen in der frühen russischen Avantgarde, in: Veit Loers (Hg.), Okkultismus und Avantgarde: Von Munch bis Mondrian, 1900–1915, Ausst.-Kat., Frankfurt Main, Ostfildern 1995, S. 175–186; Anthony Parton, Avantgarde und mystische Tradition in Russland 1900–1915, in: ebenda, S. 193–215; Ljunggren/Nilsson 1988, S. 14–15. 383 Dazu gehörten: Henri Bergson 1909a; ders. 1912; Gaston Bonnier, Zven’ja živoj prirody, St. Petersburg 1909; Camille Flammarion, Bog v prirode, St. Petersburg 1869; Gustave Le Bon, Evoljucija materii, St. Petersburg 1914; O. Leman, Židkie kristally i teorii žizni, Odessa 1908; Jacques Loeb, Dinamika živogo veščestva, Odessa 1910; Uspenskij 1909; ders. 1911. Vgl. Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, Exemplar RO IRLI, S. 130. 384 Usenko 1993, S. 278–284. 385 Bobrinskaja 1997, S. 159–178. 386 Flammarion 1867, S. 87. Deutsch in: Camille Flammarion, Gott in der Natur, Leipzig 1870, S. 76.
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Guro teilte mit Flammarion die Auffassung von einem Gott, der „die universelle und unsichtbare Kraft“ ist, „die ohne Unterlaß in der Natur thätig ist“.387 Wie Flammarion war sie überzeugt: „Die einsame Landschaft, das ferne Rauschen des Meeres, die wie in Träumen flüsternden Wälder, die stolzen Berge, die Alles überblicken, sind sichtbare Verkünder der Kraft, die am Grunde aller Dinge wacht.“388 Ihr ganzes Streben war darauf gerichtet, die Seele des Universums zu erfassen, sich von der alles durchwaltenden Liebe der Natur durchströmen und einhüllen zu lassen, um im Geiste der Natur zu schaffen, eins mit ihr zu werden und sich einer höheren Welt anzunähern. Ihren Zeitgenossen schien es, dass sie um „die Grenze zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem – unterschiedlicher Substanz“ wusste, „eine Schwelle, die man allmählich einebnen muß“, „und daß es dazu Jahrhunderte geduldigen Glaubens und Liebe braucht“.389 Mit ihrem Streben nach allumfassender Naturerfahrung und deren Reflexion in ihrem künstlerischen Schaffen knüpfte Guro unmittelbar an die Idee von shisnetwortschestwo (Leben-Schaffen) an, so wie sie die russischen Symbolisten zur Grundlage ihrer Entwürfe für eine grundlegende Transformation der Lebensformen gemacht hatten.390 Für sie existierte keine Trennung zwischen persönlichem Leben (shisn) und künstlerischem Schaffen (twortschestwo), sondern beide waren zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen. Die Kunst, die die Schöpfung von Leben bedeutete, würde dem Leben so lange dienen, bis sie selbst vollkommen in diesem aufgegangen bzw. selbst Leben geworden wäre.391 Dabei hieß schöpferisches Tun für Guro wie für die Symbolisten nicht kontemplativ, sondern aktiv zu sein; künstlerisch tätig zu sein, bedeutete für sie nicht Bilder, sondern Leben zu schaffen.392 Guros künstlerisches Schaffen entsprang ihrer unerschöpflichen Liebe zur Natur: „Dieser Schmerz, wenn das Herz im Raum aufgeht – mit Liebe für den Baum, Abend, Himmel, Strauch. Und es liebt, weil es die Liebe nicht verweigern kann“393 und ihrem Bewusstsein von der Verantwortung des Künstlers für Pflanzen, Tiere und das Schicksal der Welt. Sie sah es als Berufung des Künstlers an, die Welt zu lieben, denn nur die Liebe konnte die Welt retten. Ihre Liebe zur Natur nahm mütterliche Züge an; die kinderlose Künstlerin fühlte sich als Mutter aller Dinge: „Sehen Sie, ich habe keine Kinder, – vielleicht liebe ich deshalb so heftig alles Lebendige. Manchmal scheint mir, dass ich allem eine Mutter bin.“394 Zugleich fühlte sie sich dazu berufen, 387 Ebenda, S. 493. Deutsch in: Ebenda, S. 352. 388 Ebenda, S. 494. Deutsch in: Ebenda, S. 353. 389 Guro 1912–13, in: Ljunggren/Nilsson 1988, S. 143–144. Deutsch in: Kowtun 1991, S. 34. 390 Irina Paperno, Introduction, in: Irina Paperno, Joan Delaney Grossman (Hg.), Creating Life: The Aesthetic Utopia of Russian Modernism, Stanford 1994, S. 1–11. Vgl. auch Schamma Schahadat, Das Leben zur Kunst machen. Lebenskunst in Russland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, München 2004. 391 Paperno 1994, S. 2, 7–8. 392 Ebenda. 393 Elena Guro, Večer, in: diess. 1914, S. 64. 394 Guro 1914, S. 121. Deutsch in: Hausbacher 1996, S. 14.
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alle Schwachen und Hilflosen zu beschützen und sich mit ihrem Schaffen für deren Anerkennung einzusetzen: „Das Kunstwerk muß mit der Stimme unerschöpflicher Liebe erklingen... Als ob der Autor Mutter aller Dinge sei und sie mit mütterlicher und stolzer Liebe liebte.“395 In ihrer Malerei und Dichtung bemühte sich Guro, die Geheimnisse der Natur aufzuspüren, ihre Rhythmen und ihren Atem einzufangen und die universellen Verbindungen zwischen den sichtbaren Erscheinungen der äußeren Welt und dem inneren Wesen der Dinge zu reflektieren: „Versuch zu atmen, wie die Kiefern in der Ferne rauschen, wie der Wind sich ausbreitet und wogt, wie das All atmet. Das Atmen der Erde und die Wolkenfasern nachahmen.“396 Dabei war ihr Verhältnis zur Natur von kindlicher Unmittelbarkeit und Unbefangenheit (Abb. 5). Freie, unvoreingenommene Beobachtung der Natur galt ihr als der Weg, um das schöpferische Wesen und die Seele der Natur in ihren irdischen Manifestationen in Steinen, Pflanzen, Bäumen und Tieren, zu entdecken: „Gewöhnlich hatte sie Stift und Heft in der Hand, im Gehen schaute sie sich um, zeichnete und schrieb. Es schien, daß sie um das wußte, was in den Dingen ‚verborgen‘ lag, und sie konnte es in Worte und Bilder übersetzen. Ihre Liebe zur Natur war so groß, dass sie, als sie in Petersburg lebte und studierte, jeden freien Tag nutzte, um aus der Stadt herauszufahren. In den ersten Frühlingstagen fuhr sie aufs Land, erst im Spätherbst kehrte sie in die Stadt, ihre ‚Tasche aus Stein‘ zurück; sie brachte eine Menge Zeichnungen, Aquarelle, Gemälde und Aufzeichnungen in Versen und Prosa mit. Ihr Schaffen bietet reichhaltiges Material für die Erforschung der Künste in ihrer organischen Einheit.“397
Aber während sie auf reiner Sinneswahrnehmung, unverdorben vom rationalen Denken und von systematischer Analyse bestand, bedeuteten visuelle Eindrücke für sie zugleich auch spirituelle Erfahrungen. Guro richtete ihre Aufmerksamkeit auf die organischen Formen der lebendigen Natur, auf Naturkräfte wie Wolken, Wind und Meer, aber auch auf einzelne Geschöpfe wie Steine, Blumen, Gräser, Bäume und Tiere. Dabei war ihr kein Gegenstand der Natur zu gering und unscheinbar, um Beachtung und liebende Verehrung zu finden. Sie fühlte sich ganz besonders zu den majestätischen Kiefern in der finnischen Landschaft von Karelien hingezogen; sie zeichnete und malte diese und beschrieb sie in zahlreichen Gedichten.398 Sie betrachtete diese stolzen, hoch gewachsenen Bäume als eine Verbindung zwischen Himmel und Erde, weil, wie sie es be-
395 Elena Guro, Dnevnik, Mai 1910, zit. in: Ljunggren/Nilsson 1988, S. 44. Deutsch in: Hausbacher 1996, S. 210. 396 Guro 1912–13, zit. in: Powelichina 1991, S. 36–37. 397 Matjušin, Russkie kubo-futuristy 1932–34, in: Chardžiev 1976, S. 113. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S. 110. 398 Guro 1912, zit. in: Russian Literature Triquarterly, Nr. 9, 1974, S. 37. Vgl. auch Elena Guro, Ijunia, in: Guro 1914, S. 62. Deutsch in: Guro 2003, S. 25.
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zeichnete, „die Erde durch die Bäume in den nahen stillen Himmel atmet“.399 Diese Metapher vom Baum als Verbindung zwischen Himmel und Erde sollte Matjuschin von ihr übernehmen und weiter entwickeln. Guros Streben nach einer mystischen Vereinigung von Mensch und Natur in der Kunst hatte auch einen skandinavischen kulturellen Hintergrund. Sie war mit den literarischen Werken von Knut Hamsun, Henrik Ibsen und August Strindberg400 und der Musik von Edvard Grieg und Jean Sibelius vertraut und schätze die Malerei des Dänen Vilhelm Hammerskoi, der Schweden Bruno Liljefors und Anders Zorn, der Norweger Christian Krohg, Edvard Munch, Frits Thaulow, and Erik Werenskiolds und der Finnen Albert Edelfelt and Akseli GallénKallela.401 Doch Guro erhielt nicht nur landschaftliche und kulturelle Inspiration sowie stilistische Anregun5 Jelena Guro in der Natur, ca. 1912, Fotografie von gen durch die Werke dieser Künstler, Michail Matjuschin sondern teilte mit den Skandinaviern auch ihre pantheistische Weltauffassung und die folkloristischen Vorstellungen von den Geheimnissen der Natur und des menschlichen Lebens. Ihre neo-romantische Hinwendung zur Natur stand in engem Zusammenhang mit dem „skandinavischen Boom“ der 1890er Jahre in Russland, der besonders die St. Petersburger Kunstszene prägte.402 Guro betrachtete 399 Elena Guro, Zapisnaja knižka, 1910–13, RO IRLI, F 631, Op. 1, Ed. 39, zit. in: Banjanin 1986, S. 234. 400 Hausbacher 1996, S. 189–191. 401 Sie kannte Akseli Galen-Kallelas Illustrationen der Kalevala und Erik Werenskiolds Illustrationen von norwegischen Legenden aus der Zeitschrift der Welt der Kunst. Vgl. Anna Ljunggren, Introduction I: Elena Guro’s Literary Prehistory, in: Ljunggren/Gourianova 1995, S. 14; Alessandra Comini, Nordic Luminism and the Scandinavian Recasting of Impressionism, in: Broude 1990, S. 274–313. 402 Nilsson 1987, S. 132–140; Ljunggren/Nilsson 1988, S. 8–13; Hausbacher 1996, S. 189–191. Der enge künstlerische Austausch zwischen Russland und den skandinavischen Länder und der Traum von einem geistig vereinten Norden der russischen und skandinavischen Kulturen bestand bis zum ersten Weltkrieg. Vgl. Grigori J. Sternin, Das Kunstleben Rußlands an der Wende vom
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Skandinavien, die Heimat der Wikinger, als Modell für Unabhängigkeit, Mut und Lebensfreude – Eigenschaften, die sie von der neuen russischen Kunst und Literatur forderte.403 Ihre tiefe Verwurzelung in der skandinavischen Landschaft und die Inspiration, die sie von der skandinavischen Kultur erhielt, äußerte sich in motivischen Anleihen für Gedichte wie „Finnische Melodie“ und „Finnland,“ Gemälden wie „Skandinavische Prinzessin“ und „Morgen des Riesen“ und den Landschaftsmotiven ihrer Zeichnungen und Aquarelle. Die Kiefern und Wolken der nordischen Landschaft, das flache Meer, der weite Horizont sind Bildmotive, die ihre Dichtung, Malerei und Graphik dominieren. In der Malerei strebte Guro nach einer Synthese von malerischen und musikalischen Mitteln, sie baute ihre Werke aus den Leitmotiven der Musik und den Farben der Malerei. Dabei verband sie eine impressionistisch geprägte Malweise mit den Farbtönen und klaren Formen der organischen Natur. Mit einer lichtdurchfluteten Malerei subtiler Farbnuancen und Schattierungen versuchte sie, der Materie Seele einzuhauchen, die Substanzen und Strukturen der Dinge schwerelos zu gestalten, sie zu zart funkelnden, farbig-weichen Kostbarkeiten zu formen, um so den Atem von Kiefern, Erde und Wolken nachzuahmen und die Harmonie mit der Natur wiederzuerlangen: „Ich baue einen Palast aus den Lichtstreifen des Himmels. Alle, die dort hinkommen, erhalten helle, grünliche, schwach rosa oder wässrig blaue Himmelskristalle. Und die Gewänder sind dort flauschig silbern, zart.“404 Guros Streben, die verborgenen Kräfte und vitalen Prozesse der Natur zum Ausdruck zu bringen, wird in ihrem Gemälde „Keimlinge (Wachstum und Bewegung in der Natur)“ von 1905–07 (Tafel 2b) deutlich.405 In dieser fast monochromatischen Komposition konzentrierte sie sich darauf, die natürliche Wachstumsbewegung der Keimlinge einzufangen und zu zeigen, wie sich die Pflänzchen aufrichten und ihre Blätter entrollen. Matjuschin erinnerte sich später, dass Guro und er zu dieser Zeit mit der Frage beschäftigt waren, wie man in der Malerei das verborgene Leben und die innere Kraft, die eine äußere Erscheinung hat, in Verbindung mit der Bewegung, die alles durchdringt, darstellt.406 Guro verehrte jedoch nicht nur die organische Natur und zeigte ein starkes Mitgefühl für alle lebendigen Wesen, sondern stattete auch die anorganische Natur mit Leben und Seele aus. Ein anderes, häufiges Motiv in ihrer Malerei waren die Findlinge neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert, Dresden 1976, S. 134–140; T. D. Muchina, Russkoskandinavskie chudožestvennye svjazi konca 19 – načala 20 veka, Moskau 1984. 403 Ljunggren/Gourianova 1995, S. 20. 404 Elena Guro, Dnevnik, 5. Juni 1911, RO GPB, F. 1116, Ed. 3, zit. in: Ljunggren/Nilsson 1988, S. 63. Deutsch in: Kowtun 1991, S. 38. 405 Jelena Guro, Keimlinge. Wachstum und Bewegung in der Natur (Postiki. Rost i dviženie v prirode), 1905–07, Öl auf Leinwand; 71,5 x 142,0 cm, Staatliches Museum der Geschichte der Stadt St. Petersburg, NR. 1-A-394-ž. Vgl. Povelikhina/Loshak/Bukreeva 2001, Abb. 3; Klotz 1991, S. 172, Kat. 41. Das Bild ist auch als „Dekoratives Panneau“ bezeichnet und mit „um 1900“ datiert worden. 406 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, S. 52.
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6 Jelena Guro, Stein an der Küste des finnischen Meerbusens, 1910, Museum Ludwig, Köln
in der nordischen Landschaft, auf denen sie sich niederlassen würde, um sich auszuruhen und zu zeichnen. Ein Beispiel dafür ist ihr Bild „Stein an der Küste des finnischen Meerbusens“ von 1910 (Abb. 6).407 Im Mittelpunkt dieser Darstellung steht ein Felsblock in seiner natürlichen Umgebung. Guro verleiht diesem unscheinbaren und farblosen Gebilde der toten, anorganischen Natur, das gewöhnlich kaum Aufmerksamkeit erfährt, vermittels intensiver Farbigkeit Form, Leben und Seele und machte ihn damit zum lebendigen Teil seiner organischen Umwelt.408 Wie die Steine in ihrer Kurzgeschichte „Kieselsteine“409 erwacht der Findling in ihrem Bild zum Leben. Ebenso wie ihr Naturverständnis trug auch Guros Auffassung von der Mission und dem Schicksal des Künstlers in der Welt romantisch-symbolistische Züge. Sie betrachtete den Künstler als Auserwählten und zugleich als Ausgestoßenen, als einen 407 Jelena Guro, Stein an der Küste des Finnischen Meerbusens (Kamen na beregu finskogo zaliva), 1910, Gouache, Gold- und Silberbronze auf Papier; 11,6 x 14,9 cm; Museum Ludwig, Köln, 1982/510. Vgl. Weiss 1993, S. 124, Kat. 60; Ryszard Stanislawski, Christian Brockhaus (Hg.), Europa, Europa: Das Jahrhundert der Avantgarde in Mittel- und Osteuropa, Ausst.-Kat., Bd. 1, Bonn 1994, S. 186. 408 Elena Guro, Pis’mo k Nadežde Fedotove, RGALI, F. 134, Op. 1, Ed. 23, L. 4, zit. in: Banjanin 1986, S. 240. 409 Elena Guro, Kamuški, in: Sadok sudej I, St. Petersburg 1910, S. 73. Vgl auch Jensen 1977, S. 40.
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der wenigen Menschen, der sensibel genug ist, die Stimmen der Geschöpfe zu hören, die Weltseele in ihnen wahrzunehmen und seine Werke in Übereinstimmung mit den Geheimnissen und Lebensrhythmen der Natur und den Gesetzen des Universums zu schaffen: „Es gibt ein sehr ernstes Geheimnis, das man den Menschen mitteilen muss. Das ist, dass die Erde sie sehr liebt....“410 Sie war überzeugt, dass der Künstler in die Welt gesandt worden war, um die Geheimnisse der Erde zu enthüllen, die Natur zu beschützen und neues Leben zu schaffen; und während er in einer feindlichen materiellen Welt litt, um seinen Berufung zu erfüllen, waren die Kreaturen der Mutter Erde des Künstlers einzige Freunde und Verbündete; sie reagierten auf seine inneren Gedanken und Gefühle, denn „die Geschöpfe lieben Aufmerksame“ und nur ihnen enthüllen sie ihre Geheimnisse und ihre Liebe.411 Auch Guros imaginärer Sohn412 – Baron Wilhelm von Kranz in „Herbsttraum“, Wilhelm oder Wilja in ihren Tagebüchern und „Der Arme Ritter“ – korrespondierte mit ihrer Idee vom Künstler als einem besonders sensiblen Wesen, dessen Mission es war, Liebe in die Welt zu bringen, der jedoch (wie sie selbst) erkennen musste, dass seine Bemühungen vergeblich waren und er die Gewalt der Welt nicht verhindern konnte.413 Ihre Künstler/Sohn-Figuren tragen Züge von Christus und Zarathustra sowie der literarischen Personen des Harlequin und Don Quixote aber auch von Puschkins armem Ritter, Dostojewskis Fürst Myschkin und Lermontows Dämon414 und beziehen sich auch auf junge Künstler in Guros unmittelbarem Umfeld wie Welimir Chlebnikow, Boris Ender und Wladimir Majakowski.415 Sie alle sind gutmütige Seelen, lebensfremde Träumer und weise Narren, die eine vertiefte Empfindsamkeit für die sie umgebende Welt besitzen, von dieser jedoch verkannt und verschmäht werden.416 Guro verglich den Künstler mit einem kindlichen Träumer, der sich seinen ursprünglichen Zugang zur Natur und den unmittelbaren Kontakt mit Mutter Erde 410 Elena Guro, Tajna, in: Troe, St. Petersburg 1913, S. 95. Vgl. Ljunggren/Nilsson 1988, S. 100. Deutsch in: Eine Ohrfeige 1988, S. 39. 411 Guro 1912–13, zit in: Ljunggren/Nilsson 1988, S. 152–160. 412 Die Behauptung, dass Guro einen Sohn hatte, der vor 1909 starb, und die Schlussfolgerung, dass dieser Verlust ihr gesamtes Schaffen beeinflusste, hat sich durch diese Angabe in Benedikt Liwschiz Erinnerungen lange in der Forschung gehalten. Vgl. Livšic 1989, S. S. 407. Deutsch in: Liwschiz 2004, S. 80. 413 Guro 1910. 414 Banjanin 1982; Gur’janova 1994. 415 Ljunggren/Nilsson 1988, S. 14. Zum Verhältnis von Guro und Boris Ender vgl. Milica Banjanin, Elena Guro and Boris Ender, in: Russian Language Journal, Vol. 37, 1983, Nos. 126–127, S. 103–122; Zoia Ender, Boris Ender 1914–1928, in: Boris Ender 1914–1928, Ausst.-Kat., Rom 1989, S. 29–75; Zoja Ender, Iz rabočich dnevnikov Borisa Endera, 1893–1960, in: Europa Orientalis 12, 1993, S. 1; Zoia Ender, Claudio Masetti, Boris Ender 1893–1960, in: Boris Ender. Pittore d’Avanguardia nell’Unione Sovietica, Ausst.-Kat., Rom 1977, S. 21–30; L. Žadova, Boris Ender 1893–1960, in: Iskusstvo 6, 1976, S. 43–47. Zum Verhältnis von Guro und Chlebnikow vgl. Zoia Ender, Velimir Chlebnikov e Elena Guro, in: Rassegna sovietica 3, 1986, S. 16–37. Zum Verhältnis von Guro und Majakowski vgl. Chardžiev/Trenin 1970, S. 193–195; Jensen 1977, S. 170–187; Banjanin 1982, S. 223–235. 416 Banjanin 1982, S. 227.
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bewahrt hatte.417 Das Kind galt ihr als Symbol ganzheitlicher Welterfahrung, da es noch frei war, die Erscheinungen der sichtbaren äußeren Welt mit der inneren Realität seiner Fantasien zu verbinden. Sie identifizierte seine spielerische Tätigkeit mit echtem Künstlertum.418 Die Betonung der Reinheit und Ursprünglichkeit der Erfahrungen und der Kreativität des Kindes entsprach den neo-romantischen Bestrebungen des Symbolismus und dem Archaismus der Jahrhundertwende, die ihre Weiterführung in den neo-primitivistischen Tendenzen der Avantgarde fanden. Guros Verehrung der schöpferischen Kreativität des Kindes war unmittelbar vom Werk ihres Großvaters beeinflusst, der in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts sowohl eine Zeitschrift für Kinder als auch Märchen und Erzählungen für Kinder herausgegeben hatte.419 Guros Streben nach Reinheit und Unmittelbarkeit des künstlerischen Ausdrucks der vitalen Kräfte der Natur äußerte sich sowohl in der oft kindlichen Perspektive in der Betrachtung der Welt und der einfachen, lautmalerischen Sprache ihrer Gedichte und Prosa als auch in den organischen Formen, natürlichen Farben und der plastischen Einfachheit ihrer Bilder. Der unmittelbare Zusammenhang von Wort, Bild und Klang ist charakteristisch für Guros Werk, ihre Dichtung bestand aus Abfolgen von Bildern und Klängen, in ihrem malerischen Schaffen verband sie impressionistische Skizzenhaftigkeit mit primitivistischer Formenvereinfachung und synthetischmusikalischer Farbkomposition.420 Auf der Grundlage ihrer Beobachtungen von Farbe und Form in der Natur entwickelte Guro das Prinzip der synchronen Farbführung in ihrer Malerei, d. h. sie verwendete unterschiedliche Farben so, dass sie, während sie sich auf der Leinwand entfalten und miteinander wechselwirkten, sich in ihrer Wirkung gegenseitig abschwächen oder verstärken.421 Matjuschin bezeichnete ihr künstlerisches Streben nach einem harmonischen Gleichgewicht von Farbe und Form durch musikalischkonstruktive Mittel als „Synthetizismus“ und begann in den 1920er Jahren gemeinsam mit seinen Studenten, Guros intuitive Verwendung der Farbe systematisch zu untersuchen. Dabei entwickelte er ihre Dynamik der Mehrfarbigkeit zur Theorie der Verbindungsfarbe weiter, in der eine dritte Farbe die Grund- und die Komplementärfarbe miteinander verbindet.422 417 Guro 1912. Der Held des Buches ist der 18 jährige Baron von Kranz, ein Träumer, der Blumen und Tiere liebt, eine Don Quichote oder sogar Christus ähnliche Figur. Für dieses Verständnis vom Dichter vgl. auch Guro 1914, S. 19, 44; Banjanin 1982, S. 221–235. 418 Kalina-Levine 1981, S. 30–43. 419 Matjušin, Russkie kubo-futuristy 1932–34, in: Chardžiev 1976, S. 135–136. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S. 109–110. 420 Für die plastische Einfachheit ihres Bildaufbaus ist mehrfach der Einfluss bzw. ihre Umbildung der kubistischen Formensprache geltend gemacht worden, die, wenn überhaupt relevant, jedoch vollkommen von ihrer malerisch-impressionistischen Haltung und kindlich-primitivistischer Formensprache überlagert ist. 421 Kovtun 1977, S. 325. 422 M. V. Matjušin, Zakonomernost’ izmenjaemosti cvetovych sočetanij. Spravočnik po cvetu, Moskau, Leningrad 1932, S. 23–32.
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7 Jelena Guro, Winterlandschaft, 1910, Staatliches Majakowski-Museum, Moskau
Der enge Zusammenhang von Dichtung, Malerei und Musik und ihr einander ergänzender Charakter wird besonders in der Vielzahl der von Guro zwischen 1905 und 1913 geschaffenen Buchillustration deutlich. Sie konzipierte sowohl die literarische Handlung als auch die bildlichen Darstellungen ihrer Bücher, wobei sie im Entstehungsprozess oft in beiden Medien zugleich arbeitete. Die Hinwendung zur Tuschezeichnung um 1906 brachte einen deutlichen Wandel in ihrem graphischen Stil und führte sie zu einer zunehmend abstrakteren Formensprache. Wie die großen Meister des Ostens bediente sich Guro in ihrer graphischen Arbeit des Pinsels und der Tusche und schuf mit der zügigen Bewegung weich fließender Linien feste Formen von innerer Geschlossenheit und Klarheit. Illustrationen wie zu Beispiel „Winterlandschaft“ von 1910 (Abb. 7) haben mit ihrer sparsamen und klaren Linienführung etwas von dem Charakter chinesischer Tuschzeichnungen, die den Kraftlinien und Bewegungsrhythmen der Natur folgen. Guro proklamierte weder ein neues Kunstkonzept, noch schuf sie eine eigene Stilrichtung oder Schule.423 Mit der ihr eigenen, leisen und aus der inneren Tiefe ihres Wesens kommenden Art lebte sie ihre Überzeugungen und pflanzte ihre Ideen von Natur, Kunst und Leben in die Herzen ihrer Freunde und Künstlerkollegen. Ihre reli423 Vgl. Nina Gur’janova, Ėstetika anarchii v teorii rannego russkogo avangarda, in: Voprosy iskusstvoznanija 9, Februar 1996, S. 395.
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giöse Verehrung der Natur, ihre mütterliche Zuneigung zu allen Kreaturen und Gottes gesamter Schöpfung sowie ihr Mitgefühl für alle Hilflosen und Schwachen machte sie für ihre Zeitgenossen zu einem besonderen Geschöpf – gleichermaßen verehrt wie unverstanden. Benedikt Liwschiz sah in ihr ein Wesen, das einer anderen Welt angehörte: „Im Besitz des Schlüssels zu den Rätseln der Welt, schaute sie aus der Höhe der Geheimnisse, die ihr allein bekannt waren sanft herab auf vergebliche Lebensweisheit.“424 Jewgeni Kowtun hat sie als eine Frau charakterisiert, die auf Erden und im Himmel gleichermaßen ein- und ausging und deren unermüdliche sittlich-religiöse Suche sie vom Buddhismus über die Theosophie zurück zum Christentum führte.425 Mit ihrem künstlerischen Werk spannte Guro einen Bogen vom Impressionismus und Symbolismus bis zum Expressionismus und Kubo-Futurismus und verband in einzigartiger Weise das Alte mit dem Neuen. Begeistert von der Musik Alexander Skrjabins und Claude Debussys, den Bildern von Jelena Polenowa und Wiktor Borissow-Mussatow, dem symbolistischen Schaffen von Francis Vielé-Griffin und Emile Verhaeren sowie von Alexander Block und Andrei Bely und unter dem Einfluss der deutschen Romantiker, der französischen Symbolisten und der nordischen Expressionisten entwickelte Guro ihren eigenen künstlerischen Stil, den sie in der Dichtung bis zu futuristischen Wortschöpfungen und in der Malerei zum Synthetizismus weiterführte.426 Ihre einzigartige Persönlichkeit, ihre tiefgründigen Auffassungen von der Welt und vom Leben, ihre mütterliche Betrachtungsweise der Natur, ihre unmittelbare Beziehung zum Planeten Erde ebenso wie die Ernsthaftigkeit ihres künstlerischen Schaffens hatten große Ausstrahlungskraft und übten nachhaltigen Einfluss auf die künstlerische Entwicklung von Kamenski, Majakowski, Krutschonych, Chlebnikow, Malewitsch u. a. aus. Ihr Naturverständnis und ihre musikalische Farbauffassung bildeten den Ausgangspunkt für Matjuschins Organische Kultur, und unabhängig von Matjuschins Lehrtätigkeit hatte Guro auch direkten Einfluss auf die künstlerische Entwicklung von Boris Ender.427 Der frühe Tod von Guro 1913 scheint der St. Petersburger Avantgarde sofort als tiefer und schmerzlicher Verlust bewusst geworden zu sein; Jeremy Howard führte sogar den Zerfall des Bundes der Jugend 1914 auf ihren Tod zurück.428 Ihrem Anden424 Livšic 1989, S. 406. 425 Kowtun 1991, S. 34–39. 426 Zur Einordnung ihrer Dichtung vgl. Banjanin 1974, S. 302–316; Jensen 1977; Markov 1968. Für ihr künstlerisches Werk vgl. Gur’janova 1990, S. 87–99; diess. Ot impressionizma k abstrakcii. Živopis’ i grafika Eleny Guro, in: Iskusstvo, 1992, Nr. 1, S. 53–59; Kovtun 1977, S. 317–326; ders. 1991, S. 34–39. 427 Zum Einfluss auf Kamenski vgl. Kamenskij 1910; Markov 1968, S. 29–32; Chardžiev/Gric 1938, S. 41. Zum Einfluss auf Majakowski vgl. Chardžiev/Trenin 1970, S. 193–195; Jensen 1977, S. 170–187; Banjanin 1982, S. 223–235. Zum Einfluss auf Chlebnikow vgl. Ender 1986, S. 16– 37. Zum Einfluss auf Boris Ender vgl. Banjanin 1983, S. 103–122; Ender 1989, S. 29–75; diess. 1993, S. 1; Ender/Masetti 1977, S. 21–30; L. A. Žadova, B. V. Ender o cvete i cvetovoj srede, in: Techničeskaja ėstetika 11, 1974, S. 5–8; diess. 1976, S. 43–47. 428 Howard 1992, S. 179.
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ken war 1913 sowohl die Herausgabe des futuristischen Gedichtbandes „Die Drei“ mit Texten von Guro, Chlebnikow, Krutschonych, Illustrationen von Malewitsch und einer Einführung von Matjuschin als auch eine posthume Ausstellung im Bund der Jugend gewidmet. In ihrem in „Die Drei“ veröffentlichten Vermächtnis klang noch einmal Guros tiefer Glaube an die Kraft der Kunst und an die Rolle des Künstlers als dem einzigen, der, indem er sich selbst treu bleibt, durch selbstlose Liebe die Natur zu bewahren und die Welt zu erretten vermochte, an. In mütterlicher Verantwortung gegenüber Natur und Menschheit erinnerte sie ihre Künstlerkollegen noch einmal an ihre moralische Verpflichtung gegenüber der gesamten Schöpfung und an ihre Mission in der Welt: „Schwört, die ihr fern oder nah seid, die ihr auf Papier mit Tinte malt, auf den Wolken mit eurem Blick, und auf der Leinwand mit Farbe, schwört, das einmal geschaffene – herrliche – Gesicht eures Traums niemals zu betrügen noch zu verleumden, sei es die Freundschaft, sei es der Glaube an die Menschen oder an eure Lieder.“429
Und Matjuschin resümierte im Vorwort desselben Bandes: „Als Ganzes, als Person, als Künstlerin, als Autorin, mit ihren besonderen, überirdischen Wegen, die sie im Leben und in der Kunst begeht, ist sie eine außergewöhnliche, für die moderne Zeit mit ihren Bedingungen fast unverständliche Erscheinung. Vielleicht ist sie als Ganzes – per se – ein Zeichen. Ein Zeichen dafür, dass die Zeit gekommen ist.“430
Die von Guro gefeierte spirituelle Einheit von Natur und Kunst fand ihre Fortsetzung in der Verehrung ihrer Person und ihrer Werke. Künstler der St. Petersburger Avantgarde pflegten an ihrem Grab inmitten der karelischen Landschaft bei Uusikirkko zusammenzukommen, wo eine Bank mit eingebautem Bücherregal für ihre Werke aufgestellt worden war. Ihre Stücke „Harlekin“, „Im verschlossenen Kelch“, „Herbsttraum“ und „Himmlische Kamelfohlen“ wurden in den 1920er Jahren von Matjuschin und seinen Studenten als synthetische Gesamtkunstwerke aufgeführt.
2. Die Herausbildung von Michail Matjuschins organischem Weltverständnis Matjuschin und Guro (Abb. 8) verbrachten etwa zehn Jahre ihres Lebens miteinander, diese waren die produktivsten Jahre in Guros Leben und die formativen Jahre in Matjuschins künstlerischer Entwicklung, die Zeit, in der er sich nicht nur mit der Musik, sondern auch mit der Malerei beschäftigte. Von Guro lernte Matjuschin die unmittelbare Betrachtung der Natur und die Fähigkeit, mit liebevoller Behutsamkeit „die komplizierten Prozesse von Wachstum, Bewegung, Auflösen, Absterben, Ent429 Elena Guro, Obeščajte, in: Troe 1913, S. 96. Deutsch in: Hausbacher 1996, S. 207; Eine Ohrfeige 1988, S. 38. 430 Michail Matjušin, [ohne Titel], in: Troe 1913, S. 4. Deutsch in: Hausbacher 1996, S. 18.
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falten der Masse der verschiedenartigen irdischen Gewebe zu erfassen“.431 Nach Guros Vorbild begann er im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts danach zu streben, in seinen Zeichnungen das Wesen von organischem Wachstum und natürlicher Bewegung zu erfassen, die Dinge in seinen Bildern wachsen und sich bewegen zu lassen, gerade so, „wie alles Lebendige in der Natur wächst und sich bewegt“.432 In diesen Jahren, die von intensiver geistiger Auseinandersetzung und produktivem künstlerischen Schaffen geprägt waren, legte Matjuschin in der künstlerischen Zusammenarbeit mit Guro den Grundstein für die Formulierung seiner Organischen Kultur. Matjuschin, der immer wieder den starken Einfluss, den Guro auf ihn ausübte, hervorgehoben und vielerorts auf ihre große Nähe im Weltverständnis und in den künstlerischen Auffassungen verwiesen hat, resümierte in den 1930er Jahren:
8 Jelena Guro und Michail Matjuschin in ihrer Wohnung in St. Petersburg, ca. 1910
„Vor allem sind Guro und ich eine untrennbare Einheit. Nur wenn man das als Ausgangspunkt nimmt, kann man auch hinter einige unbedeutende Unterschiede in den Einzelheiten des Ganzen kommen. Wir beeinflußten einander gegenseitig, indem wir uns ergänzten und vervollkommneten. Und das seit 1903, dem Jahr, wo wir einander näher kamen.“433
Zugleich muss jedoch betont werden, dass Guro und Matjuschin ihrer Natur nach sehr unterschiedliche Persönlichkeiten waren. Während Guro eine wahrhaft spirituell veranlagte Frau war, die ihre künstlerische Inspiration von ihrer inneren Welt empfing, speisten sich Matjuschins Ideen und seine künstlerische Inspiration aus der unmittelbaren Beobachtung seiner Umwelt, der Analyse des Gesehenen und der Verarbeitung von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Guro versetzte „sich beim Be431 Matjušin, Russkie kubo-futuristy 1932–34, in: Chardžiev 1976, S. 139. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S. 115. 432 Ebenda, S. 140. Deutsch in: ebenda. 433 M. V. Matjušin, Obo mne, RO IRLI, F. 656, Ed. 49, zit. in: Povelikhina 1991, S. 33.
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obachten selbst in das Beobachtete“, sie richtete ihre gesamte geistige und physische Kraft auf die Natur, und die Natur enthüllte ihr wie keinem anderen die Geheimnisse des Wachsens und der Bewegung sowie ihre Liebe.434 Matjuschin hingegen strebte nach neuen Einsichten über die Welt durch die Systematisierung und Synthese von Beobachtungen, Sinneswahrnehmungen und Wissen. Olga Matjuschina, Matjuschins Schülerin und dritte Ehefrau, erinnerte sich an den grundlegenden Unterschied in der Natur dieser beiden Künstler: „Michail Wassiljewitsch versuchte Guro zu verstehen, doch gelang ihm das mehr schlecht als recht. Nach Guro verflüchtigte sich die Atmosphäre [in – I.W.] einer über den Wolken liegenden Welt. Michail Wassiljewitsch wollte Zugang zu ihr finden, doch als Realist fehlte ihm der Glaube.“435
Während Guro, die tief im romantischen Denken und im Symbolismus verwurzelt war, die Natur in ihren unmittelbaren und subjektiven emotionalen Qualitäten erlebte, versuchte Matjuschin seine systematischen Naturbeobachtungen mit seinen Sinneseindrücken und seinem intellektuellen Wissen zu vereinen. Guro folgte ihrem inneren Ruf und schuf ihre Werke in Übereinstimmung mit ihrem Glauben und ihren inneren Überzeugungen – eine Tatsache, die sie so faszinierend für Matjuschin, Kamenski, Chlebnikow, Krutschonych, Majakowski und andere Kubo-Futuristen machte. Matjuschin, der von ihrem Glauben und ihrem Weltverständnis tief beeindruckt war, versuchte sich über Wille und Verstand an ihre Ideen und Vorstellungen anzunähern. Dabei strebte er danach, alle ihm wichtig erscheinenden künstlerischen Entwicklungen und Errungenschaften des menschlichen Denkens zusammenzutragen und diese in einer umfassenden Synthese zu einer neuen Weltanschauung zusammenzuführen. Guros emotionale und religiöse Beziehung zur Natur war von kindlicher Unmittelbarkeit und Unbefangenheit, Matjuschins künstlerische Aktivitäten entsprangen seinem Verlangen, durch die Neuorganisation des künstlerischen Vermögens der Menschheit und der Gesamtheit des menschlichen Wissens ein komplexes Verständnis von der Welt zu erlangen. Guros und Matjuschins Weltsicht unterschied sich auf Grund der Verschiedenartigkeit ihrer Persönlichkeiten und Überzeugungen grundlegend voneinander. Guro und Kulbin betrachteten die organische wie die anorganische Natur als beseelt; alle Erscheinungen des Universums stellten sich ihnen als Manifestationen der Weltseele dar, denen das Leben als Potenz innewohnt. Guro verehrte die Natur und versah ihre Gebilde mit Leben und Seele, sie empfand ein tiefes Mitgefühl für alle lebenden Wesen aber auch für die Erscheinungen der anorganischen Natur, sie sprach von Steinen, Blumen, Bäumen, Tieren, Bergen u. a. als beseelten Geschöpfen. Matjuschin hingegen war Monist, er betrachtete das Universum als absolut und unendlich und betonte die 434 Banjanin 1986, S. 232. 435 Interview von Jewgeni Kowtun und Alla Powelichina mit Olga Matjuschina vom 7. August 1974. Das Manuskript befindet sich im Nachlass von Jewgeni Kowtun. Deutsch in: Kowtun 1991, S. 35. Vgl. auch O. Matjušina, Prizvanie, in: Zvezda 3, 1973, S. 137–153.
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natürliche Einheit und den Zusammenhang aller Existenzformen der Natur. Dabei begriff er die Erde als einen einzigen, riesigen und autarken Organismus, der von der Einheit von Materie und Geist bestimmt ist und einen Teil des universellen Makrokosmos bildet. Er stellte die Ganzheit des Weltorganismus über die einzelnen Erscheinungsweisen der Natur bzw. er begriff letztere als integralen Bestandteil des Ganzen, die in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander stehen. Charakteristisch für organisches Denken unterschied er nicht zwischen Materie und Geist als zwei unterschiedlichen Qualitäten der Natur, er verstand beide als Eigenschaften des Lebens selbst, die in unterschiedlichen Naturformen in verschieden Mischungsverhältnissen auftreten. Im Gegensatz zu Guro betrachtete Matjuschin die einzelnen Naturerscheinungen, die Steine, Pflanzen und Tiere, nicht als beseelte Geschöpfe und Manifestationen der Weltseele, sondern als Glieder und Organe des lebendigen Körpers der Erde: „Die Berge sind die ältesten Erhebungen der Erde, und die Täler und Schluchten sind leichte Runzeln in ihrem Gesicht; die Ozeane und Meere sind der Leib, in dem alles Lebende und sich Bewegende empfangen und geboren wurde. Die Oberfläche der Erde – das, was mit dem höheren Raum zusammentrifft – schloß ihr Gerippe, die verborgene Bewegungsart, die Kraft, das Geheimnis innerer Glut in sich ein. Ihre Peripherie ist der stärkste Ausdruck ihres Gesichtes.“436
Matjuschins Tun war darauf gerichtet, sich das Universum durch Sinneswahrnehmung, Geist und Vorstellung anzueignen. Zugleich suchte er nach einem grundlegenden, die Welt vereinenden Prinzip. Er begründete die Einheit der Welt mit Gemeinsamkeiten im Bau von allen Lebewesen, von Pflanzen, Tieren und dem Menschen sowie mit dem unaufhörlichen Wirken einer universellen Bewegung in allen Erscheinungen der Natur. Zum Beispiel verglich er den Aufbau der Bäume mit dem Skelett der Tiere, er betonte, dass die Zweige des Baumes „den Rippen des Tieres ähneln“ und beide dem Wachstum des jeweiligen Körpers folgen.437 Fernerhin vertrat Matjuschin nicht die romantische Auffassung vom Walten einer göttlichen oder vitalen Kraft bzw. Weltseele in allen Dingen, sondern er ging wie Haeckel und Ostwald im monistischen Sinne von der Einheit von Materie und Geist aus.438 Aufgrund der Identität von Materie und Geist in allen Erscheinungen der Natur war Matjuschin zugleich davon überzeugt, dass alles äußerlich Sichtbare ein Hinweis auf ein unsichtbares verborgenes Inneres ist und dass die einzelnen Dinge und Erscheinungen innerlich miteinander verbunden sind. Die Untersuchung des Verhältnisses 436 Matjušin, Opyt chudožnika 1926, in: Chardžiev 1976, S. 186–187. Deutsch in: Powelichina 1977, S 34. 437 M. V. Matjušin, Ob ostove, RO IRLI, F. 656, Op. 1, Ed. 131, S. 13, zit. in: Povelichina/Vasil’eva/ Pennanen 1996, S. 7–8. 438 Vgl. Ernst Haeckel, Die Welträthsel: Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie, Bonn 1899; Wilhelm Ostwald, Grundriß der Naturphilosophie, Leipzig 1908. Mit Haeckel teilte Matjuschin auch die Überzeugung, dass die Natur die größte Künstlerin sei und der Künstler sich an ihrem Schaffen orientieren müsse. Vgl. Ernst Haeckel, Kunst-Formen der Natur, Leipzig, Wien 1904; ders., Die Natur als Künstlerin, Berlin 1913.
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des Einzelnen zu seiner Umwelt und zum großen Ganzen sollte zu einer der Hauptproblemstellungen in seinem künstlerischen Schaffen werden. Matjuschin und Guro verstanden sich als Impressionisten, fühlten aber, dass sie unabhängig von ihren französischen Vorbildern neue, eigene Wege beschritten: „Guro und ich waren Impressionisten, aber auf unsere eigene Weise. Wir richteten viele Gedanken und die Diskussion auf die Frage, wie das versteckte Leben, die inneren Kräfte, die das konstruieren, was sichtbar ist, zusammen mit der Bewegung die alles informiert, im Bild zu zeigen.“439 Damit standen sie in der Nachfolge von Kulbins psychoimpressionistischer Kunstauffassung. Doch während Kulbin dem Künstler gestattete, frei auszuwählen, was er darzustellen beabsichtigte, um das Bild unabhängig von einer festgelegten Interpretation zu schaffen, konzentrierten sich Guro und Matjuschin stärker auf die Darstellung von sorgfältig ausgewählten Naturausschnitten und die Repräsentation von Gegenständen in ihrer natürlichen Umgebung. Zugleich bestimmte Kulbins und Guros pantheistische Naturauffassung und ihre Verwurzelung im Symbolismus ihr künstlerisches Interesse an den unmittelbaren Verbindungen zwischen dem Bewusstsein des Künstlers und der Natur bzw. dem ausgewählten Bildgegenstand. Matjuschin hingegen beschäftigte sich stärker mit dem Wesen und der Darstellung der visuellen und räumlichen Wahrnehmung des Menschen. Er beschränkte sich fast ausschließlich auf Landschafts- und Porträtdarstellungen; seine erhaltenen Werke aus der Zeit um 1910 bestehen aus einer Vielzahl unterschiedlicher Landschaftsstudien, die auf seinem „erweiterten Farbimpressionismus“ gründeten.440 Mit diesem, seinem Farbimpressionismus strebte Matjuschin nicht nach der Darstellung der momentanen Erscheinung eines bestimmten Naturausschnittes, sondern er versuchte, dem wahren Wesen der Natur auf die Spur zu kommen und dieses durch die Verwendung von organischen Formen und natürlichen Farben künstlerisch darzustellen. Seine Werke sind Repräsentationen des organischen Lebens der Natur, sie nehmen seine Theorie des räumlichen Realismus vorweg, die auf der Wahrnehmung einer durch ständige Beobachtung und Analyse veränderten Welt gründete.
Die universelle Bewegung der Natur in den Wurzelskulpturen Zwischen 1905 und 1913 verbrachten Guro und Matjuschin viel Zeit in der Natur um St. Petersburg und auf ihrer Datsche nahe dem finnischen Uusikirkko, wo sie die Erscheinungsweisen der nordischen Landschaft studierten und sich in ihrem künstlerischen Schaffen mit Ideen wie der Ganzheitlichkeit des Universums und der Frage nach der inneren Verbundenheit zwischen allen Lebensformen beschäftigten. 439 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, in: Experiment / Eksperiment: A Journal of Russian Culture, Vol. 1, Los Angeles 1995, S. 213. Jean-Claude Marcadé ist auf die Verbindung von Impressionismus und nordischem Expressionismus im malerischen Werk von Matjuschin und Guro eingegangen. Vgl. ders., Le Futurisme Russe, Paris 1989, S. 26. 440 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, S. 62. Vgl. Matjuschins Bilder aus dieser Zeit im Staatlichen Museum für Geschichte der Stadt St. Petersburg.
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In romantischer Tradition sah Guro in jeder Pflanze und in jedem einzelnen Baum ein lebendiges Wesen, das seine eigene Entwicklung vollzog und einem bestimmten Lebenszyklus folgte.441 Matjuschin hingegen betrachtete die Bäume als lebendigen Teil der Natur, er bezeichnete sie als die Lunge des Erdkörpers und identifizierte ihre Wurzeln und Zweige mit den Nervenbahnen des Gesamtorganismus der Erde: „Die Äste, die sich verjüngen und in den Himmel streben, ähneln den Bronchien, der Grundlage des Atmens.... die heilige Erde atmet durch sie, die Erde atmet durch den Himmel und vollzieht dabei den Kreislauf des Austauschs von irdischen und himmlischen Stoffen. Dabei sind sie auch Zeichen eines anderen Lebens.“442 In der Erscheinung der Bäume, insbesondere in der Gestalt der nordischen Kiefern, fand Matjuschin Bestätigung für seinen Glauben, dass alle Formen in der Natur durch unsichtbare, universelle Bande miteinander verbunden sind, denn indem die Wurzeln des Baumes sich in das Erdreich graben, während sich seine Krone in der Luft ausbreitet, verbindet er den Himmel mit der Erde. Der Baum wurde Matjuschin zum Symbol der Verbindung des Himmels mit der Erde; das Motiv des Baumes als Metapher für kosmische Einheit durchzog sein gesamtes Schaffen, es war besonders ausgeprägt in den zahlreichen Temperabilder, die er zwischen 1909 und 1912 in der Landschaft am finnischen Meerbusen schuf.443 Bilder wie zum Beispiel „Kiefern“ von 1909 (Tafel 4b) sind von weichen und gerundeten Linienformen und natürlichen Gelb-, Grün-, Braun- und Blautönen dominiert.444 Die beiden Kiefern mit ihren frischen grünen Baumkronen im Vordergrund ragen weit über den schmalen Küstenstreifen und die niedrige Horizontlinie hinaus in den Himmel hinein. Die bewegten Wipfel der Kiefern gehen in der Grenzenlosigkeit des Himmels auf, und zu ihren Füßen wachsen neue Schösslinge aus dem Schoß der fruchtbaren Erde. Die klare Grundstruktur von Stamm und Zweigen der jungen Schösslinge zeigt deutlicher als bei den großen Kiefern Parallelen zum Skelett von Tier und Mensch. In diesem und verwandten Bildern versuchte Matjuschin „das Licht und alle jene Farbtöne, die die sichtbare Bewegung und das Leben des gesamten Körpers im Raum darstellen und umfassen“ in einer Mischung von Preußischblau mit Ocker auszudrü-
441 Rosenblum hat diese Verlebendigung der Bäume, die bei den Romantikern bis zu deren Humanisierung ging, als „pathetic fallacy“ bezeichnet. Vgl. Robert Rosenblum, Modern Painting and the Northern Romantic Tradition. Friedrich To Rothko, New York 1975, S. 36–38. 442 M. V. Matjušin, Čuvstvo četvertogo izmerenija, F. 656, Op. 1, Ed. 131, S. 19 in: Povelikhina/ Loshak/Bukreeva 2001, S. 33. Vgl. Dokumente, S. 228. Deutsch in: Powelichina 1977, S. 34. 443 Zu diesen Darstellungen gehören in der Abteilung für vorrevolutionäre Malerei des Staatlichen Russischen Museums die folgenden Tempera-Bilder: Meer, 1909, Studie; Dünen, 1910, Studie; Zwei Kiefern 1910; Kiefern. Oranienbaum, 1911; Dünen, 1911, Studie; Kiefer, 1912, Studie; Finnland, 1912, Studie; Meer, 1912, Studie; Kiefern. Alleinstehendes Gehöft am Meer. Oranienbaum, 1912 sowie die folgenden Bilder in der Abteilung für Malerei des Staatlichen Museum für Geschichte der Stadt St. Petersburg: Kiefern, 1909; Zweig im Himmel, nach 1910; See, 1911. 444 Michail Matjuschin, Kiefern (Sosny), 1909, Öl auf Leinwand, Maße unbekannt, Staatliches Museum für Geschichte der Stadt St. Petersburg, Nr. 1-A-439 ž.
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cken, was vielfach zu einen olivefarbenen Ton führte – einer Farbmischung, mit der er sich besonders im Studio von Ciągliński beschäftigt hatte.445 Wie andere Vertreter des organischen Denkens von Heraklit bis zu Bergson betrachtete Matjuschin Bewegung als eine grundlegende Qualität der Natur, die allen organischen wie anorganischen Formen innewohnt und zu Veränderung und Entwicklung führt. Als grundlegender Ausdruck des Lebens äußerte sich die universelle Bewegung für Matjuschin im natürlichen Prinzip des Wachstums in allen lebenden Organismen, während sie in der anorganischen Natur auf eine potentielle Eigenschaft beschränkt blieb. Die universelle Weltbewegung galt ihm zugleich als Ursache und Ausdruck des inneren Zusammenhangs von Materie und Geist, Physischem und Psychischem, die sich in den Entwicklungsprozessen der Natur durchdrangen. Wie Kulbin unterschied Matjuschin zwischen den einfachen, regelmäßigen Formen der anorganischen Natur und den komplexen Formen der organischen Natur. Während er die gekurvte Linie als die natürlichste Form betrachtete, bewertete er die gerade Linie als Ausdruck der anorganischen Natur. Wie Kulbin glaubte auch Matjuschin, dass die universelle Bewegung den Naturgesetzen folgt, durch Beobachtung aufgedeckt und durch Analyse wissenschaftlich nachgewiesen werden könne. Im Sinne von Ciągliński strebte er danach, die Verbindung von äußerer Form und innerer Struktur im einzelnen Werk zu verfolgen und die universelle Bewegung der Welt zu erfassen. Matjuschin richtete seine Aufmerksamkeit auf das Wachstum der Bäume, insbesondere auf ihre Wurzeln und Zweige, in denen sich für ihn eine ungewöhnlich starke Vitalität und Lebenskraft manifestierte. Er betrachtete diese Naturformen als die vollkommensten Manifestationen der universellen Bewegung der Materie und gelangte zugleich zu der Überzeugung, dass organisches Wachstum seinen Niederschlag generell in geschwungenen und gekurvten Linien findet, während gerade Linien charakteristisch für die anorganische Natur und für mathematische Abstraktion sind. Fasziniert von den Wachstumsprozessen in der Natur begann Matjuschin um 1910, Wurzeln zu studieren, zu fotografieren und zu sammeln. Diese knorrigknotigen Ausdrucksformen der Natur erschienen ihm als Zeichen einer versteckten Naturkraft, die in Stille und Dunkelheit Wachstum bewirkt. Er glaubte: „... die Kraft der Bewegung bei den Wurzeln und Ästen kommt dadurch zustande, daß hier die dreidimensionale Oberfläche, die die Bewegung wiedergibt, völlig mit der eigenen Struktur des durch und durch in dieser Bewegung organisierten Materials zusammenfällt.“446 Bei der Betrachtung und Analyse der universellen Bewegung der Natur entdeckte Matjuschin in der Gestalt von Baumwurzeln und Ästen jenseits aller Zufälligkeit und Verworrenheit nicht nur die Manifestation einer zielstrebig auf Licht und Nahrung ausgerichteten Bewegung, sondern auch Anzeichen des Widerstandes der Bäume gegen den Wind als Ausdruck ihrer Anpassung an die Bedingungen ihrer natürlichen Umwelt. Das Wachstum der organischen Natur offenbarte ihm zugleich ein neues 445 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, S. 58–59. 446 M. V. Matjušin, Dnevnik, Januar 1923, RO IRLI, F. 656, Heft 2, zit. in: Powelichina 1991, S. 27.
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Verhältnis von äußerer und innerer Bewegung und den Zusammenhang der einzelnen Teile mit dem Weltganzen. Unter dem Eindruck der expressiven Kraft von Wurzeln und Ästen begann er das von ihm zusammengetragene Naturmaterial zur Darstellung der menschlichen Bewegung zu benutzen.447 In der Verbindung von Wurzelstücken und Astteilen schuf Matjuschin seine Wurzelskulpturen als eine Serie von stark bewegten Figuren.448 Die kraftvolle Schönheit der Wurzeln und Äste ebenso wie ihre organische Komplexität verkörpern seine Auffassung von der Kunst als kreatürlich wesenhaftem Ausdruck des Lebens und die Idee der Bewegung in der Natur. Zugleich offenbaren organisch-künstlerische Naturgebilde wie die knorrig-rustikale Wurzelskulptur „Urmensch“ (Abb. 9), mit der er die Ungelenkigkeit der ersten Menschen porträtierte, seine Überzeugung, dass organisches Wachstum die Kraft habe, lebendige Wesen zu schaffen.449 Michail Matjuschin, Urmensch, 1912–13, Auch die elegante, raumgreifende Gestalt 9 aus der Serie „Bewegung der Wurzeln“ der Wurzelskulptur „Tanzende“ von 1915–16 (Abb. 10) ist aus verschiedenen Wurzel- und Astteilen zusammengesetzt, die Kopf, Arme und Beine der Figur bilden.450 Die natürliche Struktur des Holzes bestimmt die Physiognomie der Tänzerin, wobei ein mächtiges knotiges Wurzelende den Kopf mit seinem immensen Haarschopf bildet, während die glatten, leicht gebogenen Astteile die lang gestreckten Gliedmaßen formen. Die natürlich gewachsene Form der Teile konstituiert den Eindruck von schneller 447 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, S. 142. 448 In der Abteilung für vorrevolutionäre Skulptur des Staatlichen Russischen Museums befinden sich die folgenden Wurzelskulpturen, die Matjuschin 1915–16 schuf: Laufende, Statuette aus Wachholderbeerholz; Gehende, Sitzende, Tanzende sowie Venus, stilisierte Figuren aus Stammholz, undatiert. Vgl. auch Fotografien im RGALI, F. 134, Op. 2, Ed. 26. 449 Michail Matjuschin, Urmensch (Pervobytnyj čelovek), ca. 1912–13, Wurzelskulptur, zerstört. Powelichina datiert die Skulptur auf 1914, vgl. Povelikhina/Loshak/Bukreeva 2001, S. 62–63. Da dieses Werk jedoch bereits Anfang 1914 über Iwan Punis Frau, Xenja Boguslawskaja, zu Iwan Lebedejew nach Paris geschickt wurde, und dort im Salon des Independants vom 1. März bis 30. April 1914 und nicht im Herbstsalon 1914 ausgestellt war, vgl. Y. Kovtun, Matiushin’s Roots, in: Devoted to the Russian Avant-Garde. In Memory of Yevgeny Kovtun, St. Petersburg 1998, S. 24, ist ein früheres Entstehungsdatum wahrscheinlicher. Vgl. auch C. Core [K. Kor], Michail Matyushin / Michail V. Matjušin (1861–1934), in: A-Ya. Contemporary Russian Art, No. 6, 1986, S. 53. 450 Michail Matjuschin, Tanzende (Tancujuščaja), 1915–16, Statuette aus Wurzelholz; 44,0 x 46,5 x 18,0 cm; Staatliches Russisches Museum St. Petersburg, SK–815 (776).
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und eleganter Bewegung der Figur im Raum; der statische Körper der Tänzerin ist zugunsten ihrer dynamischen Erscheinungsweise auf ein Minimum reduziert. In dieser wie in allen anderen Wurzelskulpturen gestattete Matjuschin dem Naturmaterial, an dem er nur geringe akzentuierende Veränderungen vornahm, die Dynamik der Komposition zu bestimmen, um die der Natur zugrunde liegenden Rhythmen zum Ausdruck zu bringen. Er war überzeugt, dass jedes beliebige Stück Holz, Eisen, Stein, u. a., das durch die starken Hände der Intuition des Künstlers ging, ein stärkeres Zeichen Gottes zum Ausdruck bringt als deren „objektive Porträtierungen“.451 Matjuschin stellte seine Wurzelskulpturen erstmals im Winter 1912– Michail Matjuschin, Tanzende, 1915–16, Statuette 13 aus. In der sechsten Ausstellung des aus Wurzelholz, Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg Bundes der Jugend in St. Petersburg zeigte er neben vier Landschaftsbildern die Wurzelskulptur „Ästchen. Komposition“.452 1914 sandte er sogar zwei seiner Wurzelskulpturen, die Werke „Tänzer“ und „Urmensch“, zum Salon des Indépendants nach Paris.453 Die Werke verblieben aufgrund des Ausbruchs des ersten Weltkriegs bei Iwan Lebedejew in Paris, dem es jedoch nicht gelang, sie zu erhalten.454 Die umfassendste Kollektion seiner Skulpturen präsentierte er unter dem Titel „Bewegung der Wurzeln“ auf der Ersten Freien Staatlichen Kunstausstellung 1919 im Winterpalast in Petrograd, zu diesem Anlass zeigte er zehn seiner Wurzelskulpturen
451 M. V. Matjušin, Tezisy k stat’e „Put’ znaka“, 1919, RO IRLI, F. 656, Op. 1, Nr. 133, zit. in: Povelichina/Vasil’eva/Pennanen 1996, 1996, S. 8. 452 Michail Matjuschin, Ästchen. Komposition (Sučki. Kompozicija), Wurzelskulptur, Entstehungsjahr, Maße und Verbleib unbekannt. Evgeni Kowtun behauptet, dass diese Wurzelskulptur bereits in einer früheren Ausstellung des Bundes der Jugend im Dezember 1911 / Januar 1912 zu sehen war, vgl. Kovtun 1998, S. 24; im Ausstellungskatalog ist das Werk jedoch nicht aufgeführt. 453 Vgl. Salon des Indépendants, Ausst.-Kat., Paris 1914. Michail Matjuschin, Tänzer (Tanec) und Urmensch (Pervobytnyj čelovek), Wurzelskulpturen, ca. 1912–13, zum Verbleib vgl. Kovtun 1998, S. 24–25. Vgl. auch Brief von Xenja Boguslawskaja an Iwan Lebedejew vom 22.1.1914 in: Devoted to the Russian Avant-Garde 1998, S. 28–29. 454 Kovtun 1998, S. 24–25.
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11 Michail Matjuschin mit seinen Wurzelskulpturen in der Ersten Freien Staatlichen Kunstausstellung im Winterpalast in Petrograd, 1919
gemeinsam mit Filonows analytischen Gemälden. (Abb. 11).455 Diese Ausstellung war zugleich ein Beweis dafür, dass auch nach der Oktoberrevolution organische Tendenzen im künstlerischen Schaffen der Avantgarde öffentlich gezeigt wurden. Matjuschin glaubte, dass die Verwendung von Naturmaterialien wie Wurzeln und Ästen in der neuen Kunst Russlands Zukunft haben würde und verwies zugleich auf deren organische Verbindung mit der russischen Volkskunst. So benutzten die Bauern in verschiedenen nordischen Regionen Äste und Wurzeln zur Dekoration ihrer Hütten, Tore und Brunnen. Er betonte, dass „dieses Material, das so lebendig in seiner Bewegung und so leicht formbar ist“ eine ungewöhnlich vielfältige und prachtvolle kunsthandwerkliche Produktion erlaubt; er war überzeugt, dass „das neue Russland in naher Zukunft im Volkskunststil geschmückt sein wird“ und dieser eine neue, großartige Quelle für das künstlerische Schaffen bilden würde.456 Matjuschins Wurzelskulpturen sind natürliche Gebilde, die ganz im Sinne von Ernst Haeckel sein künstlerisches Bewusstsein für natürliche Schönheit und seine Anerkennung der Natur als der innovativsten Schöpferin und als Modell für die eigene Tätigkeit demonstrieren. Wie andere organische Konzeptionen von den ionischen Naturphilosophen über den Pantheismus bis zur Lebensphilosophie gründete Matjuschins Weltanschauung auf der Idee von der Einheitlichkeit des Kosmos und dem Verständnis von Bewegung als einem grundlegenden universellen Prinzip. Obwohl seine Wiederentdeckung der Natur stark von Guros pantheistischen Ideen und 455 Dort zeigte er unter dem Titel „Bewegung der Wurzeln“ folgenden Figuren: Venus, Don Quichote, Tänzer, Faun, Gedanke, Chimäre, 2 Primitive, Wirbelwind, Zauberer. Vgl. Katalog pervoj gosudarstvennoj svobodnoj vystavki proizvedenij iskusstva, Ausst.-Kat., Petrograd 1919. 456 M. V. Matjušin, Skul’ptura kornej i sučkov, RO IRLI, F. 656, Op. 2, Ed. 22. Vgl. auch Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, in: Experiment / Eksperiment 1995, S. 215.
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Kulbins psycho-impressionistischer Kunsttheorie beeinflusst wurde, war Matjuschin der erste, der die Kunst als Lebenskultur auf der Grundlage einer holistischen Weltauffassung etablierte, oder wie Alla Powelichina formulierte: „Matjuschins kreativer Weg war organische Wahrnehmung der Welt.“457 Bezugnehmend auf das Platonische Konzept der Fülle, war die Natur für Matjuschin unbegrenzt in ihrem Potential und deshalb sowohl Modell als auch unerschöpfliche Quelle für künstlerisches Schöpfertum. Dabei bestand der schöpferische Weg in der Kunst für ihn nicht darin, die Natur zu imitieren, sondern darin, ihren kreativen Prinzipien zu folgen: „Unser Lehrer ist die Natur, und niemals kann man von der Betrachtung der Natur abgehen... Um ihr schöpferisches Wesen stärker zum Ausdruck bringen zu können, muss man frei betrachten, darf sich nicht an bekannte Details klammern, darf nicht fürchten, Altes bei der neuen Widerspieglung der Wirklichkeit zu verlieren. Wenn man sich in ungewöhnliche Betrachtungsbedingungen versetzt, vermittelt sogar die sorgfältige Wiedergabe des Scheins ein unerwartetes, noch nicht gesehenes Bild.“458
Matjuschin machte die Natur nicht nur zum Ausgangspunkt der Kunst, sondern betrachtete sie als das wahre Wesen der Kunst. Dennoch stellten seine Wurzelskulpturen ebenso wie seine impressionistische Malerei nur ein zeitweiliges Stadium in seiner künstlerischen Entwicklung dar. Nach 1916 war er nicht länger daran interessiert, die unmittelbaren Erscheinungen der Natur darzustellen oder organische Materialien in seiner Kunst zu verwenden. Wenn er 1923 verkündete: „ich war der erste, der eine Rückkehr zur Natur signalisierte“,459 dann vertrat er mit dieser Aussage eher Guros Bestrebungen als seine eigenen künstlerischen Ziele, da er zu diesem Zeitpunkt die Kunst bereits als ein bedeutendes Mittel begriff, um das menschliche Bewusstsein von der Welt zu erweitern.
Die Erfahrung des unendlichen Raumes in der Natur Wie Guro betrachtete auch Matjuschin den Künstler als eine Person, die von Natur aus mit besonderer Sensibilität und Weisheit ausgestattet worden war. Für Matjuschin war es deshalb Gabe und Berufung des Künstlers, die Welt in ihrer organischen Ganzheitlichkeit zu sehen, zu erfassen und zu vermitteln. Der Künstler, so schreibt er, „hat die Welt ohne Grenzen und Teilungen gesehen.... Er sieht das Fluktuierende aller Formen und ahnt, daß alles Sichtbare einfacher Körper und Formen nur die Spur eines höheren Organismus ist, der mit allem Sichtbaren genauso zusammenhängt wie der Himmel mit der Erde.“460 457 Powelichina 1977, S. 28. 458 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, Exemplar RO GMISPb, S. 220. Deutsch in: Powelichina 1977, S. 28. 459 Ebenda. 460 Matjušin, Opyt chudožnika 1926, in: Chardžiev 1976, S. 186. Deutsch in: Alla Powelichina, Michail Matjuschin – die Welt als organisches Ganzes, in: Klotz 1991, S. 26.
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Auf der Grundlage seiner Naturstudien entwickelte Matjuschin ein neues Verständnis vom universellen Raum. Die Beobachtung der organischen Entfaltung des Pflanzen- und Tierreiches lehrte ihn, dass alle Lebewesen aus organischen Elementareinheiten, den Zellen, aufgebaut sind, und dass sich ihr Wachstum von einem zentralen Ursprungszentrum simultan in alle Richtungen ausbreitet. Das Prinzip der natürlichen Entwicklung des Lebens als eine Bewegung von einem Zentrum zur Peripherie fand Matjuschin sowohl in den Wachstumsprozessen der Pflanzen, in der Entfaltung von einzelligen Organismen und der Entwicklung des befruchteten Eies von höher entwickelten Lebewesen als auch in den langsamen Rhythmen der anorganischen Natur und in der Ausbreitung von elektromagnetischen Wellen im Raum bestätigt. Diese Beobachtungen führten ihn zu der Einsicht, dass es kein oben und unten, rechts oder links gibt, sondern dass der Raum in alle Richtungen und in allen Punkten einheitlich ist. Die Überzeugung, dass der Raum homogen und unendlich ist, und alle Erscheinungen im selben Raum existieren, bedeutete für Matjuschin zugleich, dass es nicht ein einziges Zentrum im Universum gibt, sondern dass jeder Punkt des Universums zu einem schöpferischen Ursprungszentrum werden konnte. Matjuschin schlussfolgerte aus seinen Beobachtungen, dass die traditionelle Wahrnehmung und die perspektivisch-dreidimensionale Bildkonstruktion des Raumes inadäquat zur Natur ist und der Mensch nur die Hälfte der tatsächlichen Wirklichkeit wahrnimmt, weil er den Raum in eine Richtung, vorwärts von der zentralen Position des Betrachters projiziert, während er tatsächlich vollständig vom Raum umgeben ist. Er gelangte zu der Überzeugung, dass sich jede Linie, die von ihm aus nach vorn in den Raum führt, durch ihn hindurch nach hinten – als eine Linie „zurück“ in entgegen gesetzte Richtung – fortsetzt. Die Linie „nach vorn“ und „nach hinten“ war ihm etwas, was noch nicht vom menschlichen Bewusstsein entdeckt worden war, weil der Mensch bisher der Linie der dritten Dimension von vorn nach hinten mit seinem Körper eine Grenze gesetzt hatte, genauso wie die Erde die Grenze für die Linie von oben nach unten bildete.461 Mit der Aufhebung der dinglichen Begrenzungen der menschlichen Wahrnehmung schuf Matjuschin nicht nur eine Erweiterung der räumlichen Wahrnehmung des Menschen, sondern zugleich das Bewusstsein von einer neuen, bisher vollkommen unbekannten Richtung, die er als „neues Perpendikular“ bezeichnete. Er charakterisierte dieses folgendermaßen: „Die Linie führt von mir aus nach vorn in die Unendlichkeit, mein Wille schuf eine neue Bewegung der Linie in absolut entgegengesetzte Richtung.“462 Matjuschin gelangte zu der Überzeugung, dass mit dem Empfinden eines Raumes, in dem alle Richtungen gleichwertig sind, da es kein Oben, kein Unten, keine Seiten gibt, „das Gefühl der Anziehungskraft der Erde verschwindet“ und „das Empfinden einer neuen räumlichen Dimension entsteht“.463 Das neue Perpendikular, das Lot, das sich durch alle Punkte der Erde und durch den Erdmittelpunkt in den un461 Matjušin, Opyt chudožnika 1926, in: Chardžiev 1976, S. 180. 462 Ebenda. 463 Ebenda, S. 179.
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endlichen Raum fortsetzt, bildete für ihn zugleich ein neues Kraftzentrum im Raum. Der allseitig wahrnehmbare und unendliche Raum des Universums erhielt für Matjuschin geradezu religiöse Erhabenheit, er füllte den Platz eines vertriebenen Gottes und forderte den Menschen zu seiner Wahrnehmung und Bewusstwerdung heraus. Matjuschins neue Auffassung vom Raum mit ihrer Simultanität der Bewegungen nach vorn und nach hinten, nach oben und nach unten, nach rechts und nach links bildete zugleich die Grundlage für sein Verständnis vom Volumen der Körper. Er strebte danach, die unzureichende und fragmentarische Visualisierung des dreidimensionalen Volumens der Gegenstände auf der Fläche in der traditionellen Darstellungsweise zu überwinden, indem er sich auf die Wahrnehmung der räumlichen Tiefe konzentrierte und versuchte, das plastische Volumen der Dinge zu erfassen. Die vollständige und allseitige Visualisierung der körperhaften Erscheinung der Dinge betrachtete Matjuschin zugleich als die eigentliche Aneignung der dritten Dimension; in ihr lag für ihn bereits die Bewegung aus dieser hinaus in einen neuen Raum. In der Linie „zurück“, die vom Betrachter rückwärts in die Unendlichkeit ging, in „eine Richtung, die durch mich hindurch zurück führt; durch die Erde hindurch durch mich, den Antipoden des Sternes“, glaubte er die Realisierung einer „neuen Dimension“ – der plastische Dreidimensionalität – gefunden zu haben.464 Matjuschins Auseinandersetzung mit dem natürlichen Raum in dessen dimensionaler Erweiterung erhielt mit Ouspenskys Buch „Tertium Organum. Der Dritte Kanon des Denkens – Ein Schlüssel zu den Rätseln der Welt“ von 1911 ihre theoretische Grundlegung. Matjuschin, der Ouspensky später persönlich kennen lernte, wurde stark durch dessen Werk beeinflusst. Den Ausgangspunkt für seine Überlegungen bildete Ouspenskys These: „Außer dem Äußeren sehen wir in den Dingen ein Inneres, wissen, daß dieses Innere, das einen untrennbaren Teil der Dinge bildet, ihr eigentliches Wesen ist. Wenn wir uns fragen, wo dieses Wesen ist und worin es besteht, stellen wir fest, daß es nicht in unserem Raum enthalten ist. Auf diese Weise kristallisiert sich bei uns die Idee von einem höheren Raum heraus, der mehr Dimensionen als unserer hat.“465
Matjuschins intensive Beschäftigung mit der Erweiterung des natürlichen Raumes und dem Übergang zur Wahrnehmung einer neuen räumlichen Dimension fand ihren Niederschlag in Aufsätzen wie „Die Empfindung der vierten Dimension“, „Neuer räumlicher Realismus. Der Künstler und die Erfahrung der vierten Dimension“ und „Die Erfahrung des Künstlers einer neuen Dimension“, an denen er ab 1911 zu arbeiten begann.466 464 Ebenda, S. 180. 465 Uspenskij 1911, 1. Kapitel, in: Matjušin 1913a, S. 27. Deutsch in: Klotz 1991, S. 73. 466 Den Text „Die Empfindung der vierten Dimension“ verfassten Matjuschin und Guro im Winter 1912–13. 1916–17 bereitete Matjuschin diesen Aufsatz zusammen mit anderen Texten zur Veröffentlichung in dem Band „Übungen zur Erfahrung der vierten Dimension: Malerei, Plastik, Musik, Literatur“ im eigenen Verlag vor, die Publikation kam jedoch nicht zustande. Vgl. Alla Powelichina, Über die Musik im Schaffen des Malers Michail Matjuschin, in: Sieg über die Sonne
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Matjuschin war überzeugt, dass die Künstler, wie er es formulierte, „zu allen Zeiten Ritter, Dichter und Propheten des Raumes“ waren und alles opferten und zugrunde gingen, „um der Menge die Augen zu öffnen und sie zu lehren, die große verborgene Schönheit der Welt zu sehen“.467 Er wählte das Universum in seiner Unendlichkeit und Richtungslosigkeit zum Bildgegenstand und begann, nach den auf den Rhythmen der Natur aufbauenden organischen Formen zu suchen. Zwischen 1909 und 1912 malte er häufig in der Landschaft um den Adlerberg am Finnischen Meerbusen nördlich von St. Petersburg und ab 1913 in der Umgebung seiner Datsche bei Usikirkko in Karelien. In dieser Zeit vertiefte er sich besonders in das Studium des offenen, unbegrenzten Raumes in der Natur und in die Beobachtung der Beziehungen zwischen Himmel und Erde, Meer, Bäumen und Wolken im Licht des Nordens. Ihm wurde bewusst, dass der Himmel nicht am Horizont endet, sondern ebenso durch ihn hindurch geht, wie er sich hoch über seinem Kopf in die endlose Tiefe des Kosmos fortsetzt.468 Zugleich entdeckte er die Krümmung der Horizontlinie – eine geschwungene Kurvenform, die ihm zum Inbegriff der organischen Natur und zum Sinnbild der Vereinigung von Himmel und Erde wurde. In dem Gemälde „Düne: Das baltische Ufer“ von 1910 (Tafel 4c) wird die besondere Beziehung des Künstlers zur Natur in ihrer universellen Dimension erkennbar.469 Der breite, sandige Küstenstreifen bildet eine abstrakte Studie aus hellen gelben und intensiven mit Grün und Braun durchsetzten ockerfarbigen Tönen; er wird dort, wo das Ufer und das Meer aufeinander treffen, von einer weich gekurvten roten Linie gesäumt. Das Meer bildet eine entgegengesetzt gekurvte Fläche, die vom bleichen Hellblau mit roten, gelben und grünen Wellenkämmen im Vordergrund bis zum Tiefblau im Hintergrund reicht; der Horizont ist auf einen schmalen, hellblauen Streifen reduziert. Die universelle Bewegung der Natur wird in der Wellenbewegung des Meeres deutlich, die sich gebrochen am Ufer fortsetzt und so ein musikalisches Element in die Komposition bringt. Der fragmenthafte Naturausschnitt, die Konzentration des Künstlers auf grundlegende bildkünstlerische Elemente wie Farbe, Fläche und Linienführung und die Reduktion der Komposition auf Farbkontraste und Formrhythmen machen das Bild zu einer fast abstrakten Komposition. 1983, S. 292. 1916 begann Matjuschin auch die Arbeit an dem Aufsatz „Neuer räumlicher Realismus. Der Künstler und die Erfahrung der vierten Dimension“. Er beendete die erste Version 1920, sie befindet sich im RO IRLI in St. Petersburg. Der Aufsatz „Die Erfahrung des Künstlers einer neuen Dimension“ ist die letzte Fassung von Matjuschins Studien zur neuen Wahrnehmung des Raumes. Er bereitete ihn 1926 zur Publikation im Sammelband des GINChUK vor, die Veröffentlichung kam jedoch nicht zustande und wurde erst 1976 durch Nikolaj Chardžiev nachgeholt. Vgl. M. V. Matjušin, „Opyt chudožnika novoj mery“. Stat’ja, 1926, RGALI, F. 134, Op. 2, Ed. 21 und ders., Opyt chudožnika 1926, in: Chardžiev 1976, S. 159–187. 1928 wurde ein ukrainische Fassung des Aufsatzes publiziert, vgl. M. Matjušin, Sproba Novogo Vidčuttja Prostoroni, in: Nova generacija 11, 1928, S. 311–322. 467 Matjušin 1913a, S. 25. Deutsch in: Klotz 1991, S. 72. 468 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–1934, S. 133. 469 Michail Matjuschin, Dünen. Das baltische Ufer, ca. 1910, Öl auf Leinwand auf Holz; 45 x 61 cm; Museum Ludwig, Köln, ML 1490. Vgl. Weiss 1993, S. 167, Kat. 194 und Tafel 4.
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Marcadé hat Matjuschins Malweise in den Impressionismus eingeordnet und mit bestimmten Aspekten des beginnenden skandinavischen Expressionismus in Verbindung gebracht.470 Matjuschin verstand seine Beobachtungen von der Unbegrenztheit und Richtungslosigkeit des universellen Raumes als Aufforderung, die Welt auf eine ganz neue Weise zu sehen und darzustellen. Er nahm den Raum als ein unteilbares Ganzes wahr, das nur die Empfindung von organischer Tiefe zulässt. Im Bestreben, ein Abbild von dem Wesen und den Strukturen der Natur, der Fülle des vorspringenden und zurückweichenden Raumes und den Schwingungen von Licht und Luft zu geben, gelangte er zu der Einsicht, dass sein Blick allseitig und zugleich über die Erdoberfläche wandern und jegliches Verständnis für Volumen letztendlich von der Erde ausgehen müsse. Ihm wurde klar, dass er, um eine wirkliche Landschaft auf der Bildfläche wiederzugeben, nicht kleine Bildausschnitte aus einem unendlichen Ganzen herausnehmen und einzelne Formen kopieren konnte, sondern vollkommen neue Ausdrucksformen und Methoden finden musste. Er gelangte zu der Überzeugung, dass die Natur keine statische Beobachtung zulässt, er weder einzelne Momente noch isolierte Gegenstände darstellen könne, da alles in einer ununterbrochenen allgemein stetigen Bewegung ineinander übergeht.471 Seine Beobachtung formulierte er später in der Erfahrung: „Die Bewegung ist das Leben – wir können niemals eine organische Form als gerade und fest oder gekrümmt und weich gerundet sehen.“472 Himmel und Erde als Teile des Universums gehörten für Matjuschin ebenso zusammen wie positive und negative elektrische Ladungen; Erde und Sonne bildeten für ihn nur winzige leuchtende Punkte im unendlichen Kosmos.473 Als wahrnehmbare Zeichen der Lebendigkeit und Bewegtheit der Erde erschienen ihm sowohl das Wachstum der Pflanzen und die Entwicklung von Tieren und Menschen als auch die Bewegung von Ebbe und Flut ebenso wie die Bildung von Gesteinsformationen und die Verwitterung der Gebirge an der Oberfläche ihres riesigen Körpers. Matjuschin begann sich intensiv mit dem Zusammenhang – der „Berührung“, wie er es nannte – von Himmel und Erde zu befassen. Ihm wurde klar, dass der Himmel „kein blau angestrichener Vorhang“ ist, sondern unendliche räumliche Tiefe bedeutet und die Wolken nur eine dünne Schicht bilden, die die gigantische Oberfläche der Erde umspannt.474 Häuser und Bäume waren für ihn gleichermaßen Bestandteil der Erde, in der sie verankert waren, wie des Himmels, in den sie hinein ragten. Er sprach von zwei entgegen gesetzten und einander ergänzenden Bewegungen: einerseits wie der Himmel in die Erde übergeht und andererseits wie sich die Erde kaum merklich zum 470 Marcadé 1989, S. 26. 471 Nikita Nesmelov, Masterskaja prostranstvennogo realizma v Akademii chudožestv, in: Novyj Mir Iskusstva 3 (8), 1999, S. 28. 472 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, S. 130. 473 Ebenda, S. 134, 123. 474 Matjušin, Opyt chudožnika 1926, in: Chardžiev 1976, S. 186.
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Himmel neigt.475 In der subtilen farbigen und bewegten Erscheinung von Baumwipfeln und Wolken nahm er die „Berührung“ von Himmel und Erde am oberen Rand der Erdoberfläche am deutlichsten wahr; um 1909 finden sich in seinen Œuvre eine Reihe von farbigen Wolkenstudien.476 Matjuschins Auseinandersetzung mit der Berührung von Himmel und Erde und sein neues Verständnis von der Natur des Raumes wird in seinen Aquarellen „Meer. Erweiterung des Blickfeldes“ und „Tanne. Sphärische Struktur in Uusikirkko“ von 1916 (Tafeln 5a+b) deutlich.477 In beiden Naturstudien blickt der Betrachter auf die bewegte Erde, um die sich der universelle Raum allseitig und gleichmäßig ausbreitet. Die Horizontlinien bilden keine Horizontale, sie folgen der kugelförmigen Gestalt der Erde. Sie verkörpern Matjuschins Neuentdeckung der sphärischen Struktur des natürlichen Raumes und erfassen die Erde zugleich in ihrer ununterbrochenen und stetigen Bewegung. Die zarten farbigen Flächen und weich gerundeten Linien der Erdoberfläche im Vordergrund bringen die Fülle des vor- und zurückspringenden Raumes und die Schwingungen von Licht und Luft zum Ausdruck: „Die Erde dreht sich, hüllt sich mit ihren Seiten darin ein. Für den Künstler ist die Ferne keine frohe Fläche von Ruhe und farbenprächtigem Wohlgefallen, sondern das Entsetzen des Fluges, der nur durch die allgemeine Gravitation gebunden ist. Die Erde rast zusammen mit den Nebeln und Wolken, die an ihr haften, und hängt nicht wie eine bemalte Leinwand da. Berge, Steine, Wälder, Häuser kleben nicht auf ihr, sondern haben sich in sie hineingebohrt und können sich auf der Stromschnelle des Fluges kaum halten.“478
Während im Aquarell „Meer. Erweiterung des Blickfeldes“ ein Steinhaufen und seine Reflexion im Wasser den Blick in den unendlichen Raum, in dem Meer und Himmel weit entfernt am Horizont miteinander verschmelzen, hineinführt, wächst im Aquarell „Tanne. Spärische Struktur in Uusikirkko“ eine Tanne scheinbar aus dem Mittelpunkt der Erde und verbindet diese mit dem Himmel. So wie das Wachstum der Wurzeln der Tanne dem Gravitationsgesetz folgend auf den Mittelpunkt der Erde gerichtet ist, wachsen ihre Zweige dem „neuen Perpendikular“ folgend von diesem 475 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, S. 134. 476 Vgl. zum Beispiel Michail Matjuschin, Himmel mit Wolken, 1909, Öl auf Leinwand, 12 x 30,2 cm und Goldene Wolken. Natürlich Fraktale Geometrie, 1909, Öl auf Leinwand, 15,5 x 34.5 cm, beide Sammlung A. Jeremin, Moskau. Abbildung in Povelikhina/Loshak/Bukreeva 2001, S. 46– 47, Kat. 6–7. 477 Michail Matjuschin, Meer. Erweiterung des Blickfeldes, ca. 1916, Aquarell und Bleistift auf Papier; 21 x 30,8 cm; Museum Ludwig, Köln, 1982/527 und Uusikirkko, EL. Sphärische Struktur, 1916, Aquarell und Bleistift auf Zeichenkarton; 21 x 29,7 cm; Museum Ludwig, Köln, 1982/528. Vgl. Weiss 1993, S. 167, Kat. 195 und 196; Köln 1977, S. 122, Kat. 97. Die Originalbezeichnung für das zweite Aquarell ist: „M. V. Matjušin 1916 Elka. Sferičeskaja struktura v Uusikirkko“. Diese Aquarelle gehören vermutlich zu der Serie „Uuskirkko“, einer Serie von Aquarellen und Zeichnungen, die Matjuschin 1916 anfertigte. Sechs weitere Aquarelle befinden sich im Staatlichen Russischen Museum in St. Petersburg, ein weiteres Aquarell und eine Bleistiftzeichnung werden im Staatlichen Museum für Geschichte der Stadt St. Petersburg aufbewahrt. 478 Matjušin, Opyt chudožnika 1926, in: Chardžiev 1976, S. 186.
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weg in den Himmel hinein und breiten sich über die Erdoberfläche hinausreichend im universellen Raum aus. In derselben Weise ragen die Berge im Hintergrund in den kosmischen Raum. Tanne und Berge greifen in den universellen Kosmos hinaus, sie formen die Erscheinungen der Erdoberfläche und bilden damit den „Gesichtsausdruck der Erde“. Doch zugleich sind sie auch die Bindeglieder, die die Einheit von Himmel und Erde herstellen; in ihnen berührt das All die Erde. Diese beiden Aquarelle sind keine Darstellung des vom Künstler wahrgenommenen begrenzten und scheinbar statischen Landschaftsraumes, sondern der Versuch, die statische Beobachtung der Natur zu überwinden und die Erde als bewegten Körper im kosmischen Raum darzustellen sowie ihre innere Verbundenheit mit dem unendlichen Universum zu erfassen. Welt und All durchdringen sich gegenseitig, sie bilden eine organische Einheit, die den Makrokosmos formt.
Die Idee einer neuen Dimension des Raumes im Kubo-Futurismus Auch nach dem Tod von Jelena Guro im Frühjahr 1913 setzte Matjuschin seine intensive organisatorische und publizistische Arbeit zur Realisierung der Ausstellungen, Debatten und Publikationen der Kubo-Futuristen fort, 1913–14 gehörte er zu den aktivsten Mitgliedern der Vereinigung. Im eigenen Verlag gab er etwa zwanzig Bücher und Broschüren zur neuen Kunst von Chlebnikow, Filonow, Malewitsch u. a. heraus.479 Fernerhin veröffentlichte er im September 1913 das Buch „Die Drei“ mit Gedichten von Guro, Krutschonych und Chlebnikow sowie 1914 Guros Buch „Himmlische Kamelfohlen“ und gemeinsam mit Iwan Puni den Sammelband „Brüllender Parnass“.480 Auf musikalischem Gebiet begann Matjuschin im Sommer 1913 gemeinsam mit Krutschonych und Malewitsch an der kubo-futuristischen Oper „Sieg über die Sonne“ zu arbeiten (Abb. 12). 1915 veröffentlichte er seine musikalischen Kompositionen „Herbsttraum. Suite für Geige und Klavier“, „Don Quichotte. Suite für Klavier“ und „Anleitung zum Studium der Vierteltöne für Geige“ (Abb. 13); 1916 begann er die Vertonung von Krutschonychs Versdrama „Der besiegte Krieg“ (Pobeshdjonnaja woina).481 Gleichzeitig verfasste er den Aufsatz „Über Altes und Neues in der Musik“ für die von Malewitsch geplante Zeitschrift Supremus.482 1916 be479 Dazu gehörten: A. Kručenych, M. Matjušin, Pobeda nad solncem, St. Petersburg 1913; Malevič 1915; P. N. Filonov, Propeven’ o prorosli mirovoj, Petrograd 1915; V. V. Chlebnikov, Vremja. Mera mira, St. Petersburg 1916. 480 Troe 1913; Guro 1914; Rykajuščij parnas 1914. Vgl. auch Rowell/Wye 2002, S. 71, 75. 481 M. V. Matjušin, „Osennij Son“. Sjuita dlja Skripki s Fortepiano, Petrograd 1915; ders., Don Kichot. Sjuita dlja Fortepiano, Petrograd 1915; ders., Rukovodstvo K Izučeniju Četvertej Tona Dlja Skripki. Princip Obščej Sistemy Izučenija – Udvoennago chromatizma, Petrograd 1915. Vgl. auch Allende-Blin 1984, S. 168–172; Powelikhina, 1983, S. 291–293. 482 M. V. Matjušin, O starom i novom v muzyke, 1916, Archiv des Staatlichen Majakowski-Museums, Moskau, Fond 30057, Nr. 11865, vgl. RO IRL, F. 656, Musik-Ordner. Deutsch in: Klotz 1991, S. 78–80; ders., Meine musikalischen Kompositionen, in: ebenda, S. 89–91.
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12 Alexei Krutschonych und Michail Matjuschin, Oper „Sieg über die Sonne“ (St. Petersburg 1913)
13 Michail Matjuschin, Anleitung zum Studium der Vierteltöne für Geige (Petrograd 1915)
gann Matjuschin auch in der von Leman geleiteten Kommission zur Popularisierung der musikalischen Ausbildung durch die Vereinfachung der Methoden des Geigenunterrichts und der Geigenform mitzuarbeiten. Er entwickelte die Idee einer vereinfachten Geigenform und stellte im Herbst 1917 ein erstes Beispiel vor; die erste neue Geige wurde 1918 gefertigt. Bei seinen Überlegungen stützte sich Matjuschin auf seine professionellen Erfahrungen als Geiger und auf die Ideen des französischen Physikers Félix Savart, der seine trapezförmige Geige ausgehend von der Erkenntnis, dass die komplizierte Form der italienischen Geigen keine Auswirkung auf den Klang des Instruments hat, entwickelt hatte.483 Matjuschin wählte deshalb die Form einer „Kasten-Harfe“ für seine Geige. Er verlängerte die Geige in den Bässen und verkürzte sie in den Diskanten, den oberen und unteren Schalldeckel ließ er nach Lemans Empfehlung bauen.484 Als aktiver Vertreter des Kubo-Futurismus strebte Matjuschin gemeinsam mit seinen Künstlerkollegen ab 1913 nach der Überwindung der traditionellen Formen der Kunst und des Denkens. Dabei argumentierte er, dass der Künstler durch die 483 Dieter Ullmann, Chladni und die Entwicklung der Akustik von 1750–1860, Basel 1996, S. 163– 171. 484 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, S. 114–116.
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14 Michail Matjuschin, Alexei Krutschonych, Pawel Filonow, Jossif Schkolnik und Kasimir Malewitsch im Dezember 1913
Beobachtung der physischen Natur eine höhere Ordnung der Wirklichkeit erfährt und setzte im Sinne Ouspenskys die neue Kunst mit der Entdeckung einer neuen Dimension des Raumes gleich. Nachdem Matjuschin Ende 1912 bei einem Besuch der Mitglieder des Bundes der Jugend in Moskau Malewitsch, Krutschonych, Liwschiz u. a. kennen gelernt und Larionow sich von der Zusammenarbeit mit dem Karobuben ebenso wie mit dem Bund der Jugend zurückgezogen hatte, begannen Krutschonych, Malewitsch und Matjuschin die Idee einer kollektiven Schöpfung, die auf den neuen Prinzipien der Verwendung von Wort, Malerei und Musik basierte, zu entwickeln. Im Sommer 1913 nahm das Trio aus Dichter, Maler und Musiker in Uusikirkko die gemeinsame Arbeit an der kubo-futuristischen Oper „Sieg über die Sonne“ auf; sie wurde im Dezember 1913 im St. Petersburger Lunapark-Theater aufgeführt (Abb. 14).485 Dabei standen Malewitsch und Matjuschin stark unter dem Einfluss von Krutschonychs alogischer zaum-Sprache: „Kein Dichter hat mich durch seine Schöpfung so verblüfft wie Krutschonych. Mir und Malewitsch waren seine in den Wortschöpfungen versteckten Ideen sehr nahe.“486 Krutschonychs alogische Dich485 Kručenych/Matjušin 1913. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S. 53–77. 486 Matjušin, Russkie kubo-futuristy 1932–34, in: Chardžiev 1976, S. 150. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S. 128.
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tung entsprach ihren Bestrebungen, „den Sinn und die Logik der alten Vernunft zu verwerfen“ und „den Sinn und die Logik einer neuen sich bereits abzeichnenden Vernunft – ... im Vergleich zur alten ... einer ‚Über-Vernunft’ – zu erkennen“.487 Matjuschin identifizierte Krutschonychs zaum-Sprache mit Ouspenskys Ideen; beide waren darauf gerichtet, die Logik der dreidimensionalen Welt zu zerstören, um zu einem neuen Weltverständnis und zur Erweiterung des menschlichen Bewusstseins vorzudringen. Er war zutiefst beeindruckt von Krutschonychs neuen Wortkombinationen und erklärte den aufführenden Studenten dessen Text zur Oper, wobei er betonte, dass sowohl die Sprache als auch die Worte ständig im Fluss sind und sich die Menschen in ihrem Leben nicht immer der Veränderungen der Sprache bewusst werden.488 In der Interpretation der Oper unterschieden sich Krutschonychs und Matjuschins Auffassung jedoch grundlegend. Während Krutschonych davon sprach, dass alles getan wurde, „um die weiblichen Apolls und verschlissenen Aphroditen über Bord zu werfen und eine Epoche männlicher Kühnheit einzuleiten“ und Chlebnikows Prolog als „Sieg der Technik über die kosmischen Kräfte und über den Biologismus“ auslegte,489 erklärte Matjuschin den Inhalt der Oper folgendermaßen: „Nero und Caligula in einer Person – als die Figur des ewigen Ästheten – vermag ‚Lebendiges‘ nicht zu sehen, sondern sucht überall nach dem ‚Schönen‘ (Kunst um der Kunst willen)“.490 Beide lehnten die traditionellen Bestrebungen zur Darstellung des Schönen in der Kunst ab. Doch während Krutschonychs Dichtung von seiner Faszination mit den Erscheinungen des modernen Lebens und den Kräften der modernen Technik beherrscht war, interpretierte Matjuschin diese als Verherrlichung der schöpferischen Kräfte der Natur und des Lebens. Entsprechend seiner anti-ästhetischen Bestrebungen und seiner Auffassung von der Kunst als wesenhaftem Ausdruck der organischen Entfaltung des Lebens im universellen Raum komponierte Matjuschin auch die Musik zur Oper.491 Er schreibt dazu: „Als ich die Musik für seinen Text schrieb, trat mir an einer Stelle, wo der beunruhigte Fette das ‚zehnte Land‘ betrachtet und kein Verständnis für die neue Räumlichkeit zeigt, das neue Land der neuen
487 Malevič k Matjušinu, 3. Juli 1913, in: Pis’ma i vospominanija, hrsg. von Alla Povelichina und Evgenij Kovtun, in: Naše Nasledie 2, 1989, S. 127–135, S. 128. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S. 39–40. 488 Matjušin, Russkie kubo-futuristy 1932–34, in: Chardžiev 1976, S. 151. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S. 128–130. 489 A. Kručenych, Pervye v mire spektakli futuristov. Glava iz knigi „Naš vychod. K istorii russkovo futurizma. Vospominanija. Materialy“, 1932, in: Naše Nasledie 2, 1989, S. 133–134. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S. 49–52. 490 Matjušin, Russkie kubo-futuristy 1932–34, in: Chardžiev 1976, S. 152. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S. 129–130. 491 Vgl. Allende-Blin 1984, S. 168–182; Mende 2009, S. 51–58; Christopher Dempsey, A Musical Assessment of Victory Over the Sun, in: Victory over the Sun, hrsg. von Patricia Railing, Forest Row, East Sussex 2009, Bd. 2, S. 99–115.
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Möglichkeiten klar vor Augen. Mir schien, daß ich die Schichten der in der Ewigkeit sich rhythmisch bewegenden Massen sehen und hören konnte.“492 In seiner Rezension der Aufführungen von „Sieg über die Sonne“ und „Wladimir Majakowski. Eine Tragödie“ ging Matjuschin nicht nur auf die widrigen Umstände der Realisierung der Aufführungen und die Ursachen für ihren begrenzten Erfolg ein, sondern betonte vor allem die neuen künstlerischen Formen, die den Bruch mit dem akademischen Zeichnen und dem überkommenen Klassizismus in den visuellen Künsten, mit den alten diatonalen Klängen in der Musik sowie mit den abgenutzten und voll gestopften Worten und den langweiligen Wortbedeutungen in der Literatur herbeiführen sollten. Er resümierte: „In den visuellen Künsten: vollkommene Ersetzung von Flächen, Ersetzung von visuellen Beziehungen, Einführung eines neuen Konzepts von Relief und Gewicht, Dynamik von Form und Farbe. In der Musik: neue Ideen von Harmonie und Melodie, neue Tonhöhen (Vierteltöne), simultane Bewegung von vier vollkommen unabhängigen Stimmen (Reger, Schönberg). In der Entdeckung des Wortes: die Abwendung von der Bedeutung des Worts – das Recht eines Wortes unabhängig zu sein, folglich, neue Wortschöpfungen (Entdeckung durch den Genius Chlebnikow).“493
Wie Ouspensky war auch Matjuschin überzeugt, dass die neuen Schöpfungen in Dichtung, Malerei und Musik den Anbruch einer neuen Ära signalisierten, die der allgemeinen Entwicklung des Lebens auf der Erde folgte und bald alle Bereiche des Lebens und der Gesellschaft erfassen würde. Er sah die Menschheit am Vorabend des Anbruchs eines neuen Frühlings angelangt, der „eine neue ungeheure qualitative Eroberung der Welt“ und die Befreiung des schöpferischen Geistes des Menschen von den „lästigen Gitterstäben eines Käfigs“, an denen er sich wund stieß, mit sich bringen und zur Überwindung der „scheinbar tropfenförmigen Zeit“, des dreidimensionalen Raumes, der „feigen Kausalität“ u. a. führen würde.494 Matjuschin war überzeugt, dass sich im Werk von künstlerischen Neuerern wie Filonow, Malewitsch und Tatlin der Durchbruch in den Raum der vierten Dimension ankündigte. Zwischen 1913 und 1917 entwickelte er seine Ideen besonders in der Auseinandersetzung mit den Werken von Pawel Filonow und Kasimir Malewitsch. Dabei scheint er Filonows Intentionen näher als Malewitschs Ideen gestanden zu haben, obwohl deren persönlicher Kontakt viel reservierter und längst nicht so unmittelbar und intensiv wie der Austausch mit Malewitsch war. Nach dem Zerfall des Bundes der Jugend versuchte Filonow 1914 Matjuschin neben Malewitsch als Verbündeten für die von ihm geplante Organisation zur Propagierung der Idee der „gemachten Gemälde und Zeichnungen“ und zur Etablierung der „russischen Kunst als Zentrum der 492 Matjušin, Russkie kubo-futuristy 1932–34, in: Chardžiev 1976, S. 150–151. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S. 128. 493 M. V. Matjušin, Futurism v Peterburge. Spektakli 2, 3, 4 i 5 ogo dekabrja 1913 ogo goda, in: Futuristy. Pervyj žurnal russkich futuristov, Nr. 1–2, 1914, S. 153–157. 494 M. V. Matjušin, [ohne Titel], in: Troe 1913, S. 3.
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Weltkunst“ zu gewinnen.495 Doch während er seinen „doppelten Naturalismus“ und Malewitschs „transrationalen Realismus“ als wahrhaftige und tiefgründige künstlerische Errungenschaften bewertete, warb er um Matjuschin nicht als Künstlerkollegen, sondern als verständigen und wirksamen Propagandisten für seine Ideen.496 In einem Brief an Matjuschin schrieb er 1914: „Sie aber treten in dieser Sache ein als ‚Mensch der neuen Kunst‘, als unbedingt notwendiger, unabhängig davon, daß Sie als Künstler kein so versierter Praktiker sind wie wir.“497 Folgerichtig veröffentlichte Matjuschin 1915 im eigenen Verlag Filonows Manifest „Gesangbuch vom Weltgewächs“ (Abb. 15) und verfasste 1916 einen Aufsatz über das künstlerische Schaffen 15 Pawel Filonow, Gesangbuch vom Weltgewächs (Petrograd von Filonow.498 1915) Matjuschin scheint in Filonows Bildern einen direkten künstlerischen Ausdruck dessen gesehen zu haben, wonach er selbst strebte. Er bewunderte die Geduld, Konzentration und Genialität, mit der Filonow die Strukturen und das innere Wesen der sichtbaren Wirklichkeit erforschte und neue Methoden, Ansätze und Ableitungen in der Malerei entwickelte, um die Realität auf neue künstlerische Weise zu gestalten. Er bewertete Filonows analytische Kunst mit ihrer Einheit von organischer Form und Farbe, der Mannigfaltigkeit der Faktur und der Leibhaftigkeit der malerischen Strukturen als einen Ausdruck des „erwachenden 495 P. N. Filonov, Pis’mo k M. V. Matjušinu, 1914, RO GTG, F. 25, Ed. 11, L. 1–2. Deutsch in: Harten/Petrowa 1990, S. 72–73. Vgl. auch Jelena und Wassili Rakitin, „Als Künstler sind Sie kein so versierter Praktiker wie wir“. Die Leningrader Avantgarde und ihr Verhältnis zu Matjuschin, in: Klotz 1991, S. 59–63. 496 Ebenda. 497 Ebenda. 498 Filonov 1915; Stat’ja M. V. Matjušina „Tvorčestvo Pavla Filonova“, 1916, RO IRLI, F. 656, Op. 1, Ed. 107, in: Ežegodnik otdela rukopisi Puškinskogo doma na 1977 god, Leningrad 1979, S. 232–235. Deutsch in: Harten/Petrowa 1990, S. 81–85.
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Bewußtsein[s] einer neuen Dimension des Raumes und der Gegenständlichkeit“, sie verkörperte ihm die Aufnahme des natürlichen Lebens in die Malerei.499 In seinem Aufsatz über Filonows Malerei hält er fest: „Seine großen Gemälde sogen die Macht des neuen Raumes in sich auf, in dem Aufschwünge und Einbrüche und das ganze sich bewegende Wesen mit dem sich zerteilenden Blick einer neuen Dimension erfaßt sind.“500 Mit Filonow teilte Matjuschin die Auffassung von der Bewegung als einem grundlegenden Weltprinzip, das die Erscheinungsweisen und Entwicklung aller Lebewesen bestimmt. Dabei verstand Filonow wie Matjuschin Bewegung nicht nur als mechanische Ortsveränderung, wie sie von den italienischen Futuristen dargestellt wurde, sondern suchte ihren Ursprung im Wachstum und in der Evolution der Dinge selbst. Er betrachtete sie „nicht als etwas in der sichtbaren Peripherie eines Dinges Liegendes“, sondern als Bewegung, die sich von einem Zentrum ausgehend gleichmäßig nach allen Seiten ausbreitet und die Ursache der räumlichen und zeitlichen Entfaltung der Dinge bildet.501 Die Abfolge, Überlagerung und Durchdringung von unterschiedlichen malerischen Schichten, die zugleich das organische Gewebe von Filonows Werken bilden, verkörperten für Matjuschin die ununterbrochenen Schwingungen, Veränderungen und Verwandlungen aller Formen und Farben der Materie: „Die gesamte Summe der Bewegungen der Materie des neuen Gebots und der Lauf ihrer Verkettungen bilden eine neue sichtbare Welt, die dem Bewußtsein der alten Dimension vielleicht gar nicht verständlich ist.“502 In Filonows Bildern fand Matjuschin Manifestationen des Lebens des Weltorganismus, seine anatomisch konzipierten Darstellungen folgten den natürlichen Gesetzen des inneren Aufbaus der Dinge und brachten die vitale Kraft des allumfassenden Körpers zum Ausdruck. Filonows „doppelter Realismus“ schien eine komplexe funktionale Darstellung der Welt und des Lebens, in der die Wahrnehmung der Natur durch das Mikroskop und die Wahrnehmung des Weltalls durch das Teleskop miteinander verschmolzen, zu ermöglichen. Matjuschin beeindruckte insbesondere, dass er in der Lage war, Phänomene wie „die Idee des schweren Volumens, die Einheit der Bewegung, die Spannkraft des Energiestroms, das Federn des Windes, des Duftes, die Dichte des Wassers in seiner Masse, alles Lebendige eines Erdklumpens, die Hitze einer auflodernden Flamme und die lebendige Wärme, die sich selbst bewegt“ wiederzugeben.503 Doch Matjuschins Rolle innerhalb des russischen Kubo-Futurismus blieb nicht auf die Position des erfolgreichen Organisators, Verlegers und Propagandisten beschränkt, sondern seine allgemeine Begeisterung und Aufgeschlossenheit gegenüber allem Neuen – ganz gleich ob in Wissenschaft, Kultur und Kunst – machte ihn 499 Matjušin 1916, in: Harten/Petrowa 1990, S. 81. 500 Ebenda, S. 84. 501 Ebenda, S. 83. 502 Ebenda, S. 81. 503 Ebenda, S. 81–82.
Tafel 1 Kasimir Malewitsch, Porträt des Komponisten M. W. Matjuschin, Autor der Oper „Sieg über die Sonne“, 1913.
Tafel 2a Jan Ciągliński, Der Berg Tabor. Von der Palästinareise, 1901.
Tafel 2b Jelena Guro, Keimlinge (Wachstum und Bewegung in der Natur), 1905–07.
Tafel 3 Nikolai Kulbin, Meeresblick, ca. 1905.
Tafel 4a Michail Matjuschin, Schneesturm, 1906.
Tafel 4b Michail Matjuschin, Kiefern, 1909.
Tafel 4c Michail Matjuschin, Dünen. Das baltische Ufer, ca. 1910.
Tafel 5a Michail Matjuschin, Meer. Erweiterung des Blickfeldes, ca. 1916.
Tafel 5b Michail Matjuschin, Tanne. Sphärische Struktur in Uusikirkko, 1916.
Tafel 6 Michail Matjuschin, Selbstporträt. Kristall, 1917.
Tafel 7 Michail Matjuschin, Kristall. Geometrisierung des Raumes, 1918.
Tafel 8 Michail Matjuschin, Landschaft in vertikaler Weitsicht, 1921–22.
Tafel 9 Michail Matjuschin, Bewegung im Raum, 1917–18.
Tafel 10 Michail Matjuschin, Malerisch-musikalische Konstruktion, 1918.
Tafel 11a Michail Matjuschin, Anschauungstafel Veränderung der Farbe von der Form und die Gegenfarbenformen, die bei geschlossenen Augen entstehen, 1925–26.
Tafel 11b Michail Matjuschin, Anschauungstafel Umwandlung der Farbe von dem Laute verschiedener Monochorde, 1925–26.
Tafel 12 Michail Matjuschin, Gesetzmäßigkeit der Veränderbarkeit farblicher Kombinationen, ca. 1930–32.
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zugleich zu einem wertvollen Gesprächspartner und Vertrauten. Diese Rolle wird besonders deutlich im Verhältnis von Malewitsch und Matjuschin. Im Prozess der Entwicklung des Suprematismus schrieb Malewitsch im Mai 1915 an Matjuschin: „Die Arbeiten, die ich 1913 für Ihre Oper ‚Sieg über die Sonne‘ ausführte, haben mir sehr viel Neues gebracht, nur hat es niemand bemerkt. Dadurch sammelt sich bei mir Material an, das irgendwo veröffentlicht werden sollte. Ich brauche aber einen Menschen, mit dem ich offen reden kann und der mir dabei behilflich sein könnte, eine Theorie dessen zu entwerfen, was in der Malerei entstanden ist. Ich glaube, dieser Mensch können nur Sie sein, auch wenn Sie sich der Idee des ‚Mirowoj 16 Kasimir Malewitsch, Bühnenbild für „Sieg über die Sonne“, 2. Akt, 5. Bild, 1913 Raszwet‘ (‚Universelles Blühen‘) verschrieben haben, womit ich – ehrlich gesagt – nicht einverstanden bin (aber das gehört nicht hierher).“504
Beide Künstler führten einen intensiven Briefwechsel, in dem Malewitsch die Entwicklung seiner neuen malerischen Schöpfungen mit Matjuschin diskutierte und allmählich zur Formulierung des Suprematismus gelangte (Abb. 16). So ließ Malewitsch Matjuschin wissen: „Ich saß da; ich hing mein Werk auf und arbeitete. Plötzlich öffneten sich die Türen und Puni kommt herein. So, das Werk ist gesehen worden. Jetzt, ganz gleich was, ist es notwendig, eine Broschüre über mein Werk herauszugeben und es zu taufen, und dadurch mein Autorenrecht zu verteidigen.“505 „Ich möchte und halte es für unerläßlich eine Liste zur Ausstellung herauszugeben, die auch verkauft wird. Ich wäre sehr froh, die Liste mit ihnen auszuarbeiten. Ungeachtet dessen, daß in Moskau schon viele von meinen Werken wissen, aber sie wissen nichts über den Suprematismus.“506 504 Malevič k Matjušinu, Mai 1915, in: Pis’ma i vospominanija 1989, S. 135. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S. 48. 505 Malevič k Matjušinu, 25. September 1915, in: K. S. Malevič, Pis’ma k M. V. Matjušinu, 1913– 1916, hrsg. von E. F. Kovtun, in: Ežegodnik otdela rukopisi Puškinskogo doma na 1974 god, Leningrad 1976, S. 180–181. 506 Malevič k Matjušinu, 28. September 1915, in: ebenda, S. 187.
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„Die Broschüre spielt eine große Rolle für mich.... Den Namen kennt schon jeder, aber niemand weiß etwas über den Inhalt. Lassen sie es ein Geheimnis bleiben.“507
Dieser anhaltende allgemein-künstlerische und begriffliche Klärungsprozess fand seinen Abschluss in der Publikation des Aufsatzes „Vom Kubismus zum Suprematismus. Neuer malerischer Realismus“, die Matjuschin in seinem Verlag vornahm.508 Sie wurde als erklärender Begleittext zur 0,10 Letzten Futuristischen Bilderausstellung im Dezember 1915 herausgegeben, in der Malewitsch erstmals mit seiner suprematistischen Malerei an die Öffentlichkeit trat. Während das Verhältnis von Filonow und Matjuschin ein eher einseitiges war, das vor allem in der Verehrung des „Genius“ durch den „Dilettanten“ bestand, war die Beziehung von Malewitsch und Matjuschin eine freundschaftliche Verbindung, die von gemeinsamen Ideen und vom gegenseitigen Austausch geprägt war, wobei Matjuschin für Malewitsch ein älterer Freund und Ratgeber gewesen zu sein scheint. So schrieb Malewitsch im Mai 1915 an Matjuschin: „Wir sind dabei, eine Zeitschrift herauszugeben und beginnen das wie und was zu diskutieren. Im Blick auf die Tatsache, daß wir in ihr beabsichtigen, alles auf Null zu reduzieren, haben wir beschlossen, es ‚Null‘ zu nennen. Wir selbst werden dann über Null hinausgehen. Es wäre sehr gut, wenn sie uns auch einige nützliche Hinweise geben könnten.... Fernerhin wäre es auch gut, wenn sie kommen könnten – es gibt ein Zimmer und es ist ringsherum ruhig....“509
Beide teilten ein lebhaftes Interesse an der Evolution von Kunst und Leben und der Stellung des Menschen im unbegrenzten Universum und strebten nach einer Erweiterung der Vorstellungen vom universellen Raum. Matjuschin machte Malewitsch mit den Ideen von Ouspensky vertraut und betrachtete Malewitschs Suprematismus als malerischen Ausdruck einer „höheren Ordnung“, die, während sie ihre Manifestation in irdischen Kunstwerken fand, zugleich eine „wertvollere“ Einstellung in ihrer Orientierung auf das Universum zum Ausdruck brachte.510 Doch trotz des unmittelbaren Kontakts und intensiven Gedankenaustauschs und ihrem gemeinsamen Streben nach der Darstellung einer neuen räumlichen Dimension in der Kunst war Matjuschin bei aller Wertschätzung von Malewitschs künstlerischer Entwicklung offensichtlich vom Suprematismus nicht so überzeugt wie von Filonows analytischer Kunst. Er kritisierte Malewitsch für die „Negierung der Form zum Nachteil der Farbe“.511 In der statisch-geometrischen Formensprache von Malewitschs Suprematismus vermisste Matjuschin das für ihn so grundlegende Prinzip
507 Malevič k Matjušinu, 25. November 1915, in: ebenda, S. 189. 508 Malevič 1915. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S. 134–141. 509 Malevič k Matjušinu, 29. Mai 1915, in: Malevič 1976, S. 186. 510 Douglas 1976, S. 67. 511 M. Matjušin, K Vystavke „Poslednich Futuristov“, in: Očarovannyj strannik 1916, S. 16–18. Deutsch in: Klotz 1991, S. 76.
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der Weltordnung, „die Dynamik der Farbe, d. h. ihre Bewegung“.512 Während er glaubte, dass Malewitsch die Form über die Farbe stellte, forderte Matjuschin: „Die Farbgebung muß so weit über die [sic] Form stehen, daß sie sich nicht in irgendwelche Quadrate, Winkelmaße u. a. fügt.“513 Malewitsch drängte in seinem künstlerischen Schaffen nach der Überwindung der Erdanziehungskraft und der Eroberung des Kosmos. Seine suprematistische Malerei gehörte nicht ausschließlich der Erde an; sie war nicht mehr an den begrenzten Raum der irdischen Gegenständlichkeit gebunden, sondern strebte danach, ein Empfinden von der endlosen Leere des kosmischen Raumes zu geben: „Die Erde ist weggeworfen, so wie ein Haus, das von Termiten zerfressen ist. Und tatsächlich liegt im Menschen, in seinem Bewußtsein, ein Streben nach dem All, der Drang nach einem Abheben von der Erde.... Ich bin in die endlose Leere versetzt, wo du um dich herum die schöpferischen Punkte des Universums empfinden kannst.“514 Matjuschin hingegen betrachtete die Erde als Teil des unendlichen Kosmos und strebte nach einer organischen Verschmelzung von Himmel und Erde. Sein Schaffen richtete sich nicht darauf, die Erde zugunsten des Kosmos zu verlassen, sondern darauf, die wesenhaften Verbindungen von Natur, Mensch und Kosmos zu erfassen und sie in ihrer allumfassenden Ganzheitlichkeit darzustellen. Malewitsch strebte nach neuen künstlerischen Formen zur Darstellung des Kosmos, Matjuschin suchte nach neuen geistigen Erkenntnisweisen der Welt.
Die Auseinandersetzung mit dem Kubismus in den Kristallbildern Zwischen 1912 und 1917 glaubte Matjuschin, den Schlüssel zu einer neuen Kunst im Kubismus gefunden zu haben. Er diskutierte und teilte diese Meinung mit Malewitsch, der im Juni 1913 an ihn schrieb: „Wir sind nun dazu gelangt, die Vernunft zu verwerfen. Wir haben sie verworfen, weil in uns eine andere keimt, die – im Vergleich zu der verworfenen – Über-Vernunft genannt werden kann und die gleichfalls Gesetz, Konstruktion und Sinn besitzt. Nur wenn wir das erkannt haben, werden unsere Arbeiten sich auf ein wahrhaft neues, über-vernunfthaftes Gesetz stützen können; diese Vernunft hat im Kubismus das Mittel zum Ausdruck ihres Gegenstandes gefunden.“515
Der Kubismus stieß 1912–13 in Russland auf starke Resonanz und vielfältige künstlerische Verarbeitung.516 Russische Künstler betrachteten diesen neuen, künstleri512 Ebenda. 513 Ebenda. 514 Malevič k Matjušinu, Juni 1916, in: Malevič 1976, S. 192. 515 Malevič k Matjušinu, Juni 1913, in: Pis’ma i vospominanija 1989, S. 127. 516 Aleksandr Babin, Pikasso i Brak glazami Kazimira Maleviča, in: Voprosy iskusstvoznanija 11, Februar 1997, S. 213–214 und ders., Albert Gleizes and Jean Metzinger’s Du Cubisme as Perceived by Russian Artists and Critics, in: Russian Avant-Garde 2001, S. 245–264; Charlotte Douglas,
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schen Stil nicht nur als Darstellung einer neuen Wirklichkeitserfahrung, sondern interessierten sich vor allem für die Vielfalt der Oberflächenstrukturen, das Spiel von Licht und Schatten, die Dreidimensionalität und die Materialkontraste des synthetischen Kubismus. Sie konzentrierten sich auf die sinnlichen und energetischen Qualitäten sowie die konstruktive Bedeutung von Form, Farbe, Material und deren Zusammenhänge. Zugleich spielte im russischen Kubo-Futurismus die bewusste Verwendung von Farb-Formen in ihren harmonischen und disharmonischen Kontrasten sowie in ihrer Beziehung auf die simultane Wahrnehmung durch den Betrachter als künstlerisches Ausdruckmittel im konstruktiven und metaphysischen Sinne eine bedeutende Rolle.517 Im Herbst 1913 schuf Malewitsch das „Porträt des Komponisten M. W. Matjuschin, Autor der Oper ‚Sieg über die Sonne‘“ (Tafel 1).518 In diesem Porträt, das in der Zeit der engsten Zusammenarbeit dieser beiden Künstler entstand, stellte Malewitsch seinen Freund im Stil des Kubismus in der für Matjuschin typischen kulturellen Lebenswelt dar. Dabei nahm er vom Porträtierten nur dessen linke Stirnpartie und ein Stück Haarschopf ins Bild auf, charakterisierte ihn jedoch hinreichend als Musiker durch die Versatzstücke von Geige im oberen und Klavier im unteren Teil des Bildes.519 Zugleich hob Malewitsch mit der Einführung eines frontalen Elements in die Komposition die räumliche Wirkung der kubistischen Konstruktion ineinander verschachtelter Teile auf und relativierte damit die strenge kubistische Komposition. In diesem Bild kündigte sich bereits der radikale Bruch an, den Malewitsch kurz darauf in seiner Malerei vornahm – eine Entwicklung, die er in engem Austausch mit seinem Freund Matjuschin vollzog.520 Auch Guro setzte sich künstlerisch mit Picassos Kubismus auseinander. In ihrem Gedicht „Picassos Geige“, das 1913 in dem Buch „Die Drei“ veröffentlicht wurde,521 cubisme français, cubo-futurisme russe, in: Cahiers de Musée national d’art moderne 2, 1979, S. 184–193; Waleri Turtschin, Zwei Kubismen: Frankreich und Russland, in: Cubisme-KubizmKubismus. Ein künstlerischer Aufbruch in Europa 1906–1912, Ausst.-Kat., Hannover, Moskau 2003, S. 11–18. 517 Dimitri Sarabjanow, Die modernen Strömungen in der russischen Malerei des vorrevolutionären Jahrzehnts. Rußland und der Westen, in: Sieg über Sonne 1983, S. 161–167; ders., Der russische Kubo-Futurismus, in: Hannover 2003, S. 19–24; Irina Wakar, Die russische Theorie des Kubismus, in: ebenda, S. 25–29. 518 Mit diesem Titel wurde das Bild sowohl in der vierten Ausstellung der Künstlergruppe Karobube zu Beginn des Jahres 1914 als auch in der Ausstellung Tramvaj V. Erste Futuristische Bilderaustellung im März 1915 in Petrograd gezeigt. Vgl. Gordon 1974, S. 887–889. Es befindet sich heute unter dem Titel „Porträt M. W. Matjuschin“, 1913, Öl auf Leinwand, 106,5 x 106,5 cm als Geschenk von George Costakis in der Sammlung der Staatlichen Tretjakow-Galerie. Vgl. Rudenstine 1982, S. 255, Kat. 482 sowie Gray 1963, S. 150, Abb. 95. 519 Dem Bild liegt aller Wahrscheinlichkeit eine Fotografie von Abb. 1 zugrunde, vgl. auch Povelichina 1989, S. 119 und Babin 2001, S. 253, Anmerkung 1. 520 Andrei Nakov hat den Wandel in Malewitschs räumlicher Bildkomposition, der mit der Einführung der weißen metrischen Meßlatte verbunden war, ausführlich dargestellt. Vgl. Kazimir Malevitch, Écrits, hrsg. von Andrei Nakov, Paris 1986, S. 63–64. 521 Elena Guro, Skripka Picasso, in: Troe 1913, S. 84. Deutsch in: Guro 2003, S. 30.
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nahm sie Bezug auf das gleichnamige Bild von Picasso, das Sergei Schtschukin 1912 für seine Sammlung erworben hatte.522 Obwohl ihre Beschreibung vor allem atmosphärisch ist – sie beschreibt dessen Geige als „Königreich des Schattens mit sanften Ecken“523 – lässt sich in der schlanken, hoch gewachsenen Gestalt des Musikers, die besonders von dessen enger Weste betont wird, sowie in seinem vom Spiel entrückten blassblauen Gesicht und dem zum Licht erhobenen langen Kinn unschwer die Gestalt Matjuschins erkennen. Ähnliche bildnerische Porträtdarstellungen von Matjuschin finden sich auch in Guros kleinem Ölbild von Matjuschin von 1903 sowie in ihrem Porträt von ihm von 1912–13.524 Matjuschin selbst war vermutlich bereits im Winter 1910 bei einem Besuch der Sammlung von Schtschukin auf Picassos neue Malweise aufmerksam geworden.525 In seinen Memoiren berichtet er: „Im Winter 1910 war ich in Moskau bei Schtschukin, und er zeigte mir Werke Picassos, die über den Bildern eines andern Spaniers, Zuloaga, hingen. Diese alt-armselig akademische und die neue Kunst waren so kontrastreich, daß meine Augen verwundert von einem Bild zum anderen eilten und ich schließlich die Bilder Picassos anstarrte, von denen ich meine Augen nicht abwenden konnte. Schtschukin meinte, daß die Werke dieses jungen Spaniers bei ihm ‚auf Probe‘ seien. Ich habe mir noch einmal die Werke Picassos angeschaut und beeindruckt durch die eigenartig mutige Farbinterpretation auf breiter Fläche sagte ich zu Schtschukin, daß dies der interessanteste Maler seiner Sammlung wäre.“526
Vor allem die großflächige Farbmalerei und das Spiel von Licht und Schatten durch Flächen aus reinen Farbtönen sowie die bevorzugte Verwendung von Blau-, Gelbund Ockertönen, die in ihrer Mischung Braun- und Grüntöne ergeben, dürfte ihn besonders interessiert haben. Matjuschin betrachtete den Kubismus als künstlerische Kultivierung der Wahrnehmung des Raumes. Er verband die neue, räumliche Darstellungsweise der Kubisten mit der vierten Dimension und machte die Kubisten zu Glaubensgenossen in seinem Streben nach einer mystischen Transformation des menschlichen Bewusstseins. Wie Ouspensky glaubte Matjuschin an ein allgemeines Evolutionsgesetz, das 522 Pablo Picasso, Violine (Violon), 1912, Öl auf Leinwand, 55,0 x 46,0 cm (oval), Puschkin-Museum für bildende Kunst, Moskau. 523 Guro 1913, S. 84. Deutsch in: Vassilij Rakitin, „Ein Warten länger als das Seegras...“ zu Elena Guro und Michail Matjuschin, in: Osteuropäische Avantgarde, Ausst.-Kat., Bochum 1989, S. 206. 524 Jelena Guro, Porträt des Künstlers M. W. Matjuschin, 1903, Öl auf Leinwand, Staatliches Museum für Geschichte der Stadt St. Petersburg; diess., Porträt M. W. Matjuschin, 1912–13, Öl auf Leinwand, Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg. 525 Dabei muss es sich um Bilder wie Gauklerfamilie von 1905, Dame mit Fächer von 1907, Dryad von 1908, Bäuerin von 1908, Häuschen im Garten von 1908 und evtl. um Ziegelei in Tortosa von 1909 gehandelt haben. Vgl. Georg-W. Költzsch (Hg.), Morosow und Schtschukin – Die russischen Sammler. Monet bis Picasso, Ausst.-Kat., Köln 1993, S. 430–438. 526 Matjušin Russkie kubo-futuristy 1932–34, in: Chardžiev 1976, S. 143–144. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S. 120–121.
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den Gang der Welt bestimmte, und war überzeugt, dass die Kunst „die Avantgarde der psychischen Evolution“ der Menschheit darstellte.527 In seiner Besprechung von Albert Gleizes’ und Jean Metzingers Text „Du Cubisme“, die im dritten Sammelband des Bundes der Jugend erschien, kontrastierte er frei gewählte und aus dem Zusammenhang gelöste Abschnitte aus Gleizes’ und Metzingers Text mit Ouspenskys Diskussion von Charles Hintons Hyperspace Philosophie, die dieser in seinen Büchern „Tertium Organum“ und „Die vierte Dimension“ geführt hatte.528 Dabei ordnete er Gleizes’ und Metzingers Ideen denen von Ouspensky unter bzw. glaubte, in ihnen eine Bestätigung für Ouspenskys Lehre gefunden zu haben: „Der Kubismus hat die Fahne der Neuen Dimension, der neuen Lehre von der Verschmelzung von Raum und Zeit gehißt.“529 Allerdings hat Linda Henderson gezeigt, dass das von Gleizes und Metzinger benutzte Wort plan für Ebene nicht die Idee von ismerenije, einer neuen Dimension, enthielt, wie es Matjuschin in seiner Interpretation verwendete.530 Matjuschin verstand den Kubismus als eine wertvolle Methode, die traditionelle Wahrnehmung der Welt und ihre Darstellung in der dreidimensionalen perspektivischen Konstruktion des Raumes zu überwinden und zur Visualisierung der inneren Struktur und Bewegung der Gegenstände zu gelangen. Er war überzeugt, dass die Kubisten mit der Dekonstruktion der Gegenstände in malerische Flächen ein künstlerisches Mittel gefunden hatten, um das innere Wesen der Dinge zu erforschen und darzustellen: „Wie ein Anatom seziert er [Picasso – I.W.] das Ganze in seine Teile, um die innere Bewegung zu entdecken, und schert sich nicht um das Aussehen des sichtbaren Ganzen. Kubismus und Futurismus legen die innere Welt alles Sichtbaren offen und bringen zur Anschauung, was das gewöhnliche Auge nicht sieht und zur Kenntnis nimmt. Indem sie die Flächen brechen und die unsichtbaren Aspekte der Gegenstände vor Augen führen, fördern sie die schöpferische Naturkraft zutage, die auf intensive Lebensäußerung, auf Bewegung in alle Richtungen aus ist.“531
Nach 1914 hörte Matjuschin auf, in einem impressionistischen Stil zu malen und ging zu einer kubistischen Malweise über. In Übereinstimmung mit seinen theoretischen Auffassungen entwickelte er jedoch eine sehr subjektive Interpretation des Kubismus. Er definierte den Kubismus als „räumliches Ornament“ und betrachtete ihn als ein neues Stadium im Kampf um „räumlichen Realismus“ in der Malerei.532 527 Uspenskij 1911, S. 69, in: Matjušin 1913a, S. 25. Deutsch in: Klotz 1991, S. 72. 528 Matjušin 1913a, S. 25–34. Deutsch in: Klotz 1991, S. 72–76. Du Cubisme von Gleizes und Metzinger erschien darüber hinaus in zwei weiteren russischen Ausgaben: in einer Übersetzung von Jekaterina Nisen, Matjuschins Schwägerin, die Matjuschin ebenfalls 1913 im eigenen Verlag herausgab und in einer Übersetzung von M. W., die mit den Originalillustrationen 1913 in Moskau erschien. 529 Matjušin 1913a, S. 25. Deutsch in: Klotz 1991, S. 72. 530 Henderson 1983, S. 266. Vgl. auch Babin 2001, S. 246–247. 531 Matjušin, Opyt chudožnika 1926, in: Chardžiev 1976, S. 174. Deutsch in: Klotz 1991, S. 88. 532 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, in: Experiment / Eksperiment 1995, S. 215.
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Matjuschin begann an einer Reihe von Selbstbildnissen in der Form von Kristallen zu arbeiten,533 wobei seine künstlerische Suche nach neuen Darstellungsweisen in der Kunst von seiner monistischen Weltanschauung und seinem Interesse an den neusten Entdeckungen in den biologischen, physikalischen und chemischen Wissenschaften der Zeit stimuliert wurde. Matjuschin war mit den Arbeiten von Ernst Haeckel und Dmitri Mendelejew vertraut und fand insbesondere Anregung in der Entdeckung von flüssigen Kristallen durch den deutschen Kristallographen Otto Lehmann, mit der das allgemeine Verständnis von der Natur der Kristalle im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts eine grundlegende Neuorientierung erfuhr. In seiner Studie „Flüssige Kristalle sowie Plastizität von Kristallen im allgemeinen, molekulare Umlagerungen und Aggregatzustandsänderungen“ von 1904534 hatte Lehmann gezeigt, dass flüssige Kristalle aus einer Mischung von mineralischen Substanzen, wie zum Beispiel Kalkspat, und organischem Plasma bestehen. Er beobachtete, dass diese Kristalle die Fähigkeit haben zu wachsen und eine Haut zu bilden, durch die sie wie lebende Organismen zu atmen scheinen, und darüber hinaus in der Lage waren, sich auf eine sonderbare Weise zu vermehren.535 Lehmann entdeckte fernerhin, dass diese Kristalle bei Temperaturunterschieden bestimmte, gewundene Fäden bilden, die sich schlangenartig bewegen. Diese dünnen, gewundenen Gebilde oder „Kristallwürmer“, wie er sie nannte, waren in der Lage, sich in kleinere Segmente zu teilen und sich beliebig zu vervielfachen.536 Aus der Tatsache, dass sich die Kristallwürmer bei Temperaturunterschieden bildeten, schlussfolgerte Lehmann, dass Kristallen nicht nur das Potential zur Bewegung innewohnt, sondern sie auch ein bestimmtes Empfindungsvermögen haben müssen.537 In seinem Buch „Die neue Welt der flüssigen Kristalle und deren Bedeutung für Physik, Chemie, Technik und Biologie“ von 1911 fasste Lehmann die Tragweite seiner Entdeckung wie folgt zusammen: „Der Entdeckung flüssiger Kristalle mußte notwendig die Erkenntnis vorangehen, die althergebrachte Definition des Kristallbegriffs sei unzutreffend. Daß in den Lehrbüchern der Kristallographie Homogenität, Anisotropie und polyedrische Form als Charakteristika eines Kristalls galten (und zwar bis in die neueste Zeit) beweist, daß niemand an die Existenz plastisch deformierter Kristalle dachte, welchen ja zwei dieser Eigenschaften nicht zukommen.“538 533 Zu diesen Werken gehören: Entwurf zum Selbstporträt „Kristall“, 1914, Staatliches Museum für Geschichte der Stadt St. Petersburg; Selbstporträt „Kristall“, 1917, Sammlung Ludwig, Köln; Selbstporträt „Kristall“, ca. 1919, Privatsammlung Paris; Kristall, 1919–20, Sammlung George Costakis; Raum. Etüde, 1920, Privatsammlung St. Petersburg. 534 Otto Lehmann, Flüssige Kristalle sowie Plastizität von Kristallen im allgemeinen, molekulare Umlagerungen und Aggregatzustandsänderungen, Leipzig 1904. 535 Otto Lehmann, Die neue Welt der flüssigen Kristalle und deren Bedeutung für Physik, Chemie, Technik und Biologie, Leipzig 1911, S. 276–291. 536 Ebenda, S. 264–275. 537 Ebenda, S. 300–312. 538 Ebenda, S 51.
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Die neu entdeckten flüssigen Kristalle waren nicht länger von Homogenität und einer polyedrischen Form geprägt, sondern konnten in ihrem Zustand sowohl starr als auch fließend sein. Obwohl sie weiterhin von regelmäßigen Formen und kristalliner Struktur geprägt waren, bildeten sie ambivalente Effekte im Licht und konnten komplexe, spinnwebenartige Gebilde formen oder wie Ölflecken, die sich in einer schleimartigen Substanz ausbreiten, erscheinen.539 Lehmann sah sich in der Tradition von Aristoteles und Johann Wolfgang von Goethe, er betonte den universalen Zusammenhang zwischen der anorganischen Natur der Kristalle und der organischen Natur von Lebewesen540 und gründete seine Untersuchungen auf die Studien von Ernst Haeckel, in denen dieser mehrfach auf Analogien und Zusammenhänge zwischen Kristallen und Organismen verwiesen hatte, sowie auf Paul Groths Arbeiten auf den Gebieten von physikalischer Kristallographie und Mineralogie. Haeckel wiederum verband Lehmanns Entdeckung der flüssigen Kristalle mit seinen eigenen Studien zu den Radiolarien. Da die flüssigen Kristalle Anzeichen von Reizbarkeit und Bewegung zeigten, war für Haeckel klar, sie waren „lebendig“ und mussten eine Seele haben, und zwar eine Kristallseele. Er widmete sein letztes großes Werk, das Buch „Kristallseelen: Studien über das anorganische Leben“ von 1917 dieser, seiner Überzeugung und machte Lehmanns Entdeckung zu einem Eckstein seiner monistischen Weltanschauung.541 Haeckels Radiolarien, kristalline Lebewesen, und Lehmanns flüssige Kristalle, lebendige Kristalle, waren der doppelte Beweis dafür, dass die Unterscheidung von organischer und anorganischer Natur nicht aufrecht zu erhalten war und bestätigten damit das Grundprinzip des Monismus. So schreibt Haeckel in Kristallseelen: „Es fielen jetzt mit einem Schlage die künstlichen Grenzen, die man bisher zwischen anorganischer und organischer Natur, zwischen Tod und Leben, zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft errichtet hatte. Alle Substanz besitzt Leben, anorganische ebenso wie organische; alle Dinge sind beseelt, Kristalle so gut wie Organismen. Unerschütterlich erhebt sich aufs neue die alte Überzeugung von dem inneren einheitlichen Zusammenhang alles Geschehens, von der unbegrenzten Herrschaft allgemeingültiger Naturgesetze: ,Nach ewigen, ehernen, großen Gesetzen müssen wir alle unseres Daseins Kreise vollenden!‘“542
Matjuschin war nicht nur mit Haeckels Studien vertraut, sondern er las auch mit großem Interesse von Lehmanns Entdeckung der flüssigen Kristalle. Lehmanns Vor539 Um die spektakulären Effekte der flüssigen und scheinbar lebenden Kristalle zu demonstrieren produzierte Lehmann sogar einen wissenschaftlichen Film, in dem er Mikrofotografie mit animierten Zeichnungen kombinierte. Vgl. Otto Lehmann, Flüssige Kristalle und ihr scheinbares Leben. Forschungsergebnisse dargestellt in einem Kinofilm, Leipzig 1921. 540 Lehmann 1911, S. 51–56. Den Zusammenhang zwischen Kristallographie und Biologie thematisierte er noch stärker in seinem Buch Die Lehre von den flüssigen Krystallen und ihre Beziehung zu den Problemen der Biologie von 1918. 541 Ernst Haeckel, Kristallseelen: Studien über das anorganische Leben, Leipzig 1917. 542 Ebenda, VIII.
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trag „Flüssige Kristalle und die Theorien des Lebens“ erschien 1908 in einer russischen Ausgabe (Abb. 17).543 Unter dem Einfluss von Haeckel und Lehmann begann Matjuschin den Kristall zum Bildgegenstand einer Serie von Selbstporträts zu machen.544 In seinen Memoiren schreibt er: „Meine Versuche, eine Selbstporträt zu malen, lassen sich auf 1914–15 datieren. Ich begann mit einer 17 Otto Lehmann, Flüssige Kristalle und die Theorie des Lebens (Odessa 1908) realistischen Darstellung, in der ich eine Ähnlichkeit im Ausdruck, die ich zwischen meinem eigenen Kopf und dem des Don Quixote wahrgenommen hatte – lang gestreckte Proportionen, eine Bereitschaft, heroische Taten zu vollbringen, eine starke Impulsivität – aufzeigen wollte. In nachfolgenden Werken versuchte ich, die Formen stärker zu vereinfachen, um den allgemeinen Umriss des Volumens und seine charakteristischen Züge zu erfassen.“545
Wie sich aus dieser Passage ableiten lässt, ging Matjuschin bei diesen Selbstporträts von einer realistischen Darstellungsweise und einer gewissen Ähnlichkeiten zwischen seiner eigenen Kopfform und der der literarischen Figur des Don Quichote aus. Die tragische Gestalt des Don Quichote mit ihren langen, schlaksigen Proportionen, ihrer starken Impulsivität und ihrer selbstlosen Bereitschaft, heroische Taten zu vollbringen, war eine Figur, auf die sich Guro immer wieder in ihren Werken bezogen hatte. Auch Matjuschin setzt sich sowohl in seiner Kanzone „Der Bettler Harlekin“ von 1909, die in Guros Buch „Der Leierkasten“ veröffentlicht wurde, als auch in dem 1915 veröffentlichten Stück „Don Quichote. Suite für Klavier“ mit dieser tragischen Gestalt auseinander.546 Darüber hinaus schuf er 1918 ein Aquarell für diesen Helden.547
543 Otto Lehmann, Flüssige Kristalle und die Theorien des Lebens, Vortrag gehalten am 21. September 1906, 2. verb. Aufl., Leipzig 1908. Russisch als: Leman 1908. 544 Isabel Wünsche, Living Crystals: The Roots of Mikhail Matyushin’s Spatial Realism, in: The Structurist 49–50, 2009–2010, S. 51–57. 545 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, in: Experiment / Eksperiment 1995, S. 215–216. 546 M. V. Matjušin, Niščij Arlekin (1909), in: Guro 1909 und Matjušin 1915b. 547 Michail Matjuschin, Don Quichote (Don Kichot), 1918, Aquarell und Bleistift auf Papier, 9,0 x 6,5 cm, Galerie Gmurzynska Köln, vgl. Köln 1977, Kat. 104, Abb. 128.
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Matjuschin bediente sich des Kristalls, an dessen Facetten das farblose weiße Licht prismatisch gebrochen wird, um simultan verschiedenartige individuelle Seiten der menschlichen Persönlichkeit darzustellen. Zugleich verband er den Kristall, dessen Lichtbrechungen auf ein inneres Wesen hinzuweisen schienen, mit der kubistischen Malweise, die die äußere Oberflächen der Gegenstände zerbrach, um ihre normalerweise unsichtbaren Seiten darzustellen. So wie der Kristall ein geeignetes Mittel war, das farblose weiße Licht in seine farbigen Komponenten aufzuspalten, galt Matjuschin die kubistische Malweise als eine geeignete künstlerische Methode, um von der Darstellung der typischen Eigenschaften des menschlichen Gesichts zur Charakterisierung seines inneren Wesens vorzudringen. Dies wird auch in seinem Text „Meine Suche“ deutlich, in dem er den künstlerischen Bemühungen um äußere Porträthaftigkeit im Realismus und Impressionismus das Streben nach einer Darstellung des inneren Wesens der Dinge im Kubismus und Futurismus gegenüberstellte.548 In seiner Serie der Selbstporträts als Kristall gelangte Matjuschin dann selbst schrittweise von einer äußeren Porträtierung zu einer immer stärkeren Konzentration auf die inneren Seiten seiner Person. Dabei diente ihm die räumliche Struktur des Kristalls als ideales Modell für die innere räumliche Struktur der Dinge. In der künstlerischen Ausführung waren Matjuschins Selbstporträts weniger von Malewitschs kubo-futuristischer Malerei, sondern stärker von Filonows analytischer Kunst beeinflusst. In Filonows Bildern bewunderte Matjuschin, dass „der Mensch und sein Gesicht ... immer fest mit der Natur und der Gegenständlichkeit verbunden“ waren und sich die Veränderungen von Gesicht und Körper bei ihm nicht nur im Moment der Bewegung, sondern auch in der Zeit vollzogen, womit die Entwicklung vom Kind über den Erwachsenen, zum Greis und Tod und bis zur erneuten Entstehung von „schöpferischen Formeln lebendiger Bewegung“ sichtbar wurde.549 In seinen eigenen Darstellungen nahm Matjuschin Filonows klare Analyse der inneren Zusammenhänge der Dinge und ihre Strukturbildung durch Abfolgen von farbigen Schichten auf. In seinem Bild „Selbstporträt. Kristall“ von 1917 (Tafel 6) folgt die Form des Kristalls derselben länglichen Kopfform, die Matjuschin als charakteristisch für seine eigene und Don Quichotes Kopfform hervorgehoben hatte.550 Alle räumlichen Verhältnisse im Bild schuf Matjuschin allein durch den gezielten Einsatz der Farbe und die bewusste Verwendung der räumlichen Qualität der unterschiedlichen Farbtöne. So veranlasst die Abfolge von dunklen und kalten Farbtönen am Rand zu hellen und warmen Farbtönen im Zentrum in der Gesichtspartie unterhalb der Augen zur Illusion des vorspringenden Raumes. Dieser räumliche Eindruck gipfelt im hellen Gelb des Nasenrückens und im Weiß der Nasenspitze und findet ein Pendant im hellen Ocker der Kinnpartie. Der Wechsel von breiten Streifen dunkler und kal548 M. V. Matjušin, Moi iskanija, F. 656, Op. 1, Ed. 131, S. 5. 549 Matjušin 1916, in: Harten/Petrowa 1990, S. 83. 550 Michail Matjuschin, Selbstporträt. Kristall (Avtoportret. Kristall), 1917, Öl auf Leinwand; 70,0 x 37,3 cm; Museum Ludwig, Köln. Vgl. Klotz 1991, S. 139, Kat. 10.
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ter Farbtöne mit schmalen Streifen heller und warmer Farben in der ausgedehnten Stirnpartie scheint hingegen in die Tiefe des Kopfs zu führen, sie mündet in die gelbe Zapfenform im Hintergrund, der Matjuschin als Zentrum der menschlichen Empfindungsfähigkeit ganz besondere Aufmerksamkeit schenkte. Durch die Brechung der farbigen Strahlen in Augenhöhe des Porträtierten erhält der Betrachter Eintritt in die innere Welt des Dargestellten. So wie der Kristall das farblose Licht bricht und dadurch in seine Komponenten zerlegt, nimmt das menschliche Auge die Lichtstrahlen, die von den Gegenständen reflektiert werden, auf und stellt mit der Verarbeitung des Seheindrucks im Gehirn die Verbindung von äußerer und innerer Welt her. Indem Matjuschin verschiedene farbige Flächen gegeneinander stellte, um räumliche Tiefe zu erreichen, nahm er in gewisser Weise seine spätere Farbtheorie vorweg, die auf der Idee beruhte, dass jede Form untrennbar mit einer Farbe verbunden ist. Matjuschin war überzeugt, dass der Mensch durch Analyse und Einblick in die neu entdeckte mikroskopische Welt und in die innere Struktur von Kristallen Aufschluss über die räumlich komplexen und unsichtbaren Erscheinungen der makroskopischen Welt gewinnen könne, da alle Erscheinungen des Universums aus denselben grundlegenden Elementarteilchen – den Atomen und Zellen – aufgebaut sind und denselben strukturellen Prinzipien und Naturgesetzen folgen.551 Seine späteren Kristalldarstellungen von 1919 und 1920 führten ihn immer weiter vom Individualporträt weg zu einer reinen Studie der räumlichen Verhältnisse in der Natur. Die Auseinandersetzung mit der räumlichen Komplexität der Atomstruktur des Kristalls, so wie sie in einem Bild „Kristall. Geometrisierung des Raumes“ von 1918 (Tafel 7) zum Ausdruck kommt,552 demonstriert nicht nur Matjuschins Interesse an der kubistischen Malweise, sondern bildet zugleich ein frühes Stadium in der Entwicklung seines „räumlichen Realismus“. Doch obwohl Matjuschin überzeugt war, dass der Kubismus das menschliche Bewusstsein „auf den Weg zu einer neuen räumlichen Wahrnehmung“ gebracht hatte, da er sich von der Natur entfernte und damit „die direkte Abbildung der Natur“ überwand,553 schlussfolgerte er: „zum Wesentlichen aber, zum Prozess der menschlichen Wahrnehmung und der Evolution der menschlichen Seele, dazu hat noch niemand etwas von Gewicht gesagt“.554 Er kam zu dem Ergebnis, dass Impressionismus und Kubismus neue fragmentarische künstlerische Zugänge für eine komplexe Darstellung der Welt in der Kunst entwickelt hatten und begann nach einer künstlerischen Methode zu suchen, die im Stande wäre, die momentanen Landschaftseindrücke des Impressionismus und die präzise kubistische Analyse der Eigenschaften des Gegenstandes mit einem umfassend entwickelten Verständnis von den Bauprinzipien der Natur zu synthetisieren. 551 M. V. Matjušin, Planetarnaja svjaz’, RO IRLI, F. 656, Op. 1, Nr. 131, S. 9–13. 552 Michail Matjuschin, Kristall. Geometrisierung des Raumes (Kristall. Geometrizacija Prostranstva), 1918, Öl auf Papier auf Holz; 68 x 50 cm; Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau, ŽS 5023. Vgl. Rudenstine 1982, S. 269, Kat. 527. 553 Matjušin 1932–1934, Exemplar RO GMISPb, zit. in: Powelichina 1977, S. 27. 554 Matjušin 1913a, S. 25. Deutsch in: Klotz 1991, S. 72.
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3. Neue künstlerische Wahrnehmungsweisen der Welt Nach der Oktoberrevolution wurden in Sowjetrussland alle kulturellen Fragen auf radikale Weise neu gestellt. Die Künstler waren aufgerufen, Partei für die Diktatur des Proletariats zu ergreifen und aktiv an der sozialistischen Umgestaltung des Landes teilzunehmen. Durch den bewussten Einsatz von ästhetischen Formen und künstlerischen Ausdrucksmitteln sollten sie zur Beseitigung der bürgerlichen Kultur und zur Gestaltung der neuen sozialistischen Wirklichkeit und Lebensweise beitragen. Dabei begegneten sich am Anfang oft individuelle Aktivitäten und staatliche Entwicklungsbestrebungen. Das vielfältige Engagement von Avantgarde-Künstlern in den ersten Revolutionsjahren war von der romantischen Vision getragen, die Jahrhunderte lange Trennung der Kunst vom Leben zu überwinden. Unter den historisch veränderten Bedingungen bestand für die Künstler der russischen Avantgarde die Hoffnung, die moderne Formensprache des Kubo-Futurismus und des Suprematismus beim Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung einzusetzen und die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft mit neuer Bedeutung zu erfüllen.555 Nach der Oktoberrevolution wirkte Matjuschin als Assistent von Malewitsch an den neu eingerichteten Freien Staatlichen Kunstwerkstätten (SWOMAS) in Petrograd, wo er 1919 das Studio für Räumlichen Realismus gründete. Fernerhin gehörte er mit Malewitsch, Filonow, Tatlin und Nikolai Punin zu den Gründungsmitgliedern des Museums für Künstlerische Kultur (MChK).556 Die frühen 1920er Jahren waren der Beginn von Matjuschins künstlerisch-wissenschaftlicher Karriere; in dieser Zeit führte er umfangreiche Studien zur physiologischen und psychologischen Dimension der menschlichen Wahrnehmung der Welt und ihrer Reflexion in der Kunst durch. Mit der Entwicklung der Methode des Erweiterten Sehens schuf er die Grundlage für seinen Räumlichen Realismus in der Kunst, der ein neues Verständnis von den räumlichen Verhältnissen in der Natur lehrte. Seine künstlerischen Bestrebungen erreichten ihren Höhepunkt 1923 mit der Formulierung der Deklaration „Nicht Kunst, sondern das Leben“ und der Gründung der Abteilung für Organische Kultur am MChK. In dieser Forschungsabteilung führte er gemeinsam mit seinen Studenten Boris, Georgi, Marija und Xenja Ender sowie Nikolai Grinberg umfangreiche Untersuchungen zur sinnlichen und geistigen Natur der menschlichen Wahrnehmung und den Möglichkeiten ihrer weiteren Entwicklung durch. Das MChK wurde 1924 in das Staatliche Institut für Künstlerische Kultur (GINChUK) umgewandelt; Matjuschin setzte die Forschungsarbeit seiner Abteilung zur Entwicklung und Bedeutung der menschlichen Wahrnehmung in der Kunst dort bis zur Schlie555 Bodo Zelinsky (Hg.), Von der Staffelmalerei zur praktisch nützlichen Dingwelt. Laborkunst, Gebrauchskunst, Produktionskunst, in: Russische Avantgarde 1917–1934. Kunst und Literatur nach der Revolution, Bonn 1991, S. 93–116. 556 Karassik 1991, S. 40–58; Irina Karasik, Petrogradskij Muzej chudožestvennoj kul’tury, in: Muzej v muzee. Russkij Avangard iz Kollekcii Muzeja Chudožestvennoj Kul’tury v Sobranii Gosudarstvennogo Russkogo Muzeja, Ausst.-Kat., St. Petersburg 1998, S. 9–33; diess., The Museum of Artistic Culture. The Evolution of the Idea, in: Russian Avant-Garde 2001, S. 13–21.
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ßung des Instituts 1926 fort. Darüber hinaus lehrte er bis 1926 an der reformierten Petrograder Kunstakademie.
Die Evolution von Kunst und Leben In Matjuschins Zugang zur Kunst spielte die Evolutionsidee eine grundlegende Rolle. Wie viele seiner Zeitgenossen verstand er Evolution als einen kontinuierlichen und fortschreitenden natürlichen Entwicklungsprozess von einfachen zu komplizierten Formen, vom anorganischen zum organischen Leben, vom Instinkt zum Bewusstsein, vom primitiven Tastsinn zum entwickelten Augensinn. Er sah in der Kunst eine Reflexion der biologischen und geistigen Evolution des Menschen und war überzeugt, dass die natürliche ebenso wie die künstlerische Entwicklung der Menschheit auf die tatsächlichen Lebensbedingungen reagierte und die Entfaltung der menschlichen Kreativität ebenso wie die Geschichte der künstlerischen Erfindungen parallel zur natürlichen Entwicklung des menschlichen Körpers und der Evolution der menschlichen Sinnesorgane und ihrer Wahrnehmungsfähigkeit verlief. Daher betrachtete Matjuschin die Werke der Kunst als Zeichen der schöpferischen Aktivität des Menschen, sie waren ihm zugleich historischer Ausdruck des jeweiligen von der Menschheit erreichten physischen und psychischen Entwicklungsstandes.557 In Analogie zum Evolutionsprozess in der Natur interpretierte Matjuschin den Verlauf der Kunstgeschichte deshalb als die Entwicklung von den primitiven Empfindungen und der flächigen Darstellung des Raumes zur einer höher entwickelten Wahrnehmung und dem Verständnis der dreidimensionalen perspektivischen Konstruktion des Raumes auf der Bildfläche: „Wenn der Sehakt bedeutet, Vorstellungen von der Welt der Phänomene wahrzunehmen, was für eine Energiequelle hat das Auge dann in seiner Evolution ausgelöst und aufgedeckt.“558 Ausgehend von der mathematischen Konstruktion des Raumes schuf er eine Kunstgeschichte gegründet auf die Evolution der menschlichen Wahrnehmung der Dimensionen des Raumes. Er beschrieb ihre Entwicklung als ein Fortschreiten von der eindimensionalen Wahrnehmung eines einzelnen Punktes zur Linie, die dann zur Vertikalen und Horizontalen wurde und damit die Fläche des zweidimensionalen Raumes schuf. Aus der Verbindung dieser zweidimensionalen Welt von Länge und Breite mit der Empfindung der Tiefe entstand für ihn das Konzept vom dreidimensionalen Volumen. Mit seiner positivistischen Konzeption des Evolutionsprozesses der menschlichen Wahrnehmung des Raumes zeichnete Matjuschin eine klar progressiv-fortschreitende Entwicklung von den frühen Kulturen bis zum Kubismus und stellte sich selbst als Künstler an das offene Ende dieses Prozesses. Matjuschin begann seinen Gang durch die Kunstgeschichte mit den frühesten Bildern der Menschheit, in denen die Darstellung des Raumes fehlte, weil sie „nichts 557 Matjušin, Tezisy k stat’e „Put’ znaka“ 1919. 558 Matjušin, Opyt chudožnika 1926, in: Chardžiev 1976, S. 169. Deutsch in: Klotz 1991, S. 85.
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als einzelne Teile“ wie die Werkzeuge, Idole, Vögel, Tiere und Menschen, mit denen sie in Berührung kamen, sahen und ihr Auge nicht zum objektiven Wesen der Dinge vordrang und keinen Zusammenhang zwischen den Gegenständen herstellte.559 In den kolossalen Bauwerken und Monumenten der Assyrer und Ägypter, die folgten, fand Matjuschin die instinktive Errichtung einer neuen Dimension, „die Senkrechte zur Erde“.560 Er resümiert: „Der große Säulensaal von Karnak in Ägypten – eine zusammengepreßte Gerade – ist Bewegung in einer Dimension....“561 Die Vollendung in der Wahrnehmung und Darstellung der zweiten Dimension, des Prinzips des Umfangs, fand Matjuschin bei den Griechen verwirklicht. Er bewertete die griechische Kunst als einen gewaltigen „Entwicklungsschub von Auge und Bewusstsein“ und die griechische Skulptur als „eine sehr energische Hinwendung zur zweiten Dimension in der Kunst“.562 „Architektur und Skulptur machen sich bei ihnen selbständig und dominieren. Das ist das Zeichen für die Vollendung eines allseitig ausgebildeten motorisch-muskulös-taktilen, aber nicht in die Tiefe gehenden Raumgefühls.“563 Die italienisch-griechische Kunst erreichte für Matjuschin ihren Höhepunkt mit der Fähigkeit, die Bewegung des Kopfs und das Leben des Gesichts wiederzugeben. Sie kulminierte für ihn im Werk von Giotto, dem ersten Maler, der die Fläche durch den Gebrauch der Perspektive bezwang: „... das geöffnete Auge erfaßt einen schmalen Keil.“564 Obwohl Matjuschin Leonardo da Vincis Gedanken „von der Entstehung und Vielfalt der Lebensformen und ihrer in der Tiefe verborgenen Einheit“ als Offenbarung begriff und Michelangelos „Kunst der Synthese“ hoch einschätzte, war es für ihn vor allem Rembrandt, der als erster „über die Senkrechte in die Tiefe vordrang“, da er sein Auge im Zentrum des Sichtbaren ansiedelte, von diesem neutralen Punkt aus einen weiten Ausschnitt erfasste und die Luft malte, die die Verbindung zwischen allem Sichtbaren schafft.565 Er charakterisierte dessen Werk folgendermaßen: „Er hört den Erklärungen von Verstand und Auge nicht mehr zu, sondern zwingt das Auge, sich zu öffnen. Seine Luft bewegt sich nach vorn, hinten, seitwärts und umfaßt in keinem ihr möglichen Umfang das Ganze, als ob sie die allgemeine künftige Freude des kosmischen Zusammenhangs vorausahnte.“566 Danach richtete Matjuschin seinen Blick vor allem auf die englischen und französischen Maler, die sich der Natur zugewandt hatten, wobei er der Schule von Barbizon besondere Aufmerksamkeit schenkte. Er betrachtete diese Künstler als die ersten freien Maler und Beobachter der Natur, die nach draußen gezogen waren, um sich im Feld, im Wald und auf der Straße mit der Weite der Natur zu umgeben, 559 Ebenda, S. 162. Deutsch in: ebenda, S. 81. 560 Ebenda, S. 168, 162. Deutsch in: ebenda, S. 85, 82. 561 Ebenda, S. 163. Deutsch in: ebenda, S. 82. 562 Ebenda, S. 166–168. Deutsch in: ebenda, S. 84–85. 563 Ebenda, S. 168. Deutsch in: ebenda, S. 85. 564 Ebenda, S. 171. Deutsch in: ebenda, S. 86. 565 Ebenda, S. 171. Deutsch in: ebenda, S. 86–87. 566 Ebenda, S. 171. Deutsch in: ebenda, S. 87.
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womit sie den Weg für die Impressionisten bereiteten.567 Doch obwohl Matjuschin die Malerei der Impressionisten mit ihrer erweiterten Betrachtung und ihren unmittelbaren atmosphärischen Reflexionen des Raumes in der Natur sowie ihre neuartige Verwendung der Farbe feierte, kritisierte er sie dafür, dass sie bei der Darstellung der äußeren Erscheinung der Gegenstände stehen geblieben und nicht zu ihrem inneren Wesen vorgedrungen waren und ihre Bewegung und die Wechselwirkungen mit ihrer Umgebung wiedergegeben hatten: „Sie sahen die glänzende Oberfläche, nicht aber den Körper selbst. Sie waren zu sehr auf eine bessere Methode aus, die Lichtvibrationen wiederzugeben, und konnten deshalb das Leben, die Kraft und Struktur eines jeden Körpers in seinem ganzen Volumen und in der Bewegung im Weltzusammenhang nicht sehen und spüren. Das geweitete Auge erreichte keine Tiefenschärfe. Die Idee der Peripherie des allgemeinen Weltkörpers war hier nicht richtig verstanden worden.“568
Aus diesen kunsthistorischen Betrachtungen schlussfolgerte Matjuschin, dass die Maler aller Nationen von den Anfängen bis zum Impressionismus kontinuierlich ihren Blickwinkel erweitert, jedoch immer nur einen kleinen Einzelfall der Natur dargestellt hatten. Er betonte, dass sie ihr Auge rein subjektiv benutzten, da sie die Naturdarstellung jeweils durch eine erdachte einfache oder historische Anekdote mit dem Menschen im Mittelpunkt ergänzten, womit sie ihren Werken einen triumphalen, tragischen oder sinnlichen Impetus gaben. Aus diesem Grunde erfassten diese Maler für ihn nur detaillierte Eigenschaften, jedoch nicht die Relationen zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen und die Eigenbewegung der Dinge sowie die Bewegung um sie herum. Trotzdem erschien Matjuschin der zurückgelegte Weg sinnvoll, denn er hatte die Menschheit gelehrt, bewusst zu sehen.569 Einen grundlegenden Wandel in der menschlichen Wahrnehmung der Welt entdeckte Matjuschin in den Bildern von Paul Cézanne. Er betrachtete diesen als den ersten Maler, der die „ganze Masse des Sichtbaren mit einem Schlag in ihrer heterogenen Bewegung und in der homogenen Verschmelzung lebendiger Linien“ sehend erfasste und die „Essenz des Weltzusammenhangs“ in seiner ganzen Weite und Tiefe in seinen Darstellungen zum Ausdruck brachte.570 Für Matjuschin war klar, Cézanne hatte erkannt: „was unserem schmalen kleinen Blick gerade erscheint, wird zu einer Kurve, wenn man es in die Unendlichkeit verlängert“.571 Er bewertete Cézannes neue Darstellungsweise des Raumes in der Kunst als Ausdruck eines neuen Stadiums in der menschlichen Wahrnehmung der Welt, die Hand in Hand mit der Aufhebung der Gültigkeit der Euklidischen Geometrie durch Nikolai Lobatschewski und Bernhard Riemann ging. 567 Ebenda, S. 166, 172. Deutsch in: ebenda, S. 84, 87. 568 Ebenda, S. 172. Deutsch in: ebenda, S. 87. 569 Ebenda, S. 171–172. Deutsch in: ebenda. 570 Ebenda, S. 173. Deutsch in: ebenda, S. 88. 571 Ebenda, S, 174. Deutsch in: ebenda.
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Als Zeitgenosse der Kubisten und Futuristen verkörperten deren Bilder für Matjuschin einen grundlegenden Paradigmenwechsel, denn diese legten die „innere Welt alles Sichtbaren“ offen und brachten zur Anschauung, was das gewöhnliche Auge normalerweise nicht sieht: „An die Stelle der Forderung nach Vollständigkeit des optischen Eindrucks, ..., tritt der Wunsch nach einer vielseitigen Pupille. Sie soll die Vibrationen aller Flächen, der vorderen, hinteren, oberen und unteren schlagartig und mit der ungewöhnlichen Intensität totaler Wahrnehmung einsaugen.“572 Er verstand diese künstlerischen Bewegungen als Pendants zu den neuen wissenschaftlichen Entdeckungen und modernen Technologien des eigenen Zeitalters. Doch während er Picassos Entfernung vom Abbild und seine Zerlegung der Gegenstände in „bewegliche und statische Flächen“ schätze, kritisierte er die italienischen Futuristen dafür, dass sie sich auf den „unbedingten Ausdruck äußerer Bewegung“ beschränkten, so dass ihre dynamischen Darstellungen nur eine schwache Nachahmung der wirklichen inneren Bewegung zeigten und damit nur eine notwendige Durchgangsstufe auf dem Weg zur wirklichen inneren Manifestation der Bewegung bilden konnten.573 Matjuschin betrachtete es als Hauptaufgabe des Künstlers, differenziertes Sehen zu erlernen und zu kultivieren, indem er nicht mehr nur zufällige Ausschnitte der Natur und der Welt wahrnahm, sondern das Leben in seiner ganzen Breite, Tiefe und Bewegung zu erfassen suchte. Dabei ging er davon aus, dass der Mensch physiologisch in der Lage sei, seinen Augensinn zu erweitern und auf diesem Wege zu einer neuen Wahrnehmung der Welt zu gelangen. Deshalb forderte er vom Künstler dem Auge abzugewöhnen, nur einzelne Teile zu sehen und es zu höherer Empfindsamkeit zu entwickeln, die mit einem neuen Bewusstsein von der Welt und mit einer komplexen Visualisierung des wahren Wesens der Natur verbunden wäre. Zugleich argumentierte Matjuschin, dass der Tastsinn den Augensinn für primitive Lebewesen bildete und nachfolgend im Prozess der Organdifferenzierung zur Entwicklung der anderen Sinne, wie Hören, Schmecken, Riechen, Sehen, geführte hatte.574 In Analogie schlussfolgerte er, dass die Evolution des am höchsten entwickelten Wesens, des Menschen, mit der Entwicklung des am höchsten entwickelten Sinnes, dem Augensinn, verbunden sein müsse. Deshalb war Matjuschin überzeugt, dass die Evolution des Menschen unmittelbar mit der weiteren Entwicklung des Sehens verbunden wäre. Er glaubte, dass die physiologischen und zerebralen Zentren des menschlichen Sehens zu einer höheren Ebene der Empfindung von Raum, Licht, Farbe und Form entwickelt werden könnten und eine vollkommen neue Dimension der räumlichen Wahrnehmung und Welterfahrung eröffnen würden.575
572 Ebenda. Deutsch in: ebenda. 573 Ebenda, S. 173–174. Deutsch in: ebenda. 574 M. V. Matjušin, Stat’ja. Nauka v iskusstve, 1926, RO IRLI, F. 656, Op. 1, Nr. 128. 575 Matjušin, Opyt chudožnika 1926 in: Chardžiev 1976, S. 169. Deutsch in: Klotz 1991, S. 85.
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Räumlicher Realismus und Erweitertes Sehen Mit anderen Zeitgenossen teilte Matjuschin das allgemeine Interesse an der Stellung des Menschen im Kosmos und dem Wesen der menschlichen Welterfahrung. Dabei wurden seine Ideen wesentlich von Ciąglińskis integrativem Impressionismus und von Kulbins psychophysiologischer Kunsttheorie geprägt. Wie diese Maler betrachtete auch Matjuschin die Kunst als ein Medium, die Welt in ihrer universellen Ganzheitlichkeit konzeptuell zu erfassen und darzustellen. Er suchte nach neuen künstlerischen Möglichkeiten, die traditionellen künstlerischen Gesetze und ästhetischen Konventionen zu überwinden. Indem er seine Aufmerksamkeit durch bewusste und intuitive Studien auf die organischen und universellen Rhythmen der Natur richtete, hoffte er eine erweiterte Vision von der Welt zu erlangen. Wie Kulbin forderte auch Matjuschin eine Erweiterung der traditionellen Formen der Kunst durch einen modernen und synthetischen Zugang zur Kunst und die Aufnahme der neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse. Für Matjuschin wie für Kulbin wirkte die äußere Welt unmittelbar auf die innere psychische Welt des Menschen, jedwede künstlerische und wissenschaftliche Tätigkeit des Menschen musste von der Natur ausgehen und sich an ihren Gesetzen orientieren. Beide führten die sinnlichen Erfahrungen des Menschen auf objektive Naturerscheinungen zurück und glaubten an die Kraft von wissenschaftlichen Experimenten und rationaler Analyse. Im Gegensatz zu Kulbin, der in der Kunst von seinen neurophysiologischen Studien ausging und sich mit seiner Kunsttheorie an Gustav Theodor Fechners psychophysiologischem Parallelismus orientierte, konzentrierte sich Matjuschin vor allem auf die Natur der visuellen Erfahrungen der räumlichen Wahrnehmung und gründete seine Überlegungen auf die jüngsten Erkenntnisse der Sinnesphysiologie: „Ein Maler bringt gewöhnlichen Menschen das Sehen bei. Er präsentiert, was er mit seinem neuen sich entwickelnden Auge gesehen hat.“576 Während Kulbin den Akzent auf die subjektive Verarbeitung des objektiv Wahrgenommenen durch die menschliche Psyche legte, richtete Matjuschin seine Aufmerksamkeit auf die physiologischen Vorgänge der visuellen Wahrnehmung des Menschen. Dabei orientierte er sich an den von Hermann von Helmholtz etablierten Grundkenntnissen über den Bau und die Funktionsweise des optischen Apparates des menschlichen Auges (Abb. 18). Mit seinem „Handbuch der Physiologischen Optik“ (1855 und 1896) hatte Helmholtz als erster eine umfassende Systematik der Prinzipien und Erscheinungsweisen des Sehens vorgelegt. Dieses Werk umfasste sowohl die anatomische Beschreibung des Auges und die physiologische Optik mit den physikalischen Grundlagen der Dioptik des Auges als auch die Lehre von den Gesichtsempfindungen und Gesichtswahrnehmungen. Helmholtz beschrieb das Auge mit seinen Bestandteilen als ein optisches Instrument, das wie eine Camera obscura funktioniert, nur dass sich anstelle einer lichtempfindlichen Platte die Netzhaut befindet, auf der das Licht Empfindungen hervorruft, die durch die im Sehnerv zusammengefassten Nervenfasern der Netzhaut 576 Ebenda, S. 174. Deutsch in: ebenda, S. 87.
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dem Gehirn zugeführt werden.577 In dem von Matjuschin 1932 herausgegebenen „Handbuch der Farbe“ zitierte er in Anlehnung an Helmholtz’ „Handbuch der Physiologischen Optik“:
18 Hermann von Helmholtz, Über das Sehen (St. Petersburg 1896)
„Der eigentliche Wahrnehmungsapparat unserer Augen besteht aus einem System brechender Medien (Augenlinse, Hornhaut, Glaskörper) und der inneren Haut des Augapfels, der Netzhaut. Entsprechend ihrer Bestimmung besteht die Netzhaut aus Nervenfasern, Zellen und den eigentlichen licht- und farbwahrnehmenden Gebilden – den Stäbchen und Zapfen.... Auf der Netzhautrückwand nahe der Stelle der Einmündung des Sehnervs, dem sogenannten gelben Fleck, ist ein großes Übergewicht der Zapfen über die Stäbchen zu beobachten. In der zentralen Grube des gelben Flecks, der Stelle des genauesten Sehvermögens, bedecken die Zapfen den Boden durchgängig. An der Peripherie der Netzhaut werden die Zapfen weniger und herrschen die Stäbchen vor.“578
Dabei übernahm Matjuschin auch Helmholtz’ Unterscheidung des direkten und indirekten Sehens, wonach sich der Prozess des Sehens in „das direkte Sehen, bei dem das Auge so auf ein Objekt gerichtet wird, dass dieses auf der Stelle des deutlichen Sehens abgebildet wird“ und „das indirekte Sehen, wenn nur mit den seitlichen Teilen der Netzhaut gesehen wird“, unterscheidet.579 Aus dem verschiedenartigen Aufbau und der unterschiedlichen Verteilung der Zapfen und Stäbchen in der Netzhaut und aus der Tatsache, dass der Mensch nur in einem „sehr kleinen Teil des Gesichtsfeldes 577 Hermann von Helmholtz, Handbuch der Physiologischen Optik, 2., verb. Aufl., Hamburg, Leipzig 1896. Im selben Jahr erschien Helmholtz’ Aufsatz „Über das Sehen des Menschen“ (1955) in russischer Sprache, vgl. Gel’mgol’tsc, O Zrenii, St. Petersburg 1896. Deutsch in: Hermann von Helmholtz, Vorträge und Reden, 4. Aufl., Braunschweig 1896, Bd. 1, S. 87–117. Außerdem waren zahlreiche russische Wissenschaftler und Ärzte bei Helmholtz tätig, hörte dessen Vorlesungen und Vorträge und setzten die bei ihm begonnene Forschungsarbeit oft in Russland fort. Vgl. P. P. Lazarev, Gel’mgol’c, Leningrad 1925. 578 Matjušin 1932, S. 16. Vgl. auch Helmholtz 1896a, S 3–44. 579 Hermann von Helmholtz, Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens, Vortrag von 1868, in: Helmholtz 1896b, Bd. 1, S. 280–281.
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genau sehen kann“, schlussfolgerte Matjuschin, dass der Mensch, um seine visuellen Fähigkeiten zu intensivieren, lernen müsse, die beiden unterschiedlichen Arten des Sehens – das direkte Sehen auf der Stelle des deutlichen Sehens im gelben Fleck und das indirekte Sehen mit den seitlichen Teilen der Netzhaut – bewusst miteinander zu verbinden: „Nur indem wir den Sehapparat bewusst in zwei handelnde Funktionen teilen und diese auch bewusst verbinden, beherrschen wir die uns von der Natur gegebenen Möglichkeiten in vollem Maße.“580 Dabei griff Matjuschin auf die Arbeiten des deutschen Physiologen Johannes von Kries zurück, der auf der Grundlage der Verteilung von Zapfen und Stäbchen in der Netzhaut des menschlichen Auges in den 1880er Jahren seine Zonentheorie des doppelten Sehens entwickelt hatte.581 Ausgangspunkt von Kries’ Theorie war die Erkenntnis über die grundlegend unterschiedliche Licht- und Farbenwahrnehmung beim Tages- und beim Dämmerungssehen sowie die Tatsache einer örtlich unterschiedlichen Empfindlichkeit der Netzhaut. Danach ist das Sehen im Hellen und im Dunkeln auf die unterschiedliche Verteilung und Funktionsweise der Stäbchen und Zapfen zurückzuführen. Die Stäbchen, die im gelben Fleck ganz fehlen, sind dafür in der Netzhautperipherie zahlreicher als die Zapfen, die die Netzhautgrube restlos bedecken, aber an der Peripherie spärlicher sind. Kries betrachtete die Zapfen als die allein farbempfindenden Organe, die „den Hellapparat des Auges“ bilden und bei Tageslicht in einem kleinen Bereich des Gesichtsfeldes das vollkommene Sehen ermöglichen. Das unbunte Dämmerungssehen bei schwachem Licht schrieb er hingegen der Tätigkeit der Stäbchen zu, die „den Dunkelapparat des Auges darstellen“, da sie äußerst lichtempfindlich sind, jedoch keine quantitativ verschiedenen Farbempfindungen, sondern nur farblose Helligkeitsempfindungen wahrnehmen können.582 Mit dieser Theorie schuf Kries zugleich eine Synthese der beiden rivalisierenden Theorien des Farbensehens, er nahm an, dass für die Vorgänge in der Netzhaut die Helmholtzsche Dreikomponententheorie gelte, für die Vorgänge im Zentralnervensystem aber die Heringsche Vierfarbentheorie gültig sei. Im Sinne von Kries’ physiologischer Theorie unterschied Matjuschin zwischen dem zentralen – direkten oder Tagessehens, das ausschließlich bei Tageslicht und hauptsächlich durch den gelben Fleck funktioniert – und dem peripheren, indirekten oder Dämmerungssehens, das durch die peripheren Teile der Netzhaut bei schwachem Licht realisiert wird, da die Unterscheidung der Farben infolge der ge-
580 Matjušin 1932, S. 17. 581 Johannes von Kries, Über die Funktion der Netzhautstäbchen, in: Abhandlungen zur Physiologie der Gesichtsempfindungen aus dem physiologischen Institut zu Freiburg i. Br. 1, 1897, S. 1–39; ders., Über die Physiologie der Sinnesorgane, in: Heinrich Rosin, Bericht über das Studienjahr 1897–98, Freiburg i. Br. 1898, S. 34–40; ders., Allgemeine Sinnesphysiologie, Leipzig 1923. So wie die Werke zahlreicher deutscher Wissenschaftler in Russland erschienen und russische Wissenschaftler ihre Arbeiten im Westen publizierten, veröffentliche auch Kries gemeinsam mit dem Moskauer Physiologen Alexander Samjolow u. a. Vgl. Vucinich 1970, S. 315–317. 582 Kries 1898, S. 38.
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ringen Empfindlichkeit der Zapfen verschwindet und nur die Wahrnehmung von Helligkeit und Dunkelheit bleibt. Er resümierte: „Beim Tagessehen sehen wir aufgrund der Deutlichkeit der Wahrnehmung von Farben und Formen alles am besten, doch dafür eng begrenzt wie durch ein feines Röhrchen in einem winzigen Fleck, dem so genannten gelben Fleck. Beim nächtlichen Sehen umfasst das Auge die gesamte Breite von Rand zu Rand, gibt aber weder die Schärfe noch die klare Farbigkeit des zentralen Flecks, dafür aber jede Bewegung wieder.“583
Doch während Kries die Zweckmäßigkeit der Funktionsteilung im Auge betonte, glaubte Matjuschin, dass eine Synthese von beiden Arten des Sehens möglich sei. Kries erklärte die unterschiedliche Verteilung von Zapfen und Stäbchen in der Netzhaut und die Teilung des Sehvorgangs in das deutliche zentrale Sehen bei hellem und das periphere Sehen bei geringem Licht: „So genügt für das vollkommene Sehen bei Tageslicht eine kleine Stelle des Gesichtsfeldes, während es im Dunkeln mehr auf eine hochgradige Lichtempfindlichkeit zur Wahrnehmung von Details als auf die Farbempfindung ankommt.“584 Da nach seiner Auffassung die Kombination beider Apparate nicht ohne Einbußen in der räumlichen Unterscheidungsfähigkeit stattfinden konnte, sah er darin die Möglichkeit, bei Ausbildung immer nur eines Effekts den jeweils höchsten Grad an Empfindlichkeit zu erreichen. Matjuschin hingegen erklärte, dass in der modernen Zeit, die eine schnelle Orientierung unter sich schnell bewegenden Gegenständen und ein Verständnis über die Zusammenhänge der Dinge in ihren Wechselwirkungen zur Umgebung erforderlich machte, das deutliche Sehen durch den gelben Fleck in einem sehr kleinen Blickwinkel nicht ausreichte, sondern auch die peripheren Teile der Netzhaut für die Seheindrücke herangezogen werden mussten. Dabei hielt er das periphere Sehen für besonders wichtig bei der Wahrnehmung von Bewegung: „Doch das Sehen ausschließlich über den gelben Fleck ist nicht ausreichend. Es ist eine Verstärkung der Empfindlichkeit der Peripherie der Netzhaut erforderlich, und es ist nicht unmöglich, dass die Anzahl der Zapfen am Rand der Netzhaut wachsen kann, was die Farbempfindlichkeit der Peripherie der Netzhaut erhöht.“585
Matjuschin glaubte, dass es möglich, notwendig und entwicklungsgeschichtlich an der Zeit war, durch bewusste Einflussnahme auf den Prozess des menschlichen Sehens die Anzahl der Zapfen in der Peripherie der Netzhaut zu erhöhen und dadurch zu einer vollkommeneren Wahrnehmung in einem größeren Teil des Sehfeldes und zur intensiveren Wahrnehmung von Bewegungsvorgängen zu gelangen. Er begründete seine Überzeugung evolutionstheoretisch damit, dass die historische Entwicklung beider Möglichkeiten des Sehens den Lebens- und Umweltbedingungen folgte, die den Menschen immer gezwungen hatten, kleinteilig aber genau zu sehen. Er 583 Matjušin 1932, S. 16. 584 Kries, 1898, S. 40. 585 Matjušin 1932, S. 17.
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betrachtete die Verteilung von Zapfen und Stäbchen in der Netzhaut als ein Produkt der Anpassung des Menschen an seine Umweltbedingungen, wobei er betonte, dass die Zapfen in der physiologischen Entwicklung des Auges später als die Stäbchen aufgetreten waren. Zur Bestätigung seiner evolutionsgeschichtlichen Hypothese führte er einige Beispiele aus der Tierphysiologie an, wonach die Ausbildung der Augen von den Lebensgewohnheiten der Tiere bestimmt wurde. Er stellte fest, dass sich die Anlage des Sehens und die Sehwinkel von Tieren, die andere erbeuten, grundlegend von denen unterscheiden, die sich vor ihren Feinden retten müssen. „Falke, Möwe, Bergfink, Gans, Ente, die einen besonders scharfen Blick benötigen, sind mit zwei gelben Flecken in jedem Auge ausgestattet; Tiere, die andere überfallen, und Tiere, die sich durch Flucht schützen müssen, sind mit verschiedenen Sehwinkeln ausgestattet. So beträgt die Abweichung der Sehachsen beim Löwen 10 Grad, während sie beim Hasen 170 Grad ausmacht.“586
Im Gegensatz zu Kries, der die Zweckmäßigkeit der Funktionsteilung im Auge betonte, weil dadurch der jeweils höchste Grad an Empfindlichkeit möglich sei, sah Matjuschin die Möglichkeit, diese beiden ergänzenden, physiologisch gegebenen Sehmethoden durch bewusstes Training zu einer völlig neuen Wahrnehmung zu kombinieren. Dabei abstrahierte er vollkommen von der Bedeutung der Selektion als einem grundlegenden Merkmal des visuellen Wahrnehmungsprozesses und jeder geistigen Tätigkeit. Er versuchte seinen Ansatz physiologisch zu fundieren, indem er die Beobachtung von Kries heranzog, wonach sich die Zapfen der Peripherie bezüglich ihres Baus und ihrer Leitungsverhältnisse grundlegend von denen der Netzhautgrube unterscheiden, „so daß der Gedanke einer Abänderung des Zapfenapparates gegen die Peripherie nichts Befremdendes hat“.587 In den veränderten Lebensbedingungen des modernen Zeitalters sah er die Ursachen für grundlegende organische Veränderungen in der physiologischen Konstitution des Menschen. Mit seiner synthetischen Perspektive reflektierte Matjuschin eine Variante der russischen Interpretation des Darwinismus, wonach die Entwicklungsprozesse nicht von natürlicher Auslese, sondern von harmonischer Symbiose bestimmt werden. Matjuschin war überzeugt, dass „die Empfindlichkeitsgrenzen der Netzhaut ... durch Training bedeutend erweitert werden“ können und rief zu einer bewussten Kombination von direktem Sehen im Tageslicht und indirektem Sehen in der Dunkelheit auf.588 Diesen Akt der bewussten Verbindung von zentralem und peripherem Sehen und die gleichzeitige Realisierung beider Sehweisen nannte er Erweitertes Sehen (Rasschirennoje Srenije). Durch das Erweiterte Sehen sollte es dem Menschen möglich werden, seine visuelle Wahrnehmungsfähigkeit zu erhöhen, seinen Blickwinkel auf volle 180 Grad zu erweitern, um die universelle Wirklichkeit komplexer wahrzunehmen. Letztendlich hoffte Matjuschin, dass eine vollkommene Realisie586 Matjušin 1932, S. 18. 587 Kries 1897, S. 39. 588 Matjušin 1932, S. 18.
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rung des Erweiterten Sehens mit der Bildung von Zapfen in der Peripherie der Netzhaut und Stäbchen im gelben Fleck verbunden wäre und zu adäquaten Veränderungen in der Umgebung des Menschen führen würde: „Das Erweiterte Sehen gibt in der Wahrnehmung ein Verständnis von den Zusammenhängen der Dinge und ihrer Beziehung zur Umgebung. Das Erweiterte Sehen ermöglicht die vollkommene Wahrnehmung eines beliebigen sich bewegenden Gegenstandes, weil kraft der physiologischen Besonderheiten des Auges gerade die Peripherie der Netzhaut sensibler für die Wahrnehmung der Bewegung ist.“589
Erweitertes Sehen bedeutete im physiologischen Sinne, die Peripherie der Netzhaut des menschlichen Auges zu sensibilisieren, diese zur Bildung von Zapfen anzuregen, um dadurch dort die Anzahl der „Organe der Farbwahrnehmung“ zu erhöhen und zu einer deutlichen Wahrnehmung in einem größeren Sehfeld zu gelangen. Nach der Übernahme einer Assistentenstelle bei Malewitsch an den SWOMAS im Herbst 1918 gründete Matjuschin dort 1919 das Studio für Räumlichen Realismus (Prostranstwennyj Realism), wo er gemeinsam mit seinen Studenten, den Geschwistern Boris, Georgi, Marija und Xenja Ender sowie Nikolai Grinberg zwischen 1919 und 1922 umfangreiche Forschungsarbeiten zum Erweiterten Sehen durchzuführen begann.590 Zur Erforschung des gegenwärtigen Standes und der Entwicklungsmöglichkeiten des menschlichen Wahrnehmungsapparates führte er gemeinsam mit seinen Studenten eine Reihe von Übungen zur Erweiterung des menschlichen Gesichtssinns durch und entwickelte experimentelle Methoden, die erforderten, bewusst in einem weiten Blickwinkel zu sehen, weit auseinander liegende Objekte simultan zu erfassen und im Raum bewegte Gegenstände aus den Augenwinkeln zu verfolgen. So übten sie zum Beispiel, gleichzeitig mit beiden Händen zu malen; aus dem Fenster blickend, den gesamten Bildausschnitt mit einem Mal deutlich wahrzunehmen; unterschiedliche Bewegungen, wie die von Menschen auf einer Straße, miteinander zu verbinden und ihr Auseinanderlaufen in verschiedene Richtungen mit dem Blick zu verfolgen; auf einer Brücke stehend sowohl die beiderseitige Uferbebauung als auch den Himmel zu betrachten u. a. m.591 Derartige Versuche wurden durch spezielle Hilfsmittel und Apparaturen erweitert und systematisiert. So 589 Ebenda, S. 17. 590 Boris Ender (1893–1960) studierte ab 1918 bei Petrow-Wodkin und Malewitsch an den Petrograder SWOMAS, Xenja Ender (1895–1955), Marija Ender (1897–1942) und Nikolai Grinberg (*1897) begannen ihre künstlerische Ausbildung 1918 im Studio von Malewitsch, wo Matjuschin als Assistent tätig war. Georgi Ender trat 1919 in das Studio von Matjuschin ein. Vgl. Dokumente im NBA ACh und CGIA, F. 7, Op. 8, Ed. 3076, 3077, 3078 und F. 7, Op. 3, Ed. 430. 591 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, S. 108. Boris Ender, Materiali per lo studio della fisiologia della vista complementare, in: Rassegna sovietica 3, 1978, S. 108–125; Zoia Ender, Claudio Masetti, Gli esperimenti del guppo di Matjusin, in: Rassegna sovietica 3, 1978, S. 100–107. Nikolai Kostrow und Jewgeni Kowtun haben mir 1991 diese Versuche sehr anschaulich beschrieben. Vgl. N. I. Kostrov, M. V. Matjušin i ego učeniki, in: Panorama iskusstv 13, 1990, S. 190–214; V. E. Delakroa-Nesmelova, Vospominanija o pedagogičeskoj dejatel’nosti prof. M. V. Matjušina 1922–1926, in: ebenda, S. 215–223; Nesmelov 1999.
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trainierten Matjuschin und seine Studenten zum Beispiel, zwei Formen, die mittels einer speziellen Einrichtung auf einem Schirm in der Horizontalen vom Zentrum zu den Seiten auseinander bewegt wurden, nicht aus dem Blickwinkel zu verlieren. Dabei zeigte sich, dass es ihnen bei der Beobachtung von zwei Formelementen auf der Horizontalen oder Vertikalen nur durch das Erweiterte Sehen möglich war, beide Anordnungen zugleich wahrzunehmen. Mit Räumlichem Realismus bezeichnete Matjuschin eine neue Wahrnehmung des universellen Raumes, eine „neue gegenständlich – gegenstandslose Wahrheit“.592 Dabei verwendete er den Begriff des Realismus ähnlich wie Malewitsch in seinem „Übersinnrealismus“ und Filonow in seinem „doppelten Realismus“ nicht im Sinne von detailgetreuer Abbildhaftigkeit, sondern im Sinne von „Objektivität“ und „universeller Wahrheit“. Realismus bedeutete für ihn nicht, die Naturerscheinungen sklavisch zu kopieren, sondern die schöpferischen Prinzipien und das Wesen der Natur zu enthüllen und ihr künstlerisches Schaffen nach den universellen Grundprinzipien der Welt auszurichten. Räumlicher Realismus verkörperte die Idee einer organischen Wahrnehmung der Welt durch die Rückkehr zur Natur; er bedeutete, die Möglichkeiten des menschlichen Sehens bewusst zu nutzen, um die Zusammenhänge und inneren Verbindungen zwischen den Dingen neu zu erfahren. Matjuschins Studio machte sich zur Aufgabe, durch die Anwendung des Erweiterten Sehens ein neues Abbild der Natur zu schaffen, wobei die neue Raumauffassung der Natur auf der Bildfläche als eine sich verändernde Masse zusammenhängender Teile, die beständig und ununterbrochen ihr Volumen, ihre Farbe, ihre Größe, ihr Gewicht und ihre Form verändert, sichtbar werden sollte. Der Hauptakzent der Arbeit in diesem Studio lag deshalb auf Naturbeobachtungen und dem Zeichnen und Malen in der Landschaft.593 In einem Überblick über die neusten Kunstströmungen in Petrograd charakterisierte Nikolai Punin 1923 Matjuschins Bestrebungen im Studio für Räumlichen Realismus folgendermaßen: „Matjuschins Atelier ist ein an Erfahrung, und zwar an konsequent durchdachter Erfahrung reiches pädagogisches Studio, das es sich zur Aufgabe macht, physiologisch auf das Bewußtsein einzuwirken. Eine Perfektionierung des Wahrnehmungsapparates durch ein kompliziertes System malerischer Erfahrung wird von Matjuschin als erster unablässiger Schritt auf dem Weg zu einer neuen Kunst angesehen. Daraus leitet sich eine intensive Arbeit am Auge ab; sie zielt in erster Linie auf eine Verbesserung der Sehschärfe und weiter auf eine Koordinierung des Auges mit den anderen Organen, die der Wahrnehmung von Welt und Leben dienen.“594
592 Matjušin, zit. in: Powelichina 1977, S. 33. 593 Nesmelov 2007, S. 26–33. 594 Nikolaj Punin, Obzor novych tečenij v iskusstve Peterburga, in: Russkoe iskusstvo 1, 1923, S. 17– 28. Deutsch in: Klotz 1991, S. 93–94.
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Im Zusammenhang mit der Forschungsarbeit zum Erweiterten Sehen im Studio für Räumlichen Realismus fuhr Matjuschin mit seinen Studenten in den Sommermonaten der frühen 1920er Jahre in die Umgebung von St. Petersburg, wo sie die vielfältigen Erscheinungen des offenen Landschaftsraumes studierten und eine Vielzahl von Landschaftsaquarellen schufen. Diese Zeichnungen sind jedoch weniger detailliert ausgearbeitete und eigenständige Kunstwerke, sonMichail Matjuschin, Heuhaufen, 1922, Staatliches Museum dern zumeist skizzenhaft festfür Geschichte der Stadt St. Petersburg gehaltene Eindrücke ihrer Naturbeobachtungen, sie bildeten eine Art Wahrnehmungsprotokolle und waren oft mit einer Datums- und Zeitangabe versehen.595 Charakteristisch für Darstellungen wie „Heuhaufen“ von 1922 (Abb. 19) sind die sphärisch gekrümmten Horizontlinien, die aus der Anwendung des Erweiterten Sehens resultierten. Zugleich vereinen sich Farbtöne und Formen in fließender Bewegung. Die horizontal oder diagonal geführten Farbstreifen fließen organisch ineinander und die in sich strukturierten Farbflächen werden von weich gerundeten Farblinien begrenzt. In den konvex und konkav gebogenen Begrenzungslinien sowie in den hohen Horizontlinien tritt die Kurvatur des im Erweiterten Sehen wahrgenommenen sphäroiden Raumes hervor. Diese räumlichen Naturstudien zum Erweiterten Sehen blieben nicht auf die Aquarelle von 1920–22 beschränkt, sondern wurden durch die 1920er Jahre hindurch fortgesetzt, sie fanden ihren Niederschlag in Matjuschins Landschaften in Rundansicht, die 1924 in Siwerskaja entstanden, in seinen Landschaften in erweiterter Sicht, die er 1925 in Waskelowo schuf, sowie in Xenja Enders Aquarellserie vom See Tartschowka von 1925 und in Marija Enders Aquarellen aus Martyschkino, Soluzedar und Odessa.596 595 So entstanden im Sommer 1920 und 1921 in Lachta Aquarellstudien wie Lachta – Horizontale von Xenja Ender; Gleichzeitige Beobachtung in 2 Perpendikularen und Lachta. Feld von Marija Ender; zwei Studien zur Beobachtung von 360 Grad von Georgi Ender u. a. Diese Werke wurden 1923 in der Ausstellung Petrograder Maler aller Richtungen gezeigt. 596 Zu den späteren räumlichen Landschaftsstudien gehören u. a. folgende Aquarelle im Staatlichen Russischen Museum in St. Petersburg: Michail Matjuschin, Erste Landschaft in Rundansicht, Serie „Hütten“, Siwerskaja, 1924; ders., Zweite Landschaft in Rundansicht, Serie „Fluß“, Siwerskaja, 1924; ders., Landschaft in erweiterter Sicht, Waskelowo, 1925 sowie ders., Landschaft in erwei-
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Matjuschins „Landschaft in vertikaler Weitsicht“ von 1921–22 (Tafel 8) ist ein Ergebnis seiner neuen Erfahrung von der räumlichen Komplexität der Natur.597 Das Aquarell ist eine Darstellung aus kosmischer Perspektive, es zeigt keinen statischen Naturausschnitt, sondern den Blick von einem erhöhten und oberhalb der Erdoberfläche liegenden Punkts auf die Erde. Der Körper der Erde wird zu zwei Dritteln sichtbar, er ist organischer Bestandteil des bewegten Universums. Die Darstellung gibt Matjuschins Beobachtung wieder, dass, wenn man den Blickwinkel auf eine Höhe von 50 bis 60 Grad stellt und sich dann leicht dreht, so dass man die ganze Weite des Himmels erfasst und die Bewegung der Wolken mit einschließt, um dann den Blickwinkel auf die Erde zu verlagern, ihre Oberfläche in einem intensiven orangefarbenen Ton erscheint.598 Matjuschin verwendete weder konstruktive geometrische Formen noch eine perspektivische Konstruktion, das Bild ist ausschließlich aus farbigen Flecken und Flächen komponiert, die den gerundeten Linien und Formen der organischen Natur folgen und den Körper der Erde und die Tiefe des kosmischen Raumes formen. Mit der Ablehnung der vordefinierten Richtungen des konstruierten mathematischen Raumes, der perspektivischen Betrachtungsweise und der Aufhebung der Begrenzungen des traditionellen Sehens durch die Ausdehnung des physiologischen Aktes der Wahrnehmung im Erweiterten Sehen schuf Matjuschin eine neue alternative Darstellungsweise des universellen Raumes der Natur, in der die homogene mathematische Konstruktion des Raumes und der Raum der physiologischen Wahrnehmung des Menschen miteinander verschmolzen. Seine Dekonstruktion der Perspektive führte ihn zur Wiederentdeckung der gekurvten sphäroiden Gestalt des Universums. Das Erweiterte Sehen ermöglichte Matjuschin und seinen Studenten, die Dinge in ihren Beziehungen zur Umwelt wahrzunehmen und ihre Bewegungen zu verfolgen, da ihnen durch die Verknüpfung des zentralen mit dem peripheren Sehen ein Blickwinkel von 180 Grad zur Verfügung stand. Im Vergleich zum zentralen Sehen führte diese Sehmethode jedoch zu grundlegenden Modifikationen der gewöhnlichen Raumvorstellungen und zu augenfälligen Veränderungen in den Farb- und Formerscheinungen der Dinge: „Detailliertes verschwindet infolge der Aufmerksamkeit auf das Ganze, doch dafür erhalten wir eine erheblich vollständigere Vorstellung über
terter Sicht, Waskelowo, 1925, Privatsammlung St. Petersburg. Vgl. Klotz 1991, S. 150–152, Kat. 20–23. Boris Ender, Ohne Titel, Waskelowo, 17.8.1925, Sammlung George Costakis. Vgl. Rudenstine 1982, S. 279, Kat. 543. Xenja Ender, See, 1925, Sammlung George Costakis. Vgl. ebenda, S. 297–300, Kat. 605–617. Marija Ender, Ohne Titel, Martyschkino, undat., Sammlung George Costakis. Vgl. ebenda, S. 301, 303, 306, 306, Kat. 618, 619, 627, 634, 636; diess., Ohne Titel, undat., Soluzedar, Sammlung George Costakis. Vgl. ebenda, S. 313, Kat. 657, 658; diess., Ohne Titel, Odessa, 1927, Sammlung George Costakis. Vgl. ebenda, S. 313–314, Kat. 659, 666. 597 Michail Matjuschin, Landschaft in vertikaler Weitsicht (Pejzaž na vertikal’noe rasširennoe smotrenie), 1921–22, Aquarell auf Papier; 49,2 x 42,2 cm; Staatliches Museum für Geschichte der Stadt St. Petersburg, Nr. 1-B-4151-p. Vgl. Klotz 1991, S. 149, Kat. 19. 598 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, Exemplar RO IRLI, S. 218.
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die Wechselwirkungen der Dinge.“599 Während das Erweiterte Sehen Form- und Farberscheinung der traditionellen Wahrnehmung isolierter Gegenstände durch das zentrale Sehen zerstörte, wurde die Farbe für Matjuschin und seine Studenten zum eigentlichen künstlerischen Medium, um die neuen Vorstellungen vom Raum in der Natur und den Wechselbeziehungen zwischen den Dingen und ihrer Umgebung darzustellen. Die Deformation der Form und die Veränderungen der Farbe, die die Gegenstände beim Erweiterten Sehen erfuhren, betrachteten sie als Ausdruck und Maß für die konkret vorliegenden Raumverhältnisse, die das zentrale Sehen nicht wiedergeben konnte. Auf der Grundlage dieser Erkenntnis begannen Matjuschin und seine Studenten bei ihren Naturstudien in den 1920er Jahren die Gesetze der Farbveränderungen, die Wechselwirkungen von Farbe und Form, den Einfluss einer farbigen Umgebung auf eine einzelne Farbform ebenso wie die Bedeutung der Bewegung auf die Veränderungen von Farbe und Form zu studieren. Diese Beobachtungen wurden durch experimentelle Untersuchungen von bewegten farbigen Modellen im Studio ergänzt. Gemeinsam mit seinen Studenten entwickelte Matjuschin eine Reihe von experimentellen Versuchen, die der Beobachtung der Unterschiede in der Wahrnehmung von bewegten Farbformen im zentralen und im Erweiterten Sehen und der Erforschung der Farberscheinungen in ihrer Abhängigkeit von Bewegung, Raum, Zeit und Beobachtungsbedingung dienten. Mit seinen beiden großformatigen Ölgemälden „Bewegung im Raum“, in denen er sich vor allem auf die Erscheinung und Veränderung der Farben konzentrierte, schuf Matjuschin eine eigenständige künstlerische Umsetzung zur Bedeutung der Farbe für die neue Vorstellung vom universellen Raum im Erweiterten Sehen. Diese Bilder sind einzig auf die Verwendung von Farben gebaut, deren Kontrastwirkung in unterschiedlicher Weise Bewegung im Raum konstituiert. Die Veränderlichkeit und die Kontraste der Farben enthüllten Matjuschin, der sich vor allem mit den physikalischen Eigenschaften der Farbe und den psychophysiologischen Tatsachen ihrer Wahrnehmung beschäftigte, universelle Prinzipien der Natur. In „Bewegung im Raum“ von 1917–18 (Tafel 9) schuf er mit der diagonalen Anlage eines breiten Farbbandes unterschiedlicher Farbstreifen Bewegung als Ausdruck eines inneren Weltzusammenhangs frei von jeglicher Dingwelt und Gegenstandsfunktion, allein durch das Spiel nebeneinander gesetzter und zugleich ineinander übergehender, kontrastierender Farben.600 Die endlosen Farbstreifen auf der Leinwand bilden nur einen kleinen Ausschnitt des Universums, in dem unterschiedliche Farben Manifestationen von Lichtwellen unterschiedlicher Länge darstellen. Diese Farben sind nicht absolut, sie wechselwirken mit ihrer Umgebung, diese kann ihre Erscheinung dunkler oder heller, stärker oder schwächer machen; ihre wechselseitige Beeinflus599 Matjušin 1932, S. 18. 600 Michail Matjuschin, Bewegung im Raum (Dviženie v prostranstve), 1917–18, Öl auf Leinwand; 124,0 x 168,0 cm; Staatliches Russisches Museum St. Petersburg, ŽB-996. Vgl. Klotz 1991, S. 140, Kat. 11.
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sung und Kontrastwirkung suggeriert dem Auge des Betrachters den Eindruck von ständiger Bewegung. „Bewegung im Raum“ von 1918 war ein weiterer Versuch von Matjuschin, die tatsächlichen Raumverhältnisse des universellen Kosmos nicht durch perspektivische Konstruktion, sondern allein durch den Wert und Kontrast der Farben wiederzugeben.601 Die organisch geformten und zu einem dicken Band gebündelten Farbsegmente heben sich plastisch vom schwarzen Hintergrund ab. Das seilartig geflochtene Farbband, das sich aus organisch geformten Strukturelementen von reiner Farbigkeit zusammensetzt, scheint sich nach oben und nach unten ins Unendliche fortzusetzen, es wirkt wie ein winziger Ausschnitt eines endlosen farbigen Lichtbündels, das wie zufällig die Leinwand durchläuft. Der scheinbar regellose Kontrast aus Zusammenklang und Dissonanz farbintensiver organischer Strukturelemente erinnert an die Hintonschen Versuche mit farbigen Würfeln.602 Wie Hinton mit seinen Würfelversuchen forderte Matjuschin den Betrachter mit dieser Darstellung auf, sein räumliches Vorstellungsvermögen durch das Streben nach plastischer Wahrnehmung zu aktivieren. Matjuschin verwirklichte seinen Räumlichen Realismus mit der Methode des Erweiterten Sehens. Erweitertes Sehen bedeutete ihm, dem Wissen über eine neue Dimension des Raumes, eine neue Form der Wahrnehmung entgegenzusetzen. Erweitertes Sehen war ein physiologisches Konzept, das von seinen Naturstudien und den Ideen von Hinton und Ouspensky angeregt worden war und auf den physiologischen Untersuchungen von Helmholtz und insbesondere auf der Kries’schen Zonentheorie gründete. Erweitertes Sehen proklamierte eine vollständige Kombination von direktem und indirektem Sehen durch die physiologische Ausdehnung des menschlichen Gesichtsfeldes und die Zunahme der Anlage und Verteilung von Stäbchen und Zapfen in der Retina des menschlichen Auges. Mit der Kombination von selektiv gerichtetem, genauem Sehen in ausgewählte Richtungen und peripherem Sehen beabsichtigte Matjuschin das menschliche Gesichtsfeld auf volle 180 Grad auszudehnen und eine adäquate Wiedergabe des Volumens der Dinge und ihrer Bewegung im Raum sowie die Wechselwirkungen zwischen den Gegenständen und ihrer Umgebung zu erlangen.
SORWED und Organische Kultur In seinem künstlerischen Schaffen strebte Matjuschin nach einer vollkommenen Wahrnehmung der räumlichen Tiefe, d. h. nach der Visualisierung des plastischen Volumens der Gegenstände. Dabei verfolgte er Hintons Grundidee, sich die Dinge nicht so zu veranschaulichen, wie sie erscheinen, sondern so, wie sie sind. Mit Hinton 601 Michail Matjuschin, Bewegung im Raum (Dviženie v prostranstve), 1918, Öl auf Leinwand; 85,2 x 59,0 cm; Staatliches Russisches Museum St. Petersburg. Vgl. Frankfurt Main 1992, Kat. 381. 602 Charles Howard Hinton, The Fourth Dimension, London 1904.
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und Ouspensky stimmte er darin überein, dass der Mensch, bevor er die Fähigkeit entwickeln könne, die vierte Dimension des Raumes wahrzunehmen, lernen müsse, sich die Gegenstände nicht in der Perspektive, sondern von allen Seiten zugleich in ihrer plastischen Dreidimensionalität zu veranschaulichen, so wie er sie von der Welt der vierten Dimension aus sehen würde. „Gewöhnlich sehen wir die Gegenstände entweder über oder unter uns oder auf der gleichen Ebene mit uns rechts oder links hinter uns oder vor uns und immer nur von einer Seite – derjenigen, die uns gegenübersteht – und in der Perspektive.... Was wir Perspektive nennen ist in Wirklichkeit eine verzerrte Darstellung der sichtbaren Gegenstände, welche durch ein schlecht gebautes optisches Instrument hergestellt wird. Infolge der Gewohnheit sehen wir alle Gegenstände verzerrt und veranschaulichen sie uns auch so, obwohl dafür keine Notwendigkeit besteht, da die Kraft der Veranschaulichung nicht durch die Kraft des Sehens begrenzt wird, und wir lernen können, sie uns so zu veranschaulichen, wie wir wissen, daß sie wirklich sind.“603
Dabei ging Matjuschin von einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Auge und dem Bewusstsein des Menschen aus. Mit der Verbindung von selektiv gerichtetem direkten Sehen und peripherem Erweiterten Sehen hatte er einen ersten Schritt getan, einen Zusammenhang zwischen der visuellen Wahrnehmung und dem intuitiven Verstand herzustellen. Zugleich gelangte er zu der Überzeugung, dass die Kraft der Veranschaulichung über die Physiologie des Sehens hinausgehen müsse. Die zentrale Frage war für Matjuschin deshalb nicht „was können wir sehen“, sondern „wie können wir unsere wahrnehmenden und intellektuellen Fähigkeiten weiter entwickeln“, um ein neues Verständnis von der Welt als organisches Ganzes zu erlangen. Auf der Grundlage seiner Beobachtungen der Raumzusammenhänge in der Natur, seiner künstlerischen Erfahrungen und der Ideen von Hinton und Ouspensky, wonach das menschliche Auge ein äußerst unvollkommenes Instrument ist und ein völlig unkorrektes Bild von der Welt gibt, gelangte Matjuschin zu der Überzeugung, dass der Mensch und insbesondere der Künstler die natürlichen Fähigkeiten seiner Wahrnehmungsorgane nicht vollkommen ausschöpft.604 Er forderte die Erweiterung der visuellen Wahrnehmung des Menschen durch intensives physisches und psychisches Training und durch die Verwendung der Kunst. Um den Raum, von dem der Mensch allseitig umgeben ist, gleichzeitig in alle Richtungen zu erfassen, forderte Matjuschin vom Künstler, die einseitige und „eineinhalbdimensionale Betrachtung“ isolierter Gegenstände aufzugeben und zu lernen, den Gegenstand mit den Augen wie mit den Händen zu umfassen, um zu fühlen, dass er keine Grenzlinie, sondern ein Volumen hat, und dass das, was als Linie erscheint, immer eine Fläche ist.605 Der Mensch sollte das Auge daran gewöhnen, vom Zentrum ausgehend an allen Strahlen 603 Charles H. Hinton, A New Era of Thought, London 1888, in: Matjušin 1913a, S. 30–31. Deutsch in: Klotz 1991, S. 74. 604 Matjušin 1932, S. 15. 605 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, S. 130.
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der Senkrechten des „neuen Perpendikulars“ entlangzulaufen, um so das Wesen des Weltzusammenhangs sehend in sich aufzunehmen. Er forderte: „Man muß den Fixierpunkt zerschlagen ... und die Netzhaut zu einem Behälter für das Chaos machen, um eine neue Wahrnehmung der Welt zu schaffen.“606 In der Ausstellung „Petrograder Maler aller Richtungen“ im April 1923 präsentierte Matjuschin der Öffentlichkeit sein Programm der Kunst als Lebensform zur Selbstvervollkommnung des Individuums. Mit seiner Deklaration „Nicht Kunst, sondern das Leben“ etablierte er die Kunst als Lebenskultur, gegründet auf eine organische Weltanschauung.607 Matjuschin charakterisierte die Kunst als ein symbolisches Zeichen der natürlichen Entwicklung der schöpferischen Fähigkeiten des Menschen, in der die von ihm gesammelten Erfahrungen ihren Ausdruck fanden. Er verfolgte ihre „unablässige Bewegung und Entwicklung“ von der einfachen Eindrucksspiegelung bis zur ihrer Spaltung in die unterschiedlichsten Richtungen und verlieh zugleich seiner Überzeugung Ausdruck, dass die Menschheit an einem evolutionsgeschichtlichen Wendepunkt angelangt sei und die Erfahrungen des modernen Lebens zu gravierenden Veränderungen in der Natur und Erkenntnisfähigkeit der Menschheit führen würden, die unmittelbar bevorstanden. Er verglich diese Veränderungen im Sinne von Ouspensky mit dem Übergang zur Erfahrung der vierten Dimension des Raumes und glaubte, dass sich diese zuerst in der Kunst offenbaren würde.608 Deshalb betrachtete er es als die Aufgabe des Künstlers, durch sein Schaffen bewussten Einfluss auf die Intensivierung und Erweiterung der visuellen Wahrnehmung und sinnlichen Erfahrungen des Menschen zu nehmen. Im Glauben an den Fortschritt in der menschlichen Evolution und eine ständige Höherentwicklung des menschlichen Organismus, die mit einer wachsenden Differenzierung der menschlichen Sinneserfahrungen und einer Zunahme seines intellektuellen Vermögens verbunden wäre, rief Matjuschin zur bewussten Sensibilisierung aller Sinnesorgane auf, um die sinnlichen und geistigen Fähigkeiten des Menschen zu erweitern und zur vollständigen organischen Wahrnehmung und komplexen Erkenntnis der Welt zu gelangen. Diese Entwicklung allumfassender Wahrnehmungsmethoden nannte Matjuschin Organische Kultur (Organitscheskaja Kultura). Dabei versprach sich Matjuschin von der gleichzeitigen Entfaltung und wechselseitigen Verbindung aller Sinne eine allseitige Entwicklung des menschlichen Vorstellungsvermögens und Intellekts. Durch die Synthese von Wahrnehmung und Vorstellung, Erfahrung und Erkenntnis sollte es dem Menschen der Zukunft möglich werden, seine Umwelt in jedem beliebigen Moment komplex zu erfahren und simultan zu sehen, zu tasten, zu hören und zu fühlen.
606 Mikhail Matjušin, Dnevnik 1922, RO IRL, F. 656, H. 2, S. 36, zit. in: Powelichina 1977, S. 28. 607 M. V. Matjušin, Ne iskusstvo, a žizn’, in: Žizn’ iskusstva, Nr. 20, Petrograd, 22. Mai 1923, S. 15. Deutsch in: Klotz 1991, S. 80–81. Vgl. Dokumente, S. 229. Seine Deklaration wurde zusammen mit den Deklarationen von Filonow, Malewitsch und Mansurow veröffentlicht. 608 Ebenda.
158 | Michail Matjuschin und die Organische Kultur
Organische Kultur bedeutete die bewusste Einflussnahme des Künstlers auf die Entwicklung des menschlichen Organismus und die Erweiterung seiner Fähigkeiten. Die Konzeption der Organischen Kultur gründete auf der Idee, dass der Mensch durch die bewusste Verarbeitung seiner sinnlichen Erfahrungen und inneren Empfindungen, des intellektuellen Wissens und der erworbenen Bildung sowie durch körperliches Training die gegenwärtigen Limitierungen der physischen und psychischen Fähigkeiten seines Körpers überwinden und sich zu einer neuen Stufe der Welterkenntnis erheben könne. Dabei ging Matjuschin von der grenzenlosen physischen und psychischen Entwicklungsfähigkeit des menschlichen Körpers und Geistes aus. Das simultane und bewusste Zusammenwirken von Auge, Tastsinn, Gehör und Gedächtnis betrachtete er als Grundlage für ein neues räumliches Verständnis von den Gegenständen sowie von ihrer Bewegung und ihren Wechselwirkungen mit ihrer natürlichen Umgebung. Matjuschins allgemeines Streben nach Synthese aller verfügbaren Formen der Erkenntnisaneignung reflektierte einerseits seinen Optimismus, dass der Mensch in der Lage sei, ein neues Stadium zu erreichen, in dem er die wahre Wirklichkeit hinter der tatsächlich sichtbaren Welt erfassen könne, und war andererseits von seiner Hoffnung geprägt, dass die Erweiterung der physischen und psychischen Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen mit der Entfaltung eines ganzheitlichen Individuums verbunden sei, in dem rationales Denken ergänzt durch emotionale und spirituelle Erfahrungen zu einer neuen Qualität der Welterfahrung führen würden. Die Bezeichnung Organische Kultur gründete auf Matjuschins Verständnis von der Welt als einem einzigen ganzheitlichen Organismus. Organische Kultur betrachtete die Natur als das Material des künstlerischen Schaffensprozesses, das Universum wurde zum Gegenstand der sinnlichen und geistigen Aneignung durch den Menschen. Eine entwickelte Physiologie des Sehens verbunden mit intellektuellem Wissen und geschulter Sinneswahrnehmung war dazu bestimmt, die Wechselwirkungen zwischen den Dingen und ihrer Umgebung zu enthüllen, die Erde als organisches Ganzes in ihrer Bewegung zu veranschaulichen und die Verbindungen zwischen der Erde und dem Universum wiederzugeben. „Das organische Verständnis des Lebens bedeutet den Einschluss seiner selbst als Teil in die Welt, in den gesamten Organismus. Daher geschieht die vollständige Wahrnehmung der Welterscheinungen nicht durch irgendwie eine Seite, sondern durch den ganzen Organismus. Diese Wahrnehmung der Welt bildet die Antwort auf das besonders komplizierte Nervensystem und fordert energisch die breiteste Entwicklung der funktionalen Apparate des Nervensystems: Tastsinn, Gehör, Sehen, Denken. Aufgabe und Ziel der Fakultät für Organische Kultur ist die Vermittlung der neuen Methoden des Studiums des gleichzeitig in alle vier Richtungen wirkenden Tastsinnes, Gehörs, Sehens und Denkens, um im Studierenden eine neue Kultur und Organismuswahrnehmung zu entwickeln und zu schaffen.“609 609 M. V. Matjušin, Ob organičeskoj kul’ture, zit. in: Povelichina/Vasil’eva/Pennanen 1996, S. 9.
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Matjuschin war überzeugt, dass der Mensch durch die wechselseitige Verbindung von Tastsinn, Sehen, Hören und Denken zur komplexen Wahrnehmung der Welt als organisches Ganzes gelangen könne. In der Verbindung des Erweiterten Sehens mit allen anderen Sinnen der menschlichen Wahrnehmung und Formen innerer Erkenntnis entwickelte er SORWED (Sorkoje Wedanije = scharfsichtiges Wissen), das auf der Vereinigung von Sehkraft (russ. Srenije) und Wissen (altruss. Wedanije) gründete. SORWED war die aus dem Erweiterten Sehen gezogene Konsequenz; auf die Erweiterung des Sehvermögens folgte die Ausdehnung des menschlichen Vorstellungs- und Denkvermögens. SORWED bedeutete die Verbindung von direktem Tagessehen und indirektem Dämmerungssehen im Erweiterten Sehen mit einem Blickwinkel von 180 Grad durch die Verknüpfung mit Formen der inneren Erkenntnis wie Empfindungen, Erfahrungen und Wissen zu einem höheren Bewusstsein und auf den vollen Umfang von 360 Grad auszudehnen. SORWED hieß gleichzeitig zu sehen und zu wissen, nicht nur mit den Augen zu sehen und sich an Bekanntes zu erinnern, sondern zu lernen, die Welt „mit dem Hinterkopf, dem Dunklen, den Schläfen und sogar mit den Fußspuren zu sehen...“610 SORWED bedeutete eine neue organische Betrachtungsweise der Welt durch die Entfaltung des ganzheitlichen Menschen. In der Verbindung der Wahrnehmung der sichtbaren materiellen Welt mit den Erfahrungen der unsichtbaren immateriellen Wirklichkeit strebte SORWED nach einer komplexen Wahrnehmung, die die Gegenstände allseitig und zugleich in ihrer plastischen Dreidimensionalität erfasste. Während das Erweiterte Sehen ein rein physiologisches Konzept zur Ausdehnung des menschlichen Gesichtsfeldes darstellte, strebte SORWED danach, wissenschaftliche Erkenntnis und rationales Denken des Westens mit den mystischen Erfahrungen und dem Spiritualismus des Ostens zu einem neuen Weltverständnis zu vereinen. „Auf den Sehakt selbst bezogen (Beobachtungsfeld: 360 Grad), betritt ‚SORWED‘ erfahrungsmäßiges Neuland. ‚SORWED‘ bedeutet: physiologischer Wandel der früheren Sehweise und folglich eine völlig andere Darstellungsweise des Gesehenen. ‚SORWED’ bezieht erstmalig Beobachtung und Erfahrung des bisher verschlossenen ‚Hintergrundes‘ ein, des ganzen Raumes, der aufgrund von mangelnder Erfahrung ‚außerhalb‘ menschlicher Reichweite blieb.“611
SORWED entsprach Matjuschins Grundüberzeugung, dass der Mensch als integraler Bestandteil der Natur in seinem Tun den Prinzipien der Natur folgen und der Künstler nach adäquaten Erkenntnisformen ganzheitlicher Welterfahrung streben müsse. SORWED bedeutete wie Malewitschs „Übersinnrealismus“ und Filonows „analytische Kunst“ eine „neue schöpferische, intuitive Vernunft, die an die Stelle der unaufgeklärten Intuition getreten ist“.612 Während das Erweiterte Sehen auf dem physiologischen Training des menschlichen Auges gründete, verkörperte SOR610 Freie Interpretation von Powelichina nach Matjušin 1923, S. 15. Vgl. Powelichina 1977, S. 29. 611 Matjušin 1923, S. 15. 612 Matjušin 1916, S. 18.
160 | Michail Matjuschin und die Organische Kultur
WED einen psychischen Bewusstwerdungsprozess, der auf dem Zusammenwirken von Auge, Zentralnervensystem und Gehirn gründete. Damit stellte SORWED eine Form der schöpferischen Intuition dar, die über das logisch-rationale Denken hinausgehend Erfahrungen des Unbewussten in die Erkenntnis einbezog. Dazu gehörten Formen wie mystische Erfahrung, Anschauung, Versenkung, inneres Empfinden und sinnliches Erleben.613 SORWED machte den Künstler zu einer Art „Hellseher“, denn indem er nicht nur mit den Augen sah und sich an Bekanntes erinnerte, wirkte er im Sinne von Ouspensky an der Herausbildung einer vierten Einheit des psychischen Lebens, der höheren Intuition.614 „Und auf der gegenwärtigen Entwicklungsstufe gibt es nirgendwo ein ähnlich machtvolles Instrument, um die Welt der Ursachen zu erkennen, wie die Kunst. Der Künstler muß Hellseher sein; er muß sehen, was andere nicht sehen. Und er muß ein Magier sein, muß die Gabe besitzen, andere dazu zu bringen, das zu sehen, was sie von alleine nicht sehen, was er aber sieht.“615
Vom Künstler forderte Matjuschin, dass er lernen müsse, gleichzeitig mit beiden Augen voneinander unabhängige Bewegungen auszuführen und in verschiedene Richtungen zu schauen, um die kosmisch richtungslose Natur des Raumes wahrzunehmen und in der Überwindung der Grenzen der visuellen Wahrnehmung ein neues Verständnis für Tiefe und Bewegung zu erlangen. Vergleichbar mit der Intuition bei Bergson und ganz im Sinne von Losskijs Intuitivismus brach SORWED die Vorherrschaft des Intellekts, der die Welt in mathematischen Kategorien statisch erfasste, und bedeutete eine Befreiung der instinktiven Erkenntnisformen des organischen Lebens. SORWED sollte den Künstler befähigen, mit erhöhter visueller Genauigkeit auf die Dinge zu schauen und sie in ihrem Volumen zu erfassen, um ein tieferes Verständnis von ihrem verborgenen Wesen und ihrer Bewegung zu erlangen. Die Verbindung von bewusstem Sehen und Vorstellungskraft sollte ihm ermöglichen, den Blick mit größerer Schärfe visuell über die Dinge hinweg und intellektuell um sie herum gehen zu lassen, um die Welt als organisches Ganzes in ihrer allgemeinen Bewegtheit und die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Dingen wahrzunehmen und die Verbundenheit des Erdballs mit dem Universum zu reflektieren. Durch den physiologischen Wandel der früheren Sehweise und die damit verbundene veränderte Darstellungsweise des Gesehenen sollte es dem Künstler möglich werden, in neue räumliche Dimensionen vorzudringen und die Spaltung der Kunst in so genannte „rechte“, „zentrale“ und „linke“ Kunst aufzuheben. Auf die „Explosion der russischen Revolution“ ließ Matjuschin die einer neuen Erkenntnis von der Welt folgen, allen wirklich Lebendigen und Suchenden verhieß er wahrhaftige Freiheit und 613 Parton 1995, S. 193–215; Douglas 1988, S. 185–199. 614 Uspensky 1911, S. 69, in: Matjušin 1913a, S. 25. Deutsch in: Klotz 1991, S. 72. 615 Uspensky 1911, S. 12, in: Matjušin 1913a, S. 26. Deutsch in: Ebenda, S. 73.
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echtes Leben durch die auf die äußere Befreiung der Gesellschaft folgende innere und geistige Befreiung, die er in der Vervollkommnung des menschlichen Organismus suchte.616 Bei der Verwirklichung von SORWED richtete Matjuschin besondere Aufmerksamkeit auf die Aktivierung der Sensibilität des Sehzentrums im menschlichen Hinterkopfbereich. Er betrachtete die biologische Anlage eines lichtempfindlichen Zentrums am Hinterkopf des Menschen, das normalerweise keine Rolle in der menschlichen Wahrnehmung spielt, jedoch von Spezialisten für die Entwicklung der Sinneswahrnehmungen von blinden u. a. in ihrem sinnlichen Wahrnehmungsvermögen stark eingeschränkten Personen herangezogen werden kann, als evolutionsgeschichtliche Bestätigung dafür, dass der Mensch tatsächlich ein Sehen „nach vorn“ und „nach hinten“ zugleich entwickeln und zur komplexen Wahrnehmung in 360 Grad voranschreiten könne. Er war überzeugt, dass, so wie der Tastsinn der Primärsinn ist und das primitive Sehvermögen der einfachen Lebewesen bildet und zur Ausbildung von Gehör-, Geschmacks-, Geruchs- und Gesichtssinn geführt hatte, das lichtempfindliche Zentrum am menschlichen Hinterkopf zur Reaktion auf und zur Wahrnehmung von Licht, Farbe, Form und Raum geführt werden könne und damit eine vollkommen neue Dimension der räumlichen Wahrnehmung eröffnen würde. „Neue Forschungsergebnisse belegen, daß die Hirnzentren am Hinterkopf auf Raum, Licht, Farbe und Form reagieren. Eine Reihe von Versuchen und Beobachtungen, die ‚SORWED‘ Künstler angestellt haben, lassen eindeutige Rückschlüsse auf eine räumliche Sensibilität der im Hinterkopfbereich liegenden Sehzentren zu. Das eröffnet dem Menschen überraschend die gewaltige Welt räumlicher Wahrnehmungen, und da für den Menschen und den Künstler die Erkenntnis des Raumes die wichtigste Gabe ist, bedeutet dies einen neuen Schritt und Lebensrhythmus, der sich in keiner Form und keinem Zeichen von ‚Rechts und Links‘ einfangen läßt.“617
In der Ausstellung „Petrograder Maler aller Richtungen“ stellte Matjuschin gemeinsam mit Boris, Georgi, Marija und Xenja Ender sowie Nikolai Grinberg als Gruppe unter dem Titel „SORWED – Die Erfahrung des Erweiterten Sehens“ aus.618 Neben 616 Matjušin 1923, S. 15. 617 Ebenda. 618 Sie zeigten vor allem Landschaftsstudien zum Erweiterten Sehen, so stellte Matjuschin 3 Stadien des Erweiterten Sehens; Porträt. „Kristall“, die Kohlezeichnung „Das neue Perpendikular“ sowie Bewegung in der Linie, Bewegung in der Fläche, Bewegung im Volumen, die Skulptur „Bewegung aus dem Zentrum“ und seinen „Überkörper“ aus. Boris Ender zeigte u. a. Werke wie Die Stadt, Kiefern, Wald, Das Meer. Horizontale und drei Aquarellstudien. Xenja Ender präsentierte u. a. Beobachtung mit horizontaler Orientierung, Beobachtung mit vertikaler Orientierung, Lachta – Horizontale und zwei Studien. Marija Ender stellte Beobachtung in der Horizontalen, Beobachtung in der Vertikalen, Gleichzeitige Beobachtung in 2 Perpendikularen, Lachta. Feld u. a. aus. Georgi Ender zeigte zwei Darstellungen Beobachtung in 360 Grad und 4 räumliche Studien. Nikolai Grinberg zeigte Lichtstudie und zwei Aquarellstudien. Vgl. Katalog vystavki kartin Petrogradskich chudožnikov vsech napravlenij 1918–1923 gg. za 5‑ti letnij period dejatel’nosti Akademii Chudožestv, Ausst.-Kat., Petrograd 1923.
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20 Michail Matjuschin, Würfelförmiges Objekt „Überkörper“, 1923
einem Kristall-Porträt, einer Holzskulptur und verschiedenen Studien zum Erweiterten Sehen zeigte Matjuschin dort auch seinen „Überkörper“ (Abb. 20).619 Diese dreidimensionale Konstruktion aus Holz und Metallblech verkörperte am deutlichsten seine künstlerischen Bestrebungen, die Gegenstände in ihrer plastischen Dreidimensionalität zu erfassen und zu einer neuen Darstellung des Raumes zu gelangen; sie kann als unmittelbarer Ausdruck von SORWED betrachtet werden. Der „Überkörper“ bestand aus einem Holzkörper, der allseitig von Metallblechflächen durchschnitten war und um seine eigene Achse rotiert werden konnte. Die Metallflächen verhielten sich zum Körper wie das „neue Perpendikular“ zur Erde, d. h. sie gingen durch den Mittelpunkt des „Überkörpers“ und breiteten sich nach allen Seiten zugleich im Raum aus. Daher hatte der „Überkörper“ kein vorn und hinten, rechts und links, oben und unten und forderte vom Betrachter, ihn wie die Erde als ein räumliches Gebilde in seiner Ganzheitlichkeit und Bewegtheit sowie in seinen Wechselwirkungen mit der Umgebung zu erfassen. Deshalb reicht die ein- bis zweidimensionale flächige Betrachtungsweise des traditionellen Sehens nicht mehr aus; der Betrachter wurde aufgefordert, den „Überkörper“ von allen Seiten zugleich und sowohl mit den Augen als auch durch die Verbindung von Sehen, Tastsinn und räumlichem Vorstellungsvermögen wahrzunehmen. Im Gegensatz zu Tatlin ging es Matjuschin mit seiner Konstruktion nicht um die 619 Michail Matjuschin, „Überkörper“ (Sverch-Telo), 1923, Konstruktion aus Holz und Metallblech, Maße unbekannt, nicht erhalten. Vgl. Klotz 1991, S. 118; Povelikhina 1999, S. 21.
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21 Eingang zur Abteilung für Organische Kultur am GINChUK, ca. 1925
Hervorhebung der organischen Struktur des künstlerischen Materials, sondern um die Darstellung des räumlichen Beziehungsgefüges zwischen dem Körper und seiner Umgebung. Im Sinne von Krutschonychs transrationaler zaum-Sprache und Malewitschs „Übersinnrealismus“ charakterisierte Matjuschins „Überkörper“, den Übergang zu einer neuen Dimension im menschlichen Bewusstsein. Mit der Einrichtung einer Forschungsabteilung für Organische Kultur am MChK im Oktober 1923 verwirklichte Matjuschin seine gemeinsam mit Tatlin 1922 entwickelten Pläne zur Einrichtung einer Spezialwerkstatt für materielle und organische Kultur.620 Gemeinsam mit seinen Studenten, den Geschwistern Ender und Nikolai Grinberg, begann er dort intensive Studien auf dem Gebiet der menschlichen Wahrnehmung durchzuführen. Wie auf der Tafel über dem Eingang der Abteilung zu lesen war, beschäftigte sich die Abteilung für Organische Kultur mit „der Erforschung und Entwicklung des menschlichen Organismus, von Tastsinn, Hören, Sehen, Denken und deren Zentren“ (Abb. 21). Auf der Grundlage der Erfahrungen des Erweiterten Sehens und seiner SORWEDDeklaration entwickelte Matjuschin das Forschungsprogramm der Abteilung. Dieses sah die Erweiterung und Systematisierung der Untersuchungen zum Erweiterten Sehen sowie umfangreiche Studien zur visuellen Wahrnehmung in Verbindung mit anderen Wahrnehmungsarten sowie gesteigerte Übungen für alle Sinnesorgane (Tasten, 620 Museum für Künstlerische Kultur. Struktur und Themen, in: Hubertus Gaßner, Eckhard Gillen (Hg.), Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus. Dokumente und Kommentare. Kunstdebatten in der Sowjetunion von 1917–1934, Köln 1979, S. 94.
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Hören, Sehen) zur Wahrnehmung von Farbe, Form, Ton und Bewegung vor.621 Durch das gleichzeitige Wirken aller Sinnesorgane sollte eine beträchtliche Einflussnahme auf das Zentralhirn vorgenommen werden. In der Überzeugung, dass der Mensch durch die wechselseitige Beeinflussung und Verbindung von Tastsinn, Sehen, Hören, Denken u. a. eine vollständige Wahrnehmung von den Gegenständen in ihrer räumlichen Umgebung erreichen könne, wurden die Übungen zum Erweiterten Sehen vor allem durch solche erweitert, in denen es darum ging, ohne direkt mit den Augen zu sehen, Dinge in der Umgebung wahrzunehmen. Zur Erforschung der Sensibilität der hinteren Kopfpartie versuchten sie, die Gegenstände in ihrer unmittelbaren Umgebung zu beschreiben ohne hinzusehen; eine in ihrem Rücken liegende Lichtquelle zu finden; hinter ihnen angebrachte Farbflächen und Volumenformen in ihrem Wechselverhältnis wahrzunehmen; oder gar mit verbundenen Augen bestimmte Örtlichkeiten zu charakterisieren, wobei sie – wie Boris Ender in seinen Tagebüchern beschrieben hat – zum Teil überraschende Übereinstimmungen erzielten.622 Die Realisierung seiner Organischen Kultur in der Kunst durch SORWED gründete auf Matjuschins Idee einer unbegrenzten Entwicklungsfähigkeit der räumlichen Wahrnehmung des Menschen und seiner Überzeugung, dass der Künstler unmittelbar in den Evolutionsprozess eingreifen könne. Dabei verlief für ihn die Entwicklung des geistigen Vorstellungsvermögens des Menschen Hand in Hand mit der unbegrenzten physiologischen Entfaltung des menschlichen Körpers. Matjuschin war überzeugt, dass der Menschen durch spezifisches Training und die künstlerische Tätigkeit sowohl die Sensibilität der Retina des Auges erhöhen und die Neubildung von Zapfen und Stäbchen in allen ihren Teilen forcieren als auch zum simultanen Gebrauch aller Sinne schreiten könne, und es der Menschheit dadurch möglich werden würde, zur komplexen organischen Wahrnehmung der Welt zu gelangen. Mit dieser Auffassung von einer progressiven und teleologisch natürlichen Entwicklung der menschlichen Sinneswahrnehmung von der frühen Menschheit über die zeitgenössische Gesellschaft bis zum zukünftigen „neuen Menschen“ vertrat Matjuschin die russische Version des Darwinismus gepaart mit wissenschaftlichem Positivismus.
Synästhetische Erfahrungen in der neuen Kunst Matjuschins synästhetische Bestrebungen in der Kunst gründeten auf seiner Überzeugung, dass es einen natürlichen Zusammenhang zwischen den Erscheinungen von Farbe, Form und Ton im Raum gibt, dieser durch die Anwendung von SORWED 621 Otčet Raboty Provedennoj v Otdele Organičeskoj Kul’tury Issledovatel’skogo Instituta s 10/1923 g. do 10/1924 g. und Otčet o dejatel’nosti Otdela Organičeskoj Kul’tury GINChUKa za 1923–24 g., LGALI, F. 244, Op. 1, Ed. 31, L. 44–50. Deutsche Auszüge in: Köln 1977, S. 121; Gaßner/ Gillen 1979, S. 95–96. Vgl. auch Natal’ja Kozyreva, „Dviženie – žizn’“. Matjušin i ego teorija prostranstva i cveta, in: Tvorčestvo 6, 1989, S. 13–15. 622 B. V. Ender, Dnevniki, RGALI, F. 2973, Op. 1, Ed. 17, 18 und ders., M. V. Matjušin – Stat’ja, 1934, RGALI, F. 2973, Op. 1, Ed. 163.
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erfahrbar sei und von der neuen Kunst sichtbar gemacht werden müsse. Matjuschin, der sein ganzes Leben sowohl als Musiker wie auch als Maler tätig war, befasste sich in seiner vielfältigen künstlerischen Tätigkeit intensiv mit den Wechselwirkungen von Malerei, Musik, Dichtung und Theater. Sein Streben, das Wesen und die Rhythmen der Natur künstlerisch zu gestalten, und seine Überzeugung, dass sich die Gegenstände nicht isoliert betrachten und darstellen ließen, führten ihn zwangsläufig zu einer engen Verbindung und Durchdringung seiner musikalischen und malerischen Tätigkeit.623 Parallel zur Suche nach neuen Form- und Farbprinzipien in der Malerei begann er sich in der Musik mit den Vierteltönen zu befassen, 1905–06 entstanden sowohl seine ersten selbständigen Malversuche als auch seine ersten Kompositionen. Dabei nahm Matjuschin in der Malerei wie in der Musik seinen Ausgang von der unmittelbaren Naturbetrachtung. Während seine frühen malerischen Werke impressionistische Landschaftsdarstellungen sind, versuchte er in den zeitgleichen musikalischen Kompositionen impressionistische Geräuscheindrücke und den Klang von Naturtönen und menschlichen Stimmen aufzuzeichnen. Man kann davon ausgehen, dass Matjuschins Interesse an einer Synthese von Malerei und Musik sowohl von seinem eigenen künstlerischen Schaffen als auch von dem Interesse der Zeitgenossen an Farbe-Ton-Analogien, der Farben-Musik und der Synästhesie geprägt wurde. Die Untersuchungen zum Wesen und der Wirkung der Farben hatten mit der Entwicklung von Physik und Chemie, Physiologie und Psychologie im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert eine Renaissance erlebt. Sie fanden ihren Niederschlag in den farbtheoretischen Arbeiten von Wilhelm von Bezold, Ewald Hering, Albert Henry Munsell, Wilhelm Ostwald und Odgen Rood und waren mit neuen Fragen nach einer Analogie und möglichen Harmoniebeziehungen von Farben und Tönen verbunden. Die Überlegungen zu einem natürlichen Zusammenhang zwischen Farben und Tönen, Seh- und Höreindrücken reichten von Newton bis zu Helmholtz, sie erfreuten sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zahlreicher Anhänger und scharfer Kritiker. Die Analogietheorie beruhte auf der Annahme, dass Farben durch Lichtwellen und Töne von Schallwellen hervorgerufen werden. Bereits Newton hatte die Schwingungen des Lichts mit den Schallwellen der Töne verglichen und versucht, die Farbtöne des Lichts mit denen der Tonleiter in Übereinstimmung zu bringen.624 Helmholtz verglich die Reizung der Zapfen der Netzhaut, die die Entstehung der Farbempfindungen zur Folge haben, mit der Erregung der Corti’schen Bögen im Ohr, die die Tonwahrnehmungen hervorrufen. Er stellte eine Analogie zwischen Auge und Ohr her, da der Schall wie das Licht eine sich wellenförmig ausbreitende, schwingende Bewegung ist. Zugleich betonte er jedoch, dass die Töne im Ohr nicht
623 John E. Bowlt, Vom Symbolism zum Suprematism, in: Karin von Maur (Hg.), Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Ausst.-Kat., Stuttgart, München 1985, S. 392–393. 624 Lothar Gericke, Klaus Schöne, Das Phänomen Farbe, Berlin 1973, S. 28.
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zu Mischtönen verschmelzen wie die Farben im Auge.625 Aufgrund der Unterschiedlichkeit der wirksamen Medien, Wellenlängen und der Organe von Seh- und Hörwahrnehmungen stieß die einfache, auf physikalischen Tatsachen beruhende Analogiebeziehung um die Jahrhundertwende immer wieder auf heftige Kritik. Leonid Sabanejew betonte 1911, dass sich eine vollständige Identität der Farbempfindungen nicht bei allen Menschen beobachten und physiologisch nachweisen ließe, viel eher wäre eine psychologische Begründung möglich, da Farben und Töne verschiedene Gemütszustände hervorrufen, die einander oft ähnlich sind und Assoziationen zwischen Farben und Tönen aufkommen lassen, gleichzeitig aber Spielraum für individuelle Schwankungen bieten.626 Gustav Johannes von Allesch, auf dessen Studien sich Matjuschin bezog, bestritt, dass verbindliche Urteile über die Wirkung von Farbtönen möglich seien, ohne die Farben im direkten Zusammenhang mit der Analyse der urteilenden Persönlichkeit zu erforschen.627 Er wies mit seinen Versuchen nach, dass bei der Beschreibung von Farbempfindungen verwendetes musikalisches Vokabular oder solches aus anderen Bereichen der Sinneswahrnehmung inhaltlich durchaus eine spezifische Nuancierung erhält.628 Im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert trat auch die Synästhesie – die Kopplung von unterschiedlichen Sinnesempfindungen, wie zum Beispiel die Wahrnehmung von Farben beim Hören und von Tönen beim Sehen – ins Blickfeld von Wissenschaftlern und Künstlern.629 Zahlreiche symbolistische Dichter, Musiker und Maler waren überzeugt, dass die synästhetische Erfahrung der Verschmelzung der menschlichen Sinneswahrnehmungen die Grundlage für die Vereinigung von Literatur, Musik und bildender Kunst im Gesamtkunstwerk bilden und den Weg zu transzendenter Erkenntnis weisen könne. In Russland erlebten synästhetische Überlegungen mit der Aufführung von Alexander Skrjabins „Promethée“ 1911 in St. Petersburg einen Höhepunkt; sie bestimmten auch die Bestrebungen von Theosophen wie Alexandra Unkowskaja und von Künstlern wie Kandinsky und Kulbin.630 Doch während die Untersuchungen 625 Helmholtz 1868, S. 309–314. 626 Leonid Sabanejew, Über die Analogie von Ton und Farbe, in: Sieg über die Sonne 1983, S. 286– 290. 627 G. J. von Allesch, Die ästhetische Erscheinungsweise der Farben, in: Psychologische Forschungen 6, 1925, 1–2, S. 1–91 und 3–4, S. 215–281. 628 Ebenda. 629 Die Synästhesie wurde im ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert intensiv studiert, danach war die Beschäftigung mit diesen Phänomenen eher unpopulär. Die Entwicklung der Neurowissenschaft hat die Synästhesie im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert jedoch erneut ins Blickfeld der Wissenschaft gerückt und zu zahlreichen Studien geführt. Vgl. Richard E. Cytowic, Synesthesia: A Union of the Senses, New York, Berlin 1989; ders., The Man Who Tasted Shapes, London, Cambridge, Mass. 2003; John Harrison, Wenn Töne Farben haben: Synästhesie in Wissenschaft und Kunst, Heidelberg 1997; Kevin T. Dann, Bright Colors Falsely Seen: Synaesthesia and the Search for Transcendental Knowledge, New Haven, 1998; Crétien van Campen, The Hidden Sense. Synesthesia in Art and Science, Cambridge, Mass. 2008. 630 Wünsche 2008, S. 91–99; diess., Seeing Sound—Hearing Colour: The Synaesthetic Experience in Russian Avant-Garde Art, in Charlotte de Mille (Hg.), Music and Modernism, Newcastle upon
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zu den Wechselwirkungen von Farbe und Klang bei den russischen Symbolisten aus ihrer mystischen Orientierung resultierten, vertrat die russische Avantgarde einen stärker wissenschaftlich geprägten Zugang zu Synästhesie. Beide Gruppen einte jedoch das Interesse an psychophysiologischen Phänomenen und neuen, künstlerischen Ausdrucksformen, die in der Lage wären, den Aufbau des Universums in seinen sichtbaren, materiellen und unsichtbaren, immateriellen Dimensionen widerzuspiegeln und eine ganzheitliche Welterfahrung zu ermöglichen.631 Matjuschins synthetisch-ganzheitliche Bestrebungen in der Kunst wurden vor allem von seinen Naturbeobachtungen sowie von seinen naturwissenschaftlichen und psychophysiologischen Studien bestimmt. Die Erkenntnis von einem inneren Zusammenhang von Farb-, Form- und Klangerscheinungen im universellen Raum der Natur charakterisierte Matjuschins Suche nach künstlerischen Ausdrucksformen, um die 22 Hermann von Helmholtz, Über die natürlichen Farbe-Form-Ton-Beziehungen physiologischen Grundlagen der musikazum Ausdruck zu bringen und die Gesetze lischen Harmonien (St. Petersburg 1896) ihres Zusammenwirkens zu erfassen. In den Arbeiten zur Optik und Akustik von Helmholtz fand Matjuschin eine theoretische Basis für seine Überzeugung, dass es sich beim Klang ebenso um eine Schwingungswelle wie beim Licht handelt, da beide aus der Wirkung derselben universellen Bewegung im kosmischen Raum auf unterschiedliche Sinnesorgane des menschlichen Organismus entstanden (Abb. 22).632 In derselben Weise wie Matjuschin die Geschichte der bildenden Kunst als Ausdruck der Evolution der räumlich-visuellen Wahrnehmung des Menschen begriff, betrachtete er die Musik als Ergebnis der Entwicklung seines akustischen Wahrnehmungsvermögens. Er verglich die Entfaltung der Wahrnehmung der sichtbaren Welt mit der Entwicklung der Klangvorstellungen und kam zu dem Ergebnis, dass sich das Tyne 2011, S. 95–120. 631 Roberta Reeder, Gesamtkunstwerk and Technology in the USSR, in: Hans Günther (Hg.), Gesamtkunstwerk. Zwischen Synästhesie und Mythos, Bielefeld 1994, S. 201–239. 632 Helmholtz 1863. Russisch als: Gel’mgol’c 1896a. Vgl. auch Ob’jasnitel’naja zapiska k planu rabot Otdela Organičeskoj Kul’tury, Zavedujuščego Otdelom M. V. Matjušina, LGALI, F. 244, Op. 1, Ed. 71, L. 20.
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Wahrnehmungsvermögen des Gehörs wie das des Auges über lange Zeiträume hinweg allmählich zu einem immer stärkeren Differenzierungsvermögen entfaltet hatte: „Im Gesang der Kaffer können wir bis heute den rhythmischen Aufbau in 2/3 Tönen hören. Von den alten Ägyptern wissen wir über vier Töne, die von den Griechen zur Bildung des Vierklangs genommen wurden. Der zweite Vierklang unserer Tonleiter blieb wie der kalte Teil des Spektrums lange unverständlich und unbenutzt.“633 Dabei vertrat Matjuschin in seinem entwicklungsgeschichtlichen Vergleich der Ausbildung von Hör- und Sehwahrnehmungen dieselbe Auffassung wie Ostwald. Er war überzeugt, dass die Entwicklung des akustischen Verständnisses des Menschen entschieden weiter vorangeschritten war als sein räumliches und farbempfindendes Wahrnehmungsvermögen und legte in seiner künstlerischen Arbeit deshalb den Schwerpunkt auf die Entwicklung der visuellen Wahrnehmung des Menschen.634 Wie Kandinsky, Kulbin u. a. gründete auch Matjuschin sein künstlerisches Schaffen auf die Erfahrung, dass bei bestimmten Menschen die Wahrnehmung von Tönen mehr oder weniger stark mit Farbempfindungen verbunden ist, sie ein optisches Gehör haben. Er war überzeugt, dass alle Menschen die Fähigkeit besitzen, Töne zu sehen und Farben zu hören, und ging davon aus, dass die synästhetischen Eindrücke, die für einzelne Individuen bereits erlebbar geworden waren, durch das bewusste Training des simultanen Gebrauchs der verschiedenen Sinnesorgane, wie zum Beispiel von Auge und Ohr, von allen Menschen erfahren werden können. In seinem künstlerischen Schaffen strebte er deshalb danach, dem Betrachter die Erfahrung der Wirkung von Form, Farbe und Ton im Raum simultan erfahrbar zu machen, damit dieser beim Hören eines Tones gleichzeitig dessen Farb-Form erblicken würde und umgekehrt. Die Idee der gemeinsamen schöpferischen Zusammenarbeit von Dichtern, Malern und Musikern hatte Matjuschin gemeinsam mit Krutschonych und Malewitsch bereits 1913 formuliert. Die Aufführungen der Oper „Sieg über die Sonne“ und der Tragödie „Wladimir Majakowski“ waren kollektive Schöpfungen, die auf den neuen Prinzipien von Wort, Zeichnung und Musik gründeten und das Streben der KuboFuturisten nach einer Synthese von Literatur, Musik und den visuellen Künsten reflektierten.635 Matjuschin beschrieb die Aufführungen als: „eine neue Schöpfung, frei von alten konventionellen Erfahrungen und vollständig in sich selbst, wobei sie scheinbar sinnlose Wort-Bild-Klänge – neue Indikationen der Zukunft benutzten, die in die Ewigkeit führen und solchen ein freudiges Gefühl von Stärke geben, die ehrfürchtig ein Ohr oder ein Auge riskieren werden....“636 Er betonte die Gleichzeitigkeit der Suche nach neuen Ausdrucksformen in Dichtung, Malerei, Musik und Theater, die in allen Künsten zu einer neuen Dimension führten und mit der „Vor-
633 Matjušin 1932, S. 25. 634 Wilhelm Ostwald, Farbnormen und Farbharmonien, 3. Aufl., Leipzig 1925, S. 6. 635 Marcella Lista, L’Œuvre d’art totale à la naissance des avant-gardes 1908–1914, Paris 2006, S. 195–237. 636 Matjušin 1914, S. 153–157.
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stellung der Disintegration von Konzepten und Worten, der alten Bühnendarbietung, und der musikalischen Harmonie“ verbunden war.637 In Matjuschins eigener künstlerischer Arbeit waren musikalische, malerische und dichterische Qualitäten unmittelbar miteinander verbunden. Die meisten seiner musikalischen Kompositionen, die zwischen 1905 und 1915 entstanden, bezogen sich auf das dichterische Werk von Guro. Während diese Stücke eine musikalisch-bildliche Schilderung der Ereignisse und Helden in Guros Dichtung darstellen, tragen seine malerischen Werke oftmals musikalische Züge. Auf der siebenten und letzten Ausstellung des Bundes der Jugend 1913–14 in St. Petersburg zeigte Matjuschin die beiden „musikalischen“ Ölbilder „Roter Klang“ und „Versöhnender Klang“.638 Sie waren wie Robert Delaunays und František Kupkas farbige Scheiben frühe Versuche, musikalische Klänge zu materialisieren. Ein Kritiker beschrieb die besondere Wirkung dieser Bilder: „... Matjuschin – aber seine ‚Klänge‘ sind eine Erholung in der Ausstellung. Sie endlich – sprechen nicht von einem Einfall, sondern von einer wahrhaften Stimmung.“639 Mit den beiden großformatigen gegenstandslosen Gemälden „Malerisch-musikalische Konstruktion“ von 1917–18 (Umschlag und Tafel 10) unternahm Matjuschin einen neuen künstlerischen Versuch, den universellen Zusammenhang und die Wechselwirkungen von Farbe und Klang künstlerisch darzustellen. Die unzähligen kleinteiligen Farbstrukturen auf der Leinwand der „Malerisch-musikalischen Konstruktion“ von 1918 (Tafel 10) scheinen sich in einer endlosen vibrierenden Schwingung zu befinden.640 Sie entspringen derselben universellen Bewegung und folgen denselben natürlichen Gesetzen und Interferenzerscheinungen wie die Töne, die sich im kosmischen Raum ausbreiten, und versprühen in ihrer scheinbar wirbelnden Aktivität den Eindruck vom Licht und Klang des Universums. Matjuschins Vorstellungen von der Bewegung der Licht- und Schallwellen durch den unendlichen Raum des Universums waren unmittelbar mit der Idee vom Äther, einer Substanz, die im ausgehenden siebzehnten Jahrhundert als Medium für die Ausbreitung von Licht postuliert und nachfolgend auf Erscheinungen der Elektrodynamik und Gravitation übertragen worden war, verbunden. So schreibt er in seinem Aufsatz „Die Psychologie der vierten Dimension“: „Wenn nur rhythmische Schwingungen des Äthers existieren, die für die Entstehung einer Lichtwahrnehmung auf der Retina verantwortlich sind, bedeutet das, dass die Gegenstände selbst nichts besitzen, was sie mit dieser Wahrnehmung verbindet. Folglich 637 Ebenda. 638 Michail Matjuschin, Roter Klang (Krasnyj zvon), 1913 und Versöhnender Klang (Proščennyj zvon), 1913, beide Öl auf Leinwand, Maße und Verbleib unbekannt. Vgl. Sojuz molodeži. Katalog vystavki kartin, Ausst.-Kat., St. Petersburg 1913–14; Gordon 1974, Bd. 2, S. 767–769. 639 B. A., Vystavka kartin „Sojuza molodeži“ v Peterburge, in: Ogonek 48, vom 1. (14.) Dez. 1913, S. 7, zit. in: Howard 1992, S. 198. 640 Mikhail Matjuschin, Malerisch-musikalische Konstruktion (Živopisno-musykal’naja konstrukcija), 1918, Öl auf Holz; 51,0 x 63,0 cm; Sammlung George Costakis, Museum für zeitgenössische Kunst Thessaloniki, Nr. 155.78. Vgl. Rudenstine 1982, S. 270, Kat. 528.
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23 Michail Matjuschin, Klangvolles Geräusch, 1921, Museum Ludwig, Köln
müssen die herausgebildeten und verstärkt erlernten Funktionen des Sehens sich noch verfeinern und dann verschwinden, um diese trügerische Funktion zu überwinden und stattdessen zu einer höheren vorherbestimmten Verfeinerung des Sehvermögens zu gelangen.“641
Die unzähligen winzigen Farbteilchen, aus denen Matjuschins „Malerisch-musikalische Konstruktionen“ aufgebaut sind, formen lose Farbflächen, die sich mit anderen Farbwellen überlagern. Das Nebeneinander und die Durchdringung der farbigen Massen formt einen Klang, der je nach Dichte und Farbintensität anzuwachsen oder abzuschwellen scheint, wobei von den hellen Farbtönen nach den dunklen hin eine Abnahme der Tonhöhe des Klangs suggeriert wird. Diese Kompositionen verkörpert am deutlichsten Matjuschins Überzeugung, dass materielle Qualitäten wie „dicht, durchsichtig, glänzend, matt, zeigen ..., daß unser Auge zu hören und unser Ohr zu sehen scheint“;642 sie waren ein erster, malerischer Versuch, synästhetische Er641 M. V. Matjušin, Psichologija četvertago izmerenija, RO IRLI, F. 656, Op. 1, Ed chr. 131. 642 M. V. Matjušin, Nauka v iskusstve. Doklad, 1927–28, RO IRLI, F. 656, Op. 1, Nr. 129. Deutsch in: Powelichina 1977, S. 39.
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fahrungen zu erfassen und wiesen zugleich den Weg zu Matjuschins nachfolgenden künstlerischen Experimenten. 1921 schuf Matjuschin eine Serie von Kohlezeichnungen mit den Titel „Klangvolles Geräusch“. In diesen organischen Zeichnungen ging es ihm im Gegensatz zu seinen Ölgemälden nicht darum, einen Zusammenhang zwischen Farben und Tönen herzustellen, sondern er bediente sich des Kohlestifts als Ausdrucksmittel, um musikalische Qualitäten wie Hell und Dunkel, Dichte und Transparenz, Schwere und Leichtigkeit graphisch darzustellen. Die Zeichnung „Klangvolles Geräusch“ vom 11. November 1921 (Abb. 23), die Matjuschin selbst mit der Bezeichnung Schall-Geräusch (Swukoschum) versah, beschäftigt sich mit der Ausbreitung von Tönen im Raum.643 Die Schallwellen gehen von einem unsichtbaren und unbewegten Zentrum in der Mitte der Darstellung aus, sie breiten sich konzentrisch und allseitig im unendlichen Raum aus, wobei die schwarzen Stellen der Kohlezeichnung ein Maximum der Intensität des Geräuschs markieren, während die weißen Stellen des Blattes sein Ausgelöschtsein verkörpern. Diese und verwandte Arbeiten entstanden in einer Zeit, als sich Matjuschin intensiv mit der Möglichkeit einer Transkription der Töne in die bildende Kunst befasste. Derartige bildliche Notierungsversuche von Klängen im Raum wurden auch von Georgi und Marija Ender in Aquarellzeichnungen ausgeführt.644 Parallel zur Entstehung seiner „Malerisch-musikalischen Konstruktionen“, seiner Arbeit an Viertelton-Kompositionen für Geige, an der Oper „Der besiegte Krieg“ und der Niederschrift des Aufsatzes „Über Neues und Altes in der Musik“ bereitete Matjuschin 1916–17 auch die Publikation „Studien zur Erfahrung der vierten Dimension. Malerei, Skulptur, Musik und Literatur“ vor.645 Dabei wird deutlich, dass Matjuschin nicht nur selbst gleichzeitig in unterschiedlichen Medien arbeitete, sondern ebenso wie Kulbin die verschiedenen Künste mit dem Gebrauch bestimmter Sinne assoziierte. So wirkte für ihn die Malerei besonders auf den Augensinn, die Skulptur auf den Tastsinn, die Musik auf das Gehör, die Literatur auf das Denken. Während die einzelnen Künste demnach nur einzelnen Organfunktionen des menschlichen Körpers entsprachen und diese entsprechend beanspruchten, konnte eine ganzheitliche Erfahrung der Welt in der Organischen Kultur nur durch die Synthese aller Kunstformen in der gleichzeitigen Entfaltung aller Sinneswahrnehmungen verwirklicht werden. Mit SORWED aber hatte Matjuschin die Voraussetzungen und die theoretischen Grundlagen für die simultane sinnlich-geistige Aneignung von Erscheinungen wie farbigem Licht, Formen, Klängen u. a. in ihrer natürlichen Bewegung und Wechselwirkung mit ihrer räumlichen Umgebung geschaffen. 643 Michail Matjuschin, Klangvolles Geräusch (Zvukošum), 1921, Kohle auf Papier; 22,4 x 36,0 cm; Museum Ludwig, Köln, 1982/530. Vgl. Köln 1977, S. 126, Kat. 100; Weiss 1993, S. 169, Kat. 199. 644 Marija Ender, zwei Aquarelle zur Transkription von Klängen von 1921, Sammlung George Costakis. Vgl. Rudenstine 1982, S. 304, Kat. 629, 631. Georgi Ender, Ohne Titel, 1921–23, Sammlung George Costakis. Vgl. ebenda, S. 321, Kat. 679. 645 M. V. Matjušin, Ėtjudy v opyte četvertogo izmerenija. Živopis’, skul’ptura, muzyka, literatura, 1916–17, unveröffentlichtes Manuskript. Vgl. Powelichina 1983, S. 292.
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Matjuschins Untersuchungen, das Zusammenwirken von Auge, Ohr, Tastsinn und Denken in der Kunst zu realisieren, erlebten ihren Höhepunkt in seinen synästhetischen Gesamtkunstwerken der frühen 1920er Jahre. Die Inszenierungen von Guros Stücken „Harlekin“ und „Im verschlossenen Kelch“ sowie „Herbsttraum“ und „Himmlische Kamelfohlen“ waren ihrem Andenken gewidmet; sie wurden zwischen 1920 und 1922 jeweils anlässlich ihres Todestages von Matjuschin und den Geschwistern Ender im Privatkreis aufgeführt.646 Diese Stücke, die aus einer Abfolge von optischen und akustischen Bildern im Raum bestanden, gründeten auf Matjuschins Forderung, dass der Künstler „aus der Fläche des Bildes heraus zu einem fühlbar farbigen Aufbau der Wiedergabe kommen“ muss.647 Die Handlung wurde von figurativen und geometrischen Körpern getragen, die sich bei wechselnder farbiger Beleuchtung und verändernden Klangeindrücken durch den Raum bewegten, so dass der Eindruck von sich ständig wandelnden Farb-Form-Klang-Formationen entstand, die den Raum scheinbar unaufhörlich zu verändern schienen. Diese „Raumbilder“ agierten zu den Worten der Stücke, die wechselnd aus der Nähe, der Ferne und der Höhe erklangen oder sich über die Zuschauer ergossen. Die Zuschauer waren in der Mitte des Raumes platziert, so dass sich das theatralische Geschehen allseitig zugleich um sie herum entfaltete und die Gesamtheit ihrer Sinne ergreifen konnte. Das Wechselspiel von gesprochenen Worten, den Tönen eines Klaviers und unterschiedlicher Streichinstrumente, dem Klimpern einer langen Seite, die quer durch den Raum gespannt war, und das Rascheln von Baumzweigen – Geräusche, die wechselseitig an unterschiedlichen Orten des Raumes zu hören waren – umgaben die Zuhörer mit einer Art „Klang-Perspektive“.648 Mit diesen visuellen Klangbildern aus farbig bewegten Körpern im Raum unternahm Matjuschin den Versuch, wie er es formulierte, „die alte Schachtelszene“ des traditionellen Theaters zu zerstören, um den Zuschauer allseitig mit dem universellen Raum und den bewegten malerischmusikalischen Gebilden der Natur zu umgeben.649 In den Jahren 1921–22 arbeitete Matjuschin darüber hinaus auch an der Musik zu „Durch die Dimensionen des Raumes“, einer Komposition, die sich ebenfalls mit der Wirkung von Farbe-Ton-Formen in ihrer räumlichen Umgebung beschäftigte.650 1923 brachte er nicht nur gemeinsam mit Marija Ender seine Vierteltonkomposition für Geige und Klavier in der Wohnung von Nikolai Rimski-Korsakow in Petrograd zur Aufführung, sondern inszenierte auch das Gesamtkunstwerk „Die
646 Da die Stücke jedoch nicht auf einer professionellen Bühne, sondern in der Wohnung der Familie Ender in Petrograd aufgeführt wurden, existieren leider bis auf persönliche Erinnerungen so gut wie keine Dokumente zu den Inszenierungen. Eine kurze Notiz zu den Aufführungen bieten die folgenden Publikationen: Powelichina 1977, S. 39; diess. 1983, S 292–293. 647 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, Exemplar RO GMISPb, S. 162. Deutsch in: Powelikhina 1977, S. 39. 648 See Alla Povelikhina, Matyushin’s ‘Total’ Theater, in: diess. 1999, S. 75. 649 Ebenda. 650 M. V. Matjušin, Po izmerenijam prostranstva, 1921–22. Vgl. Powelichina 1983, S. 292.
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Geburt von Licht und Volumen“.651 Dieses gegenstandslose Schauspiel bildete den Endpunkt der von Matjuschin inszenierten Serie von Gesamtkunstwerken. Dem Stück lag kein dichterisches Werk zugrunde, es bestand allein aus der Bewegung geometrischer Körper im Raum, der von farbigen Lichterscheinungen und Klängen erfüllt war. Die agierenden Hauptfiguren waren ein blauer Kegel, ein grüner Würfel, ein gelbes Ellipsoid und eine rote Kugel, in deren Inneren sich jeweils ein Darsteller verbarg, der auf die unterschiedlichen Klänge und Geräusche reagierte, indem er den geometrischen Körper durch den von wechselndem farbigen Licht erfüllten Raum bewegte.652 Der konzeptuelle Hauptgedanke dieses gegenstandslosen, interaktiven Schauspiels war es, das Wachstum dieser Körper unter dem Einfluss des Lichtes zu veranschaulichen; ihre dynamisch-organische Entwicklung und Eroberung des Raumes wurde durch die Interaktion von Form, Farbe und Ton charakterisiert.653 Mit dieser synthetisch-kinetischen Raumkonstruktion ebenso wie mit seinen vorangegangenen Inszenierungen verwirklichte Matjuschin seine Forderung, die traditionelle statische Darstellung lebendiger Wesen auf der Fläche aufzugeben und sie als organische Ganzheiten allseitig und in ständiger Wechselwirkung mit ihrer Umwelt wiederzugeben, denn ihr Wesen „dehnt sich, wölbt sich, schwingt und dreht sich in Wirklichkeit, es geht in die Ferne, und was das Wichtigste ist, es verbindet sich wunderbar mit der Umgebung“.654 In seinen Theaterinszenierungen der frühen 1920er Jahre verband Matjuschin physikalische, physiologische und psychologische Erkenntnisse mit dem Streben nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen in der bildenden Kunst sowie in Musik, Dichtung und Theater der Gegenwart. Diese multimedialen Gesamtkunstwerke gründeten auf seiner Überzeugung, dass der Mensch durch die wechselseitige Verbindung von Tastsinn, Sehen, Hören und Denken die komplexe Wahrnehmung von Farbe, Form, Klang und Bewegung in seiner räumlichen Umgebung erreichen könne. Die Inszenierungen bedeuteten die künstlerische Realisierung von SORWED und die Verwirklichung der Idee der Organischen Kultur. In der Synthese von Wort, Farbe, Form, Klang und Bewegung, die sich rings um den Zuschauer im erweiterten Raum allseitig ausbreiteten und gegenseitig durchdrangen, gelang es Matjuschin und seinen Studenten die Zuschauer zur SORWED-Wahrnehmung, d. h. zur organisch-ganzheitlichen Entfaltung ihrer sinnlichen Kräfte, ihres räumlichen Vorstellungsvermögens und ihrer geistigen Fähigkeiten zu führen. Die gesteigerte Wahrnehmung von Farbe, Form und Klang aber sollte ihnen ein künstlerisches Abbild von dem wahren Wesen der Natur und des gesamten Weltorganismus vermitteln und sie zur Erkenntnis einer neuen Dimension des Raumes sowie zur vollständigen organischen Wahrnehmung der Welt führen. 651 M. V. Matjušin, Roždenie cveta i ob’’ema, 1923. Vgl. Powelichina 1983, S. 293. 652 Alexei Kostroma, Reconstruction of Mikhail Matyushin’s Performance, „The Birth of Light, Color, and Volume“, in: Povelikhina 1999, S. 79–81. 653 Povelikhina 1999, S. 76. 654 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, Exemplar RO GMISPb, S. 162. Deutsch in: Powelikhina 1977, S. 39.
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4. Organische Kultur zur Gestaltung einer neuen Lebenswirklichkeit Nachdem die Kunst in den ersten Revolutionsjahren ein gewaltiges Experimentierfeld zur Entfaltung einer neuen Lebensweise gebildet hatte, begann der sowjetische Staat in den 1920er Jahren die künstlerischen Bestrebungen der Avantgarde immer stärker auf die ideologischen und praktischen Erfordernisse der Gesellschaft zu lenken und eine der Organisation des Produktionsprozesses dienende künstlerische Praxis zu fordern. Die Künstler wurden zunehmend zu Designaufgaben und zur Einrichtung von Produktionswerkstätten herangezogen. Die künstlerische Tätigkeit in den so genannten Produktionsfakultäten der neu geschaffenen Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten (WChUTEMAS) konzentrierte sich besonders auf die Arbeit in den angewandten Bereichen und in der Architektur.655 Eine wesentliche Grundlage für das Studium und die Organisation der Kunst in den 1920er Jahren bildete die wissenschaftliche Erforschung und theoretische Fundierung von Formen in der bildenden Kunst. Dabei spielte NOT (Nautschnaja Organisazija Trudy), die Methode der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation, eine wichtige Rolle. NOT bestand in einer kritischen Aneignung des Taylor-Systems und war auf die „Revolutionierung“ der passiven kleinbürgerlich-bäuerlichen Lebensweise gerichtet. NOT bildete zugleich die Grundlage für die von der Avantgarde angestrebte Vergesellschaftung der künstlerischen Arbeit; sie beabsichtigte die Aufhebung der individuellen Arbeit im Kollektiv und hatte die Rationalisierung und Dynamisierung aller Lebenstätigkeiten zum Ziel.656 Am Institut für Künstlerische Kultur (INChUK) in Moskau, das 1920 als wissenschaftliche Forschungseinrichtung auf Produktionskunstbasis reorganisiert wurde, und am Staatlichen Institut für Künstlerische Kultur (GINChUK) in Petrograd begannen Vertreter der unterschiedlichen Richtungen der Avantgarde in den 1920er Jahren, die theoretischen Grundlagen von künstlerischen Gestaltungsverfahren systematisch zu erarbeiten. Mit der Umwandlung des MChK in das GINChUK im Oktober 1924 vollzog die Petrograder Avantgarde den Übergang von programmatischen und emotionsgeladenen künstlerischen Manifesten zur wissenschaftlichen Untersuchung der künstlerischen Mittel und Methoden und zur theoretischen Begriffsbildung in der Kunst. Die Mitglieder des Instituts, Malewitsch, Matjuschin, Tatlin, Punin und Mansurow, betrachteten die Kunst als Erkenntnisform und strebten mit ihrer Arbeit in den Forschungsabteilungen für Malerische Kultur, Organische Kultur, Materialkultur, Allgemeine Methodologie und in der Experimentellen Abteilung danach, „eine Wissenschaft von den ästhetischen Phänomen“ zu entwickeln.657 Dabei nahmen die Untersuchungen von Farb- und Formerscheinungen und die Erarbeitung von 655 Zelinsky 1991, S. 93–116. 656 Hubertus Gaßner, Von der Utopie zur Wissenschaft und zurück, in: Berlin 1977, S. 64. 657 Nikolaj Punin, Mera iskusstva, in: Iskusstvo kommuny, 2. Februar 1919, zit. in: Karassik 1991, S. 40.
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künstlerischen Prinzipien und Methoden für gesellschaftliche Gestaltungsaufgaben breiten Raum ein. Diese Künstler betrachteten sich nicht mehr als reine Maler, sondern als Künstler-Wissenschaftler. Sie studierten die Erscheinungen der Kunst mit den Forschungsmethoden der exakten Wissenschaften, d. h. sie konzentrierten sich auf empirische Beobachtungen, experimentelle Untersuchungen und systematische Analyse, um die Gesetze der plastischen Formenbildung und der visuellen Wahrnehmung aufzudecken und eine allgemeingültige Methodologie der Kunst zu formulieren. Malewitsch verglich das GINChUK mit einem bakteriologischen Institut, „das Forschungen an verschiedenen Bakterien- und Embryotypen durchführt, um den Grund für Änderungen im Verhalten des Organismus herauszufinden“.658 Als experimentelle Forschungsstation sollte das GINChUK unmittelbaren Einfluss auf die industrielle Arbeitsorganisation und die praktisch-künstlerische Gestaltung der gesellschaftlichen Umwelt erlangen.
Die wissenschaftlich-experimentelle Forschungsarbeit der Abteilung für Organische Kultur am GINChUK In der Abteilung für Organische Kultur des GINChUK führte Matjuschin die gemeinsam mit den Geschwistern Ender und Nikolai Grinberg an den SWOMAS und am MChK begonnene Forschungsarbeit zur Psychophysiologie der menschlichen Wahrnehmungsprozesse und den Möglichkeiten ihrer weiteren Vervollkommnung fort. Bei ihren Untersuchungen konzentrierten sie sich dabei stärker auf wissenschaftliche Experimente im Labor. Charakteristisch für die Bestrebungen der Avantgarde in den 1920er Jahren wandten sie sich der Analyse von künstlerischen Grundelementen wie Farbe, Form und Ton zu. Sie machten sich zur Aufgabe, die beobachteten Erscheinungen exakt festzuhalten, wissenschaftlich zu begründen und die Gesetze ihres Zusammenwirkens aufzudecken, um in der künstlerischen Tätigkeit bewussten Einfluss auf die Entwicklung der Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen nehmen zu können. In der Überzeugung, dass der Mensch eine vollständige Wahrnehmung von Farbe, Form, Ton und Bewegung in seiner räumlichen Umgebung durch die einander ergänzende Verbindung von Tastsinn, Sehen, Hören, Denken u. a. erreichen könne, entwickelte Matjuschin gemeinsam mit seinen Studenten Experimente und Versuchsreihen, mit denen sie die Gesetze der Erscheinungsweisen von Farben, Formen und Tönen erforschten. Dabei berücksichtigten sie auch deren Wechselwirkungen und Veränderungen sowie die Abhängigkeit der Erscheinungen von der räumlichen Umgebung, dem Einfluss von Bewegung u. a. m. Sie verbanden die empirischen Tatsachen ihrer experimentellen Beobachtungen von Modellen im Labor mit wissenschaftlich-rationaler Analyse und stützten sich neben der Beschäftigung mit der Farbenlehre auf die theoretischen Erkenntnisse der Optik und der 658 K. S. Malevič, LGALI, F. 244, Op. 1, Ed. 53, L. 192, zit. in: Karassik 1991, S. 40.
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Sinnesphysiologie. Mit Helmholtz teilte Matjuschin die Kantsche Überzeugung, dass alle Erkenntnis aus der Erfahrung geschöpft werden muss und die „Thatsachen der Erfahrung“ wahre Aussagen über die tatsächliche Wirklichkeit vermitteln, da sie von objektiven Erscheinungen in der Umwelt des Menschen verursacht werden.659 Daraus schlussfolgerte er, dass eine immer genauere Beobachtung der Umwelt des Menschen immer besseren Aufschluss über die wahre Welt geben könne. Die Realisierung der Forschungsarbeit der Abteilung für Organische Kultur wurde in drei unterschiedlichen Werkstätten durchgeführt. In der Modellwerkstatt entwarf und fertigte Nikolai Grinberg Farb-, Form-, Farbform- und Klangmodelle, die mittels spezieller Apparate im Raum bewegt werden konnten.660 In der Forschungswerkstatt führte jeder Mitarbeiter entsprechend seiner Aufgabenstellung selbständige Beobachtungen in festgelegten Versuchsreihen durch und notierte seine Beobachtungen in Aquarellzeichnungen oder Wortnotizen. Marija Ender beschäftigte sich insbesondere mit der peripheren Wahrnehmung von Farb-Formen sowie mit Versuchen zur Farb-Form und zur Klang-Form.661 Boris Ender konzentrierte sich auf die Aktivierung der Gehirnzentren bei der Beobachtung von Farb-Formen.662 In einem speziell eingerichteten Labor – einem Raum, der aus einem auszuleuchtenden und einem zu verdunkelnden Teil bestand – erweiterten die Mitglieder der Abteilung ihre Untersuchungen zur Wahrnehmung von flächigen Farb- und Formmodellen durch Versuche mit dreidimensionalen Körpern und Lichtmodellen. Auf den vierzehntägigen Zusammenkünften der Abteilung trugen Matjuschin und seine Studenten ihre Versuchsergebnisse vor, werteten diese gemeinsam aus und diskutierten die Arbeit an weiteren Versuchsreihen sowie mögliche Kontrollbeobachtungen. Fernerhin erarbeiteten sie die theoretischen Grundlagen ihrer Arbeit und hielten öffentliche Vorträge zu den Beobachtungen ihrer Untersuchungen. Man kann davon ausgehen, dass sie mit der zeitgenössischen wissenschaftlichen Literatur vertraut waren, jedoch keine speziellen naturwissenschaftlichen Vorlesungen an der Leningrader Universität besuchten. Die abschließenden Ergebnisse veranschaulichten sie in Tabellen oder graphischen Schemata, die sie in einem separaten Raum der Abteilung ausstellten und auf den jährlichen Rechenschaftsausstellungen des GINChUK präsentierten (Abb. 24). In Ergänzung zu den Laborversuchen studierten sie im Sommerhalbjahr weiterhin die Erscheinungen von Raum, Farbe und Form, Licht und Bewegung in der Natur. Alle Untersuchungen der Abteilung für Organische Kultur waren darauf gerichtet, die Wechselwirkungen von Farb- und Formerscheinungen und deren Abhängigkeit von Licht, Ton, Tastsinn und Bewegung zu erfassen und wissenschaftlich zu begründen. Matjuschin und seine Studenten begannen ihre Forschungsarbeit zur 659 Helmholtz 1855, S. 87–117. 660 Ab 1925 arbeitete er dort gemeinsam mit Georgi Ender. 661 Marija Ender, O dopolnitel’noj forme, 1927, RGALI, F. 2973, Op. 1, Ed. 162. Deutsch in: Klotz 1991, S. 92–93. 662 Boris Ender, „O vosprijatii ob’’ema i cveta predmetov“. Stat’ja i opisanie opytov, 1924–25, RGALI, F. 2973, Op. 1, Ed. 8.
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Psychophysiologie der menschlichen Sinneswahrnehmungen 1923 mit den Untersuchungen der Veränderungen von Farberscheinungen in Abhängigkeit von spezifischen Versuchsbedingungen. Dabei gründete Matjuschin seine theoretischen Betrachtungen auf die physiologischen Studien von Helmholtz, Kries und Petr Lasareff und orientierte sich in der praktischen Ausführung an der Farbenlehre von Wilhelm Ostwald. In der Nachfolge von Helmholtz verstand Matjuschin das Sehen als „Verständniss der Lichtempfindungen“ und betrachtete das Auge als materiellen Vermittler der auftretenden äußeren Reizwirkungen, die die physiologischen Prozesse und psychologischen Empfindungen der visuellen Sinneswahrnehmungen auslösen.663 Er gründete seine Überlegungen auf das von Helmholtz entwickelte Prinzip der additiven 24 Michail Matjuschin mit den Geschwistern Boris, Georgi, Mischung der Spektralfarben des Xenja und Marija Ender und Nikolai Grinberg in der Lichts, die in ihrer optischen MiRechenschaftsausstellung des GINChUK, 1924 schung die Farbe Weiß ergeben. Helmholtz gehörte zu den Hauptvertretern der Dreikomponententheorie, die auf Thomas Young zurückging und in Russland bereits von Michail Lomonossow vertreten worden war. Er unterschied drei verschiedenartige lichtempfindliche Fasern des Sehapparates, die je nach Wellenlänge des einfallenden Lichts unterschiedlich stark erregt werden und die Empfindung von Rot, Grün oder Violett hervorrufen.664 Er führte die additive Mischung verschiedenfarbiger Lichter durch und bestimmte als Komplementärfarben Rot-Grünlichblau, Orange-Cyanblau, Gelb-Indigoblau, Grünlichgelb-Violett. Mit der Einführung der drei veränderlichen Kriterien Farbton, Sättigung und Helligkeit legte Helmholtz die Grundlagen zur Farbbestimmung und -messung, sein Prinzip wurde 1931 von der internationalen Beleuchtungskom-
663 Helmholtz 1855, S. 100; M. V. Matjušin, Issledovanie vosprijatija glaza setčatkoj glaza v fiziologii i psichologii, doklad 2ogo kvartala 1925–26 g., LGALI, F. 244, Op. 1, Ed. 71, L. 14. 664 Gericke/Schöne 1973, S. 54–56.
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mission (CIE) als internationale Vereinbarung zur eindeutigen farbenmetrischen Kennzeichnung von Farbproben eingeführt.665 Matjuschin, die Geschwister Ender und Nikolai Grinberg begannen ihre Forschungsarbeit mit der Beobachtung von verschiedenfarbigen Modellen – alle in der neutralen Form des Kreises – die sie einzeln vor einem neutral gefärbten Schirm sowohl im zentralen als auch im Erweiterten Sehen beobachteten.666 Dabei machten sie die folgenden Entdeckungen: Im zentralen Sehen, das den farbigen Kreis eng in das Blickfeld einschloss, trat bei der Bewegung der Augen vom Zentrum zu den Rändern an diesen die Komplementärfarbe auf. Sobald sie aber einen Punkt im Inneren des Kreises fixierten, d. h. eine reine Farberscheinung vorlag, färbte sich der Kreis in der Mischfarbe aus Grund- und Komplementärfarbe, da sich die Komplementärfarbe auf den Grund legte. Wechselten sie jedoch den Fixpunkt schnell, so traten als Nachbilderscheinungen sowohl die Grund- und die Komplementärfarbe als auch die Mischfarbe aus beiden auf.667 Den Drang des Auges, nach einigen Sekunden der Betrachtung einer Farbe ihre Komplementärfarbe zu sehen, war bereits von Michel Eugene Chevreul beobachtet und als Sukzessivkontrast bezeichnet worden.668 Wie Chevreul, mit dessen Arbeiten Matjuschin vertraut war, betrachtete er die Farbkontraste als die wichtigste Komponente jeder farbigen Gestaltung.669 Er richtete besonderes Augenmerk auf die Ausbildung des Sukzessivkontrastes, d. h. auf die Entstehung von farbigen Nachfolgebildern. Die Beobachtung, dass an den Rändern eines roten Kreises auf neutralem Grund nach einiger Zeit die Komplementärfarbe erscheint, hatte schon Helmholtz gemacht und beschrieben. Er begründete die Erscheinungen von Adaption und Sukzessivkontrast damit, dass verschiedenen Graden der Erregung auch verschiedene Grade der Ermüdung der farbwahrnehmenden Substanzen folgen müssten. Er hatte 665 Ebenda. 666 Otčet o Dejatel’nosti Otdela Organičeskoj Kul’tury za pervyj kvartal 1924–25 g., LGALI, F. 244, Op. 1, Ed. 48, L. 18–19; Matjušin 1932, S. 21. 667 Matjušin 1932, S. 21–22. 668 Michel Eugene Chevreul, De la Loi du Contraste Simultane des Coleurs, Paris 1839. Vgl. auch Gericke/Schöne 1973, S. 51. 669 Im Handbuch der Farbe von 1932 verschweigen Matjuschin und Marija Ender den Einfluss von Chevreul gänzlich, was mit der ideologischen Dimension der Behandlung anderer Farbenlehren in Zusammenhang gebracht werden kann. Um eine stillschweigende Vereinnahmung dürfte es sich kaum handeln, da besonders Marija Ender Chevreuls Buch über den Simultankontrast gründlich studierte und in den Jahren 1924–25 mehrere Vorträge über dessen Werk hielt sowie die Bedeutung und die Konsequenzen, die dessen Erkenntnisse für das Prinzip des Erweiterten Sehens und im Hinblick auf die Forschung in der Abteilung für Organische Kultur hatten, erörterte. Marija Ender, O knige Ševrelja, 5oe sobranie 1ogo kvartala 1924–25 g.; diess., Značenie knigi Ševrelja v dele issledovanija chudožestvennoj kul’tury, doklad 2.12.1924 g.; diess., Zakon odnovremennogo kontrasta Ševrelja i ego otnošenie k principu rasširennogo smotrenija, obščestvennyj doklad 19.12.1924 g. Vgl. LGALI, F. 244, Op. 1, Ed. 48, L. 19. Marija Ender, Principy postroenija spektral’nogo kruga u Ševrelja i u Ostval’da, 6oe sobranie 2ogo kvartala 1925–26 g. Vgl. LGALI, F. 244, Op. 1, Ed. 71, L. 14.
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die Nachbildversuche mit Fixationspunktwechsel auch an einer blauen Scheibe auf gelbem Grund durchgeführt und war dabei zu der Erkenntnis gelangt, dass das Gelb gesättigter entsteht, wo das Nachbild der Scheibe auf den Grund fällt, ebenso das Blau, wo das Nachbild des Grundes auf die Scheibe fällt. Blau und Gelb erscheinen dagegen mit Grau gemischt, wo das Nachbild der Scheibe auf die Scheibe und das des Grundes auf den Grund fällt.670 Wilhelm von Bezold fasste diese Erscheinung in einer einfachen Regel zusammen: „Jeder gefärbte Gegenstand hinterlässt nach hinreichend anhaltender Fixation ein Nachbild vom Komplementär, d. i. ergänzender Farbe, diese mischt sich mit der Farbe des Körpers, auf welchen man nachträglich das Auge richtet, oder auf welchen man nach einer sehr zweckmäßigen Ausdrucksweise das Nachbild entwirft.“671 Zur Erklärung der Erscheinung von Nachfolgebildern zog Matjuschin die Ionentheorie der Reizung des russischen Physiologen Petr Lasareff heran, mit der dieser die Dreikomponententheorie von Young und Helmholtz erweitert hatte (Abb. 25).672 Mit seiner Theorie schuf Lasareff eine allgemeingültige materialistische Erklärung für alle Sinneswahrnehmungen, die durch elektrische, mechanische und thermische Reize hervorgerufen werden. Er begründete die Sinneswahrnehmungen damit, dass alle organischen Gewebe aus Eiweißstoffen und gelösten Salzen aufgebaut sind und die Salze in elektrisch geladene Ionen zerfallen, die im elektrischen Feld bewegt werden, wenn der Organismus durch einen äußeren Reiz erregt wird. Wenn nachfolgend „die Konzentration der Ionen den Schwellenwert des Reizes überschritten hat, treten chemische Veränderungen an den Eiweißstoffen ein; und das Organ gelangt aus dem Ruhezustand in den Zustand der Erregung“.673 Mit dieser Theorie erklärte Lasareff auch das Dämmerungssehen als eine photochemische Reaktion und wies nach, dass in Verbindung mit den Grundgesetzen der Photochemie eine quantitative Bestimmung der Erscheinungen der Farbempfindungen möglich sei. Seine Theorie wurde zur Grundlage für die Entwicklung von Physiologie und Psychologie in der Sowjetunion; Sergei Rubinstein stütze sich in seiner allgemeinen Psychologie bei der Erklärung der Wahrnehmungsprozesse wesentlich auf Lasareff.674 Unter Berücksichtigung der Lasareffschen Ionentheorie der Reizung und der Pawlowschen Reflexlehre nahm der sowjetische Physiologe Sergei Krawkow in den 1940er und 1950er Jahren dann seine Präzisierung der Young-Helmholtzschen Dreikomponententheorie vor.675 So wie Lasareff das nacheinander folgende Auftreten von positiven und negativen Nachfolgebildern auf die Erregung, die Ionisierung und den Zerfall von lichtemp670 Helmholtz 1896a, S. 517, 521. 671 Wilhelm von Bezold, Die Farbenlehre, 2. verb. Aufl., Braunschweig 1921, S. 110–111. 672 P. Lasareff, Recherches sur la theorie ionique de l’excitation, Moskau 1918. Russisch als: P. P. Lazarev, Ionnaja teorija vozbuždenija, Moskau, Petrograd 1923. Deutsch als: Petr Lasareff, Die Ionentheorie der Reizung, Bern, Leipzig 1923. 673 Lazarev 1923, S. 22. Deutsch in: Lasareff 1923, S. 3. 674 Sergei L. Rubinstein, Grundlagen der allgemeinen Psychologie, 7. Aufl., Berlin 1971. 675 S. V. Kravkov, Cvetovoe zrenie, Moskau 1951. Deutsch als: Sergei W. Krawkow, Das Farbensehen, Berlin 1955. Vgl. auch Gericke/Schöne 1973, S. 56.
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findlichen Substanzen in den Stäbchen und Zapfen der Netzhaut zurückführte, erklärte auch Matjuschin: „Die durch das Licht in Ionen zerlegte farbwahrnehmende Substanz diffundiert nach Abbruch der Lichteinwirkung nur allmählich in die Kapillaren und wird im Blut davongetragen, teilweise zerfällt sie jedoch an Ort und Stelle. Im Laufe der Gesamtzerfallszeit nach Abbruch der Lichteinwirkung erhalten wir bis zum Augenblick des völligen Verschwindens der erregten Gegenstände aus der Netzhaut Sehwahrnehmungen. Dieser Prozess bringt das positive Nachfolgebild hervor.“676
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Matjuschin und seine Studenten beobachteten außerdem, dass sich die Komplementärfarben unterschiedlicher Farben verschieden schnell ausbilden. So wurde Blauviolett, die Komplementärfarbe zu Hellgelb, am schnellsten erregt, ihr folgte dann für Grün – Rosarot, während die Grüntöne der ErgänzungsPetr Lasareff, Ionentheorie der Reizung (Moskau, farben zu Rot und Violett mit deutlicher Petrograd 1923) Verzögerung auftraten.677 Bei Helmholtz fanden sie eine Erklärung für die zeitliche Verschiebung in der Ausbildung der jeweiligen Komplementärfarbe. Helmholtz hatte die Tatsache nach den Versuchen von Joseph Plateau mit der Annahme begründet, dass die Dauer der einzelnen Stadien der Nachfolgebilder für verschiedene Farben unterschiedlich lang ist und der Zeitpunkt der Maxima der Erregung nicht bei allen Farben gleichzeitig auftritt, sondern die Erregung für Rot und Violett früher als die für Grün eintritt. Er begründete diese Erscheinung mit dem Gesetz der Abnahme, wonach die Eindrücke, die am Anfang am schnellsten abnahmen, in schwachen Resten am längsten andauern.678 In Analogie zur Ausbildung von farbigen Nachfolgebildern im menschlichen Auge (Sukzessivkontrast) formulierte Matjuschin die drei Stufen der Farbveränderung in der Zeit: 676 Matjušin 1932, S. 20. 677 Ebenda, S. 22. 678 Helmholtz 1896a, S. 522. Nach den Untersuchungen von Krawkow adaptiert Blauviolett am schnellsten, Rot mittel und Grün am langsamsten. Rubinstein, S. 299.
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„I. Stufe: ein neutraler Grund färbt sich in die wenig klar ausgeprägte Ergänzungsfarbe. II. Stufe: die beobachtete Farbe umgibt sich mit einem scharfen klaren Rand der Ergänzungsfarbe; in der Umgebung erscheint eine dritte Farbe. III. Stufe: es tritt eine Veränderung ein – das Erlöschen der Farbe selbst unter dem Einfluß des auf sie gelegten, sie ergänzenden Farbreflexes, in der Umgebung finden neue Veränderungen statt.“679
Neben der Beschäftigung mit dem Sukzessivkontrast führten Matjuschin und seine Studenten auch Versuche zur Farbveränderung von verschiedenfarbigen Ellipsen und anderen Formmodellen vor einem neutralen Schirm durch, die sie in unterschiedlicher räumlicher Anordnung und farbiger Kombinationen zueinander studierten.680 Dabei zeigte sich, dass bei einer immer weiter entfernten Anbringung der Modelle auf dem Schirm das zentrale Sehen diese nicht mehr gleichzeitig erfassen konnte, das Erweiterte Sehen jedoch eine maximale Wahrnehmung ihrer Farbigkeit ermöglichte. Diese Beobachtung war zugleich mit der Erscheinung verbunden, dass die Farben ihrem Wesen nach zu unterschiedlichen Formausprägungen neigen, da sich die neutrale Kreisform der verschiedenfarbigen Modelle beim Erweiterten Sehen unterschiedlich stark verformte. Während die warmen Farben zu gerundeten Formen tendierten, bildeten die kalten Farben spitze und eckige Formen, dabei variierten die Formausprägungen zugleich in horizontaler und vertikaler Richtung.681 Auf der Grundlage der Beobachtung, dass die Farben der Gegenstände ebenso wie ihre Form beim Erweiterten Sehen eine Veränderung erfuhren, schlussfolgerte Matjuschin, dass diese Deformation als Ausdruck der konkreten Raumzusammenhänge gelten könne. Doch Matjuschin und seine Studenten beschäftigten sich nicht nur mit den Kontrasterscheinungen der Farbe und den Veränderungen von Farbe und Form im Erweiterten Sehen, sondern sie untersuchten auch die Erscheinungen der Farbe in Abhängigkeit von der Bewegung. Dazu bewegten sie einfache Formmodelle wie Kreise, Ellipsen u. a. von roter, blauer, gelber, oranger, violetter Farbe mittels einer speziellen Vorrichtung in der Horizontalen oder Vertikalen und beobachteten pendelnde Modelle vor einem neutralen oder farbigen Schirm. Fernerhin führten sie zwei Farbmodelle gleichzeitig in der Horizontalen vom Zentrum zu den Seiten, wobei sie diese durch die Anwendung der Methode des Erweiterten Sehens die gesamte Zeit über im Blickfeld behielten. In weiteren Versuchen bewegten sie die Modelle auf der Vertikalen oder in horizontaler Halbkreisbewegung.682 Dabei gelangten sie zu der Erkenntnis, dass die im Erweiterten Sehen beobachtete Farbe in der Bewegung heller 679 Matjušin 1932, S. 22. 680 LGALI, F. 244, Op. 1, Ed. 48, L. 18–19; Otčet Issledovatel’skoj Raboty Otdela Organičeskoj Kul’tury za 2-j kvartal [1924–25 g. – I.W.], LGALI, F. 244, Op. 1, Ed. 48, L. 20–21 sowie Otčet o dejatel’nosti Otdela Organičeskoj Kul’tury za vtoroj kvartal 1925–26 g., LGALI, F. 244, Op. 1, Ed. 71, L. 13–14. 681 Matjušin 1932, S. 24. 682 LGALI, F. 244, Op. 1, Ed. 48, L. 18–19 sowie Otčet o Dejatel’nosti Otdela Organičeskoj Kul’tury za pervyj, vtoroj i tretij kvartal 1925–26 g., LGALI, F. 244, Op. 1, Ed. 71, L. 10–17.
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als im zentralen Sehen erscheint, und dass die Farbigkeit abnimmt, aber bedeutend wärmer erscheint, je mehr der beobachtete Gegenstand dem Netzhautrand genähert wird. Diese Tatsache erklärten sie mit der Verteilung von Stäbchen und Zapfen in der Netzhaut, wonach die Wahrnehmung der Farbigkeit ab- und die Lichtempfindlichkeit mit der Verringerung der Zapfen und der Zunahme der Stäbchen zum Netzhautrand hin zunimmt.683 Die Untersuchungen der Farbveränderungen an flächigen Modellen in Abhängigkeit von Raum, Zeit, Ausdehnung und Bewegung schlossen sie im Wesentlichen im Sommer 1925 ab und setzten sie mit farbigen Körpern fort. Parallel dazu untersuchten sie auch die Wahrnehmung der Farben Rot, Blau, Gelb, Grün, Orange und Violett durch verschiedene Teile der Netzhaut – vom äußersten Rand über den gelben Fleck bis zum inneren Rand.684 Analog zum Studium der Farbveränderungen begann Matjuschin mit seinen Studenten auch Beobachtungen an einfachen Formmodellen vor neutralem Schirm vorzunehmen. Sie wählten einfache geometrische Grundformen wie gerade und gekrümmte Linien sowie Kreis- und Quadratflächen und untersuchten diese in drei verschiedenen Anordnungen vor neutralem Schirm.685 Dabei zeigte sich, dass eine Form, die im zentralen Sehen das Gesichtsfeld ausfüllte, stabil blieb, da durch die Fixierung der Gegenstandsgrenzen der visuelle Eindruck mit der Vorstellung übereinstimmte. Als sie dieselbe Form im Erweiterten Sehen betrachteten, beobachteten sie hingegen, wie diese von einer ihr entgegen gesetzten Form überlagert wurde. Nachdem sich die Komplementärform ausgebildet hatte, stellte sich ein relatives Gleichgewicht zwischen beiden Formen ein.686 Durch die Betrachtung der Kombinationen von einander entgegen gesetzten Formen gelangten sie zu der Überzeugung, dass sich gegensätzliche Formen zu relativer Stabilität ergänzen.687 Auch diese Versuche erweiterten sie durch Beobachtungen von Formen, die mittels einer Pendelvorrichtung in horizontaler und vertikaler Richtung bewegt wurden, sowie durch die Hinzuziehung von Tasteindrücken und Klängen und durch die Verwendung von geometrischen Körpern.688 Wie für das Auftreten der Ergänzungsfarbe bestimmte Matjuschin drei Veränderungsstufen für die Ausbildung der Ergänzungsform. Nach unzähligen Modellversuchen formulierte Matjuschin das Gesetz der Komplementärform, wonach die Form wie die Farbe einem Kontrastgesetz unterliegt: „Die Form vereint drei Grundeinheiten und drei Ergänzungseinheiten in sich. Die Grundeinheiten sind: die Gerade – das Quadrat – der Würfel. Die Komplementäreinheiten sind: die geschwungene Linie – der Kreis – die Kugel und umgekehrt“.689 Damit begründete er die in den experimentellen Beobachtungen gemachte Erfah683 Matjušin 1932, S. 19, 26. 684 LGALI, F. 244, Op. 1, Ed. 71, L. 13–14. 685 LGALI, F. 244, Op. 1, Ed. 48, L. 18–19. 686 Matjušin 1932, S. 23. 687 Ebenda. Derartige Kontrastpaare waren z.B. Gerade und Kurve, Quadrat und Kreis, Würfel und Kugel. 688 LGALI, F. 244, Op. 1, Ed. 48, L. 20–21. 689 Matjušin, Nauka v iskusstve 1926. Deutsch in: Powelichina 1977, S. 36.
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rung, dass die Form wie die Farbe nach ihrer komplementären Ergänzung strebt und dass sich die Komplementärformen ebenso wie die Komplementärfarben in ihrer Gegenüberstellung gegenseitig festigen und verstärken. Die Kenntnis dieses Gesetzes schien Matjuschin unabdingbar für die Herstellung von Formstabilität in der Kunst und für Gestaltungsaufgaben. Marija Ender, die die Untersuchungen zur Ergänzungsform nachfolgend ausbaute, unternahm 1927 anhand dieses Gesetzes den Versuch, eine Genese der Formentwicklung der Malerei von der primitiven Kunst bis hin zur Erklärung des Formprinzips im Kubismus zu geben.690 Seinen unmittelbaren künstlerischen Ausdruck fand das von Matjuschin in Analogie zum Kontrastgesetz der Farben formulierte Kontrastgesetz der Form in seiner Konstruktion „Zweigesichtiger Gegenstand“ von 1923 26 Michail Matjuschin, „Zweigesichtiger Gegenstand“, 1923 (Abb. 26).691 Diese Konstruktion, die in gewisser Hinsicht einen Nachfolger des „Überkörpers“ darstellte, setzte sich aus zwei einander entgegen gesetzten Raumstrukturen zusammen. Sie bestand auf der einen Seite aus einer flachen Form, in die eine Reihe langer Nägel eingeschlagen worden waren, und auf der anderen Seite aus einer mit schwarzem Samt ausgelegten Schachtel, in deren Mitte eine hellgelbe Kugel eingelassen worden war. In ihrer konträren aber organisch miteinander verbundenen Erscheinung verkörperte der „Zweigesichtige Gegenstand“ Matjuschins Überzeugung, dass sowohl jede Farbe als auch jede Form organisch mit einer ihr entgegen gesetzten Farbe bzw. Form verbunden ist, sie sich wechselseitig bedingen und herausfordern. Ab 1925 studierte die Abteilung für Organische Kultur die Veränderungen und Wechselwirkungen von Farbe und Form nicht mehr nur an flächigen Farb-FormModellen, sondern auch an farbigen geometrischen Körpern. Dabei führten sie keine speziellen Versuche zur Bestimmung der Einwirkung der Form auf die Farbe durch, untersuchten aber die Wirkung der Farbe auf die Form an zahlreichen räumlichen Farb-Form-Modellen sowie in Abhängigkeit von Bewegung, Zeit und räumlicher Umgebung. Die Versuche mit einem roten und einem blauen Parallelepiped 690 Marija Ender 1927. Deutsch in: Klotz 1991, S. 92–93. 691 Mikhail Matjuschin, „Zweigesichtiger Gegenstand“ (Dvuchfasnaja vešč), ca. 1923. Das Objekt ist nicht erhalten, bis auf wenige fotografische Abbildungen und eine kurze Beschreibung von Alla Powelichina liegen keine genaueren Angaben über diese Konstruktion vor. Vgl. Powelikhina 1977, S. 36; Abbildung vgl. Klotz 1991, S. 118; Marcadé 1995, S. 346; Povelikhina 1999, S. 17. Vgl. auch Bobrinskaja 2006, S. 132–133.
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und einer gelben und violetten Pyramide bestätigten, dass die Farben entsprechend ihrem Charakter die Formerscheinung stabilisieren oder verformen können.692 Diese Untersuchungen überprüften sie anhand der Beobachtungen der Komplementärerscheinungen im geschlossenen Auge. Die Reflexerscheinungen im geschlossenen Auge zeigten eine Durchdringung von Ergänzungsfarbe und Ergänzungsform, wobei die beobachtete Farbe zuerst die ihr entsprechende Form forderte, während sich ihre Ergänzungsfarbe, die wiederum eine Veränderung in die ihr entsprechende Farbe forderte, später herausbildete.693 1926 begann die Abteilung für Organische Kultur, die Wechselwirkungen von Farben, Formen und Tönen systematisch zu untersuchen. Matjuschin betrachtete den Ton ebenso wie die Farbe als eine Form ununterbrochener natürlicher Bewegung. Er gründete seine theoretischen Überlegungen zu einem gesetzmäßigen Zusammenhang von Farben und Tönen auf die von Helmholtz vertretene Vorstellung, dass es sich beim Klang um dieselbe Schwingungswelle wie bei der Farbempfindung handelt, diese jedoch auf unterschiedliche Teile des Nervensystems wirkt.694 Mit seinen Untersuchungen ging es ihm jedoch nicht darum, eine einfache Schwingungsanalogie zu konstruieren, um eine wissenschaftlich-experimentelle Bestätigung der Analogietheorie von Farben und Tönen zu finden, sondern er machte sich zu Aufgabe, die ihm chaotisch erscheinenden Erscheinungen von Licht und Farbe, Tönen und Geräuschen experimentell zu untersuchen und Charakter, Bedingungen und Gesetze ihres Zusammenwirkens zu bestimmen.695 Dabei stützte er sich wesentlich auf die von Georg Anschütz durchgeführten Versuche zur Wechselwirkung von Farbe und Form in Bezug auf den Ton.696 Ausgangspunkt für die Farb-Ton-Experimente war Matjuschins Beobachtung, dass die Seheindrücke die Hörwahrnehmungen beständig unterdrücken, sobald man diese aber wegnimmt, die unterschiedlichsten Töne und Geräusche hörbar werden.697 Auf der Grundlage dieser Tatsache, der vorangegangenen Untersuchungen zu den wechselseitigen Abhängigkeiten von Farben und Formen und der Erkenntnis, dass jede Farbe nach ihrer Komplementärfarbe sowie nach einer bestimmten Form strebt, gelangte Matjuschin zu der Schlussfolgerung, dass es dem Menschen möglich 692 LGALI, F. 244, Op. 1, Ed. 48, L. 20–21; Matjušin 1932, S. 24–25. Mit Parallelepiped bezeichneten sie einen ebenflächigen Körper, dessen Grundfläche ein Parallelogramm ist. Weitere Beispiele waren die Beobachtung der Bewegung eines gelben Zylinders und eines orangen Kubus vor einem blauen Schirm sowie die Bewegung von Kuben und Parallelepipeden neutraler Farbe aber unterschiedlicher Faktur vor verschiedenfarbigen Schirmen. Vgl. LGALI, F. 244, Op. 1, Ed. 71, L. 10–14. 693 LGALI, F. 244, Op. 1, Ed. 71, L. 13–14. 694 Helmholtz 1855, S. 96–99. Vgl. M. V. Matjušin, O zvuke i cvete, 1926–27, Privatarchiv. Deutsch in: Powelichina 1991, S. 32. 695 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, S. 134. 696 Georg Anschütz’ Buch „Die Erforschung des Farb-Tones“ erschien 1927 in Leningrad. Matjušin 1932, S. 27. Vgl. auch Anschütz, 1931, Bd. 3, S. 304–316. 697 Matjušin 1932, S. 26.
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sein müsse, die Fähigkeit zu entwickeln, beim Hören eines Tones gleichzeitig dessen Farb-Form zu erblicken und umgekehrt. „Ich stelle mir eine rote Kugel von der Größe eines Kürbisses vor, die wie ein Gong erklingt; ihr gegenüber einen grünen Kubus, der ein prasselndes Geräusch von sich gibt. Oder eine niedrige Kelchform von grüner [gelber – I.W.] Farbe, die wie die tiefe Bassseite eines Flügels klingt, und auf der gegenüberliegenden Seite eine himmelblaue Spirale, die Pfiffe von sich gibt: was für eine niemals verspürte ungeheure Kraft.“698
Matjuschin ging sogar so weit, ein Licht-Form-Klang-Geräusch-Instrument zu konstruieren, das aus einem gespannten Seil in Form eines Quadrats von 1 x 1 Meter bestand, wobei an jeder Seite des Quadrats eine der beschriebenen farbigen Klangformen angebracht war: ein rote Kugel von der Größe eines Kürbis, die, wenn sie angeschlagen wurde, wie ein Gong klang; ein grüner Würfel, der ein knisterndes Geräusch von sich gab; ein gelber Rhombus, der wie der tiefe Bass eines Streichinstruments oder Klaviers klang; und eine blaue Spirale mit Pfeifton.699 In ihrer Forschungsarbeit untersuchten Matjuschin, die Geschwister Ender und Nikolai Grinberg das Zusammenwirken von Farben und Tönen anhand der farbigen Veränderungen, die Schirme von roter, gelber, blauer und grüner Farbe sowie eine rote und eine blaue Kegelstumpfpyramide unter dem Einfluss von verschiedenen Tönen erfuhren. Dafür konstruierten sie vier Monochorde, d. h. einfache Instrumente, die aus einem Holzrahmen bestanden und jeweils mit einer gespannten Seite von unterschiedlicher Länge versehen waren, so dass sie Sopran-, Alt-, Tenor- und Basstöne ergaben. Fernerhin beobachteten sie die Farbveränderungen eines blauen Schirmes beim Hören der vier Monochorde und die Wirkung der Monochorde auf einem gelben Schirm.700 Sie gelangten zu der Erkenntnis, dass sich die Tendenz des Zusammenwirkens von Farbe und Ton wechselseitig bestätigte und dass „... tiefe, unscharfe Töne ... eine Farbe dichter und dunkler“ machen, „während hohe, scharfe Töne sie heller und transparenter machen“.701 So verminderte Rot den Ton, während Blau ihn erhöhte; ein tiefer Klang ließ die Farbe dichter, verdunkelter und errötet erscheinen, während sie bei einem hohen Klang heller, durchsichtiger und bläulich kälter wirkte (Tafel 11b).702 Aus der Beobachtung, dass starke Farben oder Töne das Hör- und Seherlebnis verstärken, leitete Matjuschin die Schlussfolgerung ab, dass einfache Laute öfter und dichter mit Licht kombiniert werden müssen, um zu einer neuen Wahrnehmung zu gelangen. Zur physiologischen Erklärung der beobachteten Wechselwirkungen von Farben und Tönen zog Matjuschin erneut Lasareffs Ionentheorie der Erregung heran. Lasareff begründete die Tatsache des Zusammenwirkens von Farben und Tönen 698 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, Exemplar RO GMISPb, S. 203. Deutsch in: Powelichina 1983, S. 291. 699 M. V. Matjušin, Zvuko-Cvet, RO IRLI, F. 656, d. 36, zit. in: Povelikhina 1999, S. 76. 700 LGALI, F. 244, Op. 1, Ed. 71, L. 10–17. 701 Matjušin 1932, S. 26. 702 Ebenda.
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mit einer Verbindung zwischen den Seh- und Hörnerven, die er in den Vierhügeln nachwies. In Analogie zur visuellen Wahrnehmung erklärte er die akustische Wahrnehmung mit der Wirkung äußerer Reize auf Substanzen im Ohr, die wie die lichtempfindlichen Substanzen der Stäbchen und Zapfen in der Netzhaut „unter dem Einfluß mechanischer Schwingungen zersetzt werden, um sich im Ruhezustand zu regenerieren, wobei in diesem Zustand Ionen entstehen, die erregend auf die Nervenendigungen einwirken“.703 Mit der umfangreichen künstlerisch-wissenschaftlichen Erforschung der Mittel und Methoden der Kunst in allen Abteilungen des GINChUK beabsichtigte die Leningrader Avantgarde die theoretischen Grundlagen für eine neue proletarische Kunst zu schaffen. Ihre Bestrebungen blieben nicht auf die Sowjetunion beschränkt, sondern erlangten internationale Beachtung. Auf der Ausstellung der russischen Avantgarde 1927 in Warschau zeigte Malewitsch neben seinen Tafeln zum Ergänzungselement in der Malerei auch Matjuschins Tabellen zur Interaktion von Farbe, Form und Klang (Tafeln 11a+b).704 Er beabsichtigte diese Tafeln auch in seiner anschließenden Einzelausstellung in Berlin auszustellen, hielt aber schließlich nur einen Vortrag über die Forschungsarbeit am GINChUK, wobei er auch die Anschauungstafeln zeigte. Darüber berichtete er in einem Brief an Matjuschin: „ ... ich habe Deine Tafeln demonstriert, meine auch. Das eine wie das andere erweckte starkes Interesse.“705 Im Zusammenhang mit seiner Ausstellung in Berlin besuchte Malewitsch 1927 auch das Bauhaus und hat vermutlich auch dort über die Untersuchungen am GINChUK gesprochen.706 Das GINhUK war eine Vereinigung linker Künstler, es stand jedoch nie direkt im Dienst der offiziellen Kunstpolitik. Die Kultur- und Bildungsfunktion der Einrichtung bestand in wissenschaftlichen Führungen durch die Schauräume der Abteilungen, in öffentlichen Vorträgen und Vorlesungen sowie in der Organisation von Ausstellungen.707 Doch obwohl die Mitglieder des Instituts ihre Forschungsergebnisse auf den jährlichen Rechenschaftsausstellungen zeigten und sich 1923 an der Ausstellung der Petrograder Maler aller Richtungen sowie 1925 an der Ausstellung der Hauptverwaltung für Wissenschaft (GLAWNAUKA) in Moskau beteiligten, 703 Lasareff 1923, S. 38. Vgl. Matjušin 1932, S. 26. 704 Diese Tafeln befinden sich heute im Stedelijk-Museum in Amsterdam. Vgl. Mikhaïl Matiouchine, La culture organique / Organičeskaja kul’tura 1925–1926 gg., in: Zabludivšijsja Tramvaj. Art et Poesie Russes 1910–1930. Textes Choisis, Ausst.-Kat., Paris 1979, S. 243–248; Andersen 1970, S. 134–136. 705 K. S. Malevič, Pis’mo k M. V. Matjušinu, 1927, RO GTG, F. 25, Op. 9, Ed. 24, zit. in: Shadowa 1978, S. 125. Diese Tafeln verblieben bei Hugo Häring in Deutschland und gelangten nach dem zweiten Weltkrieg in das Stedelijk-Museum Amsterdam. Vgl. auch Douglas 1973–74, S. 47; Paris 1979, S. 243–248. Zu Malewitschs Ausstellung in Berlin vgl. Hans von Riesen, Malewitsch in Berlin, in: Berlin 1967, S. 22–25. 706 Daraufhin erschien als Band 11 der Bauhausbücher Malewitsch 1927. 707 Das Institut für Künstlerische Kultur, RGALI, F. 645, Op. 221, L. 1, in: Shadowa 1978, S. 320. Zur Beteiligung von Matjuschins Kreis an der Ausstellung des GLAWNAUKA 1925 in Moskau vgl. Boris Ender, Pis’ma k M. V. Matjušinu, 24.11.1925 und 1.12.1925, RO GTG, F. 25, Ed. 13.
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blieb ihre Arbeit weitgehend auf Modellversuche im Labor und kunsttheoretische Überlegungen beschränkt. In einer Zeit zunehmender Polarisierung zwischen einer „rechten Kunst“, die „Alltag und Arbeit beschreibt“, und einer „linken Kunst, die neue Gestaltungsmöglichkeiten im Bereich der künstlerischen Kultur sucht“,708 sowie massiver staatlicher Forderungen an die Künstler, sich am gesellschaftlichen und industriellen Aufbau der sozialistischen Gesellschaft zu beteiligen, stießen die Aktivitäten des GINChUK ab der Mitte der 1920er Jahre auf immer stärkeres Misstrauen. Die Ablehnung der am GINChUK durchgeführten künstlerischen Arbeit der Avantgarde von offizieller Seite resultierte zuerst in einer drastischen Kürzung der Mittel und stellte das Institut 1926 schließlich ins Kreuzfeuer der Kritik. Den Anlass bildete der von G. Seryi im Zusammenhang mit der Rechenschaftsausstellung des GINChUK von 1926 in der Leningrader Prawda veröffentliche Artikel „Kloster auf Staatskosten“.709 Darin charakterisierte er das GINChUK als eine Gemeinschaft „in Christo hausender Narren“ und diffamierte die Forschungsarbeit der „Leningrader Gegenstandslosen“ als „von höchster Impotenz“ und als „offene konterrevolutionäre Propaganda“.710 Er kritisierte das GLAWNAUKA dafür, die Arbeit des GINChUK so lange geduldet zu haben und forderte: „Die Kontrollkomission und die RKI [Arbeiter- und Bauerninspektion – I.W.] müssen diese Vergeudung von nationalen Geldern für die staatliche Unterstützung des Klosters genau untersuchen.“711 Damit war das Signal zur Auflösung des GINChUK gegeben. Nach zahlreichen Revisionen wurde die Arbeit am GINChUK durch eine Verfügung des GLAWNAUKA im November 1926 auf die Aufgaben einer modernen Kunstindustrie ausgerichtet. Mit der Angliederung des Instituts an das Staatliche Institut für Kunstgeschichte (GIII) im Dezember 1926 fand die vitale Experimentierphase der St. Petersburger Avantgarde ein jähes Ende.712
Michail Matjuschins pädagogisch-praktische Tätigkeit an der Petrograder Kunstakademie 1926 schied Matjuschin auch aus dem Lehrkörper der Kunstakademie aus, wo er 1918 seine Lehrtätigkeit im Studio von Malewitsch begonnen und 1919 das Studio für Räumlichen Realismus gegründet hatte. In diesem Freien Studio hatte Matjuschin seine künstlerischen Ideen und pädagogischen Methoden zwischen 1919 und 1922 gemeinsam mit seiner ersten Schülergeneration, den Geschwistern Ender und 708 K. S. Malevič, LGALI, F. 244, Op. 1, Ed. 56, L. 52–53, zit. in: Karassik 1991, S. 47. 709 G. Seryj, Monastyr’ na gossnabženii, in: Leningradskaja Pravda, 132 (3346), 10. Juni 1926, S. 5. 710 Ebenda. 711 Ebenda. 712 Die zugespitzte Situation muss sowohl für das Nichtzustandekommen des GINChUK-Sammelbandes als auch von Matjuschins Farbenfibel verantwortlich gemacht werden. Ein Exemplar der Farbfibel befindet sich im RGALI: M. V. Matjušin, Neopublikovannaja rukopis’ o cvete, 1926, RGALI, F. 1334, Op. 2, Ed. 324.
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Nikolai Grinberg, entwickelt. In den 1920er Jahren nutzte er seine Lehrtätigkeit, um die von ihm am GINChUK entwickelten Theorien und Methoden in der Praxis zu erproben.713 Im Studienjahr 1921–22 wurde das Lehrsystem der Petrograder Kunstakademie erneut reformiert. Die Freien Studios, die von einzelnen, oft sehr unterschiedlichen Künstlerpersönlichkeiten geleitet worden waren, sollten zugunsten von Studios, die allgemein-künstlerische Probleme behandelten, abgeschafft werden. Der neue Plan sah zwei Schwerpunkte im Hinblick auf die grundlegenden Ideologien der modernen bildenden Künste vor: die ästhetisch-akademische Richtung und die der neuen, materiellen Kultur.714 Beide Richtungen sollten autonom, aber gleichermaßen in den institutionellen Strukturen vertreten sein und jeweils aus entsprechenden Unterabteilungen bestehen. Die Leiter der Freien Studios erarbeiteten im Studienjahr 1921– 22 Vorschläge zur Umgestaltung der Kunstakademie, insbesondere im Hinblick auf den Inhalt der Lehrprogramme und die Lehrmethoden. Bei seinen Überlegungen zur Reform der Lehre an der Kunstakademie berücksichtigte Matjuschin, dass die Studenten eine Vielzahl von künstlerischen Stilen und Bewegungen von, wie es damals hieß, „ganz links bis ganz rechts“ studierten. Matjuschin, der an den Wert von kollektiver Arbeit glaubte, individuelle schöpferische Tätigkeit jedoch nie grundlegend in Frage stellte, entwickelte ein akademisches Lehrsystem, in dem Professoren unterschiedlicher Richtungen gemeinsam mit den Studenten an bestimmten künstlerischen Problemen arbeiten sollten. Dieses Modell basierte auf seiner Überzeugung, dass die Lehre die historische Entwicklung der Kunst widerspiegeln müsse und die Logik der unterschiedlichen künstlerischen Stile und Bewegungen für die Studenten als historische Sequenz erfahrbar werden müsse. Seiner Meinung nach sollten die Studenten die unterschiedlichen Malsysteme bei der Lösung einer bestimmten künstlerischen Aufgabe anwenden, um dadurch eine umfangreiche und solide künstlerische Ausbildung zu erhalten, die ihnen eine Vielzahl von schöpferischen Möglichkeiten eröffnen würde. Im Rückblick schrieb er: „Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass unter der Professorenschaft unterschiedliche Richtungen vertreten waren, schlug ich die Methode der kollektiven Lehre von allen Richtungen vor. Es ist notwendig, ein einheitliches Programm mit einem klaren und durchdachten Organisationssystem auszuwählen... Durch die gemeinsamen Anstrengungen der Künstler aller Richtungen wird es möglich sein, in der Schule die Quelle einer starken, kollektiven Zukunft zu schaffen.“715
Matjuschin, der gemeinsam mit Tatlin und Andrejew dem linken Flügel des Lehrkörpers angehörte, legte ein detailliertes Studienprogramm vor, das die Aufteilung des Lehrkörpers in fünf Gruppen – in die Akademiker, die Zentralen, die Neuen Tenden713 Matjušin, Nauka v iskusstve 1926. 714 Predlagaemyj Ob’’edineniem novych tečenij v iskusstve. Plan organizacii VChTUZa, RO IRLI, F. 656, Op. 2, Ed. 33, S. 42, zit. in: Nesmelov 2007, S. 28. 715 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, Exemplar RO IRLI, zit. in: Nesmelov 2007, S. 30.
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zen und zwei Übergangsgruppen – vorsah und die konkrete künstlerisch-praktische und kunsttheoretische Arbeit auf dem Gebiet der Farbenlehre und in den Unterabteilungen Organisches Volumen, Licht und Ton, Befreite Bewegung sowie Experimentelle Erforschung der Wechselwirkungen von Geräuschen, Licht, Tönen und Farbe skizzierte.716 Das dreijährige Studium der Farbenlehre sah Beobachtungen von Farb-Form-Modellen sowie die Beschäftigung mit einzelnen Farben und ihren Farbqualitäten, Farbkontrasten, den Wechselwirkungen von zwei oder drei Farben und farbigen Volumina vor.717 Hinzu sollte die Behandlung von Problemen der Optik, der Physiologie des Sehens und der historischen Entwicklung des Sehens kommen. Das vierjährige Studium in der Unterabteilung Organisches Volumen gliederte sich in einen Theorieteil, einen praktisch-künstlerischen Teil und einen Produktionsteil.718 Der theoretische Teil der Ausbildung sollte sich mit wissenschaftlichen Fragestellungen wie der Evolution und der Einheit des organischen Lebens, Problemen der Optik und der Physiologie des menschlichen Auges, der Funktionsweise des Nervensystems, den Prinzipien und chemischen Grundlagen der Radioaktivität, der nichteuklidischen Geometrie und der Relativitätstheorie sowie mit kunsthistorischen Problemen wie der historischen Entwicklung des menschlichen Auges und der künstlerischen Tätigkeit des Menschen und den Errungenschaften der Impressionisten im Umgang mit der Farbe beschäftigen. Im Zentrum der künstlerischpraktischen Tätigkeit sollte das Studium von Formkontrasten im Test Workshop; die Arbeit mit den Primär- und Sekundärfarben und farbigen Materialien sowie Übungen zum unmittelbaren Sehen, dem Malen mit beiden Händen und dem Studium der Bewegung in drei Dimensionen im Vorbereitungsworkshop; die Untersuchung farbiger Volumina, das Studium des peripheren Sehens und die Erweiterung des Blickwinkels von 90 auf 150 Grad im Modellworkshop sowie das Malen beim Erweiterten Sehen, die schöpferische Beobachtung der dreidimensionalen Entfaltung eines Organismus, die Wahrnehmung mit einem Blickwinkel von 360 Grad im Kreativworkshop stehen. Der Produktionsteil sollte angewandten Bereichen wie dem neuen Ornament, der dekorativen Malerei, dem Plakat, Modellen für Glas, Keramik, Majolika, Porzellan und Tapete, Linoleum, Textilien und Entwürfen für neue Konstruktionen gewidmet sein. Die zweijährigen Aufbaukurse in den Unterabteilungen Licht und Klang und Befreite Bewegung gliederten sich ebenfalls in einen Theorieteil, einen künstlerischpraktischen Teil und einen Produktionsteil. Licht und Ton sollten theoretisch im Hinblick auf ihre physikalischen und physiologischen Grundlagen und ihre historisch-künstlerische Entwicklung studiert sowie praktisch auf ihre Kombinationen unter- und miteinander und ihre Wirkung auf bewegte Gegenstände hin untersucht werden.719 Die Arbeit in der Unterabteilung Befreite Bewegung sollte sich mit un716 Ebenda, S. 34–44. 717 Ebenda, S. 35. 718 Ebenda, S. 37. 719 Ebenda, S. 39.
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27 Michail Matjuschin mit Studenten im Garten der Leningrader Kunstakademie, 1925
terschiedlichen Materialien, deren Kombinationen und Wechselwirkungen sowie Konstruktionstechniken beschäftigen und im Modellbau und in Entwürfen für neue Gebäude realisiert werden.720 Das zweijährige Aufbauprogramm zur experimentellen Erforschung der Wechselwirkungen von Geräuschen, Licht, Klang und Farbe war dem theoretischen und künstlerisch-praktischen Studium dieser Phänomene in der ersten, zweiten und dritten räumlichen Dimension gewidmet.721 Es ist kein Zufall, dass dieses Lehrprogramm in engem Zusammenhang mit der Arbeit der Abteilung für Organische Kultur am GINChUK stand. Tatlin musste die Kunstakademie 1922 verlassen und Matjuschin übernahm die Professur für Zeichnen und Malerei im allgemeinen Grundlagenprogramm. Sein ambitioniertes, intermediales und transdisziplinäres Lehrprogramm wurde nicht umgesetzt. Im Gegenteil, die Lehre an der Kunstakademie wurde auf traditionelle Themen und akademische Lehrmethoden zurückgeführt; im Zentrum der Ausbildung standen in guter alter Manier wieder Anatomielehre und das Zeichnen von Gipsabgüssen, die Darstellung von Stillleben, das Studium der menschlichen Figur, Landschaftsmalerei und kompositorische Fragen. Während sich Matjuschin bei der künstlerischen Arbeit mit seiner ersten Schülergeneration, den Geschwistern Ender und Nikolai Grinberg, zwischen 1919 und 1922 vor allem auf die Anwendung der Methode des Erweiterten Sehens und die Erforschung und Sensibilisierung von Tast720 Ebenda, S. 41. 721 Ebenda, S. 43.
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sinn, Gehör, Sehen und Denken und deren Zusammenwirken konzentriert hatte, arbeitete er mit seiner zweiten Schülergeneration, zu der Jelisaweta Astafjewa, Wera Besperstowa, Jelena Chmelewskaja, Walida Delakroa, Nikolai Kostrow, Jewgenija Magaril, Irina Walter und Olga Waulina gehörten, zwischen 1922 und 1926 vor allem an der farbigen Erfassung von Raumverhältnissen (Abb. 27). Der Schwerpunkt der Lehre im Studio für räumlichen Realismus zwischen 1919 und 1922 hatte auf der neuen Wahrnehmung des Raumes in der Natur, der Erfahrung des Erweiterten Sehens, dem Malen mit beiden Händen und der Berücksichtigung von Tastsinn und Höreindrücken gelegen.722 Ab dem Herbst 1922 konzentrierte sich auch die Lehre bei Matjuschin auf die Darstellung von Stillleben, Aktmodellen und Landschaften, berücksichtigt wurden darüber hinaus kompositorische Fragen, anatomische Kenntnisse und das Zeichnen von Gipsabgüssen; hinzu kamen fernerhin Gedächtnisübungen, Filmstudien und die Frage nach der „Hygiene“ beim Zeichnen und in der Malerei.723 Auch ein Vergleich der Arbeiten der ersten und zweiten Schülergeneration macht den grundlegenden Wandel im Lehrprogramm deutlich. Bei den Arbeiten der Geschwister Ender und von Nikolai Grinberg handelt es sich fast ausschließlich um Landschaftsdarstellungen und abstrakte Kompositionen, das Werk von Jelisaweta Astafjewa, Wera Besperstowa, Jelena Chmelewskaja, Walida Delakroa, Nikolai Kostrow, Jewgenija Magaril, Irina Walter und Olga Waulina, Matjuschins zweiter Schülergeneration, wird vor allem von figurativen Alltagsszenen und Aktdarstellungen dominiert.724 Matjuschins Interesse an einer erweiterten räumlichen Darstellung der Wirklichkeit wird auch in den Arbeiten der zweiten Schülergeneration deutlich, der Begriff des Erweiterten Sehens taucht nach 1922 jedoch nicht mehr in den offiziellen Dokumenten auf, und auch nach der Reform der Kunstakademie 1922 wurden weitere Anpassungen des Lehrprogramms erforderlich. Während Matjuschin seinen Studenten im Studienjahr 1922–23 die Aufgabe stellte, ein Modell, das vor einem intensiven farbigen Hintergrund platziert war und die Komplementärfragen trug, als abstrakte Farbform zu betrachten, um daran die Veränderungen von Form und Umgebung unter dem Einfluss des Komplementärkontrastes zu beobachten, forderte er
722 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, Exemplar RO IRLI, S. 216–217. Vgl. auch Nesmelov 2007, S. 32. 723 Ebenda. 724 Chudožniki školy M. V. Matjušina, iz sobranija N. Nesmelova, St. Petersburg, Ausst.-Kat., Kirov 1996; Chudožniki školy M. V. Matjušina. Živopis’, Grafika, Ausst.-Kat., Petrozavodsk 1998; Zvučaščij Cvet. Chudožnik Valida Delakroa 1899–1972. Živopis’, Grafika, Cvetovedenie / Sounding Colour. Artist Valida Delacroux 1899–1972. Painting, Graphic Art, Colouristic Science, Ausst.-Kat., St. Petersburg 1999; Väri. Tila. Harmonia. Mihail Matjushinin koulukunnan taiteilijat pietari / Colour. Space. Harmony. Painters of M. V. Matyushin painting school St. Petersburg / Cvet. Prostranstvo. Garmonija. Chudožniki školy M. V. Matjušina Sankt-Peterburg, Ausst.-Kat., Kerava 2002.
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ein Jahr später von ihnen, das Modell mit seinen individuellen Charakterzügen und als soziales Wesen darzustellen.725 Matjuschin, der sich immer als Vertreter der „linken Kunst“ positionierte, war ein erklärter Anhänger von kollektiver Arbeit, erkannte aber auch die Notwendigkeit und den Wert von individueller, kreativer Arbeit an. Im selben Atemzug, in dem er von seiner linken Orientierung sprach, blieb er auch seinen künstlerischen Überzeugungen treu: „Ich bin unerbittlich bei der Tiefe der Beobachtung im Hinblick auf Formen, Farben, Volumen, Gewicht und den Zusammenhang mit dem Raum.“726 Nikolai Punin stellte anerkennend fest, dass Matjuschin wie kein anderer seiner Kollegen in der Lage war, „gut und vorsichtig seinen Standpunkt zu den Widersprüchen der modernen Kunst“ zu finden.727 Die enge Verbindung von wissenschaftlicher Arbeit, pädagogischer Tätigkeit und neuen künstlerischen Bestrebungen wird auch in Matjuschins theoretischen Texten der 1920er Jahre deutlich. Im Zusammenhang mit der Einrichtung einer Theaterabteilung an der Kunstakademie in Leningrad verfasste er im Februar 1925 seinen „Aufsatz über das Theater, Plakat und Kino“.728 Darin verband er die historische Entwicklung des Zusammenwirkens von Licht, Farbe und Klang mit den Ausdrucksformen des Theaters, die er im religiösen Kontext und im traditionellen Theater suchte. Er erklärte diese mit den Alltagserfahrungen der Menschen in unterschiedlichen Zeiten und Kulturen und der Entwicklung der vielfältigen künstlerischen Ausdrucksformen von Mimik und Gestik, bildender Kunst, Musik und Literatur sowie Kostümdesign und Bühnenbild. In der Cinematografie sah Matjuschin eine neue, internationale Kunstform für ein breites Massenpublikum, die in der Lage war, das schnelle Tempo des modernen Lebens mittels einer verallgemeinerten Körpersprache sowie durch Mimik und Gestik wiederzugeben. Er schätze insbesondere, dass das Kino in der Lage war, jeden Moment der bewegten Handlung durch eine Vielzahl von Perspektiven und Positionen zu erfassen, betonte aber zugleich, dass ihm im gegenwärtigen Entwicklungsstadium mit der Farbe ein wesentliches Ausdrucksmittel fehlte. Er forderte, dass das neue Theater von der Cinematografie ausgehen und auf ihren künstlerischen Gestaltungsmitteln und Ausdrucksformen aufbauen müsse. Der Künstler einer neuen Dimension sollte die Verfahren der Cinematografie nutzen, um eine schnell bewegte und hoch emotionale Handlung entsprechend darzustellen. Das neue, totale Theater sollte neue räumliche Perspektiven, eine gelungene Koordination aller künstlerischen Teilaspekte, eine überzeugende Interaktion zwischen Darstellern und Publikum sowie eine stärkere Handlung und eine aktivere Beteiligung des Publikums 725 E. Ja. Astaf ’eva, Pis’mo k M. V. Matjušinu, 19.8.1934, RO IRLI, F. 656, Op. 3, zit. in Nesmelov 2007, S. 33. 726 M. V. Matjušin, Obraščenie k studentam, RO IRLI F. 656, Op. 2, Ed. 33, S. 74, zit. in: Nesmelov 2007, S. 31. 727 N. N. Punin, Gosudarstvennaja vystavka, zit. in: Nesmelov 2007, S. 31. 728 M. V. Matjušin, Doklad o teatre, plakate i kino, Februar 1925, Archiv des Staatlichen Majakowski-Museums, Moskau, Nr. 11270.
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ermöglichen. Matjuschin war überzeugt, dass eine Handlung getragen von im Raum bewegten Körpern und ständig wechselnden Klangperspektiven das Theatererlebnis für den Zuschauer zu einer intensiven, audiovisuellen und spirituellen Erfahrung machen und ihn aus seiner passiven Betrachterrolle herausholen und zu einem aktiven Teilnehmer am Geschehen machen würde.729 Er resümierte: „Das neue Theater muss entsprechend dem Verständnis von der neuen Bedeutung des Volumens der Gegenstände und der Bewegung des Lichts, der neuen musikalischen und rhythmischen Klangfarben der Instrumente und der neuen, expressiven aber ruhigen Sprechweise, die dem kollektiven Willen und der Energie des Künstlers, Schriftstellers und Musikers einer neuen Dimension entspricht, aufgebaut sein. Dies schafft ein neues Wunder von theatralischer Handlung, die es vermag, das Theater wiederzubeleben und auf eine neue Entwicklungsstufe zu heben.“730
Mitte der 1920er Jahre verfasste Matjuschin auch seinem Aufsatz „Wissenschaft in der Kunst“, in dem er u. a. der Frage nachging, was ein Künstler wissen müsse, um auf die kulturellen Organisationsaufgaben im Leben vorbereitet zu sein.731 Er teilte diese Grundkenntnisse in allgemeines Wissen, spezialisiertes Wissen und praktische Arbeit ein. Ganz allgemein sollte ein Künstler seiner Meinung nach mit der Entwicklung des Blickwinkels in Verbindung mit dem geometrischen Verständnis vom Raum, mit der Entfaltung von Breite und Höhe in der Architektur (Kirchen, Paläste), mit der Tonentwicklung in der Musik von den Flöten der Ägypter bis zum zeitgenössischen Orchester sowie mit der Ausformung der menschlichen Sprache von den primitiven Lauten bis zu den zeitgenössischen europäischen Sprachen vertraut sein. Zu den Spezialkenntnissen des Künstlers zählte Matjuschin Grundkenntnisse der physikalischen Gesetze von Licht und Ton sowie dem Aufbau des menschlichen Auges und Gehörs. Darüber hinaus sollte der Künstler erlernen, die Wahrnehmung des Tastsinns, der Farbe und der mit ihr untrennbar verbundenen Form in Theorie und Praxis zu verfolgen. In der praktischen Arbeit sollte der Künstler die Natur im Verständnis der alten und neuen Schulen (Holbein, Greco, Rembrandt, Turner, Monet und Braque) und danach unter den neuen Bedingungen des Erweiterten Sehens und in der Bewegung studieren. Matjuschin schlussfolgerte: „Die Natur ist ihm [dem Künstler – I.W.] in ihrem natürlichen Übergang von den alten Methoden der Beobachtung und Darstellung zu den neuen gezeigt worden. Damit setzt sich eine korrekte Ansicht, eine klare wissenschaftliche Herangehensweise und die objektive Methode im zeitgenössischen Denken durch. Es braucht keinen Widerspruch bei der Verbindung der alten und der neuen Methoden zu geben, wenn man ihre Untersuchung richtig in den historischen Kontext der Zeit stellt.“732
729 Ebenda. 730 Ebenda. 731 Matjušin, Nauka v iskusstve 1926. 732 Ebenda.
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Matjuschins kunsttheoretische und künstlerisch-praktische Überlegungen zeichneten sich durch eine enorme Bandbreite von wissenschaftlichen Interessen und methodischen Zugängen aus. Matjuschin war kein Dogmatiker, der seine Ideen als unabwendbare Tatsachen proklamierte, sondern er versuchte seine Studenten von seinen Einsichten zu überzeugen und beeindruckte durch seine Lebenserfahrung, sein lebendiges Interesse an weit auseinander liegenden Themengebieten und sein breites Wissen. Dies machte ihn zu einem beliebten Lehrer, dem seine Schüler zeitlebens verbunden blieben; auch nachdem er 1926 im Alter von 65 Jahren aus dem Lehrkörper der Kunstakademie ausgeschieden war, erfreute er sich bis zum Lebensende einer großen Schülerschaft.
Die Kultur der organischen Farbgestaltung Nach der Schließung des GINChUK im Dezember 1926 und der Beendigung seiner Lehrtätigkeit an der Leningrader Kunstakademie setzte Matjuschin seine Forschungsarbeit gemeinsam mit Malewitsch bis 1929 am GIII fort, wo ein spezielles Komitee für die bildende Kunst der Gegenwart mit einem architektonisch-experimentellen Studio unter der Leitung von Malewitsch und einem Laboratorium zum Studium der formästhetischen und psychophysiologischen Grundlagen der räumlichen Künste unter der Leitung von Matjuschin eingerichtet wurde.733 Entsprechend der politischen Situation und der verschärften Kunstpolitik war die Arbeit der Avantgarde am GIII von der Verteidigung gegen öffentliche Angriffe, der Rechtfertigung ihrer Forschungsarbeit und künstlerischen Methoden sowie von der Beweisführung der gesellschaftlichen Notwendigkeit und Nutzbarkeit ihrer Forschungsergebnisse gekennzeichnet. Matjuschin notierte im Juni 1927: „Obwohl das Institut für Künstlerische Kultur in das Staatliche Institut für Kunstgeschichte überführt worden ist, ist der Fortbestand unserer Abteilung fraglich. Wir werden stark benachteiligt, unser Raum wird uns ständig weggenommen und andere zweifelhafte Dinge. Trotzdem ist die geleistet Arbeit außerordentlich wichtig und gut ausgeführt.“734
Matjuschin konzentrierte sich in seiner weiteren Arbeit deshalb besonders auf die Ausarbeitung einer Farbenlehre, die als Grundlage für die künstlerische Gestaltung in allen Bereichen der Gesellschaft und des Lebens dienen konnte.735 Matjuschins Farbenlehre bedeutete die konsequente Weiterführung seiner künstlerischen Ideen. Sie erwuchs aus seiner Überzeugung, dass der Umgang mit der Farbe ein vollkommen vernachlässigter Aspekt in der Malerei war, der an den Kunstschu-
733 L. A. Žadova, Iz istorii sovetskoj polichromii, in: Techničeskaja ėstetika 7, 1975, S. 3–6. 734 M. V. Matjušin, Notiz vom 18. Juni 1927, RO IRLI F. 656, Op. 1, Ed. 149, S. 6. 735 L. Žadova, „Eto my, illuminatory zavtrašnich gorodov“, in: Znanie-sila, Moskau 1975, S. 34–36. Zu Malewitschs farbgestalterischen Aktivitäten vgl. diess. 1975a, S. 3–6.
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len weder analysiert noch gelehrt wurde.736 Mit Hilfe der Farbe schien es Matjuschin möglich, die Malerei an allgemeine Weltgesetze zu binden, künstlerische Probleme wissenschaftlich zu lösen und die ästhetische Entwicklung der Menschheit zu befördern. Ganz im Sinne von Robert Delaunay war die Farbe für Matjuschin „die denkbar menschlichste Vermittlung, da jeder fähig ist, von dieser universellen Sprache, ihren Spielen, Bewegungen, Akkorden, Rhythmen, wie von Musik betroffen zu werden“.737 Er hielt die Kenntnis und das Studium der Gesetze der Farberscheinungen deshalb für alle Künstler ebenso wie für jeden Architekten und Ingenieur für unerlässlich und machte sich zur Aufgabe, deren Gesetzmäßigkeiten zusammenzufassen. Matjuschin gründete seine Farbenlehre auf die Erfahrungen des Erweiterten Sehens und die Idee der Organischen Kultur. Die Farbe wurde ihm zum elementaren Gestaltungsmittel, um eine neue Raum- und Welterfahrung in der Kunst zum Ausdruck zu bringen und das Wesen des Universums in sichtbaren Formen zu vermitteln. Er betrachtete die Farbe in der Malerei als Reflexion des Lichts in der Natur; sie stellte sich ihm als eine Manifestation der inneren Weltzusammenhänge dar, die unmittelbaren Anteil an der universellen Bewegung des Kosmos haben. Beim Studium der Farberscheinungen handelte es sich für Matjuschin deshalb um die Erforschung von Naturgesetzen frei von subjektivem Ausdruckswert. Mit der Überzeugung des Naturwissenschaftlers ging er daran, den Bauplan des Universums zu ergründen: „Denn indem wir überall die Spuren von Gesetzmäßigkeit, Zusammenhang und Ordnung wahrnehmen, ohne doch das Gesetz und den Plan des Ganzen vollständig überblicken zu können, entsteht in uns das Gefühl einer Vernunftmäßigkeit des Kunstwerkes, die weit über das hinausreicht, was wir für den Augenblick begreifen und an der wir keine Grenzen und Schranken bemerken.“738
Durch die Verallgemeinerung experimentell gewonnener Versuchsergebnisse, wissenschaftlicher Erkenntnisse und der künstlerischen Erfahrungen der Weltkunst formulierte Matjuschin Gesetze für eine Gestaltungslehre, die als praktische Anleitung dienen und die Farbe zu lebensgestaltender Wirkung führen sollten. In der Entwicklung seiner Farbenlehre zeigt sich zugleich die Tatsache, dass das malerische Schaffen von Matjuschin viel stärker in der theoretischen Fundierung von Gestaltungsmitteln als in der praktischen Umsetzung künstlerischer Ideen bestand. Die Forschungsarbeit am GINChUK und GIII mit ihrer Konzentration auf farb-, form- und musiktheoretische Fragen und die wissenschaftlich-experimentellen Untersuchungen des Zusammenhangs von Farbe, Form und Ton entsprachen der Natur seines synthetisierenden Geistes. Die kunsttheoretisch-wissenschaftliche Arbeit war zugleich mit einem deutlichen Rückgang von Matjuschins malerischem Schaffen ab der Mitte der 1920er Jahre ver736 L. Žadova, Cvetovaja sistema M. Matjušina, in: Iskusstvo, 1974, Nr. 8, S. 38. 737 Robert Delaunay, in: Hajo Düchting (Hg.), Zur Malerei der reinen Farbe, München 1983, S. 105. 738 Helmholtz 1863, S. 554.
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bunden; alle bedeutenden Werke entstanden vor 1923. Diese Tatsache muss neben seinem zunehmenden Alter vor allem auf seine ausfüllende Forschungsarbeit und die kunstpolitische Situation mit ihrer offenen Ablehnung aller Formen der gegenstandslosen Malerei zurückgeführt werden. Zugleich erscheint es jedoch auch denkbar, dass Matjuschins anhaltende Suche nach künstlerischen Formen, um ein neues Verständnis vom universellen Raum zum Ausdruck zu bringen und die Organische Kultur durch SORWED in der Kunst zu verwirklichen, über die Fläche der Malerei hinaus zu neuen Medien und Gestaltungsräumen drängte. In der Konstruktion des „Überkörpers“ und des „Zweigesichtigen Gegenstandes“ ebenso wie in seinen Gesamtkunstwerksinzenierungen kündigte sich seine Überführung der Kunst von der zweidimensionalen Bildfläche in den wahrhaft dreidimensionalen Raum an. Auch in diesem Zusammenhang diente Matjuschin die Farbe als geeignetes Medium für die Darstellung einer neuen räumlichen Wahrnehmung und Wirklichkeit. Bei seinen Überlegungen zum Einsatz der Farbe für architektonische Gestaltungsaufgaben beschäftigte sich Matjuschin mit dem farbigen Außenanstrich von Gebäuden, der farbigen Innenraumgestaltung von öffentlichen Gebäuden wie Klubs, Theatern, Konzertsälen, Museen und Ausstellungshallen und der farbigen Gestaltung von Wohnungen. In der Frage des farbigen Außenanstrichs von Gebäuden begründete Matjuschin die traditionelle Verwendung von hellen Farben wie Gelb und hellen Orange- oder Rottönen damit, dass der Außenanstrich von Gebäuden immer im Kontrast zu den kühlen Farbtönen der Umgebung, insbesondere dem Graublau des Himmels und dem Grün der natürlich gewachsenen Umgebung steht.739 Zugleich betone er jedoch, dass auch die Lichtverhältnisse, die Intensität und Sättigung der Farbe sowie die Größe der Fläche, auf der die Farbe aufgetragen wird, wesentliche Faktoren für deren Wirkung sind.740 So empfahl er zum Beispiel reine, gesättigte Farben nur auf relativ kleinen Flächen einzusetzen. Die Süd- und Südwestseiten von Gebäuden sollten in zarten klaren Farbtönen gestaltet werden, da deren Wirkung von der Intensität des einfallenden Sonnenlichts verstärkt würde; Nord- und Nordostseiten von Gebäuden hingegen sollten in intensiven reinen Farbtönen gestrichen werden, da die milden Lichtverhältnisse deren Wirkung reduzieren würden.741 Bei der farbigen Gestaltung von Häuserblocks entlang der Hauptstraßen empfahl Matjuschin das erste Haus in einer der Grundfarben anzustreichen, das zweite sollte die Kontrastfarbe erhalten, das dritte in der Verbindungsfarbe aus den beiden vorangegangenen Farbtönen angestrichen sein, das vierte in einer neutralen Farbe wie Weiß oder Grau folgen, und beim fünften Haus sollte die nächste Grundfarbe Verwendung finden.742 Darüber hinaus sollte auch das Farbe-Form-Kontrastgesetz berücksichtigt werden. Matjuschin betonte, wenn ein Haus in kalten Farbtönen (grün, 739 M. V. Matjusin, Vozvrat k okraske domov, in: Materialy k spravočniku po cvetu, 1925–1931, RO IRLI, F. 656, Op. 1, Ed. 153, S. 45. 740 Ebenda. 741 M. V. Matjusin, Naružnaja okraska zdanij v raznych primerach, in: Materialy k spravočniku po cvetu, 1925–1931, RO IRLI, F. 656, Op. 1, Ed. 153, S. 51. 742 Ebenda.
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blau) angestrichen ist, sollte es klare Linien und scharf geschnittene dekorative Formen wie z.B. ein Renaissancegebäude haben; wenn ein Haus in warmen Farben (gelb, rot-orange) angestrichen ist, sollte es Kurven und geschwungene Formen wie ein Barockgebäude haben.743 Dasselbe Kontrastgesetz von Farbe und Form sollte auch bei der farbigen Gestaltung in Architektur und Design angewandt werden. Zu Beispiel sollte ein rundes Ladenschild Rot gestrichen und mit blaugrünen Buchstaben beschriftet werden.744 Matjuschins Vorschläge für die farbige Innenraumgestaltung von öffentlichen Gebäuden gründeten auf der psychophysiologischen Wirkung der Farben und deren kulturell determinierten assoziativen Bedeutungen. Für die Innenraumgestaltung von Versammlungs- und Sitzungsräumen schlug er eine weiße Wandgestaltung mit sparsamer Ornamentierung und einer in Gelbtönen gehaltenen Ausstattung vor, so dass wenig Raum für Ablenkung gegeben wäre.745 Die Wände und Decken von Sporthallen hingegen sollten in Rottönen gestrichen und mit reicher, dekorativer Ornamentierung in Violettönen versehen werden, wobei er empfahl, die Wänden über ein fahles Grün mit der Decke zu verbinden bzw. von ihr abzusetzen. Die Rottöne verkörperten für Matjuschin die Vitalität und Energie der sportlichen Betätigung und sollten diese noch steigern.746 Im Gegensatz dazu sollten die Wände von Lesesälen in reinen Blautönen ohne Dekoration gestrichen werden, während die Decken, der Boden und die Möbel in graublauen Farbtönen gehalten sein sollten, denn diese Farbtöne schufen, wie er betonte, eine ruhige Atmosphäre, geeignet für ernsthaftes Nachdenken.747 Für die Ausgestaltung von Theatern, Kinosälen und Konzerthallen schlug Matjuschin leuchtendes Gelb oder Orange als Grundton der Farbgestaltung vor. Die Ornamentierung sollte von geschwungenen Linien bestimmt werden und das Mobiliar sollte weiß, der Vorhang hingegen rot sein. Das farbige Spektrum von Gelb- Orange- und Rottönen assoziierte er mit Musik, Form und Handlung, es verkörperte für ihn eine festliche Stimmung.748 Eine ähnliche farbige Wandgestaltung empfahl Matjuschin auch für Zimmer in gemeinschaftlichen Wohngebäuden. Doch während Maler wie Theo van Doesburg, Sonja und Robert Delaunay, Wassily Kandinsky u. a., die sich intensiv mit der räumlichen Wirkung der Farbe befassten, zur architektonischen Gestaltung schritten, setzte Matjuschin seine theoretischen Überlegungen nie im Bereich der angewandten Kunst um. In seiner künstlerischen Tätigkeit behielt er immer die Position des Künstler-Wissenschaftlers und Beraters bei, die ihn nicht über farbtheoretische Untersuchungen und künstlerische Entwürfe hinausführte. Sowohl als Leiter der Abteilung für Organische Kultur am GINChUK 1923–26, der Forschungsabteilung für Organische Kultur am Staatlichen Dekorativen Institut in Leningrad 1925–26 und des Forschungslabors am 743 Ebenda, S. 50. 744 Ebenda. 745 Ebenda, S. 48. 746 Ebenda. 747 Ebenda. 748 Ebenda.
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GIII 1927–29 ebenso wie als Herausgeber des Handbuchs der Farbe 1932 lieferte er lediglich die künstlerische Grundlagenforschung für Gestaltungslösungen in der angewandten Kunst und Architektur.749 Seine Studenten hingegen vereinten wissenschaftliche, beratende und künstlerisch-praktische Arbeit. In den 1920er und 1930er Jahren war Marija Ender als Farbtheoretikerin am GIII und als Farbberaterin für die Gestaltung von öffentlichen Gebäuden in Leningrad sowie als Dozentin für Farbenlehre tätig; Xenja Ender führte vielfältige formgestalterische Arbeiten für das Staatliche Dekorative Institut aus und arbeitete als Designerin; Boris Ender wirkte erfolgreich als Architekt, Designer, Ausstellungsgestalter und Bühnenbildner.750 In ihrer Tätigkeit als Wissenschaftler und Berater auf dem Gebiet der Farbenlehre sowie als Künstler und Designer beschäftigten sich Matjuschin und seine Studenten vor allem mit der räumlichen und dekorativen Wirkung der Farben und ihrer Kontraste. Sie strebten danach, die Farbe über die traditionellen Kunstformen hinaus für die Gestaltung aller Lebensbereiche wirksam zu machen. Im Gegensatz zu den Konstruktivisten, die von Standard-Formen, Standard-Farben, Standard-Komposition zur Ausbildung der materiellen Kultur des Proletariats sprachen und sich vor allem als Organisatoren des Arbeitsprozesses verstanden,751 bemühten sich Matjuschin und seine Studenten in ihrer Arbeit darum, organische Prinzipien und psychophysiologische Gesetzmäßigkeiten auf die Produktgestaltung anzuwenden. In der Verbindung von abstrakter Farbe in der Farbenlehre und konkreter Farbe in der künstlerischen Gestaltung sollten Theorie und Praxis miteinander verbunden und ein schöpferischer Umgang mit den Farbkombinationen in Kunst und Industrie gefördert werden.752 Xenja Ender war von allen Geschwistern am intensivsten auf dekorativem Gebiet tätig. Sie baute ihre Bilder aus großen Flächen von satter Farbigkeit. In den frühen 1920er Jahren entwickelte sie eine klare organisch-konstruktive Formensprache, die sie nachfolgend in einer Vielzahl von farbigen Collagen verwendete. Ab 1925 führte sie zahlreiche Arbeiten dieser Art für das Staatliche Dekorative Institut in Leningrad aus, wo sie gemeinsam mit Matjuschin arbeitete. In den 1930er Jahren setzte sie ihre künstlerische Arbeit als Designerin im Konstruktionsbüro eines Leningrader Betriebes fort. In ihren Collagen, die aus Buntpapierteilen von miteinander kontrastierenden Farben und einander ergänzenden Formen bestanden, stützte sie sich auf das Gesetz der komplementären Ergänzung von Farbe und Form. Die starke Kontrastwirkung von zwei und mehr Farben und die Spannung gegensätzlicher Formen versuchte sie oft über eine dritte, verbindende Farbe auszugleichen. Die Wirkung ihrer Arbeiten gründete einerseits auf der harmonischen Kontrastwirkung von im Spektrum weit auseinander liegenden Farben und der disharmonischen Wirkung von einander verwandten Farbtönen und andererseits auf dem Wechselspiel von geraden und gekurvten Linien, 749 Isabel Wünsche, Suprematistische Formelemente und organische Farblösungen in der sowjetischen Architektur und Ausstellungsgestaltung, in: Pantheon Jahrbuch, 1996, S. 135–143. 750 Žadova 1975b, S. 34–36. 751 Gaßner 1977, S. 64. 752 Matjušin 1932, S. 29.
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eckigen und runden Formen. Dabei werden die Formen jeweils von ihrem Komplementär ergänzt, während die Wirkung der miteinander kontrastierenden Farben durch die Vermittlung einer ihnen jeweils verwandten Farbe ausgeglichen wird. Auch das von ihr 1926 für das Staatliche Dekorative Institut entworfene Design für eine Tabakdose war eine Collage aus farbigen Buntpapieren, die auf den Wechselwirkungen von kontrastierenden Farbund Formelementen gründete 28 Xenja Ender, Design für eine Tabakdose, 1926, Sammlung George Costakis, Museum für zeitgenössische Kunst (Abb. 28).753 Die weich abgeThessaloniki rundete Rechteckform der Gesamtkomposition untergliedert sich in Segmente organischer Formen. Im Gegensatz zu vorangegangenen Designarbeiten handelte es sich bei dieser Arbeit nicht mehr um die Wechselwirkung von zwei Farben, die durch eine dritte Farbe ausgeglichen werden, sondern um die intensive Kontrastwirkung der Harmonien von einander entgegen gesetzten Farben wie zum Beispiel Rot und Grün, Blau und Gelb sowie den Disharmonien von nahe beieinander liegenden Rot- und Blautönen. Ihre wechselseitige Verstärkung und Aufhebung bewirkt die dynamische Farbintensität der Komposition. Marija Ender arbeitete nach der Schließung des GINChUK als Assistentin am GIII, wo sie ihre Forschungsarbeit gemeinsam mit Matjuschin weiterführte, und unterrichtete am Künstlerisch-Industriellen Technikum in Leningrad. Außerdem setzte sie die Untersuchungen zur Wahrnehmung von Farb-Formen Ende der 1920er Jahre am Neurologischen Institut fort und organisierte 1928 gemeinsam mit dem Architekten Alexander Nikolski im Laboratorium für moderne Architektur des Leningrader Institutes für Zivilingenieure Projekte zur Farbenforschung.754 Gleichzeitig wirkte sie als Beraterin am Leningrader Institut für Bauwesen und Stadtgestaltung, wo sie an Entwürfen für die farbige Gestaltung von öffentlichen Gebäuden wie Bahn-
753 Xenja Ender, Design für eine Tabakdose (Tabakerka), 1926, Papiercollage auf Papier; 23,5 x 27,7 cm; Sammlung George Costakis, Museum für zeitgenössische Kunst Thessaloniki. Vgl. Rudenstine 1982, S. 291, Kat. 584. 754 Boris Kirikov, Die Architektur der Leningrader Avantgarde. Besonderheiten ihrer Stilentwicklung, in: Avantgarde II 1924–1937. Sowjetische Architektur, Ausst.-Kat., Tübingen 1993, S. 34–43.
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höfen, Kulturhäusern u. a. beteiligt war. In den 1930er Jahren war Marija Ender als Dozentin für Farbenlehre am Staatlichen Institut für Proletarische Kunst tätig.755 Das künstlerische Schaffen von Boris Ender bestand sowohl in der theoretischen Fundierung von Gestaltungsmitteln als auch in der praktisch-künstlerischen Arbeit. Nach seiner Übersiedlung nach Moskau 1927 befasste er sich u. a. mit der Farbgestaltung von Wohnvierteln und Schulen in Moskau. Gemeinsam mit Physiologen vom Institut für Experimentelle Medizin erarbeitete er ein Konzept für die malerische Gestaltung von Schulen, das bei der Errichtung einer Vielzahl von Schulgebäuden im Rahmen des Aufbauprogramms für die Stadt Moskau in den 1930er Jahren maßgebend war. Gleichzeitig bemühte er sich darum, seinen physiologischen Entwurf für den farbigen Anstrich von Moskauer Wohnhäusern zu realisieren.756 Von 1930 bis 1932 war er Mitarbeiter am Moskauer Bauinstitut MALJARSTROI (Maljarnoe stroitelstwo = Malerischer Aufbau) tätig, wo er seine wissenschaftlichen, beratenden und künstlerischen Erfahrungen auf dem Gebiet der Farbenlehre in der architektonischen Stadtgestaltung umsetzte. Am MALJARSTROI wurden Probleme des Zusammenhangs von Architektur und Farbe, neuer Lebensweise und neuen farbigen Anstrichen, Fragen des planmäßigen Anstrichs der Stadt Moskau, Prinzipien der farbigen Gestaltung der städtischen Plätze in Leningrad und Fragen der Farbauswahl für den Anstrich von Krankenhäusern und Sanatorien, Arbeiterwohnungen und Wohnhäusern sowie Methoden der Projektierung der malerischen Arbeit und deren funktionale Anforderungen studiert.757 Dort arbeitete Boris Ender u. a. auch mit Hinnerk Scheper, der vom Bauhaus in die Sowjetunion gekommen war, zu Fragen der farbigen Gestaltung der Architektur in Moskau.758 In seinen Tagebuchaufzeichnungen berichtete er über seine Tätigkeit: „Bei meiner Arbeit im Farbstudio gibt es zwei Besonderheiten: auf der einen Seite begründe ich meine Farbstudien wissenschaftlich (was nicht einmal die Deutschen tun, z. B. Scheper); auf der anderen Seite gebe ich die Herstellung der Farbabstufungen aus den eigenen Händen (das lehrte Scheper).“759 Von den Entwürfen ist leider nichts erhalten, da über den Verbleib der Dokumente des MALJARSTROI bis in die Gegenwart nichts bekannt ist. Eine Handschrift der 1936 von Boris Ender verfassten Theorie zur Farbgestaltung von Alltagsgegenständen befindet sich heute im Russischen Staatlichen Archiv für Literatur
755 Im Staatlichen Museum für Geschichte der Stadt St. Petersburg befindet sich eine umfangreiche Sammlung von Farbtafeln und Farbform-Studien, die im Verlauf der Forschungsarbeit von Marija Ender entstanden. Vgl. auch M. Ender 1927. 756 Boris Ender, Dnevnik, 17.7.1935, Privatarchiv Moskau, in: Žadova 1974b, S. 6. 757 Das MALJARSTROI veröffentliche 1930–1932 die Zeitschrift Maljarnoe delo in der die oben genannten u.a. Probleme diskutiert wurden. Vgl. Maljarnoe delo. Organ gosudarstvennogo tresta Maljarstroj, 1–2, 1930; 1–6 , 1931; 1–12, 1932. 758 Žadova 1975b, S. 34. 759 Boris Ender, Dnevnik, 20.7.1935, Privatarchiv Moskau, in: Žadova 1974b, S. 6.
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und Kunst in Moskau.760 In den 1930er Jahren war Boris Ender außerdem an einer Vielzahl nationaler und internationaler Ausstellungsprojekte beteiligt, er entwarf 1933–35 die Farbgestaltung für die Räume der Tretjakow-Galerie, leitete 1938–39 die künstlerische Gestaltung des Leningrader Pavillons auf der Allunions-Landwirtschafts-Ausstellung in Moskau und übernahm nach dem zweiten Weltkrieg gemeinsam mit Konstantin Roshdestwenski die Leitung der Moskauer Bauausstellung.761 Boris und Marija Ender gehörten zu den Pionieren der architektonischen Farbgestaltung. In ihren Arbeiten strebten sie danach, den Menschen die vitale Kraft und lebensverändernde Wirkung von Farbkombinationen im Alltagsleben erfahrbar zu machen. Dabei ging es ihnen nicht um farbige Anstriche von Häuserfassaden, Wänden und Böden zur Dekoration, sondern sie versuchten in ihren Gestaltungen, die Farbe entsprechend ihrer psychophysiologischen Wirkung auf den Menschen einzusetzen. Boris Ender fasst ihr Anliegen folgendermaßen zusammen: „Ich unterscheide mich von anderen Künstlern und in der Architektur Tätigen darin, dass ich nicht mit Dekoration zufrieden bin, sondern versuche, vollwertige Malerei in die Architektur einzubringen. Aber nicht mechanistisch, wie das in der gegenständlichen Malerei gemacht wurde, sondern im umfassenden Sinne des Wortes, um die malerischfarbigen Werte mit den architektonisch-räumlichen zu synthetisieren. Wie die Farbe ihren Raum, ihre Form fordert, so fordert auch jeder Raum seine Farbe.“762
Die polychromen Architekturzeichnungen von Marija und Boris Ender waren eng mit ihrer Malerei verbunden, ihre Bestrebungen entsprachen denen der organischen Architekturgestaltung. In der farbigen Gestaltung des Alltagslebens lag für sie die soziale Bedeutung und Wirksamkeit der Farbe; durch den bewussten Einsatz der Farbe in der architektonischen Gestaltung der Städte beabsichtigten sie, eine gesunde und lebensfrohe Atmosphäre zu schaffen und die natürliche Umwelt des Proletariats auf ein neues Niveau zu heben. 1927 entwarfen Marija und Boris Ender gemeinsam mit dem Architekten Alexander Nikolski die Bemalung eines Wohnkomplexes in Leningrad.763 Dabei setzten sie bei der äußeren Gestaltung der Wohnhäuser für die Arbeiter der Fabrik „Rotes Dreieck“ die gewonnenen Erkenntnisse ihrer Farb- und Formuntersuchungen am GINChUK sowie ihrer psychophysiologischen Untersuchungen zur Wirkung der Farbe auf den Menschen in die Praxis um. Mit der farbigen Differenzierung der einzelnen Häuser der Wohnblöcke nahmen sie eine gewisse Individualisierung innerhalb der einheitlich konzipierten Architektur vor. Der farbige Anstrich der Fas760 Boris V. Ender, Teorija cveta. Principy cvetovogo rešenija bytovoj vešči. Vystuplenija, 1936, RGALI, F. 2973, Op. 1, Ed. 11. 761 Boris V. Ender, Avtobiografija, RGALI, F. 2973, Op. 1, Ed. 12. 762 Boris V. Ender, Dnevnik, 1936, Privatarchiv Moskau, in: Žadova 1976, S. 47. 763 Alexander Nikolski, Marija und Boris Ender, Prinzip der Bemalung der Gebäude eines neuen Wohnkomplexes in Leningrad (Princip raskraski zdanij novogo žilogo kompleksa v Leningrade), 1927, Aquarell, Tempera und Tusche auf Karton; 63,0 x 103,5 cm; Staatliche Öffentliche Bibliothek Saltykov-Schtschedrin, St. Petersburg. Vgl. Frankfurt Main 1992, Kat. 657.
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29 Boris und Marija Ender, Entwürfe für die Ausmalung des Vestibüls des Pavillons der UdSSR auf der Exposition Internationale des Arts et Techniques, Paris 1937
sadenflächen stand im Kontrast zur roten Rahmung ebenso wie zum Schwarz der Erdgeschoßflächen des ersten und dritten Wohnblocks. Mit der roten Rahmung der Häuser untergliederten sie die lang gezogenen Fassadenflächen und schufen zugleich eine räumliche Akzentuierung und flächige Trennung zwischen den einzelnen Häusern. Das Symbol der Fabrik, das rote Dreieck, erschien in variierender Anordnung als Signet an den Seitenwänden der Wohnblöcke. Damit verwendeten sie die Farbe sowohl als Mittel zur Individualisierung als auch zur Symbolisierung in der architektonischen Stadtgestaltung. In den 1930er Jahren arbeiteten die Schüler von Malewitsch und Matjuschin in Künstlerkollektiven an verschiedenen Ausstellungsprojekten; so waren sie unter anderem an der Gestaltung des sowjetischen Pavillons auf der Weltausstellung 1937 in Paris und 1939 in New York sowie an der Ausarbeitung der Konzeption für die Lermontow-Ausstellung 1941 in Moskau beteiligt. Dabei fanden die am GINChUK und am GIII durchgeführten wissenschaftlich-theoretischen Untersuchungen zu künstlerischen Gestaltungsproblemen in der Zusammenarbeit von Nikolai Suetin
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mit Marija und Boris Ender, Konstantin Roshdestwenski u. a. interessante Farbund Formlösungen. Marija und Boris Ender entwarfen die farbige Innenraumgestaltung des Vestibüls für den sowjetischen Pavillon auf der Weltausstellung 1937 in Paris (Abb. 29).764 Dabei richteten sie besonderes Augenmerk auf die Abstimmung der Farben und Muster von Wänden, Fußböden und Decken in den Ausstellungsräumen mit den Exponaten und ihrer Anordnung. Mit der farbigen Fassung und Reihung horizontal und vertikal gestellter, abstrakt geometrischer Einzelelemente schufen sie ein dynamisches Wechselspiel von miteinander kontrastierenden Farbstreifen und stabilisierenden farbigen Rahmungen. Edmond Lablé beschrieb ihre künstlerische Ausführung als ein einheitliches organisches Ensemble.765 Auch eine Reihe von Künstlerinnen aus Matjuschins zweiter Schülergeneration war nach seinem Tod auf dem Gebiet der architektonischen Farbgestaltung tätig.766 Walida Delakroa und Olga Waulina arbeiteten ab 1938 im Farblabor für visuelle Wahrnehmung des wissenschaftlichen Forschungsinstitut für Malerei, Skulptur und Architektur an der Kunstakademie, wo sie sich unter der Leitung von Boris Kompanejski mit der räumlichen Wirkung von Farben in der Monumentalarchitektur und der Wahrnehmung von farbiger Ornamentik auf große Entfernungen beschäftigten. Ziel der Arbeit in diesem Labor war es, auf der Grundlage der Analyse von historischen Beispielen, wie zum Beispiel den Mosaiken von Ravenna und der Kiewer Sophienkathedrale, den Nowgoroder Fresken, den Fajum-Porträts aus der Ermitage, dekorativen Kacheln und der vielfältigen Ornamentik aus unterschiedlichen Kulturen, eine Farbenskala für die Monumentalarchitektur zu entwickeln.767 Mit den Plänen für den Bau des Palastes der Sowjets in Moskau fanden ihre Studien zur farbigen Gestaltung von Monumentalarchitektur eine konkrete Aufgabe, die jedoch nicht umgesetzt werden konnte. Jelisaweta Astafjewa arbeitete 1938–39 unter der Leitung von Boris Ender an der Gestaltung des Pavillons für die Allrussische Landwirtschaftsausstellung in Moskau und 1941 an der Gestaltung der Lermontow-Ausstellung. Jelena Chmelewskaja war in den 1930er Jahren am Leningrader Institut für Bauwesen und Stadtgestaltung und am Leningrader Konstruktionsbüro Glavlengradstroi tätig. Gemeinsam mit Marija Ender arbeitete sie ab 1934 an einem Programm zur farbigen Gestaltung von öffentlichen Gebäuden, Plätzen und Straßen in Leningrad. Nach dem zweiten Weltkrieg übernahm sie die Leitung der Arbeit; ihr Programm zur farbigen Gestaltung der Häuserfassaden auf dem Newski-Prospekt in Leningrad wurde bis in die 1970er Jahre benutzt. Darüber hinaus gab Chmelewskaja
764 Shadowa 1978, S. 112–113 und Abb. 277. 765 Edmond Lablé, Les sectiones étrangeres: URSS. 2ieme partie, in: Exposition Internationale des Arts et Techniques, Ausst.-Kat., Paris 1937, S. 208–210. Deutsch in: Shadowa 1978, S. 113. 766 Žadova 1975a, S. 3–6; diess. 1975b, S. 34–36. 767 E. M. Luščenko, Problema cveta v teoretičeskich issledovanijach leningradskich laboratorij v 20–30 godach, in: Architektura. Kratkoe soderžanie dokladov k XXXI naučnoj konferencii LISI, 29.1.–3.2.1992, S. 121–124; Nesmelov 1999b, [ohne Seitenangabe].
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zahlreiche Publikationen zur Polychromie in der sowjetischen Architektur heraus und lehre Farbenlehre an der Leningrader Kunstakademie.768 Matjuschin und seine Studenten strebten in ihrer künstlerischen, wissenschaftlichen und angewandten Arbeit danach, den Alltag in der Sowjetunion durch den bewussten Einsatz von Farben inhaltlich und sinnlich zu bereichern. Ihre Werke in Malerei, Architektur und Design sind ein hervorragendes Zeugnis der von ihnen geleisteten theoretischen und künstlerischen Arbeit. Die Ästhetik ihrer organischsynthetischen Gestaltungskonzepte beeinflusste nicht nur die Entwicklung von Wladimir Sterligow und seinen Schülern in Leningrad, sondern erlangte internationale Anerkennung.
Das Handbuch der Farbe In den Jahren 1929–30 arbeitete Matjuschin gemeinsam mit Marija Ender und seiner zweiten Schülergeneration an einer zusammenfassenden Darstellung der am GINChUK 1923–26 und am GIII 1927–29 durchgeführten Forschungsarbeit. Sie begannen eine Kunsttheorie zu erarbeiten, die farb- und formästhetische Qualitäten bewusst für gesellschaftliche Gestaltungsaufgaben verfügbar machte.769 Im März 1930 wurde im Zentralen Leningrader Haus der Künste die Ausstellung KORN – Kollektiv: Erweitertes Beobachten (KORN – Kollektiw Rasschirennogo Nabljudenija) eröffnet. In dieser Ausstellung präsentierten sie der Öffentlichkeit die erarbeiteten Tafeln zu den Veränderungen von Farbe und Form beim Erweiterten Sehen, die Entwürfe für ein Lexikon der Farbe sowie Landschaftsdarstellungen zum Erweiterten Sehen (Abb 30). Außerdem organisierte Matjuschin ein Studio, in dem er das Arbeiten im Erweiterten Sehen vorführte. 1932 veröffentliche Matjuschin sein Handbuch der Farbe, das sich mit den Gesetzmäßigkeiten der Veränderung von Farbkombinationen beschäftigt (Abb. 31). Dieses Buch war als künstlerisches Nachschlagewerk für die praktische Anwendung der natürlichen Gesetze der Farb- und Formerscheinungen in der künstlerischen Gestaltung und in der modernen Produktion gedacht, es lieferte „Material für die unmittelbare Anwendung der Farbe in der Praxis, in Innen- und Außenarchitektur, für Textilien, Porzellan, Tapete, polygraphische u. a. Industrie“.770 Das Buch stellte den ersten Teil einer zusammenfassenden Darstellung der von Matjuschin und seinen Studenten durchgeführten Forschungsarbeit dar. Es beschränkte sich auf die 768 Dazu gehörten u. a. Vnutrennaja okraska zdanii (1947); Naružnaja okraska zdanii (1953) und Rukovodstvo po cvetu dlja architektorov, stroitelej i studentov (1967). Vgl. Tillberg 2003, S. 304– 306; Nesmelov 2007, S. 219. 769 Zu Matjuschins Arbeit mit dieser zweiten Schülergeneration an der Akademie der Künste vgl. Delakroa-Nesmelova 1990, S. 215–223; Kostrov 1990, S. 190–214; Valentin Kurdov, Stranicy Bylogo. Bespokojnaja Natura, in: Avrora 5, 1979, S. 139–149; ders., Pamjatnye dni i gody. Zapiski leningradskogo chudožnika, in: Zvezda 7, 1983, S. 43-96. 770 Matjušin 1932, S.14.
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30 Michail Matjuschin mit Studenten in der KORN-Ausstellung im Zentralen Leningrader Haus der Künste, 1930
Darstellung der Komplementärkontraste und der Wechselwirkungen von Farbe und Form, d. h. es behandelte nur den „einfachen Fall der Betrachtung einer chromatischen Farbe in achromatischer Umgebung“.771 Aus diesem Grunde verfasste Matjuschin 1931 den Aufsatz „Was muss zum Handbuch der Farbe ergänzt werden“.772 Darin bezeichnete er die zu große Allgemeinheit und die zu verschiedenartig aufgestellten Forderungen als Mängel des Buches. Er bedauerte, dass nur der einfache Fall der Komplementärfarben berücksichtigt werden konnte, es weder gelungen war auf Probleme der Wechselwirkungen bei zwei oder mehr aktiven Farben einzugehen, noch Fragen der quantitativen Beziehungen der Farben bei ihrer Kombination zu behandeln. Darüber hinaus stellt das Buch weder Kombinationen aus bunten und unbunten Farben noch die Graureihe dar, letztere hatte sich unter den gegebenen Bedingungen nicht herstellen lassen. Außerdem fehlen im Buch Kombinationen von im Spektrum nahe beieinander oder weit voneinander entfernt liegenden Farben. Es war geplant, dass dem Handbuch ein zweiter Teil folgen würde, der sich mit den Harmonien aus zwei und mehr Farbtönen und den Erscheinungen von Nachfolgebildern beschäftigten, die Ergebnisse der Untersuchungen der Farbe in der Bewe-
771 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932-34, S. 189. 772 M. V. Matjušin, Čto nado dobavit’ v spravočnik po cvetu. O cvete i drugie stat’i, 1931, RGALI, F. 1334, Op. 2, Ed. 324.
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31 Michail Matjuschin, Die Gesetzmäßigkeit der Veränderung von Farbkombinationen. Handbuch der Farbe (Moskau, Leningrad 1932)
32 Farbformen-Tafel aus dem Handbuch der Farbe (Moskau, Leningrad 1932)
gung berücksichtigten und die wechselseitige Beeinflussung von Farbe, Form und Ton u. a. veranschaulichen würde; dieser gelangte jedoch nicht zur Ausführung. Hauptaufgabe des vorliegenden Handbuches war es, die gesetzmäßigen Veränderungen von Farbkombinationen aufzuzeigen. Das Buch bestand aus drei Teilen. Marija Ender verfasste das Vorwort, worin sie eine historische Einordnung ihrer Arbeit vornahm und zugleich betonte, dass sich die Forschung auf rein farbwissenschaftliche Probleme sowie auf physikalische und physiologische Gesetzmäßigkeiten beschränkte. Matjuschin gab mit seinem Aufsatz „Die Gesetzmäßigkeit der Veränderung von Farbkombinationen“ einen Abriss der geleisteten Forschungsarbeit, d. h. er beschreibt die physiologischen Grundlagen und die durchgeführten Versuche einschließlich ihrer Ergebnisse und der gezogenen Schlussfolgerungen.773 Den dritten Teil des Buches bilden vier Hefte mit Farbtafeln, die die Gesetze der Farbkontraste veranschaulichen und deren Anwendungsmöglichkeiten diskutieren (Abb. 33 und Tafel 12). Diese Farbtafeln, die als künstlerische Anleitung zur praktischen Anwendung der natürlichen Gesetze der Farberscheinungen in der 773 M. V. Matjušin, Zakonomernost’ izmenjaemosti cvetovych sočetanij, in: ders. 1932, S. 15–28. Vgl. Dokumente, S. 230–240.
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33 Farbtafeln zum Handbuch der Farbe (Moskau, Leningrad 1932)
Gestaltung von Kunst, Architektur und Industrie konzipiert worden waren, hatten Matjuschins Studentinnen Jelena Chmelewskaja, Walida Delakroa, Tatjana Sysojewa, Irina Walter, Olga Waulina und S. Wlasjuk an der Kunstakademie angefertigt. Die Farbtafeln waren das eigentliche Resultat der durchgeführten Forschungsarbeit, sie veranschaulichen die in den Experimenten herausgefundenen Gesetzmäßigkeiten der Farberscheinungen in einer Zusammenstellung einfacher Grundbeispiele. Bei der Untersuchung, Ausarbeitung und Darstellung der Gesetzmäßigkeiten von Farberscheinungen stützten sich Matjuschin und seine Studenten auf die Farbenlehre von Wilhelm Ostwald, die nicht nur in Deutschland, sondern auch in Russland breite Anerkennung fand.774 Der Nobelpreisträger für physikalische Chemie und bekennende Monist Ostwald erforschte die Farbe auf physikalischem und chemischem Gebiet, er unternahm den Versuch einer exakten wissenschaftlichen Systematisierung der Farbe. Zur Verbreitung seiner normativ messenden Farbenlehre und Begründung einer darauf beruhenden Ästhetik für die Anwendung der Farbe in einzelnen Bereichen des Lebens veröffentliche er eine Vielzahl von Anleitungen
774 1926 fertigten sie auch einen vierundzwanzigteiligen Farbenkreis nach Ostwald als Versuchsmodell an.
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und Modellen, die sich großer Popularität und weiter Verbreitung erfreuten; 1926 erschien seine Farbenlehre auch in russischer Sprache.775 Für ihre Untersuchungen ebenso wie für die Herstellung der Tafeln zum Handbuch wählten Matjuschin und seine Studenten die acht Grundfarben nach Ostwald, die sie vor neutralem Grund beobachteten. Zur Erscheinung der Grundfarbe stellte sich bei längerer Beobachtung jedes Mal zwangsläufig die Komplementärfarbe ein. Die Komplementärfarben steigerten sich in ihrer Intensität, während sich die nichtkomplementären Farben durch die natürliche Reaktion der Augen in Richtung ihrer Ergänzung beeinflussten. Damit stellten die Tafeln eine Fixierung der Ausbildung des Sukzessivkontrastes dar, der auf der Fläche zum Simultankontrast gewandelt wurde. Bei der Herstellung der Farbtafeln berücksichtigte Matjuschin das von ihnen in der Natur beobachtete und von Guro in der Malerei verwendete Prinzip der synchronen Farbenführung. Er formulierte die Gesetzmäßigkeit der Dreifarbigkeit des Verhältnisses von Grund-, Komplementär- und Verbindungsfarbe wie folgt: „Bisher haben die Maler allenfalls zwei wechselwirkende Farben verwendet, wobei eine die Grundlage abgab. Wie aus der Kombination von zwei Farben eine dritte entsteht, ist kaum jemandem klar. Diese rätselhafte dritte Farbe trafen wir ständig in der Natur an. Durch systematische spezielle Modellversuche konnte das dieses Farbenphänomen konstituierende Gesetz aufgedeckt werden.“776
Bei dieser dritten Farbe handelt es sich um die Farbe, die sich aus der Mischung der beiden Komplementärfarben ergibt und einen Ausgleich zwischen beiden schafft. Die Farbtafeln behandeln demzufolge das gesetzmäßige Auftreten von Grundund Komplementärfarbe in Verbindung mit einer Zwischenfarbe unter verschiedenen Bedingungen. Sie zeigen, dass die Verbindungsfarbe, die immer zwischen Grund- und Komplementärfarbe liegt, das Verhältnis dieser beiden Farben grundlegend verschieben kann, indem sie Grund- und Komplementärfarbe in Kontrast treten lässt oder aber diese in ihrer Wirkung vollkommen ausgleicht. Bereits Helmholtz hatte auf die Bedeutung der Wirkung einer dritten Farbe hingewiesen. Die Zusammenstellung der reinen Komplementärfarben charakterisierte er als nüchtern und grell, da die zweite Farbe schon als Nachbild der ersten gesehen wird, diese aber nicht hinreichend als neues, selbständiges Element der Verbindung zu erkennen ist. Als befriedigender bezeichnete er hingegen „Zusammenstellungen von je drei Farben, welche das Gleichgewicht des Farbeneindrucks herstellen; trotz starker Farbenfülle vermeiden sie die einseitige Ermüdung des Auges, ohne doch in die Kahlheit der complementären Zusammenstellung zu verfallen“.777 775 V. Ostwal’d, Cvetovedenie, Moskau, Leningrad 1926. Deutsch als: Wilhelm Ostwald, Farbkunde, Leipzig 1923. Vgl. auch ders., Die Farbenfibel, Leipzig 1917; ders., Die Farbschule. Eine Anleitung zur praktischen Erlernung der wissenschaftlichen Farbenlehre, Leipzig 1919. 776 Matjušin, Tvorčeskij put’ 1932–34, S. 38. Deutsch in: Kowtun 1992, S. 53–54. 777 Hermann von Helmholtz, Optisches über Malerei, Vorträge von 1871–73 in: Helmholtz 1896b, Bd. 2, S. 131. Vgl. auch Gericke/Schöne 1973, S. 55.
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Die Farbtafeln im ersten Heft resultierten aus der Beobachtung von Farbmodellen vor neutralem Schirm, zur Grundfarbe bildete sich die jeweilige Komplementärfarbe aus. Die Farbkontraste aus reinen Komplementärfarben über ihrer Verbindungsfarbe zeigen daher eine maximale Intensität und Helligkeit. Im zweiten Heft sind die Kontraste weniger intensiv, da sie auf die Nachbildwirkung im Auge zurückgeführt wurden. Zuerst wurde das positive Nachbild des Farbmodells im Auge wahrgenommen, dem die Erscheinung des negativen Nachbildes und der Verbindungsfarbe folgten. Mit der Abnahme von Intensität und Helligkeit der einzelnen Farberscheinungen verringerte sich zwangsläufig auch deren Kontrastwirkung. Bei den Versuchen zum dritten Heft wurde zur intensiven Grundfarbe des Modells die Komplementärfarbe im negativen Nachbild bei geschlossenen Augen erwartet, was die Ergänzungsfarbe verdunkelt erscheinen ließ. Die verdunkelte Farbe der Umgebung steigerte die Grundfarbe in ihrer Helligkeit und in der Intensität ihrer Wirkung. Die Grundfarbe gewann bei verringerter Farbigkeit der Umgebung ein Übergewicht, da die Komplementärfarbe, die in der Umgebung erschien, ihre Wirkung unterstützte.778 Im Gegensatz zu den Farbtafeln der ersten drei Hefte, in denen die Paare der Komplementärfarben in verschiedenen Varianten dargestellt sind, wurden im vierten Heft kräftige und weniger gesättigte Farben unter Einwirkung der Verbindungsfarbe untersucht. So wurden zum Beispiel anstelle von Gelb und Blau Ocker und Grau gewählt. Dabei zeigte sich, dass die Verbindungsfarbe die Fläche zwischen zwei gedämpften Farben akzentuieren und gliedern oder die Kontrastwirkung von Grundund Komplementärfarbe steigern kann, indem sie eine von beiden besonders hervortreten lässt. So steigert ein Rotton als Verbindungsfarbe die Spannung zwischen dem dunklen Ocker und dem Grau und bindet den Kontrast der beiden Farben in der Fläche. Dagegen gewinnt bei einer Hellblau-Verbindung von hellem Ocker und Grau Ocker als Orangeeindruck die Vorherrschaft, da das Komplementär zu Hellblau das Ocker verstärkt, während die Wirkung des Grau durch das Hellblau zurückgenommen wird. Im Gegensatz dazu erzielte bei einer Rosarot-Verbindung Grau als Blaueindruck ein Übergewicht, weil dessen Komplement Blau die Wirkung des Grau akzentuiert. Die Verbindungsfarbe kann aber auch ein Gleichgewicht zwischen zwei Farben bewirken und stark gedämpfte oder verdunkelte Farben einander annähern wie zum Beispiel Umbra und Hellgrau.779 Matjuschin und seine Studenten verwiesen auf die große Bedeutung der Tatsache, dass die Verbindungsfarbe das Verhältnis der Farben grundlegend verschieben kann und zwei verwandte Farben in Kontrast treten oder ebenso gut in ihrer Wirkung vollkommen ausgleichen kann. Sie empfahlen die Verwendung einer dritten Farbe als ein geeignetes Mittel, um ohne Hell-Dunkel-Abstufungen differenzierte Raumverhältnisse in der Architektur zu schaffen. So ließen sich auf großen in Ocker und Grau angestrichenen Fassadenflächen schon durch die geringe Verwendung einer intensiven, gesättigten Farbe, wie zum Beispiel Rot für den Anstrich von Fens778 Matjušin 1932, S, 31–33. 779 Ebenda, S. 33–35.
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tern und Türen, wirkungsvolle Akzente setzen. Diese räumlich akzentuierende Funktion der Verbindungsfarbe gewann besonders dort, wo im sowjetischen Alltag mit begrenzten farbigen Anstreichmitteln starke räumliche Wirkungen erzielt werden sollten, außerordentliche Bedeutung für die Farbgestaltung.780 Die Verwendung der Zwischenfarbe konnte unter Berücksichtigung der formierenden Eigenschaften der Farbe, der Größe der einzelnen Farbflächen, des zeitlichen Auftretens der Farben und des Quantitäts- und Randkontrastes eine effektive Ausnutzung der zur Verfügung stehenden Mittel mit maximaler Wirksamkeit ermöglichen. Neben den Untersuchungen zu den Gesetzmäßigkeiten der Ausbildung der Farbkontraste nahm Matjuschin auch die Beobachtungen der Wechselwirkungen von Farbe und Form in das Handbuch der Farbe auf (Abb. 32). Eine Tafel mit Farb-Formen veranschaulichte die in den Experimenten am GINChUK gewonnene Erkenntnis, dass unterschiedliche Farben ihrem Wesen nach zu verschiedenartigen Formausprägungen neigen. Die Beobachtungen von farbigen Kreismodellen vor neutralem Schirm im Erweiterten Sehen hatte die der jeweiligen Farbe adäquate Form gezeigt. Während die warmen Farben zu gerundeten Formen tendierten, bildeten die kalten Farben spitze und eckige Formen. Diese Formverschiebungen variierten zugleich in horizontaler und vertikaler Richtung: „Auf der Grundlage der Deformation, der der Kreis unter dem Einfluss der Farbe ausgesetzt ist, kann man auch eine Neigung der Farbe in vertikaler und horizontaler Richtung bemerken. So deformiert sich die rote Farbe in der Horizontalen in ein breites Oval, fügt sich Orange in die Form eines voll ausgebildeten Kreises ein, dehnt sich das Gelb in der Vertikalen ins Oval, während Grün, Hellblau, Blau und Violett, indem sie sich immer stärker scharf abgrenzen, umgekehrt Ausdehnung, Rundung und Verflachung wiederholen.“781
Mit dem Handbuch der Farbe unternahmen Matjuschin und seine Studenten den Versuch, die Trennung zwischen der Farbenlehre und den Erfordernissen der Praxis zu überwinden. Das Handbuch war als Arbeitsmittel und als Anleitung zum Einsatz der Farbe in der künstlerischen Gestaltung und in der modernen Produktion gedacht. Seine Darlegungen sollten „dem Leser helfen, den Charakter und die Bedeutung der Farbveränderungen zu erfassen“.782 Es sollte kein „billiges Rezeptbuch“, sondern eine Orientierungshilfe für Architekten, Ingenieure und Farbgestalter sein und unter Berücksichtigung der erarbeiteten Gesetzmäßigkeiten die Ableitung weiterer Farbkombinationen ermöglichen.783 Die Farbtafeln dienten als Beispielsammlung einfacher Gesetzmäßigkeiten der Wirkungsweisen von Farben, sie sollten eine maximale Variabilität beim Einsatz der Farbe in Kunst und Gestaltung ermöglichen
780 Ebenda. 781 Ebenda, S. 24. 782 Ebenda. 783 Ebenda.
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und versuchen, den schöpferischen Umgang mit der Farbe zu fördern und die ästhetischen Energien der Gesellschaft zu befreien. Das Handbuch der Farbe bringt zugleich auch die ideologische Auseinandersetzung um die Entwicklung der proletarischen Kunst und die Entwicklung einer marxistisch-materialistischen Farbtheorie in der Sowjetunion in den 1930er Jahren deutlich zum Ausdruck. Dabei muss hervorgehoben werden, dass Matjuschin seine Arbeit in den Dienst der Menschheit und damit auch in den Dienst der Gesellschaft stellte, seine Ausrichtung auf den Kosmos und die Welt als organisches Ganzes jedoch weniger die sozialistische Umgestaltung Russlands, sondern viel stärker die Entfaltung der gesamten Menschheit im Auge hatte. Wie andere Mitglieder der Avantgarde hatte Matjuschin die Oktoberrevolution begrüßt und an den sich anschließenden gesellschaftlichen Veränderungen teilgenommen, von 1918 an engagierte er sich in der künstlerischen Ausbildung und hatte in seiner Position als Professor an den SWOMAS und an der Petrograder Kunstakademie die Möglichkeit, Einfluss auf die Entwicklung von Kunst und Kultur zu nehmen. Doch Matjuschins ungestümes Engagement hatte dem Kubo-Futurismus gegolten, seine eigentliche künstlerische Entfaltung vollzog er zwischen 1918 und 1923, danach konzentrierte er sich auf die wissenschaftliche Untersuchung der künstlerischen Mittel, die er auch unter den veränderten historischen Bedingungen nach der Schließung des GINChUK fortzusetzen versuchte. Wie Malewitsch und Filonow verfolgte Matjuschin seinen eigenen künstlerischen Weg, wobei er offensichtlich als Propagandist für die von ihm entwickelte Idee der Organischen Kultur, aber kaum als Vorkämpfer einer neuen proletarischen Kunst öffentlich in Erscheinung trat. Als der äußere Druck in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren zunahm, führte Matjuschin ein immer zurückgezogeneres Leben; bezeichnenderweise überließ er Marija Ender im Handbuch der Farbe die ideologische Einordnung der künstlerischen Arbeit. Seine Niederschriften der 1930er Jahre enthielten Erklärungen und Rechtfertigungen seines künstlerischen Schaffens, die mit gewissen Re-Interpretationen von früheren Überlegungen, jedoch nicht mit einer Abwendung von seinen künstlerischen Positionen oder mit ideologischer Propaganda verbunden waren. Marija Enders polemisches Vorwort zum Handbuch der Farbe, ihr scharfer Ton, die plakative Ausdrucksweise, die dogmatischen Ableitungen und die deutliche Herausstellung der Bedeutung ihrer Arbeit für die Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft und die Entwicklung der proletarischen Kunst reflektieren das gesellschaftliche Klima der 1930er Jahre in der Sowjetunion und die Unerbittlichkeit der ideologischen Auseinandersetzung in der Kunst.784 In einer Zeit ständiger ideologischer Überprüfungen forderte dies von ihr vor allem die kritische Einschätzung der eigenen Arbeit. Bei der Rechtfertigung der von der Abteilung für Organische Kultur am GINCHUK und am GIII durchgeführten Forschungsarbeit zur Farbenlehre nahm deshalb die Auseinandersetzung mit der „bürgerlichen“ Farbenlehre von Wil784 Zu den ideologischen Auseinandersetzungen um eine sowjetische Farbtheorie vgl. Tillberg 2003, S. 237–260.
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34 Wilhelm Ostwald, Farbenlehre (Moskau, Leningrad 1926)
35 Wladimir Fritsche, Soziologie der Kunst, 2. Aufl. (Moskau, Leningrad 1929)
helm Ostwald (Abb. 34) und der marxistischen Soziologie der Kunst von Wladimir Fritsche (Abb. 35) einen besonderen Platz ein. Obwohl Matjuschin und seine Studenten sich in ihren Untersuchungen auf Ostwalds Theorie stützten und wie dieser die Farbe sowohl unter dem Gesichtspunkt der Gesetze von Physik und Chemie als auch im Hinblick auf die Physiologie des Sehens betrachteten, kritisierte Marija Ender Ostwald für seine statisch-ahistorische Betrachtungsweise der Farbe. Sie stellte seiner „Lehre von den Harmonien“ die eigene Arbeitsweise einer dialektischen Betrachtung der Farbe durch die Methode des Erweiterten Sehens gegenüber.785 Ostwald verkörperte für sie einen Vertreter der alten Welt, der auf der Grundlage des zentralen Sehens und des formal logischen Denkens die Lehre von stetigen Farberscheinungen begründet hatte. Sie betonte, dass die Betrachtung der Stabilität als absolute Eigenschaft der Farben und die isolierte Untersuchung der Farben Ostwald zwangsläufig dazu geführt hatten, die Farbkom785 Ebenda, S. 7. Dabei bezog sie sich auf die 1926 in Moskau erschienene russische Ausgabe von Ostwalds Farbenlehre.
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binationen rein schematisch als Summe aus isolierten Farben zu bilden und eine ahistorische Ästhetik zu begründen. Dagegen stellte sie Matjuschins Betrachtung der Farbe in ihrer körperlich-räumlichen Komplexität mit der Methode des Erweiterten Sehens und zeigte, dass es ihm gelungen war, Ostwalds „mechanistische Betrachtungsweise der ‚isolierten‘ Farbe“ zu überwinden.786 Zugleich kritisierte sie jedoch Matjuschins Betonung der räumlichen Beziehungen als wesentliches Merkmal der Kunst als zu eng, da diese Betrachtungsweise den ideologischen Inhalt der Farbkombinationen nicht berücksichtigte und den geforderten Klassencharakter der Farbe nicht deutlich genug herauszustellen vermochte. Aus diesem Grunde forderte sie, die von Matjuschin entwickelte Methode dialektisch-materialistisch zu verarbeiten und weiterzuentwickeln, um mit der Farbe und den räumlichen Darstellungsmitteln Klasseninhalte in der Kunst wiedergeben und damit eine marxistische Farbtheorie zu schaffen.787 Bei der Klärung der Frage, was eine marxistische Farbtheorie zu leisten hätte, spielte die Auseinandersetzung mit der Soziologie der Kunst von Fritsche eine bedeutende Rolle. Fritsche hatte seine soziologische Farbenlehre parallel zu den Untersuchungen von Matjuschin, den Geschwistern Ender und Grinberg entwickelt und 1923 seine Soziologie der Kunst herausgegeben.788 Doch während Matjuschin die räumliche Qualität der Farbe studierte, d. h. ihre Erscheinungsweisen und Veränderungen im Raum mit der Methode des Erweiterten Sehens untersuchte, bestimmte Fritsche den Klasseninhalt von Farben und Farbkombinationen, d. h. er führte die Verwendung bestimmter Farben auf den Zustand der jeweiligen Gesellschaft zurück. Auf der Grundlage einer kritischen Analyse der soziologischen Betrachtungsansätze in André Michels „Geschichte der Flämischen Malerei“, Hippolyte Taines „Philosophie der Kunst“ sowie der Arbeiten von Georgi Plechanow und Wilhelm Hausenstein unternahm Fritsche den Versuch, eine marxistische Soziologie der Kunst als Wissenschaft von den gesetzmäßigen Zusammenhängen zwischen wesentlichen Ausdrucksformen in der Kunst und bedeutenden Gesellschaftsformationen zu entwickeln.789 In der Farbenlehre verknüpfte er Oswald Spenglers Morphologie der Weltgeschichte mit der marxistischen Lehre und versuchte den gesetzmäßigen Charakter des Prozesses von Blüte und Verfall sowie von Auftreten und Zerfall der Synthese in der monumentalen Kunst zu analysieren.790 Fritsche betrachtete die Kunst als eine Erscheinung des Überbaus, als ein Mittel der Organisation des sozialen Lebens der Individuen und als Ausdruck der sozialen Psyche der jeweiligen Gesellschaftsformation. Er gelangte zu der Überzeugung, dass gleichartige ökonomische Erscheinungen der Gesellschaftsformationen unabhängig von Ort und Zeit ihrer Entstehung und Ausbildung analoge Erscheinungen in der 786 Ebenda, S. 11. 787 Ebenda, S. 13–14. 788 V. M. Friče, Sociologija Iskusstva, Moskau, Leningrad 1923. 789 Ebenda, S. 7–14. 790 Ebenda, S. 183–189. Vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 2 Bde., München 1918, S. 119–122.
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Kunst hervorrufen müssen. Für Fritsche gab es weder Werkgeschichte und Künstlerpersönlichkeiten noch physische und psychische Wirkungsweisen; die Farben und Farbkombinationen waren ihm einzig Ausdrucksmittel der objektiven ökonomischen Verhältnisse der jeweiligen Gesellschaft. Einer als mechanistisch ordnend und apolitisch verdammten bürgerlichen Farbenlehre setzte er seine mechanistische marxistische Farbentheorie entgegen. Die Farbe diente ihm damit als eines von vielen Mitteln zur Herausstellung des Klassencharakters der Kunst. Fritsche führte die soziale Determiniertheit der Farben unmittelbar auf die Organisation der jeweiligen Gesellschaft zurück und begründete Unterschiede in der farbigen Darstellungsweise weniger mit dem Temperament des Künstlers als mit der sozialen Struktur der Gesellschaft. Gleichzeitig betonte er die Abhängigkeit der Farbigkeit von der Bestimmung des Bildes, vom Auftraggeber sowie davon, welche gesellschaftliche Klasse oder Gruppe im Schaffen des Künstlers ihren Willen zum Ausdruck bringt. Dies bedeutete für ihn, dass sich die Farbskala und die farbigen Zusammenstellungen in Abhängigkeit davon, welche Klasse die herrschende oder die unterdrückte, niedergehende oder aufsteigende ist, verändern müsse.791 Er schlussfolgerte, dass die Vorherrschaft oder der Mangel an Farben und Farbtönen auf der Palette eines Malers der ökonomischen Situation und der Lebensfähigkeit der jeweiligen Gesellschaft entspringe und dass in der Bestimmung der Bilder letztlich die Geisteshaltung der Klasse ausgedrückt werde, die der Künstler darstellt.792 Marija Ender, die von der Notwendigkeit eines unmittelbaren Bezugs der Farbenlehre auf die gesellschaftliche Praxis überzeugt war, stimmte dem Ansatz von Fritsche grundsätzlich zu, kritisierte jedoch dessen vulgär-materialistische Ableitung der Farbskala von den ökonomischen Verhältnissen und Klassen der jeweiligen Gesellschaft. Es ging ihr weder darum, wie Ostwald allgemeingültige Harmoniegesetze und Normen aufzustellen, noch wie Fritsche der Farbe ideologischen Inhalt und Klassencharakter zu verleihen. Sie hoffte mit der Methode des Erweiterten Sehens die natürlichen Gesetzmäßigkeiten der Zusammenhänge von Farbe und Form aufzudecken und die Wechselwirkungen der Farbe mit ihrer Umgebung aufzuzeigen, um die farbigen Mittel bewusst bei der Gestaltung der Gesellschaft in der angewandten und bildenden Kunst einsetzen zu können.793 Matjuschin und seinen Studenten verfolgten mit ihrer Farbenlehre das Ziel jeder tätigen Farbtheorie, sie sollte dem Künstler helfen, seinem intuitiven Schaffen eine rationale Komponente zu verleihen und ihm die Möglichkeit geben, durch das Wissen um die gesetzmäßigen Zusammenhänge von Farbe und Form bewusst zu neuartigen künstlerischen Wirkungen zu gelangen. Die Kenntnis von den quantitativen und qualitativen Gesetzmäßigkeiten der Farbe sollte ihn fernerhin befähigen, bekannte Farbeffekte in neue Farbzusammenstellungen zu übersetzen und zu neuen Farbwirkungen zu gelangen. Ihre Arbeit war von der Überzeugung getragen: „Farb791 Ebenda, S. 184. 792 Ebenda, S. 189. 793 Matjušin 1932, S. 12–14.
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theorie kann dem Kunstschaffenden einerseits die Kenntnis aller denkbaren Wirkungen, andererseits aber auch das Wissen um deren Realisierungsweg geben. Auf der einen Seite ist durch Farbentheorie die Analyse einer Harmonie möglich, auf der anderen Seite die Synthese.“794
5. Michail Matjuschins Organische Kultur und die Ideale der frühen St. Peterburger Avantgarde Matjuschins Organische Kultur ist integraler Bestandteil der Avantgarde-Kunst des frühen zwanzigsten Jahrhunderts.795 Sie begreift die Kunst als Mittel zur Aneignung und Veränderung der Wirklichkeit und trägt die für die Kunst dieser Periode charakteristische Tendenz zum Absoluten in sich. Mit seinem Kunst- und Lebensentwurf der Organischen Kultur strebte Matjuschin nach einem neuen Verständnis von der Welt als organisches Ganzes; er suchte alle Wirklichkeitsbereiche zu integrierten, um die Entfremdung des Individuums von seiner natürlichen Umwelt zu überwinden. Ziel seiner Organischen Kultur war die Entfaltung aller sinnlichen Kräfte und intellektuellen Fähigkeiten des Menschen im Sinne einer lebendigen und organischen Ganzheit, um die geistige und soziale Zerrissenheit der Zeit in einer neuen Synthese der Sinne und des Geistes zu überwinden. Dabei sollten physikalische, physiologische und psychologische Tatsachen mit den Bestrebungen von Wissenschaft und Kunst zu neuen Formen der schöpferisch-geistigen Tätigkeit verbunden werden. In einer umfassenden Synthese aller Wahrnehmungs- und Erkenntnisformen hoffte Matjuschin, den Zeitgenossen die Einheit der Welt neu erfahrbar zu machen. Matjuschin betrachtete die Gesetze der Natur als universell und erhob diese zu ordnenden Entwicklungsprinzipien der unterschiedlichen Wirklichkeitsbereiche des menschlichen Lebens, der Wissenschaft und der Kunst. Er erklärte die Natur zur Grundlage, zum Modell und zum Ziel des künstlerischen Schaffens, d. h. der Künstler der Organischen Kultur studierte die Erscheinungen und Gesetze der Natur, um daraus Richtlinien und Gesetze für das künstlerische Schaffen und das menschliche Leben abzuleiten. Dabei betrachtete er die äußeren Erscheinungen der Dinge als Ausdruck ihres inneren Wesens und machte sich zur Aufgabe, von der Oberfläche der Dinge zu ihrem Wesenskern vorzudringen, um den umfassenden Zusammenhang zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen darzustellen. Sowohl Matjuschins impressionistische Naturdarstellungen, Kristallbilder, Wurzelskulpturen und Landschaftsaquarelle als auch seine Gesamtkunstwerksinszenierungen, seine theoretischen Überlegungen und wissenschaftlich-experimentellen Untersuchungen sowie
794 Harald Küppers, Logik der Farbe, München 1976, S. 184. 795 Eine Zusammenfassung der Charakteristika und Gemeinsamkeiten dieser Bewegungen vgl. Eduard Beaucamp, Das Dilemma der Avantgarde. Aufsätze zur bildenden Kunst, Frankfurt Main 1976, S. 257–268; Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt Main 1974.
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seine Farbenlehre waren darauf gerichtet, eine Reflexion von der komplexen und dynamischen Natur des Kosmos zu geben.
Organische Kultur als Weltanschauung Matjuschins Organische Kultur repräsentiert eine organisch-ganzheitliche Weltanschauung; sie begreift das Universum und dessen natürliche Existenzformen als in sich strukturierte und funktionierende organische Einheiten und benutzt das Modell des Organismus zur Beschreibung des Gesamtsystems und seiner Komponenten. Wie jede organische Anschauung gründet sie auf der Überzeugung, dass die analytischreduktionistische Methode der Beschreibung von biologischen Phänomenen, gesellschaftlichen Strukturen und der Realität als Ganzem inadäquat ist, da die Teile nichtmechanischer, komplexer Systeme nicht getrennt voneinander betrachtet werden können, ohne deren Wesen zu zerstören.796 Ziel der Organischen Kultur als Form gebender Kraft zur Gestaltung des Lebens war es, ein harmonisches Netz von Beziehungen zwischen den einzelnen Gliedern des Gesamtgefüges sowie zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen auf der Grundlage der von der Natur gegebenen Bedingungen zu schaffen und die Erfahrung von der Welt als organisches Ganzes zu vermitteln. Die Merkmale organischer Weltanschauungen finden sich auch in Matjuschins Organischer Kultur wieder: (1) sie gründet auf der Ganzheitlichkeit der Weltbetrachtung, (2) sie betrachtet Bewegung als einen grundlegenden Wesenszug der Natur, (3) sie lehrt ein harmonisches und symbiotisches Verhältnis von Mensch und Natur und (4) sie sucht nach neuen ganzheitlichen Erkenntnisformen.797 Matjuschin vertrat eine holistische Konzeption der Welt; er begriff das Universum als absolut und unendlich und betonte die natürliche Einheit und den Zusammenhang aller Existenzformen der Natur. Diesen Zusammenhang aller Existenzformen der Natur begründete er mit dem Wirken von universellen Naturkräften und Naturgesetzen. Mit seinem Weltmodell konstituierte er eine Welt kontinuierlicher Veränderungen, in der alle Teile integraler Bestandteil des Ganzen sind, wobei sich sowohl die Teile untereinander als auch die Teile und das Ganze gegenseitig bedingen. Er stellte die Ganzheit des Weltorganismus über die einzelnen Erscheinungsweisen der Natur bzw. er begriff letztere als integralen Bestandteil des Ganzen, die in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander stehen. Wie alle organischen Weltmodelle war auch Matjuschins Organische Kultur anti-dualistisch, d. h. sie strebte danach, den Hauptwiderspruch des abendländischen Denkens, den Gegensatz von Materie und Geist, Leib und Seele, zu überwinden, da sie diese als unterschiedliche Seiten ein und derselben Wirklichkeit begriff. 796 Isabel Wünsche, Naturerfahrung als künstlerische Methode: Organische Visionen in der Kunst der klassischen Moderne, in: Elke Bippus, Andrea Sick (Hg.), Industrialsierung und Technologisierung von Kunst und Wissenschaft, Bielefeld 2005, S. 87. 797 Ebenda, S. 87–88.
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Mit seiner Organischen Kultur postulierte Matjuschin eine dynamische Weltordnung und verband diese unmittelbar mit der Idee der Aufhebung des Seins in der kosmischen Bewegung des Werdens. Dabei betrachtete er Bewegung als Ausdruck der gegenseitigen Durchdringung von Materie und Geist, Physischem und Psychischem; diese manifestierte sich für ihn sowohl in der Form der Dinge als auch in den Entwicklungs- und Wachstumsprozessen. Die Potenz zur Bewegung, die er allen Daseinsformen der Natur zuschrieb, galt ihm als Quelle von Veränderung und Kontinuität im Weltprozess, die die Gegensätze zur Einheit führt. Matjuschin erklärte die Bewegung zum universellen Weltprinzip und deutete diese physikalische Größe im biologischen Sinne als Entwicklung der Spezies, in psychologisch-anthropologischer Hinsicht als Bewusstwerdungsprozess und im sozial-historischen Verständnis als gesellschaftlichen Fortschritt. Mit der Einbindung der individuellen Entfaltung des Menschen und der gesellschaftlichen Entwicklung in den Gesamtprozess der natürlichen Evolution folgte Matjuschin der Dynamik, die er seiner Konzeption zugrunde gelegt hatte. Seine Organische Kultur war keine rückwärts gewandte Weltkonzeption, sie demonstrierte seinen Glauben an das vitale Potential der Kunst, die weitere Entwicklung der Menschheit voranzutreiben. Matjuschins Organische Kultur war nicht anthropozentrisch, sondern begriff den Menschen als integralen Bestandteil des universellen Beziehungsgefüges der Natur. Sie postulierte ein symbiotisches Verhältnis von Organismus und Umwelt und die aktive Teilnahme des Organismus an seiner eigenen Höherentwicklung und an der Zukunft seiner Art. Ziel des Menschen war daher nicht seine Herrschaft über die Natur, sondern ein Leben in Harmonie mit ihr. Die Organische Kultur war ein ökologischer Lebensentwurf, sie gründete auf der Überzeugung, dass ideales Leben in harmonischer Gemeinschaft entsteht, wenn sich jeder Einzelne in Übereinstimmung mit der Natur und ihren Gesetzen bringt. Ihre Aufgabe war es daher, künstlerischgeistige Strategien für ein harmonisches Zusammenleben von Mensch und Natur und die freie Entfaltung aller Individuen nach den universellen Gesetzen der Natur zum Wohle und zur Beförderung des Ganzen zu entwerfen. Wie jeder organische Anschauung ging auch Matjuschins Organische Kultur davon aus, dass der Mensch als integraler Bestandteil der Natur in seinem Tun den Prinzipien der Natur folgen muss und suchte nach adäquaten Formen ganzheitlicher Welterfahrung. Ihr Ziel war die Vervollkommnung der Leistungsfähigkeit der Wahrnehmungsorgane des Menschen durch die Koordinierung und simultane Verbindung von Sinneseindrücken, Wahrnehmung, Vorstellung und Erkenntnis. Organische Kultur bedeutete die Totalität der Erkenntnisformen, d. h. sie verband das logisch-rationale Denken mit nicht-logischen Erkenntnisformen wie Anschauung und Einfühlung, sinnlichem Erleben, schöpferischer Intuition, mystischer Erfahrung, Kontemplation, Meditation u. a. m., und strebte nach der Verschmelzung der einzelnen Gattungen der Künste wie auch nach der Verbindung von Wissenschaft und Kunst und der Einbeziehung des gesamten historisch gewachsenen Wissens der Menschheit. Mit seiner Organischen Kultur schuf Matjuschin eine neue künstlerische Sprache zur Erweiterung und Neustrukturierung der Wirklichkeit. Dabei verabsolutierte er
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die grundlegenden Prinzipien und universellen Gesetze der Natur, womit er einerseits die Kunst auf elementare Grundelemente wie Farbe, Form, Ton und deren Wirkungsweisen auf den menschlichen Organismus zurückführte und andererseits die Bedeutungsinhalte dieser künstlerischen Qualitäten grundlegend erweiterte. Farbe, Form und Ton erlangten bei Matjuschin Allgemeingültigkeit und Symbolgehalt, sie wurden zu Ausdrucksformen der Gesetze des Universums. Mit seiner wissenschaftlich-experimentellen Forschungsarbeit am GINChUK strebte er zugleich danach, den künstlerischen Schaffensprozess zum gesetzmäßigen Prozess und die Kunst zur objektiven Wissenschaft zu machen. Er erhob die Kunst zum Instrument der Welterkenntnis und zur praktischen Wissenschaft, sie sollte die Vereinigung von subjektiver Erfahrung und objektiver Wirklichkeit herbeiführen und an die Spitze des zeitgenössischen Wissenschaftssystems treten. Matjuschins Organische Kultur vermittelte eine absolute Wirklichkeit, die von den traditionellen Vorstellungen und gesellschaftlichen Konventionen befreit worden war; in ihr fielen Kunst und Wirklichkeit zusammen. Der globale Anspruch auf Universalität führte zur Überwindung der Kunst in der Organischen Kultur und zu ihrer Aufhebung im Leben selbst. Die Verwirklichung des utopischen Ziels der Selbstvervollkommnung des Individuums vollzog sich für Matjuschin jedoch erst in der Zukunft. Sein Entwurf der Organischen Kultur bedeutete einerseits die Formulierung der Kunst als Gesamtkunstwerk und andererseits seine Teilhabe an der Utopie der russischen Avantgarde, die Kunst in Lebenspraxis zu überführen.
Organische Kultur als Gesamtkunstwerk Mit seinem Kunst- und Lebensentwurf der Organischen Kultur beabsichtigte Matjuschin, den Menschen die Erfahrung von der Einheit der Welt zu vermitteln. In der Verbindung seines musikalischen und malerischen Schaffens mit seiner wissenschaftlichen Forschungsarbeit auf der Grundlage von Naturbeobachtung, Erweitertem Sehen und gesteigerter Wahrnehmungskraft von SORWED verwirklichte er in der Synthese der Künste sein Konzept der Organischen Kultur. Diese bildete „ein Postulat in Gestalt des Gesamtkunstwerks, das gegen alle historische Erfahrung und prinzipiellen Einwände dennoch aufrecht erhaltene Postulat, die Welt als Einheit zu verstehen und das eigene wie das Leben der anderen auf diesen Zusammenhang hin auszurichten“.798 Im Sinne eines Gesamtkunstwerks beinhaltete Matjuschins Orga798 Sowohl Bazon Brock als auch Odo Marquard haben hervorgehoben, dass das Gesamtkunstwerk nicht durch die gleichzeitige Verwendung aller sprachlichen Mittel und künstlerischen Techniken entsteht, sondern die Idee des Ganzen zum Thema hat. Vgl. Bazon Brock, Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Pathosformeln und Energiesymbole zur Einheit von Denken, Wollen und Können, in: Harald Szeemann (Hg.), Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800, Ausst.-Kat., Zürich, Düsseldorf, Wien, Aarau 1983, S. 24–25; Odo Marquard, Gesamtkunstwerk und Identitätssystem. Überlegungen im Anschluss an Hegels Schellingkritik, in: ebenda, S. 40–49.
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nische Kultur sowohl das konkrete, mehrere Künste synthetisierende Gesamtkunstwerk selbst und dessen theoretische Fundierung als auch eine in sich geschlossene, organisch-ganzheitliche Weltinterpretation und einen kunstzentrierten Zukunftsentwurf.799 Matjuschins Organische Kultur fasste die Welt als einen einheitlichen Organismus und richtete sich an die Gesamtheit des menschlichen Sinnes- und Wahrnehmungsvermögens, um die Erfahrung vom Weltganzen zu vermitteln. Matjuschin war überzeugt, dass alle Menschen ein synästhetisches Wahrnehmungsvermögen besitzen bzw. entwickeln können. Seine Überlegungen waren darauf gerichtet, dieses unzureichend ausgebildete Empfindungsvermögen durch die Kunst zu größerer Tiefe und breiterem Umfang zu entfalten. Er strebte nach einer grundlegenden Aktivierung aller Fähigkeiten der sinnlichen und geistigen Wahrnehmung, wobei er berücksichtigte, dass jedes künstlerische Medium nicht nur einen speziellen Sinn aktiviert, sondern immer zugleich unterschiedliche sinnliche Empfindungen und intellektuelle Assoziationen hervorruft. Mit seiner Organischen Kultur konzentrierte sich Matjuschin deshalb einerseits auf die physiologische Vervollkommnung der Sinneseindrücke und andererseits auf die psychologische Entwicklung der Koordinierung des Wahrgenommenen. SORWED verwirklichte die Synthese von Sinneswahrnehmung und Erkenntnis zur Erfahrung der Einheit der Welt; eine entwickelte Physiologie des Sehens kombiniert mit einer trainierten Sinneswahrnehmung und intellektuellem Wissen sollte über die Darstellung der äußeren Erscheinung der Dinge hinausgehend, ein tieferes Verständnis von den inneren Wechselwirkungen zwischen den Dingen und ihrer Umgebung sowie zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen vermitteln. Im Gegensatz zu anderen Künstlern der Moderne ging Matjuschin dabei nicht den Weg der Abkopplung von der Natur und den Traditionen der Geschichte, den Bodo Heimann für die Avantgarde beklagt hat.800 Er beschränkte sich nicht auf die Vereinigung der unterschiedlichen Gattungen der Künste und die Verbindung von Wissenschaft und Kunst, sondern erhob „die Verfügbarkeit über die Kunstmittel vergangener Epochen zum Prinzip“.801 Er suchte die Bedingungen für die Herausbildung des „neuen Menschen“ nicht im Ideal eines verflossenen Zeitalters oder in ursprünglichen, vor- bzw. anti-gesellschaftlichen oder irrationalen Verfassungen wie in der des Kindes, des Wilden, des Irren oder des Triebmenschen,802 sondern in der bewussten psychophysiologischen Entwicklung der Zeitgenossen, die er zugleich mit der Evolution der Spezies und der Vervollkommnung der Gesellschaft verband. Mit seiner Organischen Kultur vertrat Matjuschin weder einen betonten Individualismus noch einen extremen Kollektivismus, sondern die natürlichen und 799 Roger Fornoff, Die Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk. Studien zu einer ästhetischen Konzeption der Moderne, Hildesheim 2004, S. 553. 800 Bodo Heimann, Progressive Universalpoesie und Avantgardismus, in: Reinhard Görisch (Hg.), Perspektiven der Romantik, Bonn 1987, S. 121. 801 Bürger 1974, S. 24. 802 Beaucamp 1976, S. 262.
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evolutionskonformen Entfaltungsmöglichkeiten aller Menschen, sie verwirklichte insofern das Prinzip der Egalität. Er war grundlegend davon überzeugt, dass es allen Menschen möglich sei, durch die Intensivierung ihres Wahrnehmungsvermögens zu neuen Dimensionen des Raumes und der Erkenntnis vorzustoßen. Doch während die natürlichen Entfaltungsmöglichkeiten prinzipiell allen Individuen gleichermaßen durch den Evolutionsprozess gegeben waren, erkannte der Künstler der Organischen Kultur die allgemeine Entwicklungstendenz frühzeitig; er wirkte bewusst an seiner eigenen psychophysiologischen Vervollkommnung und versuchte seinen Zeitgenossen diese Tendenz in seinem künstlerischen Schaffen zu vermitteln. Er war deshalb ein Wissender, der das Wesen der Welt und die Gesetze der Natur erkannt hatte, sein Schaffen nach ihnen ausrichtete und sie im Dienste der Menschheit für alle erfahrbar und nutzbar machte. Die Rolle des Künstlers der Organischen Kultur ist prophetisch-mediumistisch. Matjuschin und seine Studenten machten sich selbst zu exemplarischen Vollstreckern einer neuen Welterkenntnis und Lebensweise, die in der Zukunft von allen Menschen realisiert werden sollte. Obwohl er das Erweiterte Sehen und SORWED nur im engen Schülerkreis realisierte und insofern alle wahrgenommenen Erscheinungen und daraus abgeleiteten Erkenntnisse gruppenspezifisch blieben, beabsichtigte Matjuschin im Gegensatz zu Philosophen wie Nietzsche und Bergson, aber auch Künstlerkollegen wie den Symbolisten und Filonow nie, eine Jüngerschar von Eingeweihten, denen sich neue Bewusstseinsformen offenbarten, um sich zu sammeln. In seinem Schaffen ging es ihm immer darum, den Beweis zu erbringen, dass das von ihm stellvertretend erreichte Maß an Wahrnehmung und Welterkenntnis von allen Menschen erfahren werden könne. Matjuschins Organische Kultur erklärte die Kunst zum Erlebnis- und Erfahrungsakt vom dynamischen Weltganzen. Ihr grundlegender Anspruch auf Universalität führte zur Überwindung der Kunst in der Organischen Kultur und zur Aufhebung der Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit. Innerhalb der russischen Avantgarde ging Matjuschin den Weg der Verschmelzung von Kunst und Leben am weitesten, wobei er sich im Gegensatz zu den Symbolisten nicht für die Ästhetisierung des Lebens, sondern für die Erweiterung des Kunstbegriffes entschied. Diese Entwicklung spiegelte sich auch in seinem künstlerischen Schaffen. In seinen autonomen Kunstwerken und Gesamtkunstwerksinszenierungen der 1910er und frühen 1920er Jahre versuchte er mit künstlerischen Mitteln wie Farbe, Form, Ton und Faktura, eine Reflexion vom dynamischen Weltganzen zu geben. Mit der Weiterentwicklung seines Konzepts zur Vervollkommnung des menschlichen Organismus und zur organischen Gestaltung der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit lösten sich seine künstlerischen Bestrebungen zunehmend vom materiellen Bildträger und verloren ihr eigentliches Medium. Sie griffen sowohl auf den menschlichen Körper als auch auf unterschiedliche Formen des gesellschaftlichen Lebens über. Die Synthese sämtlicher Wahrnehmungs- und Erkenntnisformen in der Organischen Kultur bedeutete einerseits die Erweiterung des Kunstbegriffes und andererseits die Entmaterialisierung der Kunst sowie deren Ablösung vom Kunstwerk und
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ihre Aufhebung im Leben selbst. An die Stelle des künstlerischen Schöpfungsaktes trat bei Matjuschin das Projekt der allumfassenden Wahrnehmung und Bewusstwerdung der Welt. Die Ablösung der künstlerischen Aussage vom Kunstwerk und ihre Aufhebung im Leben selbst bildete zugleich auch die Ursache dafür, dass sich Matjuschins künstlerische Bestrebungen in den 1930er Jahren weitgehend auf Empfehlungen für die organisch-farbige Gestaltung in Design und Architektur konzentrierten. Doch Matjuschins Organische Kultur war nicht totalitär, denn sie bildete keinen politischen und/oder sozialen Handlungsentwurf zur ästhetischen Neuordnung der menschlichen Gesellschaft. Organische Kultur bedeutete einen Bewusstwerdungsprozess, sie war an die natürliche Entfaltung des sinnlichen und geistigen Potentials des einzelnen Individuums geknüpft und konnte stimuliert, gelehrt und trainiert, jedoch nicht verordnet, organisiert oder gar von oben durchgesetzt werden. Organische Kultur wurde zum Modell der Neuorientierung in der Welt, sie beschäftigte sich mit der Wahrnehmung, Aufdeckung und Erkenntnis der natürlichen Prinzipien und Gesetze, die das Leben und die Entwicklung der Menschheit auf der Erde determinieren. Sie entwarf kein ideelles Gesellschaftsmodell, in das der Einzelne eingepasst werden sollte, sondern die freie und natürliche Entfaltung des Einzelnen bildete die Grundlage dieses utopischen Kunst- und Lebenskonzepts. Matjuschin strebte mit seiner Organischen Kultur primär nach der Reintegration der menschlichen Gesellschaft in den großen Gesamtzusammenhang der Natur, die den Rahmen des sozialen Lebens bildet, und befasste sich nur sekundär mit der konkreten Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Es ging ihm nicht darum, die Welt neu zu schaffen, indem er die Lebensrealität der Menschen einer totalen politischen oder sozialen Idee unterordnete, sondern darum, die natürlichen Gesetze, die die Bildung und Entwicklung aller Wesen bestimmen, zu erkennen und auf das künstlerische Schaffen und die Gestaltung des menschlichen Lebens anzuwenden. Matjuschin verwirklichte seine Ideen solange innerhalb des herrschenden Systems, wie die eigenen Absichten und die kulturpolitischen Bestrebungen des Staates nicht miteinander kollidierten. Er beteiligte sich aktiv an der ersten Welle der Anpassung der Avantgarde an die politischen Verhältnisse nach der Oktoberrevolution, da er die Ideen der proletarischen Kultur akzeptierte, jedoch nicht an der zweiten Welle dieses Anpassungsprozesses, die im Engagement für Industrialisierung und Kollektivierung bestand.803 Die individuelle Dimension und das humanistische Potential seines Kunst- und Lebenskonzepts müssen auch als Grund dafür betrachtet werden, dass sein künstlerisches Schaffen in den 1930er Jahren zur Bedeutungs- und Folgenlosigkeit verdammt war und bis in die Gegenwart weitgehend ungewürdigt blieb. 803 Hans Günther, Die russische Avantgarde und der Thermidor der revolutionären Kultur, in: Hubertus Gaßner, Karlheinz Kopanski und Karin Stengel (Hg.), Die Konstruktion der Utopie. Ästhetische Avantgarde und politische Utopie in den 20er Jahren, Kassel, Marburg 1992, S. 77–81. Günther argumentiert hier gegen die von Boris Groys vertretene These, dass die Avantgarde Wegbereiter für Stalins totalitäres System gewesen sei. Vgl. Boris Groys, Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion, München, Wien 1988. Vgl. auch Hans Günther, Erzwungene Harmonie. Ästhetische Aspekte des totalitären Staates, in: Günther 1994, S. 259-272.
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Die Utopie der Organischen Kultur Matjuschins Organische Kultur als idealer Entwurf einer harmonischen Einheit von Mensch und Natur, Welt und Kosmos bezeichnet im wahren Sinne des Begriffs eine Utopie. Sie kann philosophisch mit Ernst Blochs Formulierung der „begriffenen Hoffnung“ beschrieben werden und lässt sich material-anthropologisch als Streben nach Harmonie und Glück sowie psychologisch-archetypisch als universelles Grund- und Leitbild fassen.804 Matjuschin konzipierte sein Kunst- und Lebenskonzept als Gegenbild zur bestehenden Realität. Organische Kultur bedeutete aber zugleich auch eine Konstruktion des Hypothetisch-Möglichen, wobei die Grenzen zwischen dem Machbaren und dem Denkbaren bei Matjuschin verschwimmen. Als evolutionäres Strukturmodell entfaltete sich die Organische Kultur weder konkret räumlich noch zeitlich, sondern muss als Entwicklungsprozess auf ein Ideal hin verstanden werden. Matjuschin stand mit seiner Organischen Kultur zwischen Filonows Welterblühen und Tatlins Materialkultur auf der einen und Malewitschs Suprematismus auf der anderen Seite.805 Filonow und Tatlin akzeptierten die Natur als eigenständiges Subjekt, sie betonten die Kraft der sinnlich-konkreten Erfahrung und machten die innere Organisation und Dynamik der Natur zu formkonstituierenden Prinzipien ihrer künstlerischen Tätigkeit. Beide entwickelten kein geschlossenes System, dem sie das menschliche Leben unterzuordnen versuchten, ihre organologischen Utopien gründeten auf einem ökologischen Umgang mit dem Naturmaterial, der die Versöhnung von Mensch und Natur zum Ziel hatte.806 Malewitsch hingegen erweiterte sein künstlerisches Konzept des Suprematismus nach der Oktoberrevolution zu einer ästhetisch-ethischen Weltanschauung, die die Unterwerfung des gesamten natürlichen Materials unter die suprematistische Konstruktion zum Ziel hatte. Damit erhob er den Suprematismus zu einem geschlossenen System, das die Rückführung der Welt in einen idealen Urzustand reiner Energie proklamierte, in der die gesamte natürliche und historische Entwicklung ihre Vollendung finden sollte. Doch Malewitschs suprematistische Utopie der Entgegenständlichung der Welt blieb auf einen künstlerischen Entwurf beschränkt; erst Konstruktivisten wie El Lissitzky und Gustaw Kluzis setzten sein ideelles Gedankengebäude mit der konstruktivistischen Gestaltung des Lebens in die gesellschaftliche Praxis um.807 Filonow, Tatlin, Malewitsch und Matjuschin blieben immer dem Ideal der frühen russischen Avantgarde, d. h. der Idee von der kosmischen Dimension der Kunst zur Neuorganisation des menschli804 Wilhelm Voßkamp (Hg.), Utopie-Forschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Stuttgart 1982, Bd. 1, S. 3-4. 805 Zu den Utopien von Malewitsch und Tatlin vgl. Yvonne Grumpelt-Maaß, Kunst zwischen Utopie und Ideologie: Die russische Avantgarde 1900–1935, St. Augustin 2001, S. 128–129 und 146–147. Sie unterscheidet zwischen dem Schöpfer Malewitsch und dem Gestalter Tatlin. 806 Hubertus Gaßner, Utopisches im russischen Konstruktivismus, in: Gaßner/Kopanski/Stengel 1992, S. 48–68. 807 Ebenda.
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chen Lebens nach dem Vorbild der Natur, verpflichtet.808 Auf unterschiedliche Weise strebten sie nach einem idealen Naturzustand, den sie als harmonischste und ökonomischste und damit ästhetischste Organisationsform des Lebens begriffen.809 Matjuschin richtete sein gesamtes künstlerisches Schaffen an der Natur aus. Er führte die Erscheinungen des Lebens auf das Wesen der Natur zurück und erklärte deren Gesetze und Strukturprinzipien zum universellen Maßstab für alle gesellschaftlichen, kulturellen und ästhetischen Schöpfungen des Menschen. Sein utopisch-künstlerischer Entwurf zielte auf die Selbstbefreiung des Individuums durch schöpferische Arbeit nach dem Vorbild der Natur und zur Erkenntnis des inneren Wesens des Weltorganismus. Mit der Formulierung seiner Deklaration „Nicht Kunst, sondern das Leben“ vollzog er den Übergang vom Kunstkonzept zum idealen Lebensentwurf, mit SORWED erklärte er seine Utopie zur Methode. Das Kunstund Lebenskonzept der Organischen Kultur verkörperte Matjuschins Teilhabe an der Utopie der russischen Avantgarde, die von dem Willen getragen war, die Kunst in Lebenspraxis zu überführen.810 Matjuschins Organische Kultur bedeutete einen utopischen Entwurf von einem Leben in Übereinstimmung und in Harmonie mit der Natur. Sie stellte keine Geschichtsphilosophie oder Gesellschaftskonzeption als unmittelbaren Gegenentwurf zu den herrschenden bzw. in der Sowjetunion im Entstehen begriffenen gesellschaftlichen Verhältnissen dar, sondern entstand als Gegenbild zur Lebensweise des Industriezeitalters und der Entfremdung des Menschen von seiner natürlichen Umwelt; sie strebte nach der Erfahrung und Bewahrung der Natur jenseits der vom Menschen geschaffenen unvollkommenen gesellschaftlichen Wirklichkeit. Mit seiner Organischen Kultur postulierte Matjuschin die Harmonie der Naturverhältnisse und machte diese zur idealen Lebensform. In der Tradition der russischen Interpretation des Darwinismus bestimmte Matjuschin Evolution als harmonische Entwicklung in Natur und Gesellschaft, die nicht von „natürlicher Auslese“ und „Kampf ums Dasein“, sondern von einem kooperativen Verhalten der Arten zueinander bestimmt wird. Auf der Grundlage der teleologischen Interpretation des Evolutionsprozesses als natürliche Entwicklung von einfachen zu komplizierten Formen in der Natur und als geistige Vervollkommnung der Menschheit setzte Matjuschin Höherentwicklung mit Fortschritt gleich. Er identifizierte Evolution mit einer spezifischen inneren Tendenz zur Perfektion des Organismus, die mit einer immer besseren Anpassung des Organismus an seine natürliche Umwelt verbunden wäre und zur Herstellung harmonischer Beziehungen in Natur und Gesellschaft führen würde. 808 Isabel Wünsche, The Sixth Sense: Utopia and Reality in Russian Avant-Garde Art, in: Freia Hardt (Hg.), Mapping the World – New Perspectives in the Humanities and Social Sciences, Tübingen 2004, S. 65–80. 809 Rudolf Walentinowitsch Duganow, Die Ästhetik des russischen Futurismus, in: Sieg über Sonne 1983, S. 240–249. 810 Bürger 1974, S. 72.
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Die Organische Kultur gründete auf der Überzeugung, dass die Synthese aller Wahrnehmungs- und Erkenntnisformen auf eine neue Stufe sinnlich-geistiger Welterfahrung führen würde. Sie bildete ein Assimilationsprodukt des historisch gewachsenen Erfahrungs- und Erkenntnisschatzes der Menschheit und der Weltkulturen. Organische Kultur bestand in der Addition aller Mittel und Kräfte – nicht in ihrer Subtraktion, wie sie die Vorgehensweise der Konstruktivisten charakterisierte.811 Dabei verband sich bei Matjuschin ein „immer mehr“ an Wahrgenommenem, Erfahrenem und Erkanntem mit der Vorstellung von einem „immer besser“ und „immer vollkommener“. Sein Entwurf einer Welt harmonischer Verhältnisse und symbiotischen Zusammenlebens aller Lebewesen nach den universellen Gesetzen der Natur war eine Konstruktion des Idealen mit den Mitteln des Realen. Die ideale Synthese der Erkenntnisformen war an die Konstanz und innere Widerspruchslosigkeit aller Elemente der Welterfahrung gebunden. Für Matjuschin verlief die Entfaltung der geistigen Vorstellungskraft des Menschen parallel zur physiologischen Entwicklung seines Körpers. Im Sinne der modernen Psychologie verstand er unter Erkenntnis die Art und Weise, wie die menschliche Psyche alles Tatsachenmaterial in Sinneswahrnehmung, Gedächtnis, Lernen und Denken aufnimmt und verarbeitet.812 Dieser geistige Entwicklungsprozess bewirkte für ihn zugleich die ständige Vervollkommnung der Wahrnehmung selbst und die Ausbildung der Fähigkeit, das Ganze als Einheit und mehr als die Summe seiner Teile zu erfassen. Dabei ging Matjuschin davon aus, dass beim anschaulichen Wissen keine Trennung zwischen dem, was gewusst, und dem, was gesehen wird, besteht, und dass das innere Wesen der Dinge Bestandteil ihrer äußeren Erscheinung ist. Er setzte die unbegrenzten Entfaltungsmöglichkeiten der sinnlichen und geistigen Fähigkeiten des Menschen voraus und war überzeugt, dass alle Einschränkungen temporär waren und durch bewusste Übungen und systematisches Training überwunden werden konnten. Deshalb akzeptierte er weder physiologische Grenzen wie den Fixationsmechanismus der Augen, die Verteilung von Stäbchen und Zapfen in der Netzhaut oder die Organisation des Nervensystems noch psychologische Notwendigkeiten wie die Tatsache, dass die Ergänzung des Gewussten selektiv ist und das Auswählen ein grundlegender Wesenszug der menschlichen Wahrnehmung und Erkenntnis ist.813 Im Bewusstsein einer kontinuierlichen Höherentwicklung der Menschheit und eines ständigen Anwachsens ihres Wissens- und Erfahrungsschatzes entwickelte er sein eklektisches und hoch integratives Wahrnehmungskonzept. Mit seinem Kunst- und Lebenskonzept der Organischen Kultur strebte Matjuschin nach Harmonie und allumfassender Synthese. Sein künstlerischer Entwurf war ein Projekt zur Überwindung der grundlegenden psychosozialen Widersprüche des
811 Boris Groys, Konstruktion als Substraktion, in: Gaßner/Kopanski/Stengel 1992, S. 73–76. 812 Rudolf Arnheim, Anschauliches Denken, 3. verb., Aufl., Köln 1977, S. 24. 813 Ebenda, S. 30–35, 90–91.
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neunzehnten Jahrhunderts, d. h. der Auflösung der Person und der Gemeinschaft,814 durch den harmonischen Ausgleich von Leib und Seele, Individuum und Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst, östlichem und westlichem Denken. Mit der Ausrichtung des menschlichen Lebens an den Gesetzen der Natur und der Herstellung einer allumfassenden Synthese der menschlichen Erkenntnisformen strebte Matjuschin nach der Vervollkommnung des Individuums und der Erneuerung der Einheit von Mensch und Natur. Die Harmonisierung des Verhältnisses des Einzelnen zu seiner natürlichen Umwelt bzw. zum großen Ganzen sollte zugleich zur Herstellung harmonischer Beziehungen innerhalb der menschlichen Gesellschaft führen. Damit bewahrte Matjuschins Organische Kultur etwas von dem russischen Harmonie- und Synthesestreben des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts und von dem Anspruch der Slawophilen als Vermittler zwischen westlicher Zivilisation und östlicher Kultur aufzutreten.815 Matjuschin formulierte mit seiner Organischen Kultur ein dynamisches Zukunftsmodell, das ein sich selbst regulierendes offenes natürliches System bildete. Sein Entwurf gründete auf einem evolutionären Strukturmodell, dessen Utopie sich im Verlauf der Entwicklung von Natur und Leben in Zeit und Raum vollzog, wobei die Erfüllung der Utopie in der Zukunft lag. Die Kunst aber betrachtete Matjuschin als Medium der bewussten Austragung dieses auf die Zukunft gerichteten Evolutionsprozesses, denn die am weitesten gehende Realisierung seiner Utopie vollzog sich für ihn in der psychophysiologischen Entwicklung, die von der schöpferischen Tätigkeit des Individuums ausgelöst wurde. Damit verkörperte die Organische Kultur einen dynamischen Prozess; die Vervollkommnung der Vorstellungskraft und des Erkenntnisvermögens im künstlerischen Schaffen des Menschen sollte zu einer immer stärkeren Annäherung von Kunst und Wirklichkeit führen. Organische Kultur als Kunst- und Lebenskonzept muss deshalb als ein unendlicher Annäherungsprozess an das Ideal absoluter Vollkommenheit betrachtet werden.
814 Markus Bernauer, Die Ästhetik der Masse und das Werk, in: Gaßner/Kopanski/Stengel 1992, S. 212–221. 815 Wünsche 2008.
Dokumente M. W. Matjuschin, Anleitung für eine neue Teilung der Töne, 1910–15816 „Das System der Tonleiter und der Tonarten und ihrer harmonischen Kombinationen wurde nicht auf Grund unveränderlicher Naturgesetze aufgebaut, sondern es stellt eine Konsequenz der ästhetischen Prinzipien dar, welche im Laufe der menschlichen Entwicklung viele Änderungen vollzogen hatten und sich auch weiter verändern werden.“ Helmholtz
Die Frage der Einteilung der Töne in der Musik ist so wesentlich, daß die Menschen mit großer Musikalität ihre Bedeutung erkennen und nach einer neuen Lösung suchen. Bisher waren die Versuche leider immer mit einem unbeweglichen, sperrigen Instrument (dem Klavier) verbunden, das zwar über weitreichende Verbreitung und große Literatur verfügt und entsprechend eine große Macht ausübt, das jedoch mit seinem vorgegebenen Chromatismus keine Erneuerung in sich selbst zulässt. Dagegen kann man mit großer Wahrscheinlichkeit vermuten, dass für alle Streichinstrumente ohne Weiteres eine Einteilung in Vierteltöne (indem man Halbtöne in zweit teilt), auch in beliebiger Position und nach kurzer Praxis möglich ist. Die Experimente mit den flexiblen, nachgiebigen Streichinstrumenten führten zur Entdeckung völlig neuer Tonwerte. Die Folgen der gewaltigen neuen Möglichkeiten in der Musik sind kaum vorstellbar. Alle diese erstaunlichen Kombinationen und wunderbaren Annäherungen an die Natur sind Resultate von Anstrengungen, Suche und Entdeckungen. Die vorliegende Anleitung bietet eine einfache Bezeichnung der neuen Töne: Jeder Ton, der um einen Viertelton erhöht wird, wird mit einem Häkchen nach oben versehen; dagegen bekommt jeder, der um einen viertel Ton erniedrigt wird, ein Häkchen nach unten. Hier existiert kein Kreuz und kein b, weder im Schlüssel noch anderswo. Diese neue Notation kann Dank ihrer Einfachheit zum Komponieren beliebiger Stücke verwendet werden. Diese Anleitung ist nicht ausschließlich für Geiger vorgesehen, sondern stellt eine Grundlage für die Experimente mit jedem Instrument dar, welches die Trägheit seines Chromatismus überwinden kann. 816 M. V. Matjušin, K Rukovodstvu Novych Delenij Tona, in: ders., Rukovodstvo K Izučeniju Četvertej Tona Dlja Skripki. Princip Obščej Sistemy Izučenija – Udvoennago chromatizma, Petrograd 1915, S. 3. Deutsch in: Sieg über die Sonne 1983, S. 296–298.
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Ich biete mein Werk allen an, die die Kunst wahrhaftig lieben und das Große und Neue in ihr suchen; dabei denke ich vor allem an die Möglichkeit neuer Entwicklungen im Bereich der Musik der Zukunft. Und möge mein Werk ein erster Versuch sein, einen sicheren Weg zu diesem Ziel aufzuzeigen.
M. W. Matjuschin, Die Empfindung der vierten Dimension, 1912–13817 Die Bäume ähneln den Kapillargefäßen. Die Äste, die sich verjüngen und in den Himmel streben, ähneln den Bronchien, der Grundlage des Atmens. Das Geheimnis ihrer Ähnlichkeit: die heilige Erde atmet durch sie, die Erde atmet durch den Himmel und vollzieht dabei den Kreislauf des Austauschs von irdischen und himmlischen Stoffen. Dabei sind sie auch Zeichen eines anderen Lebens. Durch das Geheimnis der Ähnlichkeit ihres Atmens und ihres Blutkreislaufs sprechen die unbelaubten Äste im Frühjahr unerträglich überzeugend von ihrer unsichtbaren Fortsetzung, die sowohl nah und unsichtbar als auch unglaublich weit entfernt ist. Ihre materielle Verbindung geht von der Erde in den Himmel, als würde jemand Unfassbares mit unvorbereitetem Blick mit ihnen atmen, genauso wie die Erde. Und als würde dieser Unfassbare sogar wichtiger und wesentlicher sein als die Erde, und die Erde selbst nur das sein, woran sich dieser von allen Seiten angeschmiegt, um mit ihr zu verschmelzen. Das Leben und die Entwicklung des winzig Kleinen ähnelt dem Leben des unfassbar Großen, und deren Wesen, d. h. die Seele, kann sich auch umgekehrt äußern: das winzig Kleine trägt das riesig Große in sich. Das bedeutet, es gibt nicht nur eine richtige Vorstellung vom Sichtbaren und alle Perspektiven, physische wie moralische, sind vollkommen ungenau und man muss sie von Neuem suchen.
817 M. V. Matjušin, Čuvstvo četvertogo izmerenija, 1912–13, RO IRL, F. 656, Op. 1, Ed. 131, S. 19. Vgl. Povelikhina/Loshak/Bukreeva 2001, S. 33.
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M. W. Matjuschin, Nicht Kunst, sondern das Leben, 1923818 Erfahrung auf Erfahrung häufend, setzt die Menschheit zu bestimmten Zeiten ein symbolisches Zeichen, in dem sich ihre Kreativität bündelt, und nennt es Kunst (“Kunst, die gemacht ist”). Am Anfang aber stand einfach Spiegelung des Eindrucks, wie ein Ton in rhythmischer Wiederholung. Das war ein unkomplizierter, einfacher S c h r i t t d e s L e b e n s s e l b s t . Die unablässige Bewegung und Entwicklung der Kunst hat jetzt zu einer Spaltung des Zeichens geführt; es gibt bereits sogenannte „ r e c h t e “ , „ z e n t r a l e “ und „ l i n k e “ Kunst. Die Kunst ist „ eine Kraft, die sich schon geteilt hat”. Auf den Sehakt selbst bezogen (Beobachtungsfeld: 360 Grad), betritt „Sor wed“ erfahrungsmäßiges Neuland. „ S o r w e d “ bedeutet: p h y s i o l o g i s c h e r Wa n d e l der früheren Sehweise und folglich eine völlig a n d e r e D a r s t e l l u n g s w e i s e des Gesehenen. „ S o r w e d “ bezieht erstmalig Beobachtung und Erfahrung des bisher verschlossenen „ H i n t e r g r u n d e s “ ein, des ganzen Raumes, der aufgrund von mangelnder E r f a h r u n g „ außerhalb“ menschlicher Reichweite blieb. Neue Forschungsergebnisse belegen, daß die Hirnzentren am Hinterkopf auf R a u m , L i c h t , F a r b e und F o r m reagieren. Eine Reihe von Versuchen und Beobachtungen, die „ S o r w e d “ - Künstler angestellt haben, lassen eindeutige Rückschlüsse auf eine räumliche Sensibilität der im Hinterkopfbereich liegenden Sehzentren zu. Das eröffnet dem Menschen überraschend die gewaltige Welt räumlicher Wahrnehmungen, und da für den Menschen und den Künstler die Erkenntnis des Raumes die wichtigste Gabe ist, bedeutet dies einen n e u e n S c h r i t t u n d L e b e n s r h y t h m u s , der sich in keiner Form und keinem Zeichen von „ R e c h t s u n d L i n k s “ einfangen läßt. Vo r l ä u f i g i s t e s n o c h „ d a s p r i m i t i v e L e b e n s e l b s t “ , das mit den größten Entdeckungen aufwartet; sie traten an die Oberfläche durch die ungeheure Explosion der russischen Revolution, die allen wirklich Lebendigen und Suchenden Freiheit und Leben gab.
818 M. V. Matjušin, Ne iskusstvo, a žizn’, in: Žizn’ iskusstva, Nr. 20, Petrograd, 22. Mai 1923, S. 15. Deutsch in: Klotz 1991, S. 80–81.
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M. W. Matjuschin, Die Gesetzmäßigkeit der Veränderung von Farbkombinationen, 1932819 Das vorliegende Handbuch ist ein erster Schritt zur Bestimmung der Gesetzmäßigkeit der Farbkontraste. Es basiert auf der wissenschaftlichen Arbeit, die eine Künstlergruppe unter meiner Leitung am Staatlichen Institut für Künstlerische Kultur durchgeführt hat; ab 1923 mit dem Studium der Farbe in ihrer neutralen Umgebung beginnend. Die Forschungsarbeit wurde an abstrakten Form- und Farbmodellen zu Fragen von Raum, Struktur und Oberfläche u. a. Qualitäten von Farbe und Form vorgenommen und ging nicht über die Grenzen enger farbwissenschaftlicher Probleme und physikalisch-physiologische Gesetzmäßigkeiten hinaus. Die experimentelle Arbeit im Labor wurde durch Beobachtungen an Farbmodellen unter einfachen, leicht zu überblickenden Bedingungen durchgeführt. Auf diese Weise war es möglich, die gesetzmäßige Abhängigkeit der Farbe und Form von der Veränderung dieser oder jener Versuchsbedingungen aufzudecken. Eine Grundhypothese unserer Forschungsarbeit beim Studium von Farbe und Form bestand darin, eine Abhängigkeit der Form und der Farbe von den Bedingungen der visuellen Wahrnehmung zu bestimmen, die in Abhängigkeit von den an das Auge gerichteten Anforderungen verschieden sein kann. Ausgehend von der Erfahrung meines künstlerischen Schaffens, der experimentellen Arbeit und an mir selbst und anderen Künstlern vorgenommenen Beobachtungen, gelangte ich zu der Schlussfolgerung, dass der Mensch und insbesondere der Künstler nicht alle Besonderheiten unseres Sehapparates bewusst einsetzt, obwohl völlig unbestreitbar ist, dass unbewusst die gleichzeitige Nutzung zweier uns gegebener Sehmethoden (des direkten und des indirekten Sehens) im Leben zunehmend an Bedeutung gewinnt und seinen Niederschlag in der künstlerischen Praxis findet. Beim Tagessehen sehen wir aufgrund der Deutlichkeit der Wahrnehmung von Farben und Formen alles am besten, doch dafür eng begrenzt wie durch ein feines Röhrchen in einem winzigen Fleck, dem so genannten gelben Fleck. Beim nächtlichen Sehen (Dämmerungssehen - I.W.) umfasst das Auge die gesamte Breite von Rand zu Rand, gibt aber weder die Schärfe noch die klare Farbigkeit des zentralen Flecks, dafür aber jede Bewegung wieder. Um die weitere Darlegung verständlich zu machen, führen wir einige dafür notwendige Erkenntnisse aus der Physiologie des Sehens an. Der eigentliche Wahrnehmungsapparat unserer Augen besteht aus einem System brechender Medien (Augenlinse, Hornhaut, Glaskörper) und der inneren Haut des Augapfels, der Netzhaut. Entsprechend ihrer Bestimmung besteht die Netzhaut aus Nervenfasern, Zellen und den eigentlichen licht- und farbwahrnehmenden Gebilden
819 M. V. Matjušin, Zakonomernost’ izmenjaemosti cvetovych sočetanij, in: ders., Zakonomernost’ izmenjaemosti cvetovych sočetanij. Spravočnik po cvetu, Moskau, Leningrad 1932, S. 11–24.
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– den Stäbchen und Zapfen. Ihre mikroanatomischen Unterschiede zwingen viele Forscher, ihnen auch funktionale Unterschiede zuzuschreiben: die Stäbchen sind ein lichtwahrnehmendes Organ, das durch die Strahlen unterschiedlicher Wellenlänge in gleichem Maß erregt wird und zur Unterscheidung von Licht und Dunkelheit dient; die Zapfen aber, die ein Organ der Farbwahrnehmung sind, geraten durch Strahlen unterschiedlicher Wellenlänge in unterschiedlichem Maß in Erregung und dienen dem Erkennen und Unterscheiden der Farben. Auf der Netzhautrückwand nahe der Stelle der Einmündung des Sehnervs, dem so genannten gelben Fleck, ist ein großes Übergewicht der Zapfen über die Stäbchen zu beobachten. In der zentralen Grube des gelben Flecks, der Stelle des genauesten Sehvermögens, bedecken die Zapfen den Boden durchgängig. An der Peripherie der Netzhaut werden die Zapfen weniger und herrschen die Stäbchen vor. Auf Grundlage dieser Verteilung von Zapfen und Stäbchen entwickelte Kries die Theorie des doppelten Sehens: des zentralen – direkten oder Tagessehens und des peripheren – indirekten oder Dämmerungssehens. Das erste funktioniert ausschließlich bei Tageslicht und hauptsächlich durch den gelben Fleck. Das zweite wird durch die peripheren Teile der Netzhaut bei schwachem Licht realisiert, wenn die Unterscheidung der Farben infolge der geringen Empfindlichkeit der Zapfen verschwindet und nur die Wahrnehmung von Helligkeit und Dunkelheit bleibt. Meine Beobachtungen zeigten deutlich, dass wir in allen Fällen des Sehens nur einen Teil unserer Sehmöglichkeiten nutzen. Am Tag schauen wir immer mit dem gelben Fleck, der beim Auftreffen auf die Netzhaut das genaueste Abbild gibt, jedoch zwingt, mit einem sehr kleinen Sehwinkel zu schauen. Doch das Sehen ausschließlich über den gelben Fleck ist nicht ausreichend. Es ist eine Verstärkung der Empfindlichkeit der Peripherie der Netzhaut erforderlich, und es ist nicht unmöglich, dass die Anzahl der Zapfen am Rand der Netzhaut wachsen kann, was die Farbempfindlichkeit der Peripherie der Netzhaut erhöht. Die historische Entwicklung beider Möglichkeiten verlief, ausgehend von der Notwendigkeit deutlich, wenngleich nur kleinteilig zu sehen, immer zugunsten des zentralen Sehens. Das Sehen in schmalen Sehstrahlen ist einer genauen Anschauung nur sehr kleiner Ausschnitte unseres Sehfeldes angemessen, doch es geht auf Kosten der Verbindung der Teile des Gesehenen. Um ein Verständnis von den Zusammenhängen der Dinge in ihren Wechselwirkungen zur Umgebung zu erhalten, ist es notwendig, nicht nur den gelben Fleck, sondern auch die peripheren Teile der Netzhaut heranzuziehen. Das ist besonders für die Wahrnehmung von Bewegung wichtig. Es ist verständlich, dass der Anspruch einer schnellen Orientierung unter sich schnell bewegenden Gegenständen die Ausnutzung dieser zweiten Methode, d. h. des peripheren Sehens, unbedingt erfordert. Hier ist es interessant, auf den Zusammenhang mit der eben erwähnten Eigenschaft der Peripherie der Netzhaut – der Besonderheit der Angliederung von Stäbchen und Zapfen an die Nervenzellen – hinzuweisen. Die Stäbchen treten mit den Zellen des
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gesamten Bündels (ungefähr 130) in Kontakt, die Zapfen vereinigen sich mit den Dendridzellen.820 Nur indem wir den Sehapparat bewusst in zwei handelnde Funktionen teilen und diese auch bewusst verbinden, beherrschen wir die uns von der Natur gegebenen Möglichkeiten in vollem Maße. Diesen Akt der bewussten Verfügung über zentrales und peripheres Sehen bei gleichzeitiger Anspannung des Sehens nennen wir „erweitertes Sehen“. Das erweiterte Sehen gibt in der Wahrnehmung ein Verständnis von den Zusammenhängen der Dinge und ihrer Beziehung zur Umgebung. Das erweiterte Sehen ermöglicht die vollkommene Wahrnehmung eines beliebigen sich bewegenden Gegenstandes, weil kraft der physiologischen Besonderheiten des Auges gerade die Peripherie der Netzhaut sensibler für die Wahrnehmung der Bewegung ist. Zur Erläuterung des Begriffs „erweitertes Sehen“ führen wir ein konkretes Beispiel an: Ein großes Zimmer mit dem zentralen Fleck einer Balkontür, die an den Seiten zwei Fenster hat. Die zentrale Grube des gelben Flecks richtet sich auf den hellen Fleck der Balkontür in der Mitte des Zimmers; wobei wir die zwei Fenster seitlich der Tür überhaupt nicht wahrnehmen. Stellen wir uns nun vor, dass wir diese beiden Lichtpunkte in unser Blickfeld hinein nehmen und bestrebt sind, ihre Form, Farbe u. a. so aufmerksam und genau wie möglich auszumachen; jedoch ohne vom zentralen Blick auf die Balkontür abzuweichen. Wir bemerken sofort, dass diese Einbeziehung des peripheren Sehens zu einer Veränderung unserer Raumvorstellungen von dem Gesehenen führt: Detailliertes verschwindet infolge der Aufmerksamkeit auf das Ganze, doch dafür erhalten wir eine erheblich vollständigere Vorstellung über die Wechselwirkungen der Dinge. Der allererste Eindruck wird durch die Wahrnehmung der beiden Lichtquellen, die von den Fenstern zu den Seiten der Balkonöffnung gehen, gewissermaßen verstärkt. Die Wand bleibt nur bei gleichzeitiger Betrachtung des inneren und äußeren Raumes, d. h. nur beim erweiterten Sehen, als Abtrennung direkt sichtbar. Diese räumlichen Zusammenhänge treten in einer charakteristischen Verformung der Gegenstände hervor. Daher kann die Deformation, die Farbe und Form beim erweiterten Sehen erfahren, dem Ausdruck der konkreten Raumzusammenhänge der Dinge dienen, durch die wir auch ein sichtbares Abbild unserer Ansichten und Vorstellungen geben müssen. Im Ergebnis langer Forschungsarbeit wurde eindeutig klar, dass die Peripherie der Netzhaut die Farbe auch in ihren mittleren Teilen ausreichend klar wahrnehmen kann.
820 Fußnote im Originaltext: Die Stäbchen schätzt man insgesamt auf 130 Millionen, die Zapfen auf bis zu 7 Millionen.
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Anders ist es mit den äußersten Rändern der Netzhaut, sie vermindern die Farbigkeit zweifellos; doch auch die Empfindlichkeitsgrenzen der Netzhaut können durch Training bedeutend erweitert werden.821 Alle Versuche der Farbformuntersuchungen wurden mit den zwei unterschiedlichen Arten des Sehens – dem zentralen und dem erweiterten Sehen durchgeführt. Die Erforschung der Veränderung von Farbe und Form selbst wurde in Abhängigkeit von der Anordnung und den Beobachtungsbedingungen wie folgt durchgeführt: Zunächst wurde die Beobachtung an einem Form-Element durchgeführt, und zwar unter Anpassung an den gelben Fleck, dann wurde in die Beobachtung die Umgebung (Bildschirm) eingeführt und der Zusammenhang dieser mit der beobachteten Form bestimmt. Danach wurden bereits zwei in der Horizontalen oder der Vertikalen angeordnete Formen beobachtet. Es gebot sich aufmerksam auf die Farb- und Formveränderungen beider Formen zugleich zu achten, während das zentrale Sehen vollkommen unbeweglich zwischen beiden Formen blieb. Diese Anordnung ergab auch eine maximale Wahrnehmung der Farbigkeit. Im dritten Fall galt es, nach wie vor auf den Mittelpunkt des Bildschirms zwischen die zwei Formen zu blicken und die weiteren Veränderungen der beiden schon maximal auseinander gerückten Formen zu beobachten. Bei dieser Modellanordnung treffen die Farben schon gänzlich auf die peripheren Teile der Netzhaut. Dabei verblasste die Farbe tatsächlich und wurde bedeutend wärmer, doch blieb die Ergänzungsfarbe der Umgebung dagegen ausreichend intensiv.822 Eine sehr wichtige Methode zur Überprüfung der Versuchsergebnisse zu den Veränderungen der Farbe in Abhängigkeit von diesen oder jenen Bedingungen ist die Methode der sichtbaren Nachfolgebilder im plötzlich geschlossenen Augen nach der Beobachtung der Farbform. Zur Erforschung der Farbform kommend, gehen wir in der Frage der Ergänzungsfarbe von den folgenden physiologischen Gegebenheiten aus. Ergänzungsfarben, das sind solche Farben, die bei der optischen Mischung die Farbe Weiß ergeben.823 821 Fußnote im Originaltext: Es ist bekannt, dass die Zapfen, die auf dem Boden der zentralen Vertiefung angesiedelt sind, auch über die gesamte Peripherie der Netzhaut verstreut sind. Ich behaupte, dass es eine Geschichte der Entwicklung des Auges gibt und die Zapfen später aufgetaucht sind. Zur Bestätigung des Gesagten kann man auf Beispiele aus der Tierphysiologie verweisen, die von ähnlichen Fällen des Erwerbs notwendiger Eigenschaften des Auges weiß: Falke, Möwe, Bergfink, Gans, Ente, die einen besonders scharfen Blick benötigen, sind mit zwei gelben Flecken in jedem Auge ausgestattet; Tiere, die andere überfallen, und Tiere, die sich durch Flucht schützen müssen, sind mit verschiedenen Sehwinkeln ausgestattet. So beträgt die Abweichung der Sehachsen beim Löwen 10°, während sie beim Hasen 170° ausmacht. 822 Fußnote im Originaltext: Bei diesen Laborbeobachtungen wurden Bleistift- oder Aquarellzeichnungen mit entsprechenden Form- und Worterläuterungen und genauer Aufzeichnung der Versuchsbedindungen gemacht. 823 Fußnote im Originaltext: Solche Paare von Ergänzungsfarben bilden z. B. die Farben Rot und Blaugrün, Orange und Hellblau, Gelb und Dunkelblau, Violett und Gelbgrün u. a. m.
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Werden die Augen nach einem langen Lichtreiz schnell geschlossen oder wird die Einwirkung des Lichts unterbrochen, so sind im Auge Lichterscheinungen zu beobachten, die durch die vorausgegangene Beleuchtung hervorgerufen wurden. Ihre Stärke und Dauer hängt von der Intensität der vorausgegangenen Erregung ab. Solche Wahrnehmungen werden positive Nachfolgebilder genannt. Wird nachfolgend auf die erste Beleuchtung irgendeines Punktes der Netzhaut die gesamte Netzhaut einem neuen, noch stärkeren Reiz ausgesetzt, so sehen wir auf der beleuchteten Oberfläche ein negativ wahrnehmbares Nachfolgebild, in dem alles, was zuvor hell war, dunkel und umgekehrt erscheint. Die Erscheinung des sichtbaren Nachfolgebildes erstreckt sich auch auf die Farbwahrnehmung. Lasareff hat eine Theorie der Erscheinungen von Nachfolgebildern unter dem Gesichtpunkt der allgemeinen Theorie der Ionenerregung entwickelt. Eine wahrnehmbare Erregung, erklärt Lasareff, ist wie der Prozess der Ionisation des Lichts und der farbwahrnehmenden Substanz der Stäbchen und Zapfen, infolgedessen bei ausreichender Ionenkonzentration eine physiologische Licht- und Farberregung entsteht. Die durch das Licht in Ionen zerlegte farbwahrnehmende Substanz diffundiert nach Abbruch der Lichteinwirkung nur allmählich in die Kapillaren und wird im Blut davongetragen, teilweise zerfällt sie jedoch an Ort und Stelle. Im Laufe der Gesamtzerfallszeit nach Abbruch der Lichteinwirkung erhalten wir bis zum Augenblick des völligen Verschwindens der erregten Gegenstände aus der Netzhaut Sehwahrnehmungen. Dieser Prozess bringt das positive Nachfolgebild hervor. Tritt unmittelbar auf die erste Beleuchtung ein neuer Reiz auf, so setzt auf der Netzhaut der Zerfall der zurückgebliebenen, noch unzerlegten lichtwahrnehmenden Substanz ein. Der Umfang des Zerfalls der Substanzen bei erster und zweiter Beleuchtung hängt von der Wechselwirkung der Helligkeiten der beiden ab. Bei höherer Konzentration des Zersetzten bei erstmaliger Beleuchtung der Substanzen wird das Nachfolgebild deutlich positiv, bei umgekehrtem Verhältnis – negativ. Bei gleichen Helligkeiten entfällt das Nachfolgebild gänzlich. Die Theorie von Lasareff gestattet es, vielen Einzelgesetzmäßigkeiten der Sehwahrnehmung eine quantitative Formulierung zu geben. Es muss unbedingt hinzugefügt werden, dass Lasareff die Theorie der Farbwahrnehmung von Young-Helmholtz zur Grundlage seiner Überlegungen macht. Helmholtz setzt die Existenz von drei Sorten farbwahrnehmender Elemente in unserem Sehapparat voraus: die rotwahrnehmenden werden überwiegend durch rote Strahlen erregt, die grünen durch grüne, die violetten durch violette. Die Wahrnehmung der übrigen Farben und Farbtöne erhält man durch die gleichzeitige Erregung zweier oder aller drei Elemente in verschiedener Weise. Aber auch beim Auftreten eines beliebigen Reizes (außer eines extrem roten und extrem violetten) werden in geringem Umfang, aber in unterschiedlichem Maße alle drei Elemente erregt. Bei gleichem Erregungszustand aller drei ergibt sich die Empfindung von weißem Licht. Die Ergänzungsfarben ergeben gleiche Summen der Erregungen aller drei Elemente.
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Gestützt auf die Grundlagen des erweiterten Sehens und die Erscheinung der Ergänzungsfarben führten wir eine Reihe von Versuchen durch, die uns die Möglichkeit gaben, über die Gesetzmäßigkeiten der Farbveränderung, über die Wirkung der farbigen Umgebung auf die Farbe, die Wechselwirkung von Farbe und Form, die Rolle der Bewegung bei Farbveränderung u. a. m. zu sprechen. Es hat sich gezeigt, dass die Erscheinung der Farbveränderung in der Zeit, untersucht im Labor unter den Bedingungen der Isolation dieser Erscheinung, eine Reihe deutlicher Gesetzmäßigkeiten offenbart. Dies gibt die Möglichkeit, vieles bisher Unverständliche in verschiedenen Fällen der Praxis zu erklären. So erklärt das Gesetz der Veränderung der Farbkombination – das Verschwinden oder die Verringerung geringer Unterschiede unter Einwirkung eines starken Kontrasts – z. B. die Tatsache der Verdichtung eines einfarbigen Volumens in stark kontrastierender Umgebung u. a. m. Die Veränderungsperioden der Farbe in Zeiteinheiten zu ermitteln ist außerordentlich kompliziert. Die Schwankungen der Dauer jeder Periode hängen von vielen Ursachen ab: vom Farbton selbst, der Stärke der Beleuchtung, den Besonderheiten und dem Zustand des Beobachters u. a. Deshalb werden wir nur über die Abfolge einzelner Veränderungsperioden sprechen und ihre Dauer nicht in Zeiteinheiten festhalten. Wird ein roter Kreis vor einem hellgrauen Schirm, d. h. in neutraler Umgebung, beobachtet, so sehen wir auf dem Schirm eine helle, hellblau-grüne Farbe, die an den Rändern des Kreises aufflammt. Doch man braucht nur die Versuchsbedingungen zu verändern, indem man den zentralen Punkt des Kreises, der dafür speziell gekennzeichnet sein kann, sorgfältig fixiert, um das akkomodierende Sehen für keine Sekunde von ihm abzuwenden, so beginnt die kräftig rote Farbe in einigen Sekunden zu verblassen und immer stärker von einer braunen Schicht übertönt zu werden, so dass nach Ablauf einer Minute nicht nur der Kreis, sondern auch der gesamte Schirm insgesamt einen dunkelbraunen Fleck bilden. Das geschah aufgrund der sorgfältigen Fixierung des Punktes im Prozess des Sehens. Die Hellblau-GrünErgänzung, die das Rot so schön unterstützt hatte, konnte nicht erscheinen, weil sie mit beständiger Genauigkeit auf das Rot gelegt wurde, und sie dieses, sich selbst und die Umgebung löschte. Um eine Vorstellung über den stattfindenden Kampf zu erhalten, kann man bewusst eine Verschiebung der Augen weg vom fixierten Punkt vornehmen. Dann brechen anstelle des allgemeinen großen schmutzigbraunen Flecks auf dem belebten hellen Schirm sofort zwei helle Flecke auf: der eine glänzend rot, der andere durchsichtig hellblau-grün. Man kann die Verschiebung so vornehmen, dass in der Mitte zwischen diesen hellen Farben eine Spur des Kampfes des Roten mit dem Grünen als Schmutzigbraun bleibt, anhand dessen man sich leicht davon überzeugen kann, wie die Ergänzungsfarbe wirkt, wenn sie auf die beobachtete Farbe aufgelegt wird. Dieselben Stufen der Farbveränderungen in der Zeit können auch bei der Veränderung des Reflexes der Ergänzung im Auge festgestellt werden. I. Stufe: ein neutraler Grund färbt sich in die wenig klar ausgeprägte Ergänzungsfarbe.
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II. Stufe: die beobachtete Farbe umgibt sich mit einem scharfen klaren Rand der Ergänzungsfarbe; in der Umgebung erscheint eine dritte Farbe. III. Stufe: es tritt eine Veränderung ein – das Erlöschen der Farbe selbst unter dem Einfluss des auf sie gelegten, sie ergänzenden Farbreflexes, in der Umgebung finden neue Veränderungen statt. Wir stellten fest, dass die Ergänzungen bei verschiedenen Farben nicht einheitlich schnell auftreten. Die der Erscheinungszeit nach schnellste Farbe ist die Ergänzungsfarbe zu Hellgelb – Blauviolett. Zeitlich folgt dieser Grün, das als Ergänzung zufrieden stellend schnell Rosarot zeigt, darauf folgt Orange, das ergänzend Hellblau, und Blau, das ergänzend Hellgelb ergibt. Rot zeigt im Vergleich zu den angeführten Farben mit deutlicher Verzögerung Hellblau-Grün als Ergänzung. Besonders verzögert sich die Ergänzungsfarbe zu Violett, das Grüngelb ergibt u. a. m. Nicht weniger interessante Ergebnisse ergaben die Versuche an der Farbform. Es zeigte sich, dass die Farbe formbildende Eigenschaften hat. Bevor an die Frage der Wechselwirkung von Farbe und Form herangegangen wird, ist es unbedingt notwendig, wenigstens mit einigen Worten auf die Erscheinung der Ergänzungsform einzugehen, auf die wir in der Laborarbeit an der Veränderlichkeit der Form in Abhängigkeit von unterschiedlichen Beobachtungsbedingungen gestoßen sind. Bei aufmerksamer Beobachtung der Form an Modellen einfacher Formelemente bemerkten wir geringe, kaum wahrnehmbare Verschiebungen (seitlich, nach oben, nach unten, nach rechts und nach links), was den psychologischen Eindruck einer Unruhe der Form hervorrief. Als wir einen Zusammenhang der beobachteten Form in ihrer Beziehung zur Umgebung herstellten, beobachteten wir eine vollständige Bedeckung der Form mit ihrer Ergänzungsform; z. B. eine gerade Linie wird durch feine Kurven an den Seiten überdeckt, ein beobachtetes Quadrat zeigt zum Zentrum hin deutlich gewölbte Seiten, umgekehrt weist der Kreis Ränder und Ecken auf. Diese Erscheinung bezeichne ich als das Gesetz der Ergänzungsform. Das Studium der Formveränderung in der Zeit hat gezeigt, dass die Schwankung, die durch die Ergänzungsform hervorgerufen wird, mehr oder weniger zu einem stabilen Gleichgewichtszustand von Grund- und Ergänzungsform übergeht, wo die Grundform die Gesamtrichtungen bestimmt. Doch ihre Klarheit wird durch Schwankungen in Richtung der Ergänzungsform gestört, z. B. Knoten anstelle der Stetigkeit einer krummen Linie oder Wellen anstelle einer Geraden. Die Verbindung einer geraden und einer krummen Form, z. B. eines Rechtecks und eines Halbkreises ist deshalb stabil und effektiv, weil diese Kombination über die Verschiebung die Befreiung der Form von sie verzerrenden Ergänzungen fördert. Die Verschiebung der Ergänzungsform befreit nicht nur die Form, sondern fördert auch die Festigung der benachbarten Form, indem sie deren Spezifik unterstützt. Bei der Beobachtung der Form in neutraler Umgebung kann man beim erweiterten Sehen eine Verschiebung der Ergänzungsform beobachten. Zum Beispiel befreit sich das Quadrat von der verzerrenden Krümmung, wenn um oder im Inneren des Quadrates ein Kreis erscheint. Die Deformation der Formen unter dem Einfluss der
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Ergänzungsform spiegelt den Zusammenhang zwischen den Formen und die Beziehung der Form zur Räumlichkeit. Die Erscheinung der Ergänzungsform deckt das Wesen des Formkontrastes auf. Die Kenntnis von der Ergänzungsform ist ebenso notwendig wie das Wissen über die Ergänzungsfarbe, um mit Sicherheit Stabilität oder Dynamik bei der Zusammenstellung von Formen zu erreichen. Ausgehend von der Vermutung, dass der Kreis für die Farbe eine neutrale Form ist, beobachteten wir die Farbe an Kreismodellen, die in allen Spektralfarben gefärbt waren. Es stellte sich heraus, dass sich verschieden gefärbte Kreise merklich und unterschiedlich deformieren und von der Ursprungsform entfernen. So beginnt sich der rote Kreis in der Horizontalen zusammenzuziehen als ob er seitlich anschwillt, der orange behält die ruhige Form des Kreises, schwillt schwächer als der rote an; der gelbe dehnt sich in der Vertikalen in ein Oval, als ob er die Leuchtkraft um sich herum erhöht, der grüne verengt sich etwas, er zeigt Ränder; der grünblaue verengt sich ebenfalls, er zeigt eine achteckige Form, der hellblaue – eine sechseckige, der blaue wird zum Rhombus, als ob er seine strahlen in die Tiefe zum Zentrum hin einsaugt; der violette wird zum Vieleck, als ob er sich er ungleichmäßig wölbt usw. Die allgemeine Schlussfolgerung kann folgendermaßen formuliert werden: der warme Teil des Spektrums (von Rot bis Gelb) tendiert zu breiten runden Formen, der kalte Teil (von Gelbgrün bis Violett) beginnt sich durch Geraden scharf einzugrenzen. Erhalten z. B. warme Farben die Stabilität der Kurve des Kreises aufrecht, so neigen kalte zu Ecken und zu Geraden von Kanten, und deshalb stören sie die Stabilität der Kurve und bilden mehr oder weniger scharfe Ecken aus, wenn sie auf eine Kreisform gelangen. Auf der Grundlage der Deformation, der der Kreis unter dem Einfluss der Farbe ausgesetzt ist, kann man auch eine Neigung der Farbe in vertikaler und horizontaler Richtung bemerken. So deformiert sich die rote Farbe in der Horizontalen in ein breites Oval, fügt sich Orange in die Form eines voll ausgebildeten Kreises ein, dehnt sich die Gelb in der Vertikalen ins Oval, während Grün, Hellblau, Blau und Violett, indem sie sich immer stärker scharf abgrenzen, umgekehrt Ausdehnung, Rundung und Verflachung wiederholen. Da wir die Ergebnisse der Forschung zur Farbform präzisieren und überprüfen wollten, nahmen wir eine Reihe von Kontrollbeobachtungen an Farbflächen und Farbvolumina vor. Zum Beispiel wurde eine gleichzeitige Beobachtung an zwei Volumina vorgenommen, von denen eines nicht entsprechend der angenommenen formbildenden Fähigkeit der vorgegebenen Farbe angestrichen war, das andere aber – in der entsprechenden Farbe z. B. zwei einander entsprechende Parallelopipede, eines rot, eines blau oder zwei Pyramiden – gelb und violett. Die Beobachtung bestätigte eindeutig die Versuchsergebnisse von farbigen Kreisen. So verlor das rote Parallelopiped die Schärfe der Ecken fast vollkommen, während das blaue, obwohl sich einige Male in der Vertikalen brechend, seine scharfwinklige Form bewahrte. So schwillt auch die gelbe Pyramide an, wobei sie die Schärfe der Winkel verliert, während die violette die Schärfe der ihr eigenen Form vollkommen behält, lediglich etwas schmaler werdend.
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Dieser Versuch wurde ein zweites Mal durch die Beobachtung der Ergänzung bei geschlossenen Augen geprüft. Diese Überprüfung zeigte nochmals anschaulich die große Zweckmäßigkeit der Anwendung dieser Methode. Im ersten Moment bestätigte der ergänzende Farbfleck im Auge die charakteristische Formdeformation des beobachtenden Volumens. Zum Beispiel bestätigte die Ergänzungsform zum roten Parallelopiped die spezifische Deformation des Volumens unter Einfluss der roten Farbe, die sich in der Rundung und im Oval des Parallelopipeds zeigte: der grüne Fleck im Auge hatte eine deutlich runde Form. Doch so wie die Krümmung der Form der konstituierenden Eigenschaft von Grün widerspricht, vollzieht sich eine neue Deformation unter dem Einfluss der Ergänzungsfarbe, und der grüne Fleck verändert sich wieder. Solche Veränderungen, zuerst die Deformation des beobachteten Volumens widerspiegelnd, sich dann unter dem Einfluss der ergänzenden Farbe selbst verändernd, wurden jedes Mal beobachtet. Es ist sehr interessant, die Entwicklung der sichtbaren Wahrnehmungen mit der hörbaren zu vergleichen. Wurde es dem Auge nur im Ergebnis eines langen Trainings möglich, die Spektralfarben zu unterscheiden, so waren dem Menschen auch im Klang sehr hohe und tiefe Töne, an die uns erst die moderne Technik gewöhnte, vollkommen unzugänglich. Im Gesang der Kaffer können wir bis heute den rhythmischen Aufbau in 2/3 Tönen hören. Von den alten Ägyptern wissen wir über vier Töne, die von den Griechen zur Bildung des Vierklangs genommen wurden. Der zweite Vierklang unserer Tonleiter blieb wie der kalte Teil des Spektrums lange unverständlich und unbenutzt. Im Labor wurde die Überprüfung der Wechselwirkung von Farbe und Ton durchgeführt. Die Prüfung des Einflusses der Farbe auf den Ton, vorgenommen an blauer und roter Farbe, zeigte, dass Rot den Ton vermindert, Blau hingegen denselben Ton erhöht. Diese Tatsachen befinden sich in voller Übereinstimmung mit einer Reihe von Versuchen, die zur Untersuchung des Einflusses des Tones auf die Farbe durchgeführt wurden. Diese Versuche wurden mit den vier Grundfarben vorgenommen: Rot, Gelb, Grün und Blau. Die Versuche wurden zuerst in Bezug auf Geräusche vorgenommen, die nur den Gesamteindruck eines hohen und tiefen Klangs vermittelten und später in Bezug auf die vier Monochorde: Kontrabass, Violoncello, Alt und Violine. Bei allen Versuchen bestätigte sich vor allem die Tatsache des Einflusses des Tones auf die Wahrnehmung der Farbe. Dabei ist sehr interessant, dass eine starke Farbe oder ein starker Ton schwächere Begleiter übertönt, d h. eine starke farbige Erregung begünstigt die Unterscheidung eines schwächeren Klanges nicht; wenn man die Augen schließt, kann man Töne heraushören, die einem bei geöffneten Augen entgehen. Sind Farbe und Ton umgekehrt ausreichend stark, aktiviert der Klang die optische Wahrnehmung. Doch dabei stellte sich die charakteristische Eigenschaft tiefer grober Geräusche heraus, die Farbe zu verdichten und zu verdunkeln, während hohe scharfe Geräusche die Farbe durchsichtiger und heller machen. Dieselbe Tendenz ergab im Grunde
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genommen auch die Prüfung der Monochorde, die die Veränderlichkeit in Bezug auf den Farbton lediglich präzisierten. Erkennbar war ein Bestreben zur Rotfärbung bei der Verdichtung und Verdunklung von tiefen Klängen, während hohe Töne eine Entspannung der Farbe bewirkten, eine Tendenz zum Kälterwerden – zur Blaufärbung – hatten. An dieser Stelle ist es interessant, die von Lasareff durchgeführten Versuche zur Wechselwirkung von Ton und Farbe anzumerken. Lasareff versuchte die Möglichkeit dieser Wechselwirkung unter dem Gesichtspunkt der Ionentheorie der Erregung zu begründen. Dafür war es für ihn vor allem wichtig, Verbindungen zwischen den Seh- und Hörnerven zu finden, da die Myelitishaut der Nerven, die für die Ionen undurchdringbar ist, und die Energieübertragung von einem Nerv auf den anderen nur dort stattfinden kann, wo diese Wege aufeinander treffen. Die Vierhügel sind ein solcher Punkt, und die Tatsache des Zusammenwirkens konnte damit erläutert werden. Lasareff führte die Versuche zur Bestimmung der Einwirkung der Farbe auf den Ton hauptsächlich in Bezug auf die Kraft durch, was man einfach berechnen und messen kann. Die Bedeutung der Farbigkeit des Strahles versucht Lasareff auf die subjektive Helligkeit des Farbstrahles zurückzuführen. Das ist eine Vereinfachung, die nicht als ein Widerspruch in Bezug auf unsere Versuche gelten kann. Eine charakteristische Besonderheit der Schlussfolgerungen, zu denen uns unsere Versuche geführt haben, besteht darin, dass anstelle der statisch isolierten Wahrnehmung einer bestimmten Höhe subjektiv empfundener Klangfarbe zum Ton, sich relative Farbkontraste abzeichnen, wobei als Grundlage nicht die Oktave angenommen wird, sondern der gesamte Stimmumfang des Klanges, in dem die Unterschiede innerhalb der Oktave sekundär sind.824 Noch einige Worte zum Studium der Farbe in der Bewegung. Es hat sich gezeigt, dass ein heller sich bewegender Fleck, der in das erweiterte Sehen einbezogen wird, sich selbst heller darstellt und die Umgebung in der Farbigkeit steigert. Und umgekehrt, wechselt bei eben diesen Bedingungen der Bewegung die Methode der Betrachtung selbst, d. h. wird eng durch den gelben Fleck gesehen, indem alle Aufmerksamkeit auf den zentralen Punkt des sich bewegenden Flecks konzentriert und die Aufmerksamkeit nicht auf die Umgebung gerichtet wird, so beginnen dann auch der Fleck selbst und die Umgebung, in der er sich bewegt, genauso intensiv zu verlöschen. Die Schlussfolgerungen aus diesem Versuch ergeben folgende Sachverhalten: 1) Bei der Beobachtung der Farbe in der Bewegung durch die Methode des erweiterten Sehens erscheint die gesamte Farbigkeit heller. 2) Bei der Beobachtung der Farbe in der Bewegung durch die Methode des zentralen Sehens isoliert von der farbigen Umgebung, erscheint die Farbigkeit trüber.
824 Fußnote im Originaltext: Interessante Fakten zur Wechselwirkung von Farbe und Form in Bezug auf den Ton gibt Anschütz in seinem Buch „Die Erforschung des Farb-Tones“ (Leningrad 1927).
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Bei der Zusammenfassung des Gesamtergebnisses der durchgeführten Forschungsarbeit muss betont werden, dass die Erforschung zu Fragen der gesetzmäßigen Veränderung von Farbe und Form im Wahrnehmungsprozess an Modellen abstrakter Formen und Farbe durchgeführt wurde. So wie die physikalisch-physiologischen Erscheinungen müssen diese Erscheinungen bekannt sein und bei der Arbeit des Künstlers berücksichtigt werden. Zum Beispiel muss der Künstler unbedingt die Gesetze des Farbkontrastes in Abhängigkeit von der farbigen Umgebung oder das Gesetz der Wechselwirkung von Farbe und Form kennen. Es muss aber mit aller Deutlichkeit herausgestellt werden, dass das formale Studium abstrakter Formen und Farben nicht als Grundlage für die künstlerische Praxis dienen kann. Um an Aktualität zu gewinnen, muss die Forschungsarbeit zum Farb- und Formstudium im weiteren Verlauf so aufgebaut sein, dass sie ausgehend von den konkreten Aufgaben der künstlerischen Praxis Probleme der Farbanalyse auf der Grundlage einer soziologischen Analyse aufwirft und die Form nicht vom Inhalt des Kunstwerks trennt.
Abkürzungsverzeichnis CGAORL CGIA GIII GINChUK GLAWNAUKA INChUK KORN LGALI MALJARSTROI MChK NBA ACh NOT RGALI RO IRLI RO GPB RO GRM RO GTG RO GMISPb SORWED SWOMAS WChUTEIN WChUTEMAS
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Abbildungsnachweis Abb. 1: Kerava 2002, S. 42, Abb. 1 Abb. 2, 19; Tafeln 2b, 4b, 8: Staatliches Museum für Geschichte der Stadt St. Petersburg Abb. 3; Tafel 2a: Nationalmuseum Warschau Abb. 4, 11, 15, 20, 21, 24, 26, 30; Tafel 9: Klotz 1991, S. 111, Foto 9/ S. 116, Foto 17/ S. 222, Kat. 119/ S. 118, Foto 21/ S. 120, Foto 24/ S. 119, Foto 22/ S. 118, Foto 20/ S. 124, Foto 28/ S. 140, Kat. 11 Abb. 5: Povelikhina/Loshak/Bukreeva 2001, S. 32, Abb. 10 Abb. 6, 23; Tafeln 4c, 5a, 5b, 6, 12: Rheinisches Bildarchiv Köln Abb. 7; Tafel 4a: Staatliches Majakowski-Museum, Moskau Abb. 8: Russian Language Journal, Vol. 37, 1983, Nr. 126–127, S. 121 Abb. 9: A-Ya Archive, Rutgers University, New Jersey Abb. 10: Privatarchiv Abb. 12, 14, 16: Victory Over The Sun 2009, Vol. 1, S. 42, 23, 83; reproduced with kind permission of the publisher, Artists Bookworks Abb. 27: Nesmelov 2007, S. 30 Abb. 28; Tafel 10: Sammlung George Costakis, Museum für zeitgenössische Kunst Thessaloniki Abb. 29: Shadowa 1978, Abb. 277 Tafeln 1, 7: Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau Tafel 3: Lynn Gamwell, Exploring the Invisible: Art, Science and the Spiritual, Princeton 2002, S. 105, Abb. 91 Tafel 11a+b: Stedelijk Museum, Amsterdam
Personenregister Abhedananda, Swami 37 Allesch, Gustav Johannes von 166 Altenberg, Peter 93 Andrejew, Alexander 188 Annenkow, Juri 70 Annenski, Innokenti 14 Anschütz, Georg 184, 239 Archipenko, Alexander 88 Aristoteles 136 Assisi, Franz von 95 Astafjewa, Jelisaweta 191, 203 Avenarius, Richard 56 Bakst, Léon 76, 79, 90 Baller, Awgust 88 Baranow, Leonid 86 Baudelaire, Charles 13–15, 93 Baudouin de Courtenay, Sophia 86 Bely, Andrei 14, 90, 92, 105 Benjamin-Constant, Jean-Joseph 68 Benois, Alexander 70, 79 Berdjajew, Nikolai 90, 96 Bergson, Henri 23, 43–46, 49, 96, 112, 160, 220 Berthelot, Marcelin 96 Besperstowa, Wera 191 Bezold, Wilhelm von 165, 179 Bilibin, Iwan 70 Bloch, Ernst 222 Block, Alexander 14, 90, 92, 105 Böhme, Jakob 37, 95 Bogdanow, Alexander 56 Boguslawskaja, Xenja 113–114 Boldyrew, Dmitri 96 Bolschaja, A. 70 Bonnier, Gaston 96 Borissow-Mussatow, Wiktor 105 Braque, Georges 193 Brjussow, Waleri 14, 92 Brock, Bazon 218 Bruni, Lew 70 Bucke, Richard Maurice 37
Büchner, Ludwig 96 Bulgakow, Sergei 90 Burljuk, Dawid 11, 16–18, 34, 42, 53, 66, 79, 86, 88, 91–92 Burljuk, Nikolai 91-92 Burljuk, Wladimir 79, 91–92 Carpenter, Edward 37 Cassirer, Ernst 33 Cézanne, Paul 143 Chevreul, Michel Eugene 178 Chlebnikow, Alexander 18 Chlebnikow, Welimir 15–22, 42, 91–92, 102, 105–106, 108, 122, 125–126 Chmelewskaja, Jelena 191, 203, 207 Chomjakow, Alexei 27 Chopin, Frédéric 70 Ciągliński, Jan 7, 65, 67–76, 90, 112, 145 Costakis, George 132 Sammlung 61, 63, 135, 153, 169, 171, 199 Cuvier, Georges 96 Daniljewski, Nikolai 27 Darwin, Charles 23, 26–28, 57, 96 Darwinismus 26-27, 31, 149, 164, 223 David, Jacques-Louis 67 Debussy, Claude 105 Degas, Edgar 67 Delakroa, Walida 191, 203, 207 Delaunay, Robert 169, 195, 197 Delaunay, Sonja 197 Dobroljubow, Alexander 95 Dobushinski, Mstislaw 76, 90 Doesburg, Theo van 197 Dongen, Kees van 88 Dore, A. 70 Dosekin, Nikolai 65 Dostojewski, Fjodor 102 Douglas, Charlotte 11, 83 Dschuang Dsi [Zhuangzi] 37
Personenregister | 255
Edelfelt, Albert 99 El Greco 193 Ender, Boris 61, 102, 105, 140, 150, 153, 161, 163–164, 172, 175–178, 185, 187, 190–191, 198, 200–203, 213 Ender, Georgi 61, 140, 150, 152, 161, 163, 171, 172, 175, 176, 177, 178, 185, 187, 190–191, 198, 213 Ender, Marija 61, 140, 150, 152–153, 161, 163, 171–172, 175–176, 177, 178, 183, 185, 187, 190–191, 198– 204, 206, 211–214 Ender, Xenja 61, 140, 150, 152–153, 161, 163, 172, 175, 177-178, 185, 187, 190–191, 198–199, 213 Engelmeier, Pjotr 57 Exter, Alexandra 79 Falkowski, F. N. 79 Fechner, Gustav Theodor 23, 37, 77, 81, 145 Filonow, Pawel 7, 11–12, 22–25, 29–30, 34–35, 39, 47, 49, 52–53, 58–59, 61, 70, 73, 89, 115, 122, 124, 126–128, 130, 138, 140, 151, 157, 159, 211, 220, 222 Flammarion, Camille 96–97 Florenski, Pawel 90 Fritsche, Wladimir 212–214 Gallén-Kallela, Akseli 99 Gauguin, Paul 84 Gei, Alexander 92 Gerson, Wojciech 67 Giotto 142 Gleizes, Albert 134 Godowskoi, L. 70 Goethe, Johann Wolfgang von 136 Golzschmidt, Wladimir 18 Gontscharowa, Natalja 11, 39, 61, 92 Grieg, Edvard 99 Grinberg, Nikolai 61, 140, 150, 161, 163, 175–178, 185, 188, 190–191, 213 Groth, Paul 136 Groys, Boris 221 Gurdjieff, George 36
Guro, Jelena 7, 15, 17, 22, 42, 44, 61–62, 70, 75, 79, 86–111, 115–116, 118, 122, 132–133, 137, 169, 172, 208 Haeckel, Ernst 109, 115, 135–137 Häring, Hugo 186 Hammerskoi, Vilhelm 99 Hamsun, Knut 99 Hausenstein, Wilhelm 213 Heimann, Bodo 219 Helmholtz, Hermann von 23, 82–83, 145–147, 155, 165–167, 176–180, 184, 208, 227, 234 Henderson, Linda Dalrymple 134 Heraklit 112 Hering, Ewald 147, 165 Hinton, Charles Howard 36–37, 84, 134, 155–156 Hofman, E. 70 Holbein, Hans 193 Howard, Jeremy 105 Humboldt, Alexander von 96 Ibsen, Henrik 99 Isdebski, Wladimir 91 Issakow, Sergei 51 Iwanow, Alexander 64 Iwanow, Wjatscheslaw 90, 92–93 James, William 37, 39 Jerschow, I. 70 Jewrejnow, Nikolai 78–79 Jewsejew, Konstantin 85–86 Kalmakow, Nikolai 85 Kamenski, Wassili 15–18, 79, 91–92, 94–95, 105, 108 Kandinsky, Wassily 29–31, 34, 48, 53, 80–81, 166, 168, 197 Kant, Immanuel 36, 44, 176 Kapp, Ernst 57 Khardzhiev [Chardžiev], Nikolai 61, 119 Kluzis, Gustaw 222 Kompanejski, Boris 203 Kondratjew, Pawel 62 Korowin, Konstantin 65
256 | Personenregister
Kostrow, Nikolai 150, 191 Kowalenko, Pjotr 42, 84 Kowtun, Jewgeni 12, 61, 105, 108, 114, 150 Krawkow, Sergei 179–180 Kries, Johannes von 147–149, 155, 177, 231 Krohg, Christian 99 Kropotkin, Pjotr 26 Kruglow, Wladimir 67 Krutschonych, Alexei 7, 16–17, 42, 47, 50, 91–92, 105–106, 108, 122–125, 163, 168 Kulbin, Nikolai 7, 11–13, 17, 22–23, 29–31, 34–35, 39, 42, 44, 47–48, 52, 66, 76–89, 91–92, 95, 108, 110, 112, 116, 145, 166, 168, 171 Kupka, František 169 Lablé, Edmond 203 Lamarck, Jean-Baptiste 23, 26, 28, 32, 96 Lansere, Jewgeni 70 Laotse [Laozi] 37 Larionow, Michail 11–12, 17, 29, 35, 39, 42, 53, 61, 66, 88, 92, 124 Lasareff, Petr 177, 179–180, 185, 234, 239 Lavoisier, Antoine Laurent de 96 Le Bon, Gustave 96 Lebedejew, Iwan 113–114 Lehmann, Otto 96, 135–137 Leibnitz, Gottfried 44–46 Leman (Musikpädagoge) 123 Lenin 16 Lentulow, Aristach 79 Leonardo da Vinci 142 Lermontow, Michail 102, 202–203 Lewitan, Isaak 65 Liebig, Justus von 96 Liljefors, Bruno 99 Linné, Carl von 96 Lissitzky, El 33, 50, 222 Liszt, Frédéric 70 Liwschiz, Benedikt 17, 86, 91–92, 102, 105, 124 Lobatschewski, Nikolai 143 Lodder, Christina 11
Lodyshenski, Mitrofan 37, 50 Loeb, Jacques 96 Lomonossow, Michail 177 Losskij, Nikolai 44–46, 96, 160 Lyell, Charles 96 Mach, Ernst 56 Magaril, Jewgenija 191 Majakowski, Wladimir 15, 17–18, 61, 88, 91–93, 95, 102, 105, 108, 126, 168 Malewitsch, Kasimir 7, 11–12, 17, 22–24, 28–35, 39–40, 47, 49–50, 52–53, 66, 89, 91, 105–106, 122, 124, 126–127, 129–132, 138, 140, 150–151, 157, 159, 163, 168, 174–175, 186–187, 194, 202, 211, 222 Mallarmé, Stéphane 14 Manet, Edouard 67 Mansurow, Pawel 11–12, 40, 62, 157, 174 Marcadé, Jean-Claude 12, 110, 120 Marc, Franz 81 Marinetti, Filippo 79 Marquard, Odo 218 Matjuschin, Michail 7–8, 11–13, 17, 22– 23, 29–31, 33–35, 39–40, 42, 44, 47, 60–67, 70–76, 79, 86–92, 96, 99–100, 103, 105–188, 190-199, 202–225, 227–230 Matjuschin, Nikolai 67 Matjuschina, Anna 67 Matjuschina, Lydija 67 Matjuschina, Marija 67 Matjuschina, Olga 108 Matwej, Woldemar 13, 42, 47–48, 52–55, 58–59, 70, 75, 79, 86, 88-89 Mayer, Julius Robert 23 Mendelejew, Dmitri 23, 135 Metschnikow, Ilja 26 Metzinger, Jean 134 Meyer, Julius Lothar 23 Michel, André 213 Michelangelo 142 Mituritsch, Pjotr 11–12, 25, 33–34, 39– 40, 50–52, 62 Mjasojedew, S. 92 Moleschott, Jacob 96
Personenregister | 257
Monet, Claude 67, 193 Mordwinow, Graf 16–17 Müller, Johannes 82 Munch, Edvard 99 Munsell, Albert Henry 165 Nakov, Andrei 132 Nesmelow, Nikita 63 Nesterow, Michail 65 Newton, Isaac 165 Nietzsche, Friedrich 23, 37, 43, 96, 220 Nikolajew, Alexander 86 Nikolski, Alexander 199, 201 Nisen, Jekaterina 92, 134 Noshin, Nikolai 26 Novalis 93 Ostroumowa-Lebedewa, Anna 79 Ostwald, Wilhelm 23, 56, 109, 165, 168, 177, 207–208, 212–214 Ouspensky, Petr 35–39, 50, 79, 84, 96, 118, 124–126, 130, 133–134, 156–157, 160 Panofsky, Erwin 33 Parwis, T. 70 Pasternazki, O. I. 76 Pawlow, Iwan 179 Peter I. 14 Petrow-Wodkin, Kusma 33, 150 Picasso, Pablo 132–134, 144 Plateau, Joseph 180 Plato 116 Plechanow, Georgi 213 Plotin 37 Polenow, Wassili 65 Polenowa, Jelena 105 Powelichina, Alla 60, 108, 113, 116, 183 Pronin, Boris 78 Puni, Iwan 113, 122, 129 Punin, Nikolai 140, 151, 174, 192 Puschkin, Alexander 102 Rachmaninow, Sergei 70 Ramacharaka 37 Reger, Max 126
Rembrandt 142, 193 Remisow, Alexei 14, 90 Repin, Ilja 64–65 Riemann, Bernhard 143 Rilke, Rainer Maria 93 Rimbaud, Arthur 14 Rimski-Korsakow, Nikolai 172 Rood, Odgen 83, 165 Rosanowa, Olga 24, 34, 39–40, 47–48, 52, 55–56, 58, 88–89 Rosenblum, Robert 111 Roshdestwenski, Konstantin 201, 203 Rousseau, Jean-Jacques 18 Rubinstein, Sergei 179 Rubzow, Andrei 71 Rylow, Arkadi 69 Sabanejew, Leonid 166 Saint-Hilaire, Geoffroy 96 Samjolow, Alexander 147 Sand, George 90 Savart, Félix 123 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 93 Scheper, Hinnerk 200 Schkolnik, Jossif 79, 88, 124 Schlegel, August Wilhelm 93 Schleiden, Matthias 23 Schleifer, Saweli 88 Schmit-Ryshowa, Ludmila 85 Schönberg, Arnold 79, 87, 126 Schopenhauer, Arthur 23 Schtschukin, Sergei 133 Schumann, Robert 70 Schwann, Theodor 23 Segantini, Giovanni 67 Serow, Walentin 65, 68 Seryi, G. 187 Shewershejew, Lewki 88 Sibelius, Jean 99 Sinyagin, Nikolai 86 Skrjabin, Alexander 105, 166 Sologub, Fjodor 14, 90 Solowjew, Wladimir 37, 44 Spandikow, Eduard 79, 88 Spengler, Oswald 213 Stalin, Iossif 221
258 | Personenregister
Sterligow, Wladimir 62, 204 Strindberg, August 99 Suetin, Nikolai 202 Swanzewa, Jelisaweta 76, 90 Swedenborg, Emanuel 95 Sysojewa, Tatjana 207 Taine, Hippolyte 213 Tarabukin, Nikolai 54 Tatlin, Wladimir 11–12, 17, 23, 25, 30, 34, 39–40, 50–52, 56–58, 88–89, 126, 140, 162–163, 174, 188, 190, 222 Thaulow, Frits 99 Tillberg, Margareta 62 Timirjasew, Kliment 26 Tolstoi, Lew 16, 95–96 Trotzki, Leon 16 Trubetskoy, Sergei 44 Tschaikowski, Peter 70 Tschernyschewski, Nikolai 26 Tschistjakow, Michail 89 Tschistjakow, Pawel 68, 72 Turner, Joseph Mallord William 193
Unkowskaja, Alexandra 79, 166 Verhaeren, Emile 14–15, 93, 105 Verlaine, Paul 14–15 Vielé-Griffin, Francis 93, 105 Vivekananda, Swami 37, 50 Vogt, Carl 96 Wallace, Alfred Russel 96 Walter, Irina 191, 207 Waulina, Olga 191, 203, 207 Werenskiolds, Erik 99 Wlasjuk, S. 207 Wöhler, Friedrich 96 Worringer, Wilhelm 88 Wrubel, Michail 68 Wundt, Wilhelm 23, 37, 77, 82 Young, Thomas 177, 179, 234 Zorn, Anders 99 Zuloaga, Ignacio 133
studien zur Kunst
Band 21:
Ralph Gleis
anton romako (1832–1889) Eine Auswahl.
Band 11:
die entsteHung des modernen Historienbildes
Doris Helga Lehmann
Historienmalerei in Wien anselm FeuerbacH und Hans makart im spiegel zeitgenössiscHer kritik
2011. VIII, 527 S. 124 s/w- und 20 farb. Abb. auf 64 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-20107-4
Band 15:
Caroline Horch
»nacH dem bild des kaisers« Funktionen und bedeutungen des cappenberger barbarossakopFes
2012. Ca. 304 S. Ca. 49 s/w- und 8 farb. Abb. auf 32 Taf. 2 Faltkarten. Gb. ISBN 978-3-412-20346-7
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2011. 258 S. Mit 35 s/w-Abb. und 17 farb. Abb. auf 12 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-20730-4
leonardo da Vinci im orient
Band 24:
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Von der kunst abzudanken
2011. 368 S. 10 s/w-Abb. Mit CD-Rom-Beilage. Gb. ISBN 978-3-412-20526-3
die repräsentationsstrategien königin cHristinas Von scHWeden
Band 19:
2012. Ca. 312 S. Ca. 80 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20790-8
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der platz des publikums modelle Für kunstöFFentlicHkeit im 18. JaHrHundert
2011. 338 S. 62 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20555-3
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