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German Pages 922 [924] Year 2008
Jürgen Elvert / Jürgen Nielsen-Sikora (Hg.)
HMRG
Geschichte Franz Steiner Verlag
Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus
HMRG Beihefte 72
Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus
HMRG Historische Mitteilungen Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft herausgegeben von Jürgen Elvert und Michael Salewski Band 72
Jürgen Elvert / Jürgen Nielsen-Sikora (Hg.)
Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus
Franz Steiner Verlag 2008
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09282-1
Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2008 Franz Steiner Verlag, Stuttgart. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Printservice Decker & Bokor, München Printed in Germany
INHALTSVERZEICHNIS JÜRGEN ELVERT Einige einführende Überlegungen zum Projekt „Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus“...............................................................................................7 HANS-JOACHIM DAHMS Philosophie ..............................................................................................................19 HORST JUNGINGER Religionswissenschaft .............................................................................................52 EDGAR WEIß Erziehungswissenschaft...........................................................................................87 UTA HALLE Ur- und Frühgeschichte ...........................................................................................109 STEFAN ALTEKAMP Klassische Archäologie ...........................................................................................167 JOSEF WIESEHÖFER Alte Geschichte........................................................................................................210 JOACHIM LERCHENMÜLLER Neuere und Neueste Geschichte ..............................................................................223 HORST WALLRAFF Regional- und Landesgeschichte .............................................................................246 HANS-CHRISTIAN PETERSEN UND JAN KUSBER Osteuropäische Geschichte und Ostforschung ........................................................289 HELMUT W. SCHALLER Südosteuropaforschung ...........................................................................................312 WOLFGANG JACOBEIT UND LEONORE SCHOLZE-IRRLITZ „Volkskundliche Kulturwissenschaft“ ....................................................................337 HANS BÖHM (†) Geographie...............................................................................................................359 CARSTEN KLINGEMANN Soziologie ................................................................................................................390 WILHELM BLEEK Politische Wissenschaft(en).....................................................................................445
JOHANNES RENGER Altorientalistik .........................................................................................................469 LUDMILA HANISCH Arabistik, Semitistik und Islamwissenschaft...........................................................503 HARTMUT WALRAVENS Sinologie..................................................................................................................526 JÖRG RIECKE Deutsche Philologie/Sprachgermanistik..................................................................586 BIRGITTA ALMGREN Germanistik .............................................................................................................625 ZENO ACKERMANN Anglistik und Amerikanistik ...................................................................................647 JOHANNES KRAMER Romanistik...............................................................................................................669 JULIA ZERNACK Nordische Philologie ...............................................................................................691 HELMUT W. SCHALLER Slawische Philologie ...............................................................................................714 HELMUT W. SCHALLER Baltische Philologie.................................................................................................742 JOACHIM LERCHENMÜLLER Keltologie ................................................................................................................763 JÜRGEN COURT Sportwissenschaft ....................................................................................................781 MITCHELL G. ASH Psychologie..............................................................................................................823 ANDREAS ENGLHART Theaterwissenschaft.................................................................................................863 AUTOREN .................................................................................................................899 PERSONENREGISTER .................................................................................................901 ORTSREGISTER .........................................................................................................919
EINIGE EINFÜHRENDE ÜBERLEGUNGEN ZUM PROJEKT „KULTURWISSENSCHAFTEN UND NATIONALSOZIALISMUS“ JÜRGEN ELVERT Zum Wissenschaftsverständnis des Nationalsozialismus Im Jahre 1936 feierte die Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg ihren 550. Gründungstag. Einen der beiden Festvorträge hielt der „Hofpädagoge“ des Nationalsozialismus und Philosoph Ernst Krieck, der erst zwei Jahre zuvor an die Ruperto Carola berufen worden war. Er sprach über die „Objektivität der Wissenschaft als Problem“ und damit über eine für das NS-System und sein Selbstverständnis zentrale Frage. Denn auch wenn die „Selbst-Gleichschaltung“ der Hochschulen des Deutschen Reiches nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten auf den ersten Blick reibungslos vonstatten gegangen war,1 hatten die führenden Wissenschaftspolitiker der Zeit einsehen müssen, dass im universitären Alltagsbetrieb noch viele kleinere und größere Widerstände überwunden werden mussten, bevor die Wissenschaften im Sinne des Systems „in den Sattel gesetzt waren“, wie es Christoph Steding (1903-1938), jener vom Leiter des Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschlands Walter Frank so geschätzte NS-Nachwuchsintellektuelle, etwa zeitgleich forderte.2 Es ging also nicht nur um die nach außen versicherte und organisatorisch größtenteils bereits durchgeführte Anpassung der deutschen Universitäten an die ideologischen Vorstellungen der neuen politischen Führungsschicht, sondern, darüber weit hinausgreifend, um die Gleichschaltung des Denkens der deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler insgesamt. Insofern war es nur konsequent, wenn kein geringerer als der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Bernhard Rust den zweiten Festvortrag zum Heidelberger Universitätsjubiläum hielt und dabei über das Verhältnis von „Nationalsozialismus und Wissenschaft“ sprach.3 Aus der Sicht der Staats- und Parteiführung sei es durch die bewusste Zurückweisung der aufklärerischen Vorstellungen von der Wertfreiheit der Wissenschaft gekennzeichnet. An die Stelle der daraus resultierenden Standpunkt- und Richtungslosigkeit gedenke der Nationalsozialismus die Erkenntnis zu stellen, dass „der Mensch auch als Erkennender Glied einer natürlichen und geschichtlichen Ordnung bleibt und niemand eine Wirklichkeit zu erkennen vermag, zu der er nicht in einer inneren Bindung steht“.4 Die „Objektivität der Wissenschaften“ müsse, so Rust, „rechtverstanden“ sein, da sie die „zum Grundsatz erhobene Weltanschauungslosigkeit“ bekämpfen würde, die sich seiner Meinung nach in der 1
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Dazu: Bruno W. Reimann, Die „Selbst-Gleichschaltung“ der Universitäten 1933, in: Jörg Tröger (Hg.), Hochschule und Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt/Main, New York 1984, S. 38-64. HansJoachim Dahms hat am Beispiel der Universität Göttingen konkret gezeigt, wie zügig entsprechende Maßnahmen ergriffen und umgesetzt wurden, u. a. unter Berufung auf das am 7. April 1933 verkündete Berufsbeamtengesetz. Dazu: Hans-Joachim Dahms, Einleitung, in: Heinrich Becker, Hans-Joachim Dahms, Cornelia Wegeler, Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus, 2. Aufl. München 1998, S. 29-74, hier bes. S. 40 ff. Dazu: Walter Frank, Christoph Steding. Ein Denkmal, in: Christoph Steding, Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, 4. Aufl., Hamburg 1942, S. XXXVI. Es ist bezeichnend, dass Frank 1935 seinen akademischen Lehrer Oncken im „Völkischen Beobachter“ als „typischen Vertreter des ‚Selbstbetrugs von der wissenschaftlichen Objektivität’“ attackierte; dazu: Horst Möller, Nationalsozialistische Wissenschaftsideologie, in: Tröger, a.a.O., S. 65-74, hier S. 68. Das nationalsozialistische Deutschland und die Wissenschaft. Heidelberger Reden von Reichsminister Rust und Prof. Ernst Krieck (Schriften des Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschlands 6), Hamburg 1936. Ebd., S. 14 f, Zitat S. 15.
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Verwechselung von Objektivität mit einem vermeintlichen Allesverstehen zeige. Dadurch aber werde nur die Kraft der Entscheidung gelähmt und ein unwürdiger Zustand der Welt gerechtfertigt.5 Er wollte im Streit über Freiheit oder Gebundenheit keinen wirklichen Gegensatz sehen, weil Wissenschaft sowohl „frei in der Form ihrer Begegnung mit der Wirklichkeit“ als auch in der Substanz an etwas gebunden wäre, was nicht selbst Wissenschaft sei.6 Rust zufolge verlangte der Nationalsozialismus von der Wissenschaft nicht die Verherrlichung der Schöpfungen des nationalsozialistischen Staates, allerdings dürfe sie auch nicht zur Richterin über dessen Taten aufschwingen und nachträglich über diese urteilen. Der Nationalsozialismus wolle keine verordnete Wissenschaft, er dulde aber auch keine politisierenden Gelehrten.7 Die wahre Autonomie und Freiheit der Wissenschaft liege vielmehr darin, geistiges Organ der im Volke lebendigen Kräfte und seines geschichtlichen Schicksals zu sein und dies im Gehorsam gegenüber dem Gesetz der Wahrheit darzustellen.8 Damit forderte Bernhard Rust von seinen Zuhörern aller Relativierungsversuche zum Trotz letztlich unmissverständlich die Unterwerfung des wissenschaftlichen Denkens und Handelns unter die NS-Ideologie, nicht weniger also als die völlige Gleichschaltung der Wissenschaften und deren In-Dienst-Stellung in das neue System. Dass dazu auch die Beachtung des Rasseprinzips gehörte, lag in der Logik der Ideologie, schließlich habe die Wissenschaft „von der Entdeckung der Rasse […] den entscheidenden revolutionären Anstoß“ erhalten.9 Auf der Heidelberger Festveranstaltung schlug Krieck, der im Folgejahr zum Rektor der Ruperta Carola ernannt werden sollte, in dieselbe Kerbe wie sein Minister und lieferte zugleich eine Kostprobe dessen, was er unter dem „neuen“ wissenschaftlichen Denken und Argumentieren verstand. Dabei versuchte er sich an einer Analyse des Objektivitätsproblems im Sinne des nationalsozialistischen Wissenschaftsverständnisses und formulierte dazu fünf Thesen: Erstens sei die Humanitätsidee und die daraus abgeleitete Lehre von der reinen Menschheitsvernunft als Denkmodell des 18. Jahrhunderts für das nationalsozialistische Wissenschaftsverständnis nicht verpflichtend. Zweitens habe sich die seit Kant vorherrschende liberale Wissenschaftsideologie stets im Widerspruch zu den Wissenschaftserträgen befunden. Das beweise, dass keine Wissenschaft der reinen Vernunft entsprungen sei, sondern stets als im jeweiligen Zeitgeist verstanden werden müsse. Drittens könne die Wissenschaftslehre von der reinen Vernunft nur die Mathematik und die mathematisch beeinflussten Wissenschaftszweige akzeptieren. Viertens sei die seit Kant vorherrschende Wissenschaftsideologie auch in Deutschland stets auf Widerspruch gestoßen, z. B. bei Herder, Goethe und Nietzsche. Fünftens habe der Anspruch auf Objektivität und Neutralität eine quietistische Grundhaltung der Wissenschaft gefördert, die aus Sicht des Nationalsozialismus jedoch keineswegs verpflichtend sei – Wissenschaft müsse nicht nur unterscheiden, sondern entscheiden,10 schließlich, so sein Fazit, stehe die Wissenschaft an einem neuen Anfang und bedürfe einer angemessenen Rechtfertigung und Sinngebung.11 Wie sein Vorredner verlangte also auch Krieck nichts anderes als eine Unterwerfung der Wissenschaften unter die NS-Ideologie und die Anerkennung des nationalsozialistischen Totalitätsanspruchs durch sie. Dieser Anspruch war nicht neu und wurde keineswegs nur von Vertretern der Kulturwissenschaften gestellt, in denen die Frage nach Objektivität stets methodisch und wissen5 6 7 8 9 10 11
Ebd., S. 18. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Ebd., S. 22. Möller, a.a.O., S. 70. Ebd., S. 35, Ebd., S. 31 ff.
EINFÜHRENDE ÜBERLEGUNGEN
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schaftsethisch rückzuversichern ist, sondern auch von Naturwissenschaftlern. So hatten schon 1924 die Physiker und Nobelpreisträger Philipp Lenard und Johannes Stark die Trennung der „arischen“ bzw. „deutschen“ von den „jüdischen“ Naturwissenschaften insbesondere der Physik gefordert. Wie dies geschehen sollte, konnten sie freilich nicht zeigen, denn ihre Forderung stand in deutlichem Widerspruch zum einschlägigen Forschungsstand der 1920er und 1930er Jahre.12 Ein näherer Blick auf die Motive Starks und Lenards zeigt überdies, dass sie in der NS-Ideologie einen natürlichen Bundesgenossen sahen, der ihre Ablehnung der – von ihnen als „jüdisch“ verunglimpften – theoretischen Physik, insbesondere der Relativitätstheorie und der Quantenphysik, teilte. Sowohl bei Stark als auch bei Lenard begründeten unterschiedliche Faktoren ihren Standpunkt: eine erkennbare Vorliebe für die Experimentalphysik, eine starke bis egozentrische Persönlichkeit verbunden mit beruflichem Ehrgeiz und als ungerecht empfundenen persönlichen Rückschlägen sowie eine entschiedene Gegnerschaft gegen die Versailler Friedensordnung.13 Stark wie Lenard vertraten in den 1920er Jahren freilich eine radikale Minderheitenposition, die ihnen zunächst teils erhebliche berufliche Nachteile einbrachte14 und beide reüssierten später im nationalsozialistischen Deutschland.15 Doch trotz dieser Erfolge scheiterten ihre Versuche, eine genuin „deutsche“ bzw. „arische“ Physik zu etablieren, an der Universalität der Naturgesetze – im November 1940 erkannten führende Anhänger der „deutschen Physik“ im sogenannten „Münchner Religionsgespräch“ die wissenschaftlich unverrückbare Tatsachen der modernen Physik öffentlich an und distanzierten sich damit unmissverständlich von Lenard und Stark. So gesehen, schützte die Universalität der Naturgesetze viele Naturwissenschaften vor den Forderungen der NS-Ideologen nach einer Revision des Objektivitätsbegriffs. Das heißt nicht, dass sich deutsche Naturwissenschaftler nach 1933 nicht vom System einfangen ließen – im Gegenteil! Mark Walker hat zum Beispiel gezeigt, wie die nationalsozialistische „Blut und Boden“-Ideologie trotz ihrer archaischen Grundidee erfolgreich moderne und technokratische Elemente aufnahm, die den Eindruck von Modernität erweckten und so zahlreiche hochrangige, dem Nationalsozialismus auch indifferent bis ablehnend gegenüberstehende Naturwissenschaftler wie Werner Heisenberg – als einen der prominentesten Vertreter der von Lenard und Stark so heftig attackierten Quantenphysik – an sich band.16 Dazu bedurfte es keiner ideologisch gefärbten Neuinterpretation des disziplinimmanenten Objektivitätsbegriffs, sondern lediglich der Bereitstellung guter bis sehr guter Arbeitsmittel und Möglichkeiten in Verbindung mit einer vermeintlichen „Entpolitisierung“ der Naturwissenschaften, beispielsweise durch eine engere Anbindung an die Industrie.17 Überdies ist zu berücksichtigen, dass das Verhältnis des Nationalsozialismus zu den 12 13 14 15
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Als Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt erinnerte Stark 1934 an diesen am 8. Mai 1924 in der Großdeutschen Zeitung erschienen Artikel. Dazu: Johannes Stark, Nationalsozialismus und Wissenschaft, München 1934, S. 5. Vgl. dazu: Stephan L. Wolff, „Physiker im Krieg der Geister“, Münchner Zentrum für Wissenschaftsund Technikgeschichte, München 2001 (unter: http://www.mzwtg.mwn.de/arbeitspapiere/Wolff_01.pdf, Abruf vom 24.6.2008). Stark hatte 1922 seinen Würzburger Lehrstuhl infolge eines Konflikts aufgegeben und fand bis 1933 keine neue Anstellung. Der 1933 71-jährige Lenard erhielt zahlreiche Ehrungen, der 12 Jahre jüngere Stark wurde schon am 1. April 1933 zum Präsidenten der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt ernannt und bekleidete diesen Posten bis 1939, überdies war er von 1934-1936 Präsident der – inzwischen gleichgeschalteten – Deutschen Forschungsgemeinschaft. Mark Walker, Natural Science in National Socialism, in: Uwe Hoßfeld u.a. (Hg.), “Kämpferische Wissenschaft”. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln, Weimar, Wien 2003, S. 9931012, hier S. 1007 f. In diesem Zusammenhang zu nennen wäre die Ablösung Max Plancks als Präsident der KaiserWilhelm-Gesellschaft, der sich zu offen für jüdische Mitarbeiter eingesetzt hatte, durch Carl Bosch (IG Farben) und Albert Vögler (Vereinigte Stahlwerke AG). Dazu: ebd., S. 997.
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Natur- und Ingenieurswissenschaften unterschiedlich war. Jene, die aus ideologischen oder pragmatischen Gründen von vornherein als nützlich galten (wie beispielsweise Biologie, Chemie, Geographie und Ingenieurswissenschaften), wurden zwar von aus politischen und/oder rasseideologischen Gründen unerwünschten Personen „gesäubert“, blieben ansonsten aber vor politischen Angriffen auf das jeweilige wissenschaftliche Selbstverständnis der einzelnen Disziplinen verschont und wurden finanziell gefördert.18 Andere, wie die Mathematik oder Physik, die aus unterschiedlichen Gründen als politisch weniger „zuverlässig“ angesehen wurden, sahen sich jedenfalls anfangs in größerem Umfang politischer Einflussnahme ausgesetzt. Ihre Vertreter mussten sich daher anstrengen, dem „neuen Deutschland“ ihre Nützlichkeit zu beweisen,19 um so möglichst gute Arbeitsbedingungen erhalten zu können. Auch hier kam es unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme zu „Säuberungsmaßnahmen“,20 überdies erfreuten sich die Anhänger der „deutschen Physik“ eben der besonderen Wertschätzung des Systems, während Werner Heisenberg als Vertreter der Quantenphysik bald nach der nationalsozialistischen Machtübernahme im „Völkischen Beobachter“ lesen musste, dass er ob seines wissenschaftstheoretischen Ansatzes ein „weißer Jude“ sei und zeitweise mancherlei berufliche Nachteile erfuhr.21 Dank einer Gemeinschaftsinitiative von SS und führenden Industriellen wurde er freilich bald rehabilitiert und konnte sich wieder wachsender Anerkennung und Förderung erfreuen, freilich zum Preis einer Kollaboration mit dem NS-Staat, wozu konsequenterweise das schon aus wissenschaftsethischer Sicht unverantwortliche öffentliche Ignorieren der Arbeiten Einsteins zählte.22 Weil sich die Theorie von der „deutschen Physik“ rasch als Chimäre herausstellte und die im Dienst verbliebenen Anhänger der Quantenphysik gezeigt hatte, dass sie bereit waren, unter den Bedingungen des NS-Staates zu arbeiten, verzichtete der NS-Staat darauf, auf das wissenschaftliche Selbstverständnis dieser wie anderer Naturwissenschaften Einfluss zu nehmen. Er suggerierte damit, dass es sich um „unpolitische Wissenschaften“ handele – was es wiederum deren Vertretern erleichterte, sich mit dem System zu arrangieren. Die Kulturwissenschaften mit ihrem potentiell deutlich größeren ideologischen Ausbeutungspotential sahen sich hingegen bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein von NSIdeologen und Parteigängern aus den eigenen Reihen dazu aufgefordert, ihr wissenschaftliches Selbstverständnis an die ideologischen Anforderungen des Nationalsozialismus anzupassen bzw. grundlegend zu revidieren, eben so, wie es Rust und Krieck bereits 1936 in Heidelberg gefordert hatten.23
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Dass die Biologie und Chemie an deutschen Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen gezielt gefördert wurden und sich zwischen 1933 und 1944 auf stetig wachsende Forschungsetats stützen konnte, hat beispielsweise Ute Deichmann gezeigt in: Kriegsbezogene biologische, biochemische und chemische Forschung an den Kaiser-Wilhelm-Instituten für Züchtungsforschung, für Physikalische Chemie und Elektrochemie und für Medizinische Forschung, in: Doris Kaufmann (Hg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus, Göttingen 2000, S. 231-257, hier bes. S. 232. Ebd., S. 1001. Als Beispiel für entsprechende Maßnahmen siehe: Norbert Schappacher, Das Mathematische Institut der Universität Göttingen 1929-1950, in: Becker u.a. (Hg.), a.a.O., S. 523-551, bes. S. 527-533. Walker, a.a.O., S. 1003. Walker, a.a.O., S. 1003. Zur Rolle der Geisteswissenschaften im Zweiten Weltkrieg siehe z. B.: Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940-1945), Dresden, München 1998.
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Zum Begriff „Kulturwissenschaften“ Hier erscheint zunächst eine kurze Begründung notwendig, warum im Titel dieses Buches von „Kulturwissenschaften“ und nicht von „Geisteswissenschaften“ die Rede ist. Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Damit soll nicht der wissenschaftstheoretisch „berüchtigte“24 Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften weiter fortgeschrieben werden. Und auch wenn es zutrifft, dass die hermeneutische Zugangsweise zu wissenschaftlichen Fragestellungen als ein – mehr oder weniger ausgeprägtes – Bindeglied aller hier versammelten Disziplinen taugt, war es nicht das entscheidende Kriterium für die Auswahl der untersuchten Fächer bzw. die Wahl des Titels. Es geht hier ebenfalls nicht um die Erfüllung der vor etwa zwei Jahrzehnten vom Wissenschaftsrat der Westdeutschen Rektorenkonferenz25 erhobenen Forderung, dass die alten, etwas verstaubten Geisteswissenschaften sich neu unter dem Rubrum „Kulturwissenschaften“ formieren sollten. Vielmehr geht es hier mit Ernst Cassirer zunächst darum, den Begriff als „symbolische Form“ zu verstehen, die ein Auseinanderfallen in Einzelwissenschaften mit zusammenhanglosem Faktenwissen verhindern soll.26 Pragmatisch gesehen bedeutet diese Prämisse zunächst, dass sich alle hier versammelten Fächer in der einen oder anderen Form kulturellen Fragen widmen und so in der Lage sind, im interdisziplinären Sinne auf einer methodischen Ebene miteinander zu kooperieren, wenngleich in unterschiedlicher Qualität und Intensität. Die Wahl des Begriffs erfolgte freilich auch vor dem Hintergrund der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert geführten Diskussion über den Umgang mit den Resten des Hegelschen Geist-Topos und dessen Verhältnis zur Empirie. Diltheys lebensphilosophisch geprägte Objektivierung des Geistes in der Dreiheit von Leben, Ausdruck und Verstehen als Kennzeichen der Geisteswissenschaften hatte Georg Simmel seine Kulturphilosophie gegenübergestellt. Demzufolge geht es in den Kulturwissenschaften seither nicht nur um die Erforschung der Formen von Kultur, sondern zugleich um eine kritische Distanz dazu.27 Die Untersuchungsgegenstände und der Zugang zu ihnen verbindet also die Kulturwissenschaften miteinander, manche enger, andere lockerer. Im Idealfall stehen sie in einem interdisziplinären Diskurs miteinander. Dieser ermöglicht einen deutlich umfassenderen Zugriff als der monodisziplinäre. Gleichwohl besitzen die einzelnen Kulturwissenschaften in der Regel noch genügend eigenes Profil, um nicht zu einer neuen „Totalwissenschaft“28 miteinander zu verschmelzen – auch wenn auf den ersten Blick die hohe Wertschätzung der Interdisziplinarität in letzter Konsequenz die Verschmelzung einzelner Kulturwissenschaften zu größeren Einheiten nach sich ziehen könnte. Hier ist nicht der Ort, um die verschiedenen „turns“ und „impacts“ bis hin zum „cultural turn“ nachzuzeichnen, die seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts die Suche danach, was Kulturwissenschaften sind bzw. sein könnten, beeinflusst haben. Bis heute hat man sich auf keine abschließende Definition des Begriffs einigen können. Stattdessen erscheint es sinnvoller, die Selbstverständigung der Kulturwissenschaften als einen offenen Prozess zu begreifen, der eine klare Festlegung auf „das eine“ gerade verhindern möchte.29 Festzuhalten 24 25 26 27 28 29
Vgl. dazu: Achim Landwehr: Rezension zu: Kittsteiner, Heinz D. (Hrsg.): Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten. Paderborn 2004. In: H-Soz-u-Kult, 27.07.2004, Wolfgang Frühwald, Hans Robert Jauß u.a. (Hg.), Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, Frankfurt/Main 1991, S. 43 u. ö. Siehe dazu z. B.: Vorwort, in: Hans Dieter Kittsteiner (Hg.), Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, München 2004, S. 6-23, hier bes. S. 7 f. Ebd., S. 8. Ebd., S. 9. Ebd., S. 22.
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ist somit, dass es sich bei dem Begriff „Kulturwissenschaften“ um einen durchaus facettenreichen und vielschichtigen, im allgemeinen Gebrauch erst relativ jungen Begriff – freilich mit langen historischen Wurzeln – handelt, in dem solchen Faktoren wie Interdisziplinarität, Ausbruch aus der fachwissenschaftlichen Isolation, Offenheit der Methode, Suche nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten jenseits des bislang Üblichen, Suche nach allgemein gültigen anthropologischen Deutungsmustern und Erklärungsmodellen u. ä. eine hohe Wertschätzung genießen. Da eine klare Definition des Begriffs Kulturwissenschaften bis heute nicht gelungen ist, könnte dessen Verwendung in einem Band, der sich dem Verhältnis von Wissenschaft und Nationalsozialismus widmet, auf den ersten Blick problematisch erscheinen. Doch geht es hier eben nicht darum, einen Beitrag zum aktuellen Selbstverständnis von Kulturwissenschaften zu leisten. Der Begriff wird – unter Berücksichtigung der oben genannten Kriterien – statt dessen primär als Sammelbegriff im Sinne einer Abgrenzung von den Naturwissenschaften benutzt, um nach Antworten auf die Frage zu suchen, wie sich Disziplinen, die heute zu den Kulturwissenschaften gezählt werden, in der Zeit des Nationalsozialismus zum und im NS-System verhielten. Zudem erscheint der alternativ grundsätzlich auch heute noch nutzbare Begriff „Geisteswissenschaften“ angesichts des intensiven wissenschaftstheoretischen Diskurses über das Selbstverständnis von Kulturwissenschaften als zumindest in Teilen überholt. Darüber hinaus ist daran zu erinnern, dass die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik gezielt mit dem traditionellen Wissenschaftsverständnis brechen wollte, zu dem gerade in Deutschland der Begriff „Geisteswissenschaften“ zählte. Wenn Rust und Krieck in ihren Heidelberger Reden den Objektivitätsbegriff hinterfragten, so bedeutete das im Kern nichts anderes als eine Kampfansage an das wissenschaftliche Selbstverständnis all jener geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, die sich an dem wissenschaftstheoretischen Diskurs seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beteiligt hatten. Unabhängig davon, ob sie der lebensphilosophischen Schule eines Dilthey nahestanden oder den Neukantianern Windelband oder Rickert folgten: In beiden Denkschulen ging es um das Problem der Objektivierbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnis, unabhängig davon, ob dazu generalisierende oder individualisierende Verfahrensweisen bevorzugt wurden. Wenn führende Nationalsozialistischen und der NS-Ideologie nahestehende Wissenschaftler an dieser Grundprämisse rüttelten und statt dessen eine „rechtverstandene Objektivität“ einforderten, da „Wissenschaft als System nur möglich [sei] auf dem Boden einer lebendigen Weltanschauung“ und „der Forscher […] sich als Glied seines Volkes erweisen“ müsse, war das eine klare Absage an das bislang gültige, traditionelle Wissenschaftsverständnis – genauso wie die Absage an die Aufklärung als Grundlage des abendländischen Denkens als ein unzeitgemäßes Phänomen des 18. Jahrhunderts.30 Die Wissenschaft (sic!) sollte stattdessen „den ganzen Menschen formen im Hinblick auf die große völkischpolitische Gestaltungsaufgabe“.31 Hier wird der Totalitätsanspruch unverkennbar, die Wissenschaften sollten in ein neues Verhältnis zueinander gebracht werden, um gemeinsam am völkisch-politischen Aufbauprojekt mitzuwirken. Letztlich bedeutete dieses Postulat nichts anderes als eine Zurückweisung der klassischen Disziplinentrennung und die Forderung nach interdisziplinärem Zusammenwirken zum Wohle des Ganzen. So gesehen, freilich vor einem völlig anderen Hintergrund und zu einem völlig anderen, nämlich politischideologischen Zweck korrespondierte die Kriecksche Forderung in gewisser Weise sogar mit der nachkriegszeitlichen Kulturwissenschaftsdiskussion. Aus der Sicht des Nationalso30 31
Zitate aus den Reden von Rust und Krieck, in: das Nationalsozialistische Deutschland und die Wissenschaft, a.a.O., S. 18 f. und S. 31. Ebd., S. 33.
EINFÜHRENDE ÜBERLEGUNGEN
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zialismus gab es eine Vielzahl von Gründen, die in diesem Buch unter der Bezeichnung „Kulturwissenschaften“ versammelten Fächer zu neuen interdisziplinären Fächerverbünden zusammenzufügen und damit politisch-ideologisch zu instrumentalisieren. In diesem Zusammenhang sei beispielsweise auf die „Volks- bzw. Volkstumsgeschichte“ verwiesen, die sich der besonderen Wertschätzung des NS-Staates erfreute. An dieser Disziplin, deren Wurzeln bereits im Weimarer Revisionismus lagen, waren ein gutes Dutzend Einzelfächer aus dem Bereich der Kulturwissenschaften beteiligt.32 Ausgangsüberlegungen Die Frage nach deren jeweiligem wissenschaftlichen Selbstverständnis in der Zeit des Nationalsozialismus bildet den Ausgangspunkt dieses Projekts. Die ersten konkreteren Planungen gingen im Jahr 2000 davon aus, etwa 35 Disziplinen bzw. Teildisziplinen zu untersuchen: Allgemeine Sprachwissenschaft, Alte Geschichte, Alte Philologien, Altorientalistik, Anglistik, Anthropologie, Geschichte der Frühen Neuzeit, Geographie, Germanistik, Indogermanistik, Indologie, Iranistik, Islamwissenschaft/Arabistik/Semitistik, Keltologie, Kunstgeschichte, Mediävistik, Musikwissenschaft, Nordische Geschichte, Nordistik, Osteuropäische Geschichte, Ostforschung, Pädagogik, Philosophie, Politische Wissenschaft, Psychologie, Regional- und Landesgeschichte, Religionswissenschaft, Romanistik, Sinologie, Slawische und Baltische sowie Balkanphilologie, Soziologie, Geschichte der Späten Neuzeit, Sportwissenschaft, Ur- und Frühgeschichte und Volkskunde. Auch wenn der Forschungsstand zu den einzelnen Disziplinen durchaus unterschiedlich war (und ist), hatte die innerhalb wie außerhalb der Kulturwissenschaften geführte einschlägige Diskussion der letzten Jahre gezeigt, dass das Interesse an der Stellung der Wissenschaften, insbesondere der Kulturwissenschaften im politischen, institutionellen und ideologischen Systemgeflecht des Nationalsozialismus weiterhin ungebrochen ist. Auf der Suche nach Antworten sind unterschiedliche Konzepte entwickelt und entsprechend unterschiedliche Ergebnisse erzielt worden. War es Anfangs um die Stellung einzelner Universitäten im Nationalsozialismus gegangen,33 sind seit einigen Jahren vermehrt Arbeiten zu einzelnen Kulturwissenschaften vorgelegt worden, die deren jeweilige Rolle im Nationalsozialismus zumeist in Form von disziplinspezifischen Monographien untersuchen.34 Zweifellos hat die seit Mitte der 1990er Jahre geführte Diskussion über die Rolle der Geschichtswissenschaften im Nationalsozialismus der Forschung ganz entscheidende Impulse verliehen. Sie fand 32 33
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Jürgen Elvert, Geschichtswissenschaft, in: Frank-Rutger Hausmann, Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933-1945, München 2002, S. 87-136, hier bes. S. 90 f. Zu den einschlägigen Pionierstudien zählt zweifellos die 1987 in erster Auflage erschienende Arbeit zur Universität Göttingen (Becker, Dahms, Wegeler (Hg.), a.a.O.), vorbildlich ebenfalls die Publikation zur Geschichte der Universität Jena (Hoßfeld u.a. (Hg.), a.a.O.) aus dem Jahre 2003. Daneben wären noch auf folgende Titel zu verweisen: Henrik Eberle: Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945. Halle/Saale 2002; Die Marburger Philipps-Universität im Nationalsozialismus. Dokumente zu ihrer Geschichte, hrsg. v. Anne Ch. Nagel, bearb. v. Anne Ch. Nagel u. Ulrich Sieg. Stuttgart 2000; Leo Haupts, Die Universität zu Köln im Übergang vom Nationalsozialismus zur Bundesrepublik. Köln 2007; Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus, Bearb. v. Eckart, W. U. / Sellin, V. / Wolgast, E., Berlin 2006. Andere Arbeiten befassen sich mit der Geschichte einzelner Fakultäten oder Institute in nationalsozialistischer Zeit, etwa: Susanne Zimmermann, Die Medizinische Fakultät der Universität Jena während der Zeit des Nationalsozialismus. Berlin 2003. Frank Hartmann, Denker Denken Geschichte. Erkundungen zu Philosophie und Nationalsozialismus, Wien 1994; Irene Ranzmaier, Germanistik an der Universität Wien zur Zeit des Nationalsozialismus. Karrieren, Konflikte und die Wissenschaft, Köln 2005; Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2002; Peter Jehle, Werner Krauss und die Romanistik im NS-Staat. St. Pauli 1999; Otto Pöggeler, Philosophie und Nationalsozialismus – am Beispiel Heideggers, Opladen 1990; Christian Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Berlin 2002.
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ihren Höhepunkt in einer Sektion des Frankfurter Historikertages von 1998, die sich auf Grundlage neuerer Forschungsarbeiten kritisch mit der Rolle einiger führender deutscher Nachkriegshistoriker im Nationalsozialismus auseinandersetzte.35 Eine Frage, die in diesem Zusammenhang immer wieder gestellt wurde, bezog sich auf die Kontinuitäten und Brüchen in der Geschichte der Geschichtswissenschaften und anderer Disziplinen sowie einzelner ihrer Vertreter vor 1933 und nach 1945.36 Erneut handelte es sich zunächst zumeist um Einzelstudien, vergleichende Studien, die mehrere Disziplinen ins Auge fassten, folgten erst mit einiger Verzögerung. Dabei ging es sich zumeist um Einzelbefunde, die nicht nach einem zuvor festgelegten Raster erarbeitet wurden, sondern in der Regel den jeweiligen Forschungsstand spiegelten.37 Ein direkter Vergleich der einzelnen Befunde konnte so nicht gewährleistet werden. Ähnliches gilt für das ambitionierte Vorhaben des Max-Planck-Instituts für Geschichte. Drei Konferenzen widmeten sich zwischen 2000 und 2002 der Frage nach dem Verhältnis der Kulturwissenschaften zum Nationalsozialismus aus der Perspektive der Fächer, Milieus und Karrieren einerseits sowie der Leitbegriffe, Deutungsmuster und Paradigmenkämpfe und der Erfahrungen des Exils.38 Das Projektkonzept Vor dem Hintergrund dieses Forschungsstandes wurde das Konzept dieses Bandes weiterentwickelt. Es sollte versucht werden, eine tragfähige und wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Grundlage für weiterführende Forschungen zur Rolle der Kulturwissenschaften im Nationalsozialismus zu schaffen. Dabei wurden die beiden Aspekte „Interdisziplinarität“ und „Vergleichbarkeit“ in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt. Dadurch sollte die Doppelperspektive auf den Nationalsozialismus einerseits und die Kulturwissenschaften andererseits in ihrem Verhältnis zueinander deutlich werden. Eine Beschränkung der hier versammelten Einzelstudien auf den Zeitraum 1933-1945 erschien vor dem Hintergrund der Frage nach Kontinuitäten und Brüchen als unangemessen. Das führte zu acht Leitfragen, die den Autorinnen und Autoren des Bandes mit der Bitte um Beantwortung vorgelegt wurden: 1. Welchen Stellenwert nahm die betreffende Wissenschaft im Spektrum der „Kulturwissenschaften“ des Ersten Weltkriegs und der 1920er Jahre ein? Sofern sie angesichts des 35
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Die seinerzeit gehaltenen Vorträge wurden zusammen mit anderen einschlägigen Beiträgen veröffentlicht in: Winfried Schulze, Otto Gerhard Oexle (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 1999. Unter den Studien, deren Vorlage zur Einberufung dieser Sektion geführt hatten, wären folgende zu nennen: Karen Schönwalder, Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 1992; Peter Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945, Frankfurt am Main 1997; Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993; Studien, die offensichtlich von dieser Sektion inspiriert wurden, wären u.a.: Rüdiger Hohls u.a. (Hg.), Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus; Ingo Haar, a.a.O.; Katja Fausser, Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur Geschichte der Historischen Institute der Universität Münster 1933-1945, Münster 2000. Die Frage nach Brüchen und Kontinuitäten in Bezug auf das Jahr 1945 hat Leo Haupts am Beispiel der Universität zu Köln untersucht: Haupts, a.a.O. Hier wäre vor allem zu nennen der bereits genannte, von Frank-Rutger Hausmann herausgegebene Sammelband (Hausmann, Geisteswissenschaften), in dem folgende Disziplinen untersucht wurden: Anglistik, Germanistische Literaturwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Keltologie, Musikwissenschaft, Philosophie, Psychologie, Slawische Philologie, Sportwissenschaft, Sprachwissenschaft, Urund Frühgeschichte. Hartmut Lehmann, Otto Gerhard Oexle (Hg.), Nationalsozialismus und Kulturwissenschaften, Band 1: Fächer, Milieus, Karrieren, Band 2: Leitbegriffe, Deutungsmuster, Paradigmenkämpfe, Erfahrungen und Transformationen im Exil, Göttingen 2004.
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gegenwärtigen Forschungsstandes überhaupt möglich ist, sollte eine Positionierung der einzelnen Disziplinen im Kontext der Kulturwissenschaften der 1920er Jahre Rückschlüsse auf deren Stellung und Einfluss in der Hochschullandschaft der Weimarer Republik erlauben. Das wiederum würde ihre Verortung im kulturwissenschaftlichen Diskurs zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Machtübernahme ermöglichen. Damit hätte die Beantwortung dieser Frage eine wesentliche Voraussetzung für die Kontextualisierung der jeweiligen Disziplin geboten, insbesondere vor dem Hintergrund der Frage, ob das Jahr 1933 aus der Sicht des jeweiligen Faches einen Bruch darstellte oder ob die Kontinuitäten überwogen. 2. Wie begegneten ihre Vertreter dem Nationalsozialismus in den 1920er Jahren? In diesem Zusammenhang interessierte die Stellung der jeweiligen Fachvertreter gegenüber dem Nationalsozialismus. Auch hier war zum Zeitpunkt der Vergabe der Einzelbeiträge in vielen Fällen unklar, ob der gegenwärtige Forschungsstand überhaupt aussagekräftige Erkenntnisse zulassen würde, gleichwohl sollte versucht werden, durch Informationen zu diesem Problemkreis herauszufinden, ob es sich bei den Wissenschaften um – im republikanischen Sinne – staatstragende Wissenschaften handelte, oder ob sie wie beispielsweise die Geschichtswissenschaften eher zum Spektrum der mehrheitlich revisionistischen Disziplinen zählten. Auch diese Informationen wurden als Voraussetzung für eine angemessene Verortung der jeweiligen Disziplin im Spektrum der Kulturwissenschaften im Nationalsozialismus angesehen. 3. Gibt es erkennbare Unterschiede zwischen der Haltung der Studentenschaft und der Dozentenschaft der jeweiligen Wissenschaft zum Nationalsozialismus in dieser Zeit? In diesem Zusammenhang ging es um die Gewinnung von Informationen darüber, ob sich unterschiedliche Standpunkte zwischen etablierten Fachvertretern einerseits und Studierenden der jeweiligen Fächer andererseits herausarbeiten lassen. Es sollte überprüft werden, ob die jeweilige Disziplin gleichsam durch Druck „von unten“, von Seiten der Studentenschaft an den Nationalsozialismus herangeführt wurde, oder ob es auch unter der Dozentenschaft schon vor 1933 eine genügend große Affinität zum Nationalsozialismus gab, um eine rasche Anpassung an das NS-System zu ermöglichen. 4. In welcher Beziehung standen die Vertreter der jeweiligen Wissenschaft nach 1933 zum Nationalsozialismus? Der vierte Fragenkomplex stand in engem Zusammenhang mit Frage drei. Hier ging es darum herauszufinden, ob die jeweiligen Fachvertreter dem NS-System und seinen Anforderungen an die Kulturwissenschaften mehrheitlich von vornherein Folge leisteten und damit Bereitschaft bestand, neben einer bloß strukturellen Gleichschaltung auch eine Anpassung der bis 1933 geltenden Wissenschaftsstandard und des jeweiligen Wissenschaftsethos an das nationalsozialistische Wissenschaftsverständnis vorzunehmen oder ob es Formen der Resistenz, möglicherweise sogar des Widerstandes dagegen gegeben hatte. 5. Diente die jeweilige Wissenschaft möglicherweise auch dazu, die jeweilige Position der einzelnen nationalsozialistischen Instanzen im Gesamtspektrum nationalsozialistischer Herrschaft zu stärken? Dabei ging es um die Frage nach dem Stellenwert der jeweiligen Disziplin in der nationalsozialistischen Ideologie. Bekanntlich maß diese bzw. manche ihrer Organisationen, insbesondere die SS, manchen Kulturwissenschaften wie beispielsweise den Geschichtswissenschaften oder der Ur- und Frühgeschichte, aber auch der Indologie – um nur einige Beispiele zu nennen – einen hohen Stellenwert bei, erhofften sich ihre
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Vertreter doch Argumente, die helfen konnten, bestimmte Aspekte der Ideologie wissenschaftlich zu untermauern und damit die Ideologie selber zu legitimieren. Die vorgenannten Fragen betrafen vor allem das Selbstverständnis der untersuchten Wissenschaften und ihr Verhältnis zur NS-Ideologie. Darüber sollte aber auch eine Doppelperspektive eröffnet werden, die nach der Rolle des Nationalsozialismus gegenüber den Wissenschaften fragte. Folgende Fragen sollten darüber Aufschluss geben: 6. Welche nationalsozialistischen Instanzen betrieben „Wissenschaftspolitik“ und zu welchem Zweck? Eine Beantwortung dieser Frage aus der Sicht der jeweiligen Einzeldisziplin, aber auch im Vergleich miteinander, würde einen Einblick in das Funktionieren der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik ermöglichen. Es konnte so aber auch überprüft werden, ob bestimmte NS-Instanzen bestimmte Disziplinen bevorzugten und, im Falle dessen, welche Ziele sie damit verfolgten. 7. Welche Bedeutung maß der Nationalsozialismus bzw. dessen verschieden Kräfte der betreffenden Wissenschaft im Kontext der jeweils eigenen Wissenschaftspolitik bei? Diese Frage stand in unmittelbarem Zusammenhang mit der Frage sechs, sie führte aber weiter und ließ einen interdisziplinär angelegten Einblick in das Funktionieren der NS-Polykratie auf dem Sektor der Wissenschaftspolitik erhoffen. 8. Gab es bestimmte deutlich erkennbare Zäsuren, die die NS-Wissenschaftspolitik bzw. die Wissenschaftspolitik einzelner Kräfte im Nationalsozialismus beeinflussten? Sollte es möglich sein, auf diese Frage aussagekräftige Antworten zu finden, würde es möglich sein, unser Wissen um das Funktionieren der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik dadurch zu verbessern, dass bestimmte Brüche und Wendungen, möglicherweise auch unterschiedliche Schwerpunktsetzungen jenseits der Zäsur 1939 klarer als bisher zu identifizieren. Insofern wurden die hier versammelten Autorinnen und Autoren gebeten, auf eine möglichst genaue Positionierung der jeweiligen Disziplin im Spektrum der NS-Wissenschaftspolitik zu achten. Damit sollte überprüft werden, ob sich die betreffende Wissenschaft um eine aktive Unterstützung des NS-Systems bzw. einer bestimmten Organisation oder Strömung im NS-Herrschaftsgefüge bemühte, ob sie also „systemtragend“ oder „-stabilisierend“ wirkte, ob sie im Sinne der NS-Polykratie Partei ergriff und damit letztlich eher zu einer Verschärfung der innerparteilichen Rivalität beitrug. Zudem sollte geprüft werden, ob der Nationalsozialismus oder eine bestimmte Gruppe innerhalb des NS von sich aus versuchte, die betreffende Wissenschaft an das System heranzuführen. Im zweiten Fall wäre das ein mögliches Indiz für eine gewisse Zurückhaltung, wenn nicht gar Resistenz von Fachvertretern gegenüber dem System. Weiter zu berücksichtigen war die Rolle der einzelnen Wissenschaften im Zweiten Weltkrieg, insbesondere deren Beteiligung an der „gesellschaftlichen Mobilisierung“, so wie sie von der „Aktion Ritterbusch“ angestrebt wurde. Vor dem Hintergrund der vorgenannten Überlegungen wurde folgendes konkretes Frageraster entwickelt und den Autorinnen und Autoren als Richtschnur vorgelegt: 1. strukturelle Voraussetzungen vor 1933 a) institutionell (universitär wie außeruniversitär) b) personell c) wissenschaftsgeschichtlich 2. Stellung der Wissenschaft zum Nationalsozialismus vor 1933
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3. Stellenwert der Wissenschaft in der NS-Ideologie vor 1933 4. Rezeption der „Machtergreifung“ durch die Wissenschaft 5. Umgang des Nationalsozialismus bzw. der einzelnen Interessengruppen innerhalb des NS mit der Wissenschaft (1933-1939) a) institutionell (universitär wie außeruniversitär) b) personelle Maßnahmen c) Vorgaben an die Wissenschaft 6. Reaktion der Wissenschaft auf „Machtergreifung“ a) Zustimmung b) Ablehnung c) indifferent 7. Wissenschaft, Partei und Öffentlichkeit (1933-1939) 8. Die Wissenschaft im Krieg a) Zustimmung b) Ablehnung c) Beteiligung an der Totalmobilisierung 9. Zur Frage der Kontinuität nach 1945 Die in diesem Band versammelten Beiträge zeigen deutlich, dass erstens der Forschungsstand zu den Einzeldisziplinen durchaus unterschiedlich ist und zweitens eine stringente Abarbeitung des Fragerasters nur bei einem Teil der untersuchten Disziplinen möglich war. So kann der Bereich der Geschichtswissenschaften einschließlich der Ur- und Frühgeschichte als gut erforscht gelten, die einschlägigen Arbeiten zur Sinologie stecken beispielsweise aber noch in den Kinderschuhen, so dass der Beitrag zu diesem Thema nicht viel mehr als einen ersten bio- und bibliographischen Überblick gibt. Überdies ist nachzulesen, dass die disziplinenspezifischen Methoden zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen geführt haben, jedenfalls was die Präsentation der Erkenntnisse betrifft. Insofern konnte die ursprünglich angestrebte strikte Vergleichbarkeit der Einzelbeiträge leider nicht in der gewünschten Dichte hergestellt werden. Auch gelang es nicht in allen Fällen, geeignete Autoren zu finden. So fehlt in diesem Band ein Beitrag zur Indologie. Das ist umso bedauerlicher, als mit Walther Wüst einer der führenden deutschen Indologen im Nationalsozialismus rasch Karriere machte und als einer der führenden NS-Wissenschaftspolitiker 1937 Präsident der SS-Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe wurde.39 Dennoch fand sich trotz intensiver Suche kein geeigneter Autor zur Indologie, so dass auf diese Disziplin letztlich verzichtet werden musste. Ähnliches trifft für die Musikwissenschaft und die Kunstgeschichte zu.40 Andere Beiträge wie beispielsweise zur Mediävistik waren zwar zugesagt, wurden aber aus unterschiedlichen Gründen nicht geliefert und wieder andere Manuskripte hatten das vorgegebene Frageraster aus nicht nachvollziehbaren Gründen so konsequent ignoriert, dass ihre Veröffentlichung in diesem Band nicht in Frage kam. Das ursprüngliche Ziel dieses Projekts, die konzise Behandlung aller Kulturwissenschaften im Nationalsozialismus nach einem vorgegebenen Frageraster zur Gewährleistung einer möglichst großen Vergleichbarkeit, ist also nicht erreicht worden. Der gegenwärtige Stand der Forschung lässt ein solches Ergebnis noch nicht zu. Insofern ist dieser Band als 39 40
Zum SS-Ahnenerbe und zu Wüst vgl. u. a.: Michael H. Kater: Das „Ahnenerbe“ der SS 1935-1945, München 2001; Maximilian Schreiber: Walther Wüst. Dekan und Rektor der Universität München 1935–1945, München 2007. Zur Rolle der Musikwissenschaft im Nationalsozialismus vgl: Anselm Gerhard , Musikwissenschaft, in: Hausmann, Geisteswissenschaften, S. 165-192. Zur Kunstgeschichte im Nationalsozialismus siehe z. B.: Nikola Doll, Christian Fuhrmeister, Michael H. Sprenger (Hg.), Kunstgeschichte im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte einer Wissenschaft zwischen 1930 und 1950, Weimar 2005.
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eine Art umfassende Zwischenbilanz zur Frage nach dem Verhältnis der Kulturwissenschaften zum Nationalsozialismus zu verstehen. Er vereint Beiträge zu bereits gut oder zufriedenstellend erforschten Disziplinen mit solchen, in denen entsprechende Untersuchungen erst am Anfang stehen. Folglich ist er auch ein Appell an die entsprechenden Disziplinen, dort, wo der Forschungsstand noch als ungenügend zu bezeichnen ist, weiterzuforschen und weitere Erkenntnisse zusammenzutragen und noch bestehende Wissenslücken zu schließen. Die Arbeiten an diesem Projekt haben sich über acht Jahre hingezogen.41 Auch wenn sich alle Autorinnen und Autoren durchgehend darum bemüht haben, ihre jeweiligen Beiträge auf dem neuesten Forschungsstand zu halten, mag es durchaus sein, dass nicht in allen Fällen die neuesten Forschungserkenntnisse mit eingearbeitet werden konnten. Das ändert nichts daran, dass es Dank der ausgezeichneten Zusammenarbeit im Rahmen dieses Projekts gelungen ist, bis auf wenige Ausnahmen alle Kulturwissenschaften zu erfassen und – im Rahmen des jeweils Möglichen – deren Rolle im und Stellung zum Nationalsozialismus zu bearbeiten. Dafür ist allen Autorinnen und Autoren großer Dank geschuldet, auch dafür, dass sie zum Teil große Geduld bewiesen und ihre Beiträge nicht zurückzogen, als sich die Fertigstellung des Buches aufgrund organisatorischer Probleme wieder einmal verzögert hatte. Wir denken, dass sich das Warten gelohnt hat und hoffen, dass die Veröffentlichung der hier versammelten Beiträge den interdisziplinären Diskurs in den Kulturwissenschaften zu diesem Thema befruchten und zu weiterführenden Arbeiten anregen wird.
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Hierbei haben wir den jeweiligen Fachdisziplinen im Hinblick auf die Art des wissenschaftlichen Arbeitens möglichst breiten Raum gewährt, so dass feine Unterschiede bei der Textbehandlung bewusst in Kauf genommen worden sind. Eine komplette Vereinheitlichung wissenschaftsmethodischer Nuancen war insofern nicht intendiert und angesichts des Umfangs auch nicht zu berwerkstelligen. Dies betrifft nicht zuletzt auch orthografische Präferenzen, die Nummerierung von Überschriften und die Titelei in den Fußnoten.
PHILOSOPHIE* HANS-JOACHIM DAHMS Einleitung Pünktlich zum 20. April des Jahres 1939 erschien eine Hitler zum 50. Geburtstag von der deutschen Wissenschaft zu Füßen gelegte Festschrift.1 Sie war – sieht man einmal von den einleitenden Ergebenheitsadressen und Grußworten – nach Hochschuldisziplinen organisiert, von der Architektur, insbesondere auch jener der „Monumentalbauten des Deutschen Reiches“ oder „bei der Reichsautobahn“, bei den Geisteswissenschaften über die Rechtsund Wirtschaftswissenschaften, die Biologie und Medizin, die Naturwissenschaften bis hin zur Technik. Stets hatte der aktuelle „Führer“ einer jeden Disziplin stellvertretend für seine „Gefolgschaft“ zur Feder gegriffen. Geht man das Inhaltsverzeichnis dieses opus durch, bemerkt man schon auf den ersten Blick, dass die Philosophie die einzige akademische Disziplin ist, die sich anscheinend dem Führerprinzip nicht beugte: für sie finden sich gleich zwei Autoren, nämlich Ernst Krieck und Alfred Baeumler. Und schlimmer als das, bescheidet sich der eine (Krieck) nicht mit friedlicher Koexistenz, sondern hält es für geraten, die exponierte Situation zu nutzen, um kräftig über den Zustand der deutschen Philosophie im Allgemeinen herzuziehen und den Ansatz des anderen Autors in Frage zu stellen.2 So beklagte er etwa, dass „über der Philosophie der Gegenwart in der Mehrzahl der Fälle nicht so sehr die nationalsozialistische Weltanschauung in der Wegweisung (stehe), sondern das Epigonentum gegenüber Kant, Hegel, Nietzsche usw.“.3 Insgesamt habe der „Gesamtdurchschnitt von fünf Jahren“ eine „schwache und dürftige Mittellage für die nationalsozialistische Philosophie“ erbracht. Insbesondere betrachtete er es auch „zum mindestens (sic) problematisch“, wenn „Baeumler ... Nietzsche als geistigen Führer des Nationalsozialismus“ verkünde. Das hatte dieser in der Tat auch in seinem Beitrag zur Hitler-Festschrift wieder ausgiebig getan, wenn er Nietzsches „Philosophie des Willens zur Macht“ pries, die sich, „freilich in anderer Weise als er ahnte, durch den Nationalsozialismus“ realisiert habe.4 Dies ungewöhnliche Handgemenge der führenden NS-Philosophen, zumal an exponierter Stelle, zeigt schlagend, dass man sich bei der Beschreibung der Philosophie im Nationalsozialismus auf Verhältnisse einrichten muss, die nicht repräsentativ für die Wissenschaften im Dritten Reich gewesen sind. Insbesondere scheint es keine klare Führungsstruktur und kein verbindliches Programm einer „Deutschen Philosophie“ (in Analogie zu den in zahlreichen Disziplinen florierenden entsprechenden „Deutschen“ Programmatiken) gegeben zu haben. Diese Ansicht ist freilich in der Literatur umstritten. Bevor ich im letzten Abschnitt auf dieses Problem zurückkomme, müssen zuvor jene Fragen besprochen werden, in denen die Philosophie im NS besser mit anderen Fächern vergleichbar ist. Im folgenden ersten Abschnitt soll die Lage des Universitätsfachs „Philosophie“ in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts in der gebotenen Kürze vergegenwärtigt werden. Denn * 1 2
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Ich danke Klaus Sommer (Göttingen) für Anregungen und Kritik. Deutsche Wissenschaft. Arbeit und Aufgabe, Leipzig 1939. siehe zu dieser ganzen Affäre schon Heinz Herz, „Freiheit der Wissenschaft“ unter dem Nazismus, in: Das Hochschulwesen 7 (1959) 537-540 (Teil I), 577-782 (Teil II) und 8 (1960) 16-18 (Teil III) und neuerdings Eckart Menzler-Trott, Gentzens Problem. Mathematische Logik im nationalsozialistischen Deutschland, Basel/Boston/Berlin 2001, 129 f. Ernst Krieck, Philosophie, in: Deutsche Wissenschaft (wie Anm. 1) 29-31. Alfred Baeumler, Philosophie, in: Deutsche Wissenschaft (wie Anm. 1) 32 f.
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ob es sich bei den vielerlei Streitigkeiten zwischen verschiedenen Philosophen und verschiedenen philosophischen Schulen und Lagern im Nationalsozialismus um etwas inhaltlich Systemtypisches und insofern Neues handelte oder nur um andere Austragungsmodalitäten für schon viel länger angebahnte Konflikte, ist keineswegs ausgemacht. Die NS-Programmatik generell und auch speziell hinsichtlich der Hochschulen und eben auch der Philosophie kann durch ein Nebeneinander von zwei grundlegenden Zielen beschrieben werden, nämlich einerseits der „Säuberung“ von rassisch und/oder politisch unerwünschten „Elementen“ und andererseits einem „Neuaufbau“ im neuen, nämlich dem nationalsozialistischen Geiste. Weil es eben auch in der Philosophie sowohl Opfer als auch Nutznießer des Nationalsozialismus gegeben hat, erscheint es naheliegend, die Folgen der Implementierung dieser beiden zentralen Ziele trotz ihrer bis etwa 1938 andauernden Parallelität analytisch zu trennen. Sie werden, obwohl sie sich zeitlich überlappten, in den zentralen zweiten und dritten Abschnitt dieser Arbeit hintereinander angeordnet. Ich schließe im vierten Abschnitt die Diskussion der eingangs aufgeworfenen Frage an: Gab es eine einheitliche NS-typische Philosophie, nur die individuellen Privatvorstellungen einiger selbsternannter Vorkämpfer zur Frage, was NS-Philosophie sein solle, oder schließlich nur ein eklektisches Sammelsurium von verschiedensten Ansätzen dazu? Noch eine Bemerkung zur Literatur. Die Situation hat sich für die Philosophie innerhalb der letzten Jahre grundlegend geändert. Bis dahin hatte man nämlich zwar Veröffentlichungen zu einzelnen Philosophen5, philosophischen Schulen6 und philosophischen Seminaren7 an Hochschulorten, die von nationalsozialistischer Universitätspolitik betroffen wurden. Aber es gab darüber hinaus nur wenige Übersichten, die einen Vergleich und die Einordnung einzelner Gestalten und Phänomene in ein allgemeineres Bild ermöglicht hätten.8 Diese Situation hat sich nun durch die Publikation von Christian Tilitzkis monumentalem Werk über „Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im
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Die Literatur zu einzelnen Philosophen im Dritten Reich ist mittlerweile so stark angewachsen, dass sie hier nicht aufgeführt werden kann. Siehe aber Literaturhinweise zu einigen Protagonisten im vierten Abschnitt dieses Beitrags. siehe etwa Lutz Danneberg/ Andreas Kamlah/ Lothar Schäfer (Hrsg.) Hans Reichenbach und die Berliner Gruppe, Braunschweig 1994; Massimo Ferrari, Il giovani Cassirer e la scuola di Marburgo, Milano 1988; Hans Rainer Sepp (Hrsg.) Edmund Husserl und die Phänomenologische Bewegung. Zeugnisse in Text und Bild, Freiburg/ München 1988; Ulrich Sieg, Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus. Die Geschichte einer philosophischen Schulgemeinschaft, Würzburg 1995; Herbert Spiegelberg, The Phenomenological Movement. A Historical Introduction, Dordrecht/Boston/London, 3. Auflage 1994; Friedrich Stadler, Studien zum Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext, Frankfurt am Main 1997; Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, München/ Wien 1986. Hans-Joachim Dahms, Aufstieg und Ende der Lebensphilosophie. Das Philosophische Seminar der Universität Göttingen zwischen 1917 und 1950, in: Heinrich Becker/ Hans-Joachim Dahms/ Cornelia Wegeler (Hrsg.) Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus. Das verdrängte Kapitel ihrer 250-jährigen Geschichte, München etc. 1987, 169-199; ders., Jenaer Philosophen in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Folgezeit bis 1950, in: Uwe Hoßfeld/ Jürgen John/ Oliver Lemuth/ Rüdiger Stutz (Hrsg.) „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Weimar/Wien 2004, 723-771; Norbert Kapferer, Die Nazifizierung der Philosophie an der Universität Breslau 1933-1945, 2002; Josef Meran, Die Lehrer am Philosophischen Seminar der Hamburger Universität während der Zeit des Nationalsozialismus, in: Eckardt Krause/ Ludwig Huber/ Holger Fischer (Hrsg.) Hochschulalltag im „Dritten Reich“, Die Hamburger Universität 1933-1945, Berlin/ Hamburg 1991, Band II, 459-482; Notker Hammerstein, Zur Geschichte des Philosophischen Seminars der Johann Wolfgang Goethe-Universität während des Dritten Reiches, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 39 (1889), 271-310; Claudia Schorcht, Philosophie an den bayerischen Universitäten 1933-1945, Erlangen 1990. siehe etwa Thomas Laugstien, Philosophieverhältnisse im deutschen Faschismus, Hamburg 1990 und George Leaman, Heidegger im Kontext. Gesamtüberblick zum NS-Engagement der Universitätsphilosophen, Hamburg 1993. Einige Kurzbiographien von Philosophen bringt auch Michael Grüttner, Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, Heidelberg 2004 (= Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, Band 6).
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Dritten Reich“ gewandelt.9 Denn dort findet sich der ambitionierte Versuch einer aus den Quellen gearbeiteten Gesamtdarstellung der Philosophie im Nationalsozialismus einschließlich der Vorgeschichte. Was die Darstellung der im Vordergrund stehenden Berufungen und Habilitationen betrifft, ist sie weitgehend vollständig und meist fehlerfrei. Sie krankt nur leider daran, dass der Autor sie mit dem Versuch eines durchgehenden Geschichtsrevisionismus verbunden hat, wie er von Ernst Nolte und anderen vertreten wird.10 Das führt immer wieder zu dubiosen Bewertungen und Verdrehungen. Insofern ergab sich für das Folgende die Aufgabe, anhand einer anderen Sichtweise, anderen Fragestellungen und einer anderen Strukturierung das sowohl von Tilitzki als auch von vielen vor ihm und einigen nach ihm behandelte Material zum Thema darzustellen. 1. Die Lage der deutschen Philosophie vor 1933 Die Philosophie wurde – anders als einige andere Geisteswissenschaften, deren universitäre Etablierung zum Teil der Machtübernahme des Nationalsozialismus nur recht knapp vorausging bzw. sogar erst nach ihr erfolgte – bekanntlich nicht erst im 20sten Jahrhundert erfunden. Sie existiert vielmehr im Abendland seit über 2500 Jahren. In diesem Zeitraum war die Philosophie von wechselvollen Schicksalen betroffen. Eines der wichtigsten Phänomene, das sich durch ihre gesamte Geschichte gezogen hat, ist wohl, dass sie als Mutter der Wissenschaften immer wieder einzelne Disziplinen aus sich entließ. Dieser Prozess der Abspaltung von neuen Wissenschaften setzte sich im 20. Jahrhundert beschleunigt fort: damals etablierte sich die empirische Psychologie allmählich als universitäres Fach.11 Zum großen Verdruss der systematisch und historisch orientierten Philosophen wurden die einschlägigen Lehrstühle dabei von den ihren abgezogen. Später, am Anfang der 20er Jahre, gab es in Deutschland – mit administrativem Rückenwind progressiver Kultusverwaltungen – verstärkte Anstrengungen zur Institutionalisierung der Pädagogik an den Hochschulen, wobei die – nun meist zusätzlichen – Lehrstühle durchweg mit Philosophen besetzt wurden, insbesondere solchen lebensphilosophischer Orientierung wie etwa Wilhelm Flitner, Herman Nohl und Eduard Spranger. Zum Teil trifft das auch noch auf die Lehrstühle der Soziologie zu, die ebenfalls nach 1918 im Wege von Hochschulreformen – im bei weitem universitätsreichsten Preußen zunächst meist nur bei den Universitätsneugründungen und an den technischen Hochschulen – eingerichtet wurden.12 Gleichzeitig mit diesem verstärkten Schub von Ausgliederungen neuer Fächer aus ihrem traditionellen Bestand wurde die Philosophie nun seit der Jahrhundertwende und ver9 10
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Berlin 2002 (2 Bände); im folgenden zitiert als Tilitzki (2002). Dabei halte ich, um nur ein von Tilitzki gleich in seiner Einleitung ausführlicher diskutiertes Beispiel zu nennen, die Auseinandersetzungen um die deutsche Mitgliedschaft im Völkerbund (Seite 24 ff.) durchaus für ein Thema, über das man diskutieren kann. Aber etwa zu behaupten, wie Tilitzki es tut, Hitler hätte für die „außerhalb des Völkerbundes anzustrebende Revision des Versailler Diktates ohne Einschüchterung und Wahlfälschung bei 95% der Wähler Zustimmung“ (ebenda, 25; meine Hervorhebung) gefunden, ist – nach dem Verbot sämtlicher Parteien – wirklich harter Tobak. siehe dazu Nicole D. Schmidt, Philosophie und Psychologie. Trennungsgeschichte, Dogmen und Perspektiven, Reinbek 1995. Dirk Käsler, Die frühe deutsche Soziologie 1909 bis 1934 und ihre Entstehungs-Milieus. Eine wissenschaftssoziologische Untersuchung, Opladen 1984, bringt eine Liste der Reihenfolge, in der entsprechende Stellen eingerichtet wurden. Aber weder von ihm noch meines Wissens von irgendjemand sonst ist bisher untersucht worden, an welchen Hochschulen es überhaupt nicht oder nur ganz unzureichend zu entsprechenden Institutionalisierungen gekommen ist. Die Institutionalisierung an der Universität Göttingen etwa liest sich wegen gleich dreier in Käslers Liste aufgeführter Stelleninhaber besonders eindrucksvoll. In Wahrheit aber handelte es sich darum, wie Michael Neumann, Über den Versuch, ein Fach zu verhindern. Soziologie in Göttingen 1920–1950, in: Heinrich Becker, Universität Göttingen, (wie Anm. 7) 298–312 mit Recht geschrieben hat, „ein Fach zu verhindern“.
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stärkt in der Weimarer Zeit zusätzlich von tief greifenden Umwälzungen in einer ganzen Reihe von nicht nur wissenschaftlichen und kulturellen, sondern auch gesellschaftlichen und politischen Bereichen tangiert. Diese stellten sich zum großen Teil nun nicht mehr als nur institutionelle und organisatorische Veränderungen dar. Vielmehr handelte es sich um Herausforderungen an den traditionellen inhaltlichen Bestand der Philosophie und einzelne ihrer Teildisziplinen. Ich nenne (um anzudeuten, wovon die Rede ist, und ohne Anspruch auf Vollständigkeit) nur folgende Themen: – die Revolutionen in der Physik (Relativitätstheorien und Quantenmechanik), deren Relevanz für die traditionellen Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität in der philosophischen Zunft heftig umstritten waren13, – der seit der Entdeckung der Paradoxien der Mengenlehre kurz nach der Jahrhundertwende ausgebrochene Grundlagenstreit in der Mathematik, der die Entwicklung der mathematischen Logik beschleunigte, – die vor allem vom Ersten Weltkrieg ausgelöste „Umwertung“ aller Werte, die entweder zur gänzlichen Neuformulierung der Ethik14 und der philosophischen Politik herausforderte oder einige Philosophen zu ihrer gänzlichen Aufgabe führte15, – die Einführung der Demokratie in Mitteleuropa, die die Gemeinde der Philosophen erneut mit der uralten philosophischen Frage nach der besten Staatsform konfrontierte, sie nun aber auch ganz konkret und direkt politisch in verschiedene Lager zu spalten drohte16, – die revolutionären Entwicklungen in allen Gebieten der modernen Kunst (von der Malerei über die Architektur bis zur Musik), die die herkömmlichen ästhetischen Vorstellungen vom Kunstwerk und seinen Bewertungskategorien wie Schönheit, Harmonie etc. über den Haufen zu werfen schienen.17 Charakteristisch für die Atmosphäre der Weimarer Republik ist nun, dass sich alle diese Konflikte – und zwar auch die scheinbar unpolitischsten wie die Grundlagenkrisen in der Mathematik und Physik – mit politischer Sprengkraft aufluden. Zwar reagierten bei weitem nicht alle Philosophen auf diese Herausforderungen. Viele betrieben eine Art VogelStrauß-Politik und vergruben sich nun verstärkt in die Philosophiegeschichte, gaben also vor, sich nur mehr oder minder ausschließlich mit der Vergangenheit ihrer eigenen Disziplin befassen zu müssen.18 Aber erstaunlich viele thematisierten diese neuen Entwicklungen. Dabei kann man grob jene unterscheiden, die sich als „Modernisten“ mit den neuen Entwicklungen identifizierten, und jene, die sie als „Orthodoxe“ entschieden ablehnten.19 13 14 15 16
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Für einen Überblick über diese Diskussionen siehe Klaus Hentschel, Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie durch Zeitgenossen Albert Einsteins, Basel etc. 1990. siehe etwa in diesem Sinne die materialen Wertethiken Max Schelers und Nicolai Hartmanns. Paradigmatisch dafür sind einige Exponenten der Freistudentenschaft im ersten Weltkrieg wie Walter Benjamin und Hans Reichenbach. Einen Analyse einer konkreten Debatte aus der Mitte der 20er Jahre bietet Hans-Joachim Dahms, Die Philosophen und die Demokratie in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts: Hans Kelsen, Leonard Nelson und Karl Popper, in: Clemens Jabloner/ Friedrich Stadler (Hrsg.) Logischer Empirismus und Reine Rechtslehre, Beziehungen zwischen dem Wiener Kreis und der Hans Kelsen-Schule, Wien 2001, 209229; siehe für einen allgemeinen Überblick über die Reaktionen der Philosophen zum „Systemwechsel“ 1918/1919 und über ihre Haltung zur Weimarer Reichsverfassung Tilitzki (2002) 354 ff. Die Verflechtungen der philosophischen Schulen mit damals in Deutschland vorherrschenden kulturellen Strömungen wie der „Neuen Sachlichkeit“ sind bisher noch nicht hinreichend herausgearbeitet worden. Siehe dazu demnächst Hans-Joachim Dahms, Neue Sachlichkeit oder sachte Neulichkeit? Malerei, Architektur und Philosophie der 20er Jahre. siehe Hans-Joachim Dahms, Aufstieg und Ende der Lebensphilosophie (wie Anm. 7) und Volker Peckhaus, Hilbertprogramm und Kritische Philosophie. Das Göttinger Modell interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Mathematik und Philosophie (Göttingen 1990) für eine solche Rückzugshaltung der Philosophiehistoriker gegenüber entsprechenden Herausforderungen seitens der um philosophische Klärungen ihrer Grundlagenfragen besorgten Mathematiker und Physiker. Diese von Fritz K. Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933, Stuttgart 1983, in die Debatte gebrachte Unterteilung kann natürlich nur eine sehr grobe Annäherung an den
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Nun hatte sich die philosophische Szene schon während des Ersten Weltkriegs im Verlauf des „Kriegs der Geister“ ohnehin ungewöhnlich stark politisiert.20 Während nur eine verschwindende Minderheit eine pazifistische Haltung vertrat21, überboten sich viele vor allem in der ersten Kriegsbegeisterung in chauvinistischen und annexionistischen Gelegenheitsschriften. Etwa ab 1917 öffneten sich einige Philosophen wie Ernst Troeltsch der Option eines Verständigungsfriedens.22 Aber zufällig etwa gleichzeitig spaltete sich in der Philosophie – nach einem rassistisch unterfütterten Konflikt über die richtige KantInterpretation zwischen Bruno Bauch und Ernst Cassirer – von der wichtigsten Organisation der deutschen Philosophie, nämlich der 1906 gegründeten Kant-Gesellschaft, eine deutschnational dominierte und zum Teil sogar völkisch orientierte Deutsche Philosophische Gesellschaft ab.23 Gegen Ende der 20er Jahre war die deutsche Philosophie nach weiteren Auseinandersetzungen über die oben genannten politischen und weltanschaulichen Themen in unversöhnliche gegnerische Lager gespalten. Diese Gruppierungen standen sich – auch unabhängig von direkten parteipolitischen Engagements – im Grunde als eine Art von Weltanschauungsparteien gegenüber. Aus allen diesen Gründen ist es denn auch kein Wunder, wenn die Philosophen am Ende der Weimarer Zeit einer Machtübernahme der Nationalsozialisten mit durchaus verschiedenen Haltungen entgegensahen. Zwar waren einige – sozusagen „busy philosophizing along“ (Bertrand Russell) – erst kürzlich auf die nationalsozialistische Bewegung aufmerksam geworden. Dafür mag Karl Jaspers stehen, der in einer Neuauflage seines zuerst 1931 erschienenen Buchs „Zur geistigen Situation der Zeit“ schrieb: „Ich hatte damals kaum Kenntnis vom Nationalsozialismus, etwas mehr Kunde vom Faschismus. In der Befriedigung über den gerade erreichten Abschluss des Manuskriptes war ich bei den Septemberwahlen 1930 erstaunt und erschrocken über den damals ersten Erfolg der Nationalsozialisten.“24 Zu diesem Zeitpunkt stellten die NS-Studenten fast an allen deutschen Hochschulen bereits die Mehrheit in den Vertretungen der Studentenschaft. Auch einige Philosophen waren schon in der Nazi-Partei aktiv geworden. Als erster von ihnen hatte sich der Greifswalder Ordinarius Hermann Schwarz der „Bewegung“ schon 1923 angeschlossen (ohne dann aber nach 1933 in seinem Ruhestand noch eine große Rolle zu spielen25). Die meisten, die als Philosophen nach 1933 eine größere Rolle spielen sollten (und von denen im vierten Abschnitt noch ausführlicher die Rede sein wird), hatten sich erst kurz vor 1933 der neuen Bewegung meist durch Kontakte mit aktivistischen Studenten angenähert, dies aber in ganz verschiedenem Maße öffentlich gemacht. Viele andere schlossen sich ihr nach der „Macht-
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sehr komplexen Sachverhalt bieten, weil ein und dieselben Philosophen oder auch ganze Schulen in manchen Hinsichten als Modernisierer, in anderen als Orthodoxe anzusprechen sind. siehe dazu Hermann Lübbe: Politische Philosophie. Studien zu ihrer Geschichte, München 1974; Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Berlin 2000 sowie Tilitzki (2002) 498 ff. Dabei handelte es sich häufig um Angehörige der meist linksliberal bis sozialdemokratisch orientierten Freistudentenschaft ; siehe dazu Hans-Joachim Dahms: Hans Reichenbachs Beziehungen zur Frankfurter Schule – nebst Bemerkungen zum Wahren, Schönen und Guten, in: Lutz Danneberg, Hans Reichenbach (wie Anm. 6) 333-352. so etwa Ernst Troeltsch; siehe dazu Hans-Georg Drescher, Ernst Troeltsch – Leben und Werk, Göttingen 1991. siehe dazu Hans Sluga, Heideggers Crisis. Philosophy and Politics in Nazi Germany, Cambridge (Mass.)/London 1993, und Tilitzki (2002) 486-544 sowie zur Situation an der Universität Jena, wo die neue Organisation aus der Taufe gehoben wurde und in der Anfangsphase ihren stärksten Rückhalt fand, Dahms, Jenaer Philosophen (wie Anm. 7) 727 ff. Karl Jaspers (1931/1946) Die geistige Situation der Zeit“, Berlin. siehe etwa Hermann Schwarz, Nationalsozialistische Weltanschauung. Freie Beiträge zur Philosophie des Nationalsozialismus aus den Jahren 1919–1923 (Berlin 1933) und ders.: Zur philosophischen Grundlegung des Nationalsozialismus (Berlin 1936) (= Schriften der Deutschen Hochschule für Politik, 1. Idee und Gestalt des Nationalsozialismus, H. 17)
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ergreifung“ an, weil sie hofften, dass der Nationalsozialismus mit einem Schlag mit den Gefährdungen der Moderne aufräumen und insbesondere der Philosophie wieder ihren Rang als Königin der Wissenschaft einräumen würde. Nicht wenige aus dieser Gruppe der frühen Nazi-Anhänger unter den Philosophen träumten auch davon, eine führende Funktion bei der bevorstehenden Umstrukturierung des Bildungswesens übernehmen oder gar hinter den Kulissen des Dritten Reiches – gewissermaßen als „Führer des Führers“26 – die Rolle eines platonischen Philosophenkönigs spielen zu können. 2. „Säuberungen“ Der einzige Punkt, in dem die NS-Vorstellungen zur „Hochschulreform“ vor 1933 einigermaßen konkret waren, ist die rigorose „Säuberung“ der Beamtenschaft, des Bildungswesens, der Hochschulen und also auch der Philosophie gewesen. Um ermessen zu können, wie viele Philosophen Opfer dieser „Säuberungen“ wurden, ist es erforderlich, zunächst den personellen Stand ihrer Disziplin vor 1933 exakt zu erfassen. Inzwischen sind dazu einige Angaben veröffentlicht worden, die aber untereinander in ihren Ergebnissen differieren. Außer an gelegentlichen Zählfehlern liegt dies vor allem an der Verschiedenheit der angewandten Zählkriterien. Im Einklang mit George Leaman27 und Thomas Laugstien28 verwende ich im Folgenden das Kriterium der Habilitation als Merkmal der Zugehörigkeit zum Philosophenstand (mit der Ausnahme von Ernst Krieck, der als einer der wenigen ohne Habilitation, ja sogar ohne Promotion Professor wurde). Es sei von vornherein betont, dass dies Kriterium keineswegs trivial ist: es schließt einige Autoren aus, die als Philosophen als Berühmtheiten anzusprechen sind. Hannah Arendt, Walter Benjamin, Ernst Bloch, Carl-Gustav Hempel und Herbert Marcuse gehören dazu, sei es, weil sie noch nicht so weit waren, überhaupt ein Habilitationsgesuch auf den Weg bringen zu können, sei es, weil sie dies zurückgezogen hatten, oder sei es, weil ihr Versuch aus anderen Gründen gescheitert war. Blickt man über die Grenze nach Österreich, erhält man mit Herbert Feigl, Karl Popper, Friedrich Waismann und Edgar Zilsel weitere Belege für die Brisanz des Kriteriums. Wenn ich mich im Folgenden trotz dieser Beispiele daran halte, so geschieht das, weil anderenfalls ziemlich unklare Verhältnisse entstehen. Sodann das Problem der fachlichen Zugehörigkeit! Es empfiehlt sich, nicht nur die Philosophen im engeren Sinne, sondern auch solche Hochschullehrer einzubeziehen, die ihre Lehrtätigkeit in der Philosophie zusammen mit irgendeinem anderen Fach (wie der Pädagogik oder der Psychologie) ausübten. Angehörige anderer Fakultäten (wie etwa die Rechtsphilosophen in den Juristischen oder die Religionsphilosophen in den Theologischen Fakultäten) bleiben draußen vor. Nach diesen Einschlusskriterien gab es zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtübernahme 180 habilitierte Philosophen (in dem angegebenen Sinn) an den 23 Universitäten in Deutschland.29 Von diesen wurden nach 1933 aus rassischen und/oder politischen Gründen von den Nationalsozialisten 60 (nach
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siehe Otto Pöggeler, Den Führer führen? Heidegger und kein Ende, in: Philosophische Rundschau 32 (1985) 26–67. Leaman, Heidegger im Kontext, (wie Anm. 8). Laugstien, Philosophieverhältnisse, (wie Anm. 8). Bei dieser (und auch den folgenden Angaben) stütze ich mich auf Leaman, Heidegger im Kontext (wie Anm. 8), hier: 18 und 108. Der von Tilitzki (2002) 19, Anm. 13 formulierte Vorwurf der Unvollständigkeit gegen Leamans Aufstellung (er habe „nicht weniger als 70 Philosophen, darunter zahlreiche Habilitanden“ und zahlreiche weitere „im Bereich Philosophie tätige Beamte und Wissenschaftler“ übersehen) geht ins Leere, weil er offenbar weitergefasste Einschlusskriterien zu Grunde legt.
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Leaman) bzw. 63 (nach Tilitzki30) entlassen, also ein Drittel. Wie man auf die Idee kommen kann, diese enorme politisch und rassistisch motivierte Entlassungswelle mit jener – natürlich auch in ihren quantitativen Ausmaßen – wesentlich kleineren Reihe von Vakanzen zu vergleichen, die 1918/19 durch die längst überfällige Einführung einer Altersgrenze auch für Hochschullehrer entstanden war, wie dies Tilitzki tut31, ist mir ein Rätsel. Es ist natürlich wissenswert, aus welchen Motiven sie vertrieben wurden. Leaman gibt an, dass sich unter den Entlassenen acht Sozialisten befunden hätten: Theodor Wiesengrund-Adorno (Frankfurt), Ernst von Aster (Gießen), Hans Ehrenberg (Heidelberg), Albert Görland (Hamburg), Max Horkheimer (Frankfurt), Siegfried Marck (Breslau), Hans Reichenbach (Berlin) und Paul Tillich (Frankfurt).32 Zusätzlich könnte man noch mit gleichem Recht Paul Honigsheim (Köln), August Wilhelm Messer (Gießen) und Aloys Wenzl (München) nennen. Dass diese Philosophen als Sozialisten vertrieben wurden, bedeutet allerdings nur in der Minderheit von Fällen eine Entlassung nach § 4 ("politische Unzuverlässigkeit") des Berufsbeamtengesetzes.33 Selbst wenn man dem noch einige andere Fälle hinzufügt, in denen Philosophen aus politischen Gründen, aber nicht wegen irgendeiner Linksorientierung entlassen wurden34, wird klar, dass jedenfalls insgesamt nur ein relativ kleiner Prozentsatz aus politischen Gründen vertrieben wurde. Von den genannten etwa 60 Entlassenen zogen es 20 (also wiederum ein Drittel) vor, im Reichsgebiet zu bleiben, die übrigen 40 emigrierten bis 1940. Dabei wanderten schon im ersten Jahr der Hitler-Diktatur 22 (also etwas mehr als die Hälfte) aus, während die übrigen sich – mit einer kleinen Spitze im Jahre 1939 im Anschluss an die Ereignisse der „Reichskristallnacht“ – auf die folgenden Jahre verteilten.35 Zum Schluss dieser Übersicht noch ein paar Bemerkungen zu den Zielländern der Emigration! Hier liegen noch keine verlässlichen Daten vor. Im Überblicksartikel über die Philosophie im „Handbuch der deutschsprachigen Emigration“ bringt Nikolaus Erichsen eine Tabelle, der zufolge 13 Philosophen (im oben definierten Sinne, aber mit Einschluss der Philosophen an Technischen Hochschulen) in die USA emigriert seien, und 31 nach Großbritannien.36 Dabei kann es sich aber nur über eine Vertauschung der Tabellenzeilen handeln. Denn dies ist sicher: die meisten Emigranten in der Philosophie sind in die USA
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Dies ist Ergebnis einer Addition, die die in Tilitzki (2002) 600 ff. für die Entlassungen 1933 bis 1935 und für die Entlassungen von 1936 bis 1938 (ebenda, 664 ff.) angegebenen Zahlen und Fälle zusammennimmt. Ein personenbezogener Vergleich der Angaben von Leaman und Tilitzki muss hier aus Platzgründen unterbleiben. An der Größenordnung der Zahlen, auf die es hier nur ankommt, würde er nicht viel ändern. Tilitzki (2002) 600. ebenda, 18. So wurden etwa Adorno und Reichenbach nach § 3 („nicht-arische Abstammung“) und Wenzl nach § 18 der Reichshabilitationsordnung („Unwürdigkeit“) verjagt. Es wären etwa noch Ernst Horneffer (Gießen, Wirtschaftspartei), Traugott Konstantin Oesterreich (Tübingen, wohl Zentrum, entlassen nach § 4) und Balduin Schwarz (Münster, § 4) zu nennen. Der berühmte „Fall“ Hans Leisegang (Jena) gehört in eine besondere Kategorie. Gegen ihn wurde nämlich ein Disziplinarverfahren mit dem Ziel der Entlassung aus dem Beamtenstatus (§ 129 BBG) betrieben, weil er auf dem Jenaer Marktplatz – aus einer Formation des NS-Frontkämpferbundes heraus! – sich darüber mokiert hatte, dass ein Gefreiter (Hitler) eine Trauerrede auf einen Generalfeldmarschall (Hindenburg) halten dürfe. Siehe dazu Dahms, Jenaer Philosophen (wie Anm. 7) 746 ff. Ferdinand Toennies, 1881 für Philosophie habilitiert, als Mitglied der SPD nach § 4 entlassen, war seit 1919 Ordinarius für Staatswissenschaften in der Juristischen Fakultät in Kiel und wird daher hier nicht mitgezählt. 1934 = 4; 1935 = 3; 1936 = 0; 1937 = 1; 1938 = 3; 1939 = 6 und 1940 = 1, Zahlen nach Leaman, Heidegger im Kontext (wie Anm. 8), 108. Nikolaus Erichsen, Philosophie, in: Claus-Dieter Krohn/ Patrik von zur Mühlen/ Gerhard Paul/ Lutz Winckler (unter redaktioneller Mitarbeit von Elisabeth Kohlhaas) (Hrsg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945, Darmstadt 1998, 791–803, hier 797 f.
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ausgewandert.37 Erst danach folgte England. Die übrigen Zielländer haben dagegen nur ganz verschwindende Zahlen auf sich gezogen. Soweit ein summarischer statistischer Überblick! Doch die für die Philosophieentwicklung wichtigere Frage lautet: Was hat der Verlust durch Entlassungen und (zum Teil) anschließende Emigration inhaltlich für die Philosophie bedeutet? Diese Frage ist in zwei Richtungen zu beantworten, nämlich einerseits für die Geber-, andererseits für die Empfängerländer der Emigration. Nach Erichsen insoweit zutreffender Darstellung wurden drei philosophische Optionen bzw. Schulen gänzlich von den deutschen (bzw. auch österreichischen) Hochschulen vertrieben. Das war neben den jüdischen Religionsphilosophen (die aber an den Universitäten vor 1933 nicht vertreten waren) der Logische Empirismus Berliner (und in Österreich: Wiener) Provenienz und die Frankfurter Schule. Damit wurden gleichzeitig einige philosophische Teildisziplinen geschwächt bzw. kamen gänzlich zum Erliegen, denen sich diese beiden letzteren Kreise besonders gewidmet hatten: der mathematischen Logik und der Wissenschaftstheorie die logischen Empiristen, der marxistisch und freudianisch inspirierten Sozialforschung und später vor allem der zeitgenössischen Ästhetik bzw. der Massenkultur die Frankfurter Schule. Man muss allerdings bedenken, dass diese beiden Optionen jeweils nach langen Vorläufen erst um 1930 einigermaßen fest an einigen wenigen Hochschulorten verankert waren (nämlich in Frankfurt, Berlin und Wien) und nur einen verschwindend kleinen Teil der erwähnten 180 vor 1933 an den deutschen Hochschulen lehrenden Philosophen gestellt hatten.38 Wie Andreas Kamlah mit Recht bemerkt hat, handelte es sich gerade um diejenigen Philosophen, die Deutschland zur Auseinandersetzung mit der ambivalenten Moderne des 20. Jahrhundert hätten antreiben können.39 Zahlenmäßig empfindlicher sind dementsprechend die Verluste durch Entlassung und Emigration für die akademisch sozusagen alteingesessenen philosophischen Optionen und Schulen wie die Neukantianer (seit den 60er Jahren des neunzehnten Jahrhunderts), die Phänomenologen und die Lebensphilosophen (beide seit dem ersten und zweiten Jahrzehnt des zwanzigsten). Auch wenn sie nicht als Ganze vertrieben wurden, sondern sich im Zuge der „Säuberungs“-Politik in solche spalteten, die emigrieren mussten und solche (meist größere Gruppen), die im Lande blieben, so waren sie bis 1933 doch akademisch um so vieles besser etabliert als die Frankfurter, Berliner und Wiener philosophischen Schulen, dass ihre absoluten Verlustzahlen auch weit höher lagen. Man denke an die Neukantianer, die in Hamburg – mit der Entlassung von Ernst Cassirer und der vorzeitigen Pensionierung von Alexander Görland – einen ihrer wichtigsten Stützpunkte verloren, an die Lebensphilosophen, die mit Georg Misch und Bernhard Groethuysen betroffen waren, und schließlich an die Phänomenologen, die allerdings mehr mit ihrer jüngeren und in Deutschland noch weniger gut etablierten Generation vertrieben wurden (man denke außer an den früh im Exil verstorbenen Moritz Geiger etwa an Herbert Spiegelberg und Raymond Klibansky). Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, dass die Neukantianer und erst recht die Lebensphilosophen in ihren jeweiligen Emigrationsländern keine große Rolle gespielt haben. Insofern überrascht es auch nicht, dass viele von ihnen nach 1945 wieder nach Deutschland
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Dies zeigt auch der Vergleich mit den namentlichen Listen, die Erichsen, Philosophie, ebd. 792 angibt. Nämlich in Frankfurt nur den Ordinarius Max Horkheimer und den Privatdozenten Theodor W. Adorno und in Berlin nur den Extraordinarius Hans Reichenbach sowie (an der Technischen Hochschule Charlottenburg) den Extraordinarius Walter Dubislav. Die Besonderheit dieser Gruppen besteht ja u.a. darin, dass sie auch Fachleute aus einer größeren Anzahl außerphilosophischer Disziplinen anzogen. Andreas Kamlah, Die philosophiegeschichtliche Bedeutung des Exils nichtmarxistischer Philosophen zur Zeit des Dritten Reiches, in: Dialektik 7 (1983) 29-43.
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(bzw. die BRD oder die DDR) zurückgekehrt sind.40 Anders steht es natürlich mit den Logischen Empiristen41, die vor allem in den USA durch ihre Verbindung mit einigen prominenten Pragmatisten wie John Dewey und Charles Morris, unter anderem in der gemeinsam betriebenen „International Encyclopedia of Unified Science“ Schule machten und entscheidend zur Herausbildung der Analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie der Nachkriegszeit beitrugen.42 Wichtig wurde auch die Frankfurter Schule im US-amerikanischen Exil: Sie hatte dort zwar zunächst keinen durchschlagenden Erfolg in der Philosophie. Der stellte sich dann aber umso stärker – und zwar sowohl bei den wieder zurückgekehrten Mitgliedern um Max Horkheimer, Friedrich Pollock und Theodor W. Adorno als auch bei denen, die in den USA blieben, in den 60er Jahren ein, als etwa Herbert Marcuse sowohl in Amerika als auch in Europa zu einem der geistigen Väter der Studentenrevolte avancierte. Diesen beiden Gruppierungen, also den Logischen Empiristen und der Frankfurter Schule, war es im übrigen auch gelungen, ihre jeweiligen Sprachrohre, nämlich die „Erkenntnis“ bzw. die „Zeitschrift für Sozialforschung“ in die Emigration zu retten. In diesem Zusammenhang sind auch die Phänomenologen zu nennen, denen es 1940 gelang, eine eigene Zeitschrift zu gründen, das „Journal for Philosophy and Phenomenological Research“, in der sie bis auf den heutigen Tag ihre Tradition fortführen.43 Die Untersuchung der Wirkung ehemals deutscher Philosophen in den Emigrationsländern wirft auch die Frage auf, bis wann eigentlich die Resultate der dort erzielten Forschungsergebnisse noch als „deutsche Philosophie“ zu bezeichnen sind. Man kann ja nicht alles, was in den Emigrationsländern von bedeutenden Emigranten geleistet worden ist, einfach demjenigen Land als Leistung zuschlagen, das sie zuvor vertrieben hatte. Meines Erachtens geben hier weniger äußere Kriterien wie etwa der Wechsel der Staatsangehörigkeit den Ausschlag, sondern vielmehr die Sprache, in der Veröffentlichungen stattfanden. Denn die Wahl der Publikationssprache impliziert meist eine Entscheidung des Publikums, an das man sich wenden will. Die logischen Empiristen begannen nun relativ früh (seit etwa 1936), auf englisch zu publizieren44, die Phänomenologen folgten etwa zwei Jahre später, die Angehörigen der Frankfurter Schule begannen nach längerem Zögern erst 1940, ihre „Zeitschrift für Sozialforschung“ auf englisch erscheinen zu lassen, und publizierten dann nach deren Einstellung ihre meisten Bücher auf englisch. Dagegen brachte ein Mann wie Ernst Bloch es nie übers Herz, auch nur einen einzigen Artikel auf englisch zu verfassen oder gar zu veröffentlichen. Insofern ist sein in den USA entstandenes, dann aber erst in der DDR veröffentlichtes Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ auch noch ganz der deutschen Philosophie zuzurechnen.
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Das trifft insbesondere auf die deutsche philosophische Emigration nach Großbritannien zu, wo nur ein einziger von ursprünglich 13 Emigranten, nämlich Fritz Heinemann, dauerhaft geblieben ist. siehe für einen guten Überblick Friedrich Stadler, Der „Wiener Kreis“, in: Krohn u.a, Handbuch (wie Anm. 36), 813–824. siehe dazu Ron Giere/Alan Richardson (eds.) Origins of Logical Empiricism, Minneapolis 1996; Gary Hardcastle/ Alan Richardson (eds.) Logical Empiricism in North America, Minneapolis 2003; neuerdings George A. Reisch, How the Cold War Transformed Philosophy of Science. To the Icy Slopes of Logic, Cambridge, New York etc. 2005. siehe für einen Überblick über die Phänomenologie in den USA Spiegelberg, Phenomenological Movement (wie Anm. 6). Die erste empiristische Fanfare in den USA ist natürlich Albert Blumberg/ Herbert Feigl, Logical Positivism. A New Movement in European Philosophy, in: Journal of Philosophy 28 (1931) 281-296. Aber Feigl ist wegen seines frühen Auswanderungszeitpunkts nur mit Einschränkungen als Emigrant im hier verwendeten Sinn zu bezeichnen. Die dann folgenden größeren Arbeiten von logischen Empiristen in englisch sind etwa Rudolf Carnap, Testability and Meaning (1935/1936) und Hans Reichenbach, Experience and Prediction (1938), die von vornherein auf englisch geschrieben (also nicht mehr übersetzt) wurden und sich auch in ihrem Gehalt vornehmlich an das amerikanische Publikum richteten.
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28 3. Nationalsozialistischer „Neuaufbau“ 3.1. Die Friedenszeit
Welches sind die spezifisch nationalsozialistischen Neuerungen gewesen, die sich für die Philosophie – vom Studium über die Nachwuchsrekrutierung bis hin zur Forschung45 – nach 1933 ergeben haben? Im Studium ist die einschneidendste Neuerung gewesen, dass man die Philosophie nicht mehr als Zusatzfach im Staatsexamen wählen konnte, sondern nur noch als Haupt- oder Nebenfach bei der Promotion.46 Das rückte die Anforderungen an ein Studium der Philosophie enorm auseinander. Denn fortan existierte die Philosophie nur noch einerseits unter "ferner liefen" im obligatorischen Begleitstudium für die große Masse der Lehrerstudenten und andererseits als ein Orchideenfach für die wenigen Haupt- und Nebenfachstudenten im Promotionsstudium. So dürften die Studierendenzahlen in der Philosophie, vom Begleitstudium abgesehen, im Durchschnitt noch wesentlich weiter nach unten tendiert haben, als es der ohnehin gewaltige Rückgang der Immatrikulationen nach 1933 hätte erwarten lassen.47 Von dieser ohnehin reduzierten Auslesebasis aus führte die – für alle Habilitanden obligatorisch gemachte – Einführung von "Gemeinschaftslagern" (synomym mit Wehrsport) und „Dozentenakademien“ (synonym mit ideologischer Schulung) zu ebenso reduzierten Zahlen beim akademischen Nachwuchs. Ganz allgemein erzeugten diese neuen Erfordernisse verstärkte Anpassung und Mitläufertum auf der einen Seite oder überhaupt einen Verzicht auf eine akademische Karriere auf der anderen.48 Es scheint aber, dass die Philosophie überproportional unter den Begleiterscheinungen dieser nichtwissenschaftlichen Leistungen zu leiden hatte. In Göttingen etwa wurden gleich mehrere Habilitanden erheblich von der ideologischen Repression betroffen und konnten nur durch glückliche Umstände ihre fast schon verloren gegebene Karriere fortsetzen.49 Wenn man sich nun vor Augen führt, dass ein Teil der von reduzierter Selektionsbasis aus erzeugte zahlenmäßig geringere akademische Nachwuchs im Krieg gefallen ist, bekommt man eine Vorstellung davon, wie stark die bereits durch die Effekte der „Säuberungen“ überproportional betroffene Philosophie durch den Nationalsozialismus zurückgeworfen wurde. Es kam nun hinzu, dass die Nationalsozialisten auf die Philosophie als Fach keinen allzu großen Wert legten. Denn anders kann man es nicht erklären, dass eine ganze Reihe von Lehrstühlen nicht wieder besetzt, zu einem kleinen Teil für die Psychologie, zu einem größeren Teil aber für damalige Modefächer wie Rassenkunde, Wehrwissenschaft und Volkskunde umgewidmet wurden.50 Der Aderlass der Philosophie zugunsten anderer Fächer hat insgesamt allein auf der Ebene der Ordinariate und beamteten Extraordinariate insgesamt 45 46 47
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Zu letzterer s.u. insbesondere Abschnitt 4.2. siehe zu diesen Bestimmungen und ihren Auswirkungen Dahms, Lebensphilosophie (wie Anm. 7), 188. Bedauerlicherweise brechen die Aufschlüsselungen für die Studierendenzahlen nach einzelnen Fachrichtungen für Philosophie und Pädagogik nach der amtlichen Statistik mit dem Wintersemester 1932/33 meist ab. Von da ab sind sie mit Kunst und Archäologie zu „sonstigen Kulturwissenschaften“ zusammengefasst. Siehe dazu Hartmut Titze u.a., Das Hochschulstudium in Preußen und Deutschland 1820-1944 (= Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Band I: Hochschulen, 1. Teil), Göttingen 1987, 136 f.; ders, Wachstum und Differenzierung der deutschen Universitäten 1830-1945, Göttingen 1995 (= Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Band I: Hochschulen, 2. Teil) mit Zahlen für einzelne Hochschulen. vergl. in diesem Sinne Notker Hammerstein, Die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Wissenschaftspolitik in Republik und Diktatur 1920–1945, München 1999, 247 f.; siehe aus autobiographischer Perspektive dazu auch Hans-Georg Gadamer, Philosophische Lehrjahre, Frankfurt am Main 1977, 56 f. siehe Dahms, Lebensphilosophie (wie Anm. 7) 179 ff. siehe für einen Überblick Tilitzki (2002) 850.
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fast 50 Prozent ausgemacht.51 Offenbar wollte man an den kleineren Universitäten durchweg mit nur noch einem Lehrstuhlinhaber auskommen. Legt man nationalsozialistische Kriterien an, hat die Berufungspolitik im Bereich der Philosophie in der Mehrheit auch nur „indifferente“ und nur in der Minderheit „politisch-positive“ auf Lehrstühle gebracht.52 Als wäre der Abstieg ihres Faches im NS-System nicht mit Händen zu fassen, gerierten sich einige seiner Exponenten unverdrossen, als könnten sie weiterhin an den Universitäten die Rolle geistiger Vorreiter spielen. Ein besonderes Kapitel sind in diesem Zusammenhang die Gründungen so genannter „Akademien der Wissenschaften des NS-Dozentenbundes“ (nicht zu verwechseln mit den soeben erwähnten Dozentenakademien). Diese geistigen Zentren für die nationalsozialistische Durchdringung der Wissenschaften wurden erst gegen Ende der 30er Jahre an einigen Hochschulorten gegründet (so in Göttingen, Kiel und Tübingen). Es ist bezeichnend, dass unter den wissenschaftlichen Leitern dieser Institutionen mit Ferdinand Weinhandl (in Kiel) und Hans Heyse (in Göttingen) die Philosophen überproportional vertreten waren. Das Wirken dieser Akademien ist bislang nur sporadisch untersucht worden.53 Allerdings scheint es, dass diese Gründungen noch weniger erfolgreich waren als etwa die „Hohe Schule“ Rosenbergs54 – für die später Alfred Baeumler verantwortlich wurde – oder das „Ahnenerbe“ der SS.55 Auch stellten einige der „Akademien der Wissenschaften des NS-Dozentenbundes“ schon vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs ihre ambitiös begonnenen Aktivitäten ein. 3.2 Die deutschen Philosophen im „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“ In den meisten Universitätsgeschichten, die sich mit der Entwicklung ganzer Universitäten oder einzelner ihrer Disziplinen bzw. ihrer Vertreter im Nationalsozialismus befassten, wurde die Zeit des Zweiten Weltkriegs meist nur unter „ferner liefen“ abgehandelt, obwohl es sich dabei doch immerhin um fast die Hälfte der gesamten „Lebenszeit“ des Nationalsozialismus gehandelt hat. Erst in neuerer Zeit ist man dank der Untersuchungen von FrankRutger Hausmann56 und Notker Hammerstein57 verstärkt auf dieses Thema aufmerksam geworden. Konnte zuvor noch der Eindruck vorherrschen, die nicht zum Kriegsdienst eingezogenen Philosophen hätten sich mehr und mehr in ihren akademischen Elfenbeinturm zurückgezogen, da sie vor Ort meist nicht mehr besonders hervorgetreten sind, wird diese Perspektive nun gründlich revidiert. Sie haben sich nämlich gerade im Kriege durch eine Fülle von „extramuralen“ Aktivitäten ein weites neues Betätigungsfeld erschlossen. Insbesondere kam es im Rahmen der von Hausmann und von Tilitzki untersuchten „Aktion Ritterbusch“ zu einer Serie von Tagungen in Weimar, Berlin, Salzburg und Nürnberg, die sich später auch in einigen dickleibigen Tagungsbänden niedergeschlagen haben, nämlich in – August Faust (Hrsg.): Das Bild des Krieges im Deutschen Denken (1941), – Theodor Haering (Hrsg.): Das Deutsche in der deutschen Philosophie (1941) und – Nicolai Hartmann (Hrsg.): Systematische Philosophie (1942). 51 52 53 54 55 56 57
ebenda. ebenda, 852. siehe für Göttingen Hans-Joachim Dahms, Einleitung, in; Becker u.a., Universität Göttingen (wie Anm. 7), 15–60, hier 40 ff. Reinhard Bollmus, Zum Projekt einer nationalsozialistischen Alternativ-Universität, in: Manfred Heinemann (Hrsg.), Erziehung und Schulung im Dritten Reich, Teil 2: Hochschule und Erwachsenenbildung, Stuttgart 1980, 125-152. Michael Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS 1935-1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, Stuttgart 1974. siehe Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940–1945), Dresden etc. 1998 (= Schriften zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, 1). siehe Hammerstein, Forschungsgemeinschaft (wie Anm. 48).
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Schon von den Titeln dieser Bände her gewinnt man ein Bild sozusagen im Zeitverlauf abnehmender Ideologiehaltigkeit. Die Reaktionen in der philosophischen Fachwelt und erst im übrigen Geistesleben auf diese Anstrengungen sind offenbar nur minimal gewesen. Rezensionen gab es nur ausnahmsweise, und diese wurden meist von völlig Unbekannten beigesteuert.58 Ein weiterer einschlägiger Tagungsband, der den Ertrag einer Nürnberger Tagung vom September 1941 über „Europa und die deutsche Philosophie“ hätten sammeln sollen, wurde erst gar nicht publiziert.59 Offenbar wäre der Umstand, dass nur 6 von eingeladenen 35 europäischen Philosophen angereist waren (von denen dann auch nur 3 das Wort ergriffen) schon peinlich genug gewesen. Zusätzlich hatten sich die deutschen Beiträger der Tagung offenbar nicht darüber einigen können, ob sie lieber ein „Germanisches Reich deutscher Nation“ oder eine europäische Föderation unter deutscher Vorherrschaft haben wollten. Zu einem ähnlich mageren Ergebnis würde man wahrscheinlich kommen, wenn man den Effekt philosophischer Einsätze bei Auslandsreisen einbezieht, deren sich verschiedene Philosophen erfreuen durften. Über die Zuhörerschaft und die anschließende Berichterstattung in Tageszeitungen wissen wir bisher meist noch nichts. So drängt sich beim „Kriegseinsatz“ der Geisteswissenschaften und insbesondere dem der Philosophen die Frage auf, ob es sich dabei ausschließlich um Beiträge zur Kriegspropaganda gehandelt hat. Es hätte sich auch um die Möglichkeit handeln können, Wissenschaftler als unabkömmlich zu reklamieren und damit vor dem Kriegsdienst zu schützen, wie das im Bereich der angewandten Naturwissenschaften im Rahmen der „Aktion Osenberg“ erfolgreich praktiziert wurde.60 Allerdings ist diese Interpretation schon wegen der wesentlich geringeren Erfolge Ritterbuschs bei den Uk-Stellungen offenbar wenig wahrscheinlich: während 5000 Naturwissenschaftler freigestellt wurden, wurde das nur für 100 Geisteswissenschaftler beantragt (darunter 11 Philosophen).61 4. Gab es eine NS-spezifische Philosophie? 4.1 Konträre Thesen Dass der Nationalsozialismus den Stellenwert dieses Universitätsfachs sowohl hinsichtlich seiner Stellung im Kanon der Fächer als auch in seinem Inhalt erheblich veränderte, dürfte inzwischen klar geworden sein. Außerdem ist – vor allem seit George Leamans Dossier62 – mittlerweile unstrittig, dass es einige Philosophen gab, die Nationalsozialisten schon vor 1933 waren und viele, die sich nach 1933 der NSDAP anschlossen. Aber damit ist die Frage noch nicht beantwortet: gab es auch eine NS-spezifische Philosophie? Diese Frage ist etwa seit Ende der 80er Jahre – etwa in Veröffentlichungen von Monika Leske und Hans Sluga (siehe unten) – kontrovers behandelt worden und hat um das Jahr 2000 erneute Aufmerksamkeit auf sich gezogen.63 Allerdings haben diese Erörterungen am Mangel an Ver58 59 60
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siehe Hausmann, Geisteswissenschaft, 223f., 227; nach 240 ist Hartmanns Band immerhin sowohl von Hans-Georg Gadamer als auch von Walter Del-Negro, einem damals bekannten philosophischen Publizisten, besprochen worden. siehe zu der Tagung, ihren Teilnehmern und Referaten Tilitzki (2002) 1105. siehe zur „Aktion Osenberg“ Karl-Heinz Ludwig, Technik und Ingenieure im Dritten Reich, Düsseldorf 1974. Allein der Umstand, dass Ritterbusch ja selbst 1944 zeitweise eingezogen wurde (Hammerstein, Forschungsgemeinschaft, 528) und selbst bei der DFG zeitweise die Hälfte der Referenten für den Kriegsdienst reklamiert wurden, spricht für die magere Ausbeute der Ritterbusch-Aktion (ebd. 365). siehe dazu Tilitzki (2002) 1142 . Leaman, Heidegger im Kontext (wie Anm. 8). Gereon Wolters, Der „Führer“ und seine Denker. Zur Philosophie des „Dritten Reichs“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999) 2, 223–251; Volker Böhnigk, Kant und der Nationalsozialismus.
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gleichsobjekten gelitten. Ich meine demgegenüber, dass man den Stellenwert des Problems am besten verstehen wird, wenn man – im synchronen Querschnitt sozusagen – die Lage der Philosophie mit der anderer akademischer Fächer im Nationalsozialismus oder – im diachronen Längsschnitt – die Philosophie im Nationalsozialismus mit ihrer Stellung in anderen autoritären Systemen, etwa in der DDR vergleicht.64 Um mit dem letztgenannten Vergleich zu beginnen: in der Tat hat es in der DDR eine systemtypische Philosophie gegeben. Das war der Marxismus-Leninismus. Die Etablierung dieser „Kaderphilosophie“65 setzte schon vor der Gründung der DDR in der Sowjetischen Besatzungszone ein, war aber erst nach etwa 12 Jahren abgeschlossen, in einem Zeitraum also, der der gesamten „Lebensdauer“ des Nationalsozialismus entspricht. Es kommt hinzu, dass die Hälfte der nationalsozialistischen Ära die Zeit des Zweiten Weltkriegs war, während dessen offenbar ideologische Klärungen und forcierte Auseinandersetzungen bis nach einem erträumten Sieg zurückgestellt wurden.66 Die Frage lautet, so gesehen: Ist es den Nationalsozialisten gelungen, trotz dieser relativ kürzeren Zeitspanne eine ähnlich einheitliche NS-Philosophie sowohl zu entwickeln als auch institutionell zu etablieren? In vielen anderen Fächern hat es während der Zeit des Nationalsozialismus in der Tat spezifische „deutsche Sonderwege“ gegeben, die zu Konzeptionen von spezifisch Deutscher Wissenschaft (mit großem D und im ausdrücklichen Unterschied zu den als „liberalistisch“ kritisierten internationalistischen und universalistischen Wissenschaftsverständnissen) führten. Das lässt sich praktisch durch alle akademischen Disziplinen verfolgen. Es betraf auch solche Fächer, die vor ideologischer Vereinnahmung scheinbar bestens gefeit schienen, nämlich auch die Physik und die Mathematik. Hier waren schon im Laufe der 20er Jahre Programmatiken einer „Deutschen“ oder „Nordischen“ Physik und Mathematik entwickelt und polemisch gegen „jüdische“ und „nichtarische“ Konzeptionen gewendet worden.67 Im Grunde handelte es sich dabei darum, die Grundlagenstreitigkeiten, die es in diesen Fächern seit den Relativitätstheorien bzw. im Grundlagenstreit der Mathematik mit seinen verschiedenen Lösungsversuchen gegeben hatte, kräftig mit rassistischen Untertönen aufzuladen. Entsprechende Lagerbildungen sind aber auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen wie der Theologie68, der Volkswirtschaft, der Jurisprudenz69, der Soziologie70 schon vor 1933 nachweisbar und dehnten sich nach 1933 verstärkt auch auf andere Disziplinen aus. Und die Frage ist nun, von dieser Warte her gesehen: Wurde die Philoso-
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Einige programmatische Bemerkungen über nationalsozialistische Philosophie, Bonn 2000 (= Bonner philosophische Vorträge und Studien, 9) und Peter Vogt, „Diese paar Professoren, völlig Wurscht.“ Erkenntnis und Verballhornung: Gab es eine genuin nationalsozialistische Philosophie? in: FAZ vom 27.9.2000 (Der Titel zitiert einen Ausspruch Gadamers). siehe dazu etwa Hans-Joachim Dahms, Philosophie an der Universität Jena 1945 bis 1989, in: Uwe Hoßfeld, Tobias Kaiser, Heinz Mestrup (Hrsg.) Hochschule im Sozialismus. Studien zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena (1945-1990) (2 Bände), Weimar/Wien 2007, 1568-1626, besonders 1570. so die von Norbert Kapferer, Das Feindbild der marxistisch-leninistischen Philosophie in der DDR 1945-1988, Darmstadt 1990, populär gemachte Bezeichnung. Das geht aus Unterlagen des Amtes Rosenberg im Münchener „Institut für Zeitgeschichte“ hervor. siehe zur Mathematik den Beitrag von Mehrtens in Herbert Mehrtens/ Steffen Richter (Hrsg.) Naturwissenschaft, Technik und NS-Ideologie. Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte des Dritten Reiches, Frankfurt 1980, und zur Physik Alan D. Beyerchen, Scientists under Hitler. Politics and the physics community in the Third Reich, New Haven etc. 1977, dt. 1980. Robert P. Ericksen, Theologen unter Hitler. Das Bündnis zwischen evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus, München etc. 1986. siehe auch die entsprechenden Aufsätze von Robert P. Ericksen, Matthias Groß, Frank Halfmann und Michael Neumann in: Becker u.a. , Universität Göttingen (wie Anm. 7). Otthein Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933–1945. Die Normalität einer Anpassung, Frankfurt a. M. 1986, 70 ff. und Karsten Klingemann, Soziologie im Dritten Reich, Baden-Baden 1996.
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phie mit ihren vielen einander befehdenden Schulen ebenfalls von der Konjunktur einer entsprechenden „Deutschen Philosophie“ ereilt? Monika Leske hat nun sowohl einige Kriterien für eine NS-typische Philosophie angegeben als auch die These ihrer Existenz bejaht: „Obwohl in den vergangenen Jahrzehnten verschiedentlich in Zweifel gezogen, ist es meines Erachtens durchaus gerechtfertigt, von der Existenz einer spezifisch nazifaschistischen Variante der Philosophie zu sprechen. Es gab nicht nur Nazis, die Philosophie betrieben, sondern auch eine Naziphilosophie im Sinne einer mehr oder weniger einheitlichen Grundkonzeption. Das soll heißen, die Produkte der Naziphilosophen waren nicht nur ein Sammelsurium eklektisch zusammengeworfener reaktionärer Philosopheme der Vergangenheit, wenngleich sie ohne Zweifel das auch waren. Bei genauerer Betrachtung finden sich Grundlinien und Grundmotive, die so dominierend sind, dass die voneinander abweichenden Auffassungen in einzelnen – nicht immer unwesentlichen – Fragen letztlich von sekundärer Bedeutung sind.“71 Als solche einheitlichen Grundlinien und -motive nennt sie 1) Voluntarismus und Aktivismus, 2) Wirklichkeitsdemagogie (d.i. eine vorgespiegelte Wirklichkeitsnähe), und 3) den Ganzheitsmythos. Merkwürdigerweise nennt sie nicht: den Rassismus und insbesondere den Antisemitismus, die für die übrigen oben genannten „Deutschen“ Wissenschaftskonzeptionen (in anderen akademischen Fächern) konstitutiv waren. Nun sind aber weder die von Leske genannten Merkmale für sich gesehen noch in ihrer Konjunktion notwendig oder hinreichend für die NS-Ideologie: einen Voluntarismus findet man etwa schon in der Philosophie Schopenhauers. Ein Aktivismus (im pointierten Gegensatz zu einem reinen Intellektualismus) liegt im amerikanischen Pragmatismus vor, ohne dass man dieser Philosophie Faschismusnähe bescheinigen müsste oder könnte.72 Vorgespiegelte Wirklichkeitsnähe ist eine zu schwammige Kategorie, als dass sie ein trennscharfes Kriterium böte. Schließlich hat es durchaus Ganzheitstheoretiker gegeben, die Gegner des Nationalsozialismus waren und von ihm entsprechend gemaßregelt wurden. Es scheint hier sehr darauf anzukommen, worauf man die Ganzheitslehren mit ihrem Merksatz, das Ganze sei mehr als die Summe seiner Teile, anwenden will. Es ist ein großer Unterschied, ob man die belebte (im Unterschied zur unbelebten) Natur (wie die Neovitalisten und insbesondere der von den Nationalsozialisten gemaßregelte Hans Driesch), ob man psychische Phänomene (etwa der Wahrnehmung, wie die von den Nationalsozialisten in ihrer Mehrheit entlassenen und daraufhin emigrierten Gestaltpsychologen) oder ob man schließlich den Staat im seinem Verhältnis zu den Individuen (wie die universalistischen Staatslehren etwa von Othmar Spann) bei der These eines Vorrangs des Ganzen vor seinen Teilen im Auge hat. Nach all dem wundert es auch nicht, wenn Hans Sluga die zu Leskes These konträre vertreten hat: „The persistence of such struggles and the continued existence of different philosophical schools have been overlooked by recent interpreters. They have taken the ideological claims of the system at face value and described it as a totalitarian system in which only one philosophical view could be accepted. This line of reasoning is involved when Nietzsche or Heidegger are singled out as the philosophers of 71 72
Monika Leske, Philosophen im „Dritten Reich“. Studie zu Hochschul- und Philosophiebetrieb im faschistischen Deutschland, Berlin 1990, 117; die erste Hervorhebung ist meine. Die Rezeption des amerikanischen Pragmatismus im Nationalsozialismus zeigt, dass die genuinen NSIdeologen Wert darauf legten, dem Pragmatismus sozusagen erst einmal seinen „demokratischen Zahn“ zu ziehen. Siehe dazu Dahms, Lebenphilosophie (wie Anm. 8), 183.
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National Socialism. It fails to see that Nazi ideology had many sides to it and could connect with many different philosophical schools. National Socialism was not a philosophical system; it was not based on a coherent set of philosophical assumptions but drew opportunistically on whatever served its purposes ...“73 4.2 Zur Diskussion der Kontroverse Wie war es nun tatsächlich? Dauerten die philosophischen Kämpfe zwischen den einzelnen Schulen an oder entwickelte sich in der Tat eine „Naziphilosophie im Sinne einer mehr oder weniger einheitlichen Grundkonzeption“ (Leske)? Ein Ergebnis haben wir schon im Vorübergehen notiert, das Slugas Standpunkt zumindest modifiziert: Nicht alle Schulen und Kreise, die es vor 1933 gegeben hatte, überlebten im Nationalsozialismus: jüdische Religionsphilosophie sowieso nicht; aber auch der Logische Empirismus und die Kritische Theorie der Frankfurter Schule wurden vertrieben und ins Exil gezwungen.74 Aber angesichts der geringen Präsenz dieser Optionen an den Universitäten vor 1933 überhaupt, auch angesichts des Umstandes, dass bei den Wiener und Berliner Kreisen der Empiristen und der Frankfurter Schule bei weitem nicht alle Mitglieder Fachphilosophen waren, würde das noch nicht zu einer grundlegenden Revision von Slugas These zwingen, sondern nur zu einer Modifizierung. Denn an den Universitäten ungleich stärkere Positionen wie Neukantianismus, Phänomenologie und Lebensphilosophie wurden ja nicht im Ganzen und erst recht nicht als solche vertrieben – mit Ausnahme vielleicht der Marburger Schule des Neukantianismus –, und zwischen ihnen hätten die Schulenstreitigkeiten in der NS-Zeit weitergehen können. Gab es nun eine Koppelung solcher Schulenstreitigkeiten mit einer Rassentypologie und den Versuch, einer solchen Richtung als einer „Deutschen“ oder „Nordischen“ ein Monopol zu sichern? Die Antwort hängt davon ab, was man unter „geben“ versteht. In dem Sinne, dass einzelne, vor 1933 eher randständige Philosophen Anstrengungen unternommen haben, derartige Koppelungen öffentlich in Publikationen zu entwickeln, muss die Frage bejaht werden. In dem Sinne, dass schon in der Weimarer Republik weithin bekannte Koryphäen des Fachs sie mit Nachdruck und Erfolg öffentlich vertreten und populär gemacht hätten, wie es in anderen Fächern der Fall war, muss die Frage verneint werden. So lesen wir etwa im „Handbuch der Judenfrage“ von 1938 einen Beitrag von Raymund Schmidt mit dem Titel „Das Judentum in der Philosophie“, und dort wird gerade das versucht, worum es bei der Konstruktion einer NS-typischen Philosophie hätte gehen müssen. Schmidt scheidet zunächst den Neukantianismus besonders der Marburger Schule von Hermann Cohen, Paul Natorp und Ernst Cassirer als „ersten großen Einbruch des Judentums in die Philosophie“ als „undeutsch“ aus. Er spricht dort von „rationalistischen Verbiegungen“ bis hin zu „talmudistischen Verballhornungen“ Kants durch diese Richtung der Neukantianer. Außerdem hätte diese Schule auch schon von Anfang an eine „enge Beziehung ... zu den zersetzenden Lehren des Marxismus“ gehabt. Ferner sei die KantGesellschaft (die größte philosophische Gesellschaft der Welt) von ihrem Vorsitzenden Arthur Liebert zu einem „jüdischen Geschäftsunternehmen von internationalen Ausmaß“ entwickelt worden. Bei Schmidt fallen auch einige antisemitische Bemerkungen zur Lebensphilosophie und einigen Vertretern der Phänomenologie wie Edmund Husserl und Max Scheler, aber diese Attacken sind vergleichsweise weniger ausgeführt. 73 74
Sluga, Heidegger (wie Anm. 23) 239 f. siehe die Artikel von Gunzelin Schmid Noerr und Friedrich Stadler sowie die Übersicht von Nikolaus Erichsen in Krohn u.a., Handbuch (wie Anm. 36).
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Was schwebt Schmidt nun als NS-typische Alternative vor? Er schreibt recht wolkig: „Bis aber der jüdische Geist aus der deutschen Philosophie wieder ausgetrieben sein wird, bis die deutsche idealistische Philosophie im Lehrgang der Universitäten wieder den ihr gebührenden Platz eingenommen haben wird, frei von der rationalistischen Überkleisterung der jüdischen Interpreten und ihrer Nachahmer, bis die deutsche Philosophie wieder schöpferisch werden und Einfluss nehmen wird auf die Lebensgestaltung und die Erziehung des deutschen Menschen, darüber werden noch Jahre vergehen, und es werden Jahre des Kampfes und der gründlichen Säuberung sein.“75 Man sieht an diesem kurzen Artikel, dass die Philosophie ebenfalls Ansatzpunkte zu einer NS-typischen Umgestaltung geboten hätte. Und in der Tat sind solche Versuche nicht nur von Schmidt unternommen worden, sondern auch von einigen anderen. Aber bei den meisten dieser Autoren handelt es sich hinsichtlich der akademischen Stellung meist um Bewohner der unteren Etagen des philosophischen Elfenbeinturms. Und gerade dies macht den Unterschied zu Disziplinen wie der Physik oder Mathematik aus: während dort namhafte Koryphäen die NS-Konzepte vertreten haben (Philipp Lenard und Johannes Stark waren – das darf man ja nicht vergessen – wie ihr Widersacher Albert Einstein Nobelpreisträger) und damit für eine gewisse Popularität, wenn auch nicht für ihre Durchsetzung, an den Universitäten sorgen konnten, haben sich führende Philosophen wie Heidegger oder Hartmann von Versuchen im Stile Schmidts vor Publikum ferngehalten.76 In dem Sinne also, dass eine von Einzelnen in der Tat propagierte antisemitische „Deutsche“ Philosophie echte Popularität und öffentliche Aufmerksamkeit hätte erringen und sich gar durchsetzen können, hat es diese Programmatik nicht gegeben. Das schließt freilich nicht aus, dass es – einen Sieg der Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg vorausgesetzt – dann nicht später über kurz oder lang doch noch dazu gekommen wäre. Darüber, wie diese dann ausgesehen hätte, kann man natürlich nur spekulieren: Philosophiehistorisch gesehen, also hinsichtlich besonders zu kanonisierender Klassiker wäre es wohl zu einer Art Wettrennen um den Lorbeer des maßgeblichen Ahnherrn der NS-Philosophie zwischen einem politisch einseitig interpretierten Platon77 und dem von vielen als NS-Vorläufer angesehenen Nietzsche gekommen.78 Und in systematischer Hinsicht hätte sich vielleicht ein noch stärkerer „inhaltlicher Umbau, also zur nationalsozialistischen Verweltanschaulichung des Faches“79 bis hin zu einer Art biologistisch-rassistischer Einheitswissenschaft entwickeln können.
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Raymund Schmidt, Das Judentum in der deutschen Philosophie, in: Theodor Fritsch (Hrsg.): Handbuch der Judenfrage. Die wichtigsten Tatsachen zur Beurteilung des jüdischen Volkes (42. Auflage Leipzig 1938) 391–401, hier 401. In Briefen und Gutachten hat sich Heidegger seit 1929 gegen die Förderung jüdischer Nachwuchswissenschaftler durch die Notgemeinschaft der Wissenschaften wie etwa gegen den Neukantianer Richard Hönigswald gewandt und schreckte dabei nicht einmal vor Blut-und-Boden-Terminologie zurück. Seine diesbezüglichen Ansichten hat er aber vor 1933 weder systematisiert noch öffentlich gemacht. Als Nachfolger seines Assistenten Oskar Becker nahm er Ende 1931 nicht den liberalen „Arier“ Eduard Baumgarten, sondern den „Juden“ Werner Brock. siehe für einen Überblick Teresa Orozco, Die Platon-Rezeption in Deutschland um 1930, in: Ilse Korotin (Hrsg.), „Die besten Geister der Nation“. Philosophie und Nationalsozialismus, Wien 1994, 141-185 siehe z.B. für einen kurzen Überblick Martha Zapata, Die Rezeption der Philosophie Friedrich Nietzsches im deutschen Faschismus, ebenda, 186-220 und ausführlicher Bernhard H.F. Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum, Leipzig 2000. so Tilitzki (2002) 704.
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4.3 Was hat es aber dann gegeben? 4.3.1 Vorbemerkung Wenn die deutsche Philosophie unter dem Nationalsozialismus aber nicht inhaltlich einheitlich war und sich eine hier und da propagierte „Deutsche Philosophie“ nicht allgemein durchgesetzt hat: kann man die Philosophie im Nationalsozialismus dann vielleicht in anderer Hinsicht (wissenschaftssoziologisch, institutionell etc.) charakterisieren? Ich glaube, dass dies der Fall ist, und möchte meine These den folgenden Belegen voranstellen: Es hat einen von verschiedenen NS-Aktivisten unter den Philosophen ausgefochtenen Konkurrenzkampf um die Führung in ihrer eigenen Disziplin gegeben. Dieser Wettstreit beschränkte sich nicht auf die engeren Grenzen der Disziplin, sondern wurde mit der Perspektive auf weitergehenden Einfluss an den Universitäten (im Zuge einer durchgreifenden Hochschulreform) und auch im gesamten Bildungswesen ausgefochten. Für das Folgende sind nun diese Fragen leitend: – Welche Vertreter des Fachs (mit welchem fachlichen und politischen Hintergrund in der Weimarer Republik bzw. schon früher) beteiligten sich nach der nationalsozialistischen Machtübernahme an diesem Wettrennen? – Wie brachten sie dabei ihre eigene philosophische Programmatik ein (wenn sie es denn überhaupt taten)? – Welche Pläne verfolgten sie insgesamt bei ihrem NS-Engagement? – Welche Allianzen und Bündnisse gingen sie zur Durchsetzung ihrer Pläne mit einzelnen Führungsfiguren des Regimes bzw. den von diesen repräsentierten Institutionen ein? – Wie weit kamen sie mit der Realisierung ihrer Programme? – Wann und warum gaben die Verlierer dieser Konkurrenz auf? – Was geschah mit den NS-Aktivisten in der Philosophie nach dem Kriegsende? Die tentative Antwort auf diese Fragen wird in einer Art Gruppenporträt gegeben. Dabei kommt es darauf an, nicht – wie das vielfach geschieht – nur die gedruckten Schriften der Akteure, sondern auch ihre ungedruckten Denkschriften und Programme zu berücksichtigen und diese dann mit ihren Taten zu konfrontieren, wie sie sich z.B. in den Archiven ihrer Hochschulen niedergeschlagen haben. 4.3.2 Wer waren die NS-Philosophen? Zunächst ist natürlich zu klären, wer denn überhaupt die NS-Aktivisten in der Philosophie waren. Die Antwort darauf ist nicht so leicht, wie man das vielleicht erhoffen würde. Es ist schon mehrfach hervorgehoben worden, dass die bloße Mitgliedschaft in der NSDAP bei Philosophen weder ein notwendiges noch hinreichendes Kriterium für NS-Philosophie liefert. Es liegt stattdessen nahe, die Suche mit Beschreibungen aus der Zeit des Nationalsozialismus selbst zu beginnen. Im Jahre 1942 kam eine vom Sicherheitsdienst der SS erstellte Bestandsaufnahme der deutschen Universitätsphilosophie noch zu dem Ergebnis, dass es außer konfessionell Gebundenen, Liberalen etc. in der Tat auch nationalsozialistische Philosophen gäbe, aber nur mit der einschränkenden Bemerkung: „Versuche, eine nationalsozialistische Philosophie aufzubauen“.80 Einige professionelle Philosophiehistoriker haben, ebenfalls gegen Ende der NS-Diktatur, versucht, einen Überblick über die Philosophie 80
zitiert bei Tilitzki (2002) 15.
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während der NS-Zeit zu geben. In Gerhard Lehmanns 1943 erschienenem Buch „Die deutsche Philosophie der Gegenwart“ schrumpft die Gruppe der NS-Philosophen auf drei Personen zusammen, die gemeinsam unter dem Titel „Politische Philosophie“ abgehandelt werden. Dabei wird zunächst behauptet, dass sich schon seit dem 19. Jahrhundert ein Prozess der Nationalisierung der Philosophie abgespielt habe. Das Ergebnis dieses Vorgangs erscheint Lehmann paradox: während nämlich alle anderen Länder wegen der deutschen Hegemonie in der Kultur (und natürlich insbesondere in der Philosophie) die Lehren des deutschen Idealismus aufgenommen und sich anverwandelt hätten, sei umgekehrt gerade der deutschen Philosophie der Kontakt mit diesem ihrem Nährboden abhanden gekommen. Anders stände es dagegen gottseidank mit der politischen Philosophie der Gegenwart in Deutschland. Die definiert Lehmann so: „Die politische Philosophie der Gegenwart ist ... der Ausdruck jener durch den Nationalsozialismus als völkisch-politische Bewegung allererst bewirkten Neuordnung unseres sozialen und staatlichen Gefüges.“81 Als Philosophen, die solcherart der neuen philosophischen Lage Ausdruck verliehen, gibt Lehmann im krönenden Schlusskapitel des „Aufbau“ betitelten dritten Teiles seines Buches außer dem NS-Ideologen Alfred Rosenberg die akademischen Philosophen Ernst Krieck, Alfred Baeumler und Hans Heyse an. Allerdings ist der in Lehmanns Buch geschilderte Stand schon sozusagen ein Zwischenergebnis eines Ausleseprozesses, der von einer breiteren Basis her begonnen hatte. Er umfasst insofern einige Personen nicht mehr, die unmittelbar nach 1933 noch dazuzuzählen gewesen wären und offenbar nicht lange vor diesem Datum zur NS-Bewegung übergelaufen waren. In diesem Sinne hatte der NS-Spezialist für Hochschulreform, der Historiker Ernst Anrich, in einem Schreiben an die Parteileitung unmittelbar nach der „Machtergreifung“ schon berichtet, es seien allein in der Philosophie an „besten Kräften“ bereits die Professoren Heidegger, Baeumler, Jaensch und Rothacker gewonnen worden.82 Ob nun etwa Erich Krieck in dieser Aufzählung nicht genannt wird, weil er schon bereits vorher als NS-Aktivist bekannt war und insofern nicht erst „gewonnen“ werden musste, und Heyse nicht, weil er entweder nicht zu den „besten Kräften“ gezählt wurde und/oder erst später zur NS-Bewegung stieß, kann hier unentschieden bleiben: den Psychologen Jaensch einmal beiseite lassend, sind Baeumler, Heidegger, Heyse, Krieck und Rothacker diejenigen NS-Philosophen, mit denen ich mich im Folgenden näher beschäftigen werde.83 Was die Quellen betrifft, von denen diese Darstellung zehrt, so ist zu sagen: es trifft sich günstig, dass für fast sämtliche Hochschulen, an denen diese Protagonisten aktiv waren84, spezialisierte Darstellungen – für die gesamte Universität und/oder für die Philosophie bzw. Psychologie in der NS-Zeit – vorliegen.85 81 82 83
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Gerhard Lehmann, Die deutsche Philosophie der Gegenwart, Stuttgart 1943, 494. siehe dazu Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, Teil 1: Der Professor im Dritten Reich. Bilder aus der akademischen Provinz, München etc. 1991, 418. Andere Aufzählungen aus der Zeit nach 1945, die allerdings ihre Auswahlkriterien nicht explizieren, kommen zu ähnlichen namentlichen Listen. Leon Poliakov/ Josef Wulf, Das Dritte Reich und seine Denker. Dokumente, Berlin-Grunewald, 1959, 263 ff. zum Beispiel nennen im Kapitel „V. Philosophie“ mit der einzigen Ausnahme Heidegger schon alle der Genannten (allerdings auch einige, die man definitiv nicht als Philosophen ansprechen kann wie Carl Schmitt oder den Jenenser Rassenkundler Ernst Astel); vergl. damit die Angaben über „Philosophical Radicals“ in Sluga, Heidegger. Es handelt sich um Bonn (Rothacker), Berlin (Baeumler), Frankfurt am Main (Krieck), Freiburg (Heidegger), Göttingen (Heyse) und Heidelberg (Krieck ab 1934). siehe Hans-Paul Höpfner, Die Universität Bonn im Dritten Reich. Akademische Biographien unter nationalsozialistischer Herrschaft, Bonn 1999 (= Veröffentlichungen des Archivs der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn, 12); Volker Gerhardt/ Reinhard Mehring/ Jana Rinder, Berliner Geist. Eine Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie. Mit einem Ausblick auf die Gegenwart der Humboldt-Universität, Berlin 1999; Notker Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule. Band I: 1914 bis 1950,
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4.3.3 Die NS-Philosophen: ein Gruppenporträt Ich beginne mit der Frage, ob es irgendwelche Gemeinsamkeiten in ihrer Biographie gibt, die sie für ihren Aktivismus prädisponierte.86 Dabei muss man sich allerdings vor der Vorstellung hüten, alle späteren NS-Aktivisten in der Philosophie seien durch die gleichen Erlebnisse und Erfahrungen zu Nationalsozialisten geworden. Da ist zunächst ihr Geburtsdatum. Es fällt auf, dass – mit einer Ausnahme: Krieck, geb. am 6.7.1882 – alle um 1890 geboren wurden: Baeumler am 19.11.1887, Rothacker am 12.3.1888, Heidegger am 26.9.1889 und Heyse am 8.3.1891. Das mag man für einen belanglosen Zufall halten. Gemessen an der Geschichte des 20. Jahrhunderts ist er es jedoch nicht. Denn die genannten jüngeren gehörten der Weltkriegsgeneration an, d.h. unter anderem: sie hatten bereits ihr Studium begonnen und meist auch abgeschlossen, als der Erste Weltkrieg ihre akademische Karriere unterbrach. Mit einer Ausnahme (nämlich Heidegger, der einen ruhigen Schreibstubenjob bei der Postüberwachung in Freiburg erlangen konnte), machten sie den Krieg an der Front mit. Ihre akademische Laufbahn konnten sie – anders als wiederum Heidegger – so erst nach dem Ende des Weltkriegs mit der Habilitation zu Ende führen. Aber die Zugehörigkeit zur Weltkriegsgeneration allein disponierte noch nicht zu einem späteren Engagement in der NS-Bewegung. Denn andere Philosophen gehörten ebenfalls zur Generation der um 1890 Geborenen und mussten ebenfalls Studium und Karriere durch den Ersten Weltkrieg unterbrechen, ohne sich später dem Nationalsozialismus anzuschließen. Man denke nur exemplarisch an Walter Benjamin, Rudolf Carnap, Helmuth Plessner und Hans Reichenbach. Differenzierend dürfte hier vor allem gewirkt haben, wie die deutsche Niederlage, der Übergang zur Republik und dann vor allem der Friedensvertrag von Versailles aufgenommen wurden. Was wissen wir bisher über die politische Haltung der späteren NS-Philosophen bis etwa 1930? Das ist relativ wenig. Offenbar waren aber alle keine bekennenden Deutschnationalen wie viele aus der Generation der älteren Hochschullehrer der Philosophie, die sich seit 1917 in größerer Zahl in der „Deutschen Philosophischen Gesellschaft“ – sozusagen der „Vaterlandspartei“ in der Philosophie – gesammelt hatten. Erstaunlicherweise befinden sich unter den späteren NS-Philosophen sogar einige, die zeitweise mit dem politischen Liberalismus geliebäugelt zu haben scheinen. Das gilt gerade für diejenigen, die sich dann nach 1933 am stärksten im Sinne des Nationalsozialismus engagierten, nämlich für Krieck und Baeumler.87 Letzterer hatte etwa nach der Revolution von 1918/1919 noch die linksliberale DDP gewählt.88 Gab es vor 1933 irgendwelche sozusagen fachliche Gesichtspunkte, die besonders für den Nationalsozialismus disponierten?
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Neuwied/ Frankfurt a.M. 1989, für die Universität und ders.: Zur Geschichte des Philosophischen Seminars (wie Anm. 7) für das Philosophische Seminar in Frankfurt am Main. Eine umfassendere Universitätsgeschichte für Berlin im Nationalsozialismus gibt es bisher noch nicht. Den nützlichen Begriff der „Disposition“ hat O. G. Oexle in die Debatte geworfen – Otto Gerhard Oexle, „Zusammenarbeit mit Baal“. Über die Mentalität deutscher Geisteswissenschaftler 1933 – und nach 1945, in: Historische Anthropologie 8 (2000) 1–27. siehe dazu etwa Alfred Baeumler, Meine politische Entwicklung (26.Mai 1948), in: Marianne Baeumler/ Hubert Brunträger/ Hermann Kurzke (Hrsg.) Thomas Mann und Alfred Baeumler. Eine Dokumentation, Würzburg 1989, 193-201, hier: 193 und 201. so Tilitzki (2002) 545.
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Wenn man an dieser Stelle einmal ausnahmsweise Jaensch einbeziehen würde, läge das Ergebnis auf der Hand: Seit seiner turbulenten Berufung als Nachfolger Hermann Cohens 1912 nach Marburg war er in besonderer Weise gegen den „jüdischen“ Neukantianismus Marburger Prägung eingenommen, wie er durch seinen Vorgänger Cohen und seinen unterlegenen Konkurrenten auf den Lehrstuhl Ernst Cassirer repräsentiert wurde. Und diesen Gefühlen hat er dann schon in der Weimarer Zeit immer mehr freien Lauf gelassen. Dagegen wird man solche Einstellungen in den Schriften der meisten NS-Philosophen vergeblich suchen (mit Ausnahme Kriecks). Im Gegenteil ist etwa die Habilitationsschrift Heyses, eine durchgängig trockene wissenschaftliche Abhandlung, noch seinem – später von den Nazis entlassenen – akademischen Lehrer Richard Hönigswald gewidmet. In längeren Passagen werden dort die Schriften der von den Nazis später verfemten Marburger Neukantianer zustimmend zitiert. Bei Heidegger vor 1933 veröffentlichte Spuren eines Antisemitismus oder gar seines sofort nach der „Machtergreifung“ öffentlich werdenden NS-Engagements aufzuspüren, wie es einige Kommentatoren versucht haben, ist offenbar ganz verfehlt. Dazu waren seine persönlichen und akademischen Kontakte zu seinen jüdischen Lehrern, Kollegen und Schülern viel zu ausgedehnt: Er widmete sein 1927 erschienenes Hauptwerk „Sein und Zeit“ seinem akademischen Lehrer Edmund Husserl, hatte Ernst Löwith und Herbert Marcuse als Habilitanden und Werner Brock als Assistenten, von seinen persönlichen Beziehungen zu Hannah Arendt ganz zu schweigen. Selbst Baeumler setzt sich noch am 30. November 1931 in einem Vortrag mit dem Titel „Die geistesgeschichtliche Lage im Spiegel der Mathematik und Physik“ vor der Dresdner Studentenschaft89, also im selben Jahr, als er Nietzsche für den Nationalsozialismus entdeckt hatte und mit Rosenberg und Hitler persönlich bekanntgeworden war, ausführlich und kompetent mit den zeitgenössischen wissenschaftlichen Krisen auseinander. Viele maßgebliche jüdische Vertreter der neuen Physik wie Einstein und Born und ihre wichtigsten „positivistischen“ Kommentatoren wie Carnap, Reichenbach und Moritz Schlick werden noch vorurteilsfrei und kenntnisreich kommentiert. Um es noch einmal zusammenfassend zu wiederholen: Rassistische Töne, wie sie im philosophischen Streit um Einstein damals schon seit einem Jahrzehnt in der Physik üblich waren, wird man in den Werken der späteren NS-Philosophen vor 1933 vergeblich suchen (wieder mit Ausnahme Kriecks). Wenn die genannten NS-Philosophen dann nach 1933 ihren Reden und Schriften antisemitische Töne beimischten, so taten sie es, weil sie ihre wahren Ansichten vor 1933 verheimlicht oder – wie Heidegger – nur nicht-öffentlich geäußert hatten, aus purem Opportunismus gegenüber dem neuen Zeitgeist oder, weil sie ihre Meinungen nach 1933 tatsächlich geändert hatten. Aus allen diesen Gründen ist die Frage, was genau die späteren NS-Philosophen vor 1933 zum Nationalsozialismus geführt hat, bis jetzt m. E. noch weitgehend offen. Einiges scheint dafür zu sprechen, dass unmittelbare persönliche Kontakte kurz vor 1933 zu diesem Engagement beigetragen haben. So schreibt Heyse etwa in seinem Entnazifizierungsverfahren nach 1945 von „langen freundschaftlichen Aussprachen, die ich im Frühjahr 1933 mit Herrn Prof. Dr. Martin Heidegger hatte“.90 Die Frage ist daher ganz generell zu stellen: Kannten sich die späteren NS-Philosophen vielleicht schon vor 1933 oder bildeten sie gar eine Gruppe? Es ist ein Desiderat von einiger Wichtigkeit für die zukünftige Forschung, darauf eine Antwort zu finden. 89 90
Alfred Baeumler, Die geistesgeschichtliche Lage im Spiegel der Mathematik und Physik. Vortrag, gehalten vor der Studentenschaft Dresden, 30.11.1931, in: ders.: Männerbund und Wissenschaft, Berlin 1934, 75–93. Zitat nach Dahms, Lebenphilosophie (wie Anm. 7) 185.
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Im Folgenden werde ich die Angehörigen dieser Gruppe in der Reihenfolge durchgehen, in denen sie im Rennen um die Führerschaft in der deutschen Philosophie und um maßgeblichen Einfluss in der NS-Hochschulreform ausgeschieden sind. Mit anderen Worten: die hartnäckigsten und durchsetzungsfähigsten NS-Philosophen kommen erst am Schluss. Erich Rothacker Dass Rothacker, immerhin der Doktorvater von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel, überhaupt ein intensives NS-Engagement betrieben hat, war lange Zeit in Vergessenheit geraten. Das hat sich, vor allem dank des Beitrags von Thomas Weber91 und des Dossiers von George Leaman92, neuerdings vor allem auch dank der Bonner Universitätsgeschichte von Hans-Paul Höpfner93 mit ihren ausführlichen Abschnitten über Rothacker, inzwischen geändert. Mit Rothackers akademischer Karriere vor 1933 kann ich mich relativ kurz fassen, denn in ihr weist bis 1932 nichts auf sein dann öffentlich einsetzendes NSEngagement hin. Der am 12.3.1888 geborene Rothacker war noch 1912 rechtzeitig vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit einer für damalige Dissertationen ungewöhnlich umfangreichen und sorgfältigen Dissertation über Karl Lamprecht promoviert worden. Nach der Teilnahme am Ersten Weltkrieg setzte er seine Laufbahn 1921 mit der Habilitation „Logik und Systematik der Geisteswissenschaften“ in Heidelberg fort. Im Jahre 1924 wurde er dort zum Extraordinarius befördert und schließlich 1928 – also hinreichend weit vor 1933, um politischer Beförderungszufälle unverdächtig zu sein – zum Ordinarius in Bonn berufen. Gleichzeitig beendigte er seine Mitgliedschaft in der rechtsliberalen DVP. Sein erstes Engagement für den Nationalsozialismus wurde mit der Unterzeichnung des Wahlaufrufs für Hitler im „Völkischen Beobachter“ vom 29. Juli 1932 zur Reichspräsidentenwahl öffentlich. Dieser Wahlaufruf, der aus dem philosophischen Lager sonst nur von Baeumler, Carl August Emge, Jaensch, und Krieck unterstützt wurde94, ist für die Haltung der Unterzeichner auch insofern aufschlussreich, als sie damit ihre Distanz zum deutschnationalen Lager deutlich machten, das sich hinter dem Kandidaten Hindenburg versammelt hatte. Ein halbes Jahr später trat Rothacker – diesmal als erster Philosophieordinarius – dem NS-Lehrerbund bei.95 Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten hatte Rothacker wegen seines frühzeitigen „outings“ zunächst beste Chancen: Er wurde gleich am 15. April 1933 zum Leiter der Abteilung 7 (Volksbildung) in Goebbels Propagandaministerium berufen und war dort u.a. Verbindungsmann zur studentischen „Aktion wieder den undeutschen Geist“, die in den Bücherverbrennungen vom 10. Mai gipfelte.96 Diese waren insofern keineswegs nur das Werk randalierender NS-Studenten, sondern auch maßgeblicher Philosophieprofessoren wie Baeumler und eben Rothacker. Außer in mehreren unveröffentlichten Denkschriften für das Propagandaministerium legte Rothacker seinen Standpunkt zur Umwälzung des Bildungswesens und speziell der Hochschule in einer Tagung des Pädagogisch-psychologischen Instituts in München vom 1. bis 5. August 1933 vor. In seinem Referat „Die Grundlagen und Zielgedanken der natio-
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Thomas Weber, Arbeit am Imaginären des Deutschen. Erich Rothackers Ideen für eine NSKulturpolitik, in: Wolfgang F. Haug (Hrsg.) Deutsche Philosophen 1933, Hamburg 1989 (= Argument Sonderband 165) 125–158. Leaman, Heidegger im Kontext, (wie Anm. 8). Höpfner, Universität Bonn (wie Anm. 85). siehe die Unterzeichnerliste in Leaman, Heidegger im Kontext (wie Anm. 8) 100. ebenda, 73, 100, 105. Angaben nach Höpfner, Universität Bonn (wie Anm. 85) 336 ff.; Gerhard Sauder (Hrsg.): Die Bücherverbrennung zum 10. Mai 1933, München 1983, 80 f.
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nalsozialistischen Kulturpolitik“97 grenzte er sich wiederholt von zeitgenössischen Reformvorschlägen wie denen von Adolf Rein und Hans Freyer mit ihren Forderungen einer Politisierung der Hochschule und den entsprechenden Vorschlägen zur Gründung einer „politischen Fakultät“ (Rein) bzw. eines „politischen Semesters“ (Freyer) ab. Alle Politisierung im Sinne einer Beziehung der Hochschulen auf den deutschen Machtstaat hülfe nicht viel, wenn ihm nicht eine „Volkwerdung“ der Deutschen an die Seite träte mit dem Ziel, „dem deutschen Volke eine umfassende Kenntnis seines eigenen Wesens (Heimat, Geschichte, Geisteskultur, Physiognomie) zu vermitteln.“98 Dieser im Winter 1933/34 durchzuführende „Reichsvolksdienst“ sollte sich allerdings nicht nur an die Universitäten richten, sondern die gesamten „Führer- und Amtswalterschichten der gesamten Beamtenschaft“99 einbeziehen. Indes ist aus diesen Plänen wie auch aus noch hochfliegenderen wie der Einrichtung von Reichsuniversitäten, von Führerschulen etc. nichts geworden. Dies lag aber nicht etwa daran, dass Rothacker etwa eine wachsende Skepsis gegenüber dem Nationalsozialismus ergriffen hätte, sondern ausschließlich daran, dass sich das Propagandaministerium nicht vom Erziehungsministerium unter Rust die nötigen Kompetenzen aneignen konnte.100 Rothacker musste einsehen, dass er nicht die Funktion einer Art von „Reichskommissar für die Universitäten“ übernehmen konnte,101 und kehrte frustriert nach Bonn zurück. Das stand aber einem weiteren NS-Engagement nicht im Wege. Er wurde im Herbst 1933 Dekan (und damit im Sinne der neuen Hochschulverfassung „Unterführer“) der Philosophischen Fakultät und übernahm auch zeitweise den Vorsitz beim deutschen Philologentag. Diese Aktivitäten hielten auch noch im Kriege an, als Rothacker in einem Vortrag in Paris im „Institut Allemand“ 1941 die besiegten Franzosen von den Vorzügen der deutschen Philosophie zu überzeugen trachtete.102 Wenn man sich fragt, ob überhaupt und gegebenenfalls wie stark Rothackers Engagement für den Nationalsozialismus und etwa seine Vorschläge zur Bildungsreform sich in seiner Philosophie niedergeschlagen haben, so ist wohl zu sagen, dass er derjenige aus der Reihe der NS-Philosophen gewesen ist, der diese beiden Komponenten seines Wirkens in der Nazi-Zeit am wenigsten miteinander verbunden hat. Zwar begegnen in seinen Schriften zur Hochschulreform gelegentlich auch einige seiner Philosopheme, wenn er etwa zur Untersuchung der kulturellen und politischen „Lebensstile“ der verschiedenen Völker (darunter aber eben nicht nur des deutschen) aufruft. Aber dies geschieht unter anderem auch zur internationalen Kulturvergleichung und soll klären helfen, welche einzelnen Faktoren für das Erblühen oder auch den Untergang von Kulturen kausal waren. Ein solches Programm erinnert sehr viel mehr an Oswald Spengler als an die eigentliche NS-Ideologie. Es verwundert insofern auch nicht so sehr, dass Rothacker seine stärksten Verbeugungen vor dem NS-Staat, die er im letzten Kapitel seiner unter Baeumlers Ägide herausgebrachten „Geschichtsphilosophie“ untergebracht hatte,103 bei ihrem Neuerscheinen nach 1945 dann kommentarlos wieder streichen konnte. Rothacker ist der einzige explizite NS-Philosoph (im oben angegebenen Sinn) gewesen, der seine Karriere nach 1945 nach kurzer entnazifizierungsbedingter Pause wieder an-
97 98 99 100 101 102
in: Die Erziehung im nationalsozialistischen Staat, Leipzig 1933, 15–37. siehe zu Einzelheiten ebd., 30. ebenda, 20. Höpfner, Universität Bonn, (wie Anm. 85) 338. Tilitzki (2002) 932. Erich Rothacker, Schopenhauer et Nietzsche. Poétes et Penseurs, in: Cahiers de l‘Institut Allemand, Paris 1941. 103 siehe für eine genauere Analyse dieser und ähnlicher Passagen Weber, Imaginäres (wie Anm. 91)
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standslos fortsetzen konnte.104 Ihm scheint sozusagen zugute gekommen zu sein, dass er als erster aus dem nach 1933 einsetzenden Rennen um die Führung in der deutschen Philosophie ausgeschieden war. Martin Heidegger Zum Thema „Heidegger und der Nationalsozialismus“ ist in den letzten Jahren wesentlich mehr veröffentlicht worden als über alle übrigen hier betrachteten NS-Philosophen sowie die deutschsprachige Philosophie im Nationalsozialismus zusammen. Die einschlägige Heidegger-Literatur umfasst gut ein Dutzend Monographien, eine ähnliche Zahl von Sammelbänden und buchstäblich Tausende von Artikeln in wissenschaftlichen und sonstigen Zeitschriften.105 Das ist vielleicht auch kein Wunder, weil viele Philosophen und andere Geistesschaffende entdecken mussten, dass derjenige Philosoph, den sie für einen der oder sogar den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts hielten, sich so weit mit dem Nationalsozialismus eingelassen hatte. Obwohl noch einiges zum Thema zu untersuchen und zu veröffentlichen bliebe, kann hier nicht der Ort dafür sein. Ich beschränke mich auf einige Bemerkungen, die den Vergleich und die Interaktionen Heideggers mit den übrigen hier behandelten NS-Philosophen zum Ziel haben. Der am 26.9.1889 geborene Heidegger durchlief eine zunächst nicht außergewöhnliche Philosophenkarriere. Nach Promotion und Habilitation 1915 (also zu Beginn des Ersten Weltkriegs, in dem ihm als einzigem aus der Gruppe der späteren NSPhilosophen der Frontdienst erspart blieb) wurde er 1923 zum Extraordinarius in Marburg und 1928 zum Nachfolger seines prominenten philosophischen Lehrers und Förderers Edmund Husserl in Freiburg berufen. Obwohl Heidegger bereits seit den frühen 20er Jahren ein Ruf als fesselnder akademischer Lehrer vorauseilte, ist sein großer Durchbruch doch erst mit seinem epochemachenden, 1927 veröffentlichten Buch „Sein und Zeit“ zu datieren. Es folgten noch vor 1933 die Bücher „Was ist Metaphysik“ und sein Kantbuch, das man als Reaktion auf die berühmte Kontroverse mit Ernst Cassirer im Frühjahr 1929 in Davos betrachten muss. Dabei ging es zwar zunächst um die akademische Frage der richtigen Kant-Interpretation, implizit aber auch um die Frage der geistigen Führungsrolle in der deutschen Philosophie der Zeit. Wer in Heideggers Vita bis zu den frühen 30er Jahren nach Spuren seines späteren spektakulären NS-Engagements sucht, wird kaum fündig werden. Versuche, ihm schon für seine Jugendjahre einen vehementen Antisemitismus anzudichten, sind fehlgeleitet. In „Sein und Zeit“ wird Anzeichen entsprechender Tendenzen nur der entdecken können, der mit den in den 20er Jahren sozusagen marktüblichen Tönen unter den deutschen Philosophen und Akademikern nicht vertraut ist. Für Heideggers Haltung noch zu Beginn der 30er Jahre ist ja bezeichnend, dass er als Assistenten den „Nichtarier“ Werner Brock106 dem
104 Heidegger wurde nur eine kurze Rehabilitation ein Jahr vor seiner Emeritierung zuteil. Danach durfte er dann allerdings noch jahrzehntelang eine große Vorlesungstätigkeit entfalten. Alle übrigen aus der hier betrachteten Gruppe kehrten nie an eine Hochschule zurück. 105 siehe z.B. die umfangreiche Bibliographie von Pierre Adler, A Chronological Bibliography of Heidegger and the Political, in: Marcus Brainard et al. (ed.) Heidegger and the Political, in: Graduate Faculty Philosophy Journal, New School for Social Research 14, No.2/ 15, No.1 (1991), 581–611. Sie ist besonders wertvoll, weil sie die Literatur von 1933 bis 1991 chronologisch anordnet und damit auch einen Eindruck von den verschiedenen Konjunkturen des Themas ermöglicht. 106 Brock ist übrigens einer der wenigen vor 1933 habilitierten und nach 1933 entlassenen Philosophen, die bei Leaman, Gesamtüberblick fehlen – ein anderer ist der nb. ao. Prof. Otto Janssen (geb. 8.7.1886), der an der Universität Münster nach § 3 entlassen wurde. Weiter fehlen konzeptionsbedingt bei Leaman 17 an Technischen Hochschulen tätige Philosophen – so auch Walter Dubislav (Berlin) oder Theodor Les-
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„Arier“ Eduard Baumgarten vorzog, offenbar nur deshalb, weil der über Max Weber neukantianisch beeinflusste Baumgarten sich nicht in seine Kant-Interpretation fügen wollte. So bleibt eigentlich nur die Antwort, dass man Heideggers politisches Interesse später ansetzen und anders erklären muss. Offenbar ist es zunächst das Eingehen auf Wünsche seiner begeisterten und – wie damals fast überall an den deutschen Universitäten – weit rechts stehenden Studenten gewesen, das ihn in Seminaren Ernst Jüngers „Der Arbeiter“ durcharbeiten ließ, eine für heutige philosophische Seminare schwer nachvollziehbare Entscheidung. Zudem scheint Heidegger im Zuge dieser Beschäftigung auch Kontakte zu anderen ähnlich denkenden Hochschullehrern gesucht und gefunden zu haben. Dabei hat man nicht nur an Philosophen im engeren Sinne wie etwa – den noch darzustellenden – Königsberger Hans Heyse, sondern auch an den aus dem Kreis um Edmund Husserl stammenden und philosophisch angehauchten Göttinger Germanisten Friedrich Neumann zu denken, die dann nach 1933 als Hochschulrektoren eine nationalsozialistische pressure-group innerhalb des Hochschulverbandes bildeten. Dieser ganze Komplex personeller Einflussnahmen und Vernetzungen vor 1933 bedarf aber dringend noch weiterer Untersuchungen, auf die man allerdings hauptsächlich auf die – außerordentlich schwer zugänglichen – unveröffentlichten Korrespondenzen angewiesen wäre. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme entfaltete Heidegger – zumindest bis zur resignierenden Amtsniederlegung als Freiburger Rektor – ein öffentliches nationalsozialistisches Engagement, das das der sämtlichen übrigen NS-Philosophen schon in seinem Umfang – und nicht nur wegen des Aufsehens, das mit seiner Prominenz verbunden war – weit übertraf.107 Besonders sticht daraus seine Antrittsrede als Rektor hervor, in der er eine Trias studentischer Dienste (Arbeits-, Wehr- und Wissensdienst) als Gebot der Stunde verkündete und mit dem legitimatorischen Hintergrund seiner Metaphysik versah. In dieser viel analysierten Rede hat man in der Tat die intensivste Verbindung von Heideggers NSAktivismus mit seiner Philosophie zu erblicken. Jedoch wird das Kopplungsglied von den Kommentatoren durchweg falsch lokalisiert: die Trias der „Dienste“ hat nichts mit irgendwelchen ständischen Gliederungen zu tun, wie man sie in Platons „Staat“ vorfinden kann, sondern ist ganz schlicht eine Reaktion – und zwar eine positive – auf das erst kurz vorher verkündete preußische Studentenrecht, das Arbeits-, Wehr- und Wissensdienst für alle Studenten verbindlich machte. Heidegger, der an der Ausarbeitung dieses Studentenrechts in keiner Weise beteiligt gewesen war, hatte sich zur Vorbereitung seiner Rede über einen Mittelsmann das Besprechungsprotokoll der ministeriellen Verhandlungen in Berlin geben lassen.108 Die Verbindung zwischen Nationalsozialismus und Heideggers Metaphysik in der Selbstbehauptungsrede stellt durchaus den Versuch einer Amalgamierung beider Elemente dar. Während die Hervorhebung von Arbeits- und Wehrdienst nur nachträglich legitimiert, was schon zuvor von der Kultusverwaltung dekretiert worden war, ist Heideggers Thematisierung des Wissensdienstes der Versuch, in die noch am wenigsten festgelegte Komponente mit seiner eigenen Philosophie einzudringen und sie für den gesamten Hochschulbereich verbindlich zu machen. Auf Heideggers praktischen Aktivismus in diesem Zusammenhang braucht hier nicht im Einzelnen eingegangen zu werden. Offenbar hat er dabei den Versuch unternommen, sing (Hannover), die entlassen bzw. ermordet (Lessing) wurden –, wie aus einer noch vorläufigen Gesamterhebung von Klaus Sommer hervorgeht. Heidegger war Brock nach seiner Entlassung 1933 übrigens lediglich mit einem Empfehlungsschreiben für seine Emigration nach England behilflich. 107 siehe Martin Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (= Gesamtausgabe, I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910–1076, Band 16), Frankfurt a.M. 2000 für die bisher vollständigste Sammlung der einschlägigen Texte. 108 ebenda, 119 und 789, Nr. 53.
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sich bündnispolitisch auf seine pressure-group im Hochschulverband zu stützen, sich als Aushängeschild der badischen Hochschulverwaltung zu gerieren und sich im Übrigen auf seine Prominenz zu verlassen. Er selbst und seine Verteidiger haben seinen Rücktritt vom Rektorat als Einsicht in einen vorübergehenden Irrtum hinstellen wollen. Indes ist seit längerem schon klar, dass seine NS-Begeisterung während des Dritten Reichs nie aufgehört hat und dass er sich vom Nationalsozialismus im Ganzen wie von seinen eigenen Taten in dieser Zeit nach 1945 nie distanziert hat. In Wahrheit beruht sein Ausscheiden aus dem Rennen um die Führung in der deutschen Philosophie und in der gesamten deutschen Geisteswelt nicht auf eigener besserer Einsicht, sondern auf der Entscheidung der badischen Kultusverwaltung, die Kooperation mit dem ihr zu radikal erscheinenden Philosophen zu beenden. Bestes Indiz dafür, dass Heidegger auch nach seinem vorgeblichen „Irrtum“ weiterhin dem System verbunden blieb, ist sein fortdauerndes Interesse an der von ihm umfangreich kommentierten Einrichtung einer reichsweiten "Dozentenschule" gewesen.109 Auch seine beleidigte Ablehnung, mit der deutschen Philosophendelegation zum Internationalen Philosophenkongress am Rande der Weltausstellung 1937 nach Paris zu reisen, zeigt, dass ihm nicht die Fahrt als solche missfiel, sondern der Umstand, dass er nicht an der Vorbereitung der Reise beteiligt worden und nicht als Führer der Delegation (und mithin der deutschen Philosophie) vorgesehen war. Dort wäre es ihm nämlich sonst darauf angekommen, den von den Franzosen nach seiner Ansicht geplanten "Vorstoß der liberal-demokratischen Wissenschaftsauffassung" zu parieren.110 Hans Heyse Führer dieser Delegation war nun ein Mann, der heute so weitgehend in Vergessenheit geraten ist, dass über ihn und sein prononciertes NS-Engagement bislang nicht viel veröffentlicht worden ist.111 Ich meine Hans Heyse, der 1937 nicht nur als Leiter der Pariser Delegation, sondern auch als Herausgeber der wichtigsten deutschen philosophischen Zeitschrift, der „Kant-Studien“ und zudem als Gründer einer „Akademie der Wissenschaften des NSDozentenbundes“ in Göttingen auf dem Gipfelpunkt seiner akademisch-politischen Karriere angekommen war. Der am 8.3.1891 in Bremen geborene Heyse ist der jüngste in der Gruppe der führenden NS-Philosophen. Als solcher musste er im Ersten Weltkrieg nicht nur eine akademische Karriere, sondern sogar sein Studium unterbrechen. Er beendete es erst 1921 mit einer Promotion in der neutralen Schweiz (Bern), wohin ihn angeblich der französische (und zudem jüdische) Philosoph Henri Bergson aus Heyses französischer Kriegsgefangenschaft vermittelt hatte. Im Jahre 1925 habilitierte sich Heyse, der im übrigen auch intensive Kontakte zum Berliner Kreis um den Philosophen Aloys Riehl unterhielt, mit einer Schrift „Der Begriff der Ganzheit und die Kantische Philosophie“ in Breslau. Das 1927 erschienene und seinem dortigen Lehrer und Förderer Richard Hönigswald gewidmete Werk bewegte sich noch ganz in den Bahnen des Neukantianismus und bezieht sich positiv nicht nur auf den „Nichtarier“ Hönigswald, sondern auch auf eine ganze Reihe anderer von den Na-
109 ebenda, 308-314. 110 ebenda, 347. 111 Einige Bemerkungen zu Heyses Berufung 1932 nach Königsberg finden sich in Tilitzki (2002) 300 ff., über seine Berufung nach Göttingen, seine Tätigkeit dort und seine Entnazifizierung in Dahms, Lebensphilosophie (wie Anm. 7); siehe auch die Kurzbiographie von Heyse in Grüttner (wie Anm. 8) 75
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tionalsozialisten entlassener Neukantianer wie etwa Ernst Cassirer.112 Noch kurz vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Heyse 1932 wegen eines überaus positiven Gutachtens von Heidegger113 (und statt des von einer starken Minderheit in der Fakultät favorisierten Helmuth Plessner) dann auf den Kant-Lehrstuhl nach Königsberg berufen. Dort entfaltete er – seit Oktober 1933 vor allem als Rektor und damit nach dem neuen Universitätsrecht auch als „Führer“ dieser Hochschule – ein umfangreiches NS-Engagement. Was Heyse dorthin geführt hat, ist bisher weitgehend im Dunkeln. Offenbar hat ihn der Erste Weltkrieg besonders betroffen. Er leistete nicht nur Kriegsdienst an der Front und geriet dann in eine lange französische Kriegsgefangenschaft, sondern widmete seine Dissertation auch seinem gefallenen Bruder. Zwischen seiner Promotion in Bern und seiner Habilitation in Breslau arbeitete er dort kurze Zeit in der Demobilisierungskomission und wird dort die wirtschaftlichen Folgen des Versailler Friedensvertrages besonders nah verfolgt haben. Aber das kann nur ein allgemeiner Motivationshintergrund sein. Denn ein eigentliches Interesse am Nationalsozialismus lässt sich bei ihm erst zu Beginn der 30er Jahre feststellen. Wichtig war dabei offenbar die Bekanntschaft und der Austausch mit anderen ähnlich gesonnenen Philosophen. Dazu schrieb Heyse in seinem Entnazifizierungsverfahren: „In der schwierigen Situation der modernen Welt, insbesondere Deutschlands nach 1914, kam 1933 der Nationalsozialismus als eine zwar noch unklar ausgeprägte, aber vielversprechende Bewegung zur Herrschaft. In langen freundschaftlichen Aussprachen, die ich im Frühjahr 1933 mit Herrn Prof. Dr. Martin Heidegger hatte, kamen wir zu der Überzeugung, dass diese Bewegung in irgendeinem Sinne für Deutschland schicksalhaft sein würde, und dass alles davon abhing, in ihr einen geistigen und ethischen Kern zu schaffen“.114 Heyse ist nun einer derjenigen NS-Philosophen gewesen, die sich tatsächlich an einer Art philosophischer Grundlegung des Nationalsozialismus versucht haben. Seine ziemlich wolkige Königsberger Rektoratsrede115 enthält dazu noch wenig Aufschlussreiches und Konkretes. Aber sein 1934 erschienenes umfangreiches Buch „Idee und Existenz“, das vermutlich schon vor 1933 begonnen wurde und ohne die nationalsozialistische Machtübernahme wohl nur eine eigentümliche Mischung von Existentialontologie im Heideggerschen Sinne und Platonexegese vorgeführt hätte, steht nun ganz im Banne des Nationalsozialismus. Das Neue an Heyses Buch war die direkte Parallelisierung der griechischen Vergangenheit mit der unmittelbaren deutschen Gegenwart: Was Platon in seiner „Politeia“ lediglich habe verkünden und fordern können, das habe Hitler mit der Gründung eines „Germanischen Reiches deutscher Nation“ verwirklicht. Zwar beanspruchte Heyse im Entnazifizierungsverfahren, es sein nicht sein Ziel gewesen, „eine gegebene Ideologie zu rechtfertigen, sondern umgekehrt, die Ideen allererst zu begründen, durch die die nationalsozialistische Bewegung geistigen und geschichtlichen Rang hätte gewinnen können“.116 Dies Werk wurde in der akademischen Fachwelt offenbar meist negativ rezensiert.117 Andererseits ist es wegen der Nähe des Buchs zum Nationalsozialismus doch keineswegs Zufall, wenn Lehmann in seinem zeitgenössischen Überblickswerk nur ihn zusammen mit Baeumler und 112 Dies sind Umstände, die Heyses späteres Engagement für den Nationalsozialismus als Konjunkturreiterei erscheinen ließen und von seinen Widersachern auch gegen ihn benutzt wurden. 113 siehe zur Berufung Heyses nach Königsberg Tilitzki (2002) 300 ff. 114 Zitat nach Dahms, Lebenphilosophie (wie Anm. 7) 185. 115 Hans Heyse, Die Idee der Wissenschaft und die deutsche Universität. Rede, gehalten bei der feierlichen Übernahme des Rektorates der Albertus-Universität zu Königsberg Pr., am 4. Dezember 1933, Königsberg 1934. 116 Zitat nach Dahms, Lebenphilosophie (wie Anm. 7) 186. 117 siehe Tilitzki (2002) 929 f.
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Krieck in die Riege der „politischen Philosophen“, will sagen: der Nazi-Ideologen in der Philosophie, einordnete. Heyse machte im Nationalsozialismus rasch Karriere: Rektor in Königsberg im Herbst 1933 und Herausgeber der „Kant-Studien“ im Sommer 1935. Dann wurde er in einem „Berufungsverfahren“, das allen akademischen Regeln Hohn sprach, gegen den ausdrücklich erklärten Willen der dortigen philosophischen Fakultät nach Göttingen berufen.118 Der nächste Schritt in seiner philosophisch-politischen Karriere zeigt am deutlichsten Heyses Bündnisstrategie: Als er eine „Akademie der Wissenschaften des NS-Dozentenbundes“ aus der Taufe hob, gab er damit nicht nur seine Gegnerschaft zur traditionellen Göttinger „Gesellschaft der Wissenschaften“ zu erkennen, sondern auch seine Loyalität zur Führungsspitze des NS-Dozentenbunds in dessen Münchener Zentrale im „Braunen Haus“. Auf die pompöse Eröffnung der Akademie in Anwesenheit des NS-Reichsdozentenbundsführes Schultze folgte nur kurze Zeit später der Gipfelpunkt in Heyses Karriere: Er wurde Leiter der deutschen Delegation beim 7. Internationalen Philosophie-Kongress 1937 in Paris.119 Doch danach begann schon Heyses Abstieg: seine Akademie wollte nicht so recht florieren und stellte schon vor Kriegsbeginn ihren Sitzungsbetrieb ein. Sodann wurde er – im Zuge von feindseligen Überkreuzbegutachtungen in Promotionsangelegenheiten – in eine ständig eskalierende Konfrontation verwickelt, die ihn schließlich in Gegnerschaft zu dem Mann brachte, der nicht nur die philosophische, sondern auch den Großteil der akademischen Szene überhaupt zu dominieren begann: Alfred Baeumler. Trotz einer kurzen Auferstehung als Mitherausgeber der – zwischen 1937 und 1941 eingestellten – „Kant-Studien“ hat sich Heyse nicht wieder von diesem Rückschlag erholen können. Insofern ist Christian Tilitzki darin zuzustimmen, dass es „den Philosophen trotz ihres großen Engagements versagt blieb, hochschul- und wissenschaftspolitisch zu dominieren oder gar über die Universität hinaus nennenswerten politischen Einfluss zu gewinnen“. Ihre (namentlich Rothackers, Heideggers und Heyses) hochgespannten Erwartungen und Führungsansprüche waren an der NSDAP gescheitert, die „dem gesamten Bildungssystem nur eine ... Völkischen Lebensinteressen untergeordnete Funktion einräumte“.120 Wie aber sah es mit den eigentlichen NS-Ideologen unter den akademischen Philosophen aus, also Krieck und Bäumler? Ernst Krieck und Alfred Baeumler Krieck und Baeumler sind die beiden ältesten aus der hier betrachteten Gruppe der NSPhilosophen: ihr Geburtsdatum liegt allerdings etwas mehr als fünf Jahre auseinander (mehr als das Baeumlers und der übrigen jüngeren zusammen). Sie waren die beiden, die nach 1933 im Wettbewerb um die Führung in der deutschen Philosophie als letzte im Rennen blieben. Trotz dieser Gemeinsamkeiten kann man sich ihren Werdegang bis etwa 1930 kaum unterschiedlicher vorstellen. Der am 6.7.1882 geborene Krieck121 absolvierte nach dem Gymnasium ein Volksschullehrerseminar. Einen weitergehenden Abschluss (etwa Promotion und Habilitation an einer Universität) hat er nie gemacht. Von 1900 an war er als Volksschullehrer tätig. Schon vor 118 ebd. 187. 119 siehe Leaman, Heidegger im Kontext (wie Anm. 8), dort den Eintrag „Heyse“ Es wäre eine dankbare Aufgabe, einmal die deutsche Delegationen und ihre Aktivitäten bei den internationalen Kongressen 1934 in Prag und 1937 in Paris miteinander zu vergleichen. 120 Tilitzki (2002) 926. 121 siehe zu Krieck Gerhard Müller, Die Wissenschaftslehre Ernst Kriecks. Motive und Strukturen einer gescheiterten nationalsozialistischen Wissenschaftsreform, Diss. phil. Freiburg 1976.
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dem Ersten Weltkrieg profilierte er sich als Verfasser pädagogischer und philosophischer Schriften und griff auch gelegentlich in aktuelle geistige Kontroversen ein. Sein schriftstellerisches Engagement brachte ihm 1923 einen Ehrendoktor der Universität Heidelberg ein, und dort soll er auch damals als Kandidat für gleich zwei verschiedene Professuren im Gespräch gewesen sein.122 Einen Ruf auf einen pädagogischen Lehrstuhl an der Universität Dresden hat er abgelehnt.123 Beflügelt von diesen schönen Erfolgen, ließ Krieck sich vom Schuldienst beurlauben, um sich intensiver seinem schriftstellerischen Wirken widmen zu können. Diese Arbeit schlug sich zu Beginn des Jahres 1928 in einem Ruf an die neu gegründete pädagogische Akademie in Frankfurt am Main nieder. Bezeichnend daran ist, dass diese Berufung nicht etwa von einem Nationalsozialisten ausgesprochen wurde, sondern vom linksliberalen preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker, ein Umstand, der sowohl die Kommentatoren Kriecks im Nationalsozialismus in Verlegenheit setzte124 als auch den Anhängern Beckers später Kopfzerbrechen bereitet haben dürfte. Jedenfalls begann Krieck ein erkennbares Engagement für den Nationalsozialismus erst, nachdem ihm die linksorientierte preußische Regierung eine größere Wirkungsmöglichkeit mit diesem Ruf verschafft hatte. Das brachte ihm, im Anschluss an bekannt gewordene aufrührerische Reden bei einer Sonnenwendfeier, ein Disziplinarverfahren und 1932 eine Strafversetzung an die Pädagogische Akademie in Dortmund ein. Krieck ließ nun alle Rücksichten auf die Fortsetzung einer akademischen Karriere beiseite und gerierte sich – vor allem mit seinem umfangreichen, 1932 veröffentlichten Werk „Nationalpolitische Erziehung“ im Rücken – nun als der geborene Philosoph und Pädagoge des Nationalsozialismus. Ganz anders dagegen, nämlich in den üblichen akademischen Bahnen, verlief bis zu diesem Zeitpunkt die Karriere Baeumlers.125 Der am 19.11.1887 in Neustadt bei Friedland (Siebenbürgen) Geborene durchlief ein ordnungsgemäßes Philosophiestudium und schloss dies wenige Tage vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs am 17. Juli 1914 mit der Promotion ab. Seine schulmäßige, aber ungewöhnlich kurze Dissertation war dem „Problem der Allgemeingültigkeit in Kants Ästhetik“ gewidmet.126 Darin vertrat er den Standpunkt, dass man die Allgemeingültigkeit von ästhetischen Geschmacksurteilen weder durch eine Übereinstimmung der Urteilenden erwarten noch ganz auf sie verzichten dürfe. Vielmehr handele es sich dabei um eine Aufgabe für die Zukunft.127 Wie diese Aufgabe angesichts der schon damals und dann erst recht nach dem Kriegsende weit auseinanderdriftenden künstlerischen Richtungen und ästhetischen Doktrinen angegangen oder gar gelöst werden sollte, gab Baeumler nicht an. Als er – u.a. nach vierjährigem Kriegsdienst – seine akademische Karriere als Kandidat seines (nach 1933 als „Nichtarier“ entlassenen) akademischen Lehrers Max Dessoir mit einer Habilitationsschrift über „Die Idee der Transzendenz in der Geschichte der neueren Philosophie“ fortsetzen wollte, wurde ihm die Zulassung an der Berliner Universität (wegen mangelnder Griechischkenntnisse!) verweigert.128 Nun wich Baeumler an die Techni122 so Birgit Vezina, „Die Gleichschaltung“ der Universität Heidelberg, Heidelberg 1982, 133, Anm. 541. 123 so schon Willi Kunz, Ernst Krieck. Leben und Werk, Leipzig 1942, 11 und neuerdings Tilitzki (2002) 188. 124 Sein Schüler Kunz (ebd.) spricht etwa davon, dass man den unbequemen Krieck durch diesen „geschickten Schachzug“ habe aus der öffentlichen Diskussion herausnehmen und zur Zurückhaltung verpflichten wollen. 125 siehe zum Lebenslauf Baeumlers Tilitzki (2002) 545-583, 605 ff., 935-962 und die dort angegebene Literatur. 126 Alfred Baeumler, Das Problem der Allgemeingültigkeit in Kants Ästhetik, Diss. phil. München 1915 127 ebd. 44 f. 128 Gerhardt u.a., Berliner Universitätsphilosophie (wie Anm. 85) 292.
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sche Hochschule nach Dresden aus, wo er nach erfolgreicher Habilitation im Jahre 1924 drei Jahre später zum Extraordinarius und 1929 zum Ordinarius befördert wurde. Inzwischen hatte sich Baeumler durch die Veröffentlichung von Werken zur Geschichte der neueren deutschen Philosophie soweit bekannt gemacht, dass ihm auch größere Editionen (etwa die Nietzsches im Kröner-Verlag) übertragen wurden. Auch gab er (zusammen mit Manfred Schröter) das weithin bekannte „Handbuch der Philosophie“ heraus, zu dem er selbst den Ästhetik-Teil beisteuerte. Er veröffentlichte ihn 1933, in einem eher unfertigen Zustand,129 und kehrte in der Folgezeit nicht mehr zur Ästhetik zurück. Sein 1931 veröffentlichtes Buch „Nietzsche. Der Philosoph und Politiker“130 hatte Baeumler schon die Aufmerksamkeit höchster nationalsozialistischer Würdenträger eingetragen.131 So durfte er im selben Jahr die Bekanntschaft Hitlers und Rosenbergs machen und trat – wenngleich offenbar nach anfänglichem Zögern – auch dessen "Kampfbund für deutsche Kultur" bei. Anders als Krieck zog es der akademisch durchaus wohletablierte Baeumler allerdings vor, sich mit seinem allmählich verstärkenden Engagement für die Sache des Nationalsozialismus vor 1933 noch bedeckt zu halten: er trat erstaunlicherweise erst am 1. Mai 1933 der NSDAP bei. Nach 1933 war die große Zeit jener Philosophen gekommen, die sich frühzeitig für den Nationalsozialismus engagiert hatten, allen voran Krieck und Baeumler. So wurden beide und zwar jeweils in Verfahren, die die bis dahin üblichen akademischen Regeln krass verletzten und auf die völlige Übergehung der akademischen Selbstverwaltung hinausliefen,132 in Schlüsselpositionen an die Universitäten Frankfurt (Krieck) bzw. Berlin (Baeumler) berufen. Von da aus konnte Krieck dann im Handstreichverfahren das Rektorat übernehmen, während Baeumler mit einem neugeschaffenen „Institut für politische Pädagogik“ ausgestattet wurde. Auf ihre weitere politisch-administrative Karriere im Nationalsozialismus braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden, weil dies in der Literatur schon oft genug geschehen ist. Stichwortartig seien nur genannt: Krieck wird 1934 – als Nachfolger des Hauptes der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus Heinrich Rickert – nach Heidelberg berufen, übernimmt dort auch später einige seinem Engagement entsprechende herausgehobene Positionen wie die des Gaudozentenbundsführers und schließlich des Führer-Rektors, ehe er beide 1938 „aus gesundheitlichen Gründen“ – tatsächlich aufgrund eines von Reinhard Heydrich unterbundenen Konflikts mit dem Rassepolitischen Amt133 – wieder niederlegte. Es folgte seine letzte große Auseinandersetzung mit Alfred Baeumler. Dieser hatte sich schon am 10. Mai 1933 dem Tage der Bücherverbrennungen, öffentlich hervorgetan, als er die NS-Studenten von seiner Antrittsrede als Berliner Professor aus zur „Aktion gegen den undeutschen Geist“ losschickte: „Sie ziehen jetzt hinaus, um Bücher zu verbrennen, in denen ein uns fremder Geist sich des deutschen Wesens bedient hat, um uns zu bekämpfen. Auf dem Scheiterhaufen, den sie errichten, werden nicht Ketzer verbrannt. Der politische Gegner ist kein Ketzer, ihm stellen 129 Er behandelt dort nämlich vom Gesamtgebiet der Ästhetik nur die Theorie und Geschichte der Architektur und zwar von Vitruv bis Alberti. 130 Alfred Baeumler, Nietzsche. Der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931; vergl. damit seinen Aufsatz: Nietzsche und der Nationalsozialismus, in: Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1937, 281294. 131 Und dies, obwohl er obwohl er nach den Worten Taurecks einen „Hitlerismus ohne antisemitischen Rassismus“ zu propagieren suchte. Siehe Taureck, Nietzsche (wie Anm.73), 127. 132 siehe für Baeumler Leske, Philosophen (wie Anm.71) 213 und für Krieck Hammerstein:, Universität Frankfurt (wie Anm. 85). Heyse wurde 1936 übrigens ebenfalls unter Umgehung der Fakultät nach Göttingen berufen. 133 Leaman, Heidegger im Kontext (wie Anm. 8) 56.
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wir uns im Kampfe, er wird der Ehre des Kampfes teilhaftig. Was wir heute von uns abtun, sind Giftstoffe, die sich in der Zeit einer falschen Duldung angesammelt haben. Es ist unsere Aufgabe, den deutschen Geist in uns so mächtig werden zu lassen, dass sich solche Stoffe nicht mehr ansammeln können. Wir dürfen nicht auf Verbote bauen. Aus uns selber heraus müssen wir den undeutschen Geist überwinden.“134 Mit einer großangelegten „Deutschen Geschichte“, mit deren Autorschaft er betraut worden war und von der man am ehesten eine Einlösung solcher Ankündigungen hätte erwarten können, ist er jedoch nicht zu Rande gekommen. Sie ist jedenfalls nie publiziert worden. Baeumler machte im Amt Rosenberg rasch Karriere. Sie brachte ihn 1937 über verschiedene Zwischenstationen an die Spitze des „Amtes Wissenschaft“.135 In dieser Behörde wurde Baeumler zu einem der einflussreichsten Wissenschaftsadministratoren des Dritten Reiches, der sich durch eine Fülle von „Beurteilungen“ in Personalvorgänge auch ganz außerhalb der Philosophie einmischte und auch in viele aktuelle weltanschauliche Konfliktfälle eingriff. In den letzten Friedensjahren waren Krieck und Baeumler auf dem Zenit ihrer akademischen und politischen Karrieren angekommen. Wer von beiden denn nun der definitive „Führer“ der deutschen Philosophie werden sollte, hätte sich spätestens im Frühjahr 1939 im Vorfeld der Hitler-Festschrift entscheiden können oder auch müssen. Wie wir aber eingangs gesehen haben, blieb die Frage dort in der Schwebe, weil beide Beiträge lieferten. Indes war dies Patt nicht von Dauer. Denn Baeumler beschwerte sich – vor allem wegen des gegen ihn gerichteten Angriffs Kriecks – bis hin in die obersten Staatsspitzen über seinen Widersacher und behielt schließlich die Oberhand. Denn Krieck wurde gerügt und damit definitiv hinter Baeumler an die zweite Stelle der NS-Hierarchie unter den Philosophen verbannt. Die Festschrift (immerhin zu Ehren des „Führers“ selbst verfasst und gedruckt) erhielt schließlich einzig aus dem Grund, dass sich – als einzige – die maßgeblichen NS-Philosophen nicht über eine NS-Programmatik für ihre Disziplin und ihre eigene Position darin haben einigen können, keine Neuauflage. Damit, sollte man meinen, war die Schlacht entschieden. Aber daran sind Zweifel erlaubt. Denn auch Baeumler, als letzter in dem sozialdarwinistischen Ausleseverfahren übrig geblieben, wurde von nachdrängenden jüngeren Kräften aus seiner Position verdrängt: Für kurze Zeit nahm seine Position vertretungsweise ein Heinrich Härtle ein. Danach wurde der 1904 geborene Rassenideologe Walter Gross Leiter des „Amtes Wissenschaft“ bei Rosenberg136, während Baeumler sich mit dem Aufbau der „Hohen Schule“, dem Projekt einer nationalsozialistischen Alternativuniversität, befasste. Dabei hat es sich dann schon nicht mehr um einen weiteren Aufstieg Baeumlers, sondern um seine Abschiebung auf eine Spielwiese gehandelt (eine „horizontale Beförderung“).137 Der Übergang von Baeumler zu Gross dürfte signifikant für das Schicksal sein, das die Philosophie, einen Sieg der Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg vorausgesetzt, inhaltlich genommen hätte. Der ausgebildete Mediziner Gross kam nämlich aus der südniedersächsischen rassenhygienischen Szene und hatte als Gründer der Hochschulgruppe des NSStudentenbundes 1927 in Göttingen früh auf sich aufmerksam gemacht. Er war nach 1933 Leiter des „Rassepolitischen Amtes“ der NSDAP geworden. Insofern hätte man damit 134 Baeumler, Antrittsvorlesung, 137 f.; die Brandrede selbst hat in Berlin dann allerdings Goebbels gehalten. 135 Tilitzki (2002) 949 ff. 136 siehe dazu Roger Uhle, Neues Volk und reine Rasse. Walter Gross und das Rassenpolitische Amt der NSDAP (RPA), Aachen 1999. 137 siehe in diesem Sinne auch Tilitzki (2002) 1143.
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rechnen können, dass sich die Wissenschafts- und auch die Philosophiepolitik unter seinem Einfluss weg von einem nietzscheanisch inspirierten Übermenschendenken im Sinne Baeumlers und hin zu einem wissenschaftlich verbrämten Rassismus entwickelt hätte. Dieser Weg ist der deutschen Philosophie durch die militärische Niederlage erspart geblieben. 5. Schluss Was wurde danach aus den hier herausgestellten NS-Philosophen nach Kriegsende? Gross hatte sich schon Ende April 1945 das Leben genommen.138 Krieck starb 1947 im Internierungslager. Baeumler und Heyse, die ihn um Jahrzehnte überlebten (1968 bzw. 1976 verstorben), kehrten nie auf eine akademische Stelle zurück. Bäumler verbrachte zunächst wie Krieck einige Jahre in einem Internierungslager. Dann mit dem Abschluss der Entnazifizierung als „Mitläufer“ klassifiziert, wurde er gleichwohl nicht wieder als Hochschullehrer „wiederverwendet“. Er betätigte sich in der Folgezeit als freier Schriftsteller. Dabei versuchte er sich auch an einer Klärung seiner Haltung zum Nationalsozialismus. Nach einer Selbstdarstellung habe ihn am meisten die feindselige Reaktion Thomas Manns auf sein Vorwort zur Werkausgabe Bachofens in die Arme seiner eigentlichen „geistigen Gegenspieler“ getrieben (nämlich in die der Vertreter des Irrationalismus und schließlich in die der Nationalsozialisten). Diese Verteidigungslinie, die heutzutage noch von seiner Witwe fortgesetzt wird139, kann nicht überzeugen: ihre Verallgemeinerung würde ergeben, dass man, statt sich gegen eine falsche politische Charakterisierung (oder auch Vereinnahmung) zur Wehr zu setzen, mehr oder weniger gezwungen wäre, sich so zu verhalten, als müsste man sie nachträglich – im Sinne einer Art von selffulfilling prophecy – wahr machen. Immerhin hat sich Baeumler aber offenbar von seiner früheren Begeisterung für den Nationalsozialismus abgewandt: „Alles, was ich jemals für Hitler und sein System gesagt habe, erkläre ich für Irrtum und Wahn. Wenn ich etwas gegen die Kirchen und gegen die Juden geschrieben habe, so ist das stets in geschichtlichem Zusammenhang geschehen, es war tendenziöse Polemik, die sich aus meiner Auffassung des „Reiches“ ergab. Es war die negative Kehrseite meines Germanismus. Ich erkläre diesen Germanismus für einen verhängnisvollen Irrtum, und alles, was ich daraus gefolgert habe, für falsch. Was ich über die Kirchen, über die Juden, über den Liberalismus geschrieben habe, ist Ausdruck einer Übersteigerung der preußisch-deutschen Geschichtsauffassung, einer unbegreiflichen Verdunkelung des Verstandes, einer Verirrung des Geistes.“140 Allerdings handelt es sich bei dieser Abschwörung um einen privaten Brief an seinen enttäuschten früheren Freund Manfred Schröter, der erst posthum 1989 veröffentlicht wurde.141 Öffentlich dagegen nahm Baeumler an jenem „kommunikativen Beschweigen“ der NS-Vergangenheit teil, das von Hermann Lübbe nach wie vor als probate Haltung ge-
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so Uhle, Walter Gross (wie Anm. 136) 19. siehe Marianne Baeumler, Dokumentation (wie Anm. 87). Baeumler an Manfred Schröter, 24.3.1950, ebenda, 202-212, hier: 212. Vom Schreiben Schröters, auf das Baeumler hier antwortete, liest man dort nur einen kurzen Auszug. Von einer Schröters Antwort ist nichts bekannt.
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lobt142, von Gereon Wolters jedoch in einem „Rückblick der deutschen Philosophie auf das „Dritte Reich“ kritisiert worden ist.143 Bei Heyse sah es ganz so aus, als wäre er aus der akademischen Welt verschwunden: er wurde nicht nur an keiner Universität mehr „wiederverwendet“, sondern hat auch keinen Versuch mehr unternommen, seine Haltung zum Dritten Reich nachträglich zu verdeutlichen oder sonst durch Veröffentlichungen auf sich aufmerksam zu machen. Heidegger wurde im Zuge der Entnazifizierung zunächst entlassen, dann aber mit dem Abschluss der Entnazifizierung rehabilitiert.144 Danach war ihm nur noch eine kurze reguläre akademische Wirksamkeit beschieden. In die Zeit nach seiner Emeritierung fallen noch eine Reihe wichtiger Werke. Eine grundsätzliche Positionierung zum Nationalsozialismus sowie eine selbstkritische Überprüfung seiner eigenen Rolle darin waren aber nicht dabei.145 So konnte es dazu kommen, dass gegen Ende der 80er Jahre, als die ersten kritischen Biographien erschienen, Heidegger-Anhänger eine recht negative Überraschung erlebten. Nur Rothacker wirkte nach kurzer entnazifizierungsbedingter Abwesenheit seit Dezember 1947 wieder regulär an der Bonner Universität. Auf seine Vergangenheit konnte er als einziger aus der Gruppe der ehemaligen führenden NS-Philosophen in – geradezu demonstrativ unpolitisch gehaltenen – „Heiteren Erinnerungen“ zurückblicken.146 Richtet man den Blick auf die gesamte Disziplin Philosophie im Nationalsozialismus, so kommt man zu folgenden zusammenfassenden Thesen: 1) Es gibt keine einheitliche Positionierung des Fachs Philosophie gegenüber dem Nationalsozialismus. Denn es gab einerseits die Opfer der NS-Säuberungen, von denen die Philosophen zu einem Drittel betroffen waren, und andererseits jene Aktivisten, die um die Führung in der Disziplin, wenn nicht im gesamten Wissenschaftsbereich, unter nationalsozialistischen Vorzeichen kämpften. Dazwischen fand sich eine schwierige Gemengelage: opportunistische Mitläufer, von der Entwicklung überrollte konservative Deutschnationale, innere Emigranten, kirchlich geprägte Dissidenten. 2) Die meisten der Entlassenen (wieder etwa ein Drittel) gingen in die Emigration, davon der Großteil in den angelsächsischen Bereich. Für die meisten deutschen von ihnen bedeutete die Emigration einen Einschnitt, der in der ungewohnten kulturellen Umgebung das Ende oder zumindest eine jahrelange Zäsur und Pause in ihrer schöpferischen Tätigkeit markierte. Dagegen eröffnete die Emigration für einige wenige – wie insbesondere die Logischen Empiristen – die Chance zu einer Wirksamkeit, die sie in ihrem Ursprungsland nie gehabt hätten. 3) Die Geschichte des Fachs in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland ist eine des quantitativen Niedergangs, nämlich eines dramatischen Rückgangs der Studentenzahlen und eines Abbau des Lehrkörpers auf etwa die Hälfte. 4) Dem ging inhaltlich eine Reduktion der philosophischen Optionen einher, namentlich des logischen Empirismus und der Frankfurter Schule, aber auch etwa des der Moderne aufgeschlosseneren Teils des Neukantianismus. Darunter litten die philosophischen Teildisziplinen, die von diesen Gruppen besonders gepflegt worden waren: Erkenntnis- und 142 siehe als neueste Verteidigung dieser Haltung Hermann Lübbe, Vom Parteigenossen zum Bundsbürger. Über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten, München 2007. 143 Gereon Wolters, Vertuschung, Anklage, Rechtfertigung. Impromptus zum Rückblick der deutschen Philosophie auf das „Dritte Reich“, Bonn 2004, 29 f. 144 siehe dazu Hugo Ott, Martin Heidegger. Auf dem Wege zu seiner Biographie, Frankfurt am Main, 291 ff. 145 siehe dazu auch Wolters, Vertuschung..., 10 ff. 146 Erich Rothacker, Heitere Erinnerungen, Frankfurt am Main/Bonn 1963
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Wissenschaftstheorie sowie mathematische Logik; marxistisch inspirierte Sozialphilosophie und Theorie der Massenkultur. 5) Zur Ausformung einer NS-typischen Philosophie ist es in den zwölf Jahren von 1933 bis 1945 nicht gekommen. Die Konzeptionen der daran interessierten Fachvertreter waren zu verschieden, das Interesse der NS-Wissenschaftspolitik daran nicht besonders ausgeprägt. 6) Nach 1945 haben die exponiertesten Vertreter der NS-Philosophie keine bzw. keine große Rolle mehr gespielt. Eine nennenswerte Aufarbeitung der Philosophie im Nationalsozialismus ist bis in die 80er Jahre hinein ausgeblieben. Es ist natürlich die Frage, ob die Philosophie sich in den beiden deutschen Staaten nach 1945 von der Zäsur der Nazi-Zeit wieder erholt hat. Für die Kaderphilosophie der DDR wird man diese Frage verneinen müssen. Dort wurde die Disziplin zwar enorm ausgebaut und gesellschaftlich aufgewertet, schlitterte aber inhaltlich mit ihrem dogmatisch erstarrten Marxismus-Leninismus alsbald ins philosophische Abseits. In der BRD ist es bis zum Ende der 80er Jahre nicht zu einer nennenswerten Auseinandersetzung mit der Philosophie im Nationalsozialismus gekommen, ein Umstand, auf den internationale Beobachter den Niedergang der deutschen Philosophie nach 1945 zurückgeführt haben.147 Immerhin haben sich die durch den Nationalsozialismus vertriebenen philosophischen Optionen im Laufe der Zeit wieder in der BRD angesiedelt. Allerdings waren Rückkehr und Rücktransport der durch den Nationalsozialismus in die Emigration getriebenen Frankfurter Schule sowie des logischen Empirismus (sowie des kritischen Rationalismus Karl Poppers) schwierige Prozesse.148 Wie jene Entwicklungen bei den beiden letztgenannten Orientierungen abgelaufen sind und zu welchen inhaltlichen Transformationen sie – gerade in der Phase des Kalten Krieges149 – geführt haben, bliebe zu untersuchen.
147 so Sluga, Heidegger (wie Anm. 23) 244. 148 siehe dazu allgemein Hans-Joachim Dahms, Positivismusstreit. Die Auseinandersetzungen der Frankfurter Schule mit dem logischen Positivismus, dem amerikanischen Pragmatismus und dem kritischen Rationalismus, Frankfurt am Main 1994, 267 ff. sowie für die Frankfurter Schule Alex Demirovic. Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt am Main 1999 und Clemens Albrecht/ Günter C. Berhmann/ Michael Bock/ Harald Homann/ Friedrich Tenbruck, Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt am Main, 1999. 149 Auf die Wichtigkeit der politischen Rahmenbedingungen in dieser Zeit für die Entwicklung der Philosophie – in den USA - hat neuerdings George Reisch, How the Cold War... (wie Anm. 42) nachdrücklich hingewiesen.
RELIGIONSWISSENSCHAFT HORST JUNGINGER 1. Religions- als Kulturwissenschaft 1.1. Die gesellschaftliche und kulturelle Dominanz des Christentums Gesellschaften und Kulturen, in denen die Religion – das heißt in der Regel eine bestimmte Religion – eine dominierende Rolle spielt, tun sich schwer damit, nichtreligiösen oder religiös devianten Lebensauffassungen einen angemessenen Stellenwert zuzubilligen. Auch im Deutschen Reich waren bis zum 1. Weltkrieg Religion, Kultur und Gesellschaft in einem Ausmaß miteinander verschränkt, wie man es sich heute kaum mehr vorzustellen vermag. Um zum Beispiel im Staatsdienst, an der Universität oder in irgend einem anderen gesellschaftlich relevanten Berufsfeld Karriere machen zu können, war es unabdingbar, Mitglied in einer der beiden Kirchen zu sein. Wenn nun aber Religion, Christentum und Kultur weitestgehend miteinander verschmolzen waren, musste das auch einschneidende Konsequenzen für eine nichttheologische Religionsforschung haben, die sich in der Phase ihrer Konstituierung vor allem dadurch auszeichnete, dass sie die Gleichberechtigung aller Religionen zum wissenschaftlichen Paradigma erhob. Weil die Religionswissenschaft, wenn auch nolens volens, den das Kaiserreich bestimmenden religionspolitischen Grundkonsens in Frage stellte, hatten weder die Kirchen noch die zuständigen Kultusverwaltungen ein besonderes Interesse an einem autonomen Universitätsfach „Allgemeine Religionsgeschichte“, wie die frühere Bezeichnung lautete. Nichtchristliche Religionen gerieten in der damaligen Zeit eigentlich nur dann in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses, wenn sie ein koloniales Problem darstellten oder wenn ihre Anhänger zum Objekt der christlichen Mission wurden. In seiner bekannten und vielzitierten Berliner Rektoratsrede bestritt mit Adolf von Harnack einer der führenden Intellektuellen des Kaiserreichs am 3.8.1901 ganz vehement die Notwendigkeit und den Nutzen der Allgemeinen Religionsgeschichte.1 Theoretische wie praktische Erwägungen ins Feld führend, bestand Harnack darauf, dass nur dem Christentum religiöse Heilsqualität zukomme und dass eine nichtreligiöse Religionsforschung unweigerlich zur Relativierung der christlichen Botschaft und des kirchlichen Anliegens führen müsse. Im bewusstem Gegensatz zu Friedrich Max Müller, der als einer der Gründungsväter der Religionswissenschaft betont hatte, dass man keine Religion kenne, wenn man nur eine kenne, erklärte Harnack, dass die christliche Religion zur eingeborenen Anlage aller Menschen gehöre und dass es daher ausreiche, diese eine zu kennen, um das Muster aller Religionen zu verstehen.2 Aufgrund seiner religiösen Voraussetzungen konnte Harnack gar nicht anders als zu der Auffassung kommen, dass eine nichttheologische Religionswissenschaft der Ehrfurcht für die göttlichen Dinge abträglich sein und die Zersetzung wahrer Kultur befördern müsse. Nach seiner Ansicht ließen sich die praktischen Belange der Kirche, etwa bei der Ausbildung des theologischen und kirchlichen Nachwuch1
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Adolf von Harnack, Die Aufgabe der theologischen Fakultäten und die Allgemeine Religionsgeschichte, in: Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Reden und Schriften aus den Jahren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, hg. und eingeleitet von Kurt Nowak, Bd. 1, Berlin u.a. 1996, S. 797-815. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch Harnacks Nachwort, das 1901 in der Christlichen Welt als Replik auf die von Martin Rade vorgebrachten Einwände erschien (ebd., S. 816-824). Ebd., S. 809f.
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ses, durchaus ohne die Hilfe der Religionswissenschaft befriedigen. Ein weiteres von ihm angeführtes Argument suchte dem imperialen Anspruch des deutschen Kaiserreichs zu entsprechen: die christlichen Staaten seien gerade dabei, die Welt unter sich aufzuteilen, dafür sei die Missionswissenschaft vollkommen ausreichend.3 Das Ineinanderfallen der drei Größen Christentum-Religion-Kultur wirkte sich nicht nur hemmend auf die akademische Institutionalisierung der Religionswissenschaft aus sondern beeinträchtigte auch ihre Methodenlehre in nachteiliger Weise. Abgesehen davon, dass eine spezifisch christliche Begrifflichkeit unzulässig auf die nichtchristliche Religionsgeschichte übertragen wurde, hatten viele Religionstheoretiker Mühe, eine der religiösen Vielfalt angemessene analytisch differenzierende Religionssystematik zu entwickeln. Statt dessen erging man sich häufig in synthetisierenden Beschreibungen, die mehr oder weniger deutlich durch eine christliche Religionsphilosophie vorstrukturiert waren. So wurde etwa argumentiert, dass – da der Ausgangs- und Endpunkt jeder Religion im Übernatürlichen liege und da dieses dem menschlichen Erkenntnisvermögen prinzipiell unzugänglich sei – man die Religionsgeschichte nicht studieren könne wie jeden beliebigen anderen Aspekt der menschlichen Kulturentwicklung. Dafür sei eine besondere Form der Empathie und des religiösen Einfühlungsvermögens vonnöten, was darauf hinauslaufen musste, dass letztlich der eigene religiöse Glaube zur epistemologischen Voraussetzung des religionswissenschaftlichen Verstehens erklärt wurde. Unter solchen erkenntnistheoretischen Prämissen hatte es die akademische Religionsforschung verständlicherweise schwer, sich als normales Fach im Kanon der Kulturwissenschaften zu etablieren. Noch für den Troeltsch-Schüler Karl Bornhausen lag aller Kultur und damit auch aller Kulturwissenschaft Gott als prima causa zu Grunde. Eine kulturwissenschaftliche Bearbeitung der Religionsgeschichte konnte für ihn daher nur in der Form einer Metaphysik der himmlischen Dinge erfolgen.4 Bornhausens deutlich lebensphilosophisch geprägtes Postulat, wonach jede Kulturwissenschaft die Geschichte des metaphysischen Ansatzes im Leben zu reflektieren habe, entsprach vermutlich einer gängigen Auffassung innerhalb des liberalen Kulturprotestantismus. Das entscheidende Manko solcher Theorien, die den Ausgangspunkt der Religionsforschung in den Bereich des Überempirischen verlegen und die daher die Religionsgeschichte nur sekundär als Epiphänomene göttlicher Wirkkraft interpretieren können, besteht freilich darin, dass sie an dieser Stelle offen sind für religiöse und weltanschauliche Sinndeutungen, für die es der Natur der Sache nach kein wissenschaftliches Korrektiv geben kann. Bornhausen selbst ist ein Beispiel dafür, wie auf diesem Weg die Ideologie des Nationalsozialismus Eingang in die Religionswissenschaft fand. 1.2. Der Aufschwung der Religionswissenschaft in der Weimarer Republik Die Niederlage im 1. Weltkrieg führte mit dem Untergang der Monarchie bekanntlich zum Ende der Verbindung von Thron und Altar in Deutschland. Nach Abschaffung des Staatskirchentums und des Summepiskopats setzte ein Prozess der Entflechtung von Staat und Kirche ein, in deren Verlauf die Kirchen eine ganze Reihe ihrer früheren Privilegien verloren. Da sie durch die neue Reichsverfassung vom 11.8.1919 zu einer bloßen Religionsgesellschaft neben anderen herabgestuft wurden, zählten die beiden Kirchen zu den entschiedenen Gegnern der Weimarer Demokratie. Adolf von Harnack gehörte zu den wenigen Theologen, die dafür plädierten, sich auf das demokratische System einzulassen und sich mit ihm zu arrangieren. In den verfassungspolitischen Auseinandersetzungen der ers3 4
Ebd., S. 803. So Karl Bornhausen in seinem Artikel Kulturwissenschaft und Kulturphilosophie, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3, 21922, Sp. 1359-1365.
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ten Nachkriegsjahre warf er sein ganzes Gewicht in die Waagschale, um die damals diskutierte Ausgliederung der theologischen Fakultäten aus den Universitäten zu verhindern.5 Von einer Position der Defensive aus argumentierend hielt er nun die Einrichtung religionsgeschichtlicher Lehrstühle nicht mehr für grundsätzlich falsch. Sofern sich ihre Vertreter auf dem Boden der kirchlichen Lehre befanden, konnten sie seiner Meinung nach eine sinnvolle Ergänzung für die traditionellen theologischen Disziplinen sein. Weil ihm aber bewusst war, dass die Religionswissenschaft bei den Kirchenbehörden und in weiten Teilen der Theologie auf Ablehnung stieß, und weil sich der religiöse Wahrheitsgehalt des Christentums letztlich doch nicht mit wissenschaftlichen Methoden erfassen lasse, schien es ihm unter den gegebenen Umständen das Beste zu sein, solche Lehrstühle innerhalb der philosophischen Fakultät anzusiedeln. Zu diesem Zeitpunkt war die Entwicklung allerdings schon über Harnacks Auffassung hinweggegangen. Die politische Situation hatte sich in Deutschland grundlegend verändert und nicht nur eine Neubewertung der gesellschaftlichen Funktion der Religion im Allgemeinen sondern auch der nichttheologischen Religionsforschung im Besonderen mit sich gebracht. Es kam jetzt eine Entwicklung zum Tragen, die sich im 19. Jahrhundert vor allem in den klassischen und orientalischen Philologien und in der ethnologischen Forschung abgezeichnet hatte, wo die Religionsgeschichte einen mehr und mehr eigenständigen Wissenschaftszweig zu bilden begann. Deutschland fand nun Anschluss an die europäische Religionswissenschaft, die in anderen Ländern bereits wesentlich weiter vorangeschritten war. Die seit 1900 abgehaltenen internationalen religionsgeschichtlichen Kongresse und das seit 1898 erscheinende Archiv für Religionswissenschaft spielten eine wichtige Rolle dabei, dass sich auch in Deutschland eine unabhängige Religionsforschung entwickeln konnte. An der Universität Bonn hatte sich Carl Clemen lange vor dem 1. Weltkrieg für die Etablierung der Religionswissenschaft eingesetzt. 1910 schied er aus der Theologischen Fakultät aus, um das Fach Religionsgeschichte in der Philosophischen Fakultät zu vertreten. Zehn Jahre später wurde in Bonn das erste religionswissenschaftliche Seminar in einer philosophischen Fakultät Deutschlands eingerichtet und Clemen zum ordentlichen Professor ernannt. Abgesehen von der allerersten, seit 1910 in der Evangelisch-theologischen Fakultät Berlins bestehenden, religionsgeschichtlichen Professur in Deutschland, gab es seit 1912 in der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Leipzig einen religionsgeschichtlichen Lehrstuhl und ein eigenes religionsgeschichtliches Seminar, dem der schwedische Theologe und spätere Friedensnobelpreisträger Nathan Söderblom vorstand.6 Auf Söderblom, der 1914 zum schwedischen Erzbischof ernannt wurde und deshalb nach Uppsala zurückkehrte, folgte 1915 der Religionshistoriker Hans Haas, der eine deutlichere Distanz zur christlichen Theologie wahrte und der die Religionsgeschichte ganz ohne religiös apologetische Tendenz betrieben wissen wollte.7 Die relative Selbständigkeit der Leipziger Religionswissenschaft wurde auch dadurch befördert, dass das religionshistorische Seminar einen Teil des von Karl Lamprecht gegründeten Kulturhistorischen Instituts bildete. Zu welchen Leistungen die Leipziger Religionswissenschaft fähig war, bewies die 1924 veröffentliche Habilitationsschrift von Joachim Wach, die einen Meilenstein auf dem Weg zu einer autonomen Religionswissenschaft in Deutschland bedeutete.8 Eingebettet in die zeitgenössische Diskussion um den Status der Geisteswissenschaften, bot sie die erste 5 6 7 8
Adolf von Harnack, Die Bedeutung der theologischen Fakultäten, in: Preussische Jahrbücher 175, 1919, S. 362-374, zitiert nach Kurt Nowak, a.a.O., S. 856-874. Siehe hierzu Kurt Rudolph, Die Religionsgeschichte an der Leipziger Universität und die Entwicklung der Religionswissenschaft. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte und zum Problem der Religionswissenschaft, Berlin 1962, bes. S. 109ff. Ebd., S. 123. Joachim Wach, Religionswissenschaft. Prolegomena zu ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlegung, Leipzig 1924.
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systematische Darstellung einer historisch-kritisch arbeitenden Religionswissenschaft. 1927 erhielt Wach einen Lehrauftrag für Religionssoziologie und 1929 eine außerplanmäßige außerordentliche Professur für Religionswissenschaft an der Universität Leipzig. Bei der Herausbildung einer eigenständigen Universitätsdisziplin Religionswissenschaft müssen außer den Universitäten in Bonn und Leipzig noch die in Marburg und Tübingen genannt werden. Mit einem gewissen Recht wurde Marburg auch schon als Mekka der religionshistorischen Forschung während der Zwischenkriegszeit bezeichnet. Viele Studenten pilgerten geradezu nach Marburg, um die Vorlesungen des Systematischen Theologen und Religionsphilosophen Rudolf Otto zu hören. Sein 1917 in erster Auflage erschienenes Buch Das Heilige übte einen immensen Einfluss aus. Otto gelang es 1920, Friedrich Heiler von München nach Marburg zu holen, dessen außerordentliche Professur für Religionsgeschichte 1922 in ein Extraordinariat umgewandelt wurde. Wegen seiner stark katholisierenden Neigungen, Heiler ließ sich sogar zum Bischof einer katholischen Splittergruppe weihen, fand er in der Evangelisch-theologischen Fakultät Marburgs begreiflicherweise keine besonders freundliche Aufnahme. Auf den 1929 emeritierten Rudolf Otto folgte der Systematische Theologe Heinrich Frick, der auch die Religionsgeschichte vertrat. Eine Marburger Besonderheit stellte die auf Veranlassung Ottos 1927 eingerichtete Religionskundlichen Sammlung dar, die bis zum heutigen Tag das einzige religionsgeschichtliche Museum in Deutschland geblieben ist. An der Universität Tübingen war die religionswissenschaftliche Forschung traditionell mit der Indologie verbunden. Der Indologe Rudolf Roth hielt dort im 19. Jahrhundert über 45 Jahre lang seine berühmte Vorlesung „Allgemeine Religionsgeschichte“, die zu einem wichtigen Kristallisationspunkt der deutschen Religionswissenschaft wurde. Als es im Jahr 1922 zur Einrichtung eines Orientalischen Seminars kam, wurde diesem außer einer semitistischen und einer indologischen auch eine religionsgeschichtliche Abteilung angegliedert. Von 1922 bis 1945 prägte der frühere Indienmissionar Jakob Wilhelm Hauer die Tübinger Religionswissenschaft, die 1928 mit Hans Alexander Winkler zudem einen äußerst fähigen, in der allgemeinen Religionsgeschichte wie in der Orientalistik bewanderten Privatdozenten erhielt.9 Außerhalb der genannten Zentren der religionswissenschaftlichen Forschung in Bonn, Leipzig, Marburg und Tübingen wurden in der Weimarer Republik auch an etlichen anderen Universitäten religionsgeschichtliche Lehraufträge vergeben. Die deutliche Zunahme religionswissenschaftlicher Lehrstellen ist zweifellos ein Beleg für die gestiegene Bedeutung des Fachs im akademischen Curriculum wie in der Gesellschaft insgesamt. Auch in den Kultusverwaltungen nahm man die Religionswissenschaft nun stärker wahr. Hier gilt es besonders den preußische Kultusminister und Orientalisten Carl Heinrich Becker hervorzuheben, der dem Anliegen der Religionswissenschaft sehr aufgeschlossen gegenüber stand. 1.3. Der erste Lehrauftrag für jüdische Religionswissenschaft in Deutschland Von der Aufwärtsentwicklung der Religionswissenschaft nach dem 1. Weltkrieg profitierte auch eine genuin jüdische Religionsforschung, d.h. eine von Juden selbst betriebene Wissenschaft des Judentums. Artikel 136 der Weimarer Reichsverfassung bestimmte im zweiten Absatz unmissverständlich, dass der Genuss der bürgerlichen Rechte und die Zulassung 9
Siehe zu Tübingen bes. Horst Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft. Das Fach Religionswissenschaft an der Universität Tübingen von der Mitte des 19. bis zum Ende des Dritten Reiches, Stuttgart 1999 und den von Heidrun Brückner u.a. herausgegebenen Sammelband, Indienforschung im Zeitenwandel. Analysen und Dokumente zur Indologie und Religionswissenschaft in Tübingen, Tübingen 2003.
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zu öffentlichen Ämtern in keiner Weise mehr durch die Religionszugehörigkeit beeinträchtigt werden durfte. Konnten Juden vor den Emanzipationsgesetzen des 19. Jahrhunderts in aller Regel nicht einmal studieren, hatte man im Kaiserreich auch noch lange danach jüdische Universitätsangehörige und insbesondere Universitätsprofessoren mosaischen Glaubens zu verhindern gewusst. Die Weimarer Demokratie eröffnete zum ersten Mal in der deutschen Geschichte Juden die Möglichkeit, ihre Religion und Kultur zum Gegenstand eines an der Universität gelehrten Fachs zu machen. Zuvor gab es lediglich drei private jüdische Lehranstalten in Breslau und Berlin, wo Juden die Gelegenheit hatten, sich wissenschaftlich mit dem Judentum zu beschäftigen oder zum Rabbiner ausbilden zu lassen. Es gehört zum Verhängnis der deutsch-jüdischen Geschichte, dass diese Öffnung der deutschen Universitäten für das Judentum nicht über erste Anfänge hinauskam und nach weniger als einem Jahrzehnt bereits wieder beendet wurde. Der Lehrauftrag für jüdische Religion und Ethik, den Martin Buber im November 1923 an der Universität Frankfurt erhielt, ging auch weniger auf ein neues Wohlwollen den Juden gegenüber zurück.10 Er war vielmehr das Ergebnis einer besonderen hochschulpolitischen Konstellation, die den zuständigen Behörden letztlich keine andere Wahl mehr ließ. Obwohl die Stiftungsuniversität Frankfurt im Jahr 1914 ausdrücklich ohne theologische Fakultäten gegründet worden war, hatte sie auf Drängen kirchlicher Kreise gleich zu Beginn einen evangelischen Lehrauftrag für die Geschichte der christlichen Religion erhalten. Nach Interventionen von Seiten des Zentrums und des Bischofs von Limburg wurde ihm später aus Proporzgründen ein katholischer Lehrauftrag beigesellt. Nach Einräumung eines evangelischen und eines katholischen Lehrauftrags konnte in Anbetracht der neuen Rechtslage die Eingabe der Israelitischen Gemeinde Frankfurts schlechterdings nicht mehr abgelehnt werden, als diese 1921 einen eigene Lehrstelle für jüdische Religionswissenschaft beantragte. Da jetzt alle Religionen in Deutschland, zumindest der Theorie nach, gleichberechtigt waren, stand ihr ein eigener Dozent zu. Die Frankfurter Gemeinde wollte freilich keinen reinen Religionswissenschaftler sondern jemanden, der ein positives Verhältnis zur jüdischen Religion mitbrachte. Nachdem der zunächst in Aussicht genommene Rabbiner Nehemia Anton Nobel unerwartet verstarb und nachdem auch der zweite Kandidat Franz Rosenzweig einer schweren Krankheit erlag, erhielt schließlich Martin Buber den Lehrauftrag. Buber, der in einem jüdisch-orthodoxen Sinne kaum als besonders religiös gelten konnte, fürchtete zunächst, dass ihm von der jüdischen Kultusgemeinde Schwierigkeiten gemacht würden. Er ließ sich aber von Franz Rosenzweig überreden, der hier eine für das deutsche Judentum einmalige Chance sah, die vielleicht niemals wiederkommen würde. Den eigenen Tod bereits vor Augen sprach Rosenzweig Buber gegenüber von einer kleinen Klinke, die ein großes Tor aufzumachen in der Lage sei. Wenn man die drei religiös gebundenen Lehraufträge in Frankfurt miteinander vergleicht, kam Bubers Lehrtätigkeit den Erfordernissen einer autonomen Religionswissenschaft sicherlich am nächsten. Im Endeffekt konnte er seine Vorlesungen und Seminare, mit denen er im Sommersemester 1924 begann, relativ frei gestalten. Die Themen, die er behandelte, lassen erkennen, dass er sich im Grenzbereich von jüdischer Theologie und Religionswissenschaft bewegte, wobei sich seine Lehrtätigkeit mehr und mehr vom orthodoxen Judentum wegbewegte. Bubers Ansichten wiesen erstaunliche Parallelen zur theolo-
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Siehe dazu bes. die Beiträge von Willy Schottroff Nur ein Lehrauftrag. Zur Geschichte der jüdischen Religionswissenschaft an der deutschen Universität, in: Berliner Theologische Zeitschrift, 1987, S. 197214 und Martin Buber an der Universität Frankfurt am Main (1923-1933), in: Dieter Stoodt, Hg., Martin Buber, Erich Foerster, Paul Tillich. Evangelische Theologie und Religionsphilosophie an der Universität Frankfurt a.M. 1914 bis 1933, Frankfurt/M. 1990, S. 69-131 sowie Horst Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, a.a.O., S. 82ff.
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gischen Religionswissenschaft evangelischer Provenienz auf.11 Der bei Buber zum Ausdruck kommende Antidogmatismus, seine Ablehnung theologischer Sophistik und die Betonung lebensmächtiger Spiritualität lässt sich ebenso wie seine Vorliebe für die Mystik und die Idee einer über alle Grenzen hinweg verbundenen Gemeinschaft wirklich religiöser Menschen bei Rudolf Otto, Friedrich Heiler und dem mit Buber freundschaftlich verbundenen Jakob Wilhelm Hauer beobachten. Ein gravierender Unterschied bestand dagegen im akademischen Status Bubers, der auf der niedrigsten Stufe universitärer Repräsentanz angesiedelt war. Nach seiner Ernennung zum Honorarprofessor im August 1930 erreichte es der Dekan der Philosophischen Fakultät Walter F. Otto wenigstens, dass Buber ab Februar 1931 einen bezahlten Lehrauftrag erhielt, der ohne eine religiöse Bindung nun nur noch Religionswissenschaft zum Gegenstand hatte. Bubers vormaliger Lehrauftrag für jüdische Religion und Ethik ging in Übereinstimmung mit der jüdischen Gemeinde im Juli 1932 an seinen Schüler (Nahum) Norbert Glatzer. Man kann mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sich bei stabilen politischen Verhältnissen die jüdische Religionsforschung weiter gefestigt und sich sowohl in Richtung auf eine jüdische Theologie wie auch in Richtung auf eine theologieunabhängige Religionswissenschaft ausdifferenziert hätte. Doch mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten fand die deutsch-jüdische Annäherung auch auf dem Gebiet der Religionsforschung ein jähes und gewaltsames Ende. Die Hoffnung Rosenzweigs von der kleinen Klinke und dem großen Tor erfüllte sich nicht. Die Tür hatte sich lediglich einen Spalt weit geöffnet, um danach sofort wieder zugeschlagen zu werden. Es sollte noch bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts dauern, bis im Zuge der Aufarbeitung des Holocaust die ersten Lehrstühle für Judaistik eingerichtet wurden. Man muss hier in der Tat auf den beschämenden Sachverhalt hinweisen, dass der deutsche Staat einer universitären Vertretung des Judentums erst in dem Augenblick zuzustimmen bereit war, als sämtliche Juden aus Deutschland vertrieben oder ermordet worden waren.12 Es gab nun weder einen Lehrgegenstand „jüdische Religion“ mehr, noch Juden, die ein solches Fach hätten studieren können. 2. Der Nationalsozialistische Machtwechsel 2.1. Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums Die einschneidendste Veränderung für die Hochschulen brachte zweifelsohne das am 7.4.1933 erlassene Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums mit sich. Dessen Ausführungsbestimmungen boten zusammen mit dem Gesetz gegen die Überfremdung deutscher Schulen und Hochschulen (April 1933), einer neuen Reichshabilitationsordnung (Dezember 1934), dem Reichsbürgergesetz (September 1935) und den Bestimmungen des Deutschen Beamtengesetzes die legislative Handhabe, um politisch unliebsame Hochschullehrer zu entfernen. Bei den zuerst Betroffenen handelte es sich um linksstehende Professoren und im weiteren Verlauf vor allem um diejenigen, die von den neuen Machthabern als Juden bezeichnet wurden. Viele von denen, die nun dem Judentum zugeschlagen wurden, wussten bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt nichts von ihrem angeblichen jüdischen Wesen. Oftmals national oder sogar nationalistisch eingestellt, hielten sie sich für gute Deutsche und waren wie vor den Kopf gestoßen, als man sie von heute auf morgen zu 11 12
Siehe Guy G. Stroumsa, Buber as an Historian of Religion: Presence, not Gnosis, in: Archives de Sciences Sociales des Religions, 1998, S. 87-105, bes. S. 101f. So Michael Brenner im Vorwort des von ihm und Stefan Rohrbacher herausgegebenen Buchs Wissenschaft vom Judentum. Annäherung an den Holocaust, Göttingen 2000, S. 7.
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Reichsfeinden erklärte und aus der Volksgemeinschaft ausschloss, nur weil einige ihrer Vorfahren irgendwann einmal der jüdischen Religion angehört hatten. In zynischer Umkehrung der tatsächlichen Machtverhältnisse und ungeachtet dessen, dass die nun als Juden verfemten Hochschullehrer in überhaupt keiner inneren Beziehung zueinander standen, sprachen die Nationalsozialisten von einer angeblichen jüdischen Fremdherrschaft, der man sich zu erwehren habe. Vergeblich hofften die Betroffenen, dass von ihren Kollegen, mit denen sie zum Teil über Jahre in bester Eintracht zusammengearbeitet hatten, irgendein Protest laut geworden wäre. In wenigen Einzelfällen gab es persönlich motivierte Interventionen, doch die allgemeine Reaktion auf die nach 1933 einsetzende Entlassungswelle war betretenes Schweigen, wenn nicht heimliche oder offene Zustimmung. Es versteht sich von selbst, dass die jüdische Religionswissenschaft zu den ersten Opfern gehörte. „Im Interesse eines ruhigen Lehrbetriebs“ wurde Martin Buber vom neuen Dekan der philosophischen Fakultät der Universität Frankfurt Erhard Lommatzsch bereits Ende April nahegelegt, seine Lehrtätigkeit zu sistieren. Am 4.10.1933 wurde Buber endgültig entlassen.13 Glatzer hatte man ebenfalls im April beurlaubt, um ihm zum 8.9.1933 seinen Lehrauftrag zu entziehen.14 Jüdische Religionsforscher waren in doppelter Weise von der nationalsozialistischen Säuberungspolitik betroffen. Zum einen stand ihre Religionszugehörigkeit im Widerspruch mit den NS-Rassegesetzen. Zum anderen war es ihr Lehrgegenstand, der Anlass für die nun mit aller Macht vorangetriebene ‚Entjudung‘ der Universitäten bot. Glatzer ging 1933 nach Palästina und siedelte 1937 nach England über. Buber, der sich lange Zeit Illusionen über den Charakter des Nationalsozialismus machte, verließ Deutschland im Jahr 1938. Zu den prominentesten Wortführern der nationalsozialistischen Segregationspolitik im akademischen Bereich gehörte der Tübinger Neutestamentler Gerhard Kittel. Seine auf einen im April 1933 gehaltenen Vortrag zurückgehende Schrift Die Judenfrage schickte sich an, die antijüdische Gesetzgebung des Dritten Reiches gegen den Vorwurf „barbarischer Brutalität“ zu verteidigen. Der Staat befinde sich in einem notwendigen Abwehrkampf gegen die jüdische Überfremdung. Juden seien überhaupt keine Staatsbürger sondern lediglich Gäste, die nur dann einen gewissen Minderheitenschutz beanspruchen könnten, wenn sie sich „anständig“ verhielten, was sie nach Kittels Meinung aber nicht taten. Keinesfalls könne man Juden in den relevanten Bereichen des Staates tolerieren. Ein Jude als deutscher Universitätsprofessor sei ein Unding.15 In einem Brief an Buber nannte Gerhard (Gerschom) Scholem Kittels Buch „unter allen schmachvollen Dokumenten eines beflissenen Professorentums, die uns doch immer wieder überraschen, gewiß eines der schmachvollsten. Welche Verlogenheit, welch zynisches Spiel mit Gott und Religion.“16 Auch wenn sich die meisten Hochschullehrer nicht in der offen antisemitischen Weise wie Kittel äußerten, stimmten sie im Allgemeinen doch darin überein, dass der nationalsozialistische Staat das Recht, ja sogar die Pflicht habe, die im 19. Jahrhundert eingeleitete Emanzipation der Juden zurücknehmen und ihre staatsbürgerliche Gleichstellung rückgängig zu machen.
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Schreiben des Preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an Martin Buber vom 4.10.1933 (Bundesarchiv Berlin R 21, 10034). Durchschläge dieses schon öfters abgedruckten Dokuments befinden sich im Martin Buber Archiv in Jerusalem und in Bubers Frankfurter Personalakte. Das Lommatzsch-Zitat nach Willy Schottroff, Martin Buber an der Universität Frankfurt am Main, a.a.O., S. 106. Universitätsarchiv Frankfurt, Personalakte Glatzer sowie Renate Heuer und Siegbert Wolf, Hg., Die Juden der Frankfurter Universität, Frankfurt/M. 1997, S. 116-119. Gerhard Kittel, Die Judenfrage, Stuttgart 1933 (2-31934), S. 7, S. 42, S. 49. Scholem an Buber am 24.8.1933 (Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. In 3 Bänden, hg. und eingeleitet von Grete Schaeder, Heidelberg 1972-1975, Bd. 3, S. 501f.).
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Mit Joachim Wach (1898-1955) verlor die Religionswissenschaft einen ihrer wichtigsten Gelehrten der jüngeren Generation. Wegen seiner jüdischen Vorfahren – Wach entstammte der Familie Mendelssohn Bartholdys, deren Mitglieder allerdings schon vor Generationen zum Protestantismus übergetreten waren – wurde ihm im März 1935 die Lehrbefugnis entzogen.17 Bereits am 19.4.1933 hatte die Philosophische Fakultät der Universität Leipzig dem sächsischen Volksbildungsministerium Bericht darüber erstattet, wer für eine Entlassung alles in Frage kam. Die beiden unterzeichnenden Dekane Hans Freyer und Ludwig Weickmann schrieben, dass sie die auf „Zurückdrängung des jüdischen Einflusses an den deutschen Hochschulen gerichteten Bestrebungen der Regierung“ vorbehaltlos befürworteten, dass aber die Philosophische Fakultät Leipzigs „zu den am wenigsten ‚verjudeten‘ Fakultäten“ Deutschlands gehöre. Ein „irgendwie bedrohlicher Einfluß des jüdischen Elements auf den Geist der Fakultät“ sei weder zu konstatieren noch zu befürchten.18 Sie plädierten daher für eine Ausnahmeregelung im Falle Wachs, wobei sie auf dessen nationale Verdienste und auf den gravierenden Mangel hinwiesen, der dem religionsgeschichtlichen Studium durch seinen Wegfall entstehen würde. Wach, der im 1. Weltkrieg Kriegsfreiwilliger gewesen war und in der Weimarer Republik dem Leuchtenburgkreis, einer Gruppierung der Jugendbewegung aus dem Umfeld der Deutschen Freischar, angehörte, teilte zwar die dort gepflegte Idee einer Verbindung des Sozialen mit dem Nationalen, doch den Nationalsozialismus hielt er zu keinem Zeitpunkt für eine Weiterentwicklung davon. Der Unterschriftensammlung, die aus Anlass der Kundgebung der deutschen Wissenschaft für Adolf Hitler im November 1933 an der Universität Leipzig durchgeführt wurde, verweigerte sich Wach.19 Es wird sogar berichtet, dass er einer Widerstandsgruppe angehörte, die sich 1934 am Japanologischen Institut der Universität Leipzig gebildet hatte. Wach habe der Gruppe, die im Dezember 1936 zerschlagen wurde, illegale Treffs in seiner Wohnung ermöglicht und sie finanziell unterstützt.20 Als Wach Anfang 1935 eine Vortragseinladung in die USA erhielt, tat er deshalb gut daran, nicht in sein Heimatland zurückzukehren. Bis 1945 unterrichtete er an der Brown University Rhode Island in New York und nahm dann einen Ruf an die Universität Chicago an. Die in der Religionswissenschaft einzige Entlassung aus parteipolitischen Gründen betraf den Tübinger Privatdozenten Hans Alexander Winkler (1900-1945).21 Nachdem er den mit Erlass des Berufsbeamtengesetzes verschickten Fragebogen wahrheitsgemäß beantwortet hatte, dass er in den zwanziger Jahren einige Zeit der KPD angehört hatte, nahm das Unglück seinen Lauf. Winkler, der mit seiner armenischen Frau in prekären finanziellen Verhältnissen lebte, wurde so lange unter Druck gesetzt, bis er schließlich im September 1933 darum bat, auf seine Lehrberechtigung „verzichten zu dürfen“. Man hatte ihm sugge17
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Siehe zu Wach v.a. seine Leipziger Personalunterlagen und den Bestand „Dozenten-Akten“ im Leipziger Universitätsarchiv sowie die Akten zur Wiederbesetzung des Lehrstuhls für Religionsgeschichte an der Universität Leipzig im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden, außerdem Kurt Rudolph, Joachim Wach (1989-1955), in: Gerhard Harig, Hg., Bedeutende Gelehrte in Leipzig, Bd. 1, Leipzig 1965, S. 229-237 (wiederabgedruckt in Kurt Rudolph, Geschichte und Probleme der Religionswissenschaft, Leiden 1992, S. 357-367). Universitätsarchiv Leipzig, Phil. Fak. 40, Bd. 3, fol. 146. Der um den Zusatz „Jude“ ergänzte Name Wachs findet sich in einer handschriftlichen Auflistung derjenigen, die sich an dem Aufruf nicht beteiligten (Universitätsarchiv Leipzig, Phil. Fak. 40, Bd. 3, fol. 191, o.D., ca. Ende 1933). Siehe zum „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ auch Horst Junginger, Völkerkunde und Religionswissenschaft, zwei nationalsozialistische Geisteswissenschaften?, in: Bernhard Streck, Hg., Ethnologie und Nationalsozialismus, Gehren 2000, S. 51-66. Lothar Rathmann, Hg., Alma Mater Lipsiensis, Leipzig 1984, S. 269. Siehe zu ihm meine beiden Aufsätze Ein Kapitel Religionswissenschaft während der NS-Zeit: Hans Alexander Winkler (1900-1945), in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 2, 1995, S. 137-161 und Das tragische Leben von Hans Alexander Winkler (1900-1945) und seiner armenischen Frau Hayastan (1901-1937), in: Bausteine zur Tübinger Universitätsgeschichte, Folge 7, 1995, S. 83-110.
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riert, dass bei einem entsprechenden Wohlverhalten vielleicht noch eine Chance für ihn bestehen würde. Weil seine akademischen Lehrer, allen voran der Orientalist Enno Littmann, ihm eine herausragende wissenschaftliche Begabung bescheinigten, hoffte er vielleicht doch noch irgendwann einmal in eine gesicherte Stellung zu kommen. Mit Unterstützung deutscher und dann englischer Stellen arbeitete Winkler bis 1939 als Feldforscher in Oberägypten. Er veröffentlichte mehrere Bücher zur ägyptischen Volkskunde, die von der internationalen Forschung außerordentlich positiv aufgenommen wurden. Als sich ihm im Frühjahr 1939 die Möglichkeit eröffnete, vom Auswärtigen Amt übernommen zu werden, willigte er nach einigem Zögern ein. Nach seinem im Mai 1939 erfolgten Parteieintritt konnte er zunächst als Kulturattaché an der deutschen Gesandtschaft in Teheran arbeiten und wurde dann im Oktober 1941 unter Übernahme in das Beamtenverhältnis zum Konsul ernannt. Als Winkler im spanischen Cádiz die Nachricht erhielt, dass sein Sohn, der von der Gestapo später ermordet wurde, desertiert sei, meldete er sich freiwillig zum Kriegseinsatz. Sein Leben, das nach 1933 aus der Bahn geraten war, endete Anfang 1945 in Polen, wo Winkler wohl nicht ganz unfreiwillig bei einem Fronteinsatz ums Leben kam. Sein Tod bedeutete für die Religionswissenschaft wie für die Orientalistik in Deutschland einen großen Verlust. Wenn man zur akademischen Religionsforschung auch solche Gelehrte rechnet, die in den Nachbarfächern der Religionswissenschaft religionshistorisch arbeiteten, sollten ohne Anspruch auf Vollständigkeit die Namen einiger verfolgter Wissenschaftler wenigstens genannt werden. Diesem Personenkreis gehörte zum Beispiel der 1933 nach England geflohene Kölner Indologe und Sohn eines Rabbiners Isidor Scheftelowitz (1875-1934) an. Der Heidelberger Indologe Heinrich Zimmer (1890-1943) verlor 1939 wegen seiner jüdischen Frau seine Privatdozentenstelle und emigrierte nach England und dann in die USA. Der jüdische Altertumswissenschaftler Eduard Norden (1868-1941), der die Machtergreifung der Nationalsozialisten noch freudig begrüßt und 1934 seinen Diensteid auf Adolf Hitler geleistet hatte, wurde in den Ruhestand versetzt und wanderte 1938 in die Schweiz aus. Andere wie Hans Joachim Schoeps (1909-1980) oder Friedrich Paul Bargebuhr (19041978) emigrierten nach abgeschlossener Dissertation und traten erst nach 1945 als Religionswissenschaftler in Erscheinung. Bargebuhr ging zunächst nach Palästina und dann in die USA, wo er in Iowa als Professor für Semitistik und Religionswissenschaft wirkte. Schoeps verließ Deutschland im Jahr 1938, um nach seiner Rückkehr aus Schweden an der Universität Erlangen 1947 einen Lehrstuhl für Religions- und Geistesgeschichte zu erhalten. Aus dem Bereich der katholischen Religionsforschung musste eine ganze Reihe von Universitätslehrern Verfolgung oder zumindest die Einschränkung ihrer Arbeit hinnehmen. Den katholischen Religionssoziologen Paul Honigsheim (1885-1963) hatte man schon 1933 aus politischen Gründen entlassen. Georg Schreiber (1882-1963), der bekannte Zentrumspolitiker und katholische Volkskundler, wurde 1935 an der Universität Münster zwangsemeritiert. Direkt nach dem Anschluss Österreichs wurde der Wiener Anthroposkreis um Pater Wilhelm Schmidt (1868-1954) zerschlagen. Für den katholischen Religionsphilosophen Johannes Hessen (1889-1971), der 1940 an der Universität Köln ausscheiden musste, war die Beschränkung seiner wissenschaftlichen Arbeit allerdings keine neue Erfahrung. Schon in der Weimarer Republik (und auch nach 1945) fielen Schriften von ihm der kirchlichen Zensur zum Opfer. Auf Seiten der evangelischen Religionsphilosophie verlor Paul Tillich (1886-1965) als einer der ersten Hochschullehrer seinen Lehrstuhl an der Universität Frankfurt. In Hamburg hatte Kurt Leese (1887-1965) 1940 den Universitätsdienst zu quittieren.
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2.2. Die fatale Verbindung der Religionswissenschaft mit der Religionsgeschichte Kann man die Entwicklung der Religionswissenschaft in der Weimarer Republik als einen Prozess der Emanzipation von kirchlich religiösen Vorgaben auffassen, änderte sich die Situation nach 1933 grundlegend. „Religion“ bildete jetzt nicht mehr nur den Gegenstand der religionswissenschaftlichen Forschung sondern wurde wieder ein Teil von ihr, sei es dass religiöse Prämissen in ihr wissenschaftstheoretisches Programm einflossen oder dass sie dem religiösen Anliegen deutschgläubiger oder deutschchristlicher Provenienz dienstbar gemacht wurde. Unter dem ideologischen Druck des Nationalsozialismus musste sich die Verquickung von wissenschaftlichen und religiösen Interessen nachgerade verhängnisvoll auswirken. Die akademische Religionswissenschaft geriet dabei in den Strudel der religionspolitischen Auseinandersetzungen um den Status des Christentums im Dritten Reich. Zu Beginn verfolgte die NS-Regierung eine Politik, die unzweideutig auf ein Arrangement mit den Kirchen abzielte. Der Kampf gegen den jüdisch konnotierten Materialismus, gegen Gottlosentum, Kulturbolschewismus und sittliche Entartung wurde unter dem Vorzeichen eines positiven Christentums geführt und deshalb von beiden Konfessionen enthusiastisch begrüßt. Für die völkischen ‚Neuheiden‘ bedeutete die sich abzeichnende neue Verbindung von Staat und Kirche dagegen eine herbe Enttäuschung. In der Reaktion auf die Ratifizierung des Reichskonkordats und die Wahlen zur evangelischen Nationalsynode konstituierte sich am 29./30. Juli 1933 auf der Eisenacher Wartburg die Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung. Es handelte sich dabei um einen Dachverband völkisch religiöser Gemeinschaften, aus dem im Laufe eines Jahres eine neue deutschgläubige Religion hervorging.22 Der Deutschen Glaubensbewegung gelang es aber nie, zu einem einheitlichen religiösen Programm oder zu einer festen Organisationsstruktur zu kommen. Mit einem harten Kern von kaum mehr als 5000 Mitgliedern lag sie etwa um ein Hundertfaches unter der Zahl der Deutschen Christen, ihrem größten weltanschaulichen Konkurrenten. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Deutschgläubigen in den ersten Jahren des Dritten Reiches über so gut wie keinen Einfluss an den Universitäten verfügten. Auf den für die Religionswissenschaft relevanten Feldern der universitären Forschung dominierten eindeutig die Vertreter der Deutschen Christen. Bei Neuberufungen wurden nicht nur deutschchristliche Professoren bevorzugt, auch die meisten Evangelischtheologischen Seminare gerieten unter DC-Einfluss. Der kommissarische preußische Kultusminister und ab April 1934 auch Reichsminister für Wissenschaft Erziehung und Volksbildung Bernhard Rust war alles andere als ein Anhänger des Neuheidentums.23 Ganz im Gegenteil beförderte er das Anliegen der Deutschen Christen wo er nur konnte. Jedem Versuch der Deutschgläubigen, an den Universitäten Fuß zu fassen, trat er entschieden entgegen. Noch mehr als der evangelische Kirchenhistoriker Erich Seeberg (1888-1945) beeinflusste der von 1934 bis 1937 für die Geisteswissenschaften insgesamt zuständige Sachbearbeiter Eugen Mattiat (1901-1976) Rusts Hochschulpolitik auf dem Gebiet der Theologie und Religionswissenschaft.24 Mattiat, der nach dem Studium der evangelischen Theologie 22
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Siehe zu ihr bes. Ulrich Nanko, Die Deutsche Glaubensbewegung, Marburg 1993, Schaul Baumann, Die Deutsche Glaubensbewegung und ihr Führer Jakob Wilhelm Hauer, Marburg 2005, und Hiroshi Kubota, Religionswissenschaftliche Religiosität und Religionsgründung. Jakob Wilhelm Hauser im Kontext des Freien Protestantismus, Frankfurt a. M. 2005. Zur religiösen Einstellung Rusts siehe Richard Steigmann-Gall, The Holy Reich. Nazi Conceptions of Christianity, 1919-1945, Cambridge 2003, S. 45f., S. 73 und S. 122f. Zu Mattiat siehe bes. Rolf Wilhelm Brednich, Volkskunde – die völkische Wissenschaft von Blut und Boden, in: Heinrich Becker u.a. Hg., Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus, München 1987 (21998), S. 313-319 sowie Gerhard Lindemann, ‚Typisch jüdisch’. Die Stellung der Ev.luth. Landeskirche Hannovers zu Antijudaismus, Judenfeindschaft und Antisemitismus 1919-1949,
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mehrere Jahre als Pfarrer gearbeitet hatte, trat 1933 in die Dienste der Hannoverschen Landeskirche. Seit 1931 NSDAP-Mitglied und einer der führenden Deutschen Christen in Hannover, avancierte Mattiat zum evangelischen Kirchenrat, bevor er 1934 von Rust nach Berlin geholt wurde. Rust schätzte die Tätigkeit Mattiats so sehr, dass er ihn dafür mit einer Professur für Praktische Theologie und Volkskunde zunächst in der Evangelischtheologischen Fakultät der Universität Berlin und ab 1.11.1937 in der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen belohnte. Dass Mattiat weder Promotion, Habilitation noch irgendwelche Veröffentlichungen aufzuweisen hatte, spielte keine Rolle. Die Protektion durch den zuständigen Minister und das richtige Parteibuch reichten aus. Um sich mit seinem Forschungsgebiet überhaupt erst vertraut zu machen, ließ sich Mattiat bei Amtsantritt in Göttingen als erstes für ein Semester beurlauben. Eine größere Entwürdigung und Kompromittierung der einmal so bewunderten deutschen Wissenschaft lässt sich kaum vorstellen. 1938 trat Mattiat aus der Kirche aus, weil er sich mit der Politik der evangelischen Kirche nicht mehr einverstanden erklären konnte. Mit dem gleichzeitig erfolgten Eintritt in die SS und den SD ging indes keine grundsätzliche Ablehnung der christlichen Religion sondern einer aus Mattiats Sicht reaktionären Kirche einher. Nach dem Krieg konnte Mattiat deshalb ab 1953 wieder problemlos als evangelischer Pfarrer tätig sein. Angesichts dieser Situation kann nicht erstaunen, dass die erste religionsgeschichtliche Professur des Dritten Reiches unter betont deutschchristlichen Vorzeichen zustande kam und dass Eugen Mattiat entscheidend daran mitwirkte. Es handelte sich hierbei um den missionswissenschaftlichen Lehrstuhl des Berliner Theologen Johannes Witte (18771945), der zum Sommersemester 1934 um Allgemeine Religionsgeschichte erweitert wurde.25 Im Juli 1935 erhielt Witte ein planmäßiges Ordinariat für Allgemeine Religionsgeschichte und Missionswissenschaft und im Oktober 1935 erfolgte die Umbenennung des Missionswissenschaftlichen Seminars in ein Institut für Allgemeine Religionsgeschichte und Missionswissenschaft. Witte hatte sich dem Ministerium besonders empfohlen, als er sich auf dem evangelischen Theologentag in Halle am 27.4.1933 für die Deutschen Christen aussprach und auch die antijüdische Boykottaktion vom Monatsanfang verteidigte. Seinem Einfluss im Ministerium hatte es Witte zu danken, dass er im Mai 1935 zum Dekan und wenig später auch zum Vorsitzenden der Delegation ernannt wurde, die Deutschland auf dem 7. internationalen religionsgeschichtlichen Kongress im September 1935 in Brüssel vertreten sollte. Nachdem aber im Sommer 1935 die frühere Mitgliedschaft Wittes in einer Freimaurerloge publik geworden war, musste er beides, Dekanat und Vorsitz, niederlegen. Es half ihm auch nichts, dass er zum 1.8.1935 erneut in die NSDAP eintrat – die Karteikarte seines Parteieintritts im April 1933 war anscheinend verloren gegangen – und dass er sich in einem umfänglichen Schreiben mit nationalistischen und antisemitischen Argumenten zu verteidigen suchte. Nachdem sich sein Fall noch einige Zeit hinzog, resignierte Witte und beantragte schließlich seine Emeritierung, die zum 1.4.1939 erfolgte. Da sich Witte im Kirchenkampf mit einer Reihe von Publikationen zu Wort meldete, die gegen die Deutsche Glaubensbewegung polemisierten, sah sich deren Führer Jakob Wilhelm Hauer zu einer entsprechenden Gegenreaktion veranlasst. Unter anderem wandte er sich an Alfred Rosenberg, um Witte als ausgemachten Dilettanten und christlichen Apologeten zu denunzieren. Damals glaubte Hauer noch, Rosenberg für sich einnehmen zu können und schrieb ihm, dass dringend etwas unternommen werden müsste, damit die Jugend durch Leute wie Witte nicht in dieser Weise „verseucht und gegen das Erbgut der
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Berlin 1998 (bes. S. 74 und S. 301) bzw. den Eintrag in Michael Grüttner, Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, Heidelberg 2004, S. 115. Siehe zum Folgenden die BDC-Akten Wittes und die im Universitätsarchiv der Humboldt Universität befindlichen Fakultäts- und Personalunterlagen sowie die Beiträge in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Gesellschaftswissenschaftliche Reihe XXXIV, 1985, S. 521-623.
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Ahnen misstrauisch gemacht wird“.26 Hauer war zu diesem Zeitpunkt noch darauf angewiesen, hinter den Kulissen zu agieren, denn noch immer erwies sich das Reichserziehungsministerium als eine konservative Bastion, die einen größeren Einfluss der Deutschgläubigen verhinderte. Erst allmählich vollzog sich eine Änderung, die auch damit zusammenhing, dass es Heinrich Himmler im Laufe der Zeit vermehrt gelang, SS-Vertreter an Schaltstellen des Rustministeriums zu platzieren. Einer von ihnen war Karl August Eckhardt (1901-1971), der im REM von 1934 bis 1936 das Referat für die Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultäten innehatte und bei Rust in hohem Ansehen stand.27 Der 1933 in die SS ein- und 1934 aus der Kirche ausgetretene Eckhardt gehörte mit der Nummer 27 auch zu den frühesten Mitgliedern der Berliner Ortsgruppe der Deutschen Glaubensbewegung. Als Hauer am 26.4.1935 im Berliner Sportpalast vor etwa 20.000 Zuhörern einen Vortrag zum Thema „Fremder Glaube oder deutsche Art“ hielt, nahm er gleich mit fünf Referenten seines Hauses daran teil.28 In gewisser Weise kann man Eckhardt als den deutschgläubigen Gegenspieler Mattiats im Reichserziehungsministerium betrachten. Obwohl Eckhardt dort 1937 ausscheiden musste, hatte die mittlerweile eingeleitete Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens dazu geführt, dass sich die Position der Deutschgläubigen an den Universitäten deutlich verbesserte. 3. Strategien der Anpassung und Distanzierung 3.1. Anpassung Der eingangs erwähnte liberale Kulturprotestant Karl Bornhausen (1882-1940) hatte 1906 bei Ernst Troeltsch in Heidelberg promoviert und sich 1910 in Marburg habilitiert, wo er dem Kreis um Martin Rade und die Christliche Welt angehörte. Nach dem 1. Weltkrieg, in dem Bornhausen schwer verwundet worden war, lehrte er von 1920 bis 1934 als ordentlicher Professor für Systematische Theologie an der Universität Breslau.29 Bornhausen sah die missionarische Aufgabe der Kirche weniger in fernen Ländern als im eigenen Volk. Dort seien die ethischen und sozialen Werte des Christentums als erstes zu verwirklichen. Der völkische Einschlag in Bornhausens Volkskirchenmodell ermöglichte es ihm relativ leicht, Anschluss an den Nationalsozialismus zu finden. Die Volksgemeinschaft des Dritten Reiches hielt er für eine lebensmächtige Gestaltwerdung der deutschen Sendung Martin Luthers. Bereits zum 1.7.1932 trat er in die NSDAP ein. Er gehörte dem Bund Nationalsozialistischer Pastoren Mecklenburgs an und war Landesleiter des schlesischen Kampfbunds für deutsche Kultur. Bei der Nazifizierung der Universität Breslau kam Bornhausen eine wichtige Funktion zu. Schon vor 1933 hatte er sich im Kampf gegen den jüdischen Rechtsgelehrten Ernst Joseph Cohn unrühmlich hervorgetan. In seiner Eigenschaft als Dozentenschaftsleiter hielt er am 11. Mai 1933 auf dem Breslauer Schlossplatz deshalb auch 26 27 28 29
J. W. Hauer an A. Rosenberg am 23.5.1935 (Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Hauer, Bd. 82, fol. 96). Siehe zu ihm die beiden Aufsätze von Hermann Krause und Hermann Nehlsen in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters, 1979, S. 1-16 und in der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, 1987, S. 497-536. K. A. Eckhardt an J. W. Brief Hauer am 17.5.1935 (Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Hauer, Bd. 141, fol. 212f.). Personalakten Bornhausens befinden sich im Archiv der Universität Frankfurt, im Staatsarchiv Marburg, im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden und im Bundesarchiv. Siehe außerdem Markus Dreßler, Der Teilnachlass von Karl Bornhausen, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 5, 1998, S. 248-277 und Matthias Wolfes, Protestantische Theologie und moderne Welt. Studien zur Geschichte der liberalen Theologie nach 1918, Berlin 1999 bzw. dessen längeren Bornhausen-Artikel im Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon, Bd. 15, 1999, Sp. 264-286 (www.bautz.de/bbkl, s.v. Bornhausen).
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die Ansprache bei der öffentlichen Verbrennung „jüdischmarxistischer Literatur“. Sie endete mit einer ebenso archaisch anmutenden wie unmissverständlichen Verfluchung: „Aus der Vollmacht deutschen christlichen Geistes spreche ich über alle die hier zusammengebrachten Bücher, gelehrte und ungelehrte, feine und grobe, den Bannfluch Luthers über undeutsches Schrifttum, über jene fremdländische Bulle, die er in Wittenberg, umgeben von seinen Studenten verbrannte: ‚Weil ihr Bücher den heiligen Geist Deutschlands betrübt habt, darum verbrenne euch das höllische Feuer‘.“30 Der hier eruptionsartig an die Oberfläche schießende Furor teutonicus war durch und durch protestantisch durchtränkt und wies keinerlei neuheidnische Beimengung auf. Bornhausen warf seiner eigenen Kirche vor, die politische Umsetzung eines positiven Christentums durch das Dritte Reich nicht genügend anzuerkennen. Tief enttäuscht über die nach seiner Meinung reaktionäre Rückschrittlichkeit der Kirche ergriff Bornhausen die Gelegenheit, seine religionssystematischen Überlegungen nun außerhalb der Theologie in der Religionswissenschaft zu artikulieren. Vom Dritten Reich erhoffte er sich nicht zuletzt eine Förderung seiner wissenschaftlichen Ambitionen. Nach vorausgegangenen Querelen in Breslau berief ihn das Reichserziehungsministerium zum 1.11.1934 an die Philosophische Fakultät der Universität Frankfurt, wo er mit einem Lehrauftrag für Systematische Theologie und Religionsphilosophie ausgerechnet die Nachfolge Paul Tillichs antrat. Im Februar 1935 genehmigt Eugen Mattiat in Frankfurt die Einrichtung eines religionswissenschaftlichen Instituts, zu dessen Direktor er Bornhausen ernannte. Außerdem berief er ihn im August 1935 zum Nachfolger Wittes als Leiter der deutschen Delegation für den religionsgeschichtlichen Kongress in Brüssel. Bornhausen verfasste darüber einen Konferenzbericht, in dem er sich einerseits rühmte, auf einer internationalen Plattform Propaganda für das Dritte Reich betrieben zu haben. Zum Anderen versuchte er aber auch, seine Frankfurter Institutspläne beim Ministerium voranzutreiben. Anstelle der konfessionellen Theologie solle an Deutschlands Universitäten generell eine „überparteiliche Religionswissenschaft“ etabliert werden.31 Wenn Bornhausen im Umgang mit der Universitätsleitung und mit seinen Kollegen nicht so rechthaberisch und streitsüchtig gewesen wäre, hätte er für dieses Programm sicherlich noch größere Unterstützung aus Berlin erfahren. Wegen seiner ewigen Streitereien wurde er stattdessen im Oktober 1935 zwangsbeurlaubt und schließlich zum 1.4.1937 entpflichtet. Drei Jahre später starb er. Bei dem Münchener Religionshistoriker Rudolf Franz Merkel (1881-1955) handelte es sich um einen vergleichbaren Fall politischer Anpassung.32 Auch bei ihm ging sein Einschwenken auf den Nationalsozialismus mit einer Entfremdung von der Amtskirche einher, die aus seiner Sicht die wirklichen Probleme der Zeit nicht mehr wahrnahm und in den traditionellen Formen althergebrachter Kirchlichkeit verharrte. Merkel glaubte hingegen, dass im Dritten Reich ein positives Tatchristentum verwirklicht würde. Zum ersten Mal erschien es ihm in der deutschen Geschichte möglich, die Partikularinteressen der verschiedenen Klassen, Parteien und auch Kirchen überwinden und so das Deutsche Reich zu einer neuen Höhe führen zu können. Merkel, der seit 1912 eine Pfarrstelle in der Nähe von Nürnberg innehatte, war im 1. Weltkrieg freiwilliger Feldgeistlicher gewesen, um sich danach ganz dem Kampf gegen die Weimarer Demokratie zu verschreiben. In den zwanziger Jahren DNVP-Mitglied, trat Merkel am 1.5.1933 vom Bund Nationalsozialistischer Pfarrer in die NSDAP über. In einem 1937 verfassten Lebenslauf hielt er es sich zu Gute, dass sämtliche Gliederungen der Partei in seinem Pfarrhaus in Streitau Aufnahme gefunden 30 31 32
Norbert Kapferer, Die Nazifizierung der Philosophie an der Universität Breslau 1933-1945, Münster 2001, S. 101, zitiert nach der Nationalsozialistischen Schlesischen Tageszeitung vom 12.5.1933. Bericht Bornhausens an das Reichserziehungsministerium vom 12.10.1935 (Bundesarchiv Berlin, 49.01, 2966 fol. 119-121, das Zitat fol. 120). Das Folgende nach Merkels Personalunterlagen im Universitätsarchiv München (E-II-2442).
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hatten. Wegen nicht ausräumbarer Schwierigkeiten mit seiner vorgesetzten Kirchenbehörde ließ er sich zum 15.11.1937 pensionieren. Ein Hauptstreitpunkt war immer gewesen, dass man Merkel, der seit 1922 an der Universität München einen Lehrauftrag für Allgemeine Religionsgeschichte wahrnahm, keine näher an München gelegene Pfarrstelle zuwies, so dass er immer eine sehr lange Anreise hatte, um seinen Lehrverpflichtungen nachzukommen. 1933 erhielt Merkel in München eine nichtplanmäßige außerordentliche Professur für Allgemeine Religionsgeschichte. Weil er dafür kein Gehalt bekam, bat er im Juni 1936 um einen besoldeten Lehrauftrag. Eugen Mattiat, den Merkel direkt angeschrieben hatte, leitete den Antrag befürwortend an das Bayerische Kultusministerium weiter, das nach Eingang eines positiven Gutachtens vom Dekan der I. Sektion der Philosophischen Fakultät der Universität München Walther Wüst zum Wintersemester 1936/37 eine Lehrauftragsvergütung erteilte. Wüst war es auch, der sich dafür einsetzte, dass Merkel am 20.11.1939 unter Berufung in das Beamtenverhältnis eine außerordentliche Professur für Allgemeine Religionsgeschichte erhielt. Merkels Probleme lagen weniger auf dem Gebiet der politischen als der wissenschaftlichen Eignung, die allgemein als nicht herausragend eingestuft wurde. Schon 1931 hatte er versucht, an der Universität München ein eigenes religionsgeschichtliches Seminar einzurichten. Obwohl die philosophische Fakultät das Anliegen grundsätzlich für wichtig und unterstützenswert hielt, machte sie keinen Hehl aus ihrer Meinung, dass Merkel hierfür auf keinen Fall in Frage käme. Etwa zehn Jahre später wiederholte Merkel im Mai 1942 den Antrag, um wie in Bonn, Leipzig und Marburg auch in München ein eigenständiges religionswissenschaftliches Seminar zu schaffen, doch wiederum ohne Erfolg. Nach seiner Amtsenthebung im Dezember 1945 wurde er am Ende seines Spruchkammerverfahrens zwei Jahre später zu einer Geldstrafe verurteilt und als Mitläufer eingestuft. Eine weitere Lehrtätigkeit kam aus politischen wie aus Altersgründen aber nicht mehr in Frage. Das dritte Beispiel für eine opportunistische Anpassung an den Nationalsozialismus hat wesentlich mehr Gewicht, denn zum einen wurde Gustav Mensching (1901-1978) nach dem Krieg einer der bekanntesten Religionswissenschaftler in der Bundesrepublik und zum andern erhielt er eine religionswissenschaftliche Professur, ohne dass er sich dem deutschchristlichen oder deutschgläubigen Lager angeschlossen hätte. Die von Mensching im Anschluss an Rudolf Otto vertretene Religionsphänomenologie war zwar in einem allgemeinen Sinn christlich geprägt, zielte aber nicht mehr auf eine konkrete religiöse oder kirchliche Organisationsform ab. Daher konnte er sich relativ frei für eine akademische Karriere im Dritten Reich entscheiden, die ebenfalls von Eugen Mattiat nachhaltig protegiert wurde. Mensching hatte nach dem Studium der evangelische Theologie 1924 in Marburg seinen Lizentiaten und 1927 an der Technischen Hochschule Braunschweig die religionsgeschichtliche Habilitation erworben. Seit 1927 lehrte er als außerordentlicher Professor das Fach Religionsgeschichte an der lettischen Staatsuniversität Riga. Als in Lettland Anfang der dreißiger Jahre die politische Lage instabil zu werden begann, suchte Mensching nach einer Anstellung im Deutschen Reich. Die durch den Tod von Hans Haas in Leipzig eingetretene Vakanz bot eine solche Möglichkeit, die auch von Mattiat stark favorisiert wurde.33 Allerdings stieß der von Mattiat als ein um das Deutschtum im Ausland verdienter Professor eingeführte Mensching in der theologischen Fakultät aus wissenschaftlichen wie aus religiösen Gründen auf Ablehnung. Mensching sei nur in der Form eines gewaltsamen Oktroi in Leipzig durchsetzbar schrieb der Leiter der Hochschulabteilung im sächsischen
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Quellen für das Folgende sind v.a. die im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden bzw. im Universitätsarchiv Bonn verwahrten Lehrstuhlakten, die Bonner Personalunterlagen von G. Mensching und C. Clemen und Menschings im Düsseldorfer Hauptstaatsarchiv befindliche Entnazifizierungsakte.
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Kultusministerium Werner Studentkowski im Mai 1935 an Mattiat.34 Da aber an der Universität Bonn die Professur von Carl Clemen unbesetzt war, wandte sich Mattiat zwei Monate später an den dortigen Kurator, um ihm die Mitteilung zu machen, dass er Mensching in Bonn einen Lehrauftrag geben wolle.35 Die eingeholten Gutachten fielen allerdings erneut sehr negativ für Mensching aus. Von philologischer Seite (Ludwig Deubner, Friedrich Oertel, Willibald Kirfel) wurde vorgebracht, dass der Kandidat zwar eine beachtliches intuitives Verständnis besitze, dass es ihm aber an einem soliden wissenschaftlichen Handwerkszeug fehle. Die stattdessen für Mensching ins Spiel gebrachte Religionsphilosophie wurde von Erich Rothacker noch entschiedener als fachphilosophisch nicht fundierte religiöse Spekulation abgelehnt. Daraufhin wurde Mensching vom Ministerium zum Wintersemester 1935/36 mit der Vertretung des an der Universität Kiel entlassenen Systematischen Theologen Hermann Mulert betraut. Mensching sah weder ein Problem darin, dass er sein berufliches Vorankommen auf die Entlassung eines Kollegen aufbaute, der überdies dem gleichen liberalprotestantischen Milieu angehörte wie er selbst, noch, dass er seiner Ausbildung nach überhaupt nicht in der Lage war, Mulerts Fachgebiet zu vertreten. Im darauffolgenden Sommersemester gelang es Mattiat aber, Mensching in Bonn einen besoldeten Lehrauftrag für vergleichende Religionswissenschaft zu verschaffen. Erst nach einer längeren Bewährungszeit wurde Mensching 1938 zum außerordentlichen Professor ernannt. Nachdem sich der NS-Dozentenbund positiv über seine politische Zuverlässigkeit geäußert hatte – Mensching war am 1.4.1934 noch in Riga in die NSDAP eingetreten und dann von der Ortsgruppe Bonn-Süd übernommen worden –, wurde er im Oktober 1939 verbeamtet und erhielt zum 1.4.1942 schließlich einen neu eingerichteten Lehrstuhl für vergleichende Religionswissenschaft, der nach dem Krieg zur wichtigsten religionswissenschaftlichen Professur der frühen Bundesrepublik werden sollte. Was die wissenschaftlichen Ansichten Menschings betrifft, so ist der von Fritz Heinrich gebrauchte Ausdruck einer „affirmativen Religionswissenschaft“ unbedingt zutreffend.36 Ganz abgesehen von Menschings politischem Opportunismus barg auch seine wissenschaftliche Programmatik eine strukturelle Offenheit für zentrale Elemente der nationalsozialistischen Ideologie. Menschings erkenntnistheoretisches Modell beruhte auf einer kirchlich nicht mehr gebundenen allgemeinen religiösen Grundstruktur, die er zum Ausgangspunkt der religionswissenschaftlichen Erkenntnis erklärte. Sich nur mit der äußeren Erscheinungswelt der religiösen Phänomene zu beschäftigen, musste nach seiner Meinung in einen oberflächlichen Positivismus ausarten. Wie andere Vertreter einer religiösen Religionswissenschaft erklärte auch Mensching, dass ein wirkliches Verstehen auf dem Gebiet der Religionsgeschichte nur über eine empathische Intuition möglich sei. Mit der von ihm behaupteten Fähigkeit, die rationale und die irrationale Wahrheitsebene der Religion als organische Ganzheit zu denken, konnte Mensching die Religionswissenschaft im Dritten Reich als eine zentrale Instanz des herrschenden Religionsdiskurses neu ins Spiel bringen. Menschings beide Schriften Vergleichende Religionswissenschaft und Volksreligion und Weltreligion aus dem Jahr 1938 lassen eine deutliche Hinwendung zur Ideenwelt und zum Vokabular des Nationalsozialismus erkennen. Die Übernahme des Volks- und Rassegedankens als Parameter einer neuen Klassifizierung der Religionsgeschichte erhielt in seiner Allgemeinen Religionsgeschichte von 1940 sogar einen antisemitischen Einschlag. In einem Abschnitt über das moderne Judentum behandelte Mensching die „völkische Entwurzelung Israels“, die in Verbindung mit anderen schlechten Eigenschaften der Juden, etwa 34 35 36
W. Studentkowski an E. Mattiat am 29.5.1935 (Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, 10193/17, fol. 2). E. Mattiat an Julius Bachem am 22.7.1935 (Universitätsarchiv Bonn, PF 77-3, ohne Seitenangabe). Fritz Heinrich, Die deutsche Religionswissenschaft und der Nationalsozialismus. Eine ideologiekritische und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung, Petersberg 2002, S. 329ff.
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ihre Neigung, aus der Religion ein Geschäft zu machen, auf Kosten ihrer Gastvölker zu leben, und sich über alle Nationen zu erheben, das moderne Judenproblem erst hervorgebracht habe. In der Neuauflage des Jahres 1949 ließ Mensching diese eindeutig antisemitische Passage wie überhaupt jede Bezugnahme auf den Rassegedanken mit dem zwar richtigen aber gleichwohl unverfrorenen Hinweis fallen, dass derartiges nicht mehr zeitgemäß sei.37 Keinesfalls trifft die von ihm in seinem Spruchkammerverfahren vielfach variierte Behauptung zu, dass er mit seiner Auffassung im Gegensatz wenn nicht sogar in Opposition zum nationalsozialistischen Rassedenken gestanden habe.38 In einem längeren Briefwechsel mit Jakob Wilhelm Hauer bestätigte Mensching diesem nicht nur die Notwendigkeit, mit Hilfe der Rassenidee Ordnung in die Religionswissenschaft zu bringen, sondern auch, dass er mit Hauers rassischen Auffassungen grundsätzlich übereinstimme.39 Menschings Verhalten im Zusammenhang der Relegation des Studenten Wilhelm Kahle legt außerdem nahe, dass er auch die praktische Umsetzung des nationalsozialistischen Antisemitismus guthieß. Als der Sohn und die Ehefrau des Bonner Orientalisten Paul Kahle nach dem Pogrom vom 9. auf den 10. November 1938 in dem verwüsteten Konfektionsgeschäft der mit den Kahles bekannten Emilie Goldstein aufräumen half, wurden sie von einem Polizisten gesehen und angezeigt.40 Am 17.11.1938 geißelte der Westdeutsche Beobachter das Verhalten von Wilhelm Kahle und seiner Mutter in großer Aufmachung als „Verrat am Volke“. Im Hinblick auf die Juden könne es nur eine einzige Form der Menschlichkeit geben, nämlich die „Ausrottung“ der jüdischen Weltpest. Paul Kahle hatte zunächst gehofft, dass Mensching seinem Sohn in dem anstehenden universitären Disziplinarverfahren beistehen würde. Doch wie er aus einem Schreiben des Dozentenbundes vom 28.11.1938 erfahren musste, lehnte Mensching jedes Eintreten für ihn „sofort und ausdrücklich“ ab, da er sein Verhalten, d.h. die Hilfeleistung für eine Jüdin, entschieden missbillige.41 Mit Sicherheit trug Menschings Votum dazu bei, dass der Student Kahle wegen seines dem Ansehen einer nationalsozialistischen Universität abträglichen Verhaltens relegiert wurde. Darüber hinaus verlor Paul Kahle seine Bonner Professur und musste mit seiner Familie emigrieren. Emilie Goldstein, die durch Wilhelm Kahle und seine Mutter ein klein wenig Mitmenschlichkeit erfahren durfte, erlitt das im Westdeutschen Beobachter bereits 1938 angekündigte Schicksal. Sie starb in Auschwitz. Mensching, der 1945 zunächst amtsenthoben wurde, konnte zwei Jahre später seine Karriere an der Universität Bonn fortsetzen. Aus dem Bereich der akademischen Religionsforschung könnten als Beispiele für eine erfolgreiche Anpassung an das politische System des Dritten Reiches neben den genannten Bornhausen, Merkel und Mensching, wiederum ohne Anspruch auf Vollständigkeit, noch der Marburger Kirchenhistoriker Ernst Benz (1907-1978), der Berliner Theologe und Religionspsychologe Werner Gruehn (1887-1961), der Greifswalder Theologe und Religionswissenschaftler Wilhelm Koepp (1885-1965), der Berliner Iranist Hans Heinrich Schaeder 37 38
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Gustav Mensching, Allgemeine Religionsgeschichte, Leipzig 11940, S. 124 und Heidelberg 21949, Vorwort. Es ist mehr als ein bloßer Anachronismus, wenn neuerdings versucht wird, Mensching auf dieser Basis vom Vorwurf der politischen Verstrickung freizusprechen. Siehe etwa Hamid Reza Yousefi und Ina Braun (Hg.), Aufsätze und Vorträge zur Toleranz- und Wahrheitskonzeption von Gustav Mensching, Würzburg 2002, bes. S. 27-91. Wesentlich objektiver, obgleich ebenfalls in apologetischer Absicht geschrieben, Peter Parusel, Gustav Mensching in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Wolfgang Gantke u.a., Hg., Religionswissenschaft im historischen Kontext. Beiträge zum 100. Geburtstag von Gustav Mensching, Marburg 2003, S. 113-142. G. Mensching an J. W. Hauer am 22.2.1939 (Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Hauer, Bd. 139, fol. 194). Siehe dazu Marie Kahle, Was hätten Sie getan? Die Flucht der Familie Kahle aus Nazi-Deutschland und Paul Kahle, Die Universität Bonn vor und während der Nazi-Zeit (1923-1929), hg. von John H. Kahle, Bonn 1998, bes. S. 30f., S. 188 und S. 194-196. So Karl-Franz Chudoba in seinem Schreiben an Paul Kahle am 28.11.1938 (ebd., S. 194).
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(1896-1957) und der Jenaer Theologe und Religionswissenschaftler Friedrich Weinrich (1905-1960) angeführt werden. Die Bereitschaft Heinrich Fricks (1893-1952), sich bei dem geplanten Ausbau der Religionskundlichen Sammlung in Marburg auf den Nationalsozialismus zuzubewegen, gehört ebenfalls in diese Kategorie. Allen Genannten war gemeinsam, dass sie in einer allgemeinen Weise an die Notwendigkeit der Verbindung von Nationalsozialismus und Christentum, genauer von Nationalsozialismus und Protestantismus, glaubten. Alle hatten sich bereits relativ weit vom traditionellen Kirchenchristentum entfernt und allen war die theologische und politische Ablehnung Karl Barths zu Eigen. Im Dritten Reich sahen sie eine Chance, ihre wissenschaftlichen Vorstellungen, die mit der offiziellen protestantischen Theologie nicht mehr ohne weiteres kompatibel waren, neu einzubringen. 3.2. Distanzierung Die Annahme, dass es im Nationalsozialismus nur die beiden Möglichkeiten der totalen Identifikation oder der absoluten Gegnerschaft gegeben habe, gehört zu den Mythen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Weder bedeutete eine allgemeine Übereinstimmung mit der Politik des Dritten Reiches, dass man nicht in manchen Dingen eine abweichende Meinung vertreten konnte, noch führte die Ablehnung dieses oder jenes Punktes der NSIdeologie – die in sich selbst inkonsistent war und zu vielerlei Interpretationen Anlass gab – dazu, mit der Verhaftung oder sogar mit der Einweisung in ein Konzentrationslager rechnen zu müssen, wie es nach 1945 gerade von Wissenschaftlern immer wieder behauptet wurde. In die Emigration oder den Widerstand zu gehen, hätte aber ein gefestigtes oppositionelles Weltbild oder einen konkreten Verfolgungsdruck zur Voraussetzung gehabt. Beides findet sich nur in den bekannten Ausnahmefällen. Um so höher ist es zu bewerten, dass sich eine Gruppe von Religionswissenschaftlern bewusst von der Politik und der Ideologie des Dritten Reiches fernhielt. Eine Anbiederung aus Karrieregründen oder auch der Eintritt in die NSDAP wäre für sie undenkbar gewesen. Ihre Strategie der vorsätzlichen Distanzierung und des willentlichen Abseitsstehens hatte allerdings weniger politische als vielmehr religiöse und wissenschaftliche Gründe. Das gleichermaßen abschreckende Beispiel der Deutschen Christen und der Deutschgläubigen zeigte ihnen deutlich, wohin ein eigentlich überwunden geglaubter Fanatismus führen konnte. Mehr und mehr wurde ihnen bewusst, dass die religiöse Meinungsfreiheit im Dritten Reich wenig galt. Bei seinem Weltanschauungsbeauftragten Alfred Rosenberg kam noch hinzu, dass dieser sich bei seiner Mythenbildung auf eine derart primitive Weise religionsgeschichtlicher Argumente bediente, dass sich die akademische Religionswissenschaft, soweit sie einigermaßen intakt geblieben war, zum Widerspruch geradezu herausgefordert fühlen musste. In einem Sonderheft der Zeitschrift für Religionswissenschaft zum Thema „Das Überleben der Religionswissenschaft im Nationalsozialismus“ wurden mit Walter Baetke, Carl Clemen, Friedrich Rudolf Lehmann, Hilko Wiardo Schomerus und Christel Matthias Schröder die wichtigsten Vertreter dieser Richtung bereits ausführlich dargestellt, so dass ich mich hier auf einen kursorischen Überblick beschränken kann.42 Der Leipziger Religionshistoriker Walter Baetke (1884-1978) hatte nach dem Studium der Germanistik und Anglistik von 1913-1934 als Studiendirektor auf der Ostseeinsel Rügen gearbeitet. In den zwanziger Jahren beschäftigte er sich intensiv mit der altnordischen Literatur und Geschichte und veröffentlichte zahlreiche Schriften hierzu. Im Juni 1934 erhielt er deshalb an der Universität Greifswald einen Lehrauftrag für Germanische Religionsgeschichte. Nachdem im gleichen Jahr der Leipziger Religionshistoriker Hans Haas 42
Zeitschrift für Religionswissenschaft 9, 2001. Dort auch die Nachweise im Einzelnen.
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verstorben war, bemühte sich die dortige Evangelisch-theologische Fakultät sehr darum, Baetke als Nachfolger zu gewinnen. Man erhoffte sich von ihm insbesondere, dass er die pseudowissenschaftliche Berufung der Deutschgläubigen auf die alten Germanen zurückzuweisen in der Lage sein werde. Baetke konnte den Lehrstuhl zunächst nur kommissarisch verwalten, weil die Intervention von Jakob Wilhelm Hauer offenbar eine Verzögerung seiner Ernennung zum 5.2.1936 bewirkte. Hauer hatte seinen SD-Vorgesetzen Werner Best eindringlich davor gewarnt, dass Baetke ein ausgesprochener Gegner jeder germanisch-deutschen Weltanschauung sei und dass es eine „ganz schwere Gefahr für die nationalsozialistische Weltanschauung und für das Dritte Reich“ bedeuten müsse, „wenn eine so wichtige Universität, wie die Universität Leipzig in dieser Weise verseucht wird.“43 Die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllend, griff Baetke in seinen Publikationen den Dilettantismus der deutschgläubigen Religionsforschung an, wobei er sich insbesondere mit den Anschauungen eines Herman Wirth und Bernhard Kummer auseinander setzte. Carl Clemen (1865-1940), der zum 1.4.1933 an der Universität Bonn emeritiert wurde, ging in seinen Arbeiten ebenfalls auf die religiös motivierte Indienstnahme der Allgemeinen Religionsgeschichte durch die Anhänger der Deutschen Glaubensbewegung ein. Im persönlichen Umgang bescheiden und zurückhaltend, fand er deutliche Worte, wenn es darum ging, die in seinen Augen verfehlte Auffassung über das innere Verhältnis von Rasse und Religion oder von Deutschtum und altgermanischer Religion zu kritisieren. Als Vertreter eines traditionellen Wissenschaftsideals betonte Clemen die Notwendigkeit des philologisch und historisch exakten Umgangs mit dem religionsgeschichtlichen Quellenmaterial. Die wissenschaftlichen Interessen von Friedrich Rudolf Lehmann (1887-1969) lagen ziemlich genau in der Mitte von Religionswissenschaft und Völkerkunde. Lehmann war mit wichtigen Arbeiten zur Religionsgeschichte Polynesiens hervorgetreten und hatte bereits 1914/15 und dann nochmals 1936 die kommissarische Leitung des Religionsgeschichtlichen Seminars der Universität Leipzig inne. Nach dem ‚Wegfall‘ von Joachim Wach und dem Tod von Hans Haas entstand eine empfindliche Lücke im religionswissenschaftlichen Lehrbetrieb. Dass man Lehmann, der sich nach seiner Habilitation im Jahr 1929 in starkem Maße mit religionswissenschaftlichen Fragen beschäftigt hatte, nicht für die Haas-Nachfolge in Erwägung zog, lag nicht zuletzt an seiner politischen Einstellung, die in einem politischen Gutachten als zu „lau“ bezeichnet wurde. Er wurde deshalb Anfang 1937 lediglich mit einer nichtbeamteten außerordentlichen Professur für Religionswissenschaft und Völkerkunde betraut. Das war wohl auch der Grund dafür, dass sich Lehmann im März 1939 auf eine Forschungsreise nach Ostafrika begab, von der er erst 1956 wieder zurückkehren sollte. Hilko Wiardo Schomerus (1879-1945) vertrat von 1926 bis 1945 als außerordentlicher Professor das Fach Missionswissenschaft an der Universität Halle. In seinen religionshistorischen Veröffentlichungen wandte er sich besonders dem Hinduismus und Buddhismus zu. Obwohl er nie Zweifel an seiner religiösen Einstellung ließ, bemühte sich Schomerus stets darum, christliche Wertvorstellungen aus seiner religionsgeschichtlichen Arbeit fernzuhalten. Christel Matthias Schröder (1915-1996) war zum Zeitpunkt der Machtergreifung noch keine 20 Jahre alt. Wegen seiner 1935 an der Universität Marburg eingereichten Doktorarbeit zum Thema Rasse und Religion bekam er erhebliche Schwierigkeiten, weil diese im Widerspruch zur offiziellen Rassendoktrin stand. Als Schröder die Arbeit dennoch zum Druck gab, intervenierte das Propagandaministerium. Eine Beschlagnahmung durch die beim Verlag auftauchenden Gestapobeamten konnte nur deswegen nicht erfolgen, weil alle Exemplare bereits verkauft oder ins Ausland geschafft worden waren. Doch eine akademi43
J. W. Hauer an W. Best am 30.10.1935 (Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Hauer, Bd. 87, fol. 200). Hauer verwies in diesem Brief auch auf den negativen Einfluss von Eugen Mattiat im Reichserziehungsministerium. Best solle deswegen bei Himmler intervenieren.
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sche Karriere hatte sich für Schröder dadurch erledigt. Bei Kriegsende wurde er sogar kurzzeitig ins Gefängnis gesperrt, weil er sich mit einigen Bürgern seiner Heimatstadt Jever dem militärischen Befehl, die Stadt bis zum Untergang zu halten, widersetzt hatte. Lässt sich die Haltung Schröders bereits in den Kategorien von Resistenz oder sogar Widerstand fassen, äußerte sich das Missbehagen seines akademischen Lehrers Friedrich Heiler (1892-1967) vor allem in religiöser Form. 1934 wurde Heiler an die Universität Greifswald zwangsversetzt und dann der Philosophischen Fakultät der Universität Marburg zugewiesen. Das Ministerium hatte allerdings weniger im Sinn, Heiler persönlich zu treffen, sondern wollte ein Zeichen gegen die Haltung der Evangelisch-theologischen Fakultät Marburgs im Kirchenstreit setzen. Man kann die Einstellung der in diesem Kapitel vorgestellten Wissenschaftler dahingehend charakterisieren, dass ihre Distanz zum Dritten Reich vornehmlich auf einer religiösen Aversion beruhte, denn nach ihrer Auffassung handelte es sich beim Nationalsozialismus um eine in hohem Maße antichristliche Weltanschauung. Insbesondere stieß bei ihnen die nationalsozialistische Rassenlehre und die Betonung des Rassegedankens durch eine deutschchristliche und dann auch deutschgläubige Neoorthodoxie auf Unbehagen. Entgegen der völkischen Wissenschaftsideologie, wonach jedes wissenschaftliche Erkennen an die Zugehörigkeit zum eigenen Volkstum und zur eigenen Rasse gebunden sei, hielten sie an dem universalen Charakter der Religionswissenschaft fest. Eine Instrumentalisierung der Religionswissenschaft, sei es im Dienste religiöser, weltanschaulicher oder politischer Interessen, wurde von ihnen strikt abgelehnt. 4. Der völkische Impuls 4.1. Die völkische Religionswissenschaft als deutschgläubige Gegentheologie Parallel zu einer einer sich neu formierenden antichristlich-paganen Religiosität entfaltete sich nach 1933 auch eine völkische Religionswissenschaft. Ihre Vertreter wollten den Deutschen Glauben nicht nur erforschen sondern auch befördern und eine geschichtliche Realität werden lassen. Sie meinten, dass der nationalsozialistische Staat einer neuen weltanschaulichen Grundlage bedürfe und dass es ihr Beruf sei, ihm diese zu vermitteln. Einige gingen sogar so weit, sich als religiöse Funktionäre und deutschgläubige Weihewarte zu betätigen. Weil allerdings niemand so genau wusste, worin der Inhalt der neuen Religion konkret bestand, welches ihre autoritativen Schriften waren und mit welcher Organisationsform und welchen Riten der neue Glaube zum Ausdruck gebracht werden sollte, musste die erste Aufgabe darin bestehen, die Vielzahl der völkischen Religionsentwürfe zu einem einigermaßen kohärenten Glaubenssystem zusammenzufassen. Ganz abgesehen von der grundsätzlichen Schwierigkeit, eine Religion „erfinden“ zu wollen, ließ die enorme Heterogenität der in der völkischen Bewegung kursierenden religiösen Ideen die Aufgabe von vornherein als so gut wie unlösbar erscheinen. Ein weiteres Problem bestand darin, dass die meisten deutschgläubigen Theoretiker ehemalige evangelische Theologen waren und ein äußerst ambivalentes Verhältnis zu der jetzt von ihnen bekämpften Religion hatten, deren treue Diener sie über viele Jahre gewesen waren. Von heute auf morgen die religiöse Sozialisation und Prägung eines ganzen Lebens wie einen Mantel ablegen zu können, würde allen Erfahrungen moderner Konversionsforschung widersprechen. Am deutlichsten zeigte sich bei den Völkischen das protestantische Erbe in einer kompromisslos antikatholischen Einstellung, die im Dritten Reich eine neue Dynamik erlangte. Es war deshalb nicht verwunderlich, dass die deutschgläubige Programmatik vor allem über ihr Antichristentum und ihren Antikatholizismus Konturen gewann. Man kann die völkische Religi-
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onswissenschaft deshalb in einem engeren Sinn auch als antichristliche Gegentheologie bezeichnen. Hermann Mandel (1882-1946), der seit 1918 an der Universität Kiel eine ordentliche Professur für Systematische Theologie und Religionsphilosophie zuzüglich eines religionsgeschichtlichen Lehrauftrags innehatte, schloss sich sehr früh der Deutschen Glaubensbewegung an.44 Mit seiner Auffassung über eine von der christlichen Dogmatik befreiten Wirklichkeitsreligion war er lange vor der NS-Machtergreifung in Widerspruch zum traditionellen Lehrverständnis der evangelischen Kirche geraten. In der Weimarer Republik gehörte er dem Bund für deutsche Kirche an, in dem die Idee eines arischen und judenfreien Christentums eine wichtige Rolle spielte. Nach 1933 äußerte sich Mandel dezidiert nationalsozialistisch und trat im Mai 1937 in die NSDAP ein. Da er nicht gewillt war, sich gänzlich vom Christentum loszusagen, konnte Mandel in der deutschgläubigen Bewegung nur am Rande in Erscheinung treten. Er veröffentlichte aber eine größere Zahl an Publikationen, die einen arteigenen deutschen Glauben propagierten. Bei der nationalsozialistischen Umstrukturierung der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Kiel – in deren Zusammenhang auch Gustav Mensching berufen worden war – schien es dem Ministerium nützlicher zu sein, Mandel der Philosophischen Fakultät zuzuweisen. Dort erhielt er zum Wintersemester 1935/36 eine Professur und ein Seminar für Religionsphilosophie und Religionsgeschichte mit besonderer Berücksichtigung einer rassenkundlichen Geistesgeschichte. Seine wissenschaftliche Arbeiten beschränkte sich nun ganz auf die Konsolidierung einer religiösen Arierideologie, die sowohl deutschgläubige als auch deutschchristliche Elemente aufwies. Mandel starb bald nach Kriegsende, so dass er sich keinem Spruchkammerverfahren aussetzen musste. Der bekannteste Religionswissenschaftler deutschgläubiger Provenienz war ohne Zweifel Jakob Wilhelm Hauer (1882-1963).45 Nach einer Promotion in Indologie und einer Habilitation in Allgemeiner Religionsgeschichte lehrte Hauer von 1923 bis zu seiner Entlassung im Jahr 1945 diese beiden Fächer an der Universität Tübingen. Hauers wissenschaftliche Arbeit wurde in allen drei Phasen seines Schaffens – das bis 1933 einer christlichen, nach 1933 einer deutschgläubigen und nach 1945 einer freireligiösen Zielsetzung folgte – durch seine religiösen Interessen bestimmt. Als angehender Pfarrer stand Hauer in der Weimarer Republik einer christlichen Jugendgruppe namens Köngener Bund vor, die dem religiösen Flügel der Jugendbewegung zugehörte. Hauer lebte mit seinen Köngenern eine betont apolitische und antidogmatische, auf das gemeinsame spirituelle Erleben abzielende Religiosität, die ihn im Laufe der Zeit an den Rand seiner Kirche und schließlich darüber hinaus führte. Vor dem 1. Weltkrieg Missionar in Indien, entwickelte Hauer eine starke Vorliebe für die indische Religionsgeschichte, die schließlich in Identifikation umschlug. Für die von ihm angeführte Deutschen Glaubensbewegung erstrebte er zunächst den Status einer gleichberechtigten dritten Konfession, um dann in völliger Verkennung der tatsächlichen Situation den Deutschen Glauben als neue Staatsreligion des Dritten Reiches etablieren zu wollen. Hauer war zutiefst erschüttert, als die Deutsche Glaubensbewegung im 44
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Archivarische Quellen zu Mandel finden sich im Landesarchiv Schleswig Holstein in Kiel, im Bundesarchiv in Berlin (v.a. BDC-Akten) und unter den die Universität Kiel betreffenden Archivalien des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin Dahlem. Siehe auch Jendris Alwast, Die Theologische Fakultät unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, in: Hans-Werner Prahl, Hg., UniFormierung des Geistes. Universität Kiel im Nationalsozialismus, Kiel 1995, 87-137 und den Eintrag zu Mandel von Matthias Wolfes im Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon, Bd. 15, 1999, Sp. 930-939 (www.bautz.de/bbkl, s.v. Mandel). Siehe zu ihm bes. Horst Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, a.a.O. und die Biographie der ehemaligen Ludendorfferin Margarete Dierks, Jakob Wilhelm Hauer, 1881-1962, Heidelberg 1986. Von Hauer gibt es im Bundesarchiv Koblenz einen sehr umfangreichen, über 200 Bände umfassenden Nachlass. Die wichtigsten archivalischen Quellen zu Hauer sind seine Personalunterlagen im Tübinger Universitätsarchiv und seine BDC-Akten im Bundesarchiv Berlin.
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Frühjahr 1936 an ihren inneren Widersprüchen zerbrach und er vom Vorsitz zurücktreten musste. Hatten seine zwischen 1933 und 1936 großenteils im Stile religiöser Erbauungsliteratur geschriebenen Bücher und Artikel in erster Linie praktisch religiösen Interessen gedient, wollte Hauer mit seinem danach veröffentlichten Schrifttum die neue Religion wissenschaftlich fundieren. Hauer gelangte zu der Überzeugung, aus der Glaubensgeschichte der Indogermanen eine arteigene Traditionslinie ableiten zu können, die angeblich bei den arischen Indern ihren Ausgang nahm und 3000 Jahre später im Dritten Reich einen neuen Höhepunkt erreichte. Dass es ihm schließlich gelang, eine arische Weltanschauungslehre an der EberhardKarls-Universität Tübingen zu verankern, hatte mehrere Gründe. Der wichtigste ist in der Verschiebung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu Ungunsten der Kirchen zu sehen. Nach dem gescheiterten Gleichschaltungsversuch ging die NS-Staatsführung zu einer Politik der Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens über, die an den Hochschulen einen gravierenden Bedeutungsverlust der theologischen Fakultäten und des theologischen Studiums mit sich brachte. In dieses Vakuum hoffte Hauer mit seiner völkischen Religionswissenschaft hineinstoßen zu können. Zum zweiten fand Hauer im württembergischen Ministerpräsidenten und Kultusminister Christian Mergenthaler einen Verbündeten, der ihn bei seinen Plänen nachhaltig unterstützte. Mit seiner Hilfe gelang es ihm, die im Reichserziehungsministerium vorhandenen Widerstände zu überwinden und seinen Lehrauftrag um eine arische Weltanschauungskomponente zu erweitern. Im April 1940 wurde Hauer sogar zum Direktor eines an der Universität neu eingerichteten Arischen Seminars ernannt. Eine der hauptsächlichen Aufgaben des Arischen Seminars, das 1942 unter Hinzufügung weiterer Stellen zu einem Arischen Institut aufgewertet wurde, bestand darin, die Einführung eines Weltanschauungsunterrichts in Württemberg wissenschaftlich zu begleiten und bei der dafür notwendigen Lehrerausbildung mitzuwirken. Des weiteren beteiligte sich das Arische Seminar in umfänglicher Weise an der weltanschaulichen Gegnerbekämpfung. Schon 1935 hatte Hauer mit Gutachten für den SD maßgeblich zum Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft beigetragen. Als im Vorfeld des Überfalls auf die Sowjetunion eine innenpolitische Flurbereinigung durchgeführt wurde und Heydrich am 17.6.1941 eine großangelegte Aktion gegen „okkulte“ Religionsgemeinschaften ins Werk setzte, schlug Hauers Stunde als Geheimdienstmitarbeiter. Er wurde nicht nur zu den vorbereitenden Besprechungen in das Berliner Hauptquartier des Reichssicherheitshauptamtes beigezogen sondern erhielt auch die Aufgabe, das von der Gestapo dann beschlagnahmte Material wissenschaftlich auszuwerten. Auf ausdrücklichen Wunsch Himmlers wurde dem Arischen Seminar hierzu eine zusätzliche „Abteilung zur Erforschung des Okkultismus“ angegliedert.46 Gegen Ende des Krieges leistete das Arische Institut sogar Hilfsdienste für die Arbeit des Auslandsgeheimdienstes. Die Abteilung VI G des Reichssicherheitshauptamtes hatte Kontakte zur Universitätsforschung aufgebaut, um dort bei Bedarf wissenschaftliche Hilfsdienste in Anspruch zu nehmen. Am Arischen Institut wurden Strategien entwickelt, wie man dem Kriegsgegner England über seine indische Kolonie Schaden zufügen konnte. Auch wenn über die politischen Aktivitäten Hauers, der bereits 1934 in den SD und die SS und 1937 in die NSDAP eingetreten war, nach 1945 wenig bekannt wurde, gehörte er als führender ‚Neuheide‘ zu den ersten, die entlassen wurden. Da ihm eine Rückkehr in den Lehrberuf verwehrt wurde, betätigte er sich nach seiner Rückkehr aus der Internierung vor allem in der freireligiösen Bewegung, im Umfeld der Deutschen Unitarier und in der von ihm selbst gegründeten Freien Akademie. 46
Siehe dazu und zum Folgenden Horst Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, a.a.O., S. 201ff. und S. 241ff. sowie ders., Das ‚Arische Seminar’ an der Universität Tübingen 1940-1945, in: Heidrun Brückner u.a. Hg., Indienforschung im Zeitenwandel, a.a.O., S. 176-207 bzw. S. 204ff.
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Herbert Grabert (1901-1978) zählte zu Hauers engsten Schülern und Anhängern.47 Er gehörte in der Weimarer Zeit dem Köngener Bund an, promovierte 1928 in Tübingen und wurde einer von Hauers wichtigsten Mitarbeitern, als dieser zum Führer der Deutschen Glaubensbewegung aufstieg. Grabert fungierte in der Hauerschen Zeitschrift Deutscher Glaube als Schriftleiter und in der Tübinger Gemeinde der Deutschen Glaubensbewegung als Weihewart. 1936 überwarf er sich jedoch mit seinem Lehrer, weil er den Kampf gegen das Christentum stärker forcieren wollte und weil er außerdem die Zeit für gekommen hielt, selbst einen Platz in der ersten Reihe der deutschgläubigen Führungsriege einzunehmen. Nach dem Ende der organisierten deutschgläubigen Bewegung im Frühjahr 1936 strebte Grabert eine Karriere als Hochschullehrer an. Er publizierte mehrere Schriften zur völkischen Aufgabe der Religionswissenschaft, in denen er den neuen Ansatz einer NSkonformen Religionsforschung über die Anwendung des Rassegedankens darlegen wollte. Allerdings beschränkte sich seine Methodik weitgehend darauf, den Jargon der nationalsozialistischen Rassenkunde zu reproduzieren. Da Grabert über keine indologischen Sprachkenntnisse verfügte, verlegte er sich auf den deutschen bzw. indogermanischen Bauernglauben, den er als völkische Keimzelle der nationalsozialistischen Weltanschauung interpretierte. Ausgerechnet mit finanzieller Unterstützung durch das Amt Rosenberg konnte sich Grabert 1939 an der Universität Würzburg habilitieren. Rosenberg sah es ihm nach, dass er sich vor 1933 nicht nur dezidiert antinazistisch geäußert sondern auch starke Kritik an seiner Person geübt hatte. Im Oktober 1939 trat Grabert in die NSDAP ein und konnte daraufhin an der Universität Würzburg zum beamteten Dozenten neuer Ordnung ernannt werden. Im Mai 1945 wurde er in Tübingen verhaftet und anderthalb Jahre interniert. Danach wirkte Grabert vor allem als Lobbyist für politisch belastete Hochschullehrer. Aus dieser Arbeit ging 1953 ein rechtsextremer Verlag hervor, der durch die Publikation geschichtsrevisionistischer und den Holocaust in Abrede stellender Bücher eine bundesweite Bekanntheit erlangte. Bernhard Kummer (1897-1962) gehörte wie Grabert und Hauer zu einer Gruppe von Gleichgesinnten, die nach 1945 versuchten, den paganen Impuls wieder aufzunehmen und in eine neue Organisationsform überzuleiten. Als sich das als unmöglich herausstellte, zogen sich viele ehemalige Anhänger der deutschgläubigen Bewegung ins Privatleben zurück. Einige fanden bei den deutschen Unitariern eine neue religiöse Heimat.48 Kummer, der im September 1945 an der Universität Jena entlassen wurde, hatte dort im Oktober 1936 einen Lehrauftrag für altnordische Sprache und Kultur erhalten und war am 1.11.1942 zum Professor für altnordische Überlieferung und germanische Weltanschauungskunde ernannt worden. Während des Dritten Reiches trat Kummer weniger durch wissenschaftliche Leistungen als durch seinen Streit mit dem der SS nahestehenden Germanisten Otto Höfler (1901-1987) in Erscheinung. Schon seit seiner 1927 bei Hans Haas und Eugen Mogk in Leipzig geschriebenen Dissertation, die unter dem Titel Midgards Untergang. Germanische Kultur und Glaube in den letzten heidnischen Jahrhunderten 1935 in zweiter und 1937 in dritter Auflage erschien, vertrat Kummer die These, dass die Christianisierung der Germanen deren geistigen Verfall bewirkt habe. Im Grunde genommen kehrte Kummer aber nur die christliche Bekehrungsgeschichte um, wonach bei den Germanen eine innere Bereitschaft zur Aufnahme des Christentums bestanden habe, die nach ihrer 47
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Archivalien zu Grabert befinden sich in den Universitätsarchiven in Halle, Tübingen und Würzburg, im Bundesarchiv in Berlin (NS 8, NS 15, BDC-Akten) und in Koblenz, wo es einen umfangreichen Briefwechsel im Hauer-Nachlass gibt. Siehe außerdem Martin Finkenberger und Horst Junginger, Hg., Im Dienste der Lügen. Herbert Grabert (1901-1978) und seine Verlage, Aschaffenburg 2004. Eine Schülerin Hermann Mandels wurde zur wichtigsten Theoretikerin der Religionsgemeinschaft der Deutschen Unitarier (DUR). Siehe zu ihr Horst Junginger, Sigrid Hunke (1913-1999): Europe’s New Religion and its Old Stereotypes, in: Hubert Cancik und Uwe Puschner, Hg., Antisemitismus, Paganismus, Völkische Religion – Anti-Semitism, Paganism, Voelkish Religion, München 2004, S. 151-162.
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Missionierung zu einer neuen kulturellen Höhe führte. Wie von Fritz Heinrich klar herausgearbeitet wurde, beruhte die Argumentation Kummers trotz einer extrem antichristlichen Stoßrichtung auf Kategorien, die letztlich Ableitungen christlicher Maßstäbe waren.49 Andere Germanenforscher wie Höfler beharrten dagegen auf einer Kontinuitätstheorie, mit der sie die nationalsozialistische Gegenwart als Höhepunkt einer kontinuierlichen Aufwärtsentwicklung des Germanentums darstellen konnten. Nachdem Höfler Kummer in seinem 1934 erschienenen Buch Kultische Geheimbünde der Germanen stark kritisiert hatte, wurde er von diesem eines katholisierenden Okkultismus und Ekstatismus bezichtigt. Die Germanen seien schließlich die Vertreter einer arischen Religion des Lichts und nicht der Finsternis, so Kummer. Der Streit zwischen „Kümmerlingen“ und „Höflingen“ zog weite Kreise und trug seinen Teil dazu bei, die Gräben zwischen dem Amt Rosenberg und dem Ahnenerbe der SS zu vertiefen. Erst nachdem Himmler persönlich eingegriffen und Kummer 1938 zum Einlenken gezwungen hatte, beruhigte sich die Lage wieder. Auf welchem Niveau die Auseinandersetzung geführt wurde, vermag ein vom Ahnenerbe in Auftrag gegebenes graphologisches Gutachten zu belegen, das Kummer als eine „stark neurotische Persönlichkeit“ charakterisierte und seine Ansichten auf ein unausgeglichenes Sexualleben („in geschlechtlichen Dingen zu kurz gekommen“) zurückführte.50 In diesen NSinternen Querelen um das richtige Germanenbild repräsentierte der auch schon als „Teutomane“ und „Germanenbernhard“ bezeichnete Kummer den Traditionsstrang des nichtoder sogar anti-nationalsozialistischen Teils der völkischen Bewegung, der nach 1933 nur widerwillig die intellektuelle Meinungsführerschaft der Nationalsozialisten anerkannte. In diesen Kreisen und besonders im Umfeld der Ludendorffer galt Hitler als „Römling“ und romhörig. Der politische Sieg des Nationalsozialismus beruhte zu einem nicht geringen Teil darauf, dass es ihm gelang, sich seines völkischreligiösen Bodensatzes zu entledigen, wie es umgekehrt die weltanschauliche Verschrobenheit der meisten ‚Neuheiden‘ verhinderte, dass die deutschgläubige Bewegung im Dritten Reich einen größeren Einfluss erlangen konnte. Mit Auffassungen wie sie von den ihr nahestehenden Religionsphilosophen wie Ernst Bergmann (1881-1945), Hermann Schwarz (1864-1951) oder Wolfgang Schultz (1881-1936) vertreten wurden, ließ sich beim besten Willen kein Staat und auch keine Religion für mehr als einige wenige Außenseiter machen. Außerhalb der Deutschen Glaubensbewegung gab es noch im Einflussbereich Heinrich Himmlers und Alfred Rosenbergs eine Form der völkischen Religionswissenschaft, die indes keine praktisch religiösen Interessen im engeren Sinn verfolgte. Den im Amt Rosenberg oder im Ahnenerbe der SS tätigen Religionswissenschaftlern kann man weder unterstellen, dass sie die Absicht hatten, eine eigene Kirche oder kirchenähnliche Organisation zu schaffen, noch dass beabsichtigt gewesen wäre, so etwas wie einen heidnischen Klerikerstand auszubilden. In beiden Institutionen entwickelte man kein in einem traditionellen Sinn religiöses sondern ein weltanschauliches Programm. Hinzu kommt, dass nach Kriegsausbruch jede Beschäftigung mit religiösen Fragen unter dem Generalvorbehalt stand, alles zu unterlassen, was die Einheit des deutschen Volkes gefährden und einen neuen Kirchenstreit heraufbeschwören konnte.
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Fritz Heinrich, Die deutsche Religionswissenschaft und der Nationalsozialismus, a.a.O., S. 186ff. Das undatierte Gutachten des Berufsgraphologen Rudolf Luck wurde am 28.10.1937 von Otto Huth an Wolfram Sievers geschickt (Bundesarchiv Berlin, BDC Ahnenerbe Research Kummer). Umfangreiche Materialien zu dem Kummer-Höfler-Streit befinden sich auch im Bestand des Reichsstatthalters in Thüringen (Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar) und in den Dozentenbundsakten des Universitätsarchivs Jena (U, Abt. IV, Nr. 20).
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4.2. Religionswissenschaft im Amt Rosenberg In der Weltanschauung Alfred Rosenbergs spielte die Frontstellung gegen das Christentum, das in völkischer Manier als Abkömmling der jüdischen Rasse denunziert wurde, eine ausschlaggebende Rolle. Dass Rosenberg hingegen eine heidnische Rassenreligion hätte schaffen wollen bzw. auch können, wird zwar oft behauptet. Doch aus religionswissenschaftlicher Perspektive lässt sich wenig Substantielles beibringen, um Rosenbergs Mythos oder den Nationalsozialismus insgesamt im Sinne einer neuen paganen Religion interpretieren zu können. Die im Amt Rosenberg entwickelte Fest- und Feiergestaltung, die man am ehesten in diesem Sinn deuten könnte, gehörte organisatorisch zur Schulungsarbeit der Partei und blieb deshalb auf die NSDAP beschränkt. Sie fiel auch nicht in den Aufgabenbereich der im Amt Rosenberg tätigen Religionswissenschaftler sondern wurde von Volkskundlern wie Hanns Strobel und Matthes (Matthäus) Ziegler ausgearbeitet. Wenn man in dem 1934 aus der Kirche ausgetretenen Ziegler einen besonderen Exponenten des ‚Neuheidentums‘ Rosenbergscher Richtung betrachten will, sollte man aber bedenken, dass er nach Misshelligkeiten bereits 1941 in die Parteikanzlei überwechselte. Nach dem Krieg schloss er sein 1930 begonnenes Theologiestudium ab und wurde 1949 Pfarrassistent bzw. 1956 evangelischer Pfarrer.51 Ungeachtet der Tatsache, dass viele Fragen im Hinblick auf das Verhältnis von Religion und Nationalsozialismus noch unbeantwortet sind, kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass Rosenberg in seinem Geschäftsbereich eine nicht- oder sogar antichristlichen Religionsforschung etablieren wollte. Zu seinem wichtigsten Mitarbeiter auf dem Gebiet der Religionswissenschaft wurde der ehemalige Theologe und Missionsinspektor Wilhelm Brachmann (1900-1994).52 Brachmann, ein Schüler Karl Bornhausens, hatte von 1919 bis 1923 in Breslau und Königsberg evangelische Theologie studiert und nach seiner Ordination mehrere Pfarrstellen verwaltet. Im Oktober 1929 wurde er auf Vermittlung Bornhausens in die deutsche Sektion der Ostasienmission berufen, deren Direktor Johannes Witte ihn in seinem weiteren Fortkommen unterstützte. Zunächst ein Anhänger der Theologie Karl Barths, wechselte Bornhausen zu den Deutschen Christen, um schließlich im Amt Rosenberg eine neue weltanschauliche Heimat zu finden. Dass er eine zwar antikirchliche aber nicht ausreichend antichristliche Einstellung an den Tag legte, wurde von Alfred Rosenberg und Alfred Baeumler des öfteren an ihm kritisiert. Seinen eigenen Angaben zufolge stand Brachmann ursprünglich den Ideen Spenglers und Moeller van den Brucks nahe. Er schloss sich dann dem Nationalsozialismus an und trat zum 1.5.1933 in die NSDAP ein. Im November 1933 wurde er zum Missionsinspektor und Studiendirektor an das ostpreußische Predigerseminar in KleinNeuhof berufen. Da Brachmann mit dem Kurs der evangelischen Kirche nicht einverstanden war und außerdem Probleme mit dem neuen Direktor der Ostasienmission Theodor Devaranne hatte, ließ er sich unter Belassung des Titels Studiendirektor a.D. pensionieren und übernahm zum 1.3.1937 im Amt Rosenberg die äußerst üppig dotierte Leitung des Referats Protestantismus und Religionswissenschaft. Rosenberg verschaffte dem wissenschaftlich nicht weiter vorgebildeten Brachmann zum Wintersemester 1938/39 auch einen Lehrauftrag für Religionswissenschaft an der Universität Halle. Dort promovierte Brach51 52
Siehe jetzt neu Manfred Gailus, Vom ‚gottgläubigen‘ Kirchenkämpfer Rosenbergs zum ‚christgläubigen‘ Pfarrer Niemöllers: Matthes Zieglers wunderbare Wandlungen im 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 2006, S. 937-973. Siehe zu Brachmann bes. seine Personalakten im Universitätsarchiv Halle, seine BDC-Unterlagen und die Akten der Kanzlei Rosenberg (NS 8) im Bundesarchiv Berlin sowie die Mikrofilme MA 251, 252 und 698 im Institut für Zeitgeschichte in München bzw. die Akten über die Philosophische Fakultät der Universität Halle im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (Rep. 76, Nr. 692). An Sekundärliteratur ist in erster Linie die Studie von Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner, Stuttgart 1970 zu nennen.
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mann im April 1940 über Ernst Troeltschs historische Weltanschauung und habilitierte sich im Jahr darauf mit einer ausgesprochen theologisch orientierten Arbeit, die 1942 im Frankfurter Moritz Diesterweg Verlag unter dem Titel Glaube und Geschichte. Eine religionswissenschaftliche Untersuchung über den deutschen Protestantismus erschien. Im Mai 1941 wurde Brachmann zum Leiter der religionswissenschaftlichen Außenstelle der Hohen Schule in Halle ernannt. Das gleichzeitig an der Universität Halle eingerichtete Institut für Religionswissenschaft bildete für Rosenberg ein wichtiges Scharnier zwischen der Hochschulforschung und der im Aufbau befindlichen Parteiuniversität. Der Höhepunkt von Brachmanns außergewöhnlicher Karriere war die Ernennung zum ordentlichen Professor für Religionswissenschaft im Dezember 1942. Zwei Jahre später gelang es Brachmann, einen lange gehegten Plan zu verwirklichen und für das Amt Rosenberg eine eigene religionswissenschaftliche Zeitschrift herauszugeben. Von der aus Ernst Kriecks Volk im Werden hervorgegangenen Zeitschrift für Geistes- und Glaubensgeschichte konnten bis Kriegsende lediglich fünf Nummern erscheinen. Auch die Wahrnehmung seiner Professur war Brachmann nur kurze Zeit vergönnt. 1946 wurde er verhaftet und bis 1948 interniert. Eine Rückkehr an die Universität kam für ihn nicht mehr in Frage. Bei dem ständigen Bemühen, seine weltanschauliche Kompetenz unter Beweis zu stellen, glaubte Rosenberg, in der Religionswissenschaft und in Wilhelm Brachmann eine wichtige Stütze zu haben. Außer in Halle plante Rosenberg deshalb auch in Marburg die Einrichtung einer religionswissenschaftlichen Außenstelle der Hohen Schule. Wie bereits erwähnt sollte auf dem Marburger Schloss ein groß angelegtes Institut für Religionswissenschaft entstehen. Brachmann führte dabei die Verhandlungen mit den beteiligten Ministerien und dem Leiter der Religionskundlichen Sammlung Heinrich Frick. Darüber hinaus wollte Rosenberg an der Universität München ein mit der Hohen Schule verbundenes Institut für indogermanische Geistesgeschichte schaffen, das von dem Klassischen Philologen Richard Harder (1896-1957) geleitet werden sollte. Doch beides ließ sich nicht realisieren, weil sich Rosenberg zu sehr im Gestrüpp konkurrierender Instanzen verhedderte. Gegenläufige Interessen des Reichserziehungsministeriums, des Bayerischen Kultusministeriums, des Reichsfinanzministeriums und der SS verhinderten es auch, dass sich Rosenberg mit seinen Wünschen nach religionsgeschichtlichen Lehrstühlen durchzusetzen vermochte, die nach Schließung der Katholisch-theologischen Fakultät an der Universität München errichtet werden sollten. Von den zehn Anfang 1941 freigewordenen Professuren wollte das Amt Rosenberg allein drei für die Religionswissenschaft verwendet wissen, doch keine davon kam zustande. Interessanterweise ergab sich für Rosenberg dabei aber die Möglichkeit zu einer Zusammenarbeit mit dem Reichskirchenministerium und der Parteikanzlei, die beide Einfluss auf die geplanten Umwidmungen nehmen wollten. Besonders Martin Bormann hatte die Absicht, die Universitätstheologie durch eine nichtkonfessionelle Religionswissenschaft zu ersetzen. Obwohl Bormann seine Pläne zur Schließung der theologischen Fakultäten wegen des Krieges zurückstellen musste, bemühte er sich sehr stark um die Einrichtung religionsgeschichtlicher Professuren. In der für ihn typischen Weise hatte er außerdem einen Führererlass lanciert, demzufolge die bestehenden Hochschulen für Lehrerbildung in Lehrerbildungsinstitute „nach ostmärkischem Muster“ umgewandelt und durch die Aufnahme der Religionsgeschichte ergänzt werden sollten. Weil die für die Ausbildung der Lehrer notwendigen Universitätsprofessuren erst noch zu schaffen waren und weil die Parteikanzlei von 200 solcher Lehrerbildungsanstalten sprach, kann man sich gut vorstellen, welche Begehrlichkeiten dadurch geweckt wurden. Insbesondere Wilhelm Brachmann sah es als seine Aufgabe an, entsprechende Lehrpläne zu erstellen und über das in Frage kommende Lehrpersonal nachzudenken. Wie oberflächlich und naiv Brachmanns Ansichten über die akademische Religionsforschung allerdings waren, kann man zwei umfänglichen Stellungnahmen entnehmen, in denen er sich ausführlich zu seinen wissenschaftli-
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chen Plänen und Ideen äußerte. Die von ihm mit dem Beiwort „arisch“ versehene Religionswissenschaft stellte demzufolge wenig anderes als eine um den Rassegedanken erweiterte Religionstheologie bzw. Religionsphänomenologie dar.53 4.3. Religionswissenschaft im Ahnenerbe der SS Auch beim Ahnenerbe der SS kann man nicht von einer religiösen Organisation sprechen und auch von keiner Organisation, in der die Schaffung einer neuen paganen Religion intendiert worden wäre. Dem eigenen Anspruch nach bestand die Aufgabe der verschiedenen Ahnenerbe-Abteilungen darin, die Weltanschauung des Nationalsozialismus wissenschaftlich zu begründen. Viel eher lässt sich das Ahnenerbe als ein Brain Trust oder Think Tank, d.h. als eine moderne Denkfabrik verstehen, die dem Dritten Reich eine geschichtliche Legitimität verschaffen wollte, indem sie die weltanschaulichen Grundlagen des Nationalsozialismus auf eine möglichst alte und authentische indogermanische Tradition zurückführte. In der historischen Analyse sollte der grundsätzliche Unterschied zwischen Religion und Weltanschauung unbedingt aufrecht erhalten werden, auch wenn es bei Einzelnen und in einzelnen Bereichen Überschneidungen gegeben haben mochte. Mit der Hinausdrängung von Herman Wirth (1885-1981), dem Mitgründer und Spiritus rector des Ahnenerbes, machte Himmler deutlich, dass er eine Weiterentwicklung nicht auf religiösem Gebiet sah und dass er jeden Anschein völkischer Versponnenheit vermeiden wollte. Als Walther Wüst am 1.2.1937 zum Präsidenten des Ahnenerbes ernannt wurde, sah sich Wirth ins zweite Glied verwiesen und schied im darauffolgenden Jahr ganz aus dem Ahnenerbe aus. Der seit Oktober 1935 als ordentlicher Professor für Arische Kultur- und Sprachwissenschaft an der Universität München lehrende Wüst schien Himmlers wissenschaftliche Ambitionen und den Anspruch, im Ahnenerbe seriöse Forschung zu betreiben, weitaus besser erfüllen zu können. Wüst sah es deshalb als seine vordringliche Aufgabe an, die Verwissenschaftlichung des Ahnenerbes voranzutreiben und eine möglichst enge Kooperation mit den Universitäten zu erreichen. Zwar gab es im Ahnenerbe weiterhin einige Forschungsbereiche mit okkult-esoterischen Tendenzen, doch wird ihr Einfluss im Allgemeinen stark überschätzt. Hörbigers Glazialkosmogonie beflügelt bis heute die Fantasie mancher Zeitgenossen, einen wirklichen Einfluss hatte sie aber zu keinem Zeitpunkt. In den zahlreichen Forschungsstätten des Ahnenerbes wurden einzelne Aspekte des so genannten Indogermanentums schwerpunktmäßig herausgegriffen und von einer Gruppe von Wissenschaftlern bearbeitet. Der seit 1938 kommissarische Leiter der Abteilung für Indogermanische Glaubensgeschichte Otto Huth (1906-1998) stand der akademischen Religionswissenschaft dabei am nächsten.54 Wie bei Walther Wüst handelte es sich auch bei Huth um einen frühen Anhänger Herman Wirths und wie Wüst hatte auch Huth die Zeichen der Zeit erkannt und sich rechtzeitig von ihm distanziert, als es die Umstände und das eigene Vorankommen erforderlich machten. Nach der Promotion bei Carl Clemen in Bonn arbeitete Huth in den dreißiger Jahren mit Stipendien der Notgemeinschaft über den Dioskurenmythos, wobei ihm daran lag, die römische als Teil der gesamtindogermanischen Religionsgeschichte darzustellen. Außerdem publizierte Huth einige Schriften stark polemischen und antichristlichen Charakters, so etwa ein Buch über die Bekehrung der Germa53
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Siehe Brachmanns undatierte „Planung der religionswissenschaftlichen Forschung auf der Hohen Schule“ aus dem Jahr 1938 (Institut für Zeitgeschichte, MA 698, fol. 983-1027) und seinen Situationsbericht über den Stand und die Aufgaben der deutschen Religionswissenschaft vom Januar 1941 (ebd., MA 251, fol. 708-714). Siehe zu Huth das ihm gewidmete Kapitel in meinem Buch Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, a.a.O., S. 248-268, das sich v.a. auf die BDC- und Ahnenerbe-Akten (NS 21) des Bundesarchivs stützt, sowie Michal H. Kater, Das ‚Ahnenerbe der SS’, Stuttgart 1974 (21998), bes. S. 74f.
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nen in „völkischer Sicht“ (1936) und über den „indogermanischen Lichterbaum“ (1938). Als Vertreter eines „Arbeitskreises für biozentrische Forschung“, in dem die philosophischen Ideen und der Antiintellektualismus von Ludwig Klages verarbeitet wurde, gehörte Huth dem Führerrat der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung an. In der deutschgläubigen Bewegung trat er aber nicht weiter in Erscheinung. Huth muss schon zur zweiten Generation völkischer Religionswissenschaftler gerechnet werden. Ohne innere Bindung an eine überwunden geglaubte Wissenschaftsauffassung früherer Zeit suchte Huth die Rassenlehre des Dritten Reiches relativ unvermittelt in der Religionswissenschaft zur Anwendung zu bringen. Rassische ‚Beweise‘ für eine indogermanische Religiosität und religiöse ‚Beweise‘ für die indogermanische Rasse bedingten sich bei ihm gegenseitig. 1939 habilitierte er sich in Tübingen über den Feuerkult der Indogermanen, dessen Wesen und Charakterzüge er über einen gemeinsamen Rassenzusammenhang aller indogermanischen Völker nachgewiesen zu haben glaubte.55 Huth, der schon seit 1928 der SA und dem nationalsozialistischen Studentenbund angehörte, trat auf Anraten Hauers Ende 1939 in die NSDAP und Anfang 1940 in die SS ein. Dort wurde er 1941 zum Unter- und 1943 zum Obersturmführer ernannt. Unter tatkräftiger Mithilfe durch die SS rückte Huth im April 1942 in eine an der Reichsuniversität Straßburg neu geschaffene außerordentliche Professor für Religionswissenschaft ein. Analog zum Amt Rosenberg in Halle hatte nun auch die SS ein von ihr dominiertes Universitätsinstitut für Religionswissenschaft, dessen Direktor Huth war. Nach Kriegsbeginn betätigte sich Huth besonders im Germanischen Wissenschaftseinsatz der SS, der in den von Deutschland besetzten ‚nordischen‘ Ländern Europas den großgermanischen Gedanke verbreiten wollte. Dabei arbeitete Huth eng mit dessen Leiter Hans Schwerte alias Hans Ernst Schneider zusammen. Bei Herannahen der amerikanischen Truppen auf Straßburg floh er im Oktober 1944 nach Tübingen. Ohne Chance auf ein akademisches Lehramt kam Huth nach Kriegsende als Fachreferent für Theologie und Religionswissenschaft bei der Tübinger Universitätsbibliothek unter. Obwohl der Indoiranist Walther Wüst (1901-1993) von Hause aus Sprachwissenschaftler war, beschäftigte er sich in den dreißige Jahren, vermutlich unter dem Einfluss Jakob Wilhelm Hauers, eingehend mit der zeitgenössischen Religionswissenschaft und ihren Problemstellungen. Wüst hatte es hauptsächlich Hauer zu danken, dass er 1935 die Nachfolge des in München emeritierten Hanns Oertel antreten konnte.56 Währenddessen kam es zu einer engen Kooperation zwischen beiden und zu gemeinsamen Anstrengungen, das Studium der arischen Weltanschauung an den Universitäten zu stärken bzw. umgekehrt auch die deutsche Indologie von noch vorhandenen jüdischen Elementen zu säubern. Das zunächst so kameradschaftliche Verhältnis kühlte allerdings schnell wieder ab. Wüst sah in Hauer nun weniger den Förderer seiner Interessen als einen Konkurrenten, der seine Stellung im NS-Wissenschaftsbetrieb gefährden konnte. Wüst entstammte einem sehr stark protestantisch geprägten Elternhaus und nahm es Hauer offensichtlich übel, dass dieser mehrfach versuchte, ihn auf die Seite der Deutschen Glaubensbewegung zu ziehen. Vor dem Dritten Reich hatte sich Wüst – wie Wilhelm Brachmann – lange Zeit im Umfeld der protestantischen Ostasienmission bewegt, die in Konkurrenz zur Basler Missionsgesellschaft stand, für die Hauer als Missionar in Indien gewesen war. Zusammen mit Brachmann gehört Wüst dem erweiterten Herausgeberkreis der Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft an und noch 1931 nahm er mit einem Vortrag an der Jahresversammlung der evangelischen Ostasienmission in Basel teil. Erst in der Begegnung mit Herman Wirth löste sich Wüst von der Religion seiner Kindheit, ohne jedoch zu einem 55 56
Seine Habilitationsschrift erschien unter dem Titel Vesta. Untersuchungen zum indogermanischen Feuerkult als Beiheft zum Archiv für Religionswissenschaft, Leipzig 1943. Siehe dazu und zum Folgenden Horst Junginger, Das ‚Arische Seminar’ an der Universität Tübingen 1940-1945, a.a.O., S. 191ff.
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ausgesprochenen Gegner des Christentums zu werden.57 Hauer trat dagegen als Prophet einer neuen Religion auf den Plan. Im Gegensatz zu diesem sah sich Wüst in erster Linie als Wissenschaftspolitiker und als Vertreter einer Arischen Kulturwissenschaft. 1939 gelang es dem Ahnenerbe mit dem Archiv für Religionswissenschaft das Hauptorgan der deutschen und internationalen Religionsforschung übernehmen zu können.58 Schon 1933 hatte es durch den Teubner Verlag und 1936 durch die neu eingesetzten Herausgeber Friedrich Pfister und Otto Weinreich Versuche gegeben, das Archiv für Religionswissenschaft gleichzuschalten und dem Nationalsozialismus anzunähern. Doch erst Walther Wüst und Heinrich Harmjanz machten aus ihm 1939 ein genuin nationalsozialistisches Organ. War in Pfisters programmatischem Artikel von 1936 trotz einer deutlichen Ideologisierung noch die Verpflichtung auf einen herkömmlichen Wissenschaftsbegriff erkennbar, handelte es sich bei Wüsts zum neuen Jahrgang 1939 geschriebenen und die neue Linie erläuternden Artikel um politische Propaganda mit wissenschaftlichen Versatzstücken.59 Die Religionsgeschichte der Indogermanen diente Wüst lediglich als Steinbruch, dem er Material zur Untermauerung der Politik und Ideologie des Dritten Reiches entnahm. Ein religiöses Anliegen traditioneller Art ist bei Wüst, wie auch beim Ahnenerbe insgesamt, nicht zu erkennen. Allenfalls könnte man hier von einer neuen Form der civil religion sprechen. 4.4. Antisemitismus als Religionswissenschaft Der völkische Impuls machte sich nicht nur außerhalb sondern auch innerhalb des Christentums bemerkbar. Besonders im Protestantismus entfaltete sich nach 1933 eine völkische Theologie, die in Anknüpfung an ältere Volkskirchenmodelle im Dritten Reich und in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft den Geschichtswillen Gottes am Werke sah. Am deutlichsten trat die völkische Ideologie bei den Deutschen Christen zu Tage. Bei ihrem Bestreben, sich als gute Staatsbürger oder sogar als die besseren Nationalsozialisten zu profilieren, fanden sie in einem Jahrhunderte alten kirchlichen Antijudaismus einen Anknüpfungspunkt und ein Gebiet, auf dem sie sich den ‚Neuheiden‘ weit überlegen zeigen konnten. Durch die Übernahme des Rassegedankens glaubten die Deutschen Christen, über eine gewissermaßen naturwissenschaftliche Begründung für die spirituelle Überlegenheit des Christentums zu verfügen. In der Reaktion auf Vorwürfe, wonach die christliche Religion ein Ausläufer des Judentums sei, wurde von ihnen gerade umgekehrt behauptet, dass ein größerer Gegensatz zwischen der jüdischen Gesetzesreligion und der Lehre Jesu überhaupt nicht denkbar sei. Weder dem Fleisch noch dem Geist nach sei Jesus Jude gewesen, das Christentum müsse als Teil der arischen Geschichtsentwicklung verstanden werden. Der Tübinger Neutestamentler Gerhard Kittel brachte die christliche Substitutionstheorie und den damit verbundenen Anspruch, die jüdische Religion mit etwas Neuem und Besse-
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Eine umfangreiche Rezension von Wüst (Gedanken über Wirths ‚Aufgang der Menschheit’, in: Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft, 1929, S. 257-274 und S. 289-307) zeigt, dass er Ende der 1920er Jahre die christliche Religion und die Sinnbildforschung Wirths noch für miteinander vereinbar hielt. Etwa zur gleichen Zeit mussten die beiden kirchlichen Zeitschriften mit einem religionsgeschichtlichen Schwerpunkt ihr Erscheinen einstellen, die katholische Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 1937 und die evangelische Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft 1939. Friedrich Pfister, Die Religion und der Glaube der germanischen Völker und ihrer religiösen Führer (Archiv für Religionswissenschaft, 1936, S. 1-14) und Walther Wüst, Von indogermanischer Religiosität. Sinn und Sendung (ebd., 1939, S. 64-108, wiederabgedruckt in ders., Indogermanisches Bekenntnis, Berlin 1942, S. 51-91).
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rem überwunden zu haben, mit der Aussage auf den Punkt, dass man im Neuen Testament das antijüdischste Buch der Weltgeschichte zu sehen habe.60 Doch im 20. Jahrhundert konnte die Behauptung einer jüdischen Inferiorität, zumal sie sich auch sehr stark auf Bereiche außerhalb der Religion bezog, nicht mehr allein religiös und mit dem Argument des falschen Glaubens begründet werden. Es leuchtet daher unmittelbar ein, dass es auf deutschchristlicher Seite zu Versuchen kommen musste, den Gegensatz zwischen Judentum und Christentum nicht ausschließlich theologisch sondern religionswissenschaftlich zu belegen. Eine Neigung, die christlichen Judenfeindschaft mit den Methoden der Allgemeinen Religionsgeschichte zu legitimieren, findet sich bei vielen protestantischen Theologen. Besonders ausgeprägt war sie an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Jena, wo der ehemalige Kittelschüler Walter Grundmann (19061976) 1936 einen Lehrauftrag und 1938 einen Lehrstuhl für Völkische Theologie und Neues Testament erhielt. Dass dies ohne vorherige Habilitation erfolgen konnte, hatte Grundmann zum einen der Fürsprache Eugen Mattiats und zum anderen dem nationalsozialistischen Theologen Wolf Meyer-Erlach (1891-1982) zu verdanken, der selbst im November 1933 ohne Promotion und Habilitation Ordinarius für Praktische Theologie geworden war.61 Wegen seiner pronazistischen Einstellung wurde Meyer-Erlach vom Reichserziehungsministerium 1935 sogar zum Rektor der Universität Jena berufen. Auf Grund dieser auch für nationalsozialistische Maßstäbe beispiellosen Cliquenwirtschaft konnten noch einige andere Theologen an der Universität Jena Karriere machen. Dennoch gelang es Mattiat, Meyer-Erlach und Grundmann nicht, die Universität Jena zu einer von den Deutschen Christen dominierten nationalsozialistischen Eliteuniversität auszubauen. Zu den der SS nahestehenden Kräften, die das verhindern konnten, zählte insbesondere der Rassenhygieniker und Leiter des Thüringischen Landesamtes für Rassewesen Karl Astel, der seit 1939 auch das Rektorat der Universität Jena innehatte. Sein wichtigster Mitarbeiter Lothar Stengel von Rutkowski (1908-1992) war Hauptstellenleiter des Dozentenbundes und stand der Deutschen Glaubensbewegung nahe. Von Rutkowskis Versuch, in der Philosophischen Fakultät eine neue religionsgeschichtliche Professur zu etablieren und mit Jakob Wilhelm Hauer bzw. Hermann Mandel zu besetzen, ließ sich wegen der an der Thüringischen Landesuniversität obwaltenden Machtverhältnisse aber gleichfalls nicht realisieren. Stattdessen erhielt der den Deutschen Christen nahestehende Otto-Schüler Friedrich Weinrich (geb. 1905) im Jahr 1939 eine Dozentur und 1943 eine außerplanmäßige Professur für Allgemeine Religionsgeschichte. Unter maßgeblicher Beteiligung von Jenaer Theologen wurde im Mai 1939 auf der Eisenacher Wartburg ein antisemitisches Forschungsinstitut ins Leben gerufen. Es trug den Namen Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben und stand unter der Leitung Walter Grundmanns.62 Da sich eine Anbin60
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Gerhard Kittel, Die Judenfrage, a.a.O., S. 61. Kittel wiederholte dieses Diktum mehrere Male und sogar noch nach 1945 hielt er daran fest. Siehe zu Kittel bes. Horst Junginger, Das Bild der Juden in der natioansozialistischen Judenforschung, in: Andrea Hoffmann u.a., Hg., Die kulturelle Seite des Antisemitismus zwischen Aufklärung und Schoah, Tübingen 2006, S. 171-220, hier S. 196. Siehe die Personalakten Grundmanns und Meyer-Erlachs im Universitätsarchiv Jena und Wolfgang Schenk, Der Jenaer Jesus. Zu Werk und Wirkung des völkischen Theologen Walter Grundmann und seiner Kollegen, in: Peter von der Osten-Sacken, Hg., Das mißbrauchte Evangelium. Studien zu Theologie und Praxis der Thüringer Deutschen Christen, Berlin 2002, S. 167-279 und S. 348-420 bzw. allgemein zur Jenaer Universität Uwe Hoßfeld, Hg., ‚Kämpferische Wissenschaft’. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln 2003. Zu den wenigen, die sich mit der Geschichte dieses Instituts beschäftigten, gehört die amerikanische Historikerin Susannah Heschel. Von ihren Veröffentlichungen darüber sei pars pro toto genannt: Deutsche Theologen für Hitler. Walter Grundmann und das Eisenacher ‚Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben’, in: Fritz Bauer Institut, Hg., ‚Beseitigung des jüdischen Einflusses...’. Antisemitische Forschung, Eliten und Karrieren im Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1999, S. 147-167.
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dung an die Universität Jena als unmöglich herausstellte, blieb das Institut eine von etwa zehn evangelischen Landeskirchen getragene kirchliche Einrichtung. Zu den groß aufgezogenen Jahrestagungen kamen bis zu 600 Teilnehmer, darunter zahlreiche Hochschulprofessoren und viele Pfarrer. Wie bereits im Institutsnamen ersichtlich wollte man die Bibel, die Gesangbücher und die Kirche insgesamt von jüdischen Einflüssen befreien. Dazu wurde eine ganze Reihe von Arbeitskreisen ins Leben gerufen, die bestimmte Teilaspekte der ‚Judenfrage‘ religionsgeschichtlich thematisierten. Ebenso veranstaltete man zwei große religionswissenschaftliche Konferenzen, die 1942 und 1943 unter skandinavischer Beteiligung in Weißenfels bei Halle stattfanden. Einer der Mitarbeiter dieser Tagungen, der Schwedischlektor Åke Ohlmarks, erhielt noch im November 1944 die Leitung eines neu gegründeten religionswissenschaftlichen Instituts an der Universität Greifswald.63 Der in der Arbeit des „Entjudungsinstituts“ zum Ausdruck kommende Antisemitismus ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Zum Teil war er auch erschreckend vulgär und bediente sich völkischer und rassischer Ideologeme, um eine besondere Kompetenz des Protestantismus im Kampf gegen die behauptete Verjudung Deutschlands hervorzuheben. Außer dem Eisenacher Institut existierte noch eine Handvoll weiterer extrauniversitärer Forschungseinrichtungen mit einer eindeutig antisemitischen Zielrichtung. Die bedeutendste unter ihnen war zweifellos die Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschland, die 1936 im Beisein von acht Hochschulrektoren in München gegründet wurde und die in vielfältiger Weise mit dem Universitätsbetrieb in Verbindung stand.64 Auch die Forschungsabteilung Judenfrage sah es als ihre Aufgabe an, politischen Lösungsansätzen für das Judenproblem wissenschaftlich vorzuarbeiten. Mit Arbeitstagungen, Vortragsreihen, mit entsprechenden Publikationen und dem Aufbau einer antisemitischen Bibliothek, wie auch mit Gutachten und der Beratung von Politikern ließ sich Theorie und Praxis in einer ganz anderen Weise miteinander verknüpfen, als das an den Universitäten selbst möglich war. Gerhard Kittel, der bei weitem renommierteste Wissenschaftler des Reichsinstituts, hatte in der Forschungsabteilung Judenfrage das Referat für Religionswissenschaft inne. Gleichwohl vertrat er konventionelle theologische Positionen, die er aber rassisch unterlegte und als genuin nationalsozialistisch ausgab. Als Spezialist für die Religionsgeschichte des Neuen Testaments wollte Kittel historisch belegen, dass die Juden schon zu Zeiten Jesu eine große Gefahr für ihre Umwelt bedeuteten. Im Unterschied zu antichristlichen Antisemiten und auch im Gegensatz zu den Vertretern des Eisenacher Instituts ließ Kittel die eigentliche Verfallsgeschichte des Judentums erst mit der Kreuzigung Jesu beginnen. Dadurch konnte er am Alten Testament und auch an der theoretischen Möglichkeit festhalten, über die Bekehrung der Juden zu einer Lösung der ‚Judenfrage‘ zu kommen. Von den Eisenachern wurde die Judenmission dagegen strikt abgelehnt und als Einfallstor für eine rassische Verunreinigung des deutschen Volkskörpers bezeichnet. Der Hauptgedanke von Kittels Theorie bestand darin, den christlichen als den besseren Antisemitismus auszugeben. Nur wenn man das Rassische und das Religiöse als zwei Seiten einer Münze ansehe, sei man in der Lage, das Problem radikal, d.h. an seiner Wurzel anzupacken. In mehreren Aufsätzen legte Kittel dar, dass erst ein falsch verstandenes Humanitätsdenken und die damit einhergehende Öffnung des Christentums für aufklärerische und emanzipatorische Ideen das moderne Judenproblem hervorgebracht hätten. Nach einem über viele Jahrhunderte mit großem Erfolg praktizierten Ausschluss der Juden aus der christlichen Gesellschaft seien nun nicht nur die äußeren Ghettotore geöffnet sondern auch die geistigen Barrieren gegen das Judentum abgebaut worden, so dass 63 64
Siehe Fritz Heinrich, Das Religionswissenschaftliche Institut der Ernst Moritz Arndt UniversitätGreifswald 1944-1945, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 5, 1997, S. 203-230. Siehe dazu bes. Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland, Stuttgart 1966.
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die Juden in den Staat eindringen und ihn von innen her zersetzen konnten. Weil die Weimarer Republik für Kittel das Ende dieser Verfallsgeschichte darstellte, sah er im Auftreten Adolf Hitlers die entscheidende weltgeschichtliche Wende, die es verhinderte, dass, wie einst das Römische, nun auch das Deutschen Reiche von den Juden gänzlich unterhöhlt und schließlich zum Einsturz gebracht wurde.65 Kittel galt nicht nur im Reichsinstitut als der führende Judenkenner des Dritten Reichs. Auch das Reichserziehungsministerium sah in ihm den maßgeblichen Vertreter einer neuen nationalsozialistischen Judentumskunde und offerierte ihm mehrfach die Übernahme eines entsprechenden Lehrstuhls. Doch weil sich die religionspolitischen Verhältnisse mittlerweile geändert hatten, wäre dafür ein Wechsel in die Philosophische Fakultät die Voraussetzung gewesen. Einen Austritt aus der Theologischen Fakultät lehnte Kittel aber kategorisch ab. Insofern traf es sich günstig, dass einer seiner besten Schüler zugleich Theologe und Orientalist war. Dieser, Karl Georg Kuhn (1906-1976), hatte seit 1936 in der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen einen Lehrauftrag für die Geschichte des Judentums inne.66 Dort wurde Kuhn im Jahr 1942 zum ersten Professor im nationalsozialistischen Deutschland ernannt, dessen Lehrauftrag in einem eindeutig antisemitischen Sinn dem Studium der Judenfrage vorbehalten war. Kuhn, der sich schon vor der Machtergreifung der NSDAP angeschlossen und den Kittel 1936 in die Forschungsabteilung Judenfrage mitgebracht hatte, avancierte sehr schnell zum aufsteigenden Stern einer neuen nationalsozialistischen Judenwissenschaft. Sein Arbeitsschwerpunkt lag auf dem Gebiet der religionsgeschichtlichen Erforschung und Interpretation des Talmud. Kuhn glaubte aus dem Talmud und dem rabbinischen Schrifttum den Nachweis führen zu können, dass die Juden den Christen schon immer mit größter Feindschaft begegnet seien. Die jüdischen Religionsgesetze, so Kuhn, seien für die Juden eine Art Freibrief, der ihnen erlaube, alle moralischen Regeln außer Kraft zu setzen, um ihre politischen Ziele zu verwirklichen. Kittel, von dem diese Ansicht ausging, behauptete sogar, dass der Talmud den Mord an den Nichtjuden gutheiße, falls dadurch die jüdischen Weltherrschaftspläne befördert werden könnten.67 Die Art und Weise, wie hier argumentiert und aus jüdischen Quellen zitiert wurde, führte eine seriöse theologische Hermeneutik und Hundert Jahre Bibelwissenschaft ad absurdum. Statt der gebotenen religionsgeschichtlichen Kontextualisierung las man den Talmud als ein wörtlich zu verstehendes Geschichtsbuch, wobei die Lektüre ganz offensichtlich durch christliche Vorurteile bestimmt wurde. Ähnliche Aussagen ließen sich auch aus dem Alten und Neuen Testament und anderen heiligen Schriften wie dem Koran extrahieren. Im Falle des Talmud und einer verfemten Religion wie der jüdischen schien es aber erlaubt oder sogar geboten zu sein, die Errungenschaften und Methoden der religionsgeschichtlichen Forschung außer Kraft zu setzen. Der völkische Wissenschaftsbegriff verlangte es ja gerade, dass Objektivität und Allgemeingültigkeit nicht allgemein sondern nur innerhalb eines rassischen oder völkischen Bereichs gelten dürften und dass statt dessen die Ungleichheit des Menschen der Schlüssel zum Verständnis der Welt sei. Aber noch in einer anderen Hinsicht muss die NS-Judenforschung als eine Pervertierung der Wissenschaft 65
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Siehe etwa Kittels Aufsatz Staatsbürgertum ohne völkische Verpflichtung bedeutet nationalen Untergang und soziales Chaos. Das Beispiel der jüdischen Zersetzung des Ersten Römischen Imperiums, der im Schulungsbrief der NSDAP (6. Folge 1939, S. 239-246) in einer Auflage von 4,7 Millionen erschien, oder den auf einen Vortrag in Wien zurückgehenden Artikel Die Entstehung des Judentums, in: Die Welt als Geschichte, H. 1/3, 1943, S. 68-82. Siehe die Personalakte Kuhns sowie die Dekanatsakten der Philosophischen Fakultät im Universitätsarchiv Tübingen (UAT 126a/284, 131/119 und 131/124). Gerhard Kittel, Die Behandlung des Nichtjuden nach dem Talmud, in: Archiv für Judenfragen. Schriften zur geistigen Überwindung des Judentums, 1943, S. 7-17. Es handelte sich hier um ein von der Antisemitischen Aktion des Propagandaministerium herausgegebenes Organ.
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angesehen werden. Es war immer gesagt worden, dass man den Juden die Erforschung des Judentums wegen ihrer angeblichen Voreingenommenheit nicht selbst überlassen dürfe. Die nationalsozialistische Judentumskunde trat de facto an die Stelle der jüdischen Religionsforschung, die sich in ersten Anfängen in der Weimarer Republik zu entfalten begonnen hatte. Die Kuhnsche Professur bildete somit das Gegenstück zu jener Universitätsprofessur für jüdische Theologie bzw. jüdische Religionswissenschaft, die man den Juden immer verweigert hatte. 5. Alte Fragen, neue Antworten Durch die politische Entwicklung nach dem 1. Weltkrieg erhielt die akademische Religionsforschung in Deutschland einen starken Auftrieb. Die in der Weimarer Reichsverfassung erstmals gesetzlich verankerte Gleichstellung aller Religionen entsprach der religionswissenschaftlichen Maxime, wonach in der „allgemeinen“ Religionsgeschichte alle Glaubensweisen als prinzipiell gleich zu gelten haben. Damit ging zwangsläufig eine Relativierung christlicher Absolutheits- und Totalitätsansprüche einher, die noch die Situation im Kaiserreich gekennzeichnet hatten. Als weitere Konsequenz zog die Weimarer Demokratie unweigerlich eine stärkere Trennung von Staat und Kirche nach sich, bei der das Christentum mehr oder weniger weit in den Bereich der privaten Lebensführung abgedrängt wurde. Die Dislokation der Religion aus dem Staat in die bürgerliche Gesellschaft spiegelte sich in der Religionswissenschaft in der Auffassung wieder, dass die Religiosität des Religionsforschers seine Privatangelegenheit sei, die im Gegensatz zur Theologie, wo das persönliche Glaubensbekenntnis zu den unabdingbaren Voraussetzungen gehört, auf keinen Fall die religionswissenschaftliche Arbeit beeinträchtigen dürfe. Trotz der eigentlich klaren und unzweideutigen Gesetzeslage hatte man in der Religionswissenschaft nur sehr verschwommene Vorstellungen darüber, welche Folgen sich aus einer säkulare(re)n Verfassung für die Religion im Allgemeinen und für die Religionsforschung im Besonderen ergaben. War die religionswissenschaftliche Programmatik in diesem Punkt früher einmal ihrer Zeit voraus gewesen, hinkte sie nun der politischen Entwicklung hinterher. Elementare Fragen wie die nach dem Status der Religion in der Gesellschaft, im Staat, in der Kultur, nach dem Verhältnis von Religion und Wissenschaft oder nach dem von Religionswissenschaft und Theologie wurden aus theoretischen und praktischen Erwägungen heraus so gut es ging gemieden. Dass man die Frage nach der Wahrheit einer Religion für unbeantwortbar und ihre Ausklammerung zu einem Hauptprinzip der Religionswissenschaft erklärte, führte zu der paradoxen Situation, dass mit dem religiösen Wahrheitsanspruch das Wichtigste jeder Religion als religionswissenschaftlich irrelevant bezeichnet wurde. Gleichzeitig ging damit eine Aufwertung der Religion „an sich“, d.h. einer Religiosität in abstracto einher, der viele Religionswissenschaftler große Aufmerksamkeit schenkten, die aber außerhalb ihrer produktiven Einbildungskraft zu keiner Zeit existierte. Indem man solche erkenntnistheoretischen Fragen nicht zu Ende dachte oder aus der religionswissenschaftlichen Theoriebildung ausklammerte, konnten sie in der Schwebe und einem angenehmen Halbdunkel verbleiben. Das sollte sich nach 1933 als schwerer Fehler herausstellen. Die Geschichte der Religionswissenschaft im Dritten Reich kann kaum anders als die Geschichte einer gescheiterten Emanzipation und der Wiederkehr des Verdrängten geschrieben werden. Der von vielen Deutschen als Bedrohung und Fragmentierung ihrer Lebensverhältnissse wahrgenommene Prozess der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung, auch auf dem Gebiet der Religion, fand nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten ein vor allem für die deutschen Juden gewaltsames Ende. Schien die religionspolitische Entwicklung zunächst
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auf eine Erneuerung traditioneller Beziehungen zwischen Staat und Kirche hinauszulaufen, zeigte sich sehr bald, dass der nationalsozialistische Leitbegriff des Glaubens mit einem herkömmlichen Religionsverständnis nur bedingt vereinbar war. Dabei nahm nicht die Bedeutung der Religion als solcher ab sondern die der Institution Kirche und ihrer traditionellen Lehrauffassung. Die Rückkehr der Religion in den Staat erfolgte in der Form einer freieren, nicht mehr in dem Maße an kirchliche Dogmen gebundenen Gläubigkeit, in denen zivilreligiöse Ausdrucksweisen kollektiver Repräsentation eine wichtige Rolle spielten. Dass dies zur Auflösung des Christentums und zu einer neuen paganen Staatsreligion geführt hätte, scheint schon allein deshalb unwahrscheinlich, weil 1945 noch immer weit über 90 Prozent der deutschen Bevölkerung einer der beiden Kirchen angehörten. Der Streit zwischen ‚Neuheidentum‘ und Christentum hatte auch wesentlich weniger Einfluss auf die deutsche Gesellschaft und die politische Entwicklung im Dritten Reich, als es von den Protagonisten der einen oder anderen Richtung selbst empfunden wurde. Die Reduktion dieser Auseinandersetzungen, in denen es letztlich um die Frage der Modernisierung von Religion ging, auf einen Glaubenskampf zwischen Gut und Böse, zwischen richtiger und falscher Religiosität, wie sie für viele Arbeiten aus dem Bereich der so genannten Kirchenkampfgeschichtsschreibung charakteristisch ist, reproduziert lediglich die Positionen und Illusionen der zeitgenössischen Akteure. Hans Buchheims Glaubenskrise im Dritten Reich (Stuttgart 1953) ist ein Beispiel dafür, wie sehr auch die säkulare Geschichtswissenschaft davon beeinflusst werden konnte. Seine Interpretation der mutmaßlichen „Glaubenskrise“ beruht auf solchen Kirchenkampftopoi und zu einem nicht geringen Teil auf Deutungen, die ihm Jakob Wilhelm Hauer in persönlichen Gesprächen übermittelt hatte. Was ist aber von Hauers fixer Idee bezüglich der 3000-jährigen Glaubensgeschichte der Indogermanen und ihrer Kulminierung im Dritten Reich zu halten? Es grenzt fast schon an Größenwahn, dass ein ausgewiesener Religionshistoriker wie Hauer zu der Meinung gelangen konnte, am Schreibtisch seines Arbeitszimmers durch das Studium des altarischen Schrifttums einen neuen Deutschen Glauben nicht nur „erfinden“ sondern auch in den Rang einer Staatsreligion erheben zu können. Eine derart abenteuerliche Mischung aus Naivität und Hybris erstaunt in höchstem Maße. Im Grunde genommen wollten Hauer und andere Repräsentanten einer deutschgläubigen Weltsicht ihre traditionelle Religionsauffassung überhaupt nicht aufgeben und lediglich neuen Wein in die alten Schläuche füllen. Dass die hierfür gekelterten Trauben oftmals den alten Rebstöcken entstammten, schien sie dabei nicht weiter gestört zu haben, eher im Gegenteil. Nicht wenige Glaubenselemente der neuen Religion gingen auf eine liberale Dogmen- und Kirchenkritik zurück, die erst in der Begegnung mit der außerchristlichen Religionswelt zu einer Abkehr vom Christentum geführt hatten. Einen vergleichsweise moderneren Ansatz als Hauer vertraten die im Umfeld von Alfred Rosenberg und Heinrich Himmler tätigen Religionsforscher. Nicht weil sie bessere Religionswissenschaftler gewesen wären, sondern weil ihnen ein starker religiöser Antrieb fehlte. Sie wären nie auf die Idee gekommen, ihre Beschäftigung mit dem Ariertum in die Gründung einer neuen Religion überzuleiten oder gar selbst pagane Riten durchzuführen. Da in ihren Augen eine gänzlich religionslose Einstellung der Staatsloyalität abträglich sein musste, war die indogermanische Glaubensgeschichte für sie vor allem im Hinblick auf ihre mögliche Instrumentalisierbarkeit und ihre Funktion als Herrschaftsinstrument von Belang. In einem noch allgemeiner auf die sozialintegrative Funktion von Religion abzielenden Sinn kann die Konzeption von Gustav Mensching als Prototyp einer modernen und in jedem politischen System anschlussfähigen Religionswissenschaft gelten. Bei ihm hatte sich ein konkreter religiöser Impuls zugunsten einer allgemeinreligiösen, für alle Religionen und in allen Gesellschaftsformen gleichermaßen gültigen Sinndeutung verflüchtigt. Ob er einen Lehrauftrag für Systematische Theologie in der Evangelisch-theologischen oder
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einen für Vergleichende Religionswissenschaft in der Philosophischen Fakultät wahrnahm, ob er als Professor im Dritten Reich oder in der Bundesrepublik lehrte, spielte letztlich keine Rolle. Seine religionssystematischen Überlegungen, die darauf abhoben, eine der neuen Zeit angepasste Metatheorie des Religiösen zu entwickeln, blieben davon unberührt. Die erkenntnistheoretische Leerstelle einer religiösen Vorbedingung der Religionswissenschaft wurde von ihm nicht als Manko sondern als das religionswissenschaftliche Spezifikum schlechthin aufgefasst. Nachdem der christliche Offenbarungsbegriff seine gesellschaftliche Bedeutung stark eingebüßt und sich auch für eine allgemeine Theorie des religionswissenschaftlichen Verstehens als ungeeignet erwiesen hatte, boten sich wie von selbst andere Platzhalter für jenes unbekannte X der Religionsgeschichte an. Insofern erstaunt es wenig, dass sich die Idee der Rasse und des Volkes als neue Bestimmungsfaktoren für das Wesen einer Religion und für eine zeitgemäße Religionssystematisierung geradezu aufdrängten. Mit wenigen Ausnahmen lief die Entwicklung in der Religionswissenschaft deshalb auf eine rassische Religionsphänomenologie hinaus, wobei man, wie das Beispiel Menschings und Hauers zeigt, durchaus über die Frage streiten konnte, wie weit das Rassische letztlich in das Religiöse hineinreicht. Diese innere Wesensverwandtschaft und eine im Grundsätzlichen gleiche Denkstruktur war auch der Grund dafür, warum beide nach 1945 mit einem so gut wie identischen Modell der religiösen Toleranz an die Öffentlichkeit treten und es der Religionswissenschaft als neues Leitbild offerieren konnten. Nur wenige Religionswissenschaftler bestritten die Relevanz der nationalsozialistischen Rassenidee prinzipiell. Nicht gewillt, das Studium der Religionsgeschichte dem völkischen Wissenschaftsprinzip unterzuordnen und nach rassischen Prinzipien auszurichten, zogen sie sich auf die angestammten Bereiche der historischen und philologischen Arbeit zurück, betrieben Einzelforschung und enthielten sich allgemeiner methodologischer Überlegungen. Ob man hier von einer Form der inneren Emigration sprechen kann, sei dahingestellt. Jedenfalls konnte die Weimarer Religionswissenschaft auf diese Weise überwintern, so dass es nach dem Krieg möglich wurde, den abgerissenen Faden wieder aufzunehmen. Allerdings bedurfte es einer längeren Übergangszeit, bis sich die verworrene Situation der ersten Nachkriegsjahre etwas geklärt hatte. Wegen ihrer zum Teil extremen antichristlichen Agitation konnte es nicht ausbleiben, dass die früheren Vertreter der völkischen Religionswissenschaft nach 1945 als erstes entlassen wurden und auf Dauer von der Universität ausgeschlossen blieben. Andererseits gewannen im Zuge der Rechristianisierung des öffentlichen Lebens theologische Impulse in der Religionswissenschaft wieder stärker an Gewicht. Man kann das an der großen Zahl von Pfarrern und Universitätstheologen unter den Mitgliedern der Deutschen Vereinigung für Religionsgeschichte wie auch an den religionswissenschaftlichen Publikationen und Lehrveranstaltungen insgesamt ablesen. Eine Sondersituation bestand an der Universität Leipzig, wo Walter Baetke das in der Weimarer Republik ausgearbeitete religionswissenschaftliche Programm weiterentwickelte. Erschwerend kam für die Religionswissenschaft hinzu, dass die Dialektische Theologie Karl Barths einen dominierenden Einfluss erlangte. Karl Barth war nicht nur der bedeutendste theologische Widersacher des Nationalsozialismus sondern auch ein ausgesprochener Gegner der Allgemeinen Religionsgeschichte, die er von einem ähnlichen Standpunkt wie einst Adolf von Harnack als nicht mit dem christlichen Wahrheitsanspruch vereinbar kritisierte. Barth lehnte schon die im Wort Religion innewohnende Verallgemeinerung als einen Anschlag auf die Einzigartigkeit des Christentums ab. Sich in einer solchen Gemengelage aus unterschiedlichen religiösen, politischen und wissenschaftlichen Interessen zu behaupten, fiel der Religionswissenschaft nicht leicht. Und natürlich gab es viele Religionswissenschaftler, die Grund dazu hatten, eine Aufarbeitung der Zeit des Dritten Reiches tunlichst zu vermeiden und den Blick so schnell als möglich weg von der Vergangenheit auf die Anforderungen der Zukunft zu richten.
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Das einer Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus entgegenstehende Hauptproblem erwuchs der Religionswissenschaft aber weniger aus der persönlichen Interessenlage Einzelner als vielmehr aus der vormaligen Involvierung des Fachs in den so genannten Kirchenkampf. Der ideologisch verdichtete und äußerst komplexe Zusammenhang von Religion, Politik und Wissenschaft macht es unmöglich, die Geschichte der Religionswissenschaft aufzuarbeiten, ohne sich zugleich intensiv mit der christlichen wie nichtchristlichen Religionsgeschichte des Dritten Reiches zu beschäftigen. Dabei braucht kaum besonders hervorgehoben werden, dass von einer religionswissenschaftlichen Warte aus die hegemonialen Auseinandersetzungen zwischen ‚Neuheidentum‘, Christentum und nationalsozialistischem Staat an vielen Stellen in einem anderen Licht erscheinen.68 Wenn man außerdem bedenkt, dass die erste religionswissenschaftliche Dissertation über die Deutsche Glaubensbewegung erst 1993 veröffentlicht wurde, wird vielleicht erklärlich, warum die Religionswissenschaft im Nationalsozialismus über einen so langen Zeitraum unerforscht blieb. Zwar fanden gelegentlich Seminare zu einzelnen Themen und Fachvertretern statt, zu einer systematischen Aufarbeitung kam es aber erst in den 1990er Jahren.69 Bereits einige Jahre vorher hatte in der Religionswissenschaft jedoch eine Grundsatzdiskussion über das Wesen und die Aufgaben der akademischen Religionsforschung eingesetzt, die ansatzweise schon in der Weimarer Republik geführt worden war. Wie lassen sich die religiösen Gegenstände in der Religionswissenschaft angemessen objektivieren und in eine systematische Ordnung bringen? Worin besteht der Unterschied zwischen einer religiösen und einer religionswissenschaftlichen Erkenntnis? Gibt es allgemeine Gesetze oder verallgemeinerbare Strukturen in der Religionsgeschichte? Wie wird religiöses Verhalten durch nichtreligiöse Faktoren beeinflusst? Bei der Suche nach Antworten auf diese Fragen wurde die Religion wieder neu in der menschlichen Kulturentwicklung verortet und die Religionswissenschaft daher als Teildisziplin einer allgemeinen Kulturwissenschaft verstanden. Dass dabei die Gegenstände der Religionswissenschaft nicht mehr die der Religion sein können,70 liegt auf der Hand. Durch die Anthropologisierung der Religionsgeschichte eröffneten sich der Religionswissenschaft vielversprechende neue Blickfelder. Man kann in der Tat sagen, dass die Bedeutung und die Autonomie einer in der Kulturwissenschaft angesiedelten Religionsforschung davon abhängen, inwieweit Faktizität und Logizität ihre Methodenlehre bestimmen. Die versäumte Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich hat unter anderem der Tendenz Vorschub geleistet, Religion und Wissenschaft wieder als eine organische Einheit zu denken und in der Form einer Religionstheologie zu reartikulieren. Eine betont kulturwissenschaftliche Ausrichtung der Religionswissenschaft vermag dem entgegenzuwirken, auch wenn die Gefahr nicht ganz von der Hand zu weisen ist, dass dabei andere wichtige Aspekte der menschlichen Religionsgeschichte sozialer, psychologischer, kognitiver oder auch ökonomischer Art über Gebühr in den Hintergrund geraten können. Die Entwicklung der Religionswissenschaft im Nationalsozialismus sollte eine Warnung sein, elementare Prinzipienfragen über das Verhältnis der Religionswissenschaft zu ihrem Gegenstand auf die leichte Schulter zu nehmen. Spätestens in Zeiten politischer Krisen muss sich das als verhängnisvoll erweisen.
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Wie die von Richard Steigmann-Galls Buch The Holy Reich. Nazi Conceptions of Christianity ausgelöste Debatte zeigt, scheint sich mittlerweile in der Historiographie der Religions- und Kirchengeschichte der nationalsozialistischen Zeit ein Paradigmenwechsel anzudeuten. Der vorliegende Beitrag stellt eine Zusammenfassung meiner Forschungen dar, die ich im Rahmen von zwei DFG-Projekten zwischen 1996 und 2003 durchführte. So die plakative Formulierung von Burkhard Gladigow in seinem einleitenden Artikel über die Gegenstände und den wissenschaftlichen Kontext von Religion, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hg. von Hubert Cancik u.a., Bd. 1, Stuttgart 1988, S. 26-40, bzw. S. 32.
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1. Die Gleichschaltung der Pädagogik Seinen totalitären Ambitionen entsprechend war der Nationalsozialismus seit der „Machtübernahme“ bestrebt, das gesamte Erziehungs- und Bildungswesen zu einem geschlossenen Formations- und Indoktrinationsapparat auszugestalten.1 Dies gelang ihm infolge der konzeptionellen Armut nazistischer Pädagogik und Bildungspolitik sowie der polykratischen Strukturen unterhalb der Ebene des „Führers“ freilich nicht mit der beabsichtigten Vollständigkeit. Nichtsdestoweniger bewirkten die Gleichschaltung des regulären Schulsystems und der Lehrerbildung2, die Schaffung spezifischer Ausleseschulen3, der Aufbau der Staatsjugend4, die Funktionalisierung der Erwachsenenbildung5 und andere Maßnahmen den Aufbau eines umfassenden Zwangssystems zur „Formung des Volksgenossen“.6 Das zeigt, daß der Nationalsozialismus in hohem Maße an der durchgängigen Okkupation der pädagogischen Handlungsfelder interessiert war; zugleich aber fehlten ihm Konzepte, die eine systematische pädagogische und bildungspolitische Fundierung seiner Vorstöße hätten erkennen lassen. Die maßgebliche Orientierungsbasis, die den massiven Veränderungen im Erziehungsund Bildungsbereich zugrunde lag, stellten die von Hitler in „Mein Kampf“ propagierten „Erziehungs“-Vorstellungen dar, die bis zum Ende des „Dritten Reiches“ das „pädagogi1
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Vgl. Hans-Jochen Gamm (Hg.), Führung und Verführung. Pädagogik des Nationalsozialismus. Eine Quellensammlung, Frankfurt a.M./New York 1984, 2. Aufl. – Karl-Christoph Lingelbach, Erziehung und Erziehungstheorien im nationalsozialistischen Deutschland, Frankfurt a.M. 1987. – Manfred Heinemann (Hg.), Erziehung und Schulung im Dritten Reich, Stuttgart 1980, 2 Bde. (Bd. 1: Kindergarten, Schule, Jugend, Berufserziehung; Bd. 2: Hochschule, Erwachsenenbildung). – Wolfgang Keim, Erziehung unter der Nazi-Diktatur, Darmstadt 1995/97, 2 Bde. (Bd. I: Antidemokratische Potentiale, Machtantritt und Machtdurchsetzung; Bd. II: Kriegsvorbereitung, Krieg und Holocaust). Vgl. dazu Rolf Eilers, Die Nationalsozialistische Schulpolitik. Eine Studie zur Funktion der Erziehung im totalitären Staat, Köln/Opladen 1963. – Kurt-Ingo Flessau, Schule der Diktatur. Lehrpläne und Schulbücher des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1979. – Elke Nyssen, Schule im Nationalsozialismus, Heidelberg 1979. – Harald Scholtz, Erziehung und Unterricht unterm Hakenkreuz, Göttingen 1985. – Renate Fricke-Finkelnburg (Hg.), Nationalsozialismus und Schule. Amtliche Erlasse und Richtlinien 1933-1945, Opladen 1989. – Reinhard Dithmar (Hg.), Schule und Unterricht im Dritten Reich, Neuwied 1989. – Alexander Hesse, Die Professoren und Dozenten der preußischen Pädagogischen Akademien (1926-1933) und Hochschulen für Lehrerbildung (1933-1941), Weinheim 1995. Vgl. Horst Ueberhorst (Hg.), Elite für die Diktatur. Die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten 19331945. Ein Dokumentarbericht, Düsseldorf 1969. – Harald Scholtz, Nationalsozialistische Ausleseschulen. Internatsschulen als Herrschaftsmittel des Führerstaates, Göttingen 1973. Vgl. Arno Klönne, Hitlerjugend. Die Jugend und ihre Organisation im Dritten Reich, Hannover/Frankfurt a.M. 1957. – Hans Christian Brandenburg. Die Geschichte der HJ. Wege und Irrwege einer Generation, Köln 1968. – Hansjoachim Wolfgang Koch, Geschichte der Hitlerjugend. Ihre Ursprünge und ihre Entwicklung 1922-1945, Percha am Starnberger See 1979. – Martin Klaus, Mädchen in der Hitlerjugend. Die Erziehung zur „deutschen Frau“, Köln 1980. – Heinz Boberach, Jugend unter Hitler, Düsseldorf/Bindlach 1990. – Gabriele Kinz, Der Bund Deutscher Mädel. Ein Beitrag zur außerschulischen Mädchenerziehung im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1990. – Gisela Miller-Kipp (Hg.), „Auch Du gehörst dem Führer“. Die Geschichte des Bundes Deutscher Mädel (BDM) in Quellen und Dokumenten, Weinheim/München 2001. Helmut Keim/Dietrich Urbach (Hg.), Volksbildung in Deutschland 1933-1945. Einführung und Dokumente, Braunschweig 1976. – Georg Fischer, Erwachsenenbildung im Faschismus. Eine historischkritische Untersuchung über die Stellung und Funktion der Erwachsenenbildung zwischen 1930 und 1945, Bensheim 1981. Ulrich Herrmann (Hg.), „Die Formung des Volksgenossen“. Der „Erziehungsstaat“ des Dritten Reiches, Weinheim/Basel 1985.
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sche Dogma des Nationalsozialismus“ blieben.7 Sie ließen sich auf wenige betont antiintellektualistische, aus sozialdarwinistischen und völkischen Vorstellungen gespeiste Appelle reduzieren, insbesondere die des „Heranzüchtens kerngesunder Körper“, der „Erziehung zum Deutschtum“, der Entfaltung der „Instinkte“, der Vorbereitung für den Heeresdienst und der Erzeugung von Gehorsam und Opferwilligkeit im vermeintlichen Dienste der „Volksgemeinschaft“.8 Eine kohärente Erziehungstheorie ließ sich daraus nicht herleiten, wie der Nationalsozialismus dann theoretisch auch zu keinem Zeitpunkt eine „neue Pädagogik“ hervorzubringen in der Lage war; bildungspolitisch hat er vorfindbare pädagogische Strömungen nach jeweiliger Interessenlage gefördert, toleriert, behindert oder verboten.9 Was in diesem Sinne generell für das Verhältnis des Nationalsozialismus zu den Erziehungs- und Bildungsbereichen zu konstatieren ist, gilt auch für sein Verhältnis zur Wissenschaft schlechthin10 und zur Erziehungswissenschaft im Besonderen: Bei faktischer Konzeptionsarmut, entbehrender Detailklarheit und hochgradiger Kompetenzen-Problematik wurden gleichwohl möglichst umfassende Formierung und Infiltration angestrebt. Bei seinem Machtantritt verfügte der Nationalsozialismus über „keinerlei wissenschaftspolitische Konzepte“, die Universitäten waren „terra incognita für die NS-Führung“.11 Einig war man sich allenfalls über die „Arisierung“, die allgemeine Verpflichtung des Hochschullebens auf den Nationalsozialismus und die Einführung des „Führerprinzips“. Durchgeführt wurde – insbesondere auf der Basis des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom April 1933 und in den meisten Fällen unter Berufung unter den „Arierparagraphen – die „Säuberung“ von „rassisch“ und politisch unerwünschten Hochschulmitgliedern: Allein bis 1936 wurden insgesamt 1.145 Personen (14,34 %) des 1932/33 amtierenden Lehrkörpers aus ihren Stellungen entlassen, 1938 betraf die Vertreibung bereits ein Drittel der ehemaligen Belegschaft; über 2.000 Hochschullehrer, darunter rd. 750 Ordinarien, trieb es in die Emigration.12 Zudem wurde gleich 1933 durch ministerielle Erlasse die traditionelle Hochschulstruktur beseitigt, indem Senate und Fakultäten entmachtet, vom Ministerium zu ernennende Rektoren zu „Führern“ der Universitäten und von den Rektoren zu ernennende Dekane zu „Führern“ der Fakultäten wurden. Die Reichs-Habilitations-Ordnung vom Dezember 1934 sah die politische Schulung in Gemeinschaftslagern und Dozentenakademie vor, verlangte den „Ariernachweis“, politische „Zuverlässigkeits“-Belege und die Beurteilung der angehenden Hochschullehrer 7 8 9 10
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Hubert Steinhaus, Hitlers pädagogische Maximen. „Mein Kampf“ und die Destruktion der Erziehung im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M./Bern 1981, S. 16. Adolf Hitler, Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band, München 1942, 691.-695. Aufl., S. 452 ff., 122, 267, 276 ff. – Dazu: Steinhaus (wie Fn. 7), S. 65 ff. Vgl. Peter Dudek, „Der Rückblick auf die Vergangenheit wird sich nicht vermeiden lassen“. Zur pädagogischen Verarbeitung des Nationalsozialismus in Deutschland (1945-1990), Opladen 1995, S. 237. Vgl. Heinemann (wie Fn. 1), Bd. 2. – Hellmut Seier, Universität und Hochschulpolitik im nationalsozialistischen Staat, in: K. Malettke (Hg.), Der Nationalsozialismus an der Macht. Aspekte nationalsozialistischer Politik und Herrschaft, Göttingen 1984, S. 143-165. – Jörg Tröger (Hg.), Hochschule und Universität im Dritten Reich, Frankfurt a.M./New York 1984. – Peter Lundgreen (Hg.), Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt a.M. 1985. – Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, München/London/New York/Paris 1991/92, 2 Bde. (Bd. I: Der Professor im Dritten Reich. Bilder aus der akademischen Provinz; Bd. II: Die Kapitulation der Hohen Schule. Das Jahr 1933 und seine Themen). – Michael Grüttner, Wissenschaft, in: W. Benz/H. Graml/H. Weiß (Hg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997, S. 135-153. Grüttner (wie Fn. 10), S. 135. – Geoffrey J. Giles, Die Idee der politischen Universität. Hochschulreform nach der Machtergreifung, in: Heinemann (wie Fn. 1), Bd. 2, S. 50-60, hier: S. 55. Hartmut Titze, Hochschulen, in: D. Langewiesche/H.-E. Tenorth (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. V: 1918-1945. Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, München 1989, S. 209-240, hier: S. 225. – Seier (wie Fn. 10), S. 146.
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durch den NS-Dozentenbund (NSDDB) und Parteistellen. Faktisch bewirkten die Innovationen eine chaotische Situation; Konflikte zwischen Rektoren, NSDDB, NS-Studentenbund (NSDStB) und örtlichen Parteistellen waren häufig.13 Die weitreichende Unklarheit der Universitätsstruktur nach der „Machtergreifung“ nutzte der NSDStB, der an bereits vorgängig stark ausgeprägte elitaristische, nationalistische und antisemitische Traditionsgehalte in der Studentenschaft anknüpfen und schon seit Mitte der zwanziger Jahre auffällige Erfolge bei den Wahlen zu den studentischen Gremien verzeichnen konnte14, um durch Randalierakte, Denunziationen und politische Forderungen Druck zugunsten einer raschen nationalsozialistischen Umgestaltung auszuüben. Er spielte – mit Billigung der Partei – bei der „Gleichschaltung“ vielerorts eine maßgebliche Rolle, die er aber nach der Entmachtung der SA 1934 nicht mehr behaupten konnte.15 Das im Mai 1934 als reichseinheitliche Steuerungsinstanz geschaffene Reichserziehungsministerium (REM) erwies sich als unfähig, das Hochschulchaos zu beseitigen, zumal der Minister Rust, der auch eine einheitliche Schulpolitik nicht durchzusetzen vermochte, als Studienrat an Hochschulfragen wenig interessiert war. Zudem war sein Ministerium bald mit diversen Konkurrenten konfrontiert, so mit Rosenberg, der seit 1934 als Hitlers Beauftragter für die Überwachung der gesamten weltanschaulichen Schulung und Erziehung der „NS-Bewegung“ fungierte und – seinerseits durch etliche Rivalen eingeschränkt – weitreichende Kompetenzansprüche anmeldete, so mit der 1934 gebildeten Hochschulkommission der NSDAP unter dem Dermatologen Wirz, die Mitte der dreißiger Jahre indes bedeutungslos wurde, so mit dem NSDDB unter dem Mediziner Schultze. Die „Gleichschaltung“ der Wissenschaften bediente sich nicht nur der Vertreibung mißliebiger Hochschulmitglieder, sondern auch der Neugründung und der – gegenüber den Mitteln von Verbot und Zensur häufig vorgezogenen – Übernahme von Fachzeitschriften16 und einer weitreichenden Akzeptanz rascher Bekennergesten, die zwar bald den Spott über die „Märzgefallenen“ hervorriefen, der nationalsozialistischen Konzeptionsarmut jedoch einstweilen entgegenkamen. So war die „Gleichschaltung“ de facto über weite Strecken eine „Selbstgleichschaltung“.17 Man hat die bereits vor der „Machtergreifung“ überwiegend nationalkonservative Hochschullehrerschaft18 als 1933 hochgradig bekennerhaft betrachtet19, aber auch darauf hingewiesen, daß sich „nur“ 1,2 % der Hochschullehrer vor 1933 öffentlich zu Hitler bekannt haben und ein massenhafter Zulauf von Wissenschaftlern erst nach den Märzwahlen erfolgte, während ihm zuvor offenbar eine verbreitete Angst vor Prestigeverlust im Wege gestanden habe; man hat konstatiert, daß NS-Bekenntnisse nicht eo ipso Wissenschaftskarrieren im „Dritten Reich“ verbürgten und noch von den 1937/38 neu auf deutsche Lehrstühle 13
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Vgl. hierzu und zum Folgenden: Karl Dietrich Bracher, Die Gleichschaltung der deutschen Universität, in: Freie Universität Berlin (Hg.), Universitätstage 1966: Nationalsozialismus und die deutsche Universität, Berlin 1966, S. 126-142. – Seier (wie Fn. 10). – Peter Lundgreen, Hochschulpolitik und Wissenschaft im Dritten Reich, in: ders., Wissenschaft (wie Fn. 10), S. 9-30. – Grüttner (wie Fn. 10). Schon zu Beginn der Weimarer Zeit waren rd. 60 % der Studierenden in stark rechtsorientierten Korporationen organisiert. Vgl. dazu und zur weiteren Entwicklung des Rechtstrends in der Studentenschaft: Hans Peter Bleuel/Ernst Klinnert, Deutsche Studenten auf dem Weg ins Dritte Reich. Ideologien – Programm – Aktionen 1918-1935, Gütersloh 1967. – Anselm Faust, Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund. Studenten und Nationalsozialismus in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1973, 2 Bde. – Michael H. Kater, Studentenschaft und Rechtsradikalismus in Deutschland 1918-1933. Eine sozialgeschichtliche Studie zur Bildungskrise in der Weimarer Republik, Hamburg 1975. Vgl. für eine lokalbezogene Exemplifizierung: Edgar Weiß/Elvira Weiß, Pädagogik und Nationalsozialismus. Das Beispiel Kiel, Kiel 1997, S. 172 ff. Vgl. Lingelbach (wie Fn. 1), S. 152 f. Bracher (wie Fn. 13). Vgl. Fritz Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933, Stuttgart 1983. Hans Peter Bleuel, Deutschlands Bekenner. Professoren zwischen Kaiserreich und Diktatur, Bern/München/Wien 1968.
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Berufenen lediglich die Hälfte der Partei angehörten. Erst in der Endphase des „Dritten Reiches“ dürften zwei Drittel aller Hochschullehrer NSDAP-Mitglieder gewesen sein, wobei dieser Anschluß bevorzugt von jungen Assistenten, Privatdozenten und Extraordinarien, die noch in den Rang eines Ordinarius aufzusteigen gedachten, gesucht worden zu sein scheint, so daß die Parteimitgliedschaft in vielen Fällen eher auf das Motiv der Karriereabsicherung als auf wirkliche politische Überzeugung zurückzuführen wäre.20 Nichtsdestoweniger lassen Huldigungsadressen und andere Indizien die lange vorherrschende, im übrigen schon von NS-Funktionären propagierte21 Auffassung, die eigentliche Eroberung der Katheder habe erst 1933 begonnen22, zumindest als relativierungsbedürftig erscheinen.23 Universitäres Kompetenzenchaos, nazistisches Bekennertum vor 1933, Vertreibung mißliebiger Hochschulmitglieder, Selbstgleichschaltung – all dies betraf auch die in den Universitäten und der akademischen Lehrerbildung beheimatete Erziehungswissenschaft. Es gab „Hitlers Pädagogen“24, die es unternahmen, die parteioffiziellen Vorgaben mit dem Anschein von Wissenschaftlichkeit zu versehen, die also mehr oder minder prätentiös aufbereiteten, was man in diesen Kreisen für Pädagogik hielt und andere später – in Erkenntnis der Schwierigkeit einer positiven Bestimmung – mit negativen Wendungen wie „Zerstörung der Person“, „Perversion“, „Verführung“ oder „Un-Pädagogik“ zu fassen versucht haben.25 Als „Chef-Ideologen“ in diesem Sinne gelten gewöhnlich Ernst Krieck und Alfred Baeumler, die beide bereits vor der „Machtergreifung“ keinen Zweifel an ihrer pronazistischen Haltung gelassen hatten.26 Die Verfolgungen und Vertreibungen, die sich ohne nennenswerte Reaktionen aus den Reihen der Hochschulen vollzogen, betrafen zahlreiche Pädagoginnen und Pädagogen, unter ihnen solche, die bis dahin mit verschiedenen Hochschulaufgaben betraut waren, so u.a. Paul Honigsheim, Fritz Karsen, Carl Mennicke, Anna Siemsen, Paul Tillich und Hans Weil.27 Protest war unterdessen auch unter Erziehungswissenschaftlern selten, – mehrheitlich hatten sie, der Situation in anderen Kulturwissenschaften entsprechend, bereits vor 1933 Positionen vertreten, die wesentliche Gemeinsamkeiten mit der nationalsozialistischen „Weltanschauung“ aufwiesen. „Neben verschiedenen Gruppen sozialistischer Pädagogen“, so läßt sich für das antifaschistische Potential in der Erziehungswissenschaft der vornationalsozialistischen Zeit feststellen, „hat sich vor 1933 lediglich Fr. W. Foerster kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt“.28 20 21
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Seier (wie Fn. 10), S. 145, 157. – Grüttner (wie Fn. 10), S. 147. Vgl. dazu etwa Aharon F. Kleinberger, Gab es eine nationalsozialistische Hochschulpolitik?, in: Heinemann (wie Fn. 1), Bd. 2, S. 9-30, hier: S. 11. – Anselm Faust, Professoren für die NSDAP. Zum politischen Verhalten der Hochschullehrer 1932/33, in: Heinemann (wie Fn. 1), Bd. 2, S. 31-49, hier: S. 31f. Vgl. z.B. Helmut Kuhn u.a., Die deutsche Universität im Dritten Reich. Eine Vortragsreihe der Universität München, München 1966. Bracher (wie Fn. 13). – Faust, Professoren (wie Fn. 21). Hermann Giesecke, Hitlers Pädagogen. Theorie und Praxis nationalsozialistischer Erziehung, Weinheim/München 1993. Fritz Stippel, Die Zerstörung der Person. Kritische Studie zur nationalsozialistischen Pädagogik, Donauwörth 1957. – Hans Günther Assel, Die Perversion der politischen Pädagogik des Nationalsozialismus, München 1969. – Gamm (wie Fn. 1). – Herwig Blankertz, Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Wetzlar 1982, S. 272 ff. Vgl. Karl-Heinz Dickopp, Nationalsozialistische Pädagogik, in: J. Speck (Hg.), Geschichte der Pädagogik des 20. Jahrhunderts. Von der Jahrhundertwende bis zum Ausgang der geisteswissenschaftlichen Epoche, Bd. 2, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1978, S. 122-150. – Keim, Erziehung unter der NaziDiktatur (wie Fn. 1), Bd. I, S. 165 ff. Vgl. etwa Keim, Erziehung unter der Nazi-Diktatur (wie Fn. 1), Bd. I, S. 174 ff. Lingelbach (wie Fn. 1), S. 272, Anm. 281. – Vgl. auch Friedrich Wilhelm Foerster, Erlebte Weltgeschichte 1869-1953, Nürnberg 1953. – Bernd Weber, Pädagogik und Politik vom Kaiserreich zum Fa-
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Das damit angedeutete Defizit repräsentierten vor allem die von den neuen Machthabern zu „Hochschulen für Lehrerbildung“ umgestalteten Pädagogischen Akademien, in denen die Quote der „eilfertigen Bekenner“ besonders hoch war und der Anteil der NSDAPMitglieder bereits gleich nach 1933 über 90 % betrug.29 Aber auch an den Universitäten vollzogen viele der zu den vormaligen „Mandarinen“ (Ringer) zählenden Pädagogen eine mehr oder weniger weitreichende Selbstgleichschaltung, die es etwa den die Erziehungswissenschaft vor 1933 maßgeblich prägenden Hauptrepräsentanten der „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“30 zunächst generell erlaubte, in ihren angestammten Stellungen zu verbleiben, wenngleich ihr Einfluß deutlichen Einschränkungen unterworfen wurde.31 Darauf wird zurückzukommen sein; zunächst aber soll der sich uneingeschränkt zum Nationalsozialismus bekennenden Hochschulpädagogik und ihren bekanntesten Vertretern nachgegangen werden. 2. NS-Pädagogik Eine kohärente nationalsozialistische Erziehungstheorie gab es, wie bereits erwähnt, nicht, und offensichtlich war – von wenigen Ideologemen abgesehen – auch für eifrige Nazisten zunächst keineswegs klar, wie eine der NS-„Ideologie“ entsprechende Pädagogik en detail auszusehen hätte: „Da der Nationalsozialismus über ein stringentes ideologisches System nicht verfügte, war auch die Entwicklung einer verbindlichen nationalsozialistischen Erziehungstheorie kaum möglich. Stattdessen versuchten die nationalsozialistischen Pädagogen ihre Theoriegebäude auf bestimmten Aspekten und Inhalten der Parteidoktrin, die sie für ‚grundlegend‘ hielten, aufzubauen. Die Verbindlichkeit der so entstehenden konkurrierenden pädagogischen Systeme hing nicht zuletzt vom Grad ihrer Übereinstimmung mit der jeweiligen nach taktischen Gesichtspunkten ständig modifizierten Parteilinie ab.“32 Dementsprechend ist es kaum verwunderlich, daß sich einzelne Auffassungen der NSPädagogen deutlich unterschieden und zu verschiedenen Zeitpunkten verschiedene Positionsmarkierungen jeweils am ehesten als Ausdruck des offiziellen Standpunktes galten, zumal der für das System charakteristische „Kompetenzendarwinismus“33 gerade auch den Erziehungs- und Bildungsbereich in starkem Maße prägte.34 Die jeweiligen Machtverteilungen innerhalb der Polykratie auf Partei- und Staatsebene spiegelten sich auch im jeweiligen Einfluß der konkurrierenden NS-pädagogischen Positionen. Für die nationalsozialistischen Pädagogen war in diesem Kontext entscheidend, in
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schismus. Zur Analyse politischer Optionen von Pädagogikhochschullehrern von 1914-1933, Königstein 1979. Hesse (wie Fn. 2). – Alexander Hesse, Die preußischen Lehrerbildner 1926-1941. Unmaßgebliche Einladung zu einem Blick über den Tellerrand, in: Erziehungswissenschaft, 6. Jg., 1995, H. 11, S. 82-90, hier: S. 86 f. Für einen instruktiven Überblick: Wilhelm Brinkmann/Waltraud Harth-Peter (Hg.), Freiheit – Geschichte – Vernunft. Grundlinien geisteswissenschaftlicher Pädagogik, Würzburg 1997. Lingelbach (wie Fn. 1), S. 152. – Wolfgang Keim (Hg.), Pädagogen und Pädagogik im Nationalsozialismus. – Ein unerledigtes Problem der Erziehungswissenschaft, Frankfurt a.M./Bern/New York/Paris 1988. Lingelbach (wie Fn. 1), S. 158 f. Klaus Hildebrand, Nationalsozialismus oder Hitlerismus?, in: M. Bosch (Hg.), Persönlichkeit und Struktur in der Geschichte. Historische Bestandsaufnahmen und didaktische Implikationen, Düsseldorf 1977, S. 55-61, hier: S. 56. Für die bildungspolitische Zuständigkeits-Gemengelage, in die auf den höheren Ebenen mit wechselnden Einflüssen insbesondere Frick, Rust, Rosenberg, Schirach, Ley, Bormann, Bouhler und Heißmeyer involviert waren, vgl. allgemein Eilers (wie Fn. 2), S. 114 ff.
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welchem Maße es ihnen gelang, „die konservativ-revolutionären Grundlagen ihrer vor der ‚Machtergreifung‘ entwickelten Theorien mit den Tendenzen der nationalsozialistischen Kulturpolitik in Übereinstimmung zu bringen.“35 Wie erwähnt, können insbesondere Krieck und Baeumler – in verschiedenen Systemphasen mit unterschiedlichem Einfluß – als führende NS-Pädagogen gelten. Krieck36, ein aufstiegswilliger Volksschullehrer aus Baden, der auf der Basis autodidaktischer Studien bereits in der wilhelminischen Ära zum beachteten Publizisten avanciert war, entstammte ideologisch dem Umkreis der „Konservativen Revolution“: Er gehörte zu den Anhängern und Beratern Moeller van den Brucks und war seit 1918 Mitarbeiter der jungkonservativen Zeitschrift „Die Tat“. 1922 erschien seine „Philosophie der Erziehung“, aufgrund derer ihm die Philosophische Fakultät der Universität Heidelberg 1923 den Titel eines Ehrendoktors verlieh. Einen 1924 ergangenen Ruf an die TH Dresden lehnte Krieck ab, um als freier Schriftsteller einstweilen in Heidelberg zu bleiben. 1928 übernahm er als Nachfolger Georg Reichweins den Lehrstuhl für systematische Pädagogik an der Pädagogischen Akademie Frankfurt. Propagandatätigkeiten für die NSDAP, in die er dann 1932 eintrat, führten 1931 zu seiner Versetzung nach Dortmund, bereits im folgenden Jahr konnte er jedoch wieder nach Frankfurt zurückkehren. 1933, nach der „Machtergreifung“, wurde er zum Ordinarius für Philosophie mit pädagogischen Lehrverpflichtungen an die Universität Frankfurt berufen, deren Rektor er – reichsweit erster Nationalsozialist in dieser Stellung – durch eine wenig transparente „Wahl“ des Universitätskonzils ebenfalls sogleich wurde.37 1934 wechselte er an die Universität Heidelberg, an der er 1937 wiederum Rektor wurde. Er verblieb an ihr, bis er 1945 auf Anordnung der amerikanischen Militärregierung aller Ämter enthoben und interniert wurde, – 1947 starb Krieck im Internierungslager Moorsburg in der Pfalz. Kriecks Einfluß hatte seit etwa Mitte der dreißiger Jahre gleichwohl wachsende Einbußen erlitten. Bereits 1937 hatte er sich beim Erziehungsministerium über Zurücksetzungen beschwert, ein Jahr später bewirkten Konflikte mit Rosenberg und anderen seinen Austritt aus der SS, seine Niederlegung des Rektorenamtes und seinen allgemeinen Rückzug aus dem öffentlichen Leben. Als das Propagandaministerium aus außenpolitischen Erwägungen 1942 Streichungen in seinem geplanten Buch „Das Reich als Träger Europas“ veranlaßte, meinte Krieck in einem Brief an Rust, nun könne er „mit der wissenschaftlichen Arbeit Schluß machen“.38 Unterdessen war Kriecks Position in der Anfangszeit des „Dritten Reiches“ überaus 35 36
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Lingelbach (wie Fn. 1), S. 159. Vgl. John Thomale, Bibliographie Ernst Krieck. Schrifttum – Sekundärliteratur – Kurzbiographie, Weinheim/Berlin/Basel 1970. – Lingelbach (wie Fn. 1) – Gerhard Müller, Krieck und die nationalsozialistische Wissenschaftsreform. Motive und Tendenzen einer Wissenschaftslehre und Hochschulreform im Dritten Reich, Weinheim/Basel 1978; dazu kritisch: Benjamin Ortmeyer, Schicksale jüdischer Schülerinnen und Schüler in der NS-Zeit – Leerstellen deutscher Erziehungswissenschaft? Bundesrepublikanische Erziehungswissenschaften (1945/49-1995) und die Erforschung der nazistischen Schule, Witterschlick/Bonn 1998, S. 379 ff. – Klaus Prange, Identität und Politik bei Ernst Krieck. Ein Beitrag zur Pathographie totalitärer Pädagogik, in: G. Groth (Hg.), Horizonte der Erziehung zu aktuellen Problemen von Bildung, Erziehung und Unterricht, Stuttgart 1981, S. 213-233. – Ernst Hojer, Irrationalismus und Diktatur. Betrachtungen zur Pädagogik Ernst Kriecks, in: Pädagogische Rundschau, 22. Jg., 1968, S. 521-533. – Ernst Hojer, Nationalsozialismus und Pädagogik. Umfeld und Entwicklung der Pädagogik Ernst Kriecks, Würzburg 1997. – Ralf Noltensmeier/Edgar Weiß, Über Ernst Krieck. Kieler Berichte aus dem Institut für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Rote Reihe, Nr. 25, Kiel 1992. Vgl. dazu Notker Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule, Bd. I: 1914-1950, Neuwied/Frankfurt a.M. 1989, S. 209 ff. Vgl. Müller (wie Fn. 36), S. 160. – Grüttner (wie Fn. 10), S. 143 f. – Heiber (wie Fn. 10), Bd. II, S. 461 ff.
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einflußreich. In ihrem Zentrum standen die Begriffe „Zucht“, „Menschenformung“, „Typenbildung“ und „funktionale Erziehung“. Als oberstes Erziehungsziel galt Krieck die „Gliedschaft in der Volksgemeinschaft“, die die Verkörperung des jeweiligen „Volkstypus“ verlange.39 „Typenzucht“ werde durch „die soziale Lebensform mit ihren sämtlichen Funktionen“ bzw. durch die Unterwerfung der Individuen unter das jeweilige Gemeinschaftsleben bewirkt, wobei eine wirkungsvolle „Staatszucht“ allemal vom Staat selbst auszugehen habe.40 Letztlich könne Erziehung indes „nur zur Vollendung bringen, was in der Rasse als Anlage vorgegeben ist“, denn in der Rasse sei „die Ganzheit, die schicksalhafte Zugehörigkeit eines Menschenkreises vorgebildet.“41 Nationalsozialistische Erziehung erschien vor diesem Hintergrund als „rassische Zucht“ im Dienste der Vollendung der „nordischen“ Anlagen, die es künftig zu entfalten gelte.42 Auf Kriecks „Nationalpolitische Erziehung“, ein „Standardwerk der NS-Zeit“ mit einer Gesamtauflage von 80.00043, ging der Name der „Nationalpolitischen Erziehungsanstalten“ zurück, auf Kriecks Vorschläge zur Hochschulreform hin wurden am 1.5.1933 die Pädagogischen Akademien reichseinheitlich in „Hochschulen für Lehrerbildung“ mit einem gezielt nationalsozialistischen Ausbildungsprogramm transformiert. Krieck beeinflußte eine Reihe von Pädagogen, darunter Fritz Blättner, Josef Dolch, Wilhelm Hehlmann, Philipp Hoerdt, Oswald Kroh, Wilhelm Lacroix, Rudolf Lochner, Peter Petersen und Karl Friedrich Sturm. Ging sein Einfluß dennoch zunehmend zurück, so geschah dies im Wesentlichen zugunsten Baeumlers, dessen „heroischer Enthusiamus“44 den unmittelbaren Parteiinteressen offenbar besser entsprach: Während Krieck zufolge die NS-Realität den ihr gemäßen Typus noch erst „züchten“ mußte45, präsentierte Baeumler mit seiner aggressiven Glorifizierung des „germanischen Kriegers“ bereits ein fertiges Ideal, das gerade den imperialistischen Bestrebungen des Nationalsozialismus entgegenkam. Er propagierte den Männerbund als soziale Zelle von grundlegender Bedeutung und forderte eine durchgängige Orientierung am „Typus des Soldaten“, dessen „heroische“ Lebensführung dem „nordischen Menschen“ einzig gemäß sei.46 Erziehung habe dafür Sorge zu tragen, daß die „artgemäße“, an „rassische Reinheit“ gebundene Entfaltung dieses Typus zur „Tat“ erfolge, wobei die vermeintliche Notwendigkeit von Raumeroberung und „totaler Wehrbereitschaft“ nachdrücklicher als bei Krieck apostrophiert wurde: „Politische Erziehung“ ist bei Baeumler wesentlich Formung zur Kriegsbereitschaft, zur Einstimmung in die „totale Gemeinschaft“, die im „totalen Krieg“ ihre unverzichtbare Entsprechung habe.47 Baeumler48 hatte 1914 in München bei Külpe mit einer Arbeit über Kants Ästhetik promoviert, 1924 habilitierte er sich an der TH Dresden, an der er 1928 zum Extraordinarius, 1929 zum Ordinarius für Philosophie avancierte. 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48
Ernst Krieck, Die Gestaltung des Unterrichts, Frankfurt a.M. 1939, S. 14. Ernst Krieck, Menschenformung. Grundzüge der vergleichenden Erziehungswissenschaft, Leipzig 1933, 2. Aufl., S. 15, 76, 361. Ernst Krieck, Wissenschaft, Weltanschauung, Hochschulreform, Leipzig 1934, S. 39. – Ernst Krieck, Nationalpolitische Erziehung, Leipzig 1933, 5.6. Aufl., S. 27. Ernst Krieck, Völkisch-politische Anthropologie, Bd. I, Leipzig 1936, S. 74. – Ernst Krieck, Weltanschauliche Entscheidung, Wien/Leipzig 1939, S. 28. Vgl. Keim, Erziehung unter der Nazidiktatur (wie Fn. 1), Bd. I, S. 166. Alfred Baeumler, Männerbund und Wissenschaft, Berlin 1934, S. 5. Krieck, Menschenformung (wie Fn. 40), S. 75, 78; dazu: Lingelbach (wie Fn. 1), S. 91 ff. Baeumler, Männerbund (wie Fn. 44), S. 13. – Alfred Baeumler, Politik und Erziehung. Reden und Aufsätze, Berlin 1937, S. 129. Alfred Baeumler, Bildung und Gemeinschaft, Berlin 1942, S. 21, 32 ff., 161. Vgl. Karl-Heinz Dickopp, Die Voraussetzungen der bildungspolitischen Konzeption Alfred Baeumlers. Ein Beitrag zur Erziehungstheorie des Nationalsozialismus, in: Pädagogische Rundschau, 24. Jg., 1970, S. 425-438. – Winfried Joch, Theorie einer politischen Pädagogik. Alfred Baeumlers Beitrag zur Päda-
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Wie Krieck unterhielt auch er zunächst Kontakte zur „Konservativen Revolution“, in seinem Falle zum „nationalbolschewistischen“ Kreis um Ernst Niekisch. Seit Anfang der dreißiger Jahre stand er der NSDAP nahe, in die er aber erst 1933 nach einer Empfehlung Rosenbergs im Rahmen eines Dringlichkeitsverfahrens eintrat. Im selben Jahr wurde er als Ordinarius und Direktor des Instituts für „Politische Pädagogik“ an die Universität Berlin berufen, zugleich wurde er wissenschaftlicher Leiter der „Deutschen Hochschule für Leibesübungen“. Seine erste Vorlesung bildete den Auftakt zur Bücherverbrennung, an der er in Berlin maßgeblich beteiligt war.49 Mit erziehungswissenschaftlichen Fragen hatte sich Baeumler – zunächst vornehmlich mit Fragen der Ästhetik sowie der Interpretation Bachofens und Nietzsches beschäftigt50 – bis zu diesem Zeitpunkt kaum befaßt. Zwar vertrat er längst eine der NS-“Weltanschauung“ entsprechende irrationalistische Position, aber erst mit „Männerbund und Wissenschaft“ (1934) begann er sich im engeren Sinne pädagogischen Sujets zuzuwenden, denen auch seine Reden und Aufsätze vereinigenden Sammelbände „Politik und Erziehung“ (1937) und „Bildung und Gemeinschaft“ (1942) galten. 1934 wurde Baeumler Referent in Rosenbergs Dienststelle des „Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“, des „Amtes Rosenberg“, das mit der Kontrolle der ideologischen Ausbildung der Parteimitglieder, der Sicherstellung einer ideologisch gesteuerten Vorgeschichtsforschung und der Vorbereitung einer NS-Universität („Hohe Schule“) beauftragt war. Baeumler leitete im „Amt Rosenberg“ bis 1941 das „Amt Wissenschaft“ und damit de facto das Projekt der „Hohen Schule“, das schließlich jedoch in den Anfängen stecken blieb.51 Zudem gab Baeumler mit der „Internationalen Zeitschrift für Erziehung“ und „Weltanschauung und Schule“ zwei führende Organe der NS-Pädagogik heraus.52 1945 verlor Baeumler seine Professur; im Anschluß an eine dreijährige Internierung in den Lagern Hammelburg und Ludwigsburg wurde er in einem Spruchkammerverfahren 1948 zunächst als „belastet“ eingestuft, im folgenden Jahr jedoch im Revisionsverfahren als „Mitläufer“ weitgehend entlastet53, obgleich er zweifellos „stärker noch als Krieck... eigentlicher Repräsentant faschistischer Erziehungsideologie“ war.54 In seinen Schriften der Nachkriegszeit versuchte Baeumler seine Rolle im Nationalsozialismus mit großem Aufwand zu relativieren, wobei er sich als Anwalt eines „besseren“, den „grauenhaften Taten Hitlers“ entgegenwirkenden Nationalsozialismus stilisierte, der positiv auf die „geistige Entwicklung der Partei“ habe einwirken wollen.55
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gogik des Nationalsozialismus, Bern/Frankfurt a.M. 1971; dazu kritisch: Monika Leske, Philosophen im „Dritten Reich“. Studie zu Hochschul- und Philosophiebetrieb im faschistischen Deutschland, Berlin 1990. – Edgar Weiß, Der „heroische Männerbund“ als „erzieherische“ Gemeinschaft – Alfred Baeumlers Konzeption einer „politischen Erziehung“, in: Kritische Pädagogik, 3. Jg., 1998, S. 3-32. Vgl. Léon Poliakov/Josef Wulf, Das Dritte Reich und seine Denker, Berlin 1983, S. 119 f. Vgl. Alfred Baeumler, Kants Kritik der Urteilskraft. Ihre Geschichte und Systematik, Halle 1923. – Alfred Baeumler, Bachofen und Nietzsche, Zürich 1929. – Alfred Baeumler, Nietzsche, der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931. Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970, S. 27 ff, 66 ff. – Reinhard Bollmus, Zum Projekt einer nationalsozialistischen Alternativ-Universität: Alfred Rosenbergs „Hohe Schule“, in: Heinemann (wie Fn. 1), Bd. 2, S. 125-152. – Leske (wie Fn. 48), S. 44 ff. Klaus-Peter Horn, Pädagogische Zeitschriften im Nationalsozialismus. Selbstbehauptung, Anpassung, Funktionalisierung, Weinheim 1996, S. 117 ff. Marianne Baeumler/Hubert Brunträger/Hermann Kurzke, Thomas Mann und Alfred Baeumler. Eine Dokumentation, Würzburg 1989, S. 192. Keim, Erziehung unter der Nazi-Diktatur (wie Fn. 1), Bd. I, S. 169. Baeumler/Brunträger/Kurzke (wie Fn. 53), S. 196 ff., 203 ff. – Alfred Baeumler, Hitler und der Nationalsozialismus. Aufzeichnungen von 1945-47, in: Der Pfahl. Jahrbuch aus dem Niemandsland zwischen Kunst und Wissenschaft, München 1991, S. 159-204.
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Krieck und Baeumler waren – wenngleich nicht bruchlos – die wohl zweifellos einflußreichsten NS-Pädagogen, freilich jedoch keineswegs die einzigen. Neben ihnen bekannte sich etwa Gustaf Deuchler, der sich nach Jahren als Lehrer, Psychologie-Studium und Promotion bei Wilhelm Wundt hauptsächlich mit Sujets der Pädagogischen Psychologie beschäftigte, am Institut für experimentelle Pädagogik des Leipziger Lehrervereins und an der Tübinger Universität tätig war und 1923 auf das erste Hamburger Ordinariat für Erziehungswissenschaften berufen wurde, bereits vor 1933 zum Nationalsozialismus. Deuchler, der schon 1917 einen die „wissenschaftliche“ Unterscheidbarkeit jüdischer und germanischer Schülerinnen ermöglichenden „Rassefaktor“ entdeckt zu haben behauptete, wurde 1932 NSDAP-Mitglied, begab sich seit der „Machtergreifung“ häufig in SA-Uniform in die Hochschule und führte dort „pointiert nationalsozialistische“ Vorlesungen und Seminare durch.56 Eine Reihe von Hochschulpädagogen, die vor 1933 mit dem Nazismus sympathisiert hatten, schwenkte unterdessen nach der „Machtergreifung“ „vollends in die Linie der ‚nationalsozialistischen Erziehungswissenschaft‘ ein“, so etwa Georg Stiehler in Freiburg, Wilhelm Hehlmann in Halle, Erich Jaensch in Marburg, Walter Schulze-Soelde in Greifswald, Otto Schultze in Königsberg und Oskar Kutzner in Bonn.57 Der bekannte und international einflußreiche Reformpädagoge, Schöpfer des „JenaPlans“ und Protagonist einer „pädagogischen Tatsachenforschung“ Peter Petersen, nach Lehrertätigkeiten, Promotion in Jena und Habilitation in Hamburg seit 1923 als Lehrstuhlnachfolger des Herbartianers Wilhelm Rein Pädagogik-Professor an der Universität Jena, galt in den Anfangsjahren des „Dritten Reiches“ gelegentlich neben Krieck als der maßgebliche Pädagoge des Nationalsozialismus.58 In der Tat wies Petersens Pädagogik schon weit vor 1933 deutliche Konvergenzen mit der NS-“Weltanschauung“ auf; seine „Gemeinschaftspädagogik“ stand unter dem Einfluß von Konzepten aus dem Umkreis der „Konservativen Revolution“, ein Anhänger der Weimarer Republik – wie überhaupt der Demokratie – war er nie. Nach der „Machtergreifung“ konnte er unbehelligt weiterarbeiten, zumal er fortan entschieden zur Kollaboration mit den neuen Machthabern bereit war, wenngleich er der NSDAP nicht beitrat und gegenüber verschiedenen Parteipositionen – etwa der der Identifikation von „Volk“ und „Rasse“ – auf Distanz blieb. Seine Schriften versah er unterdessen mit explizit pronazistischen Bekenntnissen; Petersen lobte die NSDAP als „erzieherische“ Macht, den Einbezug des „Soldatischen“ in die Erziehungsrealität und die Einrichtung der Hitlerjugend, er betrachtete die Schüler als eine „Gefolgsgemeinschaft“ und erklärte seine
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Hans Scheuerl, Hamburger Erziehungswissenschaft im „Dritten Reich“, in: EWI-Report. Nachrichten und Kommentare aus dem Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg, Nr. 4, Wintersemester 1991, S. 3-7. – Heiber (wie Fn. 10), Bd. I, S. 397 ff. – Gustaf Deuchler, Rassenunterschiede in der Schulentwicklung mit Hilfe des Koeffizienten r bestimmt, in: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, Bd. XVIII, Leipzig 1917, S. 456-464. Lingelbach (wie Fn. 1), S. 153 f. Josef Dolch, Das pädagogische Schrifttum des anbrechenden Dritten Reiches in Deutschland, in: Internationale Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 3. Jg., 1933/34, S. 418-430, hier: S. 426. – Zum Folgenden: Wolfgang Keim, Peter Petersens Rolle im Nationalsozialismus und die bundesdeutsche Erziehungswissenschaft, in: Die Deutsche Schule, 81. Jg., 1989, S. 133-145. – Ingeborg Maschmann/Jürgen Oelkers (Hg.), Peter Petersen. Beiträge zur Schulpädagogik und Erziehungsphilosophie, Heinsberg 1985. – Tobias Rülcker/Peter Kaßner (Hg.), Peter Petersen: Antimoderne als Fortschritt? Erziehungswissenschaftliche Theorie und pädagogische Praxis vor den Herausforderungen ihrer Zeit, Frankfurt a.M. u.a. 1992. – Edgar Weiß, Erziehung und Gemeinschaft bei Peter Petersen und Adolf Reichwein. Eine Studie zur Frage der pädagogischen Tönnies-Rezeption, in: Tönnies-Forum, 4. Jg., 1995, Nr. 1, S. 6-52. – Hans-Christian Harten/Uwe Neirich/Matthias Schwerendt, Rassenhygiene als Erziehungsideologie des Dritten Reichs. Bio-bibliographisches Handbuch, Berlin 2006, S. 174ff.
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Pädagogik als immer schon offen für „Hygiene, Eugenik, Rassenlehre und Erbwissenschaft“.59 Petersen blieb nicht nur bis zum Ende des „Dritten Reiches“ im Amt, auch in der Nachkriegszeit konnte er zunächst an der Universität Jena verbleiben, bis er – seit 1946 Mitglied der ostdeutschen SPD und dann (nach deren Vereinigung mit der KPD) der SED – nach Konflikten mit der Parteiführung 1950 an der Weiterarbeit gehindert wurde. Sein Versuch, in der Bundesrepublik eine universitäre Stellung zu finden, scheiterte an Einsprüchen, die auf Petersens Rolle im Nationalsozialismus verwiesen. Diesen erklärte Petersen retrospektiv als das Produkt „satanischer Menschen, die sich im Führerkorps... zusammenfanden“ und das ursprüngliche, vermeintlich durchaus positiv zu bewertende eigene „Programm“ schließlich in eine „teuflische“ Variante transformierten. Vor der Beibehaltung nazistischer Ideologeme scheute er dabei keineswegs zurück, nur war es dieser Lesart zufolge jetzt der NS-Führungsstab selbst, auf den jene Stereotypen angewendet werden sollten, die dieser vormals zur antisemitischen Propaganda eingesetzt hatte: die NS-Führung habe „das deutsche Volk rassisch verunreinigt“ und die „Volksgemeinschaft“ nahezu erstickt.60 Eine Reihe weiterer Erziehungswissenschaftler war ebenfalls bemüht, eigene Auffassungen mit den offiziellen Parteivorgaben in Einklang zu bringen oder Beiträge zum Aufbau einer explizit nationalsozialistischen Pädagogik zu unterbreiten. Das gilt etwa für Petersens 1938 in Jena habilitierten Schüler Döpp-Vorwald61, für den Leiter des Pädagogisch-psychologischen Instituts der Universität Leipzig, Hans Volkelt, der die Entwicklung der Lehrerschaft zur „geistige(n) SA des Dritten Reiches“ voranzutreiben gedachte62, und für den an verschiedenen Hochschulen tätigen, von Krieck beeinflußten Psychologen und Pädagogen Bruno Petermann, der eine dem Nationalsozialismus entsprechende Anthropologie formulieren und die Rassentheorie empirisch fundieren wollte.63 Es gilt ebenso für Oswald Kroh64, der seit 1923 als Professor für Psychologie und Pädagogik an der Universität Tübingen tätig war, 1938 nach München, 1942 nach Berlin berufen und 1945 aus politischen Gründen entlassen wurde. 1949, nach immensen Bemühungen um seine Wiedereinstellung, konnte er seine Bestätigung als Ordinarius an der Freien Universität Berlin erwirken. 1954 legte er, immer wieder mit Fürsprachen und Ehrungen bedacht, seine „Revision der Erziehung“ vor, in der er den Eindruck zu erwecken versuchte, entschiedener Anwalt einer an Mündigkeit und Selbsttätigkeit orientierten Pädagogik zu
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Peter Petersen, Bedeutung und Wert des Politisch-Soldatischen für den deutschen Lehrer und unsere Schule, in: Deutsches Bildungswesen, 2. Jg., 1934, S. 1-17. – Peter Petersen (Hg.), Die Praxis der Schule nach dem Jena-Plan, Weimar 1934, insbesondere S. 8 f. und 3 f. – Peter Petersen, Pädagogik der Gegenwart. Ein Handbuch der neuen Erziehungswissenschaft und Pädagogik, Berlin 1937, 2. Aufl. Peter Petersen, Der Mensch in der Erziehungswirklichkeit oder Der Mensch in der vieldeutigen Welt, Mühlheim (Ruhr) 1954, S. 196. Heinrich Döpp-Vorwald, Pädagogischer Realismus als Gegenwartsaufgabe, Weimar 1935. – Heinrich Döpp-Vorwald, Erziehungswissenschaft und Philosophie der Erziehung, Berlin 1941. Hans Volkelt, Lehrerbildung und Universität, München 1934. – Hans-Christian Harten, Rasse und Erziehung. Zur pädagogischen Psychologie und Soziologie des Nationalsozialismus. Ein Forschungsbericht, in: Zeitschrift für Pädagogik, 39. Jg., 1993, S. 111-134, hier: S. 115. Bruno Petermann, Das Problem der Rassenseele. Vorlesungen zur Grundlegung einer allgemeinen Rassenpsychologie, Leipzig 1943, 2. Aufl. – Hesse, Die Professoren und Dozenten (wie Fn. 2), S. 573 ff. – Edgar Weiß, Zur Pädagogik an der Kieler Universität im „Dritten Reich“, in: H.-W. Prahl (Hg.), UniFormierung des Geistes. Universität Kiel im Nationalsozialismus, Bd. I, Kiel 1995, S. 139-169, hier: S. 149 ff. Zum Folgenden: Hein Retter, Oswald Kroh und der Nationalsozialismus. Rekonstruktion und Dokumentation einer verdrängten Beziehung, Weinheim 2001. – Wolfgang Keim, Pädagogik und Nationalsozialismus. Zwischenbilanz einer Auseinandersetzung innerhalb der bundesdeutschen Erziehungswissenschaft, in: Neue Sammlung, 29. Jg., 1989, S. 186-208, hier: S. 191 f. – Harten (wie Fn. 52), passim. – Harten/Neirich/ Schwerendt (wie Fn. 58), S. 151ff.
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sein65, die indes „alles andere als eine wirkliche Revision“ war, sondern vielmehr eine „humanistisch-demokratische Neufrisur“ der faktisch „beibehaltenen biologistischen und ‚völkischen‘ Auffassung von Erziehung und Bildung“ darstellte.66 1934 hatte Kroh, bis heute einer der meistzitierten Repräsentanten der „maturationistischen Entwicklungstheorie“, Hitlers „Erneuerung“ als Erneuerung auch der Anthropologie gefeiert und eine darauf fußende, die Erbbedingtheit seelisch-geistiger Phänomene und den Rassegedanken apostrophierende „völkische Anthropologie“ vorgelegt, die als Grundlage künftiger „deutscher Erziehung“ gedacht war.67 Ähnliche Bestrebungen im Hinblick auf eine betont rassistische nationalsozialistische Erziehungstheorie offerierte Krohs Schüler und Lehrstuhlnachfolger in Tübingen Gerhard Pfahler, der zuvor als Hochschullehrer in Göttingen, Hamburg, Rostock und Gießen tätig war.68 Schließlich sei noch Rudolf Lochner erwähnt, der in Hirschberg eine Professur für „Erziehungswissenschaft und Grenzlandkunde“ innehatte und sich als Repräsentant eines empiristischen Selbstverständnisses und „Grenzlandpädagoge“ in den Dienst des Nationalsozialismus stellte, – ein Umstand, der seiner Nachkriegstätigkeit als Hochschullehrer in Celle und Lüneburg nicht hinderlich war.69 3. Zwischen Affinität und Distanz: Die „geisteswissenschaftliche Pädagogik“ Mit der maßgeblich von Dilthey inspirierten, ihrem Anspruch nach gezielt bei der Erziehungswirklichkeit und ihren jeweiligen Intentionen ansetzenden, die Historizität pädagogischer Phänomene als durchgängigen Bezugspunkt der Theoriebildung betrachtenden und die „relative Autonomie“ der Erziehung im Kontext der verschiedenen Kulturmächte behauptenden sogenannten „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“ wuchs bereits im Kaiserreich eine pädagogische Strömung heran, die dann insbesondere in der Weimarer Epoche zu einer dominierenden Stellung innerhalb der Disziplin gelangte. Ihre Repräsentanten – Herman Nohl, Eduard Spranger, Wilhelm Flitner, Theodor Litt, Erich Weniger, Otto Friedrich Bollnow u.a. – vertraten vor 1933 Positionen, die mit ihren nationalkonservativen und völkisch-organizistischen Elementen einerseits weitreichende Schnittmengen mit den Ideologemen des heraufkommenden Nationalsozialismus aufwiesen; andererseits trennte sie von diesem jene bildungsbürgerliche Reserviertheit, wie sie für das „Madarinentum“, das der „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“ einige charakteristische Gestalten verdankte70, überhaupt bezeichnend war. Diese prinzipielle Mischung aus Affinität und Distanz führte schließlich zumeist zu einer Anpassung, die von einer „beklommenen Begeiste-
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Oswald Kroh, Revision der Erziehung, Heidelberg 1954, S. 116 ff., 141 ff. Joachim S. Hohmann, Vom Elend politischer Bildung. Konservatismus, Nationalismus und Faschismus als Quellen staatsbürgerlicher Erziehung in westdeutschen Schulen, Köln 1985, S. 45. Oswald Kroh, Völkische Anthropologie als Grundlage deutscher Erziehung, Eßlingen 1934. – Oswald Kroh, Vom Leben zur Schule. Vorbetrachtungen zu einer pädagogischen Organologie, in: Zeitschrift für Pädagogik, Psychologie und Jugendkunde, 35. Jg., 1934, S. 1-16. Gerhard Pfahler, Rassenkerne des deutschen Volkes und ihre Gemische, München 1940. – Gerhard Pfahler, Warum Erziehung trotz Vererbung?, Leipzig/Berlin 1943, 5. Aufl. – Dazu: Harten (wie Fn. 52), S. 113 f. Rudolf Lochner, Erziehungswissenschaft, München 1934. – Rudolf Lochner, Grenzland als Erzieher, in: Weltanschauung und Schule, 2. Jg., 1938, S. 46-47. – Rudolf Lochner, Im Grenzraum des Volkes, in: Weltanschauung und Schule, 2. Jg., 1938, S. 77-81. – Thomas Lehmann, Erziehungswissenschaft, Erziehungstheorie und Weltanschauung – Eine historisch-systematische Untersuchung zum Werk Rudolf Lochners, Frankfurt a.M./Bern/New York 1985. Ringer (wie Fn. 18), bes. S. 358 ff.
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rung“71 bis zur selbstverleugnenden Preisgabe ursprünglicher Grundüberzeugungen wie der der „pädagogischen Autonomie“ reichen konnte. Wie erwähnt, konnten die „geisteswissenschaftlichen Pädagogen“ ihre Hochschulstellungen zunächst behalten, und auch ihr Hauptorgan, die von Aloys Fischer72, Nohl, Spranger, Flitner und Litt herausgegebene Zeitschrift „Die Erziehung“, konnte bis 1942 erscheinen.73 Nohl, nach dem Studium bei Dilthey, Paulsen u.a., Promotion (1904) und Habilitation (1908) seit 1919 Extraordinarius in Jena und seit 1922 Ordinarius in Göttingen, wurde unterdessen 1937 – offenbar aufgrund einer Intervention Baeumlers – seines Amtes enthoben.74 Nichtsdestoweniger hatte er sich schon lange vor 1933 an nationalkonservativen, antidemokratischen und antimodernistischen Idealen orientiert.75 Nohl, der insbesondere von den lebensphilosophisch-irrationalistischen Traditionsgehalten deutscher Ideengeschichte angezogene Historiker der „Deutschen“ und der „Reformpädagogischen Bewegung“76, hatte sich vehement für den Aufbau einer – seiner Auffassung nach seit dem Ausgang des von ihm seinerzeit begeistert unterstützten Ersten Weltkrieges77 zerstörten – deutschen „Volksgemeinschaft“, für „deutsche Bildung“ und „Nationalpädagogik“ eingesetzt.78 Die Form des Volkes müsse „zuerst von innen her eine andere werden“, – daß er dies erkannt habe, mache aus, was „die Jugend heute am Nationalsozialismus begeistert und je-
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Adalbert Rang, Beklommene Begeisterung – Sprangers und Flitners Reaktionen auf den Nationalsozialismus im Jahre 1933, in: P. Zedler/E. König (Hg.), Ansätze und Studien zur Rekonstruktion pädagogischer Wissenschaftsgeschichte, Weinheim 1989, S. 263-294. – Adalbert Rang, Spranger und Flitner 1933, in: Keim (Hg.), Pädagogen und Pädagogik im Nationalsozialismus (wie Fn. 31), S. 65-78. – Adalbert Rang, „Ja, aber“. Reaktionen auf den Nationalsozialismus in der Zeitschrift Die Erziehung im Frühjahr 1933, in: H.-U. Otto/H. Sünker (Hg.), Soziale Arbeit und Faschismus, Frankfurt a.M. 1989, S. 250-272. Aloys Fischer (seit 1920 Ordinarius in München), der von der Altphilologie, Geschichte, Philosophie und Psychologie herkam, stark interdisziplinär orientiert und in hohem Maße von Husserls Phänomenologie beeinflußt war sowie eine – verglichen mit seinen „geisteswissenschaftlich-pädagogischen“ Kollegen – auffällige Hinwendung zur empirischen Forschung verkörperte, kann zwar als typischer Vertreter des „Mandarinentums“ gelten (vgl. Ringer, wie Fn. 18, S. 201, 365 ff. u.ö.), aber allenfalls mit Vorbehalten der „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“ zugerechnet werden. Er wurde 1937 – Fischers Frau Paula war Jüdin – zwangsemeritiert und starb im selben Jahr; sein Lehrstuhlnachfolger wurde Oswald Kroh. – Vgl. Hermann Röhrs, Die Pädagogik Aloys Fischers. Versuch einer systematischen Darstellung seines wissenschaftlichen Gesamtwerkes, Heidelberg 1967, 2. Aufl. – Markus Böschen, Über das Problematische im philosophischen und methodologischen Denken von Aloys Fischer (1880-1937) und seine Aktualität für Pädagogik und Geisteswissenschaften, in: Brinkmann/Harth-Peters (wie Fn. 30), S. 134-157. – Retter (wie Fn. 54), S. 111 ff. 1935 trat Flitner von der Schriftleitung, in Fischers Todesjahr 1937 traten Nohl, Litt und Flitner als Herausgeber zurück. Spranger gab das Organ gemeinsam mit seinem Schüler Hans Wenke weiter heraus, bis es 1942 wegen kriegsbedingten Papiermangels eingestellt wurde. – Vgl. Wilhelm Flitner, Gesammelte Schriften, Bd. 1: Erwachsenenbildung, Paderborn u.a. 1982, S. 318 ff. – Klaus Himmelstein, „Wäre ich jung, wäre ich Nationalsozialist...“ – Anmerkungen zu Eduard Sprangers Verhältnis zum deutschen Faschismus, in: W. Keim (Hg.), Erziehungswissenschaft und Nationalsozialismus – Eine kritische Positionsbestimmung, Marburg 1990, S. 39-59, hier: S. 54. Elisabeth Blochmann, Herman Nohl in der pädagogischen Bewegung seiner Zeit, Göttingen 1969, S. 163 ff. Vgl. Weber (wie Fn. 28), S. 121 f. – Erwin Ratzke, Das Pädagogische Institut der Universität Göttingen. Ein Überblick über seine Entwicklung in den Jahren 1923-1949, in: H. Becker/H.-J. Dahms/C. Wegeler (Hg.), Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus. Das verdrängte Kapitel ihrer 250jährigen Geschichte, München u.a. 1987, S. 200-218, hier: S. 204 ff. Herman Nohl, Die Deutsche Bewegung. Vorlesungen und Aufsätze zur Geistesgeschichte 1770-1830, Göttingen 1970. – Herman Nohl, Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, Frankfurt a.M. 1949, 3. Aufl. Vgl. z.B. Herman Nohl, Pädagogische Aufsätze, Langensalza/Berlin/Leipzig 1929, 2. Aufl., S. 146 ff. Herman Nohl, Zur deutschen Bildung I. Deutsch, Geschichte, Philosophie, Göttingen 1926. – Vgl. Hasko Zimmer, Pädagogik, Kultur und nationale Identität. Das Projekt einer „deutschen Bildung“ bei Rudolf Hildebrand und Herman Nohl, in: G. Auernheimer/P. Gstettner (Red.), Pädagogik in multikulturellen Gesellschaften. Jahrbuch für Pädagogik 1996, Frankfurt a.M. 1996, S. 159-177.
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der Erzieher in ihm bejahen muß, auch wo er seiner agitatorischen Praxis, seiner Methode der Gewalt und seiner materialistischen Rassetheorie ablehnend gegenübersteht“.79 Kommt hier bereits die für das „geisteswissenschaftlich-pädagogische“ Verhältnis zum Nationalsozialismus weithin charakteristische „Ja, aber“-Haltung80 deutlich zum Ausdruck, wichen die Vorbehalte bald zunehmender Anpassung. Mit einer Aufsatzsammlung wollte Nohl die Pädagogik kurz vor der „Machtergreifung“ motivieren, sich des „immer menschenleerer werdenden“ deutschen Ostens anzunehmen, der ein – vermeintlich von Polen bedrohter – „Raum ohne Volk“ sei, wie Nohl unter Abwandlung des Romantitels des mit ihm befreundeten völkischen Schriftstellers Hans Grimm formulierte81: Die Pädagogik solle sich auf der Basis einer „nationalpädagogischen“ Orientierung in den Dienst des „Kulturaufbaus“ des Ostens und einer „Reagrarisierung“ Deutschlands stellen. Und schließlich tritt die pädagogische Aufgabe der Vermittlung von „Individual-“ und „Staats-Pol“, die Nohl ursprünglich hatte zur Geltung bringen wollen, nahezu vollends zugunsten der Präponderanz des letzteren zurück. In einer unveröffentlichten Vorlesung von 1933/34 verleiht Nohl seiner Sympathie für die „rassenhygienischen“ Bestrebungen des Nationalsozialismus Ausdruck, wobei er zwar die Tötung Erbkranker ablehnt, ihrer zwangsweisen Sterilisation jedoch das Wort redet und die Familienfürsorge nach dem Kriterium der Erbgesundheit zu gestalten fordert.82 Nohl votiert hier für „eine Rassenpolitik mit der Front gegen Osten, die das weitere Einströmen nicht bloß der jüdischen, sondern auch der slawischen Volkselemente, die den Prozeß der deutschen Rassenbildung stören und die Festigkeit unserer Nationalität lockern, verhindert“.83 Gleichwohl hatte Nohl „nicht-arische“ Freunde – wie den 1935 amtsenthobenen Georg Misch – und Schülerinnen und Schüler, wie Hans Weil, dem 1933 seine Privatdozentur aberkannt wurde, den Sozialpädagogen Curt Bondy, der seiner Göttinger Honorarprofessur enthoben und 1938 für Monate nach Buchenwald gebracht wurde, ehe er schließlich emigrieren konnte, oder die 1933 als Professorin der Pädagogischen Akademie Halle entlassene Elisabeth Blochmann. Andere Schüler und Assistenten Nohls traten unterdessen der NSDAP bei, wie Georg Geißler, Hans Netzer, Wolfgang Scheibe, Jürgen Brake und Otto Friedrich Bollnow, der das Prinzip der „pädagogischen Autonomie“ in seinen Schriften der frühen dreißiger Jahre vollends preisgab, die „totale Universität“ und den „sittlichen Aufschwung“ feierte, „der durch die nationalsozialistische Revolution herbeigeführt“ sei.84 Spranger, 1905 promoviert, 1909 habilitiert, seit 1911 Professor für Philosophie und Pädagogik in Leipzig, seit 1920 in Berlin, war vor der NS-Zeit Verfechter nationalkonservativer Ideale, die er – seit 1917 unterhielt Spranger enge Kontakte zum jeweiligen Kultusministerium – auch in sein bildungspolitisches Engagement einbrachte.85 Die in die Weimarer Zeit 79 80 81 82
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Herman Nohl, Die volkserzieherische Arbeit innerhalb der pädagogischen Bewegung (1932), in: ders., Pädagogik aus dreißig Jahren, Frankfurt a.M. 1949, S. 211-221, hier: S. 216. Rang, „Ja, aber“ (wie Fn. 71). Herman Nohl, Landbewegung, Osthilfe und die Aufgabe der Pädagogik, Leipzig 1933, S. 3, 18. Vgl. Hasko Zimmer, Von der Volksbildung zur Rassenhygiene: Herman Nohl, in: T. Rülcker/J. Oelkers (Hg.), Politische Reformpädagogik, Bern u.a. 1998, S. 515-540. – Karl-Christoph Lingelbach, Das Kind im Widerspruch „Pädagogischen Denkens“, in: ders./H. Zimmer (Red.), Das Jahrhundert des Kindes? Jahrbuch für Pädagogik 1999, Frankfurt a.M. 2000, S. 133-159. – Wolfgang Klafki/Johanna Luise Brockmann, Geisteswissenschaftliche Pädagogik und Nationalsozialismus. Herman Nohl und seine „Göttinger Schule“ 1932-1937, Weinheim/Basel 2002, S. 190 ff. Nohl-Vorlesungstext, zitiert nach Klafki/Brockmann (wie Fn. 82), S. 199. Klafki/Brockmann (wie Fn. 82), passim. – Otto Friedrich Bollnow, Politische Wissenschaft und Politische Universität. Ein Bericht über die Lage, in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, 1933, S. 486-494. – Otto Friedrich Bollnow, Das neue Bild des Menschen und die pädagogische Aufgabe, Frankfurt a.M. 1933, S. 3 f. Vgl. hierzu uind zum Folgenden. Michael Löffelholz, Philosophie, Politik und Pädagogik im Frühwerk Eduard Sprangers 1900-1918, Hamburg 1977. – Ringer (wie Fn. 18), S. 257 ff. – Weber (wie Fn. 28), passim. – Uwe Henning/Achim Leschinsky (Hg.), Enttäuschung und Widerspruch. Die konservative Position Eduard Sprangers im Nationalsozialismus. Analysen – Texte – Dokumente, Weinheim 1991. –
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fallende, im Zeichen der Konservierung von Statushierarchien innerhalb der Pädagogenschaft stehende Einrichtung der Pädagogischen Akademien war von seinen Gedanken zumindest mitbeeinflußt.86 Spranger begrüßte seinerzeit die „Ideen von 1914“, sympathisierte mit der „Konservativen Revolution“ und unterschrieb Wahlaufrufe für Hugenberg; durch die parlamentarische Demokratie, die er grundsätzlich als „mechanisch“ empfand und mit „Volksverhetzung“ und „-demoralisierung“, „Lüge“ und „Bruderhaß im Innern des Volkes“ assoziierte, sah er sich zutiefst beunruhigt.87 Während des „Dritten Reiches“ lavierte er zwischen Affirmation und Verweigerung. „Wäre ich jung“, ließ er brieflich seine die Hitlerbewegung feiernde Freundin Hadlich wissen, „wäre ich Nationalsozialist“.88 Im April-Heft 1933 der Zeitschrift „Die Erziehung“ reagierte Spranger auf die „Märzereignisse“ (Märzwahl, „Tag von Potsdam“, „Ermächtigungsgesetz“), die er als „große Ereignisse“ begrüßte, deren Bedeutung auch durch den nationalsozialistischen – Spranger zufolge lediglich „übersteigerten“ – Antisemitismus nicht geschmälert werde: „Religiös und sittlich unterbaut ist... der Wille zur Volkwerdung..., der den großen positiven Kern der nationalsozialistischen Bewegung ausmacht, mag er auch für manche durch die bloß negative Seite eines übersteigerten Antisemitismus verdeckt werden.“89 Nur scheinbar wird Sprangers Zustimmung zum neuen System durch sein fast gleichzeitiges Entlassungsgesuch anläßlich der Ernennung Baeumlers zum Ordinarius an der Berliner Universität relativiert, das er bereits im Juli 1933 wieder zurückzog. Es änderte, wie er am 30.4.33 an Papen schrieb, nichts daran, daß er sich „mit innerster Überzeugung und Treue“ zu Hitler bekannte90, sondern war lediglich Ausdruck des Protests gegen eine Berufung ohne Befragen Sprangers als damaligem Direktor des Pädagogischen Seminars, der als langjähriger Berater des Ministeriums einen „Führungsanspruch als Volks- und Elitenerzieher“ geltend zu machen gedachte. Gegen die Versetzung Kriecks nach Dortmund hatte Spranger immerhin energisch beim Kultusminister Grimme protestiert.91 Während einer 1936 begonnenen Vortragsreise durch Japan hielt Spranger rd. 80 Vorträge, in denen er sich als „offizieller Vertreter des nationalsozialistischen Deutschland“ gebärdete.92 Allerdings stellte er solches Engagement bald zunehmend ein, und schließlich stieß er noch zur „Berliner Mittwochsgesellschaft“, die auch von Vertretern der Bewegung des 20. Juli als Ort des Informationsaustausches genutzt wurde. Nach dem Hitlerattentat, in das er nicht involviert war, wurde auch Spranger von der Gestapo verhaftet und für die Zeit von 8.9.-10.11.1944 in Moabit inhaftiert.93
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Klaus Himmelstein, Eduard Sprangers Ideal der „Deutschheit“ – Ein Beitrag zur Kontingenzbewältigung in der modernen Gesellschaft?, in: Auernheimer/Gstettner (wie Fn. 78), S. 179-196. Vgl. Helmuth Kittel, Die Entstehung der Pädagogischen Hochschulen 1926-1932. Eine zeitgeschichtliche Studie über das Verhältnis von Staat und Kultur, Berlin/Hannover/Darmstadt 1957, S. 43 ff. – Gerhard Meyer-Willner, Eduard Spranger und die Lehrerbildung. Die notwendige Revision eines Mythos, Bad Heilbrunn 1986. Eduard Spranger, Kultur und Erziehung. Gesammelte pädagogische Aufsätze, Leipzig 1928, 4. Aufl. – Eduard Spranger, Volk – Staat – Erziehung. Gesammelte Reden und Aufsätze, Leipzig 1932, für die Zitate dort S. 191. Himmelstein, „Wäre ich jung...“ (wie Fn. 73), S. 50. Eduard Spranger, März 1933, in: Die Erziehung, 8. Jg, 1933, S. 401-408, hier: S. 403. – Vgl. dazu die Arbeiten Rangs (wie Fn. 71). Heinz-Elmar Tenorth, Eduard Sprangers hochschulpolitischer Konflikt 1933. Politisches Handeln eines preußischen Gelehrten, in: Henning/Leschinsky (wie Fn. 85), S. 91-118, hier: S. 95. Eduard Spranger, Mein Konflikt mit der Hitlerregierung 1933, Tübingen 1955. – Himmelstein, „Wäre ich jung...“ (wie Fn. 73), S. 46 f. – Dickopp, Die Voraussetzungen... (wie Fn. 48), S. 427 f. – Henning/Leschinsky (wie Fn. 85). Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Stuttgart 1986, S. 113. – Keim, Pädagogik und Nationalsozialismus (wie Fn. 64), S. 200. Himmelstein, „Wäre ich jung...“ (wie Fn. 73), S. 39.
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Auch Flitner, Teilnehmer am Ersten Weltkrieg, dann Studienrat und Erwachsenenbildner in Jena, 1912 promoviert, 1923 habilitiert, seit 1926 Professor an der Pädagogischen Akademie in Kiel und seit 1929 Professor der Philosophie und Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg, hat die „Machtergreifung“ zunächst als einen „positiven qualitativen Sprung“ wahrgenommen.94 Er sah im Nationalsozialismus die Chance zur „Vernichtung“ des Bolschewismus und zur Überwindung der von Flitner als Misere erlebten Weimarer Zustände sowie zur Verwirklichung der Ideale der bündischen Jugend, denen er sich tief verbunden fühlte.95 Die für die „geisteswissenschaftliche Pädagogik“ bislang charakteristische Insistenz auf „relativer pädagogischer Autonomie“ erschien ihm nun als „halbwahre“ „Notstandsmaßnahme“, die vor der Unterwerfung unter einen „diffusen damaligen Staatswillen“ – gemeint war die Weimarer Republik – habe schützen sollen, wohingegen eine Einfügung der Pädagogik in eine den Begriff des Politischen „wieder erfüllende“ und den Willen zur Volksgemeinschaft verkörpernde Politik durchaus zu begrüßen sei.96 Gleichwohl setzte bei Flitner später zweifellos ein innerer Distanzierungsprozeß ein, der ihn zur Entwicklung einer äußerlich allerdings weitgehend unauffällig bleibenden „Gegenposition zur NSIdeologie aus der europäischen Geistesgeschichte heraus“ bewog, – während des Krieges unterhielt er nachweislich Beziehungen zur Hamburger „Weißen Rose“.97 Auch andere Vertreter der „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“ waren zu mehr oder weniger weitgehenden Anpassungen an den Nationalsozialismus bereit. Nohls Schüler Erich Weniger, 1933 immerhin wegen angeblicher politischer Unzuverlässigkeit als Professor und Direktor der Pädagogischen Akademie Frankfurt a.M. vom Dienst suspendiert, konnte bald in der Wehrmacht reüssieren. Er wurde Wehrmachtsbetreuungs- und schließlich NS-Führungsoffizier im besetzten Frankreich und verfolgte in mehreren militärpädagogischen Schriften98 das „Ziel, die Kampfkraft der Wehrmacht auf pädagogischem Weg zu verbessern“99. Sprangers Schüler Gerhard Giese, Heinrich Weinstock und Hans Wenke oder Flitners Schüler Fritz Blättner verbanden in „oft brüchigen Synthesen“ entschiedene Bekenntnisse zur NS-“Weltanschauung“ mit Elementen der „geisteswissenschaftlich-pädagogischen“ Tradition.100
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Rang, „Ja, aber“ (wie Fn.71), S. 260. Wilhelm Flitner, Die deutsche Erziehungslage nach dem 5. März 1933, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4: Die Pädagogische Bewegung, Paderborn u.a. 1987, S. 333-341, hier: S. 334 f. – Wilhelm Flitner, Die pädagogsichen Arbeiten der Jungedbünde, in: W. Vesper (Hg.), Deutsche Jugend. 30 Jahre Geschichte einer Bewegung, Berlin 1934, S. 201-225, hier bes. S. 225. – Vgl. In diesem Kontext wiederum die Arbeiten Rangs (wie Fn. 71). 96 Wilhelm Flitner, Rückblick und Vorblick auf die Volksbildungsarbeit. Nachschrift zu Hans Freyers Aufsatz, in: Die Erziehung, 9. Jg., 1934, S. 107-111, hier: S. 109. 97 Wilhelm Flitner, Erinnerungen. 1889-1945. Gesammelte Schriften, Bd. 11, Paderborn u.a. 1986, S. 382. – Wilhelm Flitner, Selbstdarstellung, in: L. J. Pongratz (Hg.), Pädagogik in Selbstdarstellungen, Bd. II, Hamburg 1976, S. 146-197, hier: S. 187 ff. – Hans Scheuerl, Zur Geschichte des Seminars für Erziehungswissenschaft, in: E. Krause u.a. (Hg.), Hochschulalltag im „Dritten Reich“. Die Hamburger Universität 1933-1945, Hamburg 1991, Bd. 2, S. 519-535, hier: S. 527. – Keim, Erziehung unter der NaziDiktatur (wie Fn. 1), Bd. II, S. 90 f. 98 Erich Weniger, Wehrmachtserziehung und Kriegserfahrung, Berlin 1938. – Erich Weniger, Die geistige Führung der Truppe. Das Ethos des deutschen Soldatentums und die Erziehung des deutschen Offiziers, o.O. 1942. – Erich Weniger, Die Erziehung des deutschen Soldaten, Paris 1944. 99 Kurt Beutler, Geisteswissenschaftliche Pädagogik zwischen Politisierung und Militarisierung – Erich Weniger, Frankfurt a.M. 1995, für das Zitat: S. 26. – Kurt Beutler, Militärpädagogische Aspekte bei Erich Weniger. Zum kriegsfördernden Beitrag geisteswissenschaftlicher Pädagogik, in: Keim (Hg.), Erziehungswissenschaft und Nationalsozialismus (wie Fn. 73), S. 60-72. – Barbara Siemsen, Der andere Weniger. Eine Untersuchung zu Erich Wenigers kaum beachteten Schriften, Frankfurt a.M. 1995. 100 Lingelbach, Erziehung und Erziehungstheorien (wie Fn. 1), S. 157 f. – Keim, Erziehung unter der NaziDiktatur (wie Fn. 1), Bd. II, S. 173.
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Lediglich Theodor Litt, 1904 promoviert, Gymnasiallehrer, seit 1919 Extraordinarius in Bonn, seit 1920 als Nachfolger Sprangers Ordinarius an der Universität Leipzig, der er 1931/32 auch als Rektor vorstand, widersetzte sich dem Nationalsozialismus auf eine Weise, die ihn zum diesbezüglichen Ausnahmefall des Kreises der „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“ macht. Litt, gewiß seinerseits nicht ohne den Obrigkeitsstaat apologetisierende Tendenzen und anfangs auch nicht ohne Sympathien für den Nationalsozialismus, geriet schon früh in Konflikte mit der NS-Studentenschaft, hielt vertriebenen jüdischen Kollegen die Treue und gelangte rasch zu einer eindeutigen NS-Gegnerschaft, die dazu führte, daß er 1937 im Alter von 56 Jahren auf eigenen Wunsch emeritiert wurde, 1941 wurde er mit Vortragsverbot belegt. Dem Ansinnen der nationalsozialistischen Machthaber, nachträglich Begründungen „zu feststehenden Lehren“ zu liefern, hatte Litt schon kurz nach der „Machtergreifung“ mutig opponiert, wobei er sich insbesondere mit Entschiedenheit gegen die NS-Rassendoktrin wandte.101 In verschiedenen Publikationen nahm er gegen Rosenberg Stellung, während des Krieges unterhielt er Kontakte zum Widerstandskreis um Goerdeler.102 4. Die Situation nach 1945 und die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität In der Nachkriegspädagogik gelangten zunächst insbesondere die vor 1933 bestimmenden Konzepte, also die Ansätze der „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“, zur abermaligen Vorherrschaft. Die Pädagogischen Hochschulen wurden nach dem Muster der preußischen Pädagogischen Akademien neugegründet, die universitären Lehrstühle für Pädagogik wurden großenteils wieder mit „geisteswissenschaftlichen Pädagogen“ besetzt, die nahezu ungebrochen ihre alten Theoriegehalte unter Abzug ihrer Anpassungsbestrebungen aus der NS-Zeit zur Geltung brachten, ohne sich zu einer diesbezüglich systematisch-kritischen Aufarbeitung veranlaßt zu sehen. Nohl etwa, 1945 wiedereingesetzt und bis zu seiner Emeritierung 1949 in Göttingen tätig, plädierte nun zwar für „Demokratie“, griff aber im wesentlichen auf seine alte Position zurück, in deren Zentrum nach wie vor seine vor 1933 entwickelten „Volksgemeinschafts“-Vorstellungen verblieben. Mit Flitner, Weniger und Bollnow gab er jetzt die Zeitschrift „Die Sammlung“ heraus, die die Tradition der Vorgängerin „Die Erziehung“ fortsetzte und einen überaus defizienten Umgang mit der NSVergangenheit pflegte.103 Er votierte dafür, „anständige Nationalsozialisten... unbedingt in ihren Stellungen zu belassen“104, wie auch Weniger – von 1945-48 Professor an der PH und seit 1949 als Nachfolger Nohls Ordinarius an der Universität in Göttingen – sich nachdrücklich gegen die Re-education wandte.105 101 Theodor Litt, Die Stellung der Geisteswissenschaften im nationalsozialistischen Staate, in: Die Erziehung, 9. Jg., 1934, S. 12-32, hier: S. 15, 21 ff. 102 Vgl. zum Ganzen: Wolfgang Klafki, Theodor Litts Stellung zur Weimarer Republik und seine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, in: P.-M. Roeder (Hg.), Pädagogische Analysen und Reflexionen, Weinheim/Berlin 1967, S. 199-241. – Wolfgang Klafki, Die Pädagogik Theodor Litts. Eine kritische Vergegenwärtigung, Königstein 1982. – Friedhelm Nicolin, Theodor Litt und der Nationalsozialismus, in: Pädagogische Rundschau, 36. Jg., 1982, S. 95-122. – Ernst Hojer, Theodor Litt (18801962), in: Brinkmann/Harth-Peter (wie Fn. 30), S. 158-181. – Keim, Erziehung unter der Nazi-Diktatur (wie Fn. 1), Bd. II, S. 336 ff. – Wolfgang Matthias Schwiedrzik, Lieber will ich Steine klopfen. Der Philosoph und Pädagoge Theodor Litt in Leipzig 1933-1947, Leipzig 1997. 103 Vgl. Hasko Zimmer, Pädagogische Intelligenz und Neuanfang 1945. „Die Sammlung“ im Kontext der Faschismus- und Neuordnungsdiskussion 1945-1949, in: Keim (Hg.), Erziehungswissenschaft und Nationalsozialismus (wie Fn. 73), S. 101-122. 104 Zimmer, Pädagogische Intelligenz (wie Fn. 103), S. 116. 105 Kurt Beutler, Re-education-Politik und geisteswissenschaftliche Pädagogik unter besonderer Berücksichtigung Erich Wenigers, in: ders./U. Wiegmann (Red.), Auschwitz und die Pädagogik. Jahrbuch für Pädagogik 1995, Frankfurt a.M. 1995, S. 115-125.
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Spranger, der nach wie vor Dienstbeflissenheit, Führerprinzip und aristokratische Ideale beschwor und seinerseits die Re-education-Politik attackierte106, war nach dem Krieg kommissarischer Rektor der Berliner Universität, von 1946-58 lehrte er als Ordinarius in Tübingen; Flitner war bis 1959 Ordinarius in Hamburg und beeinflußte als Vorsitzender des Schulausschusses der Westdeutschen Rektorenkonferenz maßgeblich die Schulpolitik der Nachkriegsära, Bollnow lehrte seit 1946 als Professor in Mainz, später in Tübingen, Blättner war von 1948-59 Ordinarius an der Kieler Universität, Weinstock lehrte in Frankfurt a.M., Wenke war Professor in Hamburg und Tübingen und Gründungsrektor der Universität Bochum. Freilich wurde auch Litt 1945 wiedereingesetzt, seit 1967 war er Ordinarius in Bonn. Aber nicht nur die „geisteswissenschaftliche Pädagogik“ erlebte nach dem Kriege eine Renaissance. Von den besonders belasteten Pädagogen wurden lediglich Baeumler und Deuchler nicht wiedereingesetzt. Pädagogen wie etwa Dolch oder Kroh, die nun freilich ihr NS-Engagement in Vergessenheit geraten zu lassen bemüht waren, wurde zu erneuten Universitätskarrieren verholfen, Lochner z.B. konnte, wie erwähnt, an den Pädagogischen Hochschulen Celle und Lüneburg tätig sein, wie überhaupt zahlreiche ehemalige NS“Bekenner“ wieder in ihre angestammten Positionen in der Lehrerbildung einrückten.107 Eine „Sonderstellung“ in der Geschichte der Nachkriegspädagogik nimmt gewissermaßen Theodor Wilhelm ein, von dem gesagt worden ist, er stelle in ihrem Rahmen den „schlimmsten Fall der Verdrängung“ dar.108 Wilhelm war von 1933-36 Referent des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes und seit 1935 Schriftleiter der von Baeumler herausgegebenen „Internationalen Zeitschrift für Erziehung“, 1938 wurde er Dozent an der Hochschule für Lehrerbildung in Oldenburg. In einer Reihe von Artikeln begrüßte er seinerzeit euphorisch die Hitler-Diktatur, das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, die Ausweisung mißliebiger Intellektueller, Pressezensur und Bücherverbrennung, noch 1944 feierte er die „judenpolitischen Maßnahmen“ des NS-Regimes.109 Nichtsdestoweniger konnte Wilhelm 1951 eine Professur an der PH Flensburg übernehmen und 1959 die Nachfolge Blättners als Ordinarius an der Kieler Universität antreten, an der er 1971 emeritiert wurde. Wilhelm verbarg einstweilen seine NS-Aktivität weitestmöglich, versuchte sie dann immer wieder zu relativieren und sich gar zum Opfer des Regimes zu stilisieren. Bereits 1951 trat er unter dem Pseudonym „Friedrich Oetinger“ als Protagonist einer vermeintlich demokratischen „Partnerschafts“-Ideologie auf, die Wilhelms totalitäre Denkmuster freilich nur dürftig kaschieren konnte, immerhin aber über Jahre die politische Bildungsdiskussion und die bundesdeutsche Lehrplangestaltung beeinflußte.110 Wilhelm nutzte diese Einflüsse, um emanzipatorische Ideen zu diffamieren – sie schlügen „in der Praxis regelmäßig in Diktatur um“ –, während er nach wie vor die angeblich „brillante Feder“ rühmte, mit der sein ehemaliger Vorgesetzter Baeumler eine „schlüssige Abrechnung mit marxistischen Theoremen“ offeriert habe; die „Endlösung“ 106 Eduard Spranger, Pädagogische Perspektiven. Beiträge zu Erziehungsfragen der Gegenwart, Heidelberg 1950. 107 Vgl. Hesse, Die Professoren und Dozenten (wie Fn. 2). 108 Keim, Erziehung unter der Nazi-Diktatur (wie Fn. 1), Bd. II, S. 183. – Wolfgang Keim, Statement auf dem 12. DGfE-Kongreß in Bielefeld, in: Dietrich Benner u.a. (Hg.), Bilanz für die Zukunft: Aufgaben, Konzepte und Forschung in der Erziehungswissenschaft. Zeitschrift für Pädagogik, 25. Beiheft, Weinheim/Basel 1990, S. 36-38, hier: S. 37. 109 Theodor Wilhelm, Deutschland – wie es wirklich ist, in: Hochschule und Ausland, 12. Jg., 1934, H. 7, S. 1-10; H. 8, S. 11-28; H. 9, S. 24-38; H. 10, S. 28-42 und 41-45. – Theodor Wilhelm, Die kulturelle Kraft Europas im Kriege, in: Internationale Zeitschrift für Erziehung, XIII. Jg., 1944, H. 1/2, S. 1-14. 110 Vgl. Friedrich Oetinger, Wendepunkt der politischen Erziehung. Partnerschaft als pädagogische Aufgabe, Stuttgart 1951. – Rolf Schmiederer, Zwischen Affirmation und Reformismus. Politische Bildung in Westdeutschland seit 1945, Frankfurt a.M. – Tilmann Grammes, Auf der Suche nach der Fachdidaktik „Politik“. Community, Gemeinschaft und die Rede vom Partner, in: Dithmar (wie Fn. 2), S. 259-274. – Weiß/Weiß (wie Fn. 15), S. 203 ff. – Ortmeyer (wie Fn. 36), S. 267 ff.
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bezeichnete Wilhelm noch Ende der achtziger Jahre als „Wiederherstellung von Frieden und Ordnung in Europa“.111 Diese Beispiele verweisen darauf, daß eine intensive Auseinandersetzung mit der NSVergangenheit in der bundesdeutschen Nachkriegspädagogik zunächst weitgehend ausgeblieben ist. Weder personell noch theoretisch erfolgte ein konsequenter Neubeginn. Vorstöße zur kritischen Aufarbeitung der Vergangenheit blieben einstweilen singuläre Erscheinungen.112 Die bekannten pädagogik-historiographischen Darstellungen113 grenzten die NS-Zeit als eine Art Fremdkörper aus und behandelten sie äußerst knapp oder gar nicht. Die „andere“, politisch unbelastete Pädagogik, deren Vertreterinnen und Vertreter nach 1933 selten – unter ungleich erschwerten Bedingungen – im Lande blieben wie z.B. Adolf Reichwein114, zum größten Teil also – zumeist wiederum unter schwierigen Bedingungen – emigrierten, wurde auch in der Nachkriegsära lange Zeit „verdrängt“.115 Ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten blieben, soweit sie noch lebten, großenteils im Ausland oder wurden, sofern das nicht der Fall war, nach ihrer Rückkehr gewöhnlich marginalisiert, wie etwa das Beispiel Anna Siemsens zeigt, die „sich in ihren letzten Lebensjahren mit untergeordneten Tätigkeiten in der Lehrerbildung und einem Lehrauftrag für Europäische Literatur begnügen“ mußte.116 Erst im Verlaufe der siebziger und – verstärkt – der achtziger Jahre kam es in der Erziehungswissenschaft in größerem Ausmaße zu einer Thematisierung des Nationalsozialismus, die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) veranstaltete erst 1990 ein Podium zur Thematik „Pädagogik und Nationalsozialismus“.117 Sind mit alldem deutliche Kontinuitätslinien nachgezeichnet, läßt sich die in den letzten Jahrzehnten intensiv diskutierte Kontinuitäts-/Diskontinuitäts-Frage gleichwohl keineswegs holzschnittartig nach einem Entweder-Oder-Schema beantworten. Sowohl eine Verabsolutierung der Diskontinuitäts- wie eine solche der Kontinuitätsthese müßten jeweils gegenläufige Befunde unterschlagen und feststellbare Differenzen ignorieren, – in beiden Fällen wären spezifische Verharmlosungen die notwendige Folge. Eine Überbetonung von Diskontinuität, wie sie durch die weitgehende Ignoranz der NS-Zeit in PädagogikHistoriographien erfolgt oder von Verteidigern der „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“ wie Herrmann repräsentiert wird, läßt den Nationalsozialismus als vormalige Kontinuitätsstränge jäh beendenden Einbruch erscheinen, der eine „Zucht-Pädagogik“ etablierte, die
111 Theodor Wilhelm, Selbstdarstellung, in: Pongratz (wie Fn. 97), S. 315-347, hier: S. 324, 344. – Theodor Wilhelm, Verwandlungen im Nationalsozialismus. Anmerkungen eines Betroffenen, in: Neue Sammlung, 29. Jg., 1989, S. 498-506, hier: S. 505. 112 Zu nennen sind als solche insbesondere Gamms Arbeiten aus den sechziger Jahren: Hans-Jochen Gamm, Der braune Kult. Das Dritte Reich und seine Ersatzreligion. Ein Beitrag zur politischen Bildung, Hamburg 1962. – Hans-Jochen Gamm (Hg.), Führung und Verführung. Pädagogik des Nationalsozialismus, München 1964. – Hans-Jochen Gamm, Pädagogische Studien zum Problem der Judenfeindschaft. Ein Beitrag zur Vorurteilsforschung, Neuwied/Berlin 1966. 113 Vgl. etwa Heinrich J. Rechtmann, Geschichte der Pädagogik. Wandlung der deutschen Bildung, Nürnberg 1967, 3. Aufl. – Willibald Russ, Geschichte der Pädagogik, Bad Heilbrunn 1968, 8. Aufl. – Hermann Weimer, Geschichte der Pädagogik, Berlin/New York 1976, 18. neubearbeitete Aufl. – Fritz Blättner, Geschichte der Pädagogik, Heidelberg 1980, 15. Aufl. – Albert Reble, Geschichte der Pädagogik, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1981. 114 Vgl. Ulrich Amlung, Adolf Reichwein 1898-1944. Ein Lebensbild des politischen Pädagogen, Volkskundlers und Widerstandskämpfers, Frankfurt a.M. 1991, 2 Bde. 115 Keim, Erziehung unter der Nazi-Diktatur (wie Fn. 1), Bd. II, S. 220 ff. – Hildegard Feidel-Mertz (Hg.), Schulen im Exil. Die verdrängte Pädagogik nach 1933, Reinbek 1983. 116 Keim, Erziehung unter der Nazi-Diktatur (wie Fn. 1), Bd. II, S. 310. 117 Vgl. Wolfgang Keim, Bundesdeutsche Erziehungswissenschaft und Nationalsozialismus – eine kritische Bestandsaufnahme, in: ders. (Hg.), Pädagogik und Pädagogen im Nationalsozialismus (wie Fn. 31), S. 15-34, hier: S. 17. – Dudek (wie Fn. 9), S. 207 ff. – Benner u.a. (wie Fn. 108).
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mit Erziehung und Bildung im traditionellen Sinne nichts zu tun habe.118 Gemeinsame Schnittmengen zwischen tradierten pädagogischen Positionen und NS-Pädagogik sowie konstatierbare Selbstgleichschaltungsbereitschaften werden dabei ausgeblendet oder umgedeutet. Die verharmlosenden Konsequenzen einer solchen Sichtweise zeigen sich bei Herrmann in aller Deutlichkeit: „Die Repräsentanten der Reformpädagogik – Lietz und Otto, Kerschensteiner, Spranger und Petersen und viele andere – waren... keine Prä-Faschisten, Ahnherren oder gar Wegbereiter der NS-Diktatur, weil sie antidemokratisch, antisemitisch, nationalistisch oder völkisch gesonnen waren ... Die komplizierte geistesgeschichtliche Konstellation von Kontinuität und Traditionsbruch... wird nur verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß durch die Hitler-Bewegung und die NS-Doktrin den vorher – wenn man so sagen darf – unanstößigen, konventionellen Formulierungen und Begriffen ein Sinn unterschoben wurde, der ihnen vorher nicht beigelegt worden war.“119 Das inakzeptable Ideologem einer „unanstößigen“ antidemokratischen und antisemitischen Gesinnung, das Herrmann – wie seine Wendung „wenn man so sagen darf“ vermuten läßt – augenscheinlich selbst nicht recht geheuer ist, ist offensichtlich die Voraussetzung für die beschwichtigende Versicherung, es führe „kein Weg von Nohl zu Hitler oder von Hitler zu Nohl“120, die bei allen in der Tat immer noch zu findenden Differenzen den Blick von feststellbaren Affinitäten von vornherein ablenkt und die rassistischen und demokratiefeindlichen Äußerungen „geisteswissenschaftlicher Pädagogen“ faktisch exkulpiert. Eine undifferenzierte Kontinuitätsthese ist unterdessen nicht plausibler. Sie ist von Kupffer vertreten worden, der die „Epoche des Faschismus“ in ein „Kontinuum“ eingebettet wähnt, für dessen Kennzeichnung ihm die Begriffe „Faschismus“ und „Pädagogik“ als weitgehend austauschbar gelten.121 Da Pädagogik sich generell an Menschenbildern orientiere und auf deren Basis eine „totale“ Formung des Menschen anstrebe, seien sowohl die – von Kupffer insbesondere an Nohl exemplifizierte – vor-nationalsozialistische Pädagogik wie die NSPädagogik und die – insbesondere an Wilhelm exemplifizierte – nach-nationalsozialistische Pädagogik letztlich nur Varianten eines einzigen, wesensgemäß „faschistischen“ Kontinuitätsstromes.122 Diese Position muß die weitreichenden Differenzen pädagogischer Konzepte ignorieren und damit den menschenverachtenden Charakter der NS-Pädagogik verharmlosen, zumal diese auf derselben Ebene angesiedelt wird wie Pädagogiken, zu deren konstitutiven Merkmalen eine antifaschistische und antitotalitäre Theorie und Praxis gehören. Auch der „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“, die bei allen Schnittmengen eben auch Vorbehalte gegenüber dem Nationalsozialismus aufwies, ist damit nicht gerecht zu werden. Von extremen Positionen dieses Zuschnitts abgesehen, ist es in der Forschung mittlerweile weithin Konsens, daß es Kontinuität und Diskontinuität gab, strittig aber ist ihr jeweiliges Ausmaß. So betrachtet Tenorth die Zeit von 1933 bis 1945 als „singuläre historische Figuration“, die „bei Kontinuitäten in Elementen... vor allem Diskontinuität der Ideen und The-
118 Ulrich Herrmann, „Völkische Erziehung ist wesentlich nichts anderes denn Bildung“. Zum Modell nationalsozialistischer Formierung, in: ders. (Hg.), „Die Formung des Volksgenossen“ (wie Fn. 6), S. 6778, hier: S. 71. 119 Herrmann, „Völkische Erziehung...“ (wie Fn. 118), S. 69. 120 Ulrich Herrmann, Zugänge zur „nationalsozialistischen Pädagogik“, in: ders. (Hg.), „Die Formung des Volksgenossen“ (wie Fn. 6), S. 9-21, hier: S. 14 f. 121 Heinrich Kupffer, Der Faschismus und das Menschenbild der deutschen Pädagogik, Frankfurt a.M. 1984. 122 Kupffer (wie Fn. 121), S. 99 ff., 124 ff., 46 ff.
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orien über Erziehung im Ganzen“ zeige.123 „Kontinuitäten im Einzelnen, für Denkformen, Theorie- und Sozialtraditionen“ sind demzufolge „unübersehbar“, gleichwohl aber lasse sich ein „Bruch mit der pädagogischen Tradition... relativ zur Gesamtheit der pädagogischen Reflexion vor und nach 1933 behaupten“.124 Sieht man aber davon ab, daß eine Pädagogik, die gezielt auf „Typenzucht“ hin angelegt war und rassistische und destruktive Ziele zu ihren Leitideen erhob, in dem Maße singulär sein mußte, in dem es der Nationalsozialismus als „Zivilisationsbruch“125 insgesamt war, sieht man weiterhin von der trivialen Feststellung ab, daß schon die verfassungsrechtlichen und politischen Bedingungen vor 1933 und nach 1945 der Entfaltung totalitärer Pädagogik Grenzen setzten, ist freilich nicht recht klar, auf welche Maßstäbe die Behauptung eines „Bruchs“ innerhalb der pädagogischen „Gesamtreflexion“ gegründet sein sollte. Bereits im „pädagogischen Denken vor 1933 dominierten nachweislich antidemokratische, antiliberale, autoritäre und sexistische Tendenzen“, an die der Nationalsozialismus anknüpfen konnte und deren Fortwirkung auch nach dem Zweiten Weltkrieg durch Verdrängung, Verharmlosung und Uminterpretation begünstigt wurde.126 Zwar gab es Ausnahmen und Außenseiterpositionen, aber wenn man sich die Verbreitung obrigkeitsstaatlichen, völkischen, antidemokratischen, militaristischen, antisemitischen usw. Denkens in den Konzepten der Pädagogik der Industrialisierungsära und der Reformpädagogik vergegenwärtigt127, spricht vieles für die These, „daß es auch hinsichtlich der zentralen Grundkategorien pädagogischen Denkens, einschließlich des Menschenbildes, keinen wirklichen Bruch unter der Nazi-Diktatur gegeben hat, allerdings eine extreme Radikalisierung und Systematisierung wie eine in diesem Ausmaß und in dieser Reichweite vorher kaum für möglich gehaltene Umsetzung.“128 5. Die Stellung der Erziehungswissenschaft im Nationalsozialismus Kontinuität weist gewissermaßen auch die Stellung der Erziehungswissenschaft im Ensemble der Wissenschaften und hinsichtlich ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung auf: Weder vor 1933 noch während der NS-Zeit noch in der Nachkriegszeit gelangte die Erziehungswissenschaft als solche zu einer Position, die sie etwa hinsichtlich wissenschaftlicher Förderung oder politisch-sozialer Einflußnahmen zu einer herausragend wirkungsmächtigen Disziplin hätte werden lassen. Mit dem Rang verschiedener naturwissenschaftlichtechnischer Disziplinen kann sie diesbezüglich kaum konkurrieren. Gewiß gehörten Pädagogen im Wilhelminismus und in der Weimarer Zeit zu den das Geistesleben hochgradig bestimmenden Universitätsgelehrten, die Ringer als „Madarine“ charakterisiert hat; nichtsdestoweniger aber bleibt es überaus fraglich, ob sie diesen Status der Tatsache verdankten, daß sie Repräsentanten der Pädagogik waren, die sie zumeist als 123 Heinz-Elmar Tenorth, Deutsche Erziehungswissenschaft 1930 bis 1945, in: Zeitschrift für Pädagogik, 32. Jg., 1986. S. 290-321, hier: S. 316. – Heinz-Elmar Tenorth, Zur deutschen Bildungsgeschichte 1918-1945. Probleme, Analysen und politisch-pädagogische Perspektiven, Köln/Wien 1985, S. 57 ff. 124 Heinz-Elmar Tenorth, Wissenschaftliche Pädagogik im nationalsozialistischen Deutschland. Zum Stand ihrer Erforschung, in: U. Herrmann/J. Oelkers (Hg.), Pädagogik und Nationalsozialismus. Zeitschrift für Pädagogik, 22. Beiheft, Weinheim/Basel 1988, S. 53-84, hier: S. 66. 125 Dan Diner (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a.M. 1988. 126 Keim, Erziehung unter der Nazi-Diktatur (wie Fn. 1), Bd. I, S. 180. 127 Für detailliertere Ausführungen und entsprechende Hinweise vgl. Edgar Weiß, Friedrich Paulsen und seine volksmonarchistisch-organizistische Pädagogik im zeitgenössischen Kontext. Studien zu einer kritischen Wirkungsgeschichte, Frankfurt a.M. 1999. 128 Wolfgang Keim, Bildung versus Ertüchtigung. Gab es einen Paradigmenwechsel im Erziehungsdenken unter der Nazi-Diktatur?, in: H. Lehmann/O. G. Oexle (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 2, Göttingen 2004, S. 223-258, hier: S. 225.
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Anhängsel anderer Fächer mit vertraten. Eine selbständige wissenschaftliche Disziplin nämlich war die Erziehungswissenschaft seinerzeit nicht, erst im Verlaufe der Weimarer Epoche konnte sie sich an den Universitäten und Pädagogischen Akademien zu einer solchen entwickeln, und auch dann wurde sie einstweilen zumeist noch in Verbindung mit anderen Fächern (Philosophie, Psychologie, Sozialwissenschaften) vertreten.129 Grundlegend änderte sich dies auch in der Zeit des Nationalsozialismus nicht, in dessen Herrschaftsgeflecht die Erziehungswissenschaft – Hitlers Intellektualismus-, Wissenschaftsund prinzipieller Pädagogikfeindschaft entsprechend – eine vergleichsweise untergeordnete Rolle spielte. Wissenschaften waren für den Nationalsozialismus allenfalls in dem Maße von Interesse, in dem sie für das System unmittelbar verwendbares Verfügungswissen bereitzustellen vermochten. Das aber galt vornehmlich für die naturwissenschaftlichtechnischen und medizinischen Fächer, die insbesondere in der Kriegszeit eine erhebliche Aufwertung erfuhren, während die geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen generell marginalisiert wurden.130 An verschiedenen Universitäten wurden Lehrstühle für „Wehrwissenschaft“ eingerichtet, medizinische und naturwissenschaftliche Fakultäten wurden ministeriell angewiesen, Lehrveranstaltungen über chemische Kampfstoffe, „Wehrchirurgie“, „Wehrpathologie“ usw. anzubieten, auf Görings Initiative hin wurde die Luftfahrtforschung intensiviert. Auch in die nationalsozialistischen Menschenversuche war die Pädagogik den ihr zugewiesenen Aufgaben gemäß nicht in einem etwa der Medizin entsprechenden Maße oder einer ihr analogisierbaren Weise involviert. Eine unmittelbare Beteiligung an den NSMassenmorden, wie sie für eine Reihe von Medizinern belegt ist131, läßt sich dementsprechend für Pädagogen nicht nachweisen. Mithin war die Erziehungswissenschaft keine Lehrstuhldisziplin, die – wie „Rassenhygiene“, „Eugenik“, „Wehr-“ und „Kolonialwissenschaft“ oder „Deutsche Volkskunde“ – ihre Existenz dem Nationalsozialismus verdankte, womit der Druck, der offiziellen Propaganda gemäße Befunde zu präsentieren, auf sie geringer gewesen sein dürfte. Schließlich hatten die NS-Funktionäre, in deren Zuständigkeitsbereich die Erziehungswissenschaft fiel, innerhalb der Führungshierarchie des „Dritten Reiches“ vergleichsweise schwache Positionen. Das gilt bekanntermaßen für Rust, aber auch für Rosenberg und seine Mitarbeiter, – sie blieben „Kommentatoren am Rande, immer auf dem Sprung, anderen Partei- oder Staatsstellen Knüppel zwischen die Beine zu werfen, aber ohne wirkliche Möglichkeiten, gestaltend in das wissenschaftliche Leben einzugreifen.“132 Dies alles bedeutet freilich nicht, daß die mit Erziehungs- und Bildungsaufgaben betrauten Funktionsträger nicht massiv zur Stabilisierung des Nationalsozialismus beigetragen hätten, woran auch Erziehungswissenschaftler – bei aller Rivalität und allen theoretischen Aporien – im Rahmen ihrer Handlungsfelder beteiligt waren. Nachweislich hatten sie aktiven Anteil an der Nazifizierung der Hochschulen und der Verbreitung nazistischer Ideologeme. Die NS-Programmatik hatte ja „keinen Zweifel daran gelassen, daß sich der Hauptstoß ihrer Weltanschauungspolitik auf den Bereich der Erziehung richten würde“.133 Der totalitäre Staat sah in den Erziehungsinstitutionen wichtige Instrumente der Indoktrination und begann demgemäß gleich nach der „Machtübernahme“ mit der Gleichschaltung des gesamten Bildungswesens, die zum großen Teil durch eine „Selbstgleichschaltung“ unterstützt wurde, freilich aber infolge von Konzeptionsarmut, Ämter- und Kompetenzenchaos de facto eine brüchige blieb. Die 129 Keim, Erziehung unter der Nazi-Diktatur (wie Fn. 1), Bd. I, S. 189, Anm. 23. 130 Hierzu und zum Folgenden: Grüttner (wie Fn. 10), S. 148 ff. 131 Vgl. Alexander Mitscherlich/Fred Mielke, Das Diktat der Menschenverachtung. Eine Dokumentation, Heidelberg 1947. 132 Grüttner (wie Fn. 10), S. 136. 133 Bracher (wie Fn. 13), S. 131.
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Erziehungswissenschaft trug zum Aufstieg und zur Erhaltung, kaum aber zur Demontage des Nationalsozialismus bei, – durch vorgängige ideologische Schnittmengen, durch Versuche, eine neue, explizit „nationalsozialistische“ Pädagogik zu formulieren und durch Bemühungen, traditionelle Formen pädagogischen Denkens mit den nationalsozialistischen Vorgaben in Einklang zu bringen. Ihren verhängnisvollsten Einfluß dürfte sie dabei als Instanz der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern ausgeübt haben, über die sie mittelbar in die konkrete Schulpädagogik einfließen konnte.
UR- UND FRÜHGESCHICHTE UTA HALLE Ur- und Frühgeschichtsforschung ist, obwohl sie sich mit Relikten aus der gesamten, mehrere Millionen Jahre alten Menschheitsgeschichte beschäftigt, immer gleichfalls ein Spiegelbild der Zeit, in der sie erforscht und durch die Zeitumstände beeinflusst wurde und wird. Sie bietet gleichzeitig viele verschiedene Facetten, je nachdem, aus welcher Wurzel der Nachbardisziplinen sie entstammt. Anders als ein großer Teil der anderen in diesen Band behandelten Disziplinen ist die Ur- und Frühgeschichtsforschung ein öffentliches Fach, d.h. es wurde und wird viel mit Laien zusammengearbeitet und die Forschungsergebnisse bleiben nicht nur in der scientific community sondern wurden in einem starken Umfang im Wissenstransfer für die breite Öffentlichkeit aufbereitet. Da aber im besonderen die archäologische Disziplin, zu den ideologisch bedrohten und manipulierbaren Wissenschaftsgebieten – vor allem in der Ära des Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945 – eingestuft wird,1 gilt es zu hinterfragen, wie Lehre, Gesetze, Museen und Sonderausstellungen, Inhalte und Strukturen dieser Forschung im Nationalsozialismus aussahen und der Frage nachzugehen, wie politisch oder unpolitisch prähistorische Archäologie in dieser Zeit war. Diesem Themenbereich sind seit 1945 mehrfach zeitgeschichtliche Studien gewidmet worden, von denen vor allem die Arbeit von Reinhard Bollmus zum „Amt Rosenberg“ und die von Michael Kater über das „SS-Ahnenerbe“, diesem „elitären think tank“ (Pringle 2006, 5)“, zu nennen sind. Die beiden Zeithistoriker haben für ihre grundlegenden Studien die Archivalien des Amtes Rosenberg und des Ahnenerbes soweit als möglich herangezogen. Für die Methode der „oral history“ führten sie in den 1960er Jahren mündliche und schriftliche Befragungen einiger bedeutender Prähistoriker aus dem ehemaligen SSAhnenerbe durch. Nach dem Erscheinen der beiden Publikationen schien zu diesem Thema alles geschrieben zu sein, was nach Ansicht derjenigen Wissenschaftler, die nach 1945 ihre Karrieren unbeschadet oder nach kurzer Unterbrechung fortgesetzt hatten, zu schreiben war. Es war aber auch gerade diese Wissenschaftlergruppe, die von Bollmus und Kater als Zeitzeugen befragt worden waren, und die mit ihren Antworten eine „geschönte“ Sichtweise in die o. a. Publikationen hatte einfließen lassen, so dass durch die Arbeiten von Bollmus und Kater das forschungsgeschichtliche „Gewissen“ des Faches beruhigt worden war. Durch die Wissenschaftsgeschichte des Faches nach 1945 zogen sich trotz dieser Studien unausgesprochen oder nur dezent angedeutet weiterhin folgende Meinungen über die Forschungssituation im „Dritten Reich“: Zum einen hätte zwischen Wissenschaftlern des Amtes Rosenberg und des „Ahnenerbes“ „eine Ebene, ... auf der ein Austausch und eine gemeinsame Arbeit möglich waren“ bestanden.2 Die vorhandene Überlieferung spricht hingegen eine andere Sprache: Sie zeigt eine negative Konkurrenz der Wissenschaftler untereinander, die zu ständigen Auseinandersetzungen und verschiedenen Versuchen, die Mitglieder der jeweils anderen NSOrganisation zu verunglimpfen und aus den Ämtern zu drängen, führte. Diese Gegnerschaft ging in Einzelfällen bis zur Existenzbedrohung, um persönliche Intrigen, um politische Denunziationen. Von kollegialer Zusammenarbeit und wissenschaftlichem Meinungs1 2
Günter Smolla: Das Kossinna-Syndrom, in: Fundberichte aus Hessen 19-20, 1979-80, 1-9, hier 8; Sabine Wolfram / Ulrike Sommer: Macht der Vergangenheit – Wer macht Vergangenheit? Archäologie und Politik (Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte Mitteleuropas 3) Wilkau-Hasslau 1993. Kurt Narr: Nach der nationalen Vorgeschichte, in: Peter Weingart / Wolfgang Prinz (Hrsg.): Die sog. Geisteswissenschaften: Innenansichten, Frankfurt a. M. 1990, 279-305, hier 289.
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austausch ist an diesen Stellen nichts zu spüren. Diese Auffassung heißt auch menschenverachtende Parteiorganisationen wie die SS und die auch nicht viel bessere Organisation des Amtes Rosenberg und die Archäologie beider Organisationen unter Kriegsbedingungen auszublenden und unberücksichtigt zu lassen. Die Mitarbeit der Wissenschaftler in der SS gilt damit – trotz der oft vorhandenen frühen Parteizugehörigkeit als unbedenklich. Als Ursache hierfür läßt sich feststellen, dass die Tätigkeit in der SS in der Regel als Schutzmaßnahme zur Bewahrung traditioneller Forschungseinrichtungen bzw. sogar als Widerstand zum Schutz des Faches und damit quasi als eine Art Freispruch angesehen wurde.3 Die SS-Wissenschaftler hätten auf diesem Weg versucht, die schlimmste Politisierung des Faches durch die Wissenschaftler des Amtes Rosenberg zu verhindern. Nach Kossack hätten es die damals tätigen Wissenschaftler – natürlich nur die, die sich der SS angeschlossen hatten – vermieden, ihre „wahre Gesinnung der Öffentlichkeit preiszugeben“, um auf diesem Weg das Ämterchaos im NS-Staat „für sachlich begründete Anliegen“ auszunutzen.4 Eine andere Chance für die Forscher wären in dem Rückzug „in die archäologische Werkstatt ..., das heißt sich beschränken auf die Gewinnung ‚antiquarische‘ Arbeiten“ vorhanden gewesen5, die Narr damit unausgesprochen als quasi ideologiefreie Arbeitsmöglichkeit einschätzte. Neben den von Narr vertretenen Auffassungen hat aber die kontroverse These, dass die nationalsozialistischen Machthaber Druck auf „die Vorgeschichtler bei der Interpretation ihrer (Befunde und U.H.) Funde“ ausübten, eine sehr viel stärkere und öffentlichkeitswirksame Verbreitung im Fach gefunden, die sich über 50 Jahre ungeachtet verschiedener Forschungsarbeiten als zähe Legende behaupten konnte. 6 Während in der Geschichtswissenschaft über die neu vorgelegten und weiterführenden Forschungsergebnisse diskutiert wurde, zeigt sich für die archäologische Wissenschaft erstmals nach 1990 ein breiteres Eingehen auf die fachwissenschaftlichen Vorgänge im Nationalsozialismus, oder um es überspitzt auszudrücken: erst 15 bis 20 Jahre nach ihrem Erscheinen fanden die Ergebnisse von Bollmus und Kater Anfang der 1990er Jahre Eingang in die wissenschaftliche Diskussion um die Vergangenheit des Faches. Erstmals wurde 1991 während eines Symposiums in Chicago, bei dem die Verbindungen zwischen Nationalismus und Archäologie in vielen Ländern der Erde aufgezeigt wurde, zum Thema „Archäologie und Nationalsozialismus“ von den Archäologen B. Arnold und H. Hassmann gesprochen.7 Forschungsgeschichtliche Themen wurden ebenfalls auf der Tagung des Nordwestdeutschen Altertumsverbandes in der Arbeitsgemeinschaft Theorie in Rostock 1992 erörtert.8 Erste Examensarbeiten und zahlreiche Aufsätze, die in dieser Zeit kleinere Untersuchungen zu Einzelfragen, Personen und wissenschaftlichen Teilbereichen vorstellten, zeigten in der Regel eine eindimensionale Perspektive, da sie zumeist auf der Recherche archäologischer und historischer Literatur beruhten. Archivalien wurden nur herangezogen, soweit sie durch die Arbeiten Bollmus und Katers erschlossen und zitiert waren.
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Bernhard Pinsker: 100 Jahre West- und Süddeutscher Verband für Altertumsforschung. Ferdinand Kutsch und der West- und Süddeutsche Verband für Altertumsforschung (1931-1962), in: Archäologisches Nachrichtenblatt 5, 2000, 49-80, hier 49-60. Georg Kossack: Prähistorische Archäologie in Deutschland im Wandel der geistigen und politischen Situation, in: Bayerische Akademie der Wissenschaften Philosophisch-Historische Klasse, Sitzungsberichte 1999, Heft 4, München 1999, 60. Narr: Vorgeschichte, 289. Gisela Graichen: Das Kultplatzbuch. München 1991, 14. Durch diese populäre Arbeit wurde diese These in die breite Öffentlichkeit getragen. Bettina Arnold / Henning Hassmann: Archaeology in Nazi-Germany: the legacy of the Faustian bargain, in: Philip Kohl / Clare Fawcett (Hrsg.): Nationalism, politics, and the pratice of archaeology.Cambridge 1995, 70-81. Zu den Beiträgen und Referaten der Theorie-AG vgl. Wolfram / Sommer: Macht.
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Auch in den Forschungsgeschichten und Neubewertung einzelner Grabungen, Museen und Organisationen wurde die NS-Zeit nicht mehr ausgespart. Erste Studien zum Thema Kulturgutraub in den besetzten europäischen Gebieten entstanden. Für diese Arbeiten gilt, dass sie bislang unpubliziertes Quellenmaterial herangezogen haben und somit neue bedeutende Aspekte auch zu den beteiligten Prähistorikern zeigen. Trotzdem galt auch noch 50 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, dass die Verbindung zwischen Politik und Wissenschaft heruntergespielt wird, und dass ein Teil der deutschen Archäologen die Notwendigkeit einer zeitgeschichtlichen Aufarbeitung nicht erkennen möchte.9 Obwohl B. Brentjes 1992 darauf hinwies, „dass in Deutschland viele Professoren, gerade die der Archäologie, sich in den Dienst der Nationalsozialisten stellten und mit schuldig wurden“10 fand sich auch in den 1990er Jahren und auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor allem in den Gedenkschriften, Nachrufen bzw. Aufsätzen zu Forscherpersönlichkeiten noch eine weitgehende Tabuisierung von deren NS-Vergangenheit.11 Hier zeigt sich aber in jüngster Zeit die Bereitschaft, auch andere Gesichtspunkte der Vorgeschichtsforschung in der Zeit zwischen 1933 und 1945 aufzuzeigen. Ein erster weiterführender Ansatz wurde hier unter der Initiative Achim Leubes mit der Tagung „Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933-1945“ im November 1998 in Berlin gemacht.12 Im Juli 1999 fand ein Arbeitsgespräch unter dem Titel „Eine hervorragende nationale Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995“ an der Universität Freiburg statt.13 Der methodische Ansatz des Freiburger Arbeitsgespräches beruhte darauf, die „wissenschaftlichen Schriften ausgewählter Prähistoriker“ auszuwerten und zwar im Hinblick darauf, wie oder ob sich zum einen die Methodik und zum anderen die benutzte Sprache in der Zeit von vor 1933 über den Zeitraum 1933 bis 1945 und nach 1945 gewandelt hat.14 Die Berliner Tagung war ein hoffnungsvoller Ansatz, hatten sich doch alle Beteiligten bemüht, die Wissenschaftsgeschichte des Faches unter Einbeziehung verschiedener Quellengattungen darzustellen. Alle Recherchen hatten in Archiven begonnen oder waren zu mindestens weitergeführt worden und man hatte sich nicht nur darauf beschränkt, die Veröffentlichungen der Prähistoriker auf „politisch anstößige Zitate“ durchzusehen, von daher kann die Freiburger Tagung zum Teil als kleiner
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Vgl. Arnold / Hassmann: Archaeology, 71. Ablehnende Reaktionen von Fachkollegen habe ich während der Forschungsarbeit zu dieser Thematik immer wieder erlebt. Burchard Brentjes: Wissenschaft unter dem NS-Regime und die Völker Osteuropas, in: Brentjes, Burchard (Hrsg.), Wissenschaft unter dem NS-Regime. Schöneiche b. Berlin 1992, S. 7-14. Vgl. Albrecht Jockenhövel (Hrsg.): Kurt Tackenberg (1899-1992) zum Gedenken. Münster 1996; Heiko Steuer: Gedenkrede für Herbert Jankuhn am 21. November 1991 in Göttingen, in: Heinrich Beck / Heiko Steuer (Hrsg.): Haus und Hof in ur- und frühgeschichtlicher Zeit. Göttingen 1997, 547-568; Volker Bierbrauer: Joachim Werner 23.12.1909-9.1.1994, in: Bayerische Vorgeschichtsblätter 59, 1994, 11-17 ; Franz Fischer: Wolfgang Kimmig: Leben und Lebenswerk, in: Wolfgang Kimmig Leben und Lebenswerk. Nachrufe am 29.Juni 2001 auf der akademischen Gedenkfeier. Stuttgart 2002. Achim Leube / Morten Hegewisch (Hrsg.): Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933 – 1945, Heidelberg 2002. Zur Tagung vgl. Uta Halle / Martin Schmidt: „Es handelt sich nicht um Affinitäten von Archäologen zum Nationalsozialismus - das ist der Nationalsozialismus“. Bericht über die internationale Tagung „Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933-1945 (Berlin 19.-23. November 1998), in: Archäologische Informationen 22, 1999, S. 41-52; Hermann Ament: Bericht über die Internationale Tagung „Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 19331945“ vom 19. bis 23. November 1998 in Berlin, in: Archäologisches Nachrichtenblatt 4, 1999, S. 369372. Vgl. Heiko Steuer (Hrsg.): Eine hervorragend nationale Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1945. Berlin / New York 2001. Claudia Theune: ‚Eine hervorragende nationale Wissenschaft‘ – Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995. Arbeitsgespräch in Freiburg/Br., 2. und 3. Juli 1999, in: Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 1999, S. 263-265.
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Rückschritt gewertet werden, für den einer der beteiligten Wissenschaftler den Begriff „Weißwäsche“ benutzte.15 Die Impulse aus der zweiten Hälfte der 1990er Jahre tragen mittlerweile Früchte. Unter Einbeziehung zahlreicher zeitgeschichtlicher Quellen kam und kommt es zu neuen differenzierteren Ergebnissen zur prähistorischen Archäologie, vor allem durch weitere internationale Tagungen in Polen, Frankreich und Amsterdam.16 Durch diesen methodischen Ansatz lässt sich explizit feststellen, dass viele der Wissenschaftler ihre Gründe für Mitarbeit in der einen oder anderen NS-Organisation erst nach 1945 formuliert haben und dass sie deshalb einer kritischen Überprüfung anhand zeitnaher Quellen nicht standhalten.17 Wiederholt standen diese Ergebnisse unter dem Schlagwort „faustischer Handel“ zwischen Urund Frühgeschichte und Nationalsozialismus. Zu Recht weist H. Fehr darauf hin, dass dadurch ein falscher Akzent gesetzt wird und weist auf die Verbindungen des Faches zur konservativ-rechtsgerichteten Politik in der demokratischen Weimarer Republik hin, die bis vor einigen Jahren als weitestgehend unpolitisch galt.18 Mittlerweile ist ein erster grundlegender Forschungsstand erreicht, allerdings ist er sowohl Ausgrabungs- als auch Personen bezogen und regional sehr unterschiedlich. Deshalb wird in diesem Beitrag mit zahlreichen Beispielen auf das weitgefächerte Feld der Ur- und Frühgeschichtsforschung als ideologisiertes Fach im Fächerkanon der Kulturwissenschaften aufmerksam gemacht. Strukturelle Voraussetzungen vor 1933 Die Wissenschaft der Ur- und Frühgeschichte erlebte im Zeitraum bis 1933 einen ersten institutionellen, organisatorischen und gesetzlichen Ausbau, der sich deutlich von dem der Klassischen Archäologie unterscheidet. Er begann um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit den Gründungen der verschiedenen Altertumskommissionen, wie der Reichslimeskommission (1892), der Römisch-Germanischen Kommission (RGK, 1902), der großen regionalen Altertumsverbände (1900 und 1905) und der Einrichtung des ersten außerordentlichen Lehrstuhls für Deutsche Vorgeschichte 1902 an der Berliner FriedrichWilhelms-Universität. Dieser organisatorische Aufbau stellte einen bedeutenden Schritt zur Professionalisierung der Ur- und Frühgeschichte oder Prähistorie bzw. der oftmals als „Spatenforschung“ bezeichneten Wissenschaft dar. Sie bedeuteten gleichzeitig das Maximum, auf das sich die deutschen Wissenschaftler einigen konnten. Die geschichtsbedingten Unterschiede im archäologischen Quellenmaterial – im Süden und Westen Deutschlands mit der antiken römischen Hinterlassenschaft, im Norden und Osten mit eher unscheinbaren archäologischen Quellen einer eigenen Vergangenheit – erzeugten Neid und regionale Befindlichkeiten. Sie verhinderten eine einheitliche gesamtdeutsche Altertumsinstitution, 15 16
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Wolfgang Pape 2001: Zehn Prähistoriker aus Deutschland, in: Heiko Steuer (Hrsg.): Eine hervorragend nationale Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1945. Berlin / New York 2001, 5588, hier 87. Martijn Eickhoff: German Archaeology and National Socialism: some Historiographical Remarks, in: Archaeological Dialogues 12-1 (2005) 73-90.; Uta Halle: Archaeology in the Third Reich: the academic science and the rise of the ‚lunatic fringe‘, in: Archaeological Dialogues 12 (1), 2005, 91-102; Legendre, Schnitzler u. Olivier i. Dr.; Jacek Lech (Hrsg.): Neighbours: Polish-German relations in archaeology Part I – to 1945. Archaeologia Polona 42, 2004. Wolfgang Pape: Zur Entwicklung des Faches Ur- und Frühgeschichte in Deutschland bis 1945, in: Achim Leube / Morten Hegewisch (Hrsg.): Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933-1945, Heidelberg 2002, 163-226, hier 180. Hubert Fehr: Prehistoric archaeology and German Ostforschung: the case of the excavations at Zantoch, in: Jacek Lech (Hrsg.): Neighbours: Polish-German relations in archaeology Part I – to 1945, Archaeologia Polona 42, 2004, 197-228.
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Gesetzgebung und konsequente Methodenüberprüfung. Es kam allerdings mit dieser beginnenden Professionalisierung zu einer Veränderung des Forschungsziels. Zielten die Ausgräber der „heimischen Altertumskunde“ im 19. Jahrhundert noch auf „schöne Funde“ für ihre Heimatmuseen und Sammlungen ab, so wandelte sich das Forschungsziel nun zum „archäologischen Befund“. Diese Veränderung in der systematischen Forschung und die verbesserten Grabungsmethoden spiegeln sich in den überlieferten Anträgen, Grabungsberichten und der veröffentlichten Literatur aus dieser Zeit wider. Es fehlte insgesamt ein weitergehender institutioneller, organisatorischer und personeller Ausbau der Wissenschaft. Trotz der Einrichtung der Berliner Professur gab es im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts kaum ausgebildete Prähistoriker. Durch die Qualifikation einiger Prähistoriker wurde der Grundstock für die zunehmende Professionalisierung an den Universitäten vorbereitet und zeigt den Abnabelungsprozess aus den anderen Disziplinen heraus. Weitere Fachwissenschaftler hatten zum Teil klassische Archäologie studiert oder traten „aus anderen Berufen über“ und hatten sich ihre prähistorischen Kenntnisse „autodidaktisch“ angeeignet. Aus diesen Gründen gingen zahlreiche archäologische Befunde und Funde durch nicht sachgemäße Ausgrabungen und Bergungen verloren. Der oben angesprochene Konflikt der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie konnte in den folgenden 30 Jahren, die als die „Jugend“ des Faches angesehen wurden, nicht überwunden werden, sondern blieb bestehen bzw. wurde sogar noch verschärft. Dies lag zum Teil in den Auseinandersetzungen des ersten Berliner Lehrstuhlinhabers Gustaf Kossinna mit Forscherpersönlichkeiten aus anderen Regionen Deutschlands. Sie waren durch Beschimpfungen und Unsachlichkeiten geprägt und spalteten die sich entwickelnde Wissenschaft in zwei Lager: Auf der einen Seite Kossinna und die von ihm beschriebene Methode der ethnischen Deutung, mit der archäologische Kultur- und Formenkreise immer ethnischen Gruppierungen, Völkern oder Stämmen gleichzusetzen wären. Gleichzeitig leitete Kossinna diese Gruppen aus dem „germanischen“ Norden ab. Aus der anderen Seite fanden sich die Forschungsarbeiten der RGK unter dem Schlagwort „ex oriente lux“, dem „Identitätsmythos des ‚Abendlandes‘“ zur geschichtlichen Entwicklung Europas.19 Die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Vorgeschichte (1909; ab 1914 Gesellschaft für deutsche Vorgeschichte) war für Kossinna der erste Schritt zu einer Verlagerung von der Wissenschaftlichkeit zur Volkstümlichkeit, während hingegen die Altertumskommissionen ein wissenschaftlich geschlossener Zirkel blieben. Bei den völkischen Gruppierungen und in zahlreichen Geschichts- und Heimatvereinen übernahmen Kossinnas Gedanken von der „Kulturhöhe der Germanen“ eine rezeptionserleichternde Funktion beim Auf- und Ausbau eines bestimmten nationalen Germanenbildes. Erschwerend für die Fachentwicklung kam hinzu, dass die vorhandenen Forschungsorganisationen politisch unterschiedlichen Ministerien zugeordnet waren: So unterstand die RGK durch ihre Zugehörigkeit zum DAI dem Auswärtigen Amt, hingegen gehört die Reichslimeskommission und andere Forschungsinstitutionen zum Reichsinnenministerium, die praktische Bodendenkmalpflege unterlag den zuständigen Verwaltungsbehörden der Länder, von denen einige schon regionale Gesetze erlassen hatten. Für die preußischen Länder wurde kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, im März 1914, mit dem Preußischen Ausgrabungsgesetz die Bodendenkmalpflege geregelt. Und noch ein anderer Gedanke wurde schon vor dem Ersten Weltkrieg angedacht, ein Plan, der nach 1933 zum Zündstoff für die Auseinandersetzungen der verschiedenen Wissenschaftlergruppen geriet. Carl Schuchhardt, prominenter Gegenspieler Kossinnas, schlug
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Ingo Wiwjorra: Der Germanenmythos : Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts. Darmstadt 2006, 81.
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vor, analog zum DAI und zur RGK ein selbständiges Forschungsinstitut für „germanische“ Archäologie für Nord- und Ostdeutschland einzurichten. Fasst man die fachliche Entwicklung bis 1914 zusammen, so lässt sich klar erkennen, dass prähistorische Forschung in dieser Zeit als „Dienst am Kultus der Nationalität begriffen“ wurde. Organisatorische Pläne, die schon bis 1914 entwickelt worden waren, konnten durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht zu Ende geführt werden. Nach dem Ende des ersten Weltkrieges kam es nicht zu einen unmittelbaren Bruch im Wissenschaftsgefüge. Vielmehr knüpfte man relativ nahtlos an die grundlegende Diskussion über das Fach aus der Zeit vor 1914 an und dies gilt für fast alle wissenschaftlichen Bereiche, d. h. sowohl für Lehre und Forschung, als auch für gesetzgeberische Maßnahmen in der Bodendenkmalpflege und für die museale, didaktische Umsetzung ur- und frühgeschichtlicher Forschung und den Wissenschaftstransfer in die breite Öffentlichkeit. Lehre Im Fach begann eine rege Diskussion über die unzureichende und unbefriedigende Situation der fachwissenschaftlichen Ausbildung, denn die Lehre erfolgte noch überwiegend bis in die 1930er Jahre durch den informellen Lehrkörper. Immer wieder wurde nach dem Ende des Ersten Weltkrieges darauf verwiesen, dass in Deutschland für den Ausbau des Faches zu wenig getan würde, im Gegensatz z. B. zu den skandinavischen Ländern, Frankreich und Polen.20 Die Einrichtung eines eigenen Ordinariats für Ur- und Frühgeschichte als Zeichen von Innovationsbereitschaft wurde zwar an verschiedenen Universitäten angedacht, aber die restriktiven Sparmaßnahmen der Preußischen Regierung, ausgelöst durch Inflation und Weltwirtschaftskrise, verhinderten eine schnellere vollständige Einbindung der Ur- und Frühgeschichte als eigenständige Disziplin in den akademischen Fächerkanon. Nur in Marburg kam es 1927 zur Einrichtung eines ordentlichen Lehrstuhls für Prähistorie. Damit verwirklicht man dort einen Plan, der schon wenige Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs erstmals angedacht worden war.21 An einigen Universitäten wie Halle, Breslau und Berlin erfolgte der Lehrbetrieb auch nicht mehr als ein „Einmannbetrieb“ sondern durch mehrere Fachwissenschaftler22, und es gab nur vier deutsche Universitäten (Münster, Frankfurt a. M., Bonn und Erlangen), an denen das Fach überhaupt nicht angeboten wurde. Für die Universitäten Königsberg und Berlin läßt sich Ende der 1920er Jahre eine Einbindung des geplanten Lehrstuhles in die revisionistische deutsche Politik nachweisen.23 Hiermit übernahm das Fach neue Aufgaben, nunmehr formte sich die prähistorische Archäologie zur politisch motivierten Legitimationswissenschaft um. Gleichzeitig erfolgte eine starke Einbindung der Ur- und Frühgeschichte in die Lehrerausbildung und damit folgend in den Schulunterricht, damit das „gesamte deutsche Volk 20
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Karl-Hermann Jacob-Friesen: Kultureller Abbau in Mecklenburg-Schwerin, in: Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit 6, 1930, 65-66. Verglichen wurde auch mit dem damaligen ausländischen deutschen Sprachgebiet. Dazu vgl. Martin Jahn: Wie ist die deutsche Vorgeschichtswissenschaft an den Universitäten vertreten, in: Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit 6, 1930, 150-153. Claudia Theune: Die Institutionalisierung der Prähsitorie an den deutschen Universitäten am Beispiel Marburg, in: Johan Callmer u.a. (Hg.): Die Anfänge der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie als akademisches Fach (1890-1930) im europäischen Vergleich. Internationale Tagung an der HumboldtUniversität zu Berlin vom 13.-16. März 2003. Rahden 2006, 81-94, hier 84. Wolfgang Pape: Ur- und Frühgeschichte, in: Frank-Rutger Hausmann (Hrsg.), Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933-1945. München 2002, 329-358, hier 336. Uta Halle: Die „Jugend“ des Faches an den deutschen Universitäten – „Förderung zur wissenschaftlichen Pflege der Heimatkunde“ oder „Gebot vorausschauender Nationalpolitik“, in: Johan Callmer u.a. (Hg.): Die Anfänge der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie als akademisches Fach (1890-1930) im europäischen Vergleich. Internationale Tagung an der Humboldt-Universität zu Berlin vom 13.-16. März 2003. Rahden 2006, 73-80, hier 75.
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mit der Kultur seiner Vorfahren bekannt gemacht“ würde.24 So fand z. B. im Jahr 1932 in Schlesien zur „Einführung in die schlesische Ur- und Frühgeschichte“ ein „Sonderlehrgang für Studienräte ... mit dem Provinzialschulkollegium“ statt.25 Hiermit zeigt sich die Ur- und Frühgeschichte als Disziplin, in der stark und bewusst mit Laien, oftmals Lehrern oder anderen lokalen Honoratioren, zusammengearbeitet wurde. Sie arbeiteten häufig ehrenamtlich in der Betreuung kleinerer Heimatmuseen oder im Bereich der lokalen Bodendenkmalpflege mit, sie waren aber auch gleichzeitig Multiplikatoren der Wissenschaft. Bodendenkmalpflege Relativ laut zu vernehmen waren die Klagen über die als mangelhaft empfundene gesetzliche Regelung in der Bodendenkmalpflege, einer Ländersache. Das Preußische Ausgrabungsgesetz aus dem Jahr 1914 wurde 1920 mit ergänzenden Ausführungsbestimmungen versehen und bildete nun die Grundlage für die preußischen Länder. Maßnahmen dieser Art waren dringend notwendig, denn weitergehende Kultivierungsmaßnahmen, fortschreitende Bebauung u.a. führten zu einer Gefährdung des unterirdischen Archivs. Die Wissenschaftler forderten deshalb zusätzliche gesetzliche Regelungen und selbst das Preußische Ausgrabungsgesetz wurde als nicht ausreichend betrachtet. Trotzdem wurden im Wesentlichen im süddeutschen Raum archäologische Forschungsund Dokumentationsmethoden weiterentwickelt. Zu nennen sind hier die technologisch anspruchsvollen Senkkastengrabungen im Frühjahr 1930 im Bodensee, mit der erstmals auswertbare Flächen- und Profilpläne einer neolithischen Pfahlbausiedlung dokumentiert werden konnten, sowie der Einsatz der Planfotographie als Dokumentationsmethode für Grabungsflächen.26 Finanziert wurden diese neuen Untersuchungen in den Feuchtbodensiedlungen Süddeutschlands z. T. durch Staats- und Kommunalmittel sowie mit Unterstützung der Notgemeinschaft deutscher Wissenschaften und private Spenden, z. B. von schwäbischen Industriellen und Amerikadeutschen.27 Die grundlegenden Anregungen zu diesen Projekten stammen aber aus dem wissenschaftlichen Betrieb der Universität Tübingen, wo seit 1921 das Urgeschichtliche Forschungsinstitut (seit 1930 Urgeschichtliches Institut) bestand. Es stand unter dem eindeutigen Einfluss der dortigen Naturwissenschaften, die die treibende Kraft für die Entwicklung des Faches dort waren.28 Museen Verallgemeinert kann festgestellt werden, dass die meisten Dauerausstellungen der Provinzial- und Heimatmuseen zu Beginn der 1930er Jahre etwas in die Jahre gekommen waren. Sie entsprachen nicht mehr den Gewohnheiten der Museumsbesucher sondern sie galten als elitäre, langweilige Gelehrtensammlungen ohne stärkere didaktische Aufarbeitung der Ur- und Frühgeschichte, als „Stapelplätze von Material“29. An den großen Museen Südund Westdeutschlands war zudem die provinzialrömische Archäologie in den Vordergrund 24 25 26 27
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Birkner 1927, 129. Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit 8, 1932, 16. Vgl. Pape, Entwicklung, 175. Gunter Schöbel: Die Pfahlbauten von Unteruhldingen, Teil 1-5, in: Plattform 2, 1993, 15-37, hier 1517. Ulrich Veit: Notizen aus der Provinz: Zu den Anfängen ur- und frühgeschichtlicher Forschung an der Universität Tübingen, in: Johan Callmer u.a. (Hg.): Die Anfänge der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie als akademisches Fach (1890-1930) im europäischen Vergleich. Internationale Tagung an der Humboldt-Universität zu Berlin vom 13.-16. März 2003. Rahden 2006, 95-116, hier 101. Veit: Notizen, 109. Jacob-Friesen 1952, 38. Hier zit. nach Kerstin Hoffmann: Ur- und Frühgeschichte – eine unpolitische Wissenschaft? Die urgeschichtliche Abteilung des Landesmuseums Hannover in der NS-Zeit, in: Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte 74, 2005, S. 109-249, hier 224.
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gerückt worden, so dass hier verstärkt Kritik entstand. Die finanzielle Misere der 1920er Jahre verhinderte aber in vielen Fällen die Entwicklung einer grundlegenden Neukonzeption für die bestehenden Museen, die an verschiedenen Standorten angedacht worden war. Nur wenigen Museen gelang in der Weimarer Republik die Realisierung einer Neukonzeption. Als Beispiel sei das Provinzialmuseum Hannover genannt, in dem Karl Hermann Jacob-Friesen die urgeschichtliche Abteilung neu gliederte, die vorhandenen Bestände in Schau- und Studiensammlung trennte und die Schausammlung nach didaktischen Gesichtspunkten aufbaute.30 Schon auf älteren Planungen beruhte der Neubau und die Konzeption des Provinzialmuseums Halle/Saale, 1922 in Landesanstalt für Vorgeschichte umbenannt, unter Leitung von Hans Hahne, der neben der Ur- und Frühgeschichte in den 1920er Jahren die Volks- und die Rassenkunde zusammenführte.31 Im Gegensatz zu Hahne mußte Carl Schuchhardt nach der Verlegung des Berliner Museums für Völkerkunde II in den frei gewordenen Martin-Gropius-Bau auf eine grundsätzliche Neuordnung nach den Grundsätzen moderner Museumstechnik und -didaktik verzichten. Das Museum präsentierte die Vorgeschichtsfunde – zu denen seit dem Ende der Monarchie auch die spektakulären bronzezeitlichen Goldfunde von Eberswalde gehörten – erneut in einer vergleichenden Darstellung.32 Trotzdem kam es aber schon wenige Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges zu einer neuen Entwicklung im Museumswesen. Am Bodensee in Unteruhldingen wurden 1922 die ersten „Pfahlbauten“ rekonstruiert, mit denen als Freilichtmuseum das Leben in der Jungsteinzeit nach archäologischen Befunden am Bodensee und am Federsee dargestellt werden sollte. Direkt daneben wurden zwischen 1923 und 1931 nach Vorbild des Dorfes der Wasserburg Buchau auf einer Plattform weitere Rekonstruktionen aus der Bronzezeit errichtet. Nach Schmidt boten Freilichtmuseen den Besuchern ein „als stimmig und überzeugend empfundenes Bild“, das im Vergleich zu herkömmlichen Museen „griffiger und fesselnder war“.33 Forschungsorganisation Nun war aber – bedingt durch die Geschichte der prähistorischen Forschung im 19. Jahrhundert und durch die föderale Struktur in der Bodendenkmalpflege – ein konkurrierendes Nebeneinander staatlicher Forschungsstellen, Museen aber auch Privatinitiativen entstanden. Um dieses Nebeneinander aufzulösen und die Forschung gerade für neue Forschungsinhalte stärker zu zentralisieren, gab es Mitte der 1920er Jahre verschiedene Bemühungen, die Vorgeschichtsforschung in Deutschland, vor allem im Norden und Osten des Landes, neu zu organisieren. Die Wissenschaftler versuchten auch in diesem Bereich an ältere Ideen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg anzuknüpfen, kamen aber über ein erstes Planungsstadium nicht hinaus.
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Hoffmann: Ur- und Frühgeschichte, 224. Irene Ziehe: Hans Hahne (1875-1935, sein Leben und Wirken. Biographie eines völkischen Wissenschaftlers, Halle (Saale) 1996, 43. Wilfried Menghin (Hrsg): Das Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte : Festschrift zum 175jährigen Bestehen. Berlin 2005, 148-151, hier vor allem Anm. 171, wonach Schuchhardt „im Prinzip die Systematik von 1908“ fortsetzte. Martin Schmidt: Die Rolle der musealen Vermittlung in der nationalsozialistischen Bildungspolitik. Die Freilichtmuseen deutscher Vorzeit am Beispiel von Oerlinghausen, in: Achim Leube/Morten Hegewisch (Hrsg.): Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933 – 1945, Heidelberg 2002, 147-162, hier 151.
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Politische Forschungsprojekte Über lange Jahre galt die Arbeit Gustaf Kossinnas als einzige politisch motivierte ur- und frühgeschichtliche Forschung im Geschehen der Weimarer Republik und die Ausgrabungen und Forschungen der westdeutschen sowie der mit RGK und DAI zusammenarbeitenden ostdeutschen Archäologen als unpolitisch. Die Forschung des vergangenen Jahrzehnts zeigt aber deutlich, dass auch hier durchaus politische Tendenzen mit regionalen Unterschieden festzustellen sind. Es ergibt sich eine durchaus nationale Zielsetzung der Forschung der bislang als unpolitisch angesehenen Wissenschaftsbereiche. Unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs begann die Forschung im Rheinland mit der Suche nach „den Franken“ und an der Oder leiteten die Wissenschaftler die Forschung nach den vorgeschichtlichen „germanischen Burgwällen“ ein.34 Die Arbeit der ostdeutschen Burgwallkommission unter Carl Schuchhardt und Wilhelm Unverzagt und ebenso die anderen Aktivitäten der einflussreichen Persönlichkeiten des DAI/RGK standen unter deutlich wahrnehmbarem restaurativem, deutschnationalem Vorzeichen. So schrieb der Direktor der Römisch-Germanischen Kommission, Gerhard Bersu, an das Auswärtige Amt, dass „die Polen unter Aufwand erheblicher Geldmittel ... die Bodenforschung ohne Rücksicht auf die wissenschaftlichen Tatsachen skrupellos in den Dienst der ihrer nationalen Propaganda“ stellten. Gleichzeitig erwähnt er, dass „die ostdeutsche Forschung nicht über die Mittel verfügt“, um „wissenschaftliche Gegenargumente“ durch „umfangreiche Arbeiten“ zu liefern.35 Diese Art der Ur- und Frühgeschichtsforschung war nicht politikfern, sondern zielte u. a. darauf ab, die Kriegsfolgen zu beseitigen und verfolgte damit die Maximen nationaler Machtpolitik. Belastet wurde die Wissenschaft in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zudem mit den Theorien und Thesen der völkischen Laienforschung. Zu nennen sind hier die Namen Wilhelm Teudt mit den angeblich „germanischen Heiligtümern“, Herman Wirth mit der „UraLinda-Chronik“ und Hermann Wille mit den „germanischen Gotteshäusern“.36 Diese Pläne und das Vorgehen zeigen, dass die aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stammenden ersten Ansätze zu einer Neuorganisation in allen Bereichen des noch jungen Faches um die Mitte der 1920er Jahre wieder aufgegriffen wurden. Trotzdem konnten sie wiederum noch nicht realisiert werden, denn wirtschaftliche Stagnation und schließlich die Weltwirtschaftskrise bedeuteten, dass es zur Umsetzung der Pläne keinerlei finanzielle Mittel gab. Bestrebungen und Pläne, die organisatorisch auf eine Institutsgründung abzielten, waren schon in verschiedenen Bereichen des Faches vorhanden und waren nach 1933, als der Kampf um ein Reichsinstitut für Vorgeschichte entbrannte, keine Überlegung oder Vorgabe der Nationalsozialisten.
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Uta Halle, Die archäologische Suche nach den Franken im Rheinland und Beneluxgebiet – Neue wissenschaftliche Perspektiven unter wechselnden politischen Systemen (1920-1950), in: Matthias Middell/Ulrike Sommer (Hrsg.): Historische West- und Ostforschung in Zentraleuropa zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg – Verflechtung und Vergleich (= Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert Bd.5) Leipzig 2004 (2005), 73-87. Fehr: Archaeology, 205 Anm. 8. Zu Teudt vgl. Uta Halle: „Die Externsteine sind bis auf weiteres germanisch!“ Prähistorische Archäologie im Dritten Reich Bielefeld 2002, 69-79 und neuerdings mit anderer Tendenz Iris SchäferjohannBursian: Wilhelm Teudt im Detmold der 1920er Jahre – seine Suche nach Orientierung, in: Stadt Detmold (Hg.) Krieg – Revolution – Republik. Detmold 1914 bis 1933. Dokumentation eines stadtgeschichtlichen Projekts. Bearb. v. Hermann Niebuhr u. Andreas Ruppert. Bielefeld 2007, S. 415-458; zu Wille vgl. Uta Halle: „Pflege exakter Wissenschaft und Bekämpfung aller Auswüchse“ – Das Provinzialmuseum Hannover und die völkische Laienforschung, in: Die Kunde N.F. 55 (Festschrift für Günter Wegner Bd. 3) 2004, 103-114, hier 108-113.
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118 Stellenwert der Ur- und Frühgeschichte in der NS-Ideologie vor 1933
Auch wenn in einer Denkschrift zur Vorgeschichtsforschung aus dem Zeitraum Ende 1938 bis August 1939 dezidiert darauf hingewiesen wurde, dass „schon in den Anfängen der nat.soz. Bewegung die Bedeutung der germanischen Vor- und Frühgeschichte für die politische und weltanschauliche Erziehung erkannt (wurde)“, so muss festgestellt werden, dass dem nicht so war.37 Das Verhältnis der führenden Nationalsozialisten zur Vor- und Frühgeschichte war maßgeblich durch die Lektüre antisemitischer und völkischer Schriften des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts und durch Romane wie z. B. Felix Dahns „Kampf um Rom“ und germanische Sagen beeinflusst worden. Mit den wissenschaftlich-methodischen Instrumentarien der Geschichtsforschung und hier im speziellen mit der archäologischen Methodik hatten sie sich vor 1933 anscheinend nicht oder kaum auseinandergesetzt. Auch sind kaum Kontakte zwischen ihnen und Fachwissenschaftlern in der Frühphase der NSDAP nachweisbar.38 Hitler Hitlers Geschichtsbild zeigt im Wesentlichen das Freund-Feind-Schema Arier/Juden auf, das er willkürlich auf alle Zeiten, Regionen und Kulturen übertrug. Ein direktes Germanenbild mit Bezug auf die Ur- und Frühgeschichtsforschung findet sich bei ihm kaum und läßt sich vor der Machtübernahme kaum nachweisen. Es ist bekannt, dass er sich 1908 ein Buch ausgeliehen hatte, das „Abbildungen von Ausgrabungen und Funden (enthielt), welche Schlüsse über den kulturellen Stand der germanischen Stämme ziehen ließ“.39 Rosenberg Die Bemerkungen Alfred Rosenbergs zeigen eine „zustimmende“ Einstellung zum Germanentum und zur Vorgeschichtsforschung. Sein Geschichtsbild war gekennzeichnet durch die Annahme eines permanenten Überlebenskampfes zwischen der „nordischen Rasse“ und einem christlichen oder jüdischen oder bolschewistischen Gegner. Dabei ging er von einer „nordisch-arischen“ Wurzel aller Hochkulturen, entstanden in einem nordischen vorgeschichtlichen Kulturzentrum aus. Alfred Rosenberg zitiert im „Mythus“ an einer Stelle den anerkannten Berliner Vorgeschichtsforscher Carl Schuchhardt mit seinem Werk „Vorgeschichte von Deutschland“40, erwähnt ohne Angabe der Quelle die steinzeitlichen „Häusertypen von Haldorf“ in Hessen und anderer archäologischer Befunde41 und versuchte 1928 erstmals Kontakt zu einem anerkannten Vorgeschichtler, zu Hans Reinerth zu bekommen. Dies gelang ihm aber nicht sofort sondern erst 1931/32, als Reinerth von sich aus die Annäherung an die NSDAP suchte. Trotzdem lässt sich erkennen, dass Rosenberg sich nicht die Zeit nahm, Reinerths Bücher zu lesen, d. h. auch hier ist keine direkte Auseinandersetzung mit fachwissenschaftlichen Belangen festzustellen.42
37 38 39 40 41 42
Denkschrift zur Vorgeschichte 1939, 3. Die Quelle ist dokumentiert von Gerd Simon und auf seiner Homepage abrufbar: http://homepage uni-tuebingen.de/gerd.simon/DSVorgesch.pdf (Zugriff: 20.1. 2007). Halle: Externsteine, 55-57. Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators. München 1996, 299. Alfred Rosenberg: Mythus des XX. Jahrhunderts. München 1943, 385. Rosenberg: Mythus, 383. Wahrscheinlich zitiert er hier auch C. Schuchhardt, Vorgeschichte von Deutschland, 60-61 und Abb. 51. Halle: Externsteine , 56 Anm. 18.
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Himmler Im Gegensatz zu Rosenberg oder Hitler hat Himmler sein ideologisches Geschichtsbild vor 1933 nicht in einem publizierten Werk zusammengefasst und auch andere Veröffentlichungen aus dieser Zeit sind bislang von der zeitgeschichtlichen Forschung nicht ediert vorgelegt worden. Die kanadische Journalistin H. Pringle weist allerdings darauf hin, dass Himmler in Kindheit und Jugend stark durch die vorgeschichtlichen Sammelambitionen seines Vaters geprägt wurde, indem er von seinem Vater des öfteren zu Wochenendausflüge zum Sammeln vorgeschichtlicher Scherben und römischer Münzen mitgenommen worden wäre. Ferner hätte der Vater in der Familienwohnung einen „Ahnenraum“ eingerichtet gehabt, in dem auch die gesammelten Fundstücke präsentiert worden wären. Himmler erhielt somit schon früh eine bleibende Prägung zu diesem Fach.43 Nach Kroll nahm Himmler Faktoren und Versatzstücke der Arbeiten Hitlers und Rosenbergs auf und veränderte sie in spezifischer Weise, eine Weise, die sich aber erst in den Quellen nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten widerspiegelt (Kroll 1998, 212) und erst ab diesem Zeitpunkt dargestellt werden kann. Stellung der Wissenschaft zum Nationalsozialismus vor 1933 Die damals veröffentlichte Literatur enthält selten dezidierte Äußerungen zur politischen Stellung der Wissenschaft zum Nationalsozialismus vor 1933, die archivalischen Quellen sind bislang nur unzureichend auf diese Fragestellung untersucht worden. Es ist schwierig, die grundlegende Motivation für den Parteibeitritt der Wissenschaftler zu eruieren, da das bekannte archivalische Quellenmaterial in der Regel kaum private oder dienstliche Äußerungen zu dieser Thematik enthält. Auch die veröffentlichte Literatur enthält nur wenige Aussagen. Es fällt allerdings auf, dass sich die Fachwelt um eine hinreichende Abwendung des wissenschaftlichen Schadens durch extreme völkische Theorien bemühte.44 Für zwei angehende Wissenschaftler läßt sich über Teilnahme am Putschgeschehen 1923 in München nachweisen (A. Langsdorff; W. Stokar von Neuforn).45 Verschiedene andere Studenten und Absolventen der Ur- und Frühgeschichte bewegten sich als Mitglieder oder im Umfeld völkischer Gruppen, in Freikorps oder im Stahlhelm (W. Buttler; K. Tackenberg; H. Zeiss; E. Wahle; G. Schwantes) und bekannten sich damit als politisch rechts stehend und als Gegner der demokratischen Weimarer Republik.46 Die Vorgeschichtler-Dossiers, die wahrscheinlich 1939 angelegt wurden, verzeichnen zudem als „Alte Parteigenossen“ die Ur- und Frühgeschichtler W. Bastian, P. Grimm, H. Butschkow, H. Gummel, K. Hucke, W. Kersten, G. Riek und F. Wiegers.47 Archäologen fanden sich auch bereit, in den „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ mit ihrer Konzentration in den Arbeitsschwerpunkten auf die deutschen Grenzgebiete, deren wissenschaftliche Studien den deutschen Anspruch auf diese Regionen legitimieren sollten, mitzuarbeiten. Zu nennen sind hier W. Unverzagt; G. Schwantes; E. Wahle).48 Kossinna stellte sich als erster Prähistoriker schon 1928 in die Zusammenarbeit mit der NSDAP und unterzeichnete 1929 den Gründungsaufruf für den Kampfbund für deutsche 43 44 45 46 47 48
Heather Pringle: The Master plan. Himmler‘s scholars and the Holocaust, London 2006, 19. Halle: Pflege. Halle: Externsteine, 128 und 129 Anm. 214. Während Langsdorff in den Vorgeschichtler-Dossiers nicht erwähnt wird, wird dieser Punkt bei Stokar besonders hervorgehoben. Zu den Dossiers vgl. Simon 2006: http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/VorgeschDossiers.pdf (Zugriff: 19.8.2006) Pape: Prähistoriker, 64-65. Simon: Dossiers. Fehr: Archaeology, 329.
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Kultur, der zunächst aber als „überparteilich“ galt. Bis zu seinem Tod im Dezember 1931 sind aber keine weiteren Aktivitäten bekannt. Andere Fachwissenschaftler, wie G. Riek und H. Hahne, waren schon vor Januar 1933 in die NSDAP eingetreten.49 Besonders hervorzuheben sind die Schüler des Marburger Professors G. von Merhart, von denen schon vier, u. a. W. Buttler, in der Zeit zwischen 1930 und 1932 in die NSDAP eintraten.50 Zunächst abwartend verhielt sich Hans Reinerth, zu diesem Zeitpunkt noch Privatdozent in Tübingen, obwohl er schon 1928 von Rosenberg um eine aktive Mitarbeit in der Partei gebeten worden war. Nach dem enttäuschenden Ausgang eines Disziplinarverfahren an der Tübinger Universität begann im Winter 1931/32 mit seinem Eintritt in die NSDAP und in den Kampfbund für deutsche Kultur Reinerths nationalsozialistische Karriere. Nun gehörte er zu den „aufstrebenden jungen Fachleuten“ auch der Ur- und Frühgeschichtsforschung, deren ideologische Bindung an die NSDAP nicht umfassend ausgeprägt war, sondern deren eigentliches Motiv darin zu suchen ist, dass sie „unter den unkonventionellen Bedingungen“ der NSDAP schneller Karriere zu machen hofften. Reinerth war aber nicht der erste, sondern schon einen Monat vor ihm war B. von Richthofen in den Kampfbund eingetreten.51 Die Betonung der angeblichen Überparteilichkeit kennzeichnet den Versuch, nationalistisch gesinnte Wissenschaftler für die Mitarbeit im Kampfbund zu gewinnen und hier wirkte Reinerth zunächst noch vor dem Machtantritt der NSDAP äußerst erfolgreich. Immer wieder schrieb er potentielle Kandidaten an und forderte sie zur Mitgliedschaft im Kampfbund auf. 1932 waren dadurch schon mehr als 30 Prähistoriker, überwiegend aus Nord- und Ostdeutschland, dem Kampfbund beigetreten.52 Diese Mitglieder einte über die politische Nähe zur bzw. die Mitgliedschaft in der NSDAP hinaus ihre Ablehnung gegenüber den Thesen der völkischen Laienforschung, aber auch die Gegnerschaft zur wissenschaftlichen Ausbreitung der Arbeit der RGK in den Norden und Osten.53 Für den Kampfbund verfasste Reinerth im Dezember 1931 eine Skizze, die wesentliche Punkte für eine Neuorganisation der Ur- und Frühgeschichtsforschung enthielt: Schaffung eines Forschungsinstituts für deutsche Vorgeschichte im Sinne und in der Ausstattung der Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft; Reichsfinanzmittel und Lehrstühle für das Fach sowie Förderung der Landesämter und Museen für Vorgeschichte, Förderung der Forschung und Bereitstellung besonderer Reichsmittel für die Erforschung der bedrohten ostdeutschen und rheinischen Länder. Ausdrücklich bezog Reinerth in dieser Skizze alle kulturellen Erscheinungen auf deutschem Boden von der Altsteinzeit bis etwa 800 n. Chr. ein, worunter er auch alle Fremderscheinungen auf deutschem Boden verstand und die Slawen und Kelten nannte. Reinerth hatte damit die Ziele und Forschungsinhalte skizziert.54 Obwohl seine entworfene Skizze somit auf eine umfassende strukturelle Neuordnung und Aufwertung der prähistorischen Forschung zielte, enthielt sie außer einigen eher allgemein abgefassten Formulierungen keine konzeptionellen Entwürfe, wie diese Ziele erreicht werden sollten. Mit diesen Formulierungen griff er ältere Ideen des Faches auf. Bei der Betrachtung einiger Kernforderungen der zu dieser Zeit geführten fachwissenschaftlichen Diskussion über organisatorische Probleme des Faches und der gesetzlichen Bodendenkmalpflege wird klar, dass diese Forderungen vermutlich von der Mehrzahl der deutschen Fachwissenschaftler unterstützt worden wären. Die von Reinerth vorgestellten Vorschläge 49 50 51 52 53 54
Halle: Externsteine, 128. Erwähnt in einem Schreiben Merharts aus dem Jahr 1936. hier zit. nach Dana Schlegelmilch: Der Marburger Prähistoriker Gero von Merhart von Bernegg (1886-1959) im Dritten Reich. Magisterarbeit an der Universität Marburg 2006, 93. Pape, Entwicklung, 176. Pape, Entwicklung, 221 Abb. 22. Halle: Externsteine, 134f. Hans Reinerth: Die deutsche Vorgeschichte im Dritten Reich, in: Nationalsozialistische Monatshefte 27, 1932, 256-259.
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bedeuteten keineswegs die Auflösung der bisherigen föderalen Struktur der damaligen Forschungseinrichtungen, allerdings zielte er auf eine Vereinheitlichung der Bodendenkmalpflege in Deutschland, ohne dies in einzelnen Punkten näher zu konkretisieren. Als Begründung für diese Neuordnung und Aufwertung des Faches gab Reinerth gegenüber Rosenberg an, dass die deutsche Vorgeschichte dank der Gegenarbeit „rassefremder und undeutsch denkender Elemente“ den wenigsten Deutschen bekannt wäre, und baute nun erstmals die nationalsozialistische Rassenterminologie in seine fachwissenschaftliche Argumentation ein.55 Die Reaktionen der Archäologen der RGK-Seite zeigen, dass sie Reinerths 1932 in den Nationalsozialistischen Monatsheften veröffentlichte Skizze als Kampfansage gegen die Arbeit der RGK empfanden und dass eine so geplante und finanzierte Neuordnung des Faches nur zu Ungunsten der bisher vorhandenen Forschungsinstitutionen durchgeführt werden konnte. Es waren tatsächlich nicht allein die hehren wissenschaftlichen Prinzipien, es ging nicht nur „um eine ideologisch reine Lehre“, sondern um mehr, zur Entscheidung um die auch damals raren Forschungsgelder für Archäologie.56 Ein weiterer Punkt kam schon in diesem Moment hinzu. Man sah Reinerth als unbelehrbar an und hegte aus verschiedenen Gründen von dieser Seite keinerlei persönliche Sympathien für Reinerth. Sein persönliches Verhalten, mit dem er – so hat es M. Strobel 1999 formuliert – gegen den ungeschriebenen wissenschaftlichen Ehrenkodex verstoßen hatte, wurde zum ausschlaggebenden Kritikpunkt. Bezeichnungen, die für Reinerth zeitgenössisch bei seinen Gegner in Umlauf waren, wie „Arrivist“ oder die Aufschrift eines Ordners von Merhart in Marburg „Weil Rosenberg den Lumpen Reinerth zur Macht kommen ließ“ verdeutlichen dies explizit.57 In den folgenden Monaten streuten sie anscheinend gezielt Gerüchte über Reinerths negative Seiten.58 Insgesamt bleibt festzuhalten, dass in den ersten Jahrzehnten, in der Jugend des Faches zunächst im Kaiserreich, dann in der Weimarer Republik der große Durchbruch zur vollen wissenschaftlichen Anerkennung des Faches noch nicht gelang. Erst unter den veränderten politischen Voraussetzungen des nationalsozialistischen Regimes kam es, wie Pape richtig feststellte, zum „Aufstieg zur vollen akademischen Anerkennung“ und zum großflächigen Einsatz als Legitimationswissenschaft zur „Germanisierung Europas“.59 Das Fach quasi noch im Status nascendi ohne eine methodisch-wissenschaftliche Ausdifferenzierung aber schon verknüpft mit einer deutlich wahrnehmbaren restaurativen Politisierung, belastet mit zahlreichen Konflikten, das an einem tiefgreifenden Wendepunkt stand, führte zu einer besonderen Verstärkung der Gefährdung nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ab Januar 1933. Tatsächlich besaßen die wesentlichen Konflikte, die im Nationalsozialismus in der offenen Auseinandersetzung zwischen den Archäologen des Amtes Rosenberg und den Wissenschaftlern des „Ahnenerbes“ eskalierten, eine Vorgeschichte, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichte. Damit standen sich aber Ende 1932 für den zum Teil schon vollzogenen Paradigmenwechsel des Faches verschiedene Wissenschaftlergruppen gegenüber, die nun einen fachinternen Wettkampf um die Macht begannen.60
55 56 57 58 59 60
Halle: Externsteine, 133. Anja Heuss: Kunst- und Kulturgutraub. Eine vergleichende Studie zur Besatzungspolitik der Nationalsozialisten in Frankreich und der Sowjetunion. Heidelberg 2000, 137. Schlegelmilch: Prähistoriker, 5. Dana Schlegemilch weist explizit daraufhin, dass die Beschriftung des Ordners von Merhart persönlich vorgenommen wurde. Schlegelmilch: Prähistoriker, 6. Michael Strobel: Lebendige und völkische Vorzeit - Ein Beitrag zur Geschichte der prähistorischen Archäologie in Württemberg zwischen 1918 und 1945, in: Christoph Kümmel u. a. (Hrsg.): Archäologie als Kunst. Darstellung – Wirkung – Kommunikation. Tübingen 1999, 75. Pape, Entwicklung, 357. Halle: Externsteine, 138.
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Umgang des Nationalsozialismus bzw. der einzelnen Interessengruppen innerhalb des NS mit der Wissenschaft (1933-1939) Waren schon für den Zeitraum vor 1933 kaum öffentliche Bekundungen zu den Germanen und zu den Aufgaben der Ur- und Frühgeschichtsforschung für Hitler nachzuweisen, so gilt dies auch für die Zeit nach dem Machtantritt. Eine konkrete öffentliche Äußerung ist erst aus dem Dezember 1934 zu benennen. In ihr verwies Hitler auf das kulturell hochstehende Volk der Germanen, zog den Vergleich zur indogermanischen Wurzel vieler europäischer Völker und betonte die Verpflichtung der nationalsozialistischen Ur- und Frühgeschichtsforschung, diese Geschichte zu untersuchen.61 Entsprechend dieser Meinung sind von Hitler nur wenige direkte Kontakte zu Fachwissenschaftlern oder Besuche der Tagungen des Reichsbundes für deutsche Vorgeschichte oder des SS-Ahnenerbes bekannt. Ebenso sind nach 1933 nur einige Besichtigungen von Ausgrabungsstellen für Hitler überliefert.62 Nach Kroll kommt den geschichtlichen Äußerungen Hitlers eine doppelte Bedeutung zu. Sie waren zum einen nicht mehr als „taktische motivierte Lippenbekenntnisse“, um die nationalsozialistische Politik mit einer geschichtlichen Wurzel zu verankern. Zum anderen spiegelten sie Hitlers tatsächliche Überzeugung wider, nach der sich im Nationalsozialismus „die Quintessenz von zweitausend Jahren germanisch-deutscher Geschichte“ vereinigen würde.63 Gleichzeitig war diese Äußerung ein Spiegelbild der außenpolitischen Ambitionen Hitlers, der Traum der Vormachtstellung eines großdeutschen Reiches in Mitteleuropa, beruhend auf der gemeinsamen indogermanischen Wurzel und zu erreichen durch „territoriale Expansion und Arrondierung“.64 Zeitgenössische Äußerungen der nationalsozialistischen Fachwissenschaftler hingegen zeigen, dass sie sich durch Hitlers Desinteresse an fachlichen Belangen der Ur- und Frühgeschichte im Stich gelassen fühlten.65 Dem gegenüber lassen sich für Rosenberg seit dem Machtantritt vermehrt Aktionen im Rahmen der Fachwissenschaft feststellen. In seinen öffentlichen Reden auf den Tagungen des Reichsbundes für deutsche Vorgeschichte vermittelte Rosenberg seine Begeisterung für den völkischen Mentor der deutschen Vorgeschichtsforschung, Gustaf Kossinna, und für das Fach. Mehrfach besuchte Rosenberg auch Grabungen und Untersuchungen, die von Mitarbeitern des Amtes Rosenberg durchgeführt wurden, verschiedene Museen und Ausstellungen.66 Auch fachintern zögerte er nicht zu versuchen, die Interessen seiner Wissenschaftlerfraktion innerhalb des NS-Regime durchzusetzen, er blieb dabei allerdings fast immer der Verlierer gegen seinen mächtigen Gegenspieler Heinrich Himmler. Noch stärker als bei Rosenberg kommt die Perzeption des Faches bei Heinrich Himmler, dem „Reichsführer SS“, zutage. Er betrachtete die prähistorische Archäologie als „die unmittelbare, mit allen Sinnen erfaßbare Berührung mit den wieder ans Licht gebrachten 61 62
63 64 65 66
Halle: Externsteine, 57-60. Die Ausgrabung der Burganlage im Kyffhäuser. Titelbild Spatenforscher 1, 1936. Besichtigung der Ausgrabungen im Braunschweiger Dom im Juli 1935. Immo Heske: „Inszeniertes Germanentum“ – Das archäologische Museum „Haus der Vorzeit“ in Braunschweig von 1937 bis 1944, in: Archäologisches Nachrichtenblatt 10, 2005, 482-493, hier 483. Frank-Lothar Kroll: Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich. Paderborn/München/ Wien/ Zürich 1998, 66. Hans-Ulrich Thamer: Verführung und Gewalt, 1998, 315. Halle: Externsteine, 59. Halle: Externsteine, 72.
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Häusern, Waffen und Geräten unserer Vorfahren“ und leitete daraus die Legitimation zur Verfälschung vorgeschichtlicher Forschungsergebnisse ab. Hieraus ergab sich, dass er sich rücksichtslos über Ergebnisse der wissenschaftlichen, archäologischen Forschung hinwegsetzte, wenn sie nicht den ideologischen Vorstellungen entsprachen. Aufgrund der „rassenpolitischen Aufgaben der Schutzstaffeln“ legte Heinrich Himmler „großes Gewicht auf die Aufhellung der deutschen Vorzeit und die Inangriffnahme von Grabungen an den für diese Zielsetzung in Betracht kommenden Stellen“. Himmler wurde deshalb vom Reichserziehungsministerium „zur Ausgrabung vorgeschichtlicher Altertümer innerhalb des Landes Preußen ermächtigt“ und die anderen Länder wurden gebeten, ihm ebenfalls „eine entsprechende Ermächtigung“ zu erteilen.67 Damit konnte Himmler im Gegensatz zu Rosenberg direkten persönlichen Einfluß auf Grabungsvorhaben gewinnen. Wissenschaftliche Arbeiten in der Ur- und Frühgeschichte unterlagen aufgrund ihres hohen ideologischen Stellenwertes der Gefahr der Inanspruchnahme und des Missbrauchs als politische Wissenschaft und es gilt zu recht neben der Volkskunde, Rassenkunde/Anthropologie als Schüsselfach oder „weltanschauliche Grundwissenschaft“ der NSZeit68. Begehrlich wurde das Fach aus mehreren Gründen für die Nationalsozialisten: Erstens verlegte die „hervorragende nationale Wissenschaft“ (Gustaf Kossinna) „den Ausgangspunkt für die geschichtliche Entwicklung unseres Erdteils in die mitteleuropäische Urheimat unseres Volkes“. Die „germanische Völkerwanderung“ berührte zudem weite Bereiche Europas, und deshalb konnte die nationalsozialistische Politik über „germanische“ archäologische Quellen arbeiten. Demnach hätte die europäische Entwicklung in der Meinung der Nationalsozialisten im „germanischen Deutschland“ begonnen, und es konnte sich daraus das Expansionsbestreben des NS-Reiches ableiten lassen. Zweitens wirkte das Fach der viel diskutierten „herkömmlichen Unterschätzung der Kulturhöhe unserer germanischen Vorfahren“ entgegen. Es bildete dadurch ein bedeutsames wissenschaftliches Korrektiv gegenüber dem damals weitverbreiteten Germanenbild, das eher dem „unkultivierter, primitiver“ Völker entsprach, also einem Volksbild, das die Nationalsozialisten zur Ausrottung vorgesehen hatten.69 Gleichzeitig konnte die Ur- und Frühgeschichtswissenschaft ideologisch besetzte Schlagwörter des Nationalsozialismus, wie Leistung, Kameradschaft, Charakter, Ordnung, Volk, Führer, Gefolgschaft, Treue, Mutter-, Rassen- und Elitekult, Geschlechterrollen, bäuerliches Leben, Heimat, Reich, Expansion, Opfer, Heldentum und -tod, über ihre Arbeit mit Ausstellungen, Vorträgen, Schulbüchern etc. in weite Bereiche des öffentlichen Lebens transportieren.70 Rezeption der „Machtergreifung“ durch die Wissenschaft In der Zeit um den 30. Januar 1933 und in den darauffolgenden Wochen begann ein Wettkampf zwischen den verschiedenen fachwissenschaftlichen Gruppierungen, um die Gunst und Aufmerksamkeit der neuen Machthaber für die eigenen Interessen zu gewinnen. Es gab in allen Gruppierungen und Lagern Personen, die zum Handeln bereit waren und die in dem Bewusstsein der „richtigen“ nationalsozialistischen Gesinnung und unter Nutzung der NSDAP versuchten politischen Einfluss zu nehmen. Es liegt nahe, dass von den etablierten 67 68 69 70
Halle: Externsteine, 62-65. Schlegelmilch: Prähistoriker, 1. Halle: Externsteine, 66. Henning Hassmann: Archäologie und Jugend im „Dritten Reich“. Ur- und Frühgeschichte als Mittel der politisch-ideologischen Indoktrination von Kindern und Jugendlichen, in: Achim Leube / Morten Hegewisch (Hrsg.): Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933 – 1945, Heidelberg 2002, 107-146, hier 110.
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Fachwissenschaftlern nicht nur G. von Merhart hoffte, dass nun für die „Urgeschichte des deutschen Bodens“ endlich die „Sonne scheinen“ würde.71 Sofort begannen die ohnehin im Kampfbund für deutsche Kultur gebundenen Wissenschaftler den Kampf um die Gunst der neuen Politiker. Nach den letzten Wahlen am 5. März 1933 nahmen aber auch die konservativen Eliten des Faches diesen Kampf auf. Wenige Monate nach der nationalsozialistischen Machtübernahme zeigte sich damit endgültig das emphatische Engagement, mit dem ein Teil der deutschen Archäologen die veränderte politische Situation beurteilte und es kam zu einer Welle von Eintritten in die NSDAP. Verbunden war mit den Parteieintritten die Vorstellung, nun eine neue „bessere“ fachwissenschaftliche Zukunft – eine durchaus verlockende Perspektive, die allerdings bei den unterschiedlichen Parteimitgliedern jeweils andere Nuancen hatte – erleben zu können.72 Auch der Kampfbund mit seiner Fachgruppe für Vorgeschichte profitierte erneut und erlebte eine weitere Eintrittswelle. Pape macht zu Recht darauf aufmerksam, dass von Druck oder Zwang bei diesen Eintritten nicht gesprochen werden kann.73 Trotz erster massiver öffentlicher Verunglimpfungen der Arbeit der RGK durch Reinerth ist davon auszugehen, dass es eine breite Übereinstimmung überwiegend aus Ostdeutschland zu den erklärten Zielen des Kampfbundes gab. Schon die ersten Wochen und Monaten unter nationalsozialistischer Herrschaft sind fachintern geprägt durch die Auseinandersetzung um die richtige Forschungsorganisation, um die richtigen Wissenschaftler und die richtige Einbindung in den NS-Staat. Neukonzeptionen der Museen, Veränderung in der Lehre, Bodendenkmalpflege, in den Forschungsinhalten bzw. -strukturen wurden in der Regel von den zuständigen wissenschaftlichen oder organisatorischen Stellen, aber nicht durch die Parteileitung oder Staatsführung verlangt. Diese Ergebnisse, nicht unter Druck der Parteileitung erzeugte Veränderungen in der Öffentlichkeitsarbeit des Faches sondern bereitwillige Mitarbeit am Aufbau eines nationalsozialistischen Ur- und Frühgeschichtsverständnisses kennzeichnen in allen Bereichen der Ur- und Frühgeschichtsforschung die Situation. H.-P. Kuhnen zitiert hierzu aus einem Bericht des Direktors des Rheinischen Landesmuseums Trier, der sich in vergleichbarer Art auch für die anderen Wissenschaftsbereiche der Ur- und Frühgeschichte übernehmen läßt: „Ohne Ausnahme stellten sie ihre Kraft in den Dienst der Partei und ihrer verschiedenen Gliederungen und Organisationen“.74 Der Machtkampf um ein Reichsinstitut für deutsche Vorgeschichte (1933-35/36)75 Gemäß einer abgesprochenen Aufforderung aus dem Innenministerium legte Reinerth schon im Februar 1933 die Grundforderungen für die zukünftigen Aufgaben eines „Reichsinstituts für Deutsche Vorgeschichte“ fest, das folgende Befugnisse erhalten sollte: Überwachung des Lehr- und Forschungsbetriebes an den Hochschulen, Ausübung des gesetzlich vorgeschriebenen Denkmalschutzes des Reiches, Ausgabe der Richtlinien für die Arbeit der Staatlichen Museen und vorgeschichtlichen Denkmalämter der einzelnen Länder und Provinzen. Es handelte sich hierbei im wesentlichen um Ideen, die Reinerth schon vor 71 72 73 74 75
Schlegelmilch: Prähistoriker, 48. Halle: Externsteine, 128. Pape, Entwicklung, 221 Abb. 22. Tätigkeitsbericht für das Rheinische Landesmuseum Trier für die Zeit vom 1.4.1933 – 31.3.1937. Hier zit. nach Hans-Peter Kuhnen (Hrsg.): Propaganda. Macht. Geschichte. Archäologie an Rhein und Mosel im Dienst des Nationalsozialismus, Trier 2002, 302- 305, hier 305. Alle Angaben zum Machtkampf um das geplante Reichsinstitut für deutsche Vorgeschichte sind – sofern keine andere Angabe erfolgt – meiner Studie „Die Externsteine sind bis auf weiteres Germanisch!“ Prähistorische Archäologie im Dritten Reich“ entnommen und dort detailliert nachgewiesen. Deshalb wurde hier auf einen weiteren Quellennachweis verzichtet.
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1933 öffentlich geäußert hatte, die aber nun eine deutliche Akzentuierung und Verschärfung hin zu Überwachungs- und Kontrollfunktionen für Lehre und Forschung und Weisungsbefugnis für die Museumsarbeit und Bodendenkmalpflege enthielten. Schon die ersten Monate zeigen aber deutlich, dass der Fachgruppe Vorgeschichte im Kampfbund kein Erfolg beschieden war, da die Staats- und Parteiführung sich in den ersten Monaten nicht für eine Reichsbeauftragung entschied. Die Entwicklung um die Fachgruppe zeigt, dass der Staat bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf das von Reinerth schon Monate vor der Machtübernahme ausgearbeitete Konzept zur Neuordnung des Faches zugriff, obwohl es den nationalsozialistischen Organisationsstrukturen entsprach. In den Sommermonaten des Jahres 1933 verschärfte die Fachgruppe des Kampfbundes die Angriffe gegen die bisherigen staatlichen Forschungsstellen und die provinzialrömische bzw. klassische Archäologie und trug sie bei nationalsozialistischen Kundgebungen in die Öffentlichkeit. Gleichzeitig wurden Pläne der verschiedenen Wissenschaftler innerhalb der DAI/RGK bezüglich einer/s Abteilung/Instituts für Vorgeschichte Nord- und Ostdeutschlands innerhalb des Deutschen Archäologischen Instituts entwickelt und an das Auswärtige Amt weitergegeben. Ferner hatte der Hannoveraner Ur- und Frühgeschichtler Jacob-Friesen zusammen mit weiteren Wissenschaftlern eine Denkschrift entwickelt, um die „Bedeutung der deutschen Vorgeschichte im Rahmen des nationalen Aufbaus“ gegenüber dem Preußischen Kultusministeriums und dem Reichsinnenministerium hervorzuheben. Auch hier wurde eine eigenständige Kommission für den Norden und Osten gefordert und es war ein übergeordnetes Reichsinstitut vorgesehen, das „im engen Kreis forschender Arbeit aller deutschen Vorgeschichtler die großen Linien“ verfolgen sollte. So wurde der Kampf um ein Reichsinstitut und damit verbunden gegen den vorgesehenen Direktor Hans Reinerth sehr schnell zum Mittelpunkt der Auseinandersetzungen, hinter den alle anderen wissenschaftlichen Aktionen zurücktraten, der verschiedene Ausgrabungen auslöste und zu politischen Denunziationen in größerem Umfang führte. Die Fachgruppe Vorgeschichte im Kampfbund versuchte während dieser Zeit über den Weg der Gleichschaltung der Altertumsverbände seine Machtposition weiter auszubauen. Allerdings gelang ihm dieses Vorhaben nicht, denn es kam bereits schon ab September 1933 zu ersten Absplitterungen. Bereits in dieser frühen Phase wurde Reinerth als nicht geeigneter Leiter empfunden. Reinerths Angriffe zeigen den typisch nationalsozialistischen plakativen Charakter, indem er sie auf die Religionszugehörigkeit der jüdischen Leitung der RGK abstimmte. Insgesamt fehlte Reinerth aber in dieser Zeit der politische Instinkt für eine dezidierte Auffassung der nationalsozialistischen Realität. In sich war die Fachgruppe nicht mehr geeint und damit hatte sie schon einen Teil ihrer politischen Bedeutung verloren. Aber auch die „Berufsvereinigung der deutschen Prähistoriker“, die sich 1922 gebildet hatte, konnte sich nach der Machtübernahme nicht entscheidend profilieren. Zwar beinhaltete die Planung der Berufsvereinigung ein übergeordnetes Reichsinstitut für Vorgeschichte, das unabhängig vom DAI beide Kommissionen (Römisch-Germanisch und Norddeutsche) vereinte, aber auch dieser Plan gewann keine größere Diskussion, sonder fiel im weiteren Verlauf der Planungen heraus. Die Mitglieder der Berufsvereinigung, die z. T. identisch zum Kampfbund waren, nahmen schon auf ihrer Jahrestagung in Görlitz im September 1933 den „Arierparagraphen ... in seiner schärfsten Form“ in ihre Satzung auf. Dies war aber auch gleichzeitig die letzte größere Aktion der Berufsvereinigung, denn sie trat in den entscheidenden Kämpfen zwischen den verschiedenen Wissenschaftlergruppen bis auf B. von Richthofen vollkommen in den Hintergrund. Die Wissenschaftlergruppe des DAI/RGK zeigt in ihren Aktionen, wie sehr sie sich bemühte, die vorhandene Machtposition in der Vorgeschichtsforschung zu behalten bzw. sie gegen den Reinerthschen Widerstand weiter auszubauen. Von Anfang an arbeitete man
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hier mit Staats- und Parteistellen zusammen. Hier wurden die Angriffe gegen Reinerth auf dem Weg der persönlichen Verunglimpfung geführt, eine Möglichkeit, die der Fachgruppenleiter als Persönlichkeit durch sein Verhalten an vielen Stellen geradezu herausforderte. G. von Merhart schrieb in dieser Phase, wie er die Angriffe Reinerths empfand: „Das ist Zerstörungswille, eine absurde und einsichtslose Feindseligkeit gegen die RGK“.76 Trotzdem zielten die ergriffenen Maßnahmen nicht nur unmittelbar gegen Reinerth, sondern waren zum Teil Anpassungsmaßnahmen an die neue Staatsform. Konkreter Druck von Seiten der Parteiführung auf den unterschiedlichen Ebenen konnte nicht festgestellt werden. Stattdessen zeigt sich für die meisten Beteiligten eine aktive Teilnahme am politischen Geschehen, um die NSDAP für die persönlichen und wissenschaftlichen Interessen zu nutzen. Geschickt gesteuert hatte die süddeutsche Fraktion bei der Universität Tübingen ein folgenschweres Disziplinarverfahren gegen Reinerth durchführen lassen, umfassende und persönlich gehaltene Beschwerden an verschiedene Staatsstellen geschickt, es waren öffentliche Gegenmaßnahmen von Seiten der RGK und des DAI eingeleitet worden, indem eine kleine Denkschrift bzw. ein Aufsatz gedruckt und an die NS-Politiker verteilt worden waren. Erreicht hatten sie, dass sich führende Mitglieder des Nordwestdeutschen Verbandes gegen Reinerth aussprachen und dem Tübinger Privatdozenten ihre bisherige Gefolgschaft aufkündigten, weil sie Reinerth als nicht effektiv genug handelnd sahen und ihm seine wissenschaftliche Ehre absprachen. Am 11. Mai 1934 wurde die Zuständigkeit für das Deutsche Archäologische Institut auf das Erziehungsministerium übertragen und damit eine wenige Monate alte Planung umgesetzt. Der Hintergrund dieser Maßnahme bleibt aufgrund der bisher bekannten Quellen unklar. Damit dürfte die Einflussmöglichkeit des DAI im Erziehungsministerium gestiegen sein. Auf der Tagung des Nordwestdeutschen Verbandes für Altertumsforschung 1934 setzte der Verband mit der Einführung des Führerprinzips einen deutlich nationalsozialistischen Akzent und erstmals gab es keine Vorstandswahlen, sondern der Tagungsbericht vermerkt: „Jacob-Friesen ernannte seine Paladine“. Trotzdem wurde dort eine gewisse Form der wissenschaftlichen Diskussion noch eingehalten. Der Tagungsbericht vermerkt auch keine gesteigerte Anzahl an Vorträgen mit „germanischem“ Inhalt. Zwar hielt Ernst Sprockhoff einen Vortrag über die „von Niedersachsen aus sich vollziehende Germanisierung des Ostens“, aber auch die Slawen wurden ohne rassistische Herabsetzung mit zwei Vorträgen bedacht.77 Die Ur- und Frühgeschichtsforschung mit den verschiedenen Lagern hatte sich bis 1935 im politischen Umfeld Verbündete gesucht, die aber jeweils noch keine direkten Erfolge zu verzeichnen hatten. Deshalb lässt sich vielleicht der verstärkte Anschluß der DAI/RGKGruppe an die SS mit diesen bisherigen Misserfolgen erklären. Die Schlüsselfiguren in diesem Annäherungsverfahren dürften einerseits die sogenannte „Marburger Schule“ um den ersten ordentlichen Lehrstuhlinhaber G. von Merhart sein, anderseits noch T. Wiegand als Leiter des Deutschen Archäologischen Instituts. Beide Akteure sind bislang nur ansatzweise erforscht, hier ist in Zukunft auf neuere Forschungsergebnisse zu hoffen.78 Ab 1934/35 läßt sich nachweisen, ohne dass bislang genauer bestimmt werden kann, wie die Beteiligten sich tatsächlich kennengelernt haben, dass Heinrich Himmler mit der 76 77 78
Merhart an Buttler vom 28.4.1933. Hier zit. nach Schlegelmilch: Prähistoriker, 49 Uta Halle: Archäologie im Nationalsozialismus oder wie der Nordwestdeutsche Verband untertauchte!, in: Archäologisches Nachrichtenblatt 10, 2005, 384-396, hier 387. Zu G, von Merhart ist 2006 eine Magisterarbeit von D. Schlegelmilch in Marburg verfasst worden, die das vorhandene Archivmaterial noch nicht erschöpfend auswerten konnte und dazu weiterforschen will, und zum DAI ist geplant, die Geschichte umfassender aufzuarbeiten als dieses bislang in der Studie von Junker erfolgt ist.
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Ur- und Frühgeschichtsforschung in Verbindung zu bringen ist. Die Rolle, die dabei ab dem 1. Februar 1934 das Rasse- und Siedlungshauptamt mit der Abteilung „Vorgeschichte“ unter Leitung des SS-Mitglieds R. Höhne übernahm, ist bislang noch nicht untersucht.79 Zunächst wurde R. Höhne, der schon seit 1931 Mitglied der SS war und Geologie und Vorgeschichte studiert hatte, am 1. Februar 1934 Leiter der Abteilung „Vorgeschichte“ im Rasse- und Siedlungshauptamt.80 Höhnes SS-Karriere verlief aber ansonsten eher unspektakulär und schnell zeigte sich ein anderer Prähistoriker an erster Stelle innerhalb der SS. Laut einer Aussage Jankuhns aus dem Jahr 1963 übernahm Himmler schon 1934 die „Schirmherrschaft“ über die Ausgrabungen in Haithabu.81 Direkt nachweisen läßt sich ein Besuch Himmlers an den Externsteinen im April 1934, wenige Tage bevor die dortigen Ausgrabungen begannen, sowie eine Besichtigung der Grabung im Herbst 1934. Eine bedeutende Persönlichkeit stellt hierbei vermutlich der Archäologe A. Langsdorff dar, der am 1. Oktober 1933 in die SS aufgenommen wurde und sich in der Folgezeit mit einer Führungsrolle charakterisieren lässt.82 Langsdorff hatte sein Kunstgeschichtsstudium in Marburg absolviert und war ehemaliger Reisestipendiat der RGK. Seit wann genau der engere Kontakt zwischen Langsdorff und Himmler bestand, ließ sich nicht ermitteln. Sicher nachweisen lässt sich der gemeinsame Besuch der Grabungsstelle Erdenburg im Juli 1935.83 Langsdorff arbeitete seit dem Frühjahr 1935 eng mit anderen NSDAP-Mitgliedern zusammen, u. a. mit dem Kulturreferenten der Provinzialverwaltung des Rheinlandes, H. J. Apffelstaedt in Düsseldorf. So hatte Langsdorff schon bei der Neueröffnung des Rheinischen Landesmuseums in Bonn am 24. März 1935 die Zusammenarbeit zwischen dem Provinzialverband Rheinland und der SS angeregt. Am 1. Juni 1935 berief Himmler Langsdorff in den persönlichen Stab zur Leitung der Abteilung Ausgrabung. Damit war die Verbindung zwischen SS und den west- und süddeutschen Archäologen einen Monat vor der Gründung des Ahnenerbes endgültig geknüpft. Sofort begann Langsdorff die Werbung junger Prähistoriker für die SS. So wurde Werner Buttler bei der Besichtigung der Ausgrabung der Erdenburg im Juli 1935 durch Langsdorff angesprochen, ob er nicht eine Aufnahme in die SS erreichen wollte. Ferner verkündete Langsdorff, dass er „jetzt den Auftrag einer großen vorgeschichtlichen Planung erhalten“ hätte. In den folgenden Monaten gab es eine Reihe von Gesprächen zwischen den verschiedenen fachwissenschaftlichen und politischen Instanzen über das geplante Reichsinstitut für Vor- und Frühgeschichte, für das es auf beiden Seiten genaue Vorstellungen gab. Damit entbrannte der Machtkampf um das geplante Reichsinstitut nach einer ersten stärkeren Orientierungsphase voll. Der Machtkampf (1935/36-1938) Um die Entscheidungen bezüglich des Reichsinstituts im eigenen Sinne beeinflussen, versuchte vor allem die DAI/RGK-Gruppe stärkere Maßnahmen gegen den Leiter der Fachgruppe im Kampfbund, Hans Reinerth, einzuleiten. Die erste Maßnahme, die sich feststellen lässt, ist eine personelle Entscheidung, die RGK trennte sich von ihrem bisherigen Di79 80 81 82 83
Rolf Höhne war 1931 in die SS eingetreten. BA BDC Berlin Materialien Höhne. Bundesarchiv Documentcenter Berlin, Materialien Höhne Michael Kater: Das „Ahnenerbe“ der SS. 1935-1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, Stuttgart 1974, hier 81 Anm. 212. BA BDC Berlin Unterlagen Langsdorff. Vgl. Kater: Ahnenerbe, 22-23. Werner Buttler/Hans Schleif: Die Erdenburg bei Bensberg, in: Prähistorische Zeitschrift 1937/38, 184232, hier 184.
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rektor G. Bersu, der aufgrund seiner jüdischen Abstammung einen besonderen Angriffspunkt für Reinerth bot. Damit hatte das DAI/RGK-Gruppe dem Drängen der Nationalsozialisten nachgegeben, auch wenn man die Versetzung Bersus als Vorsichtsmaßnahme und Fürsorge für den jüdischen Kollegen darstellte. Durch diese personelle Entscheidung entstand eine veränderte Situation, denn damit hatte man Reinerth das Hauptargument und den bedeutendsten Angriffspunkt, die jüdische Leitung der RGK, genommen. Nach dieser personellen Maßnahme konnte man nun von Seiten des DAI/RGK vehementer vorgehen, und es wurde unter Höhne, Langsdorff und Weisthor ein Konzept für die ur- und frühgeschichtliche Forschung in der SS entwickelt. Hatte Reinerth eine erste Machteinschränkung durch die SS schon auf einer Konferenz in Detmold im April 1935 hinnehmen müssen, so erlebte er nun, wie sich aufgrund seines eigenen Vorgehens im Verlauf des Jahres 1935 immer mehr Kollegen von ihm abwandten und er nur noch scheinbare Fortschritte im Kampf um ein Reichsinstitut für Vorgeschichte erzielte. Gleichzeitig baute die SS ihren Machtbereich in den Belangen der Vorgeschichtsforschung immer weiter aus. Anläßlich der Besichtigung der Ausgrabungen auf der Erdenburg gab Himmler seine persönliche Vorgabe für die SS-Archäologie bekannt. Danach sollte in allen „SS-Abschnitten eine solche Kultstätte“ ausgegraben werden, um „seiner SS eine feste Bindung an die germanische Vorzeit zu geben“. Hier wurde innerhalb der SS erstmals die Zweckgebundenheit archäologischer Forschung offen ausgesprochen: Himmler wollte mit Hilfe archäologischer Methoden eine nachgewiesene Legitimation zur topographischen Verortung für die SS-Kultrituale schaffen. Langsdorffs wollte und sollte mit Unterstützung des rheinischen Kulturdezernenten Apffelstaedts eine „einheitliche Front der Prähistorie“ schaffen und dafür alle westdeutschen Archäologen in die SS übernehmen.84 Mit diesem Gespräch gab es nun eine konzeptionelle Vorgabe, und es wurde der sukzessive personelle Ausbau durch Übernahme von Fachwissenschaftlern in die SS vorgestellt. Dieser spiegelt sich wenige Monate später auch in einem Entwurf der SS wider. Im Spätsommer 1935 wurden in der SS genaue und umfassende Vorstellungen bezüglich des eigenen Machtausbaus in der Vorgeschichtsforschung entwickelt. Ob das weitere Vorgehen der SS auf den persönlichen Vorstellungen Himmlers beruhte oder ob es ihm von den Wissenschaftlern angetragen wurde, lässt sich nicht feststellen. Auch bei der Abfassung des „2. Entwurfes. Das Arbeitsgebiet der Abteilung R:A:IIIb, Vorgeschichte, im Rasse- und Siedlungshauptamt SS“ beriefen sich die Wissenschaftler offiziell auf den „Befehl des Reichsführers SS“. Danach sollte die Abteilung „Vorgeschichte ... zum Generalstab für das gesamte Gebiet der Vorgeschichte für die SS ausgebaut werden“. Auch über den genauen Zweck gibt diese Quelle präzise Auskunft. So sollten „alle deutschen Vorgeschichtler zur positiven Mitarbeit in der SS“ herangezogen „und ihnen für die weitere wissenschaftliche Arbeit geeignete Vorschläge ..., wie sie im Rahmen der nationalsozialistischen Weltanschauung, insbesondere zur Klärung der rassemässigen Zusammenhänge notwendig erscheinen“ gemacht werden. Hierin ist die ausschlaggebende Motivation für diesen Entwurf zu sehen: In der SS sollte eine politisch kontrollierte Forschung, durchgeführt von politisch linientreuen, zuverlässigen Parteigenossen, aufgebaut werden. Damit war der ausgearbeitete Plan der SS durchaus den älteren Vorstellungen Reinerths vergleichbar und bedeutete eine ideologietragende Überformung des Faches. Um auf das angestrebte Ziel hinzuarbeiten, sollten sowohl die Fachwissenschaftler als auch die Laienmitarbeiter „auf weltanschauliches und sachliches Können“ überprüft werden. Dafür sollten die bisherigen Veröffentlichungen „nach weltanschaulichen Gesichtspunkten (Ablehnung der Rassenlehre, Ab84
Halle: Externsteine, 256-260; Rainhard Bollmus: Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem Stuttgart 1970, hier 168; Bundesarchiv BDC Unterlagen Langsdorff.
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stammungslehre, Stellung zum neuen Glauben, Christentum usw.)“ durchgesehen werden. Ferner sollte durch „Rückfragen durch den SD (Sicherheitsdienst), NSDAP, SS über bisheriges persönliches Verhalten und Verhalten zur Partei“ Auskunft über die Personen eingeholt werden. Betrachtet man diese Aussagen, so kann man, ohne die Reihenfolge der Qualifikationen der Mitarbeiter überzustrapazieren, feststellen, dass an erster Stelle die ideologische Qualifikation stand. Priorität hatte demnach das weltanschauliche Können, während die fachlichen Fähigkeiten erst an zweiter Stelle genannt wurden. Damit zeigt sich, dass die staatlichen Stellen der Bodendenkmalpflege, in den Museen, in der Forschung und Lehre mit gesinnungsüberprüften SS-Wissenschaftlern besetzt werden sollten, also eine Infiltration der staatlichen Stellen durch die SS vorgesehen war, ein Plan, der schon erfolgreich für die west- und süddeutschen Forscher angelaufen war. Verfasst worden war der Entwurf von R. Höhne und A. Langsdorff sowie K. Weisthor bzw. Wiligut hatten ihn gegengezeichnet. Diese weitreichenden Pläne in der SS belegen die uneingeschränkte Führung, die die SS in der Vorgeschichtsforschung anstrebte. Sehr viel stärker als Reinerths Pläne zeigt der Entwurf der SS eine konzeptionelle Absicherung, wie das gewünschte Ziel erreicht werden sollte und lässt eine durch die SS angeführte reichseinheitliche Linie sowie ein in sich stimmiges Bild der geplanten Durchführung erkennen. Die Sommermonate des Jahres 1935 mit ihren für die Fachorganisationen einschneidenden Maßnahmen, wie die Trennung von G. Bersu, dem Ersten Direktor der RGK, und der Ausbau der Pläne in der SS, leiteten eine veränderte Entwicklung für die Fachgeschichte während des Dritten Reichs ein. Seit diesem Zeitraum konnte Reinerth nur noch scheinbare Erfolge erringen, denn diese Erfolge wurden durch einfache aber auch durch typisch nationalsozialistische Gegenmaßnahmen und eine geschickte Personalpolitik der SS weitestgehend unterlaufen. So gelang ihm weder die Gleichschaltung der bedeutenden Altertumsverbände, sondern er konnte nur einige kleinere Heimat- und Geschichtsvereine zum Beitritt in den Reichsbund für deutsche Vorgeschichte gewinnen. Damit fehlte ihm ein umfassender fachwissenschaftlicher Rückhalt im Kampf um das Reichsinstitut. Pape schließt aus dem intensiven Studium der zeitgenössischen Quellen, dass „Rosenberg und Reinerth unfähig waren, ihre Ansprüche durchzusetzen, dass ihre Macht eigentlich nur auf dem Papier bestand.“85 Nachdem sich schon im Sommer 1935 keine auch direkte Unterstützung für den Kandidaten Langsdorff im Erziehungsministerium herausgestellt hatte, eskalierte die Situation in der Ur- und Frühgeschichtsforschung im Herbst 1935. Zum Eklat kam es wenige Monate später auf der Tagung des Reichsbundes für deutsche Vorgeschichte in Bremen. Dort hielt Reinerth eine Rede, die durch einen Bremer Zeitungsartikel und das Protokoll von Gustav Schwantes Eingang in die heutige Forschungsliteratur gefunden hat. Da der Nordwestdeutsche Verband sich bislang den Gleichschaltungsbestrebungen durch den Reichsbund für deutsche Vorgeschichte widersetzt hatte, beabsichtigte dessen Leiter Hans Reinerth, eine Nord- und Westdeutsche Arbeitsgemeinschaft für Vorgeschichte zu gründen. Reinerth erklärte den Nordwestdeutschen Altertumsverbandsmitgliedern, die zu ungefähr 50 % an der Reichsbundstagung teilnahmen, dass Jacob-Friesen als Vorsitzender nicht tragbar wäre, weil dieser sich in seinen Grundfragen zur Urgeschichtsforschung gegen die siedlungsarchäologische Methode Kossinnas ausgesprochen hätte. Daraufhin wurde die Frage diskutiert, „ob sich der Verband nicht lieber auflösen solle.“ Reinerth stellte hierbei keine „Gewaltmaßnahmen in Aussicht“, wohl aber der Braunschweigsche Ministerpräsident Dietrich Klagges, der von der historischen Forschung als Teil der Terrorherrschaft im Braunschweiger Land charakterisiert wird. Nach diesem vehementen Eingreifen seitens eines na85
Pape, Entwicklung, 181.
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tionalsozialistischen Politikers – das von diesem im Protokoll als „energischer Hinweis“ vermerkt ist – wollte Jacob-Friesen „mit seiner Person dem Verbande nicht mehr im Wege sein“. Unter dem Druck der Ereignisse wurde Gustav Schwantes neuer Vorsitzender. Nach diesen turbulenten Ereignissen wurde laut Protokoll „der Beschluss zur Eingliederung des Nordwestdeutschen Verbandes ... einstimmig gefasst“ und „die Zusammenarbeit auf nationalsozialistischer Grundlage“ gewünscht. Wenige Monate nach dem Kriegsende 1945 schrieb Schwantes zur Situation in Bremen an Jacob-Friesen: „Es (ist) mein Bestreben, das Amt des Vorsitzenden in Ihre bewährten Hände zurückzulegen. ... da ich ja anno dazumal satzungsgemäß zum Vorsitzenden gewählt wurde. Man könnte sich auf das völlig Anormale der damaligen Lage stützen.“86 Unmittelbar nach der Bremer Reichsbundtagung zeichnete sich ab, dass es zu einem Treffen zwischen Rosenberg und Himmler, auf Wunsch Rosenbergs kommen sollte. Hierbei gab Himmler augenscheinlich seine Machtansprüche in der Vorgeschichtsforschung zum Teil auf. Anderseits griffen die süd- und westdeutschen Wissenschaftler der SS mit den typischen nationalsozialistischen Machtmitteln – Anzeige gegen Reinerth beim Parteigericht durch Langsdorff bzw. Beschwerde über ihn bei der Gestapo durch den Vorsitzenden des Süd- und Westdeutschen Altertumsverbandes F. Kutsch – um Reinerth zu stürzen. Bollmus sieht in diesem Vorgang des Verbandes „eine Flucht nach vorn“ zum Schutz des Süd- und Westdeutschen Verbandes und Pinsker nennt diesen Vorgang einen „mutigen Schritt“. M. E. war in Langsdorffs Verhalten ein Rückgriff auf die im Oktober geäußerte Idee W. Buttlers zu sehen, Reinerth nun persönlich anzugreifen. Diese These lässt nach den neuen Forschungsergebnissen von D. Schlegelmilch jedoch nicht aufrecht erhalten, da Langsdorff Merhart bereits am 19. September davon unterrichtete, dass „jetzt gegen R. mit SS-Gericht und Parteigericht vorgegangen würde, weil der Reichsführer SS untersagt habe, daß sich Langsdorff mit Reinerth duelliere“.87 Im Zusammenhang mit den von Buttler an Kutsch übermittelten Informationen über die Bremer Tagung und die dabei formulierte Äußerung, dass man jetzt Reinerth stürzen müsse, kann man m.E. die Beschwerde des süddeutschen Verbandsvorsitzenden bei der Gestapo und Langssdorffs Anzeige aber auch ohne weiteres als taktisches Instrument der NS-Machtmittel ansehen, mit dem der Plan, Reinerth zu stürzen, realisiert oder zumindest forciert werden sollte. Beide gingen den Weg der politischen Denunziation, um so durch die Einschaltung des NS-Machtapparates den schon lange schwelenden und seit 1933 verstärkt unter politischen Vorzeichen geführten Konflikt um den wissenschaftlichen Machtanspruch zu lösen. Der Verlauf und Ausgang der Verfahren ist anhand der Aktenlage nicht darzustellen, aber der Sturzversuch Reinerths missglückte. In der folgenden Zeit wurden kaum wichtige Entscheidung für die Ur- und Frühgeschichtsforschung getroffen, nur die Rheinische Provinzialverwaltung und die dortigen NS-Parteigrößen bauten ihre Machtposition in der Vorgeschichtsforschung mit Hilfe der SS weiter aus. So wurden der Landeshauptmann Heinz Haake, schon seit 1922 Mitglied der NSDAP, zum Ordentlichen Mitglied und der rheinische Kulturreferent Hans-Joachim Apffelstaedt, der 1927 in die Partei eingetreten war, zum korrespondierenden Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts berufen. Bei der Ernennung im Rahmen des 95. Winckelmannfestes in Berlin gab T. Wiegand gleichzeitig bekannt, dass der „Führer und Reichskanzler“ die Lösung mit einem „Parallelinstitut für den Norden und Osten ... gutgeheißen“ hätte.88 Trotzdem schaffte es diese Wissenschaftler- und Politikergruppe nicht, ihren Wunschkandidaten Langsdorff im Erziehungsministerium als Leiter des Reichsinstituts 86 87 88
Halle: Archäologie, 389. Schlegelmilch: Prähistoriker, 81. Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 50, 1935, 702.
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durchzubringen. Sie besaß aber die besseren Informations- und Aktionsmöglichkeiten und konnte deshalb gezielter vorgehen. Die verschiedenen Aktivitäten lösten in allen Fällen Gegenreaktionen aus. So wandte sich im Februar 1936 Rosenberg persönlich an Bormann und versuchte nun seinerseits, den Präsidenten des Deutschen Archäologischen Instituts, Theodor Wiegand, zu verunglimpfen. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen standen dabei die judenfreundlichen Beziehungen bzw. die jüdischen Mitarbeitern gewährte Unterstützung durch Wiegand. Dieser wurde geschildert als jemand, der vor 1933 das DAI geleitet und dabei das „engste Bündnis mit dem Judentum und dem politischen Katholizismus eingegangen wäre und der sogar die Betreuung der Germanenforschung in Deutschland bis Juli 1935 einem Juden anvertraut“ hätte. Rosenberg baute sein Schreiben auf den typisch nationalsozialistischen Vorwürfen der „Judenfreundschaft“ auf, allerdings gab er die politische Denunziation „nur“ innerhalb der Parteihierarchie weiter. Ende April 1936 hatte Hitler seinen Standpunkt in der Frage eines Reichsinstituts für Vorgeschichte gegenüber dem Reichserziehungsminister Bernhard Rust und dem „Chefideologen“ der NSDAP Alfred Rosenberg geäußert. Danach sollte nach Reinerths und Rosenbergs Vorstellungen neben dem schon vorhandenen Archäologischen Institut noch ein eigenständiges Institut für Deutsche Vorgeschichte aufgebaut und dem Reichserziehungsministerium unterstellt werden. Hitler soll sich dahingehend geäußert haben, dass er „nun weitere Verhandlungen nicht mehr wünsche“ und Rust „auf dieser Grundlage das Weitere anordnen“ solle. Diese Äußerungen dürften von den Beteiligten als „Führerbefehl“ aufgefasst worden sein, wurde doch jede positive Äußerung eines Wunsches Hitlers als „Entscheidung“ angesehen. Damit waren anscheinend die Würfel endgültig zugunsten des Amtes Rosenberg gefallen. Nach Pinsker gingen die Verbandsvorsitzenden Ferdinand Kutsch bzw. Gustav Schwantes hiernach einen „entscheidenden Schritt weiter“ in den Maßnahmen gegen Reinerth. Dem ist nur bedingt zuzustimmen, denn tatsächlich lassen sich erste Überlegungen „über die Organisation des Nordwestdeutschen und Südwestdeutschen Verbandes ... und zwar dergestalt, daß sich die beiden Verbände vereinigen“ schon Ende März nachweisen, d.h. noch deutlich vor Hitlers Entscheidung.89 Gustav Schwantes erreichte in der Vorstandssitzung des Nordwestdeutschen Verbandes am 7. März 1936, dass der „Bremer Beschluss für ungültig erklärt“ wurde. Damit war der Weg zu einer grundlegenden Verständigung auch im nationalsozialistischen Sinne der beiden Verbände frei, wie sich in der Bonner Tagung beider Verbände zeigt. Deren Programm läßt eine deutliche Veränderung hin zu „germanischen“ Schwerpunkten sowohl in den Vorträgen als auch mit Besichtigung der SS-Grabung auf der Erdenburg erkennen. Mit der Bonner Tagung war die Eigenständigkeit der Verbände – hiervon stärker betroffen der Nordwestdeutsche Verband – aufgegeben worden. Beide Altertumsverbände planten für 1937 eine regionale Tagung, der Süd- und Westdeutsche Verband hatte vor, im Frühjahr in Stuttgart zu tagen und der Nordwestdeutsche Verband hatte eine Ostertagung vorgesehen. Dazu kam es allerdings – aus beim gegenwärtigen Forschungsstand unbekannten Gründen – nicht mehr.90 Trotz der Hitlerschen Anweisung spannte sich die Situation zwischen den beiden nunmehr deutlich verfeindeten Lagern weiter an. Anfang Juli 1936 erfolgte in Quedlinburg im Beisein Himmlers und Rosenbergs die Bekanntgabe, dass Reinerth vom Reichserziehungsministerium offiziell beauftragt worden war, die Planung für ein Reichsinstitut durchzuführen. Mit der Bekanntgabe der Beauftragung Reinerths wurde das Problem des geplanten Reichsinstituts forciert, denn nun konnte sich das Amt Rosenberg öffentlich als 89 90
Halle: Archäologie, 390. Halle: Archäologie, 391.
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Sieger im Kampf mit der SS fühlen. Immer deutlicher kristallisierte sich in den folgenden Monaten und Jahren heraus, dass mit Hilfe der Rheinischen NS-Politiker W. Buttler zur neuen Integrationsfigur der Fachwissenschaftler in der SS aufgebaut wurde, während A. Langsdorff, der im Reichserziehungsministerium nicht hatte durchgesetzt werden können, nunmehr nur noch im Hintergrund agierte. Buttlers neue Rolle wird besonders gut in der Planung und Durchführung des sogenannten „Leipziger Treffens“ deutlich, für das er sich mit führenden ostdeutschen Wissenschaftlern verbündete und darin, dass er eine wichtige Stelle im Reichserziehungsministerium erringen konnte. Wer bei dieser Stellenbesetzung die Fäden im Hintergrund zog, ließ sich nicht klären, allerdings bestand das Personal dieses Ministeriums schon zu diesem Zeitpunkt aus mehreren SS-Mitgliedern. Der SS war damit eine zwar offiziell eher unbedeutende, trotzdem aber doch wohl nicht unwichtige Stelle zugekommen. In den Kontakten mit den ostdeutschen Wissenschaftlern konnte unter Buttlers Federführung für manche Bereiche durchaus ein gemeinsamer Nenner gefunden werden. Keine Übereinstimmung zeigte sich aber mit den Breslauer Archäologen, was den Plan eines eigenen Reichsinstituts für deutsche Vorgeschichte anging. Mit diesem Vorhaben Reinerths konnten sich die Breslauer „absolut identifizieren“. Während des „Leipziger Treffens“ im November 1936 und einer weiteren Zusammenkunft im Dezember 1936 einigten sich die west- und ostdeutschen Archäologen auf andere Personalvorschläge für die Leitung des Reichsinstituts aus dem Kreis der ostdeutschen Kollegen, zum Vorgehen bzgl. eines „Reichsantiquars im Rahmen des (Reichserziehungs-)ministeriums“ und auf ein Abwarten hinsichtlich einer Stellenbesetzung im Ministerium. Obwohl die westdeutschen Archäologen in Leipzig empfohlen hatten, sich nicht unmittelbar nach dem Treffen vom Reichsbund und damit von Reinerth zu trennen, liefen nur Stunden danach bereits neue Aktionen gegen Reinerth an. Die ostdeutschen Wissenschaftler unternahmen diesen Schritt trotzdem und legten ihre bisher inne gehabten Ämter nieder. Erst einige Monate später wurde das Leipziger Treffen im Amt Rosenberg bekannt, das von Reinerth fortan als „Komplott gegnerischer Fachforscher“ angesehen wurde. Buttler hätte damit in einen „Arbeitsbereich der Partei“ eingegriffen, dieses liefe „allen Grundsätzen der nationalsozialistischen Disziplin zuwider“. Reinerth stellte deshalb für Rosenberg mehrere Vorschläge zusammen, die dieser bei Himmler einfordern sollte. Sie sahen „Ausschaltung Langsdorffs aus der Vorgeschichtsforschung der SS“ sowie ein „gemeinsames Vorgehen“ hinsichtlich „der Durchführung von Ausgrabungen und des Reichsinstituts für Vorgeschichte“. Ferner forderte Reinerth die Entlassung von Ernst Petersen und Werner Buttlers aus der SS. Tatsächlich versuchte Reinerth, Buttlers Ausschluss aus der SS zu erreichen, indem er sein Dossier im Frühjahr 1937 dem Obersten Parteigericht zur „Prüfung“ übergab und somit versuchte, ein Parteigerichtsverfahren gegen Buttler einzuleiten. Reinerth reagierte damit in einer Weise, wie es die SS 18 Monate zuvor mit ihm versucht hatte. Sein Versuch, Buttler durch ein Parteigerichtsverfahren zu schaden, blieb allerdings erfolglos. Einige Wochen nach der „Abstrafung“ von Richthofens bekam auch Petersen die Konsequenzen seines Vorgehens zu spüren, denn er wurde erst am 6. April 1937 wegen „disziplinlosen Verhaltens“ aus dem Reichsbund ausgeschlossen. Gleichzeitig schaltete sich Rosenberg persönlich in die Belange und Konflikte der deutschen Vorgeschichtsforschung ein, die sich ja in den vorangegangen Monaten erheblich verschärft hatten, und lud zu einem Treffen am 9. April nach Berlin ein. Die Einladungen erfolgten nach Vorgabe von Reinerth. Vorgesehen war eine „offene Aussprache über Fragen der Vorgeschichtsforschung“, um „evtl. bestehende Missverständnisse durch persönliche Fühlungsmaßnahme zu klären“. In dem Gespräch, für das sich die SS-Mitglieder und ihre Sympathisanten gut abgesprochen hatten, „betonten“ Rosenberg und Reinerth, „daß die Klassische Archäologie und die
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Römisch-Germanische Forschung eine ebenbürtige Schwester der Germanischen Vorgeschichtsforschung sei“. Nach Trier zeigten sie damit einen „überraschenden Kurswechsel“ und er sieht diesen Umschwung als „Zugeständnis“, um zu einer positiveren Stimmung für Reinerth zu kommen. M.E. ist hier aber nicht nur ein überraschender Kurswechsel zu fassen, sondern hier wird gleichzeitig eine Anpassung an die allgemeine politische Lage sichtbar. Diese war nämlich im April 1936 dadurch geprägt, dass die klassische Archäologie in Griechenland offiziell mit den von Hitler protegierten Ausgrabungen in Olympia begann. Zum anderen war Nazi-Deutschland seit dem 25. Oktober 1936 im deutschitalienischen Vertrag verbunden und Truppen beider Länder kämpften im April 1937 gemeinsam im Spanischen Bürgerkrieg. Zu diesem Zeitpunkt also offen gegen die klassische und provinzialrömische Forschung Stellung zu beziehen, hätte nach NS-Verständnis einen vollkommenen Fauxpas bedeutet und somit sind die Äußerungen Rosenbergs und Reinerths durchaus als Anpassungsmaßnahme an die aktuelle politische Situation zu werten. Erstmals lässt sich in diesen Gespräch auch das angestrebte deutsche Expansionsstreben nachweisen, denn Rosenberg verwies gleichzeitig noch darauf, dass es sich bei den Problemen der Vorgeschichtsforschung „nicht um eine deutsche, sondern um eine europäische Frage“ handeln würde. Er forderte auf, „eine neue große europäische Vorgeschichte zu schreiben“ damit „in 10-15 Jahren das Ausland in Deutschland“ Vorgeschichte lernen würde. Rosenberg hatte in dem Treffen mit den westdeutschen Fachwissenschaftlern aus erster Hand erfahren, wie groß die Abneigung Reinerth gegenüber war. Nun warteten alle gespannt auf die Reaktionen aus diesem Amt. Dieser Versuch der westdeutschen Wisssenschaftler, Reinerth vor Rosenberg als persönlich ungeeignet hinzustellen, hatte keine Folgen für Reinerth oder seinen Plan des Reichsinstituts. Immer noch bestand Rosenberg auf dem Reichsinstitutsplan unter der Leitung von H. Reinerth. Um nun der Sache wieder neuen Schwung zu geben und sie zu forcieren, ging die südund ostdeutsche Gruppe auf einem anderen Weg weiter vor. Der mittlerweile in Königsberg lehrende B. von Richthofen begann mit Unterstützung der Wissenschaftler der RGK einen neuen Versuch, Reinerth zu stürzen. Erneut gab Buttler die Idee vor, das Vorgehen gegen Reinerth wieder mit der Anschuldigung der politischen Unzuverlässigkeit aufzubauen und forderte Anfang Februar 1937 von Richthofen direkt auf, nun „schnell“ etwas gegen Reinerth zu unternehmen und zwar an höchster Stelle, bei Rosenberg. Von Richthofen reagierte und beschwerte sich brieflich über Reinerths Verhalten bei Rosenberg. In dem Schreiben hob er vor allem Reinerths Kontakte zu Bersu und Kühn in den Jahren vor dem Machtantritt der NSDAP hervor. Mit dieser Begründung wurde Reinerth als jemand dargestellt, der aufgrund seines vor 1933 gezeigten Verhaltens Juden gegenüber der geforderten Rassenideologie der Nazis ablehnend gegenübergestanden hätte und die parteioffizielle Einstellung zur „Judenfrage“ ignorierte, d.h. er wurde als politisch unzuverlässig charakterisiert. Durch diesen Vorwurf erhielt die Anzeige eine gefährliche Komponente, denn eine derartig Anschuldigung gegen einen Parteigenossen konnte für den Beschuldigten besonders belastend werden. Die Folgen einer solchen politischen Denunziation konnten allerdings nicht im voraus abgeschätzt werden, da die Reaktionen der damit befassten Parteiund Staatsstellen sehr unterschiedlich ausfielen. Insgesamt muss aber auch dieser Vorgang als politische Denunziation gewertet werden, die nur mit der Absicht durchgeführt wurde, um Reinerth aus seinen Ämtern zu drängen. Trotz dieser massiven Denunziation der „Judenfreundschaft“, die nun direkt bei Rosenberg vorgetragen worden war, trennte sich Rosenberg nicht von Reinerth. Stärkeren Erfolg hatte die SS in der Folgezeit allerdings im Reichserziehungsministerium, denn von hier wurde nun eine neue Taktik verfolgt. So signalisierte das Ministerium im September 1937 die Bereitschaft, auf die Pläne für ein Reichsinstitut einzugehen, wenn
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es mit einem anderen Leiter besetzt werden würde und man bat um Personalvorschläge. Rosenberg stand aber weiterhin fest zu Reinerth und ließ Rust mitteilen, dass eine andere Persönlichkeit für das geplante Reichsinstitut nicht in Frage käme. Anscheinend wurde der Einfluss des Amtes Rosenberg im Reichserziehungsministerium gestärkt, denn im November wurde offiziell bekanntgegeben, dass Hitler Reinerth am 9. November 1937 zum Reichsamtsleiter ernannt hatte. Die bisherige Hauptstelle im Amt Rosenberg wurde nunmehr ein „Amt für Vorgeschichte“. Allerdings hatte mit der Berufung Kurt Tackenbergs auf die neu geschaffene Professur für Vor- und Frühgeschichte an der Universität Bonn, die auch von den rheinischen Provinzialbehörden stark forciert worden war, die SS einen weiteren Sieg errungen. Damit versuchten Ende 1937 beide Seiten, eine andere Stelle in der Parteihierarchie auf die jeweils eigenen Interessen aufmerksam zu machen, in der Hoffnung, damit einen Erfolg für die gesteckten Ziele zu erreichen. Zeitgleich zur Entmachtung der extremen völkischen Außenseiter Herman Wirth und Wilhelm Teudt im SS-Ahnenerbe erfolgte im Februar 1938 die Zusammenfassung und Eingliederung der bisher bestehenden Abteilungen Vor- und Frühgeschichte des Rasse- und Siedlungshauptamtes und Ausgrabungen des Persönlichen Stabes des Reichsführer-SS im Ahnenerbe. Über die verschiedenen Pläne auf Reichsebene wurde im Januar 1938 anscheinend nicht mehr direkt zwischen den Kontrahenten verhandelt, sondern die Reaktionen Rosenbergs liefen über Hess. Danach stände einer „Übernahme der Römisch-Germanischen Kommission ... nichts im Wege“. Allerdings sah das Amt Rosenberg vor, der RGK eine „völlige Neuorganisation“ zu geben und ihr ein „inhaltliches nicht räumliches Teilarbeitsgebiet“ zuzuweisen. Gefordert wurde von Rosenberg für das Reichsinstitut eine „allgemein beratende Eigenschaft, die für alle Vorgeschichte pflegenden Organe maßgebend sein“ sollte. Abgestritten wurde von Rosenberg gegenüber Hess, dass man jemals vorgehabt hätte, „mit diesem Institut in die Verwaltung einzugreifen“ oder die „Belange der Denkmalspflege in ihren Rechten zu schmälern“. Eindrücklich bat er Hess, den Reichsführer SS anzuweisen, von einer amtlichen Bearbeitung von Fragen der Vorgeschichte, insbesondere aber von jeder diesbezüglichen Einwirkung auf Staats- und Parteidienststellen Abstand zu nehmen. Da Hess im Frühjahr 1938 anscheinend nicht der „Bitte“ Rosenbergs gefolgt war und Himmler nicht zu einer Änderung des Verhaltens aufgefordert hatte, wandte sich Rosenberg einige Wochen später brieflich an seinen Kontrahenten, um zum wiederholten Male eine Abgrenzung der Kompetenzen für die Ur- und Frühgeschichtsforschung vorzunehmen. Die Eskalation verstärkte sich zudem dadurch, dass Himmler im April 1938 bei Heydrich ein Dossier über Reinerth anforderte. Damit wurde der SD zur Überwachung Reinerths herangezogen, allerdings wies dieser 1938 nach Herbert noch „eklatante organisatorische und personelle Schwächen“ in der Überwachungstätigkeit auf. Schon das Vorgehen beim Zustandekommen des Dossiers zeigt eine überaus einseitige Überprüfung, bei dem nur die der SS und dem Ahnenerbe nahestehenden Wissenschaftler befragt wurden. Aus diesem Grund konnte das Dossier auch nur Reinerth belastendes Material enthalten. Es war Mitte 1938 unter Federführung von Werner Best fertig gestellt worden und enthielt die Ansichten über Reinerth, die von seinen Gegnern schon seit Anfang 1933 angeführt worden waren. Neben seinen organisatorischen Verfehlungen wurden auch die Kontakte zu dem Juden Bersu und die angeblichen persönlichen Charakterlosigkeiten, wie sexuelle Übergriffe auf ein junges Mädchen in Griechenland, aufgelistet. Insgesamt empfahl der SD, den Versuch zu unternehmen, Reinerths Machtbereich stark einzuengen oder ihn von seinem Posten zu entfernen und wies darauf hin, dass sich die Besetzung der geplanten Reichsinstitutsleitung mit Reinerth besonders verhängnisvoll auswirken könnte. Obwohl Himmler mit dem Dossier über Reinerth umfangreiches Material in den Händen hielt um ihn ent-
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machten zu können, gab er zunächst die Anweisung heraus, nichts gegen Reinerth zu unternehmen. Das Vorgehen Himmlers im Bereich der Vorgeschichtsforschung lässt in den Sommermonaten des Jahres 1938 erkennen, dass er in diesem Fach genau wie im Fach Volkskunde zielgerichtet über den „Weg der Kleinarbeit“ gehen wollte. Hierzu gehörte eine geschickte Personalpolitik über die Besetzung von freigewordenen oder neugeschaffenen Stellen mit ehemaligen Reinerth-Anhängern. Dieses zeigt sich z.B. bei der Besetzung der Direktorenstelle des Kölner Museums für Vor- und Frühgeschichte zum 1. September 1938 mit W. Stokar. Damit hatte die SS einen wichtigen Posten an den ersten Doktoranden Reinerths vergeben und somit fester an sich gebunden. Durch die Hinhalte- und Personaltaktik der SS war die Sache Reichsinstitut ... nicht weitergekommen. Als Grund für die Stagnation der Planungen schrieb Buttler, dass der „Entwurf (des Reichserziehungs-)ministerium ... nach wie vor von R(osenberg) abgelehnt“ würde. Stattdessen setzte Buttler seine ganze Hoffnung auf das Verfahren, das von Richthofen im Mai 1937 mit seiner Selbstanzeige in die Wege geleitet hatte. Im November 1938 wurden die ersten Vernehmungen in dem von Richthofen angestrengten Verfahren durchgeführt. Im dem Prozess wurden fast alle deutschen Vorgeschichtsforscher, also sowohl die der SS als auch die des Amtes Rosenberg und der staatlichen Stellen, vernommen. Von den vielen Aussagen, die insgesamt mehrere Ordner füllen, sollen an dieser Stelle eine besonders herausgegriffen werden, die 1945 mit zu Reinerths Parteiausschluß beitrug. Obwohl durch die Verfolgung der Juden im November 1938 der Terror des Regimes für jedermann offensichtlich wurde, scheute sich ein Teil der Reinerth-Gegner nicht, ihn noch stärker als Judenfreund darzustellen. Nachdem sie schon in den Jahren zuvor dazu mehrfach Reinerths Kontakte zu Bersu und Kühn aus der Zeit vor 1931/33 benutzt hatten, brachten sie nun nicht nur die alten Kontakte sondern auch neue Indizien für eine fortbestehende Judenfreundschaft Reinerths hinzu. Dann allerdings stagnierte das Verfahren, allerdings brachte der November 1938 noch weitere personelle Veränderungen. So veränderten sich Langsdorffs Bindungen an die SS, ohne dass sich erkennen lässt, was sich hier im Hintergrund ereignete. Nahezu gleichzeitig begannen das Amt Rosenberg und die SS weitreichende und bedeutende Pläne bezüglich der Stärkung der regionalen Vorgeschichtsforschung zu entwickeln, für den Fall, dass das Gesetz zum Schutz der Kulturdenkmale verwirklicht werden sollte. Die neue „Zauberformel“ im Amt Rosenberg bei Reinerth hieß nun „Kreisringe für Vorgeschichte“, eine Organisationsform, die für Bremen schon seit März 1936 bestand. Mit den Kreisringen für Vorgeschichte sollte auf der Ebene der untersten Regionalinstanzen eine zuständige Stelle für die Bodendenkmalpflege geschaffen werden, an denen bei der Einführung des neuen Reichsgesetzes nach der mutmaßlichen Meinung Reinerths kein Weg vorbei geführt hätte.91 Während sich das Amt Rosenberg noch um die Gründung der Kreisringe bemühte, baute die staatlichen Provinzialverwaltungen ihre Abteilung Bodendenkmalpflege mit der stichhaltigen Begründung der umfangreichen Aufgaben durch die gestiegene Bautätigkeit systematisch weiter aus. So nahmen in Westfalen im Frühjahr 1939 die Außenstellen in Arnsberg und Bielefeld ihren Dienstbetrieb für die jeweiligen Regierungsbezirke auf. Dies kann als politische Maßnahme der „Anti-Rosenbergianer“ gewertet werden, um bei dem zu erwartenden Gesetz zum Schutz der Kulturdenkmale schon die regionalen Stellen aufgebaut zu haben, auf die dann die staatlichen Stellen hätten zugreifen können. Mitte Juli 1939 kam neue Bewegung in das Parteigerichtsverfahren, denn es schlug Reinerth vor, ein „Reinigungsverfahren“ gegen sich selbst durchführen zu lassen. Dieses Ansinnen lehnte Reinerth allerdings Ende Juli ab. 91
Halle: Externsteine, 436-458. Vgl. hierzu auch Schlegelmilch:: Prähistoriker, 114-117.
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Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs brachte keine Zäsur in den Streit um das Reichsinstitut. Im Mai 1940 fiel Werner Buttler als Soldat und damit verlor die SS die Persönlichkeit, die im Reichserziehungsministerium immer die staatlichen Interessen der süd-, west-, und zuletzt auch der ostdeutschen Fachrichtungen mit denen der Parteiorganisation verknüpft hatte. Die Verhandlung über das geplante Reichsinstitut für Vorgeschichte wurde ab Mai 1940 durch das fachfremde SS-Mitglied Rudolf Mentzel weitergeführt. Mentzel, der schon vor 1933 in die SS eingetreten war und seitdem von Himmler gefördert wurde, hatte 1939 die Abteilung Wissenschaft im Reichserziehungsministerium von seinem Vorgänger Wacker übernommen. Wenige Tage nach Buttlers Tod trafen sich der Geschäftsführer des Ahnenerbes, Sievers, und Mentzel zu einem Gespräch, um über das weitere Vorgehen in der Problematik „Reichsinstitut“ zu reden. Nach Meinung Bollmus hatte Mentzel von sich aus die Reinerthschen Ansprüche abgelehnt, nach Kater hatte Sievers in diesem Zusammentreffen festgelegt, dass Mentzel fortan der bisher vertretenen Linie folgen sollte. M.E. ist die Einschätzung Katers richtig, denn auch die nachfolgenden Quellen zeigen, dass Sievers den Handlungsspielraum gegenüber Mentzel vorgab: Klärung der Personalfrage für das geplante Reichsinstitut für Vorgeschichte zu Ungunsten Reinerths und Ablehnung der weitreichenden Forderungen des Amtes Rosenberg. Anfang Juli 1940 griff der Stellvertreter des Führers ein und gab die Anweisung heraus, die Pläne für das Reichsinstitut auf die Zeit nach dem Kriegsende zu verschieben. Tatsächlich wurde die Diskussion hierdurch für rund zwei Jahre unterbrochen und erst im Frühjahr 1942 wieder aufgegriffen. Die Kriegsereignisse beeinflussten fürs erste auch das Parteigerichtsverfahren, das 1937 mit einer Anzeige von Richthofens gegen sich selber begonnen hatte. Nachdem nach den Zeugenvernehmungen im November 1938 hieraus zunächst ein Disziplinarverfahren an der Universität Königsberg geworden war, musste das Parteigericht den Ausgang dieses Verfahrens abwarten, um weitere Schritte zu unternehmen. Ende August 1940 kam es an der Universität Königsberg zu einem abschließenden Bericht des Verfahrens. Die weiteren Verhandlungen vor dem Parteigericht wurden nicht geführt, weil sich von Richthofen zu diesem Zeitpunkt im Wehrdienst befand. Deshalb schob das Parteigericht das Verfahren auf. Aktuell wurde dieses Problem des schwebenden Parteigerichtsverfahrens erst wieder Ende 1941/Anfang 1942. Das Frühjahr 1942 brachte in den Auseinandersetzungen zwischen dem Amt Rosenberg und dem Ahnenerbe um das geplante Reichsinstitut für Vorgeschichte ein bedeutendes Ereignis, mit dem die Weichen für die endgültige Entscheidung gegen Reinerth gestellt werden konnten. Begonnen hatte der Vorgang im Herbst 1941 mit dem Versuch des Amtes Rosenberg, Herbert Jankuhn, dem von Himmler größtes Vertrauen entgegengebracht wurde, aus dem Ahnenerbe abzuwerben. Das Amt Rosenberg bot Jankuhn die Leitung eines Instituts für germanische Forschung innerhalb der „Hohen Schule“ in Kiel an. Jankuhn nutzte dieses Gespräch mit einem Vertrauten Rosenbergs dazu, nochmals vehement gegen Reinerth vorzugehen. Er wies darauf hin, dass „in den Jahren 1933-34 mehr als die Hälfte aller Vorgeschichtsforscher hinter Reinerth gestanden ... hätten“, nun aber nur noch „5-10% der deutschen Vorgeschichtsforscher“ hinter diesem stünde. Gleichzeitig hob er hervor, dass es sich nicht darum handeln würde, „dass die Vertreter der deutschen Vorgeschichtsforschung etwa Reichsleiter Rosenberg oder seine Ideen ablehn(t)en.“ Damit vertrat Jankuhn die Linie, die die SS in Zusammenarbeit mit regionalen Parteigrößen schon seit Beginn der Auseinandersetzungen gegen Reinerth vorgetragen hatte. Und selbstverständlich informierte Jankuhn den „lieben Kamerad(en) Sievers“ über die Unterredung. Vom Ahnenerbe ging die Information mit den dazugehörigen Unterlagen an das SS-Mitglied Mentzel im Reichserziehungsministerium. Damit waren alle SSBeteiligten wieder genau informiert und konnten ihr weiteres Vorgehen aufeinander ab-
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stimmen. Allerdings hatte mittlerweile die „braune Eminenz“ der NSDAP, Martin Bormann, seinen Machtbereich durch einen Führererlass vom 16. Januar 1942 so weit ausgedehnt, dass die SS diese Stelle nicht umgehen konnte, denn dort mussten alle Entscheidungen genehmigt werden. Alle weiteren Aktionen wurden nun über Bormann geleitet. Über das Reichserziehungsministerium wurde der Reichskanzlei Jankuhn im März 1942 für die Leitung des Reichsinstituts vorgeschlagen und man begründete dies damit, dass Rosenberg selber doch dem Rostocker Archäologen das geplante Institut an der Hohen Schule angeboten hätte und deshalb keine Bedenken gegen diesen vorliegen könnten. Im Amt Rosenberg erfuhr man von dieser nicht vorausberechneten Wende erst mit einer zeitlichen Verzögerung von einigen Monaten Anfang Juni 1942. Rosenbergs Reaktion läßt erkennen, dass diese Wendung der Ereignisse nicht von ihm einkalkuliert worden war, sondern ihn nun erneut zum Handeln zwang. Umgehend protestierte er bei Bormann und teilte diesem mit, dass sich das Angebot an Jankuhn nur für die Leitung der Hohen Schule in Kiel bezogen hätte, als Leiter des Reichsinstituts käme weiterhin nur Reinerth in Frage. Im Juli 1942 eskalierte die Situation, denn nun griff Rosenberg zu härteren Methoden. Zum einen forderte er vom Reichserziehungsminister, dass der Vorschlag des Ministeriums an die Reichskanzlei, Jankuhn mit der Leitung des Reichsinstituts zu betrauen, zurückgezogen werden sollte. Zum anderen wandte er sich an den obersten Parteirichter, Walter Buch, den Schwiegervater Bormanns, um beim obersten Parteigericht die Aufnahme des Prozesses gegen von Richthofen zu erreichen, den dieser 1937 selbst in die Wege geleitet hatte. Fürs erste schien Rosenberg ein Erfolg in diesem Vorgehen sicher, denn das Verfahren gegen von Richthofen wurde wieder aufgenommen, doch im Januar 1943 kam es zu einer folgenreichen Wende. Reinerth wurde vom „Zeugen zu einem Angeklagten“, denn im Januar 1943 beantragte das Parteigericht bei Bormann die Eröffnung eines Parteigerichtsverfahrens gegen Reinerth, das dieser auch genehmigte. Alle Proteste Rosenbergs und Reinerths, zuerst das Verfahren gegen von Richthofen zu Ende zu führen, und Reinerths persönliches Verhalten – er erschien nach einer ersten Ladung zu einer Vernehmung nicht – führten nicht weiter. Erst als Bormann drohte, Reinerth bei weiterem Nichterscheinen aus der Partei auszuschließen, kam es am 27. März 1944 zu einer Vernehmung Reinerths. Das Parteigerichtsverfahren gegen Reinerth wurde im Wesentlichen auf den Beweismaterialien, die 1938 für das Verfahren von Richthofen zusammengestellt worden waren, aufgebaut. Einige Mitarbeiter Reinerths wurden allerdings dazu noch im Jahr 1944 neu vernommen. Das Verfahren zeigt ab Mitte 1944 einen für Reinerth ungünstigen Stand. Am 27. Februar 1945 wurde Hans Reinerth aus der Partei, von der er sich Ende 1931 bei seinem Eintritt eine bessere persönliche Zukunft versprochen hatte, ausgeschlossen. Ein Ausschlußgrund war die angebliche „Judenfreundschaft“, die Reinerth trotz seiner Mitgliedschaft in der NSDAP gepflegt hätte.92 Mit dem Parteiausschluss Reinerths hatten seine Gegner das Ziel, auf das sie seit Sommer 1932 hingearbeitet hatten, erreicht. Nur zu diesem Zeitpunkt Ende Februar 1945 nützte ihnen der mühsam errungene Sieg scheinbar nichts mehr. Das nationalsozialistische Regime sollte nur noch wenige Wochen dauern und die unübersichtliche Situation in Deutschland führte dazu, dass kaum noch jemand etwas von diesem Vorgang erfuhr. Im Machtkampf um die Ausrichtung der Vor- und Frühgeschichtsforschung mit dem Reichsinstitut gewannen letztendlich die Wissenschaftler der SS, die diesen Sieg allerdings nicht mehr nutzen konnten. 92
Gunter Schöbel: Hans Reinerth. Forscher – NS-Funktionär – Museumsleiter, in: Achim Leube / Morten Hegewisch (Hrsg.): Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933 – 1945, Heidelberg 2002, 321-396, hier 395.
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138 Planungen für ein neues Denkmalschutzgesetz93
Immer wieder war von fachlicher Seite auf fehlende oder ungenügende Denkmalschutzgesetze für die Bodendenkmäler hingewiesen worden. Nach der Machtübernahme hätten es die Nationalsozialisten in der Hand gehabt, über eine neue Gesetzgebung diesen Mangel und gleichzeitig die föderale Struktur in diesem Bereich zu zerschlagen. Damit hätten sie zum einen ihren parteilichen Machtanspruch zeigen und zum anderen die Zentralisierung der Bodendenkmalpflege in Deutschland erreichen können. Ab Sommer 1934 lassen sich Aktivitäten hierzu nachweisen, ohne dass aus den bisher bekannten Quellen erkennbar wird, wer hinter diesen Vorhaben stand. Im August 1934 forderte das Erziehungsministerium per Schnellbrief erstmals Informationen von den Ländern zu den jeweils vorhandenen Denkmal- bzw. Bodenaltertümerschutzgesetzen, die aber ab Herbst 1934 zunächst nicht mehr weiterverfolgt wurden. Im Reichserziehungsministerium plante man im Sommer 1935 „die Stelle des staatlichen Vertrauensmannes für Bodendenkmalpflege analog der Stelle der des Provinzialkonservators zu einer selbständigen reichsbeamtlichen Stelle zu machen mit der besonderen Aufgabe, die vor- und frühgeschichtliche Inventarisation in die Hand zu nehmen“. Nun war anscheinend die Gesetzesänderung wieder im Gespräch und deshalb behielten die Wissenschaftler auch diese Möglichkeit für die Zukunft weiter unter Kontrolle. Die Gesetzesänderung tauchte dann erst wieder im geplanten „Gesetz zum Schutz der Kulturdenkmale“ auf, das seine Anfänge im Jahr 1933 hatte, als erstmals ein Entwurf für ein reichsweites allgemeines Denkmalschutzgesetz bei den zuständigen Behörden vorgelegt wurde. Dieser erste Gesetzentwurf sah vor, dass das geplante Gesetz für Bodenaltertümer keine Anwendung finden sollte. 1936 hatte man im Reichserziehungsministerium beide Pläne zu einem Vorentwurf eines Gesetzes zum Schutz der Kulturdenkmale zusammengefügt. Dieser neue Entwurf griff nun die Belange der Bodendenkmalpflege auf und sah vor, dass Grabungen dem Reich zustehen sollten, das dieses Recht an andere Institutionen übertragen konnte. Damit scheinen zunächst die Maßnahmen des Ministeriums beendet gewesen zu sein, es gibt jedenfalls keinen Hinweis, dass mit dem Gesetzentwurf in der Zeit zwischen Juli 1936 und September 1937 weitergearbeitet worden wäre. Nachdem Reinerth im Amt Rosenberg mit mehrmonatiger Verspätung von diesem Gesetzentwurf aus dem Sommer 1936 erfahren hatte, ließ er dagegen am 15. Juni 1937 protestieren. Nach Bollmus hatte Reinerth mit seinem Protest keinen Erfolg, aber vermutlich hatte er mit seinem Vorgehen den Vorgang im Ministerium wieder in Gang gebracht, denn am 14. September 1937 ging aus dem Rustschen Ministerium erneut eine Anfrage an die Länder heraus, in der man bat, „zur Ergänzung der ... vorhandenen älteren Unterlagen neue Informationen über die zurzeit bestehenden Organisationen“ der Bodendenkmalpflege zu übersenden. Es fand also eine Wiederholung eines Vorgangs statt, somit gab es auch keine neuen Ergebnisse und die Weiterarbeit an dem Projekt erfolgte im Reichserziehungsministerium erst im Sommer 1938. Dann schickte man den Gesetzentwurf an die Länder und ließ dort die Meinung der zuständigen Stellen einholen. Sehr viel stärker als der entworfene Gesetzestext enthüllen die mit übersandten Erläuterungen die Brisanz des Vorhabens. Gegenüber den Ländern wurde der Gesetzentwurf begründet mit dem „Fehlen ausreichender gesetzlicher Bestimmungen zum Schutze des überlieferten deutschen Kulturgutes“, das bislang als „schwerer Mißstand ... empfunden“ würde. Unter Hinweisen auf die Situation in „anderen Nationen“ und auf die „zunehmende Gefährdung ... der Bodenaltertümer durch Raubgräberei oder Unverständnis“ wäre es an der 93
Alle Angaben zur Planung für ein neues Denkmalschutzgesetz sind – sofern keine andere Angabe erfolgt – meiner Studie „Die Externsteine sind bis auf weiteres Germanisch!“ Prähistorische Archäologie im Dritten Reich“ entnommen und dort detailliert nachgewiesen. Deshalb wurde hier auf einen weiteren Quellennachweis verzichtet.
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Zeit „zu entschiedener Abwehr und der Erlaß reichsgesetzlicher Bestimmungen ... daher dringend notwendig, wenn der nationalsozialistische Staat die ihm obliegende Aufgabe erfüllen“ sollte. Geleitet werden sollten die Ausgrabungen unter dem Gedanken, dass „die gesunde Entwicklung in der Gestaltung der deutschen Umwelt nicht“ behindert werden dürfte, aber durch die „sachgemäße Untersuchung und Bergung an Ort und Stelle nicht zu erhaltener Denkmale oder Funde (könnten) unersetzliche Verluste abgewendet“ werden. Bezogen sich diese Formulierungen auf die Absichten des Gesetzes, so enthüllt der folgende Absatz, worum es dabei gleichzeitig ging: „Der ... Gesetzentwurf will unter Verwertung ... der bestehenden Einrichtungen, soweit sie sich bewährt haben, eine einheitliche gesetzliche Regelung treffen. Da aber auf diesem Gebiet die organisatorischen Maßnahmen, die fachliche Betreuung und die Tätigkeit der Verwaltungsbehörden innig ineinandergreifen, muß ... eine gewisse Bewegungsfreiheit ermöglicht werden, vor allem um bestehende und erprobte Einrichtungen zum Besten der Sache erhalten und nutzen zu können. Schließlich sei hervorgehoben, daß keine neuen Behörden geschaffen werden sollten.“ Hiermit wurde sehr geschickt die eigentliche Zielbestimmung des Gesetzes dargestellt, denn mit dieser Formulierung sollte das Weiterbestehen der RGK/DAI abgesichert und der Aufbau eines Reichsinstituts für deutsche Vorgeschichte verhindert werden. Der dritte Abschnitt des Gesetzentwurfes mit den Paragraphen 16-20 bezog sich auf Regelungen für die Ausgrabungen. Danach sollte „das Recht, Grabungen nach Bodenaltertümern oder sonstige auf ihre Erforschung oder Aufdeckung gerichtete Arbeiten zu unternehmen ... allein dem Reich“ zustehen, eine Übernahme aus dem Vorentwurf des Jahres 1936. Die Erläuterungen hierzu verdeutlichen nochmals worum es in Wirklichkeit in diesem „Grundsatz“ ging: „Eine solche Bestimmung erschien bei der außerordentlichen Bedeutung der Bodenaltertümer und zur Errichtung einer klaren Neuorganisation geboten. Es versteht sich, daß ... auf diesem Gebiet eine der Sache schädliche Zentralisierung vermieden, vielmehr der Kulturarbeit der einzelnen deutschen Stammesgebiete die gebührende Berücksichtigung gewährt bleiben soll“. Damit wären durch das Gesetz die regionalen Instanzen der Bodendenkmalpflege, wie die Landesämter, gestärkt worden. In den Schlussvorschriften findet sich eine weitere Formulierung, die das Weiterbestehen der bisherigen Forschungseinrichtungen absichern sollte. Paragraph 26 sah vor, dass der Reichserziehungsminister „die zur Durchführung und Ergänzung ... erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, sowie die erforderlichen Übergangsbestimmungen, die von diesem Gesetz abweichen können“ erlassen sollte. Auch hier zeigen die Erläuterungen wieder den tieferen Sinn, denn dort wurde diese Möglichkeit als „unentbehrlich“ angesehen, „um ... zu verhüten, daß bewährte Einrichtungen in einzelnen Gebietsteilen Beeinträchtigung erfahren.“ Hess gab den SS-Entwurf für das Gesetz zum Schutz der Kulturgüter Himmler „zur Stellungnahme“, aber es kam in den Wintermonaten 1938/39 nicht weiter, obwohl der rheinische Kulturdezernent Apffelstaedt berichtete, dass Hess das Gesetz genehmigt hätte und dabei den Anspruch des Amtes Rosenberg zurückgewiesen hätte. Apffelstaedt meinte aber auch den Schuldigen zu kennen, an dem es nun wieder liegen würde, denn „leider Gottes sperrt sich nun aus grundsätzlichen Erwägungen heraus Dr. Goebbels, der dem Vernehmen nach seine Zustimmung irgendwie auszuhandeln gedenkt gegen die Kunstakademien“. Nicht das Amt Rosenberg verhinderte das Inkrafttreten des Gesetzes sondern der Propagandaminister wollte erst noch eigene Interessen in dem Gesetz verankern. Damit wird einmal mehr erkennbar, dass das Amt Rosenberg im Herbst 1938 für die Ur- und Frühgeschichtsforschung kaum noch Einflussmöglichkeiten im Parteigefüge besaß. Letztendlich scheiterte das geplante Reichsgesetz für die Bodendenkmalpflege an dieser parteiinternen Auseinandersetzung, denn es wurde nicht mehr verwirklicht.
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140 Praktische Bodendenkmalpflege: Ausgrabungen
In diesem Tätigkeitsfeld war die NS-Zeit in der ersten Hälfte zunächst noch stark durch die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit der völkischen Laienforschung geprägt. H. Wirth, H. Wille, W. Teudt und einige seiner Anhänger erhielten durch den Machtantritt der Nationalsozialisten stärkere Einflußmöglichkeiten und konnten zur Verifizierung oder Falsifizierung Ausgrabungen an den „angeblich germanischen Heiligtümer“ und Kultstätten durchsetzen. Unter den veränderten politischen Umständen bekam Teudt die Ausgrabung an den Externsteinen im „Gaus Westfalen-Nord“, Wille die Ausgrabung an den Megalithgräber in Kleinenkneten, und der Teudt-Anhänger Fritz Stück aus Kassel die Probegrabung in der angeblich „frühgermanischen Höhenfeuerstätte“ Firnsburg bei Harleshausen, durchgesetzt.94 Hierzu ist auch noch die einwöchige Grabung 1942 auf dem Michelsberg bei St. Johann im Elsaß zu rechnen, die von der Osningmark-Gesellschaft (Nachfolgeorganisation der „Freunde der germanischen Vorgeschichte um Teudt) unter Leitung von A. MeierBöke durchgeführt wurde.95 Die Grabungsergebnisse brachten aber in allen Fällen nicht die von der völkischen Laienforschung erhofften verifizierenden Ergebnisse und die Schulwissenschaft beurteilte die kruden Ideen weiterhin als „kunterbunte Gemüse aus Gelesenem (das ist das wenigste) und kenntnislos Gedichtetem (was das meiste ist)“96 und bezeichnete Vertreter der Theorien als „Träumer und Märchendichter“97 oder als „Schwarmgeister“. Eine andere Ausgrabung entstand für die Propagandamaschinerie, die den Verlauf des Autobahnbaus begleitete und zwar für die Wanderausstellung „Die Straße“. Sie soll von Hitler angeregt worden sein und wurde in seinem Beisein im Juni 1934 in München eröffnet und in den darauffolgenden Jahren u.a. in Berlin, Essen und Braunschweig präsentiert. In ihr sollte ein Stück germanischer Bohlenweg gezeigt werden, um so die historische Entwicklung der Straße vom Knüppelweg bis zur Autobahn darzustellen.98 Da sich in den musealen Sammlung kein angemessenes Objekt befand, finanzierte der Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen, F. Todt, zusammen mit dem Landesmuseum Hannover eine Ausgrabung im Diepholzer Moor. Dort wurde unter Leitung von E. Sprockhoff ein Stück Bohlenweg mit – wie es hieß im Grabungsbericht hieß – „modernen Methoden“ geborgen und der Ausstellung zur Verfügung gestellt.99 Ansonsten betätigten sich auf dem Gebiet der praktischen Bodendenkmalpflege beide Forschungsorganisationen und im Wesentlichen die schon vorhandenen oder neu gegründeten regional strukturierten Landesämter für Vorgeschichte und die etablierte Forschungsorganisation der RGK. Sie förderte oder führte selbst in den 12 Jahren insgesamt 54 Grabungen durch, von denen 13 römischen Befunden galten. Da im 100jährigen Bestehen der RGK insgesamt 260 Grabungen zu verzeichnen sind, war die Tätigkeit in der NSZeit doch erheblich gestiegen, denn im wesentlich wurden die Ausgrabungen in den Jahren bis 1939 durchgeführt. Während des Krieges unterstützte die RGK 1940 nur noch die Aus-
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Zu Teudt vgl. Halle: Externsteine, 69-79; zu Wille vgl. Halle: Pflege, 108-113; zu Stück vgl. Schlegelmilch:: Prähistoriker, 51-56 . Bernadette Schnitzler: Archäologische Ausgrabungen und Forschungsthemen im Elsaß, in: Hans-Peter Kuhnen (Hrsg.): Propaganda. Macht. Geschichte. Archäologie an Rhein und Mosel im Dienst des Nationalsozialismus, Trier 2002, 57-70, hier 68. Merhart 1934. Hier zit. nach Schlegelmilch: Prähistoriker, 58. Merhart 1937. Hier zit. nach Schlegelmilch: Prähistoriker, 118. Richard Vahrenkamp: Der Autobahnbau 1933 – 1943 und das hessische Autobahnnetz, in: Working Papers in the History of Mobility No. 3/2001, 36. http://www.ibwl.uni-kassel.de/vahrenkamp/history_mobility/arbeitspapiere/WP3_Autobahn_1933.pdf (Zugriff: 3.5.2007) Freundl. Hinweis von Herrn Metzler, Landesamt für Denkmalpflege Hannover, der dortigen Aktenbestand nachgesehen hat.
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grabung des frühmittelalterlichen Gräberfeldes in Eltville, deren Ergebnisse erst 1950 veröffentlich wurden.100 Die rege Bautätigkeit während der NS-Herrschaft, z. B. der geplante Bau von 6900 Kilometer Autobahn (ab Herbst 1933), Bauvorbereitungen für die Anlage von Militäranlagen wie Flugplätze oder der Westwall (von 1936-1939) sowie von Konzentrationslagern, aber auch die Steigerung der allgemeinen Bauvorhaben führten zu einer erheblichen Zunahme der tief in den Boden eingreifenden Erdbewegungen. Dies führte zu einer erheblichen Zunahme der Not- und Rettungsgrabungen, für die der Reichsarbeitsdienst, die Wehrmacht, Häftlinge aus Konzentrationslagern, Kriegsgefangene, Heimat- und Geschichtsvereine, Schüler und Studenten eingesetzt wurden. Dieser Einsatz war nicht nur extrem kostengünstig für die Denkmalpflege, sondern bot zudem gleichzeitig die Möglichkeit einer breiteren Öffentlichkeit einen Einblick in die „heimatliche wissenschaftliche Forschung“ zur Urund Frühgeschichte zu vermitteln. Oftmals wurden die Ausgrabungen mit einem verstärkten Propagandaeinsatz begleitet, in dem im Gegensatz zu Artikeln aus der Weimarer Republik in denen vorgeschichtliche Befunde überwiegend mit bedeutenden „klassischen“ Ausgrabungsorten (Wasserburg Buchau – das deutsche oder schwäbische Troja; Zantoch – das Nordische oder ostdeutsche Troja) gleichgesetzt wurden, erfolgte nun ein plakativer Hinweis auf das „germanische Erbe“.101 Einen gewissen zeitlichen Vorsprung bei den Ausgrabungen hatte aufgrund der allgemeinen Entwicklung das Amt Rosenberg. Dort versuchte man zunächst einmal die Ausgrabung an den Externsteinen und in den Feuchtbodensiedlungen des Federseegebietes – hier setzte Reinerth seine bisherige Forschung fort – in den eigenen Einflussbereich zu bekommen bzw. zu behalten. Die bekannteste Grabung aus dieser Zeit ist die in dem frühgeschichtlichen Seehandelsplatz Haithabu. Hier hatten ersten Untersuchungen schon um 1900 stattgefunden. Seit 1930 wurden unter Leitung von G. Schwantes und Herbert Jankuhn planmässige Ausgrabungen durchgeführt. Schon 1934 brachte Jankuhn – so seine eigene Nachkriegsaussage – die Ausgrabungen formal unter die Kontrolle der SS, um sie vor dem Zugriff Reinerths zu retten.102 Wahrscheinlich stand hier aber auch die unbefriedigende Finanzierung der Haithabugrabungen als ausschlaggebendes Moment im Hintergrund, den seitdem die SS dabei war, konnte die Finanzierung aus eine breitere Basis gestellt werden. Die SS kauft ferner zusätzliches Grabungsterrain in Haithabu auf, so daß Grabungsflächen erweitert werden konnten.103 Bis Kriegsausbruch wurde gegraben. Als wenige Wochen vor Kriegsausbruch an der Universität Kiel die Tagung des Ahnenerbes unter Federführung von Jankuhn stattfand, wurde bei der dazugehörigen Exkursion auch die Ausgrabungen in Haithabu besucht. Die Ergebnisse wurden in mehreren größeren Veröffentlichungen publiziert. Zu nennen sind Hier: H. Jankuhn: Haithabu 1937-39 Vorläufiger Grabungsbericht. AhnenerbeStiftungsVerlag Berlin 1943; Haithabu, eine germanische Stadt der Frühzeit 1937 in Überarbeitungen immer wieder erschienen bis zur 8. Auflage 1986. Die Auflagen bis 1945 erhielten immer einen Dank an das Ahnenerbe und an Heinrich Himmler für die Unterstützung der Grabungen. In den späteren Auflagen sind diese Textstellen selbstverständlich nicht mehr vorhanden und in manchen Exemplaren der früheren Ausgaben fehlen diese 100 Diemut Beck / Nils Müller-Scheeßel / Peter Trebsche: Nachweise von der Römisch-Germanischen Kommission geförderte oder selbst durchgeführte Ausgrabungen und Geländeforschungen, in: Berichte der Römisch-Germanischen Kommission Bd. 82, 2002, 508-529. 101 Vgl. hierzu zu Buchau Abbildungen entsprechender Zeitungsartikel, z. B. Keeffer 1992, 43 u. 73 Abb. 96; zu Zantoch Fehr: Archaeology, 209. 102 Heiko Steuer: Herbert Jankuhn und seine Darstellungen zur Germanen- und Wikingerzeit, in: Heiko Steuer (Hrsg.): Eine hervorragend nationale Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1945. Berlin / New York 2001, 417-474, hier 421. 103 Steuer: Jankuhn, 421.
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Seiten, weil sie herausgetrennt wurden oder die entsprechenden Textstellen geschwärzt wurden.104 Als Forschungsgrabung unter den besonderen Umständen der Zeit muss die Grabung am Hohmichele in Baden-Würtemberg angesehen werden. Der Hohmichele, einer der größten hallstattzeitlichen Grabhügel Mitteleuropas kam Ende 1936 in das „magische Dreieck von Ideologie, Forschungsinteressen und Bodendenkmalpflege“.105 Denkmalpflegerisch war diese Ausgrabung nicht zu rechtfertigen, es bestand keine Gefährdung des Grabhügels. Gegraben wurde nur als Reaktion auf Reinerths Ausgrabungen im Federseegebiet in den Jahren 1936 bis 1938. Im Dezember 1936 schrieb der spätere Grabungsleiter Gustav Riek dazu: Ich fahre am 10. (Dezember) ins Gelände, lasse die Bäume umlegen, Drahtverhau ziehen und --- fürchte, dass Frost und Schnee kommen. Auf alle Fälle wird der Anfang gemacht! Die Hand der SS muss sofort drauf! Vermitteln Sie doch bitte beim Reichsführer SS dahin, dass bei gefrorenem Boden unmöglich weitergearbeitet werden kann. ... Über den Verlauf unserer schwäbischen Untat werde ich Sie [Langsdorff U.H.] unterrichten.“106 Im Krieg lag dann der große Grabhügel als „als ausgetreppter Krater mit einem Froschteich im Grunde dar, neben dem das ausgehobene Material in formloser Anhäufung liegt“.107 Eine moderne Äußerung zeigt, dass sich „die Untersuchung und die Publikation ... in jeder Beziehung mit späteren und heutigen Unternehmungen messen (kann)“ und sie gilt „noch heute richtungsweisend“.108 Gleichzeitig wurden immer wieder neue Forschungsvorhaben entwickelt oder schon bestehende Vorhaben fortgeführt, die z. T. in die politisch motivierte Ost- und Westforschung gehören. Hier zu gehört das Forschungsvorhaben, das im Rheinland geplant wurde. Im Juni 1934 gab der Leiter des Landesmuseums in Bonn einen Bericht über die zukünftigen Aufgaben der vorgeschichtlichen Forschung im Rheinland an den Provinzialverband.109 Oelmann regte an, die „vor- und frühgeschichtlichen Baudenkmäler“, unter denen er Befestigungsanlagen und eisenzeitliche Grabhügel verstand, und die „trotz aller Vernachlässigung und Beraubung ... immer noch höchst umfangreich“ vorhanden wären, systematisch zu erfassen und zu inventarisieren. Im Besonderen forderte er „eine genaue Erforschung gerade der rechtsrheinischen Befestigungen“, da damit untersucht werden könnte, „wie ... die Ausbreitung und Befestigung der fränkischen Herrschaft im rechtsrheinischen Gebiet“ vollzogen worden war. Was hier als Forschungsaufgabe für den Provinzialverband Rheinland geplant wurde, war die Zusammenstellung der wissenschaftlich unumgänglichen Rohdaten, eine bis heute dringende Aufgabe, um bei Bauplanungen den archäologischen Einsatz überhaupt einschätzen zu können. Die genannte Region, das rechtsrheinische Gebiet, ist als politisch unverfänglich zu betrachten, lag es doch innerhalb der deutschen Grenzen des Versailler Vertrages. Die politischen Intentionen werden stärker in den Begründungen erkennbar, mit denen Oelmann dieses Forschungsvorhaben beschrieb. Um dieser Aufgabe mehr Aufmerksamkeit beim Provinzialverband zu verschaf104 Freundl. Hinweis ehemaliger Göttinger Studenten. 105 Michael Strobel: Zur Geschichte der Archäologischen Denkmalpflege in Deutschland – Aspekte ihrer Entwicklung. Die Bodendenkmalpflege zur Zeit des Nationalsozialismus, in: Archäologisches Nachrichtenblatt 5, 2000, S. 223-232, hier 226. 106 Schreiben Rieks an Langsdorff vom 9.12.1936. BA BDC Materialien Riek. Michael Strobel: Die Ausgrabungen des Reichsbundes für Deutsche Vorgeschichte. Das Beispiel der Schussenrieder Siedlung Taubried I und die württembergische Vorgeschichtsforschung zwischen 1933 und 1945, in: Achim Leube / Morten Hegewisch (Hrsg.): Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933-1945, Heidelberg 2002, 277-288, hier 283 Anm. 18 107 Bericht Merharts an Sievers vom 16.8.1944. Hier zit. nach Schlegelmilch: Prähistoriker, 165. 108 Jörg Biel: Der Keltenfürst von Hochdorf. Methoden und Ergebnisse der Landesarchäologie, Stuttgart 1985. 109 Schreiben Oelmanns vom 28.6.1934. Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland 22929.
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fen, bediente er sich typisch nationalsozialistischer Klischees und Stereotypen. So verwies er auf England, das Deutschland und vor allem der Rheinprovinz „auf dem Gebiet der vaterländischen Altertumskunde ...weit voran“ wäre. Der Kulturdezernent nahm die wissenschaftliche Vorgaben Oelmanns auf und plante seit November 1934 „die Inventarisierung der rheinischen Ringwälle und Hügelgräber“, eine Aufgabe die Rafael von Uslar übertragen wurde.110 Entsprechend dieser fachwissenschaftlichen, mittlerweile politisch abgesegneten Vorgaben kam es im Frühjahr 1935 zu einer ersten Forschungsgrabung im Rheinland. Unter der Leitung des Archäologen und Parteimitgliedes (seit 1930) W. Buttler wurde mit einigen SS-Männern die rechtsrheinische Erdenburg bei Bensberg, ca. 15 km östlich von Köln-Deutz, untersucht. Zuvor hatte man alle vor- und frühgeschichtlichen Befestigungen „der Kölner Gegend“ besichtigt und dann abgewägt, welche Wallanlage ausgegraben werden sollte. Die Erdenburg galt als „bedeutendste und interessanteste Anlage“ und deshalb erschien „es für die Wissenschaft wünschenswert, wenn eine solche Anlage erforscht wird, da im Rheinland weder vorgeschichtliche noch germanisch-fränkische Befestigungen untersucht worden“ waren.111 Als Begründung für die Ausgrabung gab Buttler an, dass das „Ziel“ die Klärung des „Alters und die völkische Zugehörigkeit ... sowie Aufschlüsse über die Art und Aufbau der Befestigung“ sein sollte. Die Ausgrabung waren eine reine Forschungsgrabung und nicht eine Notgrabung, die aufgrund von Baumaßnahmen notwendig wurde. Schon im Vorfeld zeichnete sich ab, dass die Ausgrabung als „Schulungsgrabung für die SS“ aufgezogen werden sollte. Finanziert wurde die Grabung mit Geldern des Rheinisch-Bergischen Kreises, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der SS und der RGK.112 Auch wenn an dieser Stelle erstmals die SS mit der rheinischen Vorgeschichtsforschung verknüpft wird, klingt die Begründung für die Forschungsgrabung – unklare Zeitstellung, noch keine anderen Anlagen ausgegraben – unpolitisch und könnte auch heute noch in einem Antrag für eine Forschungsgrabung stehen. Etwas anders sieht es mit dem Grund „völkische Zugehörigkeit“ aus. Hiermit ist zu mindestens das zeitgenössische Vokabular erkennbar. Der politische Hintergrund wird erst sichtbar, wenn man die nationalsozialistische Propaganda zu dieser Grabung betrachtet, die am offensichtlichsten bei der Besichtigung der Grabungsstelle durch Himmler wurde.113 Nach der Rede des SSArchäologen A. Langsdorff fand die Grabung „auf dem Hauptkriegsschauplatz am Rhein zwischen Römern und Germanen“ statt, ein Ort, an dem „zahllose unbekannte Helden und Kämpfer die germanische Westfront gegen die römischen Eindringlinge mannhaft verteidigt“ hätten. Die Grabung hätte den „hohen Stand des germanischen Wehrbaues“ nachgewiesen und durch den Einsatz der SS-Männer sollte „sich die SS ... aus der Geschichte ihrer Ahnen die Vorbilder für die Haltung in der Gegenwart“ heranziehen. Er nannte vorgeschichtlichen Wallanlagen „eine Art Siegfriedstellung“, die sich „von der Nordsee bis zum Main der römischen Militärmacht entgegen“ gestemmt hätten und erprobt hiermit die Ideologie des Westwalles (Siegfriedlinie). Himmlers Erwiderung zeigt, dass er die Archäologie mit der nationalsozialistischen Gegenwart verschmelzen wollte, denn er sagte: „Es ist sicherlich kein Zufall, daß hier eine germanische Burg steht, ... und daß auf einem Berg hier in der Nähe die nationalsozialistische Erziehungsanstalt steht, die Anstalt, in der wir junge Führer des Germanentums erziehen“. Damit schuf er die Legitimationslinie aus der vorge110 Uta Halle: Archäologie und Westforschung, in: Burkhard Dietz, / Helmut Gabel / Ulrich Tiedau (Hrsg.): Griff nach Westen. Die „Westforschung” der völkisch-nationalen Wissenschaft zum nordwesteuropäischen Raum (1919-1960) Münster u.a. , 2003, 383-406, hier 398. 111 Halle: Westforschung, 399. 112 Werner Buttler: Die Erdenburg bei Bensberg, Bez. Köln, eine germanische Festung der Spätlatènezeit, in: Germania 20, 1936, 173-184, hier 173 Anm. 1. 113 Bericht „Der Reichsführer SS besichtigt in Bensberg bei Köln die erste vorgeschichtliche SS-Grabung, Aufdeckung einer germanischen Verteidigungsburg gegen die Römer. Abgefaßt nach dem 2. Juli 1935. Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland 11399.
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schichtlichen Vergangenheit in die politische Gegenwart des Jahres 1935. Deutlich schwächer fällt die ideologische Komponente in den eigentlichen fachwissenschaftlichen Grabungsberichten aus. Hier beschrieb Buttler die Befunde der Burg, die bei ihm „den Eindruck“ hinterlassen hatte, „als ob sie mit großem Aufwand an Menschen und Machtmitteln sehr schnell errichtet worden“ wäre. Er charakterisierte die Anlage als „unfertig, nie benutzt und umkämpft“, erwähnte „den hohen Stand germanischer Festungsbauweise“114 und skizzierte ein „neues Problem“, das an die Ausgrabung der Erdenburg anknüpfte. Buttler fragte:115 „Gehörte diese Burg vielleicht mit mehreren anderen zu einer Kette von Wallburgen, die die Germanen am Rande des Berglandes und entlang der großen Einbruchsstraßen der Römer angelegt haben, ein planvolles System, von einem einheitlichen Willen gestaltet?“ Damit übernahm auch er quasi den aktuellen Gegenwartsbezug zum Bau des Westwalles, für den die Vorbereitungen 1936 anfingen. Er betont damit aber auch gleichzeitig eine autoritäre, hierarchisch gegliederte Herrschaftsform zur Verwirklichung großer Ideen, und zeigt damit unverkennbar eine Anlehnung an das nationalsozialistische Führerprinzip. Bis 1935 beschränkten sich die geplanten Forschungsvorhaben der Provinzialverwaltung auf rechtsrheinische Gebiete, durchgeführt wurden allerdings immer Notgrabungen sowohl im rechts- wie auch im linksrheinischen Teil des Rheinlandes. Im Frühjahr 1936 sah dies schon ganz anders aus. Die Pläne, die der rheinische Kulturdezernent mit fachwissenschaftlicher Beratung schon in den ersten Jahren des NS-Regimes ins Auge gefasst hatte, wurden im Frühjahr 1936 – wenige Wochen nach den Besetzung der entmilitarisierten Zone des Rheinlandes – öffentlich bekannt gegeben: ein „groß angelegtes“ Ausgrabungsprogramm, das die „Lösung der großen völkischen Zentralprobleme rheinischer Vorzeit“ liefern sollte.116 100 000 Reichsmark wurden für 14 Grabungen im Rheinland zur Verfügung gestellt. Vier große Forschungsbereiche, davon drei schon bestehende Schwerpunkte (Ringwallforschung, Siedlungsgrabungen zur Erforschung des rheinischen Siedlungsraumes, Erforschung der großen rheinischen Grabhügelfelder) sollten weiter ausgebaut werden. Mit der dem Vorhaben der „Erforschung der fränkischen Reihengräberfriedhöfe“ kam ein neuer Schwerpunkt hinzu und das Programm wurde auf das gesamte Rheinland ausgedehnt. Um dem „Deutschtumskampf“ im Osten neue Impulse zu geben, hatte der Berliner Archäologe Wilhelm Unverzagt 1936 ein „auf den bisherigen Erkenntnissen beruhendes gross angelegtes Grabungsprogramm“ ausgearbeitet und dazu laut Aktennotiz der Publikationsstelle Dahlem diese um „Mitwirkung“ gebeten.117 Ein solches Ausgrabungsprogramm, das finanziert und personell organisiert werden musste, war nicht ohne politische und finanzielle Unterstützung der NS-Machthaber zu realisieren. Geplant waren u. a. Grabungen auf dem Domplatz in Magdeburg, wo die Archäologie die „alte Pfalz Kaiser Otto I.“ freilegen wollte. Finanzierungsprobleme ließen das Vorhaben aber 1938 scheitern, und dieses Projekt wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg verwirklicht. Auch bei diesem Vorhaben arbeiteten der Historiker Brackmann und der Archäologe Unverzagt Hand in Hand mit der SS und anderen politischen Instanzen, nutzten deren ideologischen Interessen für ihre eigenen wissenschaftlichen Ambitionen und boten sich und ihre Ergebnisse den Nationalsozialisten zur Legitimation ihrer Politik an.118
114 Werner Buttler: Aus der Arbeit des Kölner Museums für Vor- und Frühgeschichte 1933 – 1935, in: Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit 11, 1935, 193-197, hier 197. 115 Buttler, Erdenburg, 183. 116 Apffelstaedt in seiner Eröffnungsrede vom 26. 4.1936. Vgl. Bettina Bouresh: Die Neuordnung des Rheinischen Landesmuseums Bonn 1930-1939. Zur nationalsozialistischen Kulturpolitik der Rheinprovinz. Bonn 1996, 118. 117 Bundesarchiv Berlin R 153 1264 Aktennotiz der Publikationsstelle Dahlem vom 22.6.1936. 118 Halle i. Dr.
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Insgesamt konnten die Wissenschaftler über die staatlichen Stellen in den Landesämtern oft mit der SS zusammenarbeiteten und auf eine bessere personelle und finanzielle Struktur zurückgreifen als die des Amtes Rosenberg, die stärker durch die überwiegend ehrenamtlichen bzw. schlechter bezahlte Arbeit von Einzelpersonen, Gruppen und Vereinen des Reichbundes forschen konnten.119 Forschung und Lehre Einen Entwicklungs- und Professionalisierungssprung verzeichneten auch die ordentlichen Professuren im Fach Ur-, oder Vor- und Frühgeschichte im Nationalsozialismus. So konnte Gummel 1938 vermelden, dass Deutschland „anstatt eines ordentlichen Professors nach Ablauf von zwei Jahren deren acht“ besaß und vermeldete gleichzeitig, dass „im Dritten Reich zur Wirklichkeit (wurde), was lange angestrebt worden“ wäre.120 1942 konnte das Fach 23 selbstständige Institute verzeichnen.121 Hierbei gilt es nach Pape festzuhalten, dass das Fach im Gegensatz zu anderen Fächern antizyklisch wuchs, zudem dies als Zeichen für „eine (innere) Selbstgleichschaltung“ zu werten sei, weil dieser Vorgang aus dem Fach heraus gefordert wurde.122 Ein breites Lehrangebot wurde erreicht, von dem ca. 20 Prozent im Titel das Wort „Germanisch“ führten.123 Bei der Besetzung der Professuren mischten sich Reichs- und mächtige Regionalpolitiker in größerem Umfang ein. So intervenierte an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität Rosenberg persönlich, damit Reinerth das Ordinariat für „Vorgeschichte und germanische Frühgeschichte“ rückwirkend zum 1. November 1934 im Mai 1935 erhielt.124 Reinerth blieb trotz hoher Studentenzahlen (71 Hauptfachstudenten, darunter 23 Frauen) und einer Vielzahl fachlicher Funktion an der Universität relativ isoliert, weil der „leidenschaftliche Ausgräber“ aufgrund seiner Grabungstätigkeit und seinem Kampf um das Reichsinstitut seinen dortigen Aufgaben nur unregelmäßig nachkam.125 An der Universität Bonn versprach der Rheinische Kulturdezernent eine umfassende Ausstattung, wenn sie anstelle des bewährten Königsberger „Ostforschers“ von Richthofen den Leipziger Professor Tackenberg berufen würden.126 Anknüpfend an den Aufbau der erfolgreichen Schulungsarbeit der 1920er Jahre im Bereich der Lehrerausbildung wurden an den Hochschulen für Lehrerbildung für acht Prähistoriker Dozentenstellen eingerichtet.127 Trotzdem blieb die Ausbildung zu einem erheblichen Teil in den Händen von Nicht-Prähistorikern. Z. T. wurde Vorgeschichte zum Pflichtfach und wesentlicher Bestandteil der Prüfungen.128 Populärer Wissenstransfer Für den Wissenstransfer in die breite Öffentlichkeit konnten die Fachwissenschaftler verschiedene und vielfältige Wege beschreiten. Zu nennen sind hier die Museen mit ihren Dauerausstellungen, Sonderausstellungen in- und außerhalb von Museen, Einsatz von Print- und moderner Medien sowie die öffentliche Schulungsarbeit. 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128
Vgl. hierzu die Beispiele bei Pape, Entwicklung, 182-184. Hans Gummel: Forschungsgeschichte in Deutschland, Berlin 1938, 385. Pape, Entwicklung, 170. Pape, Entwicklung, 169. Pape, Entwicklung, 174. Achim Leube: Die Ur- und Frühgeschichtse an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, in: Rüdiger vom Bruch / Christoph Jahr (Hrsg.), Die Berliner Universität in der NS-Zeit, Stuttgart 2005, 149163, hier 153. Leube: Ur- und Frühgeschichte, 158-159. Halle: Westforschung, 389. Hassmann: Archäologie, 111. Pape, Entwicklung, 175.
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Museen Hatten vor der NS-Zeit wirtschaftliche und finanzielle Probleme eine vielfach angedachte Neuordnung der ur- und frühgeschichtlichen Abteilungen in den großen Museen verhindert, so sah nach 1933 anders aus, nun zog der „frische [nationalsozialistische U.H.] Wind in die musealen Leichenkammern“.129 Trotzdem setzten nicht sofort staatlich verordnete Veränderungsmaßnahmen ein, sondern wurden von den Wissenschaftlern immer wieder angeregt, weil z. B. im Fall des Lippischen Landesmuseums in Detmold das „Museum ... den Anblick völliger Verwahrlosung (bot)“ oder weil der Kampfbund das Bonner Provinzialmuseum als ein Haus schilderte, in dem „400 Jahre Römerbesatzung, mehr als das halbe Museum“ eingeräumt wäre, der „fränkisch-merowingische Zeit [aber nur U.H.] ein Raum“.130 Im Herbst 1933 wurde Hans-Joachim Apffelstaedt neuer Kulturdezernent im Provinzialverband Rheinland und dieser begann verstärkt im Sommer 1934 mit der Umgestaltung des Provinzialmuseums. Der erste Umbauabschnitt war im März 1935 beendet und die Neueröffnung zeigte sieben Säle Vor- und Frühgeschichte (zwei fränkische und fünf prähistorische).Nach Apffelstaedt dient das Museum jetzt als „nicht mehr als Privileg einer kleinen Schicht ..., sondern zum Gemeingut des ganzen Volkes“. Tatsächlich wurde das Bonner Museum auch in der gleichgeschalteten Presse entsprechend gewürdigt. Trotz der ersten Erweiterung für die prähistorische Forschung reichte dies dem Kulturdezernenten noch nicht aus. Weitere Umbauten waren vorgesehen und noch vier zusätzliche Räume für die Vor- und Frühgeschichte folgen. 1936 wurde der zweite Umbauabschnitt eröffnet und er blieb bis zum 27. August 1939 geöffnet. Im Lippischen Landesmuseum hingegen wurden unter dem neuen Leiter Oskar Suffert umfangreiche Renovierungs- und Aufräumarbeiten angesetzt. Suffert verhinderte aber nicht, dass das Museum sich zugunsten der neu gegründeten „Pflegstätte für Germanenkunde“ verkleinern mußte.131 Laut den entsprechenden Mitteilungen im „Nachrichtenblatt für Deutsche Vorzeit“ wurden verschiedene bedeutende Sammlungen neu präsentiert. Schon 1935 wurden die vorgeschichtlichen Sammlungen im Germanischen Nationalmuseum in der Stadt der Reichsparteitage, in Nürnberg, unter Federführung des Reichsbundes im Amt Rosenberg überarbeitet. Hier wurde überwiegend mit Originalen in der Dauerausstellung gearbeitet und zudem „rassegeschichtliche“ und „kulturgeschichtliche“ Eigenschaften der geographischen Großräume über Texttafeln und Verbreitungskarten erläutert. 1936 folgte die Vorund Frühgeschichtlichen Staatssammlung München, die nach Unruh auch ideologisch linientreu konzipiert wurde. Dort wurden Originale und Nachbildungen verwandt, und es wurde versucht die Sammlung „durch Rekonstruktionen, Modelle, Lebensbilder und plastische Figuren“ für die Besucher didaktisch aufzubereiten. Das bisherige RömischGermanische Zentralmuseum in Mainz erhielt nicht nur einen anderen Namen und hieß bis Kriegsende „Zentralmuseum für Deutsche Vor- und Frühgeschichte“ sondern 1939 auch eine Neuaufstellung, die als „wesentlich zurückhaltender“ eingestuft wird.132 In Braunschweig, wo es keine „eigenständige archäologische Ausstellung“ gab, wurde zunächst nach dem Tod des Landesarchäologen H. Hofmeister 1936 A. Tode zum neuen Landesar129 Martin Griepentrog: „Frischer Wind“ in der musealen „Leichenkammer“. Zur Modernisierung kulturhistorischer Museen von der Jahrhundertwende bis zum Nationalsozialismus, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1991, 153-173. 130 Bouresh: Neuordnung, 62. 131 Uta Halle: Detmold und die deutsche Vorgeschichtsforschung, in: Nationalsozialismus in Detmold. Dokumentation eines stadtgeschichtlichen Projekts, Bielefeld 1998, 528-555, hier 536-537. 132 Frank Unruh: „Verstopfung schlimmster Art“. Bilanz im Rheinischen Landesmuseum Trier und Realisierung archäologischer Ausstellungen im „Dritten Reich“, in: Hans-Peter Kuhnen (Hrsg.): Propaganda. Macht. Geschichte. Archäologie an Rhein und Mosel im Dienst des Nationalsozialismus, Trier 2002, 139-150, hier 141.
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chäologen berufen. Dieser sollte „ein deutsche Vorgeschichtsmuseum aufbauen, das unserer nationalsozialistischen Weltanschauung besser entspräche als die meisten unserer bisherigen Vorgeschichtsmuseen.“133 In die Umsetzung griff der braunschweigische Ministerpräsident D. Klagges wiederum direkt ein und in der Zusammenarbeit entstand eine moderne Einrichtung, in die die neuesten Ausgrabungen der Braunschweiger Landesarchäologie integriert und durch überregionale Modelle sowie Figurinen aus der Modellbauwerkstatt des Reichsbundes und Wandbilder ergänzt wurden. 1943 begann die Auslagerung der Ausstellungsobjekte und 1944 wurde das Haus der Vorzeit in einem Bombenangriff zerstört.134 Nach Schmidt wurden ab 1933 die Didaktisierung der Ur- und Frühgeschichte perfektioniert und professionalisiert.135 Dieser Aussage ist in vielen Bereichen zuzustimmen. Trotzdem gab es gerade im Museumsbereich trotz der Aufbruchstimmung auch Gegenbeispiele. So wurde die 1926 unter modernen didaktischen Gesichtspunkte aufgestellte Abteilung für Ur- und Frühgeschichte am Landesmuseum Hannover nicht verändert, sie galt schon als „wertvolle Vorarbeit für die Erfüllung der nationalsozialistischen Forderung, das Ergebnis der kulturellen Leistung unseres Volkes ... aus der Ur- und Vorgeschichte ... zum Gemeingut des ganzen Volkes zumachen.“136 Aber auch die Dauerpräsentation des Museums für Völkerkunde II in Berlin wurde trotz veralteter Museumsdidaktik nicht verändert (Menghin 2005, 124). Für die „räumlich völlig unzureichende Schausammlung“ des Dresdener Museums wurde im Frühjahr 1937 eine Neukonzeption beauftragt, die Mitte 1938 mit dem Teilbereich „Germanen in Sachsen“ eröffnet wurde. In ihr legten die Wissenschaftler besonderen Wert darauf, diesen „Teil der Vorgeschichte ... lebensnahe“ zu zeigen.137 Der Reichsbund für Deutsche Vorgeschichte sah als erklärtes „Ziel die Errichtung zahlreicher Freilichtmuseen und damit die letzte Verlebendigung versunkener, aber für die Volkserziehung unentbehrlichen Kulturgutes aus den vor- und frühgeschichtlichen Jahrtausenden“.138Aus diesem Grund kamen im Nationalsozialismus mehrere Freilichtmuseen zur bestehenden Museumslandschaft hinzu, denn Freilichtmuseen galten als „sichtbares lebendiges Bild“. Deshalb entstanden 1936 anläßlich der internationalen Tagung „Haus und Hof“, die von der Nordischen Gesellschaft unter Mitwirkung von Rosenberg abgehalten wurde, zwei Häuser aus der Steinzeit bzw. Eisenzeit in Lübeck. Gleichzeit entstand auf Drängen des Schulleiters in Oerlinghausen, wo er Ende der 1920er Jahre Hausgrundrisse ausgegraben hatte, anlässlich der 900Jahr-Feier der Stadt, ein „germanischer Bauernhof“ als neues Freilichtmuseum. In beiden Fällen wurden die Pläne für die Bauten vom Reichsbund für Deutsche Vorgeschichte erstellt und die Inneneinrichtungen wurden aus dem „Standardsortiment der Modellwerkstatt“ Unteruhldingen geliefert. Ein drittes Freilichtmuseum auf der Mettnau bei Radolfzell am Bodensee, erneut unter der Regie des Reichsbundes, kam 1938 hinzu. Diese Freilichtmuseen hatten von Anfang an eine charakteristische Ausrichtung auf den NS-Staat, sie waren nach Schöbel als direkte „Propagandamuseen“ gedacht, enthielten „Führerhäuser“ und dienten „der Beweisführung germanischer Größe“.139 133 134 135 136
Tode 1943, hier zit. nach Heske: Germanentum, 484. Heske: Germanentum, 490. Schmidt: Rolle, 151. Schatzrat der Provinzialregierung Rudolf Hartmann 1935. Hier zit. nach Hoffmann: Ur- und Frühgeschichte, 237. 137 Walter Grünberg: Jahresbericht des Landespflegers für Bodenaltertümer in Sachsen und des Landesmuseums für Vorgeschichte in Dresden für die Zeit vom 1. IV.1937 bis 31.III.1939, in: Nachrichtenblatt für Deutsche Vorzeit 15, 1939, 151-155, hier 155. 138 Joachim Benecke: Die Steinzeitbauten auf der Mettnau. Das neue Freilichtmuseum des Reichbundes für Deutsche Vorgeschichte, in: Germanen-Erbe 3, 1938, 245-252, hier 246. 139 Schöbel: Reinerth, 355.
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Im Gegensatz zum Reichsbund, dem diese Form der Museumsdidaktik sehr wichtig war, stellt sich das SS-Ahnenerbe dieser „volkserzieherischen“ Aufgabe kaum. 1939 wurden auf der Tagung des Ahnenerbes in Kiel erste Pläne für ein Freilichtmuseum an den Externsteinen angeregt. Federführend arbeiteten an diesem Plan der Leiter der Detmolder Pflegstätte Bruno Schweizer und der Leiter der neugegründeten Abteilung für germanisches Bauwesen in Braunschweig, Martin Rudolph. Sie wollten dort ein „ideales Freilichtmuseum“ nach skandinavischen Vorbildern errichten, das dem „Grundgedanken ‚Wie gestalteten Germanen den häuslichen Lebensraum‘ folgen (und) 20-30 verschiedene typische Bauweisen bäuerlicher Hofformen aus allen altbesiedelten germanischen Wohngebieten umfassen“ sollte. Nach Vorlage der ersten Vorstellung bei Himmler stellte sich heraus, dass dieser die weitreichenden Pläne nicht guthieß.140 Sonderausstellungen und Mitarbeit an Partei- oder Propagandaveranstaltungen Bislang ist wenig bekannt, auf wessen Wunsch Sonderausstellungen, die die Museen konzipierten, zustande kamen. Aber auch immer wieder wurden öffentliche Partei- oder andere Propagandaveranstaltungen mit der Ur- und Frühgeschichtsforschung verknüpft, ohne das hierzu bekannt ist, wer die Anregung dazu lieferte. Eine der ersten Propagandaveranstaltungen war die Sonnwendfeier im Sommer 1933, als „etwa 500 Germanen ... teils zu Fuss teils zu Pferde“ ins Berliner Grunewaldstadion einmarschierten. Für diesen Germanenzug hatte der Archäologe Albert Kiekebusch vom Märkischen Museum die wissenschaftliche Beratung übernommen. Er setzte Nachbildungen des Sonnenwagens aus dem dänischen Fundort Trundholm sowie der „Sonnenscheibe von Balkakra“, einem spektakulären Bronzefund aus Schweden ein. Daneben traten drei „Lurenbläser“ auf.141 Für die „Grüne Woche“ 1934 in Berlin, die erstmals unter nationalsozialistischen Vorzeichen stattfand, wurden die Luren sowie Gipsabdrücke eines bronzezeitlichen Menschen des Hannoveraner Landesmuseums ausgeliehen.142 Die graphische Darstellung „Urgeschichte der Provinz Hannover“ bestückte die Ausstellung „Die deutsche Gemeinde“, die 1936 in Berlin stattfand. Bei der Wanderausstellung „Bäuerliche Kultur und Arbeit“, die zwischen 1936 und Sommer 1939 bei verschiedenen Kreistierschauen, Gruppen des Arbeitsdienstes, der SS und der Hitlerjugend an zahlreichen Orten in Niedersachsen stellte das Landesmuseum Hannover. archäologische Funde und Kopien bedeutender Funde zusammen mit einer didaktischen Bebilderung zur Verfügung. Es ist nachweisbar, dass Jacob-Friesen „frühgeschichtliches und rassenkundliches Material“ hierfür auf Bitten der Kreisbauernschaft Hannover zusammenstellte.143 Die Ausstellung wurde schon im ersten Jahr ihrer Wanderschaft von ca. 100 000 Besuchern besichtigt. Das Landesmuseum Detmold leiste zur „Westfalenfahrt der Alten Garde“ vor seinen Gebäude die Zurschaustellung von drei Wagen, von denen einer die antisemitische Aufschrift „Aus dem Osten kommt das Licht‘ ... Juden, jüdische Kultur, ja überhaupt alles, was an Minderwertigem aus dem Osten kommt“ trug. Der zweite Wagen zeigte die Auf-
140 Halle: Externsteine, 469. 141 Albert Kiekebusch: Der Germanenzug im Berliner Grunewaldstadion, in: Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit 9, 1933, 39-40. 142 Hoffmann: Ur- und Frühgeschichte, 240. Bei J. Schween ist dieses Ereignis nicht erwähnt. Joachim Schween: Verehrt und mißbraucht. Zur Rezeptionsgeschichte der bronzezeitlichen Luren im 19. und 20. Jahrhundert, in: Ellen Hickmann / Arnd Adje Both / Ricardo Eichmann (Hrsg.): Studien zur Musikarchäologie IV., 2002, 193 - 220. 143 Hoffmann: Ur- und Frühgeschichte, 240.
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schrift: „Germanen und ihre Kultur unter der im Norden aufgehenden Sonne“ und der Dritte wies „ausgegrabene Gefässe und Bilder der wirklichen Kultur der Germanen“ auf.144 Die größte Sonderausstellung, die in der NS-Zeit gezeigt wurde, war die Ausstellung „Lebendige Vorzeit“ des „Reichsbundes für deutsche Vorgeschichte“.145 Das Konzept für diese Ausstellung wurde von der Reinerth-Schülerin Liebetraut Rothert und der Modellwerkstatt des Reichsbundes entwickelt. Sie zeigte als wissenschaftliche Schau mit Modellen, lebensgroßen Bildern, großformatigen Spruchbändern, Schautafeln sowie einleitenden Sprüchen der Prähistoriker G. Kossinna, J.F. Danneil und G.-C. Lisch sowie von Hitler, sowie in übermäßig mit Hakenkreuzfahnen dekorierten Ausstellungsräumen „ideologisch verbogene Inhalte“.146 Die Sonderpräsentation war als Wanderausstellung konzipiert und wurde erstmals 1936 anlässlich der dritten Reichstagung für deutsche Vorgeschichte gezeigt. Anschließend ging sie nach Hamm, Erfurt, Pfullingen, Berlin, Hannover, Düsseldorf, Bremen und Darmstadt und zog je nach Ort zwischen 40 und 100 000 Besucher an.147 Lehre und Schulungsarbeit Immer wieder fragten sich die Wissenschaftler aus ihrer täglichen praktischen Arbeit heraus, wie es „mit der Kenntnis um unsere Wissenschaft im ganzen Volke“ bestellt wäre.148 Hier setzten sie ihre Hoffnung auf „die NSDAP“, die „durch Schulung in allen ihren Gliederungen das ganze deutsche Volk mit der Vorgeschichtsforschung vertraut machen“ würde.149 Dafür waren schon im November 1933 ausgehend vom Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung „umgehend etwa 30 junge Vorgeschichtler, die fähig sind, an den Gauführerschulen aufklärende Kurse über die Aufgaben und die Objekte der Vorgeschichtsforschung zu halten“, gesucht worden. Diese mussten als „Voraussetzung... sofortige Verfügbarkeit, entschiedenes Eintreten für den nationalsozialistischen Staat (Parteizugehörigkeit oder Bürgschaften) und möglichst Vertrautheit mit den vorgeschichtlichen Problemen der betreffenden Landschaft“ mitbringen.150 G. von Merhart gab diese Anfrage an seine Studenten weiter, wohl um damit Kampfbundmitgliedern zuvorzukommen und weil er Schulungsarbeit als „eine Selbstverständlichkeit“ ansah.151 Immer wieder führten die Landesämter für vorgeschichtliche Denkmalpflege zusammen mit dem NSLB (Lehrbund) und regionalen sowie kommunalen Staatsstellen, z. B. den städtischen Schulverwaltungen „Lehrgänge für germanische Vorgeschichte“ durch, für die sich die Wissenschaftler immer wieder zur Verfügung stellten.152 So ist für das Landesmuseum Hannover festzustellen, dass verstärkt Führungen durch die Abteilung Ur- und Frühgeschichte des Landesmuseums für verschiedene NS-Organisationen und -Untergliederungen durchgeführt und für die breite Öffentlichkeit wurden Exkursionen zu vorgeschichtlichen Denkmälern unter fachwissenschaftlicher Leitung angeboten wurden.153 Das Fach zeigte sich überaus stolz über die großen Teilnehmerzahlen und stellte sie z. T. auch graphisch dar.154 144 Halle: Externsteine, 461. 145 Rudolf Ströbel: Führer durch die Ausstellung Lebendige Vorzeit. Veranstaltet vom Reichsbund f. dt. Vorgeschichte u. d. Amt f. Vorgeschichte d. NSDAP, Leipzig 1938. 146 Schöbel: Reinerth, 353. 147 Schöbel: Reinerth, 353-354. Geplant war zusätzlich der Ausstellungsort Wien für Ende September 1939. Dieses wurde aber durch den Kriegsausbruch verhindert. 148 Gummel: Forschungsgeschichte, 387. 149 Gummel: Forschungsgeschichte, 388. 150 Schreiben Merharts an Jordan vom11.11.1933. Museum Wewelsburg, Nachlaß Jordan 223 Nr. 8. 151 Schlegelmilch: Prähistoriker, 48. 152 Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit 9, 1933, 160. Vgl. Pape, Entwicklung, 175. 153 Hoffmann: Ur- und Frühgeschichte, 239. 154 Pape, Entwicklung, 166.
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Eine allgemeine Wissensvermittlung gehörte nicht unbedingt zu den Aufgaben der Hitlerjugend. Eine Ausnahme bildete hierbei die Ur- und Frühgeschichte, denn für diesen geschichtlichen Bereich waren die Erziehungsziele in Schule und HJ deckungsgleich. Das Reichserziehungsministerium gewann hierfür einen neuen Verbündeten, denn es kam zu einer Zusammenarbeit mit dem „Jugendführer des Deutschen Reiches“, mit Baldur von Schirach. Obwohl Rust und Schirach sich über die Gründung der „Adolf-HitlerSchulen“ zerstritten hatten, übernahm die Hitlerjugend den „Ehrenschutz“ der Bodendenkmale. Diese neue Aufgabe der Hitlerjugend, „an dem wichtigen Werk der Erhaltung des in unseren Bodenaltertümern überkommenen Ahnenerbes mitzuarbeiten“, wurde von Rust „begrüßt“ und er wies die „staatlichen Vertrauensmänner für die kulturgeschichtlichen Bodenaltertümer“ an, sich mit den zuständigen Stellen der Hitlerjugend in Verbindung zu setzen und Schulungen durchzuführen.155 Damit war aber nach Hassmann nicht in erster Linie die denkmalpflegerische Betreuung, sondern eine „nahezu religiöse Verehrung“ der Bodendenkmäler vorgesehen.156 Medien Um ein „politisch vorprogrammiertes“ Geschichtsbild im Nationalsozialismus weit in die Geschichte zurückreichen zu lassen, konnten Medien verstärkt mit ur- und frühgeschichtlichen Themen arbeiten. Mit ca. 10 Filmen wurde in der NS-Zeit versucht, archäologische Arbeit und Ergebnisse filmisch umzusetzen. Auch in diesem Bereich knüpfte die gleichgeschaltete Medienproduktion an ältere Vorbilder, wie z.B. an den Stummfilm „Pfahlbausiedlungen in Unteruhldingen“ aus dem Jahr 1926 an. Die NSDAP-Reichspropagandaleitung brachte 1933 den 15minütigen Schwarzweißtonfilm „Flammen der Vorzeit“ heraus, der grabungstechnische Erklärungen zu jüngerbronzezeitlichen Brandbestattungen mit populärwissenschaftlichen Begleitkommentaren versah, weitere Filme folgten. Damit sollen über die Deutung archäologischer Sachverhalte nationalsozialistische Ideale und Ziele untermauert werden, obwohl sie selber allerdings noch nicht von der Propaganda bearbeitet waren, sondern dem ursprünglichen Konzept Zotzs entsprachen.157 Die wissenschaftliche Bearbeitung hatten Lothar Zotz und Hans Seger (Breslau). Zotz hatte zudem schon 1932 eine Ausgrabung auf einem eisenzeitlichen Gräberfeld in Schlesien drehen lassen. Dieses Filmmaterial wurde 1934 in dem Film „Wir wandern mit den Ostgermanen“, unter der wissenschaftlichen Beratung von Zotz und Segers und durch die Propaganda nachbearbeitet in die Wochenschauen gebracht. Dieser Film gilt als für „die jugendliche Zielgruppe“ gemachter Dokumentarfilm, der „in offener Propaganda“ endet.158 Auch innerhalb der SS wurde mit der Verknüpfung des modernen Mediums mit der Ur- und Frühgeschichtsforschung gearbeitet. Die SS-Ausgrabung in Nauen-Bärhorst in der Nähe von Berlin liefert das Umfeld für den Film „Deutsche Vergangenheit“, mit dem auch Himmlers Grabungsbesuch dokumentiert wird und an dem die Archäologen Langsdorff und Unverzagt mitarbeiteten. Im Gegensatz zu den früheren Archäologiefilmen wirken alle Szenen gestellt, allerdings zeigen die eingebauten Trickszenen durchaus innovative Ansätze.159 155 Schreiben Rusts an die „Vertrauensmänner“ vom 13.2.1939. Staatsarchiv Detmold L 80 Ia Gr. XXX Tit. 4 Nr. 4. 156 Haßmann: Archäologie, 119. 157 Thomas Stern: „Zu neuen Ufern ...“ Grabungstechnik und Aufbruchstimmung der Archäologie am Federsee 1919-1930, in: Keefer, Erwin (Hrsg.), Die Suche nach der Vergangenheit. 120 Jahre Archäologie am Federsee. Stuttgart 1992, S. 49-53, hier 68; ders. Der propagandistische Klang stummer Zeugen deutscher Vorzeit, in: Hans-Peter Kuhnen (Hrsg.): Propaganda. Macht. Geschichte. Archäologie an Rhein und Mosel im Dienst des Nationalsozialismus, Trier 2002, 213-232, hier 214. 158 Hassmann: Archäologie, 127. 159 Stern: Klang, 226.
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In der NS-Zeit konnte an die erfolgreiche Zeit der Schulwandbilder aus den ersten Jahrzehnten angeknüpft werden. Schon die älteren Schulwandbilder transportierten militaristische, chauvinistische, pangermanische und rassistische Schlagworte in der Lebensbildsowie der dazugehörigen Textgestaltung. Da mit Schulwandbildern schneller als mit Geschichtsbüchern auf die aktuelle politische Entwicklung reagiert werden konnte und die Verlage oftmals mehrere Wandbilder im einem Quartal herausgaben, wurden die ur- und frühgeschichtlichen Ideologieinhalte, die in der Regel durch Fachwissenschaftler bearbeitet worden waren, in wichtige Schaltstellen der didaktischen Vermittlung gegeben. Ferner wurde in den Schulen verstärkt mit dem damals noch neuen Medium der Diareihe gearbeitet. Es gab eine Diareihe „Deutsche Vor- und Frühgeschichte in Lichtbilder“, die in drei Gruppen 10 Serien mit je 12 bis 58 Lichtbildern enthielt, die alle chronologischen Zeitabschnitte zwischen Altsteinzeit und Wikingerzeit umfasste.160 Nahezu alle Archäologen verfassten neben ihren wissenschaftlichen Arbeiten populärwissenschaftliche Schriften für volkstümliche Zeitschriften wie „Germanien“ (Seit Ende 1936 vom SS-Ahnenerbe kontrolliert und ab 1938 vom Ahnenerbe herausgegeben) oder „Germanen-Erbe (seit 1936 vom Amt Rosenberg herausgegeben), aber auch im „Schwarzen Korps“ (Zeitschrift der SS). Werner Buttler schrieb das „sehr populäre und mit einem reichen Bilderanteil aufgemachte ‚Merkheft zum Schutz der Bodenaltertümer‘, das 1937 vom Reichserziehungsministerium herausgegeben wurde. Martina Schäfer weist zu Recht darauf hin, dass gerade der Stil dieser Artikel „meistens gefühlsbetont“ ist und damit „Emotionen geweckt (werden), die auch sonst im Mittelpunkt des demagogischen Interesses der Nationalsozialisten stehen“. Diese Texte appellieren an unterdrückte Triebe und spirituell-mystische Bedürfnisse, sie benennen die „Ingroup“, zeigen noch weitere charakteristische Kennzeichen autoritärer oder manipulativer Texte und sie sind deshalb als „regimenahe Schreiberei, die den Machtinteressen einer rassistischen Diktatur diente“ zu klassifizieren.161 Vergleichbares trifft im Übrigen auch auf verschiedene wissenschaftliche Texte zu. So konnte z. B. Sebastian Brather für den Archäologen Wilhelm Unverzagt nachweisen, dass dieser mit seiner Wertung der slawischen Kultur, mit dessen Einordnung der Slawen als passive uneigenständige Menschen „die Grenzen wissenschaftlicher Redlichkeit“ überschritten hatte.162 Ablehnung Einige Vorgänge verdeutlichen, dass es für bestimmte allerdings eher unbedeutende Bereiche nicht nur Zustimmung mit den Maßnahmen des NS-Staates gab. So war der Leiter der Ausgrabungen an den Externsteinen, Julius Andree nicht ohne weiteres bereit, ein von Himmler gegen ihn verhängtes Publikationsverbot ohne Protest zu akzeptieren, sondern er antwortete der SS: „Ich habe als Universitätsprofessor und politischer Leiter von dem Reichsführer SS keinerlei Befehle entgegenzunehmen .... Das Schreiben bedeutet ausserdem eine für mich untragbare Einschränkung meiner wissenschaftlichen Tätigkeit. Ich veröffentliche nichts was nicht wissenschaftlich einwandfrei wäre oder gegen die nationalsozialistische Weltanschauung verstiesse.“ Nach diesen sehr deutlichen Formulierungen fügte Andree allerdings zur Beruhigung Himmlers hinzu, dass er „vorläufig kein Interesse 160 Hassmann: Archäologie, 116. 161 Martina Schäfer: Rechts, Links, Geradeaus? Zum Sprachduktus deutscher Prähistoriker zwischen 1935 und 1965, Leipziger online-Beiträge Nr. 1, Leipzig 2003, 6, www.uni-leipzig.de/~ufg/reihe/files/schaefer.pdf. 162 Sebastian Brather: Wilhelm Unverzagt und das Bild der Slawen, in: Heikor Steuer (Hrsg.): Eine hervorragend nationale Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995, Berlin, New York 2001, 475-504, hier 485.
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daran habe, über die Externsteine etwas zu veröffentlichen.“ Andree demonstrierte im ersten Teil des Briefes Stärke, da er sich nicht unmittelbar den Forderungen Himmlers unterwarf. Der letzte Satz des Briefes zerstört diese aber wieder, signalisierte er nun doch die Befolgung der Himmlerschen Anordnung. Diese Schwäche war aber nur scheinbar, denn tatsächlich dachte Andree nicht daran, sich an die Himmlersche Anweisung zu halten. 1937 und 1939 erschienen überarbeitete und erweiterte Neuauflagen seiner ExternsteineMonographie. Dieses nicht unbedingt als systemkonform zu bezeichnende Verhalten Andrees blieb für ihn ohne Folgen. Auch die überarbeiteten Neuauflagen der Monographie konnten erscheinen, ohne dass es zu weiteren Reaktionen seitens der SS kam, d.h. auch nach dem Protest Andrees erfolgte keine verschärfte Kontrolle über seine Aktivitäten. 163 Ein weiteres Beispiel für nicht unbedingt systemkonformes Verhalten ist die Publikation einer Verbreitungskarte zur „Westausbreitung der Slawen“, die der Archäologe Werner Hülle aus dem Amt Rosenberg 1936 im Mitteldeutschen Heimatatlas publizierte. Diese Karte war von der Publikationsstelle Dahlem und auch vom Oberpräsidenten Sachsens kritisiert und aus dem „öffentlichen Handel zurückgezogen“ worden.164 1940 veröffentlichte Hülle seine Habilitationsschrift, die 1936 an der Berliner Universität angenommen worden war, im Johann Ambrosius Barth Verlag unter dem Titel „Westausbreitung und Wehranlagen der Slawen in Mitteldeutschland“. Er übernahm dabei in einer relativ sachlichen Sprache die seit dem 19. Jahrhundert vorkommende Idee eines germanisch-slawischen Kulturgefälles, wusste aber trotzdem um die Lückenhaftigkeit der archäologischen Quellen. Ferner fügte er trotz der Kritik an seiner Karte wiederum eine „ähnliche Karte“ bei, auf der die Slawen in einem Gebiet zwischen Oder und Elbe eingezeichnet waren und handelte sich damit erneut Ärger mit der nationalsozialistischen Zensur ein.165 Auch wenn der sogenannte „Fall Merhart“, der 1938 auf Betreiben der SS von seiner Professur und seinem Posten als Landesdenkmalpfleger abgezogen worden war und die Reaktionen seiner Schüler, allen voran Werner Buttler, bisher als „Beispiel für Widerstand“ gegen das NS-Regime verstanden wurde,166 so kommt die neueste Studie von Dana Schlegelmilch zu einem anderen Ergebnis. Für sie ist „Merhart ... innerhalb des nationalsozialistischen Systems zunächst – trotz des ihn umgebenden Unrechts – auf seiner Position (verblieben). Er war damit an der Stützung eines Systems beteiligt, das ihm später selbst zum Verhängnis wurde.“167 Anschluss Österreichs und Sudentenkrise Sofort mit dem „Anschluss Österreichs“ im März 1938 wurden auch die dortigen Wissenschaftler im nationalsozialistischen Sinne tätig, denn schließlich besaß die „Ostmark ... [eine] besondere Lage in Mitteleuropa“. Die Forscherpersönlichkeiten boten hierfür mit ihrer Zugehörigkeit zur NSDAP, für die sie z. T. schon in der illegalen Zeit tätig geworden waren, eine weltanschauliche Garantie. So hatte Eduard Beninger, der im Reichsbund mitarbeitende Wissenschaftler mit überaus germanophilen Zügen168 Forschungsgelder der RGK für die Bearbeitung der Funde aus eisenzeitlichen Gräberfeld Hallstatt erhalten. Diese soll
163 164 165 166 167 168
Halle: Externsteine, 401; Schlegelmilch: Prähistoriker, 171. Von Papitz am 6.5.1941 ans Innenministerium. Bundesarchiv Berlin R 153 Nr. 1140 Halle i. Dr. Kossack: Archäologie, 56-71. Schlegelmilch: Prähistoriker, 171. Otto H. Urban: Das Urgeschichtliche Institut der Universität Wien während der Nazizeit. www.univie.ac.at/urgeschichte/gesch/gesch.html (Zugriff: 20.7.2003).
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er nicht zweckbestimmt, sondern „als deutsche Unterstützung für die illegale NSDAP in Österreich“ verwandt haben.169 Zu nennen ist hier auch der international bekannte Archäologe Oswald Menghin, der schon seit 1923 Kontakte zur NSDAP pflegte, und der 1938 für wenige Wochen Unterrichtsminister wurde. In seine „politische Verantwortung“ fiel die „Säuberung“ des Lehrkörpers der Wiener Universität, bei der rund 40 Prozent des Lehrkörpers als „Juden“ oder aus „politischen Gründen“ entlassen wurden.170 Hierzu gehört auch die Entlassung R. Pittionis im März 1938 aus „politischen Gründen“. Pittioni wurde „nahegelegt“, Wien zu verlassen, aber er konnte im niederösterreichischen Landesdienst seit Dezember 1938 in Eisenstadt im so genannten Burgenländischen Landschaftsmuseum arbeiten, wo der bisherige Direktor aufgrund seiner Religionszugehörigkeit aus dem Amt gedrängt worden war.171 1941 waren von 20 namentlich angeführten Prähistorikern nur vier nicht parteigebunden. Nur E. Beninger arbeitete für den Reichsbund für deutsche Vorgeschichte, hingegen gehörten K. Willvonseder, die „treibende Kraft auf dem Gebiet der Vor- und Frühgeschichte“ und und der Kärntner H. Dolenz zur SS.172 Auch in der „Ostmark“ wurden jüdische Altertumswissenschaftler, wie der Direktor des Burgenländischen Landschaftsmuseums, Alphons Barb, verdrängt.173 Das Aufgabengebiet in Österreich definierte Kurt Willvonseder 1941 wie folgt: „ Um die vielfältigen [ur- und frühgeschichtlichen U.H.] Kulturbeziehungen ergründen zu können, bedarf es einer umfassenden Aufnahme der Bodenfunde.“ Es wurde betont, dass es „wichtig“ wäre, „den Zusammenhängen mit dem Südosten (Balkan) weitgehende Aufmerksamkeit“ zu widmen.174 Wenige Tage nach dem Anschluss Österreichs begann die Sudentenkrise, die eine „allmähliche Lähmung der tschechischen Archäologie“ und sofortige Aktivitäten der deutschen bzw. der österreichisch-deutschen Forscher auslöste. Die dortige Ur- und Frühgeschichtsforschung hatte aber schon zuvor eine „Akzentuierung auf germanische Denkmäler“ gekommen. Diese hatten aber nach Motyková kaum „objektiv unannehmbare Interpretationen oder verhüllt ideologische oder politische Textaussagen“ enthalten.175 Schon 1929 war ein Lehrstuhl für Urgeschichte an der Deutschen Universität errichtet worden. Sie wurde mit dem Wiener Privatdozenten Dr. Leonhard Franz besetzt, denn es galt die Frage nach „der Fortdauer der germanischen Besiedlung der Sudetenländer“ mit archäologischen nachweisen zu beantworten.176 Sofort wurden deutsche Archäologen in wichtige Museen und Denkmalpflegestellen eingesetzt. So kam Lothar Zotz an die Prager Deutsche Univer169 Siegmar von Schnurbein: Abriss der Entwicklung der Römisch-Germanischen Kommission unter den einzelnen Direktoren von 1911 bis 2002, in: Bericht der Römisch-Germanischen Kommission 82, 2001 (2002), 216 Anm. 302 170 Otto Urban: „Er war der Mann zwischen den Fronten“. Oswald Menghin und das Urgeschichtliche Institut der Universität Wien während der Nazizeit, in: Archaeologia Austriaca 79, 1995, 1-24, hier 9. 171 Urban 2006 http://tibet.orf.at/science/urban/144171 (Zugriff 23.2.2007.) 172 Zusammengestellt aus Bericht von Willvonseder aus dem Jahr 1941. Wiedergegeben bei Otto Urban: „... und der deutschnationale Antisemit Dr. Matthäus Much“ – Der Nestor der Urgeschichte Österreichs?, in: Archaeologia Austriaca 86, 2002,7-43, hier 29-34. 173 Alphons Barb (1901–1979) war Altertumswissenschafter und Numismatiker. 1926 war er Direktor des Burgenländischen Landesmuseums. 1938 konnte er nach London emigrieren, wo er von 1949 bis 1966 als Bibliothekar an der Univ. London beschäftigt war. Wolfgang Neugebauer / Peter Schwarz: Der Wille zum aufrechten Gang. Offenlegung der Rolle des BSA bei der gesellschaftlichen Integration ehemaliger Nationalsozialisten. Wien 2005, 125 An. 235. http://www.bsa.at/new/bsa/pdf/buchganz.pdf (Zugriff: 26.3.2007) 174 Bericht von Willvonseder aus dem Jahr 1941. Wiedergegeben bei Urban: Antisemit, 29-34. 175 Karla Motyková: Die Ur- und Frühgeschichtsforschung in Böhmen 1918-1945 und die tschechischdeutschen Beziehungen, in: Achim Leube / Morten Hegewisch (Hrsg.), Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933 – 1945, Heidelberg 2002, 471-480, hier 474. 176 Leonhard Franz: Germanen und Slawen in den Sudentenländern, in: Germanien 1938, 341-348, hier 342.
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sität, die nach der Schließung aller tschechischen Hochschulen im November 1939 die archäologischen Sammlungen der Karls-Universität übernahm. Zotz führte auch die berühmten Grabungen in Moravany zwischen 1941 und 1943 durch. Hierbei wurde er vom SSAhnenerbe unterstützt, und die Ausgrabungen endeten erst mit der Einberufung der beteiligten Wissenschaftler zur Wehrmacht.177 Die Wissenschaft im Krieg Die Ur- und Frühgeschichtsforschung diente nicht nur der NS-Ideologie sondern auch den Kriegszielen und dafür interessierte sich das Regime für die Zusammenarbeit mit Kollaborateuren in den Nachbarländern und unterstütze die Vorbereitung hierfür, die in den Jahren 1938/39 gemacht wurden. So machte ein Mitglied des SS-Ahnenerbes eine Studienfahrt nach Großbritannien und in die Niederlande um zu sehen, wer mit den Deutschen zusammenarbeiten würde.178 Im Juni 1939 wurden während der Tagung des SS-Ahnenerbes in Kiel neue Pläne für die „Westforschung” entwickelt. Gleichzeitig hielt sich Walter Kersten in den Niederlanden auf und wurde dort als „Spion” von der Niederländischen Landsmacht verhaftet. Nur durch eine Intervention von Frau Bursch-Alt, die mit einem Kommilitonen Kerstens verheiratet war und diesen aus Marburger Zeiten kannte, dauert die Haft nur einige Stunden.179 Auf alle Fälle hatte Kersten auf der Studienreise genügend Informationen gesammelt und konnte sie schon einige Monate später nutzen. Das Fach geriet sofort in den Sog der Kriegsereignisse, und entsprechend des Vordringens der Wehrmacht ergaben sich neue Schauplätze, auf denen die Auseinandersetzungen zwischen dem Amt Rosenberg und der SS unvermindert weitergeführt wurden. Die Wissenschaftler beider Organisationen zogen der Wehrmacht nach und trafen nun in den von den Deutschen besetzten Gebieten auf- und aneinander. Die jeweils andere Fraktion der deutschen Archäologen wurde bei ihren Aktionen mit äußerstem Misstrauen betrachtet und man versuchte auch hier, sich sofort gegenseitig aus den Ämtern zu drängen. Wichtig ist hierbei zu bemerken, dass die Wissenschaftler weder für den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg noch zu den anderen Kulturgutrauborganisationen von Staatswegen eingezogen wurden, sondern dass es befreundete Kollegen des gleichen wissenschaftlichen Lagers waren, die die Archäologen direkt mit der Bitte um Mitarbeit ansprachen, oder sie bewarben sich direkt.180 Ein Teil der SS-Archäologen bedauerte, nicht in Polen dabei gewesen zu sein, so schrieb Jankuhn, dass es ihm „bis ans Lebensende leid tun [würde] nicht in Polen dabei gewesen zu sein“.181 Auch Buttler beneidete den Kollegen Petersen, weil dieser in in Polen „für unser Fach ganz wichtige Dinge herausholen“ könnte.182 Hoffnungsvoll vermeldeten die SS-Wissenschaftler, man könnte nun in „Polen mit Volldampf aufbauen“, d.h. die polnischen Fachwissenschaftler aus ihren Ämtern in Museen und Universitäten verdrängen und durch Deutsche ersetzen, deutsche Organisationsformen einführen etc. und 177 Titus Kolník: Prähistorische Forschung in der Slowakei 1933-1945. Zur Rolle der österreichischen und deutschen Ur- und Frühgeschichte bei der Entwicklung der slowakischen Forschung, in: Achim Leube / Morten Hegewisch (Hrsg.), Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Urund Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933 – 1945, Heidelberg 2002, 481-502, hier 488-492. 178 Ludwig Jäger: Seitenwechsel. Der Fall Schneider/Schwerte und die Diskretion der Germanistik. München 1998, 105. 179 Martijn Eickhoff: De oorsprong van het ‚eigene‘. Nederlands vroegste verleden, archeologie en nationaal-socialisme, Amsterdam, 2003, 240. 180 Heuss: Kulturgutraub, 354 Anm. 8. 181 Schreiben Jankuhns an Sievers angeblich vom 8.8.1939. Heiko Steuer: Herbert Jankuhn – SS-Karriere und Ur- und Frühgeschichte, in: Hartmut Lehmann / Ott Gerhard Oexle (Hg.): Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften Bd. 1, Göttingen 2004, 447-530, hier 509. Wahrscheinlich ist das Datum falsch, denn der Brief ist augenscheinlich nach Kriegsausbruch geschrieben worden. Da kein Archiv angegeben ist, konnte es nicht überprüft werden. 182 Schreiben Buttlers an Petersen vom 1.11.1939. Bundesarchiv Koblenz Kleine Erwerbungen 561.
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formte die Ur- und Frühgeschichtsforschung zur politisierten Zweckwissenschaft aus.183 Nun galt laut W. Kersten dass „das deutsche Recht auf den Boden des Warthelandes nicht allein auf ... Ergebnissen der Vorgeschichtsforschung (beruhe), sondern auf … der Tatsache, daß nur germanischer und deutscher Geist und deutsche Kraft aus diesem Lande etwas gemacht“ hätten.184 Schon Mitte September 1939 hatte der SS-Archäologe Peter Paulsen eine Kartei mit 28 Museen und ur- und frühgeschichtlichen Sammlungen, Namen und Anschriften der Direktoren und Professoren erstellt. Danach galt das Museum in Warschau als „eine der hervorragendsten und aktivsten Giftküchen gegen Deutschland“ und wurde deshalb besonders schnell unter deutsche Kontrolle gebracht.185 Für die Übernahme der Museen und anderen Forschungsstellen erweist sich, dass das Amt Rosenberg unzureichend auf dieses Aktionsfeld vorbereitet war. Nur für einige Tage konnte es mit E. Nickel das Museum in Posen übernehmen, dann griffen die SS-Dienststellen und Wissenschaftler ein und brachten die Museen und auch die bedeutende Grabung in Biskupin in ihre Macht.186 Am 1. Dezember 1939 wurde in Poznań eine Außenstelle der „Haupttreuhandstelle Ost“ eingerichtet, in der nacheinander drei Wissenschaftler (Hans Schleif, Günter Thaeringen und Ernst Petersen) tätig waren. Petersen Einsatz begründete das SS-Ahnenerbe damit, dass er „der einzige Forscher ist, der infolge seiner langjährigen Arbeit auf diesem Gebiet den deutschen Anteil an der Kultur und Besiedlung des Ostens, wie sie sich aus der Vor- und Frühgeschichte des Landes ergibt, zu beurteilen und die diesbezüglichen Ansprüche der Polen wirksam zu entkräften vermag.“187 In Poznań wurde im Januar 1940 eine neue Schausammlung im Kaiser-FriedrichMuseum eröffnet, in der der „Warthegau“ als „uralter germanischer Siedlungsboden ... in dem die Deutschen Vollstrecker angestammter Rechte“ wären, gezeigt wurde.188 Eine weitere Außenstelle wurde in Litzmannstadt gegründet, die im März 1941 mit dem Abtransport von vier archäologischen Sammlungen begann.189 Auch hier hatte die SS im Dezember 1940 den seit dem 1. April 1940 im Museum tätigen W. Frenzel, einem ReinerthAnhänger, aus dem Amt gedrängt und durch SS-Mitglieder ersetzt.190 In Krakau wurde am 16. März 1940 das „Institut für Deutsche Ostarbeit“ gegründet, das zum 1. Januar 1941 eine Sektion Vorgeschichte erhielt. Dort wurde W. Radig eingesetzt, der zum Amt Rosenberg zu rechnen ist. Er bemühte sich sofort um die Bodendenkmalpflege, den Aufbau eines Fundarchivs und initiierte die Ausstellung „Germanenerbe im Weichselraum“. Insgesamt hält Leube als erste Ergebnisse zu kleineren Untersuchungen über den Einsatz deutscher Archäologen beider Gruppierungen im besetzten Polen fest, dass „ideologische Unterschiede ...schwer auszumachen“ wären und dass „letztendlich eine germanophile und rassistische sowie politische Zweckwissenschaft“ betrieben wurde.191 Nachdem am 9./10. April 1940 die deutsche Wehrmacht die neutralen Länder Dänemark und Norwegen besetzt hatten, agierte zunächst nur die SS. So gab Jankuhn noch am 9. April die Überlegung an das SS-Ahnenerbe, dass es „notwendig“ wäre, „dass jemand von uns zumindestens in Dänemark ist“. Er begründete dies damit, „daß die Belange des Denkmalschutzes durch unsere Truppen außer Acht gelassen“ würden und dieses hätte ne183 Halle: Externsteine, 467. 184 W. Kersten im Juni 1941. Hier zit. nach Achim Leube: Deutsche Prähistoriker im besetzten Polen, in: Parerga Praehistorica. Jubiläumsschrift zur Prähistorischen Archäologie. 15 Jahre UPA. Universitätsforschungen zur Prähistorischen Archäologie Bd. 100, Bonn 2004, 287-347, hier 289. 185 Hier zit. nach Leube: Prähistoriker, 290. 186 Schreiben Buttlers an Petersen vom 1.11.1939. Bundesarchiv Koblenz Kleine Erwerbungen 561. 187 Hier zit. nach Leube: Prähistoriker, 292. 188 Hier zit. nach Leube: Prähistoriker, 289. 189 Leube: Prähistoriker, 292 190 Leube: Prähistoriker, 313. 191 Leube: Prähistoriker, 319.
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gative Auswirkungen auf das Ansehen der Deutschen.192 Die norwegische Historikerin M. Tandberg, sieht hierin die „Vorarbeit“ Jankuhns für den Einsatz der deutschen Archäologen in Norwegen. Auch für die besetzten skandinavischen Länder wurden sofort Pläne für den Denkmalschutz, aber auch für Ausgrabungen entwickelt, allerdings ist über die Situation in Dänemark bislang nur wenig publiziert, während für Norwegen mittlerweile einige Studien vorliegen.193 Jankuhn sah in der Ausgrabung des größten norwegischen Grabhügels Raknehaugen mit 15 m Höhe und einem Durchmesser von 90 Metern nordöstlich von Oslo einen „wertvollen Ansatzpunkt zum Eingreifen“ und bat um die Finanzierung durch das SS-Ahnenerbe.194 Es erschien Jankuhn auch „höchst unzweckmässig“ den norwegischen Wissenschaftlern „alle Freiheit zu belassen“195 und er denunzierte den Reichsantiquar, den Kunsthistoriker und Architekten Harry Fett, am 4. Mai 1940196. Fett, der Sohn eines deutschen Industriellen und einer schwedischen Mutter, war schon seit 1913 im Amt und gilt bis heute als „Pionier der nordischen Kunstgeschichte“.197 Sein Buch „Hellige Olav, norges evige konge“, das 1938 erschienen war, wurde in der NS-Zeitschrift Ragnarok als nicht den Erwartungen entsprechend rezensiert, es wäre „beschämend für die nordische Kultur und nicht wert jemals gedruckt zu werden“. Trotz dieser Vorgaben konnte Fett über die Okkupationszeit seine Stelle als Reichsantiquar behalten.198 Einige Tage nach der Besetzung Belgiens, der Niederlande und Frankreichs begannen die Wissenschaftler auch dort ihre Pläne umzusetzen und hier haben wir mittlerweile erste weiterführende Forschungsarbeiten publiziert vorliegen. So schrieb Walter Kersten an Jankuhn: „Der nördliche Teil der Niederlande könnte von der Wurtenforschung [gemeint ist das Institut für Marschen- und Wurtenforschung/Wilhelmshaven] und von Münster bearbeitet werden, der südliche von Bonn und von Dr. Tischler. ... Mit der belgischen Vorgeschichte hat sich ... in den letzen Jahren niemand beschäftigt. ... Die Kenntnis des dortigen Materials für die westdeutsche Forschung würde von sehr großer Bedeutung sein ... Es scheint mir durchaus nötig, daß wir uns in dieser Angelegenheit selbst rühren, weil man nicht von den zuständigen Stellen erwarten kann, daß sie etwas von den Belangen der Vorgeschichtsforschung verstehen.“ Ähnlich äußerte sich auch der Archäologe F. Holste, der an W. Dehn im Landesmuseums Trier schrieb: „Wir müssen, wenn wir irgend können, hier ausbeuten, ohne Skrupel, solange es geht.“ W. Kimmig teilte wiederum seinem Studienfreund und Kollegen Dehn mit, dass „es ... in der Tat ein Jammer (wäre), wenn diese einzigartige Gelegenheit ungenutzt dahinginge.“ Ferner schrieb an er seinen Kollegen G. Riek: „Seit dem Waffenstillstand versuchen wir von Trier aus ... als Sonderführer, Kriegsverwaltungsräte oder auch als Zivilisten – in die besetzten Gebiete von Frankreich und Belgien hereinzukommen, weil uns in der gegenwärtigen Lage ungeheuere Möglichkeiten gegeben zu sein scheinen, das französische und belgische Fundmaterial kennen zu lernen.“199 Geforscht wurde zu den archäologischen Quellen der Franken, eine archäologische Forschung die durchaus dem „großgermanischen“ Gedanken des NS-Regimes entgegen192 Steuer: SS-Karriere, 479. 193 Zu Dänemark vgl. Jes Martens, Die Nordische Archäologie und das „Dritte Reich“, in: Achim Leube / Morten Hegewisch (Hrsg.), Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Urund Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933 – 1945, Heidelberg 2002, 603-618. 194 Steuer: SS-Karriere, 479. 195 Hier zit. nach Steuer: SS-Karriere, 479. 196 Hier zit. nach Olav Sverre Johansen: Anmerkungen zur archäologischen Tätigkeit in Norwegen in den Jahren 1945-1945, in: Achim Leube / Morten Hegewisch (Hrsg.), Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933 – 1945, Heidelberg 2002, 619-624, hier 620. 197 Marianne Tandberg: Kulturminnevern og krig. Riksantikvaren, Nasjonal Samling und Ahnenerbe 19401945. Hovedfagsoppgave (Magisterarbeit) Universität Oslo. 2003, 12. 198 Tandberg: Kulturminnevern, 18. 199 Halle 2007, I. Dr.
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kam, für die auf deutscher Seite schon Vorarbeiten erbracht worden waren und für das 1940 25 000 Reichsmark vom Reichserziehungsministerium bereit gestellt wurden.200 In den folgenden Wochen wurden seitens der Wissenschaftler zahlreiche Eingaben an die regionalen und militärischen Verwaltungsstellen geschrieben, um die in den besetzten Ländern tätig werden zu können. Allerdings blieben sie bis zur Jahreswende 1940/41 relativ erfolglos. Dann allerdings wurden zuerst E. Neuffer, J. Werner, W. Kimmig und W. Stokar in die besetzten Nachbarländer versetzt. In einem offiziellen Bericht, den Werner über seine Tätigkeit in Belgien verfasste, aber auch in einem privaten Brief ist zu lesen, dass es eine sehr gute Zusammenarbeit mit den belgischen Forschern gäbe und namentlich erwähnt ist dabei J. Breuer. Wie man diese Zusammenarbeit benennen soll, kann beim gegenwärtigen Forschungsstand nicht entschieden werden. Der Belgier Breuer hatte 1936 seine Mitgliedschaft im DAI aufgegeben, weil Gerhard Bersu aufgrund seiner jüdischen Vorfahren ausgeschlossen worden war.201 Nun, vier Jahre später, war er bereit mit den Deutschen gemeinsam zu arbeiten. Breuer konnte 1941 noch eine Ausgrabung durchführen, Werner wurde Professor an der Reichsuniversität Straßburg und besuchte noch weitere Male Belgien, um dort zu forschen.202 Unterstützt werden sollten durch die archäologischen Forschungen die Pläne der deutschen Militärverwaltung zur „völkischen Neuordnung“ Frankreichs, die schwerpunktmäßig auch das Burgund und die Bretagne betrafen. Zum Burgund forschte H. Zeiss und in der Bretagne versuchte H. Jankuhn nicht nur die Steinreihen von Carnac neu zu vermessen – ein Vorhaben, bei dem ihm W. Hülle aus dem Amt Rosenberg schon zuvorgekommen war – sondern zugleich im Auftrag des SD die politische Stimmung der Bretonen zu klären.203 In den Niederlanden wurde W. Stokar mit der Waffen-SS aktiv. Er wurde 1943 von der SS wie folgt charakterisiert: Er wäre ein „fähiger Wissenschaftler von klarer nationalsozialistischer Weltanschauung bewährt ... auch ... daß er nun eben nicht ganz in seinem rassischen Erscheinungsbild dem Idealtyp eines SS-Führers entspricht. Immerhin ist es aber keineswegs so schlimm, daß man sich mit ihm nicht sehen lassen kann.“204 Sofort schaltete sich Stokar in anstehende Planungen und Entscheidungen ein. Für das geplante Denkmalschutzgesetz in den Niederlanden machte er die Personalvorschläge. Als der Reichkommissar Seyß-Inquart das „Germanische Institut“ gründen wollte, berichtete Stokar darüber an das Ahnenerbe, und er war es, der dem Ahnenerbe vorschlug, dass er „offiziell ... mit der Wahrnehmung der wissenschaftlichen Interessen in Holland beauftragt“ werden sollte, was dann auch prompt geschah.205 Stokar publizierte über Ausgrabungen in zahlreichen niederländischen Zeitschriften, wie „Hamer“ und in den „Vormingsbladen“ der niederländischen SS, Zeitschriften deren Ziele darin bestanden, den Niederländern die Idee eines „Großgermanischen Reichs“ oder sogar den „Anschluss“ an Deutschland zu vermitteln.206 Stokar verunglimpft im folgenden van Giffens „absolut deutschfeindliche Frau“ und dessen Unterschrift unter dem „Judenmanifest“ und versuchte damit den niederländischen 200 Fehr: Westforschung, 40-49. 201 Schnurbein: Abriss, 223. 202 Hubert Fehr: Hans Zeiss, Joachim Werner und die archäologischen Forschungen zur Merowingerzeit, in: Heiko Steuer (Hrsg.), Eine hervorragend nationale Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1945. Berlin / New York 2001, 311-416, hier 345. 203 Zur Forschung in Burgund vgl. Fehr: Westforschung, 47; Jankuhns SD-Auftrag wird in den bisher erschienen Aufsätzen seines Schülers Steuer nicht erwähnt. Steuer: Jankuhn; Steuer: SS-Karriere. 204 Schreiben Sievers an den Leiter der Amtsgruppe D im SS-Hauptamt „Germanische Leitstelle“, Jacobsen vom 30.4.1943. BABDC Berlin Materialien Stokar. 205 Briefwechsel Stokar mit dem Ahnenerbe aus dem Jahr 1942. BA BDC Berlin Materialien Stokar. 206 Eigene Aussage Stokars in einem Schreiben an Sievers vom 17.3.1942. Zu den genannten Zeitschriften vgl. G. Zondergelt, Hans Ernst Schneider und seine Bedeutung für das SS-Ahnenerbe, in: H. König / W. Kuhlmann/ K. Schwabe: Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen, München 1997, 22-23.
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Wissenschaftler als politisch unzuverlässig darzustellen. Stokar hatte nicht so sehr eigene Forschungsvorhaben ins Auge gefasst, sondern eher die praktischen Belange der Denkmalpflege, denn schon im Sommer 1940 hatte die deutsche Verwaltung ein Denkmalpflegegesetz für die Niederlande geplant. Zwischen dem Wunschdenken Stokars hinsichtlich der Erweiterung seines Aufgabengebietes und der Kriegsrealität lagen allerdings erhebliche Unterschiede und viele Organisationsfragen scheiterten. Wütend meldete sich Stokar deshalb beim Ahnenerbe und beschwerte sich:207 „Wie lange dauert es, bis ich den Auftrag bekomme, die Denkmalpflege im Baugelände der Wehrmacht in den Niederlanden zu übernehmen? Mir werden nämlich durch die Gesamtmobilisation meine besten Mitarbeiter weggenommen.“ Noch glaubten alle Beteiligten an den deutschen Sieg, und so plante der rheinische Kulturdezernent Apffelstaedt am Tag, nach dem Goebbels den totalen Krieg proklamiert hatte, für die Zeit nach Kriegsende:208 „Es kann darüber gar kein Zweifel bestehen, daß die gesamte wissenschaftliche Arbeit außerhalb der alten Reichsgrenzen im Westen ... entscheidend von der Stärke unserer rheinischen Hochschulen selbst abhängt. ... Das würde vor allem auch für die Bearbeitung der Vor- und Frühgeschichte gelten, die selbstverständlich ... gerade dieses Gebiet in wissenschaftlicher Exkursion und Bearbeitung nach einem großzügig auf lange Sicht festzulegenden Plan betreuen würde unter klarer Abgrenzung gegenüber der Arbeit von Stokar in Köln, deren Forschungsrichtung ganz natürlich nach Holland tendieren würde.“ Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Archäologen des Rheinlandes „im übrigen zusammen mit Jankuhn ... einen gemeinsamen wissenschaftlichen Einsatzplan aufstellen“ [wollten]. M müsste „versuchen ..., das Ahnenerbe mit für Frankreich zu interessieren“ und arbeitete also auch für die besetzten Länder mit der Methodik, die sie schon seit einigen Jahren in Deutschland erfolgreich angewandt hatten: Sie entwickelten Forschungs- und Planungsideen, interessierten eine Parteistelle für ihr Vorhaben und setzten mit deren Hilfe die Vorhaben durch. Dies gilt nicht nur für die Beneluxländer und Frankreich. In den Pläne wird erkennbar, dass sie schon noch weiter nach Westen, nach Großbritannien, schauten. Weitreichend waren auch die Pläne, die Stokar für die Entwicklung der Universität Leiden vorstellte. Nach der „Hereinnahme Englands“ sollte die Leidener Universität „eine große Rolle spielen“, weil hier die „aktiven Germanen“ Nordwesteuropas sitzen würden.209 Das die Ausdehnung der wissenschaftlichen Arbeit nach England führen sollte, wird auch in anderen Briefen deutlich. So schrieb Jankuhn bezüglich des Vorsprungs, den das Amt Rosenberg gegenüber dem SS-Ahnenerbe in Frankreich bekommen hatte, dass so etwas „aber für England ... vermieden“ werden sollte.210 Noch weiter gefasst sind die Aufgaben, die der Archäologe Wolfgang Dehn für die archäologische Westforschung für alle prähistorischen Zeitabschnitte 1943 öffentlich skizzierte211: Die Aufgaben sollten nicht nur auf Frankreich greifen, „sondern ebenso sehr auf die anderen westlichen Nachbarländer bis zur iberischen Halbinsel und selbst nach der britischen Insel über“. Und zu den Forschung zur fränkischen Zeit äußerte er sich an gleicher Stelle: „man (wird) weitergehen müssen und vor allem die Rolle der Franken durch eine umfassende Aufnahme der Bodenfunde zu bestimmen suchen. Daß das nicht im Sinne einer engherzigen-chauvinistischen Betrachtungsweise zu geschehen braucht, dafür bürgt die Haltung der deutschen Wissenschaft als Führer 207 Schreiben Stokars an Sievers vom 18.2.1943. BA BDC Berlin Materialien Stokar. 208 Schreiben Apffelstaedts an Tackenberg vom 19.2.1943. Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland 11424. 209 Schreiben Stokars an Sievers vom 12.10.1942. BA BDC Berlin Materialien von Stokar. 210 Steuer 2005, 481. 211 Wolfgang Dehn, Die deutsche Vorgeschichtsforschung und der europäische Westen, in: Europäischer Wissenschafts-Dienst 1943, Nr. 4, 11-12, hier 11.
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zur geistigen europäischen Einheit, wie sie im Frankenreich zum erstenmal in Erscheinung trat.“ Dehn zeigt hier eine sehr „deutsche“ Arbeitsauffassung, die auch für weitere Wissenschaftler anhand anderer Quellen vorgestellt werden kann.212 Auch für die Sowjetunion hatten die Archäologen schon vor dem Krieg erste Überlegungen angestellt. Die Gotenforschung in Polen und der Sowjetunion durch verschiedene deutsche Fachwissenschaftler als interdisziplinäres Forschungsprojekt war schon im Sommer 1939 von Ernst Petersen konkretisiert worden, weil er „die umfassende Erforschung der Goten mit dem Ziele einer monumentalen Darstellung des Ergebnisses“ als „eine Ehrenpflicht der deutschen Wissenschaft“ ansah. Petersen hatte allerdings zu dem Zeitpunkt festgestellt, dass „so lange eine solche infolge der politischen Lage ausgeschlossenen erscheint“ man sich zunächst einmal damit begnügen könne, wenn das „umfangreiche und zerstreute russische Fachschrifttum von den ältesten Veröffentlichungen an bis zur neuesten Zeit nach Fundstoff durcharbeitet“ würde. Es galt schließlich archäologisch die Grenzen des „ersten germanischen Großreichs“ nachzuweisen.213 Wenige Tage vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion verfasste H. Jankuhn einen Brief ans SS-Ahnenerbe, der die wissenschaftlichen Vorgaben lieferte. So führte Jankuhn aus: „Wir haben gerade in der Gegend um Kiew sehr wichtige Gräberfelder, deren Untersuchung wesentlich neues Licht auf die Frage der Wikinger werfen würde. ... Noch wichtiger aber scheint mir die ... Möglichkeit zu sein, das südrussische Gotenreich auf archäologischem Wege zu erforschen“ und er hielt auch die „Indogermanisierung im Südosten zur Steinzeit von größter Bedeutung“. Nun schlug Jankuhn vor, die wissenschaftlichen Interessen bei den „zuständigen militärischen und zivilen Behörden an(zu)melden und einen oder mehrere Leute dorthin zu entsenden.“ Im Klartext heißt dies soviel, dass einer der führenden Archäologen Deutschlands die Planungen und Forschungsideen, die in der Ukraine durchgeführt werden sollten, Wochen vor dem Überfall plante und logistisch durchdachte. Dieser Brief wird von Hufen als ein Beleg für „Raubgräberei“ angeführt, hingegen sieht Jankuhns Schüler Heiko Steuer ihn als in einer Zeit „unfreiwilligen Wartens“ verfasste „archäologische Zielvorstellung“.214 M. E. nutzte der SS-Archäologe die Zeit, völkerrechtswidrige Wissenschaft zu planen und vorzustrukturieren. Ausgrabungen Immer wieder nutzten die Archäologen nicht nur die Möglichkeiten bei Bauvorhaben in den besetzten Gebieten Ausgrabungen zu machen, sondern auch bei Eingriffen, die auf nationalsozialistische Unrechts- und Kriegstaten zurückzuführen sind, für die hier einige Beispiele angeführt werden sollen. So wurde 1940 bei der „Beseitigung eines jüdischen Friedhofes“ in Lutomiersk beim damaligen Litzmannstadt ein Reihengräberfriedhof des 11. Jahrhunderts entdeckt, der dann als das „erste Gräberfeld der Wikinger im Reichsgau Wartheland“ ausgegraben wurde.215 1941 wurde bei Bau einer Bahnstraße im Steinbruch Gusen, in dem KZ-Häftlinge aus dem Konzentrationslager Mauthausen-Gusen arbeiten mussten, ein urnenfelderzeitliches Gräberfeld entdeckt. Es wurde unter der Oberleitung des SS-Archäologen K. Willvonseder 212 Uta Halle: „Der Reichsführer SS wird sich für positive Ergebnisse an den Externsteinen stark interessieren.“ – Die Mittelalterarchäologie im Spannungsfeld nationalsozialistischer Forschung und Propaganda, in: Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 12, 2001, S. 50-54. http://www.dgamn.de/. 213 Alle Zitate zur geplanten Gotenforschung nach dem Plan von Ernst Petersen vom 8.6.1939. Dokumentation des Textes von Gert Simon unter http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon (Zugriff: 20.01.2007) 214 Steuer: Jankuhn, 427. 215 Hier zit nach Leube: Prähistoriker, 339.
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durch einen „Grabungstrupp der Häftlinge“ untersucht und dafür die Häftlinge „in die Grundbegriffe von Ausgrabung und erster behelfsmäßiger Fundpräparation ... eingeschult“.216 Auch im Westen boten die Kriegsbedingungen die Möglichkeit, archäologische Forschung zu planen. So vermerkte W. Kimmig in einem Schreiben vom Januar 1941 an W. Dehn: „Ich bin überzeugt, dass auch Grabungen nötig werden, so vielleicht in Tournai, wo die ganze Innenstadt zerstört ist und so vielleicht die Möglichkeit besteht, um die Kathedrale herum den fränkischen Kern zu fassen, eventuell auch Gräberfelder.“217 Im „Deutschen Wissenschaftlichen Institut“ in Brüssel, das 1940 in der ehemaligen polnischen Botschaft untergebracht wurde, wirkte bis Ende 1942 der Archäologe und Bonner Lehrstuhlinhaber K. Tackenberg. Zwar ging er aufgrund einer schweren Erkrankung nach Bonn zurück, aber trotzdem regte er auf der Gründungstagung der „Germanischen Arbeitsgemeinschaft“ des SS-Ahnenerbes 1943 in Hannover im Beisein der Archäologen W. Stokar und H. Jankuhn an, „die Frage nach der Entstehung des germanischen Volksbodens in Flandern durch systematisch Inangriffnahme von Grabungen“ zu untersuchen.218 Realisiert wurden verschiedene Ausgrabungen und Untersuchungen in Frankreich und der Ukraine. Für die Arbeiten des archäologischen Landesamtes im Elsaß unter F. Garscha, G. Kraft und W. Reusch ziehen die französischen Fachwissenschaftler eine „vergleichsweise positive Bilanz“.219 Für die Ausgrabungen an den Grabhügeln in der Ukraine unter H. Jankuhn und den niederländischen Archäologen F.C. Bursch bleibt die Neubewertung durch M. Eickhoff abzuwarten.220 Bisher kaum weitergehend geforscht ist zu Untersuchungen, die das Amt Rosenberg in Frankreich, Griechenland, Belgien bzw. die das SS-Ahnenerbe in Serbien durchgeführt wurden, so dass hier noch keine Einschätzung erfolgen kann. Sonderausstellungen und Mitarbeit an Partei- oder Propagandaveranstaltungen während des Krieges Wenige Monate nach der Annexion des Elsass wurde am 5. Januar 1941 die Sonderausstellung „Das deutsche Gold“ in Strassburg gezeigt, über deren Inhalt bislang nur wenig bekannt ist, von der aber verschiedene französische Wissenschaftler vermuten, dass „diverse archäologische Stücke aus Bernstein gezeigt wurden“. Am 28. August 1941 wurde die Wirtschaftsaustellung „Deutsche Wirtschaftskraft“ in Strassburg eröffnet. Auch sie wurde in der Abteilung „Verkehrswesen“ mit archäologischen Objekten bestückt. Einen propagandistischen Höhepunkt erlebte das Ausstellungswesen in Strassburg mit der Wanderausstellung „Deutsche Größe“, die eine regionalspezifische Aufbereitung unter dem Untertitel „2000 Jahre Kampf am Rhein“ erhielt. Ziel dieses Ausstellungsteils war zu dokumentieren, dass zu beiden Seiten des Rheins eine indogermanische Bevölkerung ansässig gewesen wäre, und dass es eine „Pflicht zur Bewahrung des archäologischen Erbes als Archiv der Geschichte des deutschen Volkes“ gäbe. Die letzte Sonderausstellung während des Zweiten Weltkriegs in Frankreich wurde am 13. Juni 1944 im Festungsmuseum Metz in Lothringen eröffnet. Sie trug – kurze Zeit nachdem der in den Jahren 1942-1944 errichtete gigantische Verteidigungswall entlang der At216 Gerhard Trnka: Das urnenfelderzeitliche Gräberfeld von Gusen in Oberösterreich, in: Archaeogia Austriaca 76, 1992, 47-51, hier 49. 217 Halle i. Dr. 218 Jäger: Seitenwechsel, 240. 219 Schnitzler/Legendre: Archäologie, 49. Neuere Ergebnisse zur Forschung in den besetzten westlichen Ländern werden demnächst vorgelegt werden. 220 Freundl. Hinweis Martijn Eickhoff, Amsterdam, der sich gerade mit einer Auswertung der Arbeiten Bursch beschäftigt.
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lantikküste von Frankreich bis Norwegen durch die alliierten Truppen zerstört und überwunden worden war – den bemerkenswerten Titel „Vom Ringwall zum Bunker“ und war mit Modellen archäologischer Fundstätten, z. B. eines „germanischen Ringwalls“ bzw. einer neolithischen Pfahlbausiedlung ausgestattet. Dieser Ausstellungsteil trug die bezeichnende Überschrift: „Unsere wehrhaften Vorfahren“ und der Text des kleinen Ausstellungskatalogs verrät den nationalsozialistischen Europagedanken und Gegenwartsbezug: „Vom germanischen Ringwall über die mittelalterliche Burg ... bis zu den Bunkersystemen der Festung Europa verfolgen wir Aufgabe und Kampf der Deutschen zur Vollendung eines mächtigen organisch geeinten Europa“ und „Europa mußte zu einer großen Festung werden, um den Untergang des Abendlandes zu verhüten.“ Verantwortlich für den Inhalt des Ausstellungskataloges war Doktor Heinz R. Uhlemann vom Zeughaus Berlin, der nach Kriegsende verschiedene Arbeiten zu mittelalterlichen Blankwaffen veröffentlichte. Ein Archäologe war an diesem Ausstellungskatalog nicht beteiligt.221 In den Niederlanden wurde die Ausstellung „Wat aarde bewaarde“ durchgeführt, deren gleichnamiger Publikation von Stokar zusammen mit der SS-Volksche Werkgemeenschap“ verfasst wurde. Er endet in einer so genannten „Verbreitungskarte“, auf der der weltweite „germanische“ Einfluss des Karolingerreiches bzw. die deutsche, flämische und niederländische Bedeutung des Deutschen Ordens, von Friedrich I. und der Hanse dargestellt ist. Weite Bereiche Nord- und Südamerikas, des südlichen Afrikas und Australiens wurden durch Schraffur hervorgehoben. Die Karte setzte die „vorgeschichtlichen Germanen“ in Norddeutschland, Skandinavien und England quasi als Mutterland ein, das im Zentrum der Karte stand, von wo aus die „germanischen Volksbewegungen“ durch breite Pfeile in diese Weltteile wandern. Diese Art der Karte suggerierte der Öffentlichkeit, wie 2004 auf dem Deutschen Historikertag anhand der Ergebnisse der historischen Kartographie überzeugend vorgestellt wurde, durchaus ein ideologisches Bild. In allen Ausstellungen wurde – soweit es bislang erforscht ist – mit sorgsam gestalteten Texten, Grafiken und Karten gearbeitet, wie sie in den Jahren vor Kriegsbeginn auch in Sonderausstellungen in Deutschland gezeigt worden waren. Allerdings sind nach den bisherigen Forschungsergebnissen immer ideologische Inhalte damit transportiert worden. Aus der bisherigen Forschung ergeben sich nur wenige Hinweise, wie die deutschen Archäologen auf die Totalmobilisierung reagiert haben. Es fällt allerdings auf, dass über „empfindliche Lücken“ bzw. über einen „besonders reichlichen Blutzoll“ der Vorgeschichtsforschung in der Phase des Totalen Krieges geklagt wurde.222 Um hier nur einige zu nennen, sei hier auf W. Buttler (1940), F. Holste (1942), W. Kersten (1944), E.Petersen (1944) und H. Zeiss (1944) verwiesen.223 Bekannt ist mittlerweile, wie Jankuhn sich zum Totalen Krieg verhalten hat. Obwohl Hitler einen Ausbruch der deutschen Truppen aus dem Kessel von Tscherkassy (Südrußland) verneinte hatte, unternahmen die Soldaten ihn auf Anweisung von Generalfeldmarschall Manstein und widersetzten sich damit dem ausdrücklichen Befehl Hitlers. 30 000 von über 50 000 Soldaten gelang der Durchbruch nach Westen. Zu den durchgebrochenen Soldaten gehört auch Jankuhn, der in einem Schreiben ans SS-Ahnenerbe nur bedauernd vermerkt, dass „das ganze Gepäck im Kessel zurückgeblieben wäre“.224 Im November 1944 berichtete Jankuhn geradezu enthusiastisch über seine Auszeichnung mit dem Eiser221 Mein Dank gilt meinem französischen Kollegen Jean-Pierre Legendre, der mir sein bisher unveröffentlichtes Manuskript „Un musée nazi en Lorraine annexée : le Festungsmuseum de Metz (1943-1944)“ zur Verfügung gestellt hat. 222 So H. Jankuhn in einem Schreiben an Sievers (SS-Ahnerbe) vom 21.5.1944. Hierzit. nach Steuer: SSKarriere, 499. 223 Fehr: Zeiss, 320. 224 Steuer: SS-Karriere, 499.
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nen Kreuz, die er erhalten hatte für seinen „(Beitrag) in den Brennpunkten der Schlacht um Warschau“,225 d.h. er rühmte sich mit seinen Taten bei der Bekämpfung der sowjetischen Soldaten, von denen die polnischen Widerstandskämpfer des Warschauer Aufstandes ein Eingreifen erhofft hatten. Der Warschauer Aufstand, bei dem Zehntausende von Zivilisten durch die Verstärkung der normalen Wehrmachtstruppen durch die Waffen-SS getötet worden waren, wird in dem von Steuer zitierten Briefteil nicht erwähnt. Jankuhn war noch im Dezember 1944 vom „Endsieg“ überzeugt, denn er schrieb an Sievers, dass es „noch erhebliche Anstrengungen kosten“ würde, „den Krieg zu gewinnen“ und bezeichnete die Kampfhandlungen der Alliierten Truppen als „Terrorangriffe“.226 Bis Ende Februar 1945 blieb auch Stokars Glaube an den Nationalsozialismus ungebrochen. Während er schon berichtete, dass amerikanische Truppen das Museum in Geilenkirchen umkämpften, forderte er für sich persönlich gleichzeitig eine Höhergruppierung in der Waffen-SS.227 Äußerungen wie die hier zitierten erlauben es beim gegenwärtigen Forschungsstand nicht, sich die Archäologen als „Gegner“ des totalen Krieges vorzustellen. Zur Frage der Kontinuität Nach 1945 entstand für viele Wissenschaftler eine direkte Fortsetzung ihrer Karrieren, in einigen Fällen gab es kurze Unterbrechungen um dann spätestens in den 1950er Jahren wieder im Fach auf etablierten Stellen angekommen zu sein. Allerdings muss hier unterschieden werden, zum einen in die Fraktion des SS-Ahnenerbes und der des Amtes Rosenberg und in Bundesrepublik und DDR. Die Mitarbeiter aus dem SS-Ahnerbe bzw. aus deren Umfeld kamen in der Bundesrepublik wieder in Amt und Würden. Nach Schlegelmilchs ersten Ergebnissen nahm Merhart eine wichtige Schlüsselfunktion für die Prähistoriker in den Spruchkammerverfahren zur Entnazifizierung ein, denn die von ihm erteilten Gutachten stützten das vor den Spruchgerichten vertretene Bild, nationalsozialistische Vorgeschichtswissenschaft sei nur von dem Kreis um Reinerth betrieben worden. Die der SS nahestehenden Prähistoriker hingegen stellten sich selbst als Forscher dar, die allein zum Schutz ihrer Wissenschaft der SS beigetreten waren.228 Für einige, deren Namen in Verbindung mit der NS-Zeit öfter im Text vorkommen, sei hier beispielhaft angeführt wie die weiteren Karrieren aussah: H. Jankuhn erhielt den Lehrstuhl in Göttingen und wurde der führende Archäologe in der jungen Bundesrepublik. K. Tackenberg konnte zwar nicht an seinen zuvor innegehabten Lehrstuhl nach Bonn zurückkehren, wurde jedoch 1956 nach Münster berufen. G. Riek, in der NS-Zeit zeitweise Gauschulungsleiter im SSSonderlager Hinzert, übernahm den Lehrstuhl in Tübingen, W. Kimmig, der noch im März 1945 in Freiburg habilitiert worden war, erhielt die Dozentur in Freiburg und wurde 1955 Ordinarius in Tübingen, W. Dehn übernahm den Lehrstuhl in Marburg, J. Werner in München. Gerhard Bersu, bis 1935 Erster Direktor der RGK, kehrte 1950 nach Deutschland zurück, übernahm wieder seinen alten Posten und fing damit nicht bei Null an. Sein altes Netzwerk wurde neu geknüpft und es ist wohl bittere Ironie der Geschichte, dass er nach seiner Rückkehr aufgrund eines fehlenden Eliteumbaus des Faches verstärkt mit zahlreichen Wissenschaftlern zusammenarbeitete, die sich in der NS-Zeit ab 1935 mit der SS arrangiert bzw. für sie engagiert hatten. 225 226 227 228
Steuer: SS-Karriere, 500. Schreiben Jankuhn an Sievers vom 14.12.1944. Hier zit. nach Steuer: SS-Karriere, 500. Halle: Archäologie, 391. Schlegelmilch: Prähistoriker, 167.
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Die Wissenschaftler aus dem Amt Rosenberg, allen voran H. Reinerth, wurden allerdings hingegen öffentlich geächtet. Schon auf der ersten gemeinsamen Tagung der Altertumsverbände 1949 einigten sich die ehemaligen SS-Ahnenerbe Wissenschaftler darauf, in aller Form zu erklären, „daß sie sich ...von einer Forschungsrichtung distanzieren, wie sie von Reinerth propagiert“ wurde.229 Er war schon 1945 aus Kollegenkreisen angezeigt worden und im Entnazifizierungsverfahren in die Reihe der Schuldigen eingestuft worden.230 Dieses Urteil wurde 1953 durch das Baden-Württembergische Justizministerium aufgehoben. Dort kam man zu der Auffassung, es hätte sich bei den Auseinandersetzungen um die Ur- und Frühgeschichtsforschung um einen „Rivalitätskampf“ gehandelt, der „lediglich das Endziel, die Ausschaltung des wissenschaftlichen Gegners um jeden Preis“ gedient hätte. Auch Reinerths Schülern haftete ein Makel an und nur wenige kamen im Fach unter.231 Aus dem Amt Rosenberg gelang es nur W. Matthes seine Professur in Hamburg zu halten und auch Rudolf Stampfuss konnte seine Karriere in der Duisburger Ur- und Frühgeschichtsforschung fortsetzen. B. von Richthofen, der 1937 mit dem Parteigerichtsverfahren gegen sich selbst den Sturz Reinerths forciert hatte, kam nach 1945 nicht wieder im Fach unter, obwohl er mit dem SS-Ahnenerbe zusammengearbeitet hatte. Er engagierte sich im Schlesischen Vertriebenenverband. W. Stokar, der als erster Doktorand Reinerths seit 1936/37 zum SSAhnenerbe wechselte, kam nicht mehr ins Fach zurück, sondern kehrte in seinen ursprünglichen Beruf als Apotheker zurück.232 In der DDR setzten einige der belasteten Wissenschaftler ihre Karrieren fort. Ernst Nickel z. B. grub mit großem Erfolg im kriegszerstörten Magdeburg aus, dort stand er unter der Leitung von Wilhelm Unverzagt, der mit Wohnsitz Westberlin seine Karriere im Ostberlin fortführen konnte. Hatte Unverzagt noch seit Mitte der 1920er Jahre im Rahmen der politisch motivierten Ostforschung die „germanischen Burgwälle“ erforscht so galt es nun die Slawen zu erforschen, deren Kultur er in der NS-Zeit als „primitiv“ gekennzeichnet hatte. Ethnische Fragestellungen und Begriffe, wie Volk, Stamm und andere belastete Formulierungen verschwanden in der Ur- und Frühgeschichtsforschung nach 1945 und tauchten als „archäologische Kulturen“ wieder auf.233 Das Fach typologisierte und chronologisierte die Funde, es wurden anknüpfend an die ersten Großgrabungen der frühen Jahrzehnte neue Großgrabungen, z. B. an der Heuneburg begonnen, bzw. alte Grabungen, z. B. Haithabu unter Leitung von H. Jankuhn fortgesetzt. Hier kamen nun die Verbesserungen in der Grabungstechnik, der Einsatz der Luftbildarchäologie und moderner naturwissenschaftlicher Untersuchungen, für die im Dritten Reich erste Grundlagen geschaffen worden waren, verstärkt zum Einsatz. Archäologische Arbeit, damals wie heute, erfordert es, die Befunde und Funde sorgfältigst zu dokumentieren und auszuwerten, eine langwierige Aufgabe, die oft mehrere Jahre dauert und die dazu führt, dass Ausgrabungsergebnisse und -interpretationen in der Regel erst nach mehreren Jahren veröffentlicht werden. Für einen aus archäologischer Perspektive kurzen Zeitraum von nur 12 Jahren bedeutet dies, dass sich die Publikationen aus der Zeit zwischen 1933 und 1939 überwiegend mit den Ergebnissen aus den 1920er Jahren beschäftigen und dort auch schon die völkische Ausrichtung erkennen lassen. Veröffentlichungen – sieht man einmal von kurzen Vorberichten zu einzelnen Gra229 230 231 232 233
Schöbel: Reinerth, 321. Schöbel: Reinerth, 358. Schöbel: Reinerth, 360. Halle: Archäologie, 390. Alexander Gramsch: Eine kurze Geschichte des archäologischen Denkens in Deutschland, in: Leipziger online-Beiträge zur Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie Leipzig 2006, 13, www.uni-leipzig.de/~ufg/reihe/files/l19.pdf.
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bungen ab – aus der Spätphase der nationalsozialistischen Diktatur sind kaum vorhanden. Die Wissenschaftler konnten aber trotzdem nach 1945 auf die gemachten Ergebnisse zurückgreifen und sie veröffentlichen, nun angepasst an die demokratischen Bedingungen der Bundesrepublik. Sie brauchten sie nicht in verräterischer Art und Weise umschreiben, wie dies für viele historische Werke gemacht werden musste. In diesen Publikationen findet sich kein Wort zu den ehemaligen Forschungsumständen und verräterische Fotos wurden einfach retuschiert, damit verschwand der sonst durch Fahnen etc. öffentliche Zeitumstand. So geschehen z. B. in der Publikation von Gustav Riek über die Ausgrabungen des Hohmichle234. Für viele andere Grabungen in der NS-Zeit galt trotz aller politischen Aspekte, was schon vor 1933 gegolten hatte und was bis heute gilt: Sie wurden ausgelöst und dringend notwendig, weil Baumaßnahmen in das unterirdische Archiv des Bodens eingriffen und dieses damit unwiederbringlich zerstört hätten. Hier gab es durch den massiven nationalsozialistischen Bauboom, z.B. mit dem Autobahnbau und den zahlreichen Rüstungsvorhaben mit den Militär- und Flugplatzbauten einen gesteigerten Handlungsbedarf für die praktische Bodendenkmalpflege. Französische Wissenschaftler geben ferner zu bedenken, dass die in Deutschland angewandte Grabungsmethodik und naturwissenschaftlichen Methoden in Frankreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts „Bezug (nehmen) auf Vorstellungen die in der deutschen Vorkriegsarchäologie bereits weit entwickelt“ waren.235 In wieweit und wie schnell nach 1945 neue Konzepte für die Museen entstanden ist bislang kaum erforscht. Zahlreiche Museen waren im Krieg zerstört worden und mussten deshalb neu eingerichtet werden, da konnten die Wissenschaftler sofort die veränderten politischen Bedingungen berücksichtigen. Einige andere Punkte können aber schon hier erwähnt werden. So gelangten Ausstellungsstücke aus den ausgelagerten Objekten des Braunschweiger Hauses der Vorzeit 1958 als „Grundstock“ in die neue Dauerausstellung des Museums in Wolfenbüttel.236 Das Freilichtmuseum Oerlinghausen war zunächst als begehrtes Bau- und Brennmaterial in der unmittelbaren Nachkriegszeit zerstört worden, wurde dann aber von H. Reinerth, der sich in den 1930er Jahren zunächst vehement gegen die Errichtung ausgesprochen hatte, als „Germanengehöft“ wieder errichtet und unterschied sich nicht wesentlich von dem Vorgänger. Ein Perspektivwechsel in Forschung und Lehre des Faches begann erst ab den 1980er Jahren langsam unter den Eindrücken der Ergebnisse anglo-amerikanischer Forschung auf die „Enkel-Generation“ in die Ur- und Frühgeschichtsforschung einzuziehen.237 H. Hassmann weist daraufhin, dass es noch andere Formen der Kontinuität gibt. So wirkte die Vermittlung ideologischer Botschaften durch die Ur- und Frühgeschichte in der NS-Zeit sehr effektiv und führt bis heute zu einem z. T. falschen und nicht ganz unbedenklichen Germanenbild. Wie unreflektiert die damals gemachten Bilder nachwirken, lässt sich auch daran erkennen, dass vielfach bis heute viele der damals populären Veröffentlichungen durch rechtsextreme Verlage neu aufgelegt und NS-Inszenierungen wie z. B. die Sonnenwendfeiern an den Externsteinen tradiert werden.238 Gleichzeitig wird die Rekonstruktion von „germanischen Häusern“ als Museum anhand von Grabungsergebnisse aus der NS-Zeit von rechten Gruppen geplant.239
234 Rainhard Bollmus: Prähistorische Archäologie und Nationalsozialismus, in: Archäologie in Deutschland 2/2001,4-6. 235 Schnitzler/Legendre: Archäologie, 55. 236 Heske: Germanentum, 490. 237 Gramsch: Geschichte, 14. 238 Hassmann: Archäologie, 137-138. 239 Halle in einem Vortrag an der Universität London 2006.
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Schlußbemerkungen Die Historikerin Kerstin Hoffmann titelte ihren Aufsatz zur Entwicklung im Landesmuseum Hannover mit der Frage „Ur- und Frühgeschichte – eine unpolitische Wissenschaft?“ Der Archäologe H. Behrens schrieb nach dem Erscheinen des Gedenkbandes für H. Jankuhn, herausgegeben von dessen Schüler H. Steuer an diesen: „Wer hat wen mehr ausgenutzt: Die Nazis Jankuhn oder Jankuhn die Nazis?“ und gab die Antwort „Vielleicht trifft letzteres zu!“240 Die vorstehende Abhandlung fasst die ersten vorliegenden Ergebnisse zu diesem kulturwissenschaftlichen Fach in der NS-Zeit zusammen, stellt Beispiele vor und kann damit den Versuch einer Antwort auf diese Fragen liefern. Es hat in der NS-Fachgeschichte erhebliche, aufeinander einwirkende Faktoren gegeben, die nur bedingt mit der gesamtpolitischen Situation der Auseinandersetzungen zwischen dem Ahnenerbe der SS und dem Amt Rosenberg zusammenhängen. Um diesen Hintergrund für andere Ausgrabungen, Publikationen, Ausstellungen etc. weiter auszuleuchten, müssen weitere Detailstudien zur prähistorischen Archäologie während der NS-Zeit unter Einbeziehung aller Quellen erfolgen. Erst wenn eine größere Anzahl solcher Studien vorliegt, lassen sich die allgemeinen Tendenzen und Gemeinsamkeiten erkennen. Auch dieser Bereich ist noch ein Desiderat der Forschung, ebenso wie die politischen Intentionen der „Ost- bzw. der Westforschung“ und der Einsatz von KZ-Häftlingen, Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeitern im Bereich der Bodendenkmalpflege, die als „billigste“ Arbeitskräfte für die Belange der Bodendenkmalpflege eingesetzt werden konnten. Hier muss ein bislang noch dunkles Kapitel der Geschichte der prähistorischen Forschung aufgearbeitet werden. Damit zeigten die bisherigen Auffassungen überwiegend deutliche Parallelen zu den bislang in der NS-Forschung dominierenden Paradigmen über „Unterdrückung“, „Ausschaltung“ und „Widerstand“. Neuere, mit zeitgeschichtlichen Quellen arbeitende Studien zur Geschichte der Disziplin verdeutlichen, dass das Argument des „durch Pressionen motivierten Opportunismus“ überhaupt nicht nachweisbar ist. Statt dessen ergibt sich eine aktive „Teilnahme“ am politischen Geschehen jener Zeit, denn das Bild ist damit ein anderes geworden, es zeigt Archäologen, die Initiativen ergriffen haben, um mit dem NS-Staat zusammenzuarbeiten, um eigene Forschungsideen zu realisieren, Berufsfelder in Forschung und Lehre, an Museen und in der Bodendenkmalpflege zu schaffen und in der breiten Öffentlichkeit ein verstärktes Interesse für die Belange der prähistorischen Archäologie zu wecken. An dieser Stelle muss allerdings festgehalten werden, dass trotz einer Vielzahl an einzelnen Untersuchungen zur Ur- und Frühgeschichtsforschung der NS-Zeit bislang noch Forschungen zur Geschichte zahlreicher Ausgrabungen und Museen, zur politischen Intention der Archäologie in Kaiserzeit, Weimarer Republik und Nationalsozialismus, zur Kollaboration verschiedener ausländischer Wissenschaftler,241 zur Entnazifizierung des Faches Desiderate der Wissenschaftsgeschichte sind. Weitere wichtige Arbeiten in diesem Bereich sind für die kommenden Jahre zu erwarten, denn z. Z. entstehen an verschiedenen Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen Examensarbeiten zu wichtigen Persönlichkeiten, und das Deutsche Archäologische Institut hat die Erforschung seiner Geschichte als fünftes Cluster in den Forschungsplan 2006 aufgenommen.242 Insbesondere durch die Auswertung der zahlreichen Nachlässe, die sich im Besitz von DAI und RGK befinden, können wahrscheinlich relevante neue Aspekte aufgetan werden. Das DAI ist außerdem 240 Hier zit nach Steuer: Jankuhn,, 434. 241 Nach Martens ist diese Thematik in Dänemark „direkt tabuisiert“ und ähnlich äußern sich auch manchmal ausländische Fachkollegen aus anderen Ländern. Martens: Archäologie, 607. 242 Vgl. http://www.dainst.org (Zugriff: 23.3.2007), die leider nicht den aktuellen Stand anzeigt. Ein erster wissenschaftlicher Workshop „Politische Ziele und Deutungen archäologischer Grabungen im späten 19./frühen 20. Jahrhundert im europäischen Vergleich“ fand am 1./2. Dezember 2006 in Berlin statt.
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Mitglied des europaweiten Netzwerkes AREA – Archives of European Archaeology, einem im April 1999 gegründeten und durch die EU unterstützen Forschungsnetzwerk verschiedener Einrichtungen, Universitäten und staatlicher Institutionen, das sich den Erhalt archäologischer Archive und die europaweite Erforschung der Geschichte der Archäologie zur Aufgabe gesetzt hat. Eine internationale Kooperation eröffnet auf diesem Gebiet bislang ungeahnte Chancen und birgt ein Potential, aus dem heraus auch neue Denk- und Forschungsansätze entstehen könnten.243
243 Schlegelmilch: Prähistoriker, 16.
KLASSISCHE ARCHÄOLOGIE STEFAN ALTEKAMP Einleitung Fragen nach dem Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und einzelnen Berufsgruppen gehören zum festen Repertoire der Faschismus-Forschung. Dabei standen zunächst diejenigen Professionen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, an deren Bedeutung für die handgreifliche Funktionsfähigkeit des nationalsozialistischen Unrechtsstaates kein Zweifel bestehen konnte. Andere Gruppen verblieben vorerst in deren Windschatten, so auch die Archäologien. Inzwischen hat in der Prähistorischen Archäologie ein Prozeß der kritischen Auseinandersetzung mit der Fachgeschichte zwischen 1933 und 1945 eingesetzt, die der Bedeutung der Germanenideologie und ihrer archäologischen Zuarbeiter für die weltanschauliche Grundlage des deutschen Faschismus Rechnung trägt. Die Klassische Archäologie könnte als von einer derartig fatalen Nachbarschaft unbetroffen erscheinen. Als Archäologie der antiken griechisch-römischen Zivilisation arbeitete sie in einem internationalen Rahmen und überschritt damit per definitionem den engen nationalen Horizont. Als Archäologie des Mittelmeerraums war sie kein natürlicher Anwalt einer absurden Heroisierung der deutschen Vorgeschichte. Und als humanistisch geprägter Altertumswissenschaft sollten ihr intellektuelle und politische Vulgarität sowie Rassismus, das zentrale Element der nationalsozialistischen Glaubenssätze, fremd geblieben sein. Keine dieser Aussagen hat uneingeschränkt Bestand: Die soziale und berufliche Praxis auch der Klassischen Archäologen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war von der Kategorie des Nationalen als eines identitäts- und handlungsbestimmenden Faktors nicht zu trennen. National- und Universalgeschichte konnten unter der weitverbreiteten Annahme elementarer Antriebskräfte, die den geschichtlichen Prozeß als solchen nach unveränderlichen Prinzipien gestalteten, eng miteinander verknüpft sein. Und die Erosion der politischen und intellektuellen Kultur ist als extremer Ausdruck in hohem Maße konsensfähiger Positionen aufzufassen. Vor diesem Hintergrund soll das Verhältnis von Klassischer Archäologie und Nationalsozialismus interpretiert werden. Akzeptiert man den praktizierten deutschen Faschismus als Produkt einer Radikalisierung maßgeblicher ideologischer und gesellschaftlicher Traditionen, so wird deutlich, daß sich in dieser Betrachtung keine isolierten, sondern miteinander verbundene, einer gemeinsamen Realität zugehörende Phänomene gegenüberstehen. Die Vermutung von Affinitäten zwischen der Praxis einer Wissenschaft und den sie umgebenden Rahmenbedingungen ist naheliegend. Auf der anderen Seite bliebe es unzureichend, diese Konvergenzen mit einem Verweis auf den ‚Zeitgeist‘ zu relativieren. Die Errichtung und der Ausbau der nationalsozialistischen Diktatur stellen das faktische, nicht aber notwendige Resultat eines Eskalationsprozesses dar. Dieser Prozeß kennt Etappen der Radikalisierung wie Grade der Partizipation. Mithilfe der Definition derartiger Etappen und Partizipationsgrade soll versucht werden, die Koinzidenz von Nationalsozialismus und Klassischer Archäologie zu strukturieren. Klassische Archäologie war nur peripher in direkte staatliche Repressionsakte oder deren unmittelbare Vorbereitungen einbezogen (Ausnahmen s.u. Archäologisches Institut des Deutschen Reiches; Krieg und Besatzung). Den Schwerpunkt des Gegenstandes bildet daher die wissenschaftliche Produktion der Klassischen Archäologie, wie sie sich in Publikationen, universitärer Lehre und Arbeitsprojekten niedergeschlagen hat.
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Distanz oder Nähe dieser Produktion zur nationalsozialistischen Ideologie äußerte sich primär in stärkerer oder schwächerer Akzeptanz des für die Ideologie zentralen Geschichts- und Gesellschaftsbildes, das rassistisch, sozial- bzw. vulgärdarwinistisch, bellizistisch und autoritär geprägt war. Aus archäologischer Sicht ist eine Annäherung an diese Position in folgende Schritte zerlegbar1: Den notwendigen Ausgangspunkt bildete ein ethnozentrischer Ansatz. In den archäologischen Wissenschaften bot sich das Modell der archäologischen Kultur als ein Weg an, aus materiellen Befund- und Fundsituationen auf kollektive Verursacher zurückzuschließen. Diese Verursacher, zugleich Träger des historischen Prozesses, wurden ethnisch definiert. Ethnien galten spätestens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert weitgehend als substantiell, d.h. biologisch, voneinander geschieden, eine Differenz, die die Zuweisung fest umrissener und in ihrer Zusammensetzung relativ stabiler „Sachkulturen“ gerechtfertigt erscheinen ließ. Im archäologischen Befund hätten sich nach diesem Modell Ethnien räumlich wie zeitlich fest umrissen abgezeichnet. Eine Erweiterung des ethnozentrischen Ansatzes stellte die aktualistische Interpretation der angenommenen historischen Ethnien dar. Zeitgenössisch konstruierte Identitäten wie Nation oder Rasse erschienen, während sie zunehmend biologisch definiert wurden, als historische Konstanten und konnten daher mit historischen Ethnien gleichgesetzt werden. Loyalität zu Nation oder Rasse in der Gegenwart bedingte damit auch ein emotionalisiertes Verhältnis zu historischen Gruppen. Zeitgenössische Ethnien als in Konkurrenz zueinander zu konzipieren, verlängerte das Denken in Konkurrenzen endlos in die Vergangenheit. In einem weiteren Schritt konnte dem Verhältnis der Ethnien untereinander ein prinzipiell antagonistisches Verhältnis unterstellt werden, das sich in beständigen existentiellen Konfrontationen entlud. Überschneidungen solcher Merkmale der materiellen Kultur, die verschiedenen Ethnien zugewiesen wurden, gerieten auf diese Weise zu Zeugnissen derartiger Auseinandersetzungen, die entsprechend nach dem Durchsetzungsvermögen der beteiligten ethnischen Komponenten befragt wurden. Im Sinne der bellizistischen Geschichtsvision durchsetzungsfähige Ethnien bedurften im Konfliktfall klarer, autoritärer Strukturen. Herausragende Einzelpersönlichkeiten nahmen eine hervorragende Stellung ein. Eine ultimative Zuspitzung erfuhr der ethnozentrische Ansatz durch die rassistische Radikalisierung. Den quasi zeitlosen, biologisch determinierten Ethnien wurden als „höher“ oder „minder“ abgestufte Qualitäten zugewiesen, aus denen nicht nur Wahrscheinlichkeiten eines höheren oder geringeren Durchsetzungsvermögens im historischen Konkurrenzkampf, sondern in letzter Konsequenz auch eine höhere oder geringere Daseinsberechtigung abgeleitet wurden. Diese Schrittfolge von einem offenen zu einem pointiert rassistischen ethnozentrischen Geschichtsbild kennzeichnet nicht nur eine Annäherung zwischen z.B. in der Archäologie akzeptierten Prämissen und ideologischen Kernaussagen des Nationalsozialismus, sondern ebenso eine fortschreitende Entwissenschaftlichung – auch nach zeitgenössischen Maßstäben. Dabei ist festzuhalten, daß der ethnozentrische Ansatz als solcher als methodisches Allgemeingut der Zeit zu gelten hat: der Versuch einer räumlich-ethnischen Ordnung des archäologischen Materials besaß gegenüber den idealen zeitlichen Sequenzen entlang einer unilinear gedachten Sequenz ein hohes innovatives Potential. Seine methodische Problematisierung, insbesondere mit Blick auf die Definition von Ethnos, war auf internationaler Ebene zu dieser Zeit noch nicht geleistet (s.u. Klassische und Prähistorische Archäologie). 1
Siehe das analoge Dreistufenmodell bei Wolfgang Kaschuba, Einführung in die Europäische Ethnologie, 2. Auflage, München 2003, 73f. – vgl. Heiko Steuer, Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995 – Begründung und Zielsetzung des Arbeitsgesprächs, in: Eine hervorragend nationale Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995, hg. von Heiko Steuer, Berlin u.a. 2001, 4f. 14f.
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Bereits die aktualistische Auslegung des ethnozentrischen Modells ist anders zu bewerten. Der im 19. Jahrhundert entwickelten kritischen Methode konnte diese Auslegung nicht standhalten.2 Ihre hohe Akzeptanz beruhte somit auf einer partiellen Absage an methodische Prinzipien. Die Klassische Archäologie distanzierte sich zwar deutlich vom historistischen und positivistischen Forschungsprogramm (s.u. Klassische Archäologie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts), hat aber eine Abkehr vom etablierten Grundsatz heuristischer ‚Rigorosität‘ nicht eingeräumt. Das Ausmaß der Umorientierung wurde dadurch verschleiert. Aus der Rückschau ist der Bruch deutlich sichtbar und als Symptom einer Ideologisierung bzw. Politisierung wissenschaftlichen Argumentierens kenntlich. In diesen Zusammenhang gehören auch die Favorisierung autoritärer Gesellschaftsmodelle und die Dämonisierung der herausragenden Einzelpersönlichkeit. Die aktualistische ethnozentrische Interpretation war ebenfalls vor Etablierung des nationalsozialistischen Regimes geläufig. Sie ist daher kein hinreichendes Kriterium einer engen Affinität zur nationalsozialistischen Weltanschauung, allerdings eine notwendige Kompatibilitätsvoraussetzung. Schließlich geht auch rassistisch überformtes Geschichtsdenken auf ältere Wurzeln zurück. In der deutschen Klassischen Archäologie stellte die Annahme einer besonderen ‚Verwandtschaft‘ zwischen ‚Griechen‘ und ‚Deutschen‘ und deren gemeinsame ‚Qualitäten‘ einen prekären Ansatzpunkt derartigen Denkens dar. Eine explizit rassistische Ausführung dieses Ansatzes ist jedoch vor 1933 in der Disziplin nicht diskutabel. Prinzipiell bedeutete das Eindringen des rassistischen Ethnozentrismus in der Klassischen Archäologie einen eklatanten Bruch mit der Tradition des philanthropischen Humanismus. Die Verwendung des rassistischen Deutungsmodells kann als eindeutiges Merkmal nationalsozialistisch geprägter bzw. beeinflußter Wissenschaftspraxis angesehen werden. Auch die konkrete Zeitstellung einzelner Äußerungen sollte Beachtung finden. Es besteht ein Unterschied zwischen einer potentiellen Theorie-Praxis-Relation und einer faktischen Gleichzeitigkeit und Entsprechung von Verbal- und Tatradikalismus. Im Folgenden sollen also Konvergenzkriterien zur Beschreibung des Verhältnisses von Klassischer Archäologie und Nationalsozialismus Anwendung finden, nach denen aktualistische Variationen des ethnozentrischen Geschichtsmodells als potentiell, rassistische als faktisch der nationalsozialistischen Ideologie nahestehend bewertet werden. Die Darstellung beruht ausschließlich auf publizierten Dokumenten. Eine zusätzliche Einbeziehung unveröffentlichter Archivalien, so wünschenswert sie nach dem unausgeglichenen Bild der veröffentlichten Daten erscheint, war in diesem Rahmen nicht möglich.3 Unter den Publikationen sind auch ‚populäre‘ Bücher oder Aufsätze berücksichtigt. Nicht selten findet sich der Hinweis, Zugeständnisse an ideologische Vorgaben in diesem Sektor seien weniger gravierend, wenn in den parallelen fachlichen Veröffentlichungen Sachlichkeit und Wissenschaftlichkeit gewahrt seien. Mir scheint bedenkenswert zu sein, daß ‚populäre‘ Literatur die Außenwirkung der Wissenschaften maßgeblich bestimmt. Ideologische Kompromißbereitschaft auf dem Feld der allgemeinverständlichen Aussagen stellt in diesem Sinne ein wesentliches Kriterium für ideologische Vereinnahmung dar. Darüber hinaus stellt eine Tendenz zur Essayistik einen bemerkenswerten Trend fachlichen Publizierens der fraglichen Zeit dar. Die Grenzen des wissenschaftlichen Formats hatten sich dadurch verschoben.
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Vgl. V. Gordon Childe, Is prehistory practical?, Antiquity 7 (1933) 410-418. Vgl. Martin Maischberger, German archaeology during the Third Reich, 1933-45: a case study based on archival evidence, Antiquity 76 (2002) 209-218; ders., Das Projekt „Archives of European Archaeology” (AREA). Wissenschaftsgeschichte im europäischen Rahmen, in: Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933-1945, hg. von Achim Leube, Heidelberg 2002, 635-641.
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170 Klassische Archäologie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts
Wissenschaftliche Techniken, die später eine Klassische Archäologie kennzeichnen sollten, wurden seit der Renaissance entwickelt, doch das Aufkommen einer auch als berufliche Formation kenntlichen Disziplin fällt erst in das 19. Jahrhundert. In Deutschland entwickelte sie sich auf der Basis einiger Museumsstellen, des Archäologischen Instituts des Deutschen Reiches, besonders aber zahlreicher universitärer Archäologieprofessuren besonders rasant. Ideen- und institutionengeschichtlich liegen diesem Aufstieg der prägende Einfluß des Idealismus und das neuhumanistische Bildungssystem zugrunde, die formaler Bildung als allgemeinem Propädeutikum und der klassischen Antike als Unterrichts- und Studiengegenstand zum Zweck des Erwerbs dieser Bildung höchste Priorität einräumten. Ein humanistisches Bildungspatent als Voraussetzung für den Eintritt in alle höheren öffentlichen und die meisten höheren freien Berufe verschaffte den Vermittlern dieser Bildung, den Altertumswissenschaftlern, eine gesicherte berufliche Basis. Klassische Archäologie partizipierte an diesem System und schrieb zudem mit aufsehenerregenden Ausgrabungen sowie daraus erwachsenden Museumsinszenierungen eine Erfolgsgeschichte eigener Art. Die in Medien und Sammlungen exponierte Antike besaß geschmacks- und stilbildende Wirkung. Unter dem Schutzmantel dieser amtlichen und öffentlichen Legitimation realisierte ein positivistisch disziplinierter Wissenschaftsbetrieb ein eindrucksvolles editorisches, klassifikatorisches und analytisches Programm. Die mit nationalem Prestige kurzgeschlossene Leistungsfähigkeit der Archäologie sicherte ihr höchste, nicht zuletzt finanzielle Privilegien. Ende des 19. Jahrhunderts begann sich die Situation zu verändern. Die Aufhebung des neuhumanistischen Bildungsmonopols führte zu einer potentiellen Bedrohung der starken Präsenz der altertumswissenschaftlichen Fächer an den Universitäten. Die kulturellen Präferenzen des Bildungsbürgertums differenzierten sich. Ein ‚klassisches‘, konventionell an der Antike geschultes ästhetisches Bekenntnis nahm nur noch den Rang einer von mehreren Optionen ein, die zudem vielen als vom akademischen und höfischen Konservatismus protegiert belastet erschien. Neben diese ureigene Krise der Klassischen Archäologie traten die Krisensymptome des Positivismus und des politisch-kulturellen Systembruchs in der Folge des Ersten Weltkrieges, die sie mit ihrer wissenschaftlichen Umgebung zu teilen hatte. Routinierte Arbeitsteiligkeit, wachsende Unübersichtlichkeit und die ‚Inflationierung‘ von Bildung schienen die gesellschaftliche Relevanz und den gesellschaftlichen Stand der Geisteswissenschaften zu gefährden.4 Der Entzug der Protektion durch einen starken Staat, die diskreditierte Position gegenüber den Wissenschaften im Ausland, sinkende Etats und ein in Frage gestelltes akademisches Erklärungsmonopol traumatisierten die deutsche Wissenschaft insgesamt. Die Neuorientierung der Klassischen Archäologie in den zwanziger Jahren antwortete somit einem allgemeinen Trend, wies aber aufgrund des Problems, die archäologische Beschäftigung mit der griechisch-römischen Antike zeitgemäß begründen zu müssen, zusätzlich eigene Züge auf. Dabei hat das spezifische Problem die generell angestoßene Tendenz noch verstärkt. Der Versuch einer Neupositionierung der Klassischen Archäologie vollzog sich daher in einer Situation, die doppelt – allgemein und besonders – als geschwächt und bedrängt wahrgenommen worden ist. Mit der kollektiven Wahrnehmung einer Bedrohung korrelierte die Haltlosigkeit einer neuen Programmatik. Es ist daher notwendig, die Lage der Disziplin auch aus mentalitätsgeschichtlicher und – handfest – standespolitischer Sicht 4
Peter Lundgreen, Bildung und Bürgertum, in: Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986-1997), hg, von Peter Lundgreen, Göttingen 2000, 192f.
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zu bedenken. Suzanne L. Marchand hat mit Nachdruck auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht5, während Esther Sünderhauf nachweisen konnte, daß in diesem Zusammenhang eine jeweils zeitaktuelle Konstruktion der Person Johann Joachim Winckelmanns, des Gründungsheros der (deutschen) Klassischen Archäologie, als zentrales Instrument fungierte.6 Mit verinnerlichter Schwäche korrespondierte ersehnte Stärke. Eine dichte Metaphorik der Macht umgab archäologische Stellungnahmen auf die radikalen städtebaulichen Veränderungen im faschistischen Rom, die politisch hoch symbolträchtige Freilegung der römischen Kaiserfora sowie die Anlage einer breiten Verkehrs- und Aufmarschstraße.7 In der Mussolini-Rezeption erlangte Macht den Rang einer doppelten Bedingung für das Weiterbestehen der Archäologie: Macht in der Vergangenheit als Voraussetzung für traditionssetzende schöpferische Leistungen. Und Macht in der Gegenwart als Bedingung für Respekt vor dieser Tradition und ihrer ebenbürtigen Fortschreibung. Die Duce-Hitler-Analogie ist in diesem Zusammenhang nur zu naheliegend. Aber auch die direkte antike Parallele diente der Ausstattung des archäologischen Machttraums.8 Als kennzeichnend für die inhaltliche Neuorientierung der Klassischen Archäologie9 ist vor allem die Wiederbelebung einer idealistischen Kunstgeschichtsschreibung festzuhalten, die zwar methodisch Anschluß an eine zeitgenössische kunstwissenschaftliche Diskussion fand (s.u. Kunstgeschichte), jedoch den Zugriff auf solche archäologische Daten und Verfahren reduzierte, die für diese spezifische Ausrichtung nicht von Belang waren (s.u. Stagnation und Regression). Als zentrales Anliegen der neuen Kunstgeschichte der Antike galt die Übersetzung eines klassizistischen Kunstideals in eine im weitesten Sinne gesellschaftsreformatorische Botschaft.10 Der normative und appellative Charakter der neuen 5 6 7
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Suzanne L. Marchand, Down from Olympus. Archaeology and philhellenism in Germany, 1750-1970, Princeton 1996, 341-354: 1933-1945. Esther Sophia Sünderhauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840-1945, Berlin 2004. Quellenzusammenstellung bei: Gerhard Binder, Exkurs „Augusteische Erneuerung“ in der Archäologie 1933-1945, in: Saeculum Augustum Bd. 3, hg. von Gerhard Binder, Darmstadt 1991, 24-29. – Ludwig Curtius, Mussolini und das antike Rom, Köln 1934: „[...] wenn diese grandiose Via dell’Impero vom Palazzo Venezia, vom Marsfeld her, das Kapitol entlang über das Trajansforum, über das des Augustus am Tempel des Julius Caesar vorbeiführt, [...] und aus dem brausenden Verkehr der Straße schließlich die Menge zu Hunderten in die Basilika des Maxentius strömt [...], und aus der Nische, in der einmal der Koloß des Sitzbildes Konstantins stand, unter den riesigen Gewölben von einer Militärkapelle gespielt Beethovens Eroica oder das Vorspiel der Meistersinger einherrauscht, dann dient diese ganze Ruinenwelt nur der Verlebendigung einer einzigen geschichtlich-gegenwärtigen Einsicht: der Größe des staatlichen Seins, der Größe der schöpferischen politischen Persönlichkeit.“ (20). – Gerhart Rodenwaldt, Via dell’Impero in Rom, Zentralblatt der Bauverwaltung 54 (1934) 309-312: „[...] Tradition schreckt nur den Schwachen. Das starke, sich und seinem Führer vertrauende Italien stellt sie in seinen Dienst [...]. Auch wir sind Erben der Antike. Nur schwächliche Perioden und unbedeutende Künstler haben sie als Last und Hemmung empfunden. Allen starken Zeiten und schöpferischen Menschen [...] ist die Auseinandersetzung mit der Antike eine Quelle der Kraft zur eigenen, neuen Leistung gewesen. Die Via dell’Impero, die der Duce Italiens seinem Volk und der Welt geschenkt hat, gehört auch für uns Deutsche zu den Stätten, von denen unser Führer das Wort geprägt hat: ‚Die Kulturdenkmäler der Menschheit waren noch immer die Altäre der Besinnung auf ihre bessere Mission und höhere Würde.“ (312). Reinhard Herbig, Gedanken über die bildende Kunst in Rom zur Zeit des Augustus, in: Probleme der augusteischen Erneuerung, Frankfurt a.M. 1938, 85: Augustus-Hitler; Willy Zschietzschmann, Die Blütezeit der griechischen Kunst. Akademische Rede zur Jahresfeier der Ludwigs-Universität am 1. Juni 1940, Gießen 1940, 14.16: Perikles-Hitler. Tonio Hölscher, Klassische Archäologie am Ende des 20. Jahrhunderts: Tendenzen, Defizite, Illusionen, in: Die Wissenschaften vom Altertum am Ende des 2. Jahrtausends n.Chr. 6 Vorträge gehalten auf der Tagung der Mommsen-Gesellschaft 1995 in Marburg, hg. von Ernst-Richard Schwinge, Stuttgart u.a. 1995, 205-207; Hans Peter Isler, Klassische Archäologie am Ende des 20. Jahrhunderts, Wien 1997, 6-10. Adolf Heinrich Borbein, Die Klassik-Diskussion in der Klassischen Archäologie, in: Altertumswissenschaft in den 20er Jahren. Neue Fragen und Impulse, hg. von Hellmut Flashar, Stuttgart 1995, 205-245;
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Archäologie entstand auf Kosten der Alternative einer neuen Kulturgeschichte der Antike, für die das in der positivistischen Epoche angesammelte sachliche und methodische Wissen auf evolutionärem Wege in neuen disziplinären Zusammenhängen (etwa mit Ethnologie oder Soziologie) neuen Fragestellungen hätte zugeführt werden können. Enthistorisierung und Reidealisierung von Mensch und Kunst in der Antike als Voraussetzung des neuen akademischen Klassizismus schloß eine derartige innovative Kulturgeschichte aus.11 Mit ihrer Neuaufstellung folgte die Klassische Archäologie der Programmatik des altertumswissenschaftlichen „Dritten Humanismus“, der die klassische Antike weniger als Gegenstand historischer Betrachtung denn als normatives Gesellschaftsmodell empfahl.12 In diesem maßlos ganzheitlichen, die Pluralität und Diversifizierung der zeitgenössischen Umwelt negierenden Anspruch korrespondierte die privilegiert gedachte Rolle der Exegeten der Antike mit dem autoritär gedachten Charakter einer vage konzipierten neuen Gemeinschaft. Der Dritte Humanismus besaß eine politische Stoßrichtung, ignorierte aber die konkrete Realität des Politischen. Noch in den 1950 veröffentlichten Memoiren Ludwig Curtius‘ fällt die abstrakte Ansprache der Anliegen des Dritten Humanismus neben einer prägnanten Definition der Ziele des „Zweiten“ Humanismus der Humboldt-Zeit ins Auge.13 Die Feststellung einer verbreiteten prekären Konzeption des Politischen macht die Frage nach politischem Engagement, verstanden in der angedeuteten allgemeinen Form, nicht überflüssig. Dabei sind individuelle politische Betätigungen, soweit sie erfolgten, bislang kaum sichtbar geworden.14 Einige Aussagen lassen sich dagegen über die Gruppe um Stefan George treffen, denjenigen konservativen Zirkel, der in den Geisteswissenschaften auf starkes Interesse stieß und einer vehement modernitäts- wie rationalitätskritischen Stimmung Ausdruck verlieh.15 Dieser Bewegung werden – nach eigenem oder kollegialem Be-
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Sünderhauf (wie Anm. 6) 284-289 („Klassik als symbolische Form eines neuen Staates“). 289-294 („‚Klassizistische Weltanschauung‘ und antidemokratisches Denken“). Siehe als späte Monumente dieser Phase: Karl Schefold, Wirkungen Stefan Georges auf drei neuen Wegen der Klassischen Archäologie, Castrum Peregrini 35 (1986) 72-97; ders., Neue Wege der Klassischen Archäologie nach dem ersten Weltkrieg, in: Altertumswissenschaft in den 20er Jahren (wie Anm. 10) 183-203. Ludwig Curtius, Die antike Kunst und der moderne Humanismus, Die Antike 3 (1927) 1-16; eine weitere archäologische Interpretation dieses Programms ist in einem an den Reichserziehungsminister gerichteten Memorandum Gerhart Rodenwaldts erhalten: Esther Sophia Sünderhauf, Die Gründung der Winckelmann-Gesellschaft im Jahre 1940. Kontext und Funktion, in: Die Winckelmann-Gesellschaft 1940-2000. Gründung und Geschichte, Stendal 2002, 40; dies. (wie Anm. 6) 308-315 („Die Selbstgleichschaltung der Altertumswissenschaften“). Ludwig Curtius, Deutsche und antike Welt. Lebenserinnerungen, Stuttgart 1958, 429-431. Im Falle der Universität Heidelberg ermöglicht die minutiöse Studie von Christian Jansen über das politische Engagement der Hochschullehrer einen seltenen Blick auf einen klassisch-archäologischen Fachvertreter: Ludwig Curtius gehörte zu den regelmäßig auch in politischen Fragen publizierenden Professoren und bekannte sich, auch parteipolitisch (DNVP), zum nationalkonservativen Lager. Die Weimarer Verfassung lehnte er grundsätzlich ab. Als Dekan der Philosophischen Fakultät begründete er 1924 ein (schließlich gescheitertes) Ausschlußverfahren gegen den pazifistischen, politisch weit links orientierten Mathematiker und Statistiker Emil Julius Gumbel, der u.a. mit der Veröffentlichung einer Recherche zu rechtsradikalen politischen Morden in den frühen Jahren der Republik Aufsehen erregt hatte. Curtius argumentierte: Die Universität habe die „Pflicht des Schutzes der Lehrfreiheit, aber auch des Dienstes am deutschen Gesamtgeist in seiner Darstellung durch die Volksgemeinschaft, gegebenenfalls gegen ein sich damit in Widerspruch setzendes Mitglied.“: Christian Jansen, Professoren und Politik. Politisches Denken und Handeln der Heidelberger Hochschullehrer 1914-1935, Göttingen 1992, 157f. 188. 189-192 (Zitat 190); Richard Faber, Humanistische und faschistische Welt, Hephaistos 13 (1995) 183 Anm. 171a; zum „ersten Fall Gumbel“ auch Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 4. Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003, 410f. – Ludwig Curtius als Protagonist des politisierenden nationalkonservativen Wissenschaftlers: Sünderhauf (wie Anm. 6) 273-283 („Freiheit und ‚aristokratische Persönlichkeit‘“). Stefan Breuer, „Ästhetischer Fundamentalismus“. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995; Carola Groppe, Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der GeorgeKreis 1890-1933, Köln u.a. 1997; Walter Schmitz, Uwe Schneider, Völkische Semantik bei den
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kunden – mehrere Klassische Archäologen zugerechnet, so Erich Boehringer, Ernst Buschor, Richard Delbrueck, Reinhard Herbig, Paul Jacobsthal, Herbert Koch oder Ernst Langlotz.16 Über die Affinität der Anliegen des George-Kreises zur NS-Ideologie wird anhaltend diskutiert und in dieser Debatte darauf hingewiesen, daß sich unter den Adepten sowohl Nazis als auch spätere Widerständler gegen die NS-Diktatur befanden. Auch die Liste der archäologischen Georgianer verweist auf die individuelle Auslegbarkeit der im George-Umkreis ausgeprägten Überzeugungen. Die Anziehungskraft des Kreises für etliche Klassische Archäologen macht allerdings auf die verbreitete Neigung innerhalb der jüngeren Generation dieser Berufsgruppe aufmerksam, ihre wissenschaftliche Betätigung als eine nahezu pseudoreligiöse Mission aufzufassen und für sich selbst sinngebende Autorität innerhalb eines homogenen und elitären gesellschaftlichen Gefüges zu beanspruchen. Ob sich der Nationalsozialismus an der Macht als weitere Bedrohung oder stabilisierend auswirken würde, war vor 1933 für die Mehrheit in der Disziplin nicht ausgemacht. Das Ende des liberalen Parlamentarismus und die erneuerte Priorität der „nationalen Frage“ wurden von vielen Fachvertretern begrüßt, massive, ideologisch motivierte Angriffe gegen das klassisch-archäologisch dominierte Archäologische Institut des Deutschen Reiches dagegen schürten Existenzängste. Auf längere Sicht erwiesen sich diejenigen Paradigmen des Fachs, die sich am vernehmlichsten Gehör verschafften, als im Schatten der offiziellen Ideologie (über)lebensfähig. Die institutionelle Kontinuität blieb gewahrt. Die zensierte und kontrollierte Meinungsäußerung im Dritten Reich macht es im Nachhinein sehr schwierig zu ermitteln, inwieweit die Jahre von 1933 bis 1945 subjektiv als eher krisenhaft oder eher begünstigend wahrgenommen worden sind.17 Zur Beantwortung dieser mentalitätshistorischen Fragestellung wäre der im bürokratischen Schriftverkehr und in der privaten Korrespondenz angesiedelte nichtöffentliche Diskurs systematisch zu befragen. Nationalsozialismus und Antike Angesichts der geringen Konsistenz einerseits, des Geltungsanspruchs der nationalsozialistischen Weltanschauung andererseits können Widersprüche der Beziehung zwischen den NS-Glaubenssätzen und wissenschaftlichen Modellen und Programmen nicht überraschen. Das trifft auch auf die Klassische Archäologie zu. Deren mögliche Annäherung an den Nationalsozialismus schien zunächst durch eine soziologische und eine ideologische Barriere behindert: Soziologisch bedeutete der Anti-Intellektualismus des Nationalsozialismus gegenüber einer ausgeprägt bildungsbürgerlichen akademischen Formation wie den Altertumswissenschaften einen Vorbehalt. Ideologisch wies die Idealisierung der Antike
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Münchner ‚Kosmikern‘ und im George-Kreis, in: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871-1918, hg. von Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht, München 1999, 711-746. Schefold, Wirkungen (wie Anm. 11). Situationsbedingt sind auch sich ändernde Einstellungen während der 12 Jahre in den publizierten Äußerungen nur in Ansätzen zu greifen: Ernst Langlotz, Griechische Klassik, Bonn 1944, 12f.: „Wie nie vor- und nachher ward der attische Staat selbst ein Menschen ähnliches Wesen. Erst jetzt konnte die bildnerische Gestaltung den völligen Zusammenklang und das Zusammenwirken aller menschlichen Kräfte im Leibe darstellen, als sich für wenige Jahre jene Einheit zwischen Perikles und Demos vollzogen hat, von der Thukydides berichtet. Der Mensch war damals organisches Glied seines neuen Staates, kein Tier in einer Herde wie in Sparta, das deshalb nie zur Klassik emporgestiegen ist. Der Mensch steht anders zu seinem staatlichen Kosmos als in den immer archaisch gebliebenen Despotien des Ostens, als beseelter, geistbehauster Mensch, dem sich die Einzigartigkeit seines Daseins eröffnet hat.“ – Bernhard Schweitzer, Das Menschenbild der griechischen Plastik, Potsdam 1944, 5: „Weite Zeiträume trennen uns von ihm [dem griechischen Menschenbild], in denen der abendländische Mensch durch unendliche, vordem unbekannte seelische Erfahrungsräume geschritten ist. Machtlos wird die biologische Identität des Menschen über mehr als zwei Jahrtausende hin, es bleibt nur die historische Verschiedenheit.“
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auf der einen, die partielle Verabsolutierung des Germanentums auf der anderen Seite zunächst in entgegengesetzte Richtungen. Daß sich die soziologische Spannungssituation während des Dritten Reiches kaum zuungunsten der Klassischen Archäologie auswirkte, dürfte u.a. darauf zurückzuführen sein, daß die ideologischen Differenzen in der Praxis nicht von Dauer waren, sondern sich über eine erhebliche Strecke harmonisierten. Einer positiven Antike-Rezeption durch den Nationalsozialismus bereitete nicht zuletzt das persönliche Geschichtsbild Hitlers18 den Boden. Während die Annahme konstanter, biologisch definierter „Rassen“ als Träger und deren sozialdarwinistisch vorgestellter Existenzkampf gegeneinander als Gesetz des historischen Prozesses unverrückbare Ideologeme darstellten, konnten z.B. die „rassischen“ Protagonisten enger oder weiter aufgefaßt werden. Die weitere „arische“ (anstelle der engeren „germanischen“) Perspektive, der Hitler sich verpflichtet fühlte, bot einen „nordischen“ völkischen Großverband als positive Identifikationsfigur an, in der Griechen und Römer ihre in der humanistischen Erzählung festgeschriebene Rolle als Kulturbringer Europas prinzipiell bewahren konnten, dem „nordischen“ Interesse aber insofern Genüge getan wurde, als die mediterranen Hochkulturen ihrerseits auf kulturbringende Zuwanderung aus dem Norden zurückgegangen wären. Innerhalb dieses Rahmens wurden eine angeblich antike Ästhetik für den Nationalsozialismus in Anspruch genommen, ein historisches Vorbild des auf „rassischen“ Prinzipien aufbauenden Staates (Sparta) erkannt sowie prototypische machtstaatliche Formationen (das Römische Reich) als Herrschaftsmodelle akzeptiert. Die ästhetischen Präferenzen Hitlers, aber auch z.B. Albert Speers erwiesen sich als konventionellen Vorlieben des 19. Jahrhunderts verpflichtet.19 Trotz Banalisierung und Vergröberung des antikisierenden Repertoires verlieh dieser Traditionalismus einer fortgesetzten Beschäftigung mit der Antike Legitimation. In Mein Kampf hatte sich Hitler vereinzelt zum Vorbildcharakter der griechischen Zivilisation, besonders ihrer Kunst bekannt. Im Gegenzug ist seine Ironisierung der Bemühungen, die germanische Geschichte zu monumentalisieren, bezeugt. Klassische Archäologen haben sich mit entsprechenden Hitlerzitaten für den ideologischen Kampf munitioniert.20 Für einen zentralen Aspekt staatlicher Repräsentation, die Architektur, bot die germanische Frühgeschichte keine brauchbaren Anknüpfungspunkte. Eine lange Tradition als Mittel des Ausdrucks staatlicher Autorität und Macht besaß dagegen die ‚klassische‘ Architektursprache. In megalomaner Überzeichnung hat das NS-Regime diese Tradition als eine von mehreren historistischen Optionen fortgeschrieben.21 Die formale Kontinuität wurde 18
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Vor allem nach: Frank-Lothar Kroll, Geschichte und Politik im Weltbild Hitlers, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 44 (1996) 327-353; ders., Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn u.a. 1998. – Siehe außerdem: Volker Losemann, Nationalsozialismus und Antike. Studien zur Entwicklung des Faches Alte Geschichte 1933-1945, Hamburg 1977, 17-26; ders., Nationalsozialistische Weltanschauung und Herrschaftspraxis (1933-1945), in: Der Nationalsozialismus an der Macht. Aspekte nationalsozialistischer Politik und Herrschaft, hg. von Klaus Malettke, Göttingen 1984, 22-24; ders., Die Dorier im Deutschland der dreißiger und vierziger Jahre, in: Zwischen Rationalismus und Romantik. Karl Otfried Müller und die antike Kultur, hg. von William Calder III, Renate Schlesier, Hildesheim 1998, 313-348 (zum Sparta-Bild); Gunnar Brands, „Zwischen Island und Athen“. Griechische Kunst im Spiegel des Nationalsozialismus, in: Kunst auf Befehl? Dreiunddreißig bis Fünfundvierzig, hg. von Bazon Brock, Achim Preiß, München 1990, 103-136; Uta Halle, „Die Externsteine sind bis auf weiteres germanisch!“ Prähistorische Archäologie im Dritten Reich, Bielefeld 2002, 57-60. Brands (wie Anm. 18). Gerhart Rodenwaldt hat 1934(?) antikefreundliche Äußerungen Hitlers aus „Mein Kampf“ und einer Parteitagsrede als Argumentationshilfen exzerpiert: Staatsbibliothek zu Berlin, Nachlaß Rodenwaldt, Mappe 718, Blatt 34; Marchand (siehe Anm. 5) 350 mit Anm. 34. Hans-Ernst Mittig, Antikebezüge nationalsozialistischer Propagandaarchitektur und -skulptur, in: Antike und Altertumswissenschaft in der Zeit von Faschismus und Nationalsozialismus. Kolloquium Zürich 1998, hg. von Beat Näf, Mandelbachtal u.a. 2001 , 245-265; Christian Welzbach, „Die geheiligten Bezirke unseres Volkes“. Antikerezeption in der Architektur des Dritten Reiches als Beispiel für das nati-
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durch eine nationalistische Neukontextualisierung antikisierender Architektur in Deutschland seit spätwilhelminischer Zeit vorbereitet.22 Nationalsozialismus und Antike stellten keine unvereinbaren Orientierungen dar. Auf offene Angriffe gegen die Erforschung einer nicht-deutschen Vergangenheit konnten Gegenargumente aus Gründungsschriften der NS-Ideologie beigebracht werden. Der rassistische Diskurs schloß deutsche und griechische Geschichte kurz und bot somit eine extremen Prämissen genügende Möglichkeit des Brückenschlages. Klassische und Prähistorische Archäologie Der Gegenstand einer Archäologie als solcher kam lange nicht in Sicht. In Europa gaben zwei komplementäre bzw. konkurrierende Altertumsvorstellungen die Gegenstände zweier archäologischer Hauptrichtungen ab, aus denen die Klassische und die Prähistorische Archäologie entstanden. Die griechisch-römische Antike galt als das Fundament des mittelalterlichen und nachmittelalterlichen Europas. Illustration und Aneignung dieses Altertums entwickelte sich zu einem übergreifenden Anliegen, das in der Forschung Projekte der Edition und Klassifikation der gewaltigen schriftlichen wie archäologischen Überlieferung hervorrief. Nach Mustern, die u.a. die archäologische Forschung bereitstellte, färbten sich Architektur und Bildende Kunst, öffentliche und private Bildsprachen in ganz Europa ‚antikisch‘. Parallel entstand in den Nationalstaaten auch das Interesse für jeweils eigene Nationalgeschichten. Auf dieses Interesse mußte in besonderem Maße archäologische Forschung reagieren, denn für die Frühzeit der meisten Staaten nördlich des Mittelmeerraums standen keine schriftlichen Quellen zur Verfügung. Während sich die Klassische Archäologie seit Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend als eine idealistische Kunstgeschichte der Antike definierte, war die Archäologie der nationalen Vorgeschichten auf eine breitere Quellenbasis angewiesen, um dem differenzierten Bild einer in ein stabiles Gerüst historischer Daten eingebetteten griechisch-römischen Zivilisation vorgeschichtliche Kulturen aus Mittel- und Nordeuropa zur Seite stellen zu können. Neben die klassifikatorische Ausbreitung der Quellen zur Illustration verschiedener
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onalsozialistische Historismuskonzept, in: Tradita et inventa. Beiträge zur Rezeption der Antike, hrsg. von Manuel Baumbach, Heidelberg 2000, 495-513. Arthur Moeller van den Bruck, Der preußische Stil, 5. Auflage Breslau 1934: „Nur in Preußen, wo man schon das Barocke einfacher, das Rokoko edler, den Klassizismus derber gehalten hatte, ging man vom Zopf aus nunmehr unmittelbar auf die Antike zurück, wie wenn sie die Natur gewesen wäre, erfaßte in ihr die technische Funktion als künstlerische Form und verstand das Wesen der Form von den Gelenken aus, in denen sie sich bewegt und die ihr Gleichgewicht wie Schönheit geben. Es war eine schöpferische Arbeit, durch die Preußen, eine Stilsetzung leistete, die alle paar Jahrhunderte, an der Schwelle zu jedem neuen Zeitalter, von dem jüngsten und männlichsten Volke geleistet werden muß. [...] Es war kein neuer Klassizismus, der entstand: es war Klassizität. Klassizismus entsteht nur dort, wo die Baukunst in Abhängigkeit von den Motiven bleibt, die sie vorfindet: Klassizität dagegen entsteht durch Herrschaft über die Funktion. [...] Sie war niemals verheißungsvoller, ein hingegebenes ver sacrum des neuen Dorertums, das in der norddeutschen Tiefebene entstand, als in jener Frühzeit, da Friedrich Gilly entwarf und in silberner Silhouettierung dem Berlin der Befreiungskriege die idealische Linie gab.“ (126f.); „[Gillys] Architektur war wie eine Kristallisation der Natur. Sie war Primitivität in ihrer höchsten Veredelung. Erst der Umweg um diese Primitivität macht das Verhältnis der Wahlverwandtschaft verständlich, in dem Gilly zu Preußen stand: und Preußen zur Antike.“ (129f.); „Aus dieser archaischen Gesinnung hat dann Gilly auf seine priesterliche Weise in der Architektur die stille Größe und die edle Einfalt in einer nordischen Geistigkeit verwirklicht.“ (136); „Preußen [...] war neu, war wirklich und zukünftig; Preußen brauchte, um sich durchzusetzen, Sichtbarkeit, brauchte Monumentalität. [...] Seine Monumentalität entsprang aus der Idee, aus dem reinen Geiste, aus einer großen menschlichen Hingabe - aber seine Idealität verwirklichte sich durch das größte Beispiel, das man sich geben konnte: der Alten. Die antike Welt wurde zur preußischen Mythe.“ (149).
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Lebensbereiche (Grabausstattung, Bewaffnung, Hausrat usw.) traten im 19. Jahrhundert Typologie und stratigraphische Beobachtung zum Zweck der Erstellung eines chronologischen Ablaufmodells. Um Informationen zu erlangen, über die die Archäologie der Antike bereits verfügte (oder die sie entbehren zu können glaubte), erschloß sich die Prähistorische Archäologie Verfahren der Beobachtung und Untersuchung, die sie stärker mit Geologie, physischer Anthropologie und anderen Naturwissenschaften in Verbindung brachte. Die Klassische Archäologie dagegen hielt in der Ausbildung für sie charakteristischer Methoden der formalen Analyse engen Kontakt zur Philologie und Kunstgeschichte. Die Prähistorische Archäologie konstituierte sich stärker als ‚Feldforschung‘, die Klassische betonter als Schreibtischwissenschaft. Im Zeichen des Neuhumanismus erfuhr die Klassische Archäologie einen spektakulären Ausbau als akademische Disziplin, die Prähistorische Archäologie blieb dagegen lange auf universitärer Ebene nur schwach vertreten. Seit dem 19. Jahrhundert verlief somit zwischen beiden archäologischen Ausrichtungen in Deutschland eine klare Trennlinie, die sich nicht nur fachlich, sondern auch wissenschaftspolitisch und soziokulturell artikulierte. Der Konkurrenzsituation entsprachen polemische Abwertungen im zwischenfachlichen Dialog, die bis an die Relevanzfrage heranreichten. Da sich die Klassische Archäologie primär über die Zuständigkeit für einen bestimmten geographisch-chronologischen Horizont, die Prähistorische Archäologie dagegen über eine erkenntnistheoretische Ausgangsbedingung (Erforschung einer Vergangenheit ohne Schrift) definierte, war die Trennungsgeschichte der Disziplinen allein wissenschaftshistorisch, nicht aber systematisch begründet. Daher ist es nicht verwunderlich, daß sich Berührungs- und Überschneidungsbereiche herausbildeten. Diese ergaben sich vor allem auf drei Feldern: Seit den Schliemann‘schen Grabungen in Troia und Mykene zeichneten sich archäologisch die Umrisse einer im wesentlichen schriftlosen ägäischen Bronzezeit ab. Die Klassische Archäologie beanspruchte diese Periode als eigenes Interessensgebiet, doch bedurfte es zu ihrer Erforschung in stärkerem Maße prähistorischer Verfahren: an erster Stelle der archäologischen Grabung – nicht primär als eines Verfahrens der Objektaneignung, sondern der Entschlüsselung materiell-kultureller Befundsituationen. Analog lenkte sich die Aufmerksamkeit auch auf eine italische Frühgeschichte. Spätantike und frühes Mittelalter gehören zwei nur unscharf gegeneinander abzugrenzenden Epochenbegriffen an. Ein wachsendes Interesse der Klassischen Archäologie für die Spätantike brachte sie zwangsläufig mit Arbeitsgebieten der Prähistoriker in Berührung. In der Völkerwanderungszeit betraten historische Akteure den Mittelmeerraum, deren geographische Herkunft die fachliche Kompetenz der Vor- und Frühgeschichte „Eurasiens“ involvierte. Im Rahmen der Expansion des Römischen Reiches hatte die griechisch-römische Zivilisation auch Mittel-, West- und Nordeuropa tangiert. Als potentielle Archäologie der römischen Provinzen besaß die Klassische Archäologie daher ein Untersuchungsgebiet auch auf deutschem Territorium. Die Provinzialrömische Archäologie stellte einen besonders weiten Überschneidungsbereich zwischen Klassischer und prähistorisch dominierter deutscher Landesarchäologie dar. Der Darstellung dieses Bereichs ist ein eigener Gliederungspunkt vorbehalten (s.u.). Zu Beginn der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts war das Verhältnis zwischen Klassischer und Prähistorischer Archäologie von folgenden Faktoren bestimmt: erheblichen methodischen Diskrepanzen bei zunehmenden Berührungsflächen in den Gegenstandsbereichen, einem eklatanten Gefälle in der akademischen Repräsentation zuungunsten der Prähistori-
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ker sowie einer unterentwickelten Diskussionskultur zwischen den Disziplinen.23 Da das ideologische Amalgam des Nationalsozialismus nicht zuletzt ein Geschichtsbild transportierte, waren auch die Geschichtswissenschaften zu einer Positionierung aufgefordert. Der Prähistorischen Archäologie mit ihrem engen Bezug zur Nationalgeschichte eröffnete sich die Option einer engen – und möglicherweise profitablen – Allianz. Diese Allianz hat sich weitgehend realisiert.24 Sie äußerte sich materiell in einer beträchtlichen Vermehrung besonders der Universitätsstellen der Vor- und Frühgeschichte, ideell in der Angleichung fachlicher Aussagen an die Vorgaben der völkisch-rassistischen Ideologie. Vor diesem Hintergrund wird die Relation zwischen Klassischer Archäologie und Nationalsozialismus auch durch die Beziehung der archäologischen Disziplinen untereinander erhellt. Erfolgte die Bevorzugung der Prähistorischen Archäologie auf Kosten der Klassischen? Und fanden bestimmte Denkmodelle der Prähistoriker verstärkt Eingang in die Arbeitsroutinen der Klassischen Archäologen? Während die erste Frage verneint werden kann (s.u. Universität; Archäologisches Institut des Deutschen Reiches), hat sich die robuste Position der Vor- und Frühgeschichte inhaltlich in zweifacher Weise auf die Klassische Archäologie ausgewirkt: Sie stellte a) ein ideologisch anschlußfähiges Modell für archäologische Interpretationen im Bereich der mittelmeerischen Frühgeschichte sowie der Spätantike zur Verfügung und verstärkte den Druck auf die Wissenschaftler der klassischen Antike, den nationalgeschichtlichen Bezug ihrer Forschungen zu aktualisieren. Die Archäologie des 19. Jahrhunderts revolutionierte die Vorstellungen historischer Zeit und die neuen Zeitvorstellungen revolutionierten die Archäologie. Die Prähistorische Archäologie weitete den Einblick in die Menschheitsgeschichte weit über die untere Zeitgrenze religiöser und anderer Ursprungs- und Anfangserzählungen hinaus aus und periodisierte die langen Zeitspannen mit Hilfe von Stratifikationen und Typologien. Die Klassische Archäologie emanzipierte sich von den Chronologien der griechisch-römischen Überlieferung und entwickelte Verfahren einer unabhängig-archäologischen, nach morphologisch-stilistischen Merkmalen vorgenommenen Datierung. Das Verhältnis von Archäologie und Zeit hatte feste Konturen angenommen, bevor auch der Relation von Archäologie und Raum ein übergreifender konzeptioneller Rahmen zuwuchs. Naheliegenderweise kam der Anstoß dazu aus der Prähistorischen Archäologie. Die räumliche Verteilung bestimmter Merkmale der ‚Sachkultur‘ sowie ihr kartierender Nachvollzug boten sich als Instrumente der Ordnung und Interpretation für eine Wissenschaft an, deren Materialfülle nicht mit aus der Überlieferung vertrauten historischen Akteuren in Verbindung gebracht werden konnte. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde es zunehmend üblich, die räumliche Verteilung bestimmter archäologischer Merkmale oder deren Konstellationen als „archäologische Kultur“ mit der Verteilung bzw. Ausbreitung zugehöriger ethnischer Gruppen gleichzusetzen. Bis in die Zeit des Nationalsozialismus hinein (und darüber hinaus) kann dieses Konzept auf internationaler Ebene als gedankliches Allgemeingut der Prähistorischen Archäologie betrachtet werden.25 Inwieweit die ethnische Deutung der Archäologischen Kulturen rassegeschichtlich aktualisiert werden 23 24 25
Zum Nachholbedarf der Vorgeschichte in den 20er Jahren: Gunter Schöbel, Hans Reinerth. Forscher – NS-Funktionär – Museumsleiter, in: Prähistorie und Nationalsozialismus (wie Anm. 3) 329f. Henning Haßmann, Archaeology in the ‚Third Reich‘, in: Archaeology, ideology and society. The German experience, hg. von Heinrich Härke, Frankfurt/M. u.a. 2000, 65-139. Stefan Burmeister, Die ethnische Deutung in der Urgeschichtsforschung: Zum Stand der Diskussion, Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 41 (2000) 581-595; Claudia Theune, Forschungen zur Ethnizität der Alamannen im 19. und 20. Jahrhundert, Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 42 (2001) 393-399; Thomas Heine Nielsen, Arkadia and its poleis in the archaic and classical periods, Göttingen 2002, 48-52; Sebastian Brather, Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen, Berlin u.a. 2004, 59-76. 580-592.
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dürfe, wurde allerdings kontrovers diskutiert. Gustaf Kossinna als Exponent einer prononciert aktualistischen Sicht vertrat eine nationalistisch-politisierende Richtung innerhalb der deutschen Prähistorischen Archäologie, die zunächst auf erhebliche Reserve stieß, unter dem Nationalsozialismus jedoch die offiziell unterstützte Meinungsführerschaft antrat.26 Für die Klassische Archäologie bot sich die Übernahme des Konzepts der archäologischen Kultur für ihre Beschäftigung mit der Vor- und Frühgeschichte auf der Balkan- sowie der italischen Halbinsel und der Spät- bzw. frühen Nachantike an. Den Problemen der Prähistorischen Archäologie analog konnte das Fundmaterial aus diesen Perioden (meist) nicht nach den Kategorien gelesen werden, die wie in der klassischen Antike zeitgenössische schriftliche Selbstaussagen zur Verfügung gestellt hätten. Das Denkmodell der Archäologischen Kultur gestattete die ersatzweise Bevölkerung jener schriftlosen Epochen auf dem Wege der archäologischen Spekulation. Zur konkreten Benennung der postulierten ethnischen Akteure leistete ein weiteres historisch-archäologisches Konstrukt den entscheidenden Beitrag. Eine linguistische Theorie des 19. Jahrhunderts hatte aus sprachkomparatistischen Beobachtungen die Existenz einer „indogermanischen“ Ursprache gefolgert.27 Bis zum frühen 20. Jahrhundert war ein erschlossenes ethnisches Analogon, die Indogermanen, denen Griechen und Italiker historischer Zeit zugerechnet wurden, zu einer festen Größe der mediterranen Frühgeschichte avanciert. Die Klassische Archäologie hat sich intensiv daran beteiligt, aus der Beobachtung von Sachkultur die Bewegungen migrierender Indogermanen nachzuzeichnen. Die pseudowissenschaftliche Gleichsetzung von Indogermanen, Germanen und letztlich auch Deutschen eröffnete die Möglichkeit, der griechisch-römischen wie der deutschen Geschichte ein identisches ‚völkisches‘ Substrat zu unterstellen. Das Interesse der Klassischen Archäologie für die Frühzeit erreichte im Dritten Reich eine zuvor und danach nicht gekannte Intensität. Das galt nicht nur für den ägäischen Raum, der immerhin mit Symbolen – und steinernen Relikten – einer archäologischen Erfolgsgeschichte wie Troia, Mykene und Knossos besetzt war, sondern auch für die italische Halbinsel, dessen Frühgeschichte weder durch schriftliche Quellen beleuchtet noch durch vergleichbar prominente archäologische Plätze repräsentiert wurde. Entsprechend entwikkelte sich in den 30er und 40er Jahren in der deutschen Klassischen Archäologie eine Frühgeschichtsforschung des Mittelmeerraums um Forscher wie Guido Kaschnitz von Weinberg, Friedrich Matz, Emil Kunze, Franz Messerschmidt, Joseph Wiesner und Siegfried Fuchs. Besonders Kaschnitz und Matz waren über einen neuen kunstgeschichtlichen Ansatz zu einer bevorzugten Behandlung der Frühgeschichte gelangt (s.u. Kunstgeschichte). Ein abstrakter Raumbegriff mit ethnozentrischen Tendenzen erwies sich in seinem parallelen Auftreten in Kunstgeschichte und Prähistorie somit als ein grundlegendes zeitgenössisches Denkmodell. Das Raummodell eröffnete der Prähistorischen Archäologie einen Weg, sich mit archäologischen Aussagen den Interessen nationalgeschichtlicher, nationalistischer oder rassistischer Geschichtsschreibung unterzuordnen. Demgegenüber konnte die Klassische Archäologie mit ihren zentralen Arbeitsgebieten als an den Diskursen um Nation, später um Rasse unbeteiligt erscheinen. Schon ein flüchtiger Blick in das 19. Jahrhundert lehrt jedoch, daß auch die Klassische Archäologie seit Beginn ihrer disziplinären Etablierung nicht ohne einen konkreten Nationalbezug vorzustellen ist. Da die griechisch-römische Antike den Rang einer von zwei idealen Vergangenheiten der Deutschen, der klassischen und der „nordischen“, einnahm, dienten auch die Anwälte der Antike aus nationaler Perspekti26 27
Ulrich Veit, Gustaf Kossinna and his concept of a national archaeology, in: Archaeology, ideology and society (wie Anm. 24) 40-64. Brather (wie Anm. 25) 593-601.
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ve einer ureigenen Sache. Für die nationale Unterscheidbarkeit angesichts des gesamteuropäischen Rückbezugs auf die Antike sorgte die Konstruktion einer besonderen Affinität zwischen Deutschen und antiken Griechen. Diese Affinität äußerte sich in zwei Varianten: Nach einer weiter zurückreichenden Auffassung besaß die Erforschung der antiken griechischen Kultur in der deutschen Wissenschaft eine besonders geeignete Sachwalterin. Deren Eignung beruhte auf einer mit Johann Joachim Winckelmann einsetzenden ununterbrochenen Tradition des besonders intensiven Studiums, ja geradezu einer Anverwandlung der griechischen Antike. Diese Tradition hatte Intimität wie Qualität erzeugt und damit ein deutsches Privileg des Umgangs und der Nähe mit der Antike begründet. Die Alternative beschrieb Griechen und Deutsche als Völker mit einer übereinstimmenden kulturellen Leistungsbefähigung. Der zum Rassismus radikalisierte Nationalismus unterstellte der ‚inneren‘ Verwandtschaft auch biologisch-völkische Nähe. In dieser Konstellation verblieben Griechen und Germanen in der Phase der extremen rassistischen Hierarchisierung gemeinsam an der Spitze einer Rassenpyramide. Klassische Archäologen haben auf diesem Modell gezielt Legitimationsstrategien aufgebaut, wobei die semantische Balance zwischen der historischen und der biologischen Spielart möglicherweise bewußt verschleiert wurde.28 Klassische Archäologie und Archäologie der Römischen Provinzen Frühes Interesse für die materiellen Hinterlassenschaften der römischen Provinzialherrschaft im späteren Deutschland ist eng mit dem Beginn archäologischer Forschung hierzulande überhaupt verbunden.29 Nördlich der Alpen zeichneten sich die Überreste von Siedlungen oder Befestigungsanlagen der römischen Kaiserzeit oft mit höherer Sichtbarkeit als solche älterer, aber auch jüngerer historischer Perioden ab, da sie in der Regel in beständigerem Material, vor allem Stein oder opus caementicium, errichtet worden waren. Die Aufmerksamkeit für diese Denkmäler wurde zudem durch die Möglichkeit erhöht, auch literarische oder epigraphische Texte aus ihrer Entstehungszeit in das Studium einbeziehen zu können, etwa die Schriften des Tacitus. So umschloß die Forschung deutscher Humanisten auch das Studium der ‚Archäologie‘ der Römerzeit, das sich als Sammeln, Beschreiben, Edieren, gelegentlich bereits Ausgraben entfaltete. 28
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Walter Herwig Schuchhardt, Die Kunst der Griechen, Berlin 1940, 7f.: Gerade im deutschen Volk sei „eine tief eingeborene Sehnsucht verwurzelt […] nach dem, was als wesentlich und unzerstörbar von der Antike geschaffen wurde.“ – „[Dadurch] enstand [bei den Deutschen] jenes selbstverständliche Erbgut an Gedanken und Vorstellungen griechischer Herkunft.“ – „Geboren ist dieser Drang aus dem Urgrund tiefer Verwandtschaft mit griechischem Geist und Volkstum.“ – Bernhard Schweitzer, Die griechische Kunst und die Gegenwart, Die Antike 13 (1937) 97-117: „Wir blicken [...] auf das Wesen des Deutschen überhaupt, in dessen Tiefe eine rätselvolle, allzeit bereite Möglichkeit des Verstehens der griechischen Welt ruht. [...] So tief war der Zusammenklang mit dem Griechentum, so leidenschaftlich die Berührung, so eindringlich die Prägung des deutschen Wesens durch die Auseinandersetzung mit dem Fernen und doch so Urverwandten, daß sich durch dieses besondere Verhältnis zur gemeinsamen antiken Vergangenheit, durch dieses Zurückgehen auf die Griechen nicht am wenigsten der deutsche Nationalcharakter von dem der westlichen, mehr in romanischer Tradition aufgewachsenen Völker unterscheidet. Aber nicht erst die letzten Jahrhunderte haben diese Nähe zum Griechentum und seiner Kunst geschaffen. Sie ist mit dem Deutschen geboren.“ (103) – „Diese Nähe zu griechischer Gestalt und Weltschau liegt nicht an der Oberfläche des deutschen Wesens. Sie ruht in seinen tiefsten Schichten.“ (105); „Durch die Jahrhunderte der europäischen Geschichte zieht sich eine allgemeine Übereinstimmung des Schönfindens hindurch, die letzten Endes ihren Ursprung bei den Griechen, ihren Grund in der Verwandtschaft der indogermanischen Rassen und ihrer Gleichgestimmtheit hat.“ (109). Zur Geschichte der archäologischen Römerforschung in Deutschland: Jürgen Obmann, Forschungsgeschichte, in: Die römischen Provinzen. Eine Einführung in ihre Archäologie, hg. von Thomas Fischer, Stuttgart 2001, 16-20; Tilmann Bechert, Römische Archäologie in Deutschland. Geschichte. Denkmäler. Museen, Stuttgart 2003, 37-105 (72-74: Nationalsozialismus).
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Von den Städten und Gemeinden des Reiches wiesen einige, darunter bedeutende wie Köln oder Mainz, ein römisches Gründungsdatum auf, worauf die Lokalgeschichten mit Stolz verwiesen. Ein langer Traditionsstrom band die archäologische Beschäftigung mit der Römerzeit bereits an die Heimatgeschichte, als sich im 19. Jahrhundert das in Geschichtsvereinen organisierte Bürgertum als neue soziale Trägerschicht auch der Archäologie annahm. Die interessierte Pflege und Erforschung der Archäologie der Römerzeit in Deutschland hielt auch im Wilhelminischen Kaiserreich unter den Bedingungen einer immer schärferen Ausformulierung einer auf einem autochthonen Fundament ruhenden Nationalgeschichte an. Schließlich konnte auch der Wilhelminismus nicht auf das imperium romanum als eines Exempels für zeitgenössische imperiale Macht und Repräsentation, die historistische Wissenschaft nicht auf den Gegenstand Rom als einer unleugbar grundlegenden Etappe der (vor)europäischen Geschichte verzichten. Gegen diese gefestigt erscheinende Tradition waren Ultranationalismus und die bereits genannten standespolitischen Rivalitäten zwischen Klassischer und Prähistorischer Archäologie imstande, Archäologie der römischen Provinzen in Deutschland in eine konzeptionelle Sackgasse zu manövrieren. Der aktualistische Vergangenheitsgebrauch des Nationalismus polarisierte zwischen dem ‚Eigenen‘ einer deutschen und dem ‚Fremden‘ einer römischen Geschichte, deren historische Begegnung unter diesen Prämissen nicht als beidseitige Beeinflussung im Kontakt, sondern nur als prinzipielle Konfrontation und wechselnde Dominanz der einen Seite über die andere gedacht werden konnte. Ein deutscher Archäologe, dessen Identität durch das aktualistische Vergangenheitsparadigma mitbestimmt wurde, positionierte sich dementsprechend selber gegenüber dem Forschungsgegenstand Provinzialrömische Archäologie als einem ‚fremden‘ Sujet. Wie tief dieser Identifikationsprozeß auch in das Selbstverständnis ‚gemäßigter‘ Archäologen verschiedener Ausrichtung eingewirkt haben konnte, zeigen zwei tendenziell übereinstimmende Äußerungen eines Klassischen Archäologen und eines Prähistorikers. Gerhart Rodenwaldt begründete seine Graecophilie auch mit deutschen Ressentiments angesichts einer über anderthalb Jahrtausende zurückliegenden römischen Präsenz im antiken Germanien30 und Carl Schuchhardt trennte die Beschäftigung mit der römischen Provinzialherrschaft in Mitteleuropa von einer eigentlichen Vorgeschichte Deutschlands ab.31 Auf die Schärfe einer möglichen standespolitischen Auseinandersetzung verwies die Kampfansage des NS-Prähistorikers Hans Reinerth im Frühjahr 1933, der gegen die provinzialrömische Forschung als überrepräsentiert polemisierte.32 Für die Spezialisten der 30
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Gerhart Rodenwaldt, Kunst um Augustus, 2. Auflage Berlin 1943, 7: „Für den Römer der Epoche Mussolinis ist das Verhältnis zur Kunst des Augustus wie zur römischen Kunst kein Problem. Die großen Werke seiner nationalen Vergangenheit sind aus dem Schlummer, den sie auf der Insel einer zona archeologica träumten, befreit und mitten in den starken Strom des modernen Lebens hineingestellt worden. Sie haben einen neuen Sinn und Zweck erhalten. In uns rufen die Römerbauten auf deutschem Boden die Erinnerung an Kampf und Fremdherrschaft wach. Der Begriff Rom ist für uns mit Erinnerungen belastet, deren politische Bedeutung uns nicht immer leicht den Zugang zu den ewigen Werten Roms finden läßt. Dagegen liegt das Griechentum für uns in einer Sphäre, die jenseits der Parteien Haß und Gunst ist. [...] Homer wird uns stets mehr bedeuten als Vergil, die Akropolis mehr als das Forum Romanum, die Skulpturen von Olympia mehr als römische Historienbilder.“ Carl Schuchhardt, Vorgeschichte von Deutschland, München u.a. 1928, 227 (wortgleich 5. Auflage München u.a. 1943, 246): „Das Auftreten und Verfahren der Römer in Deutschland interessiert uns hier weniger vom römischen als vom germanischen Standpunkte aus: die Einzelheiten der römischen Vorbereitungen, ihrer Lagerbauten, Bewaffnung, ihres Marschierens und Schlagens sind Sachen der römischen Geschichte und Archäologie, die germanische fragt, welche Aufklärung wir aus diesen ganzen Unternehmungen über unser Land erhalten, über die Verteilung der Völkerschaften, ihre Wohn- und Lebensweise, das Erwachen der Kräfte zur Abwehr der unerhörten neuen Gefahr.“ Hans Reinerth, Vorgeschichte, Württembergische Hochschulzeitung 1.5.1933, 3: „Seit 100 Jahren geht der Kampf um die deutsche Vorgeschichte. Jeder Säulenstumpf, jeder Römerziegel, jedes noch so bescheidene Zeugnis fremder Kultur auf unserem Boden ist umhegt und umsorgt und in dicken Büchern beschrieben worden. [...] Wir werden uns entschließen müssen, die bis zum Ueberdruß durchforschte
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Provinzialrömischen Archäologie gelangte das Etikett „Römlinge“ in Umlauf, dessen Perfidie auf seinem langen Vorleben als einem anti-papistischen Kampfbegriff der Reformationszeit, einem anti-katholischen Schmähwort der protestantischen Aufklärung und Gegnerschelte im Bismarckschen Kirchenkampf beruhte. Vergangenheit und Gegenwart in einem Freud-Feind-Schema parallelisiert, bot sich für die Provinzialrömische Archäologie die Gelegenheit, analog zur Germanen-SlawenAntithese einen Germanen-Römer-Gegensatz aufzumachen und territoriale Ansprüche in der Gegenwart mit historisierenden Argumenten zu rechtfertigen. An derartigen flankierenden Maßnahmen auf außerwissenschaftlichem Schauplatz beteiligte sich z.B. Harald Koethe vom Landesmuseum Trier (später Professor für „Westeuropäische Archäologie“ in Straßburg), der 1940 dem interessierten Laien in einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift zur Geschichte des Rheinlandes erklärte, schon der Germane Ariovist habe zu Caesars Zeiten „das Elsaß“ besessen. Die spätere römische Grenzorganisation habe im Übrigen der alliierten Rheinlandbesetzung nach dem Ersten Weltkrieg geglichen.33 Ebenfalls von Wissenschaftlerseite autorisiert erhielt das Publikum die Nachbarschaft von ‚Germanen‘, ‚Galliern‘ und ‚Romanen‘ als eine permanente Gegnerschaft kontinuierlich für sich abgeschlossener ethnischer Entitäten vorgeführt.34 Ebenfalls durch Harald Koethe wurde die Germanen-Römer-Antithese auch rassistisch konfiguriert.35 Eine konsistente Wissenschafts- oder Denkmalspolitik für die Provinzialrömische Archäologie ergab sich in der NS-Zeit nicht, vielmehr realisierte sich nicht zuletzt auf diesem
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provinzialrömische Fremdkultur endlich ruhen zu lassen und alle verfügbaren Kräfte und Mittel der Erschließung unserer arteigenen Vorzeit zuzuwenden.“ Harald Koethe, Die Bedeutung der Rheinlande für das römische Reich, Rheinische Vorzeit in Wort und Bild 3 (1940) 22. 26. Friedrich Garscha, Die Oberrheinische Ur- und Frühgeschichte auf der Ausstellung „Deutsche Größe – 2000 Jahre Kampf am Rhein“ in Straßburg, Nachrichtenblatt für Deutsche Vorzeit 19 (1943) 9: „Vorgeschichte des 2000jährigen Kampfes germanischer und deutscher Stämme gegen seine gallorömischen und romanischen Nachbarn im Westen von Ariovist bis in die Gegenwart“. Harald Koethe, Beiträge zur Darstellung von Germanen, Germania 21 (1937) 251: „Die beiden Trierer Greisenköpfe zeigen das gleiche gewöhnliche und stumpfnasige Gesicht, das zu Anfang des dritten Jahrhunderts in der Trierer Plastik allgemein aufkommt und wohl zum erstenmal auf dem linken Seitenbild des Neumagener Elternpaarpfeilers begegnet. Es spricht von einer rassischen Verschlechterung, die den Niedergang der gallischen Provinzialkultur begleitet und schließlich sogar in den Zügen eines gallischen Kaisers, des Postumus (258-267 n.Chr.), in Ansätzen sichtbar wird.“ – ders., Einheimische Kultur im Rheinland zur Römerzeit, Rheinische Vorzeit in Wort und Bild 1 (1938) 52f.: „Die geschichtliche Tatsache der mehrhundertjährigen Besetzung des Rheinlandes durch die Römer hat vielfach die völlig abwegige Meinung aufkommen lassen, als habe dieser Zustand ganz natürlich eine weitgehende ‚Verrömerung‘ (Romanisierung) der bodenständigen Bevölkerung im völkischen Sinn im Gefolge gehabt. So drohend an sich die Gefahr einer langsamen rassischen Zersetzung durch die Zuführung fremden Blutes auch war, so ist sie im Letzten von den Römern selbst gebannt worden durch die wiederholte Umsiedlung rechtsrheinischer Germanenstämme auf das linke Rheinufer mit dem Erfolg, daß das platte Land in seiner volklichen Zusammensetzung nahezu völlig unberührt blieb. Ungünstiger lagen natürlich die Verhältnisse in den Städten und Garnisonplätzen […], und es kann nicht wundernehmen, daß sich in ihnen alle Rassen und Völker des römischen Weltreiches ein Stelldichein gaben, darunter auch die unvermeidlichen Juden, Syrer und andere Orientalen. Zwei bedeutsame Momente aber dürfen auch hier nicht außer acht gelassen werden, soll nicht ein schiefes Bild entstehen: einmal ist es in keiner Weise angängig, in dieser Stadtbevölkerung nur jenen Großstadtabschaum zu sehen, der nun einmal eine unvermeidbare Begleiterscheinung der Zusammenballung großer Menschenmassen in den Städten darstellt – finden wir doch gerade auf Trierer Denkmälern in überwiegender Zahl eindeutig nordisch bestimmte Erscheinungen […]; sodann muß die ständige fortschreitende Durchdringung des römischen Heeres mit Germanen aller Stämme […] im Auge behalten werden. Zusammenfassend bleibt eindeutig festzustellen, daß nennenswerte Ströme fremden Blutes durch die Römer nicht in das Rheinland gelangt sind, und daß infolgedessen die große fränkische Landnahme des 5. Jahrhunderts n.d.Ztr. nach Austilgung und Vertreibung der Reste der Römerherrschaft sogleich den natürlichen Anschluß an das bodenständige Volkstum fand.“ – Zu Koethe siehe Frank Unruh, „Einsatzbereit und opferwillig“. Drei Wissenschaftler des Rheinischen Landesmuseums Trier im Dienst in den besetzten Westgebieten (Wolfgang Dehn, Wolfgang Kimmig, Harald Koethe), in: Propaganda. Macht. Geschichte. Archäologie an Rhein und Mosel im Dienst des Nationalsozialismus, hg. von Hans-Peter Kuhnen, Trier 2002, 182-188. 291, besonders 186f.
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Gebiet das für viele Funktionsbereiche des Regimes charakteristische Konzeptions- und Kompetenzchaos. Tendenziell geriet die Provinzialrömische Archäologie unter Rechtfertigungszwang, personelle und Sachmittel wurden gekürzt.36 An einzelnen Orten konnten konkurrierende Strategien in polemische Kontroversen um pro-germanische oder prorömische Archäologie münden, wie es im Einzelnen für Xanten dokumentiert ist.37 Prinzipiell aber rissen Erforschung und Pflege der römischen materiellen Kultur in Deutschland nicht ab. Anfang der 40er Jahre etwa wurde zur Schonung der großen römischen Villa von Wittlich bei Trier sogar der Trassenverlauf einer Autobahn geändert.38 Konzeptionelle Blockaden waren unausweichlich. Der notwendige inhaltliche und methodische Austausch zwischen Klassischer und Provinzialrömischer Archäologie, deren Abgrenzung gegeneinander unsystematisch ist, konnte nicht gedeihen. Das betrifft auch das Feld der Grabungsarchäologie, auf dem die Provinzialrömische Archäologie etwa mit ihren Verfahren zur Feststellung ehemaliger Holzkonstruktionen einen innovativen Beitrag zur Ausbildung der stratigraphischen Grabung geleistet hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich Klassische Archäologie und Archäologie der römischen Provinzen in Deutschland mit der Gründung eigener Institute für letztere auseinander.39 Kunstgeschichte Deutsche Kunstwissenschaft und Klassische Archäologie im früheren 20. Jahrhundert waren durch den Versuch gekennzeichnet, Kunstanalyse auf Kategorien aufzubauen, die den bis dahin bevorzugt abgefragten chronologischen, stilistischen oder ästhetischen Positionen fundamental unterlagen. Diese Ansätze waren nicht zuletzt durch zeitliche und räumliche Entgrenzungen gekennzeichnet.40 In der Klassischen Archäologie äußerten sich die methodischen Weiterungen in einem betont komparatistischen Vorgehen sowie dem bevorzugten Einbezug ‚früher‘ und ‚später‘ Epochen. Besonders die Frühgeschichte war auch kunstgeschichtlich gesehen anonym. Anstelle der künstlerischen Persönlichkeit (des „Meisters“) verlangte sie nach einem alternativen Ordnungskriterium, das z.B. in der „Landschaft“, einem kulturmorphologischen Gebilde auf ethnischer Grundlage, gesehen wurde. Auf diese Weise schloß sich in der archäologischen Kunstgeschichte das differenziert motivierte Interesse an früher (ursprünglicher, 36 37
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Ein Beispiel: Dietwulf Baatz, Limesforschung zwischen den Weltkriegen. Ein forschungsgeschichtlicher Überblick, in: Prähistorie und Nationalsozialismus (wie Anm. 3) 227-233. Stefan Kraus, Geschichte, Mythos und Politik. Xantener archäologische Forschung im Interessensstreit der NS-Zeit, Xantener Berichte. Grabung, Forschung, Präsentation 5 (1994) 267-286. – Weitere Beispiele für kompensierende ‚pro-germanische‘ Projekte: Haßmann (wie Anm. 24) 94f. – Die Absurdität mancher Debatte wird durch die Polemik um die sog. Cugerner-Siedlung in Xanten illustriert, die die Ausgräber als Ausweis einer germanenfreundlichen Umorientierung der Grabungspolitik gewertet wissen wollten, ein Angebot, das Parteihardliner jedoch als zu wenig repräsentativ und daher nicht germanenwürdig ablehnten: Anonym, Römisches, Allzurömisches, Nationalsozialistische Monatshefte 6 (1935) 940f. – Vgl. den Wissenschaftsschauplatz Rheinisches Landesmuseum Bonn: Heidi GansohrMeinel, Vom „Gelehrtenmuseum“ zum „Volksmuseum“ – Zum Wandel der Vermittlung im Rheinischen Landesmuseum Bonn, Teil 2, Das Rheinische Landesmuseum Bonn (2002) Heft 1, 1-8; Teil 3, ebd. (2002) Heft 2, 25-32. Ludwig Hussong, Die große Villa bei Wittlich, Rheinische Vorzeit in Wort und Bild 4 (1941) 55-62. Hans Ulrich Nuber, Provinzialrömische Archäologie an deutschen Universitäten, in: Provinzialrömische Forschungen. Festschrift Günter Ulbert, hg. von Wolfgang Czysz u.a., Espelkamp 1995, 397-406; Rudolf Fellmann, Die Archäologie der römischen Provinzen, in: Einleitung in die lateinische Philologie, hg. von Fritz Graf, Stuttgart 1997, 655-669; Helmut Bender u.a., Archäologie der römischen Provinzen / Provinzialrömische Archäologie an deutschen Universitäten, Archäologisches Nachrichtenblatt 5 (2000) 312-321. Carolin Meister, Documents. Zur archäologischen Aktivität des Surrealismus, in: Die Aktualität des Archäologischen in Wissenschaft, Medien und Künsten, hg. von Knut Ebeling, Stefan Altekamp, Frankfurt a.M. 2004, 283-305, besonders 286-291.
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„primitiver“) Kunst auch mit den archäologischen Kulturkreismodellen der Prähistorischen Archäologie kurz.41 Neben der Verräumlichung wird eine Tendenz zur Abstraktion für die archäologische Kunstgeschichtsschreibung bis in die 40er Jahre hinein typisch. Verstärkt wurde nach den grundsätzlichen Prinzipien hinter der Unübersichtlichkeit der äußeren Erscheinung gesucht. Zwei Modelle dominierten. Das eine, die aus Kunstwissenschaft und Philosophie inspirierte „Strukturforschung“42, für die Guido Kaschnitz von Weinberg, Friedrich Matz und Bernhard Schweitzer die entscheidenden Stichwortgeber waren, bemühte sich um ein begriffliches Instrumentarium zur kausalen Verknüpfung von Kunst mit wenigen grundsätzlichen Bildprinzipien, die letztlich mit mentalen Grunddispositionen korrespondierten. Weniger chronologisch als systematisch interessiert, kam die Strukturforschung nicht umhin, das formbildende Prinzip an einen Träger gebunden zu sehen, der, wie allgemein auch immer, ethnisch definiert wurde. Mit der Annahme zeitlich unbegrenzt in der Kunst wirkender stabiler „Konstanten“ erklärte die Strukturforschung Kunst zu einem weitgehend vorhistorisch determinierten Phänomen. Determinismus kennzeichnet auch das zweite Modell, das eine Fortschreibung des Urentwurfs einer kunstarchäologischen Entwicklungsgeschichte, der Kunstgeschichte Winckelmanns darstellte und dessen Exponent Ernst Buschor war. Hatte Winckelmann seinen Entwurf entlang eines dreistufigen Weges aus Reifung, Blüte und Verfall organisiert, erarbeitete Buschor ein kleinteiligeres Schema aus sechs formalen Entwicklungsstufen, die die Kunst unweigerlich zyklisch durchliefe. Jede einzelne dieser Stufen sei wiederum in sechs Schritte unterteilt, deren Qualitäten die der Hauptstufen wiederholten.43 Weder die Strukturforschung noch Buschors Entwicklungsmodell sind außerhalb der deutschsprachigen Wissenschaft ernsthaft rezipiert worden. Eine Ausnahme stellt die italienische Klassische Archäologie dar, aus deren Reihen vor allem Ranuccio Bianchi Bandinelli die deutsche Entwicklung intensiv und kritisch verfolgte. In mehreren Besprechungen hat Bianchi Bandinelli den von der deutschen Archäologie vertretenen ahistorischen „Fatalismus“ deutlich kritisiert und mit den deterministischen Geschichtsphilosophien Oswald Spenglers bzw. Alfred Rosenbergs in eine Linie gestellt.44 41
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Ernst Langlotz, Frühgriechische Bildhauerschulen, Nürnberg 1927, 7f.: „Aus [...] der Einheit von Stamm, Sprache, Kult und Gesetz [...] entsteht jedes Werk, es trägt die Artung des Volkes aufgeprägt, dem sein Schöpfer entstammt. Sichtbar wurde diese zuerst an den Besten und Schönsten [...]. Ihr Wesen wirkt in allem fort, was ihr Volk noch hervorbringt. Der Bildner trägt es durch die Geburt im Blut, er empfängt wie Sprache, Sitte, Gesetz, so auch die seiner Gemeinschaft eigentümliche Art, die Umwelt zu sehen und zu erleben, mitbestimmt durch den Zauber der Landschaft, in der er wohnt.“ Ranuccio Bianchi Bandinelli, La „struttura“: un tentativo di approfondimento critico, La Critica d’Arte 2 (1937) 189-192; Werner Fuchs, Rezension: Guido Kaschnitz von Weinberg, Ausgewählte Schriften, Berlin 1965, Göttingische Gelehrte Anzeigen 221 (1969) 25-41; Mathias Hofter, Die Entdeckung des Unklassischen: Guido Kaschnitz von Weinberg, in: Altertumswissenschaft in den 20er Jahren (wie Anm. 10) 247-257; ders., Stil und Struktur: Zu einer Systemtheorie der Entwicklung künstlerischer Form, Hephaistos 14 (1996) 7-28; Hans H. Wimmer, Die Strukturforschung in der Klassischen Archäologie, Bern u.a. 1997; Marcello Barbanera, Ranuccio Bianchi Bandinelli. Biografia ed epistolario di un grande archeologo, Mailand 2003, 55-58. 129-131. 145-147 Anm. 69. Ernst Buschor, Vom Sinn der griechischen Standbilder, Berlin 1942. Ranuccio Bianchi Bandinelli, Arte romana – dispiaceri in famiglia, La Critica d’Arte 2 (1937) 276-280; ders., Divergenze di metodo [Rezension zu: Buschor wie Anm. 43], La Critica d’Arte 7 (1942) Heft 3/4, Notizie e letture, XX-XXIV: „Ora, queste ‘costanti storiche’, ammesso che esistano, hanno un valore critico? Ecco quello che nessuno di questi studiosi si domanda. Che tutti i fenomeni artistici sieno riducibili a due, a quattro o a cinque categorie, non sodisfa che a un esteriore desiderio di sistematicità, a un incasellamento delle opere d’arte in modo non dissimile da quello che è il loro incasellamento cronologico […].“ (XXI); „È una nuova conferma questa [teleologia], che dall’Untergang des Abendlandes al Mythus des XX. Jahrhunderts la cultura tedesca più recente ha mostrato troppo spesso di non sapersi distaccare da una settecentesca ‘filosofia della storia’ che, come sappiamo, non è né filosofia né storia. […] Eppure nessuna cultura come quella germanica ci ha dato negli ultimi vent’anni tanti fenomeni di costruzioni fatalistiche della storia – di cui queste applicate alla storia dell’arte sono le più innocue, ma non le meno errate.“ (XXII); „Riconosceremo pertanto una volta di più nel Buschor lo stu-
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Zu „Mythen“ der Forschung zählte Bianchi Bandinelli auch den Stellenwert des Ethnos in den Modellen der deutschen Kollegen. Von den Vertretern der Strukturforschung hat besonders Friedrich Matz die ethnische Bindung der formbildenden Prinzipien betont. 45 In seiner 1974 veröffentlichten wissenschaftlichen Autobiographie hat er diese Position freimütig eingeräumt und als Irrtum benannt. Allerdings sucht er sie auf einen schmalen, 1939 erschienen und nachträglich als Auftragsarbeit bezeichneten Band zur griechischen Kunst zu verengen.46 Diese Darstellung wird der tatsächlichen wissenschaftlichen Produktion nicht gerecht. Matz hat auf einer biologistischen Sicht von „Struktur“ geradezu beharrt und auf Grundlage der Ansprache weniger elementarer „blutmäßig“ konstituierter Form- und Dekorationsprinzipien – bevorzugt der Keramik – den Verlauf epochaler Wanderungszüge, konkret eine Indogermanisierung Griechenlands und Italiens47, rekonstruieren wollen. Die der äußeren Gestalt der Artefakte zugrundeliegenden Formprinzipien blieben unverändert, das heißt konstant blieben auch ihre ethnischen Signifikate. Die biologistisch definierte „Rasse“ war damit in die Position des konstituierenden Faktors der Geschichte eingetreten.48 Dabei befand sich Matz im Einklang mit Vertretern der (Indogermanischen) Sprachwissenschaft oder der Alten Geschichte, hat aber immer wieder die Suffizienz der archäologischen Methode auf dem Weg zu seinem Arbeitsergebnis unterstrichen.49 Der empiriearme Schematismus des Matz‘schen Entwurfs irritiert, da er sich parallel zu einem hohen argumentativen, gerade methodische Absicherung verlangenden Niveau anfindet. Der Hang zum wissenschaftlich nicht mehr tragbaren und politisch unverständigen Formalismus wird überdeutlich, wenn Grundrißanalogien der römischen Kaiserfora und des Berliner „Reichssportfeldes“ von 1936 (Organisation aus einem Achsenkreuz aus Haupt- und Nebenachse) als „völkisch bedingte Stilform“ auf eine „gemeinsame indogermanische Grundlage“ zurückführt werden.50 Matz‘ Beiträge zur frühgeschichtlich ausgerichteten Strukturforschung waren Teil einer belebten Diskussion, an der neben Klassischen Archäologen besonders Indogermanische Sprachwissenschaftler, Prä- und Althistoriker beteiligt gewesen sind, und die die kunstarchäologische Forschung daher in ein weites – und ungewohntes – Beziehungsnetz stellte. Die wichtigsten Beteiligten aus der Archäologie sind bereits aus Anlaß der Besprechung des prähistorischen Raumparadigmas genannt worden. Sie haben in wenigen Jahren eine
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dioso dotato di vaste conoscenze e di fine intelligenza d’arte, che si muove da maestro nel campo della illustrazione dei singoli monumenti, al quale è venuta a mancare la esperienza storica, e che pertanto rimane impari a sè stesso ogni volta affronti problemi generali o alla cui soluzione occorra chiara visione delle categorie universali dell’estetica e della metodologia della storia. Nel quale difetto egli ci appare come schietto rappresentante dell’attuale cultura del suo paese.“ (XXIV). – Vgl. Bianchi Bandinelli, Klassische Archäologie. Eine kritische Einführung, München 1978, 152-154. Und wurde schließlich darin sogar von Fritz Schachermeyer ironisiert: Zur Indogermanisierung Griechenlands, Klio 32 (1939) 265. Friedrich Matz, Die griechische Kunst, Frankfurt a.M. 1939; ders., Archäologische Erinnerungen aus sechs Jahrzehnten (1910-1970), Marburg 1974, 67f.: „Für eine Schriftenreihe, die den Obertitel trug ‚Auf dem Wege zum nationalpolitischen Gymnasium‘, verfaßte ich eine kleine griechische Kunstgeschichte um so eher, als ich damals noch annahm, daß Formstruktur und Volkstum […] innerlich verhaftet seien. Genützt hat natürlich das Schriftchen gar nichts. Wenn es überhaupt ein Ergebnis brachte, so war es für mich die dann zunehmend sich festigende Einsicht, daß es mit dieser Art der Beziehungen zwischen künstlerischer Form und Volkstum ein Irrtum ist.“ Auf Veranlassung Kaschnitz von Weinbergs hat das AIDR/Rom schon 1935 einen größeren Bestand photographischer Aufnahmen aus prähistorischen Sammlungen Italiens erworben: Archäologischer Anzeiger (1936) IV. Vgl. Bernhard Schweitzer, Das Problem der Form in der Kunst des Altertums, in: Handbuch der Archäologie, hg. von Walter Otto, München 1939, 396-399: Form und Urheber, Rassen, Völker. z.B. Friedrich Matz, Bericht über die neuesten Forschungen zur Vor- und Frühgeschichte Italiens (1939-41), Klio 35 (1942) 299-331; ders., Griechische Vorgeschichte, in: Das neue Bild der Antike, Bd. 1: Hellas, hg. von Helmut Berve, Leipzig 1942, 13-34. Friedrich Matz, Wesen und Wirkung der augusteischen Kunst, Die Welt als Geschichte 4 (1938) 215f.
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beträchtliche publizistische Aktivität entfaltet.51 Friedrich Matz hat den prekären Ansatz mit seiner methodologisch orientierten Argumentation (so weit dieser es vertrug) stabilisiert, in der ideologisierenden Auswertung jedoch Zurückhaltung bewahrt.52 Zum Rassismus steigerte sich das Rassenmodell durch einen doppelten Prozeß der Identifikation des Deutschen mit dem (Indo)Germanischen und mit dem Griechischen. Die Perspektive der Betrachtung formaler Prozesse wandelte sich zu einer Beteiligtenperspektive, indem sie das Indogermanische bzw. das Griechische unter der wertenden Frage nach seiner Durchsetzung bzw. Behauptung thematisierte.53 In dem vorausgesetzten Modell ‚nordischer‘ Einwanderung in die südliche Balkanhalbinsel setzte sich die Qualität von Einwanderern/Invasoren in einer eroberten Welt gegen Tendenzen, die ihre Homogenität und ihre Kraft zu zersetzen drohten, durch. Der Selbsterhöhung entsprach nicht nur eine Abwertung des ‚Anderen‘, sondern auch der idealisierende Rückübertrag einer faktisch verbrecherischen Praxis der Gegenwart in die Vergangenheit.54 Nach dem Krieg hat sich die gesamtmediterrane Perspektive des frühgeschichtlichen Themenschwerpunkts aufgelöst. Für den östlichen Mittelmeerraum erschien seit 1967 die interdisziplinäre Schriftenreihe Archaeologia Homerica55, die ohne der Vorlauf der Frühgeschichtsforschung der 30er und 40er Jahre nicht denkbar ist. Ethnozentrismus hatte Friedrich Matz dezidiert als eine Errungenschaft der neueren deutschen Forschung bezeichnet und gegen die skeptische italienische Forschung verteidigt.56 Kaschnitz von Weinberg beharrte gegenüber Bianchi Bandinelli auf dem determi51
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u.a. Emil Kunze, Orchomenos 2. Die neolithische Keramik, München 1931; ders., Orchomenos 3. Die Keramik der frühen Bronzezeit, München 1934; Franz Messerschmidt, Bronzezeit und frühe Eisenzeit in Italien. Pfahlbau, Terramare, Villanova, Berlin u.a. 1935; Siegfried Fuchs, Die griechischen Fundgruppen der frühen Bronzezeit und ihre auswärtigen Beziehungen. Ein Beitrag zur Frage der Indogermanisierung Griechenlands, Berlin 1937; Friedrich von Duhn, Italische Gräberkunde 2. Teil, nach dem Tode Friedrich von Duhns abgeschlossen, umgearbeitet und ergänzt von Franz Messerschmidt, Heidelberg 1939; Franz Messerschmidt, Neuerscheinungen zur italienischen Vorgeschichte (1939 bis 41), Prähistorische Zeitschrift 32/33 (1941/42) 381-401: „Uns Deutsche interessiert letztlich das Maß und die Ansetzung des Zeitpunktes des Eindringens nordischer Elemente, bei deren Ansetzung Friedrich Matz nach unserer Meinung allzu vorsichtig gewesen ist.“ (381); Joseph Wiesner, Vor- und Frühzeit der Mittelmeerländer, Berlin 1943. Man vergleiche Matz‘ kleine griechische Kunstgeschichte von 1939 (wie Anm. 46) etwa mit dem „Kriegsvortrag“ des Bonner Altphilologen Hans Herter, Die Einwanderung der Griechen, Bonn 1941 (auf den sich Matz, Bericht (wie Anm. 49) 305 allerdings beruft). Das der ethnischen Gruppe der Indogermanen zugewiesene Strukturkriterium des „Tektonischen“ war im übrigen eindeutig positiv konnotiert: Adolf Heinrich Borbein, Tektonik. Zur Geschichte eines Begriffs der Archäologie, Archiv für Begriffsgeschichte 26 (1982) 69. z.B. Reinhard Herbig, Philister und Dorier, Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 55 (1940) 58-89: die Philister sind eine „dünne Herrenschicht“, „Indogermanen, fremdrassig in der semitischen Umgebung“ (64); „Offenbar stehen wir vor dem Schauspiel des Aufgesogenwerdens einer abgesprengten Volksgruppe rassisch hochwertiger Art unter dem Einfluß eines ihr nicht gemäßen Klimas, welches sie zur Widerstandslosigkeit brachte und ihr Aufgehen in der geringerwertigen Umgebung auch mangels weiteren Nachschubs und neuer Blutzufuhr herbeiführte.“ (64); – Joseph Wiesner, Die Bedeutung des Ostraums für die Antike, Neue Jahrbücher für Antike und Deutsche Bildung 117 (1942) 257-269: „Wir wissen heute, daß die Wurzeln zahlreicher Erscheinungen der geschichtlichen Zeit in jene Perioden zurückreichen, da die späteren Hellenen und Italiker als Fremde in die Mittelmeerländer eingetreten sind und sich im Ringen mit bodenständigem Volkstum und vorderasiatischen Zuströmen auf allen Gebieten des Daseins behaupten mußten. [...] Wie im Gesamtbereich der indogermanischen Ausbreitung so ist auch im Mittelmeer die indogermanische Neuschöpfung einheimischen Fremdgutes ein Spiegel der Stärke in der Auseinandersetzung mit den nichtindogermanischen Kräften. Man erweist der Indogermanenforschung einen schlechten Dienst, versucht man die Altkräfte in ihrer Bedeutung abzuschwächen oder ihre Gegenwirkung zu verringern.“ (257 Archaeologia Homerica. Die Denkmäler und das frühgriechische Epos. Begründet von Friedrich Matz und Hans-Günter Buchholz. Herausgegeben im Auftrag des Deutschen Archäologischen Instituts, Göttingen 1967ff. Reinhold Bichler, Nachklassik und Hellenismus im Geschichtsbild der NS-Zeit. Ein Essay zur Methodengeschichte der Kunstarchäologie, in: Posthumanistische Klassische Archäologie. Historizität und Wissenschaftlichkeit von Interessen und Methoden. Kolloquium Berlin 1999, hg. von Stefan Altekamp,
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nistischen Struktur-Konzept und bezog dabei die Position, daß „nordische“ bzw. „mediterrane“ Abkunft es wahrscheinlich vorbestimmten, die Wirksamkeit der Struktur in der Kunst wahrnehmen zu wollen oder nicht.57 Mit der Argumentation zugunsten einer biologischen Disposition zur besseren Erkenntnis des biologistischen Geschichtsmodells hatte die betreffende Richtung der deutschen Archäologie einen letzten Schritt hin zur methodischen Immunisierung und Isolierung getan.58 Nach dem Krieg hat sich Kaschnitz von der ethnischen Interpretation von Struktur im Allgemeinen und von Matz im Besonderen zu distanzieren bemüht.59 Das Postulat des Sonderstatus der deutschen Wissenschaft fand in der Graecophilie seinen stärksten Ausdruck. Deren Heroen Winckelmann, Goethe und Hölderlin hatten nie den Fuß nach Griechenland gesetzt, aber das Wesen des Griechischen erspürt und für die im Klassizismus erneuerte deutsche Tradition fruchtbar gemacht. Autopsie, Präsenz im Süden, materielle Aneignungsakte in Original oder Abguß sowie wachsende Bibliotheken als Ausweis wissenschaftlicher Leistung konkretisierten und verstetigten die Beziehung. Mit der Verabsolutierung ihres privilegierten Zugangs zur griechischen Kunst steigerte sich die Kunstarchäologie in die Schrankenlosigkeit eines Besitzanspruches, der die Unterscheidbarkeit von hier und dort verloren gehen ließ.60 Während Leni Riefenstahl in Olympia. Fest der Völker (1936) den Diskurswerfer Lancelotti in einen nordischen Olympiakämpfer verwandelte, geriet Olympia zum Erlebnisort schlechthin der Überblendung griechischer und deutscher Identität.61 Die dem Grundsätzlichen gewidmete archäologische Kunstgeschichtsschreibung florierte in der NS-Zeit. In einem paradigmatischen Beitrag zum Bild der Nachklassik und Hellenismus in diesen Kunstgeschichten hat Reinhold Bichler auf Homogenitätspostulate, bipolare Identitätsschemata, Xenophobie und Rassismus in der semantischen Auskleidung der Erzählungen hingewiesen.62 Analoge Befunde ließen sich auch für andere Themen auf-
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Mathias René Hofter, Michael Krumme, München 2001, 245f. zur Selbstkennzeichnung der Strukturforschung als deutscher Forschung. Guido Kaschnitz von Weinberg, Ranuccio Bianchi Bandinelli, Ancora la „struttura“, La Critica d’Arte 2 (1937) 283: „Ich fürchte sehr, dass Sie all dies dem ‘pieno mito’ zuzählen werden! Daran werde ich kaum etwas zu ändern vermögen. Vielleicht sind hier wirklich die verschiedenen Formen und Wege des Strebens nach Erkenntnis und die verschiedene Art der Ziele in entsprechenden biologischen Verschiedenheiten gegründet, die den mediterranen Menschen vom nordischen trennen.“ – a.a.O. 286 die Replik Bianchi Bandinellis, dessen Mutter gebürtige Deutsche war: „Ci rifiutiamo ad ammettere che ci possa essere, in fatto di principii generali, una verità ‘mediterranea’ e una verità ‘nordica’; […] (nel caso specifico, poi, il sottoscritto in fatto di mediterraneità biologica lascierebbe molto a desiderare).“ Vgl. Zschietzschmann (wie Anm 8) 4: „Diese deutsche Art unterscheidet sich so deutlich von der der anderen Nationen, ist so wesentlich deutsch, daß sie oft von den anderen überhaupt nicht verstanden wurde.“ Brieflich an Ranuccio Bianchi Bandinelli, 26.6.1948: Barbanera (wie Anm. 42) 428. Erhart Kästner, Griechenland. Ein Buch aus dem Kriege, Berlin 1942, 269: „Nicht Südliches schlechthin, sondern Nördliches im Süden: das eben ist Griechenland. Immer wieder kann sich der Deutsche an Heimatliches erinnert fühlen, sei es unter den Tannen des Parnaß oder an einem Abend auf dem Pentelikon, wenn der Wind Herdengeläut und den Geruch von Holzfeuer herzutreibt. Die beiden heiligsten Stätten der Griechen, Delphi und der Olymp, muten am nördlichsten an. Delphi: ein Hochalpental. Der Olymp: ein Nordberg. Es ist, als ob dabei ferne Erinnerungen nachklängen, Erinnerungen eines in den Süden verschlagenen, im Süden glücklich gewordenen Volkes, das dennoch im tiefen Grunde seines Herzens ein Heimweh nach Norden nicht verlor.“ Kästner (wie Anm. 60) 125: „So deutsch es in Griechenland sein kann, so deutsch war es hier.“ – Franz Messerschmidt, Olympia. Sechzig Bilder, Königsberg 1943, Vorbemerkung: „Olympia ist der Name einer kleinen Ebene am Unterlauf des Alpheios in der peloponnesischen Landschaft Elis. Niedere Hügel mit bewaldeten Kuppen geben der Landschaft einen fast deutschen Charakter.“ Reinhold Bichler (s. Anm. 56) 231-253; vgl. ders., Alexander der Große und das NS-Geschichtsbild, in: Antike und Altertumswissenschaft (wie Anm. 21) 345-378. – Die herangezogenen Publikationen: Ernst Buschor, Die Plastik der Griechen, Berlin 1936; ders. (wie Anm. 43); Schuchhardt (wie Anm. 28); Bernhard Schweitzer, Die Darstellung des Seelischen in der griechischen Kunst. Nach einem Vortrag, Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 10 (1934) 302-317; ders. (wie Anm. 48) 361399; ders., Studien zur Entstehung des Porträts bei den Griechen, Leipzig 1940; ders. (wie Anm. 17).
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decken, von denen neben dem Komplex Hellenismus und Orient63 folgende als besonders neuralgisch gelten können: die Frühgeschichte64 (mit ihrer Problematik der Einwanderungswellen), die sogenannte Orientalisierende Periode65 (ca. 7. Jh. v.Chr.), die Zeit der Perserkriege sowie als nicht chronologiebezogene Themen Führerkult66 und Kriegsverherrlichung.67 Die Belege für eine ideologische Radikalisierung sind so eindeutig, daß von einer rein taktisch motivierten Verwendung der Rasse-Thematik keine Rede sein kann.68 Die deterministischen theoretischen Modelle der deutschen Kunstarchäologie der 20er bis 40er Jahre haben die fachinterne Entwicklung bis in die 60er Jahre hinein geprägt. Sie bildeten das Paradigma, dem gegenüber sich Skeptiker nicht als prinzipielle Alternative etablierten.69 Außerhalb der Disziplin, sowohl in der nichtdeutschen Klassischen Archäologie wie in den deutschsprachigen Altertumswissenschaften, wurde diese Phase der Kunstarchäologie kaum nachvollzogen und damit ein intra- sowie ein interdisziplinärer Dialog gehemmt. Methodische Defizite und begrifflich-sprachliche Unzugänglichkeit haben die stilistische Analyse, ein unverzichtbares archäologisches Verfahren der Archäologie, in ihrer Reputation nachhaltig beschädigt.70
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Reinhard Herbig, Herakles im Orient. Heroenglaube und Geschichtserlebnis, in: Corolla Ludwig Curtius zum sechzigsten Geburtstag dargebracht, Stuttgart 1937, 205-211: „Jedem Volk im politischen Sinne, jeder rassischen Einheit im Besonderen ist die ständige Auseinandersetzung mit einer Umwelt von artfremden Menschen durch die Geschichte als Schicksal auferlegt.“ (205); „Schon 200 Jahre später [d.h. nach den Perserkriegen] hat sich das Schicksal des hellenischen Volkes erfüllt. Was dem Morgenland im kriegerischen Anlauf nicht gelang, hat es im Verlaufe der geschichtlichen Entwicklung durch innere Zersetzung und Auflösung des griechischen Volkstums vollenden geholfen. Dem hellenistischen Weltbürgertum ist die Blüte nationaler hellenischer Kraft zum Opfer gefallen. Östliche Religionen und östliches Denken begleiteten orientalische Staatsformen nach Europa. So muß man die Kehrseite des Siegeszugs des Griechentums nach dem Osten beurteilen.“ (208); „Asien mit seinen üppig schwelgerhaften Verlockungen hat die Heldenkraft der hellenischen Nation zermürbt.“ (209); „[...] der Sieg orientalischer Verweichlichung über den Menschen nördlicher Herkunft.“ (210); [...] die Erkenntnis von der gewaltigen geschichtlichen Tragik zu wittern, welche das Hinsinken der hellenischen Nation darstellt, ihr Aufgehen in ein grenzen- und damit haltloses Weltbürgertum, durchsetzt, ja getragen von Ideengehalten und religiösen Vorstellungen des Morgenlandes, welche mit Übermacht zur Weltherrschaft drängen.“ (211). Matz, Griechische Kunst (wie Anm. 46): „Mit ihnen [d.i. den Dorern] greift ein indogermanisches Volkstum in die Ereignisse ein, das nicht nur die gesammelte Kraft seines Wesens, sondern auch durch die Reinheit des in ihm noch lebendigen Urbegriffs der indogermanischen Form für den Aufbau einer neuen Welt Voraussetzungen von der fruchtbarsten Art mitbrachte.“ (8); „Nach den Stürmen der großen Wanderung schießen die indogermanischen Kräfte des damals bereits vielfach geschichteten und gemischten griechischen Volkstums aufs neue zusammen. Noch unter dem Eindruck der durchlebten Erschütterungen wächst ihm durch die Besinnung auf sein Eigenstes eine unvergleichliche neue Kraft zu, die es befähigt, beim Aufbau der neuen Lebensformen in dem von ihm eroberten Raum die Führung zu übernehmen. [...] In der geometrischen griechischen Kunst steht die in sich geschlossenste und doch reifste aller künstlerischen Formen vor uns, die auf dem Boden Alteuropas gewachsen sind. Zugleich äußert sich in ihr ohne Überkreuzung durch andersartige, namentlich durch individuelle Kräfte beim Antritt seines Lebensweges das griechische Volkstum in unbedingter Reinheit.“ (11). Joseph Wiesner, Zur orientalisierenden Periode der Mittelmeerkulturen, Archäologischer Anzeiger (1942) 391-460: „Wir bezeichnen [... mit orientalisierender Periode] die Zeit jener leidenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Einflüssen des Ostens, in der zwar assyrische, phönikische und ägyptische Anregungen die Herrschaft der geometrischen Stile Griechenlands und Italiens brechen, aber vor allem von der schöpferischen Kraft des Griechentums siegreich überwunden werden.“ (391). Christoph Höcker, Lambert Schneider, Phidias, Reinbek 1993, 134-138; dazu: Nikolaus Himmelmann, Rezension, Bonner Jahrbücher 193 (1993) 455f. Ernst Buschor, Das Kriegertum der Parthenonzeit, Burg b.M. 1943. Klaus Junker, Das Archäologische Institut des Deutschen Reiches zwischen Forschung und Politik. Die Jahre 1929 bis 1945, 73f. Vgl. Andreas Rumpf, Archäologie 1. Einleitung. Historischer Überblick, Berlin 1953, 134 und die neopositivistische Kritik bei Klaus Fittschen, Griechische Porträts – Zum Stand der Forschung, in: Griechische Porträts, hg. von Klaus Fittschen, Darmstadt 1988, 10-12. 14f. Isler (wie Anm. 9) 6-10.
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188 Stagnation und Regression
Verdankte sich die Existenz der Klassischen Archäologie als Universitätsdisziplin im wesentlichen einer Institutionalisierung von Idealismus und Neo-Humanismus, so entwickelte die auf eine breite Grundlage gestellte und daher produktive akademische Forschung dennoch ein Arsenal an Methoden, das sich in seiner Tendenz zur Differenzierung, Systematisierung und Objektivierung des methodischen Zugriffs auf das Material gegenüber dem normativen Überbau verselbständigte. Einige dieser Ansätze seien kurz benannt, da sich die theoretische Entwicklung der Disziplin seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts z.T. in gewollter Distanzierung gegenüber dem Prozeß ihrer Ausbildung vollzog: Aus der durch eine reiche schriftliche Tradition vorstrukturierten Sichtweise der früheren Klassischen Archäologie besaß Raum als heuristische Größe eine zunächst untergeordnete Bedeutung (s.o. Klassische und Prähistorische Archäologie). Bekannte antike politische Grenzen standen für die Reichweite der griechischen und römischen Zivilisation, innerhalb dieser Grenzen galten die Lage und meist auch die Benennung unzähliger Siedlungsplätze als überliefert, in diesen Siedlungen gestatteten Oberflächenmerkmale nicht selten die schnelle Identifizierung der Orte von Kultus, Macht und Repräsentation und damit eine Orientierung, die den inhaltlichen Gewichtungen der schriftlichen Selbstzeugnisse aus der Antike entsprach. So bedeutete das Konzept einer von der Überlieferung gelösten Inventur und Typologie oberflächlich sichtbarer archäologisch relevanter Strukturen als Baustein einer „Historischen Landeskunde“ einen wichtigen methodischen Schritt, der mit Hilfe des Raumkriteriums sowohl einen Gegenstand der Archäologie als auf ihn bezogene Verfahren der Identifizierung, Vermessung und Verzeichnung neu konstituierte.71 Dieser Schritt wurde z.B. mit der Erstellung präziser archäologischer Karten getan. Als ein frühes Beispiel kann die durch den Berliner Ordinarius für Klassische Archäologie Ernst Curtius angestoßene und zwischen 1881 und 1890 veröffentlichte minutiöse archäologische Landesaufnahme Attikas gelten.72 Auch dem Phänomen der Einzelsiedlung versuchte man sich aus einer Totalperspektive anzunähern. Die innerhalb nur weniger Jahre gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Priene, einer westkleinasiatischen hellenistischen Kleinstadt, durchgeführte großflächige Grabung bündelte topographische, historische, baugeschichtliche und sonstige archäologische Studien und versuchte damit dem Gesamtphänomen Stadt mit der Anlage einer adäquaten archäologischen Gesamtdokumentation vom Stadtplan bis zum Hausrat zu begegnen.73 Aus der Tradition der Berliner Architektenausbildung entstand seit dem leitenden Einsatz von Architekturlehrern und -absolventen auf der Grabung in Olympia (1875-1881) als Besonderheit der deutschen archäologischen Wissenschaft eine schulartig organisierte „archäologische Bauforschung“74, die in der Folge viele ‚klassische‘ Grabungen inhaltlich und methodisch dominierte. Diese Bauforschung legte die Grundlagen für ein zukunftsweisendes archäologisches Verfahren, das u.a. mit der akribischen Beobachtung möglichst vieler Bearbeitungsmerkmale dislozierter Architekturteile deren gedankliche, zeichneri71 72
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Hans-Joachim Gehrke, Historische Landeskunde, in: Klassische Archäologie. Eine Einführung, hg. von Adolf H. Borbein, Tonio Hölscher, Paul Zanker, Berlin 2000, 39-51. Karten von Attika. Auf Veranlassung des Kaiserlich Deutschen Archäologischen Instituts und mit Unterstützung des K. Preußischen Ministeriums der Geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten aufgenommen durch Offiziere und Beamte des K. Preußischen Großen Generalstabes mit erläuterndem Text, hg. von Ernst Curtius, Johann August Kaupert, Berlin 1881-1890. Theodor Wiegand, Hans Schrader, Priene. Ergebnisse der Ausgrabungen und Untersuchungen in den Jahren 1895-1898, Berlin 1904. Wolfram Hoepfner, Ernst-Ludwig Schwandner, Archäologische Bauforschung, in: Berlin und die Antike. Katalog, hg. von Willmuth Arenhövel, Christa Schreiber, Berlin 1979, 342-360; Gottfried Gruben, Klassische Bauforschung, in: Klassische Archäologie (wie Anm. 71) 251-279; Manfred Schuller, Building archaeology, München 2002, 7-9.
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sche oder konkret nachvollziehende Reintegration in verlorene bauliche Zusammenhänge ermöglichte. Von einer konventionellen Bauaufnahme sondert sich die archäologische somit durch einen besonderen Aufwand der Dokumentation als notwendiger Voraussetzung begründeter archäologischer Rekonstruktionsarbeiten ab. Die systematische Ansprache der Morphologie von Objekten eröffnete auch der Beschäftigung mit traditionellen Materialgattungen neue Ansätze: So flossen mit der „Kopienkritik“ Adolf Furtwänglers die strengen Routinen und Kriterien der philologischen Textkritik in die Merkmalsanalyse kunsthistorischer Artefaktforschung ein. Furtwänglers Kopienrezension verwandte analog zur Textrezension formale Übereinstimmungen, Abweichungen und lectiones difficiliores dazu, aus Serien von Repliken (Kopien nach einem gemeinsamen Vorbild) ein nicht mehr erhaltenes „Original“ versuchsweise bis ins Detail nachzuzeichnen.75 Die Vervielfältigung aufwendiger Verfahren machte archäologisches Argumentieren nicht einfacher. Die erhöhte Verfügbarkeit unterschiedlicher praktischer und theoretischer Methoden erhöhte den Voraussetzungsreichtum jeder Interpretation in augenfälliger Weise. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, Vorannahmen und gewählte Verfahren einer Untersuchung offenzulegen. Ernst Langlotz z.B. demonstrierte diese Verpflichtung in seiner 1920 veröffentlichten Dissertation.76 Den Hauptargumenten der Arbeit steht die Angabe der methodischen Vorgehensweise sowie der Prämissen (und damit implizit der möglichen methodischen Vorbehalte) zur Seite. Diese Beispiele sollen genügen. Wie bereits kurz ausgeführt (s.o. Klassische Archäologie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts), ergab sich in den 20er Jahren eine merkliche Akzentverschiebung, deren Stoßrichtung sich insbesondere gegen die Exposition gelehrt erzeugten Spezialwissens als Endzweck der Forschung richtete. Damit änderte sich auch der Stellenwert des Arsenals eingeführter positivistischer Verfahren. Bezeichnenderweise wurden sie weiter praktiziert und galten vielen weiterhin als Qualitätsbeleg archäologischer Forschung.77 Die Anbindung der objektivierten Methoden an übergeordnete Forschungsziele löste sich jedoch, denn maßstabsetzende neue Synthesen ruhten auf anderen Voraussetzungen als weitgefächerten und umständlichen empirischen Absicherungen auf (s.o. Kunstgeschichte). Der Innovationsdruck auf die empirischen Methoden ließ nach. Die Phase des Nationalsozialismus war durch die Eskalation dieses Prozesses gekennzeichnet und resultierte daher in einem empfindlichen Qualitätsverlust. Der Verlust läßt sich unter zwei hauptsächlichen Gesichtspunkten subsumieren: Erstens dem Vordringen von Subjektivismus und Irrationalismus in der theoretischen Forschung und zweitens in einer Verkennung der Implikationen praktischer Verfahren: In der theoretischen Arbeit, d.h. vor allem in der Kunstarchäologie, erodierte das Bemühen um eine explizite methodische Begründung wissenschaftlicher Aussagen in dramatischer Form.78 Gedankliche Systeme von erheblichen interpretatorischen Implikationen (s.o. Kunstgeschichte) entstanden ohne nennenswerte empirische Absicherung. Intuition als wichtigstes Werkzeug der Erkenntnis immunisierte nicht nur den Einzelforscher gegen 75 76 77
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Adolf Furtwängler, Meisterwerke der griechischen Plastik. Kunstgeschichtliche Untersuchungen, Leipzig u.a. 1893, z.B. 421: der Torso Pourtalès (Berlin) als Kopie des Doryphoros des Polyklet. Ernst Langlotz, Zur Zeitbestimmung der strengrotfigurigen Vasenmalerei und der gleichzeitigen Plastik, Leipzig 1920. Walter-Herwig Schuchhardt, Hans Dragendorff zum Gedächtnis, Berichte der Naturforschenden Gesellschaft zu Freiburg i.Br. 37 (1942) 105: „Kaum eine andere historische Wissenschaft hat im Verlauf der letzten fünf Jahrzehnte durch empirische Forschung so weite Bereiche der Räume und Zeiten neu erschlossen wie die klassische Archäologie.“ Ernst Buschor, Begriff und Methode der Archäologie, in: Handbuch der Archäologie (wie Anm. 48) 310. – In der wissenschaftlichen Biographie Ernst Langlotz‘ ist geradezu punktuell ein grundsätzlicher methodologischer Umbruch festzustellen: Wilfried Geominy, Doris Pinkwart, Ernst Langlotz (18951978). Archäologie als Leidenschaft. Dokumentation zur Ausstellung, Bonn 1995, 17-22. 24-27.
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innerfachliche Einwände, sondern zugleich die disziplinäre Gruppe gegen außerfachliche Kontrolle. Die Re-Etablierung eines idealen und damit absoluten Wertes des (kunst)historischen Artefakts ließ die Bedeutung historiographischer Kategorien wie Fundvergesellschaftung oder Nutzungskontext zurücktreten und führte in Folge zu einer Verkümmerung des Anspruchs auf beständige Weiterentwicklung befundorientierter Verfahren. Besonders auffällig ist das nachlassende Interesse für die heuristischen Konsequenzen unterschiedlicher Verfahren der Grabungsarchäologie, die sich methodologisch in der ersten Jahrhunderthälfte entscheidend professionalisierte.79 Die Defizite einer konsequenten Weiterentwicklung der praktischen Archäologie führten unweigerlich zu Kompetenzverlagerungen aus der Klassischen Archäologie heraus. Ein markantes Beispiel stellt die sog. Historische Landeskunde80 dar, die wesentlich auf archäologische Verfahren angewiesen ist. Mit der deutschen Okkupation als Katalysator (s.u. Krieg und Besatzung) erfuhr die Historische Geographie Griechenlands in den 40er Jahren einen Entwicklungsschub, der noch auf einer interdisziplinären Verbindung von Archäologie und Alter Geschichte aufruhte.81 Nach dem Krieg migrierte das Forschungsgebiet in die Alte Geschichte. An diese Disziplin angebunden existieren heute z.B. Forschungszentren zur Historischen Landeskunde Griechenlands an den Universitäten Freiburg i.Br. und Münster. Gerieten schon die geisteswissenschaftlich-archäologischen Methoden der Feststellung von Ähnlichkeiten, Differenzen oder Beziehungen sowie darauf fußender Plausibilitäten unter Legitimationsdruck, so bestand für den gleichberechtigten Einsatz naturwissenschaftlicher Verfahren von vornherein kein konzeptioneller Raum. Die physische Anthropologie der Zeit war unter ideologischem Diktat pseudowissenschaftlichen Zielvorgaben unterworfen. Anthropologische Untersuchungen auf der AIDR-Grabung im Kerameikos in Athen können die Grenzlinie verdeutlichen82: die damals gewonnenen Alters- und Geschlechtsbestimmungen lieferten frühe Daten dieser Art überhaupt und sind von bleibender Bedeutung. Die Kategorien des Bearbeiters zur Ermittlung „rassischer“ Zugehörigkeiten der Bestatteten sind dagegen nicht mehr von Relevanz. In der archäologischen Literatur wurde insgesamt wenig Bezug auf die physische ‚Rassenforschung‘ genommen. Die Ausnahmen zeugen weniger von Zuversicht in derartige ‚Forschungs‘angebote als von Verständnisund Verantwortungslosigkeit im Umgang mit auf naturwissenschaftlichem Wege gewonnenem Wissen.83 79
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Stefan Altekamp, The resistance of classical archaeology against stratigraphic excavation, in: Digging in the dirt: excavation in a new millenium, hg. von Geoff Carver, Oxford 2004, 143-149. – Die ‘prähistorisierte’ Kunstgeschichtsschreibung im Umfeld der Strukturforschung hat das die Grabungsarchäologie betreffende Defizit erkannt: Friedrich Matz, Bericht (wie Anm. 49) 141. 144. 163f. Gehrke (wie Anm. 71) 40f. Ernst Kirsten, der in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle spielte, arbeitete primär historisch, war aber 1937 bis 1939 bei Bernhard Schweitzer in Leipzig als Assistent in der Klassischen Archäologie tätig. Er habilitierte sich 1940 in Heidelberg bei Fritz Schachermeyr mit einer Arbeit über Die dorische Landnahme in Lakonien und Messenien. Emil Breitinger, Archäologischer Anzeiger (1937) 200/203; ders., Die Skelette aus den submykenischen Gräbern. Die Brandreste aus den protogeometrischen Amphoren, in: Wilhelm Kraiker, Karl Kübler, Kerameikos 1. Die Nekropolen des 12. bis 10. Jahrhunderts, Berlin 1939, 223-261. z.B. Matz, Bericht (wie Anm. 49) 314: „Von den Merkmalen der vorderasiatischen und der orientalischen Rasse findet F. unter diesen Bildnissen, sicher mit Recht, keine Spur. Er hat auch gewiß richtig den Eindruck gewonnen, daß ein Typus der herrschende ist, den man noch heute in diesem Teil Italiens in überraschender Übereinstimmung findet. Nach seinem hervorstechendsten Kennzeichen, der gebogenen Nase, bezeichnet F. ihn als den aquilinen. Bisher hat man diesen in der Physiognomie Dantes besonders schön vertretenen Typus als das Ergebnis einer Rassenmischung zwischen dem nordischen und mediterranen Zweig aufgefaßt.“ – Ernst Langlotz, Die Darstellung des Menschen in der griechischen Kunst, Bonn 1941, 4: „[Der] anthropologische Befund der erhaltenen Skelette [beweist] die hohe Vollendung des griechischen Volkes.“ – vgl. Herter (wie Anm. 52) 4. 11. 14. – Emil Breitingers Unter-
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Die an dieser Stelle aufgestellte These einer zur Zeit des Nationalsozialismus aus Gründen des geänderten Eigenverständnisses der Disziplin verschärften wissenschaftlichen Regression betrifft nur einen Teil der akademischen Produktion der Zeit – jedoch denjenigen, der paradigmatischen Rang beanspruchen konnte. Als eine Bestätigung der These kann die als direkte Konsequenz erfolgte thematische Implosion der Klassischen Archäologie in den zwei Jahrzehnten nach Kriegsende gewertet werden.84 Universität Die Universität stellte das Rückgrat der Klassischen Archäologie dar, der Hochschullehrer bildete ihre originäre Professionalisierungsfigur. Bis zum Ende der Wilhelminischen Ära war an allen deutschen Universitäten Klassische Archäologie als eigenständiges Unterrichtsfach etabliert worden. Auch von den Neugründungen der ausgehenden Kaiserzeit bzw. der Anfangsjahre der Weimarer Republik – Frankfurt/Main (1914), Köln (1919) und Hamburg (1919) – hatten Frankfurt und Köln ordentliche klassisch-archäologische Lehrstühle erhalten. In Hamburg deckte der Direktor des Museums für Kunst und Gewerbe ein volles Curriculum ab. Somit wurde Klassische Archäologie 1920 an 23 deutschen Universitäten hauptamtlich bzw. im Umfang eines eigenen Studienganges gelehrt.85 Diese Situation bestand bis 1945 uneingeschränkt fort.86 Die statische Position der universitären Klassischen Archäologie stand zweifach gegen den allgemeinen Trend, der in den Jahren 1920 bis 1931 einen erheblichen Zuwachs und zwischen 1931 und 1938 eine deutliche Reduzierung von Fakultätsmitgliedern an deutschen Universitäten verzeichnete.87 Allerdings ist zu beachten, daß Klassische Archäologie in der Regel von nur einem Fachvertreter gelehrt wurde, ein Abbau in jedem Falle also der Einstellung des Studienganges am betreffenden Hochschulort gleichgekommen wäre. Von 21 im Jahre 1931 lehrenden hauptamtlichen Professoren und einer Professorin bekleideten 1938 noch 14 unverändert ihr Amt, davon elf am selben Hochschulort. Der Abweichung von ca. 36 % stehen 45 % im Fächerdurchschnitt gegenüber.88 Fünf der insgesamt acht nicht mehr lehrenden Personen waren regulär pensioniert worden bzw. verstorben, drei aus politischen Gründen ausgeschiedene Fachvertreter lebten mittlerweile im Exil. Der politisch motivierte Wechsel entspricht einer Quote von ca. 14%,
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suchungen (Anm. 82) zeichneten sich durch methodische Umsicht und Transparenz sowie defensive Schlußfolgern aus; das Problem liegt in der Fragwürdigkeit und den fatalen Implikationen der Konstitution ihres Gegenstandes ‚Rasse‘. Hölscher (wie Anm. 9) 207-210. Preußen: Berlin, Bonn, Breslau, Frankfurt/M., Göttingen, Greifswald, Halle, Kiel, Köln, Königsberg, Marburg, Münster – Bayern: Erlangen, München, Würzburg – Sachsen: Leipzig – Württemberg: Tübingen – Baden: Freiburg/Br., Heidelberg – Thüringen: Jena – Hessen: Gießen – Hamburg – Mecklenburg-Schwerin: Rostock. Übersicht: Wolfgang Schiering, Zur Geschichte der Archäologie, in: Allgemeine Grundlagen der Archäologie. Begriff und Methode, Geschichte, Probleme der Form, Schriftzeugnisse, hg. von Ulrich Hausmann, München 1969, 160f. (es fehlt: Köln). – In die folgende Darstellung werden die deutschen Universitäten innerhalb der politischen Grenzen von 1937 eingeschlossen. Zusätzlich wird für die Jahre 1941 bis 1944 die „Reichsuniversität“ Straßburg mit einbezogen, die aus dem deutschen akademischen Milieu besetzt wurde. Allgemein zur Universität im Nationalsozialismus: Hellmut Seier, Universität und Hochschulpolitik im NS-Staat, in: Der Nationalsozialismus an der Macht, hg. von Klaus Malettke, Göttingen 1984, 145-165; Fritz Ringer, A sociography of German academics 1863-1938, Central European History 25 (1992) 256; H.-Elmar Tenorth, Bildung und Wissenschaft im Dritten Reich, in: Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, hg. von Karl Dietrich Bracher, Hans-Adolf Jacobsen, 2. Auflage Bonn 1993, 250-252; Ulrich Sieg, Strukturwandel der Wissenschaft im Nationalsozialismus, Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 24 (2001) 255-270. Ringer (wie Anm. 87) 279.
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die sich auf ca. 18% erhöht, stellt man zusätzlich die 1940 erfolgte Beurlaubung des Bonner Ordinarius in Rechnung, der aus der aktiven Lehre ausschied, aber weiter als Fakultätsangehöriger geführt wurde. Im Fächerdurchschnitt wurden bis 1939 ca. 39%, in den Geisteswissenschaften ca. 20% der Professorenschaft entlassen.89 Klassische Archäologie war von den politisch erzwungenen Veränderungen quantitativ also eher unterdurchschnittlich betroffen bzw. bewahrte über die gesamte Zeit des Nationalsozialismus an der Universität ein eher überdurchschnittliches Maß an personaler Kontinuität. Das gilt ebenso für den direkten Vergleich mit der engen fachlichen Umgebung Alte Geschichte, Altphilologie90 und Kunstgeschichte.91 In den letzten Kriegsjahren wurde, wie auch in anderen Disziplinen, das wissenschaftliche Personal durch Militärdienst z.T. deutlich reduziert. An einigen Universitäten, z.B. Göttingen oder Münster, traten frischberufene Fachvertreter erst nach einem mehrjährigen Intervall nach Ende des Krieges ihren Dienst an. Ein beträchtliches Maß an Kontinuität ist auch für den Systemwechsel 1945 zu konstatieren. Die Besetzung der hauptamtlichen Professuren blieb auf 15 Positionen unverändert. Dabei ist zu berücksichtigen, daß es in Breslau, Königsberg (und Straßburg) seit Kriegsende keine deutschen Universitäten mehr gab. Drei Fachvertreter (Berlin, Breslau, Königsberg) kamen 1945 zu Tode. Als politisch belastet wurden – nach dem derzeitig verfügbaren Kenntnisstand – Ernst Buschor (München)92 und Hans Möbius (Würzburg)93 zeitweilig, Willy Zschietzschmann (Gießen)94 langfristig vom Dienst suspendiert. In der Stellenbesetzungspolitik unterschied sich die Bilanz in den westlichen und der östlichen Besatzungszone Deutschlands nicht. Emigranten kehrten nicht wieder in die deutsche Universität zurück. Einige, darunter drei aus rassistischen Gründen vertriebene frühere Lehrstuhlinhaber, erlangten analoge akademische Positionen in den USA und in Großbritannien. Ihre international anerkannten Leistungen wirkten jedoch weder schulbildend noch paradigmatisch auf Deutschland zurück. Über die zeitliche Grenze des Nationalsozialismus hinaus ist Klassische Archäologie an den deutschen Universitäten durch ein relativ stabiles Netzwerk, angesichts ihrer geringen Größe daher durch die Kontinuität eines engen Personenverbandes gekennzeichnet, für den weitreichende, synchron wie diachron aktive Loyalitäten wirksam blieben. In den 1960er Jahren besetzten etwa Schüler Ernst Buschors mehr als die Hälfte der westdeutschen Lehrstühle des Faches.95 Auch der kritischen Historisierung der Fachgeschichte im Nationalsozialismus war diese schulmäßige Verengung abträglich.
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Wehler (wie Anm. 14) 824f. Von 86 altphilologischen Professoren wurden schon 1933 21 (ca. 24 %), von 23 Lehrstuhlinhabern in der Alten Geschichte fünf (ca. 22%) aus dem Amt entfernt: Marchand (wie Anm. 5) 345. Colin Eisler, Kunstgeschichte American style: a study in migration, in: The intellectual migration. Europe and America 1930-1960, hg. von Donald Fleming, Bernard Bailyn, Cambridge/Mass. 1969, 544629. Paul Zanker, Ernst Buschor, 1886-1961. Archäologe, Pädagoge, Weltdeuter, umbits. Zeitschrift der Ludwig-Maximilians-Universität München 16 (1986) Heft 5, 16f.; Karl Schefold, in: Archäologenbildnisse. Porträts und Kurzbiographien von Klassischen Archäologen deutscher Sprache, hg. von Reinhard Lullies, Wolfgang Schiering, Mainz 1988, 234f.; Wolfgang Schindler, Ernst Buschor, in: Classical scholarship. A biographical encyclopedia, hg. von Ward W. Briggs, William M. Calder III, New York u.a., 1990, 13-16; William M. Calder III, in: An Encyclopedia of the History of Classical Archaeology, hg. Nancy Thomson de Grummond, London u.a. 1996, 210. Maischberger, German archaeology (wie Anm. 3) 216. Hans-Günter Buchholz, in: Archäologenbildnisse (wie Anm. 92) 277; Peter Chroust, Gießener Universität und Faschismus. Studenten und Hochschullehrer 1918-1945, 2. Auflage Münster u.a. 1996, Band 1, 217f. 317. 485 Anm. 151-155. Zanker (wie Anm. 92) 17.
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Die Lehre der Klassischen Archäologie erschließt sich aus den Ankündigungen der Vorlesungsverzeichnisse. Diese Angaben können jedoch nur zur Ermittlung von Trends dienen. An den meisten Hochschulstandorten vertrat nur eine Person das Fach. Gelegentlich unterstützten habilitierte Mitarbeiter die Lehre. Als in ihrer Lehrvielfalt privilegierte Studienstandorte fallen Berlin und München aus dem Rahmen: die Angebote der Ordinarien wurden durch Privatdozenten und Lehrbeauftragte ergänzt. Dem Personalstand entsprechend umfaßte die Lehre im Durchschnitt drei bis vier Veranstaltungen je Semester mit deutlich absinkender Tendenz gegen Ende des Krieges. Die Lehre war vor allem als Kunstgeschichte der Antike ausgelegt und zeichnete sich in den repetitiven Angeboten zur (meist griechischen) Skulptur, seltener Malerei, durch eine beträchtliche Gleichförmigkeit aus. Seit Kriegsbeginn begann sich das thematische Spektrum der Veranstaltungen noch weiter zu verengen. Es ist zu fragen, ob diese ultimative Verkürzung mit den mehr und mehr gestörten Lehr- und Studienverhältnissen ausreichend erklärt ist. Nicht zuletzt die praktische Archäologie wurde eklatant vernachlässigt. Allein an der Universität München bot der (Architekturhistoriker) Theodor Dombart regelmäßig „Ausgrabungen und Ausgrabungstechnik“ an.96 Daß die archäologische Grabung als relevantes Thema in Ausbildung und Beruf nicht konzipiert wurde, zeigen vereinzelte Vorlesungen über „Ausgrabungsstätten“, die bereits in der Ankündigung die Perspektive des unbeteiligten, ja entfremdeten Außenseiters einnehmen.97 Abgesehen von der einmaligen Hochkonjunktur des Themas Olympia 1936 ist als wichtigster zeitgebundener Trend das starke Interesse an der Behandlung der ägäischen, aber auch italischen Frühzeit festzuhalten. Auf diesem Feld schlagen die Themenformulierungen in der Benennung des Gegenstandes häufiger von Kunst- auf Kulturgeschichte um. Die Tendenz zur ‚Prähistorisierung‘ bzw. das Interesse für ‚frühe‘ Kunst zeichnete sich also in der Lehre wie in der Forschung ab (s.o. Klassische und Prähistorische Archäologie; Kunstgeschichte). Die akademischen Lehrer, die in diesem Themenbereich besonders hervortreten, sind mit den Protagonisten der Forschung identisch. Es ist – natürlich auch in Analogie zur zeitgleichen Forschung – zu vermuten, vereinzelt anhand der Wortwahl zu belegen, daß besonders in diesen Veranstaltungen nicht selten der Anschluß an das aktuelle Indogermanendogma gesucht worden sein dürfte. Dreimal in seiner Karriere, davon zweimal während des Dritten Reiches, wurde der Archäologe Reinhard Herbig zum Fakultätskollegen des Sprachwissenschaftlers Hans Krahe. Im Sommersemester 1934 in Jena und in den Wintersemestern 1937/38 und 1938/39 in Würzburg haben sie gemeinsame Lehrveranstaltungen angeboten.98 So gilt für die Lehre wie für die Forschung, daß gerade diejenigen Arbeitsbereiche, die besondere Möglichkeiten der Annäherung an die NS-Ideologie boten, während der Zeit des NS-Regimes von interdisziplinärem Austausch gekennzeichnet waren. Nach dem Krieg haben sich die Konstellationen gelockert oder aufgelöst. Lehrveranstaltungen, deren Titel einen Bezug zu ideologisch virulenten Themen oder dem aktuellen politisch-militärischen Geschehen vermuten lassen, bildeten die Ausnahme. Die Lehre der Klassischen Archäologie war im Durchschnitt von deutlich geringerer Militanz als die ihres disziplinären Umfeldes. Eine kontinuierliche Folge politisierter Veranstaltungen ist lediglich von dem Leipziger Dozenten Robert Heidenreich angeboten wor96 97 98
Für das SS 1944 hat der AIDR-Präsident Martin Schede in Berlin Übungen über antike Ausgrabungen angekündigt. Fritz Weege, Berühmte Ausgrabungsstätten des Mittelmeergebietes (Breslau SS 1936); Eugen von Mercklin, Ausgrabungen, Funde und Forschung im Italien Mussolinis (Hamburg WS 1937/38); Andreas Rumpf, Berühmte Ausgrabungsstätten in Griechenland (Köln Trimester 1941). Vgl. Herbig (wie Anm. 54) 58.
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den.99 Vereinzelt haben sich Walter Hahland100, Reinhard Herbig101, Franz Messerschmidt102, Gerhart Rodenwaldt103 und Eduard Schmidt104 mit aktualistischen Ankündigungen exponiert. Innerhalb des universitären Gefüges ist das Verhältnis von Klassischer und Prähistorischer Archäologie von Interesse. 1933 stand in einem drastischen Mißverhältnis den 21 ordentlichen klassisch-archäologischen nur eine Prähistorische Professur (Marburg) – neben einigen außerordentlichen Professuren und Lehrbeauftragten – gegenüber.105 Bis 1942 war die Zahl der ordentlichen und außerordentlichen Professuren in der „Vor- und Frühgeschichte“ auf 25 angewachsen, das Fach gehörte damit in spektakulärer Weise zu den Nutznießern des Regimes.106 Daß die Klassische Archäologie demgegenüber benachteiligt worden wäre, kann jedoch nicht geschlossen werden, ist die Stagnation der Zahl ihrer Professuren doch vor dem Hintergrund eines hohen Ausgangsniveaus und vor allem schrumpfender Fakultäten insgesamt zu sehen (s.o.). Eine engere inhaltliche Verbindung gingen Klassische und Prähistorische Archäologie in der Regel nicht ein, in den Ankündigungen der Lehrangebote ist Klassische Archäologie meist im Verbund mit der Kunstgeschichte, alternativ mit der Altphilologie aufgeführt, die Prähistorische Archäologie dagegen mit der Geschichte oder separat. Nur an der Universität Königsberg wurden zwei gemeinsame Veranstaltungen konzipiert.107 In Erlangen las der Prähistoriker Rudolf Paulsen regelmäßig zur Vor- und Frühgeschichte der Ägäis. Die Archäologie der römischen Provinzen erreichte mit einer Ausnahme nicht den Rang einer eigenen Disziplin. Die Ausnahme, die überraschender ist als die Regel, realisierte sich in der Konstruktion eines „Großseminars für Frühgeschichte und Altertumskunde“ an der im besetzten Elsaß eingerichteten „Reichsuniversität“ Straßburg. Das Großseminar schloß die traditionelle Altertumswissenschaft und die Geschichte aller „indogermanischen“ sowie für deren Entwicklung wichtigen „nicht-indogermanischen Völker“ zusam99
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Antike und orientalische Kultur in ihrer weltgeschichtlichen Auseinandersetzung (WS 1935/36); (mit Hermann Beenken, Kunsthistoriker): Übung. Die antiken und völkischen Wurzeln der mittelalterlichen Kunst (WS 1936/37); Kolloquium. Kunst und Rasse. Anhand ausgewählter Schriften (Gobineau, Woltmann, Günther) (SS 1937); Kolloquium über die Frage: Kunst und Rasse (für Eingeladene) (WS 1937/38); Übungen zur Chronologie und Rassenschichtung Vorderasiens (SS 1938); Geschichte des antiken Bildnisses: Stil und Rassentypus (WS 1938/39; SS 1939); Kolloquium. Rasse und Kultur im minoischen Kreta (Schachermeyr). – zu Heidenreich s. Gerald Heres, Robert Heidenreich, Gnomon 63 (1991) 573-575. Walter Hahland, Übungen über die Zusammenhänge von Mythos, Stamm und Landschaft (Würzburg SS 1935); Das Quellenmaterial zu einer rassengeschichtlichen Betrachtung des griechischen Volkes (Jena WS 1938/39) - Geschichte der Universität Jena 1548/58-1958. Festgabe zum vierhundertjährigen Universitätsjubiläum, hg. von Max Steinmetz, Band 1, Jena 1954, 644. Reinhard Herbig, Das antike Bildnis: Individuum, Charakter, Rasse im Antlitz der Alten (Jena WS 1935/36). Franz Messerschmidt, Soldatentum, Wehr und Waffen in vier Jahrtausenden (für Hörer aller Fakultäten) (Königsberg WS 1943/44). Gerhart Rodenwaldt, Kunst, Rasse und Volkstum in der Antike (Berlin SS 1938). Eduard Schmidt, Ägyptische und griechische Kunst als Ausdruck des Volkstums (Kiel 1. Trimester 1940). Das Marburger Ordinariat war 1927 im übrigen auf maßgeblichen Einfluß des Klassischen Archäologen Paul Jacobsthal eingerichtet worden: Claudia Theune, Die Institutionalisierung der Prähistorie an den deutschen Universitäten am Beispiel Marburg, in: Die Anfänge der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie als akademisches Fach (1890-1930) im europäischen Vergleich. Internationale Tagung Berlin 2003, hg. von Johann Callmer, Michael Meyer, Ruth Struwe, Claudia Theune, Rahden, Westf. 2006, 81-94. Hans Gummel, Forschungsgeschichte in Deutschland. Die Urgeschichtsforschung und ihre historische Entwicklung in den Kulturstaaten der Erde, Berlin 1938, 383-385; Haßmann (wie Anm. 24) 86-90; Wolfgang Pape, Zur Entwicklung des Faches Ur- und Frühgeschichte in Deutschland bis 1945, in: Prähistorie und Nationalsozialismus (wie Anm. 3) 167-175. Bolko von Richthofen, Franz Messerschmidt, Die Altersbestimmung früheisenzeitlicher Fundgruppen (SS 1938); von Richthofen, Messerschmidt, Die Bedeutung der römischen Funde für die Zeitbestimmung germanischer Altertümer (WS 1938/39).
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men.108 In diesem Rahmen traten drei archäologische Fächer in einen Verbund: die Klassische Archäologie (Vertreter: Emil Kunze), die Prähistorische Archäologie (Joachim Werner) und die Archäologie der römischen Provinzen, die hier offiziell unter „Westeuropäische Archäologie“ firmierte, um das anrüchige „provinzialrömisch“ zu umgehen. Die Westeuropäische Archäologie übernahm der Mitarbeiter des Trierer Landesmuseums und Bonner Privatdozent Harald Koethe.109 Zur hervorragenden materiellen Ausstattung des Seminars trugen die Privatbibliotheken von Hans Dragendorff, Ernst Fabricius und schließlich diejenige Harald Koethes selber bei, der 1944 fiel.110 Konnte an der ideologischen Frontlage der „Westeuropäischen Archäologie“ in Straßburg kein Zweifel bestehen (s.o. Klassische Archäologie und Archäologie der römischen Provinzen), so lagen provinzialrömische Lehre und Studium ansonsten in jenem schon angesprochenen konzeptionell unbereinigten Terrain zwischen den etablierten Archäologien. Kontinuierlich wurde dieses Lehrgebiet innerhalb der Klassischen Archäologie nur in Bonn und – bis zum Wintersemester 1937/38 – in Münster abgedeckt. In Bonn war der Direktor des Provinzialmuseums, Franz Oelmann, durch einen fortlaufenden Lehrauftrag fest in die Klassische Archäologie integriert. Vor seiner Berufung nach Straßburg hat auch Harald Koethe regelmäßig in Bonn provinzialrömische Themen angeboten.111 1940 wurde die Einrichtung eines Extraordinariats oder Ordinariats für Provinzialrömische Archäologie beantragt, vom Reichserziehungsministerium jedoch als nicht dringlich abgelehnt.112 Die Angabe, für Wilhelm von Massow sei seit 1944 eine Honorarprofessur für Klassische Archäologie unter besonderer Berücksichtigung der Römischen Archäologie der Rheinlande vorgesehen gewesen113, findet in den Personal- und Vorlesungsverzeichnissen der Universität Bonn keine Bestätigung. In Münster wurde bis zu besagtem Datum in jedem Semester eine provinzialrömische Lehrveranstaltung mit Exkursion durch den Lehrstuhlinhaber (Karl Lehmann-Hartleben bzw. Friedrich Matz) angeboten. An den Universitäten Berlin114, Breslau115, Freiburg116, Göttingen117, Greifswald118, Hamburg119, Jena120, Köln121, Königs108 Hochschulführer der Reichsuniversität Straßburg, Straßburg 1942, 76f.; Joachim Werner, Das Seminar für Vor- und Frühgeschichte und provinzialrömische Archäologie an der Reichsuniversität Straßburg, Nachrichtenblatt für Deutsche Vorzeit 19 (1943) 48-52; Anne-Marie Adam, L’enseignement de la Reichsuniversität de Strasbourg, in: dies. u.a., L’archéologie en Alsace et en Moselle au temps de l’annexion (1940-1944), Straßburg u.a. 2001, 136-143. 109 Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz Teil 2: Die Kapitulation der Hohen Schulen. Das Jahr 1933 und seine Themen, Band 1, München u.a. 1992, 248f.; Bender u.a. (wie Anm. 39) 315. 110 Adam (wie Anm. 108) 143. 111 Denkmäler zur Frühgeschichte Westdeutschlands I: Denkmäler der römischen Militärherrschaft (SS 1934); Archäologie Englands (WS 1934/35); Die kaiserzeitliche Kultur der Rheinlande und ihre urgeschichtlichen Grundlagen (WS 1935/36); Gegenwartfragen der rheinischen Frühgeschichtsforschung (WS 1937/38); Grenzkulturen des römischen Reiches (WS 1938/39); Römische Städte in Westeuropas (2. Trimester 1940); Archäologie des Trierer Raumes (Trimester 1941); Die Beziehungen zwischen Germanen und Römern im Spiegel der Denkmäler (WS 1941/42) 112 Hans-Paul Höpfner, Die Universität Bonn im Dritten Reich. Akademische Biographien unter nationalsozialistischer Herrschaft, Bonn 1999, 432. 113 Günter Grimm, Wilhelm von Massow, in: Archäologenbildnisse (wie Anm. 92) 257. 114 Friedrich Matz, Römische Kunst in Deutschland (WS 1933/34); Kurt Regling, Römer und Germanen nach den Münzen (SS 1934); Gerhart Rodenwaldt, Antike Kunst Westeuropas (Römische Kunst) (SS 1944). 115 Fitz Weege, Rhein- und Moselland zur Römerzeit (SS 1933, SS 1939, WS 1941/42). 116 Hans Dragendorff, Archäologie Westdeutschlands vom 1. Jh. v.Chr. bis 5. Jh. n.Chr. (WS 1933/34); Übungen zur provinzialrömischen Archäologie (WS 1937/38); Ausgewählte Abschnitte aus der Archäologie der römischen Provinzen (SS 1938, WS 1939/40). 117 ermann Thiersch, Die archäologischen Denkmäler zur paganen Religionsgeschichte der keltischen, germanischen und slavischen Länder (SS 1934). 118 Ulrich Boehringer, Das Leben im römischen Militärlager (WS 1934/35). 119 Eugen von Mercklin, Die Römer in Deutschland (WS 1933/34, WS 1944/45). 120 Reinhard Herbig, Die Römer in Germanien (SS 1934). 121 Andreas Rumpf, Römische Kunst mit besonderer Berücksichtigung der Rheinlande (WS 1938/39) – Bei Einrichtung des archäologischen Lehrstuhls in Köln fiel die Entscheidung gegen den Einbezug der
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berg122, Leipzig123, Rostock124 und Tübingen125 bildete die Provinzialrömische Archäologie eine gelegentliche Ergänzung. Die meisten Veranstaltungen sind ausgesprochen allgemeinen und einführenden Charakters. Nach dem Zweiten Weltkrieg reduzierte sich die akademische Verbindung zwischen Klassischer und Provinzialrömischer Archäologie selbst gegenüber dem Stand der 30er und 40er Jahre deutlich.126 Zum Studium der Klassischen Archäologie aus der Warte der Studierenden können gegenwärtig und ohne gezielte Nachforschungen in den Universitätsarchiven fast keine Angaben gemacht werden. Archäologisches Institut des Deutschen Reiches Das Archäologische Institut des Deutschen Reiches127 (AIDR – heute Deutsches Archäologisches Institut, DAI), eine aus einer 1829 in Rom gegründeten privaten wissenschaftlichen Vereinigung hervorgegangene Reichsanstalt, war als wesentlich von der Klassischen Archäologie dominierte Institution von erheblicher Bedeutung für Binnenintegration und Außenwirkung der Profession. Die Genese des Instituts und die beschränkten kulturpolitischen Kompetenzen des Reiches waren dafür verantwortlich, daß sich die Zuständigkeit der Anstalt vor allem auf die Auslandsarchäologie beschränkte. Im Inland betrieb eine Römisch-Germanische Kommission (RGK) des Instituts Feldarchäologie auch in Deutschland, doch verweist schon deren Bezeichnung auf die enge Anbindung an die Klassische Archäologie. Die größte institutionelle Krise der Klassischen Archäologie im Dritten Reich erwuchs aus einer massiven, bereits vor 1933 angestoßenen Attacke gegen das AIDR, deren Ursachen einerseits in standespolitischen Spannungen, andererseits in den konkurrierenden Bemühungen um das offizielle Geschichtsbild des Regimes zu suchen sind. Starke Diskrepanzen in der berufsständischen Vertretung brachte die Klassische gegenüber der Prähistorischen Archäologie ebenso in Defensive wie etablierte, aber nicht der Partei angehörige Prähistoriker eine erstarkte Konkurrenz durch Außenseiter oder Nachwuchswissenschaftler befürchten mußten, die sich eng an die neuen Machthaber gebunden hatten. Ein naheliegendes Vehikel in dieser Auseinandersetzung stellte die Propagierung einer extrem politisierten und nationalistischen Germanen-Archäologie dar, der gegenüber skeptische Prähistoriker als ideologisch unzuverlässig, die Klassische Archäologie als kontraproduktiv angegangen werden konnten. Das AIDR ist als Institution unangetastet aus der Kontroverse hervorgegangen, was Anlaß zu dem Mißverständnis gab, hierin einen Akt der Behauptung gegenüber dem Regime erkennen zu können, während das Resultat tatsächlich eher als eine Ausbalancierung des Einflusses konkurrierender Gruppen zu werten ist, deren jede, auch unter Reibereien, ihre
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Provinzialrömischen Archäologie: Bernd Heimbüchel, Klaus Pabst, Kölner Universitätsgeschichte. Das 19. und 20. Jahrhundert, Köln u.a. 1988, 508; – Der erste und langjährige Lehrstuhlinhaber Andreas Rumpf hielt Provinzialrömische Archäologie als Universitätsfach in Köln für überflüssig: Henner von Hesberg, Andreas Rumpf (1890-1966) in Briefen an Kollegen und Schüler, Boreas 14/15 (1991/92) 218. Franz Messerschmidt, Römische Kunst der Provinzen, besonders Germanien (SS 1941). Robert Heidenreich, Römer und Germanen im westlichen Deutschland (SS 1934). Gottfried von Lücken, Ornamentik und Bildkunst in der germanischen Vorgeschichte (SS 1935); Europäische Vorgeschichte (SS 1936, SS 1938); Römische Kunst und Kultur in Deutschland (SS 1939). Carl Watzinger, Kelten und Germanen in der antiken Kunst (WS 1935/36, 3. Trimester 1940). Hölscher (wie Anm. 9) 209. Junker (wie Anm. 68; Rezension: Hubertus Manderscheid, Journal für Kunstgeschichte 4 (2000) 223231); ders., Research under dictatorship. The German Archaeological Institute 1929-1945, Antiquity 72 (1998) 282-292; ders., Zur Geschichte des Deutschen Archäologischen Instituts in den Jahren von 1933 bis 1945, in: Antike und Altertumswissenschaft (wie Anm. 21) 503-517.
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spezifische Funktion im System erfüllte. Das AIDR wäre, hätte es prinzipiellen Interessen des Regimes im Wege gestanden, in seiner überkommenen Struktur nicht bewahrt geblieben. Leitfigur des Angriffs auf das AIDR war der NS-Prähistoriker Hans Reinerth, der der Fachgruppe Vorgeschichte des sog. Amtes Rosenberg vorstand.128 Reinerths Forderung nach einem substantiellen Ausbau einer nationalistisch ausgerichteten Vorgeschichte verband sich mit dem Vorhaben, diese Vorgeschichte durch ein Reichsinstitut für Deutsche Vorgeschichte zentral zu bündeln (und zugleich zu kontrollieren).129 Diesem Plan stand die RGK des AIDR im Wege, die aufgrund ihres eingeschränkten Forschungsauftrages in die Kritik geraten konnte. Die Übertragung der Inlandsforschung von der RGK auf das Reichsinstitut hätte das AIDR aber nicht nur geschwächt, sondern wahrscheinlich substantiell gefährdet, da es von da ab ausschließlich auf eine auf verschiedenen Ebenen angreifbare Auslandsarchäologie beschränkt geblieben wäre. Reinerth hat sich mit seinen Plänen nicht durchgesetzt. Auf Dauer etablierten sich in Deutschland drei zentralisierte, miteinander konkurrierende oder koalierende archäologische Institutionen bzw. Ämter, zu denen neben dem AIDR und dem Amt Rosenberg die unter Heinrich Himmels Befehl stehende SS-Forschungsabteilung Das Ahnenerbe zählte. Die Aktivitäten der unter Rosenberg und Himmler arbeitenden Gruppen und ihr Verhältnis zum AIDR zählen zu den besser erforschten Aspekten des Verhältnisses Archäologie und Nationalsozialismus, so daß an dieser Stelle auf die Literatur verwiesen werden kann.130 Eine symbiotische Koexistenz unterschiedlicher Beteiligter läßt auch die Wiederaufnahme der Ausgrabungen in Olympia erkennen, die sich an die Austragung der Olympischen Spiele 1936 in Berlin band. Für das Regime verhießen Spiele wie Grabung einen Prestigegewinn, die antikisierende Inszenierung der Spiele schloß das nationalsozialisti128 Hans Reinerth, Die deutsche Vorgeschichte im Dritten Reich, Nationalsozialistische Monatshefte. Wissenschaftliche Zeitschrift der N.S.D.A.P. 3 (1932) Heft 27, 256-259; ders., (wie Anm. 32) 3: „Kein Volk der Erde hat seine arteigene, früheste Geschichte so wenig gepflegt und so sehr verleugnet wie das deutsche. [...] Den Griechen und Italienern, den Aegyptern und Vorderasiaten haben wir ihre nationale Vorgeschichte erkundet, ihre Tempel wieder aufgebaut, ihre Museen errichtet und ihren Nationalstolz aufs neue entflammt. Überall im Ausland arbeitet der deutsche Spaten, nur in Deutschland war es anders: Seit 100 Jahren geht der Kampf um die deutsche Vorgeschichte. Jeder Säulenstumpf, jeder Römerziegel, jedes noch so bescheidene Zeugnis fremder Kultur auf unserem Boden ist umhegt und umsorgt und in dicken Büchern beschrieben worden. [...] Das deutsche Volk verlangt heute Rechenschaft. Endlich einmal auch von der vom Staat bezahlten Wissenschaft. Es wehrt sich dagegen, jährlich Millionen deutscher Steuergroschen für die nationale Vorgeschichte fremder Völker abzugeben, Ausgrabungen in Aegypten und Kleinasien, in Griechenland und Kleinasien, in Griechenland und Italien zu bezahlen, Museen und Institute für volksfremde Vorzeit im In- und Auslande zu unterhalten – während die Erforschung seiner arteigenen, frühesten Geschichte darniederliegt. [...] Durch mehr als ein Jahrhundert hat unsere Wissenschaft gefragt, wieviele Bausteine der Süden, wieviele der Orient zum Aufbau unserer deutschen Kultur geliefert hat. Heute fragen wir: Was wäre dieser Süden und Osten ohne uns? Denn wir wissen, daß es nordisches Blut war, nordischer Schöpfergeist, der die Grundlagen schuf zu den Hochkulturen des Mittelmeers. Aus deutschem Boden flossen die Quellen, von Deutschland zogen sie aus die nordischen Indogermanen und nicht wenige der besten Germanenstämme, die am Südmeere ihre Kultur und ihre Reiche zur letzten Blüte entfalteten.“ – Replik aus AIDR-Perspektive: Theodor Wiegand, Das Archäologische Institut des Deutschen Reiches und die deutsche Bodenforschung, Deutsche Zukunft 1 (1933) Heft 2. 129 Eine Ausweitung der Inlandsaktivitäten war zuvor auch schon durch das AIDR erwogen worden: Mechthilde Unverzagt, Wilhelm Unverzagt und die Pläne zur Gründung eines Instituts für die Vorgeschichte Ostdeutschlands, Mainz 1985. 130 Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, 2. Auflage München 2006; ders., Das „Amt Rosenberg“, das „Ahnenerbe“ und die Prähistoriker. Bemerkungen eines Historikers, in: Prähistorie und Nationalsozialismus (wie Anm. 2) 21-48; Michael H. Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS 1935-1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, Stuttgart 1974 (2. Auflage München 1997); Losemann, Nationalsozialismus und Antike (wie Anm. 18) 118-173; Alain Schnapp, Archéologie, archéologues et nazisme, in: Le racisme. Mythes et sciences. Pour Léon Poliakov, hg. von Maurice Olender, Brüssel 1981, 290-298; Silke Wenk, Auf den Spuren der Antike. Theodor Wiegand, ein deutscher Archäologe, Bendorf 1985, 30-36. 50-53; Junker (wie Anm. 68) 49-66; Haßmann (wie Anm. 24) 76-86; Schöbel (wie Anm. 23) 336f.
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sche Menschenbild öffentlichkeitswirksam an eine nobilitierte Tradition an. Die Archäologie erweiterte ihr traditionell eher geistig-ästhetisches Ideal um den im Sinne der KampfIdeologie anschlußfähigen Körper- und Kampfkult.131 Die der Regie des AIDR unterstellte neue Olympia-Grabung wurde durch Mittel aus Hitlers persönlichem Dispositionsfond kräftig unterstützt (eine wilhelminische Tradition) und stellte die NS-Regierung damit in die Nachfolge kulturstaatlicher Wissenschaftsförderung.132 Das AIDR stabilisierte die Grabung durch die Ankündigung, mit „Tiefgrabungen“ vor allem die Frühgeschichte des Heiligtums – „Wanderungen“ und „Stammeszusammenhänge“ untersuchen zu wollen133 – neue Klänge für Olympia, aber eine naheliegende Perspektive im Sinne der frühgeschichtlichen Kunstgeschichtsschreibung (s.o. Kunstgeschichte).134 Der tatsächliche Verlauf der Grabung, die sich vor allem auf die aufwendige Untersuchung des Stadions sowie die Bearbeitung früheisenzeitlicher Metallvotive konzentrierte, nahm dann eine eigene Richtung.135 Während des Dritten Reiches kam es auf den meisten Führungspositionen des AIDR zum Personalwechsel. In der Zentrale in Berlin sowie in den Abteilungen Rom und Athen gelangten NSDAP-Mitglieder in leitende Ämter. Während der von 1938 bis 1945 amtierende AIDR-Präsident Martin Schede als Konsenskandidat der wissenschaftlichen Leitungsgruppe des AIDR beurteilt wird136, wurden für die Abteilungen in Athen und Rom Personalentscheidungen gegen die Voten der AIDR-Führung getroffen. Interventionen aus Partei und Ministerium trugen 1937 in Athen Walter Wrede (NSDAP-Landesleiter in Griechenland) anstelle von Armin von Gerkan in das Amt des „Ersten Sekretars“137 und 1938 in Rom Siegfried Fuchs (NSDAP-Ortsgruppenleiter in Rom) in die (entscheidend gestärkte) Position des Zweiten Direktors.138 Während die Institutspolitik der Zentrale wie der Abteilung Athen keine parteilichen Rücksichtnahmen erkennen lassen, die von der fachlichen Umgebung als Illoyalität der archäologischen Einrichtung gegenüber gewertet worden wären, verfolgte die Abteilung Rom seit 1938 einen markant politisierten Kurs.139 Siegfried Fuchs, dem anstelle des Ersten Direktors (Armin von Gerkan) die wissenschaftliche Leitung übertragen worden war, schrieb dem Haus mit Rückendeckung des Ministeriums eine systematische Germanenforschung vor. 1935 (als Klassischer Archäologe!) mit einer Arbeit zur „Indogermanisierung Griechenlands“ in Heidelberg promoviert, stellte Fuchs in Rom Spätantike und Völkerwanderungszeit in den Mittelpunkt des Forschungsprogramms. Programmteile zu „Langobarden“ und „Goten“ sollten die maßgebliche Rolle der Germa131 Marchand (wie Anm. 5) 351f.; Ingomar Weiler, Zur Rezeption des griechischen Sports im Nationalsozialismus: Kontinuität oder Diskontinuität in der deutschen Ideengeschichte, in: Antike und Altertumswissenschaft (wie Anm. 21) 267-284; Sünderhauf (wie Anm. 6) 323-334. 132 Junker (wie Anm. 68) 70-72; Julia Hiller von Gaertringen, Deutsche archäologische Unternehmungen im besetzten Griechenland 1941-1944, Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Athenische Abteilung 110 (1995) 466-468: zur Grabung in der Kriegszeit. 133 Walther Wrede, Die Olympiaforschung seit den Ausgrabungen von 1875-1881 und die neuen Ziele, in: Bericht über die Ausgrabungen in Olympia Herbst 1937-Herbst 1937, Berlin 1936, 8. 134 Es ist daher weniger zwischen den „tönenden Phrasen bei der Eröffnung“ und einer Ausführung „absolut im Rahmen strenger wissenschaftlicher Forschung“ zu scheiden, als zwischen verschiedenen, aber gleichermaßen in der Facharchäologie verankerten Interessenslagen; anders: Helmut Kyrieleis, Abteilung Athen, in: Beiträge zur Geschichte des Deutschen Archäologischen Instituts 1929-1979, Teil 1, Mainz 1979, 48. 135 Ulf Jantzen, Deutsches Archäologisches Institut. Einhundert Jahre Athener Institut 1874-1974, Mainz 1986, 49-52. 136 Kurt Bittel, in: Archäologenbildnisse (wie Anm. 92) 220f.; Junker (wie Anm. 68) 29f. 137 Kyrieleis (wie Anm. 134) 45. 47f.; Jantzen (wie Anm. 135) 48-50. 138 Über Wrede und Fuchs hat das an sich geräumige fachliche Kollektivgedächtnis nach 1945 die damnatio memoriae verhängt. 139 Junker (wie Anm. 68) 76f.; Maischberger, German archaeology (wie Anm. 3) 212-215; Thomas Fröhlich, Das Deutsche Archäologische Institut in Rom in der Kriegs- und Nachkriegszeit bis zur Wiedereröffnung 1953, in: Deutsche Forschungs- und Kulturinstitute in Rom in der Nachkriegszeit, hg. von Michael Matheus, Tübingen 2007.
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nen im Transformationsprozeß zwischen Antike und Mittelalter affirmieren.140 Dem Programm, das an seiner begrenzten Laufzeit und den zunehmend chaotischen Rahmenbedingungen gemessen einige Publizität erlangte141, flossen bis zum Ende des Krieges erhebliche Instituts- und Sondermittel zu. Wissenschaftssystematisch betrachtet stellte die Intensivierung der archäologischen Erforschung der Völkerwanderungszeit in Italien ein Desiderat dar, und prinzipiell konnten Umbewertungen zu innovativen und weit vorausweisenden Resultaten gelangen.142 Die ideologische Präformulierung einer Metaerzählung und ihre nicht zuletzt für das Gastland provozierende aktualistische Perspektive hatten die deutsche Beteiligung an der italienischen Völkerwanderungsforschung jedoch bis auf weiteres desavouiert. Die entschiedene Stigmatisierung des Germanen-Programms durch die deutsche Archäologie nach 1945 ist, vergleicht man es mit zeitgleichen Projekten, fachlich nur zum Teil berechtigt und in ihrer Konsequenz wohl nur als symbolischer Distanzierungsversuch erklärlich.143 Krieg und Besatzung Besetzung und Annexion im Zweiten Weltkrieg brachten in vielen Ländern Europas deutsche militärische und zivile Stellen in Entscheidungs- oder Befehlspositionen und eröffneten damit der Instrumentalisierung von Geschichte neue Wege. Angesichts der besonderen Bedeutung von Freund-Feind-Schemata in der NS-Ideologie bedeuteten deutsche Präsenz und deutsches Kommando in „Feindstaaten“ auch eine herausragende Gelegenheit, mit Hilfe der Archäologie materialisierte Geschichtsbilder im Sinne der eigenen Position umzuschreiben. Die Klassische Archäologie war ihrer Definition gemäß fachlich durch das Kriegsgeschehen im Westen und im Süden tangiert.144 140 Die engen Prämissen des Programms schlossen die differenzierte Konzipierung einer Kulturberührungssituation aus: Siegfried Fuchs, Die Erforschung der germanischen Hinterlassenschaften in Italien, Bericht über den VI. Internationalen Kongreß für Archäologie Berlin 1939, Berlin 1940, 641: „[Die] Verschmelzung von Spätantike und germanischer Kultur [...] stellt die Grundlage dar, auf der die gesamte geistige, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung des Mittelalters in allem Wesentlichen aufgebaut ist. Dabei muß jedoch betont werden, daß den innerhalb des germanischen Lebensraums in Form einer Überschichtung der dort bodenständigen Kulturen durch Rom vor sich gehenden Anfängen dieser Verbindung zunächst keine eigentlich schöpferische Kraft innewohnte: Zwar entstanden in ihrem Gefolge überall und durchweg hochentwickelte Kulturen, aber diese Kulturen sind ohne Ausnahme unmißverständlich gekennzeichnet als Ausstrahlungen der großen stadtrömischen Mutterkultur, von der sie sich in Art und Aussehen entweder gar nicht oder nur unwesentlich unterscheiden. Im ganzen gesehen, erweist sich dieser erste Abschnitt der römisch-germanischen Beziehungen seinem Wesen nach als durchaus reproduktiv. Erst die auf dem Boden des Imperium Romanum vor sich gehende zweite Phase des gegenseitigen Kulturaustausches, die sich von dem Augenblick der germanischen Landnahme in Italien an in einer Umkehrung des geschilderten Vorganges, das heißt in der totalen Überlagerung des nun seinerseits zum Substrat werdenden antiken Erbes durch typisch germanische Lebens- und Kulturformen äußert, hat jene entscheidende Änderung des Weltbildes herbeigeführt, die der Abgrenzung der Begriffe Mittelalter und Antike gegeneinander ihre innere Berechtigung verleiht.“ – vgl. ders., Kunst der Ostgotenzeit, Berlin 1944, 41 (zum Theoderichsgrab in Ravenna). 141 Siegfried Fuchs, Die langobardischen Goldblattkreuze aus der Zone südwärts der Alpen, Berlin 1938; ders., Erforschung (wie Anm. 140) 641-647; ders., Galeata – vorläufiger Bericht, Archäologischer Anzeiger (1942) 259-277; ders., Der Palast des Theoderich in Galeata bei Forlì, Germanien. Monatshefte für Germanenkunde 15 (1943) 109-118; ders., Bildnisse und Denkmäler aus der Ostgotenzeit, Die Antike 19 (1943) 109-152; ders., Ostgotenzeit (wie Anm. 140); Fritz Krischen, Theoderichpalast bei Galeata, Archäologischer Anzeiger (1943) 459-472; Robert Heidenreich, Das Grabmal Theoderichs zu Ravenna, Bonn 1943. 142 Friedrich Wilhelm Deichmann, Die Entstehungszeit von Salvatorkirche und Clitunnustempel, Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Römische Abteilung 58 (1943) 106-148. 143 vgl. Maischberger, German archaeology (wie Anm. 3) 212. 144 Im Osten, in Polen, war ein klassischer Archäologe, Hans Schleif, als Offizier des „SS-Ahnenerbes“ in verantwortlicher Position an Verlagerungen archäologischer Objekte beteiligt: Kater (wie Anm. 130) 20f. 148-152. 292.
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Neue Veröffentlichungen und Analysen zum Thema Archäologie in NS-Diensten liegen vor allem für Frankreich und Griechenland vor. Im annektierten Elsaß, zu dessen Archäologie kürzlich eine französische und eine deutsche Ausstellung gezeigt wurden145, ist die Germanen-Romanen-Antithese aktiviert worden (s.o. Klassische Archäologie und Archäologie der Römischen Provinzen). Griechenland wurde von der Propaganda nicht als Feindesland angesprochen, seine Besetzung mit übergeordneten strategischen Notwendigkeiten begründet. Mit Blick auf Archäologie in den Jahren der Okkupation 1941 bis 1944 spiegelte sich zunächst die Ämterkonkurrenz, die bereits die Situation im Reich kennzeichnete und die durch die Aktivitäten des Militärischen Kunstschutzes noch weiter verkompliziert wurde.146 Dem AIDR, das eine mäßigende Position einnahm, gelang es auch in Griechenland, sich gegen das Amt Rosenberg durchzusetzen, das nur 1941 im Lande tätig werden konnte. In dieses Intermezzo fielen Grabungen unter dezidiert politischen Vorzeichen, in Thessalien (Velestino) und in Sparta. In beiden Fällen stand die ‚Klärung‘ der Umstände der indogermanischen „Landnahme“ auf dem Programm. Als Modell eines „Rassestaates“ nahm Sparta in der Antike-Adaption der NS-Ideologie einen besonderen Rang ein. Die Grabungen Otto Wilhelm von Vacanos, eines Führungskaders der „Adolf-Hitler-Schulen“147, konzentrierten sich allerdings auf einen neolithischen Horizont und wurden offenbar nicht ideologisch ausgewertet.148 Auch das SS-Ahnenerbe, das im Übrigen auch schon vor der Besetzung in Griechenland aktiv war149, strebte eine Sparta-Grabung unter Leitung von Hans Schleif an, zu der es jedoch nie kam.150 Im Wesentlichen auf die Initiative militärischer Befehlshaber gingen archäologische Unternehmungen, darunter auch Grabungen, auf Kreta zurück. Für deren Durchführung standen Archäologen, die meisten von ihnen zum Militärdienst abkommandiert, zur Verfügung.151 Ein außergewöhnliches Erschließungsprojekt war der außergewöhnlichen Verfügungsgewalt des Besatzers geschuldet und wies zugleich in der Mißachtung elementarer griechischer Hoheitsrechte auf den selbstherrlichen Zugriff nach Art der imperialistischen Archäologie des 19. Jahrhunderts zurück – der Plan einer vollständigen luftbildarchäologischen Erfassung des griechischen Territoriums.152 Der angestrebte exklusive deutsche 145 Adam u.a. (wie Anm. 108); Propaganda. Macht. Geschichte (wie Anm. 35). 146 Roland Hampe, Rezension: I. Zemiai ton archaioteton ek tou polemou kai ten straton katoches, Athen 1946; II. Works of arts in Greece, the Greek islands and the Dodecanese. Losses and survivals in the war, London 1946; III. T.W. French, Losses and survivals in the Dodecanese, Annual of the British School of Athens 18 (1948) 193-200, Gnomon 22 (1950) 1-17; Kyrieleis (wie Anm. 134) 49-51; Schnapp (wie Anm. 130) 300f.; Jantzen (wie Anm. 135) 53-56; Basileios Ch. Petrakos, Ta archaia tes Ellados kata ton polemo 1940-1944, Athen 1994; Julia Hiller von Gaertringen, „Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.“ Studien zum literarischen Werk Erhart Kästners, Wiesbaden 1994, 129-166; dies. (wie Anm. 132) 461-490; Sünderhauf (wie Anm. 6) 349f. 147 Sparta. Der Lebenskampf einer nordischen Herrenschicht, hg. von Otto Wilhelm von Vacano, Kempten 1940 (Arbeitsheft der Adolf-Hitler-Schulen). – Losemann, Nationalsozialismus und Antike (wie Anm. 18) 250 Anm. 110. 148 Archäologischer Anzeiger (1942) 156; von Vacano habilitierte sich 1944 in Graz über die Grabung von Kouphovouno (bei Sparta): Otto Wilhelm von Vacano, Lelegia. Eine vorgeschichtliche Siedlung auf dem Kufowuno bei Sparta, Graz 1944; die Arbeit blieb unveröffentlicht, doch konnten die (gut dokumentierten) Ergebnisse der Grabung 1989 publiziert werden: Josette Renard, Le site néolithique et helladique ancien de Kouphovouno (Laconie). Fouilles de O.-W. von Vacano (1941), Lüttich 1989. – Losemann, Die Dorier (wie Anm. 18) 344-348; Hiller von Gaertringen (wie Anm. 132) 486-489. 149 Kurt Gebauer, Forschungen in der Argolis, Archäologischer Anzeiger (1939) 268-294. 150 Hiller von Gaertringen (wie Anm. 132) 486f. 151 Zusätzlich zu der in Anm. 146 genannten Literatur: Forschungen auf Kreta 1942, hg. von Friedrich Matz, Berlin 1951; Matz, Erinnerungen (wie Anm. 46) 68f.; Ulf Jantzen, Anekdota II. Kreta 19411942, Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Athenische Abteilung 110 (1995) 491499 152 Hans Lohmann, Atene, Bd. 1, Köln u.a. 1993, 33f.; Hiller von Gaertringen (wie Anm. 132) 470-475.
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Gebrauch der gewünschten Dokumentation hätte der deutschen Archäologie auf absehbare Zeit einen beträchtlichen Vorsprung in der Erforschung der Topographie des antiken Griechenlands sichern sollen, wofür eine schwere Beschädigung der Internationalität der Griechenland-Archäologie in Kauf genommen wurde. Das Unternehmen wurde nicht zuende geführt, erreichte aber bei Abbruch einen Arbeitsstand von etwa 11.000 Photographien. Das Luftbildprojekt war nur unter den besonderen Umständen einer geminderten rechtlichen und administrativen Kontrolle sowie der Zusammenarbeit unterschiedlichster Dienststellen ziviler und militärischer Art vorstellbar. Es erinnert auch in dieser Hinsicht an die Anfänge der professionellen Archäologie, in der Kompetenzen ganz heterogener Herkunft zur allmählichen Ausbildung archäologischer Arbeitsroutinen (z.B. der Großgrabung) zusammenfanden. Im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert ergibt sich in dieser ‚Kriegsarchäologie‘ der für die Wissenschaft und ihr rechtlich-administratives Umfeld bedenkliche Befund eines Bedingungszusammenhangs zwischen partieller Entrechtlichung und Innovation. Auf Seiten der Archäologen war der physischen Inbesitznahme Griechenlands die mentale vorausgegangen.153 Identifikation und Verfügungsgewalt resultierten in einem methodischen Aneignungsverhalten, das von der wissenschaftlichen Erfassung154 über die literarische Rezeption155 bis zur pädagogischen Mission156 reichte. Die Ergebnisse dieser Pro153 Walther Wrede, Einführung, in: Hellas. Bilder zur Kultur des Griechentums, hg. von Hans von Schönebeck, Wilhelm Kraiker, Burg b.M. 1943, 2-4: „Wenn einmal ein starkes und geniales Volk sich in diesem Lande eingerichtet hatte, wenn ihm hier führende Männer und Geister erstanden, mußte es auf solch vorgezeichneten Wegen seine Schöpfungen hinaustragen in alle Welt. [...] Griechenland hat dem Deutschen nun einmal mehr zu sagen als irgendein beliebiges Ausland. [...] Was der Deutsche hier sucht, was ihn immer wieder bannt, ist nicht das Fremdartige, deutschem Wesen Gegensätzliche; sondern es sind die Spuren eines ihm Gemäßen, das unmittelbar zu ihm spricht, eines Erbes, von dem er etwas in sich trägt; das Vermächtnis eines Volkes, das verwandtem Blut entstammte und sein Dasein zur höchsten dem Menschen erreichbaren Veredlung steigerte. [...] Ist es nicht eine Schickung, daß Deutsche in einem Land bluteten, dessen geschichtliche Sendung vor Jahrtausenden durch junge, aus dem Norden über den Balkan herabstoßende Stämme bestimmt worden war, und das mit den Schöpfungen seiner großen Stunde wiederum dem Norden mehr dargebracht hatte als irgendein anderes? Und war die Hissung der deutschen Flagge auf dem Gipfel des Olympos, in Athen und Olympia nur ein Zeichen der Besitzergreifung? Oder vielmehr ein Gruß an die Geister, von denen jeder Soldat ebenso etwas ahnte wie von der Beschwörung durch deutsche Dichter und Denker?“ 154 Die interdisziplinäre „Historische Landeskunde“ gewann im Krieg besonders durch die Forschungen Ernst Kirstens neues Profil: s. etwa: Ernst Kirsten, Siedlungsgeschichtliche Forschungen in Westkreta, in: Forschungen auf Kreta (wie Anm. 151) 118-156. 155 1942 veröffentlichte Max Wegner eine stupende Anthologie internationaler Reiseberichte über Griechenland: Max Wegner, Land der Griechen. Reiseschilderungen aus sieben Jahrhunderten, Berlin 1942; Erhart Kästner, nach dem Krieg der Leiter „der Bibliothek von Leibniz und Lessing“ in Wolfenbüttel, verfaßte 1942 im Auftrag eines Luftwaffengenerals eine literarische Reise durch Griechenland, auf der ihm Inkarnationen der Griechen vor Troia begegneten: Kästner (wie Anm. 60) 9f.: „An dieser Stelle unserer Fahrt begegneten wir einem Zug, der nordwärts fuhr und auf einer Ausweichstelle der eingleisigen Strecke unserer wartete. Es waren Männer von Kreta, die von dort kamen und nun einem neuen Ziel und einem neuen Kampf entgegengingen. Unser Zug schob sich langsam an der nachbarlichen Wagenreihe entlang. Auf den offenen flachen Eisenbahnwagen standen fest vertäut die Geschütze, die Kraftwagen und die Räder, von Staub überpudert und deutlicher von den überstandenen Strapazen redend als die Männer. Darauf und dazwischen saßen, standen und lagen gleichmütig die Helden des Kampfes, prachtvolle Gestalten. Sie trugen alle nur die kurze Hose, manche den Tropenhelm, und blinzelten durch ihre Sonnenbrillen in den hellen Morgen. Ihre Körper waren von der griechischen Sonne kupferbraun gebrannt, ihre Haare weißblond. Da waren sie, die ‚blonden Achaier‘ Homers, die Helden der Ilias. Wie jene stammten sie aus dem Norden, wie jene waren sie groß, hell, jung, ein Geschlecht, strahlend in der Pracht seiner Glieder. Alle waren sie da, der junge Antenor [sic], der massige Ajax, der geschmeidige Diomedes, selbst der strahlende, blondlockige Achill. Wie anders denn sollten jene ausgesehen haben als diese hier, die gelassen ihr Heldentum trugen und ruhig und kameradschaftlich, als wäre nichts gewesen, von den Kämpfen auf Kreta erzählten, die wohl viel heldenhafter, viel kühner und viel bitterer waren als alle Kämpfe um Troja. Wer auf Erden hätte jemals mehr Recht gehabt, sich mit jenen zu vergleichen als die hier – die nicht daran dachten? Sie kamen vom schwersten Siege, und neuen, unbekannten Taten fuhren sie entgegen. Keiner von ihnen, der nicht den Kameraden, den Freund da drunten gelassen hätte. Um jeden von ihnen schwebte der Flügelschlag des Schicksals. Es wehte homerische Luft. [...] Und nun öffneten sich [...] die Abteile, immer mehr kletterten von den Wagen und
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duktion wirkten z.T. noch weit in Wissenschaft und Publizistik der Nachkriegszeit hinein.157 Italien hatte im Verlauf des Krieges mehr und mehr den Status eines Vasallen statt eines gleichberechtigten Verbündeten eingenommen. Ausdruck des Machtgefälles wurde 1942 die exzeptionelle Erteilung einer Grabungsgenehmigung für das AIDR in Galeata / Forlì (wissenschaftliche Leitung: Friedrich Krischen, Ernst Homann-Wedeking) – Italien vergab ansonsten keine Grabungslizenzen an ausländische Institutionen. Die Grabung in Galeata war Bestandteil des Germanen-Forschungsprogramms des AIDR (s.o. Archäologisches Institut des Deutschen Reiches).158 1941 bis Anfang 1943 kämpften deutsche Truppen in Libyen. Das römische Direktorengespann des AIDR, Armin von Gerkan und Siegfried Fuchs, verfaßte für die Truppe zwei kleine Führungshefte zu den bekanntesten Ausgrabungsstätten des Landes, Leptis Magna und Kyrene, die im Verlag des Italien-Beobachters erschienen.159 Von italienischen Archäologen wurden die Veröffentlichungen als unstatthafte Übergriffe in eigene Zuständigkeitsbereiche angesehen. Opposition und Exil Auf unangenehme Weise ähneln die Schwierigkeiten des Versuchs, Opfer, Geschädigte und Gegner des Nationalsozialismus unter Klassischen Archäologen zu überblicken, den Problemen einer Quantifizierung und Qualifizierung der Nähe zu Regime oder Ideologie. Im einen Falle ist die Überlieferung gewollt verknappt, im anderen beruht der mangelhafte Kenntnisstand auf den schwachen Spuren mancher beschädigter Lebensläufe. Dem Problem wird im folgenden mit einer eher listenartigen und sicher unvollständigen Aufführung begegnet. Dabei stehen unweigerlich sehr ungleich gelagerte Situationen – Momentaufnahmen und tiefe biographische Einschnitte – nebeneinander.
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rannten im vollen Lauf über den weißen Strand ins köstliche, blinkend blaue Meer. Und als ob ein geheimes, der Landschaft innewohnendes Gesetz es so wolle, fiel es kaum einem ein, die Badehose, das Abzeichen christlich-neuzeitlicher Körperscham, zu tragen. Unversehens ergab sich ein völlig klassisches Bild. Sprühend im Licht dieses Morgens und im Glanz ihrer jungen Nacktheit tummelte sich die Schar dieser Eroberer am fremden Meer, und es schien so, als sein ein verloren geglaubtes, unsterbliches Geschlecht wiedergekehrt und habe mit Selbstverständlichkeit Besitz genommen von diesem Ufer, oder als seien sie immer dagewesen und der Götterberg habe nie auf andere niedergeblickt als auf sie.“ – Dazu Hiller von Gaertringen (wie Anm. 146) 14f. 96-108. 168-178. 190-203. 237-241. 252f. 270-278. Archäologen und Althistoriker verfaßten Merkblätter für den deutschen Soldaten an den geschichtlichen Stätten Griechenlands (Gesamtauflage: ca. 479.000): Hiller von Gaertringen (wie Anm. 146) 133. 135-137; Petrakos (wie Anm. 146) 143-152; – Hellas (wie Anm. 153); Der Peloponnes. Landschaft, Geschichte, Kunststätten. Von Soldaten für Soldaten herausgegeben von einem Generalkommando, Athen 1944. Aus den Merkblättern entstand eine handbuchartige Landeskunde, die mehrere Auflagen erlebte: Ernst Kirsten, Wilhelm Kraiker, Griechenlandkunde. Ein Führer zu klassischen Stätten, Heidelberg 1955 (5. Auflage 1967); – Wegners Sammlung wurde 1955 in dritter Auflage gedruckt. – Wiesbaden 1953 erschien Erhart Kästners Ölberge, Weinberge. Ein Griechenlandbuch, leicht umgearbeitet auf der Grundlage des „Buch[es] aus dem Kriege“ (vorläufig jüngste Ausgabe: 2004). – Ein später Ausläufer der im Krieg beförderten Landeskunde: Griechenland. Lexikon der historischen Stätten von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. von Siegfried Lauffer, München 1989. Zum „Kunstraub“ z.Z. der Besatzung: Lutz Klinkhammer, Die Abteilung „Kunstschutz“ der deutschen Militärverwaltung in Italien 1943-45, Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 72 (1992) 483-549. Armin von Gerkan, Leptis Magna, Rom 1942; Siegfried Fuchs, Kyrene, Rom 1942.
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Margarete Bieber160 (Gießen, 1933), Paul Jacobsthal161 (Marburg, 1935) und Karl Lehmann-Hartleben162 (Münster, 1933) büßten aufgrund jüdischer Abstammung ihre Professuren ein. Für Margarete Bieber unterschrieben 49 Studierende eine Petition.163 LehmannHartleben, der als politisch liberaler Geist galt, wurde in einem universitätsinternen Dossier Beliebtheit bei den Studenten attestiert.164 Die genannten Professoren verließen Deutschland, besetzten – z.T. nach Jahren beruflicher Existenznöte – in den USA (Bieber und Lehmann-Hartleben, Columbia und New York) bzw. in Großbritannien (Jacobsthal, Oxford) erneut Lehrstühle oder Dozenturen und genossen im Exil ein hohes fachliches Renommee. Ihre Arbeiten wurden im Nachkriegsdeutschland rezipiert, wirkten jedoch nicht schulbildend zurück. Richard Delbrueck165 (1875-1957), Lehrstuhlinhaber in Bonn, wurde 1937 aufgrund seiner regimekritischen Einstellung mit einem Reiseverbot belegt und 1940 vorzeitig emeritiert. Daniel Krencker166 (1874-1941), Rektor der Berliner Technischen Hochschule 19301932, wehrte sich noch im März 1933 gegen das Hissen der Hakenkreuzflagge auf dem Universitäts-Hauptgebäude. Während sich die Archäologische Gesellschaft zu Berlin am Tag von Potsdam (21.3.1933) versammelte, um anschließend ihre Zustimmung zu den neuen politischen Verhältnissen im ARCHÄOLOGISCHEN ANZEIGER zu Protokoll zu geben167, formulierte der Erlanger Archäologe Georg Lippold (1885-1954) in einem Brief an den Kollegen Paul Arndt seine Skepsis angesichts der neuen Regierung.168 1937 erhielt Lippold einen förmli160 Eisler (s. Anm. 91) 588; Rolf Winkes, Margarete Bieber zum 95. Geburtstag, Gießener Universitätsblätter 7 (1974) Heft 1, 68-75; International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 2: The arts, sciences, and literature, hg. von Herbert A. Strauss, Werner Röder, München u.a. 1983, 104; Larissa Bonfante, in: Archäologenbildnisse (wie Anm. 92) 196f.; Cornelia Wegeler, „... wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik“. Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus. Das Göttinger Institut für Altertumskunde 1921-1962, Wien u.a. 1996, Anhang 10: Liste der durch nationalsozialistische Maßnahmen entlassenen Wissenschaftler in den Fächern: [...] Archäologie, 390; Chroust (s. Anm. 94) 181. 227; Stephen L. Dyson, Ancient marbles to American shores. Classical archaeology in the United States, Philadelphia 1998, 224. 161 Biographical Dictionary (wie Anm. 160) 559f.; Karl Schefold, in: Archäologenbildnisse (wie Anm. 92) 204f.; Wegeler (wie Anm. 160) 391; Theune (wie Anm. 105). 162 Eisler (s. Anm. 91) 580f.; Biographical Dictionary (wie Anm. 160) 703; Alfred Kneppe, Josef Wiesehöfer, Friedrich Münzer, ein Althistoriker zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Bonn 1983, 99 Anm. 70. 102; Werner Fuchs, 100 Jahre Klassische Archäologie an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster, Boreas 7 (1984) 11f.; Erich Burck, Als Assistent bei Karl Lehmann-Hartleben in Münster, Boreas 7 (1984) 344-346; Klaus Voigt, Zuflucht auf Widerruf. Exil in Italien 1933-1945, Bd. 1, Stuttgart 1989, 83. 392. 397. 611. 628; Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz Teil 2: Die Kapitulation der Hohen Schulen. Das Jahr 1933 und seine Themen, Bd. 2, München u.a. 1994, 703705; Wegeler (wie Anm. 160) 391; Dyson (wie Anm. 160) 227; Manderscheidt (wie Anm. 68) 226f.; Florian Seiler, Karl Lehmann-Hartleben e la nuova ricerca su Pompei, in: Pompei. Scienza e società 250o anniversario degli scavi di Pompei. Convegno internazionale Napoli 1998, Mailand 2001, 66-68. 163 Chroust (wie Anm. 94) 227. 164 Heiber (wie Anm. 162) 705. 165 Heinrich Drerup, in: Archäologenbildnisse (wie Anm. 92) 188f.; Höpfner (wie Anm. 112) 429f. 166 Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz Teil 1: Der Professor im Dritten Reich. Bilder aus der akademischen Provinz, München u.a. 1991, 147; Heiber (wie Anm. 109) 42; Stefanie Bahe, Dorothée Sack, Archäologische Bauforschung an der Technischen Universität und ihren Vorgängern, in: 17991999. Von der Bauakademie zur Technischen Universität Berlin. Geschichte und Zukunft, hg. von Karl Schwarz, Berlin 2000, 96. 167 Gerhart Rodenwaldt, Archäologischer Anzeiger (1933) 363: „Wenn die Archäologische Gesellschaft sich zu ernster Arbeit versammelt in der gleichen Stunde, in der Hunderttausende sich anschicken, im Glanz der Fackeln die Erregung des Tages ausklingen zu lassen, so tun wir das nicht unter der Devise noli turbare circulos meos. Als am Vormittag in der Potsdamer Garnisonskirche sich vor der ehrfurchtgebietenden Gestalt des greisen Feldmarschalls die Pforten zu der Gruft des großen Königs öffneten, vollzog sich ein ergreifender symbolischer Akt für ein großes historisches Geschehen, das eine neue Periode deutscher Geschichte einleitet.“ 168 Peter Zazoff, Hilde Zazoff, Gemmensammler und Gemmenforscher. Von einer noblen Passion zur Wissenschaft, München 1983, 239: Briefe Lippolds vom 22.3. und 10.5.1933 im Nachlaß Arndt: „Tief de-
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chen Verweis für seine lobende Erwähnung der Biographie Heinrich Schliemanns aus der Feder des (jüdischen) Schriftstellers Emil Ludwig.169 Valentin Müller (1889-1945)170, bis dahin außerplanmäßiger Professor in Berlin, hatte schon 1931 aus beruflichen Gründen eine Stelle als Associate Professor in Bryn Mawr (USA) angenommen, die er bis zu seinem Tode bekleidete. Sein ehemaliger Berliner Kollege und Altersgenosse Friedrich Matz machte die „Enge der Geisteswissenschaften in Deutschland“ nach dem Ersten Weltkrieg verantwortlich für die fachliche Isolierung Müllers, dessen Qualifikation er besonders in der Verbindung von Klassischer und Vorderasiatischer Archäologie angesiedelt sah. Matz bezeugte auch die „mehr als kritische“ Einstellung Müllers „den Verhältnissen in Deutschland“ gegenüber.171 Der Göttinger Ordinarius Hermann Thiersch172 (1874-1939) wurde 1938, da seine Frau als „Halbjüdin“ eingestuft war, aus der Göttinger Akademie der Wissenschaften ausgeschlossen. Gegen den Nationalsozialismus positioniert bzw. durch dessen Regime bedroht waren auch etliche Vertreter des wissenschaftlichen Nachwuchses an den Universitäten: In einer Art nachholender Emigration verließ 1947 der kurz zuvor in Hamburg habilitierte Peter Heinrich von Blanckenhagen173 (1909-1990), der von 1942 bis 1943 in Marburg die Stelle eines Wissenschaftlichen Assistenten vertreten hatte, Deutschland, um eine Dozentur in Chicago anzunehmen. Anschließend lehrte er an der Universität New York. von Blanckenhagen soll der erste nach dem Krieg in die USA berufene deutsche Geisteswissenschaftler gewesen sein. Clemens (Emin) Bosch174 (1899-1955) studierte Alte Geschichte, Klassische Philologie und Archäologie in Berlin und Heidelberg. Das AIDR erkannte ihm 1934 das WülfingStipendium (ein Stiftungsstipendium) wegen seiner jüdischen Ehefrau wieder ab. Aus
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primiert bin ich von der politischen Entwicklung, da können alle erfreulichen, selbst erhebenden Nebenerscheinungen nichts helfen, wir liefern uns der Diktatur eines ehrlich begeisterten, aber nicht besonders intelligenten und gebildeten Handwerksgesellen ohne Menschenkenntnis und seines zum großen Teil nicht wohlmeinenden Gefolges aus. Lächerlich, aber doch tragikomisch ist der Zusammenbruch der bajuwarischen Nation und ihres Staates, der eisernen und aller sonstigen Fronten, aber rein tragisch die Vernichtung der Freiheit der Meinung und des Geistes.“ – „Am Freitag ist das Autodafé, ich lese Tag und Nacht Heine, damit ich ihn noch genießen kann, ehe er verbrannt wird.“ Georg Lippold, Rezension zu: Heinrich Schliemann, Briefe, hg. von Ernst Meyer, Philologische Wochenschrift 56 (1936) 1205-1209: „Ernst Meyer, ein Landsmann Schliemanns, kein Facharchäologe, aber Humanist und Philhellene, hat mit großer Gewissenhaftigkeit die Sammlung und Sichtung des noch erreichbaren Bestandes von Briefen unternommen. Daß das Ziel nicht ganz erreicht wurde, ist nicht seine Schuld. Wie es so oft geht, hatte gleichzeitig ein anderer, Emil Ludwig, sich mit dem gleichen Gegenstand befaßt und Schliemann in die Reihe seiner effektvollen Biographien aufzunehmen beschlossen; dafür hat ihm die Familie Schliemann das reiche Material von Tagebüchern und Briefkopien aus ihrem Besitz zur Verfügung gestellt, das M. nicht zugänglich war. [...] So kann sich die Sammlung mit dem ja ebenfalls aus Dokumenten, Briefen und Tagebüchern aufgebauten Buch von Ludwig nicht messen, ist freilich auch viel objektiver: mit Recht wendet sich M [...] gegen die von Ludwig durchgeführte Idee vom ‚Goldsucher‘.“ (1206f.); Heiber (wie Anm. 166) 230. 559 Anm. 880; Alfred Wendehorst, Geschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg 1743-1993, München 1993, 188; Die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg 1743-1993. Geschichte einer deutschen Hochschule, hg. von Christoph Friederich, Erlangen 1993, 108 – Das inkriminierte Werk: Emil Ludwig, Schliemann. Geschichte eines Goldsuchers, Berlin u.a. 1932. Friedrich Matz, Valentin Müller, Gnomon 21 (1949) 182-185; T. Robert S. Broughton, in: Archäologenbildnisse (wie Anm. 92) 244f.; Wegeler (wie Anm. 160) 392. Matz, Erinnerungen (wie Anm. 46) 62. 66f. Klaus Fittschen, in: Archäologenbildnisse (wie Anm. 92) 183f. Dyson (s. Anm. 160) 227; Erwin Panofsky. Korrespondenz 1937 bis 1949, hg. von Dieter Wuttke, Wiesbaden 2003, 609f. 629-632. 660f. 729f. 759-762. 862-868. 887f. 953-956.985-989. 992-994. 998f. 1021; Sünderhauf (wie Anm. 6) 305. 307. Arif Müfid Mansel, Clemens Emin Bosch, Türk Tarih Kurumu. Belleten 20 (1956) 295-303; Horst Widmann, Exil und Bildungshilfe. Die deutschsprachige akademische Emigration in die Türkei nach 1933, Bern u.a. 1973, 113f. 256; Losemann, Nationalsozialismus und Antike (wie Anm. 18) 38; Biographical Dictionary (wie Anm. 160) 135; Wegeler (wie Anm. 160) 208. 384; Junker (wie Anm. 68) 33.
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demselben Grund wurde Bosch 1935 aus dem Dienst der Universität Halle entlassen und emigrierte in die Türkei. Er arbeitete zunächst als Numismatiker am Archäologischen Museum Istanbul, dann als Professor für Alte Geschichte an der Istanbuler Universität. Otto Johannes Brendel175 (1901-1973) bekleidete Mitte der 30er Jahre eine Assistentenstelle in Erlangen, auf der er als Mitarbeiter an der Abteilung Rom des AIDR vertreten wurde. Da er mit einer „Nicht-Arierin“ verheiratet war, verlor er 1937 seine Erlanger Lehrbefugnis. Schon 1936 hatte er Deutschland als Research Fellow der Universität Durham verlassen. Er kehrte nicht mehr zurück, emigrierte 1938 in die Vereinigten Staaten und las zuletzt Kunstgeschichte und Archäologie als Professor der Columbia-Universität. Der AIDR-Stipendiat Peter Knoblauch wurde vom Reichserziehungsministerium abgelehnt, da er im Vorwort seiner Dissertation jüdischen Freunden für ihre Unterstützung gedankt hatte.176 Friedrich Lorentz177 (geb. 1902), Assistent in Köln 1931-1937, wurde 1937 aus derzeit nicht bekannten Gründen entlassen. Nur sehr ausschnitthaft einsehbar sind die Auswirkungen der Repressalien auf das Studium der Klassischen Archäologie. Nachvollziehbar sind vor allem diejenigen Fälle, die trotz negativer Einwirkungen auf die persönlichen und akademischen Lebensläufe in archäologische Karrieren mündeten – meist außerhalb Deutschlands: Erwin Bielefeld (1907-1975) mußte 1934 wegen seines jüdischen Vaters das Studium abbrechen und war gegen Kriegsende interniert. Nach dem Krieg bekleidete er Professuren in Greifswald und München (apl.).178 Dietrich Felix von Bothmer179 (geb. 1918), George M.A. Hanfmann180 (1911-1986) und Kurt Weitzmann181 (1904-1993), alle Studenten der Archäologie in Berlin, emigrierten aus politischen Gründen bzw. aus Sorge vor rassistischer Verfolgung nach Großbritannien oder in die USA. Weitzmann hatte sich geweigert, vor seiner Habilitation in den NS-Dozentenbund einzutreten. von Bothmer erlangte die Position eines Kurators am Metropolitan Museum of Art, New York, Hanfmann und Weitzmann wurden Professoren für Kunstgeschichte bzw. Kunstgeschichte und Archäologie in Harvard bzw. Princeton. Peter Kahane (1904-1974)182 verließ nach unabgeschlossenem Studium u.a. in München Deutschland 1933 und arbeitete zunächst in Athen am Deutschen, dann am Österreichischen Archäologischen Institut. 1937 in Basel promoviert, 1938 nach Palästina emigriert, leitete er zunächst das Rockefeller-Museum, später die archäologische Abteilung des Israel-Museums. Eine noch in der Ferne liegende mögliche deutsche Archäologen-Karriere zerschlug sich 1933 mit der Emigration des Kölner Professors für Indo-Iranische Philologie Isidor 175 Biographical Dictionary (wie Anm. 160) 151; William M. Calder III, in: Archäologenbildnisse (wie Anm. 92) 283f.; Gotthard Jasper, Die Universität in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, in: 250 Jahre Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Festschrift, hg. von Henning Kössler, Erlangen 1993, 832; Wendehorst (wie Anm. 169) 186. 188; Wegeler (wie Anm. 160) 391; Dyson (wie Anm. 160) 224f.; Sünderhauf (wie Anm. 6) 253-255. 176 Junker (wie Anm. 68) 33f. 177 Supplementary list of displaced German scholars, London 1937, 5: abgedruckt in: Emigration. Deutsche Wissenschaftler nach 1933. Entlassung und Vertreibung, hg. von Herbert A. Strauss, Tilmann Buddensieg, Kurt Düwell, Berlin 1987; Wegeler (wie Anm. 160) 393. – nicht aufgeführt in: Frank Golczewski, Kölner Universitätslehrer und der Nationalsozialismus. Personengeschichtliche Ansätze, Köln u.a. 1986; Heimbüchel, Pabst (wie Anm. 121). 178 Berthold Fellmann, in: Archäologenbildnisse (wie Anm. 92) 303f.; Heres (wie Anm. 99) 574. 179 Biographical Dictionary (wie Anm. 160) 136; Wegeler (wie Anm. 160) 392. 180 Biographical Dictionary (wie Anm. 160) 457; Adolf H. Borbein, in: Archäologenbildnisse (wie Anm. 92) 313f.; Wegeler (wie Anm. 160) 392; Dyson (wie Anm. 160) 225f. 181 Biographical Dictionary (wie Anm. 160) 1233; Wuttke (wie Anm. 173) 1276f. 182 Biographical Dictionary (wie Anm. 160) 580; Herbert A. Cahn, in: Archäologenbildnisse (wie Anm. 92) 291f.; Wegeler (wie Anm. 160) 393.
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Scheftelowitz und seiner Familie. Der Sohn Bruno Benjamin Scheftelowitz, seit den 40er Jahren Brian Shefton183 (geb. 1919), vertrat langjährig die Klassische Archäologie an der Universität Newcastle upon Tyne. Das Archäologische Institut des Deutschen Reiches verlor nach antisemitischen Kampagnen zwei seiner Abteilungsdirektoren. Gerhard Bersu184 (1889-1964) leitete von 1931 bis 1935 die Römisch-Germanische Kommission des AIDR. Seit 1933 als „Halbjude“ unter Druck, wurde er zunächst aufgrund seiner als hervorragend eingestuften wissenschaftlichen und patriotischen Qualitäten im Amt gehalten, schließlich aber doch aus dem Direktorenamt entfernt und mit einer den Schein der Normalität vortäuschenden Sonderaufgabe betraut. 1937 erfolgte die Zwangspensionierung. Von einem England-Aufenthalt 1939 kehrte er nicht wieder nach Deutschland zurück. Nach dem Krieg besetzte Bersu (ein singulärer Fall unter den Emigranten) die Leitung der wiedererrichteten RömischGermanischen Kommission erneut. Georg Karo185 (1872-1963) amtierte 1912-1920 und 1930-1936 als Leiter der Zweigstelle Athen des AIDR. Fachliche und politische Protektion verzögerte die Entlassung des Juden Karo aus seinem Amt bis 1936, unmittelbar vor seiner regulären Pensionierung. Karo emigrierte 1939 in die USA, kehrte 1952 aber nach Deutschland zurück. Der Direktor der Abteilung Rom des AIDR, Ludwig Curtius186, wurde Ende 1937 als politisch nicht genehme Person in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Karl Schefold187 (1905-1999), mit einer Jüdin verheiratet, setzte sich 1935 als Mitarbeiter des Deutschen Archäologischen Instituts Athen aus Griechenland in die Schweiz ab. Er vertrat lange Jahre die Professur für Klassische Archäologie an der Universität Basel. Hermine Speier188 (1898-1989), 1925-28 Assistentin in Königsberg, wechselte 1928 mit ihrem Doktorvater Ludwig Curtius als Direktor an die Abteilung Rom des Deutschen Archäologischen Instituts, um dort eine Photothek aufzubauen. 1934 mußte sie als Jüdin ihre Stelle verlassen. Mit Curtius‘ Vermittlung konnte sie eine entsprechende Aufgabe in den Museen des Vatikans übernehmen, dessen Personalakten sie als „Herminius Speier“ führten. Sie überstand Krieg und Besatzung in Rom und leitete zuletzt die Antikenabteilung der Vatikanischen Museen. Willy Schwabacher189 (1897-1972), 1932/33 Stipendiat des AIDR und Spezialist in griechischer Numismatik, wurde 1935 von der Teilnahme an den Grabungen im Athener Kerameikos ausgeschlossen. Eine Exilantenkarriere führte ihn von Athen zunächst nach Kopenhagen. Im Oktober 1943 wurde er mit Tausenden anderer Juden durch den dänischen Widerstand vor dem Zugriff durch die deutsche Besatzungsmacht gerettet. In Stockholm arbeitete er u.a. als Konservator am Königlichen Münzkabinett. 183 www.ncl.ac.uk/shefton-museum/shefton/shefton1.html. 184 Biographical Dictionary (wie Anm. 160) 98; Wegeler (wie Anm. 160) 391; Junker (wie Anm. 68) 3537; Werner Krämer, Gerhard Bersu – ein deutscher Prähistoriker 1889-1964, Berichte der RömischGermanischen Kommission 82 (2001) 5-101; Maischberger, German archaeology (wie Anm. 3) 211f. 185 Biographical Dictionary (wie Anm. 160) 596f.; Kyrieleis (wie Anm. 134) 45-47; Jantzen (wie Anm. 135) 48f.; Reinhard Lullies, in: Archäologenbildnisse (wie Anm. 92) 181f.; Wegeler (wie Anm. 160) 391; Junker (wie Anm. 68) 37f. 186 Reinhard Lullies, in: Archäologenbildnisse (wie Anm. 92) 186f.; Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Stuttgart 1986, 88f.; Voigt (wie Anm. 162) Bd. 1, 83f.; Faber (wie Anm. 14); Fröhlich (wie Anm. 139). 187 Biographical Dictionary (wie Anm. 160) 1026f.; Wegeler (wie Anm. 160) 393; Rolf A. Stucky, Zum Tod von Karl Schefold, Antike Kunst 42 (1999) 71f.; Paul Zanker, Karl Schefold, Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst (1999) 276-282; Margot Schmidt, Karl Schefold, Gnomon 72 (2000) 571-575. 188 Bernard Andreae, Carlo Pietrangeli, In memoriam Hermine Speier, Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Römische Abteilung 96 (1989) 1-6; Voigt (wie Anm. 162) Bd. 1, 82. 388. 395; Bd. 2, 451. 464; Hans von Steuben, Hermine Speier, Gnomon 62 (1990) 379-382; Georg Daltrop, „Leben ist Liebe“. Hermine Speier (1898-1989), Antike Welt 29 (1998) 473-475. 189 Christof Boehringer, Ulla Westermark, Willy Schwabacher, Schweizerische Numismatische Rundschau 52 (1973) 155-166; Biographical Dictionary (wie Anm. 160) 1058.
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Die 1928 offiziell gegründete Abteilung Istanbul des AIDR war nicht allein auf Archäologie, sondern auch auf die nachantike Kultur und Geschichte der Türkei ausgerichtet. Der Institutsspezialist für islamische Landesgeschichte Paul Wittek (1894-1978)190 schied 1933 wegen grundsätzlicher Ablehnung der „braunen Pest“191 aus dem Reichsdienst aus. In den 30er Jahren entstanden im Exil in Belgien, später in London seine lange maßgeblichen Studien zur Genese des ottomanischen Staates. Von 1948-1961 vertrat er den Lehrstuhl für Turkologie an der Universität London. Die Familie Karl Anton Neugebauers (1886-1945), Kustos an der Antikenabteilung der Staatlichen Museen von Berlin, litt unter den Rassegesetzen, die Neugebauers Ehefrau jüdischer Abstammung betrafen. Beider Sohn, dem die Studienmöglichkeit verwehrt wurde, nahm sich das Leben.192 Der Berliner Archäologe Otto Rubensohn193 (1867-1964), der vor dem Ersten Weltkrieg Ausgrabungen in Griechenland und Ägypten geleitet und seit 1916 im Schuldienst gearbeitet hatte, wurde 1939 zur Auswanderung in die Schweiz gezwungen. Der Potsdamer Anwalt Ernst Nathan194 (1898-1974) verließ 1936 Deutschland ins italienische und 1939 Italien ins amerikanische Exil. Als Ernest Nash verdiente er sich seinen Lebensunterhalt als Photograph. Nach dem Krieg übernahm er die Leitung der Fototeca Unione in der American Academy in Rom. Anfang der 60er Jahre gab das Deutsche Archäologische Institut ein von Nash erstelltes Bildhandbuch zur Topographie der Stadt Rom heraus.195 Grundsätzlich verschlechterten sich die Stellenaussichten für Frauen, die kaum begonnen hatten, im archäologischen Beruf Fuß zu fassen. Das AIDR sah ab 1938 keine ReiseStipendiatinnen mehr vor, da laut Satzung das Stipendium zukünftig „leitenden Kräften“ zufallen sollte.196 Durch Exilierung büßte die deutsche Klassische Archäologie nicht zuletzt an ‚interdisziplinärer‘ Kompetenz ein. Schemenhaft wird eine Alternative zu der sich mehr und mehr fachlich absondernden in Deutschland praktizierten Archäologie erkennbar. Besonders mit Blick auf die jüngeren Archäologen verlor die deutsche Klassische Archäologie durch die Emigration einen wichtigen Anstoß zu zukunftsweisenden Forschungen auf dem Gebiet der römischen Kunst.197 Erst Ende der 60er Jahre sollte sich mit der Arbeitsgruppe „Römische Ikonologie“ ein innovatives Forschungsparadigma zur römischen Kunst in Deutschland Gehör verschaffen.
190 Kurt Bittel, Abteilung Istanbul, in: Beiträge zur Geschichte des Deutschen Archäologischen Instituts 1929-1979, Teil 1, Mainz 1979, 83; Colin Heywood, Wittek and the Austrian tradition, Journal of the Royal Asiatic Society (1988) 7-25, besonders 7-11; ders., „Boundless dreams of the Levant“: Paul Wittek, the George-Kreis, and the writing of Ottoman history, Journal of the Royal Asiatic Society (1989) 30-50. 191 Brieflich an Kurt Bittel aus Brüssel am 29.12.1934: Heywood, Wittek (wie Anm. 190) 10f. mit Anm. 21. 192 Andreas Rumpf, Karl Anton Neugebauer, Gnomon 22 (1950) 194-196; Elisabeth Rohde, in: Archäologenbildnisse (wie Anm. 92) 238f. 193 Karl Schefold, Otto Rubensohn zum Gedächtnis, Antike Kunst 8 (1965) 104; Rudolf E. Heymann, Erinnerungen an Otto Rubensohn, Antike Kunst 22 (1979) 110. 194 Voigt (wie Anm. 162) Bd. 1, 170. 611; Ernest Nash – Ernst Nathan, 1898-1974. Photographie. Potsdam, Rom, New York, Rom, hg. von Maria R.-Alföldi, Margarita C. Lahusen, Berlin 2000. 195 Ernest Nash, Bildlexikon zur Topographie des antiken Rom, Tübingen 1961. 196 Junker (wie Anm. 68) 34f. 197 Dyson (wie Anm. 160) 227f.
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Resümee Die vorstehende Interpretation war weniger an Biographien als an disziplinären Befundlagen und Diskursen orientiert. Anders als 1933 vielfach prognostiziert, überstand die Klassische Archäologie das NS-Regime institutionell im wesentlichen unbeschadet. Materielle Verluste (Immobilien, Bibliotheken, Sammlungen) sowie der vorübergehende Entzug der Verfügung über die Forschungsinstitute im Ausland sind auf den politisch-militärischen Zusammenbruch zurückzuführen. Dem entspricht eine weitgehende strukturelle Restauration in der Bundesrepublik Deutschland, bedingt auch in der Deutschen Demokratischen Republik. Die intellektuellen Verluste durch Vertreibung oder Marginalisierung reichten zahlenmäßig nicht an den brain drain in den übrigen Altertumswissenschaften oder in der Kunstgeschichte heran. Inhaltlich bedeuteten sie eine erhebliche Verarmung, ohne jedoch die Wirkung einer paradigmatischen Alternative im Exil zu erlangen. Die Einbindung der Klassischen Archäologie in Instrumente der inneren wie äußeren Repression durch das Regime blieb gering. Die Bilanz von Forschung und Lehre bewegte sich zwischen zwei Polen: sie erreichte weder eine durchgehende ideologische Militanz noch verblieb sie per se im Range ‚strenger‘ wissenschaftlicher Sacharbeit mit gelegentlichem verbalen Tribut an die herrschenden Doktrinen. Eine „traditionelle Fachwissenschaft“ auf der einen und „Dilettantismus“ und „Rassenwahn“ auf der anderen Seite lassen sich nicht sauber scheiden198; ideologische „Zugeständnisse“ sind nicht hinreichend als Aktualitätsbeweise199 erklärt. Zwischen Kernsätzen der NS-Ideologie und fachlichen Aussagen der Klassischen Archäologie, die aufgrund ihres Kontextes weder als marginal noch oberflächlich charakterisierbar sind, bestanden semantische Beziehungen. Auch abseits dieses Bezugsfeldes wurden unverändert Untersuchungen durchgeführt, Materialgruppen publiziert, neue analytische Ansätze formuliert. Doch die hier angesprochenen Äußerungen besaßen oft Prominenz oder genossen überdurchschnittliche Verbreitung. Die teilweise Kompatibilität von NS-Ideologie und klassisch-archäologischer Forschung und Lehre beruhte auch auf einer merklichen Verschiebung wesentlicher Arbeitsparadigmen der Archäologie, die als eine teilweise Entwissenschaftlichung im Sinne der Kriterien einer im 19. Jahrhundert oder auch heute geübten Praxis darstellten. Dieser Prozeß ist nicht unabhängig von einer als existentielle Bedrohung der disziplinären Formation verstandenen Legitimationskrise zu begreifen, die weniger als wissenschaftliche denn als kulturelle Herausforderung gewertet wurde. Die Konvergenz von Ideologie und autoritativem Fachbeitrag leistete der Homogenität und damit der Unausweichlichkeit des Les- und Hörbaren Vorschub; sie trug zur strukturellen Stabilität des Regimes bei.200 Nachtrag Im Rahmen des Projekts „Lebensbilder“ (Leitung: Gunnar Brands, Martin Maischberger) werden zurzeit neue wissenschaftliche Biographien maßgeblicher deutscher und nichtdeutscher Archäologen erarbeitet, die für die Fachgeschichte der Klassischen Archäologie zur Zeit des Nationalsozialismus besondere Relevanz besitzen. Das Projekt wird in eine Buchpublikation münden. 198 Junker (wie Anm. 68) 42. 199 Himmelmann (wie Anm. 66) 455f. – Auch die Formel einer „verbalen Anpassung“ impliziert die Berechtigung, zwischen eigentlicher Forschung und angehängten Lippenbekenntnissen scheiden zu können: Binder (wie Anm. 7) 22-24. 200 Abschluß des Manuskripts: Herbst 2004.
KLASSISCHE ARCHÄOLOGIE
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Das Deutsche Archäologische Institut läßt im Rahmen seines „Forschungsclusters 5“ derzeit die Geschichte des Instituts von 1900 bis 1979 untersuchen, wobei die Zeit des Nationalsozialismus einen Schwerpunkt bilden wird. Angekündigt ist integrierende Gesamtdarstellung, die sich durch Spezialstudien ergänzt. Die Federführung der Arbeiten im Cluster obliegt einem Zeithistoriker.
ALTE GESCHICHTE JOSEF WIESEHÖFER I. Einleitende Bemerkungen1 Die Geschichte der Altertumswissenschaften, nicht zuletzt der Alten Geschichte, im Nationalsozialismus hat in den letzten Jahren erneut große Beachtung gefunden, nachdem – dank Karl Christ und seiner Schüler – erste grundlegende Studien und eine erste ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem Thema Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre zu verzeichnen gewesen waren.2 Die mit großem Ernst und großer Sorgfalt in den letzten Jahren wiederaufgenommene Debatte verdankt sich mehreren Umständen: a) dem persönlichen Engagement einzelner Gelehrter3, das sich sowohl in Einzelstudien, als auch in einer Tagung4 zum Thema niederschlug; b) der größeren ‚Unbefangenheit‘ der Enkelgeneration; c) der Zugänglichkeit neuen Aktenmaterials seit den beginnenden 1990er Jahren. Im Zusammenhang dieser Neuansätze ist zu Recht verlangt worden, die lange Zeit übliche zeitliche Perspektive (1933-1945) zu erweitern, um die Kontinuitäten und Diskontinuitäten der deutschen Althistorie vor 1933 und nach 1945, d.h. die intellektuellen und wissenschaftlichen Voraussetzungen der kollaborierenden, der für nationalsozialistisches Gedankengut unempfänglichen und der ‚unpolitischen‘ Althistoriker sowie die Inhalte und Methoden der Geschichtswissenschaft nach der Befreiung, gebührend berücksichtigen zu können. Erst wenn Nazifizierung und Entnazifizierung als langfristige Umwandlungen verstanden und untersucht werden, wird auch die Politisierung von Wissenschaft im Nationalsozialismus hinreichend analysiert werden können.5 Jede wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung der Alten Geschichte in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft wird schnell auf die Schwierigkeiten der Urteilsbildung stoßen.6 Sie ist selbst dort nicht immer einfach, wo es etwa um die Schicksale der Entlassenen, Vertriebenen oder Ermordeten geht, sie ist ausgesprochen schwierig, wo dezidierter Einsatz für den Nationalsozialismus und menschliches Verhalten im Alltag gemeinsam zu konstatieren sind, zumal nicht jede zeitgerechte Formulierung einen Autor schon zum willigen Befürworter der nationalsozialistischen Herrschaft macht; sie ist einfacher bei denjenigen, deren mutige Distanz zum Regime selbst in ihren Publikationen faßbar ist oder auch bei denjenigen, deren Bekenntnis zum nationalsozialistischen Staat ein unbedingtes war und nie Raum für Zweifel oder spätere Einsicht ließ. „Eine kritische Geschichte der Disziplin kann daher nicht beim Nachweis persönlicher Verstrickung stehenbleiben, sondern hat die zeitbedingten Faktoren der Geschichtsschreibung als notwendiges Korrektiv der aktuellen Forschung und zur Selbstvergewisserung des Faches zu ermitteln. Dabei sollte sich der Historiker nicht
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Diese zusammenfassende Darstellung stützt sich, wie unschwer zu erkennen ist, auf die Darstellungen von Losemann 2001a und b, Näf 2001b und Rebenich 2005, die einen vorzüglichen Überblick über das Thema vermitteln. – Für eine kritische Lektüre des Manuskriptes und zahlreiche Hinweise danke ich S. Rebenich (Bern) und R. Bichler (Innsbruck). Hier sind vor allem Losemann 1977; 1980a und b sowie Christ 1982; 1999; 2006 zu nennen. Die besonderen Verdienste einzelner Gelehrter werden aus dem 2. Teil der Bibliographie ersichtlich. Näf 2001a. Rebenich 2001a, 457f. – Dieser Ansatz entspricht Tendenzen auch in der neu- bzw. zeithistorischen Diskussion: vgl. Hausmann 2002a; Weisbrod 2002; Lehmann/Oexle 2004. Zu Recht betont von Malitz 1998, 519.
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die Rolle des Strafrichters anmaßen, sondern sich mit der des Untersuchungsrichters bescheiden.“7 Auch wenn sich die (jüngere) deutsche Althistorie zugute halten kann, ein gerüttelt Maß an Aufklärungsarbeit über das dunkelste Kapitel ihrer Zunftgeschichte bereits geleistet zu haben, steht weiterhin noch manches aus: ergänzende Untersuchungen etwa zu den Antikebildern nationalsozialistischer ‚Funktionäre‘; weitere Darstellungen zu gelehrten Einzelpersönlichkeiten sowie Universitätsinstituten8, Akademien9 und Forschungsinstitutionen jener Zeit; Untersuchungen zu den Auswirkungen deutscher Herrschaft auf die Althistorie und Althistoriker der besetzten Länder10; zusätzliche Beiträge zur Rolle der althistorischen Emigration und der Bedeutung der Althistorie als Schulfach; Untersuchungen zu den besonderen Themenfeldern und Geschichtskonzeptionen im Nationalsozialismus (ähnlich etwa den Arbeiten zum Alexanderbild jener Zeit11); schließlich ein Vergleich zwischen der Alten Geschichte im Nationalsozialismus und der italienischen Althistorie im Faschismus12 sowie Hinweise auf Art und Ausmaß kollaborierenden Verhaltens nichtdeutscher Althistoriker zwischen 1933 und 1945. In diesem Beitrag kann es nur darum gehen, so etwas wie eine Bestandsaufnahme althistorischer Forschung zum Thema zu geben. Diese verdankt sich weniger eigenen bescheidenen Arbeiten zum Forschungsgegenstand13, als vielmehr den zahlreichen Untersuchungen von Kolleginnen und Kollegen, die dazu beigetragen haben, das dunkelste Kapitel althistorischer Wissenschaftsgeschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. II. Alte Geschichte zwischen Historismus und Nationalsozialismus In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts war die „Krise des Historismus“ in aller Munde. Vor dem Hintergrund der als Katastrophe empfundenen deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg forderten immer mehr Althistoriker die Abkehr vom Mommsenschen Forschungspositivismus (und seinem Epigonentum) sowie seinem Wissenschaftlichkeitspostulat und setzten an ihre Stelle Forderungen nach Rehabilitation der Antike als sinnstiftender Größe und nach Überwindung der Kluft zwischen Wissenschaft und täglichem Leben.14 Als positivistisch verstandene Quellenexegese hatte zugunsten eines geschichtlichen Verstehens des „Wesen“ und „Geistes“ von Epochen, Persönlichkeiten oder historischen Phänomenen aufgegeben zu werden. Umfassende Rekonstruktionen historischer Sachverhalte und aktuelle Synthesen sollten die detaillierte Kärrnerarbeit der Schüler des großen Meisters ablösen und dadurch zum Verständnis der antiken wie der gegenwärtigen Zeit beitragen; einher ging diese Neubesinnung, dem ganz überwiegend konservativ geprägten politischen Profil der Althistoriker entsprechend, mit verbreiteten Bekenntnissen zu Monarchie, Macht- und Führerstaat. Aristokratisch-elitäre Selbstüberschätzung, eine stark verbreitete antidemokratische Grundhaltung und z.T. bereits Anklänge an sozialdarwinistische, ‚rassenkundliche‘ und ‚rassenhygienische‘ Konzeptionen sowie offen antisemitische Einstellungen mochten bei dem ein oder anderen Gelehrten hinzukommen. Vor 1933 (und 7 8 9 10 11 12 13 14
Rebenich 2001a, 496. Vgl. etwa Wegeler 1996; Seibert 2002; Wirbelauer 2006. Vgl. etwa Rebenich 2001b. Hier sei daran erinnert, daß noch immer zahlreiche Viten und Würdigungen von Opfern des NS ausstehen. Als Beispiel eines solchen Desiderats sei nur an den in Auschwitz ermordeten Epigraphiker und Althistoriker Mario Segre erinnert. Bichler 2001. Vgl. die Anmerkungen von Hausmann 2002b. Kneppe/Wiesehöfer 1983; Wiesehöfer 1988; 1990. Flashar 1995.
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z.T. auch weit darüber hinaus) waren die (höchst differierenden; s.u.) nationalsozialistischen Antikekonzeptionen in der Regel unvereinbar mit den Einstellungen und Vorstellungen der meisten deutschen Althistoriker, auch wenn gewisse pränazistische Dispositionen (nicht zuletzt in der Bewertung großer Führergestalten, in der ‚Einfühlung‘ in das Wesen antiker Phänomene und in der Rassenlehre) in einem Teil der Althistorikerschaft bereits vor der ‚Machtergreifung‘ nicht zu leugnen sind. Innerhalb der Griechischen Geschichte etwa waren bei einigen jüngeren Gelehrten, wie Helmut Berve, die „intuitive Schau“, die „Betonung der (nationalen) Gemeinschaft und des Willens, die Ablehnung von Individualismus und die Akzeptanz von Gewalt und Selektion, der Rekurs auf das ‚Wesen‘ der ‚Völker‘ sowie auf ‚Stämme‘ und ‚Rassen‘“15 verbunden mit der strikten Zurückweisung einer universalhistorischen Konzeption von Alter Geschichte, wie sie etwa Eduard Meyer vertreten hatte.16 Solche ‚zeitgemäßen‘ Ansätze waren nicht völlig neu, wie auch die Geschichtsschreibung der zwanziger Jahre nicht einheitlich war und auch die Schüler und Enkelschüler Mommsens eine Vielfalt von Forschungsrichtungen vertraten. Vor allem innerhalb der Römischen Geschichte ist denn ja auch allein schon durch die langfristigen Großforschungsprojekte eine gewisse Kontinuität gegenüber der Zeit vor 1918 festzustellen. Andererseits ließen sich, dem Trend der Zeit folgend, in der Geschichte Roms auch „vergangenheitsorientierte Ideale“17 finden. Es verwundert nach dem bisher Gesagten nicht, daß viele der jüngeren Gelehrten von damals bis in die jüngste Vergangenheit hinein eine Neuorientierung des Faches (im Sinne einer Verarbeitung der Niederlage von 1918 bzw. der Überwindung der Zustände in der Weimarer Republik oder der Abkehr vom optimistischen Forschungspositivismus) als Kennzeichen der 20er Jahre beschrieben und ein Gefühl des Aufbruchs (im Sinne einer Betonung der Gegenwartsbedeutung des Faches) verspürt zu haben glaubten.18 Die damals tatsächlich vorhandene Breitenwirkung der Alten Geschichte und das Selbstbewußtsein ihrer Vertreter innerhalb der Historikerzunft und einer akademisch gebildeten Öffentlichkeit scheinen diesen fachspezifischen Optimismus und die historische Notwendigkeit jener Neuorientierung auf den ersten Blick zu bestätigen. Auf die Frage allerdings, warum in jener Zeit dennoch nur wenige zukunftsweisende Forschungsansätze entwickelt wurden, warum zugleich viele der „Ansätze zur lebendigen Neuorientierung ... gegenüber der unheilvollen Indienstnahme durch den Nationalsozialismus keine Resistenz besaßen“19, vermögen solche rückblickenden Stellungnahmen keine befriedigende Antwort zu geben. III. Nationalsozialistische Ideologie und Alte Geschichte20 Von einem einheitlichen Antikebild des Nationalsozialismus kann nicht die Rede sein. Zählten Rom und „der klarste(.) Rassenstaat der Geschichte“, Sparta, für Adolf Hitler zu seinen wichtigsten Vorbildern, während er den allgemein verklärten Germanen sehr distanziert gegenüberstand21, so war Alfred Rosenberg – in der Nachfolge Houston Stewart Chamberlains – geradezu der Begründer einer germanenverehrenden ‚Staatsreligion‘, stellte auch für Heinrich Himmler die Ahnen- und Germanenverehrung eine Art Religionsersatz dar. In die Gruppe der Germanenideologen gehört auch Richard Walter Darré, der 15 16 17 18 19 20 21
Rebenich 2001a, 466f. Ulf 2001a, 307-319. Stahlmann 1995, 325. Näf 1995, 275f. Ib., 276. Vgl. die zusammenfassenden Bemerkungen von Losemann 2001a, 723-728. Zu Hitlers Antikebild vgl. Demandt 2001.
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mit seinem „Bauern-Sparta“ andererseits wieder eine gewisse Nähe zu den Vorstellungen Hitlers erkennen läßt. Während dessen Bild vom Werden und Vergehen von Zivilisationen jedoch den Konzeptionen der Rassenlehre folgt (arische „Kulturbegründer“ vs. „parasitäres Judentum“, „Kampf um Lebensraum“, „Rassenauslese“ und „Rassenreinheit“ vs. „Mißachtung ... der Blutgesetze“), speist sich die Zivilisationskritik des „Reichsbauernführers“ vornehmlich aus anderen Wurzeln, wie der Idee von der Abkehr vom bäuerlichen „Erbhofgedanken“ und der Notwendigkeit der „Wiederaufnordung des deutschen Volkes“. IV. Die Alte Geschichte im ‚Dritten Reich‘ bis zum Zweiten Weltkrieg Nachdem in der sog. Machtergreifungsphase Werner Jaegers, unter dem Eindruck der Bedrohung der Alten Sprachen an Schule und Universität, als Brückenschlag zur NSBildungspolitik konzipierter „Dritter Humanismus“22 sowohl von nationalsozialistischer (Krieck, Baeumler), als auch von althistorischer Seite (Berve) verworfen worden war23, zeigten erste programmatische Stellungnahmen von Althistorikern wie Helmut Berve, Fritz Schachermeyr oder Wilhelm Weber, wie leicht sich die oben angesprochenen pränazistischen Dispositionen mit nationalsozialistischen Antikekonzeptionen (Rasselehre bzw. Führerprinzip) verbinden ließen.24 Die von dem Dresdner Philologen Walter Eberhardt verkündete ‚Abkehr von Rom‘25 provozierte zahlreiche Stellungnahmen von Altertumswissenschaftlern unterschiedlicher politischer Couleur (darunter dem Althistoriker Joseph Vogt) zugunsten der Relevanz römischer Geschichte und des Lateinunterrichts, oft genug unter Verweis auf das Hitler‘sche Diktum von Rom als der „Lehrmeisterin jeder Politik“ oder auf des ‚Führers‘ Interesse an monumentaler römischer Staatsarchitektur. Zuweilen wurde auch gefordert, die Germanenforschung zu fördern, ohne dafür die Romforschung aufzugeben.26 Schon in dieser frühen Phase war der durch Flucht und Vertreibung bedingte althistorische Aderlaß enorm. So ergaben sich nicht zuletzt für die Tradition exakter historischer Dokumentation (Epigraphik, Numismatik, Papyrologie, Prosopographie), für die Geschichte des Judentums in der Antike (durch die Vertreibung von Elias Bickermann, Eugen Taeubler und Richard Laqueur),27 für die antike Wirtschaftsgeschichte (durch die Ausbürgerung von Fritz Heichelheim und den Lehrstuhlverlust von Johannes Hasebroek)28 und für die Geschichte der Spätantike (durch die Flucht von Ernst Stein) nicht auszugleichende Defizite, verlor Deutschland seit 1933 endgültig seinen Spitzenplatz in der globalen altertumskundlichen Forschung.29 Die Beispiele für althistorischen Widerstand gegen die Zeichen der Zeit in jener frühen Zeit sind äußerst dürftig; am ehesten ist hier auf den in Prag lehrenden Althistoriker Victor Ehrenberg zu verweisen, der einerseits mit seiner Spartakritik und seinem Engagement gegen rassegeschichtliche Ansätze und für Universalgeschichtsschreibung den heftigen Widerstand Berves herausforderte30, der andererseits aber selbst erst in der Emigration in England zum entschiedenen Demokraten wurde.31 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31
Jaeger 1933. Zum „Dritten Humanismus“ s. Landfester 1999. Krieck 1933; Berve 1934a, 264f. Losemann 1980a. Eberhardt 1935. Losemann 2001a, 730-732. Vgl. Hoffmann 1988, 200-245. Kloft 2001. Bichler 1989, 63-65; Losemann 2001a, 732f. – Zum Sonderfall Arthur Rosenberg vgl. nun Keßler 2003. - Eine systematische Untersuchung, wie die von Ludwig (1984) zur Klassischen Philologie, steht noch aus. Berve 1937; vgl. Ulf 2001a, 334-340. Brodersen 2003; Rebenich 2004.
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Während ein nicht unbeträchtlicher Teil der Althistoriker in jener Zeit Stellung und Ansehen durch unverfängliche Forschung und Lehre zu bewahren trachtete, zeichnete sich ein anderer durch ein überdurchschnittliches nationalsozialistisches Engagement in der akademischen Selbstverwaltung und in Forschungsförderungsinstitutionen sowie in Forschung und Lehre (inklusive einer Popularisierung althistorischer Themen) aus. Dieser Einsatz von Männern wie Berve, Schachermeyr, Weber und Vogt ist allein mit einem Streben nach Einfluß im Fach nicht erklärbar; er ist vielmehr auch Ausweis einer weitgehenden Identifikation mit den Zielen nationalsozialistischer Politik.32 Ging es Berve dabei inhaltlich vor allem um die antiken Führerpersönlichkeiten, den Nachweis Spartas als idealen Rassestaat und die Ausscheidung des „artfremden“ Alten Orients aus den althistorischen Curricula33, so dem „kongenialen Partner“34 Hans F.K. Günthers35, Schachermeyr, um die Ausarbeitung einer eigenen „Rassentheorie“, in der der Begriff der „Entnordung“ eine herausragende Rolle spielte.36 Die Forschungen Webers wiederum, des wichtigsten Repräsentanten Römischer Geschichte im Reich, kennzeichnet ein (bereits vor 1933 erkennbares) „Konglomerat von konservativ-irrationalistischen Ideen – Blutsprinzip, Führergedanke, Messianismus und Glaube an schicksalshafte Mächte“37, das nun zunehmend auch rassistische Züge tragen konnte. Vogts Beiträge schließlich zeigen eine deutliche semantische und ideologische Nähe zu nationalsozialistischem Gedankengut38, doch ist sein vielfältiges Engagement in jener Zeit bis heute noch nicht wirklich bis in Einzelheiten hinein verständlich. Besondere Beachtung in der (zukünftigen) Forschung verdient das Verhalten des akademischen Nachwuchses in jener Zeit, der in der Regel auf traditionelle Qualifikationsthemen setzte, oft jedoch durch Parteieintritte und auf andere Weise (aus Überzeugung und/oder zum Zwecke der Karrieresicherung) weltanschauliche Bekenntnisse ablegte. Selbst wenn sie sich nicht als Nationalsozialisten verstanden oder aktiv dem Nationalsozialismus und seiner Rassenlehre zuarbeiteten, so sorgten doch vielfach der Konservativismus dieser jungen Akademiker, ihre Ablehnung der Weimarer Republik und der Umstand, daß sie von einem autoritären Staat fasziniert waren, dafür, daß sie mit ihren Forschungen wesentliche Elemente des NS-Geschichtsbildes und Politikverständnisses bestätigten.39 Das Engagement führender Althistoriker für die neue Bewegung stand in auffallendem Gegensatz zur Abwertung des althistorischen Unterrichts, der – im Sinne von H.F.K. Günthers Rassengeschichte des hellenischen und römischen Volkes umgestaltet – ab 1938 nur noch einstündig in der sechsten Klasse (Untersekunda) unterrichtet wurde.40 In welchem Ausmaß althistorische Themen zur von oben beabsichtigten Indoktrination von Schülern und Studenten oder zur Nutzung von Handlungsspielräumen genutzt wurden, hing von der jeweiligen Persönlichkeit und Einstellung der schulischen und akademischen Lehrkraft ab. Obgleich inhaltlich und in der konkreten Ausführung im einzelnen nur selten durch Archivalien wie Vorlesungsmanuskripte und Seminarunterlagen überprüfbar, dokumentieren die Vorlesungsverzeichnisse der Hochschulen dennoch einen deutlichen Prozeß der Anpassung; dieses Urteil gilt trotz des Umstandes, daß vielfach Spielräume für die Behandlung 32 33 34 35 36 37 38 39 40
Zu Berve, Weber und ihren ‚Schulen‘ vgl. Rebenich 2005, 45-51. Rebenich 2001a, passim. Losemann 2001a, 736. Zu Günther vgl. Weisenburger 1999. Eine ausführliche Monographie zum „Rassepapst“ steht noch aus. Näf 1994, passim. Vgl. auch Wiesehöfer 1988; 1990. Losemann 2001a, 735. Königs 1995. Vgl. Rebenich 2005, 45-55. Apel/Bittner 1994, 221-347; Bittner 2001.
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traditioneller Themen genutzt wurden und eine tiefgreifende Umgestaltung des Lehrangebotes im Sinne der Rassenlehre nicht stattfand. So behandelten Althistoriker kaum Fragen des antiken Judentums und hielten nur selten ausdrücklich rassengeschichtliche Veranstaltungen ab, wählten jedoch gern gegenwartsrelevante Themen, mit deren Hilfe man aktuelle Probleme diskutieren und die Bedeutung des eigenen Faches unter Beweis stellen konnte.41 Ein ähnlich breites Spektrum an Einstellungen, Überzeugungen und Handlungsweisen wie im schulischen und akademischen Unterrichtswesen ist im übrigen auch bei den universitären Qualifizierungsarbeiten zu konstatieren: Dezidiert rassenkundliche Arbeiten stehen neben solchen, denen man Zeit und Umstände ihrer Entstehung nur bedingt anmerkt.42 Jederzeit war es jedoch möglich, mit Hilfe des ideologischen Überbaus die akademische Bewerbungs- oder Berufungspolitik zu beeinflussen.43 Ohne eigenes „Reichsinstitut“ befanden sich die deutschen Althistoriker institutionell weiterhin in ihrer bis heute anhaltenden traditionellen ‚Zwitterstellung‘ als Altertums- und zugleich Geschichtswissenschaftler. Der dadurch gegebene geringere Organisationsgrad der Disziplin war ebenso ‚zwiespältig‘: Einerseits verlangte er von denen, die nach Anerkennung und Einfluß strebten, eine enge Anlehnung an die Nachbarfächer, etwa durch Mitarbeit im Historikerverband oder in altertumswissenschaftlichen Forschungsförderungsinstitutionen, andererseits bot er denen, die der neuen Zeit weniger aufgeschlossen gegenüberstanden, Nischen fachwissenschaftlichen ‚Überlebens‘. Wie groß die Beharrungs- und Selbstbehauptungskräfte der Disziplin, jedenfalls in den ersten Jahren des ‚Dritten Reiches‘ waren, beweist die nüchterne Einschätzung des Jahreslageberichts des Reichssicherheitshauptamtes aus dem Jahre 1938, die Althistoriker in ihrer Gesamtheit hätten bisher „keinerlei Vorstöße im Sinne eines nationalsozialistischen Geschichtsbildes“ unternommen.44 V. Die Alte Geschichte im Zweiten Weltkrieg Wie recht das Amt – aufs ganze gesehen – mit dieser Einschätzung hatte, beweisen auch die Fachlager des Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbundes ab 1941, bei denen es – trotz des dezidierten Einsatzes ausgewiesener Nationalsozialisten unter den Altertumskundlern, wie etwa Hans Drexler oder Franz Miltner, – nicht gelang, über die Erörterung von Grundsatzfragen zur Formulierung neuer Perspektiven für die Altertumswissenschaften vorzustoßen45; ja selbst die dezidiert „mit neuer politischer Deutungsabsicht“ im Rahmen des „Kriegseinsatzes der Altertumswissenschaft“ verfaßten Gemeinschaftswerke Das neue Bild der Antike (1942; Hg. Helmut Berve) und Rom und Karthago (1943; Hg. Joseph Vogt) beweisen, daß von einem einheitlichen Geschichtsbild der Althistoriker des Nationalsozialismus keine Rede sein kann: Ausgesprochen traditionelle Forschungsmethoden und Ansätze stehen neben solchen, die in der Diktion, nicht jedoch in der Weltanschauung die Zeichen der Zeit erkennen lassen, und solchen, die nicht anders denn als „unverhüllt rassistische Interpretationen“46 zu kennzeichnen sind.47 Das wohl widerlichste althistorische Pamphlet jener Zeit legte Hans Oppermann mit der (nur für den Dienst41 42 43 44 45 46 47
Rebenich 2005, 55-58. Losemann 2001a, 738f. Der Fall Gerda Krüger in Göttingen wird geschildert von Wegeler 1996, 237-240; Szabó 2000, 126146. Losemann 1977, 178. Losemann 1977, passim; 1980b. Losemann 2001a, 745. Ib., 743-745.
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gebrauch bestimmten) Broschüre Der Jude im griechisch-römischen Altertum (1943) vor, eine Schrift, die nicht anders denn als Beitrag zur Unterstützung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik interpretiert werden kann.48 Daß wichtige Fortschritte auf althistorischen Forschungsfeldern in der Nachkriegszeit (hier zur Munizipalisierung und Bürgerrechtspolitik des Imperium Romanum) ihren Ausgang von Untersuchungen nehmen konnten, die ein politisch ‚zuverlässiger‘ junger Gelehrter mit rassegeschichtlicher Fragestellung und nationalsozialistischer Terminologie angestellt hatte, zeigt der Fall Friedrich Vittinghoff.49 In den Anfängen stecken blieben die meisten altertumskundlichen Projekte, die in Heinrich Himmlers Lehr- und Forschungsgemeinschaft „Das Ahnenerbe“ sowie in Alfred Rosenbergs Konkurrenzunternehmung „Hohe Schule“ in den Stiel gestoßen wurden; oft genug nutzten Altertumswissenschaftler, wie der Althistoriker Franz Altheim, die entsprechenden Verbindungen vornehmlich opportunistisch zur Förderung der eigenen Forschungs- und Publikationsvorhaben.50 VI. Antike und Nationalsozialismus: Die Themen Innerhalb der deutlich bevorzugten Griechischen Geschichte besaß Sparta zweifelsohne noch eine besondere Präferenz, diente es doch sowohl führenden Nationalsozialisten wie Hitler und Darré, als auch Althistorikern wie Berve als ‚Vorbildstaat‘, nicht zuletzt im Bereich der nationalsozialistischen Eliteerziehung.51 Im Bereich der Römischen Geschichte folgten die regimetreuen Althistoriker den eher traditionellen Ansätzen des Faches, denen sich auch Hitler selbst verbunden fühlte. Auf dem Gebiet der Rassengeschichte ragen die Untersuchungsfelder heraus, die Gelegenheit boten, antisemitische bzw. antijüdische Stereotype und Vorurteile historisch zu belegen52: Der Kampf zwischen Rom und Karthago, die semitische Degenerierung der ‚arischen‘ Perser, der Hellenismus als ‚rassische Mischkultur‘ etc. Große Führerpersönlichkeiten der Antike (Perikles53, Alexander54, Caesar, Augustus, Arminius) rückten wieder in den Mittelpunkt althistorischen Interesses, wobei – wie etwa bei der Berveschen Bewertung der ‚Verschmelzungspolitik‘ Alexanders55, der Oppermann‘schen ‚europäischen Sendung‘ Caesars56 oder der Parallelisierung zwischen der augusteischen und der Hitler‘schen ‚Politik der Erneuerung‘57 – deutliche zeitbedingte Modifikationen der traditionellen Vorstellungen zu erkennen sind. Erheblichen Konfliktstoff enthielten die unterschiedliche Bewertung der Kulturhöhe der Germanen und die besondere Akzentuierung des Reichsgedankens.58 „An der Aktualisierung des Führer- und Reichsgedankens in der Anfangs- und Schlußphase des Dritten Reichs wird klar, daß damit ein nahezu klassisches Thema besetzt, z.T. mit rassistischen Ideologemen verknüpft, aber der konservativen Disposition der Zunft entsprechend eher ‚idealistisch‘ gefaßt wurde.“59 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59
Malitz 1998, 539; Losemann 2001a, 745. Rebenich 2005, 58-61. Losemann 2001a, 745-747. Auch zu Franz Altheim im ‚Dritten Reich‘ steht eine monographische Abhandlung noch aus (vgl. Losemann 1998b). Christ 1986; Losemann 1998a; Rebenich 2002; 2006. - Eine exemplarische Studie zur Spartarezeption von der Antike bis zur Gegenwart hat Albertz vorgelegt (Albertz 2006). Zum Bild des Judentums in der deutschen Altertumswissenschaft unter dem Nationalsozialismus vgl. Hoffmann 1988, 246-279. Näf 1986. Bichler 2001. Berve 1938b. Malitz 1998, 532. Losemann 2001a, 748f. Ib., 749. Vgl. Ungern-Sternberg 2001. Ib.
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Fassen wir zusammen: Zwischen 1933 und 1945 gab es kein einheitliches althistorisches Antikebild, weder in den nationalsozialistischen Kreisen noch in der Fachhistorie. Dort stehen sogar ausgesprochen wissenschaftliche Untersuchungen traditioneller Art lange Zeit neben solchen Werken, die sich wissenschaftlich gerieren, dennoch aber eine erhebliche Nähe zu nationalsozialistischem Gedankengut, welcher Art auch immer, erkennen lassen. Dies gilt in besonderer Weise für die Literatur, die man „Relevanz-Literatur“ genannt hat, d.h. die Programmschriften und Sammelwerke, die die Bedeutung der Alten Geschichte für ein Verständnis der Gegenwart unter Beweis stellen sollten, und für die „Vermittlungs-Literatur“ für den Schul- und Erziehungsbereich.60 Auch wenn es der Alten Geschichte durch ihre chronologische Distanz zur nationalsozialistischen Gegenwart leichter fiel als anderen Disziplinen, ihre wissenschaftlichen Standards und Parameter zu bewahren, und auch wenn zwischen althistorischem programmatischem Schrifttum und realisierten Forschungsprojekten eine deutliche Kluft auszumachen ist, so erschreckt doch das Ausmaß althistorischer Verstrickung in die nationalsozialistische Ideologie und Politik. In den 12 Jahren zwischen 1933 und 1945 verlor Deutschland so seine Rolle als integraler Bestandteil der internationalen Gelehrtenrepublik. VII. Der Ausblick: Die Bonner Republik61 und die DDR62 Abgesehen von dem Verlust traditioneller Lehrstühle (Breslau, Königsberg, Prag) zeichnet sich der Übergang von der nationalsozialistischen zur bundesrepublikanischen Epoche deutscher Geschichte im geisteswissenschaftlichen Betrieb, hier spezifisch in der Alten Geschichte, weniger durch Traditionsbruch und Neubeginn als durch Tradition und Kontinuität aus. Diese garantierten allein schon die betreffenden Lehrstuhlinhaber, von denen nur sehr wenige längerfristig durch – im ganzen fragwürdige – Entnazifizierungsverfahren betroffen waren: Ohne Berlin ist personale Kontinuität immerhin an 11 von 15 Lehrstühlen festzustellen, m.a.W. bis tief in die 60er Jahre hinein wurden die althistorische Lehre und Forschung von denjenigen Gelehrten dominiert, die sich bereits vor 1945 habilitiert hatten oder bereits damals die entsprechenden Lehrstühle besetzt gehalten hatten. Dabei kam es im Rahmen der (vielfach als ungerecht empfundenen) Entnazifizierungsmaßnahmen oft genug zu Solidarisierungen von unbelasteten mit amtsenthobenen Kollegen, einer Solidarität, die die vertriebenen oder verfolgten Kollegen, die nur ganz selten den Weg zurück in alte oder ähnliche Positionen fanden, nicht häufig erfahren durften.63 Auch die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus fiel mehr als beschämend aus. Zusätzlich zu den bereits vor 1945 etablierten Althistorikern fanden alle diejenigen, die ihrer Lehrkanzeln jenseits des Eisernen Vorhangs verlustig gegangen waren, – nicht zuletzt dank einer starken Lehrstuhlvermehrung – in der Bundesrepublik neue Positionen im universitären Bereich. Ein wirklicher Generationswechsel ist in der Alten Geschichte ausgerechnet in jener Phase bundesrepublikanischer Geschichte festzustellen, „in der die revolutionär anmutende 68er Bewegung die öffentliche Diskussion des gesellschaftlich-kulturellen Klimas prägte.“64 60 61 62 63
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Ib., 750. Vgl. zusammenfassend Bichler 1989 und Christ 2006, 95-113. Zu den Anfängen der Althistorie in der DDR vgl. man Willing 1991, Stark 2005 und Christ 2006, 114128. Stellvertretend sei nur der Fall Richard Laqueur erwähnt, dessen Wiedereinsetzung in Halle von der sowjetischen Militäradministration verhindert wurde, weil Kollegen ihn als Freicorpskämpfer und Rechtsradikalen denunzierten (Losemann 1977, 40). - Eine vorbildliche Studie zur Remigration deutscher Hochschullehrer und zu den Widerständen vor Ort verfaßte Szabó (2000). Bichler 1989, 74.
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Obgleich die althistorischen Ordinarien weder von ihrer Vita noch von ihrer Weltanschauung her eine homogene Zunft darstellten – hier standen immerhin Mitglieder der ‚inneren Emigration‘, desillusionierte ursprüngliche Anhänger des Nationalsozialismus und Personen mit nur geringem Schuldbewußtsein nebeneinander –, bieten sie aus der Rückschau doch ein Bild ziemlicher Geschlossenheit ihres Wirkens und Denkens. Für Letzteres ist eine „demonstrative Abwehrhaltung gegen die feindlichen Mächte des Ostens“65 ebenso konstitutiv wie die demonstrative Orientierung an den Traditionen der 20er Jahre: der Idee etwa, daß große Männer Geschichte machen, die Vorstellung von der großen Bedeutung von Volk und Volkstum (einschließlich ihrer antiorientalischen Klischees) sowie die vertrauten Bilder vom Wachsen, Blühen, Altern und Vergehen von Kulturen und Zivilisationen. Oft genug ignorierte man dabei die gemeinsamen Wurzeln des eigenen und des nationalsozialistischen Weltbildes.66 Solche restaurativen Tendenzen des Faches wurden auch durch den Umstand verstärkt, daß kein emigrierter Althistoriker auf einen Lehrstuhl nach Deutschland zurückkehrte. Im Gegensatz zu diesem gleichsam nostalgischen Rückblick, der bei einigen Gelehrten durchaus auch die nationalsozialistische Zeit einschließen konnte, bemühten sich nicht zuletzt viele jüngere Vertreter des Faches um eine, wie man sie genannt hat, „Neue Sachlichkeit“67: Gleichsam wieder an Mommsen und die Traditionen des 19. Jahrhunderts anknüpfend, galt ihnen antiquarische Exaktheit wieder als Selbstwert, genaue Dokumentation als vorrangiges Ziel. „Durch Spezialisierung, gediegene Sachbezogenheit und Zurückhaltung in weltanschaulichem Deklarationsdrang gewann die deutsche Althistorie in vielen Sparten die erwünschte internationale Geltung wieder, doch sie zahlte für ihr neues Selbstgefühl einen nicht unerheblichen Preis: Denn Spezialisierung führt, so sehr sie auch dem allgemein fortschreitenden Arbeitsteilungsprozeß entspricht, doch leicht zu Verarmung, zur Ausgrenzung des Nicht-Beherrschten. Und, was noch gravierender ist: sie fördert den trügerischen Verzicht auf philosophisch-theoretische Selbstbetrachtung und Kritik!“68 Es ist kein Wunder, daß eine solch geartete Althistorie in dem – in einzelnen Bestrebungen und Urteilen durchaus extremen – studentischen Aufbegehren nichts anderes als eine Bedrohung erblicken konnte, daß man sich in dieser Tradition und unter diesen Umständen lange Zeit auch von einer kritischen Reflexion der Geschichte der eigenen Disziplin im Nationalsozialismus dispensiert glaubte. Auch wenn wichtige Einzelstudien zu Personen und Institutionen noch ausstehen, so hat die Forschung zu den Anfängen der Althistorie in der DDR doch bereits jetzt zeigen können, daß dort in den ersten Jahren – ungeachtet der konsequenten Durchsetzung ideologischer Prioritäten im Sinne des Historischen Materialismus – sowohl in personeller, als auch in thematischer Hinsicht (etwa mit Großprojekten wie den Inscriptiones Graecae)„bürgerlich-idealistische“ ‚Ressourcen‘ genutzt wurden, da sie dem Renommee der Republik zuträglich waren. Daneben kam es allerdings zu einer immer rigoroseren Durchsetzung des marxistischen Monopols in Lehre und Forschung, der zahlreiche oppositionelle oder unangepaßte Dozenten (und Studenten) zum Opfer fielen. Allerdings entwickelte sich damals weder ein einheitliches AntikeGeschichtsbild, noch eine geschlossene, homogene Gruppe von DDR-Althistorikern. Eine intensive und reflektierte Auseinandersetzung mit der Rolle der Althistorie im Nationalso-
65 66 67 68
Ib., 77. Dieser Umstand wird von Rebenich an der Biographie Hans Schaefers illustriert (2005, 51-55). Ib., 81. Ib., 82.
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zialismus fand im Übrigen in der DDR der Nachkriegszeit ebensowenig statt wie in der Bundesrepublik.
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NEUERE UND NEUESTE GESCHICHTE* JOACHIM LERCHENMÜLLER Stellenwert der Neuzeit-Historiker im Spektrum der Kulturwissenschaften in der Zeit des Ersten Weltkrieges und in den 1920er Jahren „s ist ein Gesetz der Teufel und Gespenster: Wo sie hereingeschlüpft, da müssen sie hinaus. Das Erste steht uns frei, beim Zweiten sind wir Knechte.“ (Faust, 1410-1412) Auf der Weimarer Tagung deutscher Hochschullehrer im April 1926 blickte Friedrich Meinecke auf das Wilhelminische Zeitalter zurück und umschrieb die damalige Situation der deutschen Professorenschaft mit den Worten: „Wir konnten vor dem Kriege unser Lehramt ausüben in der selbstverständlichen, ruhigen Gewißheit einer einheitlichen nationalen Pflichterfüllung. Wir hielten alle daran fest, daß Wissenschaft und Politik voneinander zu trennen seien, daß die Forschung und Lehre nur ihren eigenen Gesetzen zu folgen habe, daß sie nur mittelbar, durch die geistigen Werte die sie schaffe, nicht unmittelbar und tendenziös dem Volks- und Staatsleben zu dienen habe.“1 Es war der Rückblick auf eine Zeit, da Standesbewusstsein und Staatsbewusstsein noch miteinander im Einklang waren. Man lehrte und forschte in einem stabilen, geordneten gesellschaftlichen Umfeld, dessen Normen und Werte allgemein akzeptiert waren, sogar Sozialdemokraten wussten sich zu benehmen. Der geistige Bürgerkrieg zwischen Moderne und Traditionalismus, zwischen ‚Zivilisation‘ und ‚Kultur‘, beschränkte sich noch auf die weiten Felder der Kunst und der Literatur, und auf diesen wandelten exakt arbeitende Wissenschaftler nur zum Zwecke der Zerstreuung. Von einer geistigen oder sozialen Spaltung der Hochschullehrerschaft konnte keine Rede sein, abgesehen vielleicht – wie Meinecke formulierte – von „etwas merkwürdige[n] Exemplare[n] unserer Gattung“, die auf der „äußersten Linken“ standen und „vielleicht ein persönliches Martyrium erdulden mußten“.2 Wenige Jahre später manifestierten sich die Ungleichzeitigkeiten des Wilhelminischen Zeitalters in brutaler Gewalt, verließ der geistige Bürgerkrieg die Bühnen und Salons und trat im Gleichschritt auf die Straßen Berlins und anderer deutscher Städte. Weltkrieg, Niederlage und Revolution ließen die vormals stabile deutsche Gesellschaft an ihren latenten Widersprüchen und Spannungen zerbrechen. Es begann der Kampf um die kulturelle Hegemonie und die politische Herrschaft, den die Nationalsozialisten in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre für sich entschieden. Die Idee zur Weimarer Tagung des Jahres 1926 stammte von einer kleinen Gruppe Berliner Professoren, darunter die Historiker Hans Delbrück, Karl Stählin und Friedrich Meinecke. Zweck der Zusammenkunft war es, die (wenigen) „verfassungstreuen Hochschullehrer“ zu organisieren, um größeren Einfluss auf Politik, Gesellschaft und, nicht zuletzt, auf die Universitäten nehmen zu können. Die Organisatoren waren bestrebt, jene Kollegen * 1 2
Die Forschungen, die diesem Beitrag zugrunde liegen, wurden unterstützt durch das Irish Research Council for the Humanities and Social Sciences, Dublin. Friedrich Meinecke: „Zweites Referat“. In: Wilhelm Kahl, Friedrich Meinecke u.a. (Hg.): Die deutschen Universitäten und der heutige Staat. Tübingen 1926, S. 17-31, S. 19. Siehe Anm. 1, S. 19 f.
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für eine Mitarbeit zu gewinnen, „die stimmungsmäßig nach rechts neigen, den heutigen Staat nicht lieben, aber auch nicht geradezu verachten“.3 Jene Kollegen, von denen Meinecke und die Anderen wussten, dass es „hoffnungslos ist mit ihnen zu debattieren“,4 wurden gar nicht erst eingeladen. Von Interesse ist für uns, dass selbst diese Gruppe moderater, „vernunftrepublikanisch“ gesinnter Historiker, die sich in Weimar versammelten (ein gutes Dutzend),5 das ihnen „allen vorleuchtende Ziel der Wiedererhebung und Befreiung des deutschen Volkes von den ihm angelegten Fesseln“ verfolgte.6 Damit ist ein zentrales politisches Thema angesprochen, dem sich die Neuzeithistoriker in den 1920er Jahren verschrieben: der Kampf gegen den Versailler Vertrag und seine Bestimmungen. Um die Kriegsschuldfrage organisierten sich staatlich geförderte Forschungs- und Editionsprojekte, und nicht wenige Historiker der nächsten Generation erhielten ihre fachliche Ausbildung, indem sie sich inhaltlich mit wenig Anderem als dem Weltkrieg beschäftigten. Symptomatisch für diese Obsession und ihre fachkulturellen Konsequenzen ist die von Fritz Fischer berichtete Reaktion eines Historikers auf Ludwig Dehios Vortrag auf dem Deutschen Historikertag 1951 in Marburg über „Deutschland und die Epoche der Weltkriege“. Dehio stellte darin den Ersten Weltkrieg als Konsequenz deutscher Weltmachtpolitik dar. Ein neben Fritz Fischer sitzender älterer Kollege habe nach dem Vortrag geäußert: „Der Mann zerstört in einer Stunde, was wir in 20 Jahren aufgebaut haben“, worauf sich Fischer fragte: „Wer sind wir? Und was haben wir aufgebaut?“.7 Die Funktion der Geschichtsschreibung, zumal der Zeitgeschichtsschreibung, als „Legitimationswissenschaft“8 beschränkte sich in der Weimarer Republik allerdings auf den Versuch der Delegitimierung des Versailler Vertrages und seiner Bestimmungen. Dazu gehörten neben der Kriegsschuldfrage auch Fragen des nationalen Selbstbestimmungsrechts und des historisch-kulturellen Anspruchs auf Sieldungsgebiete. Die politische Förderung und Institutionalisierung volksdeutscher und landesgeschichtlicher Forschungen, welche sich im Dritten Reich zu Agenturen der Volkstums- und Verfolgungspolik entwickelten,9 begann in der Weimarer Republik. Im Vergleich zu anderen Disziplinen, die unter dem Begriff der Kulturwissenschaften zusammengefasst werden können, kam der Historiographie seit dem späten 19. Jahrhundert insofern besondere Bedeutung zu, als sie zentral zu einer nationalen Wissenschaft gemacht wurde. Den Germanisten nicht unähnlich, betrachteten die meisten Neuzeithistoriker das deutsche Volk, „sein Wesen und sein Werden“, als den unmittelbaren Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Geschichtsschreibung wurde „Nationalhistoriographie“, ohne dabei den Anspruch auf Rankesche Objektivität fallen zu lassen. Die Verengung auf die nationale Perspektive lief zwangsläufig auf die Konstruktion einer historischen Notwendigkeit deutscher Großmachtwerdung hinaus. Geschichtswissenschaft wurde nationalpolitisches Programm. Wer einen anderen Ansatz verfolgte, war ein „etwas merkwürdiges Exemplar“ der Gattung deutscher Historiker.
3 4 5 6 7 8 9
Siehe Anm. 1, S. 18. Siehe Anm. 1, S. 18. Für die Liste der Unterzeichneten siehe Anm. 1, S. 38 f. Einladungsschreiben zur Tagung. Siehe Anm. 1, S. 3. Fritz Fischer: Hitler war kein Betriebsunfall. München 1992, S. 13. Siehe dazu Peter Schöttler (Hg.): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft. Frankfurt 1997. Siehe Michael Fahlbusch: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931-1945. Baden-Baden 1999; Ingo Haar: Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“„ im Osten. Göttingen 2000.
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Stellung zum Nationalsozialismus vor der Machtübernahme Hitlers Eine Reihe von Historikern engagierte sich schon in der Zeit der Weimarer Republik offen für den Nationalsozialismus. Zu den Historikern, die der NSDAP in der „Kampfzeit“ beitraten, gehörten unter anderem der in Bonn habilitierte Neuzeithistoriker Ernst Anrich (offizielles Eintrittsdatum: 1.5.1930), der Münchner Privatdozent Arnold Brügmann (1.7. 1931), die Herausgeber der Zeitschrift „Vergangenheit und Gegenwart“ Ulrich Crämer (1.4.1930) und Moritz Edelmann (1.5.1932), der spätere Leiter der Münchner Dienststelle des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschland Karl Richard Ganzer (1.11. 1929), der spätere Berliner Professor und Mitglied der Historischen Reichskommission Willy Hoppe (1.1.1932), der Jurist und Zeithistoriker Johann von Leers (1.8.1929), die Landes- und Volksgeschichtsforscher Walter Schlesinger (1.12.1929) und Hans Uebersberger (1.10.32), sowie der in Köln habilitierte Walter Wache (9.9.1932) und der spätere Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive Ernst Zipfel (1.5.1932). Bei den hier genannten Parteigenossen der Kampfzeit ist eine Identifizierung mit wesentlichen Ideologemen des Nationalsozialismus vorauszusetzen. Dagegen ist die Mitgliedschaft, wenn der Parteieintritt in die Zeit nach der Machtergreifung fällt, lediglich ein Indiz für politisch-weltanschauliches Wahlverhalten. Eine Untersuchung der Mitgliedschaftsverhältnisse von rund 500 Personen, die als Historiker tätig waren bzw. sich selbst in Kürschners Gelehrtenkalender als Historiker identifizierten, ergab, dass rund 200 von ihnen Parteimitglieder waren; doch nur ein Fünftel dieser Parteigenossen war vor dem Jahr 1933 der NSDAP beigetreten, ein weiteres Fünftel erhielt das offizielle Eintrittsdatum 1.5.1933. Unter den „Märzgefallenen“ und „Maikäfern“ waren also auch zahlreiche Historiker. Verlässliche Aufschlüsse über die Einstellungen einzelner Historiker zum Nationalsozialismus liefern gezielte Äußerungen über die NS-Bewegung und ihre Weltanschauung. Im Folgenden werde ich die Positionen zweier Neuzeit-Historiker exemplarisch vorstellen, die – unterschiedlichen Generationen und politischen Milieus angehörend – beide schon in der ‚Kampfzeit‘ für den Nationalsozialismus warben: der 1881 geborene Max Buchner und der 25 Jahre jüngere Ernst Anrich. Max Buchner, der sich 1911 an der Münchener Philosophischen Fakultät im Fach Mittlere und Neuere Geschichte habilitiert hatte, wurde 1919 außerordentlicher Professor in München und erhielt 1926 einen Ruf nach Würzburg. 1936 erhielt er den konkordatsgebundenen Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität München. Während der Zeit der Weimarer Republik engagierte sich Buchner in der Bayerischen Mittelpartei, später in der DNVP, deren Katholiken-Ausschuss er in München leitete. 1930 trat er dem Stahlhelm bei. Nach eigenen Angaben wirkte Buchner in der Weimarer Republik „für die Wiedererweckung des nationalen Gedankens im Kreise der akademischen Jugend, wie darüber hinaus auch für die Verbreitung der nationalen Idee im katholischen Volksteil“.10 Als Herausgeber der national-katholischen Zeitschrift Gelbe Hefte (seit 1924) bemühte sich Buchner um einen Ausgleich zwischen Nationalsozialismus und Katholizismus. Das November-Heft 1931 widmete der Herausgeber ausschließlich dem Thema „Nationalsozialismus?“ Der Historiker identifizierte in seinem Nachwort zum Heft die zentrale Schnittstelle zwischen „diesen beiden Mächten“: die Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution. Im Einklang mit stereotypen Verschwörungstheorien der Nazis mutmaßte Buchner über „dunkle Mächte“, welche die Auseinandersetzungen zwischen Nationalsozialismus und Katholizismus forcierten:
10
Lebenslauf Buchner, 11.04.1936. BA, BDC Buchner REM, Bl. 285.
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„Wer aber will den Kampf? – Alle die Mächte, die sich durch den Nationalsozialismus oder durch den Katholizismus oder durch beide Gewalten bedroht fühlen. Das gilt vor allem von jener Geistesrichtung, die ihre weltanschauliche Grundlage in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts hat, die ihren geistigen Ausdruck vor allem in der Freimaurerei gefunden hat, während ihr politisches Ergebnis zum guten Teil die Große Revolution von 1789 gewesen ist. Im Schatten dieser Weltanschauung und dieser politischen Doktrin ist der Gedanke der Demokratie, die Idee des Parlamentarismus, das System der Zahl, sind sämtliche liberalistischen und marxistischen Parteien des 19. und 20. Jahrhunderts hochgekommen.“11 Den Kritikern des Nationalsozialismus legte Buchner nahe, den Blick auf das Wesentliche zu weiten. Alle „noch so starke[n] Bedenken gegen Einzelheiten“ müssten zurückgestellt werden angesichts der Tatsache, dass der Nationalsozialismus „ein gewaltiger Schutzdamm sein kann gegen die zersetzenden und unterwühlenden Mächte auf der Linken“. Kein „Wahrheitssucher“ könne leugnen, dass die NS-Bewegung „in der Tat schon bisher mannigfache Verdienste um den christlichen Charakter unserer Kultur sich erworben hat“.12 Studentenschaft und Nationalsozialismus am Beispiel des Neuzeit-Historikers Ernst Anrich Die kollektive Identität männlicher Studierender der 1920er Jahre an deutschen Hochschulen dürfte mit den Worten „Schützengraben-, Not- und Schicksalsgemeinschaft“13 einigermaßen zutreffend umschrieben sein. Fachkultur und disziplinspezifischer Habitus, die heute das Selbstverständnis der Studierenden an der Universität wesentlich bestimmen,14 waren damals überlagert von einem politischen Sendungsbewusstsein, das seine Energie aus den existentiellen Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit bezog und seine Selbstlegitimation durch den Verweis auf historische Vorbilder: „Darum, deutsche Studenten, denkt daran, was das Vaterland von Euch verlangt, denkt daran, was Eure Kommilitonen vor mehr denn hundert Jahren geleistet haben. In dieser schweren Zeit gilt es mehr denn je: ’Nur der allein hat noch ein Recht zu leben, der noch ein Werk hier zu vollbringen hat.‘ Wohlan denn, auf zur Arbeit! Wir kennen unsere Pflicht, wir sind deutsche Studenten und wollen es nicht vergebens gewesen sein!“15 Dieser dreifachen Gemeinschaft fühlten sich ideell auch jene Studierenden zugehörig, denen die Ungnade der späten Geburt eine Teilnahme am Weltkrieg als Soldat unmöglich gemacht hatte; nicht wenige Angehörige dieser Jahrgänge überkompensierten den schmerzlich empfundenen Mangel an Kriegserfahrung durch politische Militanz an der Hochschule – und weit darüber hinaus, wie Michael Wildt in seiner Studie über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, dem vorwiegend akademisch gebildete junge Männer der Jahrgänge 1900 bis 1912 angehörten, zeigt.16 Der „Sinn“, den die Deutsche Studentenschaft 1922 aus dem Wahnsinn des Weltkrieges konstruierte, bestand in dem 11 12 13 14 15 16
Max Buchner: „Nachwort“ [zum Heft „Nationalsozialismus?“]. In: Gelbe Hefte 8 (1931), Heft 2 (November) S. 186-203, S. 186f. Siehe Anm. 11, S. 192. Protokoll der Sitzung der Deutschen Studentenschaft, Würzburg, 22./23.7.1922. BA, N 1052/36, Bl. 164-189, Bl. 182. Vgl. Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Projektgruppe: Das Outfit der Wissenschaft. Zur symbolischen Repräsentation akademischer Fächer am Beispiel von Jura, Botanik und Empirischer Kulturwissenschaft. Tübingen 1998. Vgl. Anm. 13, Bl. 182f. Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg 2002.
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selbst erteilten Auftrag, „dem deutschen Vaterlande diejenigen Führer zu erziehen, die es in der heutigen so schweren Zeit mehr denn je braucht“.17 Das politische Programm der zukünftigen Führer lieferte die Deutsche Studentenschaft gleich mit, und Ähnlichkeiten mit dem Parteiprogramm der NSDAP waren keineswegs zufällig: Von der Brechung der „Zinsknechtschaft“, der Befreiung aus der „völkischen Not“, dem Ende der „Wehrlosigkeit und der Ehrlosigkeit“, dem Abschütteln der „Sklavenketten des Schandfriedens von Versailles“ und von der „Pflichterfüllung bis zum Äußersten“ ist hier wie dort die Rede.18 Der 1925/26 gegründete Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund war die erste berufsständische, parteinahe Organisation; er wurde zum Vorbild für alle weiteren NS-Bünde.19 Die Anziehungskraft, welche nationalsozialistisches Gedankengut auf die Studentenschaft der Weimarer Republik ausübte, zeigt sich in den Ergebnissen der Wahlen zu den Studentenausschüssen. Innerhalb von fünf Jahren gelang es dem NSD-Studentenbund, die dominierende studentenpolitische Kraft an deutschen Hochschulen zu werden und die Führung der Deutschen Studentenschaft zu übernehmen. Mitverantwortlich für die Erfolge des NSD-Studentenbundes war der Student der Geschichtswissenschaft Ernst Anrich, der dem Bund 1928 an der Universität Bonn beigetreten war und schnell zum Mitglied der Reichsleitung aufstieg, wo er zeitweise das Amt des Reichsschulungsleiters innehatte.20 Der ehrgeizige Junghistoriker betrieb zu Beginn des Jahres 1931 gemeinsam mit anderen Funktionären die Absetzung des Reichsführers des Studentenbundes: eine „sachliche Arbeit zur Förderung der n.s. Ziele im Studentenbund [sei] ohne Ablösung des Herrn v. Schirach“ nicht mehr möglich, konstatierten die Frondeure in einer Erklärung, die Anrich und sein Kollege Reinhard Sunkel in einem persönlichen Gespräch Hitler übergeben wollten. Schirach habe sich als unfähig erwiesen, dringend notwendige organisatorisch-strukturelle Reformen im Bund durchzuführen.21 Der erfolglose Aufstandsversuch führte zu Anrichs Ausschluss aus dem NSD-Studentenbund sowie aus der NSDAP, der er 1930 beigetreten war.22 Der Rauswurf bedeutete nicht das Ende seines politischen Engagements für den Nationalsozialismus; als politische Basis diente ihm nunmehr die Deutsche Gildenschaft „Ernst Wurche“, die er während seiner Studienzeit in Tübingen und Heidelberg gegründet hatte und der er bis 1934 als Gildenmeister vorstand. Die Gildenschaft „Ernst Wurche“ war, im organischen Sprachgebrauch Anrichs, eine „Geschlossenheit, die sich als solche zur nationalsozialistischen Idee bekennt“.23 Der von Anrich gewählte Namenspatron ist weiteres Indiz für die Fixierung dieser Generation auf das verpasste Fronterlebnis: Ernst Wurche ist jener Theologiestudent und Wandervogel – zwei Eigenschaften, die Ernst Anrich mit ihm gemein hatte –, den Walter Flex in den Schützengräben des Weltkrieges kennen lernte. Die Geschichte der innigen Freundschaft zwischen beiden schilderte Flex in der autobiographischen Erzählung „Der Wanderer zwischen beiden Welten“, die 1917 bei C.H. Beck in München erschien und schnell zu einer der Schilderungen aus dem Weltkrieg wurde, die Millionenauflage erreichten. Flex, Historiker, promovierter Germanist und Kriegsfreiwilliger, stilisierte Wurche in „Der Wanderer zwi17 18 19
20 21 22 23
Vgl. Anm. 13, Bl. 180. Vgl. Anm. 13, Bl. 180. Die Juristen folgten dem Beispiel der Studierenden 1928, die Ärzte und Lehrer 1929, die Dozenten erst 1935 durch Ausgliederung aus dem Lehrerbund in Folge einer entsprechenden Anordnung des Stellvertreters des Führers. Vgl. Wolfgang Benz u.a. (Hg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. München 1997, s.v.; zum NSD-Studentenbund vgl. Anselm Faust: Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund in der Weimarer Republik. Düsseldorf 1973. Gutachten des SD betr. Prof. Dr. Ernst Anrich, undatiert. BA, BDC Anrich SSO file, Bl. 16943-16946. Anrich, Sunkel, u.a., Erklärung, datiert 28.02.1931. BA, BDC, Anrich OPG file. Vgl. Anm. 20. Die Deutsche Gildenschaft Ernst Wurche, Vorwort, datiert im Dezember 1931, in Ernst Anrich: Drei Stücke über Nationalsozialistische Weltanschauung. Kulturpolitische Schriftenreihe 2, hgg. von der Deutschen Gildenschaft Ernst Wurche. Stuttgart/Berlin 1932, S. VIIf.
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schen beiden Welten“ als Ideal des Kriegsfreiwilligen, Frontoffiziers und zukünftigen Menschenführers. Die Gildenschaft „Ernst Wurche“ gab bei Kohlhammer eine „Kulturpolitische Schriftenreihe“ heraus, in der vor allem Reden Ernst Anrichs veröffentlicht wurden, die er bei Studientreffen der Gildenschaft hielt. Anrich verstand seine Beiträge als „Schriften des Kampfes“ in einer „Zeit der glaubenden und kämpfenden Entscheidung“: „Es wurde schon gesagt, dass der Grund zu dieser Art des Arbeitens in der Gildenschaft [Ernst Wurche] gelegt wurde im Winter 1928/29 [...]; also in dem Winter, in dem das erste Jahrzehnt des deutschen Zusammenbruchs sich abschloss und in dem wir nach dem 8. November in besonderem Gedenken begingen den 11. November als den Tag von Langemarck, in der Hoffnung, dass mit dem zweiten Jahrzehnt die Not aus der Not gewendet werde.“24 In einer Rede zum „Organischen Denken“, die der gerade an der Universität Bonn promovierte Historiker Anrich im Winter 1930/31 hielt, definierte er den Nationalsozialismus als „geistig[e] und politisch[e] Bewegung“, deren Denken „nicht auf logischem Überzeugtwordensein bzw. Überzeugtwerden letztlich“ beruhe: „Es hat keiner von denen, die wirklich Nationalsozialisten sind, überlegt, und auf Grund dessen den Beschluss gefasst, von nun ab organisch zu denken. Dieses Denken ist geworden.“ Die Gewalt des Weltkrieges habe die „alten Formeln und Fassungen“ hinweggefegt und ein „neues Sehen“ aus dem „innersten Mythos unseres Volkes“ hervorgebracht, von dem „wir Jüngeren glauben nur sagen zu können, dass uns dies Denken angeboren“ sei.25 Nur drei Jahre später konnte Anrich seine Weltsicht einem wissenschaftlichen Publikum an der Universität Bonn in einem offiziellen Rahmen unterbreiten. Auf der akademischen Reichsgründungs-Feier im Januar 1934 hielt Anrich den Festvortrag. Er nutzte auch diese Gelegenheit, sich als radikaler Vertreter des völkischen Prinzips zu positionieren: „Das Volk ist eine ganz bestimmte, umfassende, im höheren Sinn biologischorganische Ganzheit mit ganz bestimmten jeweils singulären biologischen Voraussetzungen und Gesetzen. Diese Voraussetzungen sind: Rassenelemente, Dominanz und Proportion, Raum, Geschichte, die Gesetze: die Gesetze dieses Werdens, dieser Art und ihres Auftrags. [...] Denn es scheint zum Wesen des Volkes, zum Wesen dieser Verbindung von Idee und Volkskörper zu gehören: dass in der Art und in dieser Begabung, dass im Mythos wohl die Möglichkeit großer Entfaltungen gegeben ist, dass aber gerade der besondere Auftrag eines Volkes der ist, aus eigener Lebendigkeit und Schöpferkraft diese Möglichkeiten zu entfalten. Es gehört zum Wesen des Volkes, dass was aus diesen Möglichkeiten entfaltet wird, wie es entfaltet wird, und ob das Volk überhaupt entfaltet oder untergeht, zu einem außerordentlich großen Teile ihm anheimgestellt ist, seinem Willen, seinem Mut, seiner schöpfenden Eigentätigkeit.“26 Voraussetzung dieser ‚Art-Entfaltung“ sei, dass „jeweils in jedem Volk eine ganz bestimmte Mischungsproportion und eine bestimmte Rassendominanz einer hauptprägenden Rasse“ gegeben sei; des Weiteren komme es auf die „Erwachtheitsstufe des Volkes an“, konkret z.B. darauf, „ob die Deutschen ihres Deutschtums bewusst“ seien, und schließlich müsse sich das Volk eine staatliche Ordnung geben, die seiner Entfaltung am zweckdienlichsten sei. Dabei habe grundsätzlich zu gelten, dass der Staat sich unter die Idee des Volkes unterzuordnen habe. Die jeweilige Staatsform sei die „aktiv[e] Dienstform des Volks24 25 26
Vgl. Anm. 23, S. VIII. Vgl. Anm. 23, S. 33. Ernst Anrich: Volk und Staat als Grundlage des Reiches. Rede gehalten bei der Reichsgründungsfeier der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn am 18. Januar 1934. Kulturpolitische Schriftenreihe 5, hgg. von der Deutschen Gildenschaft Ernst Wurche. Stuttgart/Berlin 1934, S. 10, 13.
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körpers an dieser Idee“, sei zeitgebunden und letztlich abhängig vom Geist, „der in den Menschen lebt, die die Formen handhaben“. Der Geist, den es zu überwinden gelte, sei der Geist des Liberalismus. In dieser Einschätzung traf sich Anrich mit dem eine Generation älteren Historiker Max Buchner. Dass ein Systemwechsel keinen Lebensbereich „undurchdrungen lassen“ dürfe, hatte Anrich schon 1930/31 klargestellt, „weder Staat noch Wirtschaft noch Kultur noch Wissenschaft noch Kunst noch Religion“ dürften ausgespart werden.27 Den Liberalismus machte er auch für die Fehlentwicklung der Wissenschaft verantwortlich: „Es ist an der Zeit, dass die Frage, ob die Geburt der Wissenschaft aus der Kritik oder aus dem Glauben die Erkenntnis fördere oder trübe, wieder zugunsten der Förderung der Erkenntnis durch den Glauben – eben den organischen der Einheit und der Sinnerfülltheit und der Lebendigkeit – entschieden wird. [...] Aus der Dynamik unserer Weltanschauung, aus unserer Auftragsgebundenheit, aus unserer Notzeit wird unser Denken gehen um Gestaltung und unsere Wissenschaftsarbeit bewusst stehen im Dienste der Nation, ohne ihre Wissenschaftlichkeit zu verlieren.“28 Die Bonner Historiker, bei denen Anrich sein Handwerk gelernt und 1930 promoviert hatte, waren über diese Ansichten ihres Schülers orientiert, als sie der Habilitation des nationalsozialistischen Nachwuchshistorikers an ihrer Fakultät im Frühjahr 1932 zustimmten. Lediglich Max Braubach, der den konkordatsgebundenen Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte innehatte, bedauerte in seiner gutachterlichen Stellungnahme, dass sich Anrich in seinen schriftlichen Habilitationsleistungen „leider [...] mehrfach“ auf seine Schrift zur nationalsozialistischen Weltanschauung berufe, die er, Braubach, explizit „aus einer wissenschaftlichen Begutachtung“ ausschloss: zwar beweise sie „die geistigen Qualitäten des Verfassers, aber auch die Unentwickeltheit seiner Anschauungen“.29 Braubach monierte vor allem die Rede Anrichs über die „Forderungen aus der nationalsozialistischen Bewegung an die Kirchen“ aus dem Frühjahr 1931,30 die „eine erstaunliche Ahnungslosigkeit gegenüber dem Inhalt und der Bedeutung des Katholizismus“ zeige: „[D]ie Durchführung der hier [von Anrich] aufgestellten Forderungen würde einen neuen Kulturkampf herbeiführen, dessen Ausgang nach so viel Beispielen in der Geschichte für einen nüchternen Kopf eigentlich klar sein müsste.“ Dennoch sprach sich auch Braubach für die Zulassung Anrichs zu den weiteren Habilitationsleistungen aus. Mit dem Fazit „Über Weltanschauungen lässt sich im übrigen nicht streiten“ bewies Braubach eine erstaunliche politische Ahnungslosigkeit. Anrichs politisch-weltanschauliches Engagement in der Gildenschaft und im NSDStudentenbund war keine Ausnahmeerscheinung. Eine Reihe von Historikern, die in der Zeit des Nationalsozialismus ihren ersten Ruf oder ihre erste Professur erhielten, waren studentische Aktivisten in Gildenschaften gewesen, so zum Beispiel Theodor Schieder, Erich Maschke, Werner Conze und Rudolf Crämer in Königsberg31 oder Günther Franz in Marburg.32 Arnold Brügmann trat 1931 mit 19 Jahren der NSDAP bei und war während des Studiums im NSD-Studentenbund und in der SA aktiv.33 Der Österreicher Walter Wa27 28 29 30 31 32 33
Vgl. Anm. 25, S. 34. Vgl. Anm. 25, S. 31f. Braubach, Stellungnahme zu Anrichs Habilitationsleistung, eingegangen 5.04.1932. UA Bonn, Personalakte Anrich. Vgl. Anm. 25, S. 65-96. Vgl. Ingo Haar, wie Anm. 9, S. 70-76. Vgl. Wolfgang Kroug: Sein zum Tode. Gedanke und Bewährung. Lebensbilder im Kampf gebliebener Mitglieder der Akademischen Vereinigung Marburg. Leben und Sterben der Unvollendeten 2/3, hgg. von Günther Franz und Hermann Mitgau. Bad Godesberg 1955. Vgl. Joachim Lerchenmueller: Die Geschichtswissenschaft in den Planungen des Sicherheitsdienstes der SS. Der SD-Historiker Hermann Löffler und seine Denkschrift „Entwicklung und Aufgaben der Geschichtswissenschaft in Deutschland“. Bonn 2001.
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che arbeitete schon als Schüler in verschiedenen völkischen Gruppen mit und trat als Student 1932 der NSDAP und der SS bei. Bald nach dem Staatsstreich musste Wache das Land verlassen. Die Notgemeinschaft der Wissenschaft gewährte ihm ein Stipendium für eine Forschungsarbeit über den böhmischen Großgrundbesitz, doch war dies möglicherweise nur ein Vorwand, denn der 18 Monate währende Aufenthalt in Prag mündete in Waches Festnahme durch tschechische Behörden und einer Anklage wegen Hochverrats und Militärspionage. Wache wurde im Frühjahr 1936 nach Deutschland abgeschoben, wo ihn die SS zunächst als Mitarbeiter des Schulungsamtes des Rasse- und Siedlungshauptamtes in Lohn und Brot setzte.34 Kurt von Raumer schloss sich im Frühjahr 1919 dem Verband der Gruppe Hierl an im Kampf gegen die bayerische Räteregierung und engagierte sich während seiner Studienjahre 1920-1924 für die DNVP.35 Verhältnis der Historiker zum Nationalsozialismus nach der Machtübernahme Hitlers Das Verhältnis der deutschen Historiker zum Nationalsozialismus ist seit Jahren Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen. Der innerdisziplinäre Diskurs spiegelt dabei die grundsätzlichen Fragen und Tendenzen westdeutscher Diskussionen über das Verhalten der Deutschen in der Zeit der NS-Diktatur wider. Insofern kann man beruhigt folgern: Historiker(innen) sind auch nur Menschen. Auf eine ausführliche Darstellung der unterschiedlichen Einschätzungen sei hier verzichtet und stattdessen auf die entsprechende Literatur verwiesen.36 Ein Ergebnis der neueren Forschungen zur Geschichtswissenschaft im Dritten Reich ist der Wechsel der Untersuchungsperspektive. Während ursprünglich der Fokus vieler Untersuchungen bei den Professoren, vor allem den Lehrstuhlinhabern, lag, zeigen neuere Studien, die sich den nicht-universitären Wissenschaftsstrukturen zuwenden, dass 34 35 36
Biographische Angaben zu Dr.phil.habil. Walter Wache, undatiert, mit hsl. Vermerk „Si[evers], 20.03.39“. BA, BDC Wache Ahnenerbe file. Personalbogen von Raumer. UA Heidelberg, PA 5414 von Raumer. Götz Aly/Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Frankfurt 1993; Jürgen Elvert: „Geschichtswissenschaft“. In: Frank-Rutger Hausmann (Hg.): Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933-1945. München 2002, S. 87-135; Thomas Etzemüller: Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945. München 2001; Michael Fahlbusch: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften von 1931-1945. Baden-Baden 1999; Bernd Faulenbach: Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. München 1980; Ingo Haar: vgl. Anm. 9; Herbert Hömig, „Zeitgeschichte als ‚kämpfende Wissenschaft‘. Zur Problematik nationalsozialistischer Geschichtsschreibung“. In: Historisches Jahrbuch 99, 1979, S. 355374; Peter Hinrichs/Ingo Kolboom: „Frankreichforschung – eine deutsche Wissenschaft. Der Weg der Landes- und Frankreichkunde in den Faschismus (1914-1945)“. In: Michael Nerlich (Hrsg.): Kritik der Frankreichforschung. Berlin 1977, S. 168-187; Franz Knipping/Klaus-Jürgen Müller (Hrsg.): Machtbewusstsein in Deutschland am Vorabend des 2. Weltkrieges. Paderborn 1984; Joachim Lerchenmueller: vgl. Anm. 33; Willi Oberkrome: Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945. Göttingen 1993; Gerhard Ritter: „Deutsche Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert“. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1, 1950, S. 81-96 und 129-137; Hans Rothfels: „Die Geschichtswissenschaft in den dreißiger Jahren“. In: Andreas Flitner (Hrsg.): Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. Eine Vortragsreihe der Universität Tübingen, mit einem Nachwort von Hermann Diem. Tübingen 1965, S. 90-107; Michael Riekenberg: Die Zeitschrift „Vergangenheit und Gegenwart“ (1911-1944). Konservative Geschichtsdidaktik zwischen liberaler Reform und völkischem Aufbruch. Hannover 1986; Karen Schönwälder: Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus. Frankfurt/New York 1992; Winfried Schulze/Otto G. Oexle (Hrsg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Frankfurt 1999; Karl Ferdinand Werner: Das NS-Geschichtsbild und die deutsche Geschichtswissenschaft. Stuttgart 1967; Ursula Wiggershaus-Müller: Nationalsozialismus und Geschichtswissenschaft. Die Geschichte der Historischen Zeitschrift und des Historischen Jahrbuchs von 1933-1945. Hamburg 1998; Wolfgang Weber: Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800-1970. Frankfurt u.a. 21987; Andreas Wiedemann: Die Reinhard-Heydrich-Stiftung in Prag (1942-1945). Dresden 2000.
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gerade der wissenschaftliche Nachwuchs aus politisch-weltanschaulichen wie aus materiell-karrieretechnischen Gründen einem aktiven, ja proaktiven Engagement für den Nationalsozialismus und seinen machtpolitischen Zielen in Europa gegenüber aufgeschlossen war. Im Folgenden sei daher innerhalb der universitären Strukturen – denn diese identifizieren wir ja bis heute mit der Geschichtswissenschaft – der wissenschaftliche Nachwuchs in den Blick genommen. Ein weiterer Grund für diese Schwerpunktsetzung ist die Bedeutung, die eine der zentralen Institutionen der NS-Wissenschaftspolitik – der Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS – der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses beimaß.37 Betrachten wir zunächst die Nachwuchs-Ausbildung der Geschichtswissenschaft während der Herrschaft des Nationalsozialismus (T1). Mit knapp 50% aller geschichtswissenschaftlichen Habilitationen unterstreicht die Neuzeitliche Geschichte ihre Bedeutung innerhalb der Disziplin auch in quantitativer Hinsicht:
Die Habilitationen auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft: Fachgebiete Gesamtzahl der historischen Habilitationen an gleichgeschalteten Universitäten zwischen 1933 und 1945 - davon auf dem Gebiet der Neuzeitlichen Geschichte - ... der Mittelalterlichen Geschichte - ... der Alten Geschichte - ... der Osteuropäischen Geschichte
108 50 31 18 9
Tabelle 1
Schlüsselt man die Habilitationen nach Themenbereichen auf, fällt die deutliche Schwerpunktsetzung auf die deutsche nationale Frage und Fragen und Probleme der deutschen Politik im europäischen Kontext auf. Im Hinblick auf die Themen, mit denen sich der wissenschaftliche Nachwuchs den Fakultäten und dem Regime empfahl (T2), kann daher gesagt werden, dass die Geschichtswissenschaft in der Tat eine „nationale Geschichtswissenschaft“ war – allerdings im Dritten Reich, cum grano salis, nicht mehr und nicht weniger als das in der Weimarer Republik, der Bundesrepublik oder der Deutschen Demokratischen Republik der Fall gewesen ist: denn dass das gesellschaftlich-politische Sein das geschichtliche Bewusstsein bestimmt (und nicht etwa umgekehrt) galt damals wie heute. Wer dies bezweifelt, dem sei ein Blick in die Jahresverzeichnisse der deutschen Hochschulschriften der letzten Jahrzehnte empfohlen.
37
Vgl. Anm. 33.
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232 Die Habilitationen in Neuzeitlicher Geschichte: Themen Themenbereiche Europäische Politik (deutsche auswärtige Politik, europäische Fragen) [E] Nationale Frage Deutschlands [D] Agrar-/Finanz-/Wirtschaftsgeschichte [Ö] Geistig-religiöse Strömungen [R] Politische Biographie [B] Kriegs-/Militärgeschichte [M] Volksgruppen [V] Verhältnis Kirche-Staat [K] Weltgeschichte (Quellenedition) [W] Thema nicht bekannt
Anzahl 13 9 7 5 4 4 4 2 1 1
Tabelle 2
Tabelle 3 deutet darauf hin, dass Themen wie Kriegsschuld und Dolchstoß in der Zeit des Dritten Reiches an Relevanz einbüßten: Mit lediglich fünf Habilitationen, die sich ausschließlich mit einem Aspekt der Geschichte des 20. Jahrhunderts befassten, steht die Zeitgeschichte deutlich zurück hinter jenem Zeitraum, der gerade aus der Perspektive einer „völkischen“ Geschichtsschreibung von entscheidender Bedeutung war: dem Jahrhundert der Nationswerdung und staatlichen Einigung des deutschen Volkes. Die Habilitationen in Neuzeitlicher Geschichte: Zeiträume Behandelter Zeitraum 20. Jh. 19.-20. Jh. 19. Jh. 18. Jh. 17.-19. Jh. 17.-18. Jh. 17. Jh. 16.-18. Jh. 16.-17. Jh.
Themenbereich D1E3W1 E2R1V2 B2D7E3M2Ö2R2 D1E2K1M1Ö1R1 E1Ö2R1 B1R1 E1Ö2V1 V1 B1E1M1
Anzahl 5 5 18 7 4 2 4 1 3
Tabelle 3
Die zeitliche Verteilung der Habilitationen während der Herrschaft des Nationalsozialismus (T4) lässt deutlich erkennen, dass die wenigen Jahre zwischen Herrschaftsstabilisierung und Kriegsbeginn – die „goldenen Dreißiger“ der arischen, nicht-oppositionellen Deutschen – auch dazu genutzt wurden, knapp 50% des wissenschaftlichen Spitzennachwuchses zu qualifizieren.
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Die Habilitationen in Neuzeitlicher Geschichte: Häufigkeit Jahr 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945
Institution Bonn Berlin, Jena, München Berlin, Jena, Marburg Berlin (2) Berlin, Breslau (2), Hamburg, Heidelberg, Kiel, München Breslau, Freiburg, Jena, Kiel (2), München (2) Berlin (3), Hamburg, Heidelberg, Jena, Köln (2), Königsberg, Würzburg Berlin (2), Köln, Wien Heidelberg, Marburg Berlin, Frankfurt, Straßburg (2), Wien, Würzburg Göttingen, Straßburg Freiburg, Wien Hamburg
Gesamtzahl 1 3 3 2 7 7 10 4 2 6 2 2 1
Tabelle 4
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass nur vier der 24 Habilitanden der Jahre 1937 bis 1939 der SS angehörten; insgesamt gehörten nur neun von 50 Habilitanden der Schutzstaffel an (T5). Zu erklären ist dies einerseits damit, dass das „duale System“ der Gegnerforschung und wissenschaftlichen Qualifikation des Sicherheitsdienstes38 den Schwerpunkt zunächst auf die Promotion ausgewählter SD-Angehöriger legte, da nur wenige hauptamtliche Mitarbeiter bereits über den Doktorgrad verfügten. Mit 56% waren die NichtParteigenossen unter den Habilitierenden in der Mehrheit. Die geringen absoluten Zahlen machen Jahr-zu-Jahr-Vergleiche sehr problematisch; dennoch lässt vielleicht der Trend herauslesen, dass in der problematischen zweiten Hälfte des Krieges die Zahl der NichtParteigenossen jene der Parteigenossen nie mehr übertraf (T5).
38
Siehe Anm. 33, S. 99-111.
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Die Habilitanden in Neuzeitlicher Geschichte: Alter und Mitgliedschaften Jahr 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 Total * **
Gesamtzahl 1 3 3 2 7 7 10 4 2 6 2 2 1 50
Anzahl Mitgl. Anzahl Mitgl. NSDAP** SS** 32 0 0 26 / 29 / 35 2 1 26 / 30 / 34 1 1 27 / 29 0 0 25 / 30 / 39 2 1 26 /32 / 39 3 1 30 / 34 / 39 5 2 28 / 31 / 36 0 0 34 / 35 0 0 29 / 38 / 52 4 2 26 / 27 1 1 32 / 34 1 0 46 1 0 25 / 32.5 / 52 20 9
Alter*
Tabelle 5 Erste Zahl: jüngster Habilitand, zweite Zahl: Durchschnittsalter, dritte Zahl: ältester Habilitand. Die Angaben beziehen sich auf eine im Jahr der Habilitation bestehende Mitgliedschaft.
Die „Erfolgsquote“ der während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft habilitierten Neuzeit-Historiker lag bei 60%, eine Zahl, die aus heutiger Sicht als beneidenswert zu bezeichnen ist. Allerdings erhielten drei Viertel der Habilitanden ihren ersten Ruf auf einen Lehrstuhl erst in der Nachkriegszeit. Davon, dass die bundesdeutsche Geschichtswissenschaft den Nachwuchs aus NS-Zeiten für problematisch gehalten hätte, kann offenbar keine Rede sein (T6). Es ist evident, dass lediglich jene Habilitanden, die noch im Dritten Reich erstmals einen Lehrstuhl erhalten hatten, als politisch/wissenschaftlich problematisch angesehen wurden: fünf von sieben Mitgliedern dieser Gruppe verloren unmittelbar nach Kriegsende ihren Lehrstuhl, und nur einer erhielt später wieder einen Ruf (T7).
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Die Habilitanden in Neuzeitlicher Geschichte: Karriereverläufe Total
Nicht-Pg.
NSDAPMitglied*
SSMitglied*
50
28
22
9
9
4
5
2
30
18
12
3
7
4
3
2
1
1
-
-
3
1
2
2
7 7 4 3
2 4 2 1
5 3 2 2
1 1 2 2
23 2 1 3
16 2 1 2
7 1
2 1 (SA) -
Gesamthaft Zahl der Habilitanden Haupttätigkeit außerhalb der Hochschule Berufung auf Lehrstuhl keine Berufung, Professur andere wiss. Tät. an Univ. Tod vor Karrierebeginn NS-Herrschaft erstmalig Ruf erhalten erstmalig zum ao. Prof. erstmalig zum apl. Prof. Tod Nachkriegszeit erstmalig Ruf erhalten davon in der SBZ/DDR erstmalig zum ao. Prof. erstmalig zum apl. Prof.
Tabelle 6 * Mehrfachnennungen aufgrund Doppelmitgliedschaft möglich.
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Die Habilitanden in Neuzeitlicher Geschichte: Stellenverluste 1945 Betroffene: Stellung bei Kriegsende Lehrstuhlinhaber ao. Professor apl. Professor wiss. Assistent
Anzahl 5 5 2 1
Karriereverlauf in der Nachkriegszeit: andere ausgeBerufung Professur wiss. Stelschieden le 1 1 1 2 3 1 1 1 1 1 -
Tabelle 7
Den sieben erstmals berufenen, in der Zeit des Nationalsozialismus habilitierten NeuzeitHistorikern steht eine Gruppe von 22 Erstberufenen gegenüber (T8), die ihre Venia legendi in der Zeit der Weimarer Republik erworben hatten. Im Unterschied zu den Habilitanden der NS-Zeit besaßen diese 22 Erstberufenen mehrheitlich die Partei-Mitgliedschaft. Es handelte sich vorwiegend um Historiker, die dem Nationalsozialismus besonders nahe standen: Zwei Drittel dieser Gruppe verloren nach Kriegsende aus politischen Gründen ihre Lehrstühle (T9). Nur rund die Hälfte der Entlassenen erhielt nach 1945 erneut einen Ruf auf einen Lehrstuhl. Erstmalige Berufung auf einen Lehrstuhl für Neuzeitliche Geschichte:** Habilitation an einer deutschsprachigen Hochschule zwischen 1919 und 1932 Total Nicht- NSDAPSSZeitpunkt Pg. MitMitder Habilitation glied* glied* 2 2 1923, 1928 1933 1 1 1925 1934 3 1 2 1919, 1924, 1926 1935 1 1 1929 1936 1 1 1929 1937 4 1 3 1929, 1930, 1931, 1938 1932 2 2 1928, 1928 1939 3 3 2 1927, 1929, 1932 1940 4 3 1 1922, 1927, 1928, 1941 1930 1 1 1931 1942 Total 22 8 14 2 Mittelwert: 1927 * **
Tabelle 8 Angaben zur Mitgliedschaft bei Ernennungen während der NS-Zeit beziehen sich auf den Zeitpunkt der Ernennung. Zum Teil designiert als „Mittlere und Neuere Geschichte“, „Neuere Geschichte“, „Geschichte“.
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Erstmalige Berufung auf einen Lehrstuhl für Neuzeitliche Geschichte:* Habilitation an einer deutschsprachigen Hochschule zwischen 1919 und 1932 – Stellenverlust 1945 / Nachkriegskarriere Lehrstuhlverlust Total Nicht- NSDAPSSPg. Mitglied Mitglied 1 1 wegen Todes vor 1945 aus politischen Gründen vor 1 1 1945 14 4 10 1 aus politischen Gründen 1945 7 3 4 - davon erneut Ruf erhalten - davon andere Hochschultätig1 1 keit 1 1 1 Emeritiert 1945 4 2 2 Emeritiert nach 1945 1 1 Tod nach 1945 Total 22 7 15 2 *
Tabelle 9 Zum Teil designiert als „Mittlere und Neuere Geschichte“, „Neuere Geschichte“, „Geschichte“.
Agenturen der NS-Wissenschaftspolitik und ihre Ziele auf dem Gebiet der NeuzeitHistoriographie Das Ahnenerbe der SS (Amt A, Persönlicher Stab Reichsführer SS) Das „Deutsche Ahnenerbe“ wurde 1935 als „Studiengesellschaft für Geistesurgeschichte“ mit der Rechtsform eines eingetragenen Vereins von führenden Funktionären der SS gegründet, darunter der Reichsführer-SS Heinrich Himmler und der Reichsbauernführer und Leiter des Rasse- und Siedlungshauptamtes (RuSHA) Richard Walther Darré. Unter der Regie zweier ambitiöser und professioneller Wissenschaftsmanager – Wolfram Sievers in der Position des Reichsgeschäftsführers und der Münchner IndologieProfessor Walther Wüst (1901-1993) als Präsident bzw. Kurator – erfuhr das Ahnenerbe in den Jahren ab 1937 mit Hilfe massiver Förderung Himmlers und der Deutschen Forschungsgemeinschaft einen beachtlichen personellen und institutionellen Ausbau; gleichzeitig war es bestrebt, in enger Kooperation mit dem Sicherheitsdienst des ReichsführersSS Einfluss auf die NS-Wissenschaftspolitik und auf Stellenbesetzungen an den deutschen Hochschulen zu nehmen. Die Geschichtswissenschaft spielte allerdings im Ahnenerbe eine untergeordnete Rolle; die Schwerpunkte der eigenen Arbeit lagen bis Kriegsausbruch im Bereich der Volkskunde, der Germanistik und der Archäologie. Der Versuch der Jahre 1938 und 1939, mit Hilfe einer neu gegründeten Abteilung für Neuere Geschichte namhafte Historiker für das Ahnenerbe zu gewinnen und sich auf diese Weise Kompetenz einzukaufen, misslang. Die Abteilung wurde bei Kriegsbeginn geschlossen und mit dem Abteilungsleiter Hermann Löffler wechselte die gesamte Bearbeitung der Geschichtswissenschaft zum Sicherheitsdienst. Historische Projekte, bis hin zu Überlegungen für Institutsgründungen, wurden während des Kriegs von Seiten des Ahnenerbes immer wieder unternommen, allerdings ergaben sich diese aus der Volkstumsarbeit des Ahnenerbes im besetzten Nordwesten Europas. Im sog. „Germanischen Wissenschaftseinsatz“ unter Leitung des Germanisten und Ahnenerbe-Abteilungsleiters Hans Ernst Schneider (alias Hans
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Schwerte) unterstützte das Ahnenerbe einerseits die Werbung von Freiwilligen für die Waffen-SS in den „germanischen Randländern“ (Niederlande, Belgien, Dänemark, Norwegen); anderseits versuchte das Ahnenerbe, die Regional-, National- und Autonomiebewegungen in diesen besetzten Gebieten durch gemeinsame kulturelle, wissenschaftliche und propagandistische Arbeitsprojekte an den Nationalsozialismus zu binden und für die deutschen Pläne zur staatlichen Neuordnung Europas nach dem Kriege zu gewinnen. In diesen Zusammenhang gehört auch das Projekt aus dem Jahre 1943/44, ein „Germanisches Geschichtsbuch“ zu erarbeiten. Die Ausführungen Schneiders bei einer Arbeitsbesprechung der Projektgruppe lassen erkennen, weshalb man eine Zusammenarbeit mit einzelnen Fachhistorikern zwar nicht ausschloss, aber auch solche historiographischen Projekte lieber in Eigenregie betrieb: „Nicht nur die Schulung und Erziehung in den germanischen Ländern bedarf eines solchen Geschichtswerkes, sondern auch die Wissenschaft. Wir sind uns völlig darüber klar, dass, wenn wir nur fachwissenschaftlich denken würden, die Schaffung eines solchen Buches kaum möglich wäre, weil zu oft von der Fachwissenschaft her noch die größten Bedenken dagegen bestehen, die gesamte europäische Geschichte unter dem Gesichtspunkt der germanischen Kernbildung zu betrachten. Aber die heutige Situation bedarf dringlich eines einheitlichen, zusammenfassenden Geschichtsbildes. [...] Wir wollen versuchen, eine neue Art wissenschaftliche Zusammenarbeit zu schaffen. Jeder, der eine solche Arbeit unternimmt, muss auf die Arbeit der einzelnen Fachwissenschaftler zurückgreifen. Ein solches Buch ist nicht eine akademische Angelegenheit, sondern soll erzieherisch in der Waffen-SS und darüber auch für breitere Leserschichten wirken.“39 Dass die etablierte Fachwissenschaft diesen germanischen ‚turn‘ zum größeren Teil bis 1944 noch nicht mitgemacht hatte, wird auch aus einer Stellungnahme des Sicherheitsdienstes vom September 1944 deutlich. Als man dort erfuhr, dass das OKW unter Leitung von Ministerialrat Brendel an einem Geschichtsbuch arbeite, das für in der Wehrmacht dienende Studenten bestimmt sei, informierte der SD Hans Ernst Schneider und bat darum, „Tuchfühlung“ mit dem OKW aufzunehmen, „[...] damit nicht wieder [durch] kleindeutsche Beschränktheiten eine etatistische Grundeinstellung in dieses wichtigste Geschichtsbuch hereinkommt“.40 Das Buch sollte in drei Teilen erscheinen. Das OKW hatte als Autoren Wilhelm Weber für die Alte Geschichte und Wilhelm Schüssler für die Neuere Geschichte gewonnen. Angesichts der zu erwartenden großen Auflage wollte der SD sichergestellt wissen, „von vorneherein den germanischen und europäischen Gedanken vertreten zu sehen“, wofür (wenig überraschend) Weber und Schüssler „durchaus aufgeschlossen“ seien und „kaum mehr als eine[r] Anregung“ bedürften. Allerdings unterschied sich diese vom SD gewünschte Orientierung doch deutlich von der paradigmatischen Vorgabe des Ahnenerbe-Projekts, „die gesamte europäische Geschichte unter dem Gesichtspunkt der germanischen Kernbildung zu betrachten“. Der Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS Der Sicherheitsdienst begann um das Jahr 1938, sich systematisch mit der Lage auf dem Gebiet der Wissenschaft zu beschäftigen. Er bediente sich dazu unter anderem der Ressourcen, die der SS im „Ahnenerbe“ zur Verfügung standen. Im Vergleich etwa zur Ger39 40
Bericht über die Besprechung des „Germanischen Geschichtsbuches“, 12.02.1944. BA, NS 21/794-101. Vermerk betr. Geschichtsbuch in der Reihe der Soldatenbriefe für Berufsförderung, 21.09.1944. BA, NS 21/791.
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manistik hatte die Geschichtswissenschaft jedoch einen deutlich geringeren Stellenwert in der Arbeit des Geheimdienstes. Dennoch zielten die wissenschaftspolitischen Planungen, die im SD zur Geschichtswissenschaft entwickelt wurden, auf eine umfassende Kontrolle der Nachkriegs-Geschichtswissenschaft in personeller und institutioneller Hinsicht. Grundlage der Planungen des SD waren mehr oder weniger umfassende Denkschriften, die sich mit der historischen Entwicklung, der aktuellen Lage und den aus NS-Sicht zukünftig notwendigen Aufgaben der einzelnen Disziplinen befassten. Die Qualität dieser Analysen divergierte beträchtlich; sie hing entscheidend von der fachlichen Kompetenz des jeweiligen Bearbeiters sowie vom Umfang und der Beschaffenheit der Informationen ab, die im SD gesammelt worden waren.41 Zudem besaßen diese Analysen eine nicht zu vernachlässigende selbstlegitimierende Funktion: je größer der konstatierte Missstand, desto dringlicher der Handlungs- und Ordnungsbedarf. Wie sah nun der SD die Lage der Geschichtswissenschaft, insbesondere der Neueren Geschichte, in seiner Analyse des Jahres 1938/39? Im Kern warfen die SD-Historiker ihren Universitätskollegen vor, sich im Spezialistentum verloren und damit eine wesentliche Aufgabe aller Geschichtsschreibung – den „Volksmassen“ ein Bild der eigenen Vergangenheit zu vermitteln – dem „literarischen Juden“ überlassen zu haben. Vor allem die Arbeiten der Neuzeit-Historiker hätten jeglichen politischen Charakter verloren und sogar auf jenem Gebiet, wo sie eine Ausnahme machten – in ihren Forschungen und Darstellungen zur Kriegsschuldfrage –, seien die meisten Historiker im traditionellen national-bürgerlichen Denken gefangen geblieben: „[D]enn selbst eine nicht zu unterschätzende Mitursache des Zusammenbruchs – das Unverständnis für das soziale Problem des II. Reiches – wurde selbst von nationalen Männern einfach nicht erkannt.“42 Die Verfolgungen an den Universitäten hätten sich „der historischen Wissenschaft gegenüber anfangs auf die Ausmerzung einiger politisch völlig untragbarer Vertreter, vor allem selbstverständlich der Juden“ beschränkt, zudem seien die NachfolgeBerufungen „ziemlich planlos“ verlaufen.43 Die Aktivitäten, die der Sicherheitsdienst im Zuge dieser Analyse geschichtswissenschaftlichem Gebiet entfaltete, waren bestimmt von dem systemimmanenten Drang des Geheimdienstes zur Infiltration und Kontrolle bestehender Institutionen. So gelang es dem SD mit Hilfe anderer SS-Dienststellen, sich in zunehmendem Maße volkstums- und geschichtswissenschaftlich arbeitender Einrichtungen zu bemächtigen. Formal erleichtert wurde dieses Vorgehen nicht zuletzt durch Himmlers Ernennung zum „Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums“ Anfang Oktober 1939, welche dem ReichsführerSS die alleinige Zuständigkeit für Fragen der Volkstums- und Kulturpolitik in den annektierten und besetzten Gebieten übertrug, sowie durch seine Berufung zum Reichsinnenminister Ende August 1943. Mit der Kontrolle über das Reichsministerium des Innern erlangte die SS auch die Kontrolle über eine ganze Reihe wissenschaftlicher Institute auf dem Gebiet der volkstums- und landesgeschichtlichen Forschung; dieser Zuständigkeitsbereich – und damit auch die Kontrolle über den Haushalt dieser Institute – wurde schon wenige Wochen später auf den Sicherheitsdienst übertragen. Dazu gehörten das Deutsche Ausland-Institut (Stuttgart) ebenso wie das Südost-Institut (München) oder die Hauptredaktion des Handwörterbuchs des Grenz- und Auslanddeutschtums (Berlin). Mit der Eingliederung dieser bisher staatlichen Zuständigkeit in die Abteilung VI G des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) unter Leitung des SS-Hauptsturmführers Wilfried Krallert erhielt der SD auch die Kontrolle über die Haushalte dieser Institutionen. Krallerts Abteilung firmierte in41 42 43
Siehe Gerd Simon: Germanistik in den Planspielen des SD. Tübingen 1998 und Anm. 33. Hermann Löffler, Entwicklung und Aufgaben der Geschichtswissenschaft in Deutschland [SDAnalyse], undatiert, entstanden 1938/39. BA, ZB 1-1223 A. 5, Bl. 137-216 f. Abgedruckt in Joachim Lerchenmueller, siehe Anm. 33, S. 189-239, S. 206-208. Siehe Anm. 33, S. 209.
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tern unter dem Titel „Wissenschaftlich-methodischer Forschungsdienst“ und gehörte zum SD-Ausland. Als wissenschaftlich arbeitende Abteilung standen Krallerts Mitarbeiter in engem Kontakt mit den Ämtern III (Deutsche Lebensgebiete, genauer: III B, Volkstum, unter SS-Obersturmführer Dr. Hans Ehlich) und VII (Weltanschauliche Forschung und Auswertung) des RSHA, dem SD-Inland. Einzelne Abteilungen dieser beiden Ämter (bzw. deren Vorläufer-Abteilungen des SD) waren ebenfalls schon seit Jahren mit wissenschaftspolitischen und -organisatorischen Planungen befasst, darunter der Aufbau der Auslandswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Berlin, der Ausbau der Universitäten Posen und Straßburg zu Reichsuniversitäten, die Kontrolle der Deutschen Universität Prag und die Gründung einer Reichsstiftung für deutsch-slawische Forschung, die dann unter dem Namen „Reinhard-Heydrich-Stiftung, Reichsstiftung für wissenschaftliche Forschung in Prag“ Mitte 1942.44 Unter der planerischen Regie des SD und des Gründungsdekans der Philosophischen Fakultät und Professors für Neuere Geschichte Ernst Anrich wurde die Reichsuniversität Straßburg ab 1940 zum SD-Brückenkopf der historischen Westforschung ausgebaut. Im Osten diente die Reichsuniversität Posen „als intellektuelles Nebenzentrum der volkstumspolitischen Generalplanungen des RSHA“.45 Den Lehrstuhl für Volkslehre, einschließlich Grenz- und Auslanddeutschtum sollte ursprünglich der Historiker und Geograph Hans Schwalm übernehmen; er war allerdings im Rahmen des Germanischen Wissenschaftseinsatzes beim „Ahnenerbe“ unabdingbar.46 Schwalm war in Zeiten der Weimarer Republik wissenschaftlicher Sekretär der Leipziger Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung gewesen und war als einer der Herausgeber zentral am volkstumsgeschichtlichen Projekt „Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums“ beteiligt.47 Den Posener Lehrstuhl erhielt stattdessen im September 1941 der Neuzeit-Historiker Hans Joachim Beyer. Seine Habilitationsschrift „Umvolkungsvorgänge, vor allem in Ostmitteleuropa“ wurde 1939 an der Münchener Philosophischen Fakultät angenommen, wofür seine beiden Mentoren beim Sicherheitsdienst, die Professoren Franz Alfred Six und Walther Wüst, gesorgt hatten. 1940 hatte Beyer den Ruf an die vom SD kontrollierte Auslandswissenschaftliche Fakultät der Universität Berlin erhalten, wo er bis zur Posener Berufung das Fach Volksforschung mit besonderer Berücksichtigung Osteuropas vertrat. Beyer entwickelte sich sehr schnell zum „wichtigste[n] volkstumspolitische[n] Berater“ der Amtsgruppe III B.48 Sein Posener Lehrstuhl wurde – auch ein Ergebnis SD-interner Planungen – alsbald an die Deutsche Universität Prag versetzt. In Prag wurde Beyer 1941/42 von Heydrich mit der Aufgabe betraut, die Deutsche Universität mithilfe eines „SD-loyalen Kader[s] von Hochschullehrern“ unter die Kontrolle der Amtsgruppe III B zu bringen und auf eine „interdisziplinär arbeitend[e] ›Volkstumsforschung‹ zu verpflichten.“49 Mit diesen Planungen im Zusammenhang stand die Gründung der späteren Reinhard-Heydrich-Stiftung, deren Geschäfte Beyer während der Aufbauphase leitete.50 Dank der Kontrolle über diese Reichsstiftung konnte der SD mit seinen Volkstumshistorikern des Amtes III „Prag in den 44 45 46 47
48 49 50
Siehe u.a. Andreas Wiedemann: wie Anm. 36; Teresa Wróblewska: Die Reichsuniversitäten Posen, Prag und Strassburg als Modelle nationalsozialistischer Hochschulen in den von Deutschland besetzten Gebieten. Torun 2000; Joachim Lerchenmueller: Anm. 33. Karl Heinz Roth: „Heydrichs Professor. Historiographie des ›Volkstums‹ und der Massenvernichtungen: Der Fall Hans Joachim Beyer“. In: Peter Schöttler (Hg.): wie Anm. 8, S. 262-342, S. 293. Siehe Anm. 45. Vgl. Joachim Lerchenmueller/Gerd Simon: Maskenwechsel. Wie der SS-Hauptsturmführer Schneider zum BRD-Hochschulrektor Schwerte wurde und andere Geschichten über die Wendigkeit deutscher Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Tübingen 1999, S. 202f. Nach dem Krieg arbeitete Schwalm u.a. für das Bundesinstitut für Raumforschung in Bonn. Siehe Anm. 45, S. 297. Siehe Anm. 45, S. 298. Zur Reichsstiftung siehe Andreas Wiedemann: wie Anm. 36 und Anm. 45, S. 298-312.
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letzten zwei Kriegsjahren zum zentralen Experimentierfeld einer rassenbiologisch, sozialanthropologisch und völkerpsychologisch orientierten Selektionswissenschaft“ ausbauen.51 Das Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands Das Reichsinstitut, 1935 von Walter Frank mit Hilfe der politischen Unterstützung Alfred Rosenbergs und Rudolf Hess‘ gegründet, war sicherlich zu keinem Zeitpunkt seines Bestehens „die führende Geschichtsinstitution des Dritten Reiches“.52 Es diente vielmehr vor allem der Förderung der wissenschaftlichen Arbeit und der politischen Ambitionen seines Präsidenten. Insofern erfüllte das Institut nicht die Erwartungen, welche Franks politischer Förderer Rosenberg sich ursprünglich erhofft hatte: „Herr Dr. Frank gehört zu der verschwindend kleinen Zahl von Gelehrten, die der nationalsozialistischen Bewegung seit ihren Anfängen gedient haben. Zugleich ist seine wissenschaftliche Leistung, wie sie in seinen grossen Werken ’Adolf Stoecker‘ und „Nationalismus und Demokratie im Frankreich der 3. Republik, sowie in seinen Arbeiten ’Zur Geschichte des Nationalsozialismus‘ zum Ausdruck kommt, selbst bei den liberalen Gelehrten unbestritten. Dr. Frank ist nach der Überzeugung aller Kenner der einzige Historiker, der dem Geist der deutschen Revolution auf dem Felde der Geschichtsschreibung einen großzügigen Ausdruck geschaffen hat.“53 Zur Geltung kam dieser „großzügige Ausdruck“ vor allem auf zwei Gebieten: der öffentlichen Kritik der traditionellen, etablierten Geschichtswissenschaft und der ebenso öffentlichen und publikumswirksamen Thematisierung der „Judenfrage“. Zum Fanal stilisierte Walter Frank im Winter 1934/35 seine Kritik am Berliner Ordinarius Hermann Oncken, die mit Franks großem Aufmacher in der Wochenendausgabe des Völkischen Beobachter am 3./4. Februar 1935 ihren Höhepunkt erreichte: „L‘Incorruptible. Eine Studie über Hermann Oncken“. Franks Attacke gegen „Oncken, der Objektive“, wurde zum Generalangriff auf die „liberale Wissenschaft“ überhaupt. Jede Auseinandersetzung mit dieser Wissenschaft – und zumal der Neueren Geschichte – müsse von der „grundlegenden, eindeutigen Tatsache ausgehen: Daß diese Wissenschaft geschlagen worden ist wie noch nie eine Wissenschaft geschlagen wurde. Daß sie vom Werden ihrer Nation und ihrer Zeit hilflos überrannt wurde. Daß sie neunmalweise alles diskutiert hatte – nur nicht das eine, das das Wesentliche war. Daß sie selbstgewiß alle Möglichkeiten erwogen hatte – nur nicht die eine, die dann kam. Kurz, daß der 30. Januar 1933 der Tag ihres Bankrotts gewesen ist. Der Tag, an dem sie gewogen, zu leicht befunden wurde.“54 Dass es Frank mit dieser Kampagne gelang, einen der führenden deutschen Historiker von seinem Lehrstuhl und vom Vorsitz der Historischen Reichskommission zu stoßen, beförderte zwar sein Ansehen innerhalb der NSDAP, nicht aber die Integration seiner Person und seines Instituts in das bestehende Netzwerk der deutschen Geschichtswissenschaft, wenn man einmal davon absieht, dass die Historische Reichskommission in dem Institut aufging. Andererseits war die Art und Weise, wie Frank gegen Oncken vorgegangen war, für die Neuzeit-Historiker und Berliner Kollegen Onckens, Fritz Hartung, Arnold Oskar Meyer und Wilhelm Schüssler kein Hinderungsgrund, sich dem Sachverständigenbeirats des Reichsinstituts anzuschließen. Die eigentliche Forschungsarbeit erledigten im Institut 51 52 53 54
Siehe Anm. 45, S. 307. Katja Klee: „Walter Frank“. In: Hermann Weiß (Hg.): Biographisches Lexikon zum Dritten Reich. Frankfurt 1998, S. 128f. Rosenberg an Hitler, 2.05.1934, zitiert in Rundschreiben Frank an die Reichs- und Gauleiter der NSDAP, 23.05.1941. BA, BDC, Walter Frank PK. Walter Frank: „L‘Incorruptible. Eine Studie über Hermann Oncken“. In: Völkischer Beobachter 3./4.02.1935.
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jedoch jüngere Historiker, die Frank mit Stipendien an sein Institut band; zu Letzteren gehörten Erich Botzenhardt, Karl Richard Ganzer, Andreas Hohlfeld, Kleo Pleyer, Christoph Steding, u.a.55 Die „Judenfrage“ war das andere Gebiet, auf dem Frank und sein Institut (öffentlichkeits-)wirksam wurden. Die Ende 1936 eingerichtete Forschungsabteilung Judenfrage wurde in München angesiedelt und von Wilhelm Grau, einem jüngeren Mitarbeiter Franks, geleitet. Nicht zuletzt konkurrierende Ansichten darüber, wer die Zuständigkeit für „wissenschaftliche“ Judenforschung habe, führten bald zum Bruch zwischen Frank und seinem Mentor Rosenberg, dessen Institut zur Erforschung der Judenfrage 1939 in Frankfurt am Main eröffnet wurde und – von Wilhelm Grau geleitet wurde, der sich mittlerweile von Frank getrennt hatte. Franks Versuche, Einfluss auf alle wesentlichen Personalentscheidungen im Bereich der Geschichtswissenschaft zu nehmen, führten ihn 1937 in die Konfrontation mit dem Sicherheitsdienst. Anlass war die Besetzung der Präsidentschaft der MGH, für welche die SS Karl-August Eckhardt favorisierte. Frank stellte Eckhardt geschickt als „politisch untragbar“ hin und reagierte auf wenig subtile Drohungen des Sicherheitsdienstes mit Indiskretionen über die politische Vergangenheit des Chefs des SD-Inland, Reinhard Höhn, die Himmler schließlich zwangen, Höhn aus der Schusslinie zu nehmen.56 Damit hatte Frank zwar seinen Willen durchgesetzt, sich den Sicherheitsdienst aber zum dauerhaften Gegner gemacht. Die Auseinandersetzungen zwischen Rosenberg und Frank führten 1941 zur vorläufigen Suspendierung Franks von der Führung des Reichsinstituts. Ungeachtet dieser personellen und politischen Zerwürfnisse produzierte das Institut bis 1941 unter anderem sechs Bände der Reihe Forschungen zur Judenfrage, in denen auch jüngere Historiker ihre antisemitischen Forschungsergebnisse publizierten, wie zum Beispiel Rudolf Craemer.57 Schon im Januar 1934, damals noch Privatdozent in Königsberg, forderte er einen Paradigmenwechsel in der Geschichtswissenschaft, indem er sich als Vertreter eines rasseorientieren Geschichtsdenkens positionierte: „Wir erkennen die Begegnung von Raum, Blut und Geist in dem Sendungsstreben weltgeschichtlicher Nationen, wir sehen zugleich innerhalb dieser lebendigen Kulturen den beständigen Kampf um Herrschaft, Einheit und Ordnung, um den völkischen Charakter und Beruf. [...] Solche Sinndeutung der deutschen Geschichte aber zu vollziehen in Überwindung der bestehenden Weltansicht ist eben Aufgabe der neuen Geschichtswissenschaft, auf die ich hinzuweisen versuchten wollte.“58 Reichswissenschaftsministerium und der Kriegseinsatz der Neueren Historiker Der sogenannte Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften, 1940 vom Reichswissenschaftsminister ins Leben gerufen, war der Versuch, nach den unmittelbar kriegsrelevanten Naturwissenschaften auch die ‚weichen‘ Disziplinen so zu organisieren, dass ihre Ergebnisse praktisch-politisch einsetzbar würden. Im Blick hatte man dabei vor allem die Heimatfront, selbstverständlich jedoch auch die Öffentlichkeit und die akademisch-wissenschaftlichen Eliten in den besetzten Gebieten. Als Großforschungsprojekt konzipiert, wur55 56 57 58
Zu diesen sowie zum Reichsinstitut allgemein siehe Helmut Heiber: Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands. Stuttgart 1966. Siehe dazu ausführlicher Joachim Lerchenmueller: wie Anm. 33, S. 26-28. Forschungen zur Judenfrage, Band 6, 1941. Rudolf Craemer: „Gedanken über Geschichte als politische Wissenschaft“. In: Geistige Arbeit 1934, Nr. 1, 5. Januar 1934, S. 5-7; Nr. 2, 20. Januar 1934, S. 9 f.
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de der Kriegseinsatz aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert und von dem Kieler Völkerrechtler Paul Ritterbusch geleitet. Am Kriegseinsatz beteiligt waren insgesamt wohl um die 500 Geisteswissenschaftler aus mehr als einem Dutzend Disziplinen.59 Der Kriegseinsatz der Historiker konzentrierte sich auf das Verhältnis von Reich und Europa bzw. auf europäische Ordnungsvorstellungen der westeuropäischen Mächte. Die Abteilung Neuzeithistoriker im Rahmen des Kriegseinsatzes leitete der Frankfurter Ordinarius Walter Platzhoff. Interne Vermerke des Sicherheitsdienstes machen deutlich, dass selbst im Rahmen dieses genuin nationalsozialistischen Forschungsprojektes keineswegs zur allgemeinen ideologischen Zufriedenheit gearbeitet wurde. Ein SD-Bericht über eine Arbeitssitzung des Kriegseinsatzes der neueren Historiker und Völkerrechtler des Jahres 1942, auf der die Versuche zur Neuordnung Europas der letzten Jahrhunderte interdisziplinär diskutiert werden sollten, verrät deutlich, dass die Vertreter einer dezidiert nationalsozialistischen Geschichtswissenschaft noch keineswegs die fachkulturelle Hegemonie errungen hatten. Der teilnehmende SD-Historiker Hans Schick bezeichnete die Vertreter einer „politischen Geschichtswissenschaft“ als „Opposition“, die keineswegs einen leichten Stand gehabt habe.60 Zu den Vertretern der „Politischen“ zählte Schick insbesondere die SD-Angehörigen Günther Franz und Hermann Löffler (beide Reichsuniversität Straßburg), Ernst Birke (Breslau), Erich Botzenhardt (Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands) sowie eine Reihe jüngerer Historiker, unter denen er namentlich Kurt von Raumer (Münster) und Theodor Schieder (Königsberg) hervorhob. Die Mehrzahl der Anwesenden habe jedoch zur „Zunft der ‚objektiven‘ Wissenschaftler“ gezählt, mit denen es sich viele „nicht zu verderben“ wagten. Nachdem Günther Franz in einer Aussprache heftig die vielfach geäußerte Kritik an Wilhelm Schüsslers „völkischer“ Darstellung des Prinzen Eugen gerügt hatte, kam es zum Eklat unter den Neuzeit-Historikern: die „Opposition“ habe man „sehr misstrauisch beachtet und umgangen“, Schüssler habe sich bereits am Morgen des zweiten Tages „der unangenehmen Atmosphäre entzogen“. Das Fazit des Sicherheitsdienstes über die im Kriegseinsatz organisierten Neuzeit-Historiker war aus NS-Sicht wenig ermutigend: „Der Gesamteindruck der Arbeitssitzung, an der rund 50 Wissenschaftler teilnahmen, muss für den Freund einer weltanschaulich-politischen und zwar nationalsozialistisch ausgerichteten Wissenschaft recht niederdrückend sein. Es hat sich gezeigt, dass die Atmosphäre selbst dieser Tagung, die sich an moderne Fragestellungen unter dem Druck der Kriegsnotwendigkeiten heranmachen will und die dem militärischen und politischen Ringen der Gegenwart von der wissenschaftlichen Seite her Rüstzeug zu schmieden sucht, durchaus keine vom nationalsozialistischen Geiste erfüllte war. Wortführend und tonangebend sind doch noch die mehr oder weniger reaktionären Elemente, die bei solchen Debatten und Referaten über ausgezeichnete Fachkenntnisse verfügen und in der Darbietungs- und Diskussionskunst am besten abschneiden. Demgegenüber sind die jüngeren Historiker zunächst sehr in der Minderheit, außerdem fachlich und rednerisch sehr im Hintertreffen. Hinzu kommt noch, dass von ihnen höchstens die SS-Angehörigen sich offen zu den Idealen einer politischen Historie bekennen, während einige andere es mit der Zunft gar nicht verderben wollen und sich deshalb sehr stark zurückhalten, sogar allzu großen persönlichen Kontakt mit den SS-Angehörigen vermeiden. Dies letztere gilt z.B. von den Herren [Alexander] Scharff (Kiel), [Fritz] Wagner (München), [Kurt] v[on] Raumer und [Theodor] Schieder. Ganz auf der Seite der Reaktion steht der Dr.phil.habil. [Karl] 59 60
Siehe dazu Frank-Rutger Hausmann: „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940-1945). Dresden/München 1998. Vermerk: SD-mäßige Beobachtungen hinsichtlich der Arbeitssitzung des Kriegseinsatzes ..., 24.07.1942. BA, ZR 9, Bl. 33-40. Abgedruckt in Joachim Lerchenmueller: Anm. 33, S. 262-269.
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JOACHIM LERCHENMÜLLER
Griewank (Berlin). Es wird noch geraumer Zeit bedürfen, bis sich nationalsozialistische Historiker durch fachliche Leistung zur Anerkennung und Führung auf derartigen Arbeitstagungen durchgerungen haben. Darum sollte man aber auch diesen Männern, vor allem auch den aus der SS hervorgehenden Historikern, Gelegenheit zu konzentrierter Facharbeit bieten oder lassen, denn wenn ein Mann wie Griewank jahrelang als Mitglied der Deutschen Forschungsgemeinschaft nur für derartige Arbeiten freigestellt wird und wenn der Dozent Scharff seit fast 15 Jahren sich nur mit Historie beschäftigt, dann ist es selbstverständlich, dass solche Leute den SSAngehörigen, die mit anderweitigen dienstlichen Verpflichtungen überhäuft sind, fachlich den Rang ablaufen.“61 Vor diesem Hintergrund ist die Langfristigkeit der Planungen des Sicherheitsdienstes auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft zu verstehen: Wirkliche „SD-mäßige“ Veränderungen waren erst für die Zeit nach dem (siegreichen) Kriege vorgesehen: „Fasst man nun die Aufgaben der Geschichtswissenschaft für die Zeit nach dem Kriege ins Auge, so muss vor allem darauf hingearbeitet werden, dass die zersplitterten historischen Organisationen unter einheitlicher Leitung zusammengefasst und nach einem einheitlichen Plan auf die wesentlichsten und hervorragendsten Aufgaben angesetzt werden. Der gute Wille und das fachliche Können, dabei mitzuhelfen, ist bei der Mehrzahl der Historiker, bes. den Jüngeren, vorhanden.“62 Bedeutung und Funktion der Neuzeit-Historiographie aus der Sicht des Nationalsozialismus Aus der Sicht zentraler Herrschaftsinstanzen des Nationalsozialismus hatte die Geschichtswissenschaft neben der Germanistik die Funktion einer „nationalen Wissenschaft“ zu erfüllen. Das Bemühen um „Objektivität“ in historiographischen Darstellungen wurde nicht nur von Walter Frank verhöhnt – es galt allen Nationalsozialisten als Ausweis „liberaler“ und damit letztlich „jüdischer“ Gesinnung. Den Spagat zwischen Parteilichkeit und Professionalität wussten die führenden Vertreter einer dezidiert nationalsozialistischen Geschichtswissenschaft jedoch nur begrenzt zu vollführen – und dehnten sich zudem in unterschiedliche Richtungen. Während die Dienststellen der Partei, und spätestens seit 1940 auch Amt Rosenberg, die gesamtdeutsche Geschichtsauffassung des Wieners Ritter von Srbik positiv rezipierten und propagierten,63 wurde er von den SD-Historikern als „katholischer österreichischer Historiker“ abgelehnt, da er in den universalistischen Ideen des Heiligen Römischen Reiches denke und damit eine katholische Reichsideologie vertrete, die mit dem „völkischen Prinzip“ keineswegs vereinbar sei.64 Folglich unterstützte und förderte die SS die volksdeutsche Geschichtsauffassung Harold Steinackers, deren paradigmatischer Kern der Zentralbegriff „Volk“ darstellte. Er fungierte als „oberster Wert“, „dem sich alle bisher in der Geschichte wie in der Geschichtsschreibung miteinander wetteifernden Werte (wie 61 62 63
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Siehe Anm. 33, S. 267f. Ebd., S. 261. „Das Bekenntnis Srbiks zur unbestechlichen Wahrhaftigkeit und Strenge der Erkenntnis und das Bekenntnis zur deutschen Nation in ihrer Gesamtheit wie es namentlich in seinem Werk ›Deutsche Einheit‹ spricht, überwiegt in dem Gesamtschaffen des Historikers gewisse Bedenken, die früher hinsichtlich seiner Geschichtsauffassung geltend gemacht wurden.“ Kulturpolitisches Archiv an Dt. Volksbildungswerk, 16.07.1940 – BAZ – Srbik PK. Siehe Anm. 37, S. 214. Vgl. auch „Die Aufgaben eines einheitlich deutsch bestimmten Geschichtsbildes kann aber nur der Überwindung der österreichisch katholisch gebundenen Srbik-Schule gelten, denn eine katholische übernationale ‚Reichsidee‘ als diskutabel und nur durch die ‚böse‘ Macht (Preußen) überwunden ansieht, ist für den Nationalsozialismus untragbar.“ Hermann Löffler, Die Lage in der deutschen Geschichtswissenschaft. Vortrag 17.03.1941. Abgedruckt in Lerchenmueller: siehe Anm. 33, S. 240-261, S. 257.
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Staat, Religion, Fortschritt, usw.) unterordnen“ müssten.65 Der Begriff „Volk“ wurde dabei rassetheoretisch gefasst; die romantische und muttersprachtheoretische Definition des Volkes als sprachliche Gemeinschaft wurde dezidiert abgelehnt. Aus dieser axiomatischen Aussage folgte, dass alle Geschichtswissenschaft letztlich „Volksgeschichte“ zu schreiben habe. Steinacker sprach deshalb nicht (nur) von Staats- oder Kulturnation, sonder von der „natürlichen Nation“, die den „ganzen Volkskörper“ umfasse, „der als Blut-, Sprach-, und Artgemeinschaft in seiner vollen räumlichen und zeitlichen Ausdehnung erfaßt werden muß. Er schließt Binnen- und Außendeutschtum in sich [...]. Der neue Gesichtspunkt, unter dem die Geschichte des Volkskörpers steht, ist der volksbiologische.“66 Im Hinblick auf das Themenprofil der Geschichtswissenschaft bedeutete dies zunächst das Herangehen „an neue geschichtliche Lebensfragen“ des deutschen Volkes, wie sie z.B. in den Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften geleistet wurde: „Verstand man früher unter Landes- und Volksforschung mehr oder weniger die Geschichte der einzelnen Territorien in einem durchaus äußeren Sinn, so ist sie nach dem Kriege und besonders seit 1933 zu jenem Arbeitsfeld geworden, auf dem sich innerhalb eines geschlossenen geschichtlichen Raumes die lebendigen geschichtlichen Kräfte unseres Volkstums in ihrer gegenseitigen Bedingtheit blutsmäßiger Gegebenheiten und politischer, sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Entwicklungen am leichtesten fassen lassen. Diese Gruppe [von Historikern] geht an neue geschichtliche Lebensfragen heran: an die Frühgeschichte der Grenzen und von da an die Volksgeschichte in neuer Wertung, die schließlich zu einer völlig neuen Zusammenfassung von Frühgeschichte, Rechtsgeschichte, Geographie, Germanistik u.s.w. und ebenso zum politischen Einsatz führt.“67 Der „politische Einsatz“: damit ist die Funktion nicht nur der Neuzeit-Historiographie sondern aller Wissenschaft im Nationalsozialismus mit wenigen Worten umschrieben. Die Neuzeit-Historiographie hätte dabei zum eigentlichen Legitimationsvehikel des deutschen Herrschaftssystems im Nachkriegs-Europa werden sollen – es ist kein Zufall, dass das letzte wissenschaftliche Selbstverständigungsprojekt des Sicherheitsdienstes, über das man noch Mitte März 1945 Besprechungen abhielt, sich mit dem Thema „Das Reich und Europa“ befasste. Die Mitarbeiter der letzten Stunde waren unter anderem Erich Botzenhardt („Bisherige Versuche der deutschen Reichsordnung bis 1933“), Werner Frauendienst („Das deutsche Europa-Programm 1933-1944“), Martin Göhring („Der europäische Lebensraum: Gedankliche und politische Ansätze in Frankreich“ sowie „Die tatsächliche Wirkung der deutschen Reichsordnung auf Frankreich“), Franz Petri („Der germanische Einfluss in Europa“), Hans Joachim Beyer („Der germanische Einfluss in der Tschechei“) und Erich Maschke („Die geistigen Lage in Polen“).
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Siehe Anm. 33, S. 201. Harold Steinacker: Die volksdeutsche Geschichtsauffassung und das neue deutsche Geschichtsbild. Stoffe und Gestalten der deutschen Geschichte Bd. 11, Heft 11. Leipzig/Berlin 1937, S. 29. Hermann Löffler, Die Lage in der deutschen Geschichtswissenschaft. Vortrag 17.03.1941. Abgedruckt in Lerchenmueller, siehe Anm. 33, S. 240-261, S. 257.
REGIONAL- UND LANDESGESCHICHTE HORST WALLRAFF „Die Konjunktur, welche die Landes- und Siedlungsgeschichte spiegelbildlich zur Krise des Historismus in den zwanziger und dreißiger Jahren besaß, ging nicht auf den Nationalsozialismus zurück, der aber diese Ansätze zur modernen Sozialgeschichte durch die Überstülpung des Rassenparadigmas pervertierte.“ Hans Mommsen, 19991 Das Schlimmste dürfte mittlerweile nun doch bekannt sein. Dem vor mehr als einem Jahrhundert getätigten Diktum des Cambridge-Historikers Lord Acton zum Trotz2 ist knapp anderthalb Dezennien nach Veröffentlichung der „Polendenkschrift“ des ehemaligen Kölner Ordinarius Theodor Schieder3 und gut ein halbes Jahrzehnt nach dem denkwürdigen Frankfurter Historikertag, wo der Streit um die – nationalsozialistische – „Vergangenheit der Vergangenheitsspezialisten“4 fanalgleich eruptierte5, die Forschung wieder in ein ruhigeres und zuträglicheres Fahrwasser gemündet. Und auch wenn noch zur Jahrtausendwende im Kontext der bis dahin „versäumten Fragen“6 in Erwartung einer systematischen Studie des geistes-, human- und kulturwissenschaftlichen Fächerkanons im „Dritten Reich“ befürchtet worden ist, dass dadurch „wahrscheinlich überall noch Schlimmes“ herauskommen7 und immer mehr schockierende Details über die Rolle prominenter Historiker dieser Zeit publik werden würden8, so läßt die schon vor dem Frankfurter Fanal in Gang gekommene9 und danach nochmals forcierte Forschungsmaschinerie10 vermuten und hof1
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Hans Mommsen: Der faustische Pakt der Ostforschung mit dem NS-Regime. Anmerkungen zur Historikerdebatte. In: Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle (Hrsg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Frankfurt/Main 1999. S. 265-273, hier S. 272. Für die kritische Durchsicht danke ich meinem akademischen Lehrer und Kollegen Dr. Klaus Pabst, Universität zu Köln, und meinem Freund und Kollegen Peter Boddeutsch, Inden-Lucherberg. „The worst is seldom known!“: zit. bei Peter Schöttler: Von der rheinischen Landesgeschichte zur nazistischen Volksgeschichte oder Die „unhörbare Stimme des Blutes“. In: Schulze/Oexle (wie Anmerkung 1). S. 89-113, hier S. 89. Durch Angelika Ebbinghaus und Karl-Heinz Roth in 1999 – Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts auf den S. 62-94. So Bernd Weisbrod: Das Moratiorium der Mandarine. Zur Selbstentnazifizierung der Wissenschaften in der Nachkriegszeit. In: Hartmut Lehmann/Otto Gerhard Oexle (Hrsg.): Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften. Bd. 2: Leitbegriffe – Deutungsmuster – Paradigmenkämpfe. Erfahrungen und Transformationen im Exil. Göttingen 2004. S. 259-279, hier S. 259. Michael Ruck hat in der zweiten Auflage seiner Bibliographie zum Nationalsozialismus (Darmstadt 2000) von einem „spektakulären Ausbruch disziplinärer Selbstkritik“ gesprochen: Bd. 1, S. XXI. Ähnlich auch Winfried Schulze/Gerd Helm/Thomas Ott: Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Beobachtungen und Überlegungen zu einer Debatte. In: Schulze/Oexle (wie Anmerkung 1). S. 11-48, hier S. 11, und Winfried Schulze in Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 50 (1999). S. 67-73, hier S. 67f. (=Editorial). Rüdiger Hohls/Konrad H. Jarausch (Hrsg.): Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus. Stuttgart/München 2000. So Hans-Ulrich Wehler ebenda auf der S. 263. Vgl. Hohls und Jarausch in ihrer Einführung ebenda auf S. 41. Schon 1997 berichtete auch die bundesdeutsche Presse wie beispielsweise der Kölner Stadt-Anzeiger (in Nr. 101 v. 1./2. Mai 1997) von den „braunen Flecken“ auf den weißen Westen der Historikergrößen Conze, Schieder und Erdmann. Vgl. Hartmut Lehmann/Otto Gerhard Oexle (Hrsg.): Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften. Bd. 1: Fächer – Milieus – Karrieren. Göttingen 2004, S. 7 (=Vorwort). Ähnlich auch zuletzt Jost Dülffer in seiner in Geschichte in Köln (GiK) 50 (2003) auf den S. 276-280 abgedruckten Rezension zu Burkhard Dietz/Helmut Gabel/Ulrich Tiedau (Hrsg.): Griff nach dem Westen. Die „Westforschung“ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919-1960). 2 Bd. Münster [u.a.] 2003 und zu Hans Derks: Deutsche Westforschung. Ideologie und Praxis im 20. Jahrhundert. Leipzig
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fen, dass die als Spezialdisziplin immer mehr auftrumpfende Historiographiegeschichte11 im Konnex mit der NS-Zeit nicht zur „Enthüllungshistorie“12 gerät und das Schlimmste nun – eben – bekannt und vorüber ist. Diese Erwartung ändert freilich nichts an dem Tatbestand, dass die deutsche Geschichtswissenschaft ihre „disziplinäre Selbstreflexion“ später als alle anderen Sozialwisssenschaften begonnen hat, die ihre NS-Vergangenheitsaufarbeitung teilweise schon in den frühen 1960er Jahren starteten.13 Obschon der Nationalsozialismus schon zu Beginn der neunziger Jahre wohl mit Recht als der vielleicht am gründlichsten erforschte Abschnitt der deutschen Geschichte deklariert14 und dem schon vor wenigen Jahren aufgrund der ausufernden Aufarbeitungsanstrengungen eine „fortschreitende Unübersichtlichkeit“ attestiert worden ist15, mußte die Rolle der Geisteswissenschaften im „Dritten Reich“ gleichzeitig als ein Stiefkind der deutschen Forschung bezeichnet werden.16 Ganz im Gegensatz zur internationalen Wissenschaftslandschaft, in der der Themenbereich „Nazism and science“ bereits seit den siebziger Jahren im Forschungsfokus gestanden hatte17, ist unser Kenntnisstand über den Komplex „Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus“ und hier besonders die Geschichte der Geschichtswissenschaften immer noch als eher dürftig einzustufen.18 Das gilt in besonderem Maße für die Landesgeschichte, die weder als einstige Territorial- und Provinzial- noch als heutige Regionalgeschichte und schon gar nicht als Landesgeschichte der 1920er und 1930er Jahre wissenschaftshistoriographisch und methodologisch in adäquatem Umfang ausgeleuchtet und untersucht worden ist19, was die Erörterung des für die vorliegende Abhandlung zentralen Zusammenhanges von Landesge-
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2001. Vgl. zu Dietz/Gabel/Tiedau auch die – überaus kritische – Rezension von Hans Fenske in Rheinische Vierteljahrsblätter (RhVbl) 68 (2004). S. 225-230. Vgl. Irmline Veit-Brause: Eine Disziplin rekonstruiert ihre Geschichte: Geschichte der Geschichtswissenschaften in den 90er Jahren (II). In: Neue Politische Literatur (NPL) XLVI (2001). S. 67-78, hier S. 77. So etwas abschätzig Wolfgang J. Mommsen: „Gestürzte Denkmäler“ ? Die „Fälle“ Aubin, Conze, Erdmann und Schieder. In: Jürgen Elvert/Susanne Krauß (Hrsg.): Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert. Jubiläumstagung der Ranke-Gesellschaft in Essen, 2001. Stuttgart 2003. S. 96-109, hier S. 96. Vgl. Peter Dudek: Sozialwissenschaften und Nationalsozialismus. Zum Stand der disziplingeschichtlichen „Vergangenheitsbewältigung“. In: NPL XXXV (1990). S. 407-442, passim und (zur im Text gemeinten Soziologie) S. 409f. Vgl. auch Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 27 (=Einführung) und Dülffer (wie Anmerkung 10), S. 276. Vgl. z. B. Dudek (wie Anmerkung 13), S. 407; Wolfgang Michalka (Hrsg.): Deutsche Geschichte 19331945. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik. Frankfurt/Main 1993 [Neuausg.], S. 7 (=Vorwort). So Norbert Frei in der Süddeutschen Zeitung Nr. 57 v. 9.3.2001 im Rahmen seiner Rezension zu Ruck (wie Anmerkung 5). Vgl. Frank-Rutger Hausmann: „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940-1945). Dresden/München 1998, S. 7 (=Vorwort); ders.: „Auch im Krieg schweigen die Musen nicht“. Die Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg. Göttingen 2001, S. 11. Vgl. Alan D. Beyerchen: What We Now Know About Nazism and Science. In: Social Research 59 (1992). S. 615-641, passim u. bes. S. 628. Vgl. z.B. Schöttler (wie Anmerkung 2), S. 90; Karen Schönwälder: Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft und Nationalsozialismus. Frankfurt/Main/New York 1992, S. 11; Michael Fahlbusch: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik ? – Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931-1945. Baden-Baden 1999, S. 17 (Vorwort), auch S. 42f. Zuletzt einschränkend Willi Oberkrome in seiner Rezension zu Hausmann, DWI (wie Anmerkung 16) in NPL 47 (2002), S. 353f. So die noch immer gültige Beobachtung von Pankraz Fried in der Einleitung des von ihm hrsg. Aufsatzbandes Probleme und Methoden der Landesgeschichte (Darmstadt 1978. S. 1-12, hier S. 1f.). Verifiziert wird diese Feststellung implicite durch Rucks Bibliographie (wie Anmerkung 5), S. 895-955. Vgl. auch – als eine der raren Ausnahmen – Luise Schorn-Schütte: Territorialgeschichte – Provinzialgeschichte – Landesgeschichte – Regionalgeschichte. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Landesgeschichtsschreibung. In: Helmut Jäger/Franz Petri/Heinz Quirin (Hrsg.): Civitatum Communitas. Studien zum europäischen Städtewesen. Festschrift Heinz Stoob zum 65. Geburtstag. Teil 1. Köln [u.a.] 1984. S. 390-416, hier S. 391 (Anm. 5), auch S. 392 (Anm. 13).
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schichte und „Volksgeschichte“ naturgemäß nicht eben einfacher macht.20 Gleichwohl sind es gerade die Landeshistoriker gewesen, die – soviel mag vorwegnehmend bereits an dieser Stelle gesagt sein – dem „Dritten Reich“ willen- und unwillentlich und wissend und unwissendlich gedient haben, indem sie in Gestalt des damals modernen Paradigmas der „Kultur- und Volksraumforschung“ jenes trojanische Pferd mitbauten, durch das die Nationalsozialisten ihre Ideologie von „Rasse“ und „Lebensraum“ in die zwar schon brüchige, aber auch während der dreißiger Jahre durchaus noch defensionsbereite Historismusfestung der deutschen Geschichtswissenschaft zogen.21 Keineswegs zufällig haben die seinerzeit auf dem Frankfurter Historikertag 1998 namentlich „angeklagten“ sechs prominenten Geschichtswissenschaftsgrößen Otto Brunner, Werner Conze, Hermann Heimpel, Theodor Schieder, Franz Petri und Franz Steinbach ausnahmslos auch landesgeschichtliche Leistungen in ihrem Oeuvre vorzuweisen (gehabt)22, und nicht von ungefähr ist beispielsweise das weiter unten noch mehrfach zu erwähnende „Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande“ von den beiden letztgenannten viele Jahre lang geleitet worden23, derweil der Initiator dieses Institutes und des ihm innewohnenden innovativen Forschungsansatzes, Hermann Aubin, nicht nur einer der einflußreicheren Vertreter der deutschen Geschichtswissenschaft im gesamten Zeitraum von den 1920er bis zu den 1960er Jahren24, sondern auch und vor allem stets Landeshistoriker gewesen ist.25 Dabei dürfte es im vorliegenden Kontext eher unerheblich sein, dass Aubin als „geistiger Urheber“ jener bereits erwähnten „Polendenkschrift“ des späteren bundesdeutschen Historikermonumentes Theodor Schieder ausgemacht worden ist26 – fest steht, dass Aubin und Theodor Schieder ebenso wie andere, nach 1945 in der Bundesrepublik zu akademischem Ruhm und (wissenschafts-) politischem Einfluß gekommene Geschichtsforscher sich als „Schildknappen des NSRegimes“27 zunächst mit landeshistorischen Leistungen bewährt hatten.28 Gemäß der immer noch gültigen Feststellung, dass die bundesdeutsche Erforschung des Nationalsozialismus weder systematisch noch stringent verlaufen ist29, kam, wie oben bereits erwähnt, die Beschäftigung der deutschen Historiker mit ihrer eigenen NS-Vergangenheit erst Ende der 1960er Jahre mit Helmut Heibers Studie über Walter Frank und 20 21 22 23
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Vgl. Schönwälder (wie Anmerkung 18), S. 325 (Anm. 109). Siehe das diesem Aufsatz vorangestellte Zitat von Hans Mommsen (wie Anmerkung 1). Vgl. z. B. das ungemein hilfreiche biographische Glossar in Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 441476, hier die S. 445f., 454, 465f., 469f. und 473. Vgl. Marlene Nikolay-Panter: Geschichte, Methode, Politik. Das Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande 1920-1945. In: RhVbl 60 (1996). S. 233-262, passim. Edith Ennen: Hermann Aubin und die geschichtliche Landeskunde der Rheinlande. In: RhVbl 34 (1970). S. 9-42, hier S. 22, 29; Bernd A. Rusinek: „Westforschungs“-Traditionen nach 1945. Ein Versuch über Kontinuität. In: Dietz/Gabel/Tieden (wie Anmerkung 10). S. 1141-1201, passim. Vgl. bes. zu Steinbach und Petri den Aufsatz von Schöttler (wie Anmerkung 2), passim u. S. 95-104. Eduard Mühle: Hermann Aubin, der „Deutsche Osten“ und der Nationalsozialismus. Deutungen eines akademischen Wirkens im Dritten Reich. In: Lehmann/Oexle (wie Anmerkung 10). S. 531-591, hier S. 531. Vgl. ebenda, passim; Ennen (wie Anmerkung 23), passim, und Wolfgang J. Mommsen (wie Anmerkung 12, S. 102. Ebenda, S. 104f. Ebenda, S. 104. Indes sind nur wenige Historiker NSDAP-Mitglieder oder Mitglieder von NS-Organisationen und der „Angeschlossenen Verbände“ gewesen, so dass das jüngst (2004 in Heidelberg) erschienene Biographische Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik von Michael Grüttner lediglich Günther Franz (auf S. 51) und Erich Maschke (auf S. 114) als Vertreter der Landesgeschichte verzeichnet. Daneben finden sich hier die durchaus als zumindest bekannte „Zunft“-Mitglieder zu bezeichnenden Willy Andreas, Ernst Anrich, Alfred Baeumler, Albert Brackmann, Walter Frank, Karl Alexander von Müller, Walter Platzhoff, Gustav Adolf Rein und Paul Schmitthenner aufgeführt. Auch Wolfgang J. Mommsen weist in einem Interview (in Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 213) auf den Tatbestand hin, dass kaum ein Historiker der ersten Kategorie Mitglied der NSDAP gewesen ist. Vgl. dazu auch Winfried Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945. München 1989, S. 34. Vgl. Peter Hüttenberger: Bibliographie zum Nationalsozialismus. Göttingen 1980, S. 8 (Vorwort).
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sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland und Karl Ferdinand Werners Untersuchung über Das NS-Geschichtsbild und die deutsche Geschichtswissenschaft ebenso spät wie mühsam in Gang.30 Bis dahin galt das „eher milde Urteil“ des NS-unbelasteten Gerhard Ritter, der mehr als anderthalb Jahrzehnte zuvor konstatiert hatte, dass die deutsche Historiker-Elite eher der wissenschaftlichen Objektivität und weitaus weniger dem Nationalsozialismus verpflichtet gewesen war31, und auch nach Heibers und Werners Forschungen reklamierte die deutsche Historikerriege weiterhin ihre „Renitenz“ gegen das Hitler-Regime, zumal sich nun jeder Geschichtsforscher exkulpiert zu fühlen berechtigt wähnte, der nichts mit Walter Franks – letztlich nur an den Uferzonen des historiographischen Wissenschaftsflusses gelegenen – „Reichsinstitut“ zu tun gehabt hatte.32 Dieser Grundkonsens innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft, demzufolge das elitäre Ethos eigener Wissenschaftlichkeit und die dem Nationalsozialismus inhärente intellektuellenfeindliche Intoleranz die „Zusammenarbeit mit Baal“ (Otto Gerhard Oexle) von vorneherein verhindert hatte und so eine NS-Komplizenschaft der Historiker eo ipso unmöglich gewesen war, brach dann auch erst Ende der 1980er Jahre auseinander, als jüngere Forscher wie Michael Burleigh, Willi Oberkrome, Karen Schönwälder und Ursula Wolf jene „Enthüllungshistorie“ initiierten33, die im Gefolge des Frankfurter Historikertages von 1998 ihren Zenit erreichte und die sich nun – zumindest partiell – in der Tat erschöpft hat.34 Dabei wird es ein Anliegen dieses Aufsatzes sein zu klären, ob und inwieweit der im Jahre 1999 erhobenen Forderung, dass die moderne Landes- und Regionalgeschichte doch ihre eigene „Verstrickung“ in das NS-Wissenschafts- und Herrschaftssystem selbst erforschen möge35, bislang Folge geleistet worden ist. Diese bislang im Hinblick auf die NS-Geschichte der Geschichtswissenschaft geleistete „Enthüllungshistorie“ und die sich daraus ergebenden und in Frankfurt entladenen Eruptionen sind indes jener Renaissance der Wissenschaftsgeschichte geschuldet, die im Kontext der „kulturwissenschaftlichen Wende“ der letzten Jahrzehnte stattgefunden hat.36 Auch geboren aus der spezifisch deutschen Not der traditionellen „Geisteswissenschaften“ und deren zu einem nicht geringen Teil „von oben“ dekretierten Neuausrichtung als nunmehrige „Kulturwissenschaften“37 wird jetzt jener kollegiale Konsens mit den „Naturwissenschaften“ angestrebt, den die – deutschen – „Geisteswissenschaften“ seit Wilhelm Diltheys Zei-
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Beide Monographien erschienen in Stuttgart 1966 respektive 1967. Siehe auch die Anmerkungen 13 und 18. Vgl. Jürgen Elvert: Geschichtswissenschaft. In: Frank-Rutger Hausmann (Hrsg.): Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933-1945. München 2002. S. 87-135, hier S. 87; Ursula Wolf: Litteris et Patriae. Das Janusgesicht der Historie. Stuttgart 1996, S. 15, einen Forschungsüberblick ebenda auf den S. 15-20. Siehe auch Schulze (wie Anmerkung 28), S. 32, 37; Schönwälder (wie Anmerkung 18), S. 11f. Wolfgang J. Mommsen (wie Anmerkung 12, S. 97) betont, dass selbst Gerhard Ritter „immer wieder partielle Kompromisse mit den [NS-] Machthabern eingegangen ist.“ So Wolfgang Schieder in Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 295. Vgl. auch Schönwälder (wie Anmerkung 18), S. 13. Vgl. Schulze/Helm/Ott (wie Anmerkung 5), S. 15f.; Elvert (wie Anmerkung 31), S. 88; mit besonderem Blick auf die westlichen Grenzgebiete auch Burkhard Dietz: Die interdisziplinäre „Westforschung“ der Weimarer Republik und NS-Zeit als Gegenstand der Wissenschafts- und Zeitgeschichte. Überlegungen zu Forschungsstand und Forschungsperspektiven. In: Geschichte im Westen (GiW) 14 (1999). S. 189209, passim. Das Diktum Oexles von der „Zusammenarbeit mit Baal“ zit. bei Weisbrod (wie Anmerkung 4) auf der S. 259. Wie Anmerkung 12. So Dietz (wie Anmerkung 33), S. 207f. Vgl. Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 16, 45f. (Anm. 6). Erinnert sei an die von Wissenschaftsrat und Westdeutscher Rektorenkonferenz initiierte Denkschrift „Geisteswissenschaften heute“ von 1991, auf die an dieser Stelle natürlich nicht näher eingegangen werden soll: vgl. dazu Hartmut Böhme/Peter Matussek/Lothar Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 19-33.
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ten zu Ende des 19. Jahrhunderts gar nicht erst gesucht hatten38 und der nun die fakultätsund fächerüberspannende Brücke stützen soll, die zurückreicht bis zur interdisziplinären „Ganzheitlichkeit“ Humboldtscher Prägung.39 Zugleich bewirkte der terminologische „turn“ der traditionellen Geisteswissenschaften hin zu den – signifikanterweise und mit Bedacht im Plural firmierenden – „Kulturwissenschaften“40 allein insofern eine Internationalisierung per se, da die Distanz zu den angloamerikanischen „Cultural Studies“ durch die Verwendung des „neuen Zauberwortes“ der „Kultur“41 zumindest in terminologischer Hinsicht ein Stückbreit geringer geworden ist.42 Dass dabei auch und vor allem eine chronologische Kluft von nahezu einem halben Jahrhundert zwischen den bald nach dem Zweiten Weltkrieg in England etablierten „Cultural Studies“ und den im deutschsprachigen Raum erst ab den 1990er Jahren wiederentdeckten, nun – endlich – institutionalisierten „Kulturwissenschaften“43 und der dadurch angeworfenen „Modernisierungs“-Maschinerie für das dergestalt grundzuerneuernde geisteswissenschaftliche Multiversum44 bestanden hat, dürfte 38
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Vgl. ebenda, passim, ebenso Otto Gerhard Oexle: Geschichte als Historische Kulturwissenschaft. In: Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Kulturgeschichte heute. Göttingen 1996. S. 14-40, hier S. 39f.; Luise Schorn-Schütte: Ideen-, Geistes-, Kulturgeschichte. In: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.): Geschichte. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 1998. S. 498-515, hier S. 492-494. Vgl. Böhme/Matussek/Müller (wie Anmerkung 37), S. 21f. Vgl. auch Der Spiegel Nr. 38 v. 13.9.2004, in dem Alexander von Humboldt nicht zuletzt deshalb Titelbild und –story (von Matthias Matussek) auf den S. 162-174 gewidmet sind. Kittsteiner verweist darauf, dass die Debatte „Kulturwissenschaft“ oder „Kulturwissenschaften“ bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht: vgl. Heinz-Dieter Kittsteiner: Was sind Kulturwissenschaften ? 13 Antworten. München/Paderborn 2004, S. 7 (Vorwort). Vgl. auch Heidemarie Uhl: „Kultur“ und/oder „Gesellschaft“ ? Zur „kulturwissenschaftlichen Wende“ in den Geschichtswissenschaften. In: Lutz Musner/Gotthard Wunberg (Hrsg.): Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen. Wien 2002. S. 220-236, hier S. 223; des weiteren Böhme/Matussek/Müller (wie Anmerkung 37), S. 9f. Zur Inflation verschiendenster „turns“ vgl. beispielsweise Karl Schlögel: Karten lesen, Augenarbeit. In: Kittsteiner (wie vorliegende Anmerkung). S. 261-283, hier S. 264f. Siehe die Kapitelübertitelung „Kultur – ein neues „Zauberwort“„ bei Uhl (wie Anmerkung 40, S. 220225). Vgl. zu den „Cultural Studies“, auf die im vorliegenden Kontext nicht näher eingegangen zu werden braucht, z.B. Böhme/Matussek/Müller (wie Anmerkung 37), S. 11-13; den Abschnitt von Moritz Baßler in Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hrsg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart/Wien 2003, dort die S. 132-155, ebenso Ben Highmore: Everyday Life and Cultural Theory. An Introduction. London/New York 2002, passim. Nicht ganz unkritisch verweist Friedrich A. Kittler (Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaften. München 2000, dort auf S. 11) auf den Umstand, dass sich in den USA Literatur-Departments „mit einem Federstrich“ in „Cultural Studies“ umbenannt haben. Vgl. auch die Gegenüberstellung von „Cultural Studies“ und „Kulturwissenschaften“ bei Christian Gerbel/Lutz Musner: Kulturwissenschaften: Ein offener Prozess. In: Musner/Wunberg (wie Anmerkung 40). S. 9-23, hier S. 9f. Vgl. Böhme/Matussek/Müller (wie Anmerkung 37), S. 32. Zur Problematik der angelsächsischen und französischen Übersetzung von „Kultur“ vgl. Vincent Kaufmann: Kulturwissenschaften und Nationalismus. In: Johannes Anderegg/Edith Anna Kunz (Hrsg.): Kulturwissenschaften. Positionen und Perspektiven. Bielefeld 1999. S. 105-117, hier S. 105-107. „Die neue Karriere des Kulturbegriffs“ (so lautet die Übertitelung des ersten Abschnittes bei Stefan Haas: Historische Kulturforschung in Deutschland 1880-1930. Geschichtswissenschaft zwischen Synthese und Pluralität. Köln/Weimar/Wien 1994, S. 1-7) begann eigentlich schon in den 1980ern (vgl. ebenda, S. 2), wie analog dazu die Institutionalisierung des Faches „Kulturwissenschaften“ an den Universitäten einsetzte: vgl. Böhme/Matussek/Müller (wie Anmerkung 37), S. 7, ebenda auf den S. 230f. auch die tabellarische Übersicht. Vgl. ebenso Kittsteiner (wie Anmerkung 40), S. 20. Vgl. auch die geistreiche, teilweise gegen den wissenschaftspolitischen Zeitgeist geschriebene Aufsatzsammlung von Peter J. Brenner: Kultur als Wissenschaft. Aufsätze zur Theorie der modernen Geisteswissenschaft. Hamburg/London 2003, hier S. 8. Dessen Fächergalaxien sich seither in einer – in summa eher trägen – „transdisziplinären Neuorientierung“ (Uhl (wie Anmerkung 40), S. 222) und Annäherung befinden. In diesem metaphorischen Kontext spricht Karl Schlögel (wie Anmerkung 40) auf S. 280 von „schwarzen Löchern der Disziplinierungsund Teilungsgeschichte der Disziplinen“. Vgl. zum letztlich unscharfen Begriff der „Modernisierung“ z.B. Georg Mölich: „Moderne“ und „Modernisierung“ als Leit- und Epochenbegriff in den Kulturwissenschaften. Eine kritische Skizze. In: Dieter Breuer/Gertrude Cepl-Kaufmann (Hrsg.): Moderne und Nationalsozialismus im Rheinland. Vorträge des Interdisziplinären Arbeitskreises zur Erforschung der Moderne im Rheinland. Paderborn [u.a.] 1997. S. 17-20, passim. Vgl. auch Haas (wie Anmerkung 43), S. 1.
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nicht zuletzt auf die durch den Nationalsozialismus mehr als in Frage gestellte Funktion der deutschen Intellektuellen als humanisierende und aufklärerische Avantgarde zurückzuführen sein45: Nicht von ungefähr war es die im „Dritten Reich“ besonders funktionstüchtige „Deutsche Volkskunde“, die schon Anfang der 1970er Jahre als erste einem wie auch immer gearteten „Läuterungs- und Modernisierungsdruck“ nachgab und in Tübingen ihr volkskundliches Institut in „Ludwig-Uhland-Institut für empirische Kulturwissenschaft“ umbenannte.46 Demnach also zeigte der Nationalsozialismus auch und besonders den Geisteswissenschaften ihre humanisierenden und – eben – „kultivierenden“ Grenzen auf47, insofern er sie zu Erfüllungsgehilfen seiner antiaufklärerischen, zivilisationszerstörenden und damit auch „Kultur“-vernichtenden Ideologie machte – quod erat demonstrandum!48 In diesem Sinne wird in einem ersten Abschnitt des vorliegenden Aufsatzes vorab zu fragen sein, welche Rolle die Geschichtswissenschaft – als „Mutterdisziplin“ der Regionalund Landesgeschichte – im kulturwissenschaftlichen Kontext der Jahre 1933 bis 1945 gespielt hat und ob sie gar als ein (Muster-) Beispiel der „Gleichschaltung“ von Geisteswissenschaften im „Dritten Reich“ deklariert werden kann.49 Dass der „fehlgeleitete intellektuelle Nationalismus“ der deutschen Geisteswissenschaft besonders die universitär involvierten Intellektuellen aller Fachbereiche nationalsozialistisch kontaminierte50, mag dabei angesichts der unsystematischen und durchaus dezisionistischen NS-Hochschulpolitik51 einerseits erstaunen, doch sorgte andererseits die schon in Bismarck- und Kaiserreich vorherrschende Politisierung der (Geistes-) Wissenschaften für ausreichende „Verstrickungs“Voraussetzungen, wobei ja selbst das Ethos des „Elfenbeinturms“ au fond auch schon wieder eine höchst politische Grundhaltung darstellte – und darstellt.52 Und da sich die deutschen Historiker durch ihre traditionelle Nähe zum Staat in der Melange aus Wissenschaft und Politik überaus wohlfühlten53, suchten sie geradezu die Nähe zur Politik, und „wenn die Macht rief, waren sie alle da!“54 Nicht von ungefähr ist eine der wichtigsten historiographiehistorischen Studien der letzten Jahrzehnte (zur Geschichte der Geschichtswissenschaft zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik) als „Ideologie des deutschen Weges“
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Vgl. Gerbel/Musner (wie Anmerkung 41), S. 10f. Kittsteiner (wie Anmerkung 40), S. 13 (Vorwort), wobei dort als Datum der Umbenennung das Jahr 1975 angegeben ist. Vgl. dagegen Böhme/Matussek/Müller (wie Anmerkung 37), S. 231 (=tabellarische Übersicht), wo 1971 genannt wird. Vgl. auch ebenda, S. 23-26. Vgl. Brenner (wie Anmerkung 43), S. 124f., der hier betont, dass alle Wissenschaften eben keine ihnen eo ipso innewohnenden „kultivierenden“ Kräfte besitzen. Siehe Thematik und Titel des vorliegenden Sammelbandes. Siehe Abschnitt I: Geschichtswissenschaft 1933 bis 1945 als Paradigma der „Gleichschaltung“ von Geisteswissenschaften? – Kulturwissenschaften im nationalsozialistischen Kontext „German Geisteswissenschaftler became deeply involved with the régime.“ Hans Reiss: Geisteswissenschaften in the Third Reich: Some Reflections. In: German History 21 (2003). S. 86-103, hier S. 87. Vgl. hier passim Fallbeispiele aus verschiedenen Fachbereichen. Die Formulierung vom „misguided intellectual nationalism“ ebenda auf S. 94. Vgl. ebenda, S. 87. So – beispielsweise – Helga Grebing in ihrem Interview in Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 161. Schönwälder (wie Anmerkung 18), S. 17, hat sehr richtig bemerkt, dass „Wissenschaft kein autonomer Prozeß des Wahrheitsstrebens“ ist, sondern „selbst gesellschaftlicher Prozeß“ und Reflexionsbühne gesellschaftlicher Abläufe. Vgl. auch Georg G. Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang. Göttingen 21996, S. 104. Vgl. z.B. Schönwälder (wie Anmerkung 18), S. 15, 276 u. passim; Michael Salewski: Die RankeGesellschaft und ein halbes Jahrhundert. In: Elvert/Krauß (wie Anmerkung 12). S. 124-142, hier S. 126f., der zu Recht betont, dass mit „Politik“ in diesem Kontext gerade nicht Partei-Politik gemeint ist, weshalb trotz des hohen Politisierungsgrades nur wenige Historiker Mitglieder der NSDAP gewesen sind: siehe dazu auch die Anmerkung 28. So Wolfgang J. Mommsen in Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 213. Vgl. auch Hans Mommsen, ebenda, S. 174. Vgl. auch – spiegelbildlich zur Formulierung im Text – Schulze/Helm/Ott (wie Anmerkung 5), S. 19: „Die Autonomie der Wissenschaft hielt man am besten in der Nähe zur Macht gewahrt.“
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übertitelt worden55, kann doch die Geschichtswissenschaft als die a priori „vielleicht ideologischste und ideologisch gefährdetste Geisteswissenschaft“ bezeichnet werden.56 Im Gegensatz zu dieser Staatsnähe der universitär betriebenen, im Rahmen der damaligen deutschen Geisteswissenschaften als „Königsdisziplin“ angesehenen Geschichtswissenschaft57 führte die deutsche Kulturgeschichtsschreibung im Kontext der bis heute nur vage und manchmal gar nicht vor ihr abgegrenzten „Kulturwissenschaften“ das Schattendasein einer Subdisziplin58, die von den Akademikern der alma mater als exotischer und kaum ernstzunehmender Ableger der auf Diplomatie- und Dynastengeschichte fixierten „richtigen“ Geschichtswissenschaft abqualifiziert wurde, indem man die Kulturhistoriker um Karl Lamprecht nicht zuletzt durch den „Methodenstreit“ in den Dunstkreis des Dilettantismus verbannte.59 Dabei war die sich selbst als „Oppositionswissenschaft“ zur klassischen Kriegs- und Staatengeschichte60 und zur „kalzerisierten“ historistischen Geschichtswissenschaftler-Generation61 betrachtende Kulturgeschichte Lamprecht’scher Prägung mit der von ihr seinerzeit intendierten Interdisziplinarität nichts weniger als ein Versuch, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts von den auf dem Vormarsch befindlichen Naturwissenschaften bedrohten Geisteswissenschaften als modern(er)e „historische Kulturwissenschaften“ neu zu positionieren62 – insoweit kann die weiter oben bereits erwähnte „kulturalistische Wende“ der letzten Jahrzehnte durchaus als ein déjà vu der wissenschaftstheoretischen und -methodologischen Art bezeichnet werden, durch das die seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland diskreditierte Kulturgeschichte aus dem Schatten der geschmähten Subdisziplin herausgetreten ist und den „Kultur“-Begriff in der Geschichtswissenschaft etabliert hat.63 Da es aber in Zeiten der Jacob Burckhardt, Karl Lamprecht und Wilhelm Riehl nicht gelang, an die Stelle des alten, „geisteswissenschaftlich“ geprägten geschichtswissenschaftlichen Paradigmas ein neues in Gestalt einer „historischen Kulturwissenschaft“ oder zumindest doch einer kulturwissenschaftlich orientierten Historiogra-
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Bernd Faulenbach:Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. München 1980. So Imanuel Geiss in Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 233. Vgl. auch Georg G. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart. Wien/Köln/Weimar 1997 [Neuausg. d. 3. Aufl. v. 1976/Amerik. Originalausg. u. d. Titel The German Conception of History], S. III (=Vorwort). Vgl. Faulenbach (wie Anmerkung 55), S. 4. Als „führende Bildungsmacht“ charakterisiert Rudolf Vierhaus (in Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6) auf S. 83) die Stellung der deutschen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert. Ute Daniel (im Abschnitt „Kulturgeschichte“ in Nünning/Nünning (wie Anmerkung 41) auf den S. 186204, hier S. 186) geht davon aus, dass es eine Kulturgeschichte als „fixierbare historische Subdisziplin“ nicht gegeben hat und auch nicht geben wird ! Vgl. beispielsweise Iggers (wie Anmerkung 52), S. 28; Roderich Schmidt: Kulturgeschichte in landeshistorischer Sicht. In: Zeitschrift für Ostforschung 30 (1981). S. 321-348, hier S. 325-327. Vgl. auch Böhme/Matussek/Müller (wie Anmerkung 37), S. 48. Vgl. auch Helmut Seiers Rezension zu Stefan Haas (wie Anmerkung 43) in RhVbl 60 (1996) auf den S. 424-426, worin Seier betont, dass sich Lamprecht im „Methodenstreit“ keineswegs als Verlierer fühlte und die Kulturgeschichte im Kaiserreich und der Weimarer Republik durchaus ’weiterblühte’ (S. 425). Schorn-Schütte (wie Anmerkung 38), S. 499. Zit. bei Rusinek (wie Anmerkung 23), S. 1198f. Vgl. ebenda, S. 1141, 1194f., 1199-1201; Böhme/Matussek/Müller (wie Anmerkung 37), S. 44. Vgl. auch Gangolf Hübinger: Kulturelle Vergesellschaftung. Die Orientierung des Historikers zwischen Kultur- und Sozialforschung. In: Kittsteiner (wie Anmerkung 40). S. 134-152, hier S. 141f. Vgl. z.B. ebenda, S. 135; Schorn-Schütte (wie Anmerkung 38), S. 489, 510f.; Wolfgang Maderthaner: Kultur Macht Geschichte. Anmerkungen zur Genese einer historischen Kulturwissenschaft. In: Musner/Wunberg (wie Anmerkung 40). S. 88-109, hier S. 93 u. passim. Kittler (wie Anmerkung 41) weist auf S. 18 darauf hin, dass die Kulturwissenschaft mit ihrer „ausgesprochen zivilen Thematik“ seit den griechischen Anfängen der Geschichtsschreibung in einem Gegensatz zu dieser gestanden hat. Vgl. zur „Rezeption des Kulturbegriffs in den Geschichtswissenschaften“ auch Uhl (wie Anmerkung 40), S. 225-231.
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phie zu setzen64, blieb es der naturgemäß weniger auf Nation und Staat kaprizierten Landesgeschichtsschreibung vorbehalten, das Erbe dieser alten deutschen Kulturgeschichte zu tradieren65: Es war kein Zufall, dass die Bonner „Westforscher“ um Aubin und Petri Karl Lamprecht als ihren Ahnherren betrachteten66 und dass die letztlich erst nach dem Ersten Weltkrieg als eigenständige Teildisziplin anerkannte Landesgeschichte67 im Kanon der interdisziplinär ausgerichteten Kulturwissenschaften jene Metamorphosen erlebte, die ihre Wissenschaftshistorie im 20. Jahrhundert prägten und die in einem zweiten Abschnitt dieses Aufsatzes thematisiert werden sollen.68 Und da Region und (Geschichts-) Kultur seit jeher komplementäre Begrifflichkeiten waren und sind69, konnte es nur folgerichtig sein, wenn die Landesgeschichte sich seit Ende des 19. Jahrhunderts in interdisziplinären Schritten der Geographie und damit jener „Kulturraumforschung“ näherte70, die in den Weimarer Jahren dann im Bonner „Institut für Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande“ und weiteren landeskundlichen Instituten im Zeichen eines der Heimatbewegung entstammenden „Kultur“-Begriffes betrieben wurde, demzufolge unter „Kultur“ weniger „(…) Moral oder die traditionellen Spitzenleistungen von Kunst und Wissenschaften (.), sondern mehr der individuelle Ausdruck des „Wesens“ der Rassen, Völker und Stämme“ verstanden wurde.71 Im Gefolge einer solchermaßen geprägten „Kulturraumforschung“ und „Landeskunde“72 kam es zu einer Konjunktur letztlich sogar metaphysisch interpretierbarer Termini von „Raum“ bis „Rasse“, so dass „eine um die Begriffe „Volk“ und „Lebensraum“ kreisende, gegenüber der „Rassenforschung“ offene Geschichtsauffassung (…) zunehmend an Boden [gewann], insbesondere unter landesgeschichtlich und volkskundlich orientierten Historikern.“73 Wenn also, wie Oscar J. Hammen schon 1941 im JOURNAL OF MODERN HISTORY festgestellt hatte, bereits während der Weimarer Republik eine jüngere deutsche Historikergeneration den Weg „(…) weg von der bis dahin vorherrschenden soliden fakten-positivistischen Forschungsarbeit [hin] zu einer spekulativen Historie, die Geschichte als Manifestation von Kräften wie „Geist“, „Idee“, „Blut“ oder „Schicksal“ begriff (…)“74, dann verbietet es sich, den durch das Jahr 1933 geschaffenen Graben zwischen den geisteswissenschaftlichen Forschungen in Weimar und NS-Deutschland allzu tief auszuheben, zumal beispielsweise Hans Friedrich Karl
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Vgl. Horst Walter Blanke: Historiographiegeschichte als Historik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 404. Vgl. auch Oexle (wie Anmerkung 38), passim u. S. 19f., 29f. Vgl. hierzu auch Veit-Brause (wie Anmerkung 11), hier Teil I in NPL LXLIII (1998) auf den S. 36-66, hier S. 37-46 u. bes. S. 47. Vgl. Iggers (wie Anmerkung 52), S. 28; Schorn-Schütte (wie Anmerkung 38), S. 503. Vgl. Rusinek (wie Anmerkung 23), S. 1198. Vgl. Fried (wie Anmerkung 19), S. 4. Siehe Abschnitt II: Im Kanon der Kulturwissenschaften ? – Metamorphosen der Regional- und Landesgeschichte „Die Verkopplung der Begriffe Region und Kultur liegt nahe (...).“ Volker Dahm: Kulturpolitischer Zentralismus und landschaftlich-lokale Kulturpflege im Dritten Reich. In: Horst Möller/Andreas Wirsching/Walter Ziegler (Hrsg.): Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich. München 1996. S. 123-138, hier S. 123. Vgl. auch Bernd Schönemann: Die Region als Konstrukt. Historiographiegeschichtliche Befunde und geschichtsdidaktische Reflexionen. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 135 (1999). S. 153-187, passim u. bes. S. 178-182. Vgl. Karl Ditt: Raum und Volkstum. Die Kulturpolitik des Provinzialverbandes Westfalen 1923-1945. Münster 1988, S. 98. Ebenda, S. 30. Vgl. zu Heimatbewegung und „Kultur“-Begriff auch ebenda, S. 34, 58. Bezeichnenderweise firmierte die seit den 1880er Jahren in Deutschland als Teil der Fremdsprachenvermittlung betriebene „Landeskunde“ auch als „Kulturkunde“: vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink in Nünning/Nünning (wie Anmerkung 41) auf der S. 310f. (im Rahmen des dort auf den S. 307-328 abgedruckten Abschnittes „Kulturraumstudien und Interkulturelle Kommunikation“). Faulenbach (wie Anmerkung 55), S. 33. So zusammengefasst ebenda, S. 439 (Anm. 52). Siehe auch Oscar J. Hammen: German Historians and the Advent of the National Socialist State. In: Journal of Modern History XIII (1941). S. 161-188.
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Günthers Rassenkunde des deutschen Volkes schon 1922 erschienen war !75 In diesem Sinne wird im dritten Abschnitt dieser Abhandlung zu fragen sein, ob die in Weimar als „Kulturraumforschung“ betriebene Landesgeschichte als „Wegbereiter der Nazifizierung“ der deutschen Geschichtswissenschaft bezeichnet werden kann76, was darüberhinaus der weiter unten noch zu thematisierenden Debatte um die „Kontinuitäten“ innerhalb der deutschen Historiographie durchaus dienlich sein mag. Mit der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ des Jahres 1933 und dem damit einhergehenden aggressiven Expansionismus gewannen die Konzepte für die Eroberung „deutschen Volks- und Kulturbodens“77 zunehmend an Gewicht, und „Raum“ und „Rasse“ rückten ins Zentrum einer zunehmend zentralisierten Kulturpolitik, deren regionale Ergänzung und Kompensation der „Volkstumsgedanke“ wurde78 – „(…) eine höchst widersprüchliche Ergänzung freilich, weil sich rassistisch- unitarisch-nationales Denken mit völkischem „Stammes“- und Raum-Denken ebensowenig vereinbaren ließ wie sich die antizivilisatorischen Affekte (…) mit (…) der wirtschaftlichen und technischen Modernität (…) des Nationalsozialismus vertrugen.“79 Mehr und mehr wandelte sich die zwar schon „völkisch“ orientierte Landeshistoriogaphie zumindest teilweise zur „nationalsozialistisch verseuchten Volksgeschichte“ (Gerhard A. Ritter)80, wobei es dem vierten Abschnitt angelegen sein wird zu quantifizieren und zu qualifizieren, inwieweit die deutsche Historiographie und hier besonders die allein schon durch ihre Interdisziplinarität als „innovativ“ geltende Landesgeschichtsschreibung als Garant einer „Gleichschaltung“ der deutschen Geschichtswissenschaft und deren Instrumentalisierung als „Volksgeschichte“ dem NSRegime auf mehr als halben Wege entgegengekommen ist.81 Aber was ist „innovativ“, was ist „Volk“ und was ist „Volksgeschichte“? Je nach Standpunkt sozialwissenschaftlich (so bei Werner Conze), ideengeschichtlich (Hans Rothfels) oder sozialhistorisch (Otto Brunner) gedeutet und nur in puncto Grenzverschiebungen auf einer Linie82, ist analog zu dieser definitorischen Uneinigkeit bis heute an keiner Stelle festgelegt, was denn eigentlich unter „NS-Historie“ verstanden werden kann und soll83, und noch Ende der 1930er Jahre war der zentrale Terminus des „Völkischen“ im nationalsozialistischen Sprachgebrauch anders zu verstehen als in denjenigem der „konservativen Revo75
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Dieses Bild vom „geisteswissenschaftlichen Graben“ und das Beispiel H. F. K. Günther bei Rusinek (wie Anmerkung 23), S. 1148. Vgl. auch Wolfgang Hardtwig: Die Krise des Geschichtsbewusstseins in Kaiserreich und Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus. In: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2001. S. 47-75, hier S. 48f., wo Hardtwig u.a. darauf hinweist, dass Günthers „Rassenkunde“ als sog. „Volks-Günther“ bis 1943 eine Gesamtauflage von 295.000 Exemplaren erreichte ! Auf die Bedeutung einer Einbeziehung der Weimarer Jahre für eine Geschichte der Geschichtswissenschaften unter NS-Vorzeichen weist auch Elvert (wie Anmerkung 31) auf S. 95 hin. Vgl. zu Günther auch Jürgen Elvert: Mitteleuropa ! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918-1945). Stuttgart 1999, S. 311-314. Siehe Abschnitt III: Wegbereiter einer „Nazifizierung“ ? – Landesgeschichte als „Kulturraumforschung“ Vgl. Schönwälder (wie Anmerkung 18), S. 51-53 (=Abschnitt: „Der „deutsche Volks- und Kulturboden“„). Vgl. den Titel der Arbeit von Ditt (wie Anmerkung 70). Vgl. auch ders.: Regionalismus in Demokratie und Diktatur. Die Politisierung der kulturellen Identitätsstiftung im Deutschen Reich 1919-1945. In: Stephan Lennartz (Red.): Auf der Suche nach regionaler Identität. Geschichtskultur im Rheinland zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Bergisch Gladbach 1997. S. 13-29, hier S. 23. Vgl. auch Dahm (wie Anmerkung 69), passim, u. bes. Fahlbusch (wie Anmerkung 18), S. 74. Ebenda, S. 127. In Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 134. Siehe Abschnitt IV: Garant einer „Gleichschaltung“ ? – Landesgeschichte als „Volksgeschichte“ So Wolfgang Schieder in Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 292. Vgl. zu Rothfels (und Conze) auch Heinrich August Winkler: Hans Rothfels – ein Lobredner Hitlers ? Quellenkritische Bemerkungen zu Ingo Haars Buch „Historiker im Nationalsozialismus“. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (VfZG) 49 (2001). S. 643-652, passim. Biographische Daten zu Conze und Rothfels finden sich in Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 446 resp. 468f. Vgl. Elvert (wie Anmerkung 31), S. 113f., bes. S. 113 (Anm. 79).
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lutionäre“84, weshalb an dieser Stelle die durchaus eingeschränkten Erkenntnismöglichkeiten einer wissenschaftsgeschichtlichen Darstellung im Kontext von Nationalsozialismus und Kulturwissenschaften zumindest ansatzweise erörtert werden sollen. Angesichts der oben bereits getroffenen Feststellung, dass es bislang nur ganz wenige systematische Studien zur Geschichte der Geisteswissenschaften im „Dritten Reich“ gibt85, sollten – obwohl dies im Wertekanon jedweder Wissenschaft ohnehin immer ganz oben stehen sollte – pauschalisierende und cum ira et studio entwickelte Einsichten und Urteile vermieden werden86, und auch wenn die Aufdeckung von NS-“Verstrickungen“ namhafter deutscher Historiker gerade im Zuge der „Sensibilisierung für den Holocaust“87 so viel Emotionalität evoziert hat, dass den „Verfechtern des radikalen Neubewertungsansatzes“88 noch in jüngster Zeit vorgehalten werden konnte, sich nicht nur eines eifernden Tones und diffamierenden Sprachduktus‘ zu bedienen, sondern in unzulässiger Weise mit dem heutigen Zeitgeist „kontaminiert“ zu sein89 und dergestalt selbst einen ideologischen Irrweg betreten zu haben, den gegangen zu sein man den Historikerkollegen der 1930er und 1940er Jahre so vehement vorwirft ! Im Rahmen dieses durchaus real existierenden „moralischen Rigorismus“ einer jüngeren Historikergeneration90 – deren wichtigste Vertreter zumindest teilweise gar keine „zünftigen“ Historiker sind91 – ist oft aus dem Blick geraten, dass „Schuld“ immer auch ein individuelles Kriterium beinhaltet, so wie ja auch „Moral“ von jedem Menschen anders verstanden und – vor allen Dingen – in die Tat oder Untat umgesetzt wird. Natürlich thront über solchen zugegebenermaßen in den gefährlichen Bereich der Beliebigkeit vorstoßenden ethischen Erwägungen die schon 1936 (!) von Gerhard Ritter angemahnte „überzeitliche Gültigkeit sittlicher Normen“92, und natürlich sollte die Einlassung auf „Einfühlung“ und das Verständnis für das „Verstehen“ der NS-Täter nicht so weit gehen, die Maßstäbe einer unseligen Vergangenheit zu rekultivieren93, doch darf die Geschichte der neueren Geschichtsschreibung nicht zu einer tribunalisierten „angewandten Wissenschaft“ werden, die dann unfreiwillig genau jene Art von Historiographie reproduziert, die sie anklagt94: „We84 85 86 87
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Vgl. ebenda, S. 127. So Hans-Ulrich Wehler im Jahre 2000 in Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 263. Zu nennen wäre an dieser Stelle lediglich der 2002 erschienene Sammelband von Hausmann (wie Anmerkung 31). Vgl. bes. Elvert (wie Anmerkung 31), S. 96 u. passim. Durch die Dauerdebatten vom „Historikerstreit“ bis zur „Goldhagen-Kontroverse“ und darüber hinaus: Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 18f. Vgl. auch Wolfgang Hasberg: Erinnerungskultur – Geschichtskultur, Kulturelles Gedächtnis – Geschichtsbewusstsein. 10 Aphorismen zu begrifflichen Problemfeldern. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2004. S. 198-207, der auf der S. 199f. darauf hinweist, dass die Aktualität der mit dem Namen Jan Assmann seit Anfang der 1990er Jahre verknüpften Forschungen zum „Kulturellen Gedächtnis“ und deren Rezeption innerhalb der Zeitgeschichtsschreibung auch im beginnenden Aussterben der Holocaust-Zeitzeugen begründet ist. Elvert (wie Anmerkung 31), S. 94. Fenske (wie Anmerkung 10), S. 227. Ähnlich auch Immanuel Geiss, der (in Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 236) vor „jeder moralisierenden Selbstgerechtigkeit einer jüngeren Historikergeneration“ warnt. So Hans Mommsen in Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 187. Beispielsweise Götz Aly, Michael Fahlbusch und Peter Schöttler: vgl. den Beitrag von Hacke, Schäfer und Steinbach-Reimann ebenda, S. 66f.; Michael Grüttner: Ostforschung und Geschichtswissenschaft im Dritten Reich. In: Archiv für Sozialgeschichte (AfS) 43 (2003). S. 511-517, hier S. 513. In Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6) verweist Wolfram Fischer (auf der S. 115) darauf, dass besonders der Frankfurter Historikertag von 1998 „für viele Jüngere eine Art Abrechnung mit der Bielefelder Schule“ gewesen ist. Zit. bei Schulze (wie Anmerkung 5), S. 73. Zu Recht weist Schöttler (wie Anmerkung 2, S. 93) auf den „absurden Gedanken“ hin, dass man dann in letzter Konsequenz auch KZ-Kommandanten an ihren eigenen Wertmaßstäben messen müsste. Vgl. auch ebenda, S. 92f., 107 (Anm. 21). Rusinek (wie Anmerkung 23), S. 1149. Als Beispiel für eine solche dem Zeitgeist bedingungslos folgende und dadurch distanzlos werdende Geschichtsschreibung bietet sich besonders im Rahmen des vorliegenden Sammelbandes der von Manfred Asendorf verfasste Beitrag zur Geschichte der „RankeGesellschaft“ an: Was weiter wirkt. Die „Ranke-Gesellschaft – Vereinigung für Geschichte im öffentli-
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gen der Emotionalität der Debatte wird es nicht immer leicht sein, eine klare Verurteilung von aktenkundigem Vergehen mit einem differenzierenden Verständnis für die Umstände einer anderen Zeit zu verbinden.“95 Diese dringend gebotene Differenzierung gilt um so mehr, als die durch das Moratorium der Mandarine geprägte Selbstentnazifizierung der deutschen Wissenschaft nach 194596 und hier besonders die Geschichte der Geschichtswissenschaft nach wie vor als Forschungsdesiderat angesprochen werden muß97, was im Verbund mit der durch die erwähnte „kulturalistische Wende“ entstandene „offene Situation der geschichtswissenschaftlichen Debatte“98 die Antwort auf die Frage nach den „Kontinuitäten“ enorm erschwert. Es ist dabei zwar unschwer nachzuvollziehen, dass – beispielsweise – im „Falle“ des Landeshistorikers Franz Petri von einer personellen „Kontinuität“ gesprochen werden muß, wenn (ausgerechnet) dieser weiter unten noch mehrfach zu erwähnende „Westforscher“ noch Ende der 1970er Jahre im renommierten „Handbuch der europäischen Geschichte“ den Abschnitt über die Beneluxländer verfassen durfte99, aber sind solche „Kontinuitäten“ auch im methodischen und politischen Kontext so klar erkennbar?100 Von daher soll abschließend – quasi als Essenz des dritten und vierten Abschnitts dieses Aufsatzes – erörtert werden, ob die sich heute als „moderne“ Regionalgeschichte gerierende Landesgeschichte in der „Kulturraumforschung“ und „Geschichtlichen Landeskunde“ der Weimarer Republik und/oder der „Volksgeschichte“ der nationalsozialistischen Zeit ihre Wurzeln hat und dergestalt auf Dauer diskreditiert werden könnte.101 I. Geschichtswissenschaft 1933 bis 1945 als Paradigma der „Gleichschaltung“ von Geisteswissenschaften ? – Kulturwissenschaften im nationalsozialistischen Kontext „History has been hitched to the Nazi-steam roller ....“ Shepard Arthur Stone, 1934102 Analog zu dieser cum grano salis zutreffenden Feststellung des jungen, kurz zuvor in Berlin mit einer Arbeit über Deutsch-polnische Beziehungen 1918-1932 promovierten amerikanischen Historikers Shepard Arthur Stone hatte der schon seit Anfang der 1920er Jahre mit Hitler bekannte und nach der „Machtergreifung“ dann zu einem „Renommierhistoriker des Dritten Reiches“ avancierte Geschichtsprofessor Karl Alexander von Müller schon ein chen Leben“. In: 1999 – Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. Heft 4 (1989). S. 29-61, passim u. beispielsweise S. 39 („Also beschloß [Gustav Adolf] Rein, Historiker zu werden (…).“). 95 So Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6) in ihrer Einführung auf der S. 44. Vgl. auch ebenda, S. 30, wo die „Notwendigkeit einer Differenzierung“ explizit betont wird. 96 Wie Anmerkung 4. 97 Trotz der Studien von Iggers (wie Anmerkung 52) und Winfried Schulze (wie Anmerkung 28): vgl. Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 41f. 98 Axel Flügel: Der Ort der Regionalgeschichte in der neuzeitlichen Geschichte. In: Stefan Brakensiek [u.a.] (Hrsg.): Kultur und Staat in der Provinz. Perspektiven und Erträge der Regionalgeschichte. Bielefeld 1992. S. 1-28, hier S. 26. Vgl. auch Iggers (wie Anmerkung 56), der (auf S. 364) von einer „Vielzahl an Geschichtsphilosophien und geschichtswissenschaftlichen Strömungen“ spricht. 99 Vgl. Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“ (wie Anmerkung 16), S. 260 (Anm. 12). 100 Vgl. Dülffer (wie Anmerkung 10), S. 279. Rusinek (wie Anmerkung 23) macht (auf S. 1146f.) darauf aufmerksam, dass der Begriff „Kontinuität“ trotz häufigen Gebrauchs kaum näher definiert wird und die „Kontinuitätsdiskussion“ (nicht zuletzt deshalb ?) noch lange nicht beendet ist (ebenda, S. 1165 u. passim). 101 Siehe Abschnitt V: Diskreditiert auf Dauer ? – Landesgeschichte als moderne Regionalgeschichte. 102 Zit. bei Wolf (wie Anmerkung 31), S. 18. Vgl. zu Stone auch den jüngst erschienenen Band von Volker Berghahn: America and the intellectual cold wars in Europe: Shepard Stone between philanthropy, academy, and diplomacy. Princeton 2001, passim.
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Jahr zuvor – 1933 ! – zu Recht konstatiert, dass die deutsche Geschichtswissenschaft den Nationalsozialismus keineswegs „mit leeren Händen“103, sondern, wie zu zeigen sein wird, mit einem Füllhorn „nationaler“ und antirepublikanischer Überzeugungen empfangen hatte.104 Aber auch wenn die Mehrheit der deutschen Historikerschaft die Errichtung des NSRegimes mit distanziertem Wohlwollen registriert hatte105, war es mitnichten ein Zufall, dass der überzeugte Nationalsozialist Karl Alexander von Müller – seines Zeichens der Doktorvater des NSDAP-Historikers Walter Frank – zum Zeitpunkt der „Machtergreifung“ noch kein Ordinarius gewesen ist106, derweil sich vice versa im Januar 1933 unter den Ordinarien der deutschen Geschichtswissenschaft kein Mitglied der NSDAP fand !107 Und auch wenn nach 1933 – neben Karl Alexander von Müller – noch ein knappes Dutzend NS-überzeugter und zum Teil –angehöriger Historiker mit Ordinarien ausgestattet108 und umgekehrt etwa zwei Dutzend Inhaber geschichtswissenschaftlicher Lehrstühle im Zeitraum zwischen 1933 und 1945 aus politischen und ideologischen Gründen aus dem Amt gedrängt wurden109, überstanden grob gesprochen nicht weniger als fast achtzig Prozent der 147 Geschichtsordinarien das große gesellschaftliche Revirement der Jahre nach 1933, weshalb nicht die Rede davon sein kann, dass die deutsche Historikerschaft nach dem 30. Januar nahezu geschlossen zum Nationalsozialismus konvertiert sei.110 Andererseits aber – und darin bestand wohl das von Karl Alexander von Müller angesprochene „Begrüßungspräsent“ an die Nationalsozialisten – war die deutsche Geschichtswissenschaft in ihrer überwältigenden Mehrheit der Republik von Weimar feindgeblieben111, so dass sich über das (deutsch-) nationale Scharnier die Tore zum „Dritten Reich“ mühelos öffnen ließen und – beispielsweise – ein Nichtnationalsozialist und Nichtantisemit wie der Heidelberger Neuzeitordinarius Willy Andreas „(..) nach dem 30. Januar 1933 nicht (.) verbrennen [musste], was er bisher verehrt hatte; er brauchte auf seinem Gesinnungsaltar den Leuchter nur etwas mehr in die nationale Richtung zu verschieben (…).“112 Dabei hatten viele dieser antirepublikanischen Historiker, die im übrigen meist jeweder Parteizugehörigkeit ablehnend gegenüberstanden113, mehr vom Brüning’schen Präsidialka103 Vgl. diese oft zitierte Beobachtung von Müllers z.B. zit. bei Schulze/Helm/Ott (wie Anmerkung 5), S. 16, ebenso Schulze (wie Anmerkung 5), S. 70. Die Dissertation des 1908 geborenen Stone ist 1933 als Teilabdruck in Berlin publiziert worden. Die Bezeichnung „Renommierhistoriker“ findet sich bei Eike Wolgast; Geschichtswissenschaft in Heidelberg 1933-1945. In: Lehmann/Oexle (wie Anmerkung 10). S. 145-168, hier S. 152. 104 Pars pro toto Hammen (wie Anmerkung 74), S. 164: „The opponents of the Republic were most numerous.“ Auf die „nationalen“ Überzeugungen der meisten deutschen Historiker verweist z.B. Vierhaus in Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 82. 105 Vgl. Schönwälder (wie Anmerkung 18), S. 90. Vgl. auch ebenda, S. 20-22, 268. 106 Vgl. Werner (wie Anmerkung 30 (im Text)), S. 43. Vgl. auch ebenda, S. 27; Heiber (wie Anmerkung 30 (im Text)), S. 1223. Zu Franks zweifelhaftem Charakter ebenda, S. 1212-1225 (!). 107 Vgl. Iggers (wie Anmerkung 56), S. 320, der ebenda darauf hinweist, dass Karl Alexander von Müller dann 1933 – bezeichnenderweise – der erste NSDAP-angehörige Geschichtsordinarius wurde. Siehe auch die Anmerkung 28. 108 Eine Auflistung findet sich bei Schulze (wie Anmerkung 28), S. 34. 109 Eine Namenliste der nach § 3 des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aus „rassischen Gründen“ entlassenen Historiker bei Hans Schleier: Die bürgerliche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik. Berlin 1975, S. 107f. Vgl. auch Elvert (wie Anmerkung 31), S. 110 u. 112, der von 26 Lehrstühlen im Zeitraum von 1933 bis 1945 berichtet. Schönwälder (wie Anmerkung 18) gibt für den Zeitraum bis 1939 (auf S. 88) 17 Ordinarien an. 110 Wie dies beispielsweise Peter Schöttler (wie Anmerkung 2) behauptet: vgl. Elvert (wie Anmerkung 31), S. 113, auch S. 131f. u. passim. Vgl. dort auch eine detaillierte „Übersicht über die Geschichtslehrstühle an den deutschsprachigen Universitäten“ 1930-1945 ebenda auf den S. 98-108. 111 Unter den 180 Weimarer Ordinarien findet Elvert (ebenda auf den S. 114 u. 116) „nur etwa ein Dutzend“ Republikaner (vgl. eine namentliche Auflistung bei Hammen (wie Anmerkung 74), S. 163f.). Von Elvert abweichende Zahlenangaben finden sich bei Faulenbach (wie Anmerkung 55) auf der S. 4. 112 Wolgast (wie Anmerkung 103), S. 153. Vgl. auch ebenda, S. 149-159 (zu Andreas). 113 Wie beispielsweise Hermann Aubin: vgl. Mühle (wie Anmerkung 24), S. 559. Siehe auch die Anmerkung 53.
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binett als von einer Hitler’schen „Machtübernahme“ erhofft und diese dann – wie beispielsweise der für diese Untersuchung überaus bedeutsame Landeshistoriker Hermann Aubin – nüchtern und neutral als „nationalen“ Fortschritt gutgeheißen.114 Denn Weimar war für sie nicht nur gleichbedeutend mit Weltkriegsniederlage und „nationaler Schmach“ (wovon noch die Rede sein wird), sondern auch mit einer bis dahin kaum gekannten Akademikerarbeitslosigkeit und -armut115 und der „Krise des Geschichtsbewußtseins“116, die sich in einem aus Sicht der professionellen Historiker geradezu beängstigenden Boom historischer Belletristik und populärwissenschaftlicher Biographien manifestierte und mit der allgemein empfundenen und allerorten propagierten „Kulturkrise“ korrespondierte.117 Im Verbund mit der Ablehnung von allem nach Versailles Verdächtigen und der Betonung von Macht, Staat und „großem Einzelnen“118 – einem wie auch immer gestalteten „Führer“ also – glaubte die konservative und rückwärtsgewandte Weimarer Historikerschaft, der, wie Hans Herzfeld 1954 richtig feststellte, die „Dimension der Zukunft“ völlig fehlte119, Schnittmengen mit der jungen NS-“Bewegung“ zu besitzen, was sich letztlich als großer Irrtum herausstellen sollte.120 Denn die Nationalsozialisten waren im Unterschied zur Historiker-Mehrheit „Rasse“-fixiert und nicht staatsorientiert, sie waren allein schon durch ihre süddeutschen Wurzeln österreichisch-großdeutsch und nicht preußisch-kleindeutsch und Produkt und Promotor derselben Massen, die der elitären Historiker-“Zunft“ mindestens suspekt sein mussten.121 Vielleicht sahen oder fühlten die meist ebenso raffiniert wie antiakademisch und antiintellektuell daherkommenden Nationalsozialisten diese Kluft zwischen ihnen und der geistigen und wissenschaftlichen deutschen Elite viel früher und in stärkerem Maße als letztere, die aller Anpassungsanstrengungen zum Trotz – in der Endphase des NS-Regimes waren immerhin zwei Drittel aller etwa 7500 Hochschullehrer Mitglied der NSDAP!122 – in den Jahren 1933 bis 1945 Substanz und Status einbüßte123, derweil die Universitäten ein tiefes 114 Vgl. z.B. Mühle (wie Anmerkung 24), S. 557-559. 115 Vgl. Konrad H. Jarausch: Die Not der geistiger Arbeiter: Akademiker in der Berufskrise, 1918-1933. In: Werner Abelshauser (Hrsg.): Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat. Zum Verhältnis von Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Industriegesellschaft. Stuttgart 1987. S. 280-299, passim u. bes. S. 287, 291f., 297. 116 So der Titel des Aufsatzes von Hardtwig (wie Anmerkung 75). 117 Vgl. ebenda, S. 48-55. Vgl. auch Jarausch (wie Anmerkung 115), S. 297f. u. passim; Hammen (wie Anmerkung 74), S. 176 (bes. Anm. 69). 118 Vgl. dazu beispielsweise ebenda, S. 173-175. 119 Und „(...) die die Instanz der Vergangenheit gegen eine bedrohliche Gegenwart und eine düster genug sich abzeichnende Zukunft aufrief.“ Zit. bei Faulenbach (wie Anmerkung 55), S. 315f. Vgl. zur Verbreitung des „Führer“-Gedankens z. B. Werner (wie Anmerkung (im Text)), S. 23; Horst Wallraff: Vom preußischen Verwaltungsbeamten zum Manager des Kreises. Landräte und Landratsamt in den Kreisen Düren und Jülich von 1816 bis zur Gegenwart. Düren 2004, S. 235-259, bes. S. 245-249. Geringfügig modiziert (u. d. Titel Landratsamt und „Führerprinzip“ in der Region – Zur Rolle und Bedeutung der Landräte in den Kreisen Düren und Jülich während der NS-Zeit) auch in GiK 51 (2004). S. 89-118, hier passim u. bes. S. 101-106. 120 Vgl. Hammen (wie Anmerkung 74), S. 188 u. passim; Hardtwig (wie Anmerkung 75), S. 56-68. 121 Vgl. Iggers (wie Anmerkung 56), S. 320. 122 Darunter befanden sich überproportional viele jüngere Assistenten, Privatdozenten und außerplanmäßige Professoren: vgl. Michael Grüttner: Wissenschaft. In: Wolfgang Benz/Hermann Graml/Hermann Weiss (Hrsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Stuttgart 1997. S. 135-153, hier S. 147. Die Gesamtzahl von 7500 Hochschullehrern findet sich bei Helmut Heiber: Universität unterm Hakenkreuz. Teil 1: Der Professor im Dritten Reich. Bilder aus der akademischen Provinz. München [u.a.] 1991, S. 316. Vgl. zum Antiintellektualismus in der NSDAP z.B. Grüttner (wie oben), S. 146f. 123 So mussten nach 1933 zwischen 2000 und 3000 zum Teil hochkarätige Wissenschaftler Deutschland verlassen, darunter nicht weniger als 24 Nobelpreisträger: vgl. Grüttner (wie Anmerkung 122), S. 137. Vgl. dagegen exakt 1684 entlassene Hochschuldozenten (nebst weiteren Zahlenangaben) bei Karl Dietrich Bracher/Wolfgang Sauer/Gerhard Schulz: Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Systems in Deutschland 1933/34. Köln/Opladen 1960, S. 320-322. Fahlbusch (wie Anmerkung 18) nennt (auf der S. 37f.) für den Zeitraum von 1933 bis 1935 die Zahl von 1500 meist jüdischen Forschern, während bei dem Soziologen M. Rainer Lepsius von 3000 entlassenen
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Tal durchschritten.124 Angesichts der bekannten und vielfach belegten Wissenschaftsfeindlichkeit Hitlers125, der schon in Mein Kampf expressis verbis erklärt hatte, dass in einem zu errichtenden NS-Staat und dessen Bildungs- und Erziehungswesen „(…) erst als letztes die wissenschaftliche Schulung“ positioniert werden würde126, war es fast schon folgerichtig, dass die Nationalsozialisten zum Zeitpunkt ihrer „Machtübernahme“ keine Vorstellung davon hatten, wie mit dem existierenden Wissenschaftssystem zu verfahren sei.127 Gleichwohl machten sie sich im Geschwindigkeitsrausch ihres 1933 sofort losrasenden „Gleichschaltungs“-Zuges sofort daran, die Wissenschaften nach ihrer (NS-) Nutzbarkeit für Volk und Vaterland und nicht länger nach dem Humboldt’schen Ideal vom wissenden Menschen auszurichten: „In short, scholarship was expected to be subordinated to the NSWeltanschauung, which rejected „objectivity“ in all disciplines.“128 Dass die „Gleichschaltung“ der Wissenschaft aufs Ganze gesehen dennoch mißlungen ist und die „Gottähnlichkeit des Ordinarius“ gewahrt blieb129, war dabei zum einen der auch im wissenschaftspolitischen Sektor auszumachenden signifikanten NS-“Polykratie“ geschuldet130 und zum anderen – in vielleicht noch stärkerem Maße – darin begründet, dass sich solche wüsten Pseudowissenschaften wie die nationalsozialistische „Rassenlehre“ a priori jedem seriösen Versuch wissenschaftlicher Fundierung entzogen131, zumal in der NSDAP niemand an eigenständigen Denkern und einer unnötigen Komplizierung der – ohnehin enorm eklektizistischen – NS-Ideologie gelegen war.132 Vice versa kam nun besonders den Geisteswissenschaften und hier bevorzugt der Volkskunde und der Geschichtswissenschaft zugute, dass man sich schon vor dem 30. Januar 1933 zum Werkzeug politischer Erziehung hatte instrumentalisieren lassen.133 Insofern von vorneherein als NS-konform und –kompatibel wahrgenommen, verknüpften sich der „nationalkonservative Grundkonsens“ der Geschichtswissenschaft und die noch ausführlicher zu thematisierenden Gemeinsamkeiten in puncto „völkischer“ Ambitionen zu einem „Netz
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Hochschullehrern die Rede ist (Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze. Göttingen 1993, S. 125). „The Third Reich was a dark age for the German Universities.“ Reiss (wie Anmerkung 50), S. 86. Dagegen Hammerstein, dem zufolge die Hochschulen „im Grunde den im Kaiserreich erreichten Standard“ konservieren konnten: Notker Hammerstein: Wissenschaftssystem und Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus. In: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hrsg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2002. S. 219-224, hier S. 219. „Hitler despised scholars.“ Reiss (wie Anmerkung 50), S. 87. Vgl. auch Beyerchen (wie Anmerkung 17), S. 618, und Michael H. Kater: Das „Ahnenerbe“ der SS 1935-1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches. Stuttgart 1974, der dort (auf S. 50-53) darauf hinweist, dass Hitler, Göring und Himmler Anhänger der ebenso bizarren wie unwissenschaftlichen „Welteislehre“ gewesen sind. Hier zit. bei Bracher/Sauer/Schulz (wie Anmerkung 123), S. 318 (Anm. 280). Vgl. auch ebenda, S. 318. Vgl. Grüttner (wie Anmerkung 122), S. 135; Hammerstein (wie Anmerkung 124), S. 219; Hausmann, DWI (wie Anmerkung 16), S. 19, und ders.: „Termitenwahn“ – Die Bedeutung der Gemeinschaftsforschung für die NS-Wissenschaft. In: Georg Bollenbeck/Clemens Knobloch (Hrsg.): Semantischer Umbau der Geisteswissenschaften nach 1933 und 1945. Heidelberg 2001. S. 58-77, hier S. 58. Reiss (wie Anmerkung 50), S. 95. Vgl. auch Beyerchen (wie Anmerkung 17), S. 617f. (bes. Anm. 8). Hammerstein (wie Anmerkung 124), S. 220. Zum Scheitern der „Gleichschaltung“ der Wissenschaften z. B. Bracher/Sauer/Schulz (wie Anmerkung 123), S. 325. Vgl. beispielsweise Hammerstein (wie Anmerkung 124), S. 222; Grüttner (wie Anmerkung 122), S. 135; Beyerchen (wie Anmerkung 17), S. 641. Vgl. auch Hausmann (wie Anmerkung 127), der hier (auf S. 61) vier verschiedene NS-Hochschulkonzepte vorstellt. Vgl. Bracher/Sauer/Schulz (wie Anmerkung 123), S. 325. Wohl zu Recht verweist Beyerchen (wie Anmerkung 17) auf S. 628 darauf, dass die NS-Ideologen unter NS-Wissenschaft weniger den Nationalsozialismus unterstützende Wissenschaften, sondern genuin nationalsozialistische, auf der „Rassenlehre“ fußende „Wissenschaften“ verstanden. Vgl. Grüttner (wie Anmerkung 122), S. 143. Im übrigen hat keine Institution existiert, die eine NS„Lehre“ verbindlich vorgegeben hat: vgl. ebenda, S. 144. Vgl. Kater (wie Anmerkung 125), S. 48f., der dort noch die Germanistik als eine derjenigen Wissenschaften auflistet, die lange vor 1933 dem „nationalen“ Zeitgeist gefolgt waren und darüber wissenschaftliche Standards vernachlässigt hatten.
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innerer Verbindungen mit den Zielen des Nationalsozialismus“134, der sich seinerseits dennoch gerade mit der Geschichtswissenschaft schwer tat.135 Grundsätzlich an Geschichte höchst interessiert – nicht von ungefähr gestand ihr Hitler in Mein Kampf überproportional breiten Raum ein136 – und sich der Wirksamkeit von Geschichte als Waffe137 bewußt – so schrieb signifikanterweise der vielleicht einzige echte „NS-Historiker“ Walter Frank in einer Festschrift der Deutschen Wissenschaft anläßlich Hitlers 50. Geburtstag: „Geschichte kann tödlich wirken!“138 –, bestand doch eine nahezu unüberbrückbare Kluft zwischen dem Geschichtsverständnis Hitlers und dem der Historiker-“Zunft“. Denn obwohl das nationalsozialistische Weltbild ein Geschichtsbild war139, dachten weder Hitler noch Himmler daran, Geschichte als möglichst wahrheitsgetreue Abbildung der Vergangenheit zu begreifen140; vielmehr sollte die Geschichte als „starkherzige Künderin großer Taten (…) ein Geschlecht erziehen, das große Taten nicht nur [sic] zu verstehen, sondern auch zu tun vermag“141, wobei die (NS-) Geschichtswissenschaft „das Gesamtbild der National- und Weltgeschichte von der nationalsozialistischen Revolution her schöpferisch neu“ zu sehen und zum Kampf zu erziehen hatte.142 Diese jenseits von Wahrheit und Objektivität liegende Pseudogeschichte Hitler’scher Prägung hatte bei aller ostentativen Betonung ihres Geschichtsbewußtseins überhaupt kein Interesse an der nur zum Schein beschworenen preußisch-deutschen Vergangenheit143, weshalb die von den bürgerlichen und konservativen Kreisen angenommenen geschichtsbildlichen Gemeinsamkeiten vom Revisionismus bis hin zu der – besonders am „Tag von Potsdam“ zelebrierten – Preußeneuphorie realiter nur Chimären gewesen sind, denen die „Einrahmer“ um Papen und Hindenburg aufsaßen.144 Das erklärt, warum selbst die noch detaillierter darzustellenden „Volkshistoriker“ von den NS-Ideologen durchaus kritisch beäugt wurden145, und natürlich kümmerte sich die SS „(…) den Teufel darum, ob irgendeine deutsche Volksgruppe in Hirschenhof seit dem 16. Jahrhundert existiert hat (…).“146 Es war letztlich ein glücklicher Umstand für die deutsche Geschichtswissenschaft, dass die Nationalsozialisten ihre abstruse „Rassen“-Historie au fond nur nach vorne gerichtet dachten, so dass sie zum einen „im Stadium der glaubensmäßigen Verkündigung“ steckenblieb147 und zum anderen eine offizielle einheitliche
134 Schulze (wie Anmerkung 28), S. 40. Vgl. einschränkend die Anmerkung 84 respektive der damit verbundene Text. 135 Vgl. Schulze (wie Anmerkung 28), S. 38. 136 Vgl. diesen Hinweis bei Michael Salewski: Geschichte als Waffe: Der nationalsozialistische Missbrauch. In: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte XIV (1985). S. 289-310, hier S. 294f. 137 Ebenda (=Titel dieses Aufsatzes). 138 Walter Frank: Geschichtswissenschaft. In: Deutsche Wissenschaft. Arbeit und Aufgabe. Leipzig 1939. S. 21-23, hier S. 21. 139 So lautet fast wortgetreu der erste Satz der wichtigen Studie von Werner (wie Anmerkung 30 (im Text)), S. 9. 140 Vgl. Salewski (wie Anmerkung 136), S. 297f. (bes. Anm. 17), 301f., 309 u. passim. 141 Frank (wie Anmerkung 138), S. 21. 142 Ebenda, S. 21f. 143 Was Frank ebenda auf S. 21 deutlich werden lässt, indem er die Rückwärtsgewandheit von „Preußens unseligem König“ Friedrich Wilhelm IV. als Hauptgrund für dessen politisches Scheitern nennt. Vgl. auch Salewski (wie Anmerkung 136), passim. 144 Vgl. Salewski (wie Anmerkung 136), S. 310 u. passim. Vgl. auch Horst Wallraff: Preußische Traditionen und „Nationale Revolution“ – Der „Tag von Potsdam“ am 21. März 1933 in Jülich. In: Neue Beiträge zur Jülicher Geschichte V (1994). S. 101-113, passim. 145 Vgl. Elvert (wie Anmerkung 31), S. 92. 146 So Wolfgang J. Mommsen in Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 206. Werner (wie Anmerkung 30 (im Text)) hat schon 1967 (auf der S. 35, siehe auch die S. 36-40) darauf hingewiesen, dass im Bannkreis Himmlers das Deutsche hinter das Germanische zurücktrat: „Niemand hat mehr deutsche Geschichte verleugnet als die Nazi-Ideologen (...).“ Ebenda, S. 40. 147 Bracher/Sauer/Schulz (wie Anmerkung 123), S. 312. Vgl. auch Frantisek Graus: Geschichtsschreibung und Nationalsozialismus (Miszelle). In: VfZG 17 (1969). S. 87-95, hier S. 90.
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NS-Geschichtslehre nicht existiert hat, weshalb die „Gleichschaltung“ der Geschichtswissenschaft grosso modo auf halber Strecke stehengeblieben ist.148 Gemeinsamkeitengenerierend wirkte hingegen – zumindest vordergründig – der die geisteswissenschaftliche „Königsdisziplin“ Geschichtswissenschaft vom Kaiserreich bis in die 1960er Jahre hinein prägende Historismus149, durch den die Nationalsozialisten auf der einen Seite ihr Faible für ein freilich falsch verstandenes Geschichtsbewußtsein gewannen150 und die Historiker-“Zunft“ auf der anderen Seite nicht nur ihre Politiknähe und ihr Staatsstreben151, sondern auch ein solch sattsames Selbstbewußtsein entwickelt hatte, dass man keineswegs vor Kritik am NS-System zurückschreckte, wenn die als geheiligt geltenden „Gesetze“ der Geschichtswissenschaft von wem auch immer gebrochen zu werden drohten.152 Dieser Mischung aus Abstand und Anziehung war es wohl in erster Linie zu verdanken, dass die deutschen Historiker in ihrem Verhältnis zum Nationalsozialismus „im Schnitt (…) noch ein wenig günstiger“ positioniert waren als die Vertreter anderer wissenschaftlicher Disziplinen153, wobei sich die schon in Weimarer Zeiten zu beobachtende Krise des klassischen Historismus mit seinen Idealen von Individualität, Entwicklung und Empirizität und der aufstrebende Nationalsozialismus mit seinem „Rassenparadigma“ nachgerade kongruent zueinander verhielten154 und selbst der Historismus Ranke’scher Prägung immer noch soviel idealistischen Irrationalismus enthielt, wie den Nationalsozialisten lieb sein konnte.155 Verheerenderweise vergrößerten die gleich näher in den Blick zu fassenden Landeshistoriker durch ihre immer mehr von Emotionalität und immer weniger von Empirizität geprägte Methodik das – eigentlich – vom Historismus gesicherte geschichtswissenschaftliche Einfallstor, welches sich jedoch nie ganz dem ebenso dogmatischen wie eindimensionalen Welt- und Wissenschaftsbild der Nationalsozialisten geöffnet hat, so sehr letztere auch – besonders nach Kriegsbeginn – daraufhingearbeitet haben, die Geisteswissenschaften verstärkt zu „nationalsozialisieren“.156 Wenn also demgemäß die Rolle der Geschichtswissenschaft und ihrer „Gleichschaltung“ ambivalent bewertet werden muß157, dann stellt sich natürlich auch die übergreifende Frage, wie sich die Kulturwissenschaften im nationalsozialistischen Kontext positioniert haben. Seit jeher und bis heute nicht eben zu den „exakten“ Wissenschaften zählend, nega148 „(...) die akademische Hierarchie war zeitweise stark erschüttert, sie war nicht vernichtet.“ Werner (wie Anmerkung 30 (im Text)), S. 45. Zur Inexistenz einer offiziellen NS-Geschichtslehre ebenda, S. 24, und Blanke (wie Anmerkung 64), S. 600f. 149 Vgl. Willi Oberkrome: Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945. Göttingen 1993, S. 12-14. Blanke (wie Anmerkung 64) weist auf der S. 56 darauf hin, dass es „(...) bis heute keinen letztlich verbindlichen Historismusbegriff gibt.“ Veit-Brause (wie Anmerkung 64) bemerkt dazu (auf S. 38), dass der Historismus-Begriff zu bedeutungsüberladen sei. Vgl. auch Iggers (wie Anmerkung 52), S. 18 („Der Begriff „Historismus“ hat viele Bedeutungen“). Vgl. des weiteren die Anmerkungen 1 und 21. Vgl. zur „Königsdisziplin“ die Anmerkung 57. 150 Vgl. Salewski (wie Anmerkung 136), S. 294. 151 Siehe die Anmerkung 54. Vgl. auch Schleier (wie Anmerkung 109), S. 241: „Die Machtstaatstheorie (...) beherrschte die Geschichtsschreibung der Weimarer Zeit.“ 152 Vgl. Elvert (wie Anmerkung 31), S. 119f. 153 Mommsen (wie Anmerkung 12), S. 109. 154 Vgl. dazu ausführlich Hardtwig (wie Anmerkung 75), S. 70 u. passim. 155 Vgl. Schleier (wie Anmerkung 109), S. 226-244. 156 Vgl. Hausmann (wie Anmerkung 127), passim u. bes. S. 59. Vgl. auch Kater (wie Anmerkung 125), S. 49. Auch Grüttner (wie Anmerkung 122) verweist auf S. 145f. darauf, dass zwar die NS-Anpassung in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen verschieden groß gewesen ist, aber stets „deutlich“ hinter den Erwartungen der NSDAP zurückgeblieben ist. Vgl. zur Militarisierung und militärischen Ausbeutung der Wissenschaften nach 1939 auch ebenda, S. 148-151. 157 Vgl. pars pro toto Elvert (wie Anmerkung 31), passim u. bes. S. 113 u. 131; expressis verbis Schönwälder (wie Anmerkung 18), S. 15: „Das Verhalten der universitären Historikerschaft und die Entwicklung der Geschichtswissenschaft in den Jahren zwischen 1933 und 1945 waren ambivalent – dieses Urteil dürfte unbestritten bleiben.“
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tivierte sich dieser den „Kultur“-Wissenschaften und hier besonders der Germanistik, der Volkskunde und der Historiographie vorauseilende Ruf während der NS-Zeit158, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass die Nationalsozialisten durchaus einen eigenen Begriff von „Kultur“ besaßen und diesem, so abstrus er auch sein mochte, beachtliche Bedeutung beimaßen.159 Natürlich war dieser NS-“Kultur“-Begriff – analog zu vielen anderen gesamtgesellschaftlichen Themen und Bereichen – gemäß der nationalsozialistischen „Lehre“ manipuliert und zurechtgebogen160, und wenn Hitler in einer von dem Bonner Landeshistoriker Franz Petri so betitelten „großen Nürnberger Kulturrede“161 betonte, dass der NSStaat „Macht“ und „Kultur“ verbinden wolle und er „(…) nach einem Reiche der Kraft in der Gestaltung einer starken sozialen und beschirmten Gemeinschaft als Träger und Wächter einer höheren Kultur“ strebe162, so war damit alles ausgedrückt, was Sinn und Zweck der NS-“Kultur“ gewesen ist: Sie sollte der „völkischen Erneuerung“ der „Volksgemeinschaft“ dienen, sie sollte regimekonforme Kultur von „entarteter“ Kunst und Kultur trennen und – vor allen Dingen – an die „höheren“, irrationalen Dinge wie „Blut“, „Boden“, „Heimat“ und – natürlich – „Rasse“ heranführen163, bis schließlich „Kultur“ und „Rasse“ synonym wurden.164 Nicht von ungefähr lautete der Titel eines ebenso abstrusen wie von Walter Frank als „großes Werk“ gefeierten, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges erschienenen Buches Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, in welchem die nicht-deutsche Kultur in NS-signifikanter Weise medizinisch-biologisch als „krank“ und nur durch arisch-deutschen Einfluß als „heilbar“ diagnostiziert wurde.165 Dieser Vorwurf einer gesamteuropäischen „Kultur-Krankheit“ korrespondierte dabei mit dem Vorwurf deutscher „Volkshistoriker“, die in Replik auf den polnischen Historikerkongreß von 1933 und der dort entwickelten expansiven „jagiellonischen Idee“ entrüstet die „Kulturunfähigkeit“ der Polen angeprangert und bis 1939 dann so weit ausgefeilt hatten, dass die Politikberatung des NS-Regimes durch „volkshistorisch“ versierte Landeshistoriker vom Schlage eines Hermann Aubin geradezu zwangsläufig schien.166 Überhaupt vergrößerte sich nach 1939 die Nähe zwischen sozial-, geistes- und eben „kultur“-wissenschaftlichen Forschungen und dem NS-Regime, indem erstere aus Angst vor einer Abkopplung von den Intentionen und Institutionen des „Neuen Deutschland“ ihre Konzepte nochmals radikalisierten 158 Vgl. Kater (wie Anmerkung 125), S. 48. 159 Vgl. bes. Lepsius (wie Anmerkung 123) und dort den auf den S. 119-132 abgedruckten unveröff. Vortrag von 1982 mit dem Titel „Kultur und Wissenschaft in Deutschland unter der Herrschaft des Nationalsozialismus“, passim; Dahm (wie Anmerkung 69), passim u. bes. S. 124. 160 Vgl. Ditt (wie Anmerkung 70), S. 391. Vgl. auch Herwart Vorländer: Heimat und Heimaterziehung im Nationalsozialismus. In: Peter Knoch/Thomas Leeb (Hrsg.): Heimat oder Region ? Grundzüge einer Didaktik der Regionalgeschichte. Frankfurt/Main/Berlin/München 1984. S. 30-43, wo das den „Kultur“Begriff des Nationalsozialismus thematisierende Kapitel mit „Politische Manipulierbarkeit“ übertitelt ist (auf den S. 31-35). 161 Franz Petri: Die fränkische Landnahme und das Rheinland. Bonn 1936, S. 9. 162 Hier zit. bei Hausmann, DWI (wie Anmerkung 16), S. 19f. Diese Rede hielt Hitler auf dem Nürnberger Parteitag vom 7. September 1937, während die von Petri (in Anmerkung 161) angesprochene „Kulturrede“ Hitlers vom September 1935 datiert. 163 Vgl. Ditt (wie Anmerkung 70), passim u. bes. S. 151-161; Lepsius (wie Anmerkungen 123, 159), S. 126f.; Schönwälder (wie Anmerkung 18), S. 52; Vorländer (wie Anmerkung 160), passim u. bes. S. 31. Siehe auch die Anmerkungen 71, 77, 78 und 79. 164 „Kultur ersetzte den Begriff der Rasse vor 1939.“ Fahlbusch (wie Anmerkung 18), S. 797. 165 So Frank (wie Anmerkung 138), S. 22, der dort den Verfasser Christoph Steding als „im Alter von 35 Jahren verstorbenen niedersächsischen Bauernsohn von nietzschesem Format“ bezeichnet. Auf das schon zu Zeiten des Ersten Weltkriegs und in Weimar verbreitete „Mitteleuropa“-Konzept und die damit verbundenen „Kultur“-missionarischen Intentionen wird in Abschnitt III noch zurückzukommen sein: vgl. dazu bes. Elvert (wie Anmerkung 75), S. 35-109. Vgl. zu Steding ebenda, S. 296-303, bes. S. 296 (Anm. 433). 166 Vgl. Willi Oberkrome: Historiker im „Dritten Reich“. Zum Stellenwert volkshistorischer Ansätze zwischen klassischer Politik- und neuerer Sozialgeschichte. In: GWU 50 (1999). S. 74-98, hier S. 84-86, und Mühle (wie Anmerkung 24), S. 573-582.
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und revidierten167, während die nationalsozialistischen Machthaber vice versa über „brain trusts“ und „think tanks“ wie die „Deutschen Wissenschaftlichen Institute“ (DWI) und die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ (VFG) ihren Expansionismus mit wissenschaftlichen Weihen zu begleiten suchten.168 Dabei dürfte die Feststellung von Karl Ferdinand Werner, derzufolge die NS-Unterstützung durch die deutsche Geschichtswissenschaft weniger ein moralisches Scheitern als vielmehr ein schon lange vor dem 30. Januar 1933 begonnenes intellektuelles Versagen gewesen ist169, mutatis mutandis auch für die meisten anderen Kulturwissenschaften gelten: geboren aus der traditionellen Glorifizierung von Macht und Staat und jenem elitären Kastendenken, das sich den nationalsozialistischen Proleten um Welten überlegen wähnte170, sorgte nach der „Machtergreifung“ das jedem totalitärem System innewohnende Unberechenbarkeitspotenzial171 für ein solches Maß an „intellektueller Anbiederung“172, dass trotz des unterschiedlichen Grades von „Gleichschaltung“ summa summarum von einem nazistischen Sündenfall der Sozialwissenschaften und einem Kotau der Kulturwissenschaften vor dem Nationalsozialismus gesprochen werden kann.173 II. Im Kanon der Kulturwissenschaften ? – Metamorphosen der Regional- und Landesgeschichte „Nicht politische Geschichte, nicht Rechtsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte usf., die in einem antipolitischen, liberalen Sinne im Sammelbegriff der Kulturgeschichte äußerlich zusammengefaßt wurden, sondern politische Volksgeschichte heißt das Gebot der Stunde.“ Otto Brunner, 1943174 Indem der wegen seiner NS-Nähe 1945 von seiner Wiener Professur entbundene Landeshistoriker und Mediävist Otto Brunner die oben zitierte „politische Volksgeschichte“ aus dem Vorwort seines 1943 in dritter Auflage erschienenen – wichtigen – Werkes über Land und Herrschaft in der 1959 publizierten vierten Auflage einfach entfernte, durch „Struktur“ und „Sozialgeschichte“ ersetzte175 und dabei gleichzeitig seine Bedenken gegenüber der 167 Insoweit waren besonders die Historiker der „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ eher „Nachdenker“ als „Vordenker“ des NS-Regimes: vgl. Grüttner (wie Anmerkung 91), S. 515-517. 168 Vgl. Hausmann, DWI (wie Anmerkung 16), passim u. bes. S. 13; Fahlbusch (wie Anmerkung 18), passim. Dazu kamen weitere, an einzelnen Universitäten eingerichtete Forschungsanstalten wie das 1939 an der Universität Heidelberg institutionalisierte „Volks- und Kulturpolitische Institut“, das als Zentraleinrichtung für die im NS-Sinne umzugestaltenden Geisteswissenschaften fungieren sollte: vgl. Wolgast (wie Anmerkung 103), S. 162. 169 Vgl. Graus (wie Anmerkung 147), S. 91, 93. 170 Vgl. ebenda, S. 91, wo Graus im Rekurs auf Werner in der althergebrachten Beschränkung der deutschen Geschichtswissenschaft auf Volk und Staat, der „Verherrlichung von Macht und Gewalt“ und im Hochmut gegenüber den proletenhaften Nationalsozialisten die Gründe dieses intellektuellen Versagens sieht. 171 „Niemand, der an Hitlers Bärtchen zupfte, konnte auch nur überschlägig berechnen, wie das ausgehen würde. Es konnte das wenig oder sogar überhaupt nichts nach sich ziehen, es konnte aber ebenso gut die fatalsten Folgen haben.“ Heiber (wie Anmerkung 122), S. 316. 172 So Schulze (wie Anmerkung 5), S. 70. 173 Victor Klemperer bemerkte schon 1945, dass die sozialwissenschaftlichen Disziplinen „(...) durch die nazistische Doktrin um ihren wissenschaftlichen Charakter“ gebracht worden seien: zit. bei Thomas Kleinknecht: „Kulturraum“ und „Volksboden“ in der Wissenschaftskritik. Eine methodologische und ideenpolitische Miszelle zur Beispielen aus der deutschen „Westforschung“. In: Dietz/Gabel/Tiedau (wie Anmerkung 10). Bd. I. S. 53-66, hier S. 53. Vgl. auch Oberkrome (wie Anmerkung 166), S. 76f. 174 Zit. bei Schulze (wie Anmerkung 28), S. 290. 175 Zit. ebenda. Vgl. biographische Daten zu Brunner, der notabene 1955 in Hamburg trotz seiner NSAffinität erneut eine ordentliche Professur erhielt, Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 445. Vgl. auch
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von ihm als Gegensatz zur „politischen Volksgeschichte“ empfundenen „Kulturgeschichte“ vortrug, machte er überdies ungewollt und implicite deutlich, dass die Regional- und Landesgeschichte schon unter zahlreichen „Labels“ mehrfache Metamorphosen durchlaufen hat, die stets in einem kulturwissenschaftlichen und –geschichtlichen Konnex gestanden haben. Als „Territorial-“, „Provinzial-“ und „Landes- und Regionalgeschichte“, als „geschichtliche Landeskunde“, „historische Kulturraumforschung“ und „Grenzlandforschung“, als „Kulturgeschichte in landeshistorischer Sicht“176 nebst weiteren Etikettierungen heute meist als „moderne Regional- und Landesgeschichte“ und auch im aktuellen Brockhaus dennoch nur als „Landesgeschichte“ (und nicht als „Regionalgeschichte“) firmierend177, lagen Landesgeschichtsschreibung und Kulturwissenschaften meist mindestens so nah beieinander, wie dies das Begriffspaar „Kultur“ und „Region“ vermuten lässt, weshalb zu Beginn der 1980er Jahre sehr zu Recht bemerkt worden ist, dass „Landesgeschichte in moderner Form“ nichts anderes als „regionale Kulturgeschichte“ sei.178 Denn die wie auch immer definierte „Region“179, die keineswegs nur in ihren politisch-administrativen oder staats- und verfassungsrechtlichen, sondern ebenso gut in siedlungs-, wirtschafts-, sprach-, kirchen- oder sonstigen historischen Grenzen aufgefasst und demnach vom Historiker erst konstituiert werden kann180, ist a priori Keimzelle von „Kultur“ im eigentlichen Sprachsinn der Pflege und Hege der vom Menschen modellierten Natur181: „Kultur und regionale Lebenswelten verknüpfen sich also in einer äußerst bedeutsamen Weise (...) Dort, wo es in den Köpfen der Menschen (...) nicht bei der entfalteten Vielheit bleibt, sondern zum Bewußtsein einer entfalteten Einheit gekommen ist, da ist Region.“182 Und dadurch,
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Otto Brunner: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte [sic]. Göttingen 21968. Vgl. zu den „braunen“ Bedeutungsmustern in Brunners Hauptwerk Land und Herrschaft z.B. Hans-Ulrich Wehler: Nationalsozialismus und Historiker. In: Schulze/Oexle (wie Anmerkung 1). S. 306-339, hier S. 329. So die Betitelung des Aufsatzes von Schmidt (wie Anmerkung 59). Brockhaus. Die Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden. Leipzig/Mannheim 201996, hier Bd. 13, S. 38. Im Bd. 18 findet sich hingegen nicht das Stichwort „Regionalgeschichte“, dafür jedoch auf den S. 175-177 der Terminus „Regionalismus“ als „Schlüsselbegriff“. Es ist erstaunlich, dass die Begriffe „Landesgeschichte“ und „Regionalgeschichte“ in Iggers grundlegendem geschichtswissenschaftstheoretischen Werk (wie Anmerkung 56) an keiner Stelle auftauschen (vgl. passim u. das Register). Vgl. zu der „Bezeichnungsvielfalt“ der Regional- und Landesgeschichte auch Ernst Hinrichs: Landes- und Regionalgeschichte. In: Goertz (wie Anmerkung 38). S. 539-556, hier S. 549. So Schmidt (wie Anmerkung 59), S. 345. Vgl. ebenso Werner Buchholz: Vergleichende Landesgeschichte und Konzepte der Regionalgeschichte von Karl Lamprecht bis zur Wiedervereinigung im Jahre 1990. In: Ders. (Hrsg.): Landesgeschichte in Deutschland. Bestandsaufnahme – Analysen – Perspektiven. Paderborn [u.a.] 1998. S. 11-60, hier S. 17. Auch Reulecke plädiert für diese „regionale Kulturgeschichte“: Jürgen Reulecke: Von der Landesgeschichte zur Regionalgeschichte. In: GiW 6 (1991). S. 202-208, hier S. 206. Vgl. allg. zur Bedeutung des Begriffspaares „Region“ und „Kultur“ im Rahmen der „kulturalistischen Wende“ auch Thomas Küster: „Regionale Identität“ als Forschungsproblem. Konzepte und Methoden im Kontext der modernen Regionalgeschichte. In: Westfälische Forschungen 54 (2002). S. 1-44, passim, demzufolge (S. 44) die aktuelle Regionalgeschichte im Begriff ist, sich zur Kulturgeschichte zu erweitern. Vgl. zur „Pluralität von Regionstypen“ bes. Schönemann (wie Anmerkung 69), S. 156. Vgl. auch ebenda, S. 155-158 u. passim. Vgl. auch Ditt (wie Anmerkung 78), der auf S. 17f. drei verschiedene Typen des Regionalismus in Deutschland ausmacht, wovon der „kulturelle Regionalismus“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der bestimmende gewesen ist. Vgl. zur terminologischen Problematik auch Wallraff (wie Anmerkung 119), S. 10f. u. 349f.; Reulecke (wie Anmerkung 178), passim u. bes. S. 205 („Was ist denn eigentlich eine Region ?“). Ennen (wie Anmerkung 23) bemerkt auf der S. 28, dass die „Landschaft“ als „Regio“ im noch ausführlicher darzustellenden „Kulturraum“-Konzept Hermann Aubins nicht nur den Raumbegriff, sondern auch die Personengemeinschaft umfasst. Vgl. Hinrichs (wie Anmerkung 177), S. 541f. Gerhard Brunn zufolge ist „Region“ ein „mentales Konstrukt, [das] als Element der sozialen Kommunikation, der Milieu- und Identitätsbindung“ verstanden werden kann: zit. bei Schönemann (wie Anmerkung 69), S. 154. Vgl. Kittler (wie Anmerkung 41), S. 16f. Vgl. zu diesem Themenkomplex auch Jörg Engelbrecht: Die Territorialisierung des Raums als Problem der Geschichtswissenschaft. In: Bernd A. Rusinek/Falk Wiesemann (Hrsg.): Anknüpfungen. Volksgeschichte – Landesgeschichte – Zeitgeschichte. Gedenkschrift für Peter Hüttenberger. Essen 1995. S. 16-26, passim u. S. 16, wo Engelbrecht auf die ethymologische Äquivalenz von „Kultur“ und „Raum“ hinweist. Reulecke (wie Anmerkung 178), S. 207.
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dass die Regional- und Landesgeschichte im Geviert ihrer teils selbst zu gerierenden Grenzen thematisch nahezu grenzenlos – mit dem bekannten Wort Ludwig Petrys eben In Grenzen unbegrenzt183 – ist, lag und liegt eine universalhistorische und kulturgeschichtliche Ausrichtung nahe oder zumindest doch im Bereich des Machbaren. Insofern war es kein Zufall, dass der Stern des die deutsche Historiographiegeschichte partiell prägenden und durch seine landeshistorischen Arbeiten die deutsche Kulturgeschichtsschreibung mitbegründenden Karl Lamprecht exakt zu Beginn der „Achsenzeit“ der modernen Wissenschaften Anfang der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts aufstieg und zum Zeitpunkt der „umfassenden Aneignung von Kulturwissenschaft um 1900“184 hell erstrahlte, bis er und die von ihm grundgelegte Kulturgeschichtsschreibung durch den noch mehrfach zu erwähnenden „Methodenstreit“ in den folgenden Jahren erlosch.185 Aber nach und während der im Verlaufe des 19. Jahrhunderts erfolgten professionellen Akademisierung und disziplinären Abgrenzung der deutschen Geschichtsschreibung war im „Mutterland des Historismus“186 dieses Wissenschaftsparadigma immer mehr zu einer auf den Staat fixierten „Stoffhuberei“ entartet, die Lamprecht im Jahre 1905 vom „unfruchtbaren Historismus“ sprechen ließ187 und die alle „Bindestrich-Geschichten“ – gleich ob Kultur-, Kirchen-, Kunst-, Heimat-, Landes- oder Wirtschaftsgeschichte – in den Dunstkreis des Dilettantismus verbannte.188 Es war jedoch ein glücklicher Umstand, dass die in Reaktion auf die Teilung des Fächerkanons in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstandene „CulturWissenschaft“189 und das in Gegnerschaft zum immer „unfruchtbarer“ werdenden Historismus besonders durch die landeshistorischen Arbeiten von Lamprecht (und anderen) entwickelte Konzept einer „Culturgeschichte“ von vorneherein interdisziplinär angelegt waren.190 Denn diese Interdisziplinarität schuf nicht nur den bis heute bestehenden engen Konnex von Kulturwissenschaften und Kulturgeschichte191, sondern sorgte mit dafür, dass 183 Ludwig Petry: In Grenzen unbegrenzt. Möglichkeiten und Wege der geschichtlichen Landeskunde. In: Fried (wie Anmerkung 19). S. 280-304, passim. Erstmals erschien dieser Aufsatz im Jahre 1961. Vgl. dazu auch Fried selbst (wie Anmerkung 19) auf der S. 6 und Schmidt (wie Anmerkung 59), S. 342f. 184 Oexle (wie Anmerkung 38), S. 16. Vgl. den Ausdruck „Achsenzeit“ ebenda, S. 15. Vgl. zur Kulturwissenschaft um und nach der Jahrhundertwende auch ebenda, S. 21-30. 185 „Es würde für Karl Lamprechts Ruf vielleicht das Beste gewesen sein, wenn er 1889 statt 1915 gestorben wäre.“ Roger Chickering: Karl Lamprecht (1856-1915) und die methodische Grundlegung der Landesgeschichte im Rheinland. In: GiK Heft 31 (Juni 1992). S. 77-90, hier S. 89. 186 So Hübinger (wie Anmerkung 62), S. 137. Vgl. zur „Verwissenschaftlichung“ der deutschen Historiographie z.B. Chickering (wie Anmerkung 185), S. 78f. 187 Zit. bei Blanke (wie Anmerkung 64), S. 59. Vgl. auch ebenda, S. 58f., wo Blanke den Historismus dreifach klassifiziert, und zwar in einer positiven Sichtweise als die „Schlüsselwissenschaft zu allen anderen Kulturwissenschaften“, in einer neutralen Einstufung im Sinne der verstehenden Geisteswissenschaften des 19. Jahrhunderts und in der im Text erwähnten negativen Form einer „zur Stoffhuberei entarteten Tatsachenforschung“. Vgl. auch Veit-Brause (wie Anmerkung 64), passim. Siehe auch die Anmerkung 62. Vgl. auch die Anmerkung 149. 188 Siehe die Anmerkung 59. Vgl. auch Chickering (wie Anmerkung 185), S. 79. Der Begriff der „Bindestrich-Geschichten“ bei Schlögel (wie Anmerkung 40), S. 265. 189 1851 tauchte dieser Begriff erstmals in einem Aufsatz des Bibliothekars und Kunsthistorikers (sic) Gustav Klemm auf: vgl. Böhme/Matussek/Müller (wie Anmerkung 37), S. 34f. 190 Schon der konservative Kulturhistoriker Hermann Riehl (1823-1897) plädierte für eine Betrachtung aller Aspekte des „Volkslebens“: vgl. Schorn-Schütte (wie Anmerkung 38), S. 499. Vgl. zu Lamprechts Konzept auch ebenda, S. 501-503; Chickering (wie Anmerkung 185), S. 81f. Haas konstatiert für das Ende des 19. Jahrhunderts ganz allgemein einen „Boom der Interdisziplinarität“ (Stefan Haas: Transdisziplinarität als Paradigma der kultur- und sozialhistorischen Forschung im frühen 20. Jahrhundert. In: Dietz/Gabel/Tieden (wie Anmerkung 10). Bd. I. S. 27-51, hier S. 27f. (bes. Anm. 3)). Vgl. zur Unterscheidung von Trans-, Inter-, Para-, Sub- und Hyperdisziplinarität ebenda, S. 29, und zur grundsätzlichen Ablehnung jedweder „Über“-Disziplinarität durch die historistische deutsche Geschichtswissenschaft ebenda, S. 49f. Vgl. auch Hübinger (wie Anmerkung 62), S. 142f. Vgl. auch Buchholz (wie Anmerkung 178), S. 17: „Landesgeschichtsforschung im kulturgeschichtlichen Sinne geht in Deutschland auf Karl Lamprecht zurück.“ 191 Wie Anmerkung 58.
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die Landesgeschichtsschreibung das Erbe dieser Richtung der deutschen Geschichtswissenschaft bewahren konnte.192 Diese Tradierung lag in der Natur der Landeshistoriographie selbst begründet, da die unverzichtbaren Verbindungen zu Volkskunde, Archäologie, Orts- und Flurforschung und Siedlungs- und Rechtsgeschichte das Fach a priori (bis heute) interdisziplinär prädisponierten193 und so der Brückenschlag zur Kulturgeschichte geradezu als eine Notwendigkeit erscheinen musste, wie dies Hermann Aubin als einer der wichtigsten „Erben“ von Karl Lamprecht in seinem im Jahre 1925 erschienenen Aufsatz über die Aufgaben und Wege der geschichtlichen Landeskunde expressis verbis formuliert hat: „Wir waren ferner gewillt, eine innige Zusammenarbeit aller geschichtlich gerichteten Fächer, der Archäologie und Kunstgeschichte, Sprachwissenschaft und Volkskunde, selbstredend auch der Kirchen-, Rechts- und Wirtschaftsgeschichte samt der historischen Soziologie herbeizuführen, soweit sie zur Beleuchtung dieser Landschaft [der Rheinprovinz, von Aubin „Rheinpreußen“ genannt] beitragen können. Dafür schien gleicherweise die geschichtliche Landeskunde als gemeinsame Plattform und neutraler Sammelbegriff geeignet (...) Die Richtung, die wir unseren Studien gaben, entspricht der Wendung, welche die Geschichtswissenschaft im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Kulturgeschichte [kursiv von mir; H.W.] (...) genommen hat. Für das Rheingebiet kann man Lamprechts Jugendwerk über das Wirtschaftsleben des Mosellandes aus den [18]80er Jahren als den ersten Markstein der neuen Richtung bezeichnen.“194 Wenn es also demgemäß Ursprung und Ziel des weiter unten und im nächsten Abschnitt noch zu thematisierenden „Instituts für geschichtliche Landeskunde an der Universität Bonn“ war, die Kulturgeschichte Lamprechtscher Prägung fortzuführen und „(...) mit allen Mitteln die alte deutsche Kultur zu pflegen“195, so galt gleiches naturgemäß auch für das erste landesgeschichtliche Institut in Deutschland, das Lamprecht höchstselbst im Jahre 1906 als „Seminar für Landesgeschichte und Siedlungskunde“ an der Universität Leipzig gegründet hatte und das sein Habilitand Rudolf Kötzschke dann (mit einer fünfjährigen Unterbrechung) bis zu seinem Tod im Jahre 1949 leitete.196 Im Verein mit dem 1909 ebenfalls von Lamprecht begründeten, an das eben erwähnte Seminar angeschlossene „Institut für Kultur- und Universalgeschichte“197 und dem nach dem Ersten Weltkrieg im Jahre 1920 entstandenen Bonner „Institut für geschichtliche Landeskunde“ gelangen so die ent192 Wie die Anmerkungen 65 bis 67. 193 Vgl. Ulrike Albrecht: Zum Stellenwert der historischen Regionalforschung heute. In: Hans-Jürgen Gerhard (Hrsg.): Struktur und Dimension. Festschrift für Karl Heinz Kaufhold zum 65. Geburtstag. Bd. 2: Neunzehntes und Zwanzigstes Jahrhundert. Stuttgart 1997. S. 597-608, hier S. 601. Vgl. zum nach wie vor „interdisziplinären und integrativen“ Ansatz der heutigen Regionalgeschichte z.B. Flügel (wie Anmerkung 98), S. 15. Vgl. ebenso Reuleckes Plädoyer für multidisziplinäre Anstrengungen, abgedruckt bei Detlef Briesen: Regionalismus und Regionalgeschichte: Forschung, Theorie, Praxis – Bericht einer Sektion des Historikertages. In: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (1992). S. 65-67, hier S. 65. 194 Hermann Aubin: Geschichtliche Landeskunde. Anregungen in vier Vorträgen. Bonn/Leipzig 1925, S. 29f. Ebenso zit. von Ennen (wie Anmerkung 23), S. 22. Auch an anderer Stelle hat Aubin das 1886 von Lamprecht publizierte Werk über Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter als „Markstein“ für die „Wendung, welche die Geschichtsforschung von der politischen und Staatengeschichte zur Untersuchung der materiellen Kultur“ genommen hat, bezeichnet: Hermann Aubin: Das Institut für geschichtliche Landeskunde an der Universität Bonn. In: Die Westmark 1 (1921). S. 30-34, hier S. 31. 195 Ebenda, S. 34. Vgl. auch Schmidt (wie Anmerkung 59), der die Begründung des Bonner Instituts (auf S. 334f.) als entscheidenden Schritt einer Verbindung von Landesgeschichte und Kulturgeschichte bewertet. Vgl. ebenso Schorn-Schütte (wie Anmerkung 19), S. 412. 196 Vgl. Schmidt (wie Anmerkung 59), S. 331f.; Haas (wie Anmerkung 43), S. 204f. Vgl. zu Kötzschke auch ebenda die S. 204-210, die bezeichnenderweise mit „Kulturgeschichte zwischen Landes- und Wirtschaftsgeschichte: Rudolf Kötzschke“ übertitelt sind. 197 Vgl. dazu bes. Haas (wie Anmerkung 190), S. 37-40; Schmidt (wie Anmerkung 59), S. 331.
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scheidenden Schritte hin zu einer institutionalisierten Verbindung von Landesgeschichte und Kulturgeschichte, deren Interdisziplinarität und Innovationskraft unter anderem in dem 1926 von Aubin zusammen mit dem Germanisten Theodor Frings und dem Volkskundler Josef Müller herausgegebenen Werk über Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden manifest geworden ist.198 Überhaupt ist das mittlerweile seit achteinhalb Jahrzehnten an der Universität Bonn existierende „Institut für Geschichtliche Landeskunde“ – im folgenden IGL genannt – nicht allein dazu geeignet zu zeigen, dass die Landesgeschichtsschreibung der „Bonner Richtung“ in den Weimarer Jahren durchaus „auf dem Weg zu einer transdisziplinären Wissenschaft“ gewesen ist199, sondern vielmehr auch die weiteren Metamorphosen, Kontinuitäten und Brüche zu konkretisieren, die die deutschen Landes- und Regionalgeschichte bis heute zu verzeichnen gehabt hat. Dabei lag, wie IGLGründer Hermann Aubin selbst konstatierte, die moderne Methodik eines von der früheren Territorialgeschichte radikal abweichenden Ansatzes im rheinländischen „Raum“ selbst begründet, da, so Aubin, „in einer aus 100 Staatspartikeln zusammengesetzten Provinz wie Rheinpreußen für die vom Staate ausgehende Landesgeschichte der organische Anknüpfungspunkt“ ganz einfach fehlte.200 Deshalb entwickelte er zur landeshistorischen Erforschung der verschiedenen „Rheinlandschaften“201 sein innovatives und damals höchst modernes Konzept des „Kulturraumes“, dessen Neuartigkeit neben der Interdisziplinarität eben darin bestand, sich von (territorial-) staatlichen Grenzen zu lösen und den Untersuchungs-“Raum“ flexibel festzulegen.202 Gleichwohl waren „Geschichtliche Landeskunde“ und „Kulturraum“-Konzeption auch „Kinder der unbewältigten Niederlage von 1918“203 und als solche, wie im dritten Abschnitt dieses Aufsatzes noch ausführlicher darzustellen sein wird, von Geburt an mit dem Virus des chronischen Versailles-Hasses infiziert: „Die Forschung des IGL war somit fast immer vom Gedanken des Kampfes grundiert.“204 Ging es bei Gründung des IGL im Jahre 1920 noch gemäß Satzung darum, die „Heimatliebe“ zu fördern205, so verriet ein im gleichen Jahr verfasstes Schreiben des an der Konstituierung des Instituts entscheidend mitbeteiligten Bonner Ordinarius Aloys Schulte, demzufolge das IGL „für die Stärkung deutscher Gesinnung sehr, sehr viel“ würde tun können und wollen206, worauf die Zeichen der Zeit hindeuteten – nämlich auf die Ideologisierung und In198 Vgl. ebenda, S. 336; Nikolay-Panter (wie Anmerkung 23), S. 245; Ennen (wie Anmerkung 23), S. 24 u. 34. 199 So Haas (wie Anmerkung 190), S. 44. 200 Aubin, Geschichtliche Landeskunde (wie Anmerkung 194), S. 28. Auch zit. bei Ennen (wie Anmerkung 23), S. 22. Vgl. auch Aubin, Institut (wie Anmerkung 194), S. 30f. Aus dem im Text angegebenen Grund nannte Aubin das Bonner Institut nicht „Institut für rheinische Geschichte“, sondern eben „Institut für geschichtliche Landeskunde“: Aubin, Institut (wie Anmerkung 194), S. 31. Vgl. auch NikolayPanter (wie Anmerkung 23), S. 237. Vgl. zur Entstehungsgeschichte des IGL auch ebenda, S. 233-238; Ennen (wie Anmerkung 23), S. 9-16. Vgl. auch Haas (wie Anmerkung 43), S. 340f. 201 So Aubin selbst in Geschichtliche Landeskunde (wie Anmerkung 194), S. 44. 202 Vgl. zur terminologischen Problematik bes. Nikolay-Panter (wie Anmerkung 23), S. 238, des weiteren Kleinknecht (wie Anmerkung 173), passim; Ennen (wie Anmerkung 23), S. 26-28, bes. S. 27 (Anm. 39a); Wolf (wie Anmerkung 31), S. 297f. 203 Zit. bei Buchholz (wie Anmerkung 178), S. 20. 204 Rusinek (wie Anmerkung 23), S. 1144. Vgl. auch ebenda, S. 1194 und 1142, wo Rusinek von „kampffixierten IGL-Wissenschaftlern“ schreibt. Auch der Lamprecht-Schüler Rudolf Kötzschke hat in einem 1923/24 erschienenen Aufsatz den „gesunden Wiederaufstieg“ Deutschlands als oberstes Ziel der Landesgeschichtsschreibung angegeben (Nationalgeschichte und Landesgeschichte. In: Fried (wie Anmerkung 19). S. 13-37, hier S. 36). 205 Vgl. Aubin, Institut (wie Anmerkung 194), S. 34; Nikolay-Panter (wie Anmerkung 23), S. 240; Rusinek (wie Anmerkung 23), S. 1142. Vgl. zur Beziehung des IGL zur Heimatbewegung und –forschung Nikolay-Panter (wie Anmerkung 23), S. 239-241. Ditt (wie Anmerkung 78) weist (auf S. 18) darauf hin, dass (auch) die Heimatbewegung durch die Weltkriegsniederlage ideologisiert worden ist. Für Haas (wie Anmerkung 43) ist der „Heimat“-Begriff neben dem der „Kultur“ die zweite entscheidende Synthesekategorie der Landesgeschichte (S. 341-347). 206 Zit. bei Horst Lademacher: Politik und Wissenschaft. Über Nachteil und Notwendigkeit einer umstrittenen Beziehung. In: Dietz/Gabel/Tiedau (wie Anmerkung 10). Bd. I. S. 1-25, hier S. 2.
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dienstnahme der innovativen IGL-Methodik durch eine Politik, die zuvorderst die Vernichtung des Versailler Vertragwerkes zum Ziel hatte.207 Spätestens durch die Ende der 1920er Jahre dann von Weimarer Regierungsstellen finanzierte und besonders vom IGL betriebene „Grenzlandforschung“208 machte man einen nächsten Schritt hin zu einer weiteren landeshistoriographischen Metamorphose, an deren Ende die im vierten Abschnitt des vorliegenden Aufsatzes noch eingehender zu beschreibende „Volksgeschichte“ und eine eng(er)e Bindung zum Nationalsozialismus und dessen expansiven Ambitionen stehen sollte.209 Und nach 1945 war das IGL wieder als Hüter einer „praktischen Heimatpflege“ und als abermaliger Identitätsstifter – diesmal gegen östliche Flüchtlingsströme und westliche Besatzungsmächte – gefragt210, derweil man unter dem Etikett „Sozialgeschichte“ in Ruhe nach neuen Forschungsfeldern und Methoden suchte211 und der seit 1926 das Institut leitende Franz Steinbach seine Amtszeit erst 1960 ausklingen ließ212: Damit hatten sich die in Weimar, NS-Deutschland und noch in den 1950er Jahren unter dem Label der „Westforschung“ betriebene IGL-Geschichtsschreibung nicht nur personell als „anwendungsorientierte“ Geisteswissenschaft in nicht weniger als drei politischen Gesellschaftsformen – dem republikanischen Weimarer Semipräsidentialismus, der totalitären Berliner NS-Diktatur und der parlamentarischen Bonner Demokratie – behauptet !213 Bis zu ihren durch den „Methodenstreit“ Ende des 19. Jahrhunderts und die Begründung des Bonner Instituts bewirkten ersten Metamorphosen aber war die Landeshistoriographie bereits einen weiten, wohl annähernd tausendjährigen Weg gegangen, an dessen Anfang territoriale Dynastie- und dynastische Terriorialgeschichtsschreibung gestanden hatte.214 Aber erst in humanistischer und nachreformatorischer Zeit begann die Landesgeschichte als „Partikular-“ und „Territorialgeschichtsschreibung“ besonders in den italienischen Stadtstaaten die Anfänge moderner Historiographie (mit) zu gestalten215 und machte aus den Territorien des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation einen „Hort der Geschichtsschreibung“216: „Landesgeschichte ist in [im] Deutschland des alten Reiches schon 207 Vgl. ebenda, passim. 208 Vgl. ebenda, S. 6; Nikolay-Panter (wie Anmerkung 23), S. 248f. (bes. Anm. 64). Auf die Tatsache, dass auch überzeugte republikanische Weimarer Politiker wie der preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker oder selbst Hugo Preuß die Rückbesinnung auf die „unbesiegbaren kulturellen Kraftquellen“ der Heimatbewegung forderten, verweist Ditt (wie Anmerkung 78) auf S. 19. 209 „Durch ihre Politisierung hatte sich die kulturhistorische Landesgeschichte (...) selbst diskreditiert und trug so zum Tradititonsbruch der Kulturgeschichte seit den 1930er Jahren bei.“ Haas (wie Anmerkung 43), S. 347. Vgl. – beispielsweise – auch Buchholz (wie Anmerkung 178), dem zufolge (S. 20) die „Geschichtliche Landeskunde“ sich in ihrer Variante als „Volksgeschichte“ durchaus in den Dienst des nationalsozialistischen Deutschland gestellt hat. 210 Rusinek (wie Anmerkung 23), S. 1144. 211 Vgl. z.B. Buchholz (wie Anmerkung 178), S. 25f. (bes. Anm. 60). Vgl. hierzu auch die Anmerkungen 174 und 175 und den Abschnitt V des vorliegenden Aufsatzes. 212 Vgl. Angaben zum Personal des IGL bei Rusinek (wie Anmerkung 23), S. 1150-1156. Vgl. im einzelnen – jeweils stellvertretend – zu Hermann Aubin (1885-1969) Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 442; Ennen (wie Anmerkung 23), passim u. bes. S. 9-16 (analog zur Entstehungsgeschichte des IGL); Mühle (wie Anmerkung 24), passim; Mommsen (wie Anmerkung 12), passim; ein Photo von Aubin findet sich bei Ditt (wie Anmerkung 70) auf der S. 96 als Abb. 12. Vgl. zu Franz Steinbach (1895-1964) und Franz Petri (1903-1993) z.B. Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 473 u. 465f.; Fahlbusch (wie Anmerkung 18), passim; Schönwälder (wie Anmerkung 18), S. 324 (Anm. 107 u. 108) und die S. 105111; Wolf (wie Anmerkung 31), S. 305-314 (allein zu Petri). Siehe auch die Anmerkungen 23 bis 28. 213 Vgl. Rusinek (wie Anmerkung 23), S. 1145 u. 1193. Vgl. auch die Anmerkungen 99 und 100. 214 So zumindest Ennen (wie Anmerkung 23), die auf S. 9 darauf hinweist, dass sich „eine Entwicklungslinie der Landesgeschichte bis ins 10. Jhd. durchziehen“ lässt. 215 Vgl. Harm Klueting: Rückwärtigkeit des Örtlichen – Individualisierung des Allgemeinen. Heimatgeschichtsschreibung (Historische Heimatkunde) als unprofessionelle Lokalgeschichtsschreibung neben der professionenen Geschichtswissenschaft. In: Edeltraud Klueting (Hrsg.): Antimodernismus und Reform. Zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung. Darmstadt 1991. S. 50-89, hier S. 54f. Vgl. auch Schönemann (wie Anmerkung 69), S. 158-160. 216 So Kötzschke (wie Anmerkung 204) auf S. 16. Vgl. auch Schönemann (wie Anmerkung 69), S. 160f.
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seit dem 17. Jahrhundert aus dynastischen und territorialen Interessen gepflegt worden.“217 Der erste Ausbruch aus dieser räumlichen und thematisch eingegrenzten „genealogischen Territorialwissenschaft“218 und gleichzeitige Durchbruch zu einer wissenschaftlichen, den Konnex zur nationalen Geschichte mitberücksichtigenden Form von Landesgeschichte gelang Justus Möser 1768 mit seiner Osnabrückischen Geschichte, die bis heute als bedeutende Etappe der landeshistorischen Entwicklung gilt.219 Die eigentliche disziplinäre Akademisierung und institutionelle Professionalisierung der Geschichtsschreibung hin zur Geschichtswissenschaft gelang jedoch bekanntermaßen erst im 19. Jahrhundert220, wobei die Landesgeschichte ihr methodisches „take off“ den seit den 1820er Jahren vielerorts entstehenden Geschichtsvereinen verdankte.221 Die Tatsache aber, dass seit dem 18. Jahrhundert die rheinische Landesgeschichte vom weiteren Weg der landeshistorischen Entwicklung in Deutschland abkam, war folgenreich222: Denn dadurch, dass die rheinische „Kleinstaatenwelt“ 1794 von Frankreich eliminiert und 1814 dann von Preußen absorbiert worden war, wurde die hier betriebene Landesgeschichtsschreibung „(…) zu einer lokalen Angelegenheit ohne stärkere öffentliche Teilnahme, zu einer Antiquität herabgedrückt.“223 Von daher hinkte das Rheinland in puncto Geschichtsbegeisterung und -forschung den meisten anderen deutschen Staaten um Jahrzehnte hinterher224, zog aber – und das war entscheidend – eben aufgrund dieser landeshistoriographischen Diaspora wissenschaftsbegeisterte private Mäzene wie Gustav Mevissen und von solchen „gesponsorte“ Forscher wie Karl Lamprecht an, so dass der junge, 1856 geborene und 1878 bei dem Leipziger Nationalökonomen (!) Wilhelm Roscher (mit einer Arbeit über französische Wirtschaftsgeschichte im Mittelalter) promovierte „Allround“Historiker 1881 von Mevissen zwecks Organisierung der „Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde“ ins Rheinland gerufen wurde225 und dort als immer noch junger, mithilfe Mevissens habilitierter Privatdozent die Archive und Bibliotheken geradezu „bestürmte“, um sein 1885 erschienenes dreibändiges Werk über Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter – Untersuchungen über die Entwicklung der materiellen Kultur [!] des platten Landes auf Grund der Quellen, zunächst des Mosellandes zu verfassen.226 Damit trug er nicht nur wesentlich zur Institutionalisierung der rheinischen Landesgeschichtsschreibung bei227, 217 So Aubin, Institut (wie Anmerkung 194) auf S. 30. 218 Klaus Pabst: Landesgeschichte und Geschichtsvereine im Rheinland. In GiW 7 (1992). S. 28-39, S. 29. 219 So z. B. – in chronologischer Folge – von Kötzschke (wie Anmerkung 204) auf S. 18, Ennen (wie Anmerkung 23) auf S. 9, Klueting (wie Anmerkung 215) auf S. 57f. und von Schönemann (wie Anmerkung 69) auf S. 160f. bemerkt. 220 Vgl. ebenda, S. 161; Iggers (wie Anmerkung 52), S. 7f., auch 17-25. Klueting (wie Anmerkung 215) sieht (auf S. 56f., 61) den Beginn der Professionalisierung der deutschen Geschichtswissenschaft schon am Anfang des 18. Jahrhunderts, besonders in Göttingen mit Johann Christian Gatterer und August Ludwig von Schlözer. Vgl. zur Unterscheidung von „Geschichtsschreibung“ und „Geschichtswissenschaft“ z. B. ebenda, S. 59f. 221 Vgl. Pabst (wie Anmerkung 218), passim u. bes. S. 31-33; Kötzschke (wie Anmerkung 204), S. 19f.; Schönemann (wie Anmerkung 69), S. 162f. 222 Pabst (wie Anmerkung 218) spricht (auf S. 28 u. passim) von einem „Sonderweg rheinischer Landesgeschichte“. 223 Aubin, Geschichtliche Landeskunde (wie Anmerkung 194), S. 31. Vgl. auch Ennen (wie Anmerkung 23), S. 10. 224 Vgl. Pabst (wie Anmerkung 218), passim u. bes. S. 32-34. 1918 hatte das Rheinland dann diesen Rückstand egalisiert (vgl. ebenda, S. 35). 225 Vgl. ebenda, S. 36; Chickering (wie Anmerkung 185), S. 82f.; Schorn-Schütte (wie Anmerkung 19), S. 394 (Anm. 24), 397f. 226 Chickering (wie Anmerkung 185), S. 85f. 227 Vgl. Schorn-Schütte (wie Anmerkung 19), S. 399f. Auf S. 402f. verweist sie des weiteren darauf, dass schon auf dem zweiten deutschen, 1894 in Leipzig veranstalteten Historikertag diverse territorialgeschichtliche Institutionen und Vereinigungen zusammengekommen waren, was letztendlich im Jahre 1900 zur Gründung der Deutschen Geschichtsblätter führte. Auch das Archiv für Kulturgeschichte und die Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte erschienen erstmals um 1900: vgl. Haar (wie Anmerkung 190), S. 36f.
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sondern sorgte auch dafür, dass die Landes- und auch die Kulturgeschichte im Kanon der Kulturwissenschaften nicht völlig von der (im Sinne des Wortes dieselben be-) herrschenden historistischen Geschichtswissenschaft überstimmt werden sollten. Weil aber Lamprecht durch die von ihm so genannte „Provinzialgeschichtsschreibung“228 die von Jacob Burckhardt, Eberhard Gothein und Hermann Riehl betriebene Kulturgeschichte fortsetzte229, kam es im letzten Dezennium des 19. Jahrhunderts zu einem „Methodenstreit“, der bezeichnenderweise auch als „Lamprecht-Streit“ in den Annalen der deutschen Wissenschaftsgeschichte verzeichnet ist. Obwohl oder gerade weil die von Lamprecht betriebene „als kleinste einer übernationalen Kulturgeschichtsschreibung“ betriebene „Provinzialgeschichte“ durch ihre Interdisziplinarität entschieden in die Zukunft wies230, lehnten die dem Historismus huldigenden und deshalb auf Staat und Politik fixierten deutschen Historiker – als deren Speerspitze im „Methodenstreit“ wohl Dietrich Schäfer bezeichnet werden kann – die auch gesellschaftliche und soziale Aspekte ins Auge fassende Kulturgeschichtsschreibung Burckhardt’scher, Gothein’scher und Lamprecht’scher Prägung so vehement ab, dass besonders letzterer und andere Historiker wie beispielsweise Kurt Breysig nach dem „Methodenstreit“ diskreditiert oder bestenfalls ignoriert worden sind.231 Ohne an dieser Stelle weiter auf den „Methodenstreit“ und die Tatsache, dass der von einem „antigeschichtsphilosophischen Empirismus“ geprägte Historismus im Deutschland des 19. Jahrhunderts232 dafür sorgte, dass der auch als „Großvater der deutschen Gesellschaftsgeschichte“ titulierte und durchaus zu Recht mancher Fehlerhaftig- und Ungenauigkeiten bezichtigte Lamprecht233 „noch in den [19]20er Jahren als toter Hund galt“234, näher eingehen zu wollen, bleibt als negative Folge der jahrzehntelange Stillstand der deutschen Sozial- und Kulturgeschichtsschreibung festzuhalten.235 Es war letztlich – wie weiter oben bereits einmal erwähnt – der seit der Jahrhundertwende nun auch als solcher firmierenden „Landesgeschichte“236 zu verdanken, dass der kulturgeschichtliche Zweig der deutschen Historiographie nicht völlig abstarb, sondern weiterhin gedieh und im Verlaufe der Weimarer Zeit nach ihrer Metamorphose zur „Kul228 Vgl. Schorn-Schütte (wie Anmerkung 19), S. 399. 229 Vgl. Iggers (wie Anmerkung 56), S. 305f., auch 168f.; Schorn-Schütte (wie Anmerkung 19), S. 498500. Zur methodischen Nähe von Lamprecht und Gothein vgl. bes. Haas (wie Anmerkung 190), S. 3134; zu Jacob Burckhardt bes. den Beitrag von Jörn Rüsen in Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Deutsche Historiker. Bd. III. Göttingen 1972. S. 7-28. 230 Schorn-Schütte (wie Anmerkung 19), S. 408. 231 Vgl. Iggers (wie Anmerkung 56), S. 306 u. ders. (wie Anmerkung 52), S. 35; Schorn-Schütte (wie Anmerkung 38), S. 502. Vgl. auch die Anmerkung 185. Vgl. zu Breysig den Beitrag von Bernhard vom Brocke in Wehler (wie Anmerkung 229), Bd. V auf den S. 95-116. Iggers (wie Anmerkung 56) zufolge (S. 301) nahm der borussische Verwaltungs- und Verfassungshistoriker Otto Hintze eine – seltene – mittlere Position im „Lamprecht-Streit“ ein. Vgl. auch ebenda, S. 299-305 und Jürgen Kockas Beitrag in Wehler (wie Anmerkung 229), Bd. III auf den S. 41-64, bes. S. 41. 232 Schleier (wie Anmerkung 109), S. 216f. Vgl. dazu – beispielsweise – auch Schorn-Schütte (wie Anmerkung 38), S. 490-497; Blanke (wie Anmerkung 64), passim und (zum „Methodenstreit“) bes. die S. 393405. Siehe auch die Anmerkung 187. 233 Vgl. Seier (wie Anmerkung 59), S. 424, der auf S. 426 auf ein Zitat von Max Weber verweist, wonach dieser Lamprecht als „Schwindler und Scharlatan erster Sorte“ bezeichnet haben soll. Vgl. zur Fehlerhaftigkeit der Forschungen Lamprechts auch Iggers (wie Anmerkung 52), S. 26, und Haas (wie Anmerkung 190), S. 45f. Chickering (wie Anmerkung 185) hat Lamprecht (auf S. 90) einen „merkwürdigen, geistreichen und rastlosen Historiker“ genannt. 234 Schleier (wie Anmerkung 109), S. 222. Auch Veit-Brause (wie Anmerkung 64) weist auf S. 43 auf die zu Zeiten des Historismus „von der Fachhistorie ausgeschlossenen, verfemten und schließlich zu Tode gehetzten exzellenten Historiker“ vom Schlage Lamprechts und Breysigs hin. 235 Vgl. Iggers (wie Anmerkung 52), S. 28 u. 55. 236 Kötzschke (wie Anmerkung 204) hat 1923/24 (auf S. 14) darauf hingewiesen, dass die vormalige „Partikular-“, „Territorial-“ und „Provinzialgeschichte“ damals „seit einem Menschenalter“ als „Landesgeschichte“ bezeichnet wurde. Vgl. auch Schorn-Schütte (wie Anmerkung 19), S. 394, 400 (bes. Anm. 55), 411; Albrecht (wie Anmerkung 193), S. 600. Chickering (wie Anmerkung 185) behauptet (auf S. 88) etwas prätentiös, dass Lamprecht der Landesgeschichte „neue Würde“ verliehen habe.
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turraumforschung“ bunte und zunehmend auch bizarre Blüten treiben konnte.237 Dabei bedeuteten der Erste Weltkrieg und die deutsche Niederlage nicht nur einen schweren Schlag für die die Sinnhaftigkeit von Geschichte predigenden Historisten238, sondern besonders für die durch das Kriegserlebnis geprägten jüngeren Historiker insofern eine „kardinale forschungsleitende Erfahrung“, als sie dadurch die bisherigen Historiker- (und Historismus-) Hierarchien und Paradigmen in Frage stellten239 und, wie Rudolf Kötzschke dies höchstselbst 1923/24 formulierte, „(…) in die innerliche Auseinandersetzung mit geschichtlichen Fragen gezwungen“ wurden240 – oder sich doch zumindest dazu gezwungen fühlten. Trotz oder gerade wegen der „Krise des Geschichtsbewußtseins“ (Wolfgang Hardtwig) vermittelte die Geschichtswissenschaft in Weimar das „Bild einer blühenden akademischen Disziplin“, die als Massenfach an den Universitäten gelehrt wurde241 und die nebenbei in Form der nichtakademischen historischen Belletristik einen ungeheuren Boom erlebte.242 In diesem „bemerkenswert innovativen Klima in der deutschen Geschichtsforschung der frühen Weimarer Republik“243 aber gedieh in Gestalt der mit den Paradigmen „Raum“ und „Volk“ interdisziplinär agierenden neuartigen „Geschichtlichen Landeskunde“ und „Kulturraumforschung“ erstmals eine Form der „Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus“ (Wolfgang J. Mommsen)244, die in Bonn, Innsbruck und Leipzig von Hermann Aubin, Adolf Helbok und Rudolf Kötzschke generiert und gelehrt wurde.245 Aber wenn letzterer 1923/24 von „Land als Volksboden“ schrieb246 und Aubin ein Jahr darauf das „Bekenntnis zur Heimat als dem Nährboden unseres Volksbewußtseins“ forderte247, dann deutete sich hier schon an, dass der Anfang 1930 von Helbok erstmals als „Volksgeschichte“ bezeichneten Landesgeschichte248 eine erneute Metamorphose bevorstand, nach der sie sich – wie im übernächsten Abschnitt zu zeigen sein wird – als durchaus NS-verträglich entpuppen sollte. Dabei ist sicher die Frage zentral, ab wann diese als „Geschichtliche Landeskunde“, „Kulturraumforschung“ und „Grenzlandforschung“ interdisziplinär betriebene Weimarer Landesgeschichtsschreibung in die „intellektuellen Grauzonen des Dritten Reiches“ mündete249; fest steht in jedem Fall, dass die methodische Modernität der Bonner, Leipziger und auch Innsbrucker „Richtung“ von ihrer Instrumentalisierung für 237 Siehe die Anmerkung 65 und den nachfolgenden Abschnitt III. Auch Albrecht (wie Anmerkung 193) betont (auf S. 601), dass die Landesgeschichte schon um die Jahrhundertwende im Zuge des „Methodenstreits“ an Bedeutung gewonnen hatte. 238 Vgl. – beispielsweise – Iggers (wie Anmerkung 56), S. 312-316; Gideon Reuveni: Geschichtsdiskurs und Krisenbewusstsein: Deutsche Historiographie nach dem Ersten Weltkrieg. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXV (1996). S. 155-186, hier S. 172-176 (=„Die Krise des Historismus“). Siehe auch die Anmerkung 154. 239 Willi Oberkrome: „Grenzkampf“ und „Heimatdienst“. Geschichtswissenschaft und Revisionsbegehren. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXV (1996). S. 187-204, hier S. 188 u. 189f. 240 Kötzschke (wie Anmerkung 204), S. 30. 241 Faulenbach (wie Anmerkung 55), S. 4. Vgl. auch ebenda, S. 13 u. 319 (Anm. 25). Dagegen aber Reuveni (wie Anmerkung 238), der auf den S. 179-186 von einer „Krise des „Historikerstandes“ nach dem Weltkrieg“ berichtet. 242 Wie Anmerkung 117. Vgl. auch Reuveni (wie Anmerkung 238), S. 160-164. 243 So Oberkrome (wie Anmerkung 149) auf S. 20. 244 Zit. bei Oberkrome (wie Anmerkung 238), S. 192. Haas (wie Anmerkung 190) bezeichnet (auf S. 51) die dergestalt fortgeführte Kultur- und Sozialgeschichte dennoch als „Kinder des Historismus“. 245 Vgl. z.B. Oberkrome (wie Anmerkung 238), S. 191-197, der ebenda auf S. 194 darauf hinweist, dass besonders in Bonn und Leipzig „die Riehl-Rezeption durch Lamprecht vorbereitet worden“ war. Vgl. dazu auch Schorn-Schütte (wie Anmerkung 38), S. 504. Vgl. auch Faulenbach (wie Anmerkung 55), S. 89, der auf den S. 88f., 296-298 u. 306 davon ausgeht, dass dennoch kein grundsätzlicher Paradigmenwechsel innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft stattgefunden hat. 246 Kötzschke (wie Anmerkung 204), S. 33. 247 Aubin, Geschichtliche Landeskunde (wie Anmerkung 194), S. 91. 248 Vgl. Oberkrome (wie Anmerkung 149), S. 98. 249 Oberkrome (wie Anmerkung 239), S. 202. Auch Jost Dülffer bezeichnet (in seiner Rezension zu Dietz/Gabel/Tiedau – wie Anmerkung 10 – auf S. 277) die im Text gestellte Frage als „zentrale Kategorie der Debatte“.
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den – jeweiligen – revanchistischen „Grenzkampf“, ihrem Ethnozentrismus und ihrer dogmatisch vorgetragenen rückwärtsgewandten Zivilisationskritik insofern konterkariert wurde250, als diese Landeshistoriker durch ihre zumindest zeitweilige Liaison mit den Nationalsozialisten mittels der genannten Ingredienzien der (Landes-) Geschichtsschreibung einen – aus Sicht der NS-Gegner – bitteren Beigeschmack hinzufügten, der bis heute noch nicht ganz verschwunden ist. Gerade durch den immer häufiger verwendeten „Volkstums“Begriff öffneten die Bonner und Leipziger Landeshistoriker um Aubin, Steinbach und Kötzschke die Pforten zum NS-Reich des Irrationalismus251, in dem Termini wie „Blut“ und „Rasse“ die SS-Welt dann Wirklichkeit werden ließen und die Landesgeschichte als „Volksgeschichte“ eine „Pervertierung“ erfuhr252, die bis heute nachwirkt. Denn das Jahr 1945 bedeutete keineswegs das Ende der dergestalt diskreditierten „Volksgeschichte“.253 Vielmehr sprach Werner Conze noch 1949 das als „Volksordnung“ an, was er späterhin dann als „Strukturgeschichte“ bezeichnet hat254, und auch der gleich Conze zu Beginn der 1930er Jahre von den „volkshistorisch“ arbeitenden Soziologen Gunther Ipsen und Hans Freyer inspirierte Otto Brunner arbeitete – wie ganz zu Beginn dieses Abschnitts zitiert – erst ab den 1950er Jahren sein Oeuvre demokratiekompatibel um.255 Analog zu dieser erst allmählich einsetzenden „Entnazifizierung des Volksbegriffs“ (Winfried Schulze)256 waren die ersten anderthalb Dezennien nach 1945 zumindest im landesgeschichtlichen Umfeld von personeller und institutioneller Kontinuität geprägt, wie die schon im September 1945 erfolgte Rückkehr Franz Steinbachs an das Bonner IGL und die sofortige Wiederaufnahme des dortigen Lehrbetriebs beispielhaft zeigte.257 In diesen Kontext von Kontinuität gehörte dann auch die im Juni 1949 erfolgte Wiederbegründung des „Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine“ und des „Verbandes der landesgeschichtlichen Publikationsinstitute“258, die 1950 in direkter Nachfolge der „Westdeutschen Forschungsgemeinschaft“ gegründete „Arbeitsgemeinschaft für westdeutschen Landes- und Volksforschung“ (!)259 und – auch dies nur beispielhaft hier aufgeführt – der 1953 gebildete Ausschuß für die politische Neugliederung der Bundesrepublik Deutschland, der durch die Mitarbeiterschaft von „Kulturraum“-Wissenschaftlern wie Hermann Aubin, Gunther Ipsen, Bruno Kuske, Friedrich Metz, Franz Steinbach und Franz Petri auch
250 Vgl. Schönemann (wie Anmerkung 69), S. 163-165; Lademacher (wie Anmerkung 206), S. 5-7. Schleier (wie Anmerkung 109) spricht (auf S. 73 in der Anm. 165) von der „Anwendung neuer und komplexer Forschungsmethoden einerseits und revanchistischer Beschränktheit andererseits“. 251 Vgl. ebenda, S. 244-253. Vgl. – allein bezogen auf das Bonner IGL – auch Nikolay-Panter (wie Anmerkung 23), S. 253 u. 258. 252 Zit. bei Albrecht (wie Anmerkung 193), S. 602. 253 So fast wörtlich Iggers (wie Anmerkung 56), S. 403. 254 Vgl. ebenda, S. 404. 255 Wie die Anmerkungen 174 und 175. Im Jahre 1931 hatte Hans Freyer in Revolution von rechts das Prinzip des Volkes dem Prinzip der industriellen Gesellschaft entgegengesetzt: vgl. Iggers (wie Anmerkung 56), S. 404. Zur Schülerschaft Conzes und Brunners bei Freyer und Ipsen ebenda, S. 402f., ebenso Schulze (wie Anmerkung 28), S. 293, 295-298, zu Ipsens und Freyers Einfluß auf Brunner ebenda, S. 292. Vgl. zu Ipsen und Freyer auch Oberkrome (wie Anmerkung 149), S. 111-122, biographische Notizen zu Freyer in Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 450. 256 Zit. bei Iggers (wie Anmerkung 56), S. 404. 257 „Eine Auseinandersetzung mit der Volkstumsforschung der NS-Zeit (...) ist m.W. nicht erfolgt.“ Nikolay-Panter (wie Anmerkung 23), S. 262. 258 Vgl. Willi Oberkrome: Probleme deutscher Landesgeschichtsschreibung im 20. Jahrhundert. Regionale Historiographie im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft. In: Westfälische Forschungen 46 (1996). S. 1-32, hier S. 23. 259 Vgl. Fahlbusch (wie Anmerkung 18), S. 783f. Für das Gebiet Westfalens hat Ditt (wie Anmerkung 70) die Kontinuität der weiterhin an „Raum“ und „Volkstum“ orientierten Kulturpolitik des in Nachfolge des einstigen Provinzialverbandes gegründeten Landschaftsverbands Westfalen-Lippe konstatiert (auf S. 392, bes. Anm. 20).
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eine – ironisch interpretierbare – „interdisziplinäre“ personelle Kontinuität ad oculos führte.260 Nicht allein durch den sich wandelnden Zeitgeist, sondern auch durch die Ausdehnung des „Kultur“-Begriffs auf Alltag und Vorstellungswelt einzelner Milieus261 und die gleichzeitige, nicht erst im Zeitalter der Globalisierung erfolgte Aufwertung der „Region“262 erfuhr die Landesgeschichte im Reformklima der späten 1960er und frühen 1970er Jahre eine „nachhaltige Revision eingefahrener historiographischer Muster“263, indem mit „modernen“ Methoden betriebene und deshalb „neu“ bezeichnete Subdisziplinen wie Lokal-, Heimat-, Alltags und Stadtgeschichte zu einer „Regionalgeschichte“ subsummiert wurden264, die nun neben der nicht nur mit positiven Traditionen beladenen Landesgeschichte existieren. Und nach diesem abermaligen „Gestaltwechsel“265 dürfte im Gefolge der „kulturalistischen Wende“ die Vereinigung von „traditioneller“ Landesgeschichte und „moderner“ Regionalgeschichte zu einer „regionalen Kulturgeschichte“266 zugleich Ziel und vorerst letzte Metamorphose im Kanon der Kulturwissenschaften sein. III. Wegbereiter einer „Nazifizierung“ ? – Landesgeschichte als „Kulturraumforschung“ „It became an accepted fact to most historians that culture could not exist without power (...) Territorial history (Landesgeschichte) experienced a colossal growth after 1919.“ Oscar J. Hammen, 1941267 Zwei Jahre nach dem „Reichsgründungs-Krieg“ von 1870/71 hatte der renommierte französische Mediävist Fustel de Coulanges konstatiert, dass „das deutsche Volk im Bereich der Bildung die gleichen Qualitäten besitzt wie im Krieg, [und dass] die deutschen Historiker mit einer wohl organisierten Armee vergleichbar“ seien268, und da die französische Elite ebenso wie Coulanges die desaströse Niederlage auch auf die Rückständigkeit des französischen Wissenschafts- und Bildungssystems zurückführte, entstanden zwischen 1876 und 1879 in Frankreich nicht weniger als 250 kulturwissenschaftliche – historische und
260 Vgl. Lademacher (wie Anmerkung 206), S. 14-16. Vgl. auch Oberkrome (wie Anmerkung 258), S. 24. Dabei dürfte Bruno Kuske zu den politisch eher indifferenten Landeshistorikers der NS-Zeit zu zählen sein: vgl. Elvert (wie Anmerkung 31), S. 121. Vgl. dazu auch Heiber (wie Anmerkung 122), hier Teil II, Bd. 1 (Die Kapitulation der Hohen Schulen. Das Jahr 1933 und seine Themen. München [u.a.] 1992), S. 363-365. Vgl. zu Kuske, der ja in Köln in seiner Funktion als Nationalökonom besonders die Wirtschaftsgeschichte des Rheinlandes erforschte, auch Elvert (wie Anmerkung 75), S. 265f., des weiteren Dietz (wie Anmerkung 33), S. 202f. u. Lademacher (wie Anmerkung 206), S. 11, dem zufolge Kuske derjenige gewesen ist, „(...) der das Wort vom rheinisch-westfälischen Industriegebiet“ nach 1945 kreiert hat. Vgl. auch Anmerkung 312. 261 Vgl. – beispielsweise – Ditt (wie Anmerkung 70), S. 393; Maderthaner (wie Anmerkung 63), S. 96-98, der ebenda (auf S. 106) für die Gegenwart gar von der „Kulturalisierung allen sozialen Lebens“ spricht. Vgl. auch Oberkrome (wie Anmerkung 258), S. 25f. 262 Küster (wie Anmerkung 178) spricht für die 1960er und 1970er Jahre von einer „Wiederentdeckung der Regionalkultur“ (S. 13) und für die Zeit seit 1980 von einer „Konjunktur der Region“ in den Geschichtswissenschaften, „(...) die allem Anschein nach auch im Gefolge der „kulturalistischen Wende“ anhalten wird.“ (S. 15). Vgl. auch Oberkrome (wie Anmerkung 258), S. 24. 263 Oberkrome (wie Anmerkung 239), S. 203. 264 Vgl. Reulecke (wie Anmerkung 178), S. 202, ebenso Oberkrome (wie Anmerkung 258), S. 26f. u. 32. 265 Ebenda, S. 25. 266 Siehe die Anmerkung 178 und den Abschnitt V. 267 Hammen (wie Anmerkung 74), S. 177 u. 182. Siehe zum (NS-) „Kultur“-Begriff und der Affinität deutscher Historiker zu Macht und Politik die Anmerkungen 158 bis 173. 268 Zit. bei Kaufmann (wie Anmerkung 42), S. 108.
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philologische – Lehrstühle, deren Aufgabe nicht zuletzt die Aufrechterhaltung keineswegs kaschierter Ansprüche auf Elsaß-Lothringen war.269 Analog dazu war der Aufschwung der Landesgeschichte nach der deutlich desaströseren deutschen Niederlage von 1918 nur zu verständlich270, und es war mitnichten ein Zufall, dass die Wiege von „Kulturraumforschung“ und „Grenzkampfgeschichte“ in Gestalt des Bonner IGL am Rhein stand, wo der französische „Erbfeind“ vermeintlich seit jeher darauf aus war, die deutsche „Kultur“ zu zerstören und zu zersetzen.271 Und es war wohl ebenso wenig ein Zufall, dass die Pioniere dieses Instituts und der hier gelehrten „neuen Richtung“ von Landesgeschichte – die Rede ist von Hermann Aubin und Franz Steinbach – im Ersten Weltkrieg als Offiziere gedient und eben dadurch geprägt worden waren272, wie überhaupt der „Kampf“ gegen den Krieg und Niederlage symbolisierenden Versailler Vertrag für alle „Kulturraumforscher“ und „Landeskundler“ Weg und Ziel zugleich gewesen ist.273 Dazu kam, dass, wie beispielsweise der rheinische Landeshistoriker Paul Wentzcke Anfang der 1920er Jahre feststellte, die oben erwähnte französische Hegemonial-Historiographie seit nahezu einem halben Jahrhundert auf Hochtouren lief274 und dadurch einen „kaum erträglichen Rechtfertigungsdruck“ auf die deutsche Geschichtswissenschaft entwickelte, die in Gestalt der „Geschichtlichen Landeskunde“ und der „Kulturraumforschung“ zum Gegenschlag ausholte275 und späterhin ihrerseits in Form der im Rahmen von „Volksgeschichte“ betriebenen „Westforschung“ respektive – an den östlichen Grenzen – „Ostforschung“ in eine Offensive überging, die zumindest zeitweilig mit den Zielen des NS-Staates übereinstimmte.276 „Blut“ und „Boden“, „Volkstum“ und „Seele“ – solche dem Irrationalismus inhärenten Begrifflichkeiten waren schon lange vor dem Ersten Weltkrieg in Heimatbewegung und Heimatdichtung weit verbreitet gewesen277, so wie vice versa Hermann Aubin 1925 konstatierte, dass „Heimat“ dem Herzen und nicht dem Verstand verpflichtet war278, während sein Leipziger Kollege Rudolf Kötzschke ein Jahr zuvor in der Heimat „das Innerste“ an sich erblickte und behauptete, dass „aus bodenbedingten Zuständen (…) Erscheinungen seelischer Art“ entspringen würden.279 Es war deshalb alles andere als verwunderlich, wenn – wie erwähnt – die Forcierung von „Heimatliebe“ zu den vordergründigen Aufgaben 269 Vgl. ebenda, S. 108f. 270 „(...) Landesgeschichte, Regionalgeschichte oder „Grenzkampfgeschichte“ kamen unter engagierten Studenten geradezu in Mode (...) Die Zahl der Dissertationen zu diesem Thema ist Legion.“ Schöttler (wie Anmerkung 2), S. 94. Siehe auch das diesem Abschnitt vorangestellte Zitat von Oscar J. Hammen. 271 Vgl. – stellvertretend – Schöttler (wie Anmerkung 2), S. 93-95, ebenso Hammen (wie Anmerkung 74), S. 169f.; Oberkrome (wie Anmerkung 149), S. 32-34; Nicolay-Panter (wie Anmerkung 23), S. 247f. 272 Vgl. Rusinek (wie Anmerkung 23), S. 1150f.; Mühle (wie Anmerkung 24), S. 565 (bes. Anm. 132). Dagegen glaubt Iggers (wie Anmerkung 56), dass der Erste Weltkrieg „zunächst bemerkenswert wenig Einfluß auf die Arbeitsvoraussetzungen der deutschen Historiker“ gehabt habe und – allerdings bezogen auf den „Mainstream“ der nach wie vor historistisch ausgerichteten „Zunft“ – Staatsglorifizierung und außenpolitischer Primat im Fokus der Forschung gestanden hätten (S. 295-297). 273 Reuveni (wie Anmerkung 238) betont (auf den S. 156-169 u. passim), dass die deutsche Niederlage das herausragende Movens der gesamten deutschen Historiographie während der Weimarer Zeit gewesen ist. Vgl. auch Oberkrome (wie Anmerkung 258), S. 4f., ebenso die Anmerkung 239. 274 Vgl. Hammen (wie Anmerkung 74), S. 183f. Vgl. auch Oberkrome (wie Anmerkung 166), S. 82f. 275 Ebenda, S. 82-84. 276 Siehe weiter unten im Text und den nachfolgenden Abschnitt IV. 277 „Bei „Heimat“ wird’s (...) mysthisch und mythisch, andachtsvoll und altertümelnd, hymnisch und „kündend“, ahnungsvoll und raunend.“ Vorländer (wie Anmerkung 160), S. 37f. Vgl. auch ebenda, passim, des weiteren Lademacher (wie Anmerkung 206), S. 3, und die Anmerkungen 163, 251 und 252. Aubin, Geschichtliche Landeskunde (wie Anmerkung 194) hatte 1925 (auf S. 93) festgestellt, dass die Heimatbewegung schon vor 1914 gegen die „Wurzellosigkeit“ des „modernen Arbeitsmenschen“ gewirkt habe. Ditt (wie Anmerkung 78) zufolge (S. 18) hatte der von ihm so bezeichnete „kulturalistische Typ“ des Regionalismus seine Ursprünge in der Heimatbewegung. Siehe auch die Anmerkung 179. 278 Aubin, Geschichtliche Landeskunde (wie Anmerkung 194), S. 91f. 279 Kötzschke (wie Anmerkung 204), S. 34 („Endlich das Innerste: Heimat“).
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des Aubinschen Institutes gehörte280 und „Heimat“ hier geradezu als Schlüsselbegriff galt281: „Die ethnohistorische Betrachtung deutscher Verhältnisse profilierte sich in einer früh geschmiedeten Allianz mit der „deutschen Heimatbewegung“. Ihre (…) Programmatik wurde von den Landeshistorikern geteilt und geschichtswissenschaftlich untermauert.“282 Demzufolge besaßen Institutionen wie der bereits 1904 gegründete „Deutsche Bund Heimatschutz“ (DBH) durchaus Einfluß auf die Weimarer Geschichtswissenschaft und hier besonders auf die von der Landesgeschichtsschreibung geleistete „akademische Volkstumsforschung“283, was in ähnlichem Ausmaß – natürlich – auch für das „Auslands- und Grenzdeutschtum“ galt, welches durch die in Versailles dekretierten Gebietsverluste zu einem Millionenheer angewachsen war und dem nun die Landesgeschichte insofern als Hoffnungsträger erschien, als letztere durch die thematisierte Verbindung von „Volk“ und „Boden“ zeigen konnte, dass revanchistische Ansprüche gerechtfertigt waren.284 Nicht zufällig hatten so alle irgendwie vom Versailler Vertrag betroffenen Gebiete und Gruppierungen „ihre“ zentralen Landeshistoriker – die Karpatendeutschen Raimund Friedrich Kaindl, die Baltendeutschen Hans Rothfels, die Südtiroler Paul Herre, die Danziger Korridor-“Insassen“ Erich Keyser, die Schleswig-Holsteiner Otto Brandt und Arnold Oskar Meyer, die Oberschlesier Victor Loewe und nicht zuletzt die Rheinländer Hermann Aubin und Franz Steinbach –, für die selbstredend nur das „Volk“ und gerade nicht der „Staat“ Basis und Gegenstand ihrer Forschungen sein konnte.285 Und auch hier bestand von Beginn der Weimarer Republik an ein Konnex zwischen den „Volks- und Kulturbodenforschern“ und den „auslandsdeutschen“ Organisationen wie dem „Verein für das Deutschtum im Ausland“ (VDA), dem „Deutschen Auslands-Institut“ (DAI) und dem „Deutschen Schutzbund für das Grenz- und Auslandsdeutschtum“286, wobei die institutionelle Förderung und Vernetzung der von den Geographen Albrecht Penck und Wilhelm Volz geleiteten Leipziger „Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung“ und letztlich auch dem Auswärtigen Amt angelegen war.287 Neben „Heimat“-Hinwendung und den Ambitionen des „Auslandsdeutschtums“ bildeten dabei die „Mitteleuropa“-Entwürfe antidemokratischer rechtsintellektueller Kreise einen weiteren Aspekt jenes „deutschen Sonderweges“, den die übergroße, bestenfalls „vernunftrepublikanisch“ verortete Mehrheit in WeimarDeutschland zu gehen gewillt war und der sich letztlich als schlimme Sackgasse erweisen sollte.288 Im Unterschied zu den beiden zuvor genannten landesgeschichtlichen Paradigmen aber wurde das „Mitteleuropa“-Konzept eher von philosophischer denn von geschichtswis280 Wie Anmerkung 205. Vgl. auch Aubin, Geschichtliche Landeskunde (wie Anmerkung 194), S. 4. 281 Vgl. Schmidt (wie Anmerkung 59), S. 333f. Siehe auch die Anmerkung 208. 282 Oberkrome (wie Anmerkung 166), S. 82. Kötzschke (wie Anmerkung 204) zufolge bildete die „historische Heimatforschung“ die Grundlage der Landesgeschichte: vgl. Schorn-Schütte (wie Anmerkung 19), S. 413 und 416. Umgekehrt war es Aubin angelegen, die Heimatforschung durch die Landesgeschichte „mit wissenschaftlichen Grundgedanken“ zu speisen: zit. bei Mühle (wie Anmerkung 24), S. 564. 283 Der entsprechende Abschnitt bei Oberkrome (wie Anmerkung 149) lautet „Die Anfänge der akademischen Volkstumsforschung nach 1918“ (S. 22-41). Vgl. zum Konnex des „Bundes Heimatschutz“ (respektive seit 1913 „Deutscher Bund Heimatschutz“) auf die Landesgeschichte ebenda, S. 30-32; ders. (wie Anmerkung 239), S. 199-201; ders. (wie Anmerkung 258), S. 12. 284 Vgl. Hammen (wie Anmerkung 74), S. 183f. (bes. Anm. 97); Haas (wie Anmerkung 43), S. 346; Schorn-Schütte (wie Anmerkung 19), S. 412f. 285 Vgl. – auch die Auflistung – bei Hammen (wie Anmerkung 74), S. 185f. (bes. Anm. 107). 286 Vgl. Oberkrome (wie Anmerkung 149), S. 25-30; ders. (wie Anmerkung 258), S. 7f.; Fahlbusch (wie Anmerkung 18), S. 39f. 287 Vgl. bes. ebenda; ebenso Oberkrome (wie Anmerkung 258), S. 8. Vgl. zum Engagement Aubins in so gut wie allen im Text genannten Institutionen und Organisationen Mühle (wie Anmerkung 24), S. 553. 288 Elvert (wie Anmerkung 75) spricht im Hinblick auf diese „Mitteleuropa“-Ideen von einem „politischen Irrweg“ (S. 9). Vgl. zu dieser Thematik erschöpfend ebenda, passim, zum „Sonderweg“ ebenda, S. 2434. Vgl. auch ders. (wie Anmerkung 31), S. 116f., 124-127; Schleier (wie Anmerkung 109), S. 80-89. Zum „Sonderweg“ der deutschen Historiographie bes. Faulenbach (wie Anmerkung 55), passim, auch – beispielsweise – Oberkrome (wie Anmerkung 258), S. 5.
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senschaftlicher Warte aus behandelt289, und erst mit dem Aufkommen der „Anschluß“Frage ab etwa 1930 wurde „Die Besonderheit Mitteleuropas“290 im Kontext der von Aubin schon 1925 geforderten „Kulturkonstanz“291 von Heinrich Ritter von Srbik in Wien oder von Hans Rothfels in Königsberg auch historiographisch thematisiert.292 In jedem Fall machte der Verlust von „Staats“-Substanz an den deutschen Grenzen nach 1918 andere, neue Forschungs-Paradigmen notwendig, die in erster Linie von den Vertretern der „neuen“ Landesgeschichtsschreibung in Form von „Kultur“ und „Volk“ ausgemacht und angewandt wurden, um in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Geographen, Volkskundlern und Philologen die in Versailles festgelegten Grenzen wissenschaftlich in Frage zu stellen: „Im Diskurs der anwendungsorientierten Historiker und Politiker spielte seit den 1920er Jahren der Topos oder das Konstrukt des deutschen „Volks- und Kulturbodens“ eine zentrale Rolle.“293 Dabei bot sich die 1922 von Hermann Oncken in seiner Arbeit über Elsaß-Lothringen und die deutsche Kulturgemeinschaft unternommene Unterscheidung von Kulturnation und Staatsnation geradezu für ein in Wissenschaft und Öffentlichkeit propagiertes „Doppelleben“ an, um der in den vom Versailler Vertrag vorgegebenen Grenzen zu fristenden staatlichen Existenz die einer „Kulturnation“ entgegensetzen zu können, in der deutsch determinierte Dinge wie „Volk“ und „Seele“ und „Blut“ und „Boden“ ausgelebt werden konnten.294 Gewunden beschrieb Hermann Aubin den grenzüberschreitenden und –auflösenden Konnex von „Kultur“ und „Volk“ im Jahre 1925, indem er forderte, „(…) die kulturelle Eigenheit einer Landschaft exakt zu erfassen, [um] dann (...) ihre Stellung im Volksganzen klarlegen“ zu können295, während sein landeskundliches Leipziger Pendant Rudolf Kötzschke „Land“ zumindest nicht nur als „Volksboden“ und „Kulturboden“, sondern auch als „Staatsboden“ deklarierte.296 Aber bei allem zumindest implicite immer (im doppelten Wortsinne) im „Raum“ stehenden Revanchismus waren „Kulturraumforschung“ und „Geschichtliche Landeskunde“ allein durch ihre Interdisziplinarität durchaus innovativ, wenngleich – wie im nächsten Abschnitt noch zu zeigen sein wird – ihre nationalistischen und „völkischen“ Ambitionen wesentliche Forschungserträge und –fortschritte konterkarierten und den wissenschaftlichen Wert verwässerten297, weshalb bis heute „Raum“ nicht zu Unrecht als „belastete, kontaminierte“ Kategorie bezeich-
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Vgl. Elvert (wie Anmerkung 75), S. 45. So die Kapitelübertitelung bei Schönwälder (wie Anmerkung 18), S. 53-60. Aubin, Geschichtliche Landeskunde (wie Anmerkung 194), S. 104. Vgl. Elvert (wie Anmerkung 75), S. 121 u. S. 285-295; Schönwälder (wie Anmerkung 18), S. 91-98; Hammen (wie Anmerkung 74), S. 170f., 178-182 (alle zu Srbik); Schönwälder (wie Anmerkung 18), S. 53-58 (zu Rothfels). Auch Rothfels hatte i.ü. im Ersten Weltkrieg als Offizier gedient: vgl. z.B. Schleiner (wie Anmerkung 109), S. 108. Oberkrome (wie Anmerkung 149) sieht (auf S. 96) in Rothfels einen Exponenten der „Annäherung von klassischer und innovativer Geschichtswissenschaft“. Kleinknecht (wie Anmerkung 173), S. 58. Vgl. – beispielsweise – auch Schönwälder (wie Anmerkung 18), S. 51-53. Vgl. hierzu und zum folgenden auch die Anmerkungen 202 bis 207. Vgl. Hammen (wie Anmerkung 74), S. 186f., der hier darauf hinweist, dass es Oncken selbst gewesen war, der 1929 von jenem „Doppelleben“ gesprochen hatte. Vgl. auch Schleier (wie Anmerkung 109), S. 78, dem zufolge Onckens dualistischer Nationenbegriff den Rechtsextremen immer noch zu versöhnlich war. Vgl. zu Oncken auch den Beitrag von Klaus Schwabe in Wehler (wie Anmerkung 229), Bd. II, S. 81-97, ebenso Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 465. Oberkrome (wie Anmerkung 239) bezeichnet Oncken (auf S. 198) als „einflußreichen Traditionalisten“. Aubin, Geschichtliche Landeskunde (wie Anmerkung 194), S. 43. Kötzschke (wie Anmerkung 204), S. 31-34. Siehe hierzu auch die Anmerkungen 246 und 247. Oberkrome (wie Anmerkung 149) nennt (auf den S. 56-101) ein Kapitel „Innovative Landesgeschichte in volkshistorischer Absicht“. Vgl. auch die Anmerkungen 198 und 202. Vgl. zu den „nicht geringen Mängeln“ und zum „spekulativen Charakter“ der wissenschaftlichen Erträge des Bonner IGL i.e. Martina Pitz: Franz Petris Habilitationsschrift in inhaltlich-methodischer und fortschrittsgeschichtlicher Perspektive. In: Dietz/Gabel/Tiedau (wie Anmerkung 10). Bd. I. S. 224-246, hier S. 232 u. passim. Zu Recht konstatiert Ditt (wie Anmerkung 78), dass die Ergebnisse der „Kulturraumforschung“ nur „selten eindeutig und ohne weiteres verwendbar“ gewesen seien (S. 17).
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net wird und von „alten, verhockten und verstockten Landeskunden“ die Rede ist.298 Die völlig neuartige Form der „kulturräumlichen“ Landesgeschichte sollte, wie dies beispielsweise Adolf Helbok Mitte der 1920er Jahre formulierte, in Gestalt des – eben – sogenannten „Kulturraums“ neben der „Naturlebenslage“ – den klimatischen, topographischen und geographischen Faktoren – auch alle „Kulturlebenslagen“, unter denen man die bewußt gepflegte (Hoch-) „Kultur“ und die sich in Traditionen und Bräuchen eher unbewußt manifestierende „Volkskultur“ verstand, erfassen, um dann die Vergangenheit des deutschen Volkes in seinen landesgeschichtlichen Teilen aufarbeiten zu können – was eine komplexe, ja geradezu gigantische und auch nur im günstigsten Fall interdisziplinär zu bewältigende Aufgabe darstellte und grundsätzlich verschieden war von dem, was man zuvor als „Territorial-“, „Provinzial-“ oder „Heimatgeschichte“ bezeichnet hatte !299 Als Pionier und Protagonist dieses neuen Forschungsansatzes muß an erster Stelle der 1885 als Sohn eines böhmischen Fabrikanten geborene Hermann Aubin bezeichnet werden, der nach Kriegsende als junger Privatdozent in Bonn ein „innovatives Konzept landesgeschichtlicher Forschung [entwickelte], das die Prozesse des regionalen Kulturaustauschs ins Zentrum rückte“300 und das er nach den 1925 und 1929 erfolgten Berufungen nach Gießen und Breslau immer weiter nach Osten quasi dorthin zurücktrug301, wo Karl Lamprecht und Rudolf Kötzschke an ihren Leipziger Instituten bereits seit Beginn des Jahrhunderts jene Ideen und Innovationen vorgedacht hatten, auf denen das im Dezember 1918 von Aubin der „Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde“ vorgelegte Konzept für das am 6. Mai 1921 gegründete Bonner IGL unter anderem fußte.302 Die dergestalt institutionalisierte, von Lamprecht, Kötzschke und Aubin erdachte und entwickelte neuartige, „Kulturraumforschung“ und „Geschichtliche Landeskunde“ genannte Landesgeschichtsmethode, die als „die umfassende Erforschung aller Lebensbereiche in einem begrenzten Raum mittlerer Größe im interdisziplinären Zusammenwirken aller historisch orientierten Fächer“ definiert werden kann303, trat nun im Zeichen des auf „Grenzkampf“, „Volksboden“ und – eben – „Kulturraum“ eingeschworenen Zeitgeistes von Bonn, Leipzig und auch Innsbruck aus ihren Siegeszug an, der von den staatlichen Stellen mit „einer fast beispiellosen bürokratischen Alimentierung“304 forciert wurde, was wiederum zur Entstehung zahlreicher weiterer landesgeschichtlicher Einrichtungen der später so genannten „Ostforschung“ und „Westforschung“ entscheidend beitrug.305
298 So Schlögel (wie Anmerkung 40), S. 266 u. 282. 299 Vgl. Reuveni (wie Anmerkung 238), S. 166f. 300 Mühle (wie Anmerkung 24), S. 551. Vgl. zu Aubins Biographie ebenda, S. 548f.; Fahlbusch (wie Anmerkung 18), S. 181-183; Schönwälder (wie Anmerkung 18), S. 321 (Anm. 60); Wolf (wie Anmerkung 31), S. 288, 289 (Anm. 39), 305; Ennen (wie Anmerkung 23), S. 12. Ditt (wie Anmerkung 78) bezeichnet Aubin (auf S. 16) als „historischen Hauptvertreter“ der „Kulturraumforschung“. Siehe auch die Anmerkung 212. 301 Schönwälder (wie Anmerkung 18) betitelt (auf den S. 100-102) einen Abschnitt „Deutsche „Ostbewegung“ als überhistorische Ganzheit: Hermann Aubin“. Zwar war Aubin 1922 in Bonn zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor ernannt worden, hatte jedoch kein Ordinariat erhalten, weshalb er 1925 dem Ruf nach Gießen und 1929 nach Breslau folgte: vgl. Mühle (wie Anmerkung 24), S. 553f.; Wolf (wie Anmerkung 31), S. 289; Ennen (wie Anmerkung 23), S. 21. 302 Explizit zur IGL-Entstehungsgeschichte ebenda, S. 16-18. Vgl. auch Nikolay-Panter (wie Anmerkung 23), S. 234. Siehe zu den 1906 und 1909 von Lamprecht und Kötzschke gegründeten und geführten Leipziger Instituten die Anmerkungen 196 und 197. 303 So Buchholz (wie Anmerkung 178), S. 18. Vgl. eine ähnlich konzise Definition bei Oberkrome (wie Anmerkung 258), S. 10. 304 Oberkrome (wie Anmerkung 166), S. 81. 305 Kötzschke (wie Anmerkung 204) nannte das Bonner IGL, die an der Universität Köln eingerichtete Professur für rheinische Landesgeschichte und das „Institut für geschichtliche Siedelungs- und Heimatkunde“ an der Universität Innsbruck landesgeschichtliche „Pflegstätten von neuer Art“. Vgl. zur landeskundlichen Forschung in Österreich z.B. Oberkrome (wie Anmerkung 239), S. 193-196. Vgl. die Nennung weiterer landeskundlicher Einrichtungen weiter unten im Text.
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Es kann zwar nicht Aufgabe des vorliegenden Aufsatzes sein, die durchaus komplexen und nach 1933 weiter ausufernden institutionellen Verortungen und Verzweigungen der ebenso schleichend wie bestimmt zur NS-kompatiblen „Volksgeschichte“ mutierenden „Kulturraumforschung“ hier detailliert darzustellen306, doch es bleibt zu betonen, dass das Bonner wie auch das Leipziger Institut nicht allein Avantgarde einer neuen, interdisziplinären Landesgeschichtsschreibung, sondern ebenso Ausgangspunkt von „Westforschung“ und „Ostforschung“ gewesen sind, die im Verbund nicht weniger als eben jene „Volksgeschichte“ darstellten, die wiederum der deutschen Geschichtswissenschaft erst den Weg zur „Zusammenarbeit mit Baal“ (Otto Gerhard Oexle) gewiesen hat.307 Schon Mitte der 1920er Jahre war die „Westforschung“ im Umfeld zweier den „Westdeutschen Volksboden“ thematisierenden Tagungen grundgelegt308 und im Zuge der ab Ende des Jahrzehnts vom IGL und auch von staatlichen Stellen forcierten „Grenzlandforschung“ 1931 als „Rheinische Forschungsgemeinschaft“ institutionalisiert worden, wobei als Leiter notabene der 1926 als IGL-Chef Aubin nachfolgende Franz Steinbach fungierte.309 In diesem Kontext konstituierten sich dann nach Bonner IGL-Muster weitere „westforschende“ landesgeschichtliche Institute wie das „Alemannische Institut“ und das „Oberrheinische Institut für geschichtliche Landeskunde“ in Freiburg, das „Wissenschaftliche Institut der Elsaß-Lothringer [!]“ in Frankfurt am Main, das „Saarpfälzische Institut“ in Kaiserslautern, das „Institut für fränkisch-pfälzische Geschichte“ in Heidelberg und nicht zuletzt das „Provinzialinstitut für westfälische Landes- und Volksforschung“ in Münster310, die in Zusammenarbeit mit der Leipziger „Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung“311, den ab 1931 von Reichsinnenministerium und Auswärtigem Amt betreuten „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ (zu denen auch die „Westdeutsche Forschungsgemeinschaft“ zählte), zahlreichen universitär verankerten Instituten und Einrichtungen und schließlich dann auch mit genuin nationalsozialistischen Stellen wie SS-“Ahnenerbe“ und Reichssicherheitshauptamt „Westforschung“ betrieben.312 Dabei wirkte die dergestalt nach Westen „greifende“, im Bonner IGL entwickelte „Kulturraumforschung“ schon zu Weimarer Zeiten als „politische Gegenaufklärung“ und stand – ironischerweise – exakt der politischen Philosophie des Westens entgegen313, was aber angesichts der Tatsache, dass die Vorstellung vom französischen „Erbfeind“ als Gründungsmythos von „Kulturraum-“, „Grenzland-“ und letztlich auch „Westforschung“ gelten muß, dann doch nicht weiter verwundert.314 Und angesichts der schon lange vor dem Nationalsozialismus existierenden deutschen Kulturarroganz gegenüber den slavischen Völkern – die durch die Gebietsabtretungen im
306 Vgl. allg. die Arbeiten von Fahlbusch, Haas und Oberkrome. 307 Vgl. – pars pro toto – Dietz (wie Anmerkung 33), der (auf S. 201) feststellt, dass die „West-“ und „Ostforschungserträge“ besonders vom „Ahnenerbe“ der SS und von der kultur- und auslandswissenschaftlichen Abteilung im Reichssicherheitshauptamt instrumentalisiert worden sind. 308 Vgl. ebenda, S. 200. 309 Am 27. Juli 1931 wurde die später als „Westdeutsche Forschungsgemeinschaft“ firmierende „Rheinische Forschungsgemeinschaft“ gegründet: vgl. Fahlbusch (wie Anmerkung 18), S. 353; Nikolay-Panter (wie Anmerkung 23), S. 249f., auch 255. Vgl. auch die Anmerkung 208. Vgl. zur „Westdeutschen Forschungsgemeinschaft“ im allg. Fahlbusch (wie Anmerkung 18), S. 350-440 (!). 310 Vgl. ebenda, S. 369-379; Dietz (wie Anmerkung 33), S. 202. Vgl. zum 1928 gegründeten Münsteraner Provinzialinstitut Ditt (wie Anmerkung 70), S. 85-95. 311 Die Dietz ebenda auf S. 202 als „Geburtsstätte“ der „Grenzlandforschung“ deklariert. 312 Vgl. ebenda, S. 202-205. Dietz weist ebenda (auf S. 202f.) darauf hin, dass sich bei den universitären Institutionen besonders Köln und hier der weiter oben schon (in Anmerkung 260) erwähnte Wirtschaftshistoriker Bruno Kuske „westforschend“ hervortaten. 313 Kleinknecht (wie Anmerkung 173), S. 61-66, wo der entsprechende Abschnitt mit „„Westforschung“ als politsche Gegenaufklärung“ betitelt ist. 314 Vgl. Schöttler (wie Anmerkung 2), S. 93. Siehe auch die Anmerkung 271.
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Osten nach 1918 nicht selten in blanken Haß umschlug315 – war es ebensowenig verwunderlich, dass die nach der Jahrhundertwende in den Leipziger Instituten von Lamprecht und Kötzschke gelehrte kulturhistorisch konfigurierte Landesgeschichtsschreibung seit etwa Mitte der 1920er Jahre mehr und mehr zu jener „Ostforschung“ mutierte, die weit weniger innovative Landesgeschichte als vielmehr nationalsozialistisch nuancierte „Volksgeschichte“ war, die den „Lebensraum-im Osten“-Phantasmagorien des Reichssicherheitshauptamtes und der SS bewußt und/oder unbewußt zuarbeitete.316 Insofern war Kötzschke wohl in der Tat ein „Nestor der multidisziplinären Ostforschung“317, dessen „Auswechslung“ im Jahre 1935 durch den wesentlich „völkischer“ disponierten Adolf Helbok318 wohl ebenso Zeichen des Übergangs zur „Volksgeschichte“ war wie die Berufung des – „völkischen“ – Soziologen (!) Hans Freyer auf den Leipziger Lehrstuhl für Kultur- und Universalgeschichte.319 Zu Recht sind die Jahre von 1930 bis 1935 als „Die Arrondierungsphase der Volksgeschichte“ bezeichnet worden320, was aber nicht allein anhand solcher Personalien verdeutlicht werden kann. Denn schon auf dem Frankfurter Historikertag von 1924 hatte die geschichtswissenschaftliche „Zunft“ dem „Kampf gegen Versailles“ gehuldigt und demzufolge eine „geschlossen affirmative Haltung“ gegenüber der „Heimatrecht“ und „Volksboden“ heiligenden „Kulturraumforschung“ à la Kötzschke und Aubin eingenommen321, die sich bis zum Göttinger Historikertag von 1932 – also im Jahr vor der „Machtergreifung“ ! – dahingehend änderte, dass nun ein formidabler Durchbruch der „völkischen“ Linie auf breiter Front zu beobachten war322: In der Tat hat die deutsche Geschichtswissenschaft in ihren „modernen“ Teilen schon vor der Machtübernahme die „Volksgeschichte“ entdeckt und so die Nationalsozialisten keineswegs mit „leeren Händen“ begrüßt, wie dies der (spätere) Münchner Ordinarius Karl Alexander von Müller 1933 so treffend beschrieben hat.323
315 Vgl. zur Kulturarroganz z.B. Oberkrome (wie Anmerkung 149), S. 123. Bereits 1921 hatte der Mediävist Karl Hampe von einem aufgrund der Kulturüberlegenheit zu initiierenden „Zug nach Osten“ fabuliert: zit. bei Schönwälder (wie Anmerkung 18), S. 100f. Auch Aubin sprach vom „Kulturgefälle“ zwischen West und Ost (zit. bei Wolf (wie Anmerkung 31), S. 292), wobei es im Zusammenhang mit Aubin wichtig ist zu wissen, dass dieser von seinen – negativen – Erfahrungen als Sudetendeutscher im neugegründeten tschechoslowakischen Staat tief geprägt worden ist (vgl. ebenda, S. 290f.). 316 Siehe Abschnitt IV. 317 So Oberkrome (wie Anmerkung 149), S. 130. Vgl. zu den Anfängen der „Ostforschung“ am Leipziger Landesgeschichtsseminar ebenda, S. 56-61. 318 „Zu naiv stolperte er [Kötzschke] über den Zeitgeist, den er sich zunutze zu machen können glaubte, als andere längst den [„Heimat“-] Begriff und mit ihm die kulturhistorische Landesgeschichte in andere [„volkshistorische“] Bahnen lenkten.“ Haas (wie Anmerkung 43), S. 344. Siehe zu Helboks „Wachablösung“ bes. Oberkrome (wie Anmerkung 149), S. 130-133. 319 Vgl. ebenda, S. 126-128. Im übrigen hatte sich auch Hermann Aubin Hoffnungen auf den Lehrstuhl von Walter Goetz gemacht, war aber u.a. daran gescheitert, dass die Leipziger Studentenschaft ihn als „SPD-Anhänger“ (!) „diffamiert“ hatte: vgl. Mühle (wie Anmerkung 24), S. 555. Schon seit seinem Ruf nach Gießen 1925 hatte sich Aubin dem „Deutschen Osten“ zugewandt, was sich nach der 1929 ergangenen (und angenommenen) Ruf nach Breslau naturgemäß noch intensivierte: vgl. ebenda, S. 553f., auch 567f. u. passim. 320 So die Kapitelbetitelung bei Oberkrome (wie Anmerkung 149), S. 102-170. 321 Ebenda, S. 92f. Siehe dort auf den S. 91-98 auch den Abschnitt „„Volks- und Raumgeschichte“ auf den deutschen Historikertagen 1924-1934“. Auch Blanke (wie Anmerkung 64) bemerkt (auf S. 563f.), dass seit spätestens seit Mitte der 1920er Jahre neben der Geschichte des Grenz- und Auslandsdeutschtums die Widerlegung der „Kriegsschuldlüge“ Schwerpunkt geschichtswissenschaftlicher Forschungsarbeit gewesen ist. 322 „(...) als Hermann Aubin mittels geographischer Motive befand, daß das Deutsche Reich einem Doppeldruck von Slaven und Romanen seit dem Mittelalter ausgesetzt gewesen sei.“ Fahlbusch (wie Anmerkung 18), S. 69, auch 793. Vgl. auch Wolfgang J. Mommsen (wie Anmerkung 12), S. 99f. 323 Schulze (wie Anmerkung 5), S. 70. Siehe auch den Beginn des Abschnittes I und dort die Anmerkungen 103 bis 107.
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IV. Garant einer „Gleichschaltung“ ? – Landesgeschichte als „Volksgeschichte“ „(...) der Historiker muß zum Pfaffen der Bewegung werden.“ Ein anonymer NS-Funktionär, zit. von Heinrich Rübel, 1938324 Dass ausgerechnet ein junger Landeshistoriker wie Rübel in seiner 1938 veröffentlichten – ortsgeschichtlichen – Dissertation über Die Bevölkerung von Monschau – Geschichte, Zustand und Entwicklungstendenz zumindest indirekt eine solch’ dezidiert nationalsozialistische Forderung erhob, war angesichts des Inhalts seiner die „Siedlungs- und Rassengeschichte des Hohen Venns“ auch anhand von Schädelmessungen behandelnden Doktorarbeit nicht überraschend und zeigte, auf welchen abschüssigen Weg sich die einstige „Kulturraumforschung“ und „Geschichtliche Landeskunde“ durch ihre Paradigmata wie „Volk“ und „Raum“ begeben hatte.325 Es ist bedrückend und bezeichnend zugleich, dass der Kölner Mediävist Gerhard Kallen in seiner Eigenschaft als Gutachter dieses „ahistorischen und in seinen Konsequenzen geradezu gefährlichen Machwerks“ die Note „Gut“ beantragte, womit er das vernichtende Votum des für die NSDAP im Reichstag sitzenden (!) Kölner Neuzeitlers Martin Spahn konterkarierte326 und sich so die gleiche gutachterliche Diskrepanz ergab, die – quasi eine Stufe höher – schon bei der am 31. Mai 1935 unter dem Titel Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich – Die fränkische Siedlung in Frankreich und in den Niederlanden und die Bildung der germanisch-französischen Sprachgrenze (Volkstum, Staat und Nation an der deutschen Westgrenze) eingereichten, über tausendseitigen Habilitationsschrift des „radikalsten“ IGL-Historikers Franz Petri zutage getreten war.327 Obwohl kein Schüler von Franz Steinbach – der am 22. Februar 1903 geborene und 1992 gestorbene Petri hatte 1925 bei dem alldeutsch ausgerichteten Dietrich Schäfer in Berlin (mit einer Arbeit über die evangelische Diakonie in Bremen !) promoviert328 – bildeten Steinbach und der (nur) sieben Jahre jüngere Petri ein kongeniales „Westforscher“Paar, dessen Werk im Zuge des seit dem Frankfurter Historikertag von 1998 zeitweise grassierenden moralischen Rigorismus als repräsentative „Symbiose von Landesgeschichte und nazistischer „Volksgeschichte“„ deklariert worden ist.329
324 Zit. bei Klaus Pabst: „Blut und Boden“ auf rheinische Art. Gerhard Kallen, der Nationalsozialismus und der „Westraum“. In: Dietz/Gabel/Tiedau (wie Anmerkung 10). S. 945-978, hier S. 960. 325 Nach seiner Promotion kehrte Rübel zum Rasse- und Siedlungshauptamt der SS (!) zurück und wurde 1942 zum „Sonderkommando K“ des „Ahnenerbe“-Forschers Bruno Beger abkommandiert, um für dessen obskure Schädelsammlung „Material“ unter den Häftlingen des KZ Auschwitz zu suchen. Nach 1945 lebte Rübel unangetastet in Augsburg. Vgl. ebenda, S. 963, ebenso S. 960 (auch die Anm. 100 u. 101). 326 Ebenda, S. 961 und – zur zumindest teilweise fragwürdigen Habilitationsschrift Petris – passim. Vgl. dazu auch Pitz (wie Anmerkung 297), passim. Vgl. zu Martin Spahn und seinem Kölner Lehrstuhl auch Elvert (wie Anmerkung 31), S. 114-117. 327 Vgl. Pitz (wie Anmerkung 297), S. 228 (auch Anm. 18), und Pabst (wie Anmerkung 324), der auf S. 958f. davon berichtet, dass Gerhard Kallen Petris Habilitationsschrift „außerordentlich positiv“ bewertete, während die anderen drei Gutachter mit Spahn an der Spitze „(...) nicht recht sehen [konnte], wie das, was er [Petri] bisher verfaßt hat, als Unterlage einer Habilitation auf dem Gebiet der Geschichte ausreichen sollte.“ Die Bezeichnung Petris als „radikalster“ IGL-Historiker findet sich bei Rusinek (wie Anmerkung 23) auf der S. 1151. 328 Vgl. Schöttler (wie Anmerkung 2), S. 97; Schönwälder (wie Anmerkung 18), S. 324 (Anm. 108); Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 465. 329 Schöttler (wie Anmerkung 2), S. 95. Im Verlaufe des im Text erwähnten moralisierenden Überschwanges glaubt Schöttler (auf den S. 92, 95 u. 106 (Anm. 16)) konstatieren zu können, dass Franz Steinbach seinen Nachlaß „bewußt vernichtet“ hat. Rusinek (wie Anmerkung 23) betont (auf der S. 1154 (auch Anm. 59)), dass Steinbach seinen Nachlaß nicht vernichtet, sondern lediglich Aussortierungen vorgenommen hat.
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Natürlich standen der seit 1926 als IGL-Leiter und seit 1928 als außerordentlicher Professor in Bonn fungierende Steinbach und der seit 1926 als wissenschaftlicher Assistent in Marburg und ab 1932 als Forschungs-Stipendiat in Belgien arbeitende Petri im Kontext seiner erwähnten Habilitationsschrift in ständigem Kontakt, und sicher sah der ältere Steinbach in Petri seinen „Wunschnachfolger“ im IGL, wo es 1961 ja auch zur Wachablösung im (einstigen) „Westforschungs“-Zentrum kam.330 Aber auch wenn beide darüberhinaus selbst ihre Arbeiten als Teil der in den dreißiger Jahren modernen „Volksgeschichte“ und akademischen Beitrag zum „Volkstumskampf“ betrachteten331 und Hitler bekanntermaßen „begeisterter Leser“ von Franz Petris Habilitationsschrift über das Germanische Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich gewesen ist332, sollte man nicht vorschnell hier „NS-Historie“ herauslesen zu können glauben.333 Zwar war Steinbach gewiß einer der „geistigen Mentoren“ der grenzüberschreitenden und -infragestellenden „Volkstumsforschung“, aber er war – wie Kallen (!)334 und im Gegensatz zu Petri335 – kein Mitglied der NSDAP336 und – was weiter unten detaillierter zu beleuchten sein wird – noch weit weniger der den innersten Kern des Nationalsozialismus ausmachenden „Rassenlehre“ verpflichtet, sondern im Gegenteil zuweilen sogar antirevisionistisch, wie sein in einem 1940 angefertigten Gutachten geforderter Verzicht auf ElsaßLothringen belegte.337 Insoweit vielmehr Reaktionär denn Nationalsozialist338, finden sich im Gegensatz zu Steinbach im Forschungswerk Petris durchaus rassistische Elemente, wenn er beispielsweise 1944 schrieb, „(…) dass die Wallonie neben anderem Erbgut auch ein bedeutendes germanisches Erbe in sich trägt“ und ‚die germanisch-romanische Sprachgrenze in Belgien gegen Osten so wenig wie gegen Norden eine unmittelbare Rassengrenze bilden‘ würde.339 Aber selbst den damals schon wissenschaftlich angefeindeten und heute als pulverisiert geltenden Thesen Petris340 muß in puncto „Rassenlehre“ eine ambivalente Position zugebilligt werden, hieß es doch in seiner eben zitierten Monographie von 1944 weiter, dass es „der weiteren Forschung (…) vorbehalten bleiben [muß], die Blutsanteile
330 Vgl. Pabst (wie Anmerkung 324), S. 965; Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 465f. u. 473; Schöttler (wie Anmerkung 2), S. 97. 331 Vgl. Schönwälder (wie Anmerkung 18), S. 100, 110f., auch 275 u. 277. 332 Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“ (wie Anmerkung 16), S. 317. Vgl. auch Nikolay-Panter (wie Anmerkung 23), S. 256, und Schulze/Helm/Ott (wie Anmerkung 5), S. 19; Schöttler (wie Anmerkung 2), S. 100f. 333 Siehe auch die Anmerkungen 83 und 84. 334 „Kallen war selbst niemals Mitglied der NSDAP, gab aber 1935 an, Mitglied des SA-Landsturms (S.A.L.), der NS-Volkswohlfahrt (NSV), der NS-Kulturgemeinde (Ortsgruppe Köln) und des NSLehrerbundes (N.S.L.B., später statt dessen der NS-Dozentenbund genannt) zu sein – also in typischen Mitläufer- und Standesorganisationen.“ Pabst (wie Anmerkung 324), S. 969. 335 Seit 1938 war Petri Mitglied der NSDAP: vgl. Schöttler (wie Anmerkung 2), S. 98. 336 Aber – analog zu Kallen (siehe Anmerkung 334) – seit 1934 Mitglied des NS-Lehrer- respektive – Dozentenbundes: vgl. Fahlbusch (wie Anmerkung 18), S. 355. Die Bezeichnung Steinbachs als „geistiger Mentor“ der „Volkstumsforschung“ ebenda, S. 350, dort (auf den S. 355-357) biographische Notizen zu Steinbach. 337 Vgl. Rusinek (wie Anmerkung 23), S. 1175f. Andererseits garantierte Steinbach in diesem Gutachten von seiten seiner „Westforschung“ der in Teilen durchaus rassistischen „Ostforschung“ entschiedene Unterstützung: vgl. ebenda, S. 1174, 1177 u. 1193. Schönwälder (wie Anmerkung 18) weist (auf S. 109f.) darauf hin, dass schon 1938/39 im IGL ein „Akzentwechsel“ stattgefunden hatte, nachdem man nun (sogar) Verständigungsbereitschaft gegenüber Frankreich und dem Westen favorisierte. 338 Vgl. Rusinek (wie Anmerkung 23), S. 1177 u. 1179. 339 Franz Petri: Holland, Flandern, Wallonien. Vorlande des Reiches [sic] im Nordwesten. Brüssel 1944, S. 95. Auch Schönwälder (wie Anmerkung 18) konstatiert (auf S. 107f., auch 326 (Anm. 128)), dass rassistische Elemente im Werk Petris zu finden seien. Noch dezidierter Schöttler (wie Anmerkung 2), S. 97-99, 103, 113 (Anm. 74) u. passim. 340 Vgl. ebenda, S. 102f., ebenso Pitz (wie Anmerkung 297), S. 233-245; Wolf (wie Anmerkung 31), S. 312 (Anm. 136) u. bes. Nikolay-Panter (wie Anmerkung 23), S. 256f.
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[des „germanischen Erbes“ der Wallonen] genauer zu ermitteln, falls ihr das jemals gelingen wird [kursiv von mir; H.W.].“341 Da sich das „Dritte Reich“ von Beginn an als „globale, blutsgebundene, dem Jus sanguinis verplichtete und von den allgemein anerkannten Staatsgrenzen abgekoppelte Volksgemeinschaft“ verstand342, schien der Schulterschluß zwischen der den Paradigmen „Volk“ und „Raum“ verpflichteten modernen „kulturräumlichen“ Landesgeschichte und den Nationalsozialisten stets nur eine Frage der Zeit zu sein, zumal Landeshistoriker wie Adolf Helbok nach 1930 begannen, anstelle von „Landeskunde“ und „Kulturraumforschung“ von „Volksgeschichte“ zu sprechen und nach 1933 nun explizit von „Volks-“, „Volkstums-“ und „Volkheitsgeschichte“ die Rede war.343 Schon vor 1933 hatte der Generaldirektor der preußischen Archive Albert Brackmann (1871-1952) als „institutionell wohl einflussreichster deutscher Historiker“ der frühen 1930er Jahre damit begonnen, ein weitgespanntes Netzwerk für den akademischen Angriff auf Polen zu knüpfen, was die Gründung von Institutionen wie die „Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft“ (NOFG), die „Publikationsstelle“ am preußischen Geheimen Staatsarchiv Berlin und die sogenannten „Arbeitsstellen“ in Posen, Königsberg und Breslau bewirkte.344 Im Zuge dieser von 1931 bis 1934 andauernden Gründungsphase der – bezeichnenderweise sogenannten – „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“345 entstanden des weiteren die schon vielfach erwähnte „Westdeutsche Forschungsgemeinschaft“346 und die späterhin unter der Leitung Otto Brunners mehr als eintausend Mitarbeiter zählende „Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft“, die mehr oder minder allesamt „einen germanozentrischen, slawenfeindlichen, antisemitischen [und] expansionstischen Kurs“ fuhren und durch die „Erfindung von Traditionen“ der Durchsetzung der nationalsozialistischen „Weltanschauung“ zugearbeitet haben.347 Angezogen von einem interdisziplinären Trio in Gestalt des Leipziger Soziologen Hans Freyer, des Königsberger Demographen und „Volkslehre-Apostels“ Gunther Ipsen und des ebenfalls in Königsberg lehrenden Historikers Hans Rothfels wirkten spätere bundesrepublikanische Geschichtswissenschaftsgrößen wie Werner Conze und Theodor Schieder am Beginn ihrer Karriere im Kontext einer „Volksgeschichte“348, deren Vertreter zu Beginn der 1990er Jahre als Vordenker der Vernichtung verdammt worden sind.349
341 Petri (wie Anmerkung 339), S. 95. Vgl. zu Petris „ambivalenter Position“ in puncto „Rassenlehre“ auch Wolf (wie Anmerkung 31), S. 311. Vgl. zu Petris Schriften auch ebenda, S. 311-314. 342 Fahlbusch (wie Anmerkung 18), S. 55. 343 Wie Anmerkung 248. Vgl. zur rasanten Durchsetzung des „Volks“-Paradigmas schon während der Weimarer Zeit Oberkrome (wie Anmerkung 149), S. 99. 344 Wolfgang J. Mommsen (wie Anmerkung 12), S. 101f. Vgl. explizit zu den landeskundlichen Instituten der NOFG Fahlbusch (wie Anmerkung 18), S. 188-212, auch Oberkrome (wie Anmerkung 149), S. 133146. Biographische Notizen zu Brackmann finden sich z.B. bei Fahlbusch (wie Anmerkung 18), S. 178181. 345 Ebenda, S. 65-73. 346 Siehe die Anmerkungen 309 u. 310. 347 Wehler (wie Anmerkung 175), S. 309f. Vgl. zur „Südostdeutsch-österreichischen Volkstumsforschung“ Oberkrome (wie Anmerkung 149), S. 146-151. 348 Wehler (wie Anmerkung 175), S. 311f. Vgl. auch Oberkrome (wie Anmerkung 258), S. 14f., und Hans Mommsen in Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 172f., des weiteren die Anmerkungen 22, 82, 255 u. 319. Es würde zu weit führen, hier einzelne Stationen der Lehrtätigkeit Conzes und Schieders aufzulisten; siehe deshalb stellvertretend Wolfgang J. Mommsen (wie Anmerkung 12), passim, auch Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 446 u. 469f. Schieder war 1934 nach Königsberg gegangen, um bei Rothfels zu habilitieren, was aber an seiner „halbjüdischen“ Herkunft letztlich scheiterte, so dass Schieder schließlich bei Brackmann habilitierte: vgl. Wehler (wie Anmerkung 175), S. 316f. 349 Götz Aly/Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Hamburg 1991, passim. Diese These vertrat Götz Aly noch auf dem Frankfurter Historikertag von 1998 (vgl. Wolfgang J. Mommsen (wie Anmerkung 12), S. 96). Vgl. hierzu auch Schulze/Helm/Ott (wie Anmerkung 5), S. 30, 38.
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Aber auch wenn ein solches Urteil besonders im Lichte der im letzten halben Jahrzehnt vorgelegten Forschungsleistungen insoweit abgeschwächt oder gar revidiert werden muß als junge Historiker wie Schieder und Conze zum Zeitpunkt ihrer Befürwortung von „Entjudungs-Aktionen“ Auschwitz nicht antizipieren konnten350 bleibt dennoch eine Linie, die von den Anfängen der „Volkstumsforschung“ zur Vernichtungspolitik führt.351 Ohne die an anderen Stellen detailliert dargestellte Ausformung und Ausbreitung „volksgeschichtlicher“ Innovationen und Institutionen seit der Mitte der 1930er Jahre hier beschreiben zu wollen352, mag der Verweis auf die Tatsache genügen, dass der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und die damit verbundene Besinnung des Nationalsozialismus auf seine ureigenste „Bestimmung“ in Gestalt genozidaler „Rassen-Reinigungs-“ und Weltreichsambitionen nun der „Volkswissenschaft“ die Möglichkeit bot, ihre Theorien in praxi zu testen und – willen- und unwillentlich und wissend und unwissendlich – der (NS-) „Macht“ dadurch näherzukommen.353 In jedem Fall spielten die „volksgeschichtlich“ orientierten „Ostforscher“ und auch die „Westforscher“ beim bereits 1940 beginnenden „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“ die ihnen vom nationalsozialistischen Reichserziehungsministerium zugedachte Rolle354, die die „ostforschenden“ NOFG-Historiker so dezidiert interpretierten, dass von einem „wissenschaftlichen Dienstleistungsunternehmen der SS“ gesprochen worden ist355, was wiederum die Frage provoziert, ob nicht die aus „Kulturraumforschung“ und „Landeskunde“ erwachsene „Volksgeschichte“ zumindest in Teilen jener „NS-Historie“ entspricht, die terminologisch nicht eben leicht zu fassen ist.356 Das entscheidende Kriterium dürfte dabei die Kompatibilität mit der nationalsozialistischen „Rassenlehre“ sein, die letztlich die Wasserscheide zwischen konservativem Revisionismus und nationalsozialistischem Expansionismus gewesen ist und den Weg nach Auschwitz gewiesen hat.357 Es war wohl kein Zufall, dass Vorzeige-“Volkshistoriker“ wie Aubin und Steinbach nicht Mitglied der NSDAP und ebensowenig Antisemiten gewesen sind358, was keineswegs verbietet, ihnen und vielen anderen „Volksforschern“ wie Conze, Keyser, Kötzschke, Maschke, Petri und Schieder u.a.m. „ethische Mängel“ und „politische Fehlleistungen“ vorzuwerfen.359
350 Vgl. z.B. ebenda, S. 104. Ähnlich Wehler in Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 254f., ebenso Rudolf Vierhaus ebenda auf der S. 85. 351 So das Resümée Fahlbuschs (wie Anmerkung 18), S. 796. 352 Siehe dazu das einschlägige Kapitel bei Oberkrome (wie Anmerkung 149), S. 171-219, und Fahlbusch (wie Anmerkung 18), S. 65-468 („Friedenseinsatz der Volkswissenschaften“). 353 Allzu bestimmt sprich Oberkrome (wie Anmerkung 258) auf S. 16 von der „ersehnten Möglichkeit“ für die „Volkswissenschaft“, nun das Fachwissen in den Dienst des nationalsozialistischen Expansionismus’ zu stellen. Siehe auch die Anmerkung 54. 354 Vgl. Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“ (wie Anmerkung 16), passim u. bes. S. 17-98; Schönwälder (wie Anmerkung 18), S. 209-216. Explizit zum „Kriegseinsatz“ der „Westdeutschen Forschungsgemeinschaft“ Fahlbusch (wie Anmerkung 18), S. 691-727, auch Oberkrome (wie Anmerkung 149), S. 217-219. Im übrigen wurde der politische Vorrang der „Ostforschung“ ohne Einschränkung von den „Westforschern“ anerkannt: vgl. Pabst (wie Anmerkung 324), S. 964 (Anm. 122). 355 So Oberkrome (wie Anmerkung 258), S. 14. 356 Siehe die Anmerkungen 83 und 84. 357 Siehe die Anmerkungen 77 bis 81 und 133 bis 156 respektive den dazugehörigen Text. Bezeichnenderweise erhoben die Nationalsozialisten sofort nach dem 30. Januar 1933 die „rassische“ Umdeutung der deutschen Geschichte und auch der Weltgeschichte zur „Forderung des Tages“: Bracher/Sauer/Schulz (wie Anmerkung 123), S. 311. 358 Vgl. für Aubin Mühle (wie Anmerkung 24), S. 559 u. 561f., ebenso die Anmerkung 113; für Steinbach die Anmerkungen 336 bis 338. 359 Wie dies Oberkrome (wie Anmerkung 166) auf S. 91 tut. Wolf zählt unter den 183 Geschichtsordinarien und planmäßigen Extraordinarien immerhin (oder: lediglich ?) 50 Nationalsozialisten: zit. bei Elvert (wie Anmerkung 31), S. 122.
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Natürlich rekurrierten besonders jüngere Forscher aus Karrieregründen immer wieder einmal auf den nationalsozialistischen „Rasse“-Begriff360, indem sie wie Theodor Schieder in seiner berühmt-berüchtigten „Polendenkschrift“ und Werner Conze in seinen „bevölkerungsgeschichtlichen“ Schriften Termini wie „Entjudung“ bedenkenlos benutzten361 oder wie Hans Joachim Beyer und Rudolf Craemer sich so tief der SS-Welt – im wahren Wortsinne – „verschrieben“, dass sich Jungforscher wie die letztgenannten nicht nur biographisch jener Generation des Unbedingten anschlossen, als die das junge hochrangige Führerkorps des Reichssicherheitshauptamtes so treffend bezeichnet worden ist.362 Und selbstredend klang der 1939 von Hermann Aubin an Albert Brackmann geschriebene Satz, nach der „die [Geschichts-] Wissenschaft nicht einfach warten kann, bis sie gefragt wird [und sich stattdessen] (…) selber zum Worte melden muß“363, zumindest aus heutiger Sicht nach vorauseilender Selbstgleichschaltung. War demnach also die Landesgeschichte als „Volksgeschichte“ ein Garant der „Gleichschaltung“ der Geschichtswissenschaft im „Dritten Reich“? Aber auch wenn die Vereinbarkeit von Raum- und Volkstheorien und NS-Eroberungsund „Rassen“-Politik durchaus keine Chimäre gewesen ist364, wird man doch konstatieren müssen, dass es nur sehr wenige deutsche Historiker gegeben hat, die wie Anrich, Botzenhardt, Franz, Maschke, Rassow oder Schramm Geschichte gemäß der nationalsozialistischen „Rassenlehre“ gedacht und geschrieben haben.365 Vielmehr ließen sich – wie Conze und Schieder – selbst die durchaus ethnische Flurbereinigungen befürwortenden „Volkshistoriker“ letztlich doch nicht zu volksmörderischen Vertretern einer reinen Pseudowissenschaft degradieren und instrumentalisieren, was auch daran ersichtlich wird, dass – beispielsweise – die landesgeschichtlichen Arbeiten eines Hermann Aubin oder Franz Steinbach bis heute Bestand haben und selbst „Ostforschungs“-Ergebnisse wie diejenigen aus der Feder von Werner Conze nicht grundsätzlich revidiert werden müssen.366 Dabei war es gewiß von Vorteil, dass der Nationalsozialismus keine „eigene“ Geschichtsauffassung gehabt respektive wegen Hitlers „hybridem Schöpfungsbewußtsein“ eine solche noch nicht einmal angestrebt hat367, wodurch die deutsche Geschichtswissenschaft – bis auf Walter Franks ephemerem und letztlich nur von ihm selbst ernstgenommenem „Reichsinstitut“ – gewissermaßen „außer Konkurrenz“ arbeitete und sich die Nationalsozialisten leidlich mit dem zufrieden geben mußten, was man ihnen vorlegte. Dies war besonders von seiten der „Volksgeschichte“ gewiß nicht wenig, und auch wenn sie sich nicht als „Vordenkerin der Vernichtungspolitik“ ganz in die ideologischen Fänge des Nationalsozialismus begeben hat, so war sie zwar einerseits hochgradig innovativ durch ihre Interdisziplinarität „unter Einschluß des gesamten Spektrums der Geistes-, 360 Vgl. Rusinek (wie Anmerkung 23), S. 1179f.; allgemeiner, aber ähnlich argumentierend Hans Mommsen in Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 181. 361 Vgl. Oberkrome (wie Anmerkung 258), S. 18; ders. (wie Anmerkung 166), S. 88; Wehler (wie Anmerkung 175), S. 318-324 u. passim. Schieder war i.ü. im Mai 1937 in die NSDAP eingetreten (vgl. ebenda, S. 321). Siehe auch die Anmerkung 3. 362 Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg 2002 (vgl. zu dieser „fundamentalen Studie“ die Rezension von Johannes Hürter in FAZ Nr. 57 v. 8.3.2003). Vgl. auch Oberkrome (wie Anmerkung 166), S. 88-91; ders. (wie Anmerkung 239), S. 202f.; ders. (wie Anmerkung 258), S. 20f. Auch Wehler (wie Anmerkung 175) plädiert (auf der S. 315) für eine Prosopographie „junger Rechtsintellektueller“ und weniger für die Biographie einzelner Historiker (im „Dritten Reich“). 363 Zit. bei Schulze/Helm/Ott (wie Anmerkung 5), S. 38. 364 Pars pro toto ebenda, S. 19f. Andererseits zeigte der nicht zu stillende Gebietshunger der Nationalsozialisten im Verlaufe des Zweiten Weltkrieges, „(…) daß die Anknüpfung an „Tradition“ [für die Nationalsozialisten] nicht Ziel, sondern Mittel war.“ Ditt (wie Anmerkung 70), S. 387. 365 Vgl. Wolf (wie Anmerkung 31), S. 287f. 366 Vgl. z.B. Oberkrome (wie Anmerkung 166), S. 86-88 u. 93-95. 367 Salewski (wie Anmerkung 136), S. 298. Vgl. auch ebenda, S. 302 u. 309, ebenso Werner (wie Anmerkung 30 (im Text)), S. 24. Siehe auch die Anmerkungen 133 bis 148 und den dazugehörigen Text.
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Kultur- und Gesellschaftswissenschaften“ und insofern höchst „modern“368, aber andererseits eben auch in hohem Maße irrational. Dadurch aber öffnete sie sich in unverantwortlicher Weise solch’ unwissenschaftlichen, ja unvernünftigen Begrifflichkeiten wie „Blut“ und „Boden“369 und letztlich dem „Rassen“-Ideologem, wodurch sie sich selbst dergestalt diskreditierte, dass nach 1945 eine Fortsetzung dieser Forschungsrichtung unmöglich schien.370 V. Diskreditiert auf Dauer“? – Landesgeschichte als Regionalgeschichte „Sanctus amor patriae dat animum.“ Hellmut Kretzschmar, 1951371 Traditionsbeladen und salbungsvoll unterstrich der Direktor des Sächsischen Landeshauptarchivs im eben zitierten Schlusssatz seiner in den BLÄTTERN FÜR DEUTSCHE LANDESGESCHICHTE erschienenen Abhandlung über die damals vordringlichen Fragen der Landesgeschichtsforschung, dass Begrifflichkeiten wie „Heimat“ und „Vaterland“ jene terminologische Fluchtburg bildeten, hinter der sich die Landeshistoriker noch lange Zeit vor der von Grund auf gewandelten gesellschaftlichen Situation zu verschanzen gedachten.372 Es zeugte nicht eben von übergroßer Bereitschaft zum Umdenken, wenn der bereits im September 1945 an das – von 1920 an die „Heimatliebe“ hegende – Bonner IGL zurückgekehrte373 Franz Steinbach 1956 respektive 1967 und noch 1978 (!) konstatierte, dass „das Heimatbewußtsein im deutschen Volk [sic] eine so starke Kraft [sei], daß die staatsbürgerliche Erziehung im Kampfe [sic] gegen Vermassung, Staatsverdrossenheit und müden Absentismus nicht ohne schweren Schaden darüber hinwegsehen kann.“374 Diktion und Duk368 Elvert (wie Anmerkung 31), S. 97. Diese Interdisziplinarität wurde auch von der zeitgenössischen „Zunft“ schon herausgestellt, wenn etwa Theodor Mayer (in Deutsche Wissenschaft (wie Anmerkung 138), S. 26-28) in seinem die „Volksgeschichte“ mitbehandelnden Artikel über die Wirtschaftsund Siedlungsgeschichte die nachgewiesene „Einheit von Siedlungs-, Volks- und Staatsgeschichte [sic]“ betonte (ebenda auf S. 27) und stolz bemerkte, dass bei der „Ostforschung“ ausnahmslos „(...) alle in Frage kommenden Wissenschaftszweige in mustergültiger Weise mitgewirkt“ hätten (ebenda). Es fällt i.ü. auf, dass in diesem von Walter Frank hrsg. Band die Landesgeschichte als solche nicht eigens behandelt wird, lediglich Geschichtswissenschaft, Wirtschafts- und Siedlungsgeschichte und Osteuropäische Geschichte werden abgehandelt. Auch Oberkrome (wie Anmerkung 166, dort auf S. 92-95) und Rudolf Vierhaus (in Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 86) sehen wie Elvert das interdisziplinäre Innovationspotenzial der „Volksgeschichte“, wohingegen Wolfgang J. Mommsen (ebenda auf der S. 210) glaubt, dass selbiges überschätzt wird. Ähnlich (ebenda auf der S. 275) auch Reinhard Rürup. 369 Schon 1932 hatte der hellsichtige Ernst Robert Curtius den Deutschen Geist in Gefahr gesehen: „Der Appell an das Irrationale ist eine sehr zweischneidige Sache. Denn er umfaßt nicht nur das, was höher ist als Vernunft, sondern auch das Untervernünftige und das Unvernünftige.“ Zit. bei Lepsius (wie Anmerkung 123), S. 127. Siehe auch die Anmerkungen 163, 251, 252 u. 277 bis 281. 370 Vgl. – pars pro toto – Oberkrome (wie Anmerkung 149), S. 218f. und den Schlußsatz auf der S. 229. 371 Hellmut Kretzschmar: Methodische Gegenwartsfragen der Landesgeschichtsforschung. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 88 (1951). S. 28-40, hier S. 40. 372 Vgl. ebenda, passim u. bes. S. 35. Vorländer (wie Anmerkung 160) weist auf S. 43 darauf hin, dass die fortwährende Konjunktur des „Heimat“-Begriffes nach 1945 natürlich auch auf der „verlorenen Heimat“ im Osten des einstige „Deutschen Reiches“ basierte. Vgl. allgemein zum oftmals bis heute pejorativ besetzten „Heimat“- und „Heimatgeschichts“-Begriff Klueting (wie Anmerkung 215), S. 53f., 69f., ebenso Arbeitsgruppe des Projektes „Regionale Sozialgeschichte“: Neue Regionalgeschichte: Linke Heimattümelei oder historische Gesellschaftsanalye ? Tendenzen zu einer neuen Regionalgeschichte. In: Das Argument 23 (1981). S. 239-252, hier S. 240-242. Vgl. auch Horst Wallraff: Nationalsozialismus in den Kreisen Düren und Jülich. Tradition und „Tausendjähriges Reich“ in einer rheinländischen Region 1933 bis 1945. Düren 22000, S. 4f. 373 Siehe die Anmerkung 257. 374 Franz Steinbach: Geschichtliche Landes- und Volkskunde. In: Fried (wie Anmerkung 19). S. 272-279, hier S. 278. Auf die im Text zitierte Stelle hebt auch Oberkrome (wie Anmerkung 258, dort auf S. 23) abe. Siehe auch die Anmerkungen 205, 206, 280 und 281.
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tus des „Völkischen“ blieben indes nicht nur im IGL-Umfeld die geläufige Gelehrtenterminologie, sondern in der gesamten deutschen Wissenschaftswelt weit verbreitet; man sprach „einfach wie immer“375 und dokumentierte dergestalt auch jene immer wieder genannte „Kontinuität“, die einen Schlüsselbegriff der historiographiehistorischen Diskussion des letzten Jahrzehnts darstellt.376 Denn gerade die Landeshistoriker zeigten sich nach 1945 oft unangemessen uneinsichtig, wenn beispielsweise der eben zitierte Franz Steinbach trotzig erklärte, dass „kein Historiker und kein Bußprediger uns [!] davon überzeugen [wird], dass wir [!] eine ‚unbewältigte Vergangenheit‘ hinter uns hätten.“377 Begünstigt wurde das bis weit in die 1960er Jahre bestehende „langfristig wirkende Schweigegelübde“ der Landeshistoriker378 von der personellen „Kontinuität“ des akademischen Lehrkörpers – immerhin waren alle Vorsitzenden des deutschen Historikerverbandes im Zeitraum von 1953 bis 1976 von mehr oder minder entstellenden „NS-Narben“ gezeichnet !379 – und diese wiederum von der berühmt-berüchtigten §131-Gesetzgebungspraxis, aufgrund derer Ende der 1950er Jahre sogar die kleine Gruppe der besonders belasteten und 1945 zunächst ausgeschlossenen Akademiker an die Universitäten zurückkehren durfte.380 Analog dazu hielten vor allem die Landeshistoriker nach 1945 ungeniert an ihren Forschungstraditionen fest und versuchten demgemäß wie Hermann Aubin mit der von ihm rasch revitalisierten „Ostforschung“, mittels der altbewährten „volkshistorischen“ Verfahren gesamtdeutsche Ansprüche in Preußen, Pommern und Schlesien wissenschaftlich zu rechtfertigen.381 Obwohl im Kontext des „Kalten Krieges“ nicht eben unerwünscht, gerieten diese – letztlich ja NS-diskreditierten – Denkmuster in den 1960er Jahren dennoch in eine Legitimationskrise382, weshalb man nun eine Metamorphose von der „Volksgeschichte“ zur „Sozial-“ und „Strukturgeschichte“ in Gang zu bringen versuchte.383 Es mag hier unerörtert bleiben, ob und in welchem Maße es eine solche „Züchtung“ gegeben hat; fest steht, dass die volksgeschichtliche „Larve“ und der sozial- und strukturgeschichtliche „Schmetterling“ einige Gemeinsamkeiten wie Interdisziplinarität und komparative Methoden, aber noch weit mehr Gegensätze wie die völlig verschiedene Thematisierung von Modernität und sozialen Konflikten und Klassen aufweisen.384
375 Rusinek (wie Anmerkung 23), S. 1181f. 376 Der gleichwohl – wie in Anmerkung 100 bereits erwähnt – bis heute nicht adäquat definiert worden ist. Vgl. auch Rusinek (wie Anmerkung 23), passim, ebenso die Anmerkungen 253 bis 260. 377 Zit. bei Rusinek (wie Anmerkung 23), S. 1145. 378 Oberkrome (wie Anmerkung 258), S. 21. Vgl. auch Ditt (wie Anmerkung 70), S. 392f. 379 In der Reihenfolge Aubin, Rothfels, Erdmann, Schieder und Conze: vgl. Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), S. 32 u. 515. Hans Mommsen spricht (ebenda auf der S. 183) für die Zeit von 1945 bis 1965 von einer „Vorherrschaft alter Männer“, und auch sein Bruder Wolfgang J. Mommsen betont (ebenda auf der S. 211) ebenso wie Hans-Ulrich Wehler (ebenda auf S. 258) die extrem hohe personelle „Kontinuität“. Siehe zu den o.a. genannten Historikerverbandsvorsitzenden auch Wolfgang J. Mommsen (wie Anmerkung 12), passim. 380 Unter denen die landeshistorisch aktiven Historiker wie beispielsweise Otto Brunner, Werner Conze und Franz Petri zahlreich vertreten waren: Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), die dort (auf S. 31) auch die wenigen Wissenschaftler wie Wilhelm Mommsen oder Karl Alexander von Müller auflisten, die dauerhaft vom Lehrbetrieb ausgeschlossen blieben. Vgl. zum § 131 z.B. Schulze/Helm/Ott (wie Anmerkung 5), S. 14, und Schulzes Editorial in GWU (wie Anmerkung 5), S. 69. Vgl. auch Weisbrod (wie Anmerkung 4), passim und S. 278, der dort von einer wissenschaftlichen „Persilscheinkultur“ spricht. 381 Vgl. Oberkrome (wie Anmerkung 258), S. 22f.; ders. (wie Anmerkung 149), S. 220f.; Flügel (wie Anmerkung 98), S. 6. 382 Vgl. Fahlbusch (wie Anmerkung 18), S. 784. 383 Vgl. die Anmerkungen 174, 175, 254 bis 256. 384 Vgl. „Gegenüberstellungen“ beispielsweise bei Oberkrome (wie Anmerkung 258), S. 224-229 oder bei Rusinek (wie Anmerkung 23) auf den S. 1157-1159. Vgl. zu der Frage, ob die „Volksgeschichte“als
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Für die Landesgeschichte jedenfalls begann die Abnabelung von der „Volksgeschichte“ nicht zuletzt mit ihrer Hinwendung zur Erforschung des „Nationalsozialismus in der Region“, der ja bis weit in die 1980er und sogar 1990er Jahre hinein freies Forschungsfeld blieb385 und wodurch der Übergang von der traditionellen „Landesgeschichte“ hin zur „modernen Regionalgeschichte“ (und zu einer „Landeszeitgeschichte“) wesentlich befördert worden ist.386 Analog zu dieser gewünschten „Regionalen Zeitgeschichte“387 und „Landeszeitgeschichte“388 wurde im Kontext der seit den 1970er Jahren einsetzenden Konjunktur der Kleinräumigkeit innerhalb der Forschung389 die „Region“ ein immer beliebteres Sujet390 und so die ursprünglich – zu Beginn der sechziger Jahre – in der DDR geprägte (und deshalb von der bundesrepublikanischen Historiographie zunächst gemiedene) „Regionalgeschichte“ eine weitere landeshistorische Methode391, die seither freilich immer wieder Gefahr läuft, besonders von den „Bindestrich-Bundesländern“ und deren historischer „Sinngebungspraxis“ instrumentalisiert zu werden.392 Dabei lag es nahe, dass schon bald dafür plädiert wurde, den vielleicht nur vermeintlichen Gegensatz von älterer – deshalb nicht zwangsläufig „antiquierter“ – Landesgeschichte und neuerer, nicht a priori „moderner(er)“ Regionalgeschichte durch eine „Landes- und Regionalgeschichte“ aufzulösen und damit dem zunehmenden „Pluralismus landesgeschichtlichen Arbeitens“393 Rechnung zu tragen, was spätestens im Gefolge der politischen Wende von 1989 immer dringlicher wurde, da bis zu diesem Zeitpunkt drei landeshistorische Forschungsrichtungen in Form der traditionellen Landesgeschichte, der bundesdeutschen Regionalgeschichte und der „DDR-Regionalgeschichte“ existierten.394 Die diesem Sammelband zugrundeliegende „kulturalistische Wende“ nun markiert zugleich auch das vorerst letzte Wegstück der Regional- und Landesgeschichte, auf wel-
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unmittelbare Vorläuferin der „Struktur- und Sozialgeschichte“ gesehen werden darf, die Interviews bei Hohls/Jarausch (wie Anmerkung 6), passim. Vgl. Ulrich von Hehl: Nationalsozialismus und Region. Bedeutung und Probleme einer regionalen und lokalen Erforschung des Dritten Reiches. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 56 (1993). S. 111-129, hier S. 116. Als Beipiel für die bis in die 1990er Jahre bestehende Brache Wallraff (wie Anmerkung 372), passim. Vgl. von Hehl (wie Anmerkung 385), S. 116f., der aber besonders im Rahmen der NS-Forschung wenig von diesem Gegensatz von „Landesgeschichte“ und „Regionalgeschichte“ hält und stattdessen in Anlehnung an Heinrich Küppers (siehe dessen Aufsatz in GiW von 1992) für den Terminus „Landeszeitgeschichte“ plädiert (ebenda, S. 116-118). So Ernst Hanisch: Regionale Zeitgeschichte. Einige theoretische und methodologische Überlegungen. In: Zeitgeschichte 7 (1979/1980). S. 39-60, passim. Siehe die Anmerkung 386. Vgl. beispielsweise Eike Hennig: Regionale Unterschiede bei der Entstehung des deutschen Faschismus. Ein Plädoyer für „mikroanalytische Studien“ zur Erforschung der NSDAP. In: Politische Vierteljahresschrift XXI (1980). S. 153-173, passim u. bes. S. 153f. Vgl. auch Albrecht (wie Anmerkung 193), S. 597f. „Die Region ist attraktiv geworden (...).“ So Otto Dann: Die Region als Gegenstand der Geschichtswissenschaft. In: AfS XXIII (1983). S. 652-661, hier S. 652. Vgl. auch Heinz Gollwitzer: Zum deutschen Regionalismus des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Alfred Hartlieb von Wallthor/Heinz Quirin (Hrsg.): „Landschaft“ als interdisziplinäres Forschungsproblem. Vorträge und Diskussionen des Kolloquiums am 7./8. November 1975 in Münster. Münster 1977. S. 54-58, passim. Vgl. zur Dichotomie von „Region“ und „Raum“ beispielsweise Engelbrecht (wie Anmerkung 181), S. 17f. Küppers (wie Anmerkung 386) zufolge basiert die „Region“ auf einem „geschmeidigeren Verständnis von Raum“. Vgl. auch Buchholz (wie Anmerkung 178), S. 49-58. Vgl. ebenda, S. 27-34; Albrecht (wie Anmerkung 193), S. 603; Hinrichs (wie Anmerkung 177), S. 539, 541f. So Arno Mohr: Landesgeschichte als Politikum. Zur Funktion der Landesgeschichtsschreibung in den Bundesländern. In: GiW 7 (1992). S. 14-22, passim. Ähnlich auch Oberkrome (wie Anmerkung 258), S. 30-32; Albrecht (wie Anmerkung 193), S. 602. Buchholz (wie Anmerkung 178), S. 14. Schon 1979 hatte Karl-Georg Faber die Annäherung von (westdeutscher) Regionalgeschichte und Landesgeschichte gefordert: vgl. ebenda, S. 47, ebenso S. 48-55, 59f. Vgl. auch Hinrichs (wie Anmerkung 177), S. 539f., 551f. Vgl. Buchholz (wie Anmerkung 178), S. 16.
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chem – nicht zuletzt in der Folge eines erstmals in den achtziger Jahren geforderten „totalitätsbezogenen Forschungsdesign“ gemäß der französischen „histoire totale“395 – Landes-, Regional- und Stadtgeschichte im Zeichen der neuen, alten Kulturwissenschaften zu einer Kooperation zusammengefunden haben, die Karl Lamprecht erstaunen würde und die vielleicht vergessen helfen wird, wie sehr sich die Landesgeschichte einst durch die „Volksgeschichte“ diskreditiert hat.
395 Vgl. Hennig (wie Anmerkung 389), S. 168; Dann (wie Anmerkung 390), S. 653. Schlögel (wie Anmerkung 40) hat (auf S. 265) unlängst darauf hingewiesen, dass die vielen „turns“ in den Kulturwissenschaften „(...) den Weg zur Wiederkehr der histoire totale pflastern“ könnten.
OSTEUROPÄISCHE GESCHICHTE UND OSTFORSCHUNG HANS-CHRISTIAN PETERSEN UND JAN KUSBER Die kritische Aufarbeitung der eigenen Tradition seitens der verschiedenen akademischen Disziplinen hat Konjunktur. In zunehmendem Maße sind in jüngster Zeit wissenschaftsgeschichtliche Untersuchungen erschienen, in denen nach dem Verhältnis von Wissenschaft und zeitgenössischer politischer Praxis gefragt wird, wobei die Jahre 1933 bis 1945 den zeitlichen Schwerpunkt der Publikationen und der sie begleitenden Debatten bildeten. Dies gilt nicht zuletzt für die deutsche Ostforschung, hinsichtlich derer sich der Forschungsstand inzwischen deutlich verbreitert und verbessert hat, ohne dass die inhaltlichen Differenzen deshalb jedoch unbedingt geringer geworden wären.1 Die Disziplinengeschichte der Osteuropäischen Geschichte hat hingegen deutlich weniger Aufmerksamkeit erfahren, was auch darin begründet liegen dürfte, dass das Jahr 1933 für die Osteuropahistoriographie im Vergleich zur Ostforschung wesentlich mehr Zäsur als Kontinuität darstellte und sich entsprechend weniger Bezugspunkte zur nationalsozialistischen Besatzungs- und Vernichtungspolitik im östlichen Europa finden lassen. Dabei hat die nach den politischen Umbrüchen 1989/90 und dem Ende der Sowjetunion im Dezember 1991 geführte Debatte über die Zukunft der Osteuropäischen Geschichte gezeigt, wie aktuell die Frage nach dem Selbstverständnis eines Faches ist, das in seiner Genese stets in einem engen Bezug zur zeitgenössischen Politik stand.2 Selbstverständnis ist hierbei an einen kritischen Rückblick auf die eigene Geschichte gekoppelt – deren Aufarbeitung weist jedoch nach wie vor noch zahlreiche weiße Flecken auf. Der folgende Beitrag soll einen Überblick über die beiden Untersuchungsfelder der Osteuropäischen Geschichte und der Ostforschung bieten und sie zugleich verbinden, um derart Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihnen aufzuzeigen.3 Analytische Grundlage ist hierbei im Anschluss an Klaus Zernack4 und Christoph Kleßmann5 die begriffliche Unterscheidung zwischen einer universitär verankerten Osteuropäischen Geschichte, deren Ursprünge im deutschen Kaiserreich liegen und die grundsätzlich die Völker und Staaten Mittel- und Osteuropas als gleichwertige Subjekte betrachtete, und einer sich primär außeruniversitär entwickelnden Ostforschung, welche als interdisziplinärer Forschungsverbund in Frontstellung gegen das „Versailler System“ nach dem Ersten Weltkrieg entstand und aus einem deutschtumszentrierten Blickwinkel ihren östlich liegenden Untersuchungsgegenstand nur als Objekt deutscher Interessen begriff.6 Diese idealtypische Differenzie1
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Namentlich Martin Burkert hat sich mit seiner in weiten Teilen apologetisch argumentierenden Darstellung bewusst konträr zu fast allen einschlägigen Publikationen positioniert: Burkert, Martin, Die Ostwissenschaften im Dritten Reich, Teil I: Zwischen Verbot und Duldung. Die schwierige Gratwanderung der Ostwissenschaften zwischen 1933 und 1939, Wiesbaden 2000; vgl. hierzu die Rezension von Dietrich Geyer, Ostforschung im Dritten Reich. Bemerkungen zu einem „Persilschein“ in Langform, in: Osteuropa 51 (2001), S. 733-739. Creuzberger, Stefan u.a. (Hg.), Wohin steuert die Osteuropaforschung? Eine Diskussion, Köln 2000. Verwiesen sei diesbezüglich ebenfalls auf: Oberländer, Erwin (Hg.), Geschichte Osteuropas. Zur Entwicklung einer historischen Disziplin in Deutschland, Österreich und der Schweiz 1945-1990, Stuttgart 1992; Kappeler, Andreas, Osteuropäische Geschichte, in: Maurer, Michael (Hg.), Aufriss der Historischen Wissenschaft, Bd. 2: Räume, Stuttgart 2001, S. 198-266. Zernack, Klaus, Bemerkungen zur Geschichte und gegenwärtigen Lage der Osteuropahistorie in Deutschland, in: Grothusen, Klaus-Detlev/Zernack, Klaus (Hgg.), Europa Slavica – Europa Orientalis. Festschrift Herbert Ludat, Berlin 1980, S. 542-561. Kleßmann, Christoph, Osteuropaforschung und Lebensraumpolitik im Dritten Reich, in: Lundgreen, Peter (Hg.), Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt/Main 1985, S. 350-383. Die hier benutzte Definition und zeitliche Einschränkung weicht ab von Begriffsbildungen, wie sie sich andernorts, etwa in Ostmitteleuropa, durchgesetzt haben. Peter Roubal benutzt den Terminus Ostforschung bereits für eine universitär institutionalisierte Slavistik, die durch politikberatende Forschung ih-
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rung dient zunächst lediglich der Strukturierung der folgenden Ausführungen – inwieweit sie mit der Praxis kompatibel ist, wird zu prüfen sein. Der zeitliche Rahmen der Darstellung wird sich hierbei vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Bundesrepublik erstrecken, wobei der Schwerpunkt gemäß der Konzeption des Handbuches auf der nationalsozialistischen Herrschaft im Deutschen Reich liegen wird. Gleichwohl soll sowohl die vorhergehende als auch die nachfolgende Entwicklung beleuchtet werden, um die Jahre 1933 bis 1945 zu kontextualisieren und somit die Frage nach Brüchen, Wandlungen und Kontinuitäten stellen zu können, die über historiographische Zäsuren hinweg verlaufen. Die Anfänge der Osteuropäischen Geschichte Nimmt man das Kriterium der universitären Institutionalisierung als Maßstab für die Etablierung eines Faches im akademischen Betrieb,7 so stellt das Jahr 1892 die erste Wegmarke dar: In diesem Jahr erhielt Theodor Schiemann ein Extraordinariat für Osteuropäische Geschichte an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, aus dem sich dann das Seminar für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde entwickelte, dem Schiemann ab 1902 als ordentlicher Professor vorstand.8 1907 folgte die Gründung des Seminars für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien, das von dem tschechischen Balkanologen Joseph Konstantin Jireček geleitet wurde, wobei die Einrichtung des Seminars maßgeblich auf Hans Uebersberger zurückging.9 Damit datieren die Anfänge der institutionalisierten Beschäftigung mit der Geschichte Osteuropas etwa sechzig Jahre nach der Errichtung des ersten Lehrstuhls für Slawistik 1841 in Breslau und rund eineinhalb Jahrhunderte später als der Beginn einer separierten allgemeinen Geschichtswissenschaft im deutschsprachigen Raum; dies lag nicht zuletzt in der Tradition des deutschen Historismus begründet, dessen Geschichtsbild maßgeblich durch Leopold von Rankes These geprägt war, dass nur die „romanischen und germanischen Völker“ kulturfähig seien, während die Slawen ebenso wie die nicht-staatenbildenden Völker von dieser „Entwicklung“ ausgeschlossen wurden.10 Die Gründe für die „erstaunliche Verdichtung der Anfänge“11 um die Jahrhundertwende sind vor allem in der zeitgenössischen politischen Entwicklung zu suchen: Die im deutschrussischen Zollkrieg sowie der Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages mit Russland durch das Deutsche Reich 1890 zum Ausdruck kommende Verschlechterung des deutsch-russischen Verhältnisses hat ebenso wie das Drängen des Deutschen Reiches zur „Weltpolitik“ im Zeichen des Imperialismus dazu beigetragen, dass die Gründung des Berliner Seminars auf reges Interesse im Auswärtigen Amt und in der Reichskanzlei traf und
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rer Marginalisierung zuvor kommen wollte; vgl. Roubal, Peter, Suspicious Slavonic Studies: The Case of Francis Dvorniks „The Slavs in European History and Civilization“, in: Prague Perspectives (I). The History of East Central Europe and Russia, hg. von Peter Roubal and Vaclav Veber , Prag 2004, S. 3038, hier S. 31 f. Nicht erfasst werden damit weiterhin vorhandene einzelne Lehrende wie Leopold Karl Goetz in Bonn, der sich als Kirchenhistoriker zwar nicht gemäß seinem offiziellen Lehrauftrag, aber sehr wohl faktisch schwerpunktmäßig mit der mittelalterlichen Geschichte Russlands befasste. Vgl. hierzu ausführlich Kuebart, Friedrich, Zur Entwicklung der Osteuropaforschung in Deutschland bis 1945, in: Osteuropa 30 (1980), S. 657-672; Camphausen, Gabriele, Die wissenschaftliche historische Russlandforschung in Deutschland 1882-1933, in; Forschungen zu osteuropäischen Geschichte 42 (1989), S. 7-109; Stökl, Günther, Das Studium der Geschichte Osteuropas bis 1933, in: Oberländer, Geschichte Osteuropas, S. 3-12; Voigt, Gerd, Russland in der deutschen Geschichtswissenschaft 18431945, Berlin 1994. Detailliert hierzu Leitsch, Walter/Stoy, Manfred, Das Seminar für osteuropäische Geschichte der Universität Wien 1907-1948, Wien u.a. 1983. Ranke, Leopold von, Geschichte der romanischen und germanischen Völker, in: Leopold von Ranke’s sämtliche Werke, dritte Gesamtausgabe, Leipzig 1885. Stökl, Studium, S. 5.
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maßgeblich durch diese Stellen befördert wurde. Diese enge Bindung des Faches an die politischen Entscheidungsträger kommt entsprechend auch in der Person Schiemanns zum Ausdruck, der als gebürtiger Deutschbalte über gute Beziehungen zum Kaiserhof verfügte und einem stark deutschnationalen Weltbild anhing, das mit einem entsprechend negativ konnotierten, völkischen Russlandbild einherging.12 Ein ähnlich symbiotisches Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Institutionalisierung und Politik lässt sich in diesem Umfang für Wien nicht konstatieren, aber auch dort waren personelle Verbindungen sowie gegenwartspolitische Interessen von maßgeblicher Bedeutung; hierfür steht exemplarisch die Person Hans Uebersbergers, der 1915 neben Jireček zum zweiten Direktors des Seminars avancierte. Uebersberger profitierte von seinen guten Kontakten zu dem Diplomaten Fürst Franz von und zu Liechtenstein und vertrat ein ähnliches deutschnationales Weltbild wie Schiemann. Mit seinem Aufstieg verengte sich jetzt analog zu Berlin auch in Wien das Untersuchungsfeld der Osteuropäischen Geschichte auf Russland, während Jireček vorher noch eine breitere, Südosteuropa in den Blick nehmende Konzeption vertreten hatte. Diese für die Anfänge der Osteuropäischen Geschichte konstitutive Verbindung von Politisierung und einer negativ grundierten Beschränkung des Blickwinkels auf Russland ist von Zernack mit dem vielzitierten Begriff der „borussischen Tradition“ des Faches charakterisiert worden.13 Am Berliner Seminar wurde 1913 ein weiteres Extraordinariat eingerichtet, das mit Otto Hoetzsch besetzt wurde. Hoetzsch, der 1920 zum ordentlichen Professor berufen wurde und sich zum bedeutendsten Osteuropahistoriker der Zwischenkriegszeit im deutschsprachigen Raum entwickelte, hatte bei dem Sozialhistoriker Karl Lamprecht promoviert und beschäftigte sich ebenso wie Schiemann fachlich primär mit der Geschichte Russlands. Im Gegensatz zu diesem vertrat er jedoch eine Politik des Ausgleichs mit Russland bzw. der Sowjetunion, was sich bei ihm mit einer stark anti-polnischen Stoßrichtung verband.14 Diese an die Rapallo-Politik des Deutschen Reiches erinnernde Konzeption wurde von Hoetzsch, Mitglied des antisemitischen „Kyffhäuser-Verbandes der Vereine deutscher Studenten“, des „Alldeutschen Verbandes“ sowie des „Ostmarkenvereins“, nicht nur publizistisch vertreten, sondern ebenso in seiner Funktion als außenpolitischer Experte der DNVP-Fraktion im Reichstag.15 Insgesamt gelang es der Osteuropäischen Geschichte in der Weimarer Republik nicht, sich auf breiter Basis an den Hochschulen zu etablieren. Das Studium der Geschichte Osteuropas war nur an sechs der 23 existierenden Universitäten möglich: Außer Berlin, wo neben Hoetzsch seit 1920 Karl Stählin als Nachfolger Schiemanns tätig war, galt dies für Bonn (Leopold Karl Goetz), Hamburg (Richard Salomon), Leipzig (Friedrich Braun und Georg Sacke), Königsberg (Martin Winkler) sowie Breslau (Erdmann Hanisch). Darüber hinaus wurde eine neue Folge des erstmals 1910/11 begründeten Fachorgans der Osteuropahistoriker, der „Zeitschrift für Osteuropäische Geschichte“, aufgenommen und die Tätigkeit der 1913 als „Deutsche Gesellschaft zum Studium Russlands“ ins Leben gerufenen Vereinigung unter dem veränderten Titel „Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuro12
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Vgl. beispielsweise die Einleitung Schiemanns in: De moribus Ruthenorum. Zur Charakteristik der russischen Volksseele. Tagebuchblätter aus den Jahren 1857-1873 von Victor Hehn, herausgegeben von Theodor Schiemann, Stuttgart 1892; zur Person Schiemanns: Bohn, Thomas, Theodor Schiemann. Historiker und Publizist, in: Ostdeutsche Gedenktage 1997. Persönlichkeiten und Historische Ereignisse, Bonn 1996, S. 141-146. Zernack, Bemerkungen. Vgl. hierzu Liszkowski, Uwe, Geschichte und Politik Polens in der Auffassung Otto Hoetzschs, in: Studia Historica Germanica XVI-1987 (1991), S. 3-36. Zu Hoetzsch liegen zwei ausführliche Biographien vor: Voigt, Gerd, Otto Hoetzsch 1876-1946. Wissenschaft und Politik im Leben eines deutschen Historikers, Berlin 1978; Liszkowski, Uwe, Osteuropaforschung und Politik. Ein Beitrag zum historisch-politischen Denken und Wirken von Otto Hoetzsch, 2 Bde, Berlin 1988.
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pas“ reaktiviert, woraus unter anderem die unter der Gesamtleitung von Otto Hoetzsch stehende Publikation der Zeitschrift „Osteuropa“ folgte, welche eine stärker gegenwartsbezogene Ausrichtung hatte. Ab 1925 gab Hanisch in Breslau darüber hinaus die „Jahrbücher für Kultur und Geschichte der Slawen“ heraus.16 Die Namensänderung bei der Gesellschaft von „Russland“ zu „Osteuropa“ korrespondierte nur bedingt mit einer tatsächlichen Weitung des Blickwinkels der Osteuropahistoriographie: Der Fokus in Lehre, Forschung und Publikationen lag unverändert auf der russischen respektive sowjetischen Geschichte, wobei jetzt als zweiter Schwerpunkt die Beschäftigung mit Polen hinzutrat; andere Gebiete Osteuropas fanden eher in Wien oder Prag, wo Josef Pfitzner und Eduard Winter Ordinariate inne hatten, Beachtung und blieben insgesamt eine Domäne der Slawistik. Von Letzterer stammt entsprechend auch eine kritische Programmschrift, in der die Gleichsetzung von osteuropäischer und russischer Geschichte kritisiert und eine Verbindung von Slawistik und Osteuropäischer Geschichte eingefordert wurde; als primäres Ziel wurde eine Wissenschaft proklamiert, die „von aller politischen und nationalistischen Einstellung absieht und sich Manns genug fühlt, auch solche Problem wissenschaftlich anzurühren, die Kreisen des deutschen Volkes mit besonderen wirtschaftlichen und politischen Aspirationen unsympathisch sind.“17 Diese Kritik blieb in der Zunft der Osteuropahistoriker weitgehend ohne Resonanz; vielmehr steht der Name Hoetzschs zwar symbolisch für einen Wandel der borussischen Tradition, in dessen Folge Russland bzw. die Sowjetunion nicht mehr als Gegner gesehen wurde, aber dies war die Konsequenz des Umstandes, dass Polen jetzt den Platz des „Erzfeindes“ eingenommen hatte. Der hohe Grad an Politisierung des Faches blieb unverändert und verband die Osteuropäische Geschichte ebenso wie die anti-polnische Stoßrichtung mit der sich in Folge des Ersten Weltkriegs entwickelnden deutschen Ostforschung. Beginn und Aufstieg der Ostforschung Im Gegensatz zur Osteuropäischen Geschichte, die während der Zwischenkriegszeit ein „Stiefkind der Wissenschaft“18 blieb, wurde die Ostforschung in der Weimarer Republik an mehreren Stellen mit tatkräftiger Förderung verschiedener Reichsministerien aufgebaut. Den Gründungsimpuls dieses neuen Forschungsverbundes stellte hierbei die im Deutschen Reich weit verbreitete Ablehnung der Ergebnisse des Friedensvertrages von Versailles dar, in dessen Folge das Deutsche Reich rund ein Siebtel seiner Fläche und etwa 10% seiner Bevölkerung abtreten musste. Als Reaktion hierauf entwickelte sich analog zu der nach Westeuropa ausgreifenden deutschen Westforschung die zunächst vor allem gegen Polen gerichtete Ostforschung, die jedoch sehr bald ihren reaktiven Charakter ablegte und Gebietsansprüche weit über die Vorkriegsgrenzen des Deutschen Reiches hinaus proklamierte. Zum konzeptionellen Zentrum der Ostforschung entwickelte sich die 1926 gegründete „Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung“ in Leipzig, die vom Reichsministerium des Innern (RMdI) sowie dem Auswärtigen Amt (AA) finanziert wurde. Ziel der Stiftung war es, den „deutschen Volks- und Kulturboden“ zu erforschen und die Ergebnisse den Ministerien zur Verfügung zu stellen sowie mittels Tagungen und Publikationen in
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Eine ausführliche Übersicht über die Osteuropäische Geschichte in der Zwischenkriegszeit liefert Camphausen, Russlandforschung 1882-1933. Schmid, Heinrich-Felix/Trautmann, Reinhold, Wesen und Aufgaben der deutschen Slavistik. Ein Programm, Leipzig 1927, S. 73. Kleßmann, Osteuropaforschung, S. 355.
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der Fachwissenschaft bekannt zu machen.19 Das diesen Forschungen zugrunde liegende Konzept hatte der spätere Leiter der Stiftung, der Geograph Albrecht Penck, bereits 1925 in einem vom Karl Christian von Loesch, dem Vorsitzenden des „Deutschen Schutzbundes für das Grenz- und Auslanddeutschtum“ herausgegebenen programmatischen Sammelband entwickelt. Nach Penck stellte das „Volk“ die zentrale Größe des geschichtlichen Prozesses dar, aus der sich entsprechend auch die zukünftigen deutschen Gebietsansprüche ableiteten; Staaten stellten demgegenüber nur untergeordnete Verwaltungseinheiten dar. Penck unterschied hierbei zwischen dem „Volksboden“, den er überall dort erblickte, „wo deutsches Volk siedelt“20, und dem „Kulturboden“, der nach Peck soweit reichte, wie sich Spuren „deutscher Kultur“ nachweisen ließen: „Der deutsche Kulturboden ist die größte Leistung des deutschen Volkes. […] Die Inseln deutschen Volksbodens, die weitab von dessem mitteleuropäischem Hauptgebiete liegen, sind ebenso wie letzteres von deutschem Kulturboden begleitet.“21 Diese Konzeption lieferte die Legitimation zur Revision der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Grenzen: Die von Penck skizzierte Reichweite des „deutschen Volks- und Kulturbodens“ durchschnitt die existierenden Staatsgebiete und reichte weit über die Grenzen von 1914 hinaus [Abb. 1]. Die Erhebung des „Volkes“ zur zentralen Kategorie ging dabei mit einer Hierarchisierung der „deutschen“ gegenüber der „polnischen“ oder „russischen Kultur“ einher: „Aber soweit die Durchdringung mit Deutschen reichte oder reicht, herrscht deutscher Kulturboden.“22 Gleichzeitig markierte das Konzept des „Volks- und Kulturbodens“ einen beginnenden Paradigmenwechsel in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft: Nicht mehr die Haupt- und Staatsaktionen oder die Taten „großer Männer“ standen im Zentrum des Erkenntnisinteresses dieser Forschung, sondern „das eigenständige Volk“23 als Subjekt, als überzeitlich wirksame Größe, aus der sich alle anderen gesellschaftlichen Ordnungen ableiten ließen. Damit setzte sich die Ostforschung auch von der traditionell mehrheitlich politik- und geistesgeschichtlich orientierten Osteuropäischen Geschichte ab und beförderte die Etablierung eines neuen historiographischen Paradigmas, der „Volksgeschichte“.24 Zu diesem Zweck wurde ab 1929 auch eine neue Zeitschrift herausgegeben, die „Deutschen Hefte für Volks- und Kulturbodenforschung“, sowie mit dem „Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtum“ ein Projekt begonnen, das in Form eines Kompendiums sämtliche „Spuren“ deutschen „Volkstums“ jenseits der eigentlichen Reichsgrenzen bündeln sollte und rund 800 Mitarbeiter, vor allem Historiker, Geographen, Soziologen und Volkskundler, vereinigte.25 Weitere Zentren der deutschen Ostforschung entwickelten sich in Breslau, wo bereits 1918 das Osteuropa-Institut eröffnet worden war26 und Hermann Aubin ab 1929 an der 19 20 21 22 23 24
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Vgl. hierzu detailliert Fahlbusch, Michael, „Wo der deutsche … ist, ist Deutschland!“: Die Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig 1920-1933, Bochum 1994. Penck, Albrecht, Deutscher Volks- und Kulturboden, in: von Loesch, Karl Christian (Hg.), Volk unter Völkern, Breslau 1925, S. 62-73, hier S. 62. Penck, Volks- und Kulturboden, S. 69. Penck, Volks- und Kulturboden, S. 65. So der Titel der grundlegenden Schrift von Max-Hildebert Boehm, Das eigenständige Volk. Grundlegung der Elemente einer europäischen Völkersoziologie, Göttingen 1932 Vgl. hierzu Oberkrome, Willi, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993; Haar, Ingo, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2000 (inzwischen in 2., durchges. und verb. Aufl. 2002 erschienen). Vgl. hierzu Oberkrome, Willi, Geschichte, Volk und Theorie. Das „Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums“, in: Schöttler, Peter (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1999, S. 104-128. Vgl. hierzu Camphausen, Russlandforschung, sowie Bömelburg, Hans-Jürgen, Das Osteuropa-Institut in Breslau 1930-1940. Wissenschaft, Propaganda und nationale Feindbilder in der Arbeit eines interdisziplinären Zentrums der Osteuropaforschung in Deutschland, in: Garleff, Michael (Hg.), Zwischen
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Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität seine vorher in Bonn im Rahmen der Westforschung entwickelten volksgeschichtlichen Ansätze nun auf das östliche Mitteleuropa anwandte,27 in Danzig mit dem von Erich Keyser geleiteten Ostland-Institut28 sowie in Königsberg, wo das Institut für Ostdeutsche Wirtschaft angesiedelt war und sich an der Albertus-Universität um Hans Rothfels ein Kreis junger Historiker gebildet hatte, dem unter anderem Theodor Schieder und Werner Conze angehörten und die eine „Ostwende“ der deutschen Geschichtswissenschaft auf volksgeschichtlicher Grundlage einforderten.29 Insgesamt entwickelte sich damit in Gestalt der deutschen Ostforschung ein Forschungsverbund, der sich mit seiner interdisziplinären Zusammensetzung und primär außeruniversitären Institutionalisierung deutlich von der traditionellen Osteuropahistoriographie unterschied und sich gleichzeitig mit seiner deutschtumszentrierten und völkischen Grundlage als sehr anschlussfähig für die nationalsozialistischen Annektionspläne erweisen sollte. Das Jahr 1933 als Zäsur: Osteuropäische Geschichte im Nationalsozialismus Die nationalsozialistische Machtübernahme stellte für die universitär verankerte Osteuropäische Geschichte eine einschneidende Zäsur von existentiellem Ausmaß dar, innerhalb weniger Jahre verlor sie große Teile ihrer institutionellen Basis. Erste Opfer waren hierbei diejenigen unter den Osteuropahistorikern, die nach nationalsozialistischen Maßstäben als jüdisch galten und infolge des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 entlassen wurden; ihre Zahl war nicht groß, aber allein in Berlin führte dies dazu, dass mehrere Mitarbeiter des akademischen „Mittelbaus“ emigrieren mussten oder später ermordet wurden.30 In Hamburg musste Richard Salomon seine Lehre seit dem Sommersemester 1933 ruhen lassen, ehe er im Juni 1934 unter Berufung auf § 6 des Gesetzes in den vorzeitigen Ruhestand versetzte wurde und 1937 in die USA emigrierte. Der Lehrstuhl des Seminars blieb danach unbesetzt und wurde erst in Folge des deutschsowjetischen Nichtangriffspaktes durch Paul Johansen (1901-1965) ab 1940 wieder vertreten, ohne dass es zu einer wirklichen inhaltlichen Reaktivierung gekommen wäre.31 Die zwangsweise Verdrängung Richard Salomons steht nicht nur exemplarisch für die Entlassung der als „jüdisch“ eingestuften Hochschullehrer. Gegen Salomon ist infolge einer anonymen Denunziation auch wegen des Verdachts ermittelt worden, dass er dem Kommunismus nahe stehe; Anlass hierfür waren seine verschiedenen Reisen in die Sowjetunion, die er im Rahmen seiner universitären Tätigkeit unternommen hatte. Diese Behauptung entbehrte bei dem Schiemann-Schüler Salomon jeglicher Grundlage, verweist aber auf den Umstand, dass der Osteuropäischen Geschichte jetzt ihre traditionelle Fixierung auf die russische bzw. sowjetische Geschichte zum Verhängnis wurde: Ungeachtet des anfangs sehr negativ konnotierten Russlandbildes der Disziplin galt sie jetzt als ver-
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Konfrontation und Kompromiß. Oldenburger Symposium „Interethnische Beziehungen in Ostmitteleuropa als historiographisches Problem der 1930er/1940er Jahre“, München 1995, S. 47-72. Hierzu die Habilitationsschrift von Eduard Mühle, Für Volk und deutschen Osten: der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005. Vgl. hierzu Hackmann, Jörg, „Der Kampf um die Weichsel“. Die deutsche Ostforschung in Danzig 1918-1945, in: Zapiski Historyczne 58 (1993), S. 37-57. Vgl. hierzu Haar, Ingo, „Revisionistische“ Historiker und Jugendbewegung: Das Königsberger Beispiel, in: Schöttler, Geschichtsschreibung, S. 52-104. Vgl. Zernack, Klaus, Berliner Osteuropaforschung und die deutsche Ostforschung, in: Fischer, Wolfram u.a. (Hgg.), Exodus von Wissenschaftlern aus Berlin: Fragestellungen - Ergebnisse – Desiderate. Entwicklungen vor und nach 1933, Berlin, New York 1994, S. 234-243, hier S. 238 f. Johansen wurde im September 1942 zur Wehrmacht eingezogen und kehrte erst 1946 aus der Kriegsgefangenschaft zurück; vgl. Camphausen, Die wissenschaftliche historische Russlandforschung im Dritten Reich 1933-1945, Frankfurt/Main u.a. 1990, S. 57-77.
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dächtig, mit den sowjetischen Machthabern zu sympathisieren. Vor allem Hermann Greife, Dozent an der „Deutschen Hochschule für Politik“ und Leiter des „Instituts zur wissenschaftlichen Erforschung der Sowjetunion“, stand als treibende Kraft hinter einer entsprechenden Kampagne, deren zentrale Schlagworte „Kulturbolschewismus“ und „Salonbolschewismus“ lauteten. 1936 veröffentlichte Greife eine programmatische Schrift, in welcher er die bisherige „liberalistische Sowjetforschung“ von der neuen „nationalsozialistischen Sowjetforschung“ abgrenzte: In dem vom Adolf Ehrt verfassten Vorwort wurde die „Sowjetforschung“ der Weimarer Zeit als „Zustand der Verwahrlosung und wissenschaftlichen Gewissenlosigkeit“ bezeichnet, die „Affinität des Weimarer Systems zum kulturellen und politischen Bolschewismus“ habe hier „phantastische Früchte“32 getragen. Die zukünftige Forschung hingegen durfte sich nach Greife nicht mehr in einem „luftleeren Raum“ bewegen, sondern müsse auf dem „harten Boden des Realen“ stehen; das entscheidende Kriterium sei hierbei das Volk: Der Nationalsozialist werde „das für nützlich erachten, was dem Volk nützlich ist.“33 Das „Grundproblem der ganzen Sowjetforschung“ stellte nach Greife hierbei das „Judenproblem“ dar: „Ausschlaggebend aber ist nicht, ob der Sowjetstaat ‚marxistische‘ oder ‚nichtmarxistische‘ Methoden anwendet, sondern einzig und allein die Tatsache, dass es ein Staat einer fremdrassigen Clique ist […].“34 Namentlich genannt wurden in diesem Frontalangriff auf die bisherige Tradition der Osteuropäischen Geschichte Otto Hoetzsch und die von ihm geleitete „Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuropas“. Hoetzsch, dem Greife vorwarf, die „bolschewistische Zersetzung“ des Deutschen Reiches gefördert und „dem deutschen Salonbolschewismus, Kulturbolschewismus und Nationalbolschewismus […] Tür und Tor geöffnet“35 zu haben, war zum Zeitpunkt dieser öffentlichen Denunziation bereits zwangspensioniert worden. Hoetzsch hatte nach dem Ausscheiden Karl Stählins im Frühjahr 1933 dessen Nachfolge als Leiter des Berliner Seminars übernommen und im Sommer desselben Jahres in einem Artikel die nationalsozialistische Machtübernahme offen begrüßt,36 was ihn jedoch nicht davor bewahrte, Ende 1935 entlassen und von Greife hiernach systematisch diskreditiert zu werden. Mit Hoetzsch war die führende Figur der Weimarer Osteuropahistoriographie und einer an Rapallo orientierten Ausrichtung des Faches entfernt worden, was auch in ausländischen Zeitungen kritisch registriert wurde.37 Zu seinem Nachfolger wurde Hans Uebersberger berufen, der als bekennender Nationalsozialist der Auslandsorganisation der NSDAP in Wien beigetreten war, mit seinem Plänen zum Ausbau des Berliner Seminars jedoch weitgehend scheiterte. Allerdings erschienen unter seiner Leitung 1936 bis 1941 die „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas“, die nach der Einschätzung von Gabriele Camphausen relativ wenig Bezüge zur zeitgenössischen Politik beinhalteten und in denen sogar mehrere Artikel von Georg Sacke erscheinen konnten, auf den im Folgenden noch einzugehen sein wird.38 Freilich lässt sich in den „Jahrbüchern“ eine verstärkte Hinwendung zu Themen der frühneuzeitlichen und mittelalterlichen Geschichte beobachten, die so ausgewählt eine relativ politikferne Nische darstellten. Nach seiner zwangsweisen Verdrängung aus der Universität legte Hoetzsch auch seine Ämter in der „Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas“ sowie den Fachperiodika „Osteuropa“ und „Zeitschrift für osteuropäische Geschichte“ nieder. Die Zeitschrift stellte 32 33 34 35 36 37 38
Ehrt, Adolf, Geleitwort, in: Greife, Hermann, Sowjetforschung. Versuch einer nationalsozialistischen Grundlegung der Erforschung des Marxismus und der Sowjetunion, Berlin 1936, S. 7-19, hier S. 13. Greife, Sowjetforschung, S. 65 f. Ebda., S. 37, 42. Ebda., S. 58 f. Vgl. Hoetzsch, Otto, Die deutsche nationale Revolution. Versuch einer historisch-systematischen Erfassung, in: Vergangenheit und Gegenwart 23 (1933), S. 353-373. Vgl. Camphausen, Russlandforschung 1933-1945, S. 24 f. Ebda., S. 248-316.
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infolge dessen ihr Erscheinen ein, während „Osteuropa“ noch bis 1939 unter der Redaktion von Werner Markert erschien, der auch das Amt des Generalsekretärs der Gesellschaft übernommen hatte. Markert hatte in einem Vortrag vor den Mitgliedern der Gesellschaft im Februar 1934 seine weitgehende Bereitschaft zum Ausdruck gebracht, die wissenschaftliche Forschung den Interessen der Politik unterzuordnen: Sinn des Studiums der Geschichte Osteuropas müsse es sein, einen „Stab wissenschaftlicher Arbeiter und Kenner des Ostens“ auszubilden, denn, so Markert: „Der Weg nach Osten heißt auch in der Wissenschaft Kampf. Kampf auf Vorposten um Neuland. Wir haben die Kleinarbeit zu leisten für den Ausbau des Weges, den der Führer uns vorgezeichnet hat. Das ist heute die wissenschaftliche und politische Aufgabe des Osteuropastudiums!“39 Anders als in Berlin, dem traditionellen Zentrum der deutschen Osteuropahistoriographie mit den Protagonisten Schiemann und Hoetzsch, ist die Verdrängung der Lehrenden an den übrigen Instituten deutlich geräuschloser vonstatten gegangen und führte auch nicht zu einer dauerhaften Wiederbesetzung der Stellen. Neben den geschilderten Vorgängen in Hamburg ist hier für Königsberg die politisch motivierte Entlassung Martin Winklers Ende 1934 zu nennen, wobei die Leitung des dortigen Instituts zum Studium Osteuropas 1935 bis 1937 Hans Koch übertragen wurde, ohne dass dies jedoch mit einem Ausbau des Instituts einher gegangen wäre. Das Extraordinariat für Erdmann Hanisch in Breslau blieb indessen bestehen, und hier wurde 1934 sogar ein ordentlicher Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde neu geschaffen, der zunächst mit Hans Uebersberger und dann mit Hans Koch besetzt wurde, ehe er ab 1940 vakant blieb. In Leipzig bat der bereits emeritierte Friedrich Braun im Sommer 1933 um seine Entbindung von den Amtsgeschäften; zu seinem Nachfolger wurde Werner Markert benannt, der jedoch bereits ein Jahr später die Stadt wieder verließ, um seine skizzierten Berliner Aufgaben zu übernehmen. Die Stelle Brauns wurde nicht neu besetzt.40 Bereits Ende März 1933 war der Privatdozent Georg Sacke in Leipzig von einem „Nationalen Ausschuss für Erneuerung der Universität Leipzig“ als „lettischer Kommunist aus Russland (Bessarabien)“ denunziert worden; der in Kišinev geborene Sacke kam mit einem Entlassungsgesuch einer entsprechenden Entscheidung des Sächsischen Ministeriums zuvor, wurde jedoch Ende 1934 verhaftet und in das Konzentrationslager Sachsenburg eingeliefert.41 Hintergrund waren Sackes marxistische Überzeugung und seine Nähe zu einem Widerstandkreis, der politisch Verfolgte und deren Familien unterstützte. Sacke ist 1935 mangels Beweisen frei gesprochen worden und hat im Folgenden weiter publiziert, unter anderem wie erwähnt in den „Jahrbüchern für Geschichte Osteuropas“, und versorgte nach seiner Anstellung am Archiv des Hamburger Welt-Wirtschaft-Instituts weiterhin Widerstandszirkel mit Informationen.42 Seine bereits 1932 angenommene Habilitationsschrift über die Gesetzgebung Katharinas II. erschien trotz ihrer marxistischen Fundierung 1940.43 Im August 1944 wurde Sacke von der Hamburger Gestapo verhaftet und in das Konzentrationslager Neuengamme verschlepp; er starb bei der Räumung des Lagers am 27. April 1945. 39 40 41
42 43
Markert, Werner, Das Studium Osteuropas als wissenschaftliche und politische Aufgabe, in: Osteuropa 9 81933/34), S. 395, hier S.399, 401. Vgl. hierzu detailliert Camphausen, Russlandforschung 1933-1945. Vgl. zu Georg Sacke Geyer, Dietrich, Georg Sacke, in: Wehler, Hans-Ulrich (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 5, Göttingen 1972, S. 117-129; Unger, Manfred, Georg Sacke – ein Kämpfer gegen den Faschismus, in: Karl-Marx-Universität Leipzig 1409-1959. Beiträge zur Universitätsgeschichte, 2 Bde, Leipzig 1959, hier Bd. 2, S. 306-330. Vgl. Camphausen, Russlandforschung 1933-1945, S. 156-163. Sacke, Georg, Die Gesetzgebende Kommission Katharinas II. Ein Beitrag zur Geschichte des Absolutismus in Russland, Breslau 1940.
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Georg Sacke hat in der Osteuropahistoriographie nach 1945 wenig Beachtung gefunden, im Gegensatz zu vielen Anderen findet sich zu ihm kein Nachruf in den einschlägigen Fachzeitschriften, und eine Biographie zu seiner Person stellt bis heute ein Desiderat dar. Dies dürfte vor allem in seiner nach 1945 politisch nicht opportunen Rolle als marxistischer Widerstandskämpfer begründet liegen. Im Gegensatz hierzu ist festzustellen, dass Georg Sacke gemeinsam mit Hildegard Schaeder zu den ganz wenigen Osteuropaforschern zählt, die unter Einsatz ihres Lebens Mut und die Fähigkeit zum kritischen Denken bewiesen haben - Eigenschaften, die man bei vielen seiner Kollegen vergeblich suchte. Insgesamt stellte die nationalsozialistische Machtübernahme für die Osteuropäische Geschichte eine deutliche Zäsur dar: Von ursprünglich neun festen Stellen hat es bei acht Veränderungen gegeben, hierunter sechs Entlassungen und zwei Emeritierungen. Damit weist das Fach einen deutlich höheren Aderlass auf als die deutsche Hochschullehrerschaft ihn durchschnittlich zu verzeichnen hatte.44 Die Neuberufungen von Hans Uebersberger und Hans Koch stellen in diesem Kontext linientreue Ausnahmen dar. Die Gründe für diese Diskrepanz liegen zum einen sicherlich in der politischen Orientierung der jeweiligen Personen bzw. in der von Hoetzsch verkörperten Orientierung an einer Ausgleichspolitik mit der Sowjetunion; dies war politisch nicht opportun und entsprach auch nicht der zunächst vorherrschenden Orientierung der nationalsozialistischen Außenpolitik auf das östliche Mitteleuropa, vor allem auf Polen. Gleichzeitig belegt dieser Befund jedoch auch, dass die mehrheitlich in traditionellen politik- und geistesgeschichtlichen Bahnen verbliebene Osteuropahistoriographie mit ihrer Ausrichtung auf Staaten und Herrscher trotz ihrer national-konservativen Provenienz nicht in dem gleichen Maße anschlussfähig an die nationalsozialistischen Expansionspläne war, wie dies auf die völkische und primär gegen Polen gerichtete Ostforschung zutraf. Das Jahr 1933 als Kontinuität: Ostforschung im Nationalsozialismus Im Gegensatz zur Osteuropäischen Geschichte stellte das Jahr 1933 für die deutsche Ostforschung weniger eine Zäsur als vielmehr Kontinuität dar. Dies lässt sich exemplarisch an ihren zentralen Einrichtungen zeigen: Nachdem die Leipziger Stiftung aufgrund persönlicher und inhaltlicher Differenzen im Sommer 1931 aufgelöst worden ist, kam es noch im gleichen Jahr zur Gründung der „Publikationsstelle Berlin-Dahlem“ (PuSte). Diese hatte zum einen die Aufgabe, das in- und ausländische Schrifttum zur „Landes- und Volksforschung“ zu beobachten, zu übersetzen und auszuwerten, zum anderen sollte sie einschlägige Daten in Form von Statistiken und Karten sammeln, die dann den Staats- und Parteistellen „nur für den Dienstgebrauch“ zur Verfügung gestellt wurden. Hierzu zählte die „Volkstumskartei“, welche auf der Basis der Volkszählung im Mai 1939 die individuellen Daten (Name, Geburtstag, Geburts- und Wohnort, Beruf und „Mischlingsgrad“) der sogenannten fremden Volksgruppen im Deutschen Reich erfasste und die in der PuSte angelegt und dann dort weiter geführt wurde. Ebenso versammelte die PuSte die Kopie der „Deutschen Volksliste“, welche als Basis für die In- und Exklusion der Bevölkerung im besetzten Polen diente: Aufgrund der „Volksliste“ entschieden die Reichsämter und regionalen Gauleiter über die „Eindeutschungsfähigkeit“ der ihnen unterstellten Bevölkerung. Die PuSte lieferte damit zentrale Daten für die nationalsozialistische Segregationspolitik.45 44 45
Die genauen Zahlen finden sich bei Camphausen, Russlandforschung 1933-1945, S. 379 f. Vgl. hierzu Fahlbusch, Michael, Wissenschaft im Dienst der Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931-1945, Baden-Baden 1999, S. 567-570, sowie in einem breiteren Kontext zur Rolle der Statistik im Nationalsozialismus Aly, Götz/Roth, Karl-Heinz, Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus, überarb. Neuausgabe Frankfurt/Main 2000.
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Die treibende Kraft bei der Gründung der PuSte war der Historiker und Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive in Berlin, Albert Brackmann, der mit seinem Konzept einer politischen Funktionalisierung der Archivarbeit, die sich in erster Linie gegen Polen richten sollte, beim RMdI sowie dem AA auf reges Interesse stieß. Brackmann, der die PuSte bis 1936 leitete, stand ab Ende 1933 darüber hinaus der „Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft“ (NOFG) vor, die sich im Folgenden zur zentralen Koordinierungsstelle der deutschen Ostforschung entwickelte. Die NOFG gehörte zu einem ab 1931 entstandenen Verbund von zunächst fünf „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“, die sich nach territorialen Zuständigkeiten gliederten und mit deren Gründung das Ziel verfolgt wurde, über das engere fachwissenschaftliche Gebiet hinaus zu einem gemeinsamen „Einsatz“ verschiedener Disziplinen im Rahmen der „Volkstumsforschung“ zu gelangen. Die Forschungsgemeinschaften wurden ebenso wie die jeweils angegliederten Publikationsstellen in erster Linie vom RMdI und dem AA finanziert und verfügten in dem Zeitraum 1931 bis 1944 über einen Gesamtetat von rund 8,5 Millionen Reichsmark.46 Die „Publikationsstelle Berlin-Dahlem“ fungierte als Geschäftsstelle der NOFG, wobei beide Institutionen ebenso wie die die anderen Forschungsgemeinschaften im Geheimen agierten und nicht öffentlich in Erscheinung traten. Der geographische Zuständigkeitsbereich der NOFG erstreckte sich auf das Baltikum, Polen, den tschechischen Teil der Tschechoslowakei sowie ab 1936 auch auf Skandinavien.47 Dem Vorsitzenden Albert Brackmann und seinem Stellvertreter Hermann Aubin war ein wissenschaftlicher Beirat zugeordnet, dem neben Anderen Theodor Oberländer und Reinhard Wittram sowie Hans Uebersberger und Hans Koch angehörten. Die NOFG koordinierte die Tätigkeit der zahlreichen Institute und Organisationen der deutschen Ostforschung, führte entsprechende Tagungen durch und gab ab 1937 mit der „Jomsburg“ das zentrale Publikationsorgan des Forschungsverbundes heraus. Von der Leipziger Stiftung wurde das Projekt des „Handwörterbuchs des Grenz- und Auslanddeutschtums“ übernommen, dessen erste drei Bände bis zum Kriegsbeginn erschienen. Darüber hinaus wurden die politisch Verantwortlichen mit Daten und Karten versorgt; so konnte Hitler seine Position in den „Verhandlungen“ mit Daladier und Chamberlain im Rahmen des „Münchner Abkommens“ durch großflächige Karten über die „Siedlungsgebiete der Deutschen in der Tschechoslowakei“ untermauern, die von der PuSte und den Forschungsgemeinschaften in Arbeitsteilung mit dem RMdI angefertigt worden waren.48 Ein zweites Zentrum der deutschen Ostforschung neben Berlin blieb Königsberg. Dort hatte sich um Hans Rothfels (1891-1976) ein Kreis junger Historiker gebildet, die mehrheitlich als um 1900 Geborene der so genannten „überflüssigen Generation“ angehörten, deren politische Sozialisation durch die hohe Arbeitslosigkeit unter jungen Akademikern ab Ende der zwanziger Jahre sowie das Engagement in der Gildenbewegung geprägt war. Damit avancierte Königsberg zum Kristallisationspunkt eines völkisch-akademischen Milieus, das mit dem Begriff der Konservativen Revolution charakterisiert werden kann und sich sowohl gegen das „Weimarer System“ als auch gegen die älteren „Wilhelminer“ wandte und stattdessen auf den „Volkstumskampf“ als Mittel auf dem Weg zu einer erneuten Großmachtstellung des Deutschen Reiches setzte.49
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Detaillierte Angaben zur Finanzierung der Forschungsgemeinschaften bei Fahlbusch, Wissenschaft, S. 121-130; vgl. hierzu auch die grundlegende Studie zur deutschen Ostforschung von: Burleigh, Michael, Germany turns eastwards: a Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988. Dies ging mit einer entsprechenden Änderung des Namens in „Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft“ einher. Haar, Historiker, S. 313 f. Eine gelungene Skizze dieses Milieus liefert Haar, „Revisionistische“ Historiker.
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Hans Rothfels kam hierbei die Rolle eines Mentors zu, der als Vertreter der „Generation von 1914“ und Kriegsfreiwilliger des Ersten Weltkriegs die Brücke zu der jüngeren Generation um Conze und Schieder schlug. Dies gilt auch für seine Rolle bei dem zunehmend eingeforderten Paradigmenwechsel der deutschen Geschichtswissenschaft in Richtung einer „Volksgeschichte“: Bereits auf dem Deutschen Historikertag in Göttingen 1932, dessen Schwerpunkt auf den „Ostfragen“ lag, hatte Rothfels in seinem Vortrag über „Bismarck und die Nationalitätenfrage“ eine Synthese zwischen traditionellen politikgeschichtlichen Ansätzen und volksgeschichtlichen Erklärungsmustern hergestellt.50 1933 trat er dann als Autor eines Beitrages in dem Sammelband „Deutschland und Polen“ in Erscheinung, der von Albert Brackmann im Vorfeld des Internationalen Historikertages 1933 in Warschau gezielt zur „Abwehr“ polnischer Ansprüche herausgegeben wurde. Unter dem Titel „Das Problem des Nationalismus im Osten“ vertrat Rothfels die Auffassung, dass das „Schicksal dem deutschen Volke die Mitte Europas als Lebensraum“51 zugewiesen habe, und plädierte für eine „organische Neuordnung“ dieses Raumes „nach der Reife der Volkskräfte und nach Grad kultureller Leistung.“ Dass diese „Neuordnung“ hierbei durch das deutsche Volk zu erfolgen habe, machte Rothfels unmissverständlich deutlich: „Die Pflicht der verantwortlichen Arbeit für eine solche Befriedung und Eindeichung wird nicht allein, aber vor allem auf den Schultern desjenigen Volkes liegen müssen, das am innigsten und umfassendsten seit Jahrhunderten in den gesamten Lebensprozeß des Ostens verflochten ist.“52 Damit forderte Rothfels, an dessen Person sich in jüngster Zeit eine sehr kontroverse Diskussion entzündet hat,53 eine Revision der Staatsgrenzen im östlichen Mitteleuropa auf völkischer Grundlage durch das vermeintlich „kulturell“ überlegene „Deutschtum“, die in hohem Maße anschlussfähig an die nationalsozialistischen Annexionspläne war. Gleichzeitig verlor er trotz seiner bereits 1910 vollzogenen Konversion zum Christentum als „Jude“ 1934 seinen Lehrstuhl in Königsberg und emigrierte 1938 nach Großbritanien. Die von Rothfels mitbeförderte Etablierung der „Volksgeschichte“ als eines neuen Paradigmas der deutschen Geschichtswissenschaft ist auch nach seiner zwangsweisen Verdrängung von den jüngeren „Königsbergern“ wie Theodor Schieder, Erich Maschke oder Werner Conze fortgeführt worden. Hierunter fallen auch die in der Literatur nach wie vor häufig als „innovativ“ und politisch unvoreingenommen charakterisierten Qualifikationsarbeiten Conzes;54 Marco Wauker hat in seiner eingehenden Analyse der Dissertationsund der Habilitationsschrift Conzes überzeugend aufgezeigt, wie sehr die den Texten zugrunde liegenden völkischen Denkfiguren die Ergebnisse Conzes geformt haben.55 Die Forderung nach der „Wendung zur Volksgeschichte“ beschränkte sich dabei keineswegs
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Ein Ausschnitts des Vortrags ist abgedruckt in: Rothefels, Hans, Bismarck und die Nationalitätenfrage des Ostens, in: Historische Zeitschrift 147 (1932), S. 89-105. Rothfels, Hans, Das Problem des Nationalismus im Osten, in: Brackmann, Albert (Hg.), Deutschland und Polen, Berlin 1933, S. 259-270, hier S. 259. Ebda., S. 269 f. Vgl. den Disput von Ingo Haar und Heinrich-August Winkler in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte, 2001 und 2002, sowie die Beiträge des Review-Symposium bei H-Soz-u-Kult: Borgmann, Karsten (Hg.), Hans Rothfels und die Zeitgeschichte: URL: http://edoc.hu-berlin.de/e_histfor/1/, sowie jetzt die Dissertation von Jan Eckel, Hans Rothenfels: eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005. Diese Bewertung findet sich u.a. bei Oberkrome, Volksgeschichte, S. 75, Hans-Ulrich Wehler, Nationalsozialismus und Historiker, in: Schulze, Winfried/ Oexle, Otto Gerhard (Hgg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 1999, S. 306-339, hier S. 329 f, oder auch bei Klaus Zernack, Nachwort. Werner Conze als Ostmitteleuropahistoriker, in: Conze, Werner, Ostmitteleuropa. Von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert, hg. von Klaus Zernack, München 1992, S. 238-248. Wauker, Marco, ‚Volksgeschichte‘ als moderne Sozialgeschichte? Werner Conze und die deutsche Ostforschung, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 52 (2003), S. 347-397.
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auf Königsberg: Der am Rigaer Herder-Institut tätige Reinhard Wittram56 hat sie ebenso erhoben wie Erich Keyser in Danzig57 oder Hermann Aubin in Breslau, der in der Zeitschrift der „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ einen grundlegenden Beitrag über die „Erforschung der deutschen Ostbewegung“ verfasste. In diesem forderte Aubin die Interpretation der „deutschen Ostbewegung“ als eine kontinuierliche, „über Höhen und Tiefen bis zur Gegenwart führende Bewegung“, die nur unter Beachtung der „Ganzheit der Betrachtung in der Dreiheit von Raum, Zeit und Inhalt“58 zu erfassen sei. Bevölkerungsgeschichtliche Fragestellungen wurden auch an dem ebenfalls in Königsberg ansässigen „Institut für ostdeutsche Wirtschaft“ verfolgt; dessen Leiter, Theodor Oberländer, hatte 1935 eine viel beachtete Studie vorgelegt, in der er die „agrarische Überbevölkerung“ als das dringendste Problem des polnischen Staates beschrieb;59 an diese These knüpfte sein Stellvertreter, Peter-Heinz Seraphim, an, indem er die „Bevölkerungsfrage“ mit der „Judenfrage“ verband: In seinem 1938 erschienen voluminösen Buch über „Das Judentum im osteuropäischen Raum“ definierte er die jüdische Bevölkerung der Staaten des östlichen Mitteleuropas und Osteuropas als „Fremde“ in diesem Raum, die nicht aufgrund äußerer Umstände, sondern infolge ihrer „inneren“ Eigenschaften grundsätzlich nicht assimilationsfähig seien und deshalb ein „Problem“ darstellten, das es zu „lösen“ gelte. Seraphims Studie verband Antisemitismus mit einer breiten empirischen Grundlage und zahlreichen quantifizierenden Darstellungen in Form von Karten und Statistiken und wurde als „wissenschaftliches Standardwerk“ begrüßt, das für die Rezensenten nicht nur „eine Lücke“ ausfüllte, sondern als „schlechthin unentbehrlich“ angesehen wurde: „Aus der modernen Judenforschung ist es nicht wegzudenken.“60 Gleichzeitig exponierte sich Seraphim damit als führender „Experte“ für das osteuropäische Judentum auf einem politisch besonders relevanten Feld, das von der Ostforschung bis dahin weitgehend unbeachtet geblieben war.61 Während man also für die universitär institutionalisierte Osteuropäische Geschichte einen Rückzug in Nischen beobachten kann, lebt das Netzwerk des Ostforscher und seine außeruniversitären Einrichtungen gerade aus der neuen Überzeugung heraus bzw. durch den Zugang zu politisch mitgetragenen und –forcierten Ressourcen. Ostforschung und Krieg Die Frage, welche Rolle der Ostforschung im Kontext der ab dem 1. September 1939 einsetzenden nationalsozialistischen Besatzungs- und Vernichtungspolitik zukam, bildete das Zentrum der zum Teil sehr kontroversen Debatten der letzten Jahre.62 Relativ lange unbe56 57 58 59 60 61
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Wittram, Reinhard, Die Wendung zur Volksgeschichte, in: Volkstum und Forschung. Festschrift für Wilhelm Klumberg, Riga 1936, S. 94-100; Ders., Geschichtsauffassung und Außendeutschtum, in: Schürmann, Artur (Hg.), Volk und Hochschule im Umbruch, Berlin 1937, S. 105-118. Keyser, Erich, Die völkische Geschichtsauffassung, in: Preußische Jahrbücher 234 (1939), S. 1-20. Aubin, Hermann, Zur Erforschung der deutschen Ostbewegung, in: Deutsches Archiv für Landes- und Volksforschung 1 (1937), S. 37-70, 595-602, hier S. 47 f.; Der Aufsatz ist unter dem gleichen Titel 1939 auch als Monographie erschienen. Oberländer, Theodor, Die agrarische Überbevölkerung Polens, Berlin 1935. So die exemplarische Besprechung von Reinhart Maurach, in: Weltkampf 1 (1941), H. 1/2, S. 113-118, hier S. 118. Zu Seraphim jetzt: Petersen, Hans-Christian, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik. Eine biographische Studie zu Peter-Heinz Seraphim (1902-1979), Osnabrück 2007; vgl. auch Volkmer, Gerhard F., Die deutsche Forschung zu Osteuropa und zum osteuropäischen Judentum in den Jahren 19331945, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 42 (1989), S. 109-215. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Debatte stellte der 42. Deutsche Historikertag 1998 in Frankfurt am Main dar; die überarbeiteten Referate und Kommentare finden sich in Schulze/Oexle, Historiker; vgl. weiterhin den Interviewband: Hohls, Rüdiger/Jarausch, Konrad H. (Hgg.), Versäumte Fragen. Deutsche
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achtet blieb dabei eine Denkschrift, die Angelika Ebbinghaus und Karl Heinz Roth bereits 1992 publiziert hatten; sie ging auf eine Initiative Hermann Aubins zurück, der gegenüber Albert Brackmann 17 Tage nach dem deutschen Überfall auf Polen beklagte, dass jetzt, da die „Volkstumsfragen im Osten“ in „ein entscheidendes Stadium“ getreten seien, bei den politisch Verantwortlichen anscheinend „wieder eine Ladehemmung eingetreten“ sei. Aubin regte deshalb die Erstellung einer Denkschrift an, die dann an das RMdI weiter geleitet werden sollte: „Die Wissenschaft kann nicht einfach warten, bis sie gefragt wird, sie muß sich selber zu Worte melden.“63 In der Folge kam es zur Gründung eines Arbeitskreises und Mitte Oktober wurde eine erste Version der Denkschrift verschickt, die von Theodor Schieder verfasst worden war. Die Ausarbeitung ist letztendlich nicht mehr in die politische Entscheidungsfindung eingeflossen, da sie von konkurrierenden Planungen der SS verdrängt wurde; dennoch lässt sich an ihr das Ausmaß an Bereitschaft der Beteiligten ablesen, aus eigener Initiative Einfluss auf die deutsche Politik im besetzten Polen zu nehmen. In dem Entwurf wurden „Bevölkerungsverschiebungen allergrößten Ausmaßes“ zur „Sicherung des deutschen Volksbodens im Osten“64 gefordert mit dem Ziel, mittels „Volksbrücken“ einen „geschlossenen [deutschen] Siedlungskörper“65 zu schaffen. Im Gegenzug kalkulierte Schieder mit der Zwangsaussiedlung der polnischen Bevölkerung aus den „wiedergewonnenen Gebieten“, wobei er als Ausweichmöglichkeiten sowohl die „Überseewanderung“ als auch die „Abwanderung in den polnischen Reststaat“ in Betracht zog; Letzteres sei jedoch nur bei einer vorhergehenden „Entjudung Restpolens“66 möglich. Ebenfalls bekannt ist inzwischen, dass sich zahlreiche Mitarbeiter der PuSte am Kulturraub von Bibliotheken, Sammlungen etc. in den besetzten Ländern beteiligt haben. Dies gilt nicht nur für das besetzte Polen, sondern auch für die 1942 eingerichtete „Osteuropäische Forschungsgemeinschaft“, deren territoriale Zuständigkeit sich auf das Gebiet der Sowjetunion erstreckte.67 Diese sechste Forschungsgemeinschaft ging aus der „Sammlung Georg Leibbrandt“ hervor, einer umfangreichen Privatsammlung über die Geschichte der Deutschen im Russischen Reich, und der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit lag entsprechend auf der Erforschung des Russlanddeutschtums. Die angegliederte „Publikationsstelle Ost“ wurde dem von Alfred Rosenberg geleiteten „Ministerium für die besetzten Ostgebiete“ unterstellt. Im Rahmen dieser institutionellen Einbindung übernahm sie vom „Sonderkommando“ Künsberg“ der SS geraubte Archivalien und arbeitete eng mit dem „Sonderkommando Dr. Stumpp“ zusammen, das „deutsche Siedlungen“ in der Ukraine und am Schwarzen Meer mittels „rassenbiologischer Untersuchungen“ erfasste.68 Im Herbst 1943 wurden dann die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ infolge der Machtausweitung der SS im nationalsozialistischen Herrschaftssystem der Amtsgruppe VI G des Reichssicherheitshauptamtes unterstellt.
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Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, Stuttgart, München 2000, sowie die einschlägige Debatte bei H-Soz-u-Kult. Aubin an Brackmann, 18.9.1939, abgedruckt in: Ebbinghaus, Angelika/Roth, Karl Heinz, Vorläufer des „Generalplan Ost“. Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 1 (1992), S. 62-94, hier S. 78 f. Aufzeichnung über Siedlungs- und Volkstumsfragen in den wiedergewonnenen Ostprovinzen: Erster Entwurf von Theodor Schieder, 4.10.1939, in: Ebda., S. 85-91, hier S. 86 f. Ebda., S. 88 f. Ebda., S. 90. Vgl. hierzu detailliert Camphausen, Russlandforschung, 1933-1945, S. 225-240, sowie Fahlbusch, Wissenschaft, S. 590-622. Vgl. zum „Sonderkommando Künsberg“ Fahlbusch, Wissenschaft, S. 480-493, sowie zum „Sonderkommando Dr. Stumpp“ jetzt auf der Basis neuer Archivfunde Ders., Im Dienste des Deutschtums in Südosteuropa: Ethnopolitische Berater als Tathelfer für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, in: Beer, Mathias/Seewann, Gerd (Hgg.), Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches: Institutionen – Inhalte – Personen, München 2004, S. 175-215, hier S. 186-194.
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Der Festigung der deutschen Herrschaft im besetzten Polen diente eine Institution, die unter Anwesenheit hoher Vertreter von Wehrmacht, SS und Reichsbehörden am 20. April 1940, dem Geburtstag Adolf Hitlers, in den Räumen der Jagellionischen Bibliothek der Universität Krakau eröffnet wurde: das „Institut für deutsche Ostarbeit“ (IdO). Vorausgegangen war dieser Neugründung die „Sonderaktion Krakau“: Im Rahmen der deutschen Politik der De-Kulturation in Polen war Anfang November 1939 der gesamte Lehrkörper der Jagellionen-Universität durch Angehörige der SS verhaftet worden. Die Universität wurde geschlossen, die Angehörigen der Hochschule in das KZ Sachsenhausen verschleppt; die Mehrheit von ihnen wurde im Februar des folgenden Jahres nach Protesten ausländischer, auch einzelner deutscher Kollegen wieder entlassen, während die Übrigen in Haft blieben oder in das KZ Dachau kamen, wobei auch die meisten von ihnen die Freiheit wieder erlangen konnten. Die Jagellionische Bibliothek wurde zur „Deutschen Staatsbibliothek“ erklärt.69 Die Gründung des IdO ging maßgeblich auf die Initiative des Generalgouverneurs Hans Frank zurück, der in Personalunion auch die Präsidentschaft des Instituts übernahm.70 Das IdO wurde einer Dienststelle der Regierung des Generalgouvernements gleichgestellt, von der auch der Haushalt des Instituts bestritten und genehmigt wurde. Das Institut, das von dem Juristen Wilhelm Coblitz geleitet wurde, gliederte sich in elf Sektionen und beschäftigte über 300 Personen, hierunter auch eine ganze Reihe polnischer Mitarbeiter, die vor allem für Übersetzungen herangezogen wurden und ihrerseits in den meisten Fällen konspirativ mit dem polnischen Untergrund zusammenarbeiteten.71 Zu den deutschen Mitarbeitern, die oft gleichzeitig einflussreiche Posten in der Regierung Franks inne hatten, gehörten nur wenige prominente Ostforscher, nachdem anfängliche Versuche seitens Hermann Aubins und Albert Brackmanns gescheitert waren, das IdO in die NOFG einzugliedern. Nichtsdestoweniger finden sich die „großen Namen“ der Ostforschung unter den Autoren der institutseigenen Zeitschrift „Die Burg“, und die Biographien Fritz Arlts, Werner Radigs oder Helmut Meinholds belegen, dass eine Mitarbeit am IdO eine Karriere nach 1945 nicht per se ausschloss.72 Das IdO war somit strukturell und personell auf das Engste mit dem Herrschaftsapparat Franks verknüpft und erstellte zahlreiche Gutachten, die in die deutsche Besatzungspolitik in Polen einflossen. Hinzu kamen Lehrkurse für Beamte, Angestellte und Angehörige von Polizei und SS sowie eine rege Öffentlichkeitsarbeit in Form von Publikation, Ausstellungen und Arbeitstagungen. Dieser Kontext war allen am IdO Arbeitenden bekannt und die Bewertung der jeweiligen Tätigkeit ist von diesen Rahmenbedingungen nicht zu lösen. Es handelte sich, wie Kleßmann zutreffend formuliert hat, in jedem Fall um „ein Stück prakti69
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Vgl. zur „Sonderaktion Krakau“ Pierchała, Henryk, Den Fängen des SS-Staates entrissen: Die „Sonderaktion Krakau“ 1939-1941, Krakau 1998; Batowski, Henry, Nazi Germany and Jagellonian University (Sonderaktion Krakau 1939), in: Polish Western Affairs 14 (1978), H. 1, S. 113-120; August, Jochen, „Sonderaktion Krakau“. Die Verhaftung der Krakauer Wissenschaftler am 6. November 1939, Hamburg 1997. Vgl. zum IdO jetzt als erste Monographie die Dissertation von Rybicka, Anetta, Instytut Niemieckiej Pracy Wschodniej: Kraków 1940-1945, Warschau 2002; weiterhin zu erwähnen sind: Voigt, Gerd, Das „Institut für deutsche Ostarbeit“ in Krakau, in: September 1939, hg. von Basil Spiru, Berlin 1959, S. 109-125; Goguel, Rudi, Über die Mitwirkung deutscher Wissenschaftler am Okkupationsregime in Polen im Zweiten Weltkrieg, untersucht an drei Institutionen der deutschen Ostforschung, Berlin 1964; Burleigh, Germany, sowie die unveröffentlichte Magisterarbeit von Michael G. Esch, Das Krakauer „Institut für Deutsche Ostarbeit“. Aufgaben, Struktur, Arbeitsweise, Düsseldorf 1989. Die Erforschung der Rolle der polnischen Beschäftigten am IdO weist noch zahlreiche weiße Flecken auf; Rybicka hat mit ihrer Darstellung im dritten Teil ihrer Arbeit eine erregte Debatte in der polnischen Öffentlichkeit ausgelöst: vgl. hierzu die Dokumentation in: Inter Finitimos. Jahrbuch zu polnischdeutschen Beziehungsgeschichte 2 (2004). Vgl. zu Meinhold die Studie von Götz Aly und Susanne Heim, Ein Berater der Macht. Helmut Meinhold oder der Zusammenhang zwischen Sozialpolitik und Judenvernichtung, Hamburg, Berlin 1986.
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scher Antizipation künftiger Ostforschung, wie sie die Nationalsozialisten wünschten und für ihre Lebensraumpolitik auch benötigten.“73 Dieses Urteil trifft ebenso auf die zweite Neugründung zur „Erforschung des Ostens“ zu, die „Reichsuniversität Posen“ (RUP). Nach der Zerschlagung der polnischen Universität Posen wurde am 27. April 1941 der von allen deutschen Sendern übertragene Gründungsakt vollzogen, und damit eine Institution eröffnet, die sich als „Führerschule des deutschen Ostens“ verstand.74 Dies bedeutete konkret, dass die Studenten der RUP einem strengen Auswahlverfahren unterworfen wurden, demzufolge sie keine polnischen Verwandten haben durften und sich vor 1939 im „Volkstumskampf“ bewährt haben mussten. Neben dieser Funktion als Ausbildungsstätte des zukünftigen Führungspersonals eines deutsch besetzten Mittel- und Osteuropas diente die „Reichsuniversität“ als begleitende Forschungsstelle für die nationalsozialistische Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik und sollte die „Eingliederung“ der vom Deutschen Reich inkorporierten Gebiete wissenschaftlich unterstützen. Angegliedert war die „Reichsstiftung für Ostforschung“, welche Förderpreise für Arbeiten aus dem Kontext der deutschen Ostforschung vergab und deren Kapital sich aus beschlagnahmtem polnischem Besitz speiste. Unter den Angehörigen der Hochschule, die von dem Biologen und Mitglied der „Leibstandarte Adolf Hitler“, Peter Johannes Carstens, geleitet wurde, befand sich eine große Anzahl umgesiedelter deutschbaltischer Dozenten, zu denen auch der bereits erwähnte Reinhard Wittram gehörte. Dieser äußerte sich als Vertreter der „aus dem Ausland an die Reichsuniversität Posen rückgeführten deutschen Wissenschaftler“75 bei der Eröffnungsfeier wie folgt: „Wir dürfen uns wieder einreihen in die Kameradschaft derer, die auf vorgeschobener Wacht für Großdeutschland stehen, wir dürfen das Feuer hüten helfen, das aus Nacht und Dämmerung in den großen germanischen Morgen brennen soll. Daß wir uns dessen würdig erweisen wollen, sei unser Gelöbnis in dieser feierlichen Stunde. Und so bleibt unser Blick auf den Führer gerichtet, dem wir allezeit verschrieben haben alle Güte unseres Wissens, unseren ganzen Arbeitswillen und unser ganzes Herz.“76 Diese martialisch klingenden Worte sollten nicht den Blick dafür verstellen, dass nicht nur Wittram sein Wirken zeitgenössisch als wissenschaftlich begriff. Grundlage zahlreicher Arbeiten der deutschen Ostforschung war ein Ordnungsdenken, das den Nationalsozialismus als eine Chance begriff, die gesamte Gesellschaft auf einer völkischen Grundlage „ganzheitlich“ neu zu ordnen: In diesem Wissenschaftsverständnis verbanden sich eine rationale, methodisch korrekte Wissenschaftlichkeit und der Anspruch auf Planbarkeit aller gesellschaftlichen Bereiche mit einer bewussten Bindung des eigenen Standpunktes an das deutsche Volkstum als dem höchsten Wert.77 Für die „Reichsuniversität Posen“ wird dies 73 74
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Kleßmann, Osteuropaforschung, S. 366. Vgl. zur „Reichsuniversität Posen“ Kalisch, Johann/Voigt, Gerd, „Reichsuniversität Posen“. Zur Rolle der faschistischen deutschen Ostforschung im Zweiten Weltkrieg, in: Anderle, Alfred/Basler, Werner (Hgg.), Juni 1941. Beiträge zur Geschichte des hitlerfaschistischen Überfalls auf die Sowjetunion, Berlin 1961, S. 188-206; Piotrowski, Bernhard, W słuŜbie rasizma i bezprawia. „Uniwersytet Rzeszy“ w Poznaniu (1941-1945), Posen 1984; Wroblewska, Teresa, Die Reichsuniversitäten Posen, Prag und Straßburg als Modelle nationalsozialistischer Hochschulen in den von Deutschland besetzten Gebieten, Torun 2000. Eine Studie zur Geschichtswissenschaft an der RUP von BłaŜej Białkowski (Berlin) ist in Vorbereitung. Die Gründung der Reichsuniversität Posen am Geburtstag des Führers 1941. Reden bei dem Staatsakt zur Eröffnung am 27. April 1941, hg. von der Reichsuniversität Posen, Posen [1941], S. 7. Wittram, in: Ebda., S. 65-67, hier S. 67. Vgl. zu den Begriffen Ordnungsdenken und Wirklichkeit: Raphael, Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 5-40; Oexle, Gerhard Otto, „Wirklichkeit“ – „Krise der Wirklichkeit“ – „Neue Wirklichkeit“. Deutungsmuster und Paradigmenkämpfe in der deutschen Wissenschaft vor und nach 1933, in: Hausmann, Frank-Rutger (Hg.), Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933.1945, München 2002, S. 1-20.
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exemplarisch an den Ausführungen des Rektors Carstens im Rahmen des Gründungszeremoniells deutlich: Dieser kritisierte die traditionelle universitäre Unterteilung in verschiedene Fakultäten als „künstlich gezogene Abgrenzungen“, die eine „geistige Enge“ hervorbringe, welche es aufzulösen gelte: „Denn nur durch die völlige innere Überwindung der Fakultätsgrenzen kommen wir wieder zur ganzheitlichen Betrachtung unserer Wissenschaft und damit zur totalen Schau.“ Hinsichtlich der Grundlage des eigenen Tuns sagte Carstens: „Es ist also letztendlich das gesamte Leben unseres Volkes, das immer wieder fordernd und immer wieder fragend sich in den Arbeits- und Aufgabenkreis der Universität hineinschiebt, und zwar besonders hier, wo im Grenzraum der völkisch-politische Ordnungsprozeß bis in die letzten Phasen des Gemeinschaftslebens hineingreift.“78 Hieraus folgt die Frage nach der heutigen Einordnung der von Carstens und anderen erstellten Studien, deren Beantwortung für zentrale Werke der deutschen Ostforschung nach wie vor völlig unterschiedlich ausfällt, wie nicht nur das erwähnte Beispiel der Qualifikationsarbeiten Werner Conzes zeigt. Folgende Linien könnten hierbei den Rahmen der Bewertung bilden: 1. Es greift zu kurz und wird der zeitgenössischen Sicht nicht gerecht, diese Arbeiten einfach als unwissenschaftliche Propaganda abzutun und sich damit auch der Frage nach möglichen weiterwirkenden Traditionsbeständen zu entledigen. Conze, Wittram und viele Andere waren von der Objektivität ihrer Arbeiten überzeugt und haben sich stets gegen vermeintlich „unwissenschaftliche Propaganda“ abgegrenzt. Der Bezug auf das „deutsche Volk“ oder die „deutsche Nation“ auch als wissenschaftliche Kategorie ihrer Analyse schien ihnen ebenso geboten schien unfraglich zu sein. Dass diese Prämissen nicht nur ihre eigene Wahrnehmung war, ließe sich anhand zahlreicher Beispiele belegen; verwiesen sei exemplarisch auf Peter-Heinz Seraphims Untersuchung über „Das Judentum im osteuropäischen Raum“: Das Werk ist nach seinem Erscheinen breit besprochen worden, wobei die Rezensionen durchgehend den „streng wissenschaftlichen“ Charakter der Arbeit betonten. Die Rezeption beschränkte sich dabei nicht auf einschlägige Fachzeitschriften: In einer Vielzahl lokaler und regionaler Zeitungen erschienen Berichte über das Buch Seraphims, wobei man genau in der Wissenschaftlichkeit den politischen Wert der Arbeit erblickte: Das „Hamburger Tageblatt“ betonte, dass neben der „politische[n] Arbeit“ des Antisemitismus nicht verkannt werden dürfe, „das nach innen – zur Fundierung unserer Positionen – und nach aussen – zur Aufklärung der Welt über die Notwendigkeit unserer Maßnahmen – ernste und zuverlässige wissenschaftliche Arbeiten unerlässlich sind.“79 Exakt in dieser attestierten Wissenschaftlichkeit erblickte man den politischen Wert der Arbeit: Die „Westfälische Landeszeitung“ zeigte sich „sicher, dass gerade die größte und klarste Sachlichkeit zu den vernichtendsten Ergebnissen für das Judentum kommen wird“80, und der „Dresdener Anzeiger“ sah in dem Buch, „das völlig frei von Schlagworten ist, die beste Waffe gegen das Judentum […].“81 Genau hierauf gründete die Relevanz dieser und anderer Arbeiten, und diese zeitgenössische Perspektive gilt es ernst zu nehmen, wenn man verstehen will, dass wissenschaftliche Methodik als solche nicht gegen völkische oder gar antisemitische Zielsetzungen immunisiert. Vielmehr kam den Wissenschaftlern im Rahmen eines arbeitsteiligen Prozesses die Aufgabe zu, die Gesellschaft zu „ordnen“ und ihre verschiedenen Gruppen zu benennen und zu klassifizieren. Der Vision einer „gesunden“ Gesellschaft folgend und überzeugt von der menschlichen Fähigkeit, die Welt planend regulieren zu können, handelten die 78 79 80 81
Rektor Prof. Dr. Carstens, in: Die Gründung der Reichsuniversität Posen, S. 29-45, hier S. 31. Hamburger Abendblatt, Das Siedlungsgebiet des Judentums in Osteuropa, 6.5.1939. Westfälische Landeszeitung, Zur Judenfrage, 5.7.1939. Dresdener Anzeiger, Das Judentum im osteuropäischen Raum, 3.5.1939.
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Wissenschaftler wie ein Gärtner, der durch gezielte Züchtung bessere Pflanzen und Früchte erzielt. Die Menschen wurden in diesem Prozess des Social Engineering ihrer Rechte als Subjekte beraubt, nachdem man „sie zuerst in Bausteine verwandelt hatte, mit denen die neue Ordnung errichtet werden sollte, oder aber in den Schutt, der weggeräumt werden musste, um den Baugrund zu reinigen.“82 2. Ebenso verfehlt ist es, die zeitgenössische Sicht einfach zu übernehmen: Die Ergebnisse der deutschen Ostforschung werden nicht dadurch zu wissenschaftlichen Tatsachen, dass ihre Produzenten dies für sich in Anspruch genommen haben. Wenn man einen gleichberechtigten Diskurs der Beteiligten als eine unabdingbare Voraussetzung von Wissenschaft betrachtet, dann muss das Urteil für die deutsche Ostforschung weitgehend negativ ausfallen: Zwar existierte eine ständige Bezugnahme auf Publikationen jenseits der Grenzen des Deutschen Reiches, namentlich der polnischen Westforschung, aber dies beinhaltete nicht die Bereitschaft, möglicherweise entsprechende Korrekturen im eigenen Weltbild vorzunehmen. Die Bezugnahme hatte vielmehr funktionalen Charakter: Sie diente der kollektiven Abgrenzung gegen die vermeintlich „unwissenschaftlichen“ polnischen Darstellungen und damit der Stärkung der eigenen Position. Besonders drastisch wird diese Ungleichheit für die Zeit des Zweiten Weltkriegs deutlich, wenn beispielsweise deutsche Forscher das „Institut für deutsche Ostarbeit“ eröffneten, nachdem ihre vorher dort tätigen polnischen Kollegen verhaftet worden waren und sich, soweit sie das Konzentrationslager wieder verlassen konnten, gezwungen sahen, ihre Tätigkeit im Untergrund fortzusetzen.83 Hieraus folgt die Notwendigkeit, die entsprechenden Texte zu kontextualisieren, ehe man sie als „innovativ“ oder „objektiv“ bezeichnet. Im Anschluss an Peter Schöttlers Überlegungen zu einem Vergleich der französischen Annales mit der deutschen „Volksgeschichte“ ist mit Blick auf das Verhältnis von deutscher Ost- und polnischer Westforschung festzuhalten, dass es „kaum ausreicht, gleichsam aus der Vogelperspektive formale oder semantische Ähnlichkeiten zu diagnostizieren.“84 Seine Charakterisierung des Selbstverständnisses der deutschen „Volksgeschichte“ als einem „völkischen Typus von Objektivität“85 trifft ebenso auf die deutsche Ostforschung zu, und vor diesem Hintergrund war eine auf gegenseitigen Austausch angelegte Kommunikation mit der polnischen Westforschung nicht möglich. Dass diese völkische Verengung des eigenen Blickwinkels nicht kollektiv und quasi zwangsläufig zu einem Ausblenden aller anderen Wertmaßstäbe führen musste, belegt für den Kontext der Ostforschung die Biographie Hildegard Schaeders (1902-1984). Nach ihrer Promotion bei Richard Salomon mit einer Arbeit über „Moskau, das Dritte Rom“86 war sie ab 1935 als Mitarbeiterin der Publikationsstelle in Berlin-Dahlem an einer zentralen Stelle der deutschen Ostforschung tätig; gleichzeitig engagierte sie sich als Mitglied der Bekennenden Kirche in der Berliner Gemeinde Martin Niemöllers. Im Herbst 1943 wurde sie durch die Gestapo verhaftet und im Folgenden in das Frauenkonzentrationslager Ra82 83 84 85
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Bauman, Zygmunt, Moderne und Ambivalenz: Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt/Main 1995, S. 54; speziell zur Zeit des Nationalsozialismus sei auch verwiesen auf: Ders., Dialektik der Ordnung: Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 2002. Vgl. hierzu Lesser, Gabriele, Leben als ob. Die Untergrunduniversität Krakau im Zweiten Weltkrieg, Freiburg 1988. Schöttler, Peter, Die intellektuelle Rheingrenze: Wie lassen sich die französische Annales und die deutsche Volksgeschichte vergleichen?, in: Conrad, Christoph/Conrad, Sebastian (Hgg.), Die Nation schreiben: Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, Göttingen 2002, S. 271-296, hier S. 277. Ebda., S. 284; vgl. in diesem Sinne auch die Bewertung von Jörg Hackmann, Deutsche Ostforschung und Geschichtswissenschaft, in: Piskorski, Jan M., in Verbindung mit Jörg Hackmann und Rudolf Jaworski (Hg.), Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Disziplinen im Vergleich, Osnabrück, Poznań 2002, S. 25-47, hier S. 31-33. Schaeder, Hildegard, Moskau, das Dritte Rom, Hamburg 1929.
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vensbrück verschleppt.87 Schaeder hat diese Zeit überlebt und ist ab 1965 als Honorarprofessorin am Seminar für Osteuropäische Geschichte in Frankfurt am Main tätig gewesen. Für ihre Unterstützung verfolgter Juden in der NS-Zeit ist sie posthum durch die Gedenkstätte Yad Vashem mit dem Titel „Gerechte unter den Völkern“ geehrt worden. Ähnlich wie Georg Sacke hat die Person Schaeders bisher kaum Beachtung in der Historiographiegeschichte gefunden, auch zu ihr liegt keine biographische Darstellung vor.88 Gleichwohl belegt ihre Biographie, dass es auch innerhalb des Verbundes der deutschen Ostforschung Möglichkeiten zu abweichendem, an humanitären Werten orientiertem Handeln gegeben hat, die nur selten gewählt wurden. Kontinuität und Wandel in der Osteuropaforschung nach 1945 Die deutsche Ostforschung hat die zeitgeschichtliche Zäsur des Jahres 1945 mit einem sehr hohen Maß an Kontinuität überbrückt. Trotz des Verlustes der zentralen Forschungseinrichtungen in Königsberg, Breslau und andernorts haben die personellen Netzwerke weitergewirkt und sehr rasch zu einer Reorganisation auch in institutioneller Hinsicht geführt. Eine erste Anlaufstelle bildete hierbei die Universität Göttingen, an der im Oktober 1945 eine offizielle „Meldestelle“ für die ehemaligen Angehörigen der Königsberger AlbertusUniversität eingerichtet wurde, der mit Friedrich Hoffmann der ehemalige Kurator der Albertina vorstand. Dieses Provisorium diente als Schnittstelle zur Wiederherstellung alter Beziehungsgeflechte, was nicht zuletzt mit Blick auf die Entnazifizierungsverfahren von Relevanz war.89 Göttingen war dann auch im November 1946 der Ort des ersten organisierten Zusammenschlusses, der sich dezidiert in die Tradition der deutschen Ostforschung stellte. Mit dem „Göttinger Arbeitskreis“ bildete sich eine Gruppe von Wissenschaftlern, deren zentrales Anliegen die Revision der neu entstandenen Grenzen war; zur Untermauerung dieses Anspruchs auf die ehemaligen Ostgebiete des Deutschen Reiches wurden Gutachten für das Stuttgarter „Büro für Friedensfragen“, die Vorläuferinstitution des Auswärtigen Amtes, und andere Stellen angefertigt sowie Publikationen herausgegeben, deren geographischer Schwerpunkt auf dem früheren Ostpreußen lag. Der bis heute existente „Göttinger Arbeitskreis“ ist auch in der Folgezeit in der Tradition der deutschen Ostforschung verblieben und hat hierbei eng mit den Vertriebenenorganisationen zusammengearbeitet.90 Zu einem zweiten Schwerpunkt der Restitution früherer Traditionen entwickelte sich Marburg. Unter direkter Bezugnahme auf die organisatorische Struktur der NOFG wurden 1950 mit dem Johann Gottfried Herder-Forschungsrat sowie dem gleichnamigen Institut neue Einrichtungen geschaffen, die an die zentrale Funktion der „Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft“ im Verbund der deutschen Ostforschung anknüpfen sollten. Die Namen der beteiligten Forscher belegen das hohe Maß an personeller Kontinuität; genannt
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Vgl. hierzu den autobiographischen Bericht: Schaeder, Hildegard, Ostern im KZ, Berlin 1947. Ein Nachruf erschien 1985 von Julia Oswalt, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 33 (1985), S. 156 f. Hierzu liegt jetzt die publizierte Abschlussarbeit von Kai Arne Linnemann vor: Linnemann, Kai Arne, Das Erbe der Ostforschung. Zur Rolle Göttingens in der Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit, Marburg 2002. Vgl. Linnemann, Erbe, S. 124-133; Hackmann, Jörg, „An einem neuen Anfang der Ostforschung“. Bruch und Kontinuität in der ostdeutschen Landeshistorie nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Westfälische Forschungen 46 (1996), S. 232-258, hier S. 239 ff.
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seien exemplarisch Hermann Aubin als erster Präsident des Forschungsrates und Erich Keyser, der ab 1951 als Direktor dem Herder-Institut vorstand.91 Die inhaltliche Brücke bildete ungeachtet der Rolle, die die deutsche Ostforschung in der nationalsozialistischen Politik gespielt hatte, ein Antikommunismus, der sich an einen völkisch definierten Abendland- bzw. Europa-Gedanken anschließen ließ; dies wird exemplarisch an dem viel zitierten programmatischen Aufsatz Hermann Aubins in der ersten Ausgabe der Zeitschrift des Herder-Forschungsrates deutlich, die nicht zufällig den Titel „Zeitschrift für Ostforschung“ trug. Nachdem zum Geleit bereits die „Schar der Ungebrochenen“92 beschworen worden war, legte Aubin jetzt eine Analyse Europas nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor, der zufolge durch das „östliche Mitteleuropa“ „die Grenze zweier Kulturkreise ausgeprägten Charakters“93 verlief. Aubin knüpfte hierbei unmittelbar an seine Ausführungen von 1937 an, indem er ebenso wie vorher für die „deutsche Ostbewegung“ jetzt die Forderung erhob, die unveränderten „Hauptfaktoren“ der „Bedingungen von Raum, Lage, völkischem Substrat und gesellschaftlichem Schicksal“94 zu erforschen. In den Konzepten der deutschen Ostforschung erblickte er einen vernünftigen „Ordnungsgedanken“, mit dem auch der Nationalsozialismus angetreten sei und „dessen ernsthafte Anwendung wesentlichen Teilen der osteuropäischen Problematik Abhilfe“95 gebracht hätte; allein Hitler habe durch seinen Imperialismus und den Nichtangriffspakt mit der UdSSR die Realisierung dieser „Ordnung“ zunichte gemacht. An diese Tradition der Ostforschung galt es nach Aubin anzuknüpfen, wobei er die einzig notwendige Neuerung nach 1945 darin erblickte, sich nicht mehr auf die „innerabendländische Perspektive“ zu beschränken, sondern das Untersuchungsfeld auszudehnen und den Blick dem „weiteren Osten“96 zuzuwenden. Die Liste der Beispiele institutioneller, personeller und inhaltlicher Kontinuitäten in der deutschen Ostforschung über das Ende des Deutschen Reiches hinweg ließe sich weiter fortsetzen, etwa am Beispiel des von Theodor Oberländer geleiteten Ministeriums für Vertrieben, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, unter dessen Ägide mit der „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ das früheste und größte zeitgeschichtliche Forschungsprojekt am Beginn der Bundesrepublik entstand, für das unter anderem Hans Rothfels, Werner Conze und Theodor Schieder verantwortlich zeichneten.97 Auf der anderen Seite ist die Zahl derjenigen, die sich zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle bereit fanden, sehr überschaubar: Neben Hermann Heimpel für den Bereich der deutschen Westforschung können aus dem Kreis der deutschen Ostforscher nur Eberhard Wolfgramm in der DDR sowie Reinhard Wittram in Göttingen genannt werden.98 Veränderungen auf breiterer Basis begannen erst infolge des Wandels der gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen in der Bundessrepublik ab Mitte der 1960er Jahre. 91 92 93 94 95 96 97 98
Vgl. hierzu Hackmann, Anfang; Mühle, Eduard, ‚Ostforschung‘. Beobachtungen zu Aufstieg und Niedergang eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 46 (1997), S. 317-350. Zum Geleit, in: Zeitschrift für Ostforschung 1 (1952), S. 1. Aubin, Hermann, An einem neuen Anfang der Ostforschung, in: Zeitschrift für Ostforschung 1 (1952), S. 3-16, hier S. 3. Ebda., S. 12. Ebda., S. 10. Ebda., S. 15. Hierzu detailliert: Beer, Mathias, Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte. Das Großforschungsprojekt „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 46 (1998), S. 345-389. Vgl. Wolfgramm, Eberhard, Kämpft für den Frieden, arbeitet für die Zukunft des deutschen Volkes“ Abrechnung mit der Vergangenheit von einem ehemaligen „Ostforscher“, in: Deutsche Außenpolitik 9 (1959), S. 991-1001, sowie zu Heimpel und Wittram: Linnemann, Erbe, S. 153-170.
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Der politische Impuls, welcher der Reorganisation der deutschen Ostforschung zugrunde lag, lässt sich ebenso für die Anfangsphase der Osteuropäischen Geschichte in der Bundesrepublik verzeichnen. 1945 bestanden im deutschsprachigen Raum nur noch drei einschlägige Lehrstühle, in Wien, Berlin und Hamburg. Zwar wurde bereits im folgenden Jahr an der wiederbegründeten Universität Mainz eine weitere Professur eingerichtet, die mit Werner Philipp besetzt wurde,99 aber der Schwerpunkt lag in den ersten Nachkriegsjahren auf der Errichtung interdisziplinärer Zentren zur Osteuropaforschung nach dem Vorbild des früheren Osteuropa-Instituts in Breslau; den Anfang bildeten die an der Freien Universität Berlin 1951 und in München 1952 gegründeten und bis heute bestehenden OsteuropaInstitute. Zu einem weiteren Ausbau entsprechender Lehrstühle kam es dann im Zuge der von den Kultusministern der Länder geforderten „Ostkunde“: Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges wurde die Osteuropäische Geschichte als Mittel der Feindbeobachtung betrachtet. Demzufolge wurden in den 1950er Jahren insgesamt acht einschlägige Professuren errichtet, und im folgenden Jahrzehnt wurde die Osteuropäische Geschichte an neun weiteren Universitäten verankert.100 Unter den berufenen Personen dieser „Gründergeneration“101 fanden sich mit Hans Koch, Werner Markert oder Reinhard Wittram mehrere, die im Nationalsozialismus aktiv an der „kämpfenden Wissenschaft“ mitgewirkt hatten. Dennoch gelang es der Disziplin im Folgenden, sich von der politisierten „Ostkunde“ zu lösen und zu einem Dialog mit den früheren „Gegnern“ zu gelangen, wie er beispielsweise in den deutsch-polnischen Schulbuchgesprächen zum Ausdruck kam. Darüber hinaus kam es neben dem traditionsreichen Seminar in Wien 1970 zur Errichtung einer zweiten österreichischen Professur in Graz sowie zur ersten universitären Institutionalisierung der Disziplin in der Schweiz in Form des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte in Zürich. Mit Berlin und Leipzig lagen zwei traditionelle Stätten der historischen Osteuropaforschung 1945 auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Sie unterstanden damit der Hoheit genau jenes Staates, der noch wenige Jahre zuvor im Rahmen der von Greife proklamierten „Sowjetforschung“ bekämpft worden war. In Berlin wurde der fast siebzigjährige Otto Hoetzsch zwar bereits im Juli 1945 wieder in seine Rechte als Ordinarius für Osteuropäische Geschichte eingesetzt, konnte diese jedoch erst 1946 und nur noch kurze Zeit wieder aufnehmen, ehe er wenige Monate später verstarb.102 Maßgeblich dafür, dass es überhaupt zu einem so raschen Neubeginn der Berliner Osteuropahistorie kam, war Hoetzschs Zusammenarbeit mit der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung sowie seine Forderung nach einer gründlichen Neuorientierung der Disziplin. In einem anschließend veröffentlichten Beitrag auf einer Konferenz aller Historiker der SBZ im Mai 1946 wandte sich Hoetzsch scharf gegen die mit Ranke verbundene Vorstellung „von der bewussten Absetzung des christlich-katholischen Abendlandes, der romanisch-germanischen Völkergemeinschaft, […] gegenüber dem europäischen Osten.“103 Stattdessen forderte der Schüler Karl Lamprechts „eine vergleichende Wirtschafts-, Rechts- und Verfassungsgeschichte Osteuropas im Vergleich mit der des Westens“, um somit „die eigentliche organische Einordnung eben der osteuropäischen Geschichte in die Europas, der slawischen Welt in die europäische“104 zu ermöglichen. Diese Äußerungen waren sicherlich zum einen den 99 100 101 102 103 104
Vgl. hierzu in Kürze: Petersen, Hans-Christian/Kusber, Jan (Hg.), Neuanfang im Westen. 60 JAhre Osteuropaforschung in Mainz, Stuttgart 2007. Detaillierte Angaben hierzu bei Kappeler, Osteuropäische Geschichte, S. 232-242, sowie Oberländer, Erwin, Das Studium der Geschichte Osteuropas seit 1945, in: Ders., Geschichte Osteuropas, S. 31-38. Kappeler, Osteuropäische Geschichte, S. 236. Hierzu detailliert Voigt, Otto Hoetzsch; Liszkowski, Osteuropaforschung. Hoetzsch, Otto, Die Eingliederung der osteuropäischen Geschichte in die Gesamtgeschichte nach Konzeption, Forschung und Lehre, in: Pädagogik 1 (1946), S. 32-42; Wiederabdruck bei Voigt, Otto Hoetzsch, S. 340-350, hier S. 341. Hoetzsch, Eingliederung, zitiert nach Voigt, Otto Hoetzsch, S. 348.
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veränderten machtpolitischen Realitäten und dem Bestreben Hoetzschs geschuldet, eine Neuetablierung der Osteuropäischen Geschichte in der SBZ zu ermöglichen; gleichzeitig stellten sie jedoch einen wegweisenden Beitrag zur Verortung der Osteuropäischen Geschichte dar, der bis heute seine Aktualität nicht eingebüßt hat. Die weitere Entwicklung des Faches in der SBZ bzw. der DDR ist von einer zunehmenden ideologischen Indoktronierung gekennzeichnet. Das Berliner Seminar nahm nach dem Tod Otto Hoetzschs erst 1951 mit der Berufung Eduard Winters wieder seine Arbeit auf, der bis dahin an der Universität Halle-Wittenberg tätig gewesen war.105 Die im folgende Jahr erfolgte Umbenennung des Seminars in „Institut für Geschichte der Völker der UdSSR“ war hierbei Ausdruck der inhaltlichen Ausrichtung der Lehre und Forschung auf die Betonung der „deutsch-sowjetischen Freundschaft“: „Was Osteuropäische Geschichte hätte heißen sollen, schmolz […] auf bilaterale Beziehungsgeschichten zusammen, deren Kammertöne vom Imperativ des ‚sozialistischen Internationalismus‘ vorgegeben wurden.“106 Eine entsprechende Entwicklung vollzog sich an den Universitäten Leipzig, HalleWittenberg, Rostock, Jena und Greifswald. Ab Ende der 1950er Jahre erfolgte dann eine gezielte Kampagne gegen das Wiederaufleben der Ostforschung in der Bundesrepublik, die jedoch trotz aller zutreffender Details und berechtigter Kritik darunter litt, dass einzelne Ostforscher gezielt aus einer Art historischer Staatsanwaltspose heraus angegriffen und pauschal abgeurteilt wurden. Das ideologisch begründete Bestreben, sämtliche Erkenntnisse über die Ostforschung unter wenige Begriffe wie „Revanchismus“ oder den „Deutschen Drang nach Osten“ zu subsumieren, führte zu groben Verkürzungen und Verzerrungen der Ergebnisse. Die Pauschalität der Angriffe führte dabei im Ergebnis zu einem Zusammenrücken der Angegriffenen, die bis auf wenige Ausnahmen die Vorwürfe ebenso geschlossen mit Schweigen „beantworteten“.107 Resümee Die vergleichende Betrachtung der Osteuropäischen Geschichte und der Ostforschung im Überblick zeigt, dass die eingangs skizzierte idealtypische Trennung der beiden Felder in ihrer Eindeutigkeit nicht aufrecht zu erhalten ist. Dabei sollten die Differenzen nicht verwischt werden: Die Anfänge der Osteuropäischen Geschichte datieren mit ihrer Verdichtung um die Jahrhundertwende deutlich früher als die Wurzeln der Ostforschung, welche sich erst infolge des Versailler Vertrages entwickelte. Gleichzeitig liegt der primäre Wirkungskreis der Osteuropahistoriographie an den Universitäten und nicht wie im Falle der Ostforschung an außeruniversitären Institutionen. Dies ging einher mit einer primären Ausrichtung der Osteuropäischen Geschichte an der traditionellen Politik- und Geistesgeschichte, von der sich die nach Osten gewendete „Volksgeschichte“ bewusst absetzte, welche sich damit als deutlich anschlussfähiger an die nationalsozialistische Annexionspolitik 105 Vgl. hierzu und zum Folgenden detailliert: Fischer, Alexander, Forschung und Lehre zur Geschichte Osteuropas in der sowjetischen Besatzungszone bzw. der Deutschen Demokratischen Republik (19451990), in: Oberländer, Geschichte Osteuropas, S. 304-342. 106 Geyer, Dietrich, Osteuropäische Geschichte und das Ende der kommunistischen Zeit, in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Jg. 1996, Bericht 1, Heidelberg 1996, hier S. 30. 107 Diese unfreiwillige Wechselwirkung hat jüngst Christoph Kleßmann analysiert: Kleßmann, Christoph, DDR-Historiker und „imperialistische Ostforschung“. Ein Kapitel deutsch-deutscher Wissenschaftsgeschichte, in: Deutschland-Archiv 1 (2002), S. 13-31; vgl. zu den Hintergründen der Kampagne: Creuzberger, Stefan/Unser, Jutta, Osteuropaforschung als Instrument im Kalten Krieg: die Abteilung für Geschichte der imperialistischen Ostforschung in der DDR (1960-1968), in: Osteuropa 48 (1998), S. 849867.
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HANS-CHRISTIAN PETERSEN UND JAN KUSBER
erwies. Das Jahr 1933 bedeutete für Otto Hoetzsch und seine Kollegen vor allem Diffamierung, Entlassung und Vertreibung, während die Ostforschung die „nationale Revolution“ als Chance begriff, ihre Konzepte zur „Ordnung“ Mittel- und Osteuropas umzusetzen. In der Bundesrepublik erwiesen sich dann langfristig die Lehrstühle der Osteuropahistoriographie als Kristallisationspunkte, von denen eine sukzessive Abwendung von der politisierten „Ostkunde“ und eine Verschiebung der Forschungsparadigmen ausgingen, während die außeruniversitären Einrichtungen der neuen alten Ostforschung zum Teil bis heute andauernde Beharrungstendenzen aufwiesen. Damit enden jedoch die relativ eindeutig bestimmbaren Differenzen. Das wiederholt behauptete Charakteristikum der Osteuropäischen Geschichte, dass sie im Unterschied zur Ostforschung grundsätzlich die Völker und Staaten Mittel- und Osteuropas als gleichwertige Subjekte betrachtet hätte, lässt sich bei einem Blick auf das Russlandbild Theodor Schiemanns oder auch Otto Hoetzschs Haltung gegenüber Polen nicht aufrecht erhalten. Vielmehr zeigt sich hier die Kontinuität eines deutschen Selbstverständnisses, das seine östlichen Nachbarn nur von oben herab betrachtet und sich dazu berufen fühlt, „Kultur“ und „Ordnung“ zu exportieren. Dies verbindet die Anfänge der Osteuropäischen Geschichte mit der Ostforschung, wohingegen eine grundsätzlich andere Sicht von dritter Seite, namentlich der Slavistik, eingefordert wurde. Ein weiteres übergreifendes Charakteristikum stellt die konstitutive Nähe beider Forschungsfelder zur jeweils herrschenden Politik dar. Dies gilt für Theodor Schiemanns Verhältnis zum kaiserlichen Hof ebenso wie für die Anbindung der Leipziger Stiftung und der „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ an die Reichsministerien und wiederholte sich 1945 als antikommunistischer Konsens in der Bundesrepublik. In diesem Sinne ist es nur folgerichtig, wenn in der Osteuropaforschung nach dem Wegfall des „Ostblocks“ eine Debatte über die eigene Legitimationsgrundlage begonnen hat.108 Vielleicht am deutlichsten wird die Unmöglichkeit, die beiden Felder messerscharf voneinander zu trennen, wenn man auf die handelnden Personen schaut. Vor allem bei der Gruppe der Historiker läuft diese Gegenüberstellung schlicht an der Realität vorbei: Die Namen Gotthold Rhodes oder auch Reinhard Wittrams verdeutlichen, wie sich in ein und derselben Person deutschtumszentrierte Ostforschung und eine auf Gleichwertigkeit basierende Geschichtsschreibung verbinden können. Ostforscher mussten nicht ihr ganzes Leben lang und nicht in allen Situationen in ein und derselben Weise schreiben und agieren, und ihre Zugehörigkeit zur universitär verankerten Osteuropäischen Geschichte immunisierte im Gegenzug Hans Koch oder Hans Uebersberger nicht davor, sich der „kämpfenden Wissenschaft“ zu verschreiben.109 Dementsprechend wäre die Historiographie der Osteuropaforschung gut beraten, ihren Blick nicht weiterhin vor allem auf die Betonung der Unterschiede zu richten, sondern verstärkt die Schnittstellen zwischen Osteuropäischer Geschichte und Ostforschung in den Blick zu nehmen. Andernfalls setzt sie sich dem Verdacht aus, nach wie vor ihre eigene akademische Legitimation dadurch sichern zu wollen, dass sie den „Abstand zur Ostforschung […] immer weiter in die Vergangenheit – schließlich auch bis vor die Ostforschung – zurückverlegt.“110 Um ihrer eigenen Glaubwürdigkeit willen sollte die Osteuropäische Geschichte sich stattdessen ihrer eigenen, nicht eindeutig bewertbaren Tradition stellen, wie dies in jüngster Zeit auch zunehmend geschieht. Vor allem die Schnittstellen mit der Ostforschung dürften hierbei lohnenswerte Forschungsgegenstände darstellen. Wün108 Vgl. Anm. 2. 109 Vgl. hierzu: Jaworski, Rudolf/Petersen, Hans-Christian, Biographische Aspekte der „Ostforschung“. Überlegungen zu Forschungsstand und Methodik, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 15 (2002), S. 47-63. 110 Linnemann, Erbe, S. 180.
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schenswert für eine adäquate Einordnung in den Gesamtkontext der Kulturwissenschaften wäre hierbei eine verstärkte Einbeziehung komparatistischer Perspektiven, wie sie für die Ostforschung zumindest begonnen worden ist. 111 Erst ein solcher Vergleich, der keinesfalls mit Relativierung gleichzusetzen ist, ermöglicht die Herausarbeitung der Spezifika der deutschen Entwicklung und könnte somit manche Widersprüche der innerdeutschen Debatte in einem größeren Zusammenhang auflösen.
111 Eine erste entsprechende Untersuchung anhand der wissenschaftlichen Disziplinen findet sich in: Piskorski, Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung; grundsätzliche Überlegungen zur vergleichen Betrachtung liefert: Krzoska, Markus, Deutsche Ostforschung - polnische Westforschung. Prolegomena zu einem Vergleich, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 52 (2003), H. 3, S. 389-419.
SÜDOSTEUROPAFORSCHUNG HELMUT W. SCHALLER Neben Österreich gehört Deutschland seit langem zu den führenden Ländern der „Südosteuropa-„ oder wie man auch zu sagen pflegt, „Südostforschung“, die ohne Zweifel in der nationalsozialistischen Zeit einer starken politischen Beeinflussung unterworfen war, wo sich aber auch Bereiche der Forschung und der Vermittlung von Kenntnissen Südosteuropas nachweisen lassen, die ideologisch weitgehend unbeeinflusst geblieben sind. Zentrales Anliegen der Südosteuropaforschung in der Zeit des „Dritten Reiches“ sollte aber ohne Zweifel die Erhaltung und Förderung des Deutschtums in den Ländern Südosteuropas sein. Erste Veröffentlichungen zu diesem Thema aus heutiger Sicht liegen vor mit Frank-Rutger Hausmanns „Auch im Krieg schweigen die Musen nicht“ – Die Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg“1 und dem von Matthias Beer und Gerhard Seewann herausgegebenen Sammelband „Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches. Institutionen – Inhalte –Personen“.2 Die deutsche Südosteuropaforschung weist, insbesondere im Bereiche der Sprachwissenschaft, eine lange zurückreichende Tradition auf, beginnend mit Franz Bopp, der als erster die Eigenständigkeit des Albanischen neben anderen indoeuropäischen Sprachfamilien in der Mitte des 19. Jahrhunderts feststellen konnte.3 Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts veröffentlichte der Leipziger Romanist und Balkanologe Gustav Weigand (1860-1930) mehrere grundlegende Darstellungen zur rumänischen, bulgarischen und albanischen Sprache. Er erfasste die verschiedenen Vertretungen des Rumänischen auf der Balkanhalbinsel und mehrere Veröffentlichungen widmete er rumänischen Dialekten. Weigand hat auch den ersten rumänischen Sprachatlas veröffentlicht. In Leipzig begründete Weigand nacheinander ein Rumänisches, ein Bulgarisches und ein Albanisches Institut, die für die weitere Südosteuropaforschung in Leipzig wichtige Ausgangspunkte darstellten. Ende der 20-er Jahre des 20. Jahrhunderts gab Weigand auch ein „Balkan-Archiv“ heraus, die erste Zeitschrift, die sich mit Fragen der Balkanlinguistik, der vergleichenden Betrachtung der Balkansprachen, des Bulgarischen, Albanischen, Rumänischen, Serbischen und Neugriechischen befasste. Die deutsche Südosteuropaforschung war zwischen den beiden Weltkriegen vor allem in Leipzig vertreten, wo über den sprachwissenschaftlichen Schwerpunkt hinaus auch historische Fragestellungen sowie Wirtschaftsfragen untersucht und dargestellt wurden. Neben den seit 1930 in München erscheinenden „Südostdeutschen Forschungen“, den späteren „Südost-Forschungen“ waren die mit dem Jahre 1937 erstmals erscheinenden „Leipziger Vierteljahresschriften für Südosteuropa“ das damals führende Fachorgan. Das Leipziger Südosteuropa-Institut wurde am 30. September 1936 eröffnet. Bemühungen um seine Gründung gehen jedoch bereits auf die Jahre 1933/34 zurück, als verschiedene Universitäten im Zusammenhang mit Weisungen der Kultusministerien bestrebt waren, einen ihrer geographischen Lage und wissenschaftlichen Voraussetzungen entsprechenden Sonderauftrag zu erhalten. So wurden Königsberg und Breslau die deutschen „Ostuniversitäten“, während Leipzig erfolgreich darum bemüht war, die „SüdostUniversität“ Deutschlands zu werden. Über weitere Hintergründe der Gründung des Leip-
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Erschienen als Band 169 der „Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte“ in erster Auflage 2001, in 2.Auflage 2002 in Göttingen. Erschienen als Band 119 der Reihe „Südosteuropäische Arbeiten. München 2004. F. Bopp: Vergleichende Grammatik 1833-1852. 3.Auflage in zwei Bänden 1868-1871.
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ziger Südosteuropa-Institutes kann man bei Hans A. Münster im ersten Heft der „Leipziger Vierteljahresschrift für Südosteuropa“ im Jahre 1937 lesen: „Erst der entschlossene Wille der Nationalsozialisten und die mächtige Förderung, die alle nationalpolitisch wirklich wichtigen Pläne im Jahre 1933 durch die neue Regierung erfuhren, hat auch den alten Leipziger Südosteuropa-Gedanken wieder aufleben und schon innerhalb der ersten vier Jahre des neuen Reiches zu einem vollen Erfolg werden lassen.” Keimzellen zu neuem Leben und Ansätze zur heutigen Durchführung des alten Plans waren bereits in den 14 Nachkriegsjahren neben dem alten „Südosteuropa- und Islam-Institut“ entstanden. Hier ist vor allem das 1928 begründete „Institut für Mittel- und Südosteuropäische Wirtschaftsforschung zu nennen...“4 Genannt wurden in diesem Zusammenhang auch die Verbindungen zur „Deutschen Akademie“ in München, der Einrichtung zur wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums im Ausland, die Verbindungen zum „Deutschen Akademischen Austauchdienst“ in Berlin sowie zum „Mitteleuropa-Institut“ in Dresden. Über die Zielsetzungen der „Leipziger Vierteljahresschrift für Südosteuropa“ heißt es im April 1937 zum Geleit an erster Stelle der Beiträge: „Seit Jahrzehnten haben sich Gelehrte der verschiedensten Fachgebiete der Universität Leipzig mit der Erforschung Südosteuropas und der Förderung wissenschaftlichkultureller Beziehungen dorthin befasst; eine große Zahl guter Kenner des Südostens ist jetzt in Leipzig tätig; sie haben sich im vergangenen Jahre im „SüdosteuropaInstitut“ der Philosophischen Fakultät zu einer Arbeits- und Forschungsgemeinschaft zusammengeschlossen. Hier soll im Austausch mit der Wissenschaft des Auslands echte Forscherarbeit auf lange Sicht betrieben werden. Ausdruck dieser Zusammenarbeit und Organ der wissenschaftlichen Aussprache soll die „Leipziger Vierteljahresschrift für Südosteuropa“ sein, die heute mit der vorliegenden Nummer und zwei Beiheften erscheint. Möge die Zeitschrift nicht nur dazu dienen, wissenschaftliche Erkenntnisse zu veröffentlichen, sondern auch ein weiteres Band zwischen den Völkern und Staaten Südosteuropas und dem neuen Deutschen Reich knüpfen.“5 Geleitet wurde das Leipziger Südosteuropa-Institut vom jeweiligen Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig. Zu den Aufgaben des neuen Institutes gehörte die Herausgabe der „Vierteljahresschrift“, von der jedes Heft eine besondere Schwerpunktausrichtung haben sollte, ferner wurden Exkursionen nach Südosteuropa geplant, vorgesehen waren Vortragseinladungen an Gelehrte aus Südosteuropa, schließlich sollten auch SüdostFerienkurse mit Dozenten der Universität Leipzig durchgeführt werden. Das Leipziger Institut wurde in Sachgruppen und innerhalb dieser weiter in Länderabteilungen aufgegliedert. Die Sachgruppen erfassten „Völker und Staaten“, „Sprachen und Rassen“, „Wirtschaft und Geographie“ sowie „Naturwissenschaften“. Die Länderabteilungen waren gegliedert in Albanien, Bulgarien, Griechenland, Jugoslawien, Rumänien, Tschechoslowakei, Türkei und Ungarn. Eine besondere Abteilung war dem Deutschtum in Südosteuropa gewidmet, die personell mit einem Volkswirtschaftler, einem Volksgeschichtler, Volkskundler und einem Fachmann für „nationalpolitische Erziehung“ besetzt war. Die Arbeitsweise des Leipziger Institutes war so eingerichtet, dass alle Institute der Universität eine Übung oder Vorlesung Südostfragen widmeten, wofür bei der Aufstellung des Lehrplans ein be-
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H.A. Münster: Das neue Leipziger Südosteuropa-Institut, in: Leipziger Vierteljahresschrift für Südosteuropa 1, 1937, H.1, S.80. Leipziger Vierteljahresschrift für Südosteuropa 1, 1937, Nr.1, S.3: Zum Geleit.
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sonderer Vorlesungs- und Arbeitsplan für Südostfragen erarbeitet wurde.6 Offiziell eröffnet wurde das „Südosteuropa-Institut“ am 30. September 1936 als einer Arbeits- und Forschungsgemeinschaft der Leipziger Philosophischen Fakultät in der Aula der Universität durch den amtierenden Rektor, den Wirtschaftswissenschaftler Arthur Golf. Immer wieder wurden die Beziehungen südosteuropäischer Länder zu Deutschland in den Mittelpunkt von Veranstaltungen gestellt, so am 14. November 1936 mit der Antrittsvorlesung des Neogräzisten Gustav Soyter „Was bedeutet für uns Deutsche das heutige Griechenland?“7 oder am 17. Februar 1937 mit dem Südosteuropa-Vortragsabend des Universitätsbundes Leipzig, an dem Professor Preyer zu dem Thema „Deutscher Kultureinfluss in Südosteuropa“ sprach (8). In der Zeit vom 1. bis 30. September 1936 wurde auch ein Ferienkurs veranstaltet, der „Deutschland und den Südostraum“ zum Thema hatte. Unter den mit Südosteuropaforschung in Deutschland befassten Einrichtungen ist das „Südost-Institut“ in München älter als die Leipziger Einrichtung. Es wurde am 23. Juni 1930 gegründet und – in Anbetracht der geographischen Lage Münchens – als „Tor zum europäischen Südosten“ als öffentlich-rechtliche Stiftung für wissenschaftliche Südosteuropa-Forschung staatlicherseits auch finanziell gefördert. Ähnlich der Leipziger Einrichtung war hier die Zielsetzung eine die Gesamtheit der südosteuropäischen Länder umfassende Forschung durchzuführen, wozu es von kompetenter Seite in einer 1980 erschienenen Jubiläumsbibliographie des Münchener Südost-Institutes heißt: „Wenn sich in der internationalen Fachwelt „Südosteuropa“ als Raumbegriff und als Gegenstand interdisziplinärer Regionalforschung weitgehend durchgesetzt hat, so ist dies nicht zuletzt auf das Wirken des Instituts und seiner Leiter zurückzuführen – vor allem auf das ganz wesentlich dem Südost-Institut gewidmete Lebenswerk des Kulturhistorikers Fritz Valjavec (1909-1960) und auf die grundlegende begriffstheoretische Vorarbeit des Geographen Fritz Machatschek (1876-1957).“8 Im Jahre 1936 wurde die Zeitschrift „Südostdeutsche Forschungen“ in München begründet, die mit ihrem fünften Band die Bezeichnung „Südost-Forschungen“ führte, wobei der Schwerpunkt der Zeitschrift auf Abhandlungen zur Geschichte der südosteuropäischen Länder gelegt wurde, ferner die Geschichte der in Südosteuropa Nationen übergreifenden staatlichen Organisationen, insbesondere der Habsburger und der Osmanen. Hinzu kamen Beiträge aus den Bereichen der Geographie, der Kunst, Literatur, Religionswissenschaft, Wirtschaft, Volkskunde und Sprachwissenschaft, sofern ein Zusammenhang mit der Geschichte Südosteuropas gegeben war. Autoren der „Südost-Forschungen“ waren keineswegs nur deutsche oder österreichische Wissenschaftler, sondern es waren auch Autoren aus Südost- und aus Westeuropa, die das Bild der jährlich erscheinenden Zeitschrift bestimmten, die nicht nur mit ihren Aufsätzen, sondern auch mit ihren Mitteilungen und zahlreichen Besprechungen zu einem führenden Fachorgan der Südosteuropa-Forschung sich entwickelte.9 Das Bild der Aufsätze ist aus ideologischer Sicht schwankend. Sind Wissenschaftler wie der Albaner Eqrem Cabej oder der Rumäne Theodor Capidan mit ihren Beiträgen ebenso unverdächtig wie der Breslauer Slawist Paul Diels,10 so ist bei Hans-Joachim Beyer die Zielsetzung seiner Beiträge oft schon im Thema deutlich zu erkennen, so z.B. „Ziele und Methoden der südöstlichen Volkstumspolitik Polens. Nationalitäten- und kirchenpolitische Tendenzen der Warschauer Regierung gegenüber den Weißruthenen und 6 7 8 9 10
Bundesarchiv Berlin=BARCH R 153/112 – Südosteuropa-Institut an der Universität Leipzig 19361939. Dass. M. Bernath: Das Südost-Institut, in: Südost-Institut München 1930-1980. S.3. Dass., S.9. Vgl. hierzu das Gesamtinhaltsverzeichnis zu Südost-Forschungen Band 1-39, in: Südost-Institut München 1930-1980, S.12.43.
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Ukrainern von 1919 bis 1939“ oder „Moritz Kolbenheyer und die ungarländische Deutschtumsfrage. Erläutert an Hand einiger Briefe.“11 Gegenüber den Einrichtungen in Leipzig und München war die 1934 von dem Wiener Geographen Hugo Hassinger (1877-1952) geleitete „Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft/SODFG“ aus einer „Abwehrstellung“ heraus begründet worden, wie es in einem Arbeitsbericht des Jahres 1943 hieß. Ihre Zielsetzung war es, durch Förderung und Unterstützung wissenschaftlicher, vorwiegend volkskundlicher Arbeiten über das Deutschtum in den Südoststaaten Propaganda der „Fremdvölker“ entgegenzutreten und auch das Deutschtum selbst in seinem Volksbewusstsein zu stärken. So war die Arbeit der „Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft“ in den ersten Jahren ihres Bestehens vor allem auf das Deutschtum in Südosteuropa ausgerichtet.12 In diesem Bericht wurde aber auch festgestellt, dass mit der Veränderung der Machtverhältnisse seit Beginn des Zweiten Weltkrieges es notwendig erschien, sich mit den „fremden Völkern“ selbst zu befassen. Eine zunehmende Rolle spielte auch die landeskundliche Forschung des südosteuropäischen Raumes für die deutsche Forschung.13 Welche Bedeutung aber auch weiterhin dem Deutschtum in Südosteuropa beigemessen wurde, geht aus der Darstellung des „Taschen-Brockhaus zum Zeitgeschehen“ hervor, der 1940 in Leipzig erschienen war und wo es wörtlich heißt: „Der geschlossene deutsche Volksraum erreicht im Süden nicht ganz die Buchten von Triest und Fiume, wohl aber im Osten die pannonische Ebene bei Pressburg und Wieselburg; darüber hinaus sitzen deutsche Volksgruppen seit dem Mittelalter tief in den Karpaten (Zips, Siebenbürgen) und sind seit den siegreichen Türkenkriegen des 17./18. Jahrhunderts in der Mitte Ungarns (Ofener Gebirge, Bakonywald, Schwäbische Türkei) sowie in der Batschka und im Banat, ja sogar in der Dobrudscha und in Bessarabien zu finden. Etwa 2 Millionen Deutsche wohnen in Südosteuropa, davon ½ Million in Ungarn und Jugoslawien, etwa ¾ Millionen in Rumänien, fast 200 000 in der Slowakei. Jeder Staat Südosteuropas hat seine Minderheitenfragen... Die Judenfrage ist besonders in Rumänien und Ungarn brennend.“14 Zum Begriff „Südosteuropa“ ist in derselben Quelle folgendes zu finden: „Der politische Bergriff „Südosteuropa“ umfasst die Naturgebiete der innerkarpatischen Donaubeckens und des südlichen Karpatenvorlandes „Moldau, Walachei“ sowie die Balkanhalbinsel. Das deutsche Donauland gehört noch zum südöstlichen Mitteleuropa; in den Randgebieten reicht es aber in das westliche innerkarpatische Becken hinein; Wien und Graz sind deutsche Schlüsselstellungen an den Eingangstoren nach Südosteuropa. Südosteuropa umfasst etwa 983 000 qkm und rund 64 Mill. Menschen; es gliedert sich in folgende Staaten: die Slowakei, die unter deutschem Schutz steht, Ungarn, Rumänien, Jugoslawien, Bulgarien, Griechenland, ferner greifen Italien und die Türkei nach Südosteuropa über, Italien durch Istrien, Fiume, einige dalmatinische Inseln und die Stadt Zara (Venezia Giulia) sowie das im April 1939 eingegliederte Albanien, die Türkei durch Ostthrazien.... Auch die politische Ausrichtung ist nicht einheitlich, entsprechend den verschiedenen geographischen, völkischen, geistigen und wirtschaftlichen Beziehungen. Die Slowakei ist ein selbständiger Staat, mit Hilfe des Deutschen Reiches entstanden und steht unter dessen Schutz.“15
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Vgl.dass., S.15. BARCH R 153/1556 – Arbeitsberichte 1943. Dass. Taschen-Brockhaus zum Zeitgeschehen. Leipzig 1940. S.246. Dass., S.245.
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So ließ die „Leipziger Vierteljahresschrift für Südosteuropa“ am Ende ihres vierten Jahrganges ein besonderes „Slowakei-Heft“ erschienen, das nicht nur die engen Beziehungen zwischen der Slowakei und Hitlerdeutschland dokumentieren sollte, sondern das auch im Zeichen einer Partnerschaft zwischen der Universität Leipzig und der Universität Preßburg/Bratislava stand. Die dort veröffentlichten Beiträge gaben ein weitgehend umfassendes Bild der Slowakei und ihrer Kultur: Adalbert Tuka: Neueuropa und die Slowaken. Łjudevit Novák: Die slowakische Sprache. Andrej Mráz: Die slowakische Literatur. Vladimir Wagner: Über die Entwicklung der slowakischen bildenden Kunst. František Bokesz: Literarische Übersicht des geschichtlichen Schaffens in der Slowakei. František Zagiba: Geschichte der slowakischen Musik von den frühesten Zeiten bis zur Gegenwart. Andrej Melicherčik: Die slowakische Volksdichtung. Łjudevit Knapek: Die slowakische Universität in Pressburg.16 Die „Leipziger Vierteljahresschrift für Südosteuropa“ wurde mit ihrem ersten Jahrgang 1937 vom Südosteuropa-Institut an der Universität Leipzig herausgegeben, ab Jahrgang 5/1941 erfolgte die Herausgabe in Zusammenarbeit mit dem „Südostausschuss der Deutschen Akademie“ in München, im Jahre 1942 wurde mit dem 6.Jahrgang der Zeitschrift noch die Zusammenarbeit mit der „Balkankommission“ der Akademie in Wien erwähnt. Mit dem 7. und letzten Jahrgang der Zeitschrift wurde die Herausgeberschaft des Südosteuropa-Instituts der Universität Leipzig in Zusammenarbeit mit dem „Südost-Ausschuss der Deutschen Akademie“ sowie der „Südostgemeinschaft der Wiener Hochschulen“ angeführt. Aus der „Vierteljahresschrift“. kann man u.a. entnehmen, dass im Wintersemester 1942/43 unter den allgemeinen Lehrveranstaltungen der Universität Leipzig eine Vorlesung von Erich Dittrich zum Thema „Großdeutschland und Südosteuropa“ durchgeführt wurde,17 ferner dass in der Zeit vom 14. bis 30. Juli 1941 der 6. Südosteuropa-Ferienkurs durchgeführt wurde, an dem Bulgaren, Griechen, Kroaten, Rumänen, Serben, Slowaken und Ungarn teilgenommen hatten.18 Von dem Historiker Helmut Berve wurde über die Hundertjahrfeier der Universität Athen berichtet,19 rückblickend wurde von Curt Beyer ein Artikel mit dem Thema „50 Jahre Institut für Rumänische Sprache an der Universität Leipzig“ veröffentlicht.20 Neben all diesen heute noch interessanten Beiträgen zu Fragen und Ereignissen Südosteuropas findet sich aber eine Abhandlung von Michael Hesch zur rassenpolitischen Stellung Südosteuropas im Lichte der Blutgruppenforschung, eine Darstellung, die folgendermaßen begründet wird: „Südosteuropa wird hier ins Auge gefasst als Brücke zwischen dem Rumpfe Europas und Vorderasiens, auf der sich seit den frühesten Zeiten der Menschheit Wanderungen von Völkern und Kulturen in beiden Richtungen, von Westen nach Osten und umgekehrt, vollzogen haben. Es genügt die Erinnerung an die geschichtlich bekannten Volksbewegungen. Unsere Hauptfrage wird sein, wie weit die Blutgruppenverteilung Aufschluss zu geben vermag über den Anteil westlichen – ursprünglich europäischen – und östlichen – ursprünglich asiatischen Blutes an der Blutzusammensetzung der heutigen Völker Südosteuropas. Die Beantwortung dieser Frage ergibt sich aus dem Vergleich der Häufigkeiten einzelner Blutgruppen bei den Völkern SO-Europas und den entsprechenden Häufigkeiten bei
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Letztes Heft der „Leipziger Vierteljahresschrift für Südosteuropa Jahrgang IV: „Slowakei-Heft“. In: Leipziger Vierteljahresschrift für Südosteuropa 2, 1939, H.4, S.239-251. Dass., 6, 1942, H.1-3, S.214ff. Dass., 1, 937, H.2, S.81-82. Dass.
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den westlicheren und nördlicheren Völkern Europas einerseits, den Völkern Vorderasiens andererseits. Über die rein geographischen Feststellungen hinaus, die wir für die Blutgruppenhäufigkeiten machen, gestattet deren Gesamtverteilung über die Völker der Erde, bei unserer Fragestellung im besonderen für den Festlandsblock Europa-Asien, auch eine rassengeschichtliche Beurteilung der Blutgruppen, die uns berechtigt, wie erwähnt, von ursprünglich der europäischen und ursprünglich der asiatischen Menschheit angehörenden Gruppen zu sprechen.“21 Der Verfasser kommt nach seinen ausgiebigen Erhebungen und Erwägungen dann zu folgendem Schluss: „Gegenüber Osteuropa, das seinen Anteil an B-Blut zweifellos größtenteils auf dem unmittelbaren Weg aus Innerasien erhalten hat, hat der Südosten wesentlich weniger östlichen Bluteinschlag erhalten.“22 Eine zeitgeschichtliche Frage wird mit dem Beitrag von Erich Dittrich, der seinerzeit als Dozent an der Universität Leipzig lehrte, angeschnitten, wenn er in seinem in der „Vierteljahresschrift“ veröffentlichten Vortrag auf die Frage des Verhältnisses von „Großdeutschland“ zu Südosteuropa eingeht: „Das alte Jahr 1938 wird einer späteren, rückschauenden Besinnung als das geschichtlich wohl bedeutungsvollste seit 1918 erscheinen. Denn viel klarer wird sich dann gerade dieses Jahr herausheben, als es heute den Mitlebenden möglich ist, der noch in dem Strudel sich schier überstürzender Ereignisse steht. 1938 bedeutet einen Wendepunkt. Es brachte den alten Traum der Deutschen zur politischen Wirklichkeit, indem es Großdeutschland werden ließ. Der lange und schmerzvolle Umweg der deutschen Geschichte mündete damit endlich in seine eigene Straße. Er überwand damit endgültig Versailles und seine Ordnung, die gerade auf die Verhinderung jenes Großdeutschland angelegt war. Es überwand aber auch die alten kleindeutschen und habsburgischen Ideologien: nicht durch neue Formen, sondern durch die Kraft vollerlebten, mächtigen politischen Handelns, wie es erst die Heimkehr der Ostmark, dann die Eingliederung Sudetendeutschlands mit sich brachte.“23 Entsprechend diesen neuen Voraussetzungen wurden auch die Südosteuropa-Ferienkurse des Südosteuropa-Institutes an der Universität Leipzig gestaltet, wenn es zum dritten Kurs dieser Art in einem Werbeprospekt hieß: „Der Kursus wendet sich an die Dozenten und Studierenden des In- und Auslandes und an alle, die an der Pflege wissenschaftlicher und kultureller Beziehungen zwischen den Völkern des Südostens und dem deutschen Volke interessiert sind. Neben der Darstellung deutscher Kultur und Wirtschaft in Einzelbeispielen sollen die Beziehungen zwischen den Völkern und Staaten des Südostraumes und Deutschland Behandlung finden. Besonderes Gewicht wird in diesem Kursus darauf gelegt, den Teilnehmern neben den wissenschaftlichen Vorträgen Kenntnis von den Einrichtungen und Ideen des Neuen Deutschland durch eine auf dieses besondere Thema eingestellte Vortragseihe zu vermitteln.“24 Der dritte Südosteuropa-Ferienkurs, der vom 24. Juni bis 13. Juli 1938 in der „Reichsmessestadt Leipzig“ stattfand, brachte am 5. Juli den Vortrag des Germanisten Bruno Schier zum Thema „Die Auseinandersetzung zwischen Deutschen und Slawen in volkskundlicher Sicht“ sowie einen Vortrag des seinerzeitigen Präsidenten des Leipziger Südosteuropa-Institutes Professor Willmann, der am 24. Juni 1938 das Thema „Die Ordnung des deutschen Lebensraumes“ behandelte. 21 22 23 24
Dass., 1, 1937, H.3, S.18-39, hier. S.18. Dass, S.28. E. Dittrich: Großdeutschland und Südosteuropa, in. Leipziger Vierteljahresschrift für Südosteuropa 2, 1939, H.,4, S.239. BARCH R 153/103 – Deutsche Akademie. München. 1935-1939.
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Eine zentrale Rolle für die Südosteuropa-Forschung und die Beziehungen Deutschlands zu den südosteuropäischen Ländern spielte in den Jahren zwischen 1933 und 1945 die „Deutsche Akademie“ in München mit ihrem gegen Ende des Jahres 1936 gegründeten „Südostausschuss“, der das Ziel verfolgte, sich mit den Ländern Ungarn, Rumänien, „Südslawien“/Jugoslawien, Bulgarien, Griechenland, Albanien und auch der Türkei erschöpfend zu befassen. Angeregt durch das französische Vorbild hatten bereits Leibniz, Klopstock und Herder, später sogar Bismarck versucht eine eigene Deutsche Akademie zu begründen, die vor allem als eine „Schützerin der deutschen Sprache“ wirken sollte.25 Erst im Jahre 1925 war es aber gelungen, eine solche „Deutsche Akademie“ in München zu begründen, deren erster Präsident der katholische Kirchenhistoriker Georg Pfeilschifter (1870-1936) war. Aufgabe dieser Akademie sollte es sein, sich für das Deutschtum im Ausland einzusetzen. So erstreckte sich dementsprechend das Arbeitsgebiet der Akademie auch auf Ost- und Südosteuropa, von den baltischen Ländern bis zum Schwarzen Meer. Die Tätigkeit der Akademie wurde eingeteilt in eine „praktische“ und eine „wissenschaftliche Abteilung“ Besonders bemühte sich diese Einrichtung um das Deutschtum in Lettland und Estland, wobei es ihr dort vor allem um die Verwirklichung einer Kulturautonomie ging. Zum Programm der „praktischen Arbeit“ gehört auch die Verbindung zum „HerderInstitut“ im lettischen Riga und zur Universität Dorpat in Estland. Der „Deutschen Akademie“ wurde alles anvertraut, was in Ost- und Südosteuropa mit dem Deutschtum zusammenhing, so auch die Herausgabe einer „Biographie des Deutschtums im Auslande“, eine Darstellung des geistigen Lebens der Deutschen im Ausland, ferner eine „Agrargeschichte des Deutschtums im Ausland. Geplant war auch eine „Deutsche Sprachgeschichte“, die auf weit mehr als zehn Bände angelegt wurde, ein Werk, das nicht nur philologisch-grammatisch ausgerichtet sein sollte, sondern auch den sprachlichen und kulturellen Einfluss der Deutschen in Ost- und Südosteuropa darstellen sollte.26 Neben der Forschung war es vor allem die Arbeit an der weiteren Verbreitung der deutschen Sprache im Ausland, die einen großen Teil der Aufgaben der „Deutschen Akademie“ ausmachte und die, wie es wörtlich in zeitgenössischen Ausführungen zur „Deutschen Akademie“ heißt, „wiederum hinführt zu den Lebensäußerungen und Lebensumständen unserer deutschen Brüder und Schwestern jenseits der Reichsgrenzen und in Übersee.“27 Wie das Lateinische einst die Sprache der Bildung gewesen ist, wie nach der französischen Revolution das Französische in Verbindung mit den Ideen der Revolution des Nationalismus liberalerer Art und Idee von der sogenannten „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ seinen Siegeszug über die Welt antrat und weithin zur Sprache der Gebildeten und Diplomaten wurde, wie im Zeitalter der Weltwirtschaft und des liberalen Welthandels englischer Prägung das Englische als Verkehrs- und Wirtschaftssprache sich eine führende Stelle in der Welt eroberte, so muss es heute die Aufgabe sein im Zeitalter der nationalsozialistischen Revolution in der von ihren Triebkräften ausgehenden Neuordnung Europas die deutsche Sprache zu der weltübergeltenden Sprache zu machen.“28 Um das Interesse an der Arbeit der „Deutschen Akademie“ im In- und Ausland zu fördern, wurden auch Preise gestiftet, die in jedem Jahr anlässlich der Hauptversammlung der Akademie verliehen wurden und zwar: 1. Ein Preis für deutschkundliche Forschung wurde von der Deutschen Akademie jeweils für ein hervorragendes Werk auf dem Gebiete der Geschichte und Pflege der deutschen Sprache, der deutschen Literaturgeschichte, der Volks- und Altertumskunde verliehen. 25 26 27 28
Dass. Dass. BARCH R 153/103 – Deutsche Akademie. München. 1940-1942. Dass.
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2. Ein weiterer Preis wurde für wissenschaftliche Förderung „zwischenvölkischer Geistsbeziehungen“ verliehen. Der Verleihung sollte ein hervorragendes Werk auf dem Gebiete der „Aufhellung deutsch-andersvölkischer Kulturbeziehungen“ zugrunde gelegt werden, das geeignet erschien fruchtbringend zur Vertiefung der gegenseitigen Kenntnis eigenständiger Völker beizutragen. 3. Um die Erlernung der deutschen Sprache für Ausländer zu fördern, stiftete die „Deutsche Akademie“ auch Preise für methodische und sprechkundliche Arbeiten auf dem Gebiete des Deutschunterrichts für AusländerDie Tätigkeit des „Südostausschusses der Deutschen Akademie“ in München wurde von Gerhard Gesemann, Professor für Slawische Philologie an der Deutschen Universität Prag, 1937 folgendermaßen beschrieben: „Der Ausschuss glaubt, einem fruchtbaren kulturellen Austausch zwischen dem deutschen Volke und den Völkern des europäischen Südostens ganz besonders dadurch dienen zu können, daß er sich bemüht, das volklich-geschichtliche und kulturelle Werden und das volklich-geistige Wesen der südöstlichen Völker dem Verständnis der Deutschen näher zu bringen, als das bisher der Fall war. Er hält eine auf wissenschaftlich einwandfreier und das Wesenhafte betonenden Vermittlung beruhende und in weitesten deutschen Kreisen verbreitete Kenntnis des Südostens, besonders des Balkans, für die notwendige Grundlage jeder kulturellen Fühlungnahme und jeden kulturellen Austauschs zwischen der deutschen und der südöstlichen Volkskultur, eine Grundlage, die von deutscher Seite geleistet werden muß, wenn man erwartet, daß sich die Gegenseite ihrerseits für die deutsche Kultur interessiere...“29 In der Tat war in den dreißiger Jahren manches zur besseren Kenntnis der südosteuropäischen Völker und ihrer Kulturen veröffentlicht worden. So hatte der R. Noske Verlag in Leipzig eine Buchreihe zur Vermittlung der Kenntnis der Donau- und Balkanvölker ins Leben gerufen, als deren erster Band 1935 „Das Königreich Südslawien“ erscheinen konnte, weitere Bände zu Ungarn und zu Bulgarien befanden sich in Vorbereitung. Das Verständnis fremden Volkstums in Südosteuropa konnte auch durch Übersetzung und Herausgabe entsprechenden Schrifttums gefördert werden. So konnten beim Verlag Lange-Müller in München Gerhard Gesemanns „Helden, Hirten und Hajduken“ sowie eine Sammlung „Neuere bulgarische Erzähler“ erscheinen. Bei der Tagung der „Deutschen Akademie“ im Dezember 1940 beschloss der „Südostausschuss“ unter der Leitung des Münchener Byzantinisten Franz Dölger die Herausgabe eines großen wissenschaftlichen Balkan-Lexikons. Dieses Lexikon sollte erstmals die politischen, geschichtlichen, kulturellen, soziologischen und wirtschaftlichen Verhältnisse Bulgariens, Jugoslawiens, Albaniens, Griechenlands, Rumäniens und auch der europäischen Türkei darstellen. Für die Mitarbeit sollten deutsche und ausländische Fachvertreter gewonnen werden. Die Hauptschriftleitung des wissenschaftlichen Vorhabens wurde Franz Dölger, München und Georg Stadtmüller, Leipzig übertragen. Für die Bearbeitung Bulgariens wurde der Grazer Slawist Josef Matl beauftragt.30 Bereits im Juli 1941 konnte Georg Stadtmüller im „Europäischen Wissenschaftsdienst“ unter dem Thema „Die deutsche Balkanforschung und das neue deutsche Balkanlexikon“ nähere Angaben zu dem geplanten Lexikon machen: 29 30
G. Gesemann: Der Südostausschuß der Deutschen Akademie in München, in: Leipziger Vierteljahresschrift für Südosteuropa 1, 1937, H.2, S.77-80, hier: S.77. G. Stadtmüller: Ein wissenschaftliches Balkan-Lexikon, in: Leipziger Vierteljahresschrift für Südosteuropa 5, 1941, H1-2, S.-149-150. Vgl. hierzu auch „Balkan-Lexikon“ in. Deutsch-bulgarische Kulturbeziehungen, in: Bulgaria. Jahrbuch 1940/41 der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft e.V. Berlin. Leipzig o.J. S.277.
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„Dieses Nachschlagewerk soll dem Benutzer die Möglichkeit geben, sich sowohl über größere kulturelle Zusammenhänge wie auch über einen Einzelgegenstand oder eine Einzelfrage aus dem Bereiche des Balkans kurz, zuverlässig und unmittelbar, d.h. durch alphabetisch angeordnete Einzelartikel, zu unterrichten und Hinweise auf weiterführendes Schrifttum zu finden. Als Benutzer ist an den gebildeten Deutschen sowie an den ausländischen, besonders den balkanischen Gebildeten und Wissenschaftler gedacht Dabei soll die kulturgeschichtlich gewachsene Einheit des Gesamtbalkan bei der Bearbeitung stets im Vordergrund stehen. Die gesamtbalkanischen (d.h. auf dem gesamten Balkan verbreiteten) Erscheinungen sollen daher stets besonders ausführlich behandelt werden. Das Schwergewicht liegt auf der Darstellung des gegenwärtigen Zustandes. Entsprechend dem wissenschaftlichen Charakter des Balkanlexikons sollen jedoch überall auch die geschichtliche Entwicklung, der allgemein-kulturelle Zusammenhang und die auswärtigen Einflussfaktoren ausführlich zur Darstellung kommen. Zeitlich soll das Altertum, d.h. die Zeit vor der slawischen Landnahme (um 600 n. Chr.) soweit es sich nicht um entwicklungsgeschichtlich wichtige gesamtbalkanische Erscheinungen (z.B. Thraker und Illyrier) handelt, in den Hintergrund treten. Der Schwerpunkt der Darstellung soll auf dem 19. und 20. Jhd. ruhen. Mit besonderer Ausführlichkeit sollen die deutschen Kulturbeziehungen zum Balkan und die deutsche kulturelle Arbeit für den Balkan dargestellt werden. Der geographische Stoffbereich des Balkanlexikons, als das was hier unter „Balkan“ verstanden wird, umfasst die Länder Albanien, Bulgarien, Griechenland, Rumänien, die europäische Türkei sowie den größten Teil der ehemaligen jugoslawischen Räume. In sachlicher Hinsicht soll der Schwerpunkt der Darstellung, entsprechend dem Charakter des Werkes, auf der kulturgeschichtlichen Erschließung des Stoffes beruhen. Es sollen also alle Lebensgebiete der balkanischen Völker, in einzelne alphabetisch geordnete Stichworte aufgelöst, im Lexikon erscheinen. Da das Balkanlexikon aber auch der schnellen Unterrichtung über einen einzelnen Gegenstand dienen soll, soll es neben Übersichtsartikeln über größere oder kleinere Sachgebiete auch Einzelartikel über Personen, Örtlichkeiten, Einrichtungen usw. enthalten, d.h. neben den zusammenfassenden Artikeln sollen zahlreiche andere stehen, in welchen die Einzelgegenstände dieses zusammenfassenden Artikels, auf welche vom zusammenfassenden Artikel aus verwiesen wird, an ihrer alphabetischen Stelle gesondert behandelt werden. Der Übersichtsartikel wird so von Einzelheiten entlastet und für den Leser durchsichtiger.“31 Geplant war dieses Balkanlexikon in einzelnen Länderbänden erscheinen zu lassen. Gesamtbalkanische Erscheinungen sollten gesondert in einem zusammenfassenden Schlussband dargestellt werden. Die äußere Gestaltung des Balkan-Lexikons sollte sich an das „Handwörterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums“ anlehnen. Das Lexikon sollte mit zahlreichen Abbildungen und Karten ausgestattet werden. Die Herausgabe sollte dem Verlag Otto Harrassowitz, Leipzig, übertragen werden Die Gesamtredaktion des BalkanLexikons war Franz Dölger, München, Gustav Fochler-Hauke sowie Georg Stadtmüller übertragen worden. Als Länderredakteure bzw. Sachredakteure wurden namhafte Fachvertreter für Fragen des Balkans benannt, nämlich Hermann Gross für den Bereich Wirtschaft, Norbert Görke für Rechtswissenschaft, Carl Kassner für kulturelle Beziehungen insbesondere zu Bulgarien, Hans Koch für Religions- und Kirchengeschichte, Paul Kretschmer für Sprachwissenschaft, Richard Lepsius für Technik, Fritz Machatschek für Geographie, Josef Matl für Literatur, Josef März für Verkehrswesen und Geopolitik, Oswald Menghin für 31
G. Stadtmüller: Die deutsche Balkanforschung und das neue deutsche Balkanlexikon, in: Europäischer Wissenschaftsdienst Nr.7, Berlin 22.Juni 1941, S.4-5.
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Vorgeschichte, Albrecht von Reiswitz für Geschichte, Edmund Weigand für Kunstgeschichte und Walter Wünsch für Musikwissenschaft.32 Abschließend zeichnete Georg Stadtmüller nochmals die großen Perspektiven auf, die das geplante „Balkan-Lexikon“ nicht nur für die Wissenschaft, sondern eben auch für eine breitere Öffentlichkeit ermöglichen sollte: „So ist zu hoffen, daß hier aus der planmäßigen Zusammenarbeit zahlreicher deutscher Fachleute ein Werk entsteht, das nicht nur eine bestehende Lücke ausfüllt, sondern das den heutigen Stand unserer Kenntnisse über den Balkan zusammenfasst und weiterführt. Zum ersten Male soll hier das kulturgeschichtliche Profil des Gesamtbalkans, den wir durch die Forschungsarbeit der letzten Jahrzehnte als gewachsene Einheit zu sehen gelernt haben, gezeichnet werden. So wird ein neues und in vielen Dingen überraschendes Bild der balkanischen Welt entstehen, die bis in das 19.Jhdt. hinein mit ihrer urtümlichen Volksordnung wie ein Stück unveränderter Vorzeit sich erhalten hat, in ihrer Urtümlichkeit uns Deutsche vielfach erinnernd an ähnliche Züge in der Welt des altgermanischen Altertums. Und zugleich wird hier ein Werk geschaffen werden, das an seinem Platze berufen ist, durch Weite der Konzeption und Zuverlässigkeit des Inhaltes wiederum Zeugnis abzulegen von der Weltmacht des deutschen Geistes.“33 Die „Deutsche Akademie“ zur wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums, wie sie sich selbst auch zu bezeichnen pflegte, hatte sich die Aufgabe gestellt, regelmäßig „Südostberichte“ zu veröffentlichen, die vom Präsidenten der Akademie, Karl Haushofer, Professor der Geographie an der Universität München, mit den folgenden Sätzen vorgesellt wurden: „Die Aufgaben dieser monatlich erscheinenden Lageberichte über Albanien, Bulgarien, Griechenland, Rumänien, Südslawien, die Türkei und Ungarn deckt sich mit einer Forderung, die die Deutsche Akademie von Anfang ihrer Tätigkeit an zu genügen bestrebt war: der Forderung nach einer ernsten und gründlichen Unterrichtung über den Südostraum und nach einer Vertiefung des geistigen und wirtschaftlichen Austausches seiner Staaten mit Deutschland. Diesem Ziele sucht der Südost-Bericht zu dienen, indem er mit Sorgfalt und möglichster Genauigkeit Tatsachen bringt und die Einsicht in die Bedeutung dieser Tatsachen allgemein zu machen trachtet. Die Deutsche Akademie hofft auf diese Weise ein gültiges Bild der geistigen und wirtschaftlichen Kräfte zu geben, die den Südosten von innen und außen her bestimmen und deren immer wieder überprüfte Kenntnis für den eigenen Einsatz Deutschlands in ihm unerlässlich ist.“34 Wie weit der Einflussbereich der „Deutschen Akademie“ in und außerhalb Deutschlands reichte, zeigen die Beziehungen zu Griechenland, die vor allem von der „DeutschGriechischen Gesellschaft“ und den „Griechisch-deutschen Vereinigungen“ in Athen und Thessaloniki getragen wurden. Das Organ dieser Gesellschaften war das „Hellas-Jahrbuch“, das mit Unterstützung des „Südost-Ausschusses der Deutschen Akademie in München“ veröffentlicht wurde. In einem dort 1940 erschienenen Beitrag von Heinz Nitschke wird ausgeführt, dass die „Deutsche Akademie München“ bereits seit Jahren rege Beziehungen zu Griechenland unterhalten habe. So wird über zahlreiche Deutschlektorate in Griechenland berichtet, wo mehrere Tausend Griechen in die deutsche Sprache eingeführt wurden. Neben dem Sprachunterricht wurde im Rahmen von Konzerten, Vorträgen, Ausflügen und geselligen Veranstaltungen, aber auch durch die Einrichtung von Lesestuben für einen nachhaltigen geistigen Austausch gesorgt. Dass die Veranstaltungen der deutsch32 33 34
„Balkan-Lexikon“ in: Deutsch-bulgarische Kulturbeziehungen, in. Bulgaria. Jahrbuch 1940/41 der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft e.V. Berlin. Leipzig o. J. S.277. G. Stadtmüller: Die deutsche Balkanforschung und das neue deutsche Balkanlexikon, in. Europäischer Wissenschaftsdienst Nr.7, Berlin 22. Juni 1941, S.5. H. Nitschke: Die Deutsche Akademie in Griechenland, in: Hellas-Jahrbuch VI, 1940, S.75-76.
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griechischen Gesellschaften nicht nur traditionelle Themen wie die griechisch-deutschen Hochschulbeziehungen behandelten, sondern auch ideologisch ausgerichtete Veranstaltungen durchführten, zeigen Hinweise auf Vorträge über Erbgesundheitslehre. Die Veranstaltungen wurden von einer „Mittelstelle für deutsch-griechischen Kulturaustausch“ in Athen, einer Außenstelle der Deutschen Akademie in München durchgeführt. Wie aus einem Tätigkeitsbericht der Deutsch-Griechischen Gesellschaft für das Jahr1939 hervorgeht, waren der Sitz des Präsidiums sowie einer Zweigstelle Göttingen, weitere Zweigstellen der Gesellschaft wurden in Hamburg, München, Leipzig, Dresden und Wien unterhalten.35 Ein besonderes Unternehmen hatte sich die deutsche Forschung auf dem Berg Athos im Kriegsjahr 1941 vorgenommen, das zumindest in personeller Hinsicht nicht mit der „Deutschen Akademie“ in München in Verbindung zu bringen ist, da ihre wissenschaftliche Leitung der Münchener Byzantinist Franz Dölger übernommen hatte. Das Interesse der Nationalsozialisten galt ganz offensichtlich nicht nur den verschiedenen Völkerschaften Südosteuropas, sondern auch ihrer Kultur, wenn im Sommer 1941 nach Beendigung des Balkankrieges vom Sonderkommando Griechenland des „Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg/ERR“ für die besetzten Gebiete eine wissenschaftliche Expedition zum Berg Athos angesetzt wurde, die mit Unterstützung von Wehrmacht und Marine von Stabsführer Utikal geleitet wurde, Im Oktober 1942 wurde über das Unternehmen in Wort und Bild berichtet: „Im Kloster Konstantoviti war es, da befand sich am Ehrenplatz des Empfangszimmers das Bild unseres Führers. In einer illustrierten Zeitung hatte ein Mönch das Bild gefunden und hatte nach dieser Vorlage eine Bleistiftzeichnung hergestellt. Auch anderweitig konnten wir beobachten, wie stark die Persönlichkeit des Führers und das Großdeutsche Reich die Vorstellungswelt der Athosbewohner, soweit sie nicht völlig weltabgewandt sind, beeindruckt. In mehreren Klöstern begrüßte uns schon beim Empfang und in einem Kloster (Dionisiu) beim Abschied, als wir mit unserem Schifflein auf das Meer hinausfuhren, die Hakenkreuzflagge. Der Führer gilt sehr vielen Mönchen als der „Hohe Protektor des heiligen Berges“, der auch bei der Neuordnung der Welt seine schützende Hand über den Heiligen Berg halten werde.“36 Ein anderer Bericht über diese Expedition wurde von Franz Dölger 1942 im „Europäischen Wissenschaftsdienst“ unter dem Titel „Deutsche Forschung auf dem Athos im Kriegsjahr 1941“ veröffentlicht, wo er u.a. ausführt: „1941 bot sich nun durch die neue Lage die Möglichkeit sich, frei von den friedensmäßigen Schikanen, einen Einblick in die eigenartige Welt des östlichen Mönchtums auf dem Athos zu verschaffen und zugleich der Wissenschaft einen wesentlichen Dienst zu erweisen. Der Berichterstatter wurde nach Abwicklung seiner militärischen Obliegenheiten mit der Vorbereitung und Leitung einer Athosexpedition beauftragt, an welcher außer dem Expeditionsleiter auch Reichshauptstellenleiter Deindl, Berlin, zur Orientierung über das ostkirchliche Mönchtum, ferner Dr. Treitinger, München, als wissenschaftlicher Helfer des Leiters sowie Dr. Krell von den wissenschaftlichen Sammlungen in Kassel als Spezialphotograph und zwei Griechen als Hilfskräfte teilnehmen sollten. Die Unternehmung sollte ohne jeglichen militärischen oder politischen Druck, mit den friedensmäßigen Empfehlungen unter Beifügung von Empfehlungen der deutschen militärischen Dienststellen vonstatten gehen: sie sollte versuchen, von allen Kunstgegenständen und Urkunden, welche der Wissenschaft bisher noch nicht oder nur in unzulänglichen Abbildungen zugänglich waren, ausreichende Lichtbilder zu gewinnen.“37 Über den eigentlichen Verlauf der Expedition berichtet Franz Dölger weiter: 35 36 37
Tätigkeitsbericht der Deutsch-Griechischen Gesellschaft für das Jahr 1939, in. Hellas-Jahrbuch VI, 1940, S.82ff. Mönchsland Athos. München 1943. S.290. F. Dölger: Deutsche Forschung auf dem Athos im Kriegsjahr 1941, in: Europäischer WissenschaftsDienst 2, 1942, Nr.16, S.-11.
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„Der Kreuz- und Querritt durch die Halbinsel – man muß hier auf zahlreiche lokale, u. a. auch kalenderbedingt Behinderungen der Arbeit Rücksicht nehmen - , führte uns durch 18 der insgesamt 20 Großklöster: 15 griechische, 1 bulgarisches, 1 serbisches und 1 russisches. Auch hier war die Aufnahme überall freundlich und entgegenkommend, in den meisten Klöstern sogar ausgesprochen herzlich, begrüßte man in uns doch nicht nur die Vertreter des großen, bei den Griechen stets hochangesehenen, wegen seiner wissenschaftlichen und technischen Leistungen bewunderten deutschen Volkes, sondern des soeben gegen den gottlosen Bolschewismus mit siegreichen Fahnen angetretenen deutschen Heeres. So konnten wir in einer Atmosphäre ungetrübten Vertrauens in Erfüllung unserer Aufgabe sogar Kunstgegenstände kultischen Charakters aufnehmen, die man sonst vor derartiger Profanierung ängstlich hütet: Wir konnten vor allem in den weitaus meisten Fällen an die Urkundenarchive selbst herankommen, die sonst den Fremden aus den verschiedensten Gründen verschlossen bleiben, so war es uns schließlich möglich, nicht nur die von den Mönchen selbst getroffene, für „neugierige“ Fremde bereitliegende Auswahl an Urkunden zu studieren und zu photographieren, sondern in systematischer Durchsicht alles uns interessierende aus den Gesamtbeständen eigenhändig auszusuchen und dabei zahlreiche und völlig unbekannte Stücke ans Licht zu ziehen. Darunter war u. a. eine bisher noch völlig unbekannte Urkundenart, die Sebastokratorurkunde mit der blauen Unterschrift dieses hohen byzantinischen Funktionärs. So gelang uns im Laufe von vier Wochen, in stetigem besten Einvernehmen mit den Mönchen Landschaften, Gebäude in Außen- und Innenansicht, Wandmalereien, Ikonen, Kleinkunstgegenstände, Miniaturen und Urkunden sowie charakteristische Bilder aus dem Leben der Athosmönche in reicher Fülle im Bilde einzufangen...“38 Dölger kam zu dem Ergebnis, dass zum ersten Male wissenschaftliches Material für die Erforschung von Patriarchen-, Beamten- und Privaturkunden zur Verfügung stehe, ferner auch eine Reihe von offenen Fragen der byzantinischen Prosopographie, Sigillographie und Chronologie einer Lösung zugeführt werden könnten. Zu der ausgedehnten, in Umrissen für Südosteuropa geschilderten Tätigkeit der „Deutschen Akademie“ mit ihrem Zentrum in München kamen die „Deutschen Wissenschaftlichen Institute“, mit deren Hilfe der politische Einfluss des Deutschen Reiches im Ausland vermehrt werden sollte. 16 europäische Hauptstädte erhielten „Deutsche Wissenschaftliche Institute“. Das erste dieser Art wurde am 6.April 1940 unter der Leitung des Romanisten Ernst Gamillscheg (1887-1971) in Bukarest eingerichtet, es folgten weitere „Deutsche Wissenschaftliche Institute, so in Sofia unter der Leitung des Historikers Hans Koch, im Jahre 1943 in Zagreb und Preßburg, ein letztes „Deutsches Wissenschaftliches Institut“ wurde 1944 in Tirana gegründet, eine Zweigstelle des „Deutschen Wissenschaftlichen Institutes“ in Bukarest wurde noch 1944 in Odessa eingerichtet, geleitet von dem Romanisten und Balkanologen Günter Reichenkron (1907-1963). Durch die „Deutschen Wissenschaftlichen Institute“ sollte eine Beeinflussung anderer Völker im Sinne des nationalsozialistischen Deutschland erfolgen, in ihrem Falle sollten aber wissenschaftliche Leistungen die politische Propaganda ersetzen. So standen in der Regel an der Spitze dieser Einrichtungen angesehene Wissenschaftler deutscher Universitäten. Die Institute waren in der Regel in drei Bereiche aufgegliedert, nämlich neben einer allgemeinen Abteilung gab es eine mit wissenschaftlichen Aufgaben, ein weitere für die Vermittlung der deutschen Sprache, zu denen gelegentlich noch eine Schrifttumsabteilung kommen konnte. Das „Deutsche Wissenschaftliche Institut“ in Zagreb wurde von Gustav Adolf Walz als Präsident geleitet, in Belgrad hatte die Leitung zuerst Gerhard Gesemann (1888-1948), 38
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dann bis 1944 Alois Schmaus (1901-1970) inne. Lassen sich für das Zagreber Institut keine Veröffentlichungen nachweisen, so ist das Gegenteil beim Belgrader Institut der Fall gewesen, für das sich drei Bände der „Schriften des Deutschen Wissenschaftlichen Institutes“ finden lassen, nämlich: Ladislaus Weifert: Die deutschen Siedlungen und Mundarten im Südwestbanat. Belgrad 1941 Miloš Trivunac: Deutsche Lehnwortforschung im südslawischen Sprachraum. Belgrad 1941. Alois Schmaus: Lehrbuch der serbischen Sprache. Belgrad 1944.39 Bereits1940 hatte Alois Schmaus ein Lehrbuch mit 50 Lektionen unter dem Titel „Lebendiges Deutsch“ veröffentlicht, das 1941 und 1943 erneut aufgelegt wurde. Ein kleineres Lehrbuch „Serbisch für den Alltag“ war 1941 beim Wiking-Verlag in Berlin erschienen, 1943 wurde es vom Südost-Verlag erneut herausgegeben. Einen Sprachführer für die in Deutschlands beschäftigten kroatischen Arbeiter und Arbeiterinnen unter dem Titel „Njemački za Hrvate/Deutsch für Kroaten“ hatte der später in Heidelberg lehrende Slawist Johann(es) Schröpfer verfasst. Es erschien Anfang 1943 und stellte für drei Bereiche des Lebens in Deutschland in der Zeit des Zweiten Weltkrieges genaue Wortübersetzungen zur Verfügung.40 Als eine der Aufgaben der Zweigstelle des „Deutschen Wissenschaftlichen Institutes“ in Odessa war die Einführung des Deutschunterrichtes an den russischen Schulen Transnistriens vorgesehen, das als einzige Fremdsprache neben dem Rumänischen gelehrt werden sollte. Die militärischen Ereignisse des Jahres 1944 setzten der Tätigkeit der Zweigstelle in Odessa jedoch ein schnelles Ende. „Das Deutsche Wissenschaftliche Institut“ in Belgrad erhielt Ende August 1944 von der Deutschen Gesandtschaft die Weisung, die Arbeit des Institutes einzustellen, die Mitarbeiter nach Deutschland zurückzuschicken, so dass am 31. August 1944 sowohl die Bibliothek als auch die einzelnen Abteilungen geschlossen wurden.41 Das „Deutsche Wissenschaftliche Institut“ in Sofia war am 17. Oktober 1940 in Anwesenheit des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust feierlich eröffnet worden. Die Leitung dieses Institutes war dem Wiener Historiker Hans Koch übertragen worden, der bei der Eröffnung über die Grundlinien deutscher und bulgarischer Geschichte sprach, während der bulgarische Ministerpräsident und Unterrichtsminister Bogdan Filov bei dieser Gelegenheit die Hoffnung äußerte, dass das Institut in Sofia ein Mittelpunkt sein werde, wo sich die bulgarische Öffentlichkeit mit deutscher Sprache, Literatur und Kultur bekannt machen könnte. Mit der Stellvertretung Kochs in Sofia und der Leitung der wissenschaftlichen Abteilung wurde der Breslauer Turkologe und Islamwissenschaftler Herbert W. Duda (geb.1900) beauftragt, der dann noch 1944 die Leitung des neuen „Deutschen Wissenschaftlichen Institutes“ in Tirana übernommen hatte. Neben der von Duda geleiteten wissenschaftlichen Abteilung in Sofia gab es noch eine Sprachabteilung, eine Organisationsabteilung sowie eine öffentlich zugängliche Bibliothek. Die wissenschaftliche Abteilung des Institutes hatte als Forschungsschwerpunkt die osmanische Herrschaft auf der Balkanhalbinsel. Eine Sichtung des Vortragsprogramms des „Deutschen Wissenschaftlichen Institutes“ in Sofia für die Jahre 1941 und 1942 zeigt, dass neben politisch ausgerichteten Vorträgen immer wieder auch rein wissenschaftliche Themen einbezogen wurden, so z.B.: 39 40 41
Vgl. hierzu ausführlich bei F.-R. Hausmann: „Auch im Krieg schweigen die Musen nicht“. Die Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg. Göttingen 2001. Herausgegeben von der Deutschen Verlagsanstalt in Berlin. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes: R 64/311 – Deutsches Wissenschaftliches Institut in Belgrad.
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Kurt Bittel: Ausgrabungen in einer vorgeschichtlichen Siedlung bei Sv. Kirilovo in Südbulgarien. Petar Mutaftschiev: Die angebliche türkische Besiedlung der Dobrudscha im 15. Jahrhundert. Mit einem Korreferat von H.W. Duda. Diesen Themen standen aber Vorträge des Landesgruppenleiters J. Drechsel „Grundsätzliches zur Rassenfrage“ am 25. Oktober 1941 und Willy Böhms „Der deutsche Osten und das Reich“ am 28.Januar 1942 gegenüber. Unter der Bezeichnung „Bücherreihe des Deutschen Wissenschaftlichen Institutes/Biblioteka na Nemskija Naučen Institut“ wurden ausgewählte Werke der deutschen Literatur und Philosophie in Bulgarien herausgegeben, den Vertrieb der Bücher hatte der bulgarische Verlag „Haemus“ übernommen. Bis zum Beginn des Jahres 1942 waren in Bulgarien folgende Werke erschienen: Ein erster Band der Schillerausgabe. Einleitung Prof. Dr. K. Galabov. er enthielt die Dramen „Die Räuber“ und „Die Verschwörung des Fiesco zu Genua“, übersetzt durch den bulgarischen Schriftsteller Teodor Trajanov. Eine Volksausgabe von Schillers „Die Räuber“. Übersetzung, Einleitung und Kommentar von Stoevski. Eine Volksausgabe von Schillers „Die Verschwörung des Fiesco zu Genua“. Übersetzung von Teodor Trajanov. Einleitung und Kommentar von Rudolf Jentsch. Noch kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges konnten zwei weitere Veröffentlichungen erscheinen, die die bulgarische Literatur in deutschen Übersetzungen vermittelte, nämlich Gerhard Gesemanns „Zweiundsiebzig Lieder des bulgarischen Volkes“ und F.M. Kujews „Bulgariens Natur im Schaffen Iwan Wasows“. Die 1944 veröffentlichte Sammlung Gesemanns stellte bis vor kurzem noch eine Rarität dar und wurde 1996 als unveränderter Nachdruck neu herausgegeben. Die Abhandlung Kujews erschien in den „Südosteuropäischen Arbeiten“, herausgegeben im Auftrage des Deutschen Wissenschaftlichen Institutes, des Südost-Institutes in München sowie der Südost-Gemeinschaft Wiener Hochschulen von Kurt Knoll, Friedrich Machatschek und Fritz Valjavec. Im Vorwort wird deutlich, wie eng damals die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen Bulgarien und Deutschland sich entwickelt hatte: „Die Arbeit, deren Verfasser einige Semester als Reichsstipendiat mit der Abhaltung von Lektoratsübungen aus der bulgarischen Sprache im Seminar für slawische Sprachen der Universität Wien betraut war, wurde von mir nach dem bulgarischen Manuskript zur Veröffentlichung in deutscher Sprache druckfertig gemacht.“42 Ganz offensichtlich war das eingetreten, was sich Siegfried Zandtke in seinem 1939 in den „Nationalsozialistischen Monatsheften“ veröffentlichten Beitrag „Bulgarien wartet“ erhofft hatte, dass nämlich Bulgarien sich von den westeuropäischen Einflüssen abgewandt hatte und Deutschland nun näher gekommen war, die alte Beziehung zu Russland aber nicht bewusst war: „Wir täuschen uns gar nicht darüber und allein schon ein Blick in die Presse zeigt uns die Stärke des französischen und englischen Einflusses, doch eins haben wir andererseits auch erkannt, der einfache Mann des bulgarischen Volkes, der Bauer und der Soldat, versteht uns und macht aus seiner Hochachtung vor Deutschland kein Hehl. Dies aber ist das entscheidende, denn Bauern und Soldaten sind das bulgarische Volk. Ein Volk vor Entscheidungen, so bietet sich Bulgarien heute dem aufmerksamen Betrachter dar. Ein Volk, das der alten Zeit des Liberalismus und der verwaschenen Demokratie den Rücken gekehrt hat, ein Volk, das das Blendwerk von Genf durch-
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In deutscher Sprache redigiert von Ferdinand Liewehr.
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schaut hat und ein Volk, das vor dem Neuen steht, vor der inneren Entscheidung zum neuen Europa mit seiner Ordnung und seinen Zielen.“43 Auf bulgarischer Seite fehlte es nicht an Zustimmung zum Nationalsozialismus in Deutschland und der von ihm verwirklichten Außenpolitik, wenn im „Bulgarienwart“ der bulgarische Staatsrechtler L. Vladikin vorgestellt wird, der bereits im Jahre 1935 Nationalsozialismus und Faschismus als „neue Ideen“ gekennzeichnet hatte und diese der „untergehenden Welt“ der parlamentarischen Demokratien gegenübergestellt hatte. Eine Welle der Begeisterung für das Deutsche Reich erfasste die Bulgaren 1940, als die Dobrudscha von Rumänien an Bulgarien zurückgegeben wurde, ein Ergebnis „friedlicher Verständigung“ nach dem Wiener Schiedsspruch auf Weisung Hitlers. Von der „Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums/Deutsche Akademie“ waren im März 1939 Richtlinien für eine Bibliographie Ostmitteleuropas festgelegt worden, die folgenden Wortlaut hatten: „Die Erfahrung zeigt, daß wichtiges Schrifttum über völkische, politische, wirtschaftliche und soziale Fragen der Völker Ostmitteleuropas vielfach ganz unbekannt sind, andererseits unzulängliche Schriften große Verbreitung finden...Die von der Deutschen Akademie in Verbindung mit dem Südost-Ausschuß der Deutschen Akademie herauszugebende Bibliographie soll den verschiedenen Mängeln abhelfen und sowohl der Wissenschaft, insbesondere der Geschichte, Volkskunde, Kulturgeschichte u.s.w. eine praktische Hilfe für Forschung und Lehre bieten, als auch der Schulung, insbesondere der Jugend, Fingerzeige für die wichtigsten Fragen geben. Der Umfang der Bibliographie soll etwa zwischen 300 und 400 Seiten sein, es ist gedacht, diese Bibliographie möglichst billig herauszubringen, damit die Anschaffung in weiteren Kreisen möglich ist. Behandelt werden sollten die folgenden Länder: Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Tschecho-Slowakei bis zu ihrer Auflösung 1939, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Südslawien, Albanien und die Türkei.“44 In diesem Zusammenhang ist die Frage von grundlegendem Interesse, inwieweit sich Dissertationen deutscher Universitäten mit Fragen Südosteuropas in den Jahren zwischen 1933 und 1945 befasst haben und welchen wissenschaftlichen Bereichen diese zuzuordnen sind. Es zeigt sich, dass ein Teil der Südosteuropa-Dissertationen historische Themen behandelte, ein Teil wirtschaftswissenschaftliche und rechtswissenschaftliche und nur ein kleiner Teil der Hochschulschriften hatten philologische Themen erfasst, die im folgenden in zeitlicher Reihenfolge ihrer Fertigstellung genannt werden sollen. Mit historischen Fragestellungen Südosteuropas befassten sich die folgenden Dissertationen: Richard Malzkorn: Die deutsche Balkanpolitik in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Köln 1933. Köln. Phil. Diss. vom 29. Juni 1933. Walter Schinner: Der österreichisch-italienische Gegensatz auf dem Balkan und an der Adria von seinen Anfängen bis zur Dreibundkrise 1875-1896. Stuttgart 1936. Heidelberg. Phil. Diss. vom 27. Januar 1936. August L. Lorey: Frankreichs Politik während der Balkankriege 1912/1913. Dresden 1941. Frankfurt Phil. Diss. vom 17. Aptil 1941. G. Piesche: Frankreich und der Balkan 1871-1904. Prag Deutsche Universität Diss. von 1944. Mit wirtschaftswissenschaftlichen Fragestellungen Südosteuropas befassten sich die folgenden Dissertationen und eine Habilitationsschrift: 43 44
S.Zandtke: Bulgarien wartet, in: Nationalsozialistische Monatshefte 7, 1939, H.113, S.691. BARCH R 153/103 – Deutsche Akademie. München. 1935-1939.
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Eberhard Kohlruss: Die französischen Kapitalanlagen in Südosteuropa im Rahmen der gesamten Auslandsverschuldung der südosteuropäischen Länder. Leipzig 1934. Leipzig Staatswirtschaftliche Diss. vom 4. Juni 1934. Hans-Otto Fimken: Dipl. Volkswirt: Die Bedeutung Nord- und Südosteuropas für die deutsche Volkswirtschaft. Ein Vergleich. Forchheim Ofr. 1936. München Staatswirtschaftliche Diss. vom 17. April 1936. Hermann Groß: der südosteuropäische Wirtschaftsaum. Ein Beitrag zur Erkenntnis seiner Struktur. Leipzig 1937. Leipzig Habil.-Schrift vom 5. Juni 1936. Rudolf Meinders: Die südosteuropäischen Staaten als Absatzgebiete der deutschen chemischen Industrie. Bochum 1938. Berlin Rechts- und Staatswirtschaftliche Diss. vom 1. Februar 1030. Kurt Petersen: Die wirtschaftliche Gestaltung eines übervölkischen Raumes durch die deutsche Handels- und Wirtschaftspolitik. Dargestellt am Beispiel Südosteuropas. Göttingen 1941. Günther Jungschaffer: Die Achsenmächte und der Südostraum. Eine wirtschaftspolitische Untersuchung. Wien 1944. Wien Hochschule für Weltwirtschaft. Diss. vom 13. Juli 1940. Rechtswissenschaftliche Fragestellungen mit Bezug auf Südosteuropa wurden in den folgenden Dissertationen behandelt: Konstantin Peeff: Balkanpakt und Balkanbund. Eine völkerrechtliche Studie. O. O.1937. München Jurist. Diss. vom 2. Dezember 1937. Walter Koch: Die rechts- und tatsächliche Lage der deutschen Volksgruppe in Südslawien besonders auf Grund der staatlichen Gesetzgebung seit 1929. O.O. 1938. Gießen. Juristische Diss. Vom 11. Mai 1938. Johann-Rumy Seraphimoff: Das völkerrechtliche Minderheitenproblem auf dem Balkan unter besonderer Berücksichtigung der bulgarischen Minderheiten. Limburg a.d.L. 1939. Frankfurt Rechtswiss. Diss. vom 24. Juni 1939. Demetrios V.Constantinopoulos: Zur Nationalitätenfrage Südosteuropas. Eine rechtssoziologische Untersuchung der griechischen Minderheit in Albanien als Voraussetzung ihrer völkerrechtlichen Stellung. Würzburg 1940. Hamburg Rechts- und Staatswiss.Diss. vom 10.Mai 1940. Adrian R. Güroff: Der Balkanpakt von 1934 im System der Regionalverträge. O. O. 1942. Berlin Rechts- und Staatswiss. Diss vom 25. Februar 1942. Nur ganz vereinzelt wurden im Rahmen von Universitätsschriften auch kulturhistorische Probleme Südosteuropas thematisiert. Dies gilt für Ljubomir Ognjanov mit dem Thema „Die Volkslieder der Balkanslaven und ihre Übersetzungen in deutscher Sprache“, eine Berliner Dissertation vom 12. Dezember 1941 sowie die Habilitationsschrift von Fritz Valjavec mit dem Thema „Der deutsche Kultureinfluß im nahen Südosten. Unter besonderer Berücksichtigung Ungarns“, eine Abhandlung, von der nur ein erster Band 1940 in München erschienen war, wobei es sich um Band 29 der „Veröffentlichungen des Südostinstitutes München“, herausgegeben von Fritz Machatschek handelte. Promoviert wurde Fritz Valjavec mit der 1936 in Budapest erschienenen Dissertation „Karl Gottlob von Windisch. Das Lebensbild eines südostdeutschen Bürgers der Aufklärungszeit“, Die in der “Schriftenreihe der Neuen Heimatblätter“ erschienene Abhandlung widmete Valjavec dem Andenken Jakob Bleyers, zugleich drückte er dem Münchener Historiker Karl Alexander von Müller seinen Dank für die Betreuung der Arbeit aus. Karl Alexander von Müller (1882-1964) war u.a. Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Vorsitzender der Historischen Sektion der „Deutschen Akademie“ in München, Ehrenmitglied des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschland. Seine Beziehungen zu Südosteuropa sind u.a. durch seine Ehrenmitgliedschaft beim Deutsch-Rumänischen Kulturinstitut zu be-
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legen. Karl Alexander von Müller wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München seines Amtes enthoben, einige Jahre später wurden ihm jedoch die Rechte eines emeritierten Universitätsprofessors wieder zugesprochen. Fritz Valjavec hat in den von ihm herausgegebenen „Südost-Forschungen“ eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Aufsätzen veröffentlicht, die für den Zeitraum bis 1945 im Folgenden angeführt seien: Wege und Wandlungen der deutschen Südostforschung, in: Südost-Forschungen 1, 1936, S. 301-302. Siedlungsgeschichte des bairischen Stammes, in: Südost-Forschungen 1, 1936, S. 301302. Die Anfänge der deutschen Widerstandsbewegung in Neusatz, in: Südost-Forschungen 3, 1938, S. 254-255. Das deutsche Bürgertum und die Anfänge der deutschen Bewegung in Ungarn, in: Südost-Forschungen 3, 1938, S.628-630. Zur Entstehung des deutschen Volksbewußtseins in Ungarn, in. Südost-Forschungen 3, 1938, S. 628-630. Quellen zu den Anfängen der deutschen Bewegung in Ungarn, in: Südost-Forschungen 4, 1939, S. 465-508. Der Briefwechsel Kopitars mit Rumy, in: Südost-Forschungen 5, 1940, S. 71-147. Namensübersetzungen als Hinweise für die mittelalterlichen Nationalitätsverhältnisse in Städten des Südostens, in: Südost-Forschung 5, 1940, S. 605-607. Der Werdegang der deutschen Südostforschung und ihr gegenwärtiger Stand, in. Südost-Forschungen 6, 1941, S. 1-37. Südosteuropa und Balkan. Forschungsziele und Forschungsmöglichkeiten, in: SüdostForschungen 7, 1942, S. 1-8. Zur Kritik und Methode der Südosteuropa-Forschung, in: Südost-Forschungen 7, 1942, S. 218-223. Die Veröffentlichungen von Fritz Valjavec in den Südost-Forschungen sind in den Jahren 1936 bis 1942 auf zwei Bereiche bezogen, nämlich einmal Fragen der deutschen Volkstumsforschung in Südosteuropa und allgemeine, theoretische Fragen der Südosteuropa- und Balkanforschung. Die Beschäftigung mit den Deutschen im Ausland und damit auch in Südosteuropa hatte bereits nach dem Ersten Weltkrieg begonnen, als es darum ging, Revisionsansprüche gegenüber Polen wissenschaftlich zu begründen bzw. abzulehnen. Eine Ausrichtung der historischen Wissenschaft in diesem Sinne wurde von Albert Brackmann vertreten, der die „Publikationsstelle Berlin-Dahlem“ leitete, die u.a. die Aufgabe hatte im Ausland erscheinende Publikationen auszuwerten, in zahlreichen Fällen wurden sogar ganze Bücher ins Deutsche übersetzt, um sie damit staatlichen Stellen direkt zugänglich zu machen. In einem Tätigkeitsbericht Brackmanns für die Jahre 1934 und 1935 heißt es nämlich: „Die Zeiten sind vorbei, in denen jeder tun und lassen konnte, was er wollte. Wir setzen mit unserer wissenschaftlichen Forschung überall da ein, wo es gilt, die Interessen des deutschen Volkstums zu stützen und zu fördern. Darum müssen wir alle unsere wissenschaftliche Arbeit rationalisieren und bestimmen lassen von dem einen großen Gedanken: Wie kann ich mit meiner Arbeit dem Vaterlande dienen? Also politische Zielsetzung, aber wissenschaftliche Methode.“45
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Nach G. Camphausen: Die wissenschaftliche historische Russlandforschung im Dritten Reich 19331945 . Frankfurt a.M. u.a. O. 1990. S.198.
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Die „Volksforschung“ sollte ganz besonders eine Verbindung mit dem Grenz- und Auslandsdeutschtum sowohl auf politischer als auch auf wissenschaftlicher Ebene herstellen, damit zugleich auch den Anspruch auf die von Deutschen bewohnten Gebiete außerhalb des Deutschen Reiches verdeutlichen, während der internationale Charakter der Wissenschaft von den Nationalsozialisten immer wieder in Frage gestellt wurde. Wie der Nationalsozialist Ernst Krieck in einer 1933 erschienenen Schrift mit dem Titel „Die Erneuerung der Universität“ deutlich gemacht hat, wurde die Aufhebung der Trennung von Wissenschaft und Leben gefordert. Demnach durfte Wissenschaft nach 1933 auch nicht mehr „Selbstzweck“ sein: „Wir anerkennen künftig keinen Geist, keine Kultur und keine Bildung, die nicht im Dienste der Selbstvollendung des deutschen Volkes stünde und von da ihren Sinn empfinge.“46 Aufgabe der Universitäten sollte daher nicht mehr das “zweckfreie“, von den Nationalsozialisten abwertend als “zwecklos“ bezeichnete Suchen nach reiner Erkenntnis sein. Damit war ein eindeutiger Widerspruch gegenüber dem bisherigen, klassischen Selbstverständnis der Universitäten und ihren Forschungsaufgaben gegeben, wie es noch 1925 Carl Heinrich Becker in seiner Schrift „Vom Wesen der deutschen Universität“ formuliert hatte.47 In Zukunft sollte der „Rassebegriff“ Kernstück der nationalsozialistischen Ideologie und damit auch Zentrum der Forschung sein, wie es vom damaligen Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Bernhard Rust 1940 formuliert worden war: „Das Ordnungsprinzip für alle Bereiche des geistigen Lebens entsteht für uns aus der Biologie, aus der Erkenntnis der Rasse. Von der Entdeckung der Rasse... erhält auch die Wissenschaft ihren entscheidenden revolutionären Anstoß.“48 Ende 1991 erschien in der „Frankfurter Rundschau“ in Beitrag, verfasst von Kai Brettmann, mit dem Titel „Ein Stück Geschichte wird nicht geschrieben“ mit dem Untertitel „Die Siebenbürger Sachsen reden nicht gern über ihre Rolle im Nationalsozialismus“, wobei auf den Schriftsteller William Totok und sein Buch „Die Zwänge der Erinnerung“ eingegangen wurde und folgendes Zitat aus dem Werk Totoks angeführt wurde: „Einerseits war die deutsche Minderheit nach wie vor den verschiedenen Diskriminierungen ausgesetzt, andererseits wurde den Deutschen in ihren Zeitungen vorgemacht, dass sie im Südosten eine historische Mission zu erfüllen hätten, dass sie, die Nachkommen eines stolzen Bauerngeschlechts, hier das Edel-Deutschtum repräsentieren.“49 Dem Autor der „Frankfurter Rundschau“ war wohl nicht bekannt, dass mit der Darstellung der Geschichte längst begonnen worden war, als Dorothea Willkomm 1979 ihre Magisterarbeit mit dem Thema „Untersuchungen zur Anfangsphase der deutschen Südosteuropahistoriographie“ vorgelegt und veröffentlicht hatte. Demnach liefen die Forschungen nach 1933 darauf hinaus, eine Art von Bewusstsein von Bedrohung des Deutschtums, auch in Südosteuropa zu erzeugen, womit die Aufmerksamkeit der Südosteuropa-Forschung auch auf die südostdeutschen Volksgruppen und ihre kulturellen Leistungen in der betreffenden Region gelenkt wurden. Um eine eigene nationalsozialistische Wissenschaft zu schaffen, waren die Vertreter des nationalsozialistischen Regimes weder selbst fähig noch gab es hierfür entsprechende vorbereitende Maßnahmen, zudem war nur ein kleiner Teil der Wissenschaftler bzw. Hochschullehrer bereits vor 1933 Mitglied der NSDAP geworden. So blieb es zunächst nur bei der Forderung nach einer neuen nationalsozialistischen Wissenschaft. Trotz dieser für den Nationalsozialismus ausgesprochen negativen Voraussetzungen kam es nach 1933 doch zu 46 47 48 49
E. Krieck: Die Erneuerung der Universität. Frankfurt a.M. 1933. S.8. Carl Heinrich Becker: Vom Wesen der Universität. Leipzig 1925. S.8. B. Rust: Reichsuniversität und Wissenschaft. Berlin 1940. S.9. Frankfurter Rundschau 18.Dezember 1991, Nr.291.
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Maßnahmen, die sich an der nationalsozialistischen Ideologie orientierten, so die Entlassung von etwa einem Fünftel der Universitätsprofessoren. Hinzu kamen an den Universitäten der Verlust institutioneller Autonomie und die Entmachtung der Universitätsprofessoren. 1933 wurde eine heute in deutschen Bibliotheken so gut wie nicht mehr auffindbare, nur noch als Fehlbestand in den Katalogen registrierte Dokumentation veröffentlicht, die daher auch in der Darstellung der Südostforschung im fraglichen Zeitraum nirgendwo erwähnt wird und den Titel trägt. „Bekenntnis der Professoren an deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“. Diese Schrift konnte mit zahlreichen bekannten Namen wie Martin Heidegger, Wilhelm Pinder oder Ferdinand Sauerbruch aufwarten. Die Schrift wurde nicht nur in deutscher, sondern auch in englischer, französischer, italienischer und spanischer Sprache veröffentlicht und wandte sich mit ihren propagandistischen Aussagen an die Gebildeten der Welt. Auf diese Weise sollte im Ausland die Vorstellung verbreitet werden, dass es in Deutschland nach 1933 um durchweg positive Veränderungen gegangen sei, während die Kandidaten für Professorenstellen bereits aufgrund politischer Lebensläufe beurteilt wurden und nur noch zum Teil wissenschaftlich vertretbare Besetzungen von Professorenstellen zustande kamen. Unter Berücksichtigung all dieser Aspekte muss wohl auch die deutsche Südosteuropa-Forschung nach 1933 betrachtet werden. In der Zeit vom 24. bis 26.Oktober 2002 fand in München eine Tagung statt, die in einer Reihe von Vorträgen das Thema „Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches (19201960)“ behandelte. Veranstaltet wurde die Tagung von der „Südostdeutschen Historischen Kommission“ mit Sitz in Tübingen und Marburg in Verbindung mit dem „Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der deutschen im östlichen Europa“ mit Sitz in Oldenburg, dem „Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde“ in Tübingen und dem „Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas“ in München sowie dem „SüdostInstitut“, damals ebenfalls noch in München, jetzt in Regensburg beheimatet. Die Vorträge dieser Tagung wurden 2004 in einem Sammelband unter dem Titel „Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches. Institutionen – Inhalte – Personen“ von Matthias Beer und Gerhard Seewann herausgegeben. Der Band hatte ein breites publizistisches Echo gefunden, vor allem bedingt durch Auseinandersetzungen, die unter dem Titel „Ränkespiel dilettierender Experten. Die Südosteuropa-Forschung bewältigt ihre Vergangenheit. Arbeit am Deutschtum“50 und „Unbewiesene Verdächtigungen“51 in Form von Leserbriefen geführt haben. Der Sammelband selbst wurde in einer kurzen Anzeige unter dem Titel „Im Augiasstall. Die Südostforschung arbeitet ihre NS-Vergangenheit auf“ in der „Süddeutschen Zeitung“ im Sommer 2004 angezeigt.52 Unter dem Titel „Kämpfende Köpfe. Die politisierte Südostforschung während der Zeit des Nationalsozialismus und in der frühen Bundesrepublik“ wurde der Sammelband in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Anfang 2005 von Hans-Erich Volkmann u.a. mit folgenden Anmerkungen besprochen: „Die systemkonforme Politisierung der Südostforschung während der Zeit des Nationalsozialismus war besonders ausgeprägt und daher lange tabuisiert. Wurde sie doch seit ihrer Institutionalisierung in der Weimarer Republik über das „Dritte Reich“ bis hinein in die Bundesrepublik als „kämpfende Wissenschaft“ begriffen, die sich wohlwollender Aufmerksamkeit und entsprechender finanzieller Zuwendungen sicher sein durfte. Dies zeigt der vorliegende Sammelband. Im Vordergrund der Betrachtung steht die historische Südostforschung, die sich zwei politisch relevante Untersuchungsfelder abgesteckt hatte. Zum einen Geschichte und Schicksal deutscher 50 51 52
Süddeutsche Zeitung vom 16./17.11.2002. Süddeutsche Zeitung vom 4.12.2002. Süddeutsche Zeitung vom 13.8.2004.
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Minderheiten als Insolvenzmasse des Habsburger Reiches und zum anderen die von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges als Konkursverwalter installierten neuen Staatsgebilde wegen ihrer Rohstoffe, agrarischen Überproduktion und strategischen Bedeutung Objekte konkurrierender intereuropäischer Begierde.“53 In einem Beitrag mit dem Titel „Deutscher Kulturwille“ hatte der bayerische Ministerpräsident Ludwig Siebert in seiner Eigenschaft als Präsident der „Deutschen Akademie“ in München im Jahre 1941 ausgeführt: „Wie falsch aber wäre es zu glauben, daß es im Wesen der deutschen Kultur läge, sie fremden Völkern aufzuzwingen. Die große Warte, auf der sie steht, lässt sie nur eine Aufgabe erfüllen, nämlich die Segnungen des Fortschritts und der Zivilisation im Verein mit den aufbauwilligen Kräften aller Nationen jenen zu spenden, die ihrer würdig sind.“54 In den Jahren zwischen 1933 und 1945 haben sich in der Südosteuropa-Forschung zwei Kategorien von Veröffentlichungen entwickelt, neben denen auch weiterhin politisch unverdächtige Abhandlungen deutscher und ausländischer Wissenschaftler stehen: 1.Wissenschaftliche Veröffentlichungen, die die deutsche Bevölkerung und ihre Kultur in südosteuropäischen Ländern zum Thema hatten, etwa im Sinne der „Südostdeutschen Forschungen“, ab 1935 der „Südost-Forschungen“. Diese Veröffentlichungen dienten aber nicht nur der „Festigung“ des Deutschtums, sondern zielten letztendlich auch auf eine Ausweitung der deutschen Herrschaft über die militärisch-politische Ebene hinaus ab. 2.Veröffentlichungen, die sich mit rassenpolitischen Fragen der südosteuropäischen Völker befassten, wobei versucht wurde, die Ergebnisse auch wissenschaftlich zu begründen. Das „methodische Rüstzeug“ für die von der „Deutschen Akademie“ betreuten Deutsch-Lektorate wurde im Goethe-Institut vorbereitet, u.a. in der Form von Lehr- und Lesebüchern sowie auch mit der Zeitschrift „Deutschunterricht im Ausland“, mit der über 14000 Deutschlehrer außerhalb der deutschen Reichsgrenzen versorgt wurden. Erst in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg war es möglich geworden, die Bedeutung von deutscher Sprache und Kultur in ihrer tatsächlichen, positiven Wirkung in Südosteuropa darzustellen, wie dies dem Grazer Slawisten und Balkanologen Josef Matl in einem Vortrag am 23. Oktober 1967 im Münchener Südost-Institut gelungen war, der „Weg und Wirkung der deutschen Sprache und Literatur in Südost- und Osteuropa“ zum Thema hatte: „Wir vermögen diesem Thema nur gerecht zu werden, wenn wir es als einen Aspekt der europäischen Bildungs- und Kulturgeschichte betrachten. Wenn wir also die europäische Kulturleistung der deutschen Sprache und Literatur in Hinsicht ihrer Wirkung nach dem Südosten und Osten ins Auge fassen, wollen wir diesen Prozeß als einen kulturhistorischen Parallelvorgang zur europäischen Aufbauwirkung der griechischen, lateinischen, französischen Sprache und Kultur behandeln, die ebenso gleichwertige konstitutive Komponenten des spezifisch europäischen Entwicklungsganges und seiner besonderen Struktur auch im Südost- und Ostraum darstellen.“55 Demgegenüber hatte Franz Thierfelder im Jahre 1940 den Balkan als kulturpolitisches Kraftfeld im Rahmen zwischenstaatlicher Propaganda und geistigen Austausch in Südost53
54 55
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.1.2005. Die Diskussion um die NS-Vergangenheit der deutschen Südostforschung wurde in der Süddeutschen Zeitung vom 14.3.2005 erbeut angefacht unter dem Titel „Verfälschender Streit um Tabuisierung und Selbstmitleid. Eine skandalöse Quelle im geplanten Zentrum gegen Vertreibungen. Morden für die Karriere.“ L. Siebert: Deutscher Kulturwille, in: Europäischer Wissenschafts-Dienst/Korrespondenz für Kultur und Wissenschaft Nr.1/2, Berlin 10.April 1941. S.1-2. J. Matl: Weg und Wirkung der deutschen Sprache und Literatur in Südost- und Osteuropa, in: SüdostForschungen 23, 1964, S.298.
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europa gesehen. Von ihm wird die französische Vorherrschaft als „geistiger Anspruch“, der englische Einfluss als „politischer Schachzug“, die römische Überlieferung aus alter und neuer Zeit sowie die deutsche Mittleraufgabe als „geschichtliche Tatsache“ gesehen. Ein „innerbalkanischer Ausgleich“ vermag nach Thierfelders Meinung „Rang“ und „Recht“ des Balkans im abendländischen Kulturkreis zu regeln.56 In diese Richtung gehen auch Feststellungen aus den Jahren 1938 und 1939, inwieweit das deutsche Buch in den südosteuropäischen Sprachen und damit auch Sprachgemeinschaften Verbreitung gefunden hat: Für Ungarn wird ein Hervortreten englisch-.amerikanischen Schrifttums und ein Nachlassen der Übertragung deutscher Bücher festgestellt. In Rumänien wurden im Jahre 1937 nur 16 Bücher aus dem Deutschen übersetzt, 1936 waren es dagegen noch 30 gewesen. In das Serbokroatische wurden 1937 insgesamt 28 deutsche Bücher übersetzt, 12 gehörten in den Bereich der schöngeistigen Literatur. Für Griechenland ließen sich nur 12 Übertragungen aus dem Deutschen ausfindig machen, in Bulgarien wurden dagegen 1936 und 1937 insgesamt 53 deutsche Bücher übersetzt. An der Spitze der südosteuropäischen Länder stand im Jahre 1937 aber die Türkei, wo über 100 deutsche Schriften übersetzt und veröffentlicht wurden (57). Veröffentlichungen, die sich mit rassenpolitischen Fragen der Völker Südosteuropas auseinander setzten, sind sei dem Jahre 1938 nachweisbar, als K. V. Müller in Dresden die „Bedeutung des deutschen Blutes in Südosteuropa“ erörterte, wobei es ihm auch um die Frage der „Umvolkung“, des Volkstumswechsels, der Verschiebung von Volksgrenzen auch bei den bodenständigen Bevölkerungen ging: „Das Ziel dieser Darlegungen soll es sein, einen Einblick zu gewinnen in die Rolle, die das deutsche Blut – und zwar im streng biologischen Sinne als sozial, kulturell und politisch, also als geschichtlich wirkendes Erbgut deutschstämmiger Sippen – bei Aufbau und Entfaltung seiner Völker und Staatenwelt gespielt hat, die südlich und östlich in mannigfacher Verzackung und Verzahnung, in Ueber- und Unterschichtung an den deutschen Siedlungsraum anschließt.“57 1943 erschien das Buch „Die Völker und Rassen Südosteuropas“ von Carl von Loesch und Wilhelm E. Mühlmann mit einem Reisebericht von Gustav Adolf Küppers. In dieser Veröffentlichung hatte Loesch zunächst die Übersicht über die Völker Südosteuropas übernommen, gefolgt von einem Rückblick auf die Südoststaaten in den vorangegangenen 70 Jahren, einer Übersicht über Volkstumswechsel und Raumverschiebungen, „volkliche“ Wirkungen von Religionswechseln u.a. Wilhelm E. Mühlmann hatte es übernommen, das „rassische Bild“ der Völker Südosteuropas zu beschreiben. In der Zusammenfassung Loeschs heißt es u.a.: „In volklicher Hinsicht ist Südosteuropa also ein Raum von Mittel-, Klein- und Kleinstvölkern verschiedenster Herkunft, der überdies von zahlreichen abgesprengten Volksgruppen mitteleuropäischer, nordosteuropäischer und vorderasiatischer Völker und allerhand sonstigen Volksplittern durchsetzt ist.. Zu diesen Eigenarten der Siedlungsverteilung (Völkermengung) kommt noch anderes. Denn die Bevölkerung Südosteuropas ist keineswegs auf die einzelnen Volksstämme aber aufgeteilt. Einerseits gibt es wohl noch immer einige Landstriche, deren Bevölkerung auf die Frage: „Zu welchem Volke bekennst du dich?“ keine Antwort zu geben weiß, weil sie noch nicht an sie herangebracht worden ist ... Andererseits ist aber die Menge der Menschen „schwebenden Volkstums“ im Sinne von Robert Beck weit größer als in Mitteleuropa...Denn große Teile Südosteuropas sind gekennzeichnet durch hin-
56 57
F. Thierfelder: Der Balkan als kulturpolitisches Kraftfeld. Zwischenstaatliche Propaganda und geistiger Austausch in Südosteuropa. Berlin 1940. Das deutsche Buch in den südosteuropäischen Sprachen, in: Stimmen aus dem Südosten 1938/39, H.7/8, S.141.143.
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und hergerissen werden beträchtlicher Bevölkerungsteile von der Anziehungskraft von zwei oder mehr Völkern.“58 Von W.E. Mühlmann werden dann rassenkundliche Feststellungen gemacht,59 die verschiedene Völker Südosteuropas betreffen, wenn es bei ihm u.a heißt: „Relativ noch am besten sind wir unterrichtet über die Rassenverhältnisse bei Kroaten und Serben, weniger gut über Bulgarien und Ungarn. Am dürftigsten sind unsere rassenkundlichen Kenntnisse über Rumänen und Neugriechen. Die zweite Schwierigkeit einer Rassenkunde des Südostens ist sachlicher Natur: Sie liegt in der ungeheuren Verwickeltheit der rassengeschichtlichen Vorgänge selbst, die nirgends in Europa so groß ist wie auf diesem Boden. Kein Gebiet Europas hat seit den frühesten Zeiten so viele Vorstöße, Durchgänge und Beeinflussungen zahlreicher und sehr verschiedener Völker und Kulturen aus allen Himmelsrichtungen erlebt. Diese Vielfalt erschwert die ethnische Zuweisung und zeitliche Einreihung heute feststellbarer Rasseneinschläge und macht sie in vielen Fällen unmöglich.“60 Über die Kroaten schreibt Mühlmann, dass bei ihnen eine „besonders starke Verdichtung germanischer Stämme (Ostgoten, Langobarden, Gepiden, Epiler) stattfand“, demzufolge die Kroaten auch nicht einfach als „Südslawen“ zu betrachten seien Die seit dem 6.Jahrhundert nach Christus erfolgten Vorstöße slawischer Volksstämme hätten einen weiteren Zustrom „nordischen Blutes“ gebracht, trotzdem sei aber nach Auffassung Mühlmanns bei der rassischen Beurteilung der Südslawen „einige Vorsicht“ geboten, so dass er insgesamt zu folgenden Schlussfolgerungen kommt: „Die Ursachen der „Entnordung“ sind uns unbekannt. Der Vorgang lässt sich allenfalls einordnen in den typischen Prozeß der „sozialen Beweglichkeit“: stärkerer Ausmerze (bzw. geringere Fortpflanzung) der sozial oberen Schichten, Nachrücken und Ausfüllen der Lücken aus den unteren Schichten. Da dieser Prozeß auf der ganzen Erde und zu allen Zeiten mit der Notwendigkeit eines historisch sozialen Gesetzes sich abspielt, sind auch bei den Altslawen ähnliche Vorgänge zu vermuten.“61 Mehrere Veröffentlichungen waren in der fraglichen Epoche zwischen 1933 bis 1945 auch Wirtschaftsfragen gewidmet, so Hans-Rüdiger Seraphims „Deutsch-südosteuropäische Wirtschaftsgemeinschaft“, erschienen 1943 in Berlin, Otto Schulmeisters „Werdende Großraumwirtschaft. Die Phasen ihrer Entwicklung in Südosteuropa“, ebenfalls 1943 in Berlin veröffentlicht, womit eine großräumige nationalsozialistisch beherrschte Wirtschaftsplanung für Südosteuropa dokumentiert wurde. Zu erwähnen ist auch eine ganze Reihe von Einzeldarstellungen südosteuropäischer Länder, vielfach mit reichem Bildmaterial ausgestattet, so die von Franz Thierfelder in Verbindung mit dem „Südost-Ausschuß der Deutschen Akademie“ herausgegebene Reihe „Die südosteuropäischen Staaten in Einzeldarstellungen“, in der 1935 der Band „Das Königreich Südslawien“ erschien, in dem sich Beiträge u.a. von Gerhard Gesemann, Alois Schmaus und Giselher Wirsing finden.62 Eingeleitet wurde dieser Sammelband von Hans Haushofer. War diese Veröffentlichung frei von ideologischen Anspielungen, so war dies in der von Wolfgang Höpker in München veröffentlichten Darstellung „Rumänien diesseits 58 59 60 61 62
K. V. Müller: Die Bedeutung des deutschen Blutes in Südosteuropa, in: Südost-Forschungen 3, 1938, S.582-623, hier: S.582. K.C. von Loesch: Die Völker Südosteuropas, in: Die Völker und Rassen Südosteuropas. Prag u.a.O. 1943, S.37. K. Mühlmann: Das rassische Bild, in: Die Völker und Rassen Südosteuropas. Prag u.a.O. 1943. S.3839. Dass, S.51. G. Gesemann: Volk, Landschaft und Kultur, S.19-68; A. Schmaus: Sitte und Brauchtum der Südslawen, dass, S.69-91; G. Wirsing: Südslawien in der europäischen Politik, dass., S.174-195; H. Schwab: Das Deutschtum in Südslawien, dass., S.196-205.
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und jenseits der Karpaten“ im Jahre 1936 bereits nicht mehr der Fall. Der Verfasser geht nämlich nicht nur auf die deutschen Einflüsse in Rumänien ein, sondern behandelt auch die „Judenfrage“ ganz im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie, wenn er u.a. ausführt: „Am empfindlichsten auf der nördlichen Moldau, doch auch sonst auf allen Handelspunkten des Altreichs (wie auch der neuen Landesteile) lastet der Druck eines zahlen- wie einflußmäßig sehr starken jüdischen Bevölkerungsteils. Die Judenfrage, wie die der antisemitischen Gegenbewegung – ein Problemkreis, der für die Nationswerdung des rumänischen Volkes von schicksalsschwerer Last ist – darf keineswegs unter dem Gesichtswinkel gesehen werden, unter dem sonst eine Beurteilung der Minderheitenbewegung zu geschehen pflegt.“63 Später erschienene Veröffentlichungen versuchen vor allem die dem Deutschen Reich damals nahestehenden bzw. auch verbündeten südosteuropäischen Völker dem deutschen Leser näher zu bringen, so Adolf Dressler mit seinem 1941 in Essen erschienenen Buch „Kroatien“ oder Kurt Haucke, Generalsekretär der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft in Berlin mit seinem 1942 im Gauverlag Bayreuth erschienenen Bildband „Bulgarien. Land. Volk, Geschichte, Kultur, Wirtschaft“, ein Werk, das insgesamt drei Auflagen erreichte. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch Karl Braunias mit seiner Darstellung „Die Slowakei“, erschienen 1942 in der Sammlung „Völker und Grenzen“ des Deutschen Auslandsinstitutes in Stuttgart. Ebenfalls 1942 war auch eine Darstellung „Albanien. Land zwischen Gestern und Morgen“ erschienen, Verfasser war der Gesandte Erich von Luckwald, eine Veröffentlichung mit zahlreichen Abbildungen und statistischen Tabellen, herausgegeben mit Förderung des Deutschen Instituts für Außenpolitische Forschung. Vom Autor wird die Annexion Albaniens durch das faschistische Italien im Jahre1939 uneingeschränkt positiv kommentiert: „Es geschah also zum Besten des Landes, dass Albanien in den ersten Apriltagen des Jahres 1939 den festen Anschluss an eine moderne kultivierte Großmacht fand. Am 7. April 1939 landeten italienische Truppen in Durazzo. Am 12. April desselben Jahres erfolgte der Beschluss einer verfassungsgebenden Nationalversammlung, dem König von Italien – in Form einer Personalunion – die altehrwürdige Krone Skanderbegs anzubieten. Schon am 15. April fand dieser Beschluss die Billigung des „Großen Faschistischen Rates“64 und der Autor schließt seine Ausführungen mit dem folgenden Satz: „Liegt doch dadurch, daß sich Albanien rechtzeitig für das faschistische Italien entscheiden hat, fortan sein Weg auf der Linie der beiden großen Führer der Achsenmächte, welche berufen sind, die Neuordnung Europas zu formen.“65 Gegenüber all diesen und noch anderen anzuführenden Veröffentlichungen besteht wohl kein Zweifel, dass die folgenden ausgewählten Einzelbeiträge deutscher und ausländischer Autoren inhaltlich und auch in den sprachlichen Ausführungen keinen Bezug zur nationalsozialistischen Ideologie aufweisen, sodass es doch noch einen, wenn auch sehr eng begrenzten Raum für wissenschaftliche Arbeit gab, der auch heute noch mit seinen Ergebnissen für die Südosteuropa-Forschung von Bedeutung sein kann: Franz Babinger: Geburtsort und Sterbejahr des Scheich Bedr ed-din Mahmud, in: Südost-Forschungen 8, 1943, S. 239-261. Dietrich Gerhardt: Zum ersten Buchstaben der glagolitischen Schrift, in: SüdostForschungen 4, 1939, S. 180-183, Erwin Koschmieder: Die ekphonetische Notation in kirchenslawischen Sprachdenkmälern, in: Südost-Forschungen 5, 1940, S. 22-32. 63 64 65
W. Höpker: Rumänien – diesseits und jenseits der Karpaten. München 1936. S.39. E.v. Luckwald: Albanien. Land zwischen Gestern und Morgen. München 1942. S.41. Dass., S.41.
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Angeführt seien auch Wissenschaftler aus Albanien, Rumänien und Bulgarien mit ihren in Deutschland veröffentlichten Beiträgen: Eqrem Çabej: De albanischen Mundarten Dardaniens und Mazedoniens, in: SüdostForschungen 9/10, 1944/45,S.400-402. Theodor Capidan: Darstellung der ethnologischen Lage am Balkan mit besonderer Berücksichtigung der Mazedorumänen (Aromunen), in: Südost-Forschungen 7, 1942, S. 497545. Ivan Dujčev: Italienische Kultureinflüsse in Bulgarien während des 17.Jahrhunderts, in: Südost-Forschungen 5, 1940, S. 813-822. Wie wichtig aber der nationalsozialistischen Führung die Südosteuropa-Forschung im Deutschen Reich war, zeigt sich u.a. an der feierlichen Gründung einer „Gesellschaft der Freunde der deutschen Akademie“, die am 29. Juni 1942 im Zeremoniensaal der Wiener Hofburg in Anwesenheit des Reichstatthalters in Wien, Reichsleiter Baldur von Schirach stattfand und während der der bayerische Ministerpräsident Ludwig Siebert in seiner Eigenschaft als Präsident der „Deutschen Akademie“ das Thema „Die großdeutsche Sendung der Deutschen Akademie“ behandelte.66 Am 22. Januar 1943 fand schließlich eine Arbeitsbesprechung über die wissenschaftlichen Südostzeitschriften statt. Beschlossen wurde im Ergebnis der Zusammenkunft im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Berlin die Herausgabe eines „Südostdienstes der deutschen Wissenschaft“. Abgelehnt wurde dagegen der in Leipzig erwogene Plan einer Neugründung des „Balkan-Archivs“ von Gustav Weigand (1860-1930). Der Plan wurde aus politischer und wissenschaftlicher Sicht als nicht opportun bezeichnet und zurückgestellt. Erwogen wurde dagegen in Wien die Gründung einer neuen Zeitschrift für Ur- und Frühgeschichte des Südostens.67 Der „Südostdienst der Deutschen Wissenschaft“ war nur für den Dienstgebrauch bestimmt, daher „vertraulich“ zu behandeln. Er sollte monatlich mit einem Umfang von 8 bis 16 Seiten erscheinen und das Organ einer wissenschaftlichen, wissenschaftlich-politischen , aber auch wissenschaftlich-praktischen Mittelstelle sein, wobei vor allem an die „Südostgemeinschaft der Wiener Hochschulen“ gedacht war, die über den engeren Bereich Wiens und auch über einzelne Fachrichtungen hinausreichen sollte. Der „Südostdienst“ sollte folgende Forderungen erfüllen: 1. Die Verständigung über gemeinsame fachliche oder überfachliche Fragen, die sich mittelbar oder unmittelbar auf Südosteuropa bezogen, 2. der lebendigen Gestaltung der wissenschaftlichen Arbeit und der Verwertung der Ergebnisse, besonders auch für staatspolitische Zwecke dienen, 3. der arbeitsmäßigen Unterstützung der wissenschaftlichen Südostforschung aller Fakultäten von Nutzen sein.68 Es hat sich deutlich zeigen lassen, dass die wissenschaftlichen und kulturpolitischen Maßnahmen in der Zeit zwischen 1933 und 1945 zweckgebunden waren, einmal sollten sie die wirtschaftliche Expansion des Deutschen Reiches wirksam unterstützen, wie der deutsch-rumänische Wirtschaftsplan vom 23. März 1939 und der deutsch-rumänische Zehnjahresplan vom 4.Dezember 1940 deutlich zeigen,69 zum anderen wurden auch in Südosteuropa rassenpolitische Zielsetzungen verfolgt, wie das in Leipzig erschienene Buch von Hans Schuster mit dem Titel „Die Judenfrage in Rumänien“ deutlich macht. Dass man trotz aller wissenschaftlichen und kulturellen Anstrengungen gegenüber Südosteuropa auch vor dem Krieg als Mittel der Politik nicht zurückschreckte, hatte Franz Thierfelder 1940 deutlich ausgesprochen: 66 67 68 69
BARCH R 153/104 – Gründung der Gesellschaft der Freunde der Deutschen Akademie in Wien 1942. BARCH R 153/1679 – Südostdienst der Deutschen Wissenschaft 1943. Dass. H.-J. Seraphim: Deutsch-südosteuropäische Wirtschaftsgemeinschaft. Berlin 1943/Anhang.
HELMUT W. SCHALLER
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„Große Aufgaben stellen sich der zwischenstaatlichen Kulturpolitik für die Zukunft. Der Zustand, daß das stärkere, entwickeltere Volk das schwächere, noch bildungsfähige beeinflussen möchte, ist ebenso wenig aus der Welt zu schaffen, wie der Krieg als letzte Lösung sonst unlösbarer Gegensätze.“70
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F. Thierfelder: Der Balkan als kulturpolitisches Kraftfeld... Berlin 1940, S,107.
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Zum gegenwärtigen Forschungsstand Wenn es in Deutschland je eine kulturwissenschaftliche Disziplin1 gegeben hat, die eine besondere Affinität zum Nationalsozialismus, seiner Ideologie und dessen Machtsystem emtwickelt hat, dann ist es die V o l k s k u n d e gewesen. Wissenschaftsgeschichtlich gesehen bedeutet dies freilich nicht, daß Volkskunde gewissermaßen ein geistiges Produkt des NS-Systems gewesen sei, wohl aber ist seine spezifisch deutsche, seine idealistischnationalistische Wurzel unbezweifelbar. Allein die Tatsache, daß sich der Name der Disziplin ausschließlich auf den deutschen Sprachraum beschränkt, ist ein Kriterium für ihre Sonderstellung im europäischen Bereich, wo mit Ethnologie, Ethnographie oder Anthropologie ganz andere Schwerpunkte der Betrachtungsweise des jeweils eigenen Volkes und anderer Völker gesetzt wurden. Nicht so in Deutschland, wo die eigene Bevölkerung – „das Volk“ – im Vordergrund stand, wo aber nie eindeutig und historisch gerechtfertigt war, was unter diesem Volk zu verstehen, wie es zu strukturieren sei, ob es spezifische Merkmale, die „deutsch“ zu nennen wären, besäße, welcher „Charakter“, welcher „Geist“ oder welche „Seele“ typisch seien. Das aber wollten Volkskundler ergründen, ohne sich freilich Methoden der Historiographie, der Komparatistik, der Soziologie usw. zu bedienen. Volkskunde war eine zutiefst deutsche Wissenschaft, ja eine „merkwürdige deutsche Sonderwissenschaft, die man als eine romantische und nationale Version einer sozialwissenschaftlich orientierten, aber auf die vorindustriellen Stände verengte Kulturgeschichte verstehen kann.“ Sie war der „Sammlung und Deskription des Stoffes des so genannten täglichen Lebens verfallen, ohne sie analytisch zu interpretieren. Somit gingen die Ergebnisse solcher Untersuchungen in die allgemeine Geschichte nicht ein.“2 Diese Argumentation von Thomas Nipperdey gehört zu den Äußerungen führender Historiker, denen es um Überlegungen zu einem neuen, der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur gemäßen Geschichtsbild und zur Klärung eines deutschen „Sonderwegs“ zum Nationalsozialismus geht. Im Rahmen dieser jahrelangen und teilweise recht heftigen Erörterungen war auch die Frage nach der Mitwirkung von adäquaten Nachbardiszplinen wie die der bis dahin wenig reflektierten Kulturwissenschaften, darunter der Volkskunde, von Belang. Das besagt, dass die Historiker im Verlauf ihres eigenen Klärungsprozesses einer sich neu profilierenden Volkskunde letztlich den Rang einer geschichtswissenschaftlichen Disziplin zuerkannten, ja sie seit Mitte der 1980er Jahre bisweilen als Kooperationspartner in Anspruch nahmen.3 1
2 3
So der Untertitel einer Publikation des Tübinger Ludwig-Uhland-Instituts, in dem die Herausgeber ihr Fach eindeutig kennzeichnen. Vgl. Maase, Kaspar, Warneken, Bernd Jürgen (Hrsg.), Unterwelten der Kultur. Themen und Theorien der volkskundlichen Kulturwissenschaft. Köln, Weimar u. Berlin 2003. Dies knüpft in vielerlei Hinsicht an das für viele Volkskundler zur Zeit der Herausgabe schockierende Buch „Abschied vom Volksleben“ (hrsg. v. Klaus Geiger, Tübingen 1970) an. Nipperdey, Thomas, Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 182). Göttingen 1976, S. 42. Beispielsweise haben die Volkskundler Hermann Bausinger, Wolfgang Jacobeit und Wolfgang Kaschuba am „Bürgertumsprojekt“ unter Jürgen Kocka am Zentralinstitut für interdisziplinäre Forschungen der Universität Bielefeld mitgearbeitet (1986/88). Siehe Kocka, Jürgen (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, 3Bde. München 1988.
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Zeitgleich hatte auch die deutsche Volkskunde den Weg zu einer Wissenschaft gefunden, die sich von den Verwerfungen durch den Nationalsozialismus befreite, mit ihrer Geschichte kritisch umging, sich – auch personell – mit Theorien, Methoden und Forschungsergebnissen aus jener Zeit auseinandersetzte sowie den Missbrauch des Faches enttarnte, aber ebenso nach Grundlagen für ein neues Fachverständnis und dessen gesellschaftlicher Relevanz suchte. Das waren ebenfalls Jahre heftiger Auseinandersetzungen, an denen auch die Studentenschaft keinen geringen Anteil hatte. Nicht zuletzt unter dem Eindruck einer neuen deutsch-deutschen Geschichtsauffassung mit Implikationen interdisziplinärer Art entwickelte sich eine Disziplin, die nicht abseits vom Alltag der sich rasant verändernden Gesellschaft und deren Population stehen wollte, die entsprechende eigene Untersuchungen durchführte und die sich nach und nach von ihrer traditionellen, aber im Nationalsozialismus korrumpierten und numehr unzeitgemäßen Begrifflichkeit „Volkskunde“ verabschiedete. Die neuen Benennungen reichten von „Empirische Kulturwissenschaft“, „Kulturgeschichte“, „Kulturanthropologie“ bis hin zu „Europäische Ethnologie“ und erklärten das Fach auch formell zum Partner einer Reihe von entsprechenden Wissenschaftszweigen. Bereits früh auf den notwendigen Wandlungsprozess im Fach hinweisend war eine um die 1950er Jahre beginnende, wenngleich zögerliche Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit, personell, institutionell und allgemein orientiert. Den ersten Anstoß gab der Soziologe Heinz Maus, der sich bereits 1946 „Zur Situation der deutschen Volkskunde“4 geäußert hatte. Dies jedoch wurde von einer Mehrzahl an Volkskundlern, die noch der „Kultur der Persilscheine“5 frönten, kaum wahrgenommen, obwohl Maus sogar die Existenzberechtigung des Faches in Frage stellte. Unabhängig von Heinz Maus definierte dann Wolfgang Steinitz – in der Nachfolge von Adolf Spamer – als Direktor des unter ihm an der Berliner Akademie der Wissenschaften begründeten „Instituts für deutsche Volkskunde“ den Fachgegenstand: Forschungen zur „Volkskultur“, deren Träger die „werktätigen Klassen und Schichten“ aller historischen Perioden vom Mittelalter bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein seien. Damit bezog er sich auf Bauern, dörfliche Unterschichten, städtische Handwerker, aber auch auf das Proletariat, die „Arbeiterklasse“, und das in all den Verhaltensweisen dieser Gruppierungen zur jeweils herrschenden Gesellschaft und unter mentaler Herausbildung dessen, was Alf Lüdtke später „Eigensinn“6 genannt hat. Steinitz selbst steuerte als Beispiel für die neue Sichtweise seine beiden voluminösen Bände „Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten“7 bei, die, trotzdem er damit gewissermaßen in einem der angestammt- volkskundlichen, nämlich „geistigen“ Sachgebiet verblieb, bei vielen traditionell orientierten Fachvertetern auf oft schroffe Ablehnung stießen. Der Grund dafür lag auch in dem Umstand, dass das Genre „Demokratische Volkslieder“ in der deutschen Folkloristik ebenso unbekannt war wie ein historisch-periodenspezifischer bzw. sozial-gruppierender Forschungsansatz, der auch die Arbeiterkultur nicht ausklammerte. Wolfgang Steinitz verband dieses neue Wissenschaftsprofil mit der Kritik an einer deutschen Volkskunde, welche die nationalsozialis4 5
6
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Erschienen in: Die Umschau. Internationale Revue 1, 1946, S. 349ff. Sachse, Carola, „Persilscheinkultur“. Zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in der KaiserWilhelm/Max-Planck-Gesellschaft. In: Weisbrod, Bernd (Hrsg.), Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit. Göttingen 2002, S. 217-246; Niethammer, Lutz, Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns. Berlin 1982. Lüdtke, Alf (Hrsg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweise. Frankfurt/Main, New York 1989; Ders., Geschichte und Eigensinn. In: Berliner Geschichtswerkstatt (Hrsg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Münster 1994, S. 139-155. Steinitz, Wolfgang, Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten. Berlin 1954/1962.
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tische Volkstumsideologie bereitwillig aufgenommen und das Fach damit umfassend diskreditiert hatte. In der BRD rief das Unbehagen an der herkömmlichen Volkskunde in den 1950er und besonders in den 1960er Jahren vorwiegend junge Lehrkräfte und Studenten auf den Plan. Sie orientierten sich in erster Linie an der „kritischen Sozialwissenschaft“, an Psychologie, Soziologie und an der sich im Umbruch befindenden Geschichts- sowie Kulturwissenschaft. Sie standen auch unter dem Einfluss der hitzigen Historiker-Debatten, die um das Für und Wider eines deutschen Sonderwegs zum Nationalsozialismus geführt wurden. Die Vielzahl universitärer Institutionen und ein konservativer, der traditionellen Volkskunde sich verpflichtet fühlender Fachverband jedoch erschwerten den Durchbruch zu einer verbindlichen neuen Volkskunde, sodass anfangs lediglich einzelne Sichtweisen und Forschungen den beginnenden Erneuerungsprozess kennzeichneten. Beispielgebend war dabei, dass neue Forschungsfelder jenseits des üblichen „Kanons“ und mit Blick auf das 20. Jahrhundert bzw. die Gegenwart entstanden.8 Gleichzeitig erschienen erste Schriften, die sich mit der Geschichte der Volkskunde, ihrer deutsch-nationalen Ausrichtung und ideologischen Willfährigkeit namentlich im Dritten Reich auseinandersetzten.9 Ein wichtiges Ergebnis des jahrelangen Klärungs- und Erneuerungsprozesses schließlich war das 1970 erschienene Gemeinschaftswerk der „Tübinger Volkskunde“: „Abschied vom Volksleben“.10 1971 folgte die Umbenennung des in der Nazizeit recht konformen Tübinger Lehrstuhls in Institut für „Empirische Kulturwissenschaft“. Diese Entwicklung, mit beeinflusst durch die Studentenbewegung der 1968er Jahre, blieb nicht ohne Echo. Eine Reihe von Universitätsinstituten folgte dem Tübinger Beispiel mit ähnlichen Umbenennungen unter bewusster Ausklammerung des Begriffs „Volkskunde“, was verständlicher Weise nicht ohne teils vehemente Kritik aus den traditionellen Fachkreisen blieb, denn schließlich ging es dabei nicht um Facetten eines traditionellen Volkskunde-„Kanons“, sondern um eine grundsätzliche Neubewertung der Wissenschaftsgeschichte als Grundlage einer neuen Forschungsorientierung. Hermann Bausinger ergänzte schon 1965 seine „Volkskultur in der technischen Welt“ mit dem Aufsatz „Volksideologie und Volksforschung. Zur nationalsozialistischen Volkskunde“.11 Und im gleichen Jahr – gewissermaßen als deutschdeutsche Parallelität – veröffentlichte Wolfgang Jacobeit als Mitglied des Ostberliner Akademie-Instituts seine „Bäuerliche Arbeit und Wirtschaft. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der deutschen Volkskunde“, worin neben der Darstellung der Erforschung der Grundkategorie bäuerlicher Lebensweise von der Romantik bis in die Gegenwart beider deutscher Staaten im Fach die Nazizeit vor allem im Zusammenhang mit der Instrumentalisierung des „Atlas der deutschen Volkskunde“ (ADV) eine große Rolle spielte.12 Beide Arbeiten waren das Ergebnis gemeinsamer Auffassungen über die deutsche Volkskunde, ihre wechselvolle Geschichte, ihren Missbrauch und selbst verschuldeten Verfall im NSStaat. Obwohl unter den rigiden Bedingungen deutscher Zweistaatlichkeit unabhängig von 8 9 10 11 12
Vgl. Bausinger, Hermann, Volkskultur in der technischen Welt. Stuttgart 1971; Ders. (Hrsg.), Neue Siedlungen: Volkskundlich-soziologische Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Institutes Tübingen. Stuttgart 1959. Emmerich, Wolfgang, Germanistische Volkstumsideologie. Genese und Kritik der Volksforschung im Dritten Reich. Tübingen 1968; Ders., Zur Kritik der Volkstumsideologie. Frankfurt/Main 1971. Flankierend dazu stellte Dieter Kramer die bewusst provozierende Frage: “Wem nützt Volkskunde?“ In: Zeitschrift für Volkskunde 66, 1970, S. 1-16. Bausinger, Hermann, Volksideologie und Volksforschung. Zur nationalsozialistischen Volkskunde. In: Zeitschrift für Volkskunde 61, 1965, S. 177-204. Jacobeit, Wolfgang, Bäuerliche Arbeit und Wirtschaft. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der deutschen Volkskunde. Berlin 1965.
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einander entstanden, haben gerade diese Schriften erwiesen, dass es beiderseits Vorstellungen für ein zukünftig gemeinsames Handeln gab.13 Wendet man den Blick von diesen ersten Arbeiten wieder in die achtziger Jahre, wird die Bedeutung der 1986 in München veranstalteten internationalen und interdisziplinären Tagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde deutlich, auf der erstmals und umfassend die Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde im Nationalsozialismus thematisiert wurde. Es kam zu einer Darstellung von Untersuchungsergebnissen über das wissenschaftlich verbrämte Treiben von Organisationen wie dem SS-Ahnenerbe, dem Amt Rosenberg u. a. sowie von universitären Instituten für eine nationalsozialistische Volkskunde.14 Diese Tagung signalisierte zugleich einen wissenschaftsgeschichtlichen Durchbruch, denn neben Deutschland (DDR, BRD) wurde auch in Österreich und Italien begonnen, an der Aufklärung über faschistische „Volkstums-Wissenschaft“ zu arbeiten. Etwa zeitgleich begannen Überlegungen zur Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde in den deutschsprachigen Ländern mit dem Ziel, diejenigen Entwicklungsstränge seit der Jahrhundertwende und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu untersuchen, die zu Missbrauch und Verfall des Faches in der Nazizeit geführt hatten. Es entstand der Band „Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, der die „Volkskultur“ im Gesamtrahmen sozio-ökonomischer, – kultureller und historisch-politischer Bedingungen der jeweiligen Zeitperioden behandelt15 und heute zu einem – wenn nach Ansicht der Autoren auch nicht im erwarteten Maße wahrgenommenen so doch – wichtigen Kompendium für die spezielle Fachgeschichte geworden ist. Volkskunde im 19. Jahrhundert Die folgenden Ausführungen sollen den Weg der Volkskunde als einer nach dem heutigen Erkenntnisstand historisch-kulturwissenschaftlichen, interdisziplinär orientierten Disziplin nachzeichnen. Ausgegangen wird dabei von Volkskunde als einer „merkwürdigen deutschen Sonderwissenschaft“, die es nach Thomas Nipperdey nicht vermochte, die Ergebnisse ihres vielseitigen Sammelns und Beschreibens zu interpretieren und somit selbst dazu beitrug, dass die Ergebnisse ihres fleißigen Tuns „in die allgemeine Geschichte“ keinen Eingang gefunden haben.16 Dies ist eine Tatsache, die nicht zuletzt daraus resultiert, dass „Volkskunde als Wissenschaft“, wie sie Wilhelm Heinrich Riehl schon 1858 postulierte, diesen Rang kaum erreicht hat, d. h., Volkskunde war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein keine universitäre Disziplin. Lediglich Otto Lauffer hatte in Hamburg seit 1919 einen Lehrstuhl für Altertums- und Volkskunde inne, und erst 1936 erhielt Adolf Spamer an der Berliner Universität ein Ordinariat allein für deutsche Volkskunde. Dennoch war Volkskunde in der Öffentlichkeit nicht unbekannt. Nur wurde sie kaum als orientierende Wissenschaft betrieben, sondern gewann ihre Bedeutung innerhalb des bürgerlichen Vereinswesens, in Interessengruppen u. ä., die um die Jahrhundertwende üppig wucherten, Museen und Hei13
14 15 16
Vgl. auch die internationale bzw. deutsch-deutsche Tagung 1967 im märkischen Bad Saarow: Jacobeit, Wolfgang, Nedo, Paul, Probleme und Methoden volkskundlicher Gegenwartsforschung (= Veröffentlichung des Instituts für deutsche Volkskunde). Vorträge und Diskussion einer internationalen Arbeitstagung in Bad Saarow 1967. Berlin 1969. Helge Gerndt (Hrsg.), Volkskunde und Nationalsozialismus. Referate und Diskussionen einer Tagung (= Münchner Beiträge zur Volkskunde, Bd. 7). München 1987. Jacobeit, Wolfgang, Lixfeld, Hannjost, Bockhorn, Olaf (Hrsg.), Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wien-Köln-Weimar 1994. Nipperdey, a. a. O., S. 42.
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matstuben anlegten und dort die Ergebnisse ihrer Sammelleidenschaft zur Schau stellten, oft verbunden mit unbewiesenen bzw. unbeweisbaren Altersangaben, die – ein Erbe der Romantik – häufig bis in vermeintlich germanische Urzeiten reichten. Volkskunde war so eine eher irrationale „Disziplin“, deren Vertreter es nicht vermochten, sie zu einer selbständigen Wissenschaft zu entwickeln. Basis blieben die Vereine, die sich allmählich zu regionalen Verbänden zusammenschlossen. 1891 dann gründete der Berliner Germanist und Altphilologe Karl Weinhold einen zentralen deutschen „Verein für Volkskunde“, zusammen mit einer Zeitschrift, die bis heute – wenn auch unter wechselndem Namen und anderem heuristischen Anspruch – Bestand hat. Volkskunde war ein Kind der Romantik mit ersten Anfängen in den Zeiten der Kameralistik und der Aufklärung. Ihre Vertreter waren zumeist Wissenschaftler und dem Gedanken eines deutschen Nationalstaats verbundene Bildungsbürger. Für sie galt „das Volk“ – und all das, was es an Kulturgut im umfassenden Sinn geschaffen hatte – als eine verbindliche Metapher, und die Brüder Grimm waren ihre progressivsten Vertreter. Volkskunde als Begrifflichkeit existierte bei ihnen noch kaum, aber Friedrich Karl von Savigny forderte 1816 in seinem „Berliner Plan“ eine Erfassung aller Arten von Quellen für eine deutsche Nationalgeschichte. Zu diesen rechnete er nicht nur schriftliche Zeugnisse, sondern auch alle Güter der Volkskultur und Kulturgeschichte, die in einen wissenschaftlichen Rang zu erheben eines seiner und seiner Freunde vornehmstes Ziel war. Eine „vita populi“, wie sie dem Kreis um von Savigny, die Brüder Grimm u. a. als oberstes Ziel vorschwebte, kam nicht zustande. Was Will-Erich Peuckert 1935 zum Grimm-Jubiläum formulierte, charakterisiert jedoch die Bedeutung dieses Vorhabens: „Sie gaben dem Volke seine Geschichte. Die einfachen Dinge, das tägliche Leben, das Gut des Volkes wird zur Geschichte – nicht nur die Taten besonderer Männer.“17 Und: „Erst mit und seit Jacob Grimm hat man erkannt, daß es eine Kultur des Volkes, der nicht herrschenden Klassen gibt, die in stetem Wechselspiel mit der höheren Kultur, zum Teil eigenen Gesetzen gehorcht.“18 Die spätere Rezeption der Brüder Grimm allerdings beschränkte sich mit Blick auf die Geschichte der deutschen Volkskunde und ihre Gegenstände zumeist höchst einseitig auf ihre folkloristischen und sprachwissenschaftlichen Arbeiten. Die Komplexität ihrer Auffassungen vom Volksleben als einer historischen Größe wurde mehr oder weniger ignoriert. Vielmehr galt das Alte, Überkommene im Bewusstsein der Menschen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als noch so verwurzelt, dass es gesammelt und bewahrt, aufgehoben und damit gerettet werden konnte. Immer mehr betrachtete man die alte, nun vergehende Volkskultur als Hinweis auf eine vermeintlich „heile Welt“ und idealisierte sie als nach wie vor erstrebenswert an Stelle der bizarr gewordenen Gegenwart. Ein erwachendes deutsches Nationalgefühl basierte gleichfalls auf diesem irrationalen Geschichtsbild von deutschem Volk und Reich bzw. vom Vaterland. Was sich in dieser Gegenwart an vielfältig Neuem, an revolutionären Entwicklungen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft usw. vollzog, blieb mehr oder weniger unbeachtet. „Volk“ war nach wie vor auf die Schichten der Bauern und Handwerker in der Vergangenheit, jener „heilen Welt“, beschränkt. Die neue Klasse der mächtig anwachsenden Industriearbeiterschaft, das Proletariat, war noch keiner Beachtung wert. Vielmehr entwickelte sich eine „Agrarromantik und Großstadtfeindschaft“19, die bis ins 20. Jahrhundert Bestand hatte und sich besonders in der nazistischen Ideologie widerspiegelte. Zahlreiche Auffassungen traditionell eingestellter Volkskundler entspra17 18 19
Peuckert, Will-Erich (Hrsg.), Die Gebrüder Grimm. Ewiges Deutschland. Ihr Werk im Grundriß. Leipzig 1935, S. 3. Hammerich, Louis L., Jacob Grimm und sein Werk. In: Denecke, Ludwig, Greverus, Ina-Maria, Brüder Grimm-Gedenken 1963. Gedenkschrift zur hundertsten Wiederkehr des Todestages von Jacob Grimm (= Hessische Blätter für Volkskunde, 54). Gießen 1963, S. 5. Bergmann, Klaus, Agrarromantik und Großstadtfeindschaft (= Marburger Abhandlungen zur Politischen Wissenschaft, Bd. 29). Meisenheim am Glan, 1970.
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chen dieser Metapher, einer zugleich gewissen Verherrlichung von „heiler Welt“, die bis zur Verklärung urtümlicher Lebensweise der Altvorderen reichte und damit ideologischen Charakter trug. Dies zu erkennen, war die Mehrzahl der Volkskundler in Deutschland erst allmählich bereit und schließlich in der Lage, die bis dahin für gültig gehaltenen Auffassungen über den Gegenstand des Faches grundsätzlich zu überdenken und zu revidieren. Die Behandlung der Situation im 19. Jahrhundert einschließlich des Verhältnisses von Geschichte und Volkskunde war an dieser Stelle notwendig, weil darin Ursachen für das Versagen und den Missbrauch der Volkskunde im 20. Jahrhundert zu suchen sind. Wie bereits erwähnt, vollzog sich die Beschäftigung mit Volkskundlichem fernab einer universitären Basis vor allem in den zahlreichen bürgerlichen Vereinen, lag also somit fast ausschließlich in den Händen von Laienforschern. Dies änderte sich, als der bekannte Philologe und Altertumswissenschaftler an der Berliner Universität, Karl Weinhold (1823-1901), 1890 einen maßgebenden Aufsatz in der letzten Nummer der „Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft“ veröffentlichte: „Was soll die Volkskunde leisten?“ Gewiss war dem versierten Philologen und Schüler von Jacob Grimm all das bekannt, was an Altertumswissenschaftlichem bzw. Volkskundlichem in den Vereinen betrieben wurde. Denn Karl Weinhold sparte nicht mit harscher Kritik gegenüber der „volksgeistigen“ Einseitigkeit gängiger Untersuchungen und erklärte: „Es gehört zur Volkskunde eben mehr als die Herren Folkloristen ahnen. Es gehört Vertrautheit mit Geschichts- und Sprachwissenschaft, mit Anthropologie und Psychologie, mit historischer Rechtskunde, mit Geschichte der Volkswirtschaft, der Technik und der Naturkunde, der Literatur und Kunst dazu, und vor allem ein natürlicher klarer Verstand.“20 Deshalb war Weinholds Forschungsprogramm, sein Bekenntnis zur Interdisziplinarität und vergleichenden Untersuchungen auch ein Ruf nach einer neuen sachlichen Basis für volkskundliche Fragestellungen. Dies fand seinen publizistischen Niederschlag schließlich in der „Zeitschrift des Vereins für Volkskunde“ (ab 1891) und hatte als Credo: „Unbefangenheit in allen nationalen Fragen ist unser Grundsatz“. Diese Aussage trägt den Charakter eines „kategorischen Imperativs“, der in dieser Entschiedenheit in der deutschen Volkskunde bis 1945 nie wieder artikuliert wurde.21 Weinholds Forderungen schufen der Volkskunde jedoch noch keine universitäre Bindung, sein komplexes Programm aber entsprach einer anderen, der Volkskunde nahen Forschungstradition, gewissermaßen einer Wissenschaft vom „Volksgeist“, wie sie von dem Philosophen Moritz Lazarus und dem Sprachwissenschaftler Heymann Steinthal in deren seit 1860 erschienen „Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft“ vertreten wurde. – Es war eben jene Zeitschrift, in deren letztem Heft Karl Weinhold 1890 „Was soll die Volkskunde leisten?“ veröffentlichte und die 1891 als „Zeitschrift des Vereins für Volkskunde“ weitergeführt wurde. – Beide Herausgeber verband das Ziel, aus den kollektiven Produkten der Völker, wozu beispielsweise Sprache, Mythos, Sitte und Brauch, aber auch Kunst und Verfassung zählen sollten, die Entwicklungsgesetze eines „Volksgeistes“ 20 21
Weinhold, Karl, Was soll die Volkskunde leisten? In: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 26, 1890, S. 1-5, hier S. 1ff. Weinhold, Karl, Zur Einleitung. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 1, 1891, S. 1-10. Zu erwähnen sind auch methodische Anregungen Weinholds: „Es kommt zuerst darauf an, umfassende Sammlungen anzulegen: alles und jedes Material, so genau wie der Naturforscher das seine, aufzusuchen, möglichst rein zu gewinnen und treu aufzuzeichnen, in Wort und Bild.“ Erst danach habe man zu untersuchen, ob „das Gewonnene sich geschichtlich verfolgen läßt, wie es in früheren Zeiten gewesen ist, wo sein Ursprung liegt, und welche die Gründe seines Ursprungs waren“ sowie in vergleichender Weise nachzuforschen, ob sich die so festgestellten Erscheinungen auch bei anderen Völkern finden. „Auf diesem Wege wird man zuletzt die allgemeine menschliche Formel aus der nationalen gewinnen“ (S. 2). Vgl. auch Jacobeit, Wolfgang, Bäuerliche Arbeit und Wirtschaft a. a. O., S. 78-88.
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abzuleiten.22 Eine Vielzahl von sachlichen Bausteinen bildete somit das Fundament für das Gebäude eines „Volks- und Völkergeistes“, ohne dass die bereits kursierenden germanophilen und rassistischen Auffassungen nationaler oder bürgerlich-nationaler Kreise Verwendung fanden. Es bestand die Meinung von der „wesentlichen Gleichheit aller Menschen“ und von deren „geistig-sittlichen“ Grundlagen. Zugleich gebe es aber eine Gegenströmung, „welche diese Unterschiede festhalten oder gar vermehren will und nothwendig einerseits in Überschätzung der Landsleute und Parteilichkeit für dieselben, andererseits in Unkenntniß und Mißachtung der Fremden und Feindseligkeit gegen das fremde Land ausläuft“.23 Was Adolf Strack (1860-1906) schließlich 1905 als Geleitwort in den „Mitteilungen des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde“ formulierte, war so etwas wie ein Fazit aus der Geschichte der deutschen Volkskunde um die Jahrhundertwende: „Die deutsche Volkskunde bedarf des engen Anschlusses an die germanische Philologie und Altertumskunde. Aber da das deutsche Volkstum seit früher Zeit starken fremden Einflüssen ausgesetzt war, die bis in die Gegenwart wirken, Einflüssen besonders der Antike, der semitischen Völker, der Slawen und Romanen, so sind wir auf die Hilfe der Einzelphilologien dieser Völker angewiesen, wenn wir die Fragen, die uns das Volksleben der Gegenwart stellt, beantworten wollen (…) Deshalb muß sich die Volkskunde verbinden mit der Völkerkunde, der Ethnologie.“24 In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, dass Lazarus und Steinthal jüdischen Glaubens waren, dass andere jüdische Bürger zu einflussreichen Mäzenen des 1889 von Rudolf Virchow begründeten ersten „Museums für deutsche Volkstrachten und Erzeugnise des Hausgewerbes“ in Berlin gehörten, dass ebenfalls 1889 in Hamburg die „Gesellschaft für jüdische Volkskunde“ und 1895 ein „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ entstand.25 In beiden war Karl Weinhold Mitglied. Volkskunde als Wissenschaft war – wie schon erwähnt – um die Jahrhundertwende auch trotz der skizzierten Annäherung an die Völkerpsychologie nicht universitär etabliert. Ihre Vertreter rangen noch um einen verbindlichen Forschungsgegenstand. Was aber den Blick auf die Gesamtgeschichte der deutschen Volkskunde als Wissenschaft anlangt, so ist Bernd Jürgen Warneken zuzustimmen, wenn er resümiert, dass das Fach Volkskunde „nicht von Anfang an als Holzweg durch deutsche Wälder angelegt war“ gleichzeitig aber auch zeigt, „wie nachhaltig diese Anfangschancen verspielt und dann vergessen“ wurden.26
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24 25
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Ebbing, Tina Maria, Die Wissenschaft vom Volksgeist. Über ein Projekt des 19. Jahrhunderts. Magisterarbeit an der Philosophischen Fakultät der Universität Münster 2002, unv. Manuskript. Rüdiger, Ludwig, Über Nationalität. In: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 3, 1865, S. 95-130, zitiert nach Warneken, Bernd Jürgen, „Völkisch nicht beschränkte Volkskunde. Eine Erinnerung an die Gründungsphase des Faches vor 100 Jahren.“ In: Zeitschrift für Volkskunde 95, 1999, S. 169-196, S. 173. Warneken, Bernd Jürgen, „Völkisch nicht beschränkte Volkskunde. Eine Erinnerung an die Gründungsphase des Faches vor 100 Jahren.“ In: Zeitschrift für Volkskunde 95, 1999, S. 181f. Grunwald, Max, Ein Kapitel aus meiner Autobiographie: Die Gründung der ersten jüdischen Volkskundegesellschaft (bearb. v. Christoph Daxelmüller). In: Bayerische Blätter für Volkskunde N. F. 5, 2003, H. 1, S. 3-14. Darin heißt es u. a.: „Grunwald stöberte (…) systematisch in den Archiven, als die nichtjüdische Volkskunde nach wie vor vom germanischen Ursprung aller Volkskultur überzeugt war. Grunwald erkannte die Bedeutung des Arbeitens in einer industrialisierten Welt, als die nichtjüdische Volkskunde noch an ihren Bauern glaubte.“ Warneken, Bernd Jürgen, a. a. O., S. 196.
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344 Volkskunde im wilhelminischen Deutschland
Die Volkskunde im 20. Jahrhundert musste sich wie alle Disziplinen mit zwei großen Weltkriegen auseinandersetzen, in deren Gefolge viele Veränderungen entstanden, die das alltägliche Leben der Menschen nachhaltig beeinflussten. Es war – aus der heutigen, wenngleich beschränkten zeitgenössischen Sicht – ein Jahrhundert der Extreme, der Katastrophen und Diktaturen,27 in das hinein nationalistisch-ideologische Tendenzen aus dem 19. Jahrhundert mitgeschleppt wurden. Mit dem Tode von Karl Weinhold 1901 begann zunächst zwar eine längere Zeit der Diskussionen um Gegenstand und Stellenwert der Volkskunde. In diese Fragen hinein reichte jedoch auch eine Entwicklung, die hier nur angerissen werden kann, wenngleich sie großen Einfluss auf die Wissenschaftsgeschichte des Faches erlangte. Sie stand in engem Zusammenhang mit der Disziplin Philologie sowie mit der in sie verwobenen Bildungsgeschichte28 der wilhelminischen Zeit. Die Philologie galt nicht nur als wesentliche Universitätsdisziplin mit dem Ziel der „wissenschaftlichen Erforschung der geistigen Entwicklung und Eigenart eines Volkes oder einer Kultur aufgrund seiner Sprache und Literatur“.29 Philologe war auch der Lehrer namentlich an höheren Schulen, der antike Sprachen und deren Geschichte bzw. Literatur vermittelte, der auch das Deutsche in gleicher Weise lehrte und damit zum Multiplikator entsprechenden Wissens und jeweils gängiger Auffassungen oder auch Haltungen vor allem für die Jugend wurde. Diese Vermittler einer eingefahrenen Bildungsstruktur gerieten mitsamt dem etablierten Fach in eine Art bildungspolitische und Legitimationskrise, als diejenigen gesellschaftlichen Kräfte nämlich, die in der Industriemoderne zunehmend an Einfluss gewannen und vom Modernisierungsprozess profitierten, gleichzeitig vehement eine Bildungsreform forderten. Dies schien umso gerechtfertigter, als die Natur- und Technikwissenschaften zum „neuen und genuinen Ausdruck deutscher Kulturüberlegenheit“ avancierten, die Geisteswissenschaften aber und mit ihnen die Angehörigen der alten Bildungseliten ihre kulturelle Hegemonioe verloren.30 Als Höhepunkt dieser Entwicklung galt eine große Schulkonferenz von 1890, die Wilhelm II. im Zeichen eines „Neuen Kurses“ eröffnete. Dort kritisierte er nicht nur die Missstände im bestehenden, auf die „Klassik“ orientierten gymnasialen Schulsystem, sondern setzte sich auch unmittelbar mit den Philologen auseinander, die er „persönlich für das Anwachsen der Sozialdemokratie verantwortlich“ machte und reklamierte eine „nationale Basis in den Schulen“. Der entscheidende Satz, in Philologenkreisen zum Slogan geworden, lautete: „Wir müssen als Grundlage für das Gymnasium das Deutsche nehmen; wir sollten nationale junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer.“ Ebenso führte er aus, „möchte Ich das Nationale bei uns weiter gefördert sehen in Fragen der Geschichte, Geographie und Sage“. Es sollte nun „der Deutschunterricht zum ethisch bedeutsamsten Lehrgegenstand“ aufgewertet werden, den nur Lehrer zu erteilen hatten, die „ausreichende Kenntnis über das deutsche Volkstum“ vorwiesen und somit wohl die „volkskundlich interessierten Philologen“ gemeint waren. Anita Bagus ist zuzustimmen, wenn sie 27
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Hobsbawm, Eric, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München-Wien 1995; Raphael, Lutz, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart. München 2003; Iggers, Georg G., Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Göttingen 1993; Jäger, Friedrich, Rüsen, Jörn, Geschichte des Historismus. München 1992 u. a. Vgl. im Folgenden: Bagus, Anita, Volkskultur in der bildungsbürgerlichen Welt. Zum Institutionalisierungsprozess wissenschaftlicher Volkskunde im wilhelminischen Kaiserreich am Beispiel der Hessischen Vereinigung für Volkskunde. Phil. Diss., Marburg 2002; Dies., Volkskunde, ein geisteswissenschaftliches Leistungsangebot. Zur Fachgenese im bildungs- und wissenschaftspolitischen Kontext des Wilhelminischen Kaiserreichs. In: Bayerische Blätter für Volkskunde, N. F. 4, Heft 2, 2002, S. 161177. Brockhaus, Encyklopädie, Bd. 17. Mannheim 1992, S. 101. Bagus, Anita, Volkskunde, ein geisteswissenschaftliches Leistungsangebot, a. a. O., S. 169.
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diese Zusammenhänge als den „Take Off für die Volkskunde in der bildungspolitischen Wende“ bezeichnet hat.31 In diesen „Take Off“ ist die genannte Theorien- und Methodendiskussion um Gegenstand und Aufgabe der Volkskunde zu datieren, die in erster Linie von den Vorsitzenden der volkskundlichen Landesvereine geführt wurde. Sie waren hauptberuflich Philologen für deutsche Sprache und Literatur in höheren Schulen und fühlten sich von der kaiserlichen Rede angesprochen und angespornt, verstärkt für die Etablierung einer national gesinnten Volkskunde im Sinne eines nunmehr höher bewerteten Deutsch- und Geschichtsunterrichts zu wirken. Das bedeutet, dass Volkskunde mehr oder minder als „angewandte Wissenschaft“ betrachtet wurde, was nicht zuletzt hieß, die besonderen nationalen Züge eines verklärt gesehenen Deutschtums in einer unwirklichen Historizität herauszustellen, mit einem irrationalen Heimatbegriff zu operieren und das Bild einer angeblich „heilen Welt“ als erstrebenswert vorzuführen. Damit verlor das Erbe des 19. Jahrhunderts an Geltung, und die neuen Vorstellungen von Volkskunde bezogen sich letztlich auf das, was Karl Weinhold vehement kritisiert hatte: auf das Folklorehafte in seiner anachronistischen Verklärung mitsamt einer Negation gegenwärtigen „Volks“-Geschehens in einer veränderten sozialen Welt. Dies allein reicht jedoch nicht aus, um den Weg des Faches in den Nationalsozialismus zu erklären. Er ist ohne die enge Beziehung zur jeweils herrschenden Ideologie bzw. die Diskussion divergierender Auffassungen über das „Neue“ der Kultur im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess nicht denkbar. Hier spielten auch der „Volksbegriff“ und die Frage, wie er am eindeutigsten als historisch-gesellschaftliches Phänomen zu bestimmen sei, eine bedeutende Rolle. Thesen, Theorien und Methoden von Historismus, Idealismus, Positivismus, Marxismus, die Freudsche Lehre, nicht zuletzt das durch den Einfluss der bereits genannten Technik und Naturwissenschaften sich verändernde Weltbild stießen aufeinander und stritten heftig um die Geltung ihres Einflusses auf den Entwicklungsprozess von Staat, Gesellschaft, Kultur und Menschenbild. Es war zugleich eine Auseinandersetzung von „Alt“ und „Neu“. Jeder wurde in diesen Strudel der unterschiedlichen Auffassungen hineingezogen und versuchte, seine Position zu finden und – mit oder ohne Vorbild – zu begründen.32 Dabei kann nicht übersehen werden, dass es auch volkskundliche Fachvertreter gab, die sich den Beschränkungen und Ideologisierungen nicht unterwarfen, sondern die auf eine Komplexität von Volksleben und Volkskultur insistierten. Ein Beispiel hierfür war der Hamburger Museologe und Altertumswissenschaftler Otto Lauffer, der sich lautstark in die Streitereien der volkskundlichen Wortführer einmischte und u. a. erklärte: „Trotz allen voraussichtlichen Widerspruchs muß es einmal mit voller Schärfe ausgesprochen werden, daß es eine Volksseele überhaupt nicht gibt (...) Aber wie die Dinge heute liegen, wird es noch sehr große Mühe kosten, dieses Gespenst der für wirklich gehaltenen Volksseele endlich zur wohlverdienten Ruhe zu bringen.“33 31 32
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Ebd., S. 171ff. Eine hervorragende interdisziplinäre Untersuchung und Darstellung über diesen alles umfassenden Prozess bieten die von Rüdiger vom Bruch, Friedrich Wilhelm Graf und Gangolf Hübinger herausgegeben Bände: Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Bd. 1: Krise der Moderne und Glauben an die Wissenschaft, Stuttgart 1989; Bd. 2: Idealismus und Positivismus, Stuttgart 1997. Vgl. ebenfalls Wehler, Hans-Ulrich, Umbruch und Kontinuität. Essays zum 20. Jahrhundert. München 2000. Lauffer, Otto, Deutsche Altertums- und Volkskunde in ihren Beziehungen zur Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. In: Tagungsbericht der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft, Hamburg 1929, S. 14-20, hier S. 2ff. Vgl. auch ders., Was heißt „Deutsche Volkskunde“? In: Zeitschrift für Volkskunde 4, 1933, S. 69.
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Nationalistische Volkskunde in der Weimarer Republik Der verlorene Erste Weltkrieg, der Sturz des Kaiserreichs, Versailles, die Gründung der ersten Deutschen Republik erbrachte auch bei den Volkskundlern noch keine Anzeichen für ein Umdenken, im Gegenteil. So schreibt Karl Reuschel über Kriegs- und Nachkriegszeit wörtlich: „Wer hätte sich nicht von der wunderbaren Einmütigkeit unserer Volksgenossen, von der gemeinsamen Richtung ihres Geistes überzeugen können! Wer jetzt nicht an einen Volksgeist oder an eine Volkssele der Deutschen glaubt, (...) dem stehen Theorien über Tatsachen!“34 Es setzte eine „regelrechte Renaissance von Verheimatungsdiskursen“ ein, die von dieser auf das „Geistig-Seelische“ fixierten Volkskunde wesentliche Unterstützung erfuhr.35 In diesem Spannungsfeld wurde eine fachliche Entwicklung weitergeführt, die in weiten Bereichen des traditionellen volkskundlichen Kanons auf einem „Konsens konservativer volkskundlicher Theorienbildung und Gesellschaftsauffassung“ beruhte und letztlich in die nationalsozialistische Ideologie mündete.36 Zu nennen ist in dieser Hinsicht und signifikant für die unmittelbare Nachkriegszeit und die ersten Jahre der Weimarer Republik die „völkische Bewegung“ des „Heimatschutzes“, die schon vor 1914 im nationalistischen Sinn des Wilhelminismus von sich Reden gemacht hatte. Eine Schlüsselfigur schon vor Beginn des Ersten Weltkriegs war Adolf Bartels: „Nach 1918 wurde er zu einer Verbindungsgestalt zwischen der überkommenen völkischen Bewegung der wilhelminischen Ära und dem entstehenden Nationalsozialismus. Eine seiner Parolen »für belesene, vaterlandsliebende Patrioten« lautete: „ Wer in unserer Zeit nicht Antisemit ist, der ist auch kein guter Deutscher.“ 37 Ein anderer Wortführer und Protagonist im Sinn der damaligen Auffassung von Volkskunde war Joachim Kurd Niedlich mit seinem 1920 erschienenen Buch „Deutscher Heimatschutz als Erziehung zu deutscher Kultur“. Für Niedlich und sein Buch galt, wie Kai Detlev Sievers treffend formuliert hat: „Je dunkler der kulturelle Horizont der Gegenwart erschien, desto heller und verheißungsvoller ließ sich der Aufbruch zu neuen, völkischen Ufern anpreisen. Da erschien dann der deutsche Zusammenbruch nicht mehr nur als nationales Desaster, sondern als Chance, verschüttete Fundamente wieder freizulegen, Verlorenes zurückzugewinnen und sich des Eigenwertes zu vergewissern.“ 38 Unter den Auspizien der Weimarer Republik nun ist es besonders wichtig, den Germanisten und Literaturwissenschaftler Hans Naumann (1886-1951) zu erwähnen. Er wirkte in einer historischen Zeit, in der „die Vergangenheit erst recht als Idylle der Stabilität, der Si34 35 36
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Reuschel, Karl, Deutsche Volkskunde im Grundriß. 2 Bde. (= Aus Natur und Gesellschaft, Bd. 644 u. 645), Leipzig-Berlin 1920/1924, hier Bd. 1, S. 13. Kaschuba, Wolfgang, Einführung in die Europäische Ethnologie. München 1999. Scholze, Thomas, Im Lichte der Großstadt. Volkskundliche Erforschung metropolitaner Lebensformen (= Neue Aspekte in Kultur- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 2). Wien 1990. Vgl. auch ScholzeIrrlitz, Leonore, Universitätsvolkskunde im Nationalsozialismus. Skizzen zur Fachetablierung und Öffentlichkeitsarbeit in Berlin. Franz Steiner Verlag, Wiesbaden 2005. Knigge, Volkhard, Professor Bartel‘s Bücher. Nicht nur Goethe, Liszt und Bauhaus. Zu Weimar gehört auch Adolf Bartels, einer der einflussreichsten Propheten des Nationalsozialismus. In: Die Zeit, Nr. 47, 2004, S. 90. Sievers, Kai Detlev, Völkischer Heimatschutz (Teil II). In: Kieler Blätter zur Volkskunde 30, 1998, S. 5-48, hier S. 34. Vgl. auch ders., „Volkskunst“ aus völkischer Sicht. In: Mehl, Heinrich (Hrsg.), Volkskunst in Schleswig-Holstein. Alte und neue Formen. Heide 1998, S. 35-48; Ders., Völkische Märcheninterpretationen. Zu Joachim Kurd Niedlichs Mythen- und Märchendeutung. In: Schmidt, Christoph, Homo narrans. Studien zur populären Erzählkultur. Festschrift für Siegfried Neumann. Münster u. a. 1999, S. 91-100; Ders., Antialkoholismus und Völkische Bewegung. Hermann Poperts Roman „Helmut Harringa“. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 29, 2004, S. 29-54.; Ders., „Kraftwiedergeburt des Volkes“. Joachim Kurd Niedlich und der völkische Heimatschutz. Würzburg 2007.
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cherheit und Ordnung, der Einheit und der relativ problemlosen Ausrichtung auf allen Deutschen gemeinsame Leitbilder erhoben wurde“.39 Zumal grassierte bei den Anhängern des Mitte-Rechts-Spektrums die Auffassung, dass „im Rahmen der Republik nur gesellschaftlicher und kultureller ‚Verfall‘ fortschreiten“ würden.40 An vier Universitäten, an denen Naumann germanische Philologie lehrte, vertrat er auch volkskundliche Themen im Verständnis seines eigentlichen Fachgebiets und fand dafür Bestätigung in den Vorgaben deutscher Theoretiker zum Gegenstand der Volkskunde wie Albrecht Dieterich, Adolf Strack, Eugen Mogk u.a. in der prinzipiell gemeinsamen Auffassung: „die Erforschung, Darstellung und Erklärung aller Lebensformen und geistigen Äußerungen, die aus dem natürlichen Zusammenhang eines Volkes unbewußt hervorgehen und durch ihn bedingt sind (...) Das Leben und Wachstum der Sprache, die Entstehung der religiösen Vorstellungen, der Künste und der Poesie, der Sitte und der Sittlichkeit sowie deren Entwickelung bis zu der Grenze, wo das Einzelindividuum bestimmend und beherrschend eingreift, das sind die großen Probleme, deren Lösung die Volkskunde uns geben soll.“41 Gleichfalls um die Jahrhundertwende (1902) tauchte eine von dem Schweizer Eduard Hoffmann-Krayer genutzte Definition auf, in der er zwei Volksbegriffe unterschied: einen politisch-nationalen „populus“ sowie den „vulgus“ mit dem „generell-stagnierenden Kulturmoment“. Die Beziehungen beider bezeichnete er mit der Formel „vulgus in populo“ und schloss daraus, dass das Volk – also vulgus – nicht produziere, sondern reproduziere. Diese These hat in unterschiedlicher Weise in den Diskussionen um den Gegenstand der Volkskunde eine Rolle gespielt, und von hier führte eine gedankliche Linie zu Hans Naumann, der daran mit seiner Lehre vom „gesunkenen Kulturgut“ und der „primitiven Gemeinschaftskultur“ als „Beiträge zur Volkskunde und Mythologie“ 1921 anknüpfte. 1922 folgten dann bereits seine „Grundzüge der deutschen Volkskunde“, in denen er „das Volk in eine progressive, geistig, kulturell inspirierende Oberschicht und eine beharrende, geistige Güter nur empfangende Unterschicht, die ‚primitive Gemeinschaft‘“ einteilte. Naumanns Kernthese lautete, „Volksgut wird in der Oberschicht gemacht“ und von der „primitiven Gemeinschaft“ deren Bedürfnissen entsprechend als „gesunkenes Kulturgut“ adaptiert. Dennoch bestehe „primitives Gemeinschaftsgut“ fort. Dieses sei „urtümlich gewachsen und psychisch bedingt, das andere – Oberschichtliche – historisch“ und „bewußt geschaffen und umgeformt“ worden.42 Aus all dem – verbunden mit Gedanken des französischen Philosophen Lucien Lévy-Bruhl über mystische Kollektivvorstellungen sowie prälogische Denk- und Verhaltensweisen sogenannter Naturvölker – entwickelte Naumann seine Grundthese folgenden Inhalts: „Alles Volkstümliche (...) gehört Überwundenem und Versunkenem an; aber aus den Gütern der primitiven Gemeinschaftskultur strömt eine köstlich-frische, erdhaftjunge, ewig-urwüchsige Kraft. Geist steht über der Masse, und den Fortschritt erringen im Zwiespalt mit der Gemeinschaft nur Persönlichkeit, Gewissen und Geist, die aber Produkte der Oberschicht sind und diese zur Oberschicht machen. Das Persönliche macht das Wesen der höheren Kultur aus, aber deren Wurzeln liegen (...) in der primitiven Gemeinschaft, die ihr ewiger, tiefer und starker Mutterboden ist.“43 39 40 41 42 43
Bergmann, Klaus, Agrarromantik a. a. O., S. 178. Assion, Peter, Von der Weimarer Republik ins „Dritte Reich“. Befunde zur Volkskunde der 1920er und 1930er Jahre. In: Jacobeit, Lixfeld, Bockhorn, a. a. O., S. 35. Vgl. hierzu auch Wehler, Hans-Ulrich, Umbruch und Kontinuität, a. a. O., S. 47-64 und S. 289-301. Plaul, Hainer, Eugen Mogk und seine Stellung in der deutschen Volkskunde. Diplom-Arbeit am Institut für Völkerkunde und deutsche Volkskunde der Humboldt- Universität zu Berlin, Berlin 1966, S. 58. Assion, Peter, a. a. O., S. 42. Vgl. auch Schmook, Reinhard, „Gesunkenes Kulturgut – Primitive Gemeinschaftskultur“. Der Germanist Hans Naumann (1886-1939) in seiner Bedeutung für die Volkskunde. Wien 1993. Assion, Peter, ebd., S. 44.
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Zu dieser Grundthese Naumanns, die durchaus theoretische Anknüpfungspunkte für die volkskundlich-ethnologische Forschungspraxis enthält, gehört aber ebenso ein Satz aus seiner Publikation von 1921, die in den „Grundzügen“ von 1922 nicht mehr enthalten, aber als Folgerung Naumannschen Denkens über die politischen Verhältnisse der frühen 1920er Jahre bezeichnend ist: „So betrachtet führt die Volkskunde ab von der Demokratie, wenigstens wie diese vulgär verstanden wird, führt hin zur Anerkennung der Bildungsaristokratie und der schöpferischen Persönlichkeit, in deren Händen Führerschaft und Kulturentwicklung beschlossen liegen.“44 Nicht minder deutlich bringt er 1922 zum Ausdruck, dass er die „sozialistisch-kommunistischen Bestrebungen auf den Gebieten der Politik (lediglich als – d. Verf.) eine mehr oder minder bewußte Rückkehr vom Individualismus zur Primitivität“ versteht.45 Wenn in diesem Zusammenhang Peter Assion von „präfaschistischer Vorwegnahme eines Führerund Gefolgschaftsmodells“ geschrieben hat, so schätzte Wolfgang Steinitz schon 1955 Naumanns „Herrenmenschentheorie“ als eine um so größere Gefahr ein, „als es sich bei ihm um einen gedanken- und kenntnisreichen Universitätslehrer handelte, dessen Theorie und dessen Bücher die volkskundliche Ausbildung der deutschen Lehrerschaft“ bestimmte.46 Eine solche Feststellung entspricht somit dem, was als „Take Off“ für die Volkskunde in wilhelminischer Zeit verstanden werden kann. Lediglich durch den Ersten Weltkrieg wurde die einmal erdachte, psychologistisch orientierte Erforschung des „Geistig-Seelischen“ unterbrochen und harmonierte bestens mit den nach wie vor virulenten Vorstellungen der „alten Eliten“, was sich bereits Jahre vor 1933 konsequent zu präfaschistischen Äußerungen auswuchs.47 Dass Hans Naumann noch unmittelbare Beziehungen zum exilierten Kaiser im holländischen Doorn pflegte, mag hier nur als eine Glosse erwähnt werden. Es gab nur wenige zeitgenössisch-wissenschaftliche Einwände gegen Naumanns These vom „gesunkenen Kulturgut“, so von Wilhelm Fraenger, der in seinem Periodikum „Jahrbuch für historische Volkskunde.“ Deutsche Vorlagen zu russischen Volksbilderbogen des 18. Jahrhunderts“ nachwies, dass die Beziehungen zwischen oberschichtlicher Kultur und Volkskultur einem ständigen wechselseitigen Austauschprozess gleichkamen.48 Wenn sich um 1930 Studenten Hans Naumanns über dessen Hinwendung zum Nationalsozialismus wunderten, dann richtete sich das vor allem gegen seine „mit Vehemenz verfochtene These von der germanischen Wiedererstehung in Form des faschistischen Herrschaftssystems. (...) Was war in dem Manne vorgegangen, der sich seines faszinierenden Einflusses (...) sicher war oder es zu sein schien? Wie vereinbarte sich der Vulgarismus, daß ein Universitätsprofessor die braunen Kolonnen mit germanischen Heerscharen – Sturmbann mit Sturmbann – identifizierte, mit dem ansonsten zur Schau getragenen Elitarismus (...)“49 Noch eindeutiger ist dann Naumanns politische Bekenntnisschrift zum Nationalsozialismus „Deutsche Nation in Gefahr“ von 1932. Darin unterstrich er seine auf die NSDAP und Hitler gesetzte Hoffnung, die „Wiederbelebung des Gefolgschaftsgedan44 45 46 47 48
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Ebd., S. 76 (Anm.). Ebd., S. 44. Ebd., S. 76 (Anm.) Vgl. Schmook, a. a. O. Den wissenschaftlichen Werdegang Wilhelm Fraengers bis zum Begründer und Chefredakteur des „Deutschen Jahrbuchs für Volkskunde“ und stellvertretenden Direktor des Instituts für deutsche Volkskunde an der Akademie der Wissenschaften zu Berlin (DDR) hat Petra Weckel in einer sehr gründlich recherchierten Dissertation verfolgt. Weckel, Petra, Wilhelm Fraenger 1890-1964. Ein subversiver Kulturwissenschaftler zwischen den Systemen. Potsdam 2001. Vgl. auch Korff, Gottfried, Kulturforschung im Souterrain. Aby Warburg und die Volkskunde. In: Maase, Kaspar, Warneken, Bernd Jürgen, Unterwelten der Kultur, a. a. O., S. 143-177. Assion, Peter, a. a. O., S. 46.
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kens“ möge zum „Durchbruch der germanischen Kontinuität“ führen in der „Vereinigung des nationalen und sozialen Gedankens gegenüber den Irrwegen der Vergangenheit“ und als „Weg zur Rettung der deutschen Nation“ erscheinen.50 Im gleichen Jahr beteiligte er sich an einem Aufruf von rund fünfzig Professoren im „Völkischen Beobachter“, gerichtet an das intellektuelle Bürgertum, in einer der Reichstagswahlen für die Nazipartei zu votieren. In diesem „Tübinger Aufruf“ ging es um die „Gesundung des öffentlichen Lebens und Rettung des deutschen Volkstums durch eine faschistische Staatsführung“. Mit dieser Haltung trat Hans Naumann am 1. Mai 1933 der NSDAP bei, wurde Mitglied im NSLB und im NSDoB. Der Eindruck des „Tages von Potsdam“ im März 1933 habe ihn dazu veranlasst, erklärte er 1947.51 Dass diese Hinwendung zur NSDAP und ihrer Führung mehr war als bloßes Lippenbekenntnis eines der unzähligen „Mitläufer“ des NS-Systems beweist sein öffentliches Auftreten als Hauptredner bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 in Bonn. Seine Rede kam in Stil und Ton einer kultisch-religiösen Weihehandlung gleich, und es hieß darin („Kampf wider den undeutschen Geist“) u. a.: „Dies Feuer ist ein Symbol und soll auch eine Aufforderung sein an uns selbst, unsere eigenen Herzen zu läutern (...) Kühnheit wollen wir und Geist, so ist es germanische, so ist es deutsche Art. Wir rufen nach dem neuen künstlerischen Geist der völkischen Aktivität. Heil denn also dem neuen deutschen Schrifttum! Heil dem obersten Führer! Heil Deutschland!“52 In den folgenden Jahren spielte Naumann „geradezu die Rolle eines Paradenazis und verstieg sich zu oratorischen Huldigungen Hitlers,“ so z. B. in seiner schwülstigen Rektoratsrede 1934 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn: „Er hat dem deutschen Bauern, dem deutschen Soldaten, dem deutschen Arbeiter seinen Hohen Mut zurückgegeben, er wird – das ist unser fester Glaube – auch der deutschen Wissenschaft ihren Hohen Mut wiedergeben, dessen sie zu ihrer Arbeit bedarf.“53 „Amt Rosenberg“, „NS-Ahnenerbe“ – und die Volkskunde im Nationalsozialismus Wenn Hans Naumann sich auch weiterhin in öffentlichen Bekundungen als gläubiger Anhänger Hitlers und des NS-Systems gebärdete – seine Reden zu Geburtstagen des „Führers“ waren geradezu berüchtigt –, fiel er doch nach und nach in Ungnade, denn er hatte auch gegen die Aberkennung der Ehrendoktorwürde Thomas Manns und gegen die Absetzung Karl Barths von dessen Bonner Theologie-Lehrstuhl polemisiert. Und ebenso geriet er in die Kritik der ideologischen Überwachungsinstitution „Amt Rosenberg“54, wo man seine Zweischichtentheorie nunmehr ablehnte, „weil sie der nazistischen Blut-und BodenIdeologie und dem Konzept der ‚Volksgemeinschaft‘ zuwiderlief“. Als Präzeptor fungierte der im Amt Rosenberg tätige Volkskundler Matthes Ziegler, der 1934 in den „Nationalsozialistischen Monatsheften“55 einen streng ideologisch konformen Lehraufsatz „Volkskunde auf rassischer Grundlage“ veröffentlichte. Darin forderte er apodiktisch und bedrohlich eine Volkskunde, die „heute entweder nationalsozialistisch und damit Trägerin einer ungeheueren politischen und weltanschaulichen Verantwortung“ ist, oder sie „schaltet sich selbst aus dem Leben der Nation aus“. Das bezog sich unter Nennung seiner „Grundzüge“ 50 51 52 53 54 55
Ebd. Ebd., S. 46f. Ebd., S. 47 (Anm.). Ebd. Der Titel der Rede lautete: „Der Hohe Mut und das Freie Gemüte“. Vgl. Lixfeld, Hannjost, Die weltanschauliche Volkskunde des Amtes Rosenberg und ihr Wissenschaftstheoretiker Matthes Ziegler. In: Jacobeit, Lixfeld, Bockhorn, a. a. O., S. 192-205. Ziegler, Matthes, Volkskunde auf rassischer Grundlage. In: Nationalsozialistischen Monatshefte, 53, 1934, S. 711-717.
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auch auf Naumanns Lehre. Sie war schließlich die einzige aktuelle „Konzeption“ eines noch lebenden Gelehrten und schien den nazistischen Ideologen zu gefährlich. Für Ziegler wurde Naumann zur Leitfigur einer liberalistischen Volkskunde und damit zum weltanschaulichen Gegner: „Eine deutsche Volkskunde, die auf dem Rassegedanken aufgebaut ist, denkt nicht in Ober- und Unterschicht, sondern geht aus von dem Gegensatz arteigener Wesenhaftigkeit und artfremder Einflußnahme, dem Geschichte gewordenen Widerstreit des nordischen Kulturbereiches im allgemeinen und des deutschen Seelentums im besonderen, mit den Überfremdungen durch andersrassische Gesittungen (...). Die nationalsozialistische Volkskunde kann Volk niemals mehr einer ‚Unterschicht‘ gleichsetzen. Ihr ist Volk die Ganzheit der Nation.“56 Weiter hieß es in Zieglers Aufsatz, dass die Volkskunde sich „beschäftige mit den geistigen und stofflichen Schöpfungen der Gestaltungskraft, die jeder völkischen Gemeinschaft innewohnt“. Das Bauerntum aber stelle sie deshalb in den Vordergrund, „weil der blut- und bodengebundene Bauer arteigener Wesenhaftigkeit am nächsten steht‚ und weil es Aufgabe der angewandten Volkskunde sein müsse, zur ‚Neubildung deutschen Bauerntums aus Blut und Boden‘“ beizutragen, welches „‚der Bürge der deutschen Zukunft’“ sei.57 „Solcher Art Bemerkungen“, verknüpft mit der grassierenden Furcht vor Repressalien und dem Terror des NS-Regimes, schreibt Peter Assion zu Recht, „machten bei den Parteigängern der Nazis natürlich bald Schule und wurden gläubig nachgebetet.“58 Im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext und aus heutiger Sicht betrachtet war dies das Credo volkskundlicher Betrachtungsweise, wie es der Ideologie-Zentrale des Amtes Rosenberg und dem „Mythus des 20. Jahrhunderts“ entsprach. Es war die Antwort bzw. kann als Folgerung aus dem wilhelminischen „Take Off“ der Volkskunde betrachtet werden, in dem all das gewissermaßen schon enthalten war, was nun von Ziegler als dem Kopf dieser „neuen“ Sicht nahezu befohlen wurde. Das bedeutete ebenso, dass es zur Durchsetzung jenes „Take Off“ erst eines so rigorosen, politisch-ideologischen Systems bedurfte, wie es das Dritte Reich war. Was zuvor, d. h. zwischen 1918 und 1933 an theoretisch-methodischen Gedanken zum Gegenstand der Volkskunde geäußert wurde, waren in großen Teilen nur Präludien zu Rosenberg, Ziegler und Co.59 Unter Zieglers Signum einer „Volkskunde auf rassischer Gundlage“ erschien nach Gründung einer „Reichsarbeitsgemeinschaft für Deutsche Volkskunde“ 1937 die Schriftenreihe „Deutsches Volkstum“. Sie war einer Volkskunde für die „Schulungs-und Erziehungsarbeit der NSDAP“ gewidmet und stand in Verbindung mit der o. g. „Reichsarbeitsgemeinschaft“. Somit waren dem volkskundlichen Tun politisch-praktische Aufgaben zugewiesen, die sich nach Zieglers Auffassung aus dem traditionell-üblichen Kanon der Volkskunde ergaben: „Nationalsozialistische Feiergestaltung mit zusammengeballter Darstellung der Glaubenskräfte unserer Nation. Germanische Frömmigkeit und nordischer Gottglaube sind gleich dem bunten Edelstein eingesprengt in die Überlieferungswelt der Sagen, Märchen und Lieder ebenso wie in die Welt des Volksbrauches und abzulesen an den heiligen Zeichen und Sinnbildern, die wir allenthalben an 56 57 58 59
Lixfeld, Die weltanschauliche Volkskunde, a. a. O., Zitat S. 199 bzw. S. 196ff. Ebd., S. 199. Assion, a. a. O., S. 48. Bausinger, Hermann, Zur Theoriefeindlichkeit der Volkskunde. In: Ethnologia Europaea 2/3, 1968/69, S. 55-58; Ders.: Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse (=Das Wissen der Gegenwart. Geisteswissenschaften). Berlin-Darmstadt 1971; Ders.: Konsequentes Extrem: Völkische Wissenschaft. In: Ders., Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse. Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, Studienband, Tübingen 1979, S. 61-73. Bausinger formuliert zu diesem Sachverhalt ähnlich: „Das weitaus meiste aber, das in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in der Volkskunde und für die Volkskunde geleistet wurde, verzichtete weitgehend auf theoretische Auseinandersetzungen und auf theoretischen Anspruch. Eben dadurch aber blieb es den herrschenden Theorien verpflichtet.“
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unseren Bauernhäusern und an den Schöpfungen unserer Handwerkskunst finden können.“60 Bar jeder wissenschaftlichen Basis erklärte Matthes Ziegler diese Aufgabenstellung einer deutschen Volkskunde für „parteiamtlich“, namhafte „Reichsleiter“ von NS-Organisationen verstärkten die Einflussmöglichkeiten und Ziegler brachte den „Hoheitsanspruch der Reichsarbeitsgemeinschaft über das Gebiet der deutschen Volkskunde zum Ausdruck, den sie niemals aufgeben“ werde. Das bedeutete gleichzeitig, dass die Reichsarbeitsgemeinschaft die „Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung für die praktischen Aufgaben der Partei nutzbar zu machen und umgekehrt parteiwichtige Forschungsaufgaben an die Wissenschaft zu vergeben“ hatte.61 Daraus ergaben sich zwei Folgerungen, von denen die eine auf die „angewandte Volkskunde“ abhob, wie sie Ziegler proklamiert hatte und wie sie für die verschiedenen „Referate“ (solche für Schulung, Volkstumsarbeit, Feiergestaltung u. a.) in Anspruch genommen wurde. Noch eindeutiger galt im sogenannten Reichsberufswettkampf der deutschen Studenten die „Volkskundearbeit als das vordringlichste Gebiet des studentischen Einsatzes an den Lehrerhochschulen“. Das war durchaus im Sinn einer angewandten Volkskunde gedacht, denn der NS-Lehrerbund hatte bereits eine Unterabteilung „Volkstumspädagogik“ eingerichtet, um im Verbund mit der Ziegler-Rosenbergschen Reichsarbeitsgemeinschaft die „volkskulturellen Güter“ zu erforschen. Eine zweite Konsequenz war der Kampf gegen Volkskundler im akademischen Bereich, die zwar das „Geistig-Seelische“ als das eigentliche Phänomen zum volkskundlichen Betrachtungsgegenstand erklärten, sich aber nicht der nazistischen Ausschließlichkeit Zieglerscher Ansprüche hingaben. Sie standen den Repressalien der „Reichsarbeitsgemeinschaft“ fast schutzlos gegenüber, gleichgültig, wie sie sich zum NS-Regime als solchem verhielten. Wenn wir ein typisches Beispiel herausgreifen wollen, so ist es Hans Naumann gewesen, den Thomas Mann ja einen „Edelnazi“ genannt und der sich in der Tat als fanatischer Parteigänger erwiesen hatte. Seine Lehre von den zwei Kulturen, vom gesunkenen Kulturgut, dem primitiven Bauerntum usw. fand bei den NS-Volkskundlern vom Schlage eines Matthes Ziegler nicht nur diskursive Ablehnung. Neuauflagen seiner „Grundzüge“ wurden verboten und die Gestapo beschlagnahmte noch vorhandene Exemplare in Buchhandlungen. Berufungen auf attraktive Lehrstühle wurden hintertrieben usw. Das an Hans Naumann statuierte Beispiel des Verhältnisses zwischen wissenschaftlichem Anspruch und ideologisch verfälschter sowie politisch bewusst zur Manipulierung eingesetzter Fakten und Tatsachen hat erklärlicher Weise auf das Verhalten eines namhaften Teils seiner Fachkollegen eingewirkt. Wenngleich sie Zieglers Credo nicht unbedingt öffentlich zustimmten, gilt doch mit wenigen Ausnahmen, dass sie dem System im allgemeinen ihre Reverenz erwiesen bzw. doch ihrer Überzeugung Audruck verliehen, dass nun die Zeit für einen Aufschwung der Volkskunde im Rahmen deutsch-völkischer „Genesung“ gekommen sei. Und es gab nicht wenige, inzwischen mit Universitäten verbundene Fachvertreter, die sich nicht nur allgemein am Nationalsozialismus orientierten, sondern die sich in ihren Schriften am Zieglerschen Leitbild orientierten oder sogar den „Führer“ im Dienst der „neuen“ Volkskunde beschworen.62 Spätere Kritiker dieser Verhaltensweisen von volkskundlichen Fachvertretern, deren Zahl an deutschen Hochschulen seit 1933 sichtbar gestiegen war, geben immer wieder dem berechtigten Erstaunen Ausdruck, dass jene 60 61 62
Lixfeld, Die weltanschauliche Volkskunde, a. a. O., S. 204. Ebd., S. 206; Gailus, Manfred, Wie Martin Niemöller dem Nazi-Propagandisten Matthes Ziegler nach dem Krieg ein warmes Plätzchen unter dem Dach der Kirche verschaffte. In: Die Zeit, 8/2007, S. 92. Z.B. Freudenthal, Herbert, „ Mein Kampf“ als politische Volkskunde der deutschen Gegenwart auf rassischer Grundlage“. In: Zeitschrift für Volkskunde 44, 1934, S. 122-135.
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sich so „fraglos“ dem deutschen Faschismus ergaben bzw. dieser „Bewegung“ sogar noch vor der Machtübertragung ihre Sympathien nicht verhehlten.63 Wenn das „Amt Rosenberg“ und die ihr zugehörige „Reichsgemeinschaft für deutsche Volkskunde“ dazu ausersehen waren, die nazistisch-ideologischen Grundlagen für die Weltanschauung abseits der traditionell-religiösen Haltungen und Mentalitäten zu legen, so war das „Credo“ von Matthes Ziegler ein erster Schritt. In den Vordergrund schob sich aber in den Jahren bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ein gewisser Hans Strobel, 1930 der NSDAP, 1931 der SS beigetreten, 1933 in Erlangen promoviert. Er wurde Zieglers Nachfolger und übernahm die Leitung eines im „Amt Rosenberg“ geschaffenen „Amtes Volkskunde und Feiergestaltung“ sowie weiterer Referate und avancierte zum „Reichsamtsleiter“. Aufgabe seines Einsatzstabes war „die Erfassung von Material zur planmäßigen geistigen Bekämpfung der weltanschaulichen Gegner des Nationalsozialismus“ und zwar in den besetzten Ländern Westeuropas und – nach dem Überfall auf die Sowjetunion – im östlichen Europa. Ein „Führerbefehl“ vom 1. März 1942 sanktionierte den uneingeschränkten Raub an „weltanschaulichen und kulturellen Einrichtungen aller Art nach entsprechendem Material“. 64 Volkskunde befand sich nunmehr im Kriegseinsatz, und was sie da trieb, galt als „kriegswichtig“, so wie es schon im Juli 1941 in einem DenkschriftEntwurf an Rosenberg formuliert worden war: „Die Aufgabe der Volkskunde bei der politischen Neuordnung Europas.“ Verfasser war der Mitarbeiter Strobels Karl Haiding. In dieser Schrift ging es um die „kulturpolitische Lenkung“ und Beherrschung der Völker Osteuropas, um die „Herausarbeitung der ursprünglich arischen Volksüberlieferung“ sowie um den „germanischen Kultureinfluß auf Rußland“.65 In diese „Aufgaben“ war all das involviert – ohne es hier näher ausführen zu wollen –, was in Strobel-Rosenbergs „Brauch- und Feiertheorie“ enthalten war, was bisweilen in Deutschland schon praktiziert wurde und sich gleichzeitig mit der Absicht verband, kirchlichen Einfluss zurückzudrängen, an dessen Stelle vermeintlich Germanisches in der öffentlichen Gemeinschaft, im Lebenszyklus von Familie und „Art“ wieder einzuführen u. ä. Strobel wurde der Exponent einer „Mythus-Volkskunde“, d. h. einer von Rosenberg nazistisch geprägten „angewandten“ Volkskunde, die den „geistig-seelischen“ Kanon in den üblichen Facetten favorisierte. In „Richtlinien“ zu solchen Aktivitäten von 1942 heißt es bezeichnenderweise: „Im Kriege wird diese Entwicklung naturgemäß langsam weitergehen, aber nach dem Kriege wird das Problem der Lebensfeiern für Gottgläubige nicht zuletzt auch in Bezug auf Feierhallen gelöst werden müssen.“66 Manchem Volkskundler mag sich so die Zukunftsfähigkeit seines Faches und seines eigenen Tuns eröffnet haben. Noch aber war Volkskunde an den Universitäten nicht überall so eigenständig vertreten, wie dies in den Rosenbergschen Ämtern – als „parteiamtlich“ deklariert – der Fall war. Es mangelte an wissenschaftlich qualifizierten Mitarbeitern, welche die diversen volkskundlichen Posten innerhalb des Amtes Rosenberg und dessen Dependancen in den einzelnen „Gauen“ des Reichs hätten besetzen können. Die deutsche Professorenschaft, soweit sie volkskundliche Ambitionen hatte, war ihrem traditionellen Wissenschaftsverständnis entsprechend in der Mehrzahl noch nicht überall zur Rosenberg-Zieglerschen „MythusWissenschaft“ übergetreten, die zu erfassen, es allerdings „gläubiger“ Vertreter bedurfte. Persönlicher Ehrgeiz und Konkurrenz-Neid gegenüber anderen NS-Organisationen spielten 63
64 65 66
Vgl. Strobach, Hermann, „...aber wann beginnt der Vorkrieg?“ Anmerkungen zum Thema Volkskunde und Faschismus (vor 1933), In: Gerndt, Helge (Hrsg.), Volkskunde und Nationalsozialismus, a. a. O., S. 23-38. Gerndt, Helge, DeutscheVolkskunde und Nationalsozialismus – was haben wir aus der Geschichte gelernt? In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 91, 1995, S. 53-75 u. ä. Vgl. Lixfeld, Hannjost, Aufstieg und Niedergang von Rosenbergs Reichsinstitut für Deutsche Volkskunde. In: Jacobeit, Lixfeld, Bockhorn, Völkische Wissenschaft, a. a. O., S. 269-294. Ebd., S. 270. Ebd., S. 280.
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bei anstehenden universitären Entscheidungen keine geringe Rolle. Rosenberg selbst war 1941 von der „Kanzlei des Führers“ offiziell als an Berufungen Mitwirkender bestellt worden und machte natürlich seinen Einfluss geltend, sogar gegenüber Angehörigen des „Ahnenerbes“, jener nicht minder streng-ideologischen Einrichtung der mächtigen SS und dessen Führer Heinrich Himmler.67 Die Schaffung einer universitären Elite „gläubiger“ Wissenschaftler war für Rosenberg eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine Volkskunde, wie sie zur Durchsetzung ideologischer Prämissen notwenig schien. Dieses Ziel mit seinen Mitteln und Möglichkeiten zu erreichen, war seit 1936 Rosenbergs Plan. Es ging ihm um die Gründung einer konkurrenzlosen „Alternativ“-Universität, welche er die „Hohe Schule“ nannte – jedoch hatten sich er und seine Leute bei der Berufung des ersten deutschen Lehrstuhlinhabers für Volkskunde 1936 in Berlin nicht durchsetzen können, worauf später noch eingegangen wird. – Diese „Hohe Schule“ sollte „die Spitze der gesamten Erziehungsarbeit für die NSDAP, aller ihrer Gliederungen und aller angeschlossenen Verbände darstellen und damit praktisch eine geistige Erziehungs- und Lenkungszentrale für das ganze deutsche Volk“ werden. Die zu erwartenden „Ergebnisse nationalsozialistischer Forschung“ sollten die Voraussetzungen für eine allgemeine Hochschulreform darstellen.68 Im Rahmen dieser „Hohen Schule“ strebten Rosenberg-Ziegler-Strobel ein eigenes zentrales Institut ihrer „Mythus-Volkskunde“ an. Es sollte sich an der Universität Münster befinden, an der Prälat Professor Georg Schreiber in seinem „Institut für Volkskunde und Auslandskunde“ gelehrt hatte. Dieses wurde von der Gestapo geschlossen und seine Bestände einschließlich eines hohen Barvermögens von mehr als 300.000 Reichsmark konfisziert. Georg Schreiber habe eine „politisch und weltanschaulich bedenkliche Tätigkeit“ ausgeführt, bestätigte der „Stellvertreter des Führers“, Rudolf Heß, die Entlassung des katholischen Lehrstuhlinhabers und die Schließung seines Instituts.69 In dem neuen Institut, dessen Leitung Hans Strobel zugedacht war, sollte als „zentrale Aufgabe“ die Erforschung deutscher Brauchtumssymbolik stattfinden. Daraus werde sich dann „eine Auswahl jener Elemente ermöglichen lassen, die für eine moderne nationalsozialistishe Brauchtumsgestaltung in Frage kommen“, welche gleichfalls mit einzubeziehen sei, und wie sie „ebenfalls in die Zukunft des deutschen Brauchtums eingehen werde“.70 Daran zu arbeiten war also eine wichtige volkskundlich-ideologische Aufgabe, die jedoch durch die herrschenden Verhältnisse im Krieg in Frage gestellt wurde, und dies so sehr, dass sich Karl Haiding 1944 folgendermaßen warnend äußerte: „Gelingt es noch in den allernächsten Jahren die Folgerungen aus dem Mythus zu ziehen, indem einige Männer, die klar sehen, sauber und befähigt sind, auf den Einzelgebieten (vorgesehen waren etwa 10 aus den Bereichen der angewandten Volkskunde – d. Verf.) die Grundlagen zu schaffen und deren politische Durchsetzung zu erreichen? Denn das gesamte Lebenswerk Rosenbergs ist eine der unerlässlichen Voraussetzungen dafür, daß der Nationalsozialismus in unserem Volke Wirklichkeit wird und wir dann den Frieden mit einem Siege krönen.“71 Einrichtungen, Institutionen, Gemeinschaften wie das Amt Rosenberg mit dem geplanten Volkskundeinstitut hatten naturgemäß ihre Neider und Konkurrenten, selbst wenn sie eine gemeinsame ideologische Grundauffassung besaßen. Das trifft in unserem Zusammenhang in eklatanter Weise zu. Rosenbergs Gegenspieler war Heinrich Himmler, Reichsführer SS, der über eine ungeheure Machtfülle an Militär, Wirtschaft und Geheimer Staatspolizei gebot. In gleicher Weise baute er einen NS-ideologischen Apparat mit der Tendenz auf, ein 67 68 69 70 71
Ebd., S. 282f. Ebd., S. 282. Ebd., S. 287. Georg Schreiber gehörte zu den wenigen von den Nazis gemaßregelten Volkskundlern. Ebd., S. 288. Ebd., S. 293.
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alleiniges weltanschauliches Monopol für das NS-Regime zu entwickeln. Ob er in dieser Zielstellung rücksichtsloser als die „Rosenbergianer“ vorging, sei dahin gestellt. Auf alle Fälle war er ein „Germanomane“, und dies in allen Aktivitäten, Maßnahmen und Festlegungen, die er verfügte. Die SS war für ihn der „Orden“, in dem seine Erkenntnisse und die seiner wissenschaftlichen Paladine in bestimmten Formen „germanischer“ Lebensweise und Kultur umgesetzt werden sollten und umgesetzt wurden. Es ging Himmler darum, „die nationalsozialistische Ideologie historisch zu begründen, indem die ‚Kontinuität‘ des ‚germanischen Weltbildes‘ durch die Jahrhunderte bis in die nationalsozialistische Weltanschauung“ bewiesen und durchgesetzt werden sollte.72 Wie Rosenberg ging es auch Himmler um ein wissenschaftliches Renommee seiner Bestrebungen. Schon am 1. Juli 1935 gründete er zusammen mit dem „Reichsbauernführer“ und SS-Funktionär Walther Darré die „Studiengesellschaft für die Geistesurgeschichte Deutsches Ahnenerbe“ mit entsprechenden „Lehr- und Forschungsstätten“. Deren Anzahl und Funktion änderte Himmler mehrfach, aber Volkskunde nahm stets einen besonderen Platz ein mit „Volkserzählung, Märchen- und Sagenkunde“, „Hausmarken und Sippenzeichen“, „Germanisch- deutsche Volkskunde“, „Volkskunde und Volksforschung“ sowie „Volksmedizin“ und „Germanisches Bauwesen“. Auch das „SS-Ahnenerbe“ bot also den Volkskundlern ein reiches Betätigungsfeld, wurde aber tonangebend von solchen Fachvertretern rekrutiert, die vor 1933 kaum bekannt waren. Jetzt traten andere Leute wie Josef Otto Plaßmann, Heinrich Harmjanz oder Richard Wolfram in Erscheinung. „Sie alle waren engagierte NS-Ideologen und Agitatoren im Dienst des SS-Ahnenerbes“ und das „förderte ihre Karriere bis hin zum Ordinariat“73, also einer universitären Laufbahn, die Himmler bis dahin noch zur Gefahr seiner abstrusen Auffassungen erklärt hatte. Von seinen wissenschaftlichen Chargen erwartete er nun in „Aufhebung der ‚liberalistischen‘ Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften (...) die Einheit von Seele und Leib, Geist und Blut, Gott und die Welt als Voraussetzung einer neuen indo-germanischen Weltanschauung“.74 Volkskunde im Sinn bisheriger Gegenstandsbestimmung und als Domäne für die Erforschung des „Geistig-Seelischen“ in nicht differenzierter – anachronistischer – Auffassung von Volk nahm mit dem „Ahnenerbe“ einen bevorzugten Platz in der SS- „Wissenschaft“ ein. Das war so etwas wie eine Kulmination in der Entwicklung vom wilhelminischen „Take Off“ bis zum „Ahnenerbe“. „Volksgemeinschaft und Glaubensgemeinschaft sind wirklich eins“, hieß die Parole, und dies auf der Basis einer „gewachsenen, nicht geoffenbarten oder gestifteten Religiosität“, führte Walter Wüst als „Indogermanisches Bekenntnis“ aus.75 Das war zugleich Ausdruck einer „völkischen Wissenschaftlichkeit“, wie sie sich in der SS etablierte und wie ihr die Volkskundler im Ahnenerbe bedenkenlos zuarbeiteten. Das traf besonders auf jene zu, die von Himmler als dem mit Kriegsbeginn eingesetzten „Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums“ den Auftrag erhielten, in den für eine Auswanderung vorgesehenen Gebieten mit deutscher Bevölkerung (Südtirol und die Gottschee) deren „Kulturbesitz“ zu erfassen und in der „neuen Heimat“ zu ideologiepolitischen Aussagen im Sinne „völkischer Wissenschaftlichkeit“ zu führen. Ähnliche Aktionen wurden in den besetzten westeuropäischen Ländern sowie im Baltikum durchgeführt. Deren Ergebnisse, vor allem Erzeugnisse des „Volksgeistes“, sollten die „gemeinsamen Wurzeln des europäischen Germanentums, seine geschichtliche Kontinuität bis zur 72
73 74 75
Lixfeld, Gisela, Das „Ahnenerbe“ Heinrich Himmlers und die ideologisch-politische Funktion seiner Volkskunde. In: Jacobeit, Lixfeld, Bockhorn, Völkische Wissenschaft, a. a. O., S. 217-255, hier S. 219. Vgl. auch Kater, Michael, Das „Ahnenerbe“ der SS 1935-1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches. Stuttgart 1974. Ebd., S. 227. Ebd., S. 219. Ebd., S. 225.
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Gegenwart und wirkliche räumliche Ganzheit (...) im Kampf um die Erneuerung der germanischen Gemeinschaft“76 dokumentieren und anzuwenden sein. Dies alles vollzog sich im Rahmen von „Kulturkommissionen“ für die in Frage kommenden Gebiete mit auslandsdeutscher Bevölkerung, zusammengefasst als „Germanischer Wissenschaftseinsatz“ mit „ernsten Folgerungen für die Erkenntnis des deutschen Wesens und damit für die Erneuerung des deutschen Volkes aus ewigen, alten unzerstörbaren Wurzeln“.77 Es kann hier nicht der Ort sein, auf alle die gefährlichen Absurditäten einzugehen, welche dieser Kriegseinsatz unter volkskundlicher Beteiligung hervorbrachte. Die konzeptionellen Vorgaben und deren Konsequenzen lassen in der hier verkürzten Form immerhin die eroberungssüchtigen, imperialen Züge des deutschen Raub- und Unterdrückungskrieges gegen die europäischen Völker unverblümt erkennen. Dass sich dabei eine „braune“ (Amt Rosenberg) und eine „schwarze“ (Himmlers Ahnenerbe) Volkskunde gegenüberstanden, ist unerheblich. Beide verfolgten letztlich die gleichen Ziele, hatten die gleichen Vorgaben, nur waren sie in Bezug auf Machtfülle und Anerkennung ihres Tuns Konkurrenten. Adolf Spamer und die „angewandte Volkskunde“ Wir kehren zur akademisch-universitären Volkskunde zurück und nennen den Namen von Adolf Spamer (1883-1953). Als Germanist und Experte für Mystikertexte des Mittelalters hatte er den Weg zur Beschäftigung mit Volkskundlichem gefunden. Im Unterschied zum gleichaltrigen Hans Naumann, der trotz aller gegen ihn erhobenen nazistischen Kritiken ein unverbesserlicher Nazi war, wurde Spamer kein Mitglied der NSDAP, trat zwar in den NSLB ein, blieb aber ein entschiedener Vertreter des „Geistig-Seelischen“ als Gegenstand zeitgenössischer Volkskunde. Aus dieser Haltung heraus polemisierte er gegen Naumanns Zwei-Kulturen-Theorie und die „primive Gemeinschaftskultur“. Sein Ruf als seriöser Wissenschaftler bescherte ihm 1936 ein volkskundliches Ordinariat an der Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin. Es war der erste rein volkskundliche Lehrstuhl in Deutschland. Dieser Berufung gingen erklärlicher Weise manche Gegenstimmen vor allem aus dem Amt Rosenberg und dem Ahnenerbe voraus; mythologiebesessene und rassistisch eingestellte Volkskundler wurden als Gegenkandidaten nominiert. Darüber, wer im Sinne des Ministeriums als vorbildlich galt, gab es unterschiedliche Auffassungen. Es ist anzunehmen – wenngleich in den Unterlagen nicht nachzuweisen –, dass sowohl das „Amt Rosenberg“ als auch das „SS-Ahnenerbe“ mit unterschiedlichen personellen Vorstellungen an der Suche beteiligt waren. Hinsichtlich der in Frage kommenden Kandidaten allerdings ist festzustellen, dass rein politisch-ideologische Gesichtspunkte im Ausschuss zur Besetzung des Lehrstuhls und beim Dekan der Philosophischen Fakultät nicht durchsetzbar waren. So wurde bei einem der Anwärter beispielsweise kritisiert, dass er zwar ein materialreiches Buch zu „Deutschem Glauben und Brauch“ geschrieben, aber auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Volkskunde nichts geleistet habe. Im Januar 1935 schrieb Hübner an den Referenten Hinz im Wissenschaftsministerium über den weiteren Kandidaten Professor Ernst Bargheer: „Er hat sich übrigens von der Wissenschaft, wie er sie in seinem Buche gepflegt hat, abgewandt; ihn fesselt jetzt die politische Seite der Volkskunde.“78 Damit kam Bargheer für Berlin nicht in Frage. Die Stimme des Sprachwissenschaftlers Arthur Hübner gab letztlich den Ausschlag für Spamers Berufung, nicht zuletzt mit aus dem Grund, dem 1926 gegründeten „Atlas der deutschen Volkskunde“ (ADV) einen wissenschaftlichen Kopf an die 76 77 78
Ebd., S. 241. Aus einer Rede Joseph Otto Plaßmanns 1936, ebd., S. 251. Universitätsarchiv Berlin UA 1480, 285 (kursiv im Original unterstrichen). Vgl. Scholze-Irrlitz, Universitätsvolkskunde im Nationalsozialismus, a. a.O.
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Spitze zu stellen und damit dem gleichzeitig aktiven „Deutschen Sprachatlas“ eine fundierte Quelle für Ergänzung und Verifizierung zu schaffen, vergleichbar bzw. in Übereinstimmung mit der philologischen Spezialisierung der „Wörter und Sachen“.79 1934 nannte Spamer in seiner zweibändigen „Deutschen Volkskunde“ die „Erforschung des Volkstümlichen im Volkhaften“, der „geistig-seelischen Substanz und Lebenshaltung des Volksmenschen in der Volksgemeinschaft“ als Erkenntnisziel der Disziplin. Dieser „Volksmensch“ war ihm der „Träger solcher Geistes- und Seelenhaltung“, seine Haltung selbst erschien ihm „volkstümlich“, ohne dass er sich freilich darüber täuschte, dass mit solchen idealtypischen Formulierungen nicht das wirkliche Leben erfasst ist, sondern lediglich zwei Begriffsbehelfe der wissenschaftlichen Terminologie gewonnen sind.80 In solchen Vorstellungen kulminierte nunmehr die deutsche Volkskunde, bar jeden wissenschaftlichen Zugangs, und doch von einem angesehenen Wissenschaftler ausgesprochen. Dass er damit nicht bei allen Fachkollegen auf Zustimmung stieß, ist verständlich. Anders bei der „braunen“ und „schwarzen“ Volkskunde, für die Spamer zunächst das wissenschaftliche Aushängeschild wurde. Nur noch aus dem Ausland kam Kritik an Spamers zweibändiger „Deutscher Volkskunde“. So schrieb Sigfrid Svensson aus Lund schon 1935: „Volksglaube und Volkskunst verschiedener Art, also die geistige Volkskultur, dominieren hier in oft recht ausgezeichneten Darstellungen (...) Was fehlt, ist der große grundlegende Komplex des Wirtschaftslebens. Man glaubt also, sich einen Begriff von der deutschen Volksseele machen zu können, ohne etwas darüber zu wissen, wie sie im Kampf um das tägliche Brot geformt worden ist. (...) Den Machthabern zuliebe will man jetzt in Deutschland eine kulturhistorische Forschungsdisziplin zu einer praktisch-psychologischen Untersuchung mit Lieferung des erforderlichen Agitationsmaterials machen.“81 Was jedoch mit einer im traditionell völkischen Sinn betriebenen Volkskunde in der Umwandlung „von einem Forschungszweig in eine Reklamebranche“ (Svensson) tatsächlich bezweckt werden sollte, war, nicht nur „innerhalb und außerhalb Deutschlands zu zeigen, was deutsch ist und dadurch den nazistischen Aktivismus zu stärken. Die Nazis koppelten Volkskunde mit Expansionspolitik zusammen“, „suchten in alter volkstümlicher Auffassung eine Tradition für die Existenz der Diktatur“ und „der Heldenkult der Sagen“ wurde „mit Kriechertum vor modernem Despotismus gleichgestellt. Vielleicht soll die Volkskunde auch den Beweis erbringen, daß die alten Dorfversammlungen nach dem Führerprinzip organisiert waren!“82 Svensson blieb dann auch nach 1945 gegenüber einer „neuen“ deutschen Volkskunde skeptisch und erklärte, man habe den Eindruck, als sei in Deutschland die Volkskunde „weniger eine Wissenschaft als eine Verfahrensweise ‚ ad patriam illustrandam‘“.83 Solche kritischen Stellungnahmen blieben im Nazi-Deutschland verständlicherweise unreflektiert und auch Adolf Spamer nahm davon keine Notiz. Im Gegenteil, er verfing sich mehr und mehr in der gängigen Ideologie und stellte seine Auffassungen ganz in deren Sinn. Freilich war damit der „fachliche“ Ehrgeiz verbunden, diese „seine“ Volkskunde durch den allmächtigen NS-Staat gefördert zu sehen. So nutzte er seine Beziehungen vor 79 80 81 82 83
Jacobeit, Wolfgang, Mohrmann, Ute, Zur Geschichte der volkskundlichen Lehre unter Adolf Spamer an der Berliner Universität (1933-1945). In: Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 23, 1982, S. 283298. Spamer, Adolf, Wesen und Aufgaben der Volkskunde. In: Ders. (Hrsg.), Die Deutsche Volkskunde, Bd. 1. Leipzig 1934, S. 1-16. Jacobeit, Wolfgang, Vom „Berliner Plan“ von 1816 bis zur nationalsozialistischen Volkskunde. Ein Abriß. In: Jacobeit, Lixfeld, Bockhorn, Völkische Wissenschaft, a. a. O., S. 17-30, hier S. 27. Zit. nach Jacobeit, Wolfgang, Bäuerliche Arbeit und Wirtschaft, a. a. O., S. 124. Ebd., S. 205 (Anm.).
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allem zum „Amt Rosenberg“, um ein volkskundliches Reichsinstitut unter seiner Leitung zu planen und zu schaffen. Dass er dabei recht resolut vorging, notierte sein Dresdener Kollege Victor Klemperer 1937: „Vergiß (...) nicht die Bequemen und nach beiden Seiten Vorsichtigen! den Biedermann Spamer nicht, der uns besuchte und den ‚Stürmer‘ ein unwichtiges Skandalblättchen nannte, wie es solche immer gegeben habe, und der ein großes Volkskundetier bei den Nazis ist und damit seine Wissenschaft verrät; der mir so unverhüllt von der Dummheit des Volkes sprach, dem man alles eintrichtern kann.“84 Schon zwei Jahre zuvor, 1935, charkterisierte er Spamer so: „Spamer kam einmal im November zu Besuch und war mir zu harmlos. Er verschließt die Augen gegen das Fürchterliche und ist Nutznießer. Großer Mann als Volkskundler. Leiter irgendeiner Reichsstelle. Herausgeber, Kongreßvertreter in Edinburgh, im Vorschlag für das Berliner Katheder.“85 Dieses Urteil war hart, zeigt aber auch, dass Spamers Affinität zur nazistischen Volkskunde, die sich anfänglich seiner Theorien zu „Volksmensch, Volksgeist und Volksseele“ versicherte, durchaus wahrgenommen wurde. Die praktische Umsetzung Spamerscher Zielsetzungen dann geschah gewissermaßen durch das Großunternehmen „Atlas der deutschen Volkskunde“. 1928 begründet, stand es unter der Obhut der „Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft“, bis es unter der Leitung von Adolf Spamer zwischen die miteinander konkurrierende „braune“ und „schwarze“ Volkskunde geriet. Es erlangten dann zunehmend Fachvertreter mit eher politischen Möglichkeiten und Beziehungen Einfluss. Einer von ihnen war Eduard Wildhagen, der schon 1932 als „Nationalsozialist der Tat“ galt und formuliert hatte: „Gelingt es der Volkskundewissenschaft (...) in die Tiefe der Volksseele einzudringen, so hat sie damit das Recht auf den großen Platz erkämpft (...). Was in früherer Zeit die Geschichte für die Begründung von Ansprüchen der Dynastien zu leisten hatte, sollte heute eine richtig betriebene Volkskunde mehr als eine blutleere, abstrakte Soziologie für den aufgeklärten Politiker tun.“ 86 Einer Meinungsäußerung wie dieser lagen dann auch zahlreichen Fragebogen des ADV zugrunde und waren häufig noch eindeutiger im Sinne nazistischer Innen- und Außenpolitik pointiert, so beispielsweise zur „Lösung mancher schwebenden Germanenfragen (durch einen – d. Verf.) Vorstoß in das Gebiet des Rassenseelischen“ beizutragen oder aus Fragebogenmaterial über die „Wochentage als Glücks- oder Unglückstage“ Rückschlüsse „auf die alten germanischen Siedlungsgebiete“ zu ziehen und so die „siegende Kraft des Germanentums in ein helles Licht“ zu rücken usw. usf. Bewusste Verfälschung des Atlasmaterials zum Zwecke der „Heimführung“ angeblich ehemaliger germanischer Siedlungsräume, zur ideologischen Mithilfe bei der Schaffung „Großdeutschlands“ waren u. a. Beweggründe für die Arbeit des ADV. In einem 1935 gemeinsam aufgestellten Fragebogen, in dem nach Träumen, Zukunftsdeutungen, Liebes- und Freundschaftszauber, Brauchtum, Volkspsychologie usw. als Ausdruck des Verhaltens des „Volksmenschen“ gefragt wurde, zielten Spamer und Wildhagen auf den Volkscharakter und erklärten: „Immer ist die Volksgemeinschaft in ihrem selbstverständlichen und gegenseitigen Tun der Gegenstand unseres Fragens.“ Sie böte „die tiefsten Aufschlüsse über die Seele des Volkes“. „Es reicht aus der Gegenwart bis in die Anfänge der Geschichte des Volkes hinab, weil es zeigt, wie wir sind und immer wieder waren, weil es das in allen Zeiten 84 85 86
Klemperer, Victor, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1941, Bd. 1. Berlin 1995, S. 348. Ebd., S. 235. Zit. nach Jacobeit, Wolfgang, Bäuerliche Arbeit und Wirtschaft, a. a. O., S. 137.
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Unveränderliche unserer Volksseele durch allen Wandel des Zeitgewandes hindurch ahnen und erkennen läßt.“87 Mit solchen Höhepunkten nationalsozialistischer Volkskunde soll es sein Bewenden haben. Bleibt noch anzumerken, dass bei all dem Adolf Spamer schließlich das gleiche Schicksal wie Hans Naumann traf. Er ließ sich benutzen und wurde irgendwann doch von beiden Gruppierungen, von der „braunen“ wie der „schwarzen“ Volkskunde kaltgestellt. Die Anerkennung seiner Wahl zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften wurde ihm durch die SS-Vertreter im Reichserziehungsministerium versagt, man entzog ihm die Leitung des ADV und die Gestapo bespitzelte ihn während seiner Lehrveranstaltungen. 1944 gab er zu erkennen, dass seine Freundschaft mit Eduard Wildhagen im Kleinen ebenso wie die Politisierung der Volkskunde im Großen ein schwerer Fehler war, der dem Ansehen des Faches geschadet hatte. Spamer erkrankte, zog sich nach Dresden zurück und konnte seinen wissenschaftlichen Verpflichtungen kaum noch nachkommen. Ein trauriges, unrühmliches Ende nicht nur eines Wissenschaftlers, sondern einer ganzen Disziplin88, die sich mit wenigen Ausnahmen auf einem verhängnisvollen Irrweg befunden hatte und schließlich der „wüsten Melange“ nazistischer Ideologie erlegen war. „Die Singularität des Nationalsozialismus verlangt spezifische Urteils- und Interpretationskategorien“, schreibt Hans-Ulrich Wehler, verlangt eine wache und vergleichende Nationalismuskritik, denn „der Nationalismus kann immer noch durch verhängnisvolle Zuschreibungen bis hin zur Gefahrengrenze neu aufgeladen werden.“89 Die deutsche Volkskunde der Gegenwart, nunmehr als dezidiert historisch-kulturwissenschaftliche Disziplin, hat ihre Geschichte als „Sonderweg“ durch das 20. Jahrhundert und als ein Menetekel begriffen.
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Ebd., S. 138ff., Zitat S. 141. Jacobeit, Wolfgang, Mohrmann, Ute, Zur Geschichte der volkskundliche Lehre, a.a.O., S. 297f. Vgl. auch Jacobeit, Wolfgang, Von West nach Ost und zurück. Autobiographisches eines Grenzgängers zwischen Tradition und Novation. Münster 2000, S. 101f. Wehler, Hans-Ulrich, Umbruch und Kontinuität, a. a. O., Zitat S. 64.
GEOGRAPHIE HANS BÖHM (†)1
1. Einführung Unter den kultur- oder auch naturwissenschaftlichen Disziplinen gehört die Geographie keineswegs zu den Protagonisten einer fachinternen Nachkriegsreflexion und kritischen Diskussion von Verflechtungen zwischen Wissenschaft und Politik während der NSDiktatur. Die politische Dimension des Wirkens einzelner Fachvertreter der Geographie wurde zunächst nur am Beispiel der Geopolitik erörtert, die nicht allein aus der rechtfertigenden Rückschau der ersten Nachkriegsjahre als „Pseudowissenschaft“ eingestuft und damit „entsorgt“ wurde. Damit waren zwangsläufig Karl Haushofer und dessen Verbindungen zu Rudolf Heß einbezogen. Diese Argumentation basiert auf dem 1947 von dem Bonner Geographen Carl Troll publizierten Beitrag zur „Rechtfertigung“ der „geographischen Wissenschaft in Deutschland in den Jahren 1933 bis 1945“.2 Der Verfasser hatte diese in der Folgezeit viel zitierte Berichterstattung geschickt als Eröffnungsaufsatz in der von ihm nach 1945 gegründeten Zeitschrift Erdkunde, die als erstes Fachorgan mit internationalem Verbreitungsanspruch von den Alliierten zugelassen worden war, platziert.3 Damit beabsichtigte er nicht zuletzt, die spätestens 1940 abgebrochenen Auslandskontakte wieder aufzunehmen, um sich und der deutschen Geographie, von erklärbaren „Verfälschungen“ bereinigt, wieder Zugang zur internationalen scientific community zu ermöglichen. Der nur mit geringer zeitlicher Verzögerung auch in Englisch publizierte Aufsatz verfehlte die gewünschte Wirkung nicht. Daher konnte der amerikanische Geograph Dickinson den Artikel 1969 rückblickend wie folgt würdigen: „[...] a remarkably comprehensive survey of the progress of German geography from 1933 to 1945. This is a scholarly appraisal from one who, during the Nazi period, continued his scientific work and refused to be associated with the national socialist government.“4 1
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Für die kritische Durchsicht des Textes, Anmerkungen und Kommentare danke ich folgenden Kolleginnen und Kollegen des Arbeitskreises Geschichte der Geographie: Heinz Peter Brogiato, Klaus Kost, Astrid Mehmel, Hans-Dietrich Schultz, Ute Wardenga. Hans Böhm verstarb am 21. August 2004. Die Druckfahnen wurden von Heinz-Peter Brogiato, Astrid Mehmel und Hans-Dietrich Schultz durchgesehen. Vgl. hierzu u.a.: Carl Troll, Die geographische Wissenschaft in Deutschland in den Jahren 1933 bis 1945. Eine Kritik und Rechtfertigung, in: Erdkunde 1, 1947, S. 3-48; Klaus Kost, Die Einflüsse der Geopolitik auf die Forschung und Theorie der Politischen Geographie von ihren Anfängen bis 1945. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Politischen Geographie und ihrer Terminologie unter besonderer Berücksichtigung von Militär- und Kolonialgeographie, Bonner Geographische Abhandlungen 76, Bonn 1988 (besonders S. 8 ff.); Mechtild Rössler, »Wissenschaft und Lebensraum«. Geographische Ostforschung im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur Disziplingeschichte der Geographie, Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 8, Berlin/Hamburg 1990; Johannes Weigel, «Wissenschaft und Volkstumskampf». Entsorgung nationalsozialistischer Geographie und die Renaissance der Geopolitik, in: Forum Wissenschaft 1998, H. 4, S. 39-43; Günter Wolkersdorfer, Politische Geographie und Geopolitik zwischen Moderne und Postmoderne, Heidelberger Geographische Arbeiten H. 111, Heidelberg 2001, S. 101 ff.; Hans Böhm, Annäherungen. Carl Troll (1899-1975) – Wissenschaftler in der NS-Zeit, in: Matthias Winiger (Hg.), Carl Troll: Zeitumstände und Forschungsperspektiven. Kolloquium im Gedenken an den 100. Geburtstag von Carl Troll, Colloquium Geographicum 26, Sankt Augustin 2003, S. 1-99 – hier besonders S. 1-19. Hans Böhm und Eckart Ehlers, Erdkunde – 50 Jahrgänge ‚Archiv für Wissenschaftliche Geographie‘. Ein Rückblick und Ausblick, in: Erdkunde 50, 1996, S. 360-379. Robert E. Dickinson, The makers of modern geography, New York/Washington 1969, S. 166. Kritischer wertete Philip D. Tilley 1984: „[...] The critique and 'justification’ (though apologia might be a
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Durch Abwälzung der NS-Vergangenheit auf die Geopolitik und Haushofer5 ließen sich zudem dessen Kollegen und Mitarbeiter – insbesondere Hugo Hassinger, Hermann Lautensach, Otto Maull, Erich Obst, Karl Sapper und Franz Termer – sowie die Mehrheit der Geographen von jeglicher Beteiligung an der Etablierung nationalsozialistischen Ideengutes freisprechen und ihre Arbeiten schönredend der „wertfreien“ wissenschaftlichen Geographie zuordnen. Wer trotzdem zunächst suspendiert war, konnte spätestens Anfang der 1950er Jahre aufgrund der „131er“-Regelung6 wieder im Kollegenkreis begrüßt werden. Die personelle Kontinuität über 1945 hinaus, von der nur die wenigen, durch den Trollschen Diskurs ausgegrenzten Fachvertreter auszunehmen sind, enthob die Geographie über nahezu drei Jahrzehnte von der Notwendigkeit, sich mit den Forschungsinhalten und Forschungspraktiken sowie den Förderungsmechanismen während der NS-Zeit näher zu befassen. Alles dazu Notwendige hatte Troll ja bereits 1947 gesagt, so das beruhigende Diktum der in der scientific community verbreiteten und weithin akzeptierten Standarderzählung.7 Die forschungspraktische Konsequenz, die mit dem „Rechenschaftsbericht“ vorgezeichnet wurde, bedeutete ein Anknüpfen an die „guten“ Fachtraditionen der 1920er und 1930er Jahre mit graduellen Modernisierungen durch die Entwicklung der Landschaftsökologie und Sozialgeographie.8 Innovative und methodisch weiterführende Forschungsansätze der Kriegszeit, wie etwa die Luftbildforschung, überließ man hingegen weitgehend ausländischen Kollegen.9 Dagegen nahm das Amt für Landeskunde unter Leitung von Emil Meynen bereits unmittelbar nach Kriegsende die anwendungsorientierten Arbeiten, die in den letzten Kriegsjahren begonnen wurden und sich als Dienstleistungen für staatliche Stellen verstanden, wieder auf. Konsequenterweise wurden in diesem personellen und institutionellen Kontext kritische Fragen zur Verwendung wissenschaftlicher Fachinformationen durch die NS-Organisationen systematisch ausgeblendet.10 Gegen die ungebrochene Fortschreibung des klassisch-geographischen Paradigmas – des Mensch-Natur/Erde-Anpassungssystems – und damit gegen das Primat der holistischen Weltsicht der Landschafts- und Länderkunde argumentierten 1969 auf dem Geographentag in Kiel engagierte Studierende, die eine Orientierung des Faches an sozialwissenschaftlichen Theoriekonzepten und mehr Praxisrelevanz forderten.11 In den hiermit eingeleiteten Auseinandersetzungen tauchte die Frage nach der Verbindung des Faches mit dem Nationalsozialismus nur randlich auf. Vornehmlich konzentrierte sich die Disziplingeschichts-
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better translation) of German geography between 1933 and 1945 with which he launched Erdkunde may not be altogether convincing [...]“; (ders.: Carl Troll 1899-1975, in: Geographers. Biobibliographical Studies, vol. 8, 1984, S. 111-134; S. 119). Zu Haushofer und das „Dritte Reich“ vgl. Kost (1988, S. 385 ff.). Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, S. 69 ff. Die Ausblendung der NS-Zeit in der Geschichte der Geographie ist nach Gerhard Hard (1973, S. 12) „eine Ironie der geographischen Ideengeschichte“, wenn man bedenkt, dass namhafte Geographen in anderen Zusammenhängen „so viel über Ideographie, historischen Sinn, genetische Deutung, historische Tiefe, geschichtliche Individualität und Einzigartigkeit zu sagen wissen“. Gerhard Hard, Die Geographie. Eine wissenschaftstheoretische Einführung, Berlin 1973. Vgl. Hans Heinrich Blotevogel, Geschichte der Geographie, in: Lexikon der Geographie, Heidelberg 2002, Bd. 2, S. 38-40; Rössler (1990, S. 208 ff.). Hans Böhm, Luftbildforschung. Wissenschaftliche Überwinterung – Angewandte (kriegswichtige) Forschung – Rettung eines Paradigmas, in: Ute Wardenga und Ingrid Hönsch (Hg.), Kontinuität und Diskontinuität der deutschen Geographie in Umbruchphasen, Münstersche Geographische Arbeiten 39, Münster 1995, S. 129-139. Gerhard Sandner, Die unmittelbare Nachkriegszeit: personelle, institutionelle und fachinhaltliche Aspekte 1945-1950, in: Wardenga und Hönsch (1995, S. 141-150). Vgl. Gerhard Hard, Über die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Anmerkungen zur jüngsten methodologischen Literatur in der deutschen Geographie, in: Geografiker 6, 1971, S. 12-14 (Wiederabdruck in: Gerhard Hard, Landschaft und Raum. Aufsätze zur Theorie der Geographie, Bd. 1, Osnabrück 2002, S. 155-170).
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schreibung auf methodologische und theoriebezogene De- und Rekonstruktionen des fachlichen Kernparadigmas.12 Obwohl nicht primär an institutionellen Zusammenhängen interessiert, deckten die in diesem Kontext durchgeführten Analysen zahlreiche ideologische Affinitäten zwischen Arbeiten einzelner Geographen, insbesondere im Bereich der Volksund Kulturbodenforschung, und dem Nationalsozialismus auf.13 Grundsätzlich in Frage gestellt wurde die in der disziplinären Standarderzählung der Nachkriegszeit fest etablierte Dichotomie von „Pseudowissenschaft“ und „reiner Wissenschaft“. Damit war eine gewichtige Hürde beseitigt, die bis dahin Fragen nach der Rolle der Disziplin im politischen, institutionellen und ideologischen Systemgeflecht des Nationalsozialismus wirkungsvoll verhindert hatte. Anfang der 1980er Jahre führten diese Ergebnisse zur Gründung der studentischen Arbeitsgruppe „Geographie und Faschismus“, in der von der Ebene der allgemeinen Faschismusdiskussion sehr schnell auf die konkrete Ebene einzelner Hochschulstandorte bzw. Institute gewechselt wurde.14 Etwa gleichzeitig begannen die institutionenund personengeschichtlichen Forschungen an der Universität Hamburg sowie die systematischen Analysen führender geographischer Fachzeitschriften der Jahre 1920 bis 1945.15 Die nachfolgenden Ausführungen schöpfen nicht zuletzt aus diesen und den darauf aufbauenden Studien zur Geographiegeschichte während der NS-Diktatur.
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Günther Beck, Zur Kritik der bürgerlichen Industriegeographie, Göttingen 1973; Hans-Dietrich Schultz, Die deutschsprachige Geographie von 1800 bis 1970. Ein Beitrag zur Geschichte ihrer Methodologie, Berlin 1980; Gerhard Hard, Die Disziplin der Weißwäscher. Über Genese und Funktion des Opportunismus in der Geographie, in: Peter Sedlacek (Hg.), Zur Situation der deutschen Geographie zehn Jahre nach Kiel, Osnabrück 1979, S. 11-44; Ulrich Eisel, Die Entwicklung der Anthropogeographie von einer ‚Raumwissenschaft‘ zu einer Gesellschaftswissenschaft, Kassel 1980. Die politische Dimension des Faches wurde erstmals kritisch reflektiert in: Franz-Josef Schulte-Althoff, Studien zur politischen Wissenschaftsgeschichte der deutschen Geographie im Zeitalter des Imperialismus, Bochum 1971. Für die disziplinäre Situation zu Beginn der 1980er Jahre sind die Rezensionen der Dissertation von Schultz (1980) typisch. Ablehnend und in Richtung „Nestbeschmutzung“ urteilen: Ernst Plewe, Besprechung von Schultz, Hans-Dietrich. Die deutschsprachige Geographie (1980), in: Geographische Zeitschrift 70, 1982, S. 298-299; und Emil Meynen, Rezension H.-D. Schultz, in: Berichte zur deutschen Landeskunde, 52, 1982, S. 342 f. Anerkennend und weiterführend dagegen Wolfgang Hartke, Notizen aus und zu einer Epistemologie über „Die deutschsprachige Geographie von 1800-1870“ von H.-D. Schultz, in: Die Erde 113, 1982, S. 85-88. Gemeinsam veröffentlicht wurde die Mehrzahl der in diesem Zusammenhang entstandenen Examensarbeiten, die 1983 mit ersten Ergebnissen auf dem 44. Deutschen Geographentag einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt wurden, in dem von Hans-Dietrich Schultz eingeleiteten Sammelband: Geographie und Nationalsozialismus, Urbs et Regio 51, Kassel 1989; darin: Hans-Dietrich Schultz, Versuch einer Historisierung der Geographie des Dritten Reiches am Beispiel des geographischen Großraumdenkens, (1989b) S. 1-75; Mechtild Rössler, Die Geographie an der Universität Freiburg 1933-1945. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte des Faches im Dritten Reich, S. 77-151; Michael Fahlbusch, Die Geographie in Münster von 1920 bis 1945, S. 153-273; Dominik Siegrist, Heimat – Landschaft – Nation. Ein Beitrag zur Geschichte der Schweizer Geographie während des deutschen Faschismus, S. 275-394. H. Fischer und Gerhard Sandner, Die Geschichte des Geographischen Seminars der Hamburger Universität im „Dritten Reich“, in: E. Krause, L. Huber und H. Fischer (Hg.), Hochschulalltag im „Dritten Reich“. Die Hamburger Universität 1933-1945, Berlin, Hamburg 1991, S. 1197-1222; Horst-Alfred Heinrich, Die Wechselbeziehung zwischen geographischer Wissenschaft und Faschismus. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Geographie 1920 bis 1945, Gießen 1984 (Diplomarbeit); Henning Heske, Geographische Forschung im Nationalsozialismus – untersucht anhand einer vergleichenden Zeitschriftenanalyse, Düsseldorf 1985 (Staatsexamensarbeit); ders., »... und morgen die ganze Welt ...« Erdkundeunterricht im Nationalsozialismus, Gießen 1988. Vgl. zusammenfassend: Gerhard Sandner, Recent advances in the history of German Geography 1918-1945. A progress report for the Federal Republic of Germany, in: Geographische Zeitschrift 76, 1988, S. 120-133.
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2. Institutionalisierung und Differenzierung der Geographie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Die Institutionalisierung des Faches Geographie an deutschen Universitäten und Hochschulen ist eng verknüpft mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 und der Formierung des deutschen Nationalstaates unter Bismarck. Die Reorganisation des Schulwesens mit dem Primat der „vaterländischen Erziehung“ begünstigte und förderte die Errichtung geographischer Lehrstühle, wobei Preußen unter den deutschen Staaten bis 1875 keineswegs eine Vorreiterrolle eingenommen hatte; die süddeutschen Hochschulen folgten in der Mehrzahl allerdings erst um die Jahrhundertwende.16 Mit der Etablierung des Faches waren zwei Probleme verbunden: 1. Mangelte es den Hochschulen aufgrund der fehlenden Fachtradition an geeigneten Personen, so dass die Kultusministerien vielfach auf Historiker, Geologen oder „Schulmänner“ zurückgreifen mußten. Da das Bildungsmotiv dominierte, blieben die zeitgenössischen „großen Forschungsreisenden“ mit Ausnahme von Ferdinand Freiherr von Richthofen (1833-1905) und Johann Justus Rein (1835-1918) unberücksichtigt. 2. Mußte sich die Geographie ihren Platz im Kanon der etablierten Fächer durch Abgrenzung und Setzung eines fachspezifischen Paradigmas erst erstreiten. Insbesondere galt es, den Makel einer „Historischen Hilfswissenschaft“ bzw. im Rahmen der Nationalökonomie den einer nur Fakten sammelnden und beschreibenden Staatenkunde bzw. Statistik abzustreifen. Die junge Universitätsdisziplin glaubte, an den fachlichen Diskurs vorangegangener Jahrzehnte anknüpfend, im Mensch-Natur-Verhältnis eine tragfähige konzeptionelle Grundlage gefunden zu haben. Ihr positivistisches Selbstverständnis zielte weniger auf Beschreibung als vielmehr auf kausale Erklärungen der Abhängigkeiten der Menschenwerke von den natürlichen Gegebenheiten der Erdoberfläche bzw. der Landschaften. Aus einem einerseits stark durch Darwin und den naturwissenschaftlichen Positivismus und andererseits vom Nationalismus der Kaiserzeit geprägten Denken entwickelte sich eine „naturalistisch verkürzte, sozialdarwinistisch geprägte Auffassung von Geographie“.17 Ob die Gründung von Geographielehrstühlen zwischen 1890 und 1914 letztlich auch politisch motiviert war, ist umstritten. Dafür sprechen der Übergang zur Weltmachtpolitik, der Anspruch auf Gleichstellung mit England und der Eintritt in die Kolonialpolitik während der Kaiserzeit. Geographen ließen angesichts dieser politischen Rahmenbedingungen nach 1890 keine Gelegenheit ungenutzt, die Zeitgemäßheit und Modernität ihres Fachgebietes hervorzuheben. Insbesondere im Bildungsbereich „empfahl man sich als intellektuelle Waffenschmiede ‚für den Kampf des Lebens‘“18. Erstmals wurde in diesen Jahren – nicht zuletzt unter Verweis auf Friedrich Ratzel – ein zwingender Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Weltmachtpolitik konstatiert. Arthur Dix, einer der Protagonisten dieser Auffassung, ließ 1901 diejenigen, die sich vor einer Überbevölkerung fürchteten, wissen, dass sich ein „zukunftsorientiertes Volk“ „auf dem Erdenrunde“ schon „Platz [...] schaffen“ werde „für die Gründung neuer Existenzen des eigenen Stammes“.19 In der Wilhelminischen Ära fanden simple Formeln des Sozialdarwinismus Eingang in die geographische Li16
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Heinz Peter Brogiato, „Wissen ist Macht – Geographisches Wissen ist Weltmacht“. Die schulgeographischen Zeitschriften im deutschsprachigen Raum (1880-1945) unter besonderer Berücksichtigung des Geographischen Anzeigers, Materialien zur Didaktik der Geographie 18, Trier 1998, S. 34; HansDietrich Schultz, Die Geographie als Bildungsfach im Kaiserreich, zugleich ein Beitrag zu ihrem Kampf um die preußische höhere Schule von 1870 – 1914 nebst dessen Vorgeschichte und teilweiser Berücksichtigung anderer deutscher Staaten, Osnabrück 1989a. Blotevogel (2002, S. 39). Schultz (1989b, S. 25). A. Dix, Deutschland auf den Hochstrassen des Weltwirtschaftsverkehrs, Jena 1901, S. 28, zitiert in Schultz (1989b, S. 25).
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teratur. Aus Sicht der Geographie stellte der „Kampf ums Dasein“ und das „Überleben des Stärkeren“ das Deutsche Reich vor die zweifelsohne falsche Alternative, sich als „Herrenvolk“ zu behaupten oder unterzugehen. Nicht zuletzt in der Formulierung „Kampf um Raum“ trug der Traum vom „größeren Deutschland“ kolonial- und kulturimperialistische Züge.20 In einer opportunistischen Wende passte der Lehrstuhlinhaber der ‚frühen Stunde‘, Alfred Kirchhoff, dem Zeitgeist entsprechend, Ende des 19. Jh.s seinen „natürlichen Staatsraum Deutschland“ dem Faktum „Kleindeutschland“ an. In seiner bisherigen Argumentation hatte der Erdraum die Staatsgründungen determiniert. Jetzt ergänzte er, dass der Staat überall dort Grenzen der länderkundlichen, nationalen und kulturellen Einheit setzen dürfe, wo die Natur keine eindeutigen Marken setze bzw. versage. Begründungen für eine Korrektur der Landkarte, die Deutschland zu seinen Gunsten herbeiführen könne, waren damit vorgezeichnet. Bereits 1901 lag für Friedrich Ratzel die Zukunft Deutschlands im Osten, westlich der Weichsel.21 Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert konzentrierte sich die junge Universitätsdisziplin neben der methodologischen Weiterentwicklung der aus der schulischen Tradition übernommenen Länderkunde in ihrem naturwissenschaftlichen Bereich auf die theoretische und konzeptionelle Entwicklung der Geomorphologie22 und Klimageographie sowie im kulturwissenschaftlichen Bereich auf die Siedlungs- und Politische Geographie. Ein weiterer Aspekt der Differenzierung des Faches ergab sich während dieser Zeit aus der Etablierung der Schulgeographie, die sich noch vor Beginn des Ersten Weltkrieges 1912 im „Verband deutscher Schulgeographen“ eine eigenständige Berufsorganisation schaffen konnte. Mit ihrem Gründungsaufruf „Wissen ist Macht. Geographisches Wissen ist Weltmacht!“, suchte sie die nationale Bedeutung geographischer Bildung nachdrücklich herauszustellen.23 Eine neue Phase der Entwicklung und Differenzierung des Faches begann nicht erst während der Weimarer Republik, sondern setzte bereits im Ersten Weltkrieg mit Abschluss der Institutionalisierung ein. Ausschlaggebend war, dass die nunmehr beginnende Professionalisierung verschiedener Geographengruppen bereits während des Krieges zu unüberhörbaren Machtkämpfen zwischen den Vertretern der Schul- und Hochschulgeographie geführt hatte. Entscheidend war der Konflikt über die zeitgemäße Form des Geographieunterrichts, die erstere sich nicht mehr von der Professorenschaft vorschreiben lassen wollte. Hinzu kam, dass man nach den Kriegserfahrungen glaubte, mit den herkömmlichen Formen physisch-geographisch dominierter länderkundlicher Beschreibungen in der Schule nicht mehr bestehen zu können und statt dessen eine Hinwendung zu kultur- und politischgeographischen Fragestellungen nachdrücklich einforderte. Weiterhin führte der mit der Gründung der „Landeskundlichen Kommission beim General-Gouvernement Warschau“ durch Albrecht Penck 1916 eingeschlagene Weg zu neuartigen, interdisziplinär konzipierten Forschungsorganisationen. Darin zeigte sich auch in der Hochschulgeographie eine Verschiebung des disziplinären Orientierungsrahmens in Richtung auf die historisch geprägten Kulturwissenschaften.24
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Schultz (1989a, S. 22). Vgl. Schultz (1989b, S. 29). Hier muss in erster Linie auf die Auseinandersetzung mit dem zyklischen Evolutionsmodell des Amerikaners W. M. Davis verwiesen werden. Brogiato (1998, S. 326 ff.). Vgl. hierzu: Ute Wardenga, „Nun wird Alles, Alles anders!“ Erster Weltkrieg und Hochschulgeographie, in: Wardenga und Hönsch (1995, S. 83-97).
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3. Rahmenbedingungen und Netzwerke der wissenschaftlichen Kommunikation nach dem Ersten Weltkrieg Als zentrierende Institution der deutschen Geographie fungierte seit 1881 der zunächst in jährlichem, ab 1889 in zweijährigem Turnus abgehaltene Deutsche Geographentag, der sich als Vertretung aller Geographen an Hochschulen, Schulen und Geographischen Gesellschaften verstand. Dessen Leitung bestand aus einem gewählten Zentralausschuss, der nicht nur die Organisation der folgenden Tagung zu besorgen, sondern auch die Fachinteressen gegenüber der Öffentlichkeit und den Behörden zu vertreten hatte. Die anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen den mehrheitlich im Zentralausschuss vertretenen Hochschullehrern und den Schulgeographen wurden durch die Ereignisse und den Ausgang des Ersten Weltkrieges zunächst überdeckt. Letztlich hatten sie aber zur Folge, dass neben dem Verband deutscher Schulgeographen auf dem Danziger Geographentag 1925 ein Verband Deutscher Hochschullehrer der Geographie als zweite berufsständische Organisation gegründet wurde.25 Trotz z.T. sehr unterschiedlicher Interessenlagen bestand zwischen den beiden Verbänden und dem Zentralausschuss große Einmütigkeit hinsichtlich der Proklamation und Umsetzung nationaler Zielsetzungen. War es vor und während des Weltkrieges noch der Traum vom „größeren Deutschland“, der schon in die Formel vom „Kampf um den Raum“ gepackt wurde, so waren es nach 1919 neben der geringen Identifikation mit dem demokratischen Nachkriegsdeutschland die Forderungen nach Revision des „Schandvertrages“ von Versailles, über dessen „Unnatürlichkeit“, „Widersinn“, „Willkür“ und „ungeographischen“ Charakter keinerlei Dissens bestand.26 In diesem Sinne erklärte 1921 der Leipziger Geographentag auf Antrag des Münchner Ordinarius Erich von Drygalski „es für eine nationale Notwendigkeit und Pflicht, daß bei den dem Deutschen Reich durch den Vertrag von Versailles entrissenen Gebieten, einschließlich der Kolonien, ihr Zusammenhang mit dem Deutschtum in Atlanten und Kartenwerken deutlich erkennbar bleibt [...] weil der Inhalt von Karten [...] auf das Denken der Völker von größtem Einfluß ist [...] [und] weil wissenschaftliche Karten die Wahrheit dar[zu]stellen“.27 Ohne semantischen Umbruch konnte dann auch der Herausgeber des Leipziger Verhandlungsbandes und späterer Frankfurter Ordinarius Walter Behrmann 1934 angesichts der (Selbst-)Gleichschaltung der Institutionen auf dem Geographentag in Bad Nauheim festhalten: „Nach dem Kriege war es selbstverständliche Pflicht der Geographen, die vaterländische Gesinnung zu pflegen [...] Wir haben gefordert, daß auf keiner deutschen Karte und in keinem deutschen Atlas die Darstellung der entrissenen Gebiete unterdrückt werden dürfe [...] So wird es den deutschen Geographen nicht schwer, aus ihrer vaterländischen Gesinnung heraus sich freudig zur nationalen Erhebung zu bekennen und ihre ganze Kraft dem Dritten Reiche zu widmen.“28
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Vgl. hierzu Hans Böhm, Einflüsse, Abhängigkeiten und Wirkungen, in: ders. (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Geographie an der Universität Bonn, Colloquium Geographicum 21, Bonn 1991, S. 269326. Astrid Mehmel, Deutsche Revisionspolitik in der Geographie nach dem Ersten Weltkrieg, in: Geographische Rundschau 47, 1995, S. 498-505. Verhandlungen des 20. Deutschen Geographentages zu Leipzig, hrsg. von Walter Behrmann. Berlin 1922. S. 120. Walter Behrmann, Der Deutsche Geographentag. Rückblick aus Anlaß der 25. Tagung in Bad Nauheim am 22.-24. Mai 1934, in: Geographische Wochenschrift 2, 1934, S. 453-460, hier S. 458. Als Vorsitzender des Zentralausschusses hatte Behrmann auf dem Nauheimer Geographentag die Aufgabe darin gesehen, zu prüfen, „wie wir in gesteigertem Maße unsere Wissenschaft, die ja gerade Boden und Volk umfaßt, dem Ideengut der neuen Zeit angleichen können“. Otto Berninger, Der 25. Deutsche Geographentag in Bad Nauheim vom 21.-25. Mai 1934, in: Geographische Zeitschrift 40, 1934, S. 332-341, hier S. 333.
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Der Vorstand des Verbandes deutscher Schulgeographen hatte bereits Ende 1933 eine Eingliederung in die Fachgruppe Erdkunde des Nationalsozialistischen Lehrerbundes (NSLB) empfohlen, die dann 1934 in Bad Nauheim von den Mitgliedern einstimmig beschlossen wurde.29 Die Führung der neuen Sachgruppe übernahm der Reichssachbearbeiter Albrecht Burchard, die Zeitschrift „Geographischer Anzeiger“ wurde offizielles Organ der Sachgruppe, und die regionale Organisation folgte streng dem „Führerprinzip“.30 Bis zu diesem Zeitpunkt war der nicht nur unter den Schulgeographen sehr geschätzte Hochschullehrer Siegfried Passarge Reichsobmann für Geographie im NSLB. In einem Beitrag „Geographie und nationale Erziehung“ hatte dieser 1933 im ersten Jahrgang der Geographischen Wochenschrift abschließend festgestellt: „Nationalsozialismus und Judentum sind nebeneinander nicht denkbar [bis hierher im Original gesperrt, H.B.], es sei denn, daß das Judentum zur Bedeutungslosigkeit herabsinkt. Nationalsozialismus bedeutet Kampf gegen die Sartoidisierung – Kampf mit allen Mitteln gegen die Verelendung ganzer breiter Volksschichten. Hier kann man den Genius unseres großen Hitlers in das hellste Licht setzen“.31 Auf der ersten Sitzung der Gaureferenten der Sachgruppe Geographie im NSLB in Eisenach 1934 wurde im Anschluss an das Referat von Hans Schrepfer „Rassenkunde und Schulgeographie“ in der Diskussion hervorgehoben, dass es weniger relevant sei, die „verschwindenden rassischen Unterschiede innerhalb des deutschen Volkes zu betonen“, als vielmehr „die großen Verschiedenheiten zwischen Deutschen und Juden und den zerstörenden jüdischen Kultureinfluß klar herauszustellen“.32 Diese antisemitischen, in ihren Konsequenzen 1933/34 durchaus erkennbaren Ausführungen lassen sich nicht als Opportunismus im Interesse des Faches kleinreden.33 Gleichzeitig vollzog auch der Vorsitzende des Verbandes Deutscher Hochschullehrer der Geographie, Ludwig Mecking, in einer Denkschrift an die Unterrichtsbehörden mit einem durch das Paradigma des Faches begünstigten sprachlichen Transformationsakt eine unverkennbare Andienung an das NS-Regime. Die „Kern-“ bzw. „Losungsworte“ „der völkischen Erneuerung“ „Blut und Boden“, so Mecking, deckten sich weitgehend mit „dem Inhalt und Ziel geographischer Forschung, der Synthese von Erde und Mensch“. Neben der Geographie konzentriere keine Wissenschaft „so sehr beides zusammen, Boden und Mensch, Land und Volk, in engster Verbundenheit als Endziel ihrer Arbeit“.34 Dies 29
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Vgl. hierzu Heske (1988, S. 53 ff.); im Vorfeld der Entscheidung hatten sich u.a. Reinhard Thom und Walter Behrmann gegen eine Überführung in den NSLB ausgesprochen. Dieser Widerstand eignet sich aber nicht für eine „schöne Geschichte“, da beide in ihren Veröffentlichungen aus ihrer deutschnationalen Einstellung keinen Hehl machten. Die Gründe dürften in den in der Philologenschaft verbreiteten akademischen Dünkeln gegen die standesnivellierende Bildungspolitik des NS zu suchen sein; Brogiato (1998, S. 484). Heinz Peter Brogiato, Die Schulgeographie im Spiegel der Deutschen Geographentage 1881 – 1948, in: Wardenga und Hönsch (1995, S. 51-81); ders.: Die Schulgeographie im Spiegel der Deutschen Geographentage, in: Geographische Rundschau 47, 1995, S. 484-490. Siegfried Passarge, Geographie und nationale Erziehung, in: Geographische Wochenschrift 1, 1933, S. 961-1000, hier S. 996. Fritz Gerloff, Bericht über die erste Tagung der Gaureferenten der Sachgruppe Geographie im NSLB., in: Geographischer Anzeiger 35, 1934, S. 565-566, hier S. 566; auf S. 565 heißt es: „In den Aussprachen vereinten sich nationalsozialistische Disziplin, zielbewußter Erziehungswille und fachliches Können.“ Vgl. Klaus Kost, Anti-Semitism in German geography 1900-1945, in: GeoJournal 46, 1998, S. 285291. Ludwig Mecking, Erdkunde in der neuen deutschen Bildung und Erziehung, in: Geographischer Anzeiger 35, 1934, S. 1-6, hier S. 1. Anlässlich des Geographentages in Jena telegraphierte der Vorsitzende Mecking 1936 an den Führer und Reichskanzler Adolf Hitler u.a.: „ [...] die ehrerbietigsten Grüße [...] mit dem Gelöbnis, unsere Arbeit als volksbewußte geographische Forscher und Lehrer in Ihren Dienst des inneren Aufbaus und der Schaffung einer neuen Weltgeltung der Nation zu stellen.“ Albrecht Haushofer (Hg.), Verhandlungen und Wissenschaftliche Abhandlungen des 26. Deutschen Geographentages zu Jena 9. bis 12. Oktober 1936, Breslau 1937, S. 10. Vgl. auch: Hans-Dietrich Schultz, „Geogra-
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war, im Gegensatz zu Passarges Antisemitismus durchaus „eine Orientierung an kurzfristigen partikularen Vorteilen, eine Selbstauslieferung der Disziplin an die wechselnden politischen Umstände und Außensuggestionen, ein durch intellektuelle Skrupel fast ungetrübter Weltanschauungskonsum und eine fast animalische Witterung für die gerade herrschenden (oder heraufziehenden) politwirksamen Zeitgeist-Fraktionen“, d.h. ein disziplinärer systemimmanenter Opportunismus.35 Tonangebend in der deutschen Geographie war Ende der 1920er Jahre u.a. Albrecht Penck. Diesem stand die über Vorstand und Mitglieder eng mit zahlreichen amtlichen und halbamtlichen Dienststellen des Reiches sowie mit dem Militär verbundene und daher einflussreiche wie international anerkannte Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin als Organisation zur Seite. Penck war während des Ersten Weltkrieges Mitinitiator der „Landeskundlichen Kommission beim Generalgouvernement Warschau“, die bereits mit volkstumsorientierten Arbeiten im besetzten Polen aufwartete. Diese wurden nach 1920 in der von ihm in Berlin begründeten Mittelstelle für zwischeneuropäische Fragen weitergeführt und schließlich auf die neu gegründete Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung36 übertragen sowie auf die Grenzregionen des Reiches ausgedehnt. Zielvorgaben für die wissenschaftlichen Arbeiten und die Deutschtumspolitik dieser Institution waren Untersuchungen im Kontext der Volksabstimmungen und Grenzregulierungen der ersten Nachkriegszeit, die nicht zuletzt den geographischen Revisionismusdiskurs begründet haben. Hinzu kamen die Entwicklung einer Systematik für die Bibliographie der deutschen Grenzlande sowie die redaktionelle Betreuung des Handwörterbuchs für das Grenz- und Auslanddeutschtum durch die Geographen Friedrich Metz und Emil Meynen.37 Aus den Arbeitstagungen der Leipziger Stiftung erwuchsen nach 1930 regionale Arbeitsgemeinschaften, die ab 1931 zur Etablierung der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften (VFG) geführt haben.38 Albrecht Penck gehörte außerdem zum Wissenschaftlichen Beirat des 1917 gegründeten Deutschen Ausland-Instituts (DAI)39 in Stuttgart. Dieses stand nicht nur in personeller Hinsicht, sondern auch durch seine Zielsetzung und Arbeitsrichtung in enger Beziehung zum Volksbund für das Deutschtum im Ausland (VDA)40 und zur Deutschen Akademie (DA) in München. Auf der Jahrestagung 1934 des DAI41 konnte der „Reichsführer“ des VDA, Hans Steinacher, mit Genugtuung feststellen, dass „auch in den Bezirken der
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phische Bildung schafft politische Geltung“. Bezugspunkte, Ansprüche und Ziele der Schulgeographie im 19./20. Jahrhundert, in: ders. (Hg), Quodlibet Geographicum. Einblicke in unsere Arbeit, Berliner Geographische Arbeiten 90, Berlin 1999, S. 181-212, hier S. 196; Kost (1988, S. 389 ff.). Hard (1979, S. 27). Präsident der Stiftung war Albrecht Penck, Leiter Wilhelm Volz; Michael Fahlbusch, »Wo der deutsche ... ist, ist Deutschland!« Die Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig 1920 1933, Bochum 1994. Fahlbusch (1994, S. 122 ff.) sowie weitgehend identisch: ders., Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die »Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften« von 1931-1945, Baden-Baden 1999, S. 147 ff. Die ersten drei Bände des Handwörterbuchs erschienen ab 1933. Von dem vierten Band liegen lediglich Druckfahnen und Sonderdrucke einzelner Beiträge vor. Vgl. Ernst Ritter, Die deutsche Volkstumsarbeit in der Zeit zwischen den Weltkriegen, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 31, 1981, S. 183-195. Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft; Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft; Alpenländische Forschungsgemeinschaft; Westdeutsche Forschungsgemeinschaft; Überseedeutsche Forschungsgemeinschaft. Vgl. hierzu u.a. Fahlbusch (1999). Vgl. Ernst Ritter, Das Deutsche Ausland-Institut in Stuttgart: 1917-1945. Ein Beispiel deutscher Volkstumsarbeit zwischen den Weltkriegen, Wiesbaden 1976; ders. (1981) sowie Rössler (1990, S. 112 ff.). Vor 1933 „Verein für das Deutschtum im Ausland“. Vgl. Berichte Deutsches Ausland-Institut Stuttgart ab 1931; nach der Reorganisation (Gleichschaltung) 1935 gehörten dem Wissenschaftlichen Rat des DAI u.a. an: H. Aubin, M.H. Boehm, F. Burgdörfer, W. Geisler, H. Hassinger, K. Haushofer, G. Ipsen, E. Krieck, K.C. v. Loesch, F. Machatschek, Fr. Metz, E. Obst, A. Penck, A. Rein, E. Rothacker, K. Sapper, O. Schmieder, A. Schultz, W. Sombart, H. Steinacker, G. Steinbach, O. Stolz, F. Termer, C. Troll, W. Vogel (Archiv Geogr. Inst. Uni. Bonn, NL Troll 532).
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Deutschtumsarbeit die Zeiten der unnützen Rivalitäten, des Gegeneinanders […] endgültig vorbei [seien] und dass Einheitlichkeit, Planung und Systematik auch Platz gegriffen [habe]“.42 Auf dieser Tagung hoben dann Karl Haushofer als „Beauftragter des Stellvertreters des Führers“ und Präsident der DA in München sowie der Geograph Carl Uhlig als Beiratsmitglied des DAI die engen Verbindungen bzw. die Einheit zwischen DAI, DA und VDA hervor. Letzterer wurde 1939 der Volksdeutschen Mittelstelle (Vomi) in Berlin unterstellt und damit gleichgeschaltet, behielt aber als Deckadresse für die Vomi eine herausragende Funktion. Das DAI stand nach 1934 seinerseits unter massiven Eingriffen der Auslandsorganisation der NSDAP. Dies bewirkte nicht zuletzt 1938 eine Neuorganisation der seit 1934 in Marburg angesiedelten Überseedeutschen Forschungsgemeinschaft in Verbindung mit der Forschungsstelle für das Überseedeutschtum in Hamburg. Wenig später wurde an der Universität Hamburg 1939 wieder ein Kolonial-Institut eröffnet und in diesem Zusammenhang ein Ordinariat für Kolonial- und Wirtschaftsgeographie geschaffen, das aber erst 1942 mit Rudolf Lütgens besetzt wurde.43 Die 1908 mit der Gründung des Kolonial-Instituts in Hamburg begonnene kolonialgeographische Tradition wurde 1918 bei Überführung dieser Institution in die neu gegründete hanseatische Universität nicht unterbrochen. Dafür garantierte der Inhaber des Lehrstuhls für Geographie, Siegfried Passarge, wenn auch die Kolonialgeographie nominell nicht mehr zu seinem Aufgabenbereich gehörte. Bestand hatten vergleichbare Lehr- und Forschungsbereiche über den Ersten Weltkrieg hinaus nur an den Universitäten Leipzig und Berlin. Während erstere seit 1915 über das einzige (Extra-)Ordinariat für Kolonialgeographie und Kolonialpolitik im Deutschen Reich verfügte, bestand in Berlin seit 1910 lediglich eine Stiftungsprofessur.44 Schon vor dem Ersten Weltkrieg existierten enge personelle Verbindungen zwischen (Kolonial-)Geographen und der Deutschen Afrikanischen Gesellschaft sowie der Deutschen Kolonialgesellschaft. Letztere insistierte nach 1920 – ähnlich wie namhafte Geographen oder der Deutsche Geographentag (s.o.) – bei den Kultusministerien darauf, nur Unterrichtsmittel zuzulassen, die die ehemaligen deutschen Kolonien als deutschen Besitz kennzeichnen.45 Im Einvernehmen mit diesen Institutionen war die Geographie bestrebt, Deutschland als kolonialen Wohltäter sowie die kulturellen Leistungen Deutschlands in den Kolonien insbesondere im Vergleich zu den Siegermächten positiv hervorzuheben. Dadurch wollte man zur erneuten kolonialen Erweckung in Hochschule, Schule und Öffentlichkeit aktiv beitragen. Die „Kolonialschuldlüge“ sollte ebenso wie die „Kriegsschuldlüge“ widerlegt werden. Weniger Wissenschaft als nationalistische Propaganda war denn auch der 1926 von Erich Obst im Sonderheft der Zeitschrift für Geopolitik veröffentlichte Leitaufsatz „Wir fordern unsere Kolonien zurück“. Darin verband er geschickt das Argument eines „Volkes ohne Raum“ mit revanchistischen Drohungen gegenüber Deutschlands europäischen Nachbarn.46 Mit dieser Meinung und der Kritik am Parlamentarismus war er unter den deutschen Geographen nicht allein. Daher sah sich auch deren Mehrheit nach 1933 ange42
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DAI im Neuen Reich. Schriften des Deutschen Auslands-Instituts Stuttgart. Neue Reihe, Bd. 1, Stuttgart 1935, S. 11. Am 5.9.35 führte der Leiter des DAI, Dr. Csaki auf der Jahrestagung des Institutes aus: „[…] Aufgabe dieser Tagung ist die Besprechung der Fragen in dieser Richtung [Zusammenarbeit] und die Abgrenzung der Aufgaben des Instituts zu anderen Organisationen, die sich mit den Fragen des Auslands und des Grenz- und Auslanddeutschtums befassen. Begrüssenswert ist vor allem die Zusammenarbeit mit der Deutschen Akademie, die noch enger gestaltet werden soll. […] Der Plan, eine ‘Wissenschaftliche Mittelstelle’ im Institut zu schaffen, steht vor der Verwirklichung. […]” Deutsches Auslands-Institut Stuttgart, Jahrestagung 1935, S. 9 (Archiv Geogr. Inst. Bonn, NL Troll 532). Fischer und Sandner (1991). Leipzig: 1915-1928 Hans Meyer, 1928-1935 Heinrich Schmitthenner, 1938-1945 Karl Heinz Dietzel; Berlin: 1911-1929 Fritz Jäger, 1930-1936 Carl Troll. Vgl. Brogiato (1998, S. 405); Mehmel (1995, S. 503). Kost (1988, S. 212).
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sichts der Forderungen der Nationalsozialisten betreffs Rückgabe der Kolonien und Revision des „Versailler Diktats“ vollauf in ihren kolonialgeographischen Aktivitäten bestätigt und zu neuen Aufgaben, insbesondere in Afrika, ermutigt, wohl wissend, dass in den ersten Jahren der NS-Diktatur „Kolonialpolitik“ noch verpönt war.47 Nachdem die Rückgabe der Kolonien 1936 von der Partei als politische Forderung anerkannt worden war, wurde die Deutsche Kolonialgesellschaft in den Reichskolonialbund überführt und damit gleichgeschaltet.48 Damit begann eine über diese Institution gesteuerte Förderung kolonialer Wissenschaften. Hierzu gehörte u.a. der Erich Obst vom Kolonialpolitischen Amt der NSDAP (General v. Epp) 1937 erteilte Auftrag zur Leitung der Arbeitsgemeinschaft „AfrikaForschung nach dem Weltkriege“ und die Herausgabe eines Afrika-Handbuches.49 Dadurch sah dieser für sich einen Führungsanspruch in Sachen kolonialer Fragen und Forschungen begründet. Eine für das interdisziplinär konzipierte sowie praxisorientierte Forschungs- und Wissenschaftsverständnis der Nationalsozialisten typische Institution war die seit 1935/36 auf überregionaler Ebene etablierte Raumforschung und Raumordnung.50 Neben einer für die nachgeordneten Planungsbehörden zuständigen „Reichsstelle für Raumordnung“ (RfR) wurde durch ministeriellen Erlass für den Forschungsbereich die „Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung“ (RAG) gegründet, die lokal an den einzelnen Hochschulen des Reiches in fächer- und fakultätsübergreifenden Arbeitsgemeinschaften verankert wurde.51 Hier sollte die Verbindung von Ideologie und zweckrationaler Forschung realisiert werden. Vertreter der Geographie wiesen immer wieder darauf hin, dass es sich bei der Raumforschung nicht um eine neue Wissenschaft, sondern nur um eine „wissenschaftliche Gemeinschaftsarbeit“ handele, deren Leitung bzw. „Führung“ allerdings Geographen obliegen müsse.52 Die Geographie hatte sich schon immer als „ganzheitliche“ Wissenschaft, die disziplinäre Grenzen zu überwinden befähigt war, verstanden. Grundlegende Merkmale des neuen Wissenschaftskonzeptes waren Selbstverwaltung und Selbstverantwortlichkeit.53 Daher konnten nebeneinander regional unterschiedliche Forschungsprogramme entwickelt 47 48 49
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Gerhard Sandner und Mechtild Rössler, Geography and Empire in Germany, 1871-1945, in: Anne Godlewska and Neil Smith (Ed.), Geography and Empire, The Institute of British Geographers, Special Publications Series 30, Oxford/Cambridge 1994, S. 115-137. Zu den Unsicherheiten, mit denen die Geographie 1936 das Kolonialproblem auf dem Deutschen Geographentag in Jena öffentlich aufgriff vgl. Böhm (2003, S. 33). Von diesem auf 19 Bände konzipierten „Handbuch der praktischen Kolonialwissenschaften“ erschienen zwischen 1941 und 1944 zehn Bände. Zur Selbsteinschätzung des Herausgebers vgl. dessen Beitrag in der Festschrift der Deutschen Wissenschaft zum 50. Geburtstag von Adolf Hitler: Erich Obst, Kolonialgeographie, in: Deutsche Wissenschaft. Arbeit und Aufgabe, Leipzig 1939, S. 51-53. Vgl. Anonymus: Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, in: Zeitschrift für Erdkunde 4, 1936, S. 515-516. Vgl. Rechtsgrundlage der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, in: Raumforschung und Raumordnung 1, 1936/37, S. 50-51; Einrichtungen lokaler Arbeitsgemeinschaften ebd. u.a. S. 618 f. Vgl. hierzu Rössler (1990); sowie dies., Die Institutionalisierung einer neuen „Wissenschaft“ im Nationalsozialismus: Raumforschung und Raumordnung 1935-1945, in: Geographische Zeitschrift 75, 1987, S. 177-193. Auf dem 26. Deutschen Geographentag referierte 1936 der Obmann der RAG, K. Meyer, über das Thema „Raumforschung und Geographie“. Das Co-Referat mit dem Titel „Geographie als Grundlage von Raumforschung und Landesplanung“ hielt der Geograph Hans Dörries; vgl. Haushofer (1937, S. 34 ff. und S. 41 ff.); auf dieser Tagung betonte Carl Troll in seinem Referat Kolonialgeographische Forschung und das deutsche Kolonialproblem (1937, S. 119-138, hier S. 122/123): „Für den Aufbau einer umfassenden Kolonialwissenschaft aber liegt es in der Natur der Sache, daß die Geographie dabei die Schlüsselstellung einnimmt; denn ihre Forschungswege sind eingestellt auf die geistige Zusammenschau, auf Synthese zwischen Natur und Kultur, zwischen Mensch und Erde, zwischen Geist und Stoff.“ Die Geographie sei prädestiniert für „eine neue, ganzheitliche Fragestellung“, weil sie das „Wechselspiel zwischen physikalischen, biologischen und Kulturkräften im Raum“ verfolge; vgl. auch den Bericht von Emil Hinrichs, Bemerkungen zum 26. Deutschen Geographentag, in: Zeitschrift für Erdkunde 4, 1936, S. 1042-1049. Rössler (1987, S. 181).
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werden, die sich vereinzelt schon 1937 mit Aspekten der Großraumforschung befassten und somit später unschwer in die „kriegswichtigen“ RAG-Projekte „Deutscher Osten“ integriert werden konnten. Mit der Person Walter Christallers und seinem 1933 veröffentlichten Konzept eines hierarchisch strukturierten Siedlungssystems, der deduktiv gewonnenen Theorie der zentralen Orte, hatte die Geographie für die Raumforschung einen entscheidenden Input geliefert.54 Charakteristisch ist, dass die Rezeption dieser Theorie von Geographen bis 1945 weniger innerhalb des Faches, als vielmehr im Bereich der Raumforschung und Raumordnung stattgefunden hat. Der RAG-Arbeitskreis „Zentrale Orte“ setzte die Theorie erstmals in Form eines „Planungsmodells“ für den Umbau Polens und zur Sicherung der eroberten Ostgebiete in die Praxis um. Relevante Detailinformationen über den zu gestaltenden Raum lieferten nicht nur Mitarbeiter der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften,55 sondern auch die 1941 im Reichsamt für Landesaufnahme gegründete Abteilung für Landeskunde (AfL).56 Durch diese Einrichtung, die 1943 der Abteilung „Deutschtum“ im Reichsinnenministerium unterstellt wurde, fand sich auch jener Teil der deutschen Geographie als praxisrelevant legitimiert, der die Landes- und Länderkunde immer noch die wichtigste Aufgabe des Faches ansah. Zum Leiter wurde der Geograph Emil Meynen57 bestellt, dem bereits die Geschäftsstelle der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften in Berlin unterstand. Als Sekretär der Zentralkommission für wissenschaftliche Landeskunde von Deutschland übernahm dieser die neue Funktion nicht zuletzt auch mit Billigung des Zentralausschusses des deutschen Geographentages. Die AfL, deren Arbeit von vornherein auch auf Kriegsaufgaben ausgerichtet war, verfügte bald über einen großen Personalbestand. Es waren überwiegend Geographen, die ihrerseits z.T. auch in regionalen Hochschularbeitsgemeinschaften der RAG verantwortlich mitarbeiteten. Da beide Institutionen die kriegswichtigen landeskundlichen Bestandsaufnahmen in den eingegliederten Ostgebieten als Aufgabenbereich für sich beanspruchten, kam es zu nachhaltigen Kompetenzstreitigkeiten, die sich noch dadurch verstärkten, dass die RAG unter ihrem Obmann Paul Ritterbusch 1943 als eigene Fachsparte in den Reichsforschungsrat eingegliedert wurde und dadurch über erhebliche Finanzmittel verfügen konnte.58 Dies waren nicht die einzigen, von NS-Organisationen gegründeten Institutionen, in denen die Geographie weniger als Fach, sondern vielmehr über einzelne, mehr oder weniger herausragende Fachvertreter eingebunden wurde. Schon vor Kriegsbeginn wurde 1936 in Berlin das „Institut für allgemeine Wehrlehre“ unter Leitung des Geographen Oskar Ritter von Niedermayer59 gegründet, der 1938 mit dem „Institut für Heimatforschung“ in Schneidemühl eine Außenstelle schuf, die mit aktiver Ostarbeit im „Kampfraum gegen Polen“ beauftragt war.60 Die dortige Abteilung „Geographie und Volkstum“, die dem Berliner Geographiedozenten Julius Büdel unterstand, hatte die Aufgabe, „das Arbeitsgebiet einer volkspolitisch ausgerichteten geographischen Durchforschung zu unterziehen“. Der Auftrag beinhaltete auch die „Mithilfe bei staatlicher, parteilicher und ständischer Schulung im Ostkampf“.61 Bezeichnend ist, dass dieses Institut 1941 nach Erreichen seiner Forschungs54 55 56 57 58 59 60 61
Walter Christaller, Die zentralen Orte in Süddeutschland, Jena 1933. Vgl. Mechtild Rössler und Sabine Schleiermacher (Hg.), Der „Generalplan Ost“. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, Berlin 1993; Fahlbusch (1999, S. 469 ff.). Rössler (1990, S. 158); Dr.M. [Dr. Metz oder Dr. Meynen], Abteilung für Landeskunde im Reichsamt für Landesaufnahme, in: Raumforschung und Raumordnung 5, 1941, S. 347. Ute Wardenga, Emil Meynen – Annäherung an ein Leben, in: Geographisches Taschenbuch 23, 1995/1996, S. 18-41. Rössler (1990, S. 154 f.). Hans-Ulrich Seidt, Berlin. Kabul. Moskau. Oskar Ritter von Niedermayer und Deutschlands Geopolitik, München 2002. Vgl. Fahlbusch (1999, S. 193). Rössler (1990, S. 71).
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aufträge und Vorrücken der deutschen Truppen nach Osten wieder aufgelöst und die Mitarbeiter auf andere Einrichtungen bzw. Militärdienststellen verteilt wurden. Wenige Monate nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen gründete der „Generalgouverneur“ Hans Frank in Verbindung mit der Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft 1940 das Institut für Deutsche Ostarbeit (IDO) in Krakau, um die Besatzungsverwaltung mit relevanten wissenschaftlichen Forschungsarbeiten direkt unterstützen zu können.62 Der stellvertretende Leiter der Sektion Landeskunde war der Geograph Hans Graul, der bereits in der Distriktbehörde mit Fragen der Raumplanung im Sinne der NSUmsiedlung- und Bevölkerungspolitik befasst war. Graul war daher auch im IDO für alle Fragen der Raumforschung zuständig. In dieser Funktion entwarf er 1941 ein System der Zentralen Orte für das Generalgouvernement, das die Behördenpraxis übernahm.63 Mit dem Überfall auf die Sowjetunion erweiterte sich 1941 das „Forschungsfeld“ des IDO. Für Graul stand jetzt zweifelsfrei fest, das östliche Mitteleuropa sei der natürlich „vorgegebene Kolonisationsraum der Deutschen und nicht etwa anderer Völker“.64 In seiner Argumentation wurde das klassische geodeterministische Paradigma der Geographie, das seit Partsch65 den Mitteleuropa kennzeichnenden Dreiklang von Hochgebirge, Mittelgebirge und Tiefland mit Deutschland konnotierte, uminterpretiert. Im Kontext der radikalen ethnopolitischen, rassistisch-antisemitischen Ordnungsvorstellungen konstatierte er, dass Natur bzw. natürliche Landschaften nur eine bestimmte „Menschenrasse“ begünstige, ja sie aufgrund ihrer Qualität geradezu fordere. Auf dem Boden, der deutschen „Waldmenschen“ von Natur aus bestimmt sei, könne ein raumfremdes „Steppenvolk“ auf Dauer nicht leben. Daher gebe es in Polen auch keine echte, sondern nur eine „veröstlichte Halbkulturlandschaft“. In der Natur könne man dauerhaft nichts erzwingen, was ihrem Wesen nicht entspreche. Somit gehe es heute darum, die „Lebensräume der Leistungsvölker nach den Gegebenheiten der Natur“ abzugrenzen und die „polnische Wirtschaft“ als Erscheinung der „zwischeneuropäischen Gefahrenzone“ politisch endgültig zu beseitigen. Während der deutschen Ostkolonisation habe sich das östliche Europa im Mittelalter als deutscher „Volksboden“ zu erkennen gegeben. Aber in den zurückliegenden Jahrhunderten sei der dem „Leistungsvolk“ zugewiesene natürliche Lebensraum durch „Umvolkungs- und Ausmerzungsvorgänge“ „zerstört“ worden. Daher müsse jetzt durch eine „der Natur entsprechende Wiederaufforstung“ und Regermanisierung dem „Willen der Natur“ entsprochen werden.66 Der normative Determinismus Grauls legitimierte „Umsiedlungen“ ebenso wie „ethnische Säuberungen“, die euphemistisch auch unter den planungsrelevanten Stichworten 62
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Rössler (1990, S. 86 f.); Jörg Gutberger, Volk, Raum und Sozialstruktur. Sozialstruktur- und Sozialraumforschung im „Dritten Reich“, Beiträge zur Geschichte der Soziologie 8, Münster 1996, S. 425 ff.; Fahlbusch (1999, S. 570 f.). Mit kriegsbedingt modifizierter Aufgabenstellung trat das IDO an die Stelle von Schneidemühl. Gutberger (1996, S. 426); Hans Graul, Die zentralen Orte höherer Ordnung und die Verwaltungsgliederung im Generalgouvernement, Krakau 1941. Hans-Dietrich Schultz, Die Theorie der „natürlichen Grenzen“ am Beispiel Polens. Ein Beitrag zur Geschichte des Nationalsozialismus und der deutschen Geographie, in: Gerd Stöber und Robert Maier (Hg.), Grenzen und Grenzräume in der deutschen und polnischen Geschichte. Scheidelinie oder Begegnungsraum? Studien zur internationalen Schulbuchforschung 104, Hannover 2000, S. 9-56, hier S. 44. Joseph Partsch, Mitteleuropa, Gotha 1904. Hans Graul, Das Weichselgebiet, eine mitteleuropäische Landschaft, in: Institut für deutsche Ostarbeit, Jahrbuch 1, 1941, S. 216-235; ders., Die naturlandschaftliche Gliederung des Generalgouvernements und ihre Bedeutung, in: Zeitschrift für Erdkunde 10, 1942, S. 337-350. Vgl. hierzu auch Hans-Dietrich Schultz, Geopolitik „avant la lettre“ in der deutschsprachigen Geographie bis zum Ersten Weltkrieg, in: Geopolitik. Zur Ideologiekritik politischer Raumkonzepte, Wien 2001, S. 29-50, hier S. 47 f. sowie ders., „Jeder Raum hat sein Volk“. Nationalstaatsbildung und industrielle Moderne in der deutschsprachigen Geographie, in: Ute Luig und Hans-Dietrich Schultz (Hg.), Natur in der Moderne. Interdisziplinäre Ansichten, Berlin geographische Arbeiten 93, Berlin 2002, S. 87-148, hier S. 130 f.
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„Natur- und Kulturlandschaftspflege“ subsumiert wurden.67 Ganz in diesem Kontext bewegten sich auch die Forschungsarbeiten des Geographen Walter Geisler,68 der 1941 von Aachen an die neu gegründete Reichsuniversität Posen versetzt wurde. Zu den „Sonderaufgaben“, zu denen er sich und seine Mitarbeiter berufen sah, gehörte die Landschaftspflege als „Mittel der Volkstumspflege“, d.h. die Beteiligung an der „Ausmerzung unliebsamer Elemente“, den „Reinigung- und Besiedlungsaktionen“ im Warthegau im Hinblick auf die Schaffung eines „vorbildlichen Landes“.69 Dazu gehörte nicht zuletzt die „wissenschaftliche“ Begründung der „Rücksiedlung“ deutschstämmiger Bevölkerungsgruppen aus der UdSSR (u.a. „Volksdeutsche“ aus dem Baltikum).70 So orientierten sich auch die Forschungsarbeiten in der Abteilung Landeskunde des IDO spätestens 1943 nahezu ausschließlich an Wünschen und Bedürfnissen militärischer Dienststellen. Hierzu gehörten insbesondere Aufträge der Forschungsstaffel z.b.V. unter Leitung des SS-Obersturmführers Otto Schulz-Kampfhenkel. Der promovierte Geograph war 1943 im Reichsforschungsrat zum Beauftragten für Sonderaufgaben der erdkundlichen Forschung bestellt worden. Die Forschungsaufträge seiner Dienststelle, die in Krakau bearbeitet wurden, konzentrierten sich vor allem auf die Auswertung von Luftbildern hinsichtlich eines optimalen Panzereinsatzes im Osten. Im wissenschaftlichen Arbeitsstab der Forschungsstaffel befanden sich auch Schüler und Kollegen Carl Trolls, der die geographische Luftbildforschung seit 1938 in Verbindung mit der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin systematisch entwickelt und damit ein „geistiges Patent“ für die Geographie angemeldet hatte. Diese Methode forcierte er während des Krieges nicht zuletzt deshalb, weil er der Auffassung war, dass ein „Überleben“ des Faches nur dann garantiert werden könne, wenn sich die Fachvertreter als „Experten“ empfehlen.71 Ab Mitte 1940 waren bereits junge Geographen, die ein für die Wehrmacht interessantes, kriegswichtiges Fachgebiet vertraten, in Spezialstäbe des Heeres, der Luftwaffe oder Marine eingezogen worden. Daher konnten sich einige dieser Dienststellen recht bald zu Forschungszentren entwickeln, deren Arbeiten allerdings überwiegend als „geheim“ eingestuft waren und damit der „zivilen“ Forschung nur ausnahmsweise zur Verfügung standen. Im Dienst der Marine72 beteiligten sich Geographen an küstenmorphologischen Untersuchungen und Kartierungen im Mittelmeerraum, führten im Auftrag der eingegliederten Deutschen Seewetterwarte („Eisdienst“)73 noch vor Beginn des Russlandfeldzuges Beobachtungen über die Vereisungsverhältnisse in russischen Küsten- und Binnengewäs67
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Vgl. Schultz (2000, S. 43 f.); ders., Land – Volk – Staat. Der geografische Anteil an der Erfindung der Nation, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 51, 2000, S. 4-16, besonders S. 12 f.; ders., Deutsches Land – deutsches Volk. Die Nation als geographisches Konstrukt, in: Berichte zur deutschen Landeskunde 72, 1998, S. 85-114; Hans Böhm, Magie eines Konstruktes. Anmerkungen zu M. Fahlbusch „Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?“, in: Geographische Zeitschrift 88, 2000, S. 177-196, besonders S. 189 f. Geisler war bereits seit den 1930er Jahren in der Grenzlandforschung im Osten aktiv. Außerdem war er Leiter der überregionalen Arbeitsgemeinschaft „Zentrale Orte“ der RAG. Walter Geisler, Welche Struktur und welche Gestaltung sollen die zentralen Orte des Ostens und ihre Einzugsgebiete künftig erhalten?, Leipzig 1941. „Wenn man aufbauen will, muß eine Säuberungsaktion vorausgehen, d.h. es muß vernichtet und ausgemerzt werden, was nicht in den neuen Plan hineinpaßt oder sich ihm widersetzt. [...] Es gilt [...], die Unkultur aus dem Raum zu vernichten [...] Es ist hier nichts weiter zu machen, als alles niederzureißen und neu aufzubauen.“ So sah Geisler seine und die Aufgaben seiner Mitarbeiter in Polen. Walter Geisler, Der deutsche Osten als Lebensraum für alle Berufsstände, Berlin 1942, S. 12. Rössler (1990, S. 108); Gutberger (1996, S. 433 ff.). Rössler (1990, S. 100 f.); Böhm (2003, S. 60 f.). Die Leitung der Marine-Geographie (Mar-Geo) unterstand dem Ozeanographen Prof. Dr. Georg Wüst (1890-1977), der zwischen 1923 und 1928 Generalsekretär der Gesellschaft für Geographie zu Berlin war. Julius Büdel und B. Schwarz, Atlas der Eisverhältnisse in den russischen Küsten und Binnengewässern; dies., Atlas der Eisverhältnisse im Nordatlantischen Ozean; erwähnt in einem Schreiben von Julius Büdel an Carl Troll vom 28. 3. 1941, Archiv Geogr. Inst. Bonn, NL Troll 303.
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sern durch oder erarbeiteten beim Oberkommando des Heeres thematische Karten sowie landeskundliche Kurzbeschreibungen. Hinzu kamen, allerdings erst in den letzten Kriegsjahren, Aufforderungen des Oberkommandos der Wehrmacht zur Mitarbeit an den Sammelbänden der „Soldatenbriefe zur Berufsförderung“, die insbesondere für junge Studenten und studiumswillige Abiturienten gedacht waren.74 Zu dem in der NS-Zeit immer komplexer werdenden Zusammenhang von geographischer Wissenschaft, Forschungsorganisation, Wissenschafts- und Forschungspolitik gehört auch die Beteiligung an Projekten der Forschungs- und Lehrgemeinschaft „Das Ahnenerbe“ der SS.75 Nach bisherigen Kenntnissen scheint die Einbindung des Faches bzw. einzelner Fachvertreter im Vergleich zu anderen Disziplinen gering gewesen zu sein. Aufmerksamkeit erlangte in der Geographie das vom Präsidenten des „Ahnenerbes“, Walther Wüst, 1938 ausgeschriebene Forschungswerk „Wald und Baum in der arisch-germanischen Geistes- und Kulturgeschichte“.76 Von den zur Bearbeitung verbindlich vorgegebenen 42 Themen übernahmen Geographen u.a. die Themen: „Die deutschen Rennsteige (die Wege durch die Grenzwälder und Reichsforsten)“ und „Die germanischen Grenzwälder“. Die „Allgemeinen Richtlinien“ wiesen die Mitarbeiter nachdrücklich darauf hin, „dass es sich in keinem Fall um eine bloss biologische oder botanische oder zoologische Arbeit handeln kann“, sondern das „gemeinsame Ziel“ in der „arisch-germanischen Geistes- und Kulturgeschichte“ gesehen werden müsse.77 Damit war das Ergebnis nahezu schon vorgegeben. Mit der Übernahme eines Themas war ein monatliches Stipendium, aber keine Eingliederung in das „Ahnenerbe“ verbunden. Im Konglomerat der bis 1938 überwiegend kulturwissenschaftlichen, später vermehrt auch naturwissenschaftlichen Disziplinen und Fachrichtungen des „Ahnenerbes“ hat die Geographie nie eine nennenswerte Bedeutung erlangt oder angestrebt; auch nicht durch den 1940 in München eingeleiteten Aufbau der Großabteilung „Innerasienforschung und Expeditionen“ unter der Leitung des SS-Untersturmführers und Ornithologen Ernst Schäfer. Auf Betreiben der Münchener Geographie verlieh die Universität 1943 anlässlich ihrer 470-Jahrfeier die Ehrendoktorwürde an den schwedischen Asienforscher und „Deutschfreund“ Sven Hedin.78 Mit großem Pomp wurde gleichzeitig das „Hedin-Institut für Innerasien und Expeditionen“ feierlich eröffnet. Dieses firmierte zwar weiterhin unter Schäfers Leitung als Abteilung des „Ahnenerbes“, war nun aber der Universität lose angegliedert und erhielt fest etatisierte Planstellen vom Reichserziehungsministerium. Die NS-Propaganda nutzte diese Ereignisse zur öffentlichen Prä74
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Für einen mit einem Umfang von 250 Seiten geplanten Band „Länderkunde und Raumpolitik“ nannte das OKW folgende inhaltliche Vorgaben: „Die Abteilung Länderkunde könnte dann aus einer Reihe von guten länderkundlichen Schilderungen verschiedenster Art, angefangen mit einer klassischen Reiseschilderung des Altertums und Mittelalters bis zu Richthofen, Hettner, Passarge, Spethmann, Volz, Maull u.a. und den gelungensten Versuchen ganzheitlicher Länderkunde aufgebaut werden. In einem Schlußabschnitt wären dann die Unterschiede der verschiedenen Darstellungsmethoden, der Begriff der Länderkunde und ihre Forderungen an den Geographen als Länderkundler zu verarbeiten. In ähnlicher Weise wäre der Abschnitt über Raumpolitik [...] aufzubauen [...]“ Schreiben OKW an Carl Troll 3. 3. 1944, Archiv Geogr. Inst. Bonn, NL Troll 291. Michael H. Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS 1935-1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, Stuttgart 1974. Bernd A. Rusinek, »Wald und Baum in der arisch-germanischen Geistes- und Kulturgeschichte«« – Ein Forschungsprojekt des „Ahnenerbe“ der SS von 1937 bis 1945, in: Albrecht Lehmann und Klaus Schriewer (Hg.), Der Wald – ein deutscher Mythos? Perspektiven eines Kulturthemas, Berlin, Hamburg 2000, S. 267-363. Walther Wüst, „An die Herren Rektoren der deutschen Universitäten ...“, April 1938, Archiv Geogr. Inst. Bonn, NL Troll 300; Rössler (1990, S. 82); Kater (1974, S. 76 f.); ein Beitrag der Geographie war auch eine „Waldkarte von Deutschland“, Kater (1974, S. 198) sowie Rusinek (2000, S. 313, S. 359); der Arbeitsbereich „Wald und Baum“ wurde 1943 der „Aktion Ritterbusch“ unterstellt, Rusinek (2000, S. 330, Anm. 221). Astrid Mehmel, Sven Hedin und die nationalsozialistische Expansionspolitik, in: Irene Diekmann, Peter Krüger und Julius H. Schoeps (Hg.), Geopolitik. Grenzgänge im Zeitgeist, Potsdam 2000, S. 189-236; Kater (1974, S. 213).
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sentation eines weiteren Blattes des Hedinschen Zentral-Asien-Atlasses, der seit 1938 mit erheblichem, finanziellem Aufwand der DFG und des Reichswirtschaftsministeriums publiziert wurde. Das Erscheinen bedeutete eine „Großtat der Wissenschaft im Krieg“ und die Dokumentation einer zumindest virtuellen Präsenz Großdeutschlands am „Dach der Welt“, d.h. im Machtbereich der Engländer. Die Funktion der Geographie als herrschaftsstabilisierende Disziplin wurde nirgendwo öffentlicher als bei dieser Gelegenheit. Opportunistisch engagierte sich die Mehrzahl der Fachvertreter überall dort, wo sie eine Verwirklichung ihrer wissenschaftlichen und persönlichen Ziele erwartete. An der Jahreswende 1940/41 war der größte Teil des wissenschaftlichen Potentials der Geographie bereits von den verschiedenen Partei-, Regierungs- und Militärdienststellen79 abgeschöpft worden. Daher bedurfte es 1941 nur geringer Anstrengungen, den noch verbleibenden „zivilen“ Teil der Geographie in der neu gegründeten zentralen Organisation der „Deutschen Geographischen Gesellschaft“ unter Leitung des Vorsitzenden des Deutschen Geographentages, Oskar Schmieder, nach dem „Führerprinzip“ zusammenzufassen.80 An der die Neugründung beschließenden Sitzung (7. 7. 1941) nahmen in den Räumen der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin neben dem Vorsitzenden, Exzellenz SchmidtOtt, der Vorsitzende des Deutschen Geographentages und der „Forschungsgemeinschaft Deutscher Geographen“, Oskar Schmieder, Vertreter der Geographischen Gesellschaften, des Reichserziehungsministeriums, des Auswärtigen Amtes und der Marine teil. Die konstituierende Sitzung folgte am 23. 7. 1941 und der endgültige Satzungsbeschluss am 9. 12. 1941. Rückblickend begründete Schmieder die Neugründung: „Nicht nur die Kriegsführung, sondern auch alle Pläne politischer und wirtschaftlicher Neuordnung müssen auf klarer geographischer Erkenntnis beruhen, wenn ihnen Erfolg beschert sein soll. Leider fanden die führenden Stellen bei Ausbruch des Krieges keine zentrale Vertretung der deutschen Geographie, die den großen Wissensschatz, über den die deutschen Fachgenossen, die Institute, Gesellschaften usw. verfügen, in den Dienst unserer Sache stellen konnten. [...] [Es zeigte sich], daß gerade diese Kriegszeit mit ihrer besonders hohen Wertung geographischer Erkenntnis die organisatorische Entwicklung der deutschen Geographie auf die Gründung einer Deutschen Geographischen Gesellschaft hindrängte [...]“81
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U.a. Generalstab der Luftwaffe, Milgeo, Margeo, Geographischer Dienst des Auswärtigen Amtes, Kolonialpolitisches Amt der NSDAP. Böhm (2003, S. 56 f.); E.M. [= Emil Meynen oder Erwin Mai], Gründung der „Deutschen Geographischen Gesellschaft“, in: Raumforschung und Raumordnung 5, 1941, S. 347; [Oskar] Schmieder, Kleine Mitteilungen. Zur Gründung der Deutschen Geographischen Gesellschaft, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 1941, S. 328-330; Bruno Schelhaas, Institutionenbildung in der NS-Zeit, Manuskript 1997. Oskar Schmieder, Mitteilungen der Deutschen Geographischen Gesellschaft, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, 1943, S. 385-391, hier S. 385.
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4. „Aktion Ritterbusch” – Eine Möglichkeit, Regierungsstellen auf das Potenzial des Faches aufmerksam zu machen Eine auch für die Geographie in der NS-Zeit typische Einordnung in ideologiekonforme Forschungsprojekte ergab sich ab 1940 durch die Beteiligung am „Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaften“ („Aktion Ritterbusch“)82 unter der Leitung des Juristen und Kieler Rektors Paul Ritterbusch, dem damaligen Obmann der 1936 gegründeten Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung (RAG), die bereits an vielen Hochschulen Arbeitsgemeinschaften unter Beteiligung von Geographen unterhielt.83 Bereits kurz nach dem Überfall auf Polen veröffentlichte Ritterbusch seine Ansichten über die „Aufgabe der Wissenschaft im Kampf um eine neue europäische Ordnung“.84 In diesem Aufsatz betonte er, gegenwärtig stehe die „europäische Kultur“ bei der Suche nach einer „neuen Weltordnung“ an einem „Wendepunkt“, der „als eine geistige Auseinandersetzung gewertet werden“ müsse. Daraus ergebe sich „ein grundsätzlich neues Verhältnis von Politik und Wissenschaft“. Wissenschaft müsse sich nunmehr der Aufgabe annehmen, „Volk, Staat und Raum zu dienen“, d.h. an der „konstruktiven Neugestaltung“ der Weltordnung aktiv mitzuwirken. Es gehe darum, die „totale Schau zu vermitteln und vom Menschen ausgehend, zugleich die natürlichen Voraussetzungen in Rechnung zu stellen“. Lösungen hierfür könnten aber von einem Spezialgebiet allein nicht mehr gefunden werden.85 Damit hatte er den groben Rahmen und wesentliche Schlagworte für ein primär ideologisch gesteuertes Projekt geliefert, das ihm offiziell erst am 3. 2. 1940 vom Reichserziehungsminister übertragen wurde. Die Finanzierung des euphemistisch „Gemeinschaftswerk“ bezeichneten „Kriegseinsatzes der Deutschen Geisteswissenschaften“ übernahm die DFG bzw. der Reichsforschungsrat. Der Ende April 1940 zum „Spartenleiter“ für Geographie bestimmte Kieler Ordinarius Oskar Schmieder lud seine Fachkollegen Anfang Juni zu einer koordinierenden Arbeitstagung nach Kiel ein. In seinem Einladungsschreiben heißt es u.a.: „[…] Ein großer Teil der Geographen ist an verschiedenen Stellen eingesetzt worden. Es scheint mir jedoch, dass wir uns nicht nur persönlich da, wo man uns braucht, zur Verfügung stellen, sondern auch geschlossen aus unserem besonderen Kenntnisschatz heraus zu den Fragen der Zeit Stellung nehmen sollen. Für uns handelt es sich dabei natürlich in 1. Linie um die geographischen Grundlagen der Neuordnung Europas und des ihm von der Natur aus zugewiesenen afrikanischen Ergänzungskontinentes. Alle diejenigen Geographen, die auf Grund ihrer besonderen Forschungsarbeit dazu in der Lage sind, sollten helfen, die dringenden Fragen, die
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Frank-Rutger Hausmann, »Deutsche Geisteswissenschaft« im Zweiten Weltkrieg. Die »Aktion Ritterbusch« (1940-1945), Dresden, München 1998; ders., Der »Kriegseinsatz« der Deutschen Geisteswissenschaften im Zweiten Weltkrieg (1940-1945), in: W. Schulze und O. G. Oexle (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt 1999, S. 63-86. Zu Münster vgl. Fahlbusch (1989, S. 248 f.); zu Freiburg Rössler (1989, S. 112 f.); zu Aachen Thomas Müller, >Ausgangsstellung zum AngriffWestforschung< der Technischen Hochschule Aachen, in: Burkhard Dietz, Helmut Gabel und Ulrich Tiedau (Hg.), Griff nach dem Westen. Die ‚Westforschung‘ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919-1960), Münster 2003, S. 819-850; zu Leipzig Ulrich Heß, Landes- und Raumforschung in der Zeit des Nationalsozialismus. Die Leipziger Hochschularbeitsgemeinschaften für Raumforschung (1936-1945/46), in: Werner Bramke und Ulrich Heß (Hg.), Region und Regionalität in der Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1995, S. 57-69. Paul Ritterbusch, Die Aufgabe der Wissenschaft im Kampf um eine neue europäische Ordnung, in: Raumforschung und Raumordnung 3, 1939, S. 489-493. Ritterbusch (1939, S. 493).
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mit der Neuaufteilung der Lebensräume der europäischen Völker verbunden sind, durch wissenschaftliche Beiträge zu klären.“86 Mit diesem Schreiben waren schon entscheidende Vorgaben gemacht: 1. war mit „Lebensräume der europäischen Völker“ ultimativ das Rahmenthema gesetzt; 2. wurde das seitens der Auftraggeber vornehmlich auf Westeuropa zu konzentrierende „Gemeinschaftswerk“ bereits in der konzeptionellen Phase auf einen „Ergänzungsraum“ erweitert; und 3. zeigte der Verfasser indirekt an, dass er die „Führungskompetenz“ wahrnehme und ein Abseitsstehen einzelner Kollegen nur ausnahmsweise toleriert werden könne, um das Potential des Faches voll auszuschöpfen. Die autoritäre Diktion des Rundschreibens rief u.a. den Widerspruch des Bonner Ordinarius Carl Troll hervor, der den geforderten „Gemeinschaftssinn“ ablehnte, letztlich aber, „um des lieben Friedens willen“, sich doch zur Mitarbeit in der „kolonialen Gruppe“ bereit erklärte und Beiträge mit den Themen „Betriebsformen der Kolonialwirtschaft in Afrika“, „Die klimatischen Räume der südamerikanischen Anden“ und „Ökologische Methoden kolonialer Planung“ zusagte, die von ihm jedoch nie an die Herausgeber übermittelt wurden.87 Er bescheinigte der ganzen Aktion nur einen geringen Nutzen, weil es sich lediglich um das „Aufwärmen bereits erzielter Forschungsergebnisse“ handele und die Weiterführung laufender, praxisorientierter Forschungsprojekte notgedrungen behindert bzw. unmöglich gemacht würde.88 Außerdem riet er seinen Kollegen, nicht zu übersehen, dass Fragen der Neuordnung Europas von Partei-, Regierungs- und Wehrmachtsdienststellen bereits effektiver in Verbindung mit der Auslandswissenschaftlichen Fakultät in Berlin und dem Bonner Institut für geschichtliche Landeskunde bearbeitet würden.89 Angesichts der Intention, mit dem „Gemeinschaftswerk“ die Überlegenheit der deutschen Wissenschaft zu dokumentieren, äußerte Troll aufgrund seiner Erfahrungen bei der im Auftrag des Auswärtigen Amtes und der Deutschen Akademie im Frühjahr 1940 durchgeführten Vortragsreise durch südosteuropäische Länder Bedenken gegenüber dem Titel „Lebensraumfragen“, da das Wort „Lebensraum“ in den bereisten Ländern in einem sehr schlechten Ruf stehe. Ungeachtet dieser und ähnlicher Vorbehalte verständigte man sich innerhalb der Geographie auf Betreiben von Schmieder, Ritterbusch, Dietzel, Credner, Hassinger und Schmitthenner während der Arbeitstagungen in Kiel (21.-23. 6. 1940), Leipzig (19.-21.7. 1940), Wien (28.-29.9. 1940) und Prag (24.-26.3. 1941) auf ein sechsbändiges Sammelwerk als Beitrag des Faches zum Einsatz der Geisteswissenschaften im Krieg. Vorgesehen waren folgende Bände: Lebensraumfragen europäischer Völker, Band I: Europa, Band II: Europas koloniale Ergänzungsräume; Die geographischen Grundlagen der Neuordnung des Fernen Ostens; Gegenwartsprobleme der Neuen Welt, Teil I: Nordamerika, Teil II: Süd-
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Böhm (2003, S. 48); versehentlich wurde hier auf S. 49 für die erste Arbeitssitzung der Geographen in Kiel ein falsches Datum angegeben (21.-23. 4. statt richtig 21.–23. 6.). Die vorgesehenen Titel werden in dem Schriftwechsel Trolls mit den Herausgebern bzw. „Betreuern“ einzelner Sachgebiete genannt; C. Troll an W. Credner 26. 12. 1940; C. Troll an H. v. Wissmann ? 3. 1941; K.-H. Dietzel an C. Troll 25. 6. 1942, Archiv Geogr. Inst. Bonn, NL Troll 304, 335, 306. Der letztgenannte Beitrag erschien nicht in dem Lebensraumwerk, sondern mit geringfügig verändertem Titel in der vom Leiter der Kolonialwissenschaftlichen Abteilung im Reichsforschungsrat, Günter Wolff, herausgegebenen „Konkurrenzreihe“: Carl Troll, Die wissenschaftliche Luftbildforschung als Wegbereiterin kolonialer Erschließung, in: Günter Wolff (Hg.), Beiträge zur Kolonialforschung 1, Berlin 1942, S. 1-29. Schon 1934 plädierte Troll für die Umsetzung wissenschaftlicher Ergebnisse der Geographie in den Kontext der sich entwickelnden Raumforschung und Raumordnung; Böhm (1995, S. 132). Böhm (2003, S. 48); mit dem Hinweis auf die Auslandswissenschaftliche Fakultät ließ Troll erkennen, dass ihm die „Doppelfunktion“ des SS-Führers Franz Alfred Six und die Arbeiten in Schneidemühl nicht unbekannt waren; vgl. hierzu: Lutz Hachmeister, Der Gegenforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München 1998; vgl. auch Hausmann (1998, S. 289).
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amerika; Gegenwartsprobleme des Orient90 und ein letzter Band, „der grundlegende geographische Fragen des großdeutschen Raumes“91 behandeln sollte.92 In Ritterbuschs Urteil verkörperte dieser Gesamtplan der deutschen Geographie „am besten die weitgreifende, den Problemen der Gegenwart dienende Arbeit der deutschen Wissenschaft“.93 Die Herausgeber betonten im ersten Band, dass die gesamteuropäische Ordnung eine politische Aufgabe sei, deren „erkenntnismäßige Voraussetzungen“ auf Ergebnissen der geographischen Forschung basierten. Gemeint war damit das „geographisch faßbare Problem“ des „schreienden Mißverhältnis zwischen den Völkern und ihren Lebensräumen“.94 Vor allen anderen Wissenschaften sollte die Geographie des „Kernvolkes“ eine diesbezüglich wissenschaftlich fundierte neue Weltordnung begründen. Ganz in diesem Sinne konstatierte Schmitthenner, das Schwergewicht von Kapital, Handel, Wirtschaft und Politik müsse sich aus dem globalen, britisch dominierten System herauslösen und „wieder in die Mitte des Erdteils“ zurückkehren. Der in diesem Argumentationszusammenhang geforderte Abschied von der „Weltwirtschaft“ und der „weltumspannenden Herrschaft des Kapitalismus“ hin zu einer „völkischen Wirtschaft“ lief wie bei anderen Autoren darauf hinaus, „Europa und den ihm von Natur zugewiesenen tropischen Ergänzungsraum in Afrika fest und planvoll aneinander [zu] binden“. Hintergrundideologie war die Vorstellung, dass „jedem gesunden Volke“ ein „Streben nach Ausdehnung [...] immanent“ sei. Dieses sozialdarwinistische Weltbild enthält die Alternative von „Wachstum und Untergang“ sowie die Vorstellung von „aktiven und passiven Räumen“, d.h. von Ländern, die sich ausweiten und den anderen, die an- bzw. eingegliedert werden. Im „Kampf der Völker und Kulturen“ habe nur ein „abendländischer Großraum“ unter deutscher Führung Zukunft.95 Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges bemühte sich die geographische Kriegszielanalyse darum, die Unnatürlichkeit des „hybriden Polen als jüdisch-britisches Werkzeug“ herauszustellen und damit die Beseitigung der britischen Weltherrschaft als Naturrecht bzw. Naturpflicht nachzuweisen. Kurzfristig forderte man im Einklang mit der offiziellen Politik eine Arrondierung der deutschen Ostgrenze als „volkspolitische Flurbereinigung“, längerfristig eine kulturelle Missionierung Osteuropas und die Schaffung eines eurasischen Imperiums. Es war nicht nur die Meinung Haushofers, dass die „Auferstehung des Abendlandes“ nur durch die „Wiedergeburt Europas aus seiner Mitte“ heraus erfolgen könne.96 Mit dem Kriegsver90
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Für diesen Band hatte Hans Bobek einen Aufsatz über „Landschaft und Gesellschaft im Orient“ eingereicht, der offensichtlich eine Zusammenfassung der im Krieg konzipierten, aber nie erschienenen Studie „Der Orient als Soziallandschaft“ war. Mit zeitbedingten Änderungen wurde der Inhalt des Aufsatzes unter dem Titel „Soziale Raumbildungen am Beispiel des Vorderen Orient“ 1948 auf dem Deutschen Geographentag in München vorgetragen. Vgl. hierzu: Wolfgang Hartke, Der Weg zur Sozialgeographie. Der wissenschaftliche Lebensweg von Professor Dr. Hans Bobek, in: Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft 105, 1963, S. 5-22, besonders S. 13; Böhm (2003, S. 47, Anm. 166). Heinrich Schmitthenner, Geographische Arbeitstagung in Prag, in: Geographische Zeitschrift 47, 1941, S. 187-190, hier S. 187/188. Für den Band über „Fragen des großdeutschen Raumes“ war ein Aufsatz über Umsiedlungen zwischen Ungarn und Rumänien und Rumänien und Bulgarien von J. H. Schultze vorgesehen, vgl. Böhm (2003, S. 49, Anm. 171). Erschienen sind die folgenden drei Bände: Karl Heinz Dietzel, Oskar Schmieder und Heinrich Schmitthenner (Hg.), Lebensraumfragen europäischer Völker. Band I: Europa, Leipzig 1941(a); dies. (Hg.), Lebensraumfragen europäischer Völker. Band II: Europas koloniale Ergänzungsräume, Leipzig 1941(b); Oskar Schmieder (Hg.), Gegenwartsprobleme der Neuen Welt. Teil I: Nordamerika, Leipzig 1943; eine Zusammenstellung aller Einzelbeiträge findet sich bei Hausmann (1998, S. 112-114). Dietzel u.a. (Hg.) (1941(a), S. 9). Dietzel u.a. (Hg.) (1941(a), S. III/IV). Heinrich Schmitthenner, Lebensräume im Kampf der Völker und Kulturen, in: Dietzel u.a. (Hg.) (1941(a), S. 33-57) zitiert und interpretiert in Anlehnung an Schultz (1989b, S. 64). Vgl. Kost (1988, S. 166/167).
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lauf sah man die britische durch die amerikanische Seeherrschaft ersetzt, die im Verbund mit der Sowjetunion der „Schicksalsgemeinschaft des Abendlandes“ entgegenwirke. „Die von den Geographen zu Beginn des 20. Jahrhunderts geforderte subjektive Parteinahme der Wissenschaft im Sinne angewandter Kriegswissenschaft steigert[e] sich zu einer nicht beabsichtigten Ausrichtung der Geographie auf theoretische Prämissen und praktische Verwertungsziele der nationalsozialistischen Militär- und Kriegspolitik.“97 Spätestens auf der Buch- und Dokumentationsschau „Deutsche Wissenschaft im Kampf um Reich und Lebensraum“ im Dezember 1941 wurde in Berlin öffentlich, wie verknüpft der „Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften“ mit anderen Institutionen war, die auch als Berater der politischen Führung praktische Dienste leisteten. Verdeutlichend für die Heuristik eines Gemeinschaftswerks heißt es in einem Bericht über die Ausstellung am Beispiel der Raumforschung: „[...] Der Ausgangspunkt der Arbeit wird durch Forschungsprogramm und Forschungsantrag versinnbildlicht, Pläne zeigen die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Verwaltung auf zentralem und regionalem Gebiet. Zwischenergebnisse bilden Aufsätze und Arbeiten, die zu diesem Thema erschienen sind, und Beispiele der soziographischen Karten [...] Den Abschluss bildet die im Druck befindliche Arbeit über die Ergebnisse der Untersuchung im Rheinland: ‚Raumordnung durch landwirtschaftliche Umsiedlung‘.“98 Nahezu gleichzeitig berichtete Günter Wolff über die erste Gutachtertagung der Kolonialwissenschaftlichen Abteilung des Reichsforschungsrates, auf der sich Reichsleiter General v. Epp und Reichserziehungsminister Rust davon überzeugen konnten, dass „der Aufbau der deutschen Kolonialforschung in seinen Grundzügen als abgeschlossen gelten kann“ und „die praktische Arbeit in vollem Gang ist“. Mit einem Gesamtwert von RM 582.000 waren 1940/41 insgesamt 240 Forschungsaufträge bewilligt worden, und für weitere Anträge standen ausreichende Mittel zur Verfügung. Mit diesen sollten auch die Geisteswissenschaften gefördert werden, „denen ja gerade auf kolonialem Gebiet eine ähnliche Bedeutung zukommt, wie den übrigen Fachgebieten“.99 Die Kolonialwissenschaftliche Abteilung war 1940 auf Betreiben des Kolonialpolitischen Amtes der NSDAP mit 28 Fachgruppen und zwei Ausschüssen zur Förderung „kriegswichtiger Forschungen“ im Reichsforschungsrat gegründet worden. Damit hatte das Reichserziehungsministerium, dem der Reichsforschungsrat und die DFG unterstanden, einen klaren Sieg unter den rivalisierenden Ministerien errungen, der jedoch zu Lasten von Ritterbusch und des Gemeinschaftswerkes ging, da der Kolonialforschung eine übergreifende Stellung zugebilligt wurde.100 Daher war es in den Augen von Ritterbusch und Schmieder für das Gemeinschaftswerk von geradezu „existenzieller“ Bedeutung zu verhindern, dass die Leitung der Fachgruppe „Geographie und Landeskunde“ dem Bonner Geographen Carl Troll übertragen wurde. Stattdessen plädierten sie für den Leipziger Geographen Karl Heinz Dietzel, der maßgeblich am „Lebensraumwerk“ beteiligt war. Der 97 98
Kost (1988, S. 189). E.M. [= Emil Meynen oder Erwin Mai], „Deutsche Wissenschaft im Kampf um Reich und Lebensraum“, in: Raumforschung und Raumordnung 5, 1941, S. 413-414, hier S. 414. 99 Günter Wolff, Reichsforschungsrat und Kolonialforschung, in: Afrika Rundschau 7, 1941, S. 132-135, hier S. 134. Neben Rust, v. Epp und 30 Fachgruppenvertretern nahmen an dieser Sitzung Rudolf Mentzel, Vertreter des AA, des Propagandaministeriums, des OKW, des RSHA, des „Ahnenerbes“ (Schäfer) sowie Vertreter der Auslandsorganisation der NSDAP teil (Niederschrift über die 1. Gutachter-Tagung; Archiv. Geogr. Inst. Bonn, NL Troll 156). 100 Hausmann (1998, S. 274).
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„Kolonial-kartographische Ausschuss“, der sich schon im April 1941 wieder auflöste, wurde dem Frankfurter Geographen Walter Behrmann, der „Expeditions-Ausschuss“ Carl Troll übertragen. Letzterer befürwortete gegenüber dem Reichsforschungsrat einen planmäßigen Großeinsatz der deutschen Wissenschaft nicht nur im Osten, sondern auch auf afrikanischem Boden durch systematische Kopplung bzw. generalstabsmäßigen Einsatz von Luftbild und terrestrischer Forschung.101 Für viele Geographen waren Explorationen in Afrika Teilaufgaben einer abendländischen Großraumpolitik unter deutscher Hegemonie. Wobei Schmitthenner darauf hinwies, dass Deutschland „nicht mit liberalistischen Anschauungen, sondern mit Ordnungsgedanken nach Afrika“ komme.102 Aus der traditionellen kolonialen Landeskunde wurde eine koloniale Kulturlandschaftsforschung. Die in diesem Kontext entwickelten neuen großraumpolitischen Konzepte fanden ihren Niederschlag im Weltmodell „Eurafrika“.103 „Die Großraumidee verfolgt überall den Plan, die raumpolitische Entwicklung der Menschheit organisch fortschreiten zu lassen und Länderräume verschiedenartiger Naturausstattung zu einem harmonisch auf das Ganze abgestimmten Wirtschaftsblock zusammenzuschweißen. [...] die Menschheit [erstrebt heute] allenthalben das einem organischen Wachstum gemäße Zwischenstadium der kontinentalen Großraumgemeinschaft [...] einen [...] freiwillig und froh bejahten Zusammenschlug zu größerer und stärkerer Lebensform.“104 Letztendlich waren alle Vertreter der Kolonialgeographie von der politischen Verwertbarkeit der anwendungsbezogenen Kolonialforschung überzeugt. Ihnen fehlte nur noch das Experimentier- und Ausbildungsfeld, das ihnen, wie die Mehrzahl glaubte, nach den Erfolgen der Blitzkriege nunmehr in Afrika zustand. „Sie verstanden sich als ‚Krieger der Wissenschaft‘, die den ‚Kriegern der Waffen‘ zu Hilfe kommen.“105 Eine Verklammerung mit den „Ostfragen“ sah man darin, dass der „Osten“ nach Zahl, „Artung“ und „völkischer Substanz“ über genügend volksdeutsche Bevölkerung verfüge, die für eine gezielte Ansiedlung in Afrika tauglich sei. Damit gerate Deutschland auch nicht in die Gefahr, seine „völkischen Kräfte in aller Welt zu verzetteln“.106 Ganz in diesem Sinne hatte Schmieder auf der Afrikatagung des „Gemeinschaftswerkes“ (19.-21.7. 1940) u.a. seine Idee einer Umsiedlung deutscher Siedler von Südamerika nach Afrika vorgestellt. Zu der in diesem Kontext diskutierten und seit den 1920er Jahren virulenten „Mischlingsfrage” bemerkt das Sitzungsprotokoll: „[…] dass eine Rassenmischung [...] aus weltanschaulichen Gründen selbstverständlich abgelehnt wird. Krebs schlägt vor, dass Schmieder einmal das Mischlingsproblem für Südamerika bearbeiten solle, da es für Afrika eine verhältnismässig geringe Rolle spielt. Die Bearbeitung ist auch deshalb wichtig, da die ganze nordamerikanische Anthropologie in diesen Fragen stark jüdisch beeinflusst ist (Schmieder).“ Für den geplanten Band „Europas koloniale Ergänzungsräume” sagte Schmieder einen Beitrag „Das Deutschtum Südamerikas als koloniale Menschenreserve” zu.107 Deutsche Siedler 101 Böhm (1995, S. 135; Organisationsplan: S. 136). 102 Protokoll der Afrikatagung in Leipzig. 19.-21. Juli 1940; Archiv. Geogr. Inst. Bonn, NL Troll 155. 103 Henning Heske, Der Traum von Afrika. Zur politischen Wissenschaftsgeschichte der Kolonialgeographie, in: Ökozid 3, 1978, S. 204-222; Erich Obst, Ostbewegung und afrikanische Kolonisation als Teilaufgaben einer abendländischen Großraumpolitik, in: Zeitschrift für Erdkunde 9, 1941, S. 265-278. 104 Obst (1941, S. 265). 105 Kost (1988, S. 217). 106 Obst (1941, S. 269/270). 107 Protokoll der Afrikatagung (Leipzig. 19.-21. Juli 1940); sowie Sondersitzung „Kolonialforschung“ der RAG, Böhm (2003, S. 51).
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sollten nicht zum „Volksdünger“ afrikanischer Regionen werden. Dieses Argument sprach aus Sicht der Geographie gegen eine von Agronomen propagierte „Massenansiedlung“. Diese sollte aus ideologischen und politischen Gründen nur in Osteuropa erfolgen.108 Entsprechend dem sehr einfachen Bevölkerungsmodell, das nur Eingeborene, „Zwischenwanderer“ und Europäer kannte, war insbesondere für die tropischen und subtropischen Bereiche Afrikas keine Besiedlung im Sinne des europäischen Bauerntums denkbar. Deutsche Siedler könnten nur eine Oberschicht darstellen, die sich der Arbeitskraft der Eingeborenen bedient bzw. bedienen müsse, wollten sie ihre „soziale Stellung und [ihr] Führertum dem Eingeborenen gegenüber auf die Dauer wahren“.109 Die „Herrenrasse“ habe nicht nur das „natürliche Recht“, sondern auch die „Pflicht“ zu herrschen. Die in den 1920er Jahren noch dominierende kolonisatorische Kulturmission mit ihren rassistischen Vorurteilen wandelte sich in den 1930er Jahren in ein „rassistisch definiertes Herren-KnechtVerhältnis“, das sich am nationalsozialistischen Menschenbild orientierte. Das Denken der Kolonialgeographen lässt sich nach Kost110 in folgenden fünf Punkten zusammenfassen: 1. Herren arbeiten nicht; 2. Herrensiedlung und Farmwirtschaft; 3. Rassenreinheit und Rassentrennung; 4. Blutzufuhr aus dem Mutterland; 5. Strenge Behandlung der Eingeborenen. Die Arbeiten am „Lebensraumwerk“ gerieten Anfang 1941 unerwartet unter Druck, nachdem Schmieder den Mitarbeitern mitgeteilt hatte, dass „Herr Reichsminister Rust [...] die beiden ersten Bände des Sammelwerkes der Geographen [...] dem Führer zu seinem Geburtstage zu überreichen“ wünsche.111 Hinzu kam der nicht nur durch Wolff und den Reichsforschungsrat ausgelöste „koloniale Wirbel“,112 der die Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 1941 – nicht ganz ohne Zutun des Bonner Geographen Carl Troll – zu einer Vortragsreihe über „das afrikanische Kolonialproblem“ veranlasst hatte, deren Referate in der Zeitschrift der Gesellschaft in Heft 1 des Jahrgangs 1941 zusammengefasst publiziert wurden. Eröffnet wurde das Themenheft mit dem Beitrag von Troll über „Koloniale Raumplanung in Afrika“, den er bereits, mit geringfügig geändertem Titel, Monate zuvor für den zweiten Band des Lebensraumwerkes vage versprochen hatte.113 In den Augen Schmieders war dies eine „Extratour“, die ohne sein Wissen auf einer Sitzung der Berliner Geographischen Gesellschaft unter Leitung des damaligen Vorsitzenden, Exzellenz Schmidt-Ott, angeregt worden war. Dem Sitzungsprotokoll ist indirekt zu entnehmen, dass die Veranstaltungsreihe nur ein Ablenkungsmanöver darstellte. War doch – „auf Grund gewordener Beauftragung“114 – der eigentliche Grund der Zusammenkunft die Besprechung wissenschaftlicher Probleme, die schon während des Krieges in Angriff genommen werden konnten. Dabei ging es um Interessen der Wehrmacht (u.a. Kriegsmarine) und des Auswärtigen Amtes an „zukunftsweisenden“ Forschungen. Dazu gehörte das Projekt einer auf und durch Luftbildaufnahmen gestützten Expedition nach Afrika sowie der systematische Einsatz der Luftbildforschung bei den vordringlichsten Aufgaben in den Südostländern. Im Gegensatz zu dem Gemeinschaftswerk, in dessen Rahmen laut Schmieder keine neuen Forschungs108 Kum‘a Ndumbe III., Was wollte Hitler in Afrika? NS-Planungen für eine faschistische Neugestaltung Afrikas, Frankfurt 1993, S. 100. 109 Troll (1937, S. 128). 110 Kost (1988, S. 222 ff.). 111 Der Vorsitzende des Deutschen Geographentages, Kiel, den 3. Februar 41, Archiv Geogr. Inst. Bonn. NL Troll 155. 112 Böhm (2003, S. 50). 113 Carl Troll, Koloniale Raumplanung in Afrika, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 1941, S. 1-41; Wiederabdruck in der Reihe „Schulungs- und Rednermaterial der Bundesführung des Reichskolonialbundes“. 114 Der „Auftraggeber“ wird in dem Dokument nicht genannt.
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projekte aufgegriffen werden sollten, handelte es sich hierbei eindeutig um moderne, innovative Forschungsaufgaben. Um ähnliche „Sonderaktionen“ zu unterbinden und seinen Führungsanspruch auf höchster Ebene anzumelden, verkündete Schmieder die Gründung einer „Deutschen Geographischen Gesellschaft“ in Schreiben an Reichsmarschall Göring und das Reichserziehungsministerium.115 Einer breiteren Öffentlichkeit stellte sich die Gesellschaft erstmals durch die internationale Arbeitstagung (Geographentag) der Geographen in Würzburg (17.-19. 3. 1942) vor.116 Als wesentliche Ergebnisse dieser Tagung hob Schmieder in einem „vertraulich” gekennzeichneten Rundschreiben vom 28. 3. 1942 (Poststempel) hervor, dass die 2. Auflage des Sammelwerkes „Lebensraumfragen Europäischer Völker” „zu einer Stellungnahme europäischer Geographen zu den Problemen der Zeit erweitert werden” könne, den ausländischen Kollegen „die Lösung der Deutschen Geographie von der Internationalen Union mitgeteilt” worden sei und „die notwendigen Schritte zur Bildung des Präsidiums eines neuen freien Internationalen Geographenkongresses” eingeleitet seien.117 1943 folgte die Mitteilung, dass die 1941 erschienenen beiden ersten Bände des Lebensraumwerkes bereits vergriffen seien und die somit notwendig gewordene zweite Auflage stark erweitert als eine „Stellungnahme europäischer Geographen zu den Fragen der Zeit“ schon im Druck sei. Außerdem stehe das zweibändige Werk „Gegenwartsprobleme der Neuen Welt“ ebenfalls vor dem Erscheinen. Zwei Bände, die den Orient behandelten, seien bereits weit gefördert.118 Der Band „Europas koloniale Ergänzungsräume“ sollte bei seiner Neuauflage 115 Böhm (2003, S. 56 f.). 116 Die Arbeitstagung war keine Tagung des „Gemeinschaftswerkes“, wie man der Anm. 187 bei Hausmann (1998, S. 164) entnehmen könnte, daher wurden die „Sitzungsberichte“ auch nicht in die Reihe „Lebensraumfragen europäischer Völker“ aufgenommen. 117 Archiv Geogr. Inst. Bonn, NL Troll 151; sowie H. Praesent, Die Arbeitstagung europäischer Geographen in Würzburg, in: Geographische Zeitschrift 48, 1942, S. 177-185. 118 Schmieder (1943, S. 386); der Inhalt des Orientwerkes erschließt sich aus einer Mitteilung Hermann v. Wissmanns an Carl Troll vom 1. 4. 1942 (Archiv Geogr. Inst. Bonn, NL Troll 335) wie folgt: Der Orient als Lebensraum [hg. von Hermann von Wissmann, Stand der Themen 1. 4. 1942] Troll ? (Die Trockenzone der Alten Welt und ihre Randgebiete als Lebensraum, oder Wüste und Steppe als Lebensraum; Vorschläge H. v. Wissmann) R. Gradmann - Blüte und Niedergang des Orient in geographischer Beleuchtung H. Bobek - Der Orient als Einflussraum Europas [Landschaft und Gesellschaft im Orient] A. Herrmann - Die Beziehungen Vorderasiens zu Ostasien – K. Haushofer - Der Indische Ozean als Kultur- und Wirtschaftsvermittler des Orients – R. Hartmann - Islam und Nationalismus im Orient T. Krüger - Kraftstoffprobleme im Orient H. Winz - Minderheitenprobleme in Vorderasien – H. v. Wissmann - Arabien und seine kolonialen Ausstrahlungen C. Rathjens - Die wirtschaftlichen und politischen Grundlagen des Pilgerverkehrs in Sa‘udisch Arabien R. Hartmann - Das Beduinentum Nord- und Zentral-Arabiens (H. v. Wissmann - Yemen - Hadramaut, das südwestarabische Bauernland (?)) W. Lorch - Die Templersiedlungen in Palästina S. Passarge - Kulturelle Wandlungen Aegyptens innerhalb der letzten 50 Jahre Morandini - Der Wasserhaushalt des Nils Troll ? (Abessinien; Vorschlag H. v. Wissmann) E. Littmann - Sprachliche Gliederung und völkische Schichtung in Abessinien W. Behrmann - Die Sahara als Verkehrsland zwischen Nord- und Mittel-Afrika – H. Kanter - Der Fezzan als Beispiel eines innersaharischen Beckens O. Schmieder - Die Neubesiedlung antiken Kulturraumes in Tunis und Tripolis – F. Jäger - Die Wirtschaftszonen Algeriens – J. E. Schwengner - Marokkos Bedeutung - Eine wirtschaftsgeographische Betrachtung Quelle - Der Einfluss der Araber auf die Kulturlandschaft Spaniens und Portugals H. Louis - Anatoliens Stellung am Rande des Orients H. Schrepfer - Bursa - Istanbul - Ankara
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auf „Afrika als den unserem Kontinent von Natur zugewiesenen kolonialen Ergänzungsraum“ beschränkt und erweitert werden.119 In diesen Mitteilungen war der Hinweis eingeschlossen, dass Verzögerungen infolge des Militäreinsatzes jüngerer Kollegen eingetreten seien. Beklagt wurden von vielen Mitarbeitern die „ganz unzeitgemäße Hetze“, mit der das Lebensraumwerk durchgepeitscht wurde sowie die „überstürzte Wissenschaftsorganisation“ „höherer Stellen“.120 Erschwerend kamen wachsende Eingriffe der Zensur hinzu, die dazu führten, dass Autoren ihre Beiträge zurückzogen und dadurch die ursprüngliche „systematische Planung“ des Sammelwerkes kaum noch erkennbar war, weil Aufsätze hinzugenommen wurden, die eigentlich nicht vorgesehen waren.121 Mit der zweiten Auflage, die seitens der Herausgeberschaft, aber auch der Mitarbeiter auf eine „mehr internationale Basis“ gestellt werden sollte, hoffte man, wieder „mehr Systematik“ in der Auswahl der Beiträge zu erreichen.122 Aber dazu kam es nicht mehr, weil das Interesse an dem Gemeinschaftswerk bei Partei- und Regierungsstellen nachließ und dementsprechend Druckkostenzuschüsse sowie Papierbewilligungen ausblieben. Die Rezensionen der bis 1943 erschienenen Bände des Lebensraumwerkes in wissenschaftlichen oder kulturpolitischen Zeitschriften waren meist Selbstanzeigen der Herausgeber oder stammten von Autoren des Gemeinschaftswerkes. Sie waren in der Regel referierend und enthielten sich – wie im Besprechungswesen der NS-Zeit nicht selten – jeglicher Wertung. Typisch ist das abschließende Votum in einer Rezension des Mitautors Hugo Hassinger: „Das reichhaltige Sammelwerk erfüllt zweifellos seinen Zweck, aus geographischem Gesichtswinkel heraus europäische Lebensraumfragen zu betrachten und praktische Anregungen zu ihrer Lösung zu geben. Es darf als eine Leistungsprobe der ihrer nationalen und europäischen Verantwortung bewußten deutschen Geographenschaft gelten.“123 5. Schulgeographie und Erdkundeunterricht „Die Geschichte des Erdkundeunterrichts im Nationalsozialismus [begann] mit dem Versuch der Schulgeographen, ihr Fach durch die verstärkte Einbeziehung politischgeographischer Inhalte und einer Ausrichtung an der NS-Ideologie aufzuwerten und neu zu legitimieren.“124 Seit Mitte der 1920er Jahre hatte die Schulgeographie in ihren Bildungszielen bereits grundlegende Komponenten des späteren nationalsozialistischen Erdkundeunterrichts in Motivform angelegt. Dies galt für die Hervorhebung der Heimatkunde
119 120 121 122 123 124
E. Oberhummer - Die Meerengen F. Täschner - Die Entwicklung des Wegenetzes und des Verkehrs in Anatolien in türkischer Zeit N. Creutzburg - Kreta zwischen Europa und Vorderasien E. Oberhummer - Cypern H. Wenzel - Landwirtschaftsräume Irans F. Machatschek - Die natürlichen Siedlungsgrundlagen Westturkestans Die – Manuskripte sind abgeliefert. Die meisten in Bälde zugesagt. Der Fahnendruck beginnt Mitte April, zieht sich aber erfahrungsgemäss mehrere Monate hin. Es ist also noch Zeit da. Evt. 2 Bände.“ Oskar Schmieder, Vorwort, in: Oskar Schmieder (Hg.) (1943, S. XI). C. Troll an H. v. Wissmann 5. 5. 1942; ähnlich Schreiben vom 22. 5. 1941, Archiv Geogr. Inst. Bonn, NL Troll 335. K. H. Dietzel an C. Troll 9. 2. 1942, Archiv Geogr. Inst. Bonn, NL Troll 306. K. H. Dietzel an C. Troll 26. 6. 1942, Archiv Geogr. Inst. Bonn, NL Troll 306. Rezension in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, 1943, S. 78-80. Heske (1988, S. 251).
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gegenüber der Länderkunde ebenso wie für die Beschäftigung mit dem Grenz- und Auslanddeutschtum, dem kolonialen Gedanken und ansatzweise auch für die Rassenkunde. „Die preußischen Richtlinien für die Höhere Schule sprachen bereits explizit vom ‚Lebensraum‘ der Völker und forderten die Weckung der ‚Liebe zu Scholle, Heimat und Vaterland‘.“125 Durch den Erlass vom 15. 1. 1935, für Preußen schon 1933, wurde in den Fächern Deutsch, Geschichte und Erdkunde „biologisches Denken“, d.h. Vererbungslehre und Rassenkunde, verbindlicher Unterrichtsgrundsatz: „Die Erdkunde hat [...] die Verbreitung der auf deutschem Volksboden vorkommenden Rassen mit ihren körperlichen und geistig-seelischen Eigenschaften zu betonen und dabei besonders die nordische Rasse als das Verbindende, das Judentum als das Trennende zu werten. Bei der Behandlung der übrigen europäischen und besonders der außereuropäischen Länder wird durch die Gegenüberstellung der fremden Rassen mit den mitteleuropäischen der Blick für das Wesen der Rassen weiter geschärft werden können. Geeignete Beispiele der Vergangenheit und der Gegenwart haben die Wirkungen der Rassenkreuzung für den einzelnen wie für das Volk zu zeigen [...]“126 Daher bedeutete es auch keine Sensation, als der Vorsitzende des Ortsausschusses, Fritz Klute, 1934 auf dem Geographentag verkündete, dass „die Erdkunde die Beziehungen von Mensch und Erde, von Blut und Boden zu untersuchen“ habe, d.h. „heimat- und bodengebunden“ betrieben werden müsse.127 Auf eben dieser Tagung betonte der Vorsitzende des Zentralausschusses, Walter Behrmann, der Geographie seien durch „die nationale Revolution [...] zahlreiche Aufgaben erwachsen“. Die vordringlichste Aufgabe sei, „zu überlegen, wie wir von uns aus uns einsetzen und mitarbeiten können an der Verwirklichung der uns gestellten Ziele“.128 In seiner Rede folgte dann der für die Geographie typische „Eigentlich-immer-schon-Topos“, „die beliebig auswechselbare Anbiederung“129: „Es kann von unserer Geographie mit freudigem Stolz behauptet werden, daß die Anhänger unserer Wissenschaft sich von jeher für die Erziehung unserer Jugend im nationalen Sinne eingesetzt haben. [...] Wir haben uns [...] die Frage vorzulegen, wie wir in gesteigertem Maße unsere Wissenschaft, die ja gerade Boden und Volk umfaßt, dem Ideengut der neuen Zeit angleichen und wie wir von uns aus helfen können an der nationalsozialistischen Erziehung des deutschen Volkes. [...] Lassen Sie uns aber nie vergessen, daß unsere Geographie nicht ihrer selbst wegen vorhanden ist, sondern nur um dem Volksganzen zu dienen.“130 Die Jahre des Nationalsozialismus bedeuten in der Geschichte des Faches keine Entgleisung, sondern eine Weiterentwicklung von Ideen der Weimarer Republik. Das Paradigma der Disziplin war längst für den Geist der neuen Zeit geöffnet. Daher war der Übergang 125 Heske (1988, S. 251). 126 Hans-Dietrich Schultz, »Die geschlossene Nation marschiert.« Der Erdkundeunterricht im Dritten Reich zwischen Raum und Rasse, in: Reinhard Diethmar und Wolfgang Schmitz (Hg.), Schule und Unterricht im Dritten Reich, Ludwigsfelde 2001(b), S. 231-267, hier S. 239. 127 Albrecht Haushofer (Hg.), Verhandlungen und Wissenschaftliche Abhandlungen des 25. Deutschen Geographentages zu Bad Nauheim 22. bis 24. Mai 1934, Breslau 1935, S. 7. 128 Haushofer (Hg.) (1935, S. 11). 129 Hard (1979, S. 29). 130 Haushofer (Hg.) (1935, S. 11); bei Hans Mortensen, Inwiefern kann die Hochschulgeographie den Bedürfnissen der Schulgeographie und der allgemeinen Volksbildung gerecht werden? in: Geographischer Anzeiger 35, 1934, S. 532-545, heißt es S. 543: „Im übrigen dürfte auch hier die Geographie [...] verhältnismäßig fortschrittlich sein. Die Verbindung mit der Umwelt, die neuerdings für die verschiedenen Disziplinen mit Recht gefordert wird, haben wir rein aus der Fragestellung unseres Faches heraus.“
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keine Zäsur. Die Schulgeographie mobilisierte schon lange vor 1933 mehrheitlich gegen einen „pluralen, humanitären, demokratischen Staat und [...] für das Leitbild einer erneuerten Volksgemeinschaft“.131 Den wesentlichen Argumentationsrahmen hierfür lieferten die Politische Geographie und die sich auf Friedrich Ratzel berufende Geopolitik mit ihren Vorgaben, die Erde sei ein Kampfplatz im Verdrängungswettbewerb der Völker um die Macht. Für das Ausweitungsbestreben aller Staaten gebe es nicht genug Raum, und daher müsse der Stärkere bzw. Mächtigere immer bestrebt sein, auf Kosten der Schwächeren zu leben. Das „Gefährliche an dieser Sicht der Dinge war, dass die vermeintlich wahre oder richtige Politik hier als natürlicher Sachzwang erscheint: Die sog. Lebenszwecke und Lebenswünsche des Staates [...] werden abgeleitet aus den Entwicklungsmöglichkeiten des Bodens, den Eigenheiten des Raumes und nicht zuletzt aus den Besonderheiten der geographischen Lage. Was de[n] zum „Raumlebewesen“ bio-geographisierten Staat am Leben erhält, ist Macht, was er sucht [...] ist mehr Macht.“ Angesichts der populären Zwangsvorstellung, Deutschland sei ein „leistungsstarkes“ „Volk ohne Raum, das die Grenzen seines Lebensraumes noch nicht gefunden habe“, waren diese Vorstellungen der Geographen aus den 1920er Jahren von höchster politischer Brisanz.132 Für die Schulgeographie der NSZeit bildeten das geodarwinistische Geschichtsbild und das organologisch-körperhafte Staatsverständnis maßgebende Voraussetzungen. So konnten ohne Zwang Kategorien von Gesundheit und Krankheit auf den Staat, auf Volksgruppen oder Rassen übertragen werden. Die [Schul]geographen mußten sich nicht verbiegen, um ihr Fach der NS-Ideologie unterzuordnen.133 Um völlig konform zu gehen, bedurfte es lediglich der Beseitigung einiger „liberalistischer“ Auffassungen in der Geographie, insbesondere der traditionellen Länderkunde. Daher wurde in zahlreichen Beiträgen schulgeographischer Zeitschriften propagiert: Metaphysik statt Materialismus, Seele statt Geist, Charakter statt Bildung, Gemüt statt Wissen.134 In diesem Kontext bemerkte Hans Mortensen bereits 1933 auf dem Treffen der Schulgeographen, es bestehe kein Zweifel, dass es „neben den kausalen Bedingtheiten, die die Gesamtheit eines bestimmten Erdraumes möglichst verständlich machen sollen, auch vieles gibt, was wir mit unseren rationalen Untersuchungsmethoden nicht erfassen können und was wir doch als wirksam anerkennen müssen. [...] Überdies hat sich mancher Forscher seine Probleme von der Gefühlsseite her diktieren lassen, um für das zunächst gefühlsmäßig Erkannte die wissenschaftliche Begründung aufzudecken.“135 Allerdings bedeutete es auch für Hans Mortensen keine Überwindung der liberalistischen Wissenschaft136, wenn Geographen, wie etwa Ewald Banse, das vermeintliche „Fehlen überragender Köpfe unter den Erzgebirglern mit dem Fehlen überragender Berge in dem gleichmäßigen Abfall des Erzgebirges“ erklärten.137 Eine derartige Kompilation „realer Fakten“ mutierte das traditionelle Wechselwirkungssystem von Natur und Mensch 131 Hans-Dietrich Schultz, Geopolitik und Volksgemeinschaftsideologie im Erdkundeunterricht. Der schulgeographische Beitrag zum Versagen der staatsbürgerlichen Bildung in der Weimarer Republik, in: Reinhard Dithmar und Angela Schwalb, Schule und Unterricht in der Weimarer Republik, Ludwigsfelde 2001(a), S. 214-257, hier S. 252. 132 Schultz (2001(a), S. 246, S. 247). 133 Brogiato (1998, S. 526). 134 Brogiato (1998, S. 473). 135 Mortensen (1934, S. 539-540). 136 In einem Anschreiben an Professoren der Hochschulen vom 20. 5. 1933, das einem Probeheft der Zeitschrift „Deutscher Lebensraum. Blätter für deutsche Raum- und Bevölkerungspolitik“ (Jg. 1933, H. 2) beilag, heißt es zum Thema liberalistische Wissenschaft, dass an die Stelle der bisherigen analytischen Methoden, die „auf der materiellen Idee des Zweckmäßigkeitsglaubens“ aufgebaut waren, die „Erkenntnis der Verbundenheit aller Erscheinungsformen“ treten solle. 137 Mortensen (1934, S. 541).
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zu einer geodeterministischen Irrationalität. Damit verband sich aber auch ein partieller Perspektivwechsel: Der durch Geburt vorgegebene „Lebensraum“ bzw. die „geographisch Lage“ wurden als „Schicksal“138 interpretiert, dem sich „starke Völker“ nicht zu unterwerfen hätten. Neu für die Zeit des „Dritten Reiches“ war die Akzentverschiebung von der Natur weg zum rassisch bestimmten Menschen. „Ein Volk, hieß es jetzt, ‚das sich nicht über den Raum zu erheben vermag‘, gehe ‚im Raum unter‘.“139 Zu den Vordenkern der Verbindung von Rassenkunde und Geographie gehört Ewald Banse, der 1924 hervorhob: „Das Gerippe jeder geographischen Tätigkeit bilden die drei Begriffe Landschaft, Rasse, Kultur. In ihnen lebt sich alles Dasein eines Landes aus: die Landschaft als Vereinigung sämtlicher äußerer Erscheinungen des Bodens in seiner Entstehung und Form, des Klimas sowie der Pflanzen- und Tierwelt; die Rasse als die Herausbildung oder wenigstens Beeinflussung des Menschen innerhalb einer bestimmten Landschaft im Wege geschichtlicher Entwicklung; die Kultur als Summe des gemeinsamen Wirkens von Landschaft und Rasse.“140 Er war davon überzeugt, dass „nur durch rassische Selbstbesinnung Ertüchtigung und Wiederaufstieg erfolgen können“. Daher beklagte er in der Rezension von Hans Günthers „Rassenkunde“ die „Vernachlässigung der Bedeutung der Rasse“ in der wissenschaftlichen Geographie und fragte: „Welcher Geograph räumt dem Rassebegriff und besonders der überragenden Rasse in der Beschreibung eines Gebietes eine erste Stelle ein?“141 Die „nordische Rasse germanischer Prägung“, die sich nur in der Einzigartigkeit der Umwelt des „Germanischen Europas“ entwickeln konnte, war für ihn wegen ihrer „schöpferischen Veranlagung“ die „höchststehende von allen Rassen der Erde“. Im Gegensatz zu allen anderen Rassen sei daher auch nur der „Norde“ befähigt, die Natur „zu leiten“. Zu den wichtigsten Aufgaben geographischer Tätigkeit gehörte für ihn 1926 die Erkenntnis der Verflechtungen von „Landschaft und Klima, Rasse und Weltlage“. Der Begriff „Kultur“ erhielt seine Relevanz erst bei der Unterscheidung von „Hochrassig“ und „Tiefrassig“. Deren Relation in einem Volk bestimme für dieses auch die „Möglichkeiten zum Aufstieg oder Niedergang“.142 In konsequenter Weiterentwicklung dieser Gedanken waren für die Schulgeographen der 1930er Jahre ein Wiederaufbau der Nation ohne „Reinhaltung des Blutes“ 138 Zur Relation „Raum und Schicksal“ vgl. Kost (1988, S. 318 ff.). 139 Schultz (2001(a), S. 256/257); in seinem Bericht über den Geographentag 1936 bemerkte Hinrichs (1936, S. 1044) Zum Vortrag Konrad Meyers u.a.: „Völker nehmen dem Raum gegenüber Stellung, die einen verzichten, die anderen setzen ihre Kräfte ein. Wir fühlen uns stärker als der Raum; wir wollen ihn meistern um der Ordnung unseres Volkes willen [...] Wir wollen die natürlichen Verhältnisse wieder herausheben aus dem Schutt der Territorien und Dynastien. Wille schaffte Ordnung.“ Zu derselben Tagung heißt es in einem mit hl. gekennzeichneten „Nachtrag“ u.a.: „Ohne den formbildenden Einfluß des Raumes und der Umwelt leugnen zu wollen, bewerten wir aber das Volk und die Blutswerte der das Volk bestimmenden Rassen als gestaltende Kräfte höher. Daher betreiben wir ja auch die Neuordnung des deutschen Raumes, weil wir uns stärker fühlen als der Raum! [...] Da unser Raumbegriff ein umfassenderer ist („Lebensraum“), fußt auch die Landeskunde [...] auf wesentlich erweiterten Voraussetzungen und umfaßt sachlich eine fülle neuer Gebiete, die erst in ihrem Zusammenwirken und ihren Beziehungen zu den natürlichen Gegebenheiten begriffen werden müssen.“ hl. [hl. = Hanns Lehmann], Geographie und Raumforschung. Ein Nachtrag zum Deutschen Geographentag Jena 1936, in: Raumforschung und Raumordnung 1, 1936/37, S. 78-81, hier S. 79, S. 81. 140 Ewald Banse, Die Seele der Geographie, Braunschweig 1924, S. 75; Banse hatte 1925 im WestermannVerlag die Schulwandkarte „Rassenkarte von Europa“ herausgebracht. 141 Rez.: Hans Günther, Rassenkunde des deutschen Volkes, München 1922, in: Die Neue Geographie. Vierteljahrsblätter für künstlerische Geographie und für Freunde freier Forschung im Leben der Länder und Völker 1, 1922/23, H. 4, S. 115. 142 Ewald Banse, Zur seelengeographischen Gliederung der Erde, in: Die Neue Geographie 4, 1925/26, H. 17, S. 109-125, hier S. 114, 112, 110, 113.
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und eine „Zukunft“ des Volkes ohne „Rassenpflege“ undenkbar. Eine notwendige Reaktion musste demnach die „Entjudung“ Deutschlands bzw. Mitteleuropas sein. Bei aller Anerkennung, insbesondere durch Schulgeographen und Studierende der Geographie, regte sich bei Fachkollegen Anfang der 1930er Jahre Unmut oder scharfer Protest gegenüber Banse. Mit Verwunderung nahm Friedrich Metz in einer Besprechung von Banses „Deutsche Landeskunde“ davon Kenntnis, dass „die Niederländer von Banse ohne weitere Begründung als Deutsche bezeichnet und die gesamten Niederlande in den Begriff Deutschland einbezogen werden“. Die von ihm angefügte „fehlende Begründung“, die Niederlande seien ein „echtes Stück Mitteleuropas“ und damit ein „Bestandteil des geographischen Deutschland“ sowie der „deutschen Kulturlandschaft“, orientierte sich an dem klassischen Dreiklang-Motiv – Alpen-Mittelgebirge-Tiefland = Mitteleuropa = Deutschland – und hob damit indirekt den ausgesprochenen Tadel wieder auf. Mahnend hob der Rezensent – noch! – den moralischen Finger: „Wer [...] ohne Begründung die Niederlande zu Deutschland schlägt – wobei die Begriffsverwirrung Deutschland = Deutsches Reich eine große Rolle spielt – der bringt die deutsche Landeskunde in den Verdacht, daß sie im Dienst des Imperialismus und der Eroberungspolitik steht“.143 Weitaus empörender waren für Metz die rassenkundlichen Argumentationen und Begründungen seines Kollegen. Die Auffassung, dass die „Abtrennung“ der Niederlande an der „Schwäche des Reiches“ gelegen habe, teilte er mit Banse, aber dessen Behauptung, der „Rhein [sei] eine Blutsgrenze“, war für ihn das „Ungeheuerlichste“, was ein Geograph je ausgesprochen hatte. Für Banse begann mit dem Ausklingen der Symphonie des mitteleuropäischen Dreiklangs links des Rheins ein über Jahrtausende gewachsener multikultureller Kulturraum, während rechtsrheinisch „das freie Germanentum ziemlich uneingeschränkt erhalten blieb“.144 Dieser Argumentation begegnete Metz, streng geographisch, mit der „geschlossenen natürlichen Einheit“ der Niederrheinischen Tiefebene, des Mittelrheintales und der Oberrheinischen Tiefebene. Diese Naturräume seien deutscher Volks- und Kulturboden. Letzterer, so verkündete Josef Schmithüsen 1939, ende im Westen, wo „sich die naturlandschaftlichen Einheiten vom Reichsgebiet durch Luxemburg und das Areler Gebiet bis in die Wallonie hinein fortsetzen“ und die „Naturverbundenheit des [deutschen] Volkes eine harmonische Einordnung der kulturellen Schöpfungen in das natürliche Landschaftsbild bewirkt“.145 In den ersten Jahren der NS-Zeit ließ sich die These von der prägenden Kraft der Umwelt auf den Charakter eines Volkes bzw. der Anpassungsfähigkeit eines Volkes an die umgebende Natur noch aufrecht erhalten. Hans Schrepfer hatte aber schon 1934 auf dem Treffen der Gaureferenten der Sachgruppe Geographie im NSLB hervorgehoben, dass „zu den Problemgruppen Volk und Raum, Nation (bzw. Staat) und Raum“ die gleichwertige und nicht minder wichtige „Fragestellung Rasse und Raum“ getreten sei, wobei Raum den „Inbegriff der Umweltwirkungen“ bedeute.146 Ebenfalls 1934 hatte Friedrich Knieriem die „Bildungsaufgabe der Erdkunde im Dritten Reich“ darin gesehen, „den deutschen Menschen [...] nach rassenkundlichen Gesichtspunkten“ zu behandeln. Diese Betrachtung müsse sich auch mit „bevölkerungspolitischen Fragen und Forderungen auseinandersetzen und 143 Friedrich Metz, Ewald Banse und die deutschen Grenzlande, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 4, 1934, S. 200-215, hier S. 201. 144 Zitiert bei Metz (1934, S. 205). 145 Josef Schmithüsen, Wesensverschiedenheiten im Bilde der Kulturlandschaft an der wallonischdeutschen Volksgrenze, in: Deutsches Archiv für Landes- und Volksforschung 3, 1939, S. 568-575, hier S. 570 und S. 575. 146 Hans Schrepfer, Rassenkunde und Schulgeographie, in: Geographischer Anzeiger 35, 1934, S. 558-562, hier S. 558.
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so zum Verständnis der Notwendigkeit vieler Regierungsmaßnahmen erziehen“.147 1939 stellte der Reichssachbearbeiter im NSLB, Albrecht Burchard, fest, die Erdkunde lehre, „welche gewaltige Bedeutung die Kräfte des Raumes haben, wenn sie sich mit dem Willen und den Fähigkeiten eines rassisch tüchtigen und erblich gesunden Volkes verbinden“.148 Die Rolle des Raumes im politisch favorisierten Rassediskurs konnte die Geographie durch den vom Paradigma vorgezeichneten Weg des Sowohl-als-Auch Geo-Determinismus und Rasse-Determinismus klären. Damit blieb sie ihrer Tradition treu und konnte zugleich auf die neue Weltanschauung schwören. „Die Hochkonjunktur der [19]20er Jahre in Sachen Geopolitik [wurde] durch eine neue und nachhaltigere Welle von ‚Blut und Boden‘Geographie abgelöst.“149 6. Schlussbemerkungen Die vorstehenden Ausführungen betreffen wesentliche institutionelle Bezüge zwischen dem Fach Geographie, einigen herausragenden Fachvertretern, deren Zahl sich unschwer erweitern ließe, und nationalsozialistischen Organisationen. Es zeigt sich, dass ein einheitliches Verhalten „der Geographie“ nur hinsichtlich des Bestrebens nach öffentlicher Anerkennung und Aufwertung, während des Krieges vor allem als „kriegswichtiger“ Forschungs- und Politikberatungszweig vorliegt. Randlich nur werden die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften berücksichtigt, weil die Einbindung des Faches Geographie in diese Forschungsgemeinschaften trotz der umfangreichen Studie von Michael Fahlbusch150 abschließend ebenso ungeklärt ist, wie deren Struktur und Organisation selbst. Die von Fahlbusch erwähnten Hochschullehrer der Geographie arbeiteten zeitgleich im NSLB, in der „Aktion Ritterbusch“, der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, dem Deutschen Ausland-Institut, der Deutschen Akademie, der Abteilung für Landeskunde im Reichsamt für Landesaufnahme oder – dies gilt insbesondere für die jüngeren Dozenten – in militärischen Dienststellen, ohne dass sich wesentliche Unterschiede in der praktischen wie ideologischen Mitarbeit erkennen lassen. Für einige bedeutete die Mitarbeit reiner Opportunismus, die Aussicht auf eine feste Anstellung bzw. die Hoffnung auf uk-Stellung vom Wehrdienst.151 Andere, und das war im Bereich der Schulgeographie ein nicht unerheblicher Teil, beteiligten sich aktiv an der Verbreitung und Weiterentwicklung nationalsozialistischen Ideengutes. Insbesondere in schulgeographischen Texten setzt nach 1933 eine geradezu inflationäre Übernahme von Zitaten und Begriffen aus Hitlers „Mein Kampf“ und parteiamtlichen Verlautbarungen ein. Bei vergleichenden Textanalysen drängt sich zwangsläufig die Frage auf, wer wem die Blaupausen lieferte. Die Geographie verstand sich seit der Kaiserzeit als Bildungsfach, das auf ein äußerst anpassungsfähiges Paradigma zurückgreifen konnte. Dieses ließ den Übergang von der Relation Mensch/Gesellschaft vs. konkrete Natur zu derjenigen von Volk/Rasse vs. 147 Friedrich Knieriem, Der 25. Deutsche Geographentag in Bad Nauheim vom 21. bis 25. Mai 1934, in: Geographischer Anzeiger 35, 1934, S. 273-281, hier S. 278/79. 148 Albrecht Burchard, 10 Jahre NS.-Lehrerbund, in: Geographischer Anzeiger 40, 1939, S. 177-178, hier S. 178; zitiert in: Schultz (2001(b), S. 237). 149 Kost (1988, S. 395). 150 Fahlbusch (1999); vgl. hierzu Böhm (2000). 151 Hartke (1982, S. 87): „Es gab die Politischen und ihre Idealkonkurrenten, die Geopolitiker, von denen sich rechtzeitig wieder zu distanzieren nicht allen gelang, während ihr Fach auf dem Weg bis fast zum offiziellen Bestandteil des NS-Parteiprogramms war [...]“.
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Raum/Lebensraum ohne Zwang zu. In der NS-Zeit sehen die Schulgeographen „die Krönung der Erziehungsarbeit des völkischen Staates darin, ‚daß sie den Rassesinn und das Rassegefühl instinkt- und verstandesmäßig in Herz und Gehirn der ihr anvertrauten Jugend hineinbrennt‘.“ Mit der Vermittlung von Raumkenntnissen verschaffe die Geographie zudem „wichtige Grundlagen für rassenkundliche Auswertungen“.152 Die Lebensraumfrage ist für die Schulgeographen zunächst ein Problem im Kontext des Grenzland- und Auslanddeutschtums gewesen, speziell im Bereich des deutschen Kulturbodens im östlichen Europa. In diesem Zusammenhang werden die „natürlichen Grenzen“, denen die klassische Geographie eine normative Kraft zubilligte, in ihrer Bedeutung abgewertet, weil in Wahrheit die Volksgrenzen die natürlichsten aller Naturgrenzen seien. Der „Kampf“ der rassisch begründeten „Volksgemeinschaft“ um den „Lebensraum“ gehört somit zu den zentralen Themen des Erdkundeunterrichtes bis 1945. Im Lehrplan für die unteren Klassen der Volksschule wird 1942 gefordert, es gelte „aufzuzeigen, wie die lebenskräftigen, wachsenden Völker die Raumenge sprengen und eine neue, gesündere Weltordnung aufrichten“.153 Die entscheidenden Merkmale der NS-Schulgeographie und des Erdkundeunterrichts waren: 1. „die Vorstellung einer rassisch begründeten ‚Volksgemeinschaft‘, die vor dem ‚zersetzenden‘ Wirken der Juden und vor ‚Rassenmischmasch‘ bewahrt und zur Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit durch gezielte Maßnahmen ‚aufgenordet‘ werden sollte“; 2. die sozialdarwinistisch begründete These, dass die Völker in „einem ständigen Kampf um Lebensraum stehen, wobei ‚gesunde‘ Völker wachsen müssen“ und 3. ein „Erziehungsprogramm, das die Identität und das Wohl und Wehe jedes einzelnen mit der Identität des völkischen Kollektivs und dessen (biologischen) Zielen verschmolz“.154 „Die NSZeit war keine scharfe Zäsur, sie bedeutete neben Akzentverlagerungen vor allem Bündelung, Zuspitzung, Übersteigerung und Radikalisierung schon vorhandener Motive [...]“155 Diese Aussage betrifft nicht nur die Schulgeographie, sondern die Gesamtheit des Faches Geographie. Im disziplinhistorischen Diskurs werden für die Fragestellung des Einflusses der konkreten Natur auf Menschen und Völker häufig Alexander v. Humboldt, Carl Ritter und Friedrich Ratzel als Referenzinstanzen bemüht. Bei Ritter und v. Humboldt „wurden Menschen und Völker [...] zum Resonanzorgan einer durch die konkrete Natur ausdifferenzierten (kosmischen) Totalität und Harmonie“.156 1919 bemerkte Joseph Partsch, dass das wahre Verhältnis auf dem Kopf stehe, wenn man das „politische Schicksal eines Volkes in sklavische Abhängigkeit von dem Relief des Landes“ bringe und beschwor damit die Handlungsfreiheit des Menschen sowohl als Teil wie als Gegenpart der Natur.157 Ritter hatte bereits 1822 betont, dass Volk und Staat nur dann „zum vollen Einklang mit sich selbst gelangen“ könnten, wenn sie sich ihrer „rechten Stellung“ zu, d.h. der Abhängigkeit von der Landesnatur bewusst würden.158 Für Ratzel war die naturgegebene Einheit eines Landes Voraussetzung für die Einheit der Nation. Mitte der 1920er Jahre entdeckte man in der Geographie den „deutschen Volks- und Kulturboden, der überall dort entstehen könne, wo deutsche Menschen arbeiteten. In Weiterführung des klassische Diskurses wurde im Kontext derartiger Diskussionen das Primat der Natur dadurch aufrecht erhalten, dass man 152 153 154 155 156 157
Schultz (2001(b), S. 246). Schultz (2001(b), S, 254, S. 263). Schultz (2001(b), S. 265). Schultz (2001(b), S. 267 (Herv. i. O.)). Schultz (2002, S. 96). Joseph Partsch, Der Bildungswert der politischen Geographie, Geographische Abende 7, Berlin 1919, S. 20. 158 Zitiert nach Schultz (2002, S. 103).
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dem „Naturprozeß explizit oder stillschweigend ein Sollen unterstellte“.159 Die Art, das Mensch-Natur-Verhältnis aus anthropogener Sicht zugleich passiv und aktiv zu denken, „wobei der Boden in tautologischer Manier selbst einerseits national prägte, zugleich aber erst durch die Arbeit des Menschen national geprägt (imprägniert) wurde, ermöglichte es der Geographie, je nach politischen Umständen die aktuell gefragte politische resp. weltanschauliche Seite zu bedienen und damit immer auf der Höhe des Zeitgeistes zu bleiben“.160 Auch die von Länderkundlern behauptete Einheit von Land und Volk ließ sich problemlos mit dem darwinistischen System der Auslese vereinbaren. So gab es in diesem Argumentationsstrang kein Volk, das vorab für ein bestimmtes Land, das es nur zu finden galt, vorgesehen war. Vielmehr schuf sich das Land aus dem Angebot der einwandernden Menschen/Völker sein Volk. Daher konnte Wilhelm Volz 1925 auf der Reichsgründungsfeier in Kiel abschließend ausführen: „Jeder Raum hat sein Volk [...] kein Volk kommt hoch, das seinen natürlichen Raum nicht erfüllen kann; aber auch kein Volk kann auf die Dauer über seinen ihm eigenen Raum hinauswachsen.“161 Etwa gleichzeitig konstatierte Albrecht Penck ein Sowohl-als-Auch der Wahlverwandtschaft zwischen konkreter Natur und Volk. Er lehnte ein Zusammenfallen von Natur- und Volksräumen im Sinne einer „natürlichen Zweckbestimmung der Länder“ ab, unterstellte jedoch gleichzeitig, dass „harmonische Landschaften [...] das Gefühl von Zusammengehörigkeit und den Wunsch des Zusammenschlusses“ zeitigten. Diese Wirkung könne „zu einer dauernd wirkenden, Staaten bildenden Kraft führen [...] Auf die Dauer ist die Natur stärker als der Mensch“.162 Von hier aus war es nur ein kleiner Schritt zu Ernst F. Flohr, der sich 1942 gemüßigt fühlte, den Begriff „Lebensraum“ aus wissenschaftlicher Sicht zu klären: „Der Lebensraum hat Grenzen. Die Natur setzt sie ihm und das Volk. Die Natur allerdings gibt weiten Spielraum, ehe sie ein entscheidendes Halt gebietet. [...] Zwischen dem Kernraum der einen Landschaft und dem der anderen liegen jedoch Übergangszonen, in die das Volk hineinwachsen kann [...] Entscheidendere Grenzen, als die Natur gab, hat sich der Mensch selbst gezogen. Das Volk braucht Geschlossenheit. Es schuf den Staat, dem es die Sorge für seinen Bestand und seine Zukunft anvertraute [...]“163 In diesem Sinne wurde das Lebensraumwerk der „Aktion Ritterbusch“ konzipiert. „Das ‚Dritte Reich‘ bevorzugte [...] unübersehbar die Rasse gegenüber dem Raum (resp. der konkreten Natur), doch blieb trotz deren Primat der Raum für die meisten Geographen weiterhin die letzte Entscheidungsinstanz über die Entfaltungsmöglichkeiten von Rassen und Völkern.“164 Das als Wahlverwandtschaft interpretierte klassische Paradigma der Geographie ist weniger eine Theorie als vielmehr eine Weltformel, deren universeller Einsatz die Reihenfolge Natur/Volk bzw. Land/Rasse beliebig werden lässt. Insofern muss Karl Schlögel widersprochen werden: In der Geographie gibt es ohne Zweifel eine ungebroche159 Schultz (2002, S. 105 Herv. i. O.). 160 Schultz (2002, S. 106 Anm. 13). 161 Wilhelm Volz, Lebensraum und Lebensrecht des deutschen Volkes, in: Deutsche Arbeit 24, S. 169-174, hier S. 174; dieser wie andere für den Zusammenhang relevante Textauszüge sind publiziert bei HansDietrich Schultz (Bearb.), ¿Geographie? Teil 1: Antworten vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg; Teil 2: Antworten von 1918 bis zur Gegenwart, Arbeitsberichte. Geographisches Institut, Humboldt-Universität zu Berlin, H. 88; H. 89, Berlin 2003. 162 Albrecht Penck, Deutschland als geographische Gestalt, in: Deutschland. Die natürlichen Grundlagen seiner Kultur, Leipzig 1928, S. 1-9, hier S. 9. 163 Ernst Friedrich Flohr, Versuch einer Klärung des Begriffes Lebensraum, in: Geographische Zeitschrift 48, 1942, S. 393-404, hier S. 397. 164 Schultz (2002, S. 111 Herv. i. O.).
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ne Tradition vom klassischen Raumbegriff zum „nazistischen Diskurs über »Lebensraum«, »Volk ohne Raum«, »Ostraum« usf.“.165 Die Ausführungen über Geographie und Nationalsozialismus blieben unvollständig, wenn nicht kurz auf Schicksale einiger durch die NS-Rassengesetzgebung bedrohter und verfolgter Fachkollegen hingewiesen würde. Nach 1933 hatte Alfred Rühl wegen seiner jüdischen Vorfahren in Berlin unter starken antisemitischen Repressalien zu leiden, die für ihn so unerträglich wurden, dass er während eines Kuraufenthaltes in der Schweiz den Freitod wählte. Der bereits 1929 emeritierte Bonner Ordinarius Alfred Philippson wurde 1942 mit seiner zweiten Frau, der Geographin Dr. Margarete geb. Kirchberger und seiner Tochter Dora nach Theresienstadt deportiert. Auf Bitten von Kollegen und Verwandten Philippsons setzte sich der mit dem NS-Regime sympathisierende schwedische Asienforscher Sven Hedin (1865-1952) bei den deutschen Machthabern für seinen früheren Studienkollegen ein. Diese Interventionen führten zur Hafterleichterung der Familie, sodass sie letztlich überleben und 1945 nach Bonn zurückkehren konnte. Die Zeitschriftenredaktionen waren nach 1939 angewiesen, Hinweise auf Arbeiten Philippsons zu eleminieren. Ebenfalls nach Theresienstadt deportiert wurde Friedrich Leyden, der dort 1943 an den Folgen einer Lungenentzündung starb. Philippsons Nachfolger in Bonn, Leo Waibel, wurde 1937 zwangspensioniert, da er sich nicht von seiner jüdischen Frau trennen wollte. Er emigrierte 1939 in die USA und war dort bis 1945 sowie 1950/51 in Forschung und Lehre tätig (Johns Hopkins University; University of Wisconsin, Madison; University of Minnesota, Minneapolis). Fritz Loewe emigrierte nach Australien, andere jüngere Geographen flohen über England nach Palästina.166
165 Karl Schlögel, Im Raum lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München, Wien 2003, S. 12. 166 Vgl. hierzu u.a.: Astrid Mehmel, „Wie ich zum Geographen wurde“ – Aspekte zum Leben Alfred Philippsons, in: Geographische Zeitschrift 82, 1994, S. 116-132; dies, Alfred Philippson (1.1.186428.3.1953) – ein deutscher Geograph, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden, Bd. 8, 1998, S. 353-379; Hans Böhm und Astrid Mehmel, Vorwort zu: Alfred Philippson, Wie ich zum Geographen wurde. Aufgezeichnet im Konzentrationslager Theresienstadt zwischen 1942 und 1945, hrsgg. und kommentiert von Hans Böhm und Astrid Mehmel, Bonn ²2000, S. X-LX; Hans Böhm, Leo Waibel (22. 2. 1888-4. 9. 1951), in: Böhm (Hg.) (1991, S. 228-241); Hans-Dietrich Schultz, Alfred Rühl – Ein Nonkonformist unter den (Berliner)Geographen, in: Die Erde 134, 2003 (i. Druck); Yoram Bar-Gal, From Berlin to Jerusalem – Professor David Amiran and the Atlas of Israel in: Erdkunde 58, 2004, S. 31-41.
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1. Einleitung Diese Darstellung der Entwicklung der Soziologie in Deutschland vom Ende der Weimarer Republik bis zur frühen Nachkriegszeit legt in der Intention des Projekts „Nationalsozialismus und Kulturwissenschaften“ ihren Schwerpunkt auf die Zeit des Dritten Reichs, die im wohlverstandenen Sinne historisiert werden muss. Deswegen geht es ihr dabei hauptsächlich um das Verhältnis von Soziologie und Politik. Die grundlegende Annahme ist somit, dass diese Entwicklungsphase integriert ist in den säkularen Prozess der Versozialwissenschaftlichung der Politik und der Politisierung der Sozialwissenschaften als elementarem Kennzeichen der modernen Wissensgesellschaft.1 Gerade das totalitärverbrecherische NS-Regime stellt eine besondere Form des Staatsinterventionismus dar, zu dessen zentralen Funktionsprinzipien, wie bei allen anderen Varianten auch, die Nutzung sozialwissenschaftlichen Expertenwissens zählt.2 Dies setzt eine außeruniversitäre Professionalisierung der Soziologie (z. B. in der Ostforschung) voraus, die ihrerseits einhergeht mit einer Förderung der empirischen Sozialforschung (z. B. in der Sozialstruktur- und Sozialraumforschung3), was wiederum deren akademische Professionalisierung und Institutionalisierung voranbringt (z. B. Gründung des Soziographischen Instituts an der Universität Frankfurt am Main). Für die Wissenschaftslandschaft allgemein bedeutete der Erste Weltkrieg eine Weichenstellung hin zu einer stärkeren „rekursiven Kopplung“ (P. Weingart) von Wissenschaft und Politik, die im Nationalsozialismus geradezu einen Kulminationspunkt erreichte. „Selten ist das sowohl instrumentelle als auch legitimatorische Wechselverhältnis zwischen Politik und Wissenschaft jedoch deutlicher greifbar als im Nationalsozialismus, als die Politisierung von Wissenschaft und die Verwissenschaftlichung von Politik konvergierten.“4 Die deutsche Soziologie als unerwünschter universitärer Zuwachs hinkte dieser Entwicklung hinterher. Wie gezeigt wird, betätigten sich Soziologen als Kriegsverherrlicher 1
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Vgl. Peter Wagner: Sozialwissenschaften und Staat. Frankreich, Italien, Deutschland 1870-1980. Frankfurt/New York 1990; vgl. zum Konzept der Wissensgesellschaft und der „rekursiven Kopplung“ von Wissenschaft und Politik das Kap. 4. Wissenschaftliche Expertise und politische Entscheidung, in: Peter Weingart: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Weilerswist 2001; und das Kap. VII. Wissen und Macht – Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik, in: Ders.: Wissenschaftssoziologie. Bielefeld 2003. Vgl. das Kap. XII. Staatsinterventionismus und sozialwissenschaftliches Wissen im Dritten Reich, in: Carsten Klingemann: Soziologie im Dritten Reich. Baden-Baden 1996; vgl. auch allgemein Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft, 22. Jg., 1996; ders.: Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft. Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: Geschichte und Gesellschaft, 27. Jg., 2001. Vgl. Jörg Gutberger: Volk, Raum und Sozialstruktur. Sozialstruktur- und Sozialraumforschung im „Dritten Reich“. Münster 1996. Margit Szöllösi-Janze: Politisierung der Wissenschaften – Verwissenschaftlichung der Politik. Wissenschaftliche Politikberatung zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, in: Stefan Fisch/ Wilfried Rudolff (Hrsg.): Experten und Politik. Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive. Berlin 2004, S. 99f; vgl. auch zum pragmatischen Umgang der angeblich so wissenschaftsfeindlichen Nationalsozialisten mit den Wissenschaften, dies.: Wissensgesellschaft in Deutschland: Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: Gesellschaft und Geschichte, 30. Jg., 2004.
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und nach verlorenem Ersten Weltkrieg als Revisionspropagandisten. Ansonsten ist die Soziologie der Weimarer Republik als „weltferne Wissenschaft“ (S. Papcke) zu charakterisieren, die sich durch einen Mangel an empirischer Orientierung sowie nur geringer Institutionalisierung und fehlender Professionalisierung auszeichnet. Die Darstellung des Diskurses um die „jüdische Soziologie“ in Weimarer Republik, Drittem Reich und Bundesrepublik Deutschland beleuchtet die Selbstbezüglichkeit als ein wesentliches Merkmal deutscher Soziologie. In der anschließenden Schilderung der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik gegenüber einzelnen Fachvertretern werden das breite Spektrum von Akteuren und damit das Fehlen einer zentralen Entscheidungsinstanz sichtbar. Es treten auf: der „Beauftragte des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Schulung und Erziehung der NSDAP“ (Alfred Rosenberg) mit seinem Hauptamt Wissenschaft, der Hauptstelle Soziologie und dem Amt Wissenschaftsbeobachtung und -wertung, aber auch wissenschaftspolitische Akteure auf lokaler, Gau- und Reichsebene, darunter neben Ministerialbeamten Vertreter des Hochschul-, Gau- und Reichsdozentenbundes, verschiedener anderer NSDAP-Ämter, des Sicherheitsdienstes der SS und höchstpersönlich der Gauleiter Fritz Sauckel, Alfred Rosenberg, der Stellvertreter des Führers Rudolf Heß und schließlich der Leiter der Partei-Kanzlei Martin Bormann. Die Rolle soziologischer Expertise in bestimmten Politikfeldern des NS-Staates wird unter folgenden Aspekten analysiert: a.) Arbeitsgebiete der Agrarsoziologie (Landflucht, Stadt-Land-Beziehungen, Aussiedlung, Notstandsgebiete, Landarbeiterfragen, unterbäuerliche Schichten) im „Altreich“ bis Kriegsbeginn, b.) soziologische Ostforschung im Kontext des 14. Internationalen SoziologieKongresses, des Handwörterbuchs des Grenz- und Auslanddeutschtums, der ReinhardHeydrich-Stiftung in Prag und im militärischen Geheimdienst („Abwehr II“) und c.) soziologische Westforschung in legitimatorischer Diktion und als realsoziologische Information. In der frühen Nachkriegszeit gründeten ehemalige Reichssoziologen als politikberatende Flüchtlingssoziologen eine eigenständige spezielle Soziologie, daneben spielten sie eine wichtige Rolle in der Industrie- und Familiensoziologie und übernahmen leitende Funktionen bei der ‚Neugründung‘ der westdeutschen Soziologie. Besondere Berücksichtigung findet schließlich ihre Rolle in den während der Besatzungsherrschaft gezielt zur Förderung von Demokratie und Wissenschaft gegründeten akademischen Institutionen. 2. Zum Stellenwert der Soziologie im Spektrum der Kulturwissenschaften seit der Wende zum 20. Jahrhundert bis zu den frühen 30er Jahren Für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ist es nicht sinnvoll, von einer nationalstaatlich definierten „deutschen Soziologie“ zu sprechen. Deutsche und österreichische Soziologen prägten das Bild einer deutschsprachigen Soziologie, während 1907 die „Soziologische Gesellschaft in Wien“ und 1909 die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) gegründet wurden. Dennoch ist es richtig, deutschen (im Sinne von deutschsprachigen) Soziologen dieser Zeit eine über den nationalen Referenzrahmen weit hinausreichende Geltung zuzusprechen. Den Status einer etablierten und anerkannten Wissenschaft im Kanon der Kulturwissenschaften konnte die Soziologie aber bis zum Ende der Weimarer Republik nicht erringen. Im Gegenteil, die Vertreter des tradierten universitären Fächerspektrums waren unnachgiebig bemüht, ihr den Status einer akademischen Disziplin zu verwehren. Als eindrucksvolles Beispiel mag dafür die Kampfschrift des Historikers und Staatswissenschaftlers Heinrich von Treitschke „Die Gesellschaftswissenschaft“ aus dem Jahr 1859 angeführt werden. Die Soziologie beanspruchte angeblich ein ureigenes Arbeitsfeld – die Gesellschaft. Das wurde als Bedrohung seitens der Staatswissenschaft empfunden, und Treitschke dekretierte mit deutlich staatspolitischer Untermalung: „Der Satz von der Untrennbar-
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keit von Staat und Gesellschaft ist streng festzuhalten: er rettet die Notwendigkeit des Staates.“5 Und damit das Monopol der Staatswissenschaft! Diese äußerst einflussreiche Polemik wurde 1980 als Nachdruck von Sven Papcke wieder veröffentlicht. Er kommentierte in seinem Vorwort lapidar: „Mit dieser Lösung hat Treitschke in Deutschland die Etablierung der Soziologie bis 1918 entscheidend behindert (…).“6 Die universitäre Institutionalisierung der Soziologie wurde natürlich auch dadurch nachhaltig gehemmt, dass etwa die Nationalökonomen nicht bereit waren, Soziologie als Prüfungsfach und als Hauptfach bei Promotionen in ihren Studiengängen zuzulassen. Das hinderte aber zahlreiche namhafte Soziologen nicht daran, sich vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg besonders staatstragend, um nicht zu sagen nationalistisch und chauvinistisch zu gebärden. Das wohl prominenteste Beispiel für einen wissenschaftlich begründeten Nationalismus ist die Ikone der internationalen Geltung deutscher Soziologie – Max Weber. Dabei stellt Weber die wissenschaftliche Argumentation ganz bewusst in den Dienst der Begründung von Machtpolitik, die insbesondere auf klassischen Topoi des Volkstumskampfes in Grenzgebieten basiert, in denen sich ethnische Mehrheitsverhältnisse durch Wanderung oder militärisch-politisch verursachte Veränderungen von Grenzverläufen verschieben.7 Das von Weber geforderte Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik bringt Hans Joas prägnant zum Ausdruck: „Das Überleben der Nation und ihre Selbststeigerung, »Emporzüchtung«, sind der Wert, dem Wissenschaft und Politik zu dienen haben.“8 Damit stand Weber aber nicht allein. Die DGS, der er zwar schon frühzeitig den Rücken gekehrt hatte, erklärte gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs, „die Kräfte und Mittel der Gesellschaft in den Dienst der Aufklärung des neutralen Auslands“9 stellen zu wollen. Mithin also in den Dienst der Propaganda. Mit akribischem Fleiß hat Papcke die bellizistischen Verlautbarungen vieler prominenter und auch weniger bekannter Soziologen zusammengestellt. Er kommt zu dem Schluss, fast ausnahmslos tauchten alle „in die Kriegshysterie ein – ohne Wenn und Aber.“10 Dazu gehörten Wilhelm Jerusalem, Robert Michels, Franz Oppenheimer, Johann Plenge, Max Scheler, Georg Simmel, Werner Sombart, Ferdinand Tönnies, Ernst Troeltsch, Alfred Vierkandt sowie Alfred und Max Weber. Während Papcke den Akzent auf das Irrationale dieses Engagements legt, wird bei Dirk Käsler ein anderer Aspekt sichtbar, ihr professorales Selbstverständnis als ‚über den Parteien stehend‘. Ihre kämpferische Attitüde ist durch ihre Eigenschaft, Wissenschaftler zu sein, geadelt: „einige unserer frühen deutschen Soziologen fungieren an hervorragender Stelle als Lieferanten der Legitimationsideen und Legitimationsformeln für die vielfältigen innen- und außenpolitischen Zielsetzungen der Führung des Deutschen Reiches im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg.“11 So lässt sich Max Webers Denken der Kriegszeit auf die Formel bringen: „Demokratisierung nach englischem Vorbild also als Mittel für eine imperiale Weltpolitik
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Heinrich von Treitschke: Die Gesellschaftswissenschaft. Ein kritischer Versuch. Darmstadt 1980 (Nachdruck), S. 72. Sven Papcke: Zur Bedeutung von Treitschkes Schrift ‚Die Gesellschaftswissenschaft’, S. XII, siehe Anm. 5. Vgl. Carsten Klingemann: Ursachenanalyse und ethnopolitische Gegenstrategien zum Landarbeitermangel in den Ostgebieten: Max Weber, das Institut für Staatsforschung und der Reichsführer SS, in: Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1994. Opladen 1996. Hans Joas: Die Klassiker der Soziologie und der Erste Weltkrieg, in: Ders./Helmut Steiner (Hrsg.): Machtpolitischer Realismus und pazifistische Utopie. Krieg und Frieden in der Geschichte der Sozialwissenschaften. Frankfurt am Main 1989, S. 189. Zit. nach Sven Papcke: Dienst am Sieg: Die Sozialwissenschaften im Ersten Weltkrieg, in: Ders.: Vernunft und Chaos. Essays zur sozialen Ideengeschichte. Frankfurt am Main 1985, S. 139. Ebd. Dirk Käsler: Die frühe deutsche Soziologie 1909 bis 1934 und ihre Entstehungs-Milieus. Eine wissenschaftssoziologische Untersuchung. Opladen 1984, S. 487.
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[…].“12 Dabei dachte Weber an eine Führerdemokratie, in der der gewählte Führer weitgehende Vollmachten hat, aber auch plebiszitär entmachtet werden kann. Eine Idee, deren Gefährlichkeit sich bald realhistorisch erweisen sollte. Es stellt sich in diesem Zusammenhang generell die Frage, inwieweit Soziologen sich analytisch professioneller und politisch weitsichtiger mit dem aktuellen Tagesgeschehen auseinandersetzten als der gut informierte und interessierte Zeitgenosse. Am Beispiel Georg Simmels zeigt Uwe Barrelmeyer, wie die von den deutschen Soziologen allgemein geteilte geisteswissenschaftliche Orientierung eine unbeabsichtigte propagandistische Dysfunktionalität seiner wissenschaftlichen Kriegsvorträge hervorruft: „Die gewählte Diktion und die vorgetragenen Inhalte der Vorträge trug[en] der kriegsbedingten ‚Desillusionierung‘ der zivilen und militärischen Zuhörerschaft nur ungenügend Rechnung und verfehlt[en] so den Erwartungshorizont der Zuhörer.“13 Den Anspruch, Orientierungswissen zu liefern und als Sinnstifter zu fungieren, konnten die deutschen Soziologen unter Verweis auf ihre kulturphilosophischen Deutungen der deutschen Mission zur Bekämpfung zivilisatorischer Dekadenz wohl nicht mehr retten. Umgekehrt wären Simmels ernüchterte Zuhörer besser geeignet gewesen, zu einer realsoziologischen Einschätzung der Ursachen des Krieges und der bevorstehenden Niederlage zu gelangen. Nur, kaum war der Krieg verloren, sorgte Max Weber dafür, wie in einer Rede am 2. Januar 1919 in Heidelberg deutlich wird, dass der Zugang zu einer adäquaten Analyse der Kriegsursachen und der deutschen Niederlage verbaut wurde: „Der Krieg war unabwendbar; er mußte ausgefochten werden, weil es die deutsche Ehre gebot.“14 Sein ganzes, tief nationalistisch durchtränktes Bestreben gipfelte in der Forderung, „aus dem Friedensvertrag einen Fetzen Papier zu machen.“15 Zwar starb Weber schon 1920, aber das Revanchedenken war unter deutschen Soziologen weit verbreitet. Theodor Geiger, einer der wenigen der SPD angehörigen Soziologen, meinte noch 1932, es gebe keinen guten Deutschen, „der nicht alles daran zu setzen bereit wäre, um Dasein und Geltung unseres Volkes wiederherzustellen.“16 Das Trauma des „Schandvertrags von Versailles“ infiltrierte nicht nur das Denken Webers und Geigers, es generierte eine eigenständige Arbeitsrichtung, die sich ebenso wissenschaftlich wie politisch-agitatorisch mit Nation, Volk/Volkstumskampf und dem Grenz- und Auslanddeutschtum befasste.17 Schon 1965 verwies Ralf Dahrendorf auf die „thematischen Vorlieben der Nationalsozialisten, die einige integre Soziologen teilten.“18 Jedoch verharrt diese Beschreibung des Verhältnisses von Soziologie und Nationalsozialismus an der Oberfläche, weil die Rolle sozialwissenschaftlichen Expertenwissens in Politikfeldern des NS-Regimes völlig ausgeblendet wird. Vorab muss deshalb darauf eingegangen werden, inwieweit die Weimarer Soziologie überhaupt eine professionelle zeitdiagnostische Kompetenz entwickelt hatte. Wie andere auch, geht Sven Papcke bei der Begründung seiner Formel von der „weltfernen Wissen12
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Joas: Klassiker, S. 191, siehe Anm. 8; vgl. zu den Bemühungen deutscher Soziologen, den militärischen Auseinandersetzungen die Weihen eines Kultur- und Weltanschauungskrieges zu verleihen, Klaus Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland. Frankfurt am Main 1996, S. 392-419: Die ‚Ideen von 1914’ und der Erste Weltkrieg. Uwe Barrelmeyer: Der Krieg, die Kultur und die Soziologie. Georg Simmel und die deutschen Soziologen im Ersten Weltkrieg, in: Sociologia Internationalis, 32. Bd., 1994, S. 182. Zit. nach Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920. Tübingen 21974, S. 347. Zit. nach ebd., S. 345. Zit. nach Sven Papcke: Weltferne Wissenschaft. Die deutsche Soziologie der Zwischenkriegszeit vor dem Problem des Faschismus/Nationalsozialismus, in: Ders. (Hrsg.): Ordnung und Theorie. Beiträge zur Geschichte der Soziologie in Deutschland. Darmstadt 1986, S. 173. Vgl. als Beispiel das Kapitel über das von dem Soziologen Max Hildebert Boehm gegründete Institut für Grenz- und Auslandstudien in Berlin-Steglitz, in: Klingemann: Soziologie, siehe Anm. 2. Ralf Dahrendorf: Soziologie und Nationalsozialismus, in: Andreas Flitner (Hrsg.): Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. Eine Vortragsreihe der Universität Tübingen. Tübingen 1965, S. 119.
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schaft“ von der Tatsache aus, dass diese Entwicklungsphase der Soziologie vom Kampf um ihre Anerkennung als akademisches Fach geprägt war. Wie anders ist der erbitterte Kampf um die Werturteilsenthaltsamkeit sonst zu verstehen. Um nicht länger als „Wortmaskenverleihinstitut“ geächtet werden zu können, musste der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit offensiv vertreten werden. Allerdings führe das zu einer frühen Vergreisung des noch jungen Faches. Die Fixierung auf die Erlangung akademischer Reputation erwirke eine trotzige Abweisung wirklichkeitsnaher Forschungsaufgaben, was einen rapiden Rückzug aus tagespolitisch bedeutsamen Fragestellungen mit sich bringe, was Papcke schließlich vom „Autismus der Soziologie“ sprechen lässt. Diese „fachspezifische Weltferne der deutschen Soziologie“19 blieb nicht ohne Folgen für die politische Kultur der ersten deutschen Demokratie. Nun mag man Papcke entgegenhalten, dass er einfach der noch weitgehend unkonfigurierten Einrichtung namens Soziologie zu viel zumutet. Symptomatisch ist, dass der erste Lehrstuhl nur für Soziologie erst 1925 mit Hans Freyer an der Universität Leipzig besetzt wurde, einem Jugendbewegten, dessen Ideal politischer Herrschaft die schwache Republik wahrhaftig nicht gerecht werden konnte. Nur war eben die institutionelle Verfasstheit der Soziologie selbst noch ebenso schwach wie der Staat selbst. Man kann mit M. Rainer Lepsius „der“ Soziologie eigentlich noch gar nichts zurechnen. „Die Soziologie zeigte in den zwanziger Jahren keine dominante Gestalt, sie entwickelte sich in vielen Milieus durchaus uneinheitlich. Auch innerhalb der lokalen Zentren der Soziologie in der Weimarer Republik bestand kaum eine paradigmatische Einheitlichkeit. Dies galt für Berlin ebenso wie für Wien. Aber auch die überschaubaren Zentren wie Heidelberg, Frankfurt, Köln und Leipzig waren wissenschaftsgeschichtlich nicht homogen.“ So gesehen ist die Rede von einem Kollektivsubjekt Soziologie gegenstandslos. „Am Anfang der Weimarer Republik besaß die Soziologie kein klares Selbstverständnis, und nur wenige verstanden sie als eine empirisch fundierte Einzelwissenschaft.“ Aber diese Beschreibung ihres Zustands zu Beginn der Weimarer Republik gilt bis zu deren Ende: „mit der von den Fachsoziologen befürworteten und betriebenen Institutionalisierung der Soziologie verbindet sich kein klares Selbstverständnis über Fragestellung, Methode und Funktion der Soziologie.“20 Damit korrespondiert andererseits die vage bis ablehnende Fremdwahrnehmung der Soziologie seitens des etablierten Hochschulsystems. So wurde, wie bereits erwähnt, der nur der Soziologie gewidmete Lehrstuhl erst 1925 besetzt, und bis zum Ende der Weimarer Republik kamen nur vier weitere hinzu. Allerdings wurde Soziologie auch von zahlreichen Vertretern anderer Statusgruppen und Fächer gelehrt.21 In quantitativer und qualitativer Hinsicht fasst Lepsius seine Beobachtungen schließlich zusammen: „In den zwanziger und dreißiger Jahren war die Soziologie noch unzulänglich als Disziplin ausdifferenziert und so mangelt es an institutionellen Kriterien. Die ‚soziologische Perspektive‘ entfaltet sich nach dem Ersten Weltkrieg in einer breiten Streuung über die Disziplinen und wird vielfach von Personen außerhalb des Universitätskontextes getragen.“22 Dennoch kam es in gewisser Weise zu einer Institutionalisierung. Erhard Stölting, der sich intensiv mit der akademischen Soziologie während der Weimarer Republik befasst hat, untersuchte insbesondere die Mechanismen dieses Institutionalisierungsprozesses und der 19 20 21 22
Vgl. Papcke: Wissenschaft, S. 184, 185, 189, 190, 204, siehe Anm. 16. M. Rainer Lepsius: Die Soziologie der Zwischenkriegszeit: Entwicklungstendenzen und Beurteilungskriterien, in: Ders. (Hrsg.): Soziologie in Deutschland und Österreich 1918-1945. Materialien zur Entwicklung, Emigration und Wirkungsgeschichte. Opladen 1981, S. 11, 12. Vgl. Gabriele Fornefeld/Alexander Lückert/Klemens Wittebur: Die Soziologie an den reichsdeutschen Hochschulen zu Ende der Weimarer Republik. Versuch einer Bestandsaufnahme, in: Papcke (Hrsg.): Ordnung, siehe Anm. 16. M. Rainer Lepsius: Die sozialwissenschaftliche Emigration und ihre Folgen, in: Ders. (Hrsg.): Soziologie, S. 463, siehe Anm. 20.
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Herausbildung einer Identität der Disziplin, die ja schließlich über Fachzeitschriften, Hochschullehrerstellen und eine Standesorganisation, die DGS, aber über keinen eigenen Studiengang mit einem akademischen Abschluss verfügte: „Die akademische Soziologie jener Zeit hatte kein Monopol auf ihren Gegenstand, so daß die Vorstellung einer Entwicklungsmechanik zunehmender Spezialisierung entfällt. Sie verfügt auch über keine Einheitlichkeit der Methoden und Gegenstände, und damit über keinen gemeinsamen Begriff von ‚Soziologie‘. Die Annahme, daß sich die Institutionalisierung an irgend einem ‚Paradigma‘ festmachte, entfällt damit ebenfalls.“ Hiermit hat Stölting wissenschaftsinterne Handicaps benannt, die eine erfolgreiche Institutionalisierung behinderten. Im Anschluss daran erwähnt er externe Faktoren: „Schließlich gab es kaum ökonomische oder politische Aufgaben, die die Soziologie als Disziplin exklusiv übernommen hätte. Die Diskussion der großen gesellschaftspolitischen Themen jener Zeit – Revolution und Reform, Sozialpolitik, Klassenverhältnisse, Machtverhältnisse, Arbeitslosigkeit und ihre sozialen Folgen usw. – verblieb weitgehend in ihrem traditionellen Kontext: der Nationalökonomie und der politischen Presse.“23 Damit hat er unbewusst das entscheidende Moment ihrer Unterentwicklung angesprochen. Die deutsche Soziologie war nicht außeruniversitär professionalisiert, so dass von dort keine Impulse für ihre akademische Institutionalisierung inhaltlicher Art ausgehen konnten. Diese beschränkte sich sozusagen auf symbolische Repräsentanz, eine Existenz durch Selbstthematisierung. Das sollte sich nach 1933 dramatisch ändern! Misst man den Entwicklungsstand einer nationalen Soziologie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts an der wegen ihrer empirischen Ausrichtung als modernste geltenden Soziologie der USA, dann erscheinen als entscheidende Faktoren für die Rückständigkeit der deutschen Soziologie deren traditionelle geisteswissenschaftliche Orientierung und die fast völlige Abstinenz an empirischer Sozialforschung. Der Geschäftsführer der DGS, Leopold von Wiese, leitete zwar die Abteilung für Soziologie im Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften der Stadt Köln. Er widmete sich aber vornehmlich der Perfektionierung seiner „Beziehungslehre“, die sich durch große Praxisferne auszeichnete. Empirische Forschungsprojekte, die er gerne als Exkursionen mit Studenten durchführte, waren rein akademische Fingerübungen ohne außeruniversitäre Resonanz.24 Empirisch orientierte Arbeiten, die einen gewissen Anspruch erhoben, auf politische Diskussionen Einfluss nehmen zu wollen, wurden hingegen von der sozialrechtlichen und der sozialpolitischen Abteilung des Forschungsinstituts für Sozialwissenschaften durchgeführt.25 Nicht nur das Kölner Beispiel auch eine Gesamtbilanz der praktizierten empirischen Sozialforschung während der Weimarer Republik zeigt, dass es sie zwar gab. Der Beitrag der Soziologen war dabei zum Beispiel aber geringer als der der Mediziner. „Empirical social research as we define it today, existed in abundance in Germany in the period between 1914 and 1933. However […] ist was conducted almost exclusively by non-sociologists.“26 So bettelte auch der Leiter des Hamburger soziologischen Seminars Andreas Walther, der sich am Vorbild der amerikanischen Stadtsoziologie orientierte, während der Weimarer Republik vergeblich um finanzielle Unterstützung. Eine Chance, seine mit sehr viel Aufwand erstellte soziologische Infrastruktur zur Durchführung von Slumsanierungen in Hamburg für die direkte Anwendung aufzubereiten, erhielt er gleich nach Hitlers Machtantritt. Er brauchte sie nur im Sinne der nationalsozialistischen sozialhygienischen Vorstellungen – Identifizierung „gemein23 24 25 26
Erhard Stölting: Akademische Soziologie in der Weimarer Republik. Berlin 1986, S. 5f. Vgl. Heine von Alemann: Leopold von Wiese und das Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften in Köln 1919 bis 1934, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 28. Jg., 1976. Vgl. Irmela Gorges: Sozialforschung in der Weimarer Republik 1918-1933. Gesellschaftliche Einflüsse auf Themen- und Methodenwahl des Vereins für Socialpolitik, der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und des Kölner Forschungsinstituts für Sozialwissenschaften. Frankfurt am Main 1986. Susanne P. Schad: Empirical Social Research in Weimar-Germany. Paris-The Hague 1972, S. 97.
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schädlicher Gebiete“ – zu verschärfen.27 Als ersten Schritt zur „Institutionalisierung der Soziologie in angewandter Form“ in Deutschland, der aber zu nichts geführt habe, bezeichnet ein amerikanischer Fachkollege die Beschäftigung eines gelernten Soziologen außerhalb der Hochschulen.28 Dabei handelt es sich um den ehemaligen Assistenten von Leopold von Wiese, den habilitierten Soziologen Willy Gierlichs, der als „Sachbearbeiter für polizeiliche Soziologie“ am Polizei-Institut in Berlin-Charlottenburg tätig war. Gierlichs entfaltete allerdings nach 1933 zusammen mit von Wiese rege Aktivitäten am Soziologischen Seminar der Universität Köln und brachte es schließlich bis zum Sonderführer im NS-Führungsstab des Oberkommandos der Kriegsmarine.29 3. „Jüdische Soziologie“ in der Weimarer Republik, im Dritten Reich und in der Bundesrepublik Deutschland 3.1 „Jüdische Soziologie“ in der Weimarer Republik Gierlichs ist ein treffendes Beispiel für die Öffnung bis 1933 blockierter Karrieren von Nachwuchssoziologen. Nicht selten wurden diese Blockaden mehr oder weniger offen auf die Überrepräsentation von Juden zurückgeführt. Mit René König eröffnete einer der prominentesten Nachkriegssoziologen seine Ausführungen über den Beitrag des Judentums zur Soziologie mit folgenden Worten: „In den zwanziger Jahren ging in Deutschland eine scherzhafte Anekdote um, die das Verhältnis der Soziologie zum Judentum betraf. Sie stammte aus Heidelberg und wurde dem hervorragenden jüdischen Germanisten Friedrich Gundolf zugeschrieben, so daß wir sie als politisch unverdächtig übernehmen und unseren Erörterungen voranstellen können. Diese Anekdote lautet folgendermaßen: nach einem Soziologenkongreß (wahrscheinlich dem von 1924 in Heidelberg) seufzte Gundolf: ‚Jetzt weiß ich wenigstens, was Soziologie ist! Soziologie ist eine jüdische Sekte.‘„30 Es sei dahingestellt, inwieweit die Tatsache, dass viele frühe deutsche Soziologen jüdischer Herkunft waren, eine solche ironische Zuspitzung oder gar das ernst gemeinte Konstrukt eines jüdischen Entstehungs-Milieus (D. Käsler) legitimiert. Belegbar ist am Beispiel des evangelisch getauften, von polnischen Juden abstammenden Georg Simmel, inzwischen ein Klassiker der Soziologie, wie seine von Antisemiten und Freunden gleichermaßen als typisch jüdisch charakterisierte äußere Erscheinung als mit seinem Auftreten als Intellektueller und Soziologe korrespondierend bezeichnet wurde.31 Dies führte zu einer Jahrzehnte dauernden Verhinderung seiner Berufung auf einen Lehrstuhl.
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Vgl. Karl Heinz Roth: Städtesanierung und ‚ausmerzende Soziologie’. Der Fall Andreas Walther und die ‚Notarbeit 51’ der ‚Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft’ 1934-35 in Hamburg, in: Carsten Klingemann (Hrsg.): Rassenmythos und Sozialwissenschaften in Deutschland. Wissenschaftshistorische Beiträge zu einem verdrängten Kapitel sozialwissenschaftlicher Wirkungsgeschichte. Opladen 1987. Vgl. Edward Shils: Geschichte der Soziologie: Tradition, Ökologie und Institutionalisierung, in: Talcott Parsons/Edward Shils/Paul F. Lazarsfeld: Soziologie – autobiographisch. Drei kritische Berichte zur Entwicklung einer Wissenschaft. Stuttgart 1975, S. 141. Vgl. das Kap. Über die Kölner Soziologie während des Nationalsozialismus, in: Klingemann, Soziologie, siehe Anm. 2. René König: Der Beitrag des Judentums zur Soziologie, in: forum academicum, Heidelberg, 1/63, S. 5. Vgl. Erhard R. Wiehn: Juden als Soziologen, in: Ders. (Hrsg.): Juden in der Soziologie. Konstanz 1989, S. 66ff; Karl-Siegbert Rehberg: Das Bild des Judentums in der frühen deutschen Soziologie, S. 146ff; Klaus Christian Köhnke: Georg Simmel als Jude, beide in: Wiehn (Hrsg.).
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Antisemitische Ressentiments gehörten allgemein zum akademischen Alltag der Wilhelminischen und Weimarer Zeit und wurden gelegentlich generalisierend gegen die Soziologie als neues Universitätsfach gerichtet. Der renommierte Romanist Ernst Robert Curtius formulierte die einzelnen Aversionselemente gekonnt kombinierend: „Die Verflechtung des deutschen Judentums mit sozialistischen oder marxistischen oder ‚submarxistischen‘ Gesellschaftslehren ist natürlich selbst ein soziologischer Tatbestand von erheblicher Bedeutung.“32 Diese Ausführungen aus dem Jahr 1932 richten sich – wie schon frühere Angriffe – vorgeblich nur gegen alle Formen des Soziologismus, zielen in der Tat aber auf die Soziologie als solche, wobei er hauptsächlich den jüdischen Soziologen Karl Mannheim ins Visier nimmt. Die Auseinandersetzung zwischen Curtius und Mannheim ist treffend als „Kontroverse am Abgrund“ bezeichnet worden, da sie von Curtius antisemitisch aufgeladen worden war. „Der Nationalsozialismus nahm Platz auf einem schon weitflächig durchseuchten Boden.“33 An der Universität Frankfurt am Main, wo schon das Institut für Sozialforschung als jüdische Hochburg galt, lehrte ab 1930 auch Mannheim als Nachfolger des jüdischen Soziologen Franz Oppenheimer, und sein Assistent Norbert Elias war ebenfalls Jude. Nach der Erinnerung des ehemaligen Studenten Karl Korn fiel dort „das Wort von der Soziologie als einer jüdischen Wissenschaft.“34 Es ist davon auszugehen, dass nichtöffentlich antisemitische Ressentiments immer virulent waren, denn jüdische Kollegen antizipierten dies und wandten sich gegen die Berufung weiterer Juden.35 Es darf dabei nicht vergessen werden, dass große Teile der Studentenschaft schon bevor der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund die Bühne betrat, bereits ausgesprochen antisemitisch eingestellt waren. Studentenorganisationen nahmen jüdische Kommilitonen nicht auf, und Studentenausschüsse beziehungsweise Studentenkammern beschlossen einen Numerus Clausus für jüdische Studenten. Allerdings gab es bis 1933 keine staatlichen Zugangsbeschränkungen.36 Trotz dieses antijüdischen Klimas sind bislang keine studentischen Störungen von Lehrveranstaltungen oder gar Angriffe auf jüdische Soziologen bekannt geworden.37 Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass vor 1933 im akademischen Raum durchaus von der Soziologie als jüdischer Wissenschaft die Rede war. Nur fehlt es bislang an Beweisen, dass sie von Nationalsozialisten in diffamierender Absicht als solche bezeichnet wurde. Das wäre auch kontraproduktiv gewesen, da nicht nur ständesoziologi32 33 34 35 36 37
Ernst Robert Curtius: Deutscher Geist in Gefahr. Stuttgart-Berlin 1932, S. 86. In einer Fußnote erläutert er, den Begriff von P. Landsberg entlehnt zu haben, der den “submarxistischen Soziologismus“ kritisiere. Dirk Hoeges: Kontroverse am Abgrund: Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim. Intellektuelle und „freischwebende Intelligenz“ in der Weimarer Republik. Frankfurt am Main 1994, S. 91. Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte – Theoretische Entwicklung – Politische Bedeutung. München-Wien 1986, S. 132. Vgl. Helmuth Schuster: Theorien, Utopien und rassistische Abgründe sozialwissenschaftlicher Bevölkerungsforschung zwischen wilhelminischem Mitteleuropa-Modell und SS-Generalplan Ost, in: Klingemann (Hrsg.): Rassenmythos, S. 324, siehe Anm. 27. Vgl. Michael Grüttner: Studenten im Dritten Reich. Paderborn u. a. 1995, S. 25-31. Vgl. dagegen zu den Kampagnen gegen den Statistiker und engagierten jüdischen Pazifisten Emil Julius Gumbel, Mitglied des Instituts für Sozial- und Staatswissenschaften an der Universität Heidelberg, Reinhard Blomert: Intellektuelle im Aufbruch. Karl Mannheim, Alfred Weber, Norbert Elias und die Heidelberger Sozialwissenschaften der Zwischenkriegszeit. München-Wien 1999, S. 283ff, und speziell zur fragwürdigen Rolle, die Gumbels Kollegen Alfred Weber und Arnold Bergstraesser gespielt haben, Klingemann: Soziologie, S. 121ff, siehe Anm. 2. Nationalsozialistische Medizinstudenten störten die Vorlesung des nicht jüdischen Soziologen Gerhard Kessler, nachdem er sich in der Neuen Leipziger Zeitung am 28. November 1932 über das NSDAP-Parteiprogramm, Hitlers „Mein Kampf“ und führende Parteigrößen lustig gemacht hatte; vgl. Helmut Heiber: Universität unterm Hakenkreuz. Teil 1. Der Professor im Dritten Reich. München u. a. 1991, S. 52f. Kessler ging ins Exil an die Universität Istanbul, gegen ihn wurde ein Ausbürgerungsverfahren betrieben; vgl. Klaus-Detlev Grothusen (Hrsg.): Der Scurla-Bericht. Die Tätigkeit deutscher Hochschullehrer in der Türkei 1933-1939. Frankfurt am Main 1987, S. 132.
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sche Konzepte von Nationalsozialisten an prominenter Stelle propagiert wurden. Als Heft 1 der Nationalsozialistischen Bibliothek gibt Gottfried Feder 1927 „Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundgedanken“ heraus. Darin wird eine der wohl bekanntesten und erfolgreichsten NS-Parolen „Gemeinnutz vor Eigennutz“ aus dem Universalismus des Soziologen Othmar Spann abgeleitet. „Mit unübertrefflicher Meisterschaft hat Othmar Spann, Wien, der frühere Rektor der Wiener Universität, in seinem Buche ‚Der wahre Staat‘ und in seiner ‚Gesellschaftslehre‘ die soziologischen Grundlagen des heutigen individualistisch gebauten Staates im Gegensatz zu dem Hochziel der universalistischen Ordnung der Gesellschaft wissenschaftlich begründet. Wir Nationalsozialisten haben schlicht und einfach die jedermann verständliche Formel dafür geprägt: Gemeinnutz vor Eigennutz.“38 Ebenfalls in der Nationalsozialistischen Bibliothek erscheint schon in der Weimarer Republik als Heft 16 der „Grundriß einer nationalsozialistischen Volkswirtschaftstheorie“, in dem die Forderung der „Aufrechterhaltung der gesunden Mischung von Klein-, Mittel- und Großbetrieben auf allen Gebieten des wirtschaftlichen Lebens“ (G. Feder) als „Folgerung der ständepolitischen Soziologie des Nationalsozialismus“ bezeichnet wird.39 1930, im ersten Jahrgang der „Nationalsozialistischen Monatshefte“, der „Wissenschaftlichen Zeitschrift der NSDAP“, die von Adolf Hitler herausgegeben wurde (Schriftleitung: Alfred Rosenberg), wird unter Berufung auf den französischen Soziologen René Worms40 die Entwicklung der Soziologie „zur Philosophie der sozialen Einzelwissenschaften“ proklamiert. „Das Hauptverdienst der Soziologie liegt in der organischen Zusammensetzung gegenüber liberalistischer Zersplitterung.“41 In diesem Zusammenhang ist es auch nicht mehr verwunderlich, dass Hitler im Februar 1932 ausgerechnet zum Professor für „Organische Gesellschaftslehre und Politik“ an der TH Braunschweig ernannt werden sollte, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten. Erst 1981 wurde der Dienstvertrag unter den „privatesten Papieren“ Hitlers, die für ihn „offensichtlich große nostalgische Bedeutung“ besessen haben sollen, gefunden.42 Nach dem regimetreuen Hamburger Soziologen Andreas Walther ist es ausgerechnet der Führer, der die „beschimpfte Flagge“ der Soziologie hochhält. „Das Wort ‚soziologisch‘ wird überdies weiterhin unbefangen gebraucht, auch in Reden des Führers und seiner nächsten Mitarbeiter.“43 Hitler spricht zum Beispiel vom „so38
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Gottfried Feder (Hrsg.): Das Programm der N.S.D.A.P. und seine weltanschaulichen Grundgedanken. München 1932 (71. -79. Auflage, 351. – 395. Tausend.), S. 28. Othmar Spann fiel bald jedoch in Ungnade bei den an die Macht gekommen Nationalsozialisten, weil sein Ständesoziologie nicht kompatibel war mit der realen NS-Staatsorganisation, die nach wie vor von dem Verständnis eines starken Staats geprägt war (und nicht durch einen Staat als einem Stand unter anderen), aber auch Parteiinstitutionen als integralen Bestandteil der Staatsmacht implementierte. Feder ist dennoch seiner Vorliebe für später dann missliebige Soziologen treu geblieben. Das knappe Literaturverzeichnis seines Buches „Die neue Stadt. Versuch der Begründung einer neuen Stadtplanungskunst aus der sozialen Struktur der Bevölkerung“. Berlin 1939, führt u. a. den ‚jüdisch versippten’ Kurt Breysig, den Juden Franz Oppenheimer und den als Vierteljuden geltenden Rudolf Heberle auf, die beide zum Zeitpunkt des Erscheinens seines Buches bereits ins Exil gegangen waren. Feder hat, obwohl Herausgeber des NSDAPParteiprogramms, während des Dritten Reichs politisch keine Rolle mehr gespielt. Hans Buchner: Grundriß einer nationalsozialistischen Volkswirtschaftlehre, 5. Auflage. München 1933, S. 33. Vgl. zu dessen Rolle als führender Organisator der französischen Soziologie und zu seiner „organizistischen“ Wissenschaftsauffassung den Artikel „René Worms“ in: Wilhelm Bernsdorf/Horst Knospe (Hrsg.): Internationales Soziologenlexikon. Band 1: Beiträge über bis Ende 1969 verstorbene Soziologen. Stuttgart 21980, S. 505. Heinz Roesch: Soziologie – die organische Wissenschaft, in: Nationalsozialistische Monatshefte 1 (1930), H. 9, S. 422. So die Vermutung des Historikers Manfred Overesch, in: Der Spiegel, Nr. 6, 02.02.1981, S. 85f. Andreas Walther: Die neuen Aufgaben der Sozialwissenschaften. Hamburg 1939, S. 36.
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ziologischen Begriff des Arbeiters“, den es zum Ehrentitel der Arbeit zu adeln gelte.44 Bereits die geradezu begeisterte Berichterstattung des „Völkischen Beobachters“ über das Soziologentreffen in Jena 1934 und der Erfolgsbericht des „Westdeutschen Beobachters. Amtliches Organ der NSDAP und sämtlicher Behörden“ über „Das soziologische Seminar“ an der Universität Köln vom Mai 1935 – und erst recht die noch zu schildernde Modernisierung der deutschen Soziologie durch die Förderung der empirischen Sozialforschung während des Dritten Reichs – lassen das von René König kolportierte Klischee von der „Tiefe des Hasses der Nationalsozialisten gegen die Sozialwissenschaftler und Soziologen“ und die Rede von Theodor W. Adorno von der „Feindschaft des Hitler und seiner intellektuellen Fronvögte gegen die Soziologie als Wissenschaft“45 als interessierte Legendenbildungen erscheinen. 3.2 „Jüdische Soziologie“ im Dritten Reich und in der Bundesrepublik Deutschland Erstaunlich ist, dass diese Legende auch ungeprüft als Tatsache Eingang in die spätere Soziologiegeschichtsschreibung gefunden hat. Dirk Käsler stellt ohne einen einzigen Beleg die Behauptung auf: „Es darf eben nicht […] vergessen werden, daß es eines der zentralen ‚Argumente‘ der nationalsozialistischen Propaganda gegen eine bestimmte Auswahl früher deutscher Soziologen und gegen eine bestimmte Art von Soziologie war, daß es sich bei ‚der Soziologie‘ um eine im Grunde genommen ‚jüdische Wissenschaft‘, d.h. ‚undeutsche‘ Wissenschaft handele.“46 Die Unhaltbarkeit dieser Tatsachenbehauptung wird insbesondere dadurch sichtbar, dass Käsler durch Unterstreichung hervorhebt, es handele sich um eine bestimmte Auswahl und eine bestimmte Art von Soziologie, gegen die die nationalsozialistische Propaganda vorgegangen sei. Zumindest dafür hätte es wohl das eine oder andere nachweisbare Zitat geben müssen. Nun könnte es ja sein, dass die nationalsozialistische Propaganda nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler die Soziologie durch ihre Etikettierung als jüdisch zu diskreditieren trachtete. Aber auch für diesen Zeitraum ist bislang kein Hinweis auf eine derartige Auslassung der NSDAP oder anderer NS-Instanzen und offizieller Repräsentanten des Regimes gefunden worden – hingegen aber von Vertretern des Faches selbst. Es ist dem 81-jährigen Ferdinand Tönnies, der schon während der Weimarer Republik als einer der ganz wenigen deutschen Soziologen öffentlich gegen die Nationalsozialisten aufgetreten war,47 zu verdanken, dass die DGS nicht mit der Belastung leben muss, aus Opportunismus die jüdischen Mitglieder ihres Rates, ihrem höchsten Gremium, ohne Not ausgeschlossen zu haben. Dies hatten zwölf Teilnehmer einer außerordentlichen Ratssitzung im August 1933 beschlossen. Dieser Beschluss ist einer von mehreren, die gefasst worden waren, um die vom 1. Schriftführer der DGS, Leopold von Wiese, geplante Strategie der Selbstgleichschaltung zur Verhinderung einer Gegengründung umsetzen zu können. Der Wortlaut des Beschlusses klingt unverfänglich, bedeutete aber den Erlass eines DGS-eigenen Arier44 45
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Vgl. Max Domarus (Hrsg.): Hitlers Reden und Proklamationen 1932-1945, I. Band. Würzburg 1962, S. 351. René König: Die Situation der emigrierten deutschen Soziologen in Europa, in: Wolf Lepenies (Hrsg.): Geschichte der deutschen Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, Bd. 4, Frankfurt am Main 1981, S. 143; Theodor W. Adorno: Zum gegenwärtigen Stand der deutschen Soziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 11. Jg., 1959, S. 257. Käsler: Soziologie, S. 358f, siehe Anm. 11. Vgl. Horst Rode/Ekkehard Klug: Ferdinand Tönnies’ Verhältnis zu Nationalsozialismus und Faschismus, in: Lars Clausen/Franz Urban Pappi (Hrsg.): Ankunft bei Tönnies. Soziologische Beiträge zum 125. Geburtstag von Ferdinand Tönnies. Hamburg 1981.
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Paragraphen, da entschieden wurde, „zunächst nur die bisherigen Ratsmitglieder, soweit sie nicht wegen Beurlaubung oder Übersiedlung ins Ausland ausscheiden, wiederzuwählen.“48 Auf dieser Sitzung wurde auch ein neues Organ, ein „Geschäftsführender Ausschuß“, gegründet mit dem neuen Präsidenten Werner Sombart als Nachfolger von Ferdinand Tönnies, Hans Freyer als „Beisitzer“ und von Wiese als 1. Schriftführer. Nachdem Tönnies, der an der Sitzung teilgenommen hatte, erklärte, er sei dort überrumpelt worden und er erkenne den genannten Beschluss und die Wahl des Ausschusses nicht an, traf dieser sich im September 1933 in Sombarts Berliner Wohnung und hob die Beschlüsse auf. Damit war zwar der Beschluss, die durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom April 1933 aus den Hochschulen vertriebenen jüdischen und die emigrierten oder entlassenen Kollegen auf kaltem Wege auch noch aus der Deutschen Gesellschaft für Soziologie auszuschließen, vom Tisch.49 Aber die spezielle ‚Judenfrage‘ der DGS war noch nicht gelöst. Der Kieler Soziologe und Ratsmitglied, Ludwig Heyde, unterbreitete Sombart im Dezember 1933 auch einen Vorschlag, um zu einer „Verständigung“ mit den Gegnern der auszuschaltenden alten Leitung der DGS zu kommen. Auf seiner Vorschlagsliste lautet der Punkt „7., alle in Deutschland verbliebenen Mitglieder der bisherigen Ges. f. S. werden grundsätzlich übernommen, soweit die Neugründungs-Versammlung nicht auf grund begründeter Einsprüche gegenteilig entscheidet; Nichtariertum allein bildet nicht ausreichenden Einspruchsgrund, doch ist einer erneuten Verjudung grotesken Ausmaßes unbedingt auszuweichen und für die Zukunft vorzubeugen.“50 Diese groteske Furcht vor einer Verjudung nach fast einem Jahr NS-Herrschaft kann nicht als realitätsferne Obsession eines einzelnen Fachvertreters abgetan werden. Bis zum Ende des NS-Regimes ließ das Thema „jüdische Soziologie“ prominente Reichssoziologen nicht ruhen. Dabei kam es aber auch zu einer Verschiebung in Richtung der speziellen Thematik „Juden und die westliche Soziologie“. Gut zwei Monate nach Hitlers Regierungsantritt reagiert der Direktor des Instituts für Sozial- und Staatswissenschaften an der Universität Heidelberg, Carl Brinkmann, auf eine Anfrage des kurzzeitig im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda tätigen Philosophen und Soziologen Erich Rothacker, der auf der Suche nach geeigneten Mitarbeitern ist. Brinkmann möchte gerne die „Doppelfront gegen liberalistisches Laissez-faire einerseits und marxistische Entwürdigung von Volk und Staat andererseits“ verstärken. „Leider: Ihre Frage ist sehr schwer zu beantworten, weil in unserem Fach unter sehr starkem jüdischen Einfluss auch der Fachpresse und der Unterrichtsverwaltungen die begabtesten Kräfte meist zum Liberalismus oder Marxismus gegangen sind.“51 Entsprechende öffentliche Auslassungen sind von Brinkmann nicht bekannt. Das gilt auch für den international bekannten Ethnologen und Soziologen Richard Thurnwald, der aber 1936 die Errichtung eines Instituts für Völkerforschung an der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität mit zeitgemäßer Begründung beantragte. Er empfahl sich selbst als Direktor des Instituts, indem er (u. a.) auf seine nationalsozialistische Gesinnung und seinen Kampf vor 1933 gegen die „völlig marxistisch talmudistisch verseuchte Soziologie, wie sie von einer Gruppe besonders Frankfurter Juden“ vertreten wurde, verwies.52 48 49 50 51 52
Vgl. Klingemann: Soziologie, S. 18, siehe Anm. 2. Zur Stilllegung der DGS und zu den Akteuren des Jenaer Soziologentags 1934, von denen einige eine Gegengründung angedroht hatten, vgl. Klingemann: Soziologie, S. 11ff, siehe Anm. 2. Ludwig Heyde an Hochverehrter Herr Geheimrat, 27. Dez. 1933; Geheimes Staatsarchiv BerlinDahlem, Rep. 92, Nachlass Werner Sombart, Nr. 18a, Bl. 43R. Carl Brinkmann an Sehr geehrter Kollege, 6.IV.33; Universitätsbibliothek Bonn, Nachlass Rothacker I. Vgl. Klaus Timm: Richard Thurnwald: „Koloniale Gestaltung“ – ein „Apartheids-Projekt“ für die koloniale Expansion des deutschen Faschismus in Afrika, in: Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift, 18. Jg., 1977. Zwar konnte Thurnwald diese Pläne nicht realisieren, er war aber als Politikberater durchaus gefragt: Mitglied des Ausschusses für Kolonialrecht an der Akademie für Deutsches Recht,
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In dem Bestreben, die eigene Soziologie zu propagieren und protegieren zu lassen, ist der eigentliche Grund zu sehen, auch nach 1933 immer wieder das Gespenst einer jüdischen Soziologie aufleben zu lassen. 1939 sind gleich vier Wortmeldungen zu vermerken, von denen nur die von Heinz Maus, der bei Max Horkheimer am Institut für Sozialforschung studiert hatte, den Versuch einer Entmystifizierung der Formel darstellt. So wie er bemüht ist, deutlich zu machen, dass Ferdinand Tönnies, Ernst Troeltsch und Max Weber nur als Materialisten im Sinne einer wirklichkeitswissenschaftlichen Analyse der Gesellschaft zu bezeichnen seien, so wären andere Denksysteme nicht über die Religionszugehörigkeit einzelner Vertreter zu definieren. „Der Materialismus kann auch nicht darum als jüdisch plakatiert werden, weil zu seinen Theoretikern neben Engels Marx gehörte. Wenn es auch jüdische Soziologieprofessoren gab wie Marxisten, die Juden waren, so ist deshalb noch nicht die Soziologie eine jüdische zu schimpfen, der flugs die reine Lehre introjiziert werden müsse.“53 Wiewohl Maus in diesem Aufsatz auch für die Kritische Theorie wirbt, plädiert er gleichzeitig für den Einsatz von „materialistischen Methoden in der Sozialforschung“, wie sie von Andreas Walther in Anlehnung an die amerikanische Stadtsoziologie praktiziert werden.54 Karl Heinz Pfeffer hingegen macht er den Vorwurf, über den „Bezug auf die aktuelle soziale Situation“ nur enthusiastisch zu reden. „Hier täte ein Stück Positivismus not, der, als undeutsch abgelehnt, in der Sozialforschung doch sonst unverrückt sich behauptet.“55 Andreas Walther selbst wendet sich 1939 in seiner Programmschrift „Die neuen Aufgaben der Sozialwissenschaften“ gegen das „Paradepferd der deutschen Soziologie des letzten Jahrzehnts vor dem Umbruch“, das „‚gescheite‘ Theoretisieren“, was nun aber in der „nationalsozialistischen Revolution versunken“ sei. Dabei räumt er ein, die Soziologie habe „verhältnismäßig viel mehr Arbeiter verloren als jede andere Wissenschaft.“ Der Grund dafür ist: „Das intellektualistische Theoretisieren hatte besonders viele Juden auf das soziologische Feld gezogen.“56 Wenn jedoch nur Theorie gebraucht werde, reiche wohl der „sehr kleine Restbestand“ an soziologischen Arbeitern, „denn die kann auch von einem einzelnen ausgebaut werden.“ Nicht aber die von ihm praktizierte empirische Soziologie. „Soziographische Erhebungen dagegen, die sehr gebraucht worden wären, bedürfen einer Kooperation vieler Arbeiter, deren jeder immer nur ein Teilstück beizusteuern vermag.“57 Gleich zu Beginn der NS-Herrschaft hatte Walther – wie bereits erwähnt – mit großen Finanzmitteln ausgestattet und durchgeführt von zwölf Mitarbeitern eine „Sozialkarthographie“ der „gemeinschädlichen Regionen“ Hamburgs zur Vorbereitung von Flächensanierungen erstellt. Das eigentliche Ziel war es, „gemeinschädliche“ Familien und einzelne Individuen ausfindig zum machen, um zu verhindern, dass Sie nach der Vertrei-
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der Reichskolonialabteilung und des Reichsministerium für Bewaffnung und Munition (Arbeitseinsatzplanung ausländischer Arbeiter). Heinz Maus: Zur gesellschaftlichen Funktion der Soziologie, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. XXXIII, 1939/40, S. 170. Vgl. ebd., S. 154. Maus war in Kontakt mit Walther getreten, um sich bei ihm mit „einer Art Handbuch soziologischer Arbeitsmethoden“ zu habilitieren; Heinz Maus an Andreas Walther, 13.9.1940, Hessisches Staatsarchiv Marburg, Nachlass Heinz Maus, Nr. 20. Dieses nicht realisierte Vorhaben ist der Ursprung des Handbuchs der empirischen Sozialforschung, dessen erste Ausgabe „unter Mitwirkung von Heinz Maus“ von René König, den Maus nach Karl Gustav Specht ursprünglich als Juniorpartner in sein Projekt aufgenommen hatte, herausgegeben wurde; vgl. Carsten Klingemann: Wissenschaftliches Engagement vor und nach 1945. Soziologie im Dritten Reich und in Westdeutschland, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hrsg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2002, S. 426f. Maus: Funktion, S. 155, siehe Anm. 53. Walther: Aufgaben, S. 35, siehe Anm. 43; im vorangehenden Zitat ist das Wort „Theoretisieren“ (S. 34) im Original gesperrt gedruckt, um zu betonen, dass empirische Soziologie das Gebot der Stunde ist. Ebd., S. 36.
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bung aus ihren Wohnungen andere Viertel zu ‚sozialen Krankheitsherden‘ machen, sie mussten vorher ‚ausgemerzt‘ werden. Ansatzweise wurden Walthers Planungsvorgaben umgesetzt, aber mit dem Groß-Hamburg-Gesetz von 1937 wurde die Abriss-Politik durch andere städtebauliche Prioritäten ersetzt. Andreas Pfenning, Assistent am Institut für Sozial- und Staatswissenschaften an der Universität Heidelberg und Mitarbeiter im SSOberabschnitt Südwest, sieht in seinem auch 1939 erscheinenden Pamphlet „Vom Nachteil und Nutzen der Soziologie für die Politik“ eine „nicht geringe Berechtigung darin, die Soziologie als die ‚Wissenschaft der Juden‘ zu bezeichnen.“58 An den Hochschulen sei die Soziologie „Domäne des Judentums“ gewesen, „wie das Beispiel des ehrwürdigen Max Weberschen Instituts in Heidelberg etwa zeigte.“59 Gegen diese destruktive Soziologie, die auch „die äußerst wichtige Waffe der Marxisten“ war, setzt Pfenning sein Konzept einer „Ganzheitssoziologie“ auf rassisch-völkischer Grundlage. Sie soll eine „biologische Soziologie“ sein, um die „rassenhygienische Gesellschaft“, ein Begriff den Pfenning vom Soziologen Wilhelm Emil Mühlmann entlehnt haben will, zu errichten. Als „Sicherheitssoziologie oder Polizeisoziologie“ wird sie „für eine moderne Gesamtordnung zur unabwendbaren Notwendigkeit.“ Als Korrelat dazu fordert Pfenning schließlich eine „Wehrsoziologie“. Und so kommt er zu dem Schluss: Die Soziologie „hat für die Politik eine eminent praktische Bedeutung, und es wäre sehr zu überlegen, ob es nicht zweckmäßig sein würde, von Staats wegen eine Art soziologischer Observatorien einzurichten, wie das in andern Zusammenhängen früher schon einmal von einem Soziologen vorgeschlagen worden ist.“60 Pfenning selbst ist nicht mehr zur Umsetzung seiner Vorstellungen gekommen, da er nur für gut ein Jahr die Assistentenstelle innehatte. Er wurde 1941 eingezogen und blieb verschollen. Karl Heinz Pfeffer hingegen konnte ebenfalls 1939 schon auf Erfolge der neuen Soziologie hinweisen. Die alte Soziologie hingegen war als „Kampfmittel der westeuropäischen Überfremdung gegen das deutsche Volk gebraucht“ worden, in ihr hatten „die Juden eine willkommene Waffe“ gefunden. Die „westliche Soziologie“ als solche wurde „wesentlich von Juden getragen“, besonders „die Juden in der Soziologie vertraten die Meinung, daß eigentlich nur die Intelligenz, d. h. die Soziologen, d. h. die jüdischen Soziologen über den Fortgang der Geschichte zu ihrem Endziel zu entscheiden hätten.“ Der alten (nichtjüdischen) Soziologie konzedierte er immerhin eine gewisse Fruchtbarkeit, „wo sie ihre Erfahrungen bei der nüchternen Aufnahme sozialer Tatbestände, bei der ‚Soziographie‘, zur Verfügung stellt.“ Inzwischen habe sich aber auch eine eigentliche soziologische Volksforschung entwickelt, die sich um eine umfassende Untersuchung völkischer Gemeinschaften bemühe. „Diese Volksforschung, die echte Soziologie, hat sich zunächst in der Erforschung auslandsdeutscher Volksgruppen erprobt, dann aber auch die Völker, in denen deutsche Volksgruppen leben, untersucht, um schließlich als Auslandskunde das Auge des 58 59
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Andreas Pfenning: Vom Nachteil und Nutzen der Soziologie für die Politik, in: Volk im Werden, 7. Jg., 1939, S. 124. Ebd., S. 124f. Pfenning meint das Institut für Sozial- und Staatswissenschaften, das allerdings erst 1924, vier Jahre nach Webers Tod gegründet wurde. Zu Pfenning vgl. Klingemann: Soziologie, S.143f, siehe Anm. 2; zur Weber-Rezeption im Dritten Reich vgl. dort das Kap. über Max Weber in der Reichssoziologie 1933-1945. Pfenning: Nachteil, S. 124, 125, 126, 127, 128 (die Wörter „Politik“ und „praktisch“ sind im Original gesperrt gedruckt), siehe Anm. 58. Rudolf Heberle, der 1938 schließlich wegen politischer Unerwünschtheit und eines nicht arischen Großelternteils emigrieren musste, hatte 1934 in seinem Aufsatz, „Aufgaben und Anwendung der Soziologie in der Landschaftsforschung“, geltend gemacht, dass gerade eine „autoritäre Regierung, die auf das Vertrauen und die Zustimmung des Volkes aufbaut“, ein Interesse an der „Analyse der an der politischen Willensbildung beteiligten Gruppen“ haben müsse und schlug unter Verweis auf Wilhelm Heinrich Riehl die Einrichtung von „soziographischen (wie wir heute sagen würden) Beobachtungsstationen in allen deutschen Landschaften“ vor. In: Soziale Praxis, 45. Jg. H. 48, 29.11.1934, Sp. 1420, 1421f („politischen Willensbildung“ ist im Original gesperrt gedruckt).
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kämpfenden Volkes auf seine Umgebung darzustellen.“61 Kurz nachdem dieser Aufsatz erschienen war, wurde Pfeffer Professor für Volks- und Landeskunde Großbritanniens an der neu gegründeten Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Berliner Universität und später deren Dekan sowie amtierender Präsident des Auslandswissenschaftlichen Instituts. In enger Kooperation mit dem Sicherheitsdienst der SS wurde dort dann eine soziologisch orientierte Auslandskunde betrieben.62 Für Gunther Ipsen sind 1941 die jüdischen Soziologen auf internationaler Ebene eine Gefahr. In einem Bericht an das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung betont er, für wie wichtig er „den wissenschaftspolitischen Einsatz der deutschen Soziologie“ trotz der Verschiebung des 14. Internationalen Soziologenkongresses, der für 1939 geplant war, hält. „Wenn nichts anderes, so bewiese die starke Verjudung der internationalen Soziologie ihre hervorragende Bedeutung als politische Schlüsselstellung in der Wissenschaftsarbeit […].“63 Wie ernst Ipsen den Kampf gegen die jüdisch-westliche Soziologie nimmt, wird im Zusammenhang mit Helmut Schelskys retrospektiver Darstellung der Funktion der angeblichen Haltung des NS-Regimes gegenüber der „jüdischen Soziologie“ nochmals aufgegriffen. Alfred Baeumler, Pädagogik-Professor, Philosoph und Leiter des Hauptamtes Wissenschaft in der Behörde von Alfred Rosenberg als „Beauftragter des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Schulung und Erziehung der NSDAP“ (genannt: Amt Rosenberg) sieht ein Jahr später die Angelegenheit zumindest auf nationaler Ebene entspannter. Er meint zwar auch, in der republikanischen Ära sei die „Soziologie als Judenwissenschaft aufgezogen“ und „politisch zur Bekämpfung des Rassegedankens eingesetzt“ worden. Es bestehe aber keine Gefahr mehr, dass eine „reine Umweltwissenschaft die Köpfe verwirrt.“64 Baeumler ist zwar als Leiter des Hauptamtes Wissenschaft auch als Wissenschaftspolitiker zu sehen, der das Klischee von der Soziologie als Judenwissenschaft aufgreift, aber gerade nicht gegen einen bestimmten Soziologen oder die universitäre Soziologie einsetzt! Eine besondere Variante der Instrumentalisierung der Rede von der jüdischen Soziologie bietet Andreas Predöhl, Wirtschaftswissenschaftler und Direktor des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. In seinem Plädoyer für eine anwendungsorientierte Wirtschaftswissenschaft wehrt er sich gegen die „bei Methodologen beliebte politische Beurteilung eines Forschers nach der Art, wie er seine Denkinstrumente formuliert“, dies sei eine „Methode, die bedenklich an die jüdische Wissenssoziologie Mannheimscher Prägung erinnert.“65 Hier wird also die sonst gegen jüdische Soziologen gerichtete Strategie der Ausschließung als Instrument der Abwehr gegenüber arischen Methodologen genutzt. 61 62 63
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Karl Heinz Pfeffer: Die Soziologie in Deutschland, in: Archiv für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik, IX. Jahrgang, 1939, S. 419, 420, 423, 425, 427. Vgl. Gideon Botsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Deutschen Auslandswissenschaften“ im Einsatz 1940-1945. Paderborn 2006. Gunther Ipsen an Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 23.12.1941, Bundesarchiv Berlin (BAB), 49.01, Nr. 2979, Bl. 395. Die Erinnerung Helmut Schelskys an die Verwendung des Begriffs „jüdisch“ als Bezeichnung einer Wissenschaft durch Gunther Ipsen ist logisch nicht nachvollziehbar: „Der Antrag auf diese Venia [für Soziologie, C.K.] wurde von mir in Übereinstimmung mit meinem Habilitationsvater Arnold Gehlen gestellt, wobei Gunther Ipsen, Korreferent meiner Habilitationsarbeit, mir sehr offen sagte, daß er, wenn ich auf diese ‚jüdische’ Wissenschaftsbezeichnung Wert lege, er sich in diesem Fall nicht querlegen wolle, aber daß er mir eine Venia für ‚Volkslehre’, die er selbst vertrat, entschieden verweigern würde.“ Helmut Schelsky: Zur Entstehungsgeschichte der bundesdeutschen Soziologie. Ein Brief an Rainer Lepsius, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 32. Jg., 1980, S. 427. Diese Aussage macht nur dann Sinn, wenn Ipsen befürchten musste, dass Schelsky vorhatte, ‚jüdische’ Wissenschaft betreiben zu wollen, für die er das Etikett der ‚arischen’ Volkslehre nicht gestatten wollte. Alfred Baeumler an Dekan Grapow, 14.4.42; zit. nach Christian Tilitzki: Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Teil 1. Berlin 2002, S. 640. Andreas Predöhl: Wirtschaftswissenschaft als politische Wissenschaft, in: Studien zur Auslandskunde: Politische Wissenschaft, Bd. 1, Lfg. II, 1943, S. 81. Auch in einem anderen Fall war die Mannheimsche
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Allerdings hat das alter Muster auch noch vor dem baldigen Ende des Nationalsozialismus nicht ausgedient. Der bereits emeritierte Soziologe Max Rumpf, der auch den Anspruch erhob, eine eigene Volkssoziologie begründet zu haben, beklagt in dem von führenden Wissenschaftspolitikern wie Paul Ritterbusch, ständiger Vertreter des Amtschefs Wissenschaft im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, und Walter Gross, Nachfolger Baeumlers als Leiter des Hauptamtes Wissenschaft im Amt Rosenberg, herausgegebenen Deutschen Wissenschafts-Dienst, die Soziologie habe sich „bei uns, gewiß nicht immer, aber allzu oft, allzu leicht verführbar, mit unverantwortlichem Individualismus ‚liberalistischer‘ oder mit Sozialismus jüdisch-marxistischer Prägung leichtfertig eingelassen.“ Und Rumpf, der selbst vom Amt Rosenberg, das die Kontrolle über alle Volkskundler anstrebte, wegen seiner nicht willkommenen volkskundlichen Position heftig kritisiert worden war, begrüßt, dass die „vergleichende Allerweltssoziologie“ in „ihrer Sünden Blüte“ den „Totenschein“ zu recht ausgestellt bekommen habe und preist die Existenz „einer frisch wieder hergestellten deutschen Volkssoziologie“66 – also seine eigene. Der Jenaer Soziologe Max Hildebert Boehm, der seinen Antisemitismus auch schon in Publikationen vor 1933 öffentlich pflegte, kam schließlich in einer illustren Runde auf das Thema jüdische Soziologie zu sprechen,67 um es taktisch für eine Kritik an bestimmten Erscheinungsformen der Soziologie im Nationalsozialismus instrumentalisieren zu können. Anfang Dezember 1944 lud Otto Ohlendorf, offiziell als Ständiger Vertreter des Staatssekretärs im Reichswirtschaftsministerium zu einem Soziologentreffen in jene Villa am Großen Wannsee ein, in der die berüchtigte Wannsee-Konferenz stattgefunden hatte. Die Villa, das Gästehaus des Sicherheitsdienstes der SS (SD), stand Ohlendorf als Chef des SDInland zur Verfügung, und viele der Geladenen hatten enge Beziehungen zum SD oder waren dessen Mitarbeiter. Ohlendorf, der in den dreißiger Jahren Assistent am Institut für Weltwirtschaft in Kiel gewesen war,68 betrieb mit der sogenannten Lebensgebietberichterstattung im Sicherheitsdienst eine Art Meinungsforschungsinstitut. Er bezeichnete sich im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess als Soziologe. Eingeladen wurden Soziologen und weitere Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler zur „Arbeitsbesprechung des Reichswirtschaftsministeriums über soziologische Fragen und Aufgaben“. Das Hauptreferat hielt Boehm über „Lage und Aufgaben der Soziologie“. Boehm verwies auf den „starken Widerstand“, der sich „in der konservativen Welt der Universitätswissenschaften“ vor dem Ersten Weltkrieg gegen die „Einbürgerung“ der Soziologie erhoben habe, da man in ihr „mit mehr oder minder Recht ein formalistisch verdünntes, sehr stark von jüdischen Elementen getragenes spielerisches Geisteselement“ gesehen habe. Boehm teilt die Auffassung: „Das sind zweifellos Fehlentwicklungen, die wir nicht leugnen können […].“ Aber: „Jedenfalls hat es die Soziologie nicht leicht gehabt.“ In der Weimarer Republik sei dann
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Soziologie der Stein des Anstoßes. Alfred von Martin erhielt sein 1937 dann veröffentlichtes Manuskript „Zur Soziologie der Gegenwart“ vom Schriftleiter des Archivs für Kulturgeschichte, Dr. Herbert Schönebaum, mit Korrekturen zurück, denn der „Aufsatz enthält zuviel Lob der (jüdischen) Soziologie Mannheims und kann so nicht veröffentlicht werden.“ Alfred von Martin: Zur Soziologie der Gegenwart, in: Ders.: Geist und Gesellschaft. Soziologische Skizzen zur europäischen Kulturgeschichte. Frankfurt am Main 1948, S. 254f. Max Rumpf: Das Wissen um die Gemeinschaft. Soziologie als deutsche Volks- und Gemeinschaftslehre, in: Deutscher Wissenschafts-Dienst, 5. Jg., Nr. 5/6, März 1944, S. 3. Zu Boehms Politikberatung vor und nach 1933 und seinem Institut für Grenz- und Auslandstudien vgl. Klingemann: Soziologie, siehe Anm. 12; zu Boehms akademischer Karriere in Jena und Berlin vgl. Carsten Klingemann: Wissenschaftsanspruch und Weltanschauung: Soziologie an der Universität Jena 1933 bis 1945, in: Uwe Hoßfeld/Jürgen John/Oliver Lemuth/Rüdiger Stutz (Hrsg.): „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus. Köln u. a. 2003. Vgl. zu Ohlendorfs Biographie Hanno Sowade: Otto Ohlendorf – Nonkonformist, SS-Führer und Wirtschaftsfunktionär, in: Ronald Smelser/Rainer Zitelmann (Hrsg.): Die braune Elite. 22 biographische Skizzen. Darmstadt 1989.
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„eine zwar nicht so erhebliche aber immerhin nach außen sichtbare und unbeschreibbare Scheinkonjunktur entstanden.“ Auf die „skandalösen Zustände des Frankfurter Instituts [für Sozialforschung, C.K.]“ wolle er nicht besonders eingehen, nur: „So ist die Soziologie in den Ruf gekommen, […] eine jüdische Wissenschaft zu sein. Anständige nationale Kreise lehnten sie ab. Die Weimarer Republik hat sie begünstigt.“ Und damit leitet er über, um auf ihn störende Elemente der Entwicklung der Soziologie im Nationalsozialismus anspielen zu können. „Also kann der Schluß gezogen werden, daß die Soziologie ein etwas faules Unternehmen ist und nicht in das nationalsozialistische Reich hineingehört. Das ist etwas primitiv ausgedrückt. Ich möchte aber dennoch sagen, daß diese Gefühlskomplexe eine ziemliche Bedeutung gehabt haben.“ Boehm kritisiert zum Beispiel, es seien durch die Auslandswissenschaftliche Fakultät Nachwuchskräfte abgezogen worden. Da aber mit Karl Heinz Pfeffer deren Dekan anwesend ist, zeigt sich Boehm konziliant. „Es ist natürlich zu begrüßen, daß in der Beziehung ein etwas breiterer Auslauf für den Nachwuchs der Soziologie entstanden ist.“ Weiterhin fehle es „an einem brauchbaren und überlegten Einbau von Soziologie und Volkslehre in die Prüfungsordnung.“69 Damit spielt er auf seine eigene Situation an der Universität Jena an. Dort war er isoliert worden wegen seiner Kritik an Alfred Rosenberg („pseudoreligiöse Blutsmystik“), und weil seine abgehobene Volkslehre im Gegensatz zu den vielen erfolgreich empirische Sozialforschung betreibenden Kollegen bei politischen Akteuren auf Ablehnung stieß. Boehm nutzte also den Rekurs auf die jüdische Soziologie, die im Dezember 1944 nun wirklich nicht mehr gefährlich sein konnte, in Kombination mit der zutreffenden Schilderung der Aversion der etablierten Universitätsfächer, um seine missliche Lage in Jena zu verschleiern und seinen anwesenden Widersachern wie Karl Heinz Pfeffer und Hans Joachim Beyer die Leviten zu lesen. In allen geschilderten Fällen, in denen die Rede von der jüdischen Soziologie war, handelt es sich um Fachkollegen, die aus Eigeninteresse mit diesem Topos operieren. Die einzige Ausnahme bildet Alfred Baeumler, der aber gerade die Angelegenheit für obsolet erklärt. Auf dem Feld der Sprachregelungen bleiben noch die Bemühungen des von Hans Freyer mit der Arbeit „Student und Revolution“ im Hauptfach Soziologie 1934 promovierten Gerhard Krüger zu erwähnen. Der ehemalige Führer der Deutschen Studentenschaft und Bundeshochschulinspekteur des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes war ab 1936 (bis 1942) Reichsamtsleiter in der dem Stellvertreter des Führers unterstellten „Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums“. Krüger unterstand deren „wissenschaftliche Abteilung“, mit der als Cheflektor die Redaktionsarbeiten an der ab 1936 erscheinenden achten Auflage von Meyers Lexikon kontrollierte.70 Nach 69
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Max Hildebert Boehm: Lage und Aufgaben der Soziologie (stenographisches Protokoll seines Vortrags vom 1. Dezember 1944, Akte ohne durchlaufende Paginierung), Vortragsprotokoll: S. 5, 6, 8, 9; Bundesarchiv Berlin (BAB), R 7/2024. 1937 hatte sich Boehm darüber erregt, dass auf der Tagung der DGS im Jahr 1928 in Zürich das Thema „Die Wanderung“, einer der beiden Hauptgegenstände der Veranstaltung, zwei „jüdischen Forschern“ anvertraut worden war, und „auch der dritte von vier Hauptrednern war Jude.“ Max Hildebert Boehm: Die Krise der Volkskunde, in: Deutsches Archiv für Landesund Volksforschung, 1. Jg., 1937, S. 922. – Das nicht überlieferte Korreferat auf der Wannsee-Tagung hielt der Wiener Soziologe Franz Ronneberger; zu Ronnebergers sozialwissenschaftlichem Nachrichtendienst im Auftrag des Auswärtigen Amtes und des Reichssicherheitshauptamtes vgl. Carsten Klingemann: Franz Ronneberger: Sozialwissenschaft – Publizistik – Nachrichtendienst: Zum Verhältnis von „Intelligence“ und Wissenschaft, in: Christina Holtz-Bacha/Arnulf Kutsch/Wolfgang R. Langenbucher/Klaus Schönbach (Hrsg.): 50 Jahre Publizistik. Wiesbaden 2006. Vgl. das Schreiben von Dr. Gerhard Krüger an den Verfasser, 1.6.1984. Wie groß Krügers Einfluss war, wird darin deutlich, dass Meyers Lexikon (Bd. 6. Leipzig 1939, Sp. 1646) einen 14zeiligen Artikel über den 31jährigen Krüger als „nat.-soz. Kulturpolitiker und Historiker“ enthält. Vgl. die Darstellung der sehr wechselvollen Karriere dieses NS-Multifunktionärs, der sich nach 1945 auch in NSDAPNachfolgeparteien in führenden Positionen engagierte, die Artikel „Gerhard Krüger“ in: Christian Zentner/Friedemann Bedürftig (Hrsg.): Das große Lexikon des Dritten Reiches. München 1985, S. 35f, und in: Michael Grüttner: Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik. Heidelberg 2004, S. 100f.
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Auskunft von Krüger gab es keine offiziell festgelegte Sprachregelung, wie mit Soziologiethemen umzugehen sei, man war vielmehr bestrebt, sich gegenüber konkurrierenden Kontrollinstanzen wie etwa dem Amt Rosenberg zu behaupten.71 Das konnte dazu führen, dass vom Amt Rosenberg kritisierte Sozialwissenschaftler von Krüger geschont wurden (und umgekehrt).72 Demnach lag es auch im Ermessen von Krüger, wie das Thema „jüdische Soziologie“ in Meyers Lexikon abgehandelt wurde. Der Artikel „Rechtssoziologie“ klärt darüber auf, dass diese früher „Tummelplatz vielfach jüdisch-marxistischer […] und liberalistischer Soziologen“ war und zählt zu letzteren Max Weber.73 Nachdem auch der Artikel „Religionssoziologie“ feststellt, dass diese vielfach das Feld ausschließlich „in ‚Milieu‘ denkender, bes. marxistischer und liberalistischer Wissenschaftler“ gewesen sei, fährt er fort: „Nach Anfängen bei Herder und Schleiermacher hat dann Max Weber die Bez. R. fest eingeführt und ihre Aufgaben systematisch und geschichtlich umfassend dargestellt; neben Sombart und Troeltsch ist er so ihr eigentl. Begründer.“74 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass neben einer Würdigung der Leistungen Webers als einziger Kritikpunkt seine „liberalistische“ Ausrichtung auftaucht. Hingegen ist die Analyse des „jüdischen Mischlings“ Max Scheler „mit Sprunghaftigkeit des Denkens, mangelnder wiss. Grundlegung und bedenklichstem weltanschaul. Schwanken verquickt.“75 Und Emile Durkheim – „jüd. Abstammung“ – als „Vertreter einer restlos mechanistischen und damit typisch jüdischen Gesellschaftstheorie“ gebrandmarkt, ist damit „Vertreter eines – nur marxistischem Denken gemäßen – Soziologismus.“76 Damit repräsentiert Durkheim Krügers wissenschaftlichen Hauptfeind, wie er es in seinem Pamphlet „Wo steht die Wissenschaft?“ aus dem Jahr 1937 in der ihm eigenen Art formuliert. „In keiner Wissenschaft ist wohl durch den nationalsozialistischen Umbruch die Krisis und bisherige Fehlentwicklung so deutlich sichtbar geworden wie gerade in der Soziologie. Es gibt keinen Vertreter dieser Wissenschaft, der nicht irgendwie von der völlig falschen Denkweise, die hier unter Einfluß des Marxismus Eingang gefunden hat, angekränkelt wäre.“77 Bei den über fünfzig Artikeln über deutsche und ausländische Soziologen wird – wie gezeigt – vermerkt, wenn es sich um einen Juden oder jüdischen Mischling handelt. Da der letzte Band des Lexikons mit den Artikeln „Soziologie“ und „Volkswissenschaft“, auf die mehrfach in anderen Artikeln verwiesen wird, kriegsbedingt nicht mehr erschienen ist, kann nicht sicher gesagt werden, welchen Stellenwert dem ‚jüdischen Denken‘ bei einer Gesamtbeurteilung zugewiesen worden wäre.78 Aber wie aus der vorangegangen Darstel71
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Diese Rivalität kommt eindeutig zum Ausdruck, als der Leiter des Hauptamtes Wissenschaft des Amtes Rosenberg, Prof. Alfred Baeumler, sich gegen eine Ernennung Krügers zum Professor an der Universität Posen ausspricht, denn es sei „aus wissenschaftlichen Gründen gegen die Ernennung zum Professor Einspruch zu erheben. Dr. Gerhard Krüger hat keine wissenschaftlich erhebliche Arbeit vorgelegt; die von ihm veröffentlichte Schrift über die deutsche Geschichte ist eine von Schiefheiten und Fehlern wimmelnde oberflächliche Zusammenstellung, die wissenschaftliche Beachtung nicht erfordern kann.“ Betrifft: Besetzung von Lehrstühlen an der Universität Posen, Berlin, den 9. April 1941, Prof. B/Go.; BAB, NS 15/239, Bl. 40, 40R. So wurde dem vom Amt Rosenberg heftig befehdeten Max Hildebert Boehm bescheinigt, er sei um „eine dt. Volkswissenschaft“, auf deren eigener Artikel verwiesen wird, bemüht; vgl. Art. „Max Hildebert Boehm“, Meyers Lexikon, Bd. 1. Leipzig 1936, Sp. 1519. Art. „Rechtssoziologie“, in: Meyers Lexikon, Bd. 9. Leipzig 1942, Sp. 139. Art. „Religionssoziologie“, in: Meyers Lexikon, Bd. 9. Leipzig 1942, Sp. 304. Art. „Max Scheler“, in: Meyers Lexikon, Bd. 9. Leipzig 1942, Sp. 1016. Art. „Emile Durkheim“, in: Meyers Lexikon, Bd. 3. Leipzig 1937, Sp. 354. Gerhard Krüger: Wo steht die Wissenschaft? München 1937, S. 13. Dieses 27 Seiten starke Traktat erscheint als Heft 6 in der vom Chef der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NSSchrifttums, Philipp Bouhler, herausgegebenen Reihe „Schriften der Bewegung“ im Zentralverlag der NSDAP. Im „Neuen Brockhaus“, dessen Redaktion auch parteiamtlicher Kontrolle unterlag, wird unter dem Stichwort „Soziologie“ (4. Bd., Leipzig 21942, S. 252) nur auf das Stichwort „Gesellschaftslehre, Gesellschaftswissenschaft, Soziologie“ (2. Bd., Leipzig 21941, S. 216) verwiesen. Dort gibt es keine Anspielungen auf eine „jüdische Soziologie“. Zur politisch-ideologischen Kontamination des Neuen
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lung des Umgangs mit der Formel „jüdische Soziologie“ ersichtlich geworden sein dürfte, lässt sich auch hier nicht im mindesten eine Strategie der nationalsozialistischen Propaganda erkennen, wonach „es sich bei ‚der Soziologie‘ um eine im Grunde genommen ‚jüdische Wissenschaft‘, d.h. ‚undeutsche‘ Wissenschaft handele.“79 Diese unbelegte Behauptung leistet nur einer in der Soziologen-Zunft allerdings geschätzten Legendenbildung interessierte Dienste, die eine realistische Einschätzung der Generierung und Nutzung sozialwissenschaftlichen Expertenwissens auch unter nicht demokratischen Verhältnissen verbietet. Es gibt meines Wissens nur einen Fall, in dem der Vorwurf, jüdische Soziologie zu betreiben, von nationalsozialistischen Wissenschaftspolitikern eingesetzt wurde, um eine Karriere zu beenden. Es handelt sich dabei um den schon erwähnten Prof. Heinrich Harmjanz, der sich mit der volkskundlich-soziologischen Arbeit „Mensch, Volk und Ding“ 1936 in Königsberg habilitiert hatte, und zusammen mit dem befreundeten Soziologen Gunther Ipsen die „Zeitschrift für Volkskunde“ herausgab. Harmjanz war als beurlaubter Lehrstuhlinhaber in Königsberg (später Frankfurt am Main) Leiter des Ministeramtes im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) sowie persönlicher Referent des Ministers und steuerte die Personalpolitik im Bereich der Geisteswissenschaften. Gekrönt wurde die steile Karriere des SS-Obersturmbannführers durch seinen Posten als Abteilungsleiter (Volkskunde und Volksforschung) im „Ahnenerbe“, der „Lehr- und Forschungsgemeinschaft“ der SS, die im Laufe des Krieges ganz im Gegensatz zu ihrem Namen auch ein Ort moderner – zum Beispiel auf brutalen und tödlichen Menschenversuchen mit KZ-Häftlingen basierender – Naturwissenschaft wurde. Über Jahre bekämpften sich Harmjanz und die Mitarbeiter von Rosenbergs „Arbeitsgemeinschaft für deutsche Volkskunde“ bis aufs Messer, so dass sich sogar Rosenberg selbst und der Reichsführer SS Heinrich Himmler, der Harmjanz schützte, einschalteten. Obwohl es so schien, als ob Rosenbergs Volkskundler sich geschlagen geben müssten, konnten sie Harmjanz schließlich doch noch stürzen. Nachdem der Vorwurf willkürlicher, nationalsozialistische Grundsätze missachtender Personalpolitik in mindestens 50 Fällen nicht beweiskräftig belegt werden konnte, wurde Harmjanz in einem SS-Ehrengerichtsverfahren durch das Amt Rosenberg wegen nachgewiesener Plagiate in seiner Habilitationsschrift zu Fall gebracht.80 Verursacht wurde dies durch das große Interesse von Wilhelm Longert, dem Leiter der „Hauptstelle Soziologie“ im Amt Rosenberg, einem ehemaligen Anhänger des Wiener Soziologen Othmar Spann, an den französischen Soziologen Emile Durkheim, Henri Lévy-Bruhl und dem österreichischen Soziologen Wilhelm Jerusalem, alle drei jüdischer Herkunft. Als „ehrenamtlicher Mitarbeiter“ des SD hatte Longert enge Beziehungen zum Leiter der Abteilung III C („Kulturelle Fragen“) des SD-Leitabschnitts Berlin, Dr. phil. nat. habil. Helmut J. Fischer. Dieser schreibt: „Voller Aufregung kam eines Tages Longert zu mir und berichtete mir, er habe die Habilitationsschrift ‚Mensch, Volk und Ding‘ von Harmjanz durchstudiert und darin eine Reihe von Stellen entdeckt, die offensichtlich bei dem französischen Soziologen Lévy-Bruhl abgeschrieben waren. Hier hatte also ein Exponent der SS ausgerechnet bei einem Juden ein Plagiat begangen.“81 Das „Ahnenerbe“ und der SD waren zwar Institutionen der SS, auf wissenschaftspolitischem Gebiet
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Brockhaus vgl. Carsten Klingemann: Semantische Umbauten im Kleinen Brockhaus von 1949/50 und im Großen Brockhaus der fünfziger Jahre durch die Soziologen Hans Freyer, Arnold Gehlen, Gunther Ipsen und Wilhelm Emil Mühlmann, in: Georg Bollenbeck/Clemens Knobloch (Hrsg.): Resonanzkonstellationen. Die illusionäre Autonomie der Kulturwissenschaften. Heidelberg 2004. Käsler: Soziologie, S. 358f, siehe Anm. 11. Vgl. zu seiner Karriere und deren Ende, Helmut Heiber: Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands. Stuttgart 1966; bes. S. 647-653. Schreiben von Dr. Helmut J. Fischer an den Verfasser, 28.8.1982; vgl. die Schilderung dieser Vorgänge (ohne namentliche Nennung Longerts) bei Helmut Joachim Fischer: Erinnerungen. Teil I: Von der Wissenschaft zum Sicherheitsdienst. Quellenstudien der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt. Ingolstadt 1984, S. 169-173.
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konkurrierten sie jedoch. Der SD sah nun seine Chance gekommen, zusammen mit dem Amt Rosenberg das „Ahnenerbe“ in die Schranken zu verweisen. Nach der Kontaktaufnahme zwischen SD-Leitabschnitt Berlin und Hauptamt Wissenschaft schrieb Rosenberg einen Brief an den Leiter der Partei-Kanzlei Martin Bormann. Darin hieß es, Harmjanz stehe „mit seinen Veröffentlichungen ‚auf dem Boden der jüdischen Soziologie‘, zweitens stütze er sich in seinem Hauptwerk fast ausschließlich auf jüdische Autoren, drittens habe er in eben diesem Werk ganze Partien plagiatorisch ‚vom Juden Jerusalem‘ abgeschrieben, ohne die Quelle zu nennen.“82 Wenngleich hier das Amt Rosenberg die Losung „jüdische Soziologie“ erfolgreich gegen einen Parteigenossen und SS-Führer einsetzen konnte, ist mir kein Fall bekannt, in dem es oder andere Wissenschaftspolitik betreibende NSInstitutionen mit der Kampfformel gegen „die“ Soziologie vorgegangen sind. Dennoch eignet sie sich vorzüglich, um die Wissenschaftsgeschichtsschreibung in die erwünschte Richtung zu lenken. So macht es 1980 auch Helmut Schelsky, der einem anonymen Kollektivsubjekt eine bestimmte Haltung gegenüber „der“ Soziologie zuschreibt. „Die ‚Soziologie‘ als Fach und Bezeichnung war dem machtergreifenden System derart belanglos und von ihm als vermeintlich ‚jüdische‘ Wissenschaft abgeschrieben, daß sich eine ‚Gleichschaltung‘ gar nicht lohnte, sondern daß man das Fach und seine Kennzeichnung als solche verschwinden lassen wollte.“83 Dafür ließ sich bislang kein Beweis finden. Das Gegenteil ist anzunehmen, wie das Beispiel Gunther Ipsen bereits zeigte. Wie ernst Ipsen, der durch den mit ihm befreundeten Harmjanz einen direkten Zugang zum Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung auf oberster Ebene hatte, die Bedeutung der „westlichen Soziologie“ nahm und geradezu als Bedrohung herausstellte, wird bei den Vorbereitungen des für 1939 in Bukarest geplanten 14. Internationalen Soziologenkongresses deutlich. Er intervenierte direkt bei dem Veranstalter des Kongresses Prof. Gusti. Darüber berichtet er mit Schreiben vom 21.1.1939 dem Reichswissenschaftsminister, der ihn zum Delegationsleiter bestimmt hatte: „Die Tagesordnung ist entsprechend unseren Wünschen so festgelegt worden, dass die inhaltlichen Fragen der ländlichen Soziologie in die Mitte gerückt wurden und dass auch unsre neuere bevölkerungswissenschaftliche Arbeit zur Geltung kommen soll.“84Anfang Februar lässt er einen weiteren Bericht an das REM folgen. Dort macht er darauf aufmerksam, dass sich für Gusti wegen seiner politischen Involviertheit in die rumänische „Königsdiktatur“ die „wissenschaftliche Unterstützung seitens der ‚westlichen Demokratien‘ als besonders erwünscht“ darbiete. „Er hat darum in einer Amerikareise 1938 eigens zu werben versucht und ich zweifle nicht, dass ihm diese Hilfe seitens jener Gruppen gerne gewährt wird, die im Südosten einen ‚Damm gegen Deutschland‘ aufzurichten versuchen: organisatorisch z.B. die Rockefeller Foundation, im 82 83
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Heiber: Walter Frank, S. 651, siehe Anm. 80. Schelsky: Entstehungsgeschichte, S. 426, siehe Anm. 63. Im sächsischen Ministerium für Volksbildung engagierte sich demgegenüber der Schelsky sehr gut bekannte Oberregierungsrat Werner Studentkowski, der gegen Ende der Weimarer Republik bei Hans Freyer mit einer Arbeit über die Mitglieder der NSDAP promovieren wollte, für den Erhalt der Soziologie an der TU Dresden. Er sorgte dafür, dass der Stelleninhaber Fedor Stepun vorzeitig pensioniert wurde, um „den Lehrstuhl mit einem auf dem Rassegedanken aufbauenden Wissenschaftler“ zu besetzen. Das war sein Mitarbeiter Karl Valentin Müller, den er zuvor veranlasst hatte, sich zu habilitieren. Müller schien ihm geeignet, „für die Umgestaltung des im System so verjudeten Gebiets wesentliches beitragen“ zu können. Studentkowski an Reichsamtsleiter Dr. Groß, 22.11. 1938 (Durchschlag); Ministerium für Volksbildung, Nr. 15590, Bl. 73; Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden. Wie weit die Bereitschaft der Veranstalter ging, den Wünschen Ipsens nachzukommen, wird aus einer weiteren Passsage des Schreibens deutlich: „Die rumänischen Veranstalter haben sich ‚gerne’ damit abgefunden, dass der gesamte Schriftverkehr betreffend die deutsche Teilnahme über mich geleitet wird. Sogar die Einladungen an Angehörige des ‚Internationalen Instituts f. Soziologie, Paris’, soweit sie in Deutschland leben oder lebten, sind gebündelt an mich gesandt worden. Ich habe selbstverständlich alle Einladungen an Juden, Mischlinge, jüdisch Versippte und politisch Ausgeschiedene zurückgehalten, gleichviel ob sie noch in Deutschland leben oder nicht.“ Gunther Ipsen an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 21.1. 1939; BAB, 49.01, Nr. 2979, Bl. 180.
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einzelnen eine Reihe amerikanischer Sozialanthropologen, Agrarsoziologen usf; dazu jene Kräfte, die ihrerseits mit den Amerikanern zusammenarbeiten, in England, vor allem auch die polnischen Soziologen, sodann unmittelbar in politischer Absicht die Franzosen. Umso wichtiger ist es andererseits, dass wir das Feld nicht kampflos dem Gegner überlassen, sondern unsererseits auch wissenschaftlich antreten.“85 In Ipsens Argumentation wird sehr gut sichtbar, welches Gewicht der Betonung der politischen Bedeutsamkeit der Soziologie zukommt. Und lange noch nach der kriegsbedingten Absetzung des Kongresses, Ende 1941, erklärt Ipsen gegenüber dem Reichswissenschaftsminister, er nehme an, dass die Amerikaner „die Führung einer soziologischen Internationale anstreben.“ Und er stellt fest: „Ich halte nach wie vor den wissenschaftspolitischen Einsatz der deutschen Soziologie für besonders wichtig.“ Daran anschließend präsentiert Ipsen eine Liste mit Maßnahmen zur „Sammlung und Straffung der deutschen Soziologie“, um deren „Stosskraft und Einsatzbereitschaft zu erhöhen.“ Wodurch die deutsche Soziologie für den „Zweikampf mit den USA“ gerüstet werden soll. Denn die „Verantwortung der Wissenschaft im deutschen Machtbereich“ liege klar zu Tage. Ipsen hat in diesem Sinne im besetzten Paris bereits zur „Neuordnung der internationalen Zusammenarbeit nach dem Wegfall des Int. Inst. [für Soziologie, C.K.]“, wie er sie versteht, beigetragen. „Ich habe dazu unterrichtende Vorarbeit durch meinen Mitarbeiter, Dozent Dr. Haufe, im Winter 40/41 in Paris machen lassen durch Einsicht in Arbeit und Bestände des Int. Inst. und Fühlungnahme mit einzelnen besonders daran beteiligten franz. Soziologen.“ Dabei agierte Ipsen nicht eigenmächtig, denn: „Dr. Haufe ist dabei in Tuchfühlung mit dem Vertreter des Reichsministers vorgegangen, der zwecks Einsicht in die internationalen wissenschaftlichen Einrichtungen zum Militär-Befehlshaber Paris abgestellt war.“86 4. Soziologen als Objekte und Akteure nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik Es hat sich also gezeigt, dass die Parole von der „jüdischen Soziologie“ in der Weimarer Republik, im Dritten Reich und in der Bundesrepublik Deutschland ausschließlich von Vertretern anderer Disziplinen oder Soziologen selbst verwendet wurde. Sie diente dabei der Abwehr der Soziologie als unerwünschter Konkurrentin auf der akademischen Bühne oder zur Erlangung von persönlichen Vorteilen sowie der hagiographischen Legendenbildung. Die wissenschaftspolitischen Auseinandersetzungen um die Soziologie in der NS-Zeit drehten sich um andere Themen. Ihr besonderes Kennzeichen war, dass dabei Soziologen sowohl als Objekte wie auch als einflussreiche Akteure auftraten. Sehr gut sichtbar wird auch die polykratische Struktur der häufig neben- und gegeneinander agierenden Institutionen, die eben nicht hierarchisch organisiert waren. Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, das bezeichnenderweise erst zum 1. Mai 1934 geschaffen wurde, verfügte formal zwar über die letztendlich gültige Entscheidungsbefugnis wurde aber immer wieder instrumentalisiert oder gar von Parteiinstanzen majorisiert. „Die entscheidende Frage, wer bei Meinungsverschiedenheiten das letzte Wort haben würde, das Ministerium oder der ‚Stellvertreter des Führers‘, ließ der offizielle Erlass [aus dem Jahr 1935 über dessen Beteiligung bei der Ernennung von Beamten, C.K.] offen, denn diese Frage war lange Zeit heftig umstritten. Schließlich musste das REM sich jedoch den Forderungen von Heß und Bormann beugen. Auf der Rekto85 86
Betr: XIV. Internat. Kongress f. Soziologie, 10.2.1939; BAB, 49.01, Nr. 2979, Bl. 234. Gunther Ipsen an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 23.12.1941; BAB, 49.01, Nr. 2979, Bl. 395.
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renkonferenz im Dezember 1937 verkündete [der stellvertretende Leiter des Amtes Wissenschaft im REM, C.K.] Wacker die Kapitulation des Ministeriums: ‚Gegen eine Entscheidung des Stellvertreters des Führers selbst steht uns keine Stellungnahme zu.‘ Damit verfügte die Partei faktisch über ein Vetorecht bei Berufungen und anderen wichtigen Personalentscheidungen.“87 Dazu kam es aber nur, wenn man sich auf den unteren Ebenen nicht einig war. Denn es sollte bedacht werden, dass die Beteiligten insbesondere auf den höheren Ebenen auf Informanten aus den Hochschulen und außeruniversitären wissenschaftlichen Einrichtungen angewiesen waren. An Entscheidungsfindungsprozessen in Hochschuldingen konnten neben den Kultusministerien der Länder auch der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund und der Nationalsozialistische Deutsche Dozentenbund auf lokaler, Gau- und Reichsebene, der Reichsstatthalter/Gauleiter, das Amt Rosenberg, der Sicherheitsdienst der SS oder eben der Stellvertreter des Führers bzw. die Partei-Kanzlei beteiligt sein. Das führte paradoxerweise aber auch dazu, dass Hochschulen ihre Handlungsspielräume nutzen konnten, um so zum Beispiel die wissenschaftliche Eignung von Stellenbewerbern stärker zu berücksichtigen als politisch-weltanschauliche Linientreue oder passende Lippenbekenntnisse. „In der Tat sind Lehrstuhlbesetzungen gegen den Willen der Fakultäten nach 1937 relativ selten gewesen. Eine Ausnahme bildeten jene Hochschulen, in denen bestimmte Partei-Potentaten eine beherrschende Stellung gewonnen hatten. Dazu zählten Universitäten wie Königsberg oder Jena, wo die Gauleiter unabhängig vom Ministerium ihre eigene Personalpolitik betrieben, ebenso wie die Universität Halle, die zeitweise unter die Fuchtel Alfred Rosenbergs geriet.“88 Nur sorgte nicht zuletzt der Nachwuchsmangel allgemein für ein Umdenken: „Die wachsende Nachwuchsknappheit machte eine rigorose, politisch ausgerichtete Personalpolitik praktisch unmöglich, wenn das Kriterium der fachlichen Qualifikation nicht völlig in den Hintergrund treten sollte. Dadurch verbesserten sich auch für Wissenschaftler, die als ‚politisch unzuverlässig‘ galten, die Chancen zu avancieren, sofern sie nicht offen als Gegner des Nationalsozialismus in Erscheinung traten.“89 Eine weitergehende Nazifizierung einer Hochschule hat immer nur dann stattgefunden, wenn vor Ort die Hochschulangehörigen sie selbst tatkräftig initiierten und vorangetrieben haben. So lassen sich an vielen konkreten Beispielen die kontroversen bis antinomischen Positionen der diversen Wissenschaftspolitik betreibenden Stellen gegenüber Soziologen oder ihren Arbeitsrichtungen nachweisen. Dabei werden hier ganz bewusst jene Fälle nicht berücksichtigt, in denen es nicht um die fachwissenschaftliche Tätigkeit eines Soziologen oder das Fach selbst ging, sondern um Denunziationen, die häufig nur den einzigen Zweck hatten, die eigene Karriere zu fördern. So wurde Hans Freyer, der gerne, aber fälschlich als „Führer“ der regimetreuen Soziologen portraitiert wird, observiert und in Berichten als Feind des Nationalsozialismus, der er auch nicht war, hingestellt.90
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Michael Grüttner: Die deutschen Universitäten unter dem Hakenkreuz, in: John Connelly/Michael Grüttner (Hrsg.): Zwischen Autonomie und Anpassung: Universitäten in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Paderborn u. a. 2003, S. 86. Ebd. Ebd., S. 87. Vgl. Jerry Z. Muller: The other God that failed. Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism. Princeton 1987. S. 285-290.
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4.1 Alfred Rosenberg, der „Beauftragte des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Schulung und Erziehung der NSDAP“: Förderer und Kontrolleur von Soziologen – und seine Gegenspieler Schon während der NS-Zeit war „Amt Rosenberg“ die gebräuchliche Kurzbezeichnung für die Dienststelle Rosenbergs als Beauftragter des Führers, der aber über die Erziehung der NSDAP weit hinausgehende Kompetenzen als Autor des in Millionenauflage verbreiteten Buches „Der Mythos des 20. Jahrhunderts“ beanspruchte. Insbesondere hatte er die Hochschulen im Auge, die im Sinne seines kruden rassentheoretischen Weltbildes umgeformt werden sollten. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich der sogenannte Chef-Ideologe und Haus-Philosoph der NSDAP für Sozialwissenschaftler interessierte, die sich ihrerseits für lizenzierte wissenschaftliche Weltanschauungsexperten hielten.91 Das Amt Rosenberg hatte zwischen sechs und neun Abteilungen (Ämter/Hauptämter) mit permanent wechselnden Unterabteilungskonstellationen (Hauptstellen, Stellen, Hilfsstellen). Mit der Überprüfung der ideologisch-politischen Zuverlässigkeit von Sozialwissenschaftlern befasste sich neben dem Kulturpolitischen Archiv im Amt für Kunstpflege, dem Amt Weltanschauliche Information und dem (Haupt-)Amt Schrifttumspflege in erster Linie das (Haupt-)Amt Wissenschaft mit seinen beiden (Unter-)Ämtern Wissenschaftsbeobachtung und -wertung sowie Wissenschaftsplanung und dessen Hauptstelle Soziologie. Bis 1938 wurden die Geschäfte des Amtes Wissenschaft (ab 1941 Hauptamt) vom Pädagogik-Professor Alfred Baeumler praktisch allein geführt. Dann erst erhielt er die nötigen finanziellen Mittel, um einen einigermaßen funktionsfähigen Apparat mit den zwei Unterämtern aufzubauen. Jedoch wurde bereits nach einem Jahr bei Kriegsbeginn das Personal wieder stark reduziert, so dass Baeumler zeitweilig wieder allein tätig war. Nur wenige hauptamtliche Mitarbeiter kehrten an ihre Arbeitsplätze zurück, so dass ab 1941 wohl nie mehr als sechs Mitarbeiter außer dem Büropersonal beschäftigt waren. Seit Ende 1942 waren dann offensichtlich nur noch drei hauptamtliche Wissenschaftskontrolleure tätig. Bevor die Hauptstelle Soziologie 1941 gegründet wurde, befassten sich bereits verschiedene andere Stellen des Amtes Rosenberg gutachterlich mit Sozialwissenschaftlern. Dabei handelt es sich um politisch-weltanschaulich engagierte Fachvertreter, die zum Teil selbst für das Amt Rosenberg tätig waren. So holten die Unterämter ihre Auskünfte untereinander wechselseitig ein oder forderten Stellungnahmen bei anderen NS-Behörden an, äußerten sich (hin und wieder auch kritisch) über die Linientreue der von ihren Kollegen als Lektoren beschäftigten oder als Schützlinge protegierten Sozialwissenschaftler und versuchten, im allgemeinen Kompetenzgerangel ihnen genehme Kandidaten auf akademische Posten zu schieben. Grundsätzlich ist aber festzuhalten, dass die für Hochschulpolitik zuständigen Stellen des Amtes Rosenberg trotz umfangreicher Karteien und bereitwillig kooperierender Zuarbeiter in den Hochschulen unter einem beträchtlichen Informationsdefizit litten. Im Gegensatz zu Schutzbehauptungen aus der Nachkriegszeit hatte der wissenschaftspolitische Einfluss des Amtes Rosenberg allein wegen der wenigen kompetenten Mitarbeiter und fehlenden Informationen über Personen, Disziplinen und Institutionen keine gravierende Folgen im Hinblick auf die tradierten Strukturen und Funktionsprinzipien 91
Die Rolle der Sozialwissenschaftler im Umkreis von Rosenberg kann hier nur in stark geraffter Form dargelegt werden. An anderer Stelle habe ich ausführlich die beiderseitigen Aktivitäten im Kontext des Amtes Rosenberg und in seiner Eigenschaft als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete geschildert. Dabei handelt es sich um die Begutachtungspraxis durch das Amt Rosenberg, seine „Hauptstelle Soziologie“, die Mitarbeit von Sozialwissenschaftlern im Philosophischen Arbeitskreis, im Amt Schrifttumspflege, in der „Hohen Schule der NSDAP“, auf der „Osttagung der deutschen Wissenschaft“, in der „Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung der bolschewistischen Weltgefahr“, im Reichskommissariat Ostland, im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete und in der „Zentrale für Ostforschung“; vgl. Klingemann: Soziologie, S. 232-276; siehe Anm. 2.
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des Hochschulsystems. Das Amt Wehrmachtsschulung bezog sich zum Beispiel noch 1944 in einer Anfrage an das Amt Wissenschaftsbeobachtung und -wertung auf Informationen, wonach ausgerechnet Gunther Ipsen, der seit Kriegsbeginn von seiner Wiener Professur beurlaubt und aktiver Frontoffizier sowie NS-Führungsoffizier war, nicht nur fälschlicherweise als „Nichtparteigenosse“ gemeldet sei, sondern auch „sehr starke Bindungen zum Judentum habe, aber außerordentlich geschickt sei, seine negative Einstellung zu verbergen.“92 Der Leiter des Amtes Wissenschaftsbeobachtung und -wertung Dr. Wolfgang Erxleben kennt demgegenüber Ipsens Zivilberuf (Professor für Philosophie und Volkslehre) sowie seine Wiener Adresse und erwähnt das „gute Niveau“ seiner „Arbeiten zur Soziologie der Landbevölkerung“, die allerdings „weltanschaulich jedoch nicht ganz in unserer Linie“ lägen. In der politisch brisanten Frage nach Ipsens angeblichem Philosemitismus, den die bereits berichteten und zumindest dem Reichswissenschaftsministerium bekannten antisemitischen Handlungen Ipsens definitiv ausschließen, ist Erxleben wie sein Kollege vom Amt Wehrmachtsschulung auf Spekulationen angewiesen. „Ipsen gehört zum Kreise um Hans Freyer, Leipzig, zur Zeit Budapest, so daß mir seine Einstellung zum Judentum durchaus verständlich wäre. Positive Unterlagen hierüber besitze ich jedoch nicht.“93 Als Leiter des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts in Budapest erstellte unterdessen Freyer unter zeitweiliger Beteiligung seines Assistenten Helmut Schelsky Dossiers für das Auswärtige Amt über die politische Zuverlässigkeit und die ‚rassische‘ Abstammung ungarischer Gelehrter, wobei bereits über so genannte Halbjuden negative Stellungnahmen erfolgten.94 Die Arbeitsweise der Rosenbergschen Wissenschaftskontrolleure gleicht im Bereich der Sozialwissenschaften häufig dem Modell eines sich selbst beschäftigenden Apparats. Das lässt sich sehr gut illustrieren anhand der Auseinandersetzungen von drei hochrangigen Mitarbeitern des Amtes mit einem Vortrag von Arnold Gehlen, den er am 15. Januar 1943 vor der Deutschen Philosophischen Gesellschaft über „Probleme einer Philosophie der Geschichte“ gehalten hat. Er war dem Amt kein Fremder, da er wohl schon 1933 Lektor der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums wurde, aus der sich in mehreren Schritten das Hauptamt Schrifttumspflege entwickelte. Als Gehlen seinen Vortrag hielt, waren Dr. Bernhard Payr vom Hauptamtschrifttumspflege sowie Erxleben und Eberhard Lemke vom Hauptamt Wissenschaft zugegen. Lemke rügt in seinem Bericht zu Gehlens Vortrag die „Ungeschichtlichkeit seines Denkens“, die ihn zu einer falschen Einschätzung der NS-Bewegung kommen lasse, während Erxleben, der seine Kritik als Ergänzung der Berichte von Lemke und Payr deklariert, ganz auf einen methodologischen Vergleich mit Max Weber abstellt. „Er, Gehlen, will Geschichtsphilosophie als eine Wissenschaft betreiben, die induktiv und empirisch vorgeht, d.h. als empirische Geschichtsphilosophie. Er bediente sich dabei der Methode, aus dem empirischen Forschungsmaterial das Typische herauszuheben und von den besonderen Feststellungen der empirischen Einzelforschung abzusehen – einer Methode, wie sie Max Weber bereits entwickelt hat.“ Der Vergleich mit Weber fällt für Gehlen ungünstig aus. „Während Max Weber, an den er sich anlehnte, von sehr konkreten geschichtlichen Anliegen ausgegangen war, landete Gehlen bei einer zwar geistreichen, im Grunde aber unfruchtbaren Nebeneinanderstellung und abstrakten Zusammenordnung geschichtlicher Typen.“95 Interessant ist nicht nur die Max We92 93 94 95
Amt Wehrmachtsschulung an Hauptamt Wissenschaft, 25.2.1944; Institut für Zeitgeschichte München (IfZ), MA 116/6. Hauptamt Wissenschaft, Amt Wissenschaftsbeobachtung und -wertung (Erxleben) an Amt Wehrmachtsschulung, 2.3.1944; YIVO Institute Archives, New York. Vgl. Gerhard Schäfer: Wider die Inszenierung des Vergessens. Hans Freyer und die Soziologie in Leipzig 1925-1945, in: Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1990. Opladen 1990. „Bericht über einen Vortrag von Professor Dr. Arnold Gehlen, Wien, über ‚Problem einer Philosophie der Geschichte’ (gehalten vor der Deutschen Philosophischen Gesellschaft am 15. Januar 1943.“ (Zwei Seiten mit der Paraphe Erxlebens); BAB, NS 15/204, Bl. 39.
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ber von Erxleben entgegengebrachte Wertschätzung, deutlich wird auch, dass bereits innerhalb einer NS-Institution unterschiedliche Auffassungen herrschten, die sich im Gegeneinander der ideologischen Tugendwächter vervielfachen konnten. Noch heftiger waren die Auseinandersetzungen zwischen ihnen, wenn Mitarbeiter des Konkurrenzunternehmens angegriffen wurden. Das Beispiel des bereits bekannten Andreas Pfenning mag dies illustrieren. Im Kampf um die Monopolstellung des Amtes Rosenberg als des einzig legitimen Hüters der NS-Weltanschauung fertigte das Hauptamt Wissenschaft „auf Veranlassung des Reichsleiters“96 (Rosenberg) einen Verriss für die „Mitteilungen zur weltanschaulichen Lage“ des Buches „Staatswissenschaft und Revolution“ des regimetreuen Nachwuchssoziologen Pfenning an. Es wurde als „unter wissenschaftlichen und weltanschaulichen Gesichtspunkten unzureichend“97 beurteilt und als „Schwärmerei“98 abgetan. Pfenning war also in den Augen der Rosenbergschen Weltanschauungsexperten keinesfalls der berufene Chefprogrammatiker oder gar der Repräsentant einer genuin nazistischen Staatswissenschaft und Gesellschaftstheorie. Sein Buch war überdies in der von Ernst Krieck, NSVorzeige-Professor in den ersten Jahren des Dritten Reichs sowie Rektor der Universitäten Frankfurt am Main und Heidelberg, herausgegebenen Reihe „Weltanschauung und Wissenschaft“ erschienen. Das Amt Rosenberg mochte sich aber mit Kriecks Anspruch, Schöpfer einer wirklich wissenschaftlich fundierten NS-Philosophie zu sein, nicht abfinden.99 Nach allem, was bekannt ist, blieb dieser Angriff des Amtes Rosenberg auf den Krieck-Schützling folgenlos. Im Fall Eduard Baumgarten konnte es hingegen sogar eine Karriere retten. Nach 1933 wurden innerakademische Konkurrenzkämpfe gern mit Hilfe des Heranziehens von früheren Zitationen jüdischer und als politisch belastet geltender Autoren oder durch Denunziation anrüchiger politischer Wahlverwandtschaften ausgefochten. Martin Heidegger glaubt, in seiner Privatfehde mit dem Neffen Max Webers, Eduard Baumgarten, durch einen Verweis auf Weber siegreich sein zu können. Er steigert diese Methode allerdings noch, indem er Baumgarten, der nach einem Zerwürfnis auf die Habilitation bei Heidegger verzichtet, auch noch zeitgemäß in Sippenhaft nimmt. Baumgarten hat seit April 1933 einen Lehrauftrag an der Universität Göttingen. Ende 1933 trifft dort bei der Dozentenschaft ein Gutachten Heideggers ein: „Dr. Baumgarten kommt verwandtschaftlich und seiner geistigen Haltung nach aus dem liberaldemokratischen Heidelberger Intellektuellenkreis um Max Weber. Während seines hiesigen Aufenthaltes war er alles andre als Nationalsozialist. Ich bin überrascht zu hören, daß er in Göttingen Privatdozent ist, denn ich kann mir nicht denken, aufgrund welcher wissenschaftlichen Leistung er zur Habilitation zugelassen wurde.“100 Heidegger führt weiter einen sehr lebhaften Verkehr mit einem jüdischen Professor an und rät von einer Aufnahme Baumgartens in die SA und Dozentenschaft ab. Und obwohl der Dozentenschaftsleiter zusätzlich gegen Baumgarten, der in den USA gelehrt hatte und sich über den Pragmatismus habilitieren wollte, dessen anhaltende „Veramerikanisierung“ vorbringt und es für falsch hält, dass ausländische Studenten gerade durch Baumgarten über den Nationalsozialismus und die Verhältnisse in Deutschland unterrichtet werden, wird Baumgarten habilitiert und im Sommer 1937 zum Dozenten ernannt. Möglich wurde dies durch Baumgartens enge Beziehung zu Alfred Baeumler, der ihn im Auftrag Alfred Rosenbergs in eine exklusive Gruppe von Nachwuchsphilosophen be96 97 98 99 100
Wendorff an Amt Weltanschauliche Information, 22.8.1938; IfZ, MA 116/12. „Weltanschauung und Wissenschaft“, Gutachten, o. D., ohne Verfasserangabe; IfZ, MA 116/12. Wissenschaftlicher Vortrupp, Gutachten, o. D., ohne Verfasserangabe; IfZ, MA 116/12. Vgl. Heiber: Walter Frank, S. 584, siehe Anm. 80. Zit. nach Victor Farías: Heidegger und der Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1987, S. 283.
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ruft, die eine genuin nationalsozialistische Philosophie begründen soll. Heideggers Gutachten hatte Baumgartens Karriere in Göttingen quasi schon beendet, als es doch noch gelangt, die Dozentenschaft umzustimmen, da „Baumgarten inzwischen die Unterstützung des NS-Philosophen Baeumler gefunden“ hatte. „Danach verlief das Weitere reibungslos. Die Dozentenschaft setzte sich nun über die ‚ungünstigen Auskünfte aus Freiburg‘ hinweg […].“101 Es sollte aber nicht lange dauern, da brauchte Baumgarten wiederum Baeumlers Hilfe. Der 1936 neu berufene Philosophie-Professor Hans Heyse nimmt eine von Baumgarten betreute Dissertation eines Ausländers über Max Webers Religionssoziologie zum Anlass, seinen Dominanz-Anspruch geltend zu machen. In dieser Auseinandersetzung werden neben dem NS-Dozentenbund, der ein Ehrengerichtsverfahren gegen Baumgarten (inklusive Duellforderung von Baumgarten) anstrengt, auch andere Parteidienststellen eingeschaltet, und Baumgarten beantragt schließlich ein Parteigerichtsverfahren gegen sich selbst. Es endet nach langem Hin und Her mit Freispruch, der damit begründet wird, dass das Amt Wissenschaft (Baeumler) festgestellt habe, dass Baumgarten „nur seiner Überzeugung Ausdruck verliehen“ habe. „Grundsätzlich sehen wir keinen Anlaß, in einem solchen Falle, wo in zulässiger Form und mit Begründung für eine wissenschaftliche Überzeugung eingetreten wird, ein Parteiverfahren durchzuführen.“102 Baeumler hatte in seiner Stellungnahme unter anderem geschrieben: „Wenn sich auch unsere heutigen Ansichten von denen Max Webers radikal unterscheiden, so läßt sich doch nicht bestreiten, daß die wissenschaftliche Grundhaltung Max Webers in ihrem Charakter und ihren letzten Ansichten deutsch gewesen ist, und dass die geschichtliche Bedeutung des Werkes von Max Weber eine Auseinandersetzung mit ihm auch heute noch rechtfertigt.“103 Damit hatte Baeumler Baumgartens Charakterisierung Webers als in politischer Hinsicht nationalbewusstem Deutschen auf den Wissenschaftler Weber übertragen. Dadurch war wiederum Baumgartens politische Zuverlässigkeit parteiamtlich attestiert worden. Im Fall Baumgarten konnte das Amt Rosenberg somit seine Durchsetzungsfähigkeit demonstrieren. Dies wäre auch im Fall des Jenaer Soziologen Max Hildebert Boehm zu erwarten gewesen, der 1932 (wie bereits erwähnt) in seinem Buch, „Das eigenständige Volk“, Rosenbergs „Mythos“ als „pseudoreligiöse Blutsmystik“ geschmäht hatte. Boehm wurde trotzdem zum 1. Oktober 1933 als ordentlicher Professor für Volkstheorie und Volkstumssoziologie an die Universität Jena berufen und gilt seitdem in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung als „NS-Star“ (Helmut Heiber).104 Durch die Schilderung der Aktivitäten der vielen sich mit Boehm beschäftigenden Instanzen soll einerseits geprüft werden, ob die Rede vom einflussreichen volkstheoretischen Vordenker Boehm begründet ist, und andererseits soll dadurch exemplarisch gezeigt werden, wie Wissenschaftspolitik im NS-Ämterchaos stattfand. Bereits unmittelbar nach seiner Berufung wurde Boehm vom Jenaer SD (auch mit Hilfe seines Assistenten) observiert, und Jenaer Kollegen begannen zu intrigieren. Der lokale Dozentenbund wie auch regionale wissenschaftspolitische Institutionen (wie das Thüringische Volksbildungsministerium und die Gaudozentenbundführung) und auf Reichsebene das Amt Rosenberg legten Akten an. Neben dem Boehm protegieren-
101 Hans-Joachim Dahms: Aufstieg und Ende der Lebensphilosophie: Das Philosophische Seminar der Universität Göttingen zwischen 1917 und 1950, in: Heinrich Becker/Hans-Joachim Dahms/Cornelia Wegeler (Hrsg.): Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus. Das verdrängte Kapitel ihrer 250jährigen Geschichte. München u. a. 1987, S. 183. 102 Zitiert im Feststellungsbeschluß des Kreisgerichts der NSDAP, 31.5.1939; BAB, Bestand des ehemaligen Berlin Document Center (BDC), Unterlagen Eduard Baumgarten; vgl. ausführlich zu dieser Auseinandersetzung Klingemann: Soziologie, S. 180-185, wie Anm. 2. 103 „Dissertation Stob“; beglaubigte Abschrift, Göttingen, 11.3.1939, Kreisleiter; BAB, BDC; Unterlagen Eduard Baumgarten. 104 Vgl. zum folgenden ausführlich Klingemann: Wissenschaftsanspruch, S. 690-696, siehe Anm. 67.
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den Gauleiter Fritz Sauckel waren schließlich mit dem Fall auf höchster Ebene Alfred Rosenberg, Rudolf Heß und Martin Bormann persönlich befasst. Boehms örtlicher Gegenspieler war Lothar Stengel von Rutkowski, Mitglied der NSDAP seit 1930, SS-Sturmbannführer, Leiter der Abteilung Lehre und Forschung am Thüringischen Landesamt für Rassewesen, Gauhauptstellenleiter im Rassenpolitischen Amt der NSDAP des Gaus Thüringen und ab 1940 Dozent für Rassenhygiene, Kulturbiologie und rassenhygienische Philosophie an der Universität Jena. In seiner Habilitationsschrift, „Was ist ein Volk? Der biologische Volksbegriff. Eine kulturbiologische Untersuchung, seine Definition und seine Bedeutung für Wissenschaft, Weltanschauung und Politik“, rechnet er mit Boehms Volkslehre ab. (Die Überschrift des ersten Kapitels in Boehms eigenständigem Volk lautet bezeichnenderweise „Was ist ein Volk?“) Dabei lässt es aber Stengel von Rutkowski nicht bewenden. Als stellvertretender – de facto aber maßgeblicher – Gaudozentenbundführer zielt er auf die „völlige ‚Erledigung‘„ Boehms ab, wie dieser sich ausdrückt. Seitdem Boehm 1937 einen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP gestellt hatte, intervenierten zahlreiche Parteidienststellen. Eingeschaltet wurde auch das sich sehr zögerlich verhaltende Amt Rosenberg, das die Sache eigentlich für erledigt hielt, nachdem Boehm seinen Antrag in einem längeren Schreiben an Gauleiter Sauckel zurückgezogen hatte. Nach weiterem Drängen des Gaupersonalamtsleiters erklärte Baeumler, „dass die von mir zum Ausdruck gebrachte Stellungnahme zu der weltanschaulichen Haltung des Prof. Max Hildebert Boehm, soweit sie in seinen wissenschaftlichen Werken zum Ausdruck kommt, von Reichsleiter Rosenberg persönlich und ausdrücklich gebilligt wird. Die Theorie des Volkes, die M. H. Boehm vertritt, entbehrt jeder klaren Stellung zu dem Grundgedanken unserer Weltanschauung, dem Rassegedanken. Wir können nicht einen Mann in die Partei aufnehmen, dessen geistige Haltung uns immer wieder von neuem zu Ablehnungen veranlassen müsste.“105 Das Verhalten von Baeumler und Rosenberg sollte eigentlich erstaunen, hatte doch der Gaudozentenbundführer Boehms Kritik an Rosenberg eine herausragende Rolle in seinem Dossier zugewiesen, indem er Rosenbergs „Mythos“ mit der nationalsozialistischen Weltanschauung (contrafaktisch und völlig konträr zur uninteressierten oder sogar abschätzigen Haltung führender Nationalsozialisten dem „Mythos“ gegenüber) gleichsetzte: „Wenn M. H. Boehm die nationalsozialistische Weltanschauung als ‚pseudoreligiöse Blutsmystik‘ – man überlege sich den infernalischen Haß, den diese Wortbildung ausströmt – bezeichnet, dann ist das keine Nebenfrage sondern die Kardinalfrage.“106 Man gewinnt den Eindruck, dass das Amt Rosenberg zu einer Stellungnahme gedrängt werden musste, obwohl seine vertraulichen „Mitteilungen zur weltanschaulichen Lage“ vor Boehms 1936 erschienenem „ABC der Volkstumskunde. Der Begriffsschatz der deutschen Volkslehre für Jedermann“ bereits im Juni 1937 gewarnt hatten, was auch in dem Dossier aufgeführt wird.107 Im Herbst des Jahres stellte außerdem der Leiter des Amtes Schrifttumspflege im Amt Rosenberg missbilligend fest, Anhängern von Boehm sei es geglückt, „selbständige Gemeinschaften auf dem Boden des Nationalsozialismus zu bilden.“108 In dem 1938 vom Amt Rosenberg herausgegebenen „Leitfaden für die Schulungs- und Erziehungsarbeit der NSDAP“ mit dem Titel „Deutsche Volkskunde im Schrifttum“, der alle missliebigen Volkskundetheoretiker parteiamtlich zensiert, wird Boehms Volkslehre 105 (Amt) Wissenschaft an Gaupersonalamtsleiter, 23.6.1938; BAB, NS 15/194, Bl. 158. 106 Schreiben „Betr. Prof. Max Hildebert Boehm, Jena (Kursivsetzung im Original gesperrt gedruckt); BAB, NS 15/194, Bl. 166. 107 Auch die Zeitschrift „Volk und Rasse“ unterzog das ABC der Volkstumskunde einer scharfen Kritik, die darin gipfelte, dass das Buch „vom Standpunkt nationalsozialistischer Weltanschauung scharf abgelehnt werden muß.“ Volk und Rasse, 9. Jg., 1937, S. 367. 108 Amt Schrifttumspflege (H. Hagemeyer) an Prof. Baeumler, 2.10. 1937; IfZ, MA 116/3.
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schließlich in Anspielung auf seine früheren national-konservativen Aktivitäten als „Herrenclubideologie“109 gebrandmarkt. Das Amt Rosenberg war sicherlich ein Hauptgegner Boehms, spielte aber mit seinen Interventionen dennoch nicht die entscheidende Rolle. Eine andere, mit dem Amt Rosenberg heftig konkurrierende hochschulpolitische Kontrollinstanz hatte nämlich zuvor eindeutig Stellung bezogen. Zwei Monate bevor Baeumler gegenüber dem Gaupersonalamtsleiter seine Ablehnung der Aufnahme Boehms zum Ausdruck brachte, hatte am 14. April 1938 der Reichsdozentenbundführer das Amt für Mitgliedschaftswesen der Reichsleitung der NSDAP gebeten, von der Aufnahme Boehms abzusehen. Wie nicht anders zu erwarten, benutzte er Informationen des Dossiers des Gaudozentenbundführers, führte aber zusätzlich an, dass der SD mitgeteilt habe, Boehm sei „als Vertreter der nationalsozialistischen [sic] Tendenz reaktionärer Prägung und als hervorragender Aktivist bekannt.“110 Keine drei Wochen später zog Boehm am 5. Mai seine Meldung zur Mitgliedschaft zurück. Die späteren Versuche des Gauleiters Sauckel, Boehm in die Partei aufnehmen zu lassen, scheiterten an keinem geringeren als dem mächtigen Leiter der Partei-Kanzlei Martin Bormann. Der eigensinnige Volkstumsideologe Boehm war damit in seine Schranken verwiesen worden, der sozialwissenschaftliche Experte für Ostfragen wurde damit jedoch keineswegs überflüssig. Nachdem Rosenberg doch noch exekutive Befugnisse als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete bekam, wollten seine Beamten nicht auf Boehms Spezialwissen verzichten. So war Boehm zum Beispiel Teilnehmer an der vom Hauptamt Wissenschaft in Verbindung mit dem Dozentenbund im März 1942 in Berlin durchgeführten „Osttagung deutscher Wissenschaftler“, auf der „politische, kulturelle, soziale und wirtschaftliche Fragen der Forschung im Neuaufbau des Ostens“111 behandelt wurden. Rückblickend stellte Boehm mit Genugtuung fest, dass er sich in der Auseinandersetzung mit dem weltanschaulichen Großinquisitor Rosenberg auf dessen „ostpolitischen Clan“ stützen konnte, der ihn „als Sachverständigen“ honorierte.112 Als Ostexperte, der im Gegensatz zu den verbohrten Rassentheoretikern aus ökonomischen und herrschaftstechnischen Gründen für eine großzügige Assimilation der nach NS-Doktrin rassisch minderwertigen Slawen eintrat, wurde er auch weiterhin in der Akademie für Deutsches Recht geschätzt. Das von ihm zusammen mit Karl Christian von Loesch geleitete Institut für Grenz- und Auslandstudien in BerlinSteglitz stieg – wie noch gezeigt wird – nach Kriegsbeginn gar zu einer bevorzugten Institution der sozialwissenschaftlichen Politikberatung in allen ‚volkspolitisch‘ wichtigen Fragen der Ostpolitik auf. Dieselbe pragmatische Einstellung findet man auch bei der SS. In dem vom Reichsführer SS und Chef des Sicherheitshauptamtes herausgegebenen „Sonderbericht. Zersetzung der nationalsozialistischen Grundwerte im deutschsprachigen Schrifttum seit 1933“ vom Juni 1936 wird Boehms Kritik an der nationalsozialistischen „Rasseidee“ zwar angeprangert.113 Im Krieg erarbeitete das Institut für Grenz- und Auslandstudien aber zusammen mit dem Rasseamt der SS das „Verzeichnis der Völker, Volksgruppen und Volksstämme auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR“, das 1942 in zweiter Auflage herausgegebenen werden musste, weil die Nachfrage von SS, Wehrmacht, 109 Arbeitsgemeinschaft für Deutsche Volkskunde (Hrsg.): Deutsche Volkskunde im Schrifttum. Berlin 1938, S. 10. 110 NSD-Dozentenbund. Der Reichsdozentenbundführer an das Amt für Mitgliedschaftswesen der Reichsleitung der NSDAP, 14.4.1938; BAB, BDC, Unterlagen M. H. Boehm. 111 Heinrich Härtle (stellvertretender Leiter des Hauptamtes Wissenschaft): Vorwort, in: Hauptamt Wissenschaft der Dienststelle Rosenberg (Hrsg.): Ostaufgaben der Wissenschaft. Vorträge der Osttagung deutscher Wissenschaftler. München 1943. 112 M. H. Boehm an Reinhard Bollmus, 11.1.1967, S. 3; Bundesarchiv Koblenz, Nachlass M. H. Boehm, Nr. 8. 113 Der Reichsführer-SS. Der Chef des Sicherheitshauptamtes: Sonderbericht. Zersetzung der nationalsozialistischen Grundwerte im deutschsprachigen Schrifttum seit 1933. Juni 1936 (ohne Ortsangabe), S. 39.
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Parteidienststellen und Besatzungsbehörden dies verlangte. In dieser pragmatischen Haltung gegenüber sozialwissenschaftlichem Expertenwissen ist ein Grundprinzip nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik zu sehen. 5. Soziologische Expertise in ausgewählten Politikfeldern 5.1 Soziologische Agrarforschung im „Altreich“ bis zum Kriegsbeginn Wenn man dass Verhältnis von Sozialwissenschaften und Nationalsozialismus angemessen beurteilen will, muss man die sich dynamisch wandelnden Rahmenbedingungen etwa für soziologische Expertise in konkreten Politikfeldern untersuchen. Zu Beginn der NSHerrschaft waren dies primär die Agrar- und Siedlungspolitik (insbesondere Stadt-LandBeziehungen), Landesplanung sowie die Sanierung von Notstandsgebieten im so genannten Altreich, später verschoben sich die Tätigkeitsfelder in Richtung Ost- und Westpolitik sowie Bevölkerungs- und Raumpolitik. Ende 1935 wurden die Reichsarbeitsgemeinschaft für Rauumforschung (RAG) und ihr administratives Pendant, die Reichsstelle für Raumordnung (RfR) gleichzeitig gegründet. Sie organisierten reichsweit die Projekte von 51 Hochschularbeitsgemeinschaften für Raumforschung durch die Vorgabe von verbindlichen Forschungsthemen und finanzierten sozialwissenschaftliche Projekte in bisher unbekannten Größenordnungen. Damit wurde zum ersten Mal in Deutschland ein übergeordneter Forschungsverbund etabliert, der gleichzeitig mit einer Planungsbehörde strukturell verbunden war. In diesem Kontext wurde die außeruniversitäre Professionalisierung der empirischen Soziologie forciert, wovon wiederum deren akademische Institutionalisierung profitierte. So förderte zum Beispiel die RfR empirische Untersuchungen der Leipziger Soziologen über die unterbäuerliche Bevölkerung der sächsischen Oberlausitz, den Landesausbau im Drömling, die Notstandsgebiete der Oberlausitz und die Bevölkerungs- und Berufsgliederung im Arbeitsamtbezirk Leipzig. In ihrer für die RfR 1937 angefertigten Denkschrift „Die unterbäuerliche Schicht in den Dörfern der Sächsischen Oberlausitz“ kamen Karl Heinz Pfeffer und Theodor-Andreas Michael, der bei Hans Freyer mit einer Fallstudie über „Dorf und Industrie“ promoviert hatte, zu ganz anderen Schlussfolgerungen über die Ursachen der viel beklagten Landflucht als die heute regelmäßig zitierten Blutund-Boden-Theoretiker, die die Industrialisierung zur Hauptschuldigen der erbbiologischen Degeneration des deutschen Volkes im Zuge der Abwanderung guter Erbsubstanz von Land und deren Untergang im Prozess der Verstädterung erklärten. Pfeffer und Michael halten demgegenüber als Ergebnis ihrer empirischen Ermittlung der Ursachen von Landarbeitermangel und der Entstehung von Notstandsgebieten fest: „Der gewerbliche Landeausbau hat also nicht die Landwirtschaft ihrer Arbeitskräfte beraubt, sondern im Gegenteil die Ansässigkeit von Familien erst ermöglicht. […] Das inhaltliche Gesamtergebnis zeigt, dass die ausreichende Versorgung eines Gebietes mit landwirtschaftlichen Arbeitskräften nicht durch Industrieferne und nicht durch Verhinderung des Abzugs sichergestellt worden ist, sondern durch wirtschaftliche und nichtwirtschaftliche Landbindung einer unterbäuerlichen Schicht.“114
114 Karl Heinz Pfeffer/Theodor-Andreas Michael: Die unterbäuerliche Schicht in den Dörfern der Sächsischen Oberlausitz, Ms. 33 S.; BAB, R 113/1157, S. 30, 31; vgl. die zahlreichen Belege für eine dezidiert moderne Sicht der agrarsoziologischer Forschung bei Gutberger, Volk, S. 315ff, siehe Anm. 3. Zum Verhältnis von Agrarsoziologie und Agrarpolitik im Dritten Reich vgl. Carsten Klingemann: Agrarsoziologie und Agrarpolitik im Dritten Reich, in: Josef Ehmer/Ursula Ferdinand/Jürgen Reulecke
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Diese Sichtweise hatte Pfeffer im Rahmen einer reichsweit angelegten empirischen Erhebung über die Lage der Landarbeiter im Auftrag des Reichslandwirtschaftsministeriums bzw. des Reichsnährstandes gewonnen. Seit 1934 hatten er und Freyer Kontakte zum Sonderbeauftragten für Landarbeiterfragen des Reichsbauernführers. Die Durchführung dieser Untersuchung ermöglichte weitgehend der mit Pfeffer befreundete Erlanger Soziologe Karl Seiler, der zu der Zeit selbst zwei große Erhebungen zur Landflucht und sozialen Lage der Landbevölkerung in Franken für die RAG durchführte, aber noch nicht habilitiert war und die Reichsuntersuchung deshalb nicht selbst leiten konnte.115 Pfeffers Denkschrift, „Ergebnisse einer Erhebung über die Lage des Gesindes in Deutschland“, wurde dem Reichsnährstand eingereicht116 und soll in die gesetzlichen Regelungen zur Landarbeiterfrage eingeflossen sein.117 Die Leipziger Agrarsoziologen hatten weitere enge Kontakte zum agrarpolitischen Apparat. Hans Linde, der an der Landarbeiteruntersuchung mitgewirkt hatte,118 wurde Unterabteilungsleiter im Stabsamt des Reichsbauernführers und erstellte dort in Kooperation mit der RAG und dem Forschungsdienst der Landbauwissenschaften eine größere Studie über die strukturellen Ursachen der Arbeitseinsatzschwierigkeiten in der Landwirtschaft.119 Seit 1934 führte Seiler, der zu der Zeit hauptberuflich noch als Lehrer tätig war, sehr aufwendige und methodisch innovative Erhebungen über die soziale Lage der Landarbeiter und des Gesindes in Franken durch. Für seine von der RAG außergewöhnlich gut dotierten Projekte stellte er bis zu fünf Mitarbeiter ein, die sich auf die Zuarbeit von zahllosen ehrenamtlichen Mitarbeitern im gesamten Gau Franken stützen konnten, die vor Ort die erforderlichen Daten anhand präziser Anweisungen und Erhebungsinstrumente sammelten. Die zuständigen Stellen der Landesplanungsgemeinschaft Bayern, des Reichsnährstands sowie die Instanzen der staatlichen Aministration und der NSDAP wirkten dabei mit. Der Gaubeauftragte für Siedlung und Landesplanung des Gaues Franken, der Planungsreferent des Reichsstatthalters Bayern und die Zentrale der bayerischen Landesplanung in München befassten sich mit Seilers Forschungsberichten und Publikationen. Weiterhin bestanden personelle Kontakte zu administrationseigenen Forschungseinrichtungen und Planungsbehörden. Der von Hans Freyer promovierte Soziologe Walter Hildebrandt, der bereits zusammen mit Pfeffer die Leipziger Untersuchungen zur Landarbeiterfrage durchgeführt hatte, leitete mit Seiler die Arbeiten zur Landflucht in Franken und wurde danach Mitarbeiter in der Berliner Zentrale der RAG. Für Seiler selbst wurde schließlich ein Lehrstuhl für Soziologie an der Nürnberger Hochschule für Sozialwissenschaften eingerichtet.120
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(Hrsg.): Herausforderung Bevölkerung. Zu Entwicklungen des modernen Denkens über die Bevölkerung vor, im und nach dem „Dritten Reich“. Wiesbaden 2007. Vgl. den Briefwechsel zwischen Pfeffer und Seiler im Nachlass Seiler, E 10, Nr. 37; Stadtarchiv Nürnberg. Hans Freyer an Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 23.10.1937, Bl. 3; Dokumente K. H. Pfeffer; BAB, BDC. Vgl. Karl Seiler, Referat über Landflucht; Reichsarbeitsgemeinschaft, Berlin, 12.4.1938, S. 2; Nachlass Seiler, E 10, Nr. 22; Stadtarchiv Nürnberg. Vgl. Hans Linde an Philosophische Fakultät, Universität Leipzig, 14.11.1935; Universitätsarchiv Leipzig, Phil. Fak., Prom. Nr. 831, Bl. 9. Hans Linde: Ausmaß und Ursachen der landwirtschaftlichen Arbeitseinsatzschwierigkeiten in Mitteldeutschland (Land und Provinz Sachsen), in: Berichte über Landwirtschaft, N. F., Bd. XXV, 1939. Vgl. zu Seilers weiterer Karriere, Klingemann: Soziologie, siehe Anm. 2.
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Auch am Institut für Sozial- und Staatswissenschaften an der Universität Heidelberg121 war eine Verschränkung von Forschung und politischer Zwecksetzung deutlich ausgeprägt. Projekte zu verschiedenen Themen wurden im Laufe der Jahre im Auftrag der RAG (auch als Stipendien), aber auch für den Reichsnährstand (Landesbauernschaft Baden) und die Studiengesellschaft für Nationalökonomie (wissenschaftliche Forschungsstelle des Reichsbauernführers) erstellt. Dabei wurden die Bearbeiter später häufig übernommen. Mit Kriegsbeginn wurden auch hier Forschungsprojekte explizit in den Dienst der Expansionspolitik gestellt, was im Folgenden exemplarisch dargestellt wird. Der persönliche Assistent des Direktors Carl Brinkmann und RAG-Stipendiat, Max Ernst Graf zu SolmsRoedelheim, hatte mit der innovativen Arbeit „Die Einflüsse der Industrialisierung auf 14 Landgemeinden bei Karlsruhe“122 promoviert und auch Auftragsarbeiten für die Forschungsstelle des Reichsbauernführers durchgeführt. Als er einberufen werden sollte, stellte der Rektor auf Anregung des Instituts einen Antrag auf Unabkömmlichkeit, da SolmsRoedelheim „im Auftrag und gemäß den Richtlinien der Reichsstelle für Raumordnung im Rahmen ihres kriegswichtigen Forschungsprogramms mit der Untersuchung über die Aussiedlungsmöglichkeiten aus dem Klein- und Zwergbauerntum sowie der Siedlerreserve an nachgeborenen Bauernsöhnen und Landarbeitern Nordbadens befaßt ist.“123 Dem Antrag wurde stattgegeben. Am Institut für Sozial- und Staatswissenschaften ist neben vielen anderen Arbeiten also auch die typische Verflechtung einer Forschungseinrichtung mit Planungsinstanzen bis hinauf zur höchsten Ebene zu beobachten. Einen ganz besonderen Fall der politischen Institutionalisierung einer universitären Forschungseinrichtung stellt das Soziographische Institut an der Universität Frankfurt am Main unter der Leitung von Ludwig Neundörfer dar.124 Es wurde im Frühjahr 1943 gegründet, um dem Großvorhaben einer grundlegenden Umgestaltung der Agrarstruktur im Altreich durch Aussiedlung und Begründung moderner Sozialstrukturen durch Wiederansiedlung in den „neuen Ostgebieten“ eine universitäre Basis zu verschaffen. Ab 1937 war der Heidelberger Dezernent für Stadtplanung zugleich Bezirksplaner für Nordbaden und von 1939 bis Ende 1940 Bezirksplaner und stellvertretender Landesplaner beim Reichsstatthalter Baden. 1940 folgte er „dem Ruf zur Übernahme der Reichsarbeiten zur Umsiedlung“. In einem Bericht vom August 1943 zog Neundörfer eine Bilanz der bis dahin abgeschlossenen Arbeiten. „Das Archiv Bestandspläne umfaßt genaue soziographische Angaben über 586700 Haushalte aus allen Teilen des Reiches. […] Von den 4500 Richtgemeinden dieser Planung sind 3126 in Bestand und Wunschbild fertiggestellt und liegen die Pläne von 1862 Gemeinden ausgefertigt in den Schränken des Archivs. Außerdem ist umfangreiches Volkskartenmaterial vorhanden für das Westwallgebiet, die lothringischen Landstädte, das Kohlenrevier des Warndt, das Umsiedlungsgebiet Südkärntens, die Notstandsgebiete der Rhön, Niederschlesiens und Thüringens. Erste Ansätze für die Erfassung der Volkstumsprobleme in Danzig-Westpreußen und War121 Vgl. das Kap. „Das ‚Institut für Sozial- und Staatswissenschaften‘ an der Universität Heidelberg zum Ende der Weimarer Republik und während des Nationalsozialismus“, in: Klingemann: Soziologie, siehe Anm. 2. Der von Reinhard Blomert, Hans Ulrich Eßlinger und Norbert Giovannini herausgegebene Sammelband „Heidelberger Sozial- und Staatswissenschaften“ (Marburg 1997) trägt den Untertitel „Das Institut für Sozial- und Staatswissenschaften zwischen 1918 und 1958“, man erfährt aber erstaunlicherweise nichts über dessen vielfältige Aktivitäten und politiknahe Forschungen während des Dritten Reichs! 122 Heidelberg-Handschuhsheim 1939. 123 Carl Brinkmann (i. V. Klaus Heinrich) an den Rektor der Universität Heidelberg, 13.4.1940; Universitätsarchiv Heidelberg, B-6681/2. 124 Vgl. dazu ausführlich das Kap. „Das Soziographische Institut an der Universität Frankfurt am Main“, in: Klingemann: Soziologie, siehe Anm. 2; jetzt mit weiteren Details Uwe Mai: „Rasse und Raum“. Agrarpolitik, Sozial- und Raumplanung im NS-Staat. Paderborn u. a. 2002.
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theland, schließlich Untersuchungen über die Wohnverhältnisse alter Leute in Frankfurt und München. Der Herstellungswert dieses Materials beträgt RM 300.000.“125 Das Großprojekt der Erstellung eines „Reichsgutachtens“, bei dem das Reich in „250 Räume gleicher Art“ eingeteilt werden sollte, konnten Neundörfers Daten sammelnde „Arbeitsstellen Bestandspläne“ in Berlin, Wien und Frankfurt am Main, die dem Reichsnährstand unterstellt waren und von diesem zusammen mit der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung betreut wurden, vom Umfang her und im Hinblick auf eine wissenschaftliche Auswertung nicht allein leisten. Da Neundörfers Arbeiten außerdem seit 1941 zunehmend Himmlers Kompetenzbereich als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums berührten und er für ihn Gutachten erstellte, sollte ein entsprechend ausgestattetes Forschungsinstitut geschaffen werden, das insbesondere die wissenschaftliche Auswertung der Bestandspläne wahrzunehmen hatte. Zwei Stiftungen, an denen die Stadt Frankfurt und die Universität beteiligt waren, stellten das Kapital für die „Stiftung zur Erforschung des deutschen Volksaufbaus“ zur Verfügung. Das Reichswissenschaftsministerium genehmigte umgehend die Errichtung des Soziographischen Instituts, woraufhin Neundörfer den Leiter der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung Prof. Ritterbusch über die zukünftige Kompetenzverteilung informierte: „Als unmittelbar beteiligt haben neben der Reichsarbeitsgemeinschaft der Chef des Planungshauptamtes des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums Prof. Konrad Meyer, der zugleich Planungsbeauftragter für Siedlung und ländliche Neuordnung beim Reichsernährungsminister, Reichsbauernführer und Reichsamt für das deutsche Landvolk ist, und die Reichsabteilung II A 4 des Reichsnährstands zu gelten.“126 Indem Neundörfer am selben Tag dem Kurator seiner Universität mitteilte, dass in Kürze in Berlin „die entscheidenden Besprechungen zwischen den Prof. Ritterbusch und Konrad Meyer in meinem Beisein stattfinden“127 werden, wird deutlich, dass Himmler über Konrad Meyer entscheidenden Einfluss auf das Institut nehmen konnte. Das Soziographische Institut erlebte eine unvergleichliche Erfolgsgeschichte, die keineswegs infolge der zunehmenden militärischen Niederlagen abbrach. Denn inzwischen hatten die obersten Planungsinstanzen sich mehr und mehr von den „neuen Ostgebieten“ ab- und dem Altreich zugewandt. Daraufhin bearbeitete das Institut im Rahmen des im Frühjahr 1944 gegründeten „Arbeitsstabes Wiederaufbau beim Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion“ zahlreiche Aufträge. Im Juni 1944 gründete Neundörfer mit Vertretern der RAG, des Reichsnährstands und des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums einen Beirat zur fortlaufenden Koordination der Arbeit des Instituts: „Weitere Forschungsaufträge, die auf Anregung des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums zu übernehmen sind, würden ebenfalls von dieser Seite zu finanzieren sein.“128 Auch bei der Absicherung der Zukunft des Instituts bei Kriegsende half der 125 Bericht über laufende Arbeiten des Soziographischen Instituts an der Universität Frankfurt; erstattet in der Sitzung des Vorstandes der Stiftung am 18. August 1943, S. 1; Universitätsarchiv Frankfurt am Main (UAF), Az.: II c. 126 Soziographisches Institut an den Reichsobmann der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, 18.2.1943 (Abschrift); UAF, Universitätskuratorium (Angef. 1942, Geschl. 1950). 127 Soziographisches Institut an Herrn Kurator Wisser, 18.2.1943; UAF, Universitätskuratorium. Konrad Meyer repräsentiert in idealer Weise das Prinzip der rekursiven Kopplung von Sozialwissenschaft und Politik; vgl. Isabel Heinemann: Wissenschaft und Homogenisierungsplanung für Osteuropa. Konrad Meyer, der „Generalplan Ost“ und die Deutsche Forschungsgemeinschaft, in: Isabel Heinemann/Patrick Wagner (Hrsg.): Wissenschaft – Planung – Vertreibung. Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert. Stuttgart 2006. 128 Sechsseitiges Protokoll „Besprechung über die Bildung eines Beirates bei der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung für das Soziographische Institut in Frankfurt/M. am 17.6.1944“, BAB, R 164/357.
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Reichskommissar, indem er dafür sorgte, dass es im März 1945 in die eigentlich nur für natur- und technikwissenschaftliche Einrichtungen gedachte „Wehrforschungsgemeinschaft“ aufgenommen wurde: „Die wichtigsten Mitarbeiter gelten als Schlüsselkräfte“129 und konnten deswegen nicht eingezogen werden! Am 1. April 1945 nahm Neundörfer „nach 10tägiger erzwungener Abwesenheit“130 seine Tätigkeit im Institut wieder auf. Das Institut wurde noch vor der Kapitulation von der amerikanischen Militärregierung mit der Aufstellung einer „Wohnungshaushaltskartei“ zur Wohnraumlenkung und als „Vorarbeit für Planungen“ beauftragt.“131 Neundörfer war neben seinen akademischen Ämtern als Direktor des Instituts, Professor für Soziologie der Erziehung sowie Präsident der Hochschule für Erziehung an der Universität Frankfurt wohl einer der herausragenden (Politik-)Berater Westdeutschlands.132 Der politische Systemumbruch von 1933 hatte ihm die Umsetzung seines bereits zuvor entwickelten Konzepts sozialwissenschaftlich angeleiteter Sozialplanung ermöglicht, das an der Einheit des Haushalts analytisch ansetzte und eine individuenbezogene Intervention anstrebte. Er entwarf dieses Modell modernster Sozialtechnik nicht als fanatischer Anhänger des Nationalsozialismus. Er war weder in der NSDAP noch in einer ihrer zahlreichen Gliederungen. Sein Ziel war die Schaffung einer besseren Gesellschaft, wobei er die Vernachlässigung der Interessen und Rechte beplanter Individuen in Kauf nahm. Neundörfer und das Soziographische Institut repräsentieren den Prototyp einer innovativen, anwendungsorientierten empirischen Soziologie, deren politischer Erfolg durch ihre außeruniversitäre Professionalisierung während des Nationalsozialismus initiiert wurde und sich in der Bundesrepublik in anderer Form als Beratungswissenschaft etablieren konnte. 5.2 Soziologische Ostforschung133 Die bislang geschilderten Einsatzfelder sozialwissenschaftlichen Expertenwissens lagen (bis auf einige des Soziographischen Instituts) geographisch alle im Altreich mit den Schwerpunkten Agrarstruktur (insbesondere Landflucht, Stadt-Land-Beziehungen, Aussiedlungsreserven), Notstandsgebiete sowie Landes- und Siedlungsplanung. Mit Kriegsbeginn wurden neue Arbeitsgebiete durch die Expansionspolitik erschlossen. Die Ermittlung von Aussiedlerpotentialen aus den westlichen Landesteilen, Sozialraumforschung in den einverleibten oder besetzten Territorien und die Untersuchung der deutschen Volksgruppen sowie anderer ethnischer Minderheiten in Europa rückten nun in das Zentrum der politikberatenden Forschungsarbeit. Das bis dahin permanent unterfinanzierte Institut für Grenz- und Auslandstudien in Berlin-Steglitz, das aber über einen von staatlichen und Parteidienststellen hochgeschätzten Fundus an Daten- und Kartenmaterial über ethnische Verhältnisse nicht nur in Ost- und Südosteuropa verfügte, erlebte eine bis dahin undenkbare Förderung.134 Die Mitglieder des 129 Vorlage für die Vorstandssitzung vom 15. März 1945, Punkt 4: Verschiedenes, S. 3; UAF, Universitätskuratorium (Angef. 1942, Geschl. 1950). 130 Jahresbericht 1945/46 des Soziographischen Instituts an der Universität Frankfurt/Main, S. 1; Archiv des Instituts für Gemeinwohl, Mappe 195, Bündel Nr. 6. 131 Ebd., S. 4. 132 Vgl. die Auflistung seiner vielen Ämter und Funktionen bei Klingemann: Soziologie, S. 101f, siehe Anm. 2. Speziell zu Neundörfers Soziographie im katholischen Milieu vgl. Benjamin Ziemann: Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Soziographie und soziale Schichtung im deutschen Katholizismus, in: Geschichte und Gesellschaft, 29. Jg., 2003. 133 Ausführlich dazu Carsten Klingemann: Ostforschung und Soziologie während des Nationalsozialismus, in: Jan M. Piskorski/Jörg Hackmann/Rudolf Jaworski (Hrsg.): Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Disziplinen im Vergleich. OsnabrückPoznań 2002. 134 Vgl. das Kap. „Das Institut für Grenz- und Auslandstudien in Berlin-Steglitz: Angewandte Sozialwissenschaft im Nationalsozialismus“, in: Klingemann: Soziologie, siehe Anm. 2.
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Instituts bearbeiteten Forschungsaufträge vom Auswärtigen Amt, dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, dem Oberkommando der Wehrmacht und dem Reichssicherheitshauptamt. Sie kooperierten mit der Akademie für Deutsches Recht, dem Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, insbesondere aber mit Dienststellen des Reichsführers SS wie dem Rasseamt des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS, der Volksdeutschen Mittelstelle des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums und dem Sicherheitsdienst-Inland. Schließlich wurde das Institut, das der Dienstaufsicht des Reichsinnenministeriums unterstanden hatte, im Mai 1944 dem Amt VI/G des Reichssicherheitshauptamtes, also dem Auslandsnachrichtendienst unterstellt. Gefragt waren die Mitarbeiter des Instituts hauptsächlich wegen ihrer Spezialkenntnisse als Ost- und Minderheitenexperten. So wurde 1942 der von Karl Heinz Pfeffer mit einer geheim gehaltenen Arbeit über „Bauerntum und Volkstum in Estland“ promovierte Gerhard Teich zur Beratung eines vom Reichssicherheitshaupt erstellten Entwurfs des Generalplans Ost herangezogen. Dabei wurden nämlich „Fragen der Eindeutschung, insbesondere in den baltischen Ländern“135 behandelt. Nicht nur im Institut für Grenz- und Auslandstudien bot die Ostforschung in empirischer Arbeit ausgewiesenen Soziologen vielfältige Arbeitsmöglichkeiten, wie im Folgenden dargelegt werden soll. Die politisch bewusste Steuerung der Ostforschung in eine dezidiert sozialwissenschaftliche Richtung wird 1940 durch die Bekanntmachung des „Kriegsprogramms“ der RAG in ihrer Zeitschrift „Raumforschung und Raumordnung“ unter der Überschrift „Besiedlung der Ostgebiete durch bäuerliche Kolonisation aus dem Altreich“ offiziell zum Ausdruck gebracht. Die forschungsstrategische Zielsetzung lautete: „Gegenwärtig besteht unter den beteiligten Stellen Einigkeit darüber, daß es notwendig ist, alle Landschaften des Reiches und auch diejenigen der Ostmark und des Sudentengaues einzubeziehen, da es sich nicht mehr allein darum handelt, Grundmaterial für die Beantwortung der Frage der Aussiedlungsmöglichkeiten zu gewinnen, sondern zugleich die Untersuchungen so anzusetzen, daß sie auf lange Sicht die soziologisch bedeutsamen Tatsachen für die Beurteilung der Gesamtstruktur der betreffenden Gebiete hinsichtlich vor allem der bäuerlichen Verhältnisse darbieten.“ Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik wurde dezent als eine Frage der „Form“ behandelt: „Über die Form der Untersuchungen darf ausgesprochen werden, daß sich nicht nur eine enge Arbeitsgemeinschaft der zentral beteiligten Stellen, sondern dementsprechend auch regional in den Untersuchungsgebieten ein enges Zusammenarbeiten zwischen den beteiligten Verwaltungs- und politischen Stellen und der Wissenschaft ergeben hat. Für das Untersuchungsziel sind einmal die Gesichtspunkte des Reichsführers SS in seiner Eigenschaft als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums, sodann die Erlasse der RfR, des Reichsbauernführers und Reichsernährungsministeriums, sowie die Anweisungen des Obmanns der RAG an die Untersuchungsleiter maßgebend.“136 Den klassischen Fall einer institutionellen Zusammenführung angewandter akademischer Agrarsoziologie und politisch-administrativer ‚Neuordnungs‘-Planung repräsentiert der habilitierte Soziologe Herbert Morgen. Er lehrte als Dozent an der Universität Berlin und 135 Bericht über die Sitzung am 4.2.1942 bei Dr. Kleist über die Fragen der Eindeutschung, insbesondere in den baltischen Ländern, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 6. Jg., 1958. Als Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes kontrolliert er später das auf Russland-Forschung spezialisierte WannseeInstitut. 136 (F.) Glatzel: Besiedlung der Ostgebiete durch bäuerliche Kolonisation aus dem Altreich, in: Raumforschung und Raumordnung, 4. Jg., 1940, S. 183, 184 (Kursivsetzungen im Original gesperrt gedruckt). Dabei ist zu betonen, dass auch die soziologische Ostforschung immer als Element der Planung zur völligen Umgestaltung der Sozialstruktur und Gesellschaftsordnung Gesamtdeutschlands gesehen werden muss; vgl. Gutberger: Volk, S. 395ff, siehe Anm. 3.
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leitete die Abteilung Bodenordnung und ländliche Soziologie an deren Institut für Agrarwesen und Agrarpolitik, dessen Direktor SS-Oberführer Prof. Dr. Konrad Meyer gleichzeitig Leiter des Planungsamtes des Reichskommissariats für die Festigung deutschen Volkstums war. Als Geschäftsführer des „Forschungsdienstes“, der dem Reichslandwirtschaftsministerium und dem Reichswissenschaftsministerium unterstand und sieben Reichsarbeitsgemeinschaften der Landwirtschaftswissenschaften koordinierte sowie Forschungsprojekte finanzierte, saß Morgen an einer Schaltstelle nationalsozialistischer Forschungspolitik. Als Leiter einer Kommission, die im Auftrag des Reichskommissars sozioökonomische Bestandsaufnahmen in den ehemals russischen Kreisen des okkupierten Polens durchführte, entwickelte er einen dezidiert soziologischen Ansatz fernab jeglicher Bauernromantik: „Die neuen Ostgebiete in Zukunft als reine Agrargebiete mit damit begründeter einseitiger Sozialstruktur anzusehen, wäre vollkommen abwegig.“137 Morgens moderne Sicht wurde in Himmlers Planungsstab offensichtlich geschätzt, da er auch einer der Autoren der dort entworfenen Variante des „Generalplans Ost“ ist.138 5.3 Zur politischen Funktion soziologischer Ostexperten im Kontext des 14. Internationalen Soziologiekongresses in Bukarest, im Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums, im militärischen Geheimdienst („Abwehr II“) und in der ReinhardHeydrich-Stiftung in Prag Ergänzend zu der obigen Darstellung der strategischen Planung des Einsatzes deutscher Soziologen auf dem für 1939 geplanten Internationalen Soziologiekongress in Bukarest durch den Delegationsleiter Gunther Ipsen sei erwähnt, dass er bereits im Februar 1938 das Reichswissenschaftsministerium daraufhin gewiesen hat, es sei auf dem Kongress mit einem „starken Anteil politisch wirksamer und wichtiger Männer“ zu rechnen, so dass es falsch sei, „ein solches Feld der Werbung unseren politischen Feinden – Juden, Volksfrontgruppen, Liberalen und Marxisten – zu überlassen.“139 Diesem Abwehrzweck diente auch das Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums,140 wie es Karl Heinz Pfeffer bei der Proklamation des Erwachens einer neuen deutschen Soziologie darstellt. Es ist nämlich nicht nur die „sichtbarste Leistung dieser eigentlichen deutschen Soziologie“, es hat auch eine klare politische Vorbildfunktion: „Die deutsche Soziologie kann nur dann die ihr auch international gebührende Schlagkraft erhalten, wenn wie hier die systematischen und empirischen, die einzelwissenschaftlichen und politischen Bemühungen zusammenschlagen.“141 Dies war nun aber nicht der verzerrte Blick eines Vertreters der Soziologie auf das Handwörterbuch, das doch von Historikern herausgegeben wurde. Carl Petersen, einer der Herausgeber, schlägt 1936 vor, „Ipsen, als einem der wesentlichsten Mitarbeiter in Sachen Ostartikel“142, mit dem man einig sein müsse, zu Besprechungen einzuladen. Und so ist es nicht verwunderlich, dass außer Ipsen auch seine Assistenten Helmut Klocke und Helmut Haufe sowie andere ursprünglich Leipziger Soziologen wie Hans Freyer, Karl Heinz Pfeffer, Hans Linde und Gerhard Teich als 137 Herbert Morgen: Soziologische Erwägungen bei der Erstellung dörflicher Gemeinden, in: Der Forschungsdienst, 12, 1941, S. 397. 138 Vgl. Mechthild Rössler/Sabine Schleiermacher (Hrsg.): Der „Generalplan Ost“. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik. Berlin 1993. 139 Gunther Ipsen an den Herrn Reichs- und Preussischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Metgethen, 2.2.38; BAB, 49.01, Nr. 2979, Bl. 121. 140 Vgl. Klingemann: Ostforschung, S. 176-185, siehe Anm. 130. 141 Karl Heinz Pfeffer: Die Soziologie in Deutschland, in: Archiv für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik, 9. Jg., 1939, S. 428. 142 Carl Petersen im Anschluss an Auszüge aus einem Brief des Redaktionsmitglieds Hans Schwalm, 17. August 1936; BAB, R 173/143.
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Autoren oder aber insbesondere auch als Kontrolleure die Ausrichtung des Handwörterbuchs wesentlich mitbestimmten. Dessen politische Bedeutung wird allein schon daraus ersichtlich, dass Heinrich Himmler persönlich als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums und seine Forschungsorganisation „Das Ahnenerbe“ die Arbeit am Handwörterbuch sicherstellten. Zu den Mitgliedern der Delegation für den Internationalen Soziologie-Kongress gehörten auch die ausgewiesenen Ostexperten Hans Raupach und Helmut Klocke. Klocke, ehemaliger Mitarbeiter am Ungarn-Institut der Universität Berlin, wurde als Berater für das Auswärtige Amt herangezogen, um den Ersten Wiener Schiedsspruch mit vorzubereiten, insbesondere mit Blick auf die neue Grenzziehung zwischen Ungarn und der Slowakei. Hans Raupach, Dozent für Völker- und Staatenkunde Südosteuropas an der Universität Halle/Saale, beschreibt die Aufgaben seiner Gruppe von etwa 25 sozialwissenschaftlichen Ostexperten im militärischen Geheimdienst („Abwehr II“) mit folgenden Worten: „Als Gruppe A II wird im folgenden eine Gruppe von deutschen Intellektuellen bezeichnet, die auf der Grundlage einer gemeinsamen Erziehung, Erfahrung und kollektiver wissenschaftlicher Arbeit versuchte, ihre Konzeption osteuropäischer Zusammenarbeit in der Kriegsführung der deutschen Wehrmacht durchzusetzen. […] Die meisten Mitglieder haben […] irgendwelche wissenschaftlichen Beiträge zur Kenntnis Osteuropas geleistet. […] Die Aufgabe von Abw II war die militärpolitische Bewertung und Ausnutzung der politischen, insbesondere der nationalen und sozialen Spannungen beim Gegner. Obwohl eine besondere Abteilung die Aufgabe hatte, Sabotagehandlungen im Rücken des Gegners durchzuführen, war bei der überwiegenden Mehrheit der Abteilung die Ansicht herrschend, dass eine kluge Führung oppositioneller Gruppen und ihre Steuerung als einer latenten Gefahr für den feindlichen Staat ein viel wirksameres Kampfmittel war, als die Inszenierung höchst kostspieliger und bei den geringen deutschen Einsatzmitteln nur sporadischer Sabotageunternehmen. Allerdings wurde auch erkannt, dass die Steigerung oppositioneller Bewegungen zu eigentlichen Kampfhandlungen (Partisanentätigkeit) die ultima ratio der Führungstätigkeit der Abteilung sein musste.“143 Während das sozialwissenschaftliche Expertenwissen in der militärischen Abwehr zur Destabilisierung der östlichen Länder durch Instrumentalisierung oppositioneller und autonomistisch-separatistischer Bewegungen eingesetzt wurde, sollte es in der ReinhardHeydrich-Stiftung in Prag die deutsche Machtposition im Reichsprotektorat Böhmen und Mähren stabilisieren und langfristig eine völlige Assimilation der rassisch als ebenbürtig geltenden Tschechen ermöglichen helfen. Diese Position vertrat auch ihr wissenschaftlicher Leiter Prof. Hans Joachim Beyer, der sich sonst nicht nur als radikaler Antisemit, sondern auch als ausgesprochener Polenhasser auszeichnete.144 In seinem Aufsatz, „Ghetto oder Assimilation? Die amerikanische Soziologie und ostmitteleuropäische Volkstumsfragen“, musste er trotz rassenmystischer Vernebelungen festhalten: „Wenn auch jede Umvolkung mit einem Gesinnungswandel beginnt, so sind doch rassische Faktoren für den Verlauf bestimmend. Diese Feststellung darf nicht mißverstanden werden: Die Rasse als 143 „Geschichte der Gruppe A II“, 10.4.1949, S. 1, 4; dieses neunseitige Typoskript überreichte mir Hans Raupach im Jahr 1985 bei meinem Besuch in seiner Münchener Privatwohnung. Außer Raupach waren noch sechs weitere mir bekannte Sozialwissenschaftler als Ostexperten in der Abwehr tätig; vgl. Klingemann: Ostforschung, S. 175f, siehe Anm. 133. 144 Vgl. zur Assimilationssoziologie im Rahmen der Reinhard-Heydrich-Stiftung, Klingemann: Ostforschung, S. 185ff, siehe Anm. 133; zu Hans Joachim Beyer vgl. Karl Heinz Roth: Heydrichs Professor. Historiographie des „Volkstums“ und der Massenvernichtung: Der Fall Hans Joachim Beyer, in: Peter Schöttler (Hrsg.): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945. Frankfurt am Main 1997, und Eduard Kubů: „Die Bedeutung des deutschen Blutes im Tschechentum“. Der ,wissenschaftspädagogische‘ Beitrag des Soziologen Karl Valentin Müller zur Lösung des Problems der Germanisierung Mitteleuropas, in: Bohemia, 45. Jg., 2004.
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solche wirkt nicht assimilierend.“ Mit anderen Worten „erleichtert eine rassische Verwandtschaft die Angleichung, während rassische Fremdheit zu einer Pseudoassimilation führt.“145 Konkret bedeutet dies für die politisch erwünschte allgemeine Assimilationsfähigkeit der Tschechen, dass er eine „außerordentliche Stärke des deutschen Blutanteils im Tschechentum“146 postuliert und im Gründungskonzept der Reinhard-Heydrich-Stiftung als Ziel ihrer Forschungsarbeit die „geistige und gesinnungsmäßige Eingliederung der slawischsprachigen Bevölkerung Böhmen und Mährens, insbesondere der Jugend ins Reich“147 festlegt. Diesen Ansatz vertrat auch Karl Valentin Müller, der 1941 zum Professor für Sozialanthropologie und Direktor des Instituts für Sozialanthropologie und Volksbiologie an der Deutschen Karls-Universität bestellt wurde. Schon bevor die Reinhard-Heydrich-Stiftung ein Jahr später gegründet werden sollte, publizierte er „Grundsätzliche Ausführungen über das deutsche und tschechische Volkstum in Böhmen und Mähren“. Er beginnt den Aufsatz mit einer Feststellung, die so mancher NS-Rassenideologe als eklatanten Verstoß gegen das Dogma, ausschließlich die Rassenzusammensetzung bestimme alle Eigenschaften eines Volkes, empfunden haben dürfte: „Dem Verhältnis des deutschen zum tschechischen Volkstum wird man nur gerecht, wenn man sich vorher klarmacht, daß Völker – und vor allem kleine Völker – in erster Linie kulturelle Bekenntnisgemeinschaften sind, deren blutsmäßiger Aufbau rasch und nachhaltig wandelbar ist, so daß sich das charakteristische und geistige Profil desselben Volkes in wenigen Geschlechterfolgen wesentlich verändern kann.“148 Bei seinen dann folgenden Ausführungen fließt viel Blut (hin und her), und der Glaube an die prägende Kraft rassischer Urherkunft wird gepflegt – allerdings mit dem Ziel, die Ebenbürtigkeit von Tschechen und Deutschen zu beweisen. Dafür zieht Müller als Belege Grabfunde, Genealogien des Adels, deutsche Stadtgründungen, die Auszählung von Namen und Aufschriften auf Grabsteinen, deutsche Zuwanderungen und Familiennamen sowie die Angaben auf den aktuellen „Haushaltskarten“ für die Zuweisung von Lebensmitteln und anderen Gütern heran. Schließlich steht fest: „Zusammenfassend kann bezüglich des Grades der Bluts- und Abstammungsgemeinschaft der Deutschen und Tschechen gesagt werden, daß – sowohl nach der kultur-, sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Erfahrung und schließlich auch nach dem rassebiologischen Erscheinungsbild – die Ober- und Mittelschicht dem deutschen Durchschnitt entsprechen; es wäre freilich wichtig, hier nach Ständen und Gewerben, aber auch nach Gegenden genaueren Einblick zu erhalten. Sehr stark dem deutschen Bilde angenähert erscheinen bereits die gehobenen Arbeiterschichten und – wohl in gebietsweise verschiedenem Grade – der Bauernstand. In etwas geringerem Maße vom deutschen Sippenerbe beeinflußt zeigt sich die Schicht der ungelernten Arbeiter und Tagelöhner, auch hier verschieden nach Ort und Gewerbezweig.“149 Allerdings entwickelt er in einer Denkschrift zur „Umvolkung“ für die „Neuordnung des südosteuropäischen Raums“ im Auftrag von Staatsminister Karl Hermann Frank, dem nach 145 Hans Joachim Beyer: Ghetto oder Assimilation? Die amerikanische Soziologie und ostmitteleuropäische Volkstumsfragen, in: Zeitschrift für Politik, Bd. 32., 1942, S. 344. 146 Hans Joachim Beyer: Rassische Kräfte in der Umvolkung, in: Deutsches Archiv für Landes- und Volksforschung, 6. Jg., 1942, S. 4. 147 Volkswissenschaftlicher Themenkreis Böhmen-Mähren. Beilage zu einem Schreiben des SDLeitabschnitts Prag an Karl Hermann Frank, Betr. Tschechenkundliche Forschung im Rahmen der „Reinhard-Heydrich-Stiftung.“ 24.8.1942; zit. nach Andreas Wiedemann: Die Reinhard-HeydrichStiftung in Prag (1942-1945). Dresden 2000, S. 74. 148 Karl Valentin Müller: Grundsätzliche Ausführungen über das deutsche und tschechische Volkstum in Böhmen und Mähren, in: Raumforschung und Raumordnung, 5. Jg., 1941, S. 488. 149 Ebd., S. 496; zu Müller vgl. Hansjörg Gutberger: Bevölkerung, Ungleichheit, Auslese. Perspektiven sozialwissenschaftlicher Bevölkerungsforschung in Deutschland zwischen 1930 und 1960. Wiesbaden 2006, S. 75ff.
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Heydrichs Tod eigentlichen Machthaber im Protektorat, ein Modell der „teilweisen Entschlackung“ des deutschen Volkstums durch „Rückvolkung“ der „leistungsmässig minderebenbürtigen Sippen“ an das „slawische Ausgangsvolkstum“ und die Heranziehung geeigneter „Leistungsträger der fremden Volkstümer“ zur Abgrenzung eines deutschen „Herrenvolks“ von einem „Vasallenvolkstum“.150 Für den in Böhmen geborenen Müller kamen andere Optionen der Aussiedlung oder Umsiedlung der Tschechen nicht infrage, er setzte auf langfristige Assimilation. So ist auch dem Resümee einer in jüngerer Zeit erschienen Darstellung der „Rassenforschung und Oststudien an der Deutschen (Karls-) Universität in Prag“ zuzustimmen: „Die politisch bedingte Forschung konzentrierte sich vor allem auf die Fragen der Eindeutschung der Bevölkerung und den Nachweis einer bestimmten Bedeutung der deutschen Kultur in Böhmen.“151 Deshalb spielten für Müller auch die quasi-offizielle Rassentheorie Hans F. K. Günthers mit ihrem Grundgedanken der Aufnordung des deutschen Volkstums oder der insbesondere vom Reichsführer SS gepflegte Germanenkult keine Rolle. Müllers Rassismus besteht eigentlich aus dem Glauben, gegebene Sozialhierarchien seien biologisch, das heißt erblich bedingt, aber in jeder „Rasse“, ob Vasallen- oder Herrenvolkstum, vorhanden und zumindest im Fall der Slawen und Deutschen ohne rassenschädigende Folgen kreuzbar, da sich dieses Geschehen entweder unter leistungsmäßig ‚ebenbürtigen‘ Deutschen und Tschechen oder aber im als sozial minderwertig etikettierten unteren Segment abspielt, woraus sich das Vasallenvolkstum aus Tschechen, aber auch aus Deutschen rekrutiert. 5.4 Soziologische Westforschung Wie in der soziologischen Ostforschung spielte auch in der soziologischen Westforschung152 der Germanenkult keine Rolle, während sich etwa bei den Landeshistorikern alles um die germanische Prägung Nordostfrankreichs sowie die Sprach-, Volkstums- und Kulturbodengrenze drehte. Soziologen befassten sich mit ganz Frankreich betreffende Themen, hauptsächlich aber mit konkreten Problemstellungen an der Westgrenze und im okkupierten Elsaß-Lothringen. Der ehemalige Heidelberger Soziologe Ernst Wilhelm Eschmann, Assistent von Alfred Weber, hielt seit 1934 an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin regelmäßig Lehrveranstaltungen zu Frankreich-Themen ab, sprach in öffentlichen Vorträgen über französische Innen- und Außenpolitik und habilitierte sich mit der Arbeit „Die Führungsschichten Frankreichs. Von den Capetingern bis zum Ende des Grand Siècle“. 1943 wurde er Professor für Volks- und Landeskunde Frankreichs an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin sowie Leiter der Frankreich-Abteilung des Auslandswissenschaftlichen Instituts. Seine Lehrveranstaltungen sind gut besucht, es werden Diplomarbeiten zu französischen Thematiken (auch eine Dissertation zur Erlangung des neu geschaffenen Doktors der Auslandswissenschaften) angefertigt, und die Frankreich-Abteilung widmet sich neben der Behandlung diverser Einzelthemen auch der Dauerbeobachtung der in150 Vgl. die Auszüge aus der Denkschrift in: Gerda Voigt: Faschistische „Neuordnungspläne“ im Zeichen der „Umvolkung“. Der Anteil der deutschen Universität in Prag an der faschistischen „Volkstumspolitik“ in der okkupierten CSR (1939-1945), unveröffentl. Diss., Karl-Marx-Universität Leipzig 1973, S. 373ff. 151 Alena Míšková: Rassenforschung und Oststudien an der Deutschen (Karls-) Universität in Prag, in: Detlef Brandes/Edita Ivaničková/Jiří Pešek (Hrsg.): Erzwungene Trennung. Vertreibungen und Aussiedlungen in und aus der Tschechoslowakei 1938-1947 im Vergleich mit Polen, Ungarn und Jugoslawien. Essen 1999, S. 53. 152 Vgl. dazu ausführlich Carsten Klingemann: Soziologen in der ‚Westforschung’ während des Nationalsozialismus, in: Burkhard Dietz/Helmut Gabel/Ulrich Tiedau (Hrsg.): Griff nach dem Westen. Die „Westforschung“ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919 – 1960), Teil I. Münster u. a. 2003.
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nen- und außenpolitischen Ereignisse Frankreichs und erstattet „Zeitberichte“. Auf dieser Grundlage erstellt Eschmann regelmäßig einen umfangreichen Frankreich-Beitrag für das Jahrbuch für Weltpolitik. Er unternimmt Studienreisen nach Frankreich und Vortragsreisen in Deutschland und hat noch Zeit genug, in den Münchener Neuesten Nachrichten propagandistische Artikel zu publizieren. Er knüpft Kontakte zum Sicherheitsdienst der SS, da er auf einer Dienstreise erfahren hat, dass es beim SD in Paris eine Reihe von Einsatzmöglichkeiten für Frankreich-Kenner gibt. Schließlich wird er im Auftrag des Auswärtigen Amtes Leiter der Zweigstelle des Deutschen Instituts in Marseille. Abschließend lässt sich sagen, dass abgesehen von Eschmanns Habilitationsschrift seine Frankreichschriften nicht als genuin soziologische Problematisierungen von innerfranzösischen Fragen, der deutschfranzösischen Beziehungen oder speziell der „Westgrenze“ zu sehen sind, sie stellen allerdings eine interessante Quelle für eine politisierte Darstellung der Beziehungen Deutschlands zum besetzten Teil Frankreichs und zur Vichy-Regierung dar. Die Lage an der Westgrenze wurde aber von anderen Soziologen bis zum Kriegsbeginn fachwissenschaftlich untersucht. Behandelt wurden sozio-ökonomische Fragen der Landwirtschaft (Landflucht, Nachwuchs), die Aussiedlungsmöglichkeiten aus den Realteilungsgebieten, die Notstandsgebiete und die Stadt-Land-Beziehungen. Als Ausnahme ist aber auch eine historisierende Großreichsromantik wie auch die eigenartige Vermengung von realsoziologischer Analyse mit Blut-und-Boden-Mystizismus zu beobachten. Schon Ende der zwanziger Jahre hatte Gunther Ipsen mit seinem Aufsatz „Lothringen und die europäische Geschichte“ in gewohnt blumiger Redeweise Lothringen als „gemeinsame Mitte des werdenden Abendlandes“ imaginiert. Diese Begeisterung für seine ureigenste Schöpfung – „Lothringen und Europäertum decken einander.“153 – hinderte ihn andererseits nicht an einer realistischen Einschätzung der aktuellen Situation. In seinem Aufsatz „Die volkspolitische Lage des deutschen Bergbaus der Gegenwart“ für das Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums aus dem Jahr 1933 schildert er durchaus sachlich die sozialen Folgen des „Aufbaus des französischen Industriekörpers“ nach der Abtretung Lothringens an Frankreich, der sich für ihn allerdings primär wegen des Zuzugs von italienischen und polnischen Arbeitern als „Umvolkung“ („Zersetzung“ der deutschfranzösischen Sprachgrenze) darstellt.154 Sein bereits im Kontext der Ostforschung aufgetretener Schüler Helmut Klocke, der für den Artikel über die „Wirtschafts- und Sozialentwicklung“ Elsaß-Lothringens in der Reichslandzeit verantwortlich ist, sieht drei Jahre später die volkspolitischen Verschiebungen ganz anders. Schon die „Wiedervereinigung mit dem Reich“ (1871) habe infolge einer forcierten Industrialisierung zwar zu einer italienisch-polnischen Zuwanderung geführt, aber die deutsch-französische Sprachgrenze werde in Lothringen wegen der ebenfalls stattfindenden Zuwanderung rheinländischer Bergleute und deutsch-lothringischer Bevölkerung nach Westen verschoben, was das Deutschtum gestärkt habe. Indem er aber betont, dass die ins Land gekommene binnendeutsche Beamtenund Offiziersschicht keinen Kontakt zu den „breiten Volksmassen“, insbesondere zur „deutschbewußten“ Volksschullehrerschaft aufgenommen habe, erweckt sein Artikel nicht den Eindruck, die „Wiedergewinnung“ des Landes habe insgesamt eine Stärkung des Deutschtums bewirkt.155 Der ebenfalls bereits im Kontext der Ostforschung erwähnte Max Hildebert Boehm gibt sich in seinem 1942 erscheinenden Buch „Lothringerland. Andert153 Gunther Ipsen: Lothringen und die europäische Geschichte, in: Blätter für deutsche Philosophie, 3. Jg., 1929, S. 287, 290. 154 Gunther Ipsen: Die volkspolitische Lage des deutschen Bergbaus in der Gegenwart, in: Carl Petersen/Otto Scheel/Paul H. Ruth/Hans Schwalm (Hrsg.): Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums, Bd. 1. Breslau 1933, S. 382. 155 Helmut Klocke: Elsaß und Lothringen: IV. Geschichtliche Entwicklung: Wirtschafts- und Sozialentwicklung, B) In der Reichslandzeit, in: Petersen/Scheel/Ruth/Schwalm (Hrsg.): Handwörterbuch, 2. Bd., 1936, S. 387f, siehe Anm. 151.
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halb Jahrtausende Grenzlandschicksal zwischen Argonnen und Vogesen“ hinsichtlich des verlorengegangenen Deutschtums Lothringens keiner Illusionen hin, reklamiert das Land aber erst recht für Deutschland, ohne allerdings eine konkrete Grenzziehungslinie vorzuschlagen. In seinem Aufsatz „Landschaft und Volkstum im lothringischen Raum“156 erhebt er jedoch klare annexionistische Forderungen wie auch in seiner Denkschrift „Grundlagen der Grenzführung im lothringischen Raum“. Sie stammt aus dem Jahr 1941 und soll dem Gauleiter Westmark Josef Bürckel vorgelegen haben. Nur hatte dieser im selben Jahr schon längst öffentlich in seinem Beitrag „Gau Westmark im Kampf geformt“ für das Festbuch „Elsaß und Lothringen Deutsches Land“ die „Wiedereingliederung Lothringens in das Reichsgebiet“ gefeiert.157 Nichtsdestotrotz haben sich Auswärtiges Amt, Propagandaministerium, Innenministerium, SD-Ausland und der Militärbefehlshaber in Frankreich, SS-Brigadeführer Dr. Best mit der Frage befasst, ob es politisch vertretbar sei, Boehms Lothringerland zu veröffentlichen. Es könne „als Programm der Deutschen Regierung ausgedeutet“ werden und sich „daher als ein Störungsmoment in den gegenwärtigen deutschfranzösischen Beziehungen erweisen und von der antideutschen Propaganda dem französischen Volk als Beweis für die weitgehenden Absichten des Reiches in territorialer Beziehung vorgehalten werden.“158 Trotz dieser Querelen erschien das Buch 1942. Gauleiter Bürckel schätzte Boehm auf jeden Fall als Experten, da er persönlich mit ihm Fragen der Westraum-Forschung besprochen hatte und ihn im Mai 1944 zu weiteren Gesprächen nach Lothringen einlud.159 Nur bei Unterhaltungen mit hochrangigen NS-Politikern blieb es bei dem bereits bekannten Ludwig Neundörfer auch im Fall seiner Westforschung nicht. Sein Soziographisches Institut bearbeitete den Auftrag Bürckels als Chef der Zivilverwaltung Lothringen, Wiederaufbaugutachten für eine Reihe lothringischer Landstädte zu erstellen. Die daraufhin entwickelten Planungsvorgaben sind ansatzweise beim Wiederaufbau der durch Kriegseinwirkungen und nachträgliche planmäßig durchgeführte Teilzerstörung von Dörfern in der „Westwallzone“ umgesetzt worden. Konstitutiv für die Wiederaufbauplanung war die Ermittlung der Aussiedlungsmöglichkeiten aus den Freiteilungsgebieten, wodurch auch gezielt die Siedlerreserven für den Osten bestimmt werden sollten. Hiermit hat man einen Beleg, dass West- und Ostforschung eng verzahnt waren, was im Fall des Soziographischen Instituts eindeutig auch durch die Aufträge des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums erwiesen ist. Damit war das Soziographische Institut direkt in die Umsiedlungs-, Vertreibungs- und Vernichtungspolitik involviert. Dem Gauleiter von Hessen-Nassau Jakob Sprenger gegenüber erklärte Neundörfer: „Die Besiedlung des wiedergewonnenen und des neugewonnenen Ostraumes und die Neuordnung der Landwirtschaft im Altreich bedingen einander und sind auf das engste mit einander verbunden.“160 Als Ostforscher hat sich Neundörfer nach 1945 nicht mehr betätigt, jedoch konnte sein Institut – wie bereits berichtet – ohne Unterbrechung weiterarbeiten, so auch für die amerikanische Militärregierung. Als empirischer Westforscher blieb Neundörfer hingegen auch später noch aktiv. 1956 wurde er vom Europarat in eine Expertengruppe berufen, die „die Probleme der Anpassung der Daseinsformen der in den zurückgebliebenen Gebieten Europas lebenden Menschen an die neuen allgemeinen Lebensbedingungen studieren soll156 Max Hildebert Boehm: Landschaft und Volkstum im lothringischen Raum, in: Deutsches Archiv für Landes- und Volksforschung, 5. Jg., 1941. 157 Zit. nach Dieter Muskalla: NS-Politik an der Saar unter Josef Bürckel. Gleichschaltung – Neuordnung – Verwaltung. Saarbrücken 1995, S. 332. 158 Ref. Pol. XI: LR. v. Trützschler, 10. Oktober 1941; BAB, Film 5008, Bl. D692865. 159 Josef Bürckel an den Rektor der Universität Jena, 23. Mai 1944; Universitätsarchiv Jena, Bestand BA, Nr. 2150. 160 Aktennotiz, Besuch des Gauleiters Sprenger, Protokoll Dr. R., Frankfurt/M., 23. März 1943; Stiftung zur Erforschung des deutschen Volksaufbaus, Soziographisches Institut an der Joh.-Wolfg.-GoetheUniversität, Mappe lfd. Nr. 195, Bündel Nr. 7; Archiv des Instituts für Gemeinwohl, Frankfurt am Main.
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te.“ Dazu erstellte das Soziographische Institut einen „Atlas social et économique des régions de l’Europe“, „Herausgeber ist Professor Neundörfer, der Europarat hat das Patronat über das Werk übernommen.“161 Nicht nur Neundörfer, auch andere Soziologen, die sich schon vor 1945 zum Zweck der Politikberatung der empirischen Sozialforschung zugewandt hatten, fanden in der Bundesrepublik gute Arbeitsmöglichkeiten und gehörten damit zu den Modernisierern der überkommenen traditionellen deutschen Soziologie. 6. Soziologie in der frühen westdeutschen Nachkriegszeit162 6.1 Flüchtlingssoziologie und Politikberatung163 Ludwig Neundörfer verfügte über exklusives Datenmaterial, das er in der geschilderten Reichsuntersuchung für ländliche Regionen und in der Wiederaufbauplanung für urbane Agglomerationen gewonnen hatte, so dass er als Flüchtlingssoziologe, Planer und Berater für die mit Flüchtlingsfragen auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene befassten Institutionen eine herausragende Rolle spielen konnte. Sein Soziographisches Institut war zum Beispiel mit Fragen der Unterbringung und Integration von Flüchtlingen auf lokaler Ebene für die Stadt Frankfurt am Main und die Insel Sylt, auf Länderebene für hessische und niedersächsische Landkreise und auf nationaler Ebene mit den Auswirkungen des Flüchtlingssiedlungsgesetzes befasst. Das Soziographische Institut arbeitete schon vor der Kapitulation des Dritten Reichs für die amerikanische Militärregierung und war später maßgeblich an der Erstellung des nach dem amerikanischen Bankier Christian Sonne benannten „Sonne-Report“ („Die Eingliederung der Flüchtlinge in die deutsche Gemeinschaft“) für die ECA, Technical Assistance Commission (Marshall-Plan) beteiligt. Schließlich erhielt die amerikanische „National Planning Association“ eine Überblicksdarstellung zur Flüchtlingsfrage. Wie immer man die Einflussmöglichkeiten sozialwissenschaftlicher Politikberatung einschätzen mag, wenn einem Soziologen in der Nachkriegszeit diese zugesprochen werden können, dann Ludwig Neundörfer wegen seines durch empirische Sozialforschung erworbenen Informationsmonopols, das er gesellschaftspolitisch einzusetzen weiß. Max Hildebert Boehm hat zwar diese Arbeitsweise nicht gepflegt, hatte aber als erfahrener Minderheitenexperte einen durch Fakten gesicherten Blick auf die realpolitischen Umstände der Zwangsmigration von Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen. In einer Reihe von Aufsätzen, in denen er nüchtern feststellt, „Heimat im alten Sinn – also gerade das Gut, dessen Verlust die Heimatvertriebenen beklagen – ist in dieser veränderten Welt
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Soziographisches Institut an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main: Ein Grundlagenwerk für die soziale Ökonomie in Europa, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 10. Jg., 1958, S. 738, 739; vgl. zum Verfahren der Bestimmung der Regionen und der Operationalisierung der Kriterien die Notiz „Sozial- und Wirtschaftsatlas der europäischen Regionen (Aus der Arbeit des Soziographischen Instituts Frankfurt)“, in: Soziale Welt, 10. Jg., 1959, S. 73ff. 162 Zur Diskussion der verschiedenen Positionen hinsichtlich der Nachkriegsentwicklung der westdeutschen Soziologie vgl. Klingemann: Wissenschaftliches Engagement, siehe Anm. 54; hier werden nur einige kurze Passagen daraus übernommen, dafür liegt jetzt der Akzent auf der zentralen Rolle, die ehemalige Reichssoziologen für die Begründung der empirisch orientierten Flüchtlings-, Industrie- und Familiensoziologie gespielt haben. Dem schließen sich Ausführungen über deren herausragende Position auf verschiedenen Feldern der Institutionalisierung der Soziologie nach 1945 an. 163 Vgl. dazu ausführlich Carsten Klingemann: Flüchtlingssoziologen als Politikberater in Westdeutschland. Die Erschließung eines Forschungsgebietes durch ehemalige Reichssoziologen, in: Karen Bayer/Frank Sparing/Wolfgang Woelk (Hrsg.): Universitäten und Hochschulen im Nationalsozialismus und in der frühen Nachkriegszeit. Stuttgart 2004.
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zu einem romantisch verklärten, aber existenziell fragwürdigen Gebilde geworden“,164 außerdem sei dem Flüchtling „die Heimat selber hinter ihm (eben als Heimat) vernichtet“,165 wird deutlich, dass er zum Beispiel mit Verweis auf die erfolgreiche berufliche Integration der Flüchtlinge davon ausgeht, dass deren endgültige „Eingliederung“ unvermeidlich ist. Ganz im Gegensatz zur Vertriebenenideologie der Landsmannschaften und des „Blocks der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ analysiert Boehm – trotz vereinzelter Rückgewinnungsphrasen – realistisch den Verlauf des Assimilationsprozesses und ist als Gründer der Nordostdeutschen Akademie und des Nordostdeutschen Kulturwerks in Lüneburg dessen aktives Element. Noch eindeutiger belegte Eugen Lemberg, selbst ein Flüchtling, durch seine wissenschaftlichen Publikationen die von Vertriebenenverbänden heftig attackierte Auffassung, dass der Assimilationsprozess bereits wenige Jahre nach der Zuwanderung weit fortgeschritten war. Sie beruht auf den Erkenntnissen, die er durch seine empirischen Erhebungen über Integrationsverläufe in Hessen gewonnen und schon 1950 in seinem Buch „Die Entstehung eines neuen Volkes aus Binnendeutschen und Ostvertriebenen“ der Öffentlichkeit vorgestellt hatte. Der Untertitel „Untersuchungen zum Strukturwandel von Land und Leuten unter dem Einfluss des Vertriebenen-Zustromes“ zeigt an, dass Lemberg eine dezidiert soziologische Perspektive eröffnen wollte. Im Vorwort heißt es: „Das Flüchtlings- oder Vertriebenenproblem ist nicht nur ein Problem der Flüchtlinge oder Vertriebenen, sondern eines der Gesellschaft der neuen Heimat. Sie wandelt ihre Struktur. Dieser Strukturwandel ist eben Gegenstand der vorliegenden Arbeiten.“166 Auf diesen und vielen weiteren wissenschaftlichen Erkenntnissen bauten seine gesellschaftspolitischen Schriften auf, wie etwa jene über „Die Ausweisung als Schicksal und Aufgabe. Zur Soziologie und Ideologie der Ostvertriebenen“ aus dem Jahr 1949, in der er programmatisch integrationspolitische Forderungen erhob. Für die Vertriebenen aus den „ehemals sogenannten auslandsdeutschen Gebieten“ sei es dort sinnvoll gewesen, ihre Sprache und Eigenart unter allen Umständen gegen die Assimilation zu verteidigen. „Hier ist eine solche Verteidigung sinnlos. Die früheren Volksgruppen, in zahllose Splitter auseinandergesiedelt und unter die binnendeutsche Bevölkerung verteilt, werden sich weder als Stämme mit ausgesprochener Eigenart noch als Volksgruppe mit politischer Idee und Physiognomie halten.“ Deswegen wendet sich Lemberg auch gegen die „von den Eltern gepflegte Heimatsehnsucht“, die Jugendliche und Kinder „als falsche Sentimentalität“ empfänden. Er verurteilt den in Rundbriefen gepredigten „Fanatismus“ und Bestrebungen, die Vertriebenen „zu einer Art Sekte, zu einem Veteranenverband“ werden zu lassen, die zu „Trägern einer Restauration“ würden. Er setzt sich hingegen für ein neues „politisches Weltbild“ ein, das „nicht auf den noch so begreiflichen Sehnsüchten und Ressentiments der Vertriebenen aufgebaut werden“ könne. Und er stellt nüchtern fest: „Ohne Verzicht auf persönliche und nationale Interessen geht das nicht.“ Für den „Bau eines neuen Europa“ müssten sich die Vertriebenen „auf eine neue Ebene großräumigen, übernationalen Denkens begeben, Lösungen für alle entwerfen.“167 Wie schon bei Neundörfer und Boehm zu beobachten war, vertreten die ehemaligen Reichssoziologen als Flüchtlingssoziologen eine wissenschaftlich modernen Ansatz und eine politisch ausgesprochen progressive Position. Dies gilt auch für 164 Max Hildebert Boehm: Das Doppelgesicht der Flüchtlingsfrage, in: Merkur, 5. Jg., 1951, S. 173. In meinem bereits erwähnten Aufsatz zur Flüchtlingssoziologie befasse ich mich mit sieben Beiträgen von Boehm aus den Jahren 1949 bis 1959, deren Analyse die realpolitische Position Boehms dokumentiert. 165 Max Hildebert Boehm: Kirche und Flüchtlingsassimilation, in: Siegfried Wendt (Hrsg.): Die Eingliederung der Vertriebenen als seelische, soziale und wirtschaftliche Aufgabe. Berlin 1951. S. 30. 166 Eugen Lemberg: Die Entstehung eines neuen Volkes aus Binnendeutschen und Ostvertriebenen. Marburg 1950. S. 5. 167 Eugen Lemberg: Die Ausweisung als Schicksal und Aufgabe. Zur Soziologie und Ideologie der Ostvertriebenen. München 1949. S. 30, 49, 50, 53, 50, 23.
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Elisabeth Pfeil, die schon 1948 auf den durch die Zuwanderung hervorgerufenen Individualisierungsschub hingewiesen und damit eine erst in den achtziger Jahren modisch gewordene soziologische Perspektive eröffnet hat. „Eine Abwandlung der Sozialordnung etwa lag ja längst in der Luft. Was wir die soziologische Offenheit der Flüchtlingssituation nannten, dies, dass der Flüchtling im sozialen Leben nicht mehr gilt durch ererbte oder erworbene Stellung, sondern einzig durch das, was er leistet und ist, es hebt das alte gesellschaftliche Gefüge auf. Er muss bereit sein, von seinem Beruf elastisch überzuwechseln in ein anderen. Die Flüchtlingsjugend findet keine durch Erbe oder Beziehungen vorgezeichneten Berufsbahnen vor. Sie muss ihren Weg selbst bahnen […].“168 Pfeils zahlreiche flüchtlingssoziologische Arbeiten sind nicht auf das „Schicksal“ der Flüchtlinge fixiert, sondern thematisieren fortlaufend Fragen der gesellschaftlichen Bedingungen für eine gelingende Integration. Mit ihrem 1952 erscheinenden Aufsatz „Soziologische und psychologische Aspekte der Vertreibung“ legt sie eine sehr subtile empirische Analyse des Zusammenhangs zwischen Heimatverlust und Integration vor, die sie gleichzeitig in einen gehaltvollen soziologischen Deutungsrahmen stellt. „Mit der Aufhebung der heimatlichen Ordnung waren Wertordnung und Weltordnung schlechthin in Frage gestellt.“ Im Gegensatz zu den Auswanderern nach Übersee, von denen bekanntlich viele nach relativ kurzem Aufenthalt oder im Alter wieder zurückkehrten, und den Abwanderern vom Land in die Stadt, die sich beide aus einem sozialen Gefüge ablösen, handle es sich bei den Vertriebenen um dessen erzwungene Auflösung, so dass eine allmähliche innere und äußere Loslösung nicht möglich war. Es gab auch kein Ziel, es sei denn das der Rückkehr. Die Vertriebenen mussten nicht nur einen geographischen Ortswechsel vollziehen, sie kamen auch in ein „fremdes ‚kommunales Milieu‘„, die überwiegende Mehrzahl wurde auf dem ‚flachen Land‘ untergebracht, ohne Siedlungs- und Arbeitsmöglichkeiten, in entlegenen Gegenden ohne regelmäßige Verkehrsverbindungen. Das kann „als Symbol genommen werden für die soziologische Situation nach der Ankunft: Der Vertriebene ist von der Mitte an den Rand der Gesellschaft geraten. Zu Hause stand die Welt rund um ihn; er selbst, seine Familie, sein Dorf, seine Gegend lagen in der Mitte der Welt (keineswegs an ihrem Rande, wie die Westdeutschen die Ostprovinzen liegen sahen).“ Dadurch gerät der Vertriebene ins „Eigentlich“, der eigentlich alles hat und kann wie die Einheimischen, er ist nur am falschen Ort und unerwünscht. Aber bei ihren empirischen Untersuchungen des Vereinslebens und des Heiratsverhaltens beobachtet sie eindeutige Tendenzen gelingender Integration und entwickelt ein dreistufiges Modell der Überwindung dieses „Lebens im Uneigentlichen“: „Eingliederung“ als „objektiv soziologischer Befund“, „Einleben“ als „seelischer Vorgang“ und „Assimilierung“ als „niemals ganz einseitiger Vorgang“, der einer „langen Zeit, wahrscheinlich mehrerer Generationen“ bedarf.169 Damit nimmt Pfeil eine Erkenntnis vorweg, die angeblich erst mehr als dreißig Jahre später formuliert worden sein soll, wonach es sich bei der Behauptung einer schnellen Integration um einen Mythos
168 Elisabeth Pfeil: Der Flüchtling. Gestalt einer Zeitenwende. Hamburg 1948, S. 160. Pfeil hatte sich bereits vor 1945 einen Namen als Bevölkerungssoziologin gemacht, insbesondere auch als Schriftleiterin der führenden Fachzeitschrift „Archiv für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik“; vgl. Sonja Schnitzler: Elisabeth Pfeil und das „Blaue Archiv“. Aspekte einer Bevölkerungssoziologie im Nationalsozialismus; und Carsten Klingemann: Konzeption und Praxis sozialwissenschaftlicher Bevölkerungswissenschaft in ihren Beziehungen zu Raumforschung und Geopolitik im Dritten Reich; beide in: Rainer Mackensen (Hrsg.): Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert. Wiesbaden 2006. 169 Elisabeth Pfeil: Soziologische und psychologische Aspekte der Vertreibung, in: Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten e. V. (Hrsg.): Europa und die deutschen Flüchtlinge. Frankfurt am Main 1952. S. 65.
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handelt.170 Ein besonderes Kennzeichen ihrer Flüchtlingssoziologie ist dabei die systematische Thematisierung erkenntnistheoretischer und methodologischer Probleme wie etwa in ihrem Aufsatz über die deutsche Flüchtlingsforschung, in dem sie das Verhältnis von Deutung und Empirie aufgreift: Die durch „Schau“ gewonnenen „Einsichten bedürfen fortlaufend der Bestätigung oder der Korrektur durch Messung und Zählung. Alles drängt zur empirischen Forschung […].“171 Dieser Aufsatz, der sich nicht nur mit Problemen einer angemessenen soziologischen Herangehensweise befasst, ist ein hervorragendes Beispiel für eine frühe Selbstreflexion nach wie vor aktueller methodologischer Probleme einer empirischen Soziologie mit theoretischem Anspruch. Diese kommt eben nicht mehr „mit alten Begriffen von Stand und Klasse“ aus. Tradierte soziologische Kategorien sind „zwar brauchbare Instrumente erster Analysen“, aber heute wird bestätigt, was Pfeil schon 1951 aussprach, dass „am Gegenstande selbst das Instrument neu bestimmt werden muss.“172 Die analytische Tiefe und das hohe Reflexionsniveau der auch vom quantitativen Umfang her beeindruckenden Arbeiten erlauben es meines Erachtens davon zu sprechen, dass die Flüchtlingssoziologie als eine eigenständige spezielle Soziologie in Westdeutschland von ehemaligen Reichssoziologen begründet worden ist. Im Hinblick auf die wissenschaftliche Bearbeitung von Vertreibungsfolgen wurde schon 1959 festgehalten: „Dabei sind es vornehmlich Soziologie und Sozialpsychologie, Jugend- und Familiensoziologie, die in dem Vertriebenenproblem eine Verpflichtung erkannten (E. Pfeil, E. Lemberg, M. H. Boehm, K. V. Müller, H. Schelsky).“173 Damit werden nur die bekanntesten einer größeren Zahl von ehemaligen Reichs- und nunmehrigen Flüchtlingssoziologen erwähnt, es wird aber deutlich, dass es ihre Domäne war, da sich zum Beispiel die zurückgekehrten exilierten Soziologen dieses Themas nicht annahmen. Bis auf ganz wenige Ausnahmen mieden es auch die Nachwuchssoziologen. Jahrzehnte später wurde dann Migrationssoziologie zu einem Karrierefach. Doch mit der zwar nur allmählich erfolgenden, schließlich aber umfassenden Assimilation der Flüchtlinge und Vertriebenen bestand kein politischadministrativer Bedarf mehr an flüchtlingssoziologischer Beratung und das Thema wurde fallengelassen.
170 Vgl. Paul Lüttinger: Der Mythos der schnellen Integration. Eine empirische Untersuchung zur Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland bis 1971, in: Zeitschrift für Soziologie, 15. Jg., 1986. 171 Elisabeth Pfeil: Thema und Wege der deutschen Flüchtlingsforschung, in: Mitteilungen aus dem Institut für Raumforschung Bonn, Nr. 6, o. J. (ca. 1951), S. 15. 172 Ebd., S. 8. 173 Gertrud Krallert-Sattler: Bibliographie, in: Eugen Lemberg/Friedrich Edding, in Verbindung mit Max Hildebert Boehm, Karl Heinz Gehrmann, Alfred Karasek-Langer (Hrsg.): Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre Eingliederung und ihr Einfluss auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben, Bd. III. Kiel 1959, S. 637. Die von Krallert-Sattler 1989 in Wien herausgegebene „Kommentierte Bibliographie zum Flüchtlings- und Vertriebenenproblem in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich und in der Schweiz“, die Publikationen von der Nachkriegszeit bis zum Jahr 1986 erfasst, registriert 130 Nennungen für 18 Soziologen, die fast alle bereits vor 1945 fachwissenschaftlich aktiv waren.
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6.2 Industrie- und Familiensoziologie Allerdings kann das hier beschriebene Muster einer Modernisierung der westdeutschen Soziologie durch eine von ehemaligen Reichssoziologen entscheidend mitgetragene theoriegestützte Empirisierung auch in anderen Feldern beobachtet werden. So gestalteten sie die Familiensoziologie und die Industriesoziologie in der unmittelbaren Nachkriegszeit maßgeblich mit. Nur die Sozialforschungsstelle in Dortmund war (neben dem Frankfurter Institut für Sozialforschung) auf dem Gebiet der Industriesoziologie der einzig „fest institutionalisierte Träger soziologischer Forschung“, wie Burkhart Lutz und Gert Schmidt feststellen. Sie verweisen auf die Ausführungen des Gründers der Sozialforschungsstelle Otto Neuloh, der in derem ersten Zehnjahresbericht (1946-1956) „die Dominanz industriesoziologischer Fragestellungen explizit formuliert.“ Wenn sie dann betonen, „im ersten Nachkriegsjahrzehnt“ seien „mehrere große empirische Arbeiten spezifisch industriesoziologischer Orientierung“ im Rahmen der Sozialforschungsstelle entstanden, wird wiederum deutlich, dass auch auf diesem Gebiet ehemalige Reichssoziologen die empirische Sozialforschung zusammen mit Nachwuchssoziologen etablierten. „Mit Otto Neuloh, Wilhelm Brepohl, Hans-Paul Bahrdt, Heinrich Popitz, Carl Jantke u. a. hat die Mehrheit der frühen Industrieforscher in Westdeutschland zumindest zeitweise in der SFS [Sozialforschungsstelle, C.K.] eine Basis für ihre Arbeit gefunden.“174 Weiterhin seien selbst die nicht unmittelbar als Industriesoziologie ausgewiesene Untersuchungen nach 1950 „thematisch stark auf Probleme der Industriearbeit und der sozialen Folgen von Industrialisierung konzentriert“ gewesen. Schließlich gründete Helmut Schelsky eine „Forschergruppe zur Untersuchung der Problematik von Beraufsausbildung und Jugendarbeitslosigkeit“, deren Studien in dem von ihm 1952 herausgegebenen Band „Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend“ dokumentiert sind. Nach Beendigung der Untersuchung wurde die Forschergruppe aufgelöst, aber einige ihrer Mitglieder machten als Soziologen Karriere. Fast zeitgleich war Schelsky zusammen mit seinem Assistenten Gerhard Wurzbacher an der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg (später: Hochschule für Wirtschaft und Politik) als einer der Gründer der empirischen Familiensoziologie tätig. 1951 erschien Wurzbachers Buch „Leitbilder gegenwärtigen deutschen Familienlebens“ und 1953 Schelskys Buch „Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart“. Die empirische Basis der Studien bildeten die 1949/50 von Studenten erstellten 164 Monographien von ihnen bekannten Familien, die sie anhand einer „ausführlichen Beobachtungsund Befragungsanweisung“ beschreiben mussten. Rückblickend hob Wurzbacher hervor: „Es gilt an dieser Stelle festzuhalten, daß gegenüber der gegenwärtig häufiger anzutreffenden Ansicht, die bundesdeutsche Soziologie der ersten Nachkriegsjahrzehnte sei hauptsächlich von der nachholenden Übernahme amerikanischer Theorien und Methoden gekennzeichnet gewesen, für die Hamburger Familienuntersuchungen auf jeden Fall nicht zutrifft. Sie knüpften bei aller selbstverständlichen Diskussion amerikanischer Literatur an bisherigen deutschen Arbeiten und an le Play an und wiesen diese Zusammenhänge in einer ausführlichen kritischen Methodenvorstellung und reflexion nach (Leitbilder S.11-86). Sie wurden auch in organisatorisch-finanzieller Hinsicht nicht von amerikanischen Stellen angeregt oder unterstützt […]. Wir began-
174 Burkhart Lutz/Gert Schmidt: Industriesoziologie, in: René König (Hrsg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 8. Stuttgart 21977, S. 155.
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nen vielmehr mit äußerst begrenzten finanziellen und personellen Mitteln und waren auch deshalb auf die intensive Mitarbeit der Studierenden angewiesen.“175 In einer Gesamtdarstellung der deutschen Familiensoziologie nach dem Zweiten Weltkrieg heißt es zur Entwicklung der ersten Jahre nach Kriegsende: „Die erste Phase soll die Jahre von 1946 bis 1955 umfassen und lässt sich als Phase der Konstituierung des familiensoziologischen Gegenstandes sowie der Familiensoziologie als wissenschaftliche Disziplin bezeichnen. Wie auch bereits von Weber-Kellermann, Nave-Herz, Vaskovics und Tyrell resümiert, kam der Familiensoziologie im ersten Jahrzehnt der Nachkriegszeit eine zentrale Bedeutung zu. Diese erstreckte sich sowohl auf den öffentlichen Diskurs als auch auf die Stellung innerhalb der Soziologie.“176 Hinsichtlich des öffentlichen Diskurses findet sich bei Wurzbacher der Verweis auf die Rolle von Familiensoziologen als Experten in Multiplikatoren-Kreisen und als Politikberater.177 Wurzbachers eigene innovative Leistung wird von Uwe Schmidt gewürdigt, wenn er der Einschätzung von Weber-Kellermann darin folgt, „dass insbesondere die sozialisationstheoretischen Arbeiten von Claessens und Wurzbacher von Bedeutung für die deutsche Familiensoziologie waren und bereits zu Beginn der sechziger Jahre die erste Phase der Differenzierung des familiensoziologischen Gegenstandsbereiches einleiteten.“178 Den Zeitpunkt der Wirksamkeit seines innovativen Arbeitens kann man allerdings viel früher verorten. Auf einem „Arbeitsseminar“ des UNESCO-Instituts für Sozialwissenschaften in Köln, dessen Forschungsdirektor er war, aus dem Jahr 1952 referierte er über die von ihm und Renate Pflaum (später: Mayntz) verantwortete Studie „Das Dorf im Spannungsfeld industrieller Entwicklung“, die 1954 erschien. Die Analyse des sozialstrukturellen Wandels des Dorfes und der ganzen Gesellschaft führt zu einer (angeblich erst Jahrzehnte später entdeckten) Erkenntnis, die Wurzbacher schon 1952 auf die Formel bringt: „Individualisierung der Eingliederung des Einzelnen in die Gesamtgesellschaft.“179 Dabei wird explizit herausgestellt, dass alle Bevölkerungsgruppen von diesem „Individualisierungsvorgang“ betroffen sind.180 Die empirischen Forschungen ehemaliger Reichssoziologen – wie auch schon exemplarisch an der Flüchtlingssoziologie gezeigt – strahlten also weit über diesen Arbeitsbereich hinaus. Christoph Weischers Resümee seiner Darstellung der empirischen Sozialforschung „in der ‚Gründungsphase‘ (1949-1965)“ kann nur zugestimmt werden: „So hat die empirische Sozialforschung für die Etablierung der Soziologie als akademische Disziplin eine Schlüsselrolle gespielt“, wobei natürlich der Nachsatz, „umgekehrt hat aber diese akademische Etablierung auch zu einer Konsolidierung und Kanonisierung der empirischen Sozialforschung beigetragen“, ebenfalls richtig ist.181 Die Gründung eines „Fachausschusses betreffend empirische Soziologie“ in der DGS, die bezeichnenderweise von Elisabeth Pfeil und Elisabeth Noelle-Neumann betrieben wurde, beunruhigte René König sehr.182 175 Gerhard Wurzbacher: Zur bundesdeutschen Familien- und Sozialisationsforschung in den Nachkriegsjahren, in: Zeitschrift für Soziologie, 16. Jg., 1987, S. 224. 176 Uwe Schmidt: Deutsche Familiensoziologie. Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. Wiesbaden 2002, S. 384. 177 G. Wurzbacher: Familien- und Sozialisationsforschung, S. 229f, siehe Anm. 175. 178 U. Schmidt: Familiensoziologie, S. 394, siehe Anm. 176. 179 Arbeitsseminar des UNESCO-Instituts für Sozialwissenschaften Köln, 6. – 8. November 1952, S. 2; Archiv der Sozialforschungsstelle Landesinstitut Dortmund. 180 Gerhard Wurzbacher: Soziale Differenzierung und Integration: Zur Leitstudie des UNESCO-Institutes für Sozialwissenschaften in Köln über eine ländliche Gemeinde in der Westdeutschen Bundesrepublik, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie, 6. Jg., 1953/54, S. 35. 181 Christoph Weischer: Das Unternehmen ‚Empirische Sozialforschung’. Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland. München 2004, S. 228. 182 Vgl. Klingemann: Wissenschaftliches Engagement, S. 431, siehe Anm. 54. Auf der Mitgliederversammlung der DGS im Jahr 1957 war die „Errichtung eines Fachausschusses für empirische Methodenfragen“ (aus mir unbekannten Gründen) zurückgestellt worden; vgl. Emil Bardey: Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in: Soziale Welt, 8. Jg., 1957, S. 351.
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6.3 Funktionen ehemaliger Reichssoziologen bei der ‚Neugründung‘ der Westdeutschen Soziologie Die Hinwendung zur empirischen Sozialforschung nach 1945 im Sinne einer demokratiefördernden Tatsachenforschung ist schon früher als zentrales Merkmal der Nachkriegssoziologie hervorgehoben worden. Als Träger dieses Impulses werden üblicherweise die amerikanischen Berater in Deutschland und jene Nachwuchssoziologen bezeichnet, die am deutsch-amerikanischen Austauschprogramm teilgenommen hatten. Hingegen hat M. Rainer Lepsius bereits 1979 eine stärker differenzierende, an Entwicklungsphasen orientierte Gesamtdarstellung vorgelegt. Zu den im Zeitraum von 1945 bis 1949 Aktiven zählt er auch Erwin von Beckerath, Friedrich Bülow, Carl Brinkmann, Hans Freyer, Georg Jahn, Alfred MüllerArmack, Heinz Sauermann, Erik von Sivers, Graf Solms, Hans Lorenz Stoltenberg, Walter Taeuber, Richard Thurnwald, Georg Weippert und Leopold von Wiese. Daraus folgt für Lepsius: „So wurde die Soziologie in den ersten Nachkriegsjahren wieder belebt von den Vertretern einer Generation, die zwischen 1865 und 1885 geboren worden war, den Nationalsozialismus und den Krieg in Deutschland überlebt hatte und in den liberalen Traditionen der zwanziger Jahre wurzelte.“183 Viele der Genannten hatten allerdings den Nationalsozialismus nicht nur überlebt, sondern sich ganz im Gegensatz zu einer liberalen demokratischen Tradition zum Teil als anwendungsorientierte Sozialforscher für politische Zwecke profiliert. So zum Beispiel Carl Brinkmann, Friedrich Bülow, Alfred Müller-Armack, Heinz Sauermann und Georg Weippert, die in die nationalsozialistische Planungsforschung zur Vorbereitung der sogenannten Neuordnung des „neuen deutschen Ostens“, das heißt in die Expansions- und Germanisierungspolitik eingebunden waren.184 Die eigentliche Neugründung fand nach Lepsius aber erst in den fünfziger Jahren statt, wobei sie allerdings auf erhebliche Hemmnisse stieß wie Vorbehalte der Fakultäten und staatlichen Behörden sowie einen angeblichen Mangel an fachlich qualifizierten Wissenschaftlern trotz der Rückkehr von Emigranten, so dass er resümieren kann, direkt nach dem Krieg habe „die Soziologie keine besondere Förderung erfahren.“185 Bereits 1950 hatte hingegen Helmut Schelsky zu Recht darauf hingewiesen, dass nicht ein Mangel an geeigneten Nachwuchskräften zu beklagen sei, sondern – und damit in Übereinstimmung mit Lepsius – das Fehlen von Stellen.186 Dass diese Sicht zutreffend ist, wird auch darin deutlich, dass Lepsius neben den ,Wiederbelebern‘ zu den Neubegründern etliche Fachvertreter zählt, die auch während des Dritten Reichs als Sozialwissenschaftler tätig oder ausgebildet worden waren wie Eduard Baumgarten, einflussreicher Interpret Max Webers im Dritten Reich wie in der Nachkriegszeit, Wilhelm Brepohl, Leiter der Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhrgebiet, die nach 1945 zu einem Baustein der Sozialforschungsstelle in Dortmund wurde, Arnold Gehlen, Gunther Ipsen, zentrale Figur der Sozialforschungsstelle Dortmund, Carl Jantke, Hans Joachim Lieber, Hans Linde,187 Gerhard
183 M. Rainer Lepsius: Die Entwicklung der Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg, 1945 bis 1967, in: Günther Lüschen (Hrsg.): Deutsche Soziologie seit 1945. Opladen 1979, S. 31. Karl-Siegbert Rehberg: Verdrängung und Neuanfang: Die Soziologie nach 1945 als „Normalfall“ westdeutscher Geschichtserledigung, in: Wilfried Loth/Bernd-A. Rusinek (Hrsg.): Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Frankfurt/New York 1998. 184 Vgl. Klingemann: Ostforschung, siehe Anm. 133. 185 Lepsius: Entwicklung, S. 33, siehe Anm. 183. 186 Vgl. Helmut Schelsky: Lage und Aufgaben der angewandten Soziologie in Deutschland, in: Soziale Welt, 2. Jg., 1950/51, S. 9f. 187 Ipsen, Jantke und Linde zählen überdies zu den Mitbegründern der modernen Sozialgeschichtsschreibung; vgl. Carsten Klingemann: Symbiotische Verschmelzung: Volksgeschichte – Soziologie – Sozialgeschichte und ihre empirische Wende zum Sozialen unter nationalsozialistischen Vorzeichen, in: Comparativ, 12. Jg., 2002.
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Mackenroth188, ein prominenter Begründer der westdeutschen Bevölkerungssoziologie, Wilhelm Emil Mühlmann, Begründer einer innovativen Kombination von Ethnologie und Soziologie und nach Schelsky, König und Otto Stammer an vierter Stelle der beliebtesten Doktorväter von Nachwuchssoziologen,189 Karl Valentin Müller, bis 1945 Durchführung von Forschungsaufträgen der Reinhard-Heydrich-Stiftung in Prag und bereits 1946 Leiter des Instituts für Begabungssoziologie am niedersächsischen Kultusministerium, Elisabeth Pfeil, wichtigste Begründerin der westdeutschen Stadtsoziologie, Erich Reigrotzki, nach 1945 am UNESCO-Institut für Sozialwissenschaften, Helmut Schelsky, Max Ernst Graf zu SolmsRoedelheim, Gerhard Wurzbacher (an sechster Stelle der Doktorvater von Nachwuchssoziologen) sowie Werner Ziegenfuß, 1956 Herausgeber des Handbuchs der Soziologie. Lepsius erwähnt somit mehr als zwei Dutzend Sozialwissenschaftler, die zu seinen Gruppen der Wiederbeleber und Neubegründer zählen, die allerdings nur einen Teil jener Soziologen ausmachen, die sowohl vor wie nach 1945 aktiv waren. So gibt der ehemalige wissenschaftliche Leiter der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung Friedrich Bülow 1955 (zusammen mit Wilhelm Bernsdorf) das erste „Wörterbuch der Soziologie“ nach dem Zweiten Weltkrieg heraus, in dem an die zwanzig auch während der NS-Zeit fachwissenschaftlich tätige Sozialwissenschaftler vertreten sind. 1955 geben Gehlen und Schelsky „Soziologie. Ein Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde“ heraus, von den neun Beiträgen stammen sechs von ehemaligen Reichssoziologen, darunter Karl Heinz Pfeffer, dem letzten Dekan und Präsidenten der unter der Ägide des Sicherheitsdienstes der SS stehenden Auslandswissenschaftlichen Fakultät und des Auslandswissenschaftlichen Instituts der Universität Berlin. Dieses Lehrbuch und das Wörterbuch von Bernsdorf und Bülow bespricht Jürgen Habermas in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wobei er unter der Überschrift „Come back der deutschen Soziologie“ dem Lehrbuch bescheinigt, „Soziologie mit Sachlichkeit und Autorität“ „vorbildlich“ zu präsentieren und über „den neuesten Stand der deutschen Soziologie“ zu informieren. Dabei hebt er unter anderem die Beiträge von Gehlen, Schelsky, Pfeil und Mackenroth hervor und verweist auf die „hervorragenden Monographien“190 der beiden zuletzt Genannten, die diese auf der Basis ihrer Arbeit im Nationalsozialismus geschrieben hatten. Bereits drei Jahre zuvor hatte Max Horkheimer seinen „Survey of the Social Sciences in Western Germany“ im Auftrag der Library of Congress vorgelegt. Allein für den Zeitraum von Oktober 1950 bis September 1951 listet er 350 sozialwissenschaftliche Publikationen auf. Weiterhin benennt er dort etwa sechzig auch schon vor 1945 aktive Sozialwissenschaftler, obwohl er einleitend zutreffend feststellt, dass die Soziologie nach dem Kollaps des Dritten Reichs „went through a very difficult period. Here and there, there was a tendency to ,keep it on ice‘, and as late as 1948 the representatives of the legal and economic faculties resisted setting up a Department of Social Science that was to be based on sociology alone.“191 Nur ein Jahr nach dem Handbuch von Gehlen und Schelsky und dem Wörterbuch von Bernsdorf und Bülow erscheint der erste Band des insgesamt zwölfbändigen Handwörterbuchs der Sozialwissenschaften. Unter den dreizehn Herausgebern sind auch Erwin 188 Zur Frage der Kontinuität bevölkerungssoziologischer Ansätze vgl. Gutberger: Bevölkerung, siehe Anm. 149. 189 Vgl. Heinz Sahner: Theorie und Forschung. Zur paradigmatischen Struktur der westdeutschen Soziologie und zu ihrem Einfluß auf die Forschung. Opladen 1982, S. 75. 190 Jürgen Habermas: „Come back der deutschen Soziologie", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.07.1955. 191 Max Horkheimer: Survey of the Social Sciences in Western Germany. Washington 1952, S. IX. Die früheren Nachkriegsaktivitäten von vielen (hier zum Teil nicht genannten) ehemaligen Reichssoziologen sind dokumentiert bei Dolf Sternberger: Der Stand der sozialwissenschaftlichen Forschung und Lehre in der Bundesrepublik Deutschland (abgeschlossen im März 1950), o. O., o. J.; ders.: Research in Germany on Pressing Social Problems. A Social Science Survey of German Social Issues, o. O., o. J. (1951).
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von Beckerath, Carl Brinkmann, Horst Jecht und Leopold von Wiese, die einen großen Kreis von weiteren Sozialwissenschaftlern aus der NS-Zeit zur Mitarbeit heranziehen. Dazu gehören insgesamt drei Dutzend ehemalige Reichssoziologen. Davon sollen nur jene erwähnt werden, die auch von René König neben anderen ehemaligen Reichssoziologen als Mitarbeiter des Herausgebers der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1959 aufgeführt werden: Friedrich Bülow, Arnold Gehlen, Wilhelm Emil Mühlmann, Alfred Müller-Armack, Ludwig Neundörfer, Helmut Schelsky, Leopold von Wiese und Gerhard Wurzbacher. König teilt im „Geleit“ zum Gesamtregister der Jahrgänge 1 bis 29 der Kölner Zeitschrift für Soziologie mit, jene seien von der Mitarbeit ausgeschlossen worden, „die seinerzeit die entscheidenden Schritte dazu unternommen haben, daß die alten Kölner Vierteljahreshefte [sic!] für Soziologie ihr Erscheinen einstellen mußten.“192 Diese Feststellung ist erstaunlich, weil die Kölner Vierteljahrshefte ohne Beteiligung von Reichssoziologen, sondern aus Geldmangel eingestellt wurden, andererseits die von König zur Mitarbeit Herangezogenen, und dazu gehören auch noch Carl Jantke, Karl Valentin Müller, Max Graf zu Solms und Max Ernst Graf zu Solms-Roedelheim aktive Sozialwissenschaftler während der NS-Zeit waren. Bereits vor seinem Erscheinen feierte Horkheimer das Handwörterbuch als großartiges Beispiel für die Neuorientierung der deutschen Soziologie „from an almost entirely theoretical and descriptive approach to one in which empirical research is extensively applied.“193 Aber nicht nur diese Innovation steht in Zusammenhang mit der Gruppe der Ehemaligen. So ist Max Weber auf etwa 170 Seiten nach Karl Marx der am häufigsten genannte Sozialwissenschaftler. Vorgestellt wird er von jenen Kollegen, die ihn auch schon vor 1945 in Deutschland behandelt haben. 6.4 Die Rolle ehemaliger Reichssoziologen in institutionellen Neugründungen während der Besatzungsherrschaft In der amerikanischen Besatzungszone und im amerikanischen Sektor von Berlin Die entscheidenden Protagonisten der frühen Nachkriegssoziologie sind somit vornehmlich die fachwissenschaftlich tätigen Daheimgebliebenen. Dennoch heißt es auch in Uta Gerhardts jüngster Abhandlung über die „Wiederanfänge der Soziologie nach 1945“ wiederum: „Wissenschaftliche Soziologie gab es in Deutschland nach 1933 nicht mehr.“ Konsequenterweise „musste eine Wissenschaft Soziologie überhaupt erst wieder entstehen.“ Während Gerhardt früher deren Wiederentstehung hauptsächlich mit der Einführung der bis dahin in Deutschland (vermeintlich) unbekannten Technik der Meinungsumfrage begründete, argumentiert sie jetzt mit der von den Militärregierungen geförderten „neuen institutionellen Verankerung der Soziologie der ersten Nachkriegszeit“, wobei der Soziologie eine wichtige Rolle „zur Förderung von Demokratie und Wissenschaft“ zukam.194 Zu der Entwicklung in den drei Westzonen heißt es: 192 René König: Zum Geleit; Gesamtregister der Jahrgänge I-XIX und der Sonderhefte 1-11, bearbeitet von Fritz Sack und Günter Albrecht, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1967, S. 3. 193 Horkheimer: Survey, S. 67, siehe Anm. 191. 194 Uta Gerhardt: Die Wiederanfänge der Soziologie nach 1945 und die Besatzungsherrschaft. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte, in: Bettina Franke/Kurt Hammerich (Hrsg.): Soziologie an den deutschen Universitäten: Gestern – heute – morgen. Wiesbaden 2006, S. 32, 34, 103, 37. Diese Aussagen stehen in einem eklatanten Widerspruch zu ihren anderen Feststellungen, da in denen deutlich wird, wie groß das Potential fachwissenschaftlicher Kompetenz schon vor 1945 war: So wird die Sozialforschungsstelle in Dortmund erwähnt und zwar als „anschauliches Beispiel der unvermerkten Anknüpfung an die nationalsozialistische Vergangenheit“ (64), es gelang „zahlreichen Fachvertretern, die zunächst an der SFSD tätig waren, an soziologische Institute der Universitäten berufen zu werden […].“ (65) „Einer
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„Am Ende der Militärregierungszeit im Jahr 1949 war das Fach Soziologie in der amerikanischen Zone immer noch nicht weit entwickelt; über gewisse Anfänge war man nicht hinaus gelangt. Die Universität Frankfurt hatte einen Lehrstuhl für Soziologie eingerichtet, der seit 1945 mit Heinz Sauermann besetzt war.“195 Mit Sauermann, der schon vor 1945 einen neuen sozialwissenschaftlichen Studiengang entworfen hatte und auch den ersten Nachkriegssoziologentag sowie die Rückkehr des Instituts für Sozialforschung organisierte, benennt Gerhardt einen bereits in der Weimarer Republik und während des Dritten Reichs fachwissenschaftlich tätigen Soziologen. Da auch das Soziographische Institut und sein Leiter Ludwig Neundörfer ohne Unterbrechung weiterarbeiten, sogar schon vor der Kapitulation für die amerikanische Besatzungsmacht, ist Frankfurt das beste Beispiel für fachwissenschaftliche Kontinuität. Im amerikanischen Sektor Berlins wurde 1948 die Freie Universität gegründet. Der neu geschaffene Lehrstuhl für Soziologie wurde aber erst 1951 mit dem während der NS-Zeit nicht als Soziologe tätigen Otto Stammer besetzt. Jedoch vertrat Friedrich Bülow die Soziologie (und Nationalökonomie) an der Freien Universität seit ihrer Gründung. Er lehrte ab 1937 an der Universität Berlin und war seitdem – wie berichtet – auch der wissenschaftliche Leiter der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung. Zusammen mit Wilhelm Bernsdorf gab er 1955 das erste Wörterbuch der Soziologie heraus. In der Festschrift zu seinem 70. Geburtstag würdigt Otto Stammer die Leistungen Bülows als erster gewählter Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät mit den Worten: „Wenn der Soziologie in dieser Fakultät heute ein angemessener Platz neben den traditionellen Fächern der Volkswirtschaftslehre und der Betriebswirtschaftslehre eingeräumt worden ist, so ist es nicht zuletzt das Verdienst des verehrten Jubilars, der die ersten Bausteine zur Errichtung des Instituts für Soziologie legte und an der systematischen Entwicklung eines sozialwissenschaftlichen Lehr- und Forschungsbetriebes sowie an der Ausarbeitung der neuen Diplomprüfungsordnung für Soziologen lebhaften Anteil genommen hat.“ Stammer zählt ihn „zu den Begründern der Raumforschung in Deutschland“, wobei Bülow „zur Soziologie des Raumes von theoretischer Warte aus und in empirischer Einzelbeobachtung Stellung genommen“ habe.196 Eine zutreffende Einschätzung der theoretischen wie empirischen Kompetenz Bülows, der zusammen mit Sauermann und Neundörfer, die sich auch durch diese Eigenschaften auszeichnen, neben weiteren ehemaligen Reichssoziologen die Soziologie in der amerikanischen Zone während der ersten Nachkriegszeit repräsentiert. Neundörfer ist überdies langjähriger Leiter der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute, die nach dem Urteil von Heinz Sahner „Beträchtliches für die Institutionalisierung der Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg geleistet hat.“197 eher geringen Zahl ehemaliger Emigranten standen eine beträchtliche Anzahl ehemaliger Nationalsozialisten gegenüber.“ (105) „Allerdings konnten nur zwei dieser Rückkehrer Lehrstühle im Fach Soziologie in Deutschland besetzen.“ (33) Die „’deutsche Soziologie’, die sich aus der Zeit des Nationalsozialismus erhalten oder in der Nachkriegszeit wieder formiert hatte […].“ (96) Ebenso die internationale Soziologenorganisation Institut International de Sociologie, „wo ehemalige Nationalsozialisten zahlreich mitwirkten […].“ (97). Indem Gerhardt ausschließlich auf deren politische Belastung hinweist, wird das eigentliche Problem verdeckt, dass sie als Fachwissenschaftler dem NS-Regime nützlich waren. 195 Ebd., S. 50. Nicht nur Sauermann, sondern zahlreiche weitere ehemalige Reichssoziologen kooperierten eng mit den aus dem Exil zurückgekehrten Soziologen und Einrichtungen der Westalliierten; vgl. Alex Demirović: Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule. Frankfurt am Main 1999. 196 Otto Stammer: Friedrich Bülow als Soziologe, in: Otto Stammer/Karl C. Thalheim (Hrsg.): Festgabe für Friedrich Bülow zum 70. Geburtstag. Berlin 1960, S. 22, 32f. Bülow betreute die Habilitation von Hans-Joachim Lieber für das Fach Soziologie und hielt zusammen mit ihm und dem aus dem Exil zurückgekehrten Ernst Hirsch sowie Dieter Claessens, der auch bei ihm studiert hatte, ein jedes Semester wiederholtes soziologisches Kolloquium ab. 197 Heinz Sahner: Der Beitrag der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute e. V. (ASI) zur Institutionalisierung der Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Soziologie, 1999, H. 3, S. 20.
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In der britischen Besatzungszone Die britische Militärregierung hat durch die Institutionalisierung der Soziologie nach Gerhardt einen geschichtsmächtigen Strukturwandel ausgelöst: „Der Forderung, die modernen Sozialwissenschaften zu Trägern der Umgestaltung sowohl Deutschlands insgesamt als auch der Wissenschaftspraxis der Universitäten zu machen, entsprach die britische Militärregierung durch eine Politik spezieller Neugründungen. Im Zeitraum 1948-1949 wurden eine Akademie und eine Hochschule gegründet, die speziell auf Sozialwissenschaften ausgerichtet waren. In Hamburg entstand 1948 die Akademie für Gemeinwirtschaft, und in Wilhelmshaven entstand 1949 die Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft. Erste Lehrstühle für Soziologie wurden an den Universitäten Köln und Kiel 1948 und 1949 (wieder) eingerichtet und bald auch (wieder) besetzt. Insgesamt konnten in der Zeit der Militärregierung vier Lehrstühle für Soziologie erhalten oder geschaffen und mit qualifizierten Bewerbern besetzt werden – wobei allerdings zusagen ist, dass drei dieser Bewerber ihre Qualifikation während des Nationalsozialismus erworben hatten. Unter den vier neuen Lehrstuhlinhabern war ein einziger Emigrant. Die drei anderen hatten im Nationalsozialismus Professuren innegehabt, für Sozialphilosophie und Soziologie (Schelsky, bis 1945), Soziologie (Max Ernst Graf Solms, bis 1945) und Nationalökonomie (Mackenroth, bis 1941). […] Die ersten Vertreter des Faches Soziologie der britischen Besatzungszone – mit Ausnahme König und auch möglicherweise Mackenroth – gehörten also zum Kreis derjenigen, die im Nationalsozialismus geduldet oder sogar für die NSDAP tätig gewesen waren. In Köln wurde von Wiese reaktiviert, der im Jahr 1933 und 1934 vergeblich versucht hatte, die Soziologie vor der Gleichschaltung durch den Nationalsozialismus zu bewahren.“198 Auch Mackenroth und von Wiese, der mit seinen Versuch zur Selbstgleichschaltung der DGS gescheitert war, hatten während des Dritten Reichs umfangreiche fachwissenschaftliche Aktivitäten entfaltet. An der Akademie für Gemeinwirtschaft lehrten Schelsky als Ordinarius und Gerhard Wurzbacher als sein Assistent, die bekanntlich wegweisende Forschungsprojekte durchführten. Gerhardt betont die besondere Bedeutung der institutionellen Neugründungen während der Militärregierungszeit, in denen der Soziologie eine wichtige Rolle „zur Förderung von Demokratie und Wissenschaft“199 zukam. Dazu zählt sie auch die Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven (später: Hochschule für Sozialwissenschaften). Sie wurde 1949 gegründet, um mehr Arbeiterkindern und Personen ohne Abitur den Weg zu einem akademischen Abschluss zu eröffnen. Dort waren tätig: Max Ernst Graf zu Solms-Roedelheim, promovierter Soziologe und während der NS-Zeit Assistent am Institut für Sozial- und Staatswissenschaften an der Universität Heidelberg; sowie Horst Jecht, DGS-Mitglied vor 1933 und nach 1945, ab 1943 dessen Direktor; und Hans Raupach, habilitierter Soziologe, ab 1934 Dozent für Völker- und Staatenkunde Südosteuropas an der Universität Halle/Saale und später Mitglied einer Gruppe sozialwissenschaftlicher Ostexperten im militärischen Geheimdienst (Abwehr II) im Oberkommando der Wehrmacht. Weiterhin lehrten in Wilhelmshaven: Ernst Rudolf Huber, Staatsrechtler und während der NS-Zeit Gegner der tradierten Soziologie; Peter Hofstätter, 1941 Habilitation für Psychologie und von 1937 bis 1943 Heerespsychologe; Wilmont Haacke, 1942 bis 1946 Direktor des Instituts für Zeitungswissenschaft an der Universität Freiburg i. Br. und Hermann Bollnow, Sozialhistoriker, Dozent an der Universität Göttingen seit 1944. Wie man sehen kann, spielten für diese Reform-Hochschule ins198 Gerhardt: Wiederanfänge, S. 63f, siehe Anm. 194. 199 Gerhardt: Wiederanfänge, S. 37, siehe Anm. 194.
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besondere sozialwissenschaftliche Fachvertreter eine Rolle, deren fachwissenschaftliche Karriere im Dritten Reich begann. Ein weiterer Wilhelmshavener, Friedrich Lenz, bis 1933 Professor der Staatswissenschaften an der Universität Gießen, hingegen wurde Ende des Jahres trotz massiver Unterstützung durch nationalsozialistische Studenten200 wegen seiner Zugehörigkeit zum Lager der „National-Bolschewisten“ zwangspensioniert. „Die Gießener SS nannte ihn einen eng mit Moskau verbündeten Kommunisten und intensiven Agitator marxistischer Ideen. ‚Dieser Mann müßte unbedingt von dem Lehrstuhl für Sozialwissenschaft und damit von Gießen überhaupt verschwinden.‘„ Jedoch wurde er zu Beginn des Jahres 1941 von Legationsrat Dr. Adam von Trott zu Solz ins Auswärtige Amt geholt. „Hier war er bis Ende 1944 als freiwilliger wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. Für das Honorar kam eine private Vereinigung außerhalb des Auswärtigen Amtes auf.“201 Diese ist mir nicht bekannt, jedoch schrieb Lenz wiederholt für die von Franz Alfred Six herausgegebene Zeitschrift „Politische Wissenschaft“ und traf sich auch persönlich mit ihm im Juli 1944 „wegen meines Buches“.202 Six, Leiter der Kulturpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, war als Amtsleiter im Reichssicherheitshauptamt („Gegnerforschung“) zuvor auch Gründer der Auslandswissenschaftlichen Fakultät und des Auslandswissenschaftlichen Instituts und gab als dessen Präsident auch nach Aufnahme seiner Tätigkeit im Auswärtigen Amt die Politische Wissenschaft heraus. Bei dem genannten Buch könnte es sich um jenes handeln, von dem es heißt: „Einige Monate vor Kriegsende druckte der ScientiaVerlag in Zürich ‚Die Friedenspläne der alliierten Mächte‘.“203 Denkbar wäre, dass Lenz damit im Auftrag des Auswärtigen Amtes im „neutralen Ausland“ indirekt deutsche Interessenpositionen darstellen sollte. Nach Kriegsende musste er seine 1947 übernommene Professur an der Humboldt-Universität aufgeben und Berlin Ende 1948 „unter dramatischen Umständen verlassen.“ Aber: „Bereits 1949 übernahm er eine Gastprofessur an der kurz zuvor gegründeten ‚Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft‘ in Wilhelmshaven-Rüstersiel. Am 9. Februar 1953 erfolgte die Ernennung zum Honorarprofessor. Lenz hat nicht wenig dazu beigetragen, daß diese Nachkriegsgründung rasch Ansehen gewann, ihren Status verbessern konnte und in ‚Hochschule für Sozialwissenschaften‘ umbenannt wurde.“204 Der erste Rektor der Hochschule Wolfgang Abendroth zählte außer Graf zu SolmsRoedelheim nur noch Lenz zu seinen Verbündeten gegenüber den anderen politisch belasteten und „nationalistisch und konservativ“ eingestellten Professorenkollegen. „Er hatte sich während des Dritten Reiches nicht angepaßt […].“205 Es wird berichtet, es habe sogar „Untersuchungen durch die Gestapo“ gegeben, nur wäre damit die außergewöhnliche wissenschaftliche Karriere von Lenz während des Nationalsozialismus nicht hinreichend beschrieben. Auch wenn Lenz sich nicht angepasst hat, konnten seine erstaunlichen außerdeutschen Aktivitäten eventuell doch nationalen Interessen dienen, die im nationalsozialistischen Sinne zumindest instrumentalisierbar waren. 200 Vgl. Staatswissenschaftliche Fachschaft an der Universität Gießen, 29. August 1933 (mit Anlagen von Lenz); Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, VI W/1, Bd. 23. 201 Helmut Berding: Friedrich Lenz (1885 – 1968) / Nationalökonom, in: Hans Georg Gundel/Peter Moraw/Volker Press (Hrsg.): Gießener Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Marburg 1982, S. 608, 609. 202 Friedrich Lenz an Dr. Barbara Pischel, Deutsches Auslandswissenschaftliches Institut, BAB, 49.02, Nr. 12, Bl. 52. 203 Berding: Lenz, S. 609, siehe Anm. 201. In dem Artikel von Gottfried Eisermann über Friedrich Lenz im Internationalen Soziologenlexikon, herausgegeben von Wilhelm Bernsdorf und Horst Knospe (Stuttgart 21984, S. 486), wird dieses Buch nicht erwähnt. 204 Berding: Lenz, S. 610, siehe Anm. 201. 205 Wolfgang Abendroth: Ein Leben in der Arbeiterbewegung. Gespräche, aufgezeichnet und herausgegeben von Barbara Dietrich und Joachim Perels. Frankfurt am Main 1976, S. 209.
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„Den Kriegsausbruch erlebte Lenz im Ausland, wo er von 1937 bis 1940 über kriegswirtschaftliche und außenpolitische Themen arbeitete – außer im Haag und an der ‚London School of Economics‘ hauptsächlich in der Washingtoner ‚Library of Congress‘. Auszüge seines 700seitigen Manuskripts über ‚Total War. A Structural Analysis of its Economic, Technological and Cultural Effects‘ erschienen in englischen und amerikanischen Zeitschriften. Aufgrund seiner Arbeit über ‚Deutschland zwischen West und Ost, Grundlegung und Kritik der deutschen Mitteleuropa-Pläne‘ erwarb er an der American University Washington den ‚Master of Arts‘.“206 Wie immer man das Engagement von Lenz vor 1945 bewerten mag, danach hat er als Mitglied der Hochschule für Sozialwissenschaften und Leiter des EMNID-Instituts in Bielefeld die von Uta Gerhardt herausgehobene Aufgabe der Umgestaltung Deutschlands befördert. Dies gilt für alle hier erwähnten Mitglieder der von Gerhardt aufgeführten wissenschaftlichen Institutionen, die während der britischen Besatzungsherrschaft gegründet wurden. Und dies waren fast ausschließlich daheimgebliebene Sozialwissenschaftler. In der französischen Besatzungszone Für die französische Besatzungszone erkennt Gerhardt spezifische Innovationen, bei denen die Soziologie eine zentrale Rolle spielte: „Die Entwicklung der Soziologie in der französischen Zone umfasste zwei Vorgänge […]. Zum einen wurde in Speyer bereits bei der Gründung der Verwaltungshochschule eine ordentliche Professur für Soziologie eingerichtet. Diese Professur war ein Novum der Ausbildung höherer Verwaltungsbeamter in Deutschland. (Die Professur wurde mit Arnold Gehlen besetzt, einem Hochschullehrer, der allerdings bis 1945 im Amt gewesen [war, C.K.] und Philosophie gelehrt hatte.) Die Akademie [der Wissenschaften und Literatur zu, C.K.] Mainz nahm zwei Soziologen als Gründungsmitglieder auf und wählte einen, von [sic?] Eckert, zu ihrem Vizepräsidenten; auch darin lag ein Novum der Wissenschaftskultur. (Die zwei Soziologen lehrten an der neu gegründeten Mainzer Universität und hatten nicht emigrieren müssen; Emge war im Jahr 1939 Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften geworden, […].)“207 Bei „von Eckert“ handelt es sich um Christian Eckert, der aber nicht nur Geheimer Regierungsrat war, worauf Gerhardt sich beschränkt. Er war auch Gründungsrektor der Universität Köln, Schatzmeister der DGS, Geschäftsführender Direktor des aus drei Abteilungen bestehenden Forschungsinstituts für Sozialwissenschaften (Direktor der soziologischen Abteilung: Leopold von Wiese) und zusammen mit von Wiese Mitherausgeber der Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie. Er hatte sich in der Weimarer Republik als Vertreter der katholischen Zentrumspartei profiliert und wurde im September 1933 entlassen, um nach Interventionen im Februar 1934 in den Ruhestand versetzt zu werden. Nur hält Frank Golczewski fest: „Er hat sich in dieser ersten Hälfte des Jahres 1933 als ein – ja ich glaube, man kann ruhig sagen: Scharfmacher – in nationalsozialistischer Hinsicht – betätigt. Das fiel umso leichter, als von der Partei aus Peter Winkelnkemper als Kommissar für die Universität eingesetzt worden ist, der als staatlicher nationalsozialistischer Aufpasser auch die Geschäftsführung des Universitätskuratoriums übernahm, ohne weiter das Kuratorium einzuberufen. Winkelnkemper war Doktorand von Eckert gewesen und Eckert hat in diesen ersten Monaten, ja sagen wir ganz vorsichtig, Winkelnkemper beratend zur Seite gestanden, sodaß derjenige, der die pluralistische demokratische Universität von 1919 gegründet 206 Berding: Lenz, S. 609, siehe Anm. 201. 207 Gerhardt: Wiederanfänge, S. 72f, siehe Anm. 194.
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hatte, auch gleichzeitig den Wandel von 1933 partiell mitzuverantworten hatte.“208 Nach 1945 konnte Eckert nun wieder an deren Redemokratisierung mitwirken. Das gilt auch für Carl August Emge, von dem Gerhardt nur berichtet, dass er 1939 Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften wurde. Allerdings war Emge, der bereits 1931 in die NSDAP eingetreten war, schon 1932 als erster Nationalsozialist vor der ‚Machtergreifung‘ Universitätskurator in Jena geworden. Bis zu seiner Entbindung vom Amt im Jahr 1942 war er nicht nur wissenschaftlicher Leiter der Akademie für Deutsches Recht. Deren Gründer, der Reichtsrechtsführer und Generalgouverneur Polens, Hans Frank, übertrug Emge für die Dauer des Krieges die ihm vorbehaltenen Befugnisse als Präsident, und so war er auch mitverantwortlich für den Geheimbericht „Rechtsgestaltung deutscher Polenpolitik nach volkspolitischen Gesichtspunkten” (1940), der im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess gegen Frank als Beweismitel vorgelegen hat. Ab 1950 wurde die Soziologie an der Universität Mainz auch von Wilhelm Emil Mühlmann vertreten, der als Berliner Privatdozent insbesondere im Umfeld von Alfred Rosenberg in seiner Eigenschaft als „Beauftragter des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Schulung und Erziehung der NSDAP” sowie anderer Behörden Rosenbergs tätig war und auch Kontakte zum Sicherheitsdienst der SS hatte. Mit Gehlen, Emge, Mühlmann und Elisabeth NoelleNeumann, der Gründerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach, das für die französische Militärregierung Umfragen durchführte, waren im Nationalsozialismus sehr exponierte Sozialwissenschaftler in der (ehemaligen) französischen Zone tätig, Gehlen, Emge und Mühlmann an Institutionen, die nach Gerhardt als „Vorbilder für ein demokratische Bildungswesen”209 wirken sollten. Fazit Damit ist die Soziologie in allen drei Westzonen im Hinblick auf ihre von den Besatzungsmächten geförderte Etablierung an den von Gerhardt genannten Institutionen (Universität Mainz, Verwaltungsakademie Speyer, Universität Frankfurt am Main, FU Berlin, Akademie für Gemeinwirtschaft Hamburg, Sozialforschungsstelle Dortmund und Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven) fast ausschließlich von Fachvertretern getragen worden, die schon vor 1945 als solche tätig waren. Dies gilt auch für etliche andere universitäre und außeruniversitäre Institutionen, die Gerhardt nicht erwähnt. Dass die von den Besatzungsmächten angestrebte „Förderung von Demokratie und Wissenschaft“ durch zum Teil politisch schwer belastete Soziologen erfolgte, ist darauf zurückzuführen, dass sie wegen ihrer fachwissenschaftlichen Aktivitäten im Dritten Reich als Wissenschaftler geeignet erschienen. Und sie waren auf jeden Fall überzeugte Antikommunisten, was zu Zeiten des Kalten Kriegs gleichbedeutend war mit Demokrat sein. Nach diesem Muster verfuhr auch Talcott Parsons, als er im Sommer 1948 in Zusammenarbeit mit amerikanischen und Geheimdiensten europäischer Länder Russland-Experten für das Russian Research Center an der Harvard Universität in Deutschland rekrutieren wollte. Darunter war auch der ehemaliger Leningrader Professor Nicholas Poppe, der ab 1943 Mitarbeiter des auf Russland-Forschung spezialisierten Wannsee-Instituts war, das dem Auslandsnachrichtendienst des Reichssicherheitshauptamtes unterstand. Der amerikanische Militärgeheimdienst, Counter Intelligence Corps (CIC), hatte auf Poppes Karteikarte 208 Die Universität Köln im Faschismus: Stützen des Regimes und traditionelle Formen. Ein Gespräch mit Prof. Franz Golczewski, in: Uni-Stadt-Revue, 8. Jg., Nr. 16, November 1988, S. 11; vgl. insbesondere zu Eckerts gegen jüdische Kollegen gerichtete Aktionen Frank Golczewski: Kölner Universitätslehrer und der Nationalsozialismus. Köln-Wien 1988. 209 Gerhardt: Wiederanfänge, S. 74, siehe Anm. 194.
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„Nothing Derogatory“210 vermerkt, obwohl ihm und dem englischen Geheimdienst bekannt war, dass die Sowjetunion dessen Auslieferung forderte. In einer Gesamtbewertung des Handelns von US-Geheimdiensten, der Harvard Universität und Stiftungen gegenüber belasteten sozialwissenschaftlichen Russland-Experten kommt Charles Thomas O’Connell zu dem Schluss: „Experts on the Soviet Union – no matter how unsavory their wartime past – were to be exploited for their supposed detailed knowledge of various facets of the Soviet regime.“ O’Connell ist der Meinung, dass Parsons damit seine „own conception of science as a profession patterned around norms of disinterestedness, universalism, and a strong commitment to cognitive rationality“ in Frage stellte.211 Das ist sicherlich richtig, nur hat sich die Generierung und Nutzung sozialwissenschaftlichen Expertenwissen nie nach Parsons‘ realitätsfremden Vorstellungen gerichtet, sondern funktioniert nach dem Prinzip der rekursiven Kopplung. Nach Meinung von Uta Gerhardt leistete das CIC die „Kärrnerarbeit an der politischen Säuberung“ der westdeutschen Universitäten.212 Es engagierte und schützte aber auch Klaus Barbie, wohl wissend, warum er der „Schlächter von Lyon“ genannt wurde.213 Im Hinblick auf die Frage nach dem fachlichen Potential von Wissenschaftler aus dem Dritten Reich ist wichtiger, dass das CIC unter anderem auch alle die über 600 deutschen Wissenschaftler kontrollierte, die im Rahmen von „Project Paperclip“ von den Amerikanern rekrutiert oder von einer Indienstnahme durch die sowjetische Besatzungsmacht abgehalten werden sollten.214 Das CIC bediente sich auch prominenter sozialwissenschaftlicher Ostexperten wie Theodor Oberländer, Franz Alfred Six und vieler anderer, so auch des als Südosteuropa-Experte habilitierten Soziologen Franz Ronneberger, vor 1945 Dozent an der Hochschule für Welthandel in Wien, der für das Auswärtige Amt und als Mitarbeiter des SD-Ausland für das Reichssicherheitshauptamt einen Nachrichtendienst zu deren sozialwissenschaftlich fundierter Information und Beratung über die politische und gesellschaftliche Situation in Ländern Südosteuropas betrieb.215 Die amerikanischen, britischen und französischen Hochschuloffiziere wussten, dass sie es nicht mit, wie Gerhardt meint, Vertretern der während des Nationalsozialismus „vorgeschriebenen Pseudowissenschaft“216 zu tun hatten und überließen ihnen deswegen als Fachleuten die ‚Neugründung‘ der westzonalen Soziologie. So sah es auch die zweite Generation der Nachkriegssoziologie, die darauf verzichtete, ihre Dozenten, Doktor- und Habilitationsväter, Institutschefs und Karrierehelfer nach ihrer politischen Vergangenheit zu befragen. Darin kann auch der Grund dafür liegen, dass die Nachkriegssoziologie sich nicht mit dem Nationalsozialismus befasst hat. „It cannot be denied that these pioneers of German sociology in general, and of political sociology in particular, missed a unique chance of taking over the role of a historical macro-sociologist, institutionalizing empirical research on the 210 Sigmund Diamond: Compromised Campus. The Collaboration of Universities with the Intelligence Community, 1945-1955. New York/Oxford 1992, S. 92. 211 Charles Thomas O’Connell: Social structure and science: Soviet Studies at Harvard. Diss., University of California, Los Angeles 1990, S. 231, 226. 212 Gerhardt: Wiederanfänge, S. 40, siehe Anm. 194; vgl. dagegen exemplarisch das Kap. 5. „We take the brain“ – Die Zwangsevakuierung deutscher Wissenschaftler und Techniker aus Mitteldeutschland, in: Klaus-Dietmar Henke: Die amerikanische Besetzung Deutschlands. München 1995, S. 742-776. 213 Das CIC betrieb auch die berüchtigte „Ratline“, über die schwer belastete Nationalsozialisten in Sicherheit gebracht wurden; vgl. Christopher Simpson: Der amerikanische Bumerang. NSKriegsverbrecher im Sold der USA. Wien 1988. Jüngst ist durch die Freigabe von CIA-Akten bekannt geworden, dass das CIC sich gegen eine Festnahme Adolf Eichmanns wandte, 1952 erklärte es: „Die Salzburger Polizeiführung sollte angewiesen werden, dass die Festnahme von Adolf Eichmann und seine Überführung zum CIC nicht länger angestrebt wird.“ Zit. von Thomas Kleine-Brockhoff/Joachim Riedl: Unter Freunden, in: Die Zeit, Nr. 25, 14.06.2006, S. 2. 214 Vgl. Manfred Herrmann: Project Paperclip: Deutsche Wissenschaftler in Diensten der U.S. Streitkräfte nach 1945. Diss., Universität Erlangen-Nürnberg 1999, S. 371. 215 Vgl. Klingemann: Franz Ronneberger, siehe Anm. 69. 216 Gerhardt: Wiederanfänge, S. 103, siehe Anm. 194. Gerhardt teilt nicht mit, wer diese Pseudowissenschaft wem „vorgeschrieben“ hat.
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rise and structure of the National Socialist regime and enlightening the citizenship about the ‚secrets‘ of their past.“217 Nicht nur „the citizenship”, die beiden Generationen der ehemaligen Reichssoziologen, aber auch die der Nachwuchssoziologen hätten sich selbst aufklären müssen. Dies gilt auch für ihr Verhältnis zu den USA. Kaesler schreibt, einige der Reichssoziologen („Schelsky and others“) „criticized the supposedly increasing importance of empirical social research, plus von Wiese’s domination by American influence, which would cause an ‚American turn‘ in German sociology […).”218 Darin ist weder ein elementarer Antiamerikanismus und erst recht kein Indiz für antidemokratische Tendenzen zu sehen. Vielleicht wäre es besser gewesen, jene Nachwuchssoziologen, „directed to the West“, hätten statt einer Überidentifikation mit den „American allies, in their role as victors over National Socialism“ ihrerseits eine gewisse Distanz gewahrt. Dann wären sie nicht zu „uncritical, or even conservative, defendors of the Federal Republic“ geworden und ihre demokratischen Überzeugungen wären in den späten sechziger Jahren nicht transformiert „into an ideological defense mechanism against the utopian ideals“219 der rebellierenden Studenten. Im Hinblick auf ihre Reaktionen auf die Studentenbewegung kann ihnen Professionalität nicht nachgesagt werden – aber das ist eine andere Geschichte.
217 Brigitta Nedelmann: Between National Socialism and Real Socialism: Political Sociology in the Federal Republic of Germany, in: Current Sociology, Vol 4 (2), April 1997, S. 161. 218 Dirk Kaesler: From Republic of Scholars to Jamboree of Academic Sociologists. The German Sociological Society, 1909-99, in: International Sociology, Vol 17(2), June 2002, S. 167. Christoph Weischer hat überzeugend dargelegt, dass die bis heute gängige Rede von der Konstituierung der deutschen Nachkriegssoziologie auf dem Weg ihrer Amerikanisierung keine Erklärungskraft hat. Sie ist „ein Passepartout: sie ist schlechterdings nicht widerlegbar; für soziologiegeschichtliche Analysen ist sie als strukturierendes und erklärendes Moment wenig hilfreich.“ Weischer: Unternehmen, S. 233, siehe Anm. 181. Schon 1959 hat der amerikanische Soziologe William J. Goode, 1954 Gastprofessor an der FU Berlin, festgestellt: „Im Gegensatz zu der Meinung sowohl deutscher als auch amerikanischer Soziologen hat die Soziologie der Vereinigten Staaten nur wenig Einfluß auf die deutsche Soziologie gehabt […].“ William J. Goode: Die Beziehungen zwischen der amerikanischen und der deutschen Soziologie. Schwierigkeiten, Gefahren, Chancen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 11. Jg., 1959, S. 166; vgl. dagegen: Johannes Weyer: Westdeutsche Soziologie 1945-1960. Deutsche Kontinuitäten und nordamerikanischer Einfluß. Berlin 1984; Bernhard Plé: Wissenschaft und säkulare Mission. „Amerikanische Sozialwissenschaft“ im politischen Sendungsbewusstsein der USA und im geistigen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1990. 219 Nedelmann: National Socialism, S. 163, siehe Anm. 217.
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1. Konjunkturen der Politikwissenschaft in Deutschland Politikwissenschaft als eigenständiges und umfassendes Universitätsfach ist in Deutschland während des 20. Jahrhunderts erst mit der Konstituierung der Bundesrepublik etabliert worden. Daraus wird häufig geschlossen, dass das Fach in unserem Land keine ältere Tradition und vor allem im Gegensatz zu den meisten anderen kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen keine nationalsozialistische Vergangenheit gehabt habe. Diese selbst bei Fachvertretern häufig anzutreffende Meinung übersieht, dass die Lehre von der Politik an den Universitäten so alt ist wie diese selbst: Beide gehen auf das europäische Hochmittelalter, in Deutschland auf das 14. Jahrhundert zurück.1 War die Lehre der Politik im Mittelalter im Rahmen des allgemeinbildenden Artistenstudiums mehr ein Anhängsel der praktischen Philosophie, so wurde sie in der frühen Neuzeit in den protestantischen deutschen Territorialstaaten in den Rang eines selbstständigen Faches erhoben. Neben dieser Politikwissenschaft in der Einzahl entwickelte sich in der frühen Neuzeit entsprechend den sich ausdifferenzierenden staatlichen Tätigkeitsbereichen ein ganzes Spektrum von politischen Wissenschaften in der Mehrzahl. Zu diesen gehörte die ältere Policeywissenschaft als das Fach von der Organisation und den Inhalten der inneren Verwaltung, die Kameralwissenschaft als die Lehre von den fürstlichen Finanzen, die Ökonomik sowohl als Haus- wie auch als Staatswirtschaftslehre, die ältere Statistik als beschreibend-historische Lehre von den Zuständen der Staaten und ein ganzer Kranz von technologischen Fächern (Landwirtschaftslehre, Forstwissenschaft, Bergbau u.a.).2 Für diese Vielzahl von administrativen Ausbildungs- und Beratungswissenschaften bürgerte sich ab Mitte des 18. Jahrhunderts der Begriff der Staatswissenschaften ein.3 Die ältere Tradition einer zunächst philosophischen und später mehr historisch orientierten Politiklehre als der Lehre von einem gut verfassten Staat hat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und durch die Mitarbeit von Politik-Professoren in der deutschen verfassungsgebenden Nationalversammlung von 1848/49 noch einmal eine Spätblüte erlebt, bevor sie als ein traditionell mehr praktisches und interdisziplinäres Fach gegen Ende des Jahrhunderts weitgehend aus dem akademischen Fächerkanon an den deutschen Universitäten verschwand. Dazu trugen nicht nur die szientistischen Veränderungen im allgemeinen Wissenschaftsideal bei, wonach sich alle Wissenschaften nach naturwissenschaftlichem Vorbild durch einen eigenen Gegenstand und vor allem eine autonome Methode auszeichnen sollten. Auch der Wandel der politischen Kultur der Deutschen grub der Politikwissenschaft als Universitätsfach im autoritären Kaiserreich die Legitimität ab: Unter dem Eindruck des Erfolgs der nationalstaatlichen Einigung Deutschlands durch die Militärmacht Preußen und den Erfahrungen des politischen und wirtschaftlichen Aufschwungs des neugegründeten Deutschen Reiches wurde jetzt Politik 1 2
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Die siebenhundertjährige Geschichte des Faches ist Gegenstand meiner Darstellung Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001. Vgl. Hans Maier: Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft). Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Wissenschaft in Deutschland. Neuwied, Berlin 1966, 2. Auflage München 1980. Vgl. Wilhelm Bleek: Deutsche Staatswissenschaften im 19. Jahrhundert – Disziplinäre Ausdifferenzierung und Spiegelung moderner Staatlichkeit, in: Everhard Holtmann (Hrsg.): Staatsentwicklung und Policyforschung. Politikwissenschaftliche Analysen der Staatstätigkeit, Wiesbaden 2004, 41-67.
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als Reservat von genialen Staatsmännern, kompetenten Verwaltungsbeamten und hartnäckigen Interessenvertretern verstanden.4 2. Deutsche Hochschule für Politik in der Weimarer Republik Mit der Einführung der demokratischen Verfassungsordnung in der Weimarer Republik (1919) ging in Deutschland das Experiment einer erneuten Etablierung der Politik als akademischer Wissenschaft einher. Es begründete sich auf programmatischen Einsichten des großen Sozialwissenschaftlers Max Weber und des liberalen Publizisten und Politikers Friedrich Naumann in die Notwendigkeit einer demokratischen Erziehung der politischen Elite. Da die von ihnen angeregte und von dem preußischen Staatssekretär und späteren Kultusminister Carl Heinrich Becker angestrebte Etablierung der Politikwissenschaft an den Universitäten gegen deren konservative Professorenmehrheit nicht durchzusetzen war, konzentrierte man sich auf die Verwirklichung dieses Reformprogramms durch die 1920 in Berlin gegründete „Deutsche Hochschule für Politik“ (DHfP).5 Die DHfP, die in Schinkels klassizistischer Bauakademie gegenüber dem Schloss in der Mitte Berlins sehr repräsentativ untergebracht wurde, übernahm eine Vielzahl von Funktionen.6 Als eine Art Volkshochschule sollte sie allen Klassen und Schichten des Volkes in volkspädagogischer Absicht zur politischen Bildung offen stehen und über Aufbaukurse an die Universitätsreife heranführen. Zum zweiten führte sie als eine Art politische Fachschule Fortbildungsseminare für Attachés des Auswärtigen Amtes, Gewerkschaftsfunktionäre, Sozialarbeiter, Volksbildner und Lehrer durch. Die dritte Funktion einer wissenschaftlichen Lehrund Forschungsstätte gewann erst Konturen, als 1927 eine Akademische Abteilung eingeführt wurde, deren erfolgreicher Besuch mit einem Diplom testiert wurde. Schließlich kam im Sommer 1932 eine „Forschungsabteilung“ hinzu. Als Dozenten auf überwiegend nebenamtlicher Basis wirkten an der DHfP zunächst vor allem liberaldemokratische und sozialdemokratische Politiker und Minister sowie Verwaltungsbeamte, später kamen jüngere Privatdozenten des Öffentlichen Rechts und der Geschichtswissenschaft wie Hermann Heller, Hajo Holborn und Eckart Kehr hinzu. Hauptamtlich waren an der Hochschule für Politik anfangs nur Ernst Jäckh als deren Direktor und ab 1930 Präsident und Theodor Heuss bis zu seiner Wahl in den Reichstag 1924 als Studienleiter tätig – Heuss fungierte nach seiner Wahl zum ersten Präsidenten der Bundesrepublik 1949 als Schirmherr des erneuten und erfolgreicheren Versuchs einer Wiedergründung der Politikwissenschaft in Deutschland. Die Mehrzahl dieser demokratischen und republiktreuen Dozenten der Deutschen Hochschule für Politik der Weimarer Zeit, die sich auf innenpolitische Themen konzentrierte, ging nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in die Emigration vor allem in die USA und wurde dort von der professionellen und selbstbewussten Political Science beeindruckt.7 Viele kamen nach dem Ende der Hitlerdiktatur nach Westdeutschland sowie Westberlin zurück und wirkten am Aufbau der bundesdeutschen Politikwissenschaft mit. 4 5 6 7
Immer noch grundlegend für den politisch-kulturellen Sonderweg Deutschlands: Hellmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1992 (1. Aufl. 1935). Zur Geschichte der DHfP Antonio Missiroli: Die Deutsche Hochschule für Politik, St. Augustin 1988 und Detlef Lehnert: „Politik als Wissenschaft“. Beiträge zu einer Fachdisziplin in Forschung und Lehre der Deutschen Hochschule für Politik 1920-1933, in: Politische Vierteljahresschrift 30 (1989), 443-465. Vgl. die Programmerklärung von Ernst Jäckh, dem Gründungsdirektor und ab 1930 Präsidenten der DHfP, ausgeführt bei Bleek: Geschichte, 204 f. Vgl. Alfons Söllner: Deutsche Politikwissenschaftler in der Emigration. Studien zu ihrer Akkulturation und Wirkungsgeschichte, Opladen 1996 und ders.: Fluchtpunkte. Studien zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Baden-Baden 2006.
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Doch neben den liberalen und sozialdemokratischen Dozenten gehörten von Anfang an auch rechtskonservative Professoren zum Lehrkörper der DHfP. Neben Otto Hoetzsch, einem Professor für osteuropäische Geschichte an der Berliner Universität und deutsch-nationalem Reichstagsabgeordneten ist vor allem Adolf Grabowsky8 zu nennen. Dieser hatte 1907 als junger juristischer Privatdozent die „Zeitschrift für Politik“ mitbegründet und war ein Promotor des Konzeptes der „Geopolitik“, durch welches politische Phänomene primär auf räumliche Aspekte zurückgeführt wurden.9 Grabowsky veröffentlichte während seiner Tätigkeit an der DHfP viele Artikel zur wissenschaftlichen Begründung der Notwendigkeit einer Revision des Versailler Vertrages. Diese Gruppe innenpolitisch konservativ und außenpolitisch revanchistisch eingestellter Dozenten wurde 1927 verstärkt durch die Integration des Politischen Kollegs in die Deutsche Hochschule für Politik. Diese Institution war 1920 als deutschnationaler Widerpart zu der Deutschen Hochschule für Politik wenige Tage nach dieser gegründet worden und diente als Schulungsanstalt der Deutsch-Nationalen Volkspartei (DNVP). Ihr Gründungsimpuls war eine entschiedene Ablehnung nicht nur des Versailler Vertrages, sondern auch des Weimarer Verfassungskompromisses. Das Politische Kolleg, das sich 1922 den Untertitel „Hochschule für nationale Politik“ gab, wurde vor allem von dem jungkonservativen und nationalrevolutionären Ring-Kreis getragen, dessen prominentestes Mitglied Arthur Moeller van den Bruck war, der den Begriff des „Dritten Reiches“ prägte. Die formale Zusammenarbeit zwischen DHfP und Politischem Kolleg wurde zwar 1930 wieder aufgelöst, doch gehörten auch weiterhin und in wachsender Zahl rechtskonservative und tendenziell antidemokratische Dozenten dem Lehrkörper der DHfP an. Sie lehrten an der Hochschule insbesondere über Themen der Auslandswissenschaften, der Außenpolitik und des Deutschtums. Dazu gehörte seit 1932 auch Arnold Bergstraesser, der hauptamtlich seit 1929 am Heidelberger Institut für Sozial- und Staatswissenschaften eine Professur für „Staatswissenschaften und Auslandskunde“ innehatte. Während es in der Weimarer Republik an den meisten Universitäten kein akademisches Fach der Politik gab, entwickelte sich dieses in Heidelberg am dortigen Institut für Sozial- und Staatswissenschaften, das 1925 aus dem Institut für Nationalökonomie hervor gegangen war.10 Die von dem Gründer dieses Instituts Alfred Weber, dem jüngeren Bruder Max Webers, konzipierte „verstehende Kultur- und Staatssoziologie“ stellt eine interessante Brücke zwischen der älteren Staatswissenschaft des 19. Jahrhunderts und der nach 1945 etablierten Wissenschaft von der Politik dar. Das rechtskonservative Potenzial an der Deutschen Hochschule, das zu Beginn der 1930er Jahre immer stärker wurde und Bündnisse mit dem revanchistischen Gedankengut der Nationalsozialisten nicht ausschloss, fand ausgerechnet in der 1932 gegründeten „Forschungsabteilung“ seinen akademischen Brückenkopf. Sie stand unter der Leitung des schillernden Staatsund Völkerrechtlers Friedrich Berber, der vor 1933 zu den republiktreuen Kräften gehörte, nach der nationalsozialistischen Machtergreifung aber bald zu einem engen Berater des späteren Außenministers Joachim von Ribbentrop aufrückte.11 Ein aufschlussreiches Dokument für den scheinbar bruchlosen Übergang der Forschungsabteilung von der Weimarer Republik zum „Dritten Reich“ wurde das erste und einzige Heft ihres Jahrbuches „Zum Neubau der Verfassung“: Es war im Jahr 1932 konzipiert, am 15. Januar 1933 abgeschlossen und im April 1933
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Vgl. Hans Thierbach (Hrsg.): Adolf Grabowsky. Leben und Werk, Köln 1963. Adolf Grabowsky: Staat und Raum. Grundlagen räumlichen Denkens in der Weltpolitik, Berlin 1928 und Adolf Grabowsky: Raum, Staat und Geschichte. Grundlegung der Geopolitik, Köln 1960. Vgl. Rainer Sprengel: Kritik der Geopolitik. Ein deutscher Diskurs 1914 - 1944, Berlin 1996. Vgl. Reinhard Blomert/Hans Eßlinger/ Norbert Giovannini (Hrsg.): Heidelberger Sozial- und Staatswissenschaften. Das Institut für Sozial- und Staatswissenschaften zwischen 1918 und 1958, Marburg 1997. Vgl. dessen beschönigende Lebenserinnerungen: Friedrich Berber: Zwischen Macht und Gewissen, hrsg. von Ingrid Strauß, München 1986; zur Tätigkeit an der DHfP ebda., 51 ff.
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veröffentlicht worden.12 Lediglich Sigmund Neumann, der als Dozent und Archivar an der DHfP ein Gründer der deutschen Parteienforschung wurde, wies in ergänzender Fußnote darauf hin, dass die „inzwischen vollzogene große Umwälzung“ manche seiner Beobachtungen über die gesellschaftlichen Ursachen der Weimarer Verfassungskrise inzwischen zu historischen Feststellungen habe werden lassen.13 Andere Autoren wie Max Hildebert Boehm, Otto Koellreutter und Arnold Koettgen brauchten ihren Analysen über die Verfassungskrise nichts hinzuzufügen, versprachen doch die Nationalsozialisten den von ihnen als notwendig erachteten konservativ-autoritären Neubau der Verfassung. Während beim Lehrpersonal der DHfP im Laufe der Weimarer Jahre ein Bedeutungszuwachs von konservativen und selbst rechtsextremen Positionen zu verzeichnen war, sah die politische Vielfalt auf der Ebene der Studierenden anders aus.14 Bei den Wahlen zum Hörerausschuss erreichten die Sozialdemokraten auch noch im Februar 1933 43 Prozent, die den demokratischen Parteien der Mitte nahestehende überparteiliche Liste 16 Prozent und die Kommunisten 19 Prozent, während sich die Deutschnationalen mit sieben Prozent und der Nationalsozialistische Studentenbund mit knapp 15 Prozent zufrieden geben mussten, ganz im Gegensatz zu den großen Erfolgen der Nationalsozialisten bei den Studentenwahlen an den deutschen Universitäten seit 1928. 3. Hochschule für Politik nach 1933 Mit der Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933 stand auch die Existenz der Deutschen Hochschule für Politik, von manchen Nationalsozialisten als „marxistische Brutstätte“ geschmäht, auf dem Spiel. Doch Ernst Jäckh als der Gründer und Präsident der Institution versuchte zu retten, was zu retten war. Dabei stützte sich Jäckh auf den Kontakt zu einem rechtskonservativen Dozenten der Hochschule, der im Februar 1932 in die NSDAP eingetreten war und nach deren Regierungsantritt ins Zentrum der Macht aufstieg: Hans Heinrich Lammers hatte als ausgebildeter Jurist und angesehener Verwaltungsrechtler im Reichsministerium des Innern in der Weimarer Republik Karriere gemacht, obwohl er als überzeugter Monarchist die parlamentarisch-demokratische Republik entschieden ablehnte.15 Er übernahm 1928 einen verwaltungsrechtlichen Lehrauftrag an der DHfP. Lammers wurde am 30. Januar 1933 Staatssekretär in der Reichskanzlei, weil Hitler an dieser Stelle keinen politischen Funktionär, sondern einen hochqualifizierten Ministerialbeamten wollte. In dieser Funktion hat Lammers, der 1937 zum Reichsminister und Chef der Reichskanzlei avancierte, als „Notar des Reiches“ (Albert Speer) fungiert und den Zugang zum Führer reguliert. Dieser „anständige Nationalsozialist“, so Ernst Jäckh, vermittelte diesem eine Unterredung mit Adolf Hitler über das Schicksal der Deutschen Hochschule für Politik, die am 1. April 1933 in der Reichskanzlei stattfand.16 Jäckh erreichte, dass Reichspropagandaminister Goebbels, dem die Hochschule für Politik (HfP) – das Adjektiv „Deutsche“ wurde aufgegeben – 12 13 14
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Fritz Berber (Hrsg.): Zum Neubau der Verfassung (= Jahrbuch für Politische Forschung, Bd. 1), Berlin 1933. Sigmund Neumann: Die Bedeutung des gesellschaftlichen Aufbaus für die Verfassungsstruktur in Deutschland, in: Zum Neubau der Verfassung, 56 mit Anm. 1. Vgl. Detlef Lehnert: “Schule der Demokratie” oder “politische Fachhochschule”? Anspruch und Wirklichkeit einer praxisorientierten Ausbildung der Deutschen Hochschule für Politik 1920-1933, in: Gerhard Göhler / Bodo Zeuner (Hrsg.): Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Politikwissenschaft, BadenBaden 1991, S. 65-93,, bes. 80 ff. und Missiroli: Hochschule, bes. 95ff. Vgl. Dieter Rebentisch: Lammers, Hans Heinrich, in: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Neue Deutsche Biographie, Bd. 13, Berlin 1982, Sp. 449-450. Jäckh hat später in seinen Erinnerungen, wenn auch beschönigend und eitel, über diese Audienz berichtet: Ernst Jäckh: Weltsaat. Erlebtes und Erstrebtes, Stuttgart 1960, 129-141, abgedruckt in: Missiroli: Hochschule, 158-169.
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nach der nationalsozialistischen Machtergreifung unterstand, diese nicht gleichschaltete oder liquidierte, sondern in einem Vertrag mit Jäckh die Auszahlung aller rückständigen Gehälter auch an die jüdischen und schon ins Ausland geflohenen Dozenten und Angestellten der Hochschule zusagte. Die Verhandlungen führten zu dem Ergebnis, dass die obrigkeitliche Gleichschaltung der Institution zugunsten einer „Selbstgleichschaltung“ (Karl Dietrich Bracher) unter günstigeren Bedingungen vermieden werden konnte. Die Hochschule wurde unter einem Kommissar des Reichspropagandaministeriums in Personal und Lehrinhalten zu einer nationalsozialistischen Schulungsanstalt umgestaltet.17 Anstelle von Jäckh übernahm Paul Meier das Regiment, der sich nach seinem Aufstieg zum Präsidenten der Hochschule nach seinem Geburtsort im Harz Meier-Benneckenstein nannte. Er war ausgebildeter Volksschullehrer, aber 1931 wegen Agitation für die NSDAP aus dem preußischen Schuldienst entlassen worden, und hatte sich danach in der Schulungs- und Propagandaarbeit der Partei Meriten erworben. Am 1. April 1933 wurde er Referent im Reichspropagandaministerium und von Joseph Goebbels bald darauf als Kommissar und im November 1933 als Präsident der Hochschule für Politik eingesetzt. Dieser eher biedere und schwerfällige „alte Kämpfer“ mit goldenem Parteiabzeichen leitete die Gleichschaltung der Deutschen Hochschule für Politik.18 Etwa ein Fünftel des Lehrkörpers der DHfP überstand den Regimewechsel. Dazu zählten mit Max Hildebert Boehm und Heinrich Lammers insbesondere jene rechtskonservativen Dozenten, die sich schon in der Weimarer Republik offen gegen die parlamentarischdemokratische Verfassungsordnung ausgesprochen hatten. Auch Arnold Bergstraesser lehrte weiterhin nicht nur an der Universität Heidelberg, sondern auch an der Berliner Hochschule für Politik. Dieser von der Jugendbewegung und dem George-Kreis inspirierte Schüler Alfred Webers, der zunächst die Weimarer Demokratie befürwortet hatte und in der Deutschen Demokratischen Partei aktiv war, entwickelte sich unter dem Eindruck der gesellschaftlichen und politischen Krisenerscheinungen der Republik immer mehr zu einem Anhänger autoritärer Lösungen.19 In diesem Sinne begrüßte er nach dem Januar 1933 die Machtergreifung der Nationalsozialisten als „Ersetzung der demokratisch-parlamentarischen Willensbildung durch die autoritär-diktatorische“ und befürwortete die „deutsche nationale Revolution als Neubegründung des Staates“.20 Bergstraesser, ein so genannter „jüdischer Mischling“, wurde als Frontsoldat zunächst von dem neuen Regime geduldet, verlor aber 1936 endgültig seine Lehrbefugnis und ging im Jahr darauf in die amerikanische Emigration. Zahlreiche neue Lehrkräfte wurden aus dem Ministerial- und Parteiapparat angeworben. Als prominentester neuer ständiger Dozent kann Albrecht Haushofer angesehen werden, der im Wintersemester 1933/34 die Leitung des Geopolitischen Seminars der Hochschule von Adolf Grabowsky übernahm. Dieser war nach der nationalsozialistischen Machtübernahme abgesetzt worden, auch als Mitherausgeber und Schriftleiter der „Zeitschrift für Politik“, und musste im Juli 1934 in die Schweiz emigrieren, obwohl sein Eröffnungsbeitrag für den Jahresband 1933 über „Außenpolitik und nationale Revolution“ durchaus im Geiste des neuen 17
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Zur Geschichte der Hochschule für Politik im Dritten Reich vor allem Ernst Haiger: Politikwissenschaft und Auslandswissenschaft im „Dritten Reich“. (Deutsche) Hochschule für Politik 1933-1939 und Auslandswissenschaftliche Fakultät der Berliner Universität 1940-1945, in: Gerhard Göhler/Bodo Zeuner (Hrsg.): Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Politikwissenschaft, Baden-Baden 1991, 94-136; Rainer Eisfeld: Ausgebürgert und doch angebräunt. Deutsche Politikwissenschaft 1920-1945, Baden-Baden 1991; Rainer Eisfeld: German Political Science at the Crossroads. The Ambivalent Response to the 1933 Nazi Seizure of Power, in: Rainer Eisfeld/Michael Greven/Hans Karl Rupp (Hrsg.): Political Science and Regime Change in 20th Century Germany, Commack/New York 1997, 17-53. Vgl. Eisfeld: Ausgebürgert, 107ff. Vgl. Horst Schmitt: Ein „typischer Heidelberger im Guten wie im Gefährlichen“. Arnold Bergstraesser und die Ruperto Carola 1923-1936, in: Blomert/Eßlinger/Giovannini (Hrsg.): Heidelberger Sozial- und Staatswissenschaften, 168-196. Arnold Bergsträsser: Nation und Wirtschaft, Hamburg 1933, 31.
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Regimes ausgefallen war.21 Haushofer als sein Nachfolger an der HfP hatte sich als Anhänger der politischen Strömung der „Jungkonservativen“ als entschiedener Kritiker der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik profiliert, war aber kein Mitglied der NSDAP.22 Er genoss, obwohl er „Vierteljude“ war, wie sein Vater Karl Haushofer (1869–1946), der als bayerischer Generalmajor im Ersten Weltkrieg gedient hatte und danach als Professor in München die Schule der Geopolitik begründete, die Protektion von Rudolf Heß als dem „Stellvertreter des Führers“ und wurde während des Dritten Reiches in zahlreiche Beraterfunktionen insbesondere für das Auswärtige Amt berufen. Nachdem Heß im Mai 1941 nach England geflogen war, wurde sein Schützling erstmals für kurze Zeit inhaftiert. Haushofer, der mit seinen antidemokratischen Einstellungen und geopolitischen Großraumkonzeptionen dem Ideengut des Nationalsozialismus nahe stand, aber die Mentalität und Praxis seiner Herrscher verabscheute, wurde nach dem Aufstand vom 20. Juli 1944 erneut verhaftet und im April 1945 ermordet. Ein ähnliches Schicksal erlitt auch der Reichsgerichtsrat Hans von Dohnanyi, der als qualifizierter Fachmann ohne Parteibuch ebenfalls nach 1933 an der Hochschule für Politik lehrte. Doch insgesamt sank das akademische Niveau der Institution, so war die Zahl der Hochschullehrer und Promovierten unter den Dozenten wesentlich niedriger als zu Weimarer Zeiten. Im Lehrplan der Hochschule23 wurde das Schwergewicht nach der Machtergreifung zunehmend auf auslandskundliche und außenpolitische Themen gelegt. Hinzu traten im Geiste des neuen Regimes Themen wie Propaganda, Wehrpolitik, Rassenkunde und Rassenpflege. Der informelle Sprachgebrauch von einer „Hochschule für Politik der NSDAP“ spiegelte ihren Anspruch auf eine Schulung von „Führern“. Doch da die nationalsozialistische Parteielite eher Vorbehalte gegen Akademiker und wissenschaftlich vorgebildete Politiker hatte, reduzierte sich die Zahl der an der Hochschule Studierenden von knapp 1.000 im Jahr 1933 auf weniger als 500 im Wintersemester 1937/38. Die Hochschule sank zu einer unter vielen Propagandaanstalten des nationalsozialistischen Regimes herab. Seit 1935 versuchten die Studentenschaft und vor allem die Dozentenschaft der HfP, deren Status anheben zu lassen. Hinter diesen Bemühungen um die staatliche Anerkennung des Diploms und das Promotions- und Habilitationsrecht standen Karriere- und Prestigeinteressen, vor allem wollten die ständigen Dozenten an der Hochschule zu Professoren aufrücken. Doch allen Versuchen zum Trotz blieb die Hochschule für Politik auch in den folgenden Jahren eine Schmalspurhochschule, weder von der akademischen Welt der Universitäten noch den Politikern wirklich anerkannt. Joseph Goebbels war wahrscheinlich froh, als die Hochschule 1937 durch die Umwandlung in eine „Anstalt des Reiches“ aus seinem Verantwortungsbereich ausschied. 1940 ging die Hochschule für Politik in der „Auslandswissenschaftliche Fakultät“ der Berliner Universität auf, deren Entstehung in einem anderen Zusammenhang der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik auf dem Gebiet der Politischen Wissenschaften zu sehen ist. Die 1948/49 in Westberlin wieder gegründete „Deutsche Hochschule für Politik“, aus der 1959 das Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität Berlin als lange Zeit führende und größte politikwissenschaftliche Institution der Bundesrepublik hervorging, stand nicht in der Rechtsnachfolge dieser nationalsozialistischen Institution, sondern bezog sich auf die demokratische Tradition der älteren „Deutschen Hochschule für Politik“ der Weimarer Zeit.
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Adolf Grabowsky: Außenpolitik und nationale Revolution, in: Zeitschrift für Politik 33 (1933), 1-6. Ursula Laack-Michel: Albrecht Haushofer und der Nationalsozialismus, Stuttgart 1974. Vgl. Eckert: Aufbau und Vorlesungsplan der Hochschule für Politik, in: Zeitschrift für Politik 24 (1934), 228-231.
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4. Politische Wissenschaften Die nationalsozialistischen Wissenschaftspolitiker und -ideologen hatten nach 1933 auch Vorbehalte gegen die von der Deutschen Hochschule für Politik verkörperte Tendenz zu einer eigenständigen Politikwissenschaft, weil sie darin einen Widerspruch zu ihrem breiteren Konzept von „politischen Wissenschaften“ sahen. Sie meinten damit kein eigenständiges Fach oder einen akademischen Fächerverbund, sondern die Politisierung aller Disziplinen im Sinne ihrer Ideologie.24 Vordenker einer Hochschul- und Wissenschaftsreform im Geiste der nationalsozialistischen Ideologie war der Pädagoge Ernst Krieck, der 1933 Rektor der Universität Frankfurt am Main wurde. Krieck plädierte für eine „Revolution der Wissenschaft“, durch welche Sein und Sollen unter dem Primat des „völkisch-politischen Lebensganzen“ wieder zusammengeführt werden sollten. Auf der Basis dieses integrationistisch-politischen Wissenschaftsverständnisses lehnte er eine selbstständige Politikwissenschaft entschieden ab, weil das Politische nicht zum Gegenstand einer eigenen Disziplin gemacht werden dürfe, sondern alle Wissenschaften zu durchdringen habe.25 In der völkischen Ordnung des Dritten Reiches sollten alle Fächer politische Wissenschaften im Sinne von Weltanschauungswissenschaften sein. Subtiler ist das Konzept der „politischen Wissenschaften“ von Hans Freyer begründet worden, der seit 1925 an der Universität Leipzig den ersten deutschen Lehrstuhl für Soziologie innehatte. Freyer wollte als Kritiker der atomisierenden und entfremdenden Auswirkungen des modernen Kapitalismus die antagonistischen Gesellschaftsstrukturen, die Kluft zwischen Macht und Geist, die Zersplitterung der Einzelwissenschaften sowie die Dichotomie von wissenschaftlicher Realanalyse und normativer Bewertung in einer neuen Einheit überwinden.26 Dieses Werk der Synthese erhoffte sich der Hegelianer und Anhänger einer „Revolution von rechts“ von den Nationalsozialisten, und an diese wandte sich Freyer mit der Forderung, die herkömmlichen Einzelwissenschaften zu „politischen Wissenschaften“ zu revolutionieren.27 Dieses nationalrevolutionäre Konzept von „politischen Wissenschaften“ lag auch einem programmatischen Aufsatz über „Politische Wissenschaft im neuen Deutschland“ zugrunde, den 1934 der Freyer-Schüler Karl Heinz Pfeffer in einer auslandswissenschaftlichen Zeitschrift publizierte.28 Pfeffer hatte in diesem Jahr nach Studien der Anglistik, Geschichte und Staatswissenschaften nicht nur an vielen deutschen Universitäten, sondern auch an der Stanford University, in Paris, der London School of Economics und selbst im australischen Sydney an der Universität Leipzig eine Soziologiedozentur erhalten. Pfeffer skizzierte in diesem Aufsatz nicht nur die historische Vielfalt der Staatswissenschaften in Deutschland, sondern vor dem Hintergrund seiner internationalen Erfahrungen auch die Sciences Politiques in Frankreich und die Political Science in England sowie den USA. Doch diese in- und ausländischen 24 25 26 27
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Vgl. Geoffrey Giles: Die Idee der politischen Universität, in: Manfred Heinemann (Hrsg.): Erziehung und Schulung im Dritten Reich, Stuttgart 1980, Bd.2, 50-60. Ernst Krieck: Gibt es eine Wissenschaft von der Politik?, in: Ernst Krieck:Wissenschaft, Weltanschauung, Hochschulreform, Leipzig 1934, 55-60. Zu Freyers Leben und Werk vgl. Rolf Peter Sieferle: Die konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen, Frankfurt/Main 1995, 164-197und Elfriede Üner: Soziologie als „geistige Bewegung“. Hans Freyers System der Soziologie und die „Leipziger Schule“, Weinheim 1992. Ähnlich, aber nicht zu verwechseln mit diesem Programm allumfassender „politischer Wissenschaften“ war die Forderung des nationalsozialistischen Öffentlichrechtlers Ernst Rudolf Huber nach einem umfassenden System „deutscher Staatswissenschaft“. Darunter verstand Huber in Anlehnung an die „gesamten Staatswissenschaften“ des 19. Jahrhunderts, wie sie insbesondere Robert von Mohl vertreten hatte, ein geschlossenes Wissenschaftssystem mit Volkslehre (früher Soziologie), Staatslehre (Verfassungsgeschichte und Verfassungsrecht, Ständelehre, korporative Verbände), Wirtschaftslehre und Rechtslehre als den Einzelzweigen einer politischen Gesamtwissenschaft. Ernst Rudolf Huber: Die deutsche Staatswissenschaft, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 95 (1935), 1-65. Vgl. Ralf Walkenhaus: Konservatives Staatdenken. Eine wissenssoziologische Studie zu Ernst Rudolf Huber, Berlin 1997, insb.: 209-217. Karl Heinz Pfeffer: Wissenschaft im neuen Deutschland, in: Hochschule und Ausland 12 (1934), 38-47.
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Erscheinungen konnten seiner Ansicht nach nicht als Vorbilder für das weltanschaulich andersartige Dritte Reich dienen, hier sollten vielmehr „die zerfaserten Einzelwissenschaften wieder zusammengebunden [werden] in der selbstverständlichen Kraft der nationalsozialistischen Weltanschauung“. Programmatisch fügte Pfeffer hinzu: „Die bisherigen Wissenschaften über politische Tatsachen werden jetzt selbst politisiert, werden jetzt erst aus ausgegliederten Bildungswissenschaften zu politischen Wissenschaften. Sie richten sich inhaltlich und formal auf die neue Wirklichkeit aus.“29 Die intellektuellen Wortführer einer „nationalen Revolution“ nicht nur auf den Gebieten von Staat und Gesellschaft, sondern auch der Wissenschaften wollten keine „Politische Wissenschaft“ in der Einzahl als Bezeichnung eines Faches, sondern gaben mit der Kleinschreibung des Adjektivs und der Mehrzahl von „politischen Wissenschaften“ ihrem neuen, durchpolitisierten Verständnisses aller Fachdisziplinen einen begrifflichen Ausdruck. Diesen wortreichen Programmen zur Revolution der deutschen Wissenschaften ließ man auch Taten folgen. Für Hans Freyer war es nur konsequent, dass er zum Wintersemester 1934/35 seine Leipziger Professur für Soziologie in ein Ordinariat für „Politische Wissenschaften“ umwandeln ließ.30 Als Vorschlag zur umfassenden Universitätsreform hatte Freyer bereits 1933 ein „politisches Semester“ gefordert, in welchem die Studierenden aller Fakultäten nicht nur vor Beginn des Fachstudiums in den „politischen Wissenschaften“ geschult, sondern auch in Anknüpfung an bündische Traditionen der Jugendbewegung in Gemeinschaftslagern zu einem neuen „Ethos der Arbeit“ erzogen werden sollten.31 Diese Ideen sind auch in den Dozentenlagern umgesetzt worden, an denen im Dritten Reich alle Habilitanden teilnehmen mussten. Am weitesten reichten die organisatorischen Schlussfolgerungen aus dem neuen politischen Wissenschaftsideal bei Ernst Krieck, der die herkömmliche Gliederung in Fakultäten als ein trennendes Prinzip durch die Orientierung der Wissenschaften an der „völkisch-politischen Zentralidee“ ersetzen wollte. Manche dieser mit dem Prinzip der „politischen Wissenschaften“ begründeten Umwälzungen der hergebrachten Inhalte und Strukturen von akademischer Lehre und Forschung im Zeichen der völkischen Einheit sind an den sogenannten Grenzlanduniversitäten in Kiel, Breslau, Königsberg und nach der Eroberung des Elsaß in Straßburg durchgeführt worden, welche die Nationalsozialisten durch ihre Berufungspolitik zu Vorbildern „politischer Hochschulen“ machen wollten.32 Doch insgesamt sind diese hochfliegenden Pläne von rechtskonservativen und völkischen Gelehrten zur Umgestaltung der Universitäten im Geiste der „nationalen Revolution“ bald gescheitert. Nach 1936/37 setzte das Regime nicht mehr auf die revolutionäre Veränderung der Gesellschaft, sondern auf die planmäßige Vorbereitung des Krieges. Damit waren im Bereich der Wissenschaften nicht mehr die großen ideologischen Entwürfe, sondern exakte Einzelforschungen als Beiträge zur Stabilisierung der Herrschaft im Inneren und vor allem zur Planung der Großraumexpansion nach Außen gefragt. In diesem Zusammenhang wurde die Auslandswissenschaft in den Rang einer nationalsozialistischen Politischen Wissenschaft par excellence erhoben.
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Pfeffer: Wissenschaft, 43 u. 45. Im entsprechenden Abschnitt des Leipziger Vorlesungsverzeichnisses kündigte Freyer für das Wintersemester 1934/35 zwei Kollegs über „Das Zeitalter des Kapitalismus“ und „Probleme des nationalen Sozialismus“ sowie eine Übung über das „19. Jahrhundert in Frankreich“ und ein Seminar über „Fragen der Außenpolitik und des Auslandsdeutschentums“ an. Hans Freyer: Das politische Semester. Ein Vorschlag zur Universitätsreform, Jena 1933. Vgl. Ralf Walkenhaus: Die Kieler Grenzlanduniversität und das Konzept der „politischen Wissenschaften“ im Dritten Reich - gab es eine „Kieler Schule“?, in: Wilhelm Bleek/Hans J. Lietzmann (Hrsg.): Schulen der deutschen Politikwissenschaft, Opladen 1999, 159-182.
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5. Auslandswissenschaften Anfang 1940 wurde der Berliner Universität eine eigenständige „Auslandswissenschaftliche Fakultät“ oktroyiert.33 Diese in der deutschen Hochschultradition neuartige und einmalige Fakultät ging allerdings auf vielfältige Vorläufer zurück, die keineswegs nur dem antidemokratischen und imperialistischen Gedankengut verbunden waren, das zum Nationalsozialismus geführt hatte. Schon im Kaiserreich war eine Reichshochschule für Auslandswissenschaften gefordert worden; das 1887 an der Berliner Universität errichtete Seminar für orientalische Sprachen hatte entgegen seiner Bezeichnung keine primär philologische Bestimmung, sondern diente vor allem der landeskundlichen Ausbildung von Diplomaten und Kolonialbeamten. Im Gegensatz zu den Projekten einer in Berlin angesiedelten Reichsinstitution forderte C. H. Becker 1917 in einer Denkschrift, durch die Etablierung von Auslandsstudien an allen Universitäten eine „gediegene staatswissenschaftliche Bildung in Bezug auf das Ausland“ zu sichern.34 Wenige Jahre später legte der Frankfurter Anglist Wilhelm Dibelius mit seiner politischen Landeskunde Großbritanniens ein exemplarisches Werk für den bei ihm erstmals als „Auslandswissenschaften“ bezeichneten interdisziplinären Bereich vor.35 Zu den Bemühungen um die Institutionalisierung von Auslandswissenschaften gehörte auch die 1924 errichtete Heidelberger Stiftungsprofessur für „Staatswissenschaften, vornehmlich Auslandskunde“. 1932 übernahm diesen Lehrstuhl Arnold Bergstraesser, der sich zuvor durch die Publikation seines mit Ernst Robert Curtius verfassten Frankreich-Buches einen einschlägigen Ruf verschafft hatte und das bildungspolitische Programm von Auslandsstudien auch in der Gründung des (Deutschen) Akademischen Austauschdienstes umsetzte.36 1935 setzten zwischen den Machtträgern und Behörden des Dritten Reiches erneute Überlegungen ein, das Berliner Seminar für Orientalische Sprachen und weitere Institute einschließlich der Hochschule für Politik zu einer „Auslands-Hochschule“ zu bündeln und auszubauen.37 In die komplizierten Verhandlungen zwischen den Staats- und Parteiinstanzen intervenierte 1937 der Sicherheitsdienst (SD) der SS mit Reinhard Heydrich an der Spitze und forderte eine eigenständige Auslands-Hochschule als Zentrum akademischer „Gegnerforschung“. Schließlich einigten sich die polykratischen Kräfte des Systems im Oktober 1939, kurz nach Kriegsausbruch, auf die Errichtung einer eigenständigen Auslandswissenschaftlichen Fakultät an der Berliner Universität und eines parallelen „Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts“ (DAWI), die beide durch Erlass des Reichsministers für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung vom 5. Januar 1940 errichtet wurden. Der Hauptsitz der Auslandswissenschaftlichen Fakultät und des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts wurde die von der Deutschen Hochschule für Politik übernommene Schinkelsche Bauakade33
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Vgl. neben dem Aufsatz von Ernst Haiger: Politikwissenschaft und Auslandswissenschaft im „Dritten Reich“ (1991) vor allem die informative Dissertation am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin: Gideon Botsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Deutschen Auslandswissenschaften“ im Einsatz 1940-1945, Paderborn 2006. Carl Heinrich Becker: Die Denkschrift des preußischen Kultusministeriums über die Förderung der Auslandsstudien (1917), in: ders.: Ausgewählte Schriften, hrsg.von Guido Müller, Bonn 1997, 157-170, Zitat auf 163. Wilhelm Dibelius: England, Stuttgart 1923, 2. Aufl. 1924. Zitat im Vorwort auf XIV. Vgl. Ernst Robert Curtius/Arnold Bergsträßer: Frankreich, Bd. 2: Staat und Wirtschaft Frankreichs, von Arnold Bergsträßer, Stuttgart 1930 und Arnold Bergsträßer: Sinn und Grenzen der Verständigung zwischen Nationen, München/Leipzig 1930. Die Leitung dieses vergrößerten Orientalistik-Instituts in Berlin wurde u.a. dem angesehenen Bonner Orientalistik-Professor Paul Kahle angeboten, der aber im Hinblick auf die politischen Dimensionen des Projekts und die Bedenken seiner Familie ablehnte. Die Familie Kahle musste im Februar 1939 aus Deutschland fliehen, nachdem die Mutter und ihre Söhne einer jüdischen Geschäftsfrau beim Aufräumen des beim Pogrom vom 10. November 1938 verwüsteten Ladens geholfen hatten. Vgl. John H. Kahle/Wilhelm Bleek (Hrsg.): Marie Kahle: Was hätten Sie getan? Die Flucht der Familie Kahle aus Nazi-Deutschland - Paul Kahle, Die Universität Bonn vor und während der Nazi-Zeit (1923-1939), Bonn 2. Aufl. 2003, bes. 140f.
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mie, die auch das Signet des DAWI und der von ihm seit 1940 herausgegebenen „Zeitschrift für Politik“ schmückte. Nach dieser Vorgeschichte der Auslandswissenschaftlichen Fakultät war nur konsequent, dass mit dem Professor und damaligen SS-Obersturmbannführer sowie Abteilungsleiter im SD Franz Alfred Six der Prototyp eines nationalsozialistischen politischen Wissenschaftlers das Amt des Dekans dieser achten Berliner Fakultät und des Präsidenten des DAWI übernahm.38 Six, eine der schillerndsten Figuren des Dritten Reiches auf dem Grenzgebiet von Politik, Propaganda und Wissenschaft, war 1910 als Sohn eines Möbelhändlers geboren, trat schon 1930 als Oberprimaner der NSDAP bei und machte anschließend im Nationalsozialistischen Studentenbund Karriere. Er übernahm 1933 an der Universität Heidelberg im Institut für Zeitungswissenschaft eine Assistentenstelle und wurde im Jahr darauf mit einer Dissertation über „Die politische Propaganda der NSDAP im Kampf um die Macht“ unter der Betreuung von Arnold Bergstraesser promoviert.39 Dieser hatte damals am Heidelberger Institut für Staats- und Sozialwissenschaften noch die Stiftungsprofessur für Staatswissenschaft und Auslandskunde inne. Er begutachtete die Dissertation von Six wegen ihrer „Verbindung äußerster Realistik und analytischer Kühle“ sehr positiv.40 Ob der Doktorvater damit die folgende Feststellung seines Doktoranden meinte: „Der Ostgalizier, der dicke fette Jude, der Bonze, die Ballonmütze des Sozialdemokraten und das Grinsen des kommunistischen Untermenschen hatten sich dank der zielbewußten Aufklärung der nationalsozialistischen Bewegung bald in das Gedächtnis der Massen eingegraben.“41? Zwei Jahre später habilitierte sich Six mit einer Untersuchung über „Die Presse der nationalen Minderheiten im Deutschen Reich“, in welcher er sehr knapp über die polnischen, wendischen und dänischen Publikationen und deren „unzweideutige Feindschaft gegen die Staatsform des Wirtlandes“ berichtete.42 1938 wurde der nationalsozialistische Multifunktionär Six, der 1935 von der SA in die SS gewechselt und in deren Sicherheitsdienst avanciert war, außerordentlicher Professor für Zeitungswissenschaft, zunächst an der Universität Königsberg und im Jahr darauf an der Berliner Universität. Als Dreißigjähriger erreichte Franz Alfred Six 1940 den Gipfel seiner akademischen Karriere, als Heydrich ihn zum Dekan auf Lebenszeit der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Berliner Universität ernennen ließ. Six übernahm an der von ihm geführten Fakultät den Grundlagenlehrstuhl für „Außenpolitik und Auslandskunde“. Er hatte sein eigenes Arbeitsgebiet zunächst als „politische Geistesund Zeitgeschichte“ und im ursprünglichen Verständnis der Nationalsozialisten als eine „politische Wissenschaft“ im Sinne der Einheit von akademischen Bemühungen und politischem Einsatz verstanden. Doch am besten charakterisiert seine Arbeiten und Intentionen der Begriff der „Gegnerforschung“, die Bezeichnung des von Six im September 1939 im neugegründeten Reichssicherheitshauptamt übernommenen Amtes II. Dem von ihm postulierten Zusammenhang zwischen politischer Wissenschaft, politische Geistesgeschichte und Gegnerforschung hat Six überaus prägnant in den „Grundlinien zur Errichtung eines Instituts für politische Geistes- und Zeitgeschichte“ Ausdruck gegeben, mit denen er im Februar 1939 einen umfassenden Förderungsantrag an die Deutsche Forschungsgemeinschaft begründete.43 Danach 38 39 40 41 42 43
Vgl. die höchst anschauliche Lebensbeschreibung von Lutz Hachmeister: Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München 1998. Franz Alfred Six: Die politische Propaganda der NSDAP im Kampf um die Macht, Diss. Heidelberg 1934. Vgl. die Zitate aus Bergstraessers Gutachten (Heidelberger Universitätsarchiv) in Hachmeister: Gegnerforscher, 72f. Six: Die politische Propaganda, 20. Zitiert nach: Eisfeld: Ausgebürgert, 130. Six ließ seine Habilitationsschrift mit der Begründung, sie enthalte staatspolitische Geheimnisse, sekretieren. Antrag Prof. Dr. Six an die DFG vom 12. Februar 1939, Bundesarchiv Koblenz, R 73 (Deutsche Forschungsgemeinschaft) Aktenummer 14779. Diesen Archivfund verdanke ich Lothar Mertens. Der Antrag könnte sich schon auf das Deutsche Auslandswissenschaftliche Institut beziehen, da Six bereits 1938 auf
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durfte sich die „Bekämpfung des weltanschaulichen Gegners“ nicht darauf beschränken, „ihn zu erfassen und zu bekämpfen“. „Es ist vielmehr erforderlich, die aufklärende Erkundung bis ins innerste Zentrum des Gegners vorzutreiben. Damit würde zweierlei gewonnen: 1. Die Möglichkeit, die äußere Bekämpfung auf weite Sicht zu planen und zu leiten, 2. Die Möglichkeit, den Gegner von innen her aktiv zu schwächen.“44 Diese Analyse des Gegners sei nur zu „leisten mit Hilfe einer umfassenden politischen Geisteswissenschaft, die den Nationalsozialismus zum absoluten Wertmesser des geistigen Gesamtgeschehens macht.“ Anknüpfend an den Begriff des Politischen von Carl Schmitt, der auf der fundamentalen Unterscheidung von Freund und Feind beruht45, galt Six und anderen politischen Wissenschaftlern im Nationalsozialismus Politik als weltanschaulicher Kampf gegen die als Gegner wahrgenommenen weltanschaulichen Kräfte, „den Marxismus, das Judentum, die Freimaurerei und die mit politischem Anspruch ausgestatteten Religionsformen der christlichen Kirchen“46. Der Wissenschaft wurde die Aufgabe zugewiesen, diese Gegner zu identifizieren und ihre inhaltlichen und organisatorischen Strukturen zu analysieren, bevor sie in der Praxis bekämpft und vernichtet werden konnten. Nachdem die Gegner im Innern des Reiches unterdrückt worden waren, setzten sich die politischen Wissenschaftler des Nationalsozialismus nach Beginn des Zweiten Weltkrieges die Bekämpfung und Eroberung ihrer ausländischen Rückzugsgebiete und die gleichzeitige Gewinnung von Verbündeten im Ausland, zunächst in Europa, zum Ziel.47 Wenn Six in den Jahren des Zweiten Weltkrieges neben der Führung der Auslandswissenschaftlichen Fakultät sowie des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts und seinen SS- und SD-Einsätzen noch Zeit für eigene wissenschaftliche Publikationen blieb, dann widmete er sie der historischen und ideologischen Konzeption eines europäischen Staatensystems unter der Führung Großdeutschlands. Schon bei der Übernahme der Herausgabe der „Zeitschrift für Politik“ hatte Six zusammen mit dem Mitherausgeber Wilhelm Ziegler, Ministerialrat im Reichspropagandaministerium, dieser Publikation als „Sprachrohr auslandswissenschaftlicher Forschung und Lehre“ die Aufgabe zugewiesen, „Form und Inhalt einer von Deutschland ausgehenden Neuordnung herauszuarbeiten“.48 Dabei verstand Six das nationalsozialistische Reich unter Rückgriff auf den mittelalterlichen Reichsgedanken als den Kern Europas, dessen abendländische Kultur es gegen die bolschewistische Gefahr aus dem Osten und die welthegemonialen Ansprüche der USA zu verteidigen gelte.49 Für Six war die Gegnerforschung und die mit ihr verbundene Auslandswissenschaft notwendiger Bestandteil einer umfassend verstandenen Kulturpolitik. So kam den politischen wie wissenschaftlichen Interessen dieses politischen Wissenschaftlers entgegen, dass er zum 1. April 1943 die Leitung der Abteilung Auswärtige Kulturpolitik im Auswärtigen Amt übernehmen konnte. Six trat danach zwar von seinem Amt als Dekan der Auslandswissenschaftlichen Fakultät zurück, blieb aber bis Kriegsende formal der Präsident des DAWI und veröffentlichte in den Publikationen des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts.50 Noch
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Betreiben von Heydrich zum Kommissar bei den Gründungsbemühungen von Auslandswissenschaftlicher Fakultät und Institut ernannt worden war. Vgl. Hachmeister: Gegnerforscher, 116ff. Antrag Prof. Dr. Six an die DFG, 1. Das folgende Zitat auf 4. Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen (erstmals 1928), Hamburg 1932. Diese Definition der zu erforschenden Gegner findet sich im DFG-Antrag von Six: Grundlinien, 2 f. Dieses Programm der weltanschaulichen Gegnerbekämpfung durch eine geistesgeschichtliche Analyse setzte Six in Vorträgen und Beiträgen aus den Jahren 1937 bis 1940 über die „Weltmaurerei“ und ihre jüdischen wie christlichen Wurzeln um: Franz Alfred Six: Studien zur Geistesgeschichte der Freimaurerei, Hamburg 1942. Franz Alfred Six/Wilhelm Ziegler: Zum Geleit, in: ZfP 31 (1941), 2. Vgl. die Reden und Aufsätze aus den Jahren 1938 bis 1943: Franz Alfred Six: Europa. Tradition und Zukunft, Hamburg 1944. So berichtete Six von 1941 bis 1944 jährlich über die Arbeit des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts in der Zeitschrift für Politik: 1941, 733 ff.; 1942, 823 ff.; 1943, 512 ff. und 1944, 393 ff.
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im März 1945 erschien von Six in der „Zeitschrift für Politik“ ein Tagungsbericht, in dem er ganz auf der Linie nicht nur seiner weltanschaulichen Gegnerforschung, sondern auch der von Joseph Goebbels seit der Kriegswende im November 1942 propagierten „Verteidigung des Abendlandes gegen den Bolschewismus“ die „Europäische Schicksalsgemeinschaft“ beschwor.51 Das Dekansamt der Auslandswissenschaftlichen Fakultät übernahm nach Six‘ Ausscheiden Karl Heinz Pfeffer. Dieser war 1940 von seiner bereits erwähnten Leipziger Soziologiedozentur an die neugegründete Berliner Fakultät zunächst als außerordentlicher und bald darauf ordentlicher Professor für Volks- und Landeskunde Großbritanniens und des Empires berufen worden. Lagen die Talente von Six mehr in der Organisation, insbesondere von Kulturpolitik und Propaganda, so konnte Pfeffer eine internationale und respektable akademische Karriere vorweisen.52 Er war Ende 1933 Mitglied der SA und nach der Lockerung der Aufnahmesperre 1937 auch der NSDAP geworden, war überzeugter Nationalsozialist, ohne sich wie Six auf eine Karriere in Partei und SS zu konzentrieren. Der mit einer Britin verheiratete Anglist war 1931 mit einer von Wilhelm Dibelius betreuten Arbeit über „England im Urteil der amerikanischen Literatur vor dem Bürgerkrieg“ promoviert worden und habilitierte sich 1934 unter Hans Freyer mit einer Studie über „Die bürgerliche Gesellschaft Australiens“. Neben diesen ausgeprägten Forschungsinteressen auf dem Gebiet der Landeskunde Großbritanniens und seiner Empire profilierte sich Pfeffer in der Methoden- und Theoriediskussion um die „Politischen Wissenschaften“, veröffentlichte nach dem bereits erwähnten ersten Aufsatz von 1934 im Jahr 1942 einen programmatischer Beitrag über „Begriff und Methode der Auslandswissenschaften“.53 In diesem Aufsatz stellte Pfeffer die Auslandswissenschaften in die deutsche Tradition der Kameral- und gesamten Staatswissenschaften sowie der Volkskunde. In der Tat erinnert die nachfolgende Funktionsbeschreibung der Auslandswissenschaften durch Pfeffer an die Göttinger Schule der Staatenkunde des ausgehenden 18. und des frühen 19. Jahrhunderts, auch wenn die von Pfeffer verwandte Metapher der Sprache des Weltkrieges geschuldet ist: „Der Flieger will vor dem Flug ins feindliche oder freundliche Land sorgfältige Wettermeldungen von seinem Meteorologen haben. [...] So braucht unser Volk politische Wettermeldungen und eine politische Geländekunde.“54 Diese zentrale Bedeutung von umfassenden Landeskunden im Spektrum der Auslandswissenschaften war bereits im Gründungserlass des Reichserziehungsministeriums für die Auslandswissenschaftliche Fakultät verankert worden, wonach dieser die Aufgabe zugewiesen wurde, „durch Lehre und Forschung die Kenntnis der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Auslandsbeziehungen des Reiches und die Kenntnis fremder Völker und Staaten zu fördern“.55 Dementsprechend hatten 20 der 30 Fachabteilungen der Fakultät wie des Instituts Volks- und Landeskunden zum Gegenstand, die von großen Staaten wie den USA, der Sowjetunion und Großbritannien mit seinem Empire über Regionen wie Ostmittel- sowie Südosteuropa und Afrika bis hin nach Persien und zur Türkei reichten.56 Neben diesen landes- und volkskundlichen Fachabteilungen standen zehn politische Grundwissenschaften: Außenpolitik und Auslandskunde, Politische Geistesgeschichte, Außenwirtschaft, Politische Geschichte, Überseegeschichte und Kolonialgeschichte, Politische Geographie und Geopolitik, Volks51 52 53 54 55 56
Franz Alfred Six: Europäische Schicksalsgemeinschaft, in: Zeitschrift für Politik 35 (1945), 35-36. Ähnlich bereits Karl Heinz Pfeffer: Die europäische Besinnung, in: Zeitschrift für Politik 34 (1944), 377-385. Zur Biographie Pfeffers: Botsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg, 268f. Karl Heinz Pfeffer: Begriff und Methode der Auslandswissenschaften, in: Jahrbuch der Weltpolitik 1942, 884-896. Ebenda, 896. Zitiert bei Botsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg, 70. Zahlreiche knappe, aber umfassende Landeskunden, die jeweils Kapitel über Raum, Volk, Staat, Kultur, Wirtschaft und Wehrmacht eines Landes enthielten, erschienen in der Schriftenreihe „Kleine Auslandskunde“, z. B. Karl Heinz Pfeffer: Die Britischen Dominions (Kleine Auslandskunde 5), Berlin 1940.
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tumskunde und Volksgruppenfragen, Staats- und Kulturphilosophie, Rechtsgrundlagen der Außenpolitik sowie Wehrpolitik des Auslandes. In diesen insgesamt 30 Abteilungen lehrten an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät 38 Professoren, 6 Dozenten und 41 Lehrbeauftragte.57 Zu den Lehr- und Forschungsgegenständen der beiden auslandswissenschaftlichen Institutionen gehörten auch die Volks- und Auslandsdeutschen. Bereits in der Weimarer Republik waren an der Deutschen Hochschule für Politik und insbesondere am rechtskonservativen Politischen Kolleg jene Deutschen, die durch die Grenzziehungen des Versailler Vertrages zu nationalen Minderheiten geworden waren, zum Gegenstand von Forschung, Lehre und politischer Agitation geworden. Insbesondere die Professoren Max Hildebert Boehm und Karl Christian von Loesch profilierten sich in der Volkstumsarbeit, gründeten und leiteten nicht nur gemeinsam ein „Institut für Grenz- und Auslandsstudien“ in Berlin-Steglitz, sondern richteten auch 1930 an der DHfP ein „Deutschtumsseminar“ ein, das nach der nationalsozialistischen Machtergreifung zu einem „Volkstumsseminar“ umfirmiert wurde. Während Boehm 1933 als Professor für Volkstheorie und Volkstumssoziologie an die Universität Jena berufen wurde, erhielt Loesch mit dem Aufgehen der Hochschule in der Auslandswissenschaftlichen Fakultät eine ordentliche Professor für Volkstumskunde und Volkstumsfragen berufen an der Berliner Fakultät. Aus den Arbeiten dieser beiden Volkstumsforscher und ihrer Institute gingen unter anderem Grundlagenwerke zum Volksbegriff und Handbücher zu den Grenzlandsund Auslandsdeutschen hervor. 58 Auch die Auslandsdeutschen – deutschstämmige und deutschsprachige Gruppen, die in ferne Länder und Kontinente ausgewandert waren – fanden die Aufmerksamkeit der Auslandswissenschaftler. So habilitierte sich 1944 an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät Werner Schmidt-Pretoria über die Deutsche Wanderung nach Südafrika im 19. Jahrhundert.59 Heute noch grundlegende Arbeiten über die Deutschen in Kanada stammen von Heinz Lehmann, der seit 1933 an der Hochschule für Politik lehrte und an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät ein Extraordinariat für die Volks- und Landeskunde Großbritanniens erhielt.60 Diese informativen Untersuchungen zur Einwanderungs- und Alltagsgeschichte von Auslandsdeutschen basierten auf einem kultursoziologischen Volkstumsbegriff, der sich von den rassebiologischen Verkürzungen durch die völkische Ideologie der Nationalsozialisten weitgehend fernhielt.61 Natürlich stand hinter dem auslandswissenschaftlichen Interesse an den Auslandsdeutschen in der Hitlerzeit auch die Hoffnung, in ihnen eine Hilfstruppe für die nationalsozialistische Weltpolitik zu gewinnen, doch fanden die Ideen des Hitlerregimes bei den im 19. und frühen 20. Jahrhundert ausgewanderten Deutschen nur begrenzt Anklang.62
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Botsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg, 77. Dort auch 247-299 minutiöse akademische wie politische Biographien des auslandswissenschaftlichen Lehrkörpers. Max Hildebert Boehm: Das eigenständige Volk. Volkstheoretische Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaften, Göttingen 1932. Er verdankte den Zusatz zu seinem Familiennamen seiner langjährigen diplomatischen Tätigkeit in Südafrika, wo er im Mai 1934 der Auslandorganisation der NSDAP, Ortsgruppe Südafrika beitrat (Botsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg 270) Die Arbeit konnten erst in der Bundesrepublik veröffentlicht werden: Werner Schmidt-Pretoria: Deutsche Wanderung nach Südafrika im 19. Jahrhundert, Berlin 1955. Heinz Lehmann: Zur Geschichte des Deutschtums in Kanada. Bd.1: Das Deutschtum in Ostkanada, Stuttgart 1931 (basierend auf der Berliner Dissertation) und ders.: Das Deutschtum in Westkanada (Veröffentlichungen der Hochschule für Politik. Forschungsabteilung) Berlin 1939 (die Breslauer Habilitationsschrift). Daher war es möglich, die beide Arbeiten von Heinz Lehmann durch eine Übersetzung wieder zugänglich zu machen: Heinz Lehmann: The German Canadians 1750-1937. Immigration, Settlement & Culture, St. John's, Newfoundland 1986. Vgl. die instruktive Einleitung des Herausgebers und Übersetzers Gerhard B. Bassler, XXIV-LXII. Vgl. zu dem nationalsozialistischen „Bund“ in Kanada: Jonathan Wagner: Brothers Beyond the Sea: National Socialism in Canada, Waterloo, Ont. 1981.
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Im Vergleich zu diesen Lehr- und Forschungsgebieten der Auslandskunde und der Volksund Auslandsdeutschen fiel die Untersuchung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Auslandsbeziehungen des Reiches durch die Auslandswissenschaftliche Fakultät und das Institut eher ab, beschränkte sich weitgehend auf historische und dokumentarische Arbeiten. Doch angesichts der dramatischen Verschlechterung der internationalen Beziehungen des Deutschen Reiches unter den Nationalsozialisten und zumal nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges kann es nicht wundern, dass es kaum zu Untersuchungen und Veröffentlichungen zur aktuellen deutschen Außenpolitik kam. Insgesamt konnte das Deutsche Auslandswissenschaftliche Institut in den weniger als fünf Jahren seiner Existenz ein erstaunliches Publikationsprogramm verwirklichen.63 Neben den wissenschaftlich zumeist gediegenen „Forschungen des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts“ und den informativen Landeskunden standen allerdings auch viele rein propagandistische Schriften, wie z.B. die Enthüllungen der jüdischen und plutokratischen Abhängigkeit der englischen Politik und Gesellschaft durch Karl Heinz Pfeffer.64 Das Auslandswissenschaftliche Institut gab seit 1942 (bis 1944) in Fortsetzung des „Jahrbuch(s) der Hochschule für Politik“ ein umfangreiches „Jahrbuch der Weltpolitik“ mit Beiträgen aus den grundwissenschaftlichen Forschungsgebieten, landeskundlichen Darstellungen über die Staaten der Welt und Rechenschaftsberichten über „Die deutschen Auslandswissenschaften“ heraus. Auch die Zahl der Studierenden an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät konnte sich sehen lassen, zumal wenn man die Bedingungen der Kriegszeit berücksichtigt. Sie stieg von 343 im ersten Trimester des Jahres 1940 auf 835 im Wintersemester 1943/44, wobei allerdings etwa ein Drittel auf die nichtakademische Sprachausbildung am Institut für Sprachenund Dolmetscherkunde entfiel.65 Zu den Studenten gehörten keineswegs nur überzeugte Nationalsozialisten; so promovierte beispielsweise Harro Schulze-Boysen an der Fakultät, bis er als Mitglied der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ entdeckt und hingerichtet wurde. Auch im Lehrpersonal fanden sich Widerständler gegen das Nazi-Regime. So war neben Albrecht Haushofer auch Mildred Fish-Harnack als Lehrbeauftragte für Amerikanisches Englisch tätig. Insgesamt konnten bis Ende des Jahres 1944 an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät neben den sprach- und landeskundlichen Prüfungen 61 Kandidaten den Titel eines „DiplomAuslandswissenschaftlers“, 42 den Grad eines „Doktors der Auslandswissenschaften“ (Dr. sc. pol.) und 7 die Lehrbefähigung durch die Habilitation erwerben.66 Fakultät und Institut konnten dank ihrer personellen Verbindungen zur Partei- und Staatsspitze und durch den Hinweis auf die Kriegswichtigkeit ihrer Lehr- und Forschungsaufgaben erreichen, dass sie ihre Tätigkeit auch nach der drastischen Einschränkung des deutschen Wissenschaftsbetriebes durch die Verkündung des „Totalen Krieges“ im Februar 1943 bis zum Wintersemester 1944/45 fortsetzen konnten. Die Auslandswissenschaftliche Fakultät der Universität Berlin und das ihr verbundene Deutsche Auslandswissenschaftliche Institut sind erst mit dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft am 8. Mai 1945 geschlossen worden. 6. Politische Wissenschaften und politisches System Politische Wissenschaft – oder politische Wissenschaften, was immer zwischen 1933 und 1945 darunter verstanden worden ist – hat nie das politische System des Nationalsozialismus 63 64 65 66
Vgl. die Literaturangaben bei Botsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg, 308 ff. Karl Heinz Pfeffer: Begriff und Wesen der Plutokratie, Berlin 1940; ders.: Der englische Krieg auch ein jüdischer Krieg, München 1943. Studierendenzahlen bei Botsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg, 126.. Botsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg, 132. Vgl. dort 300 ff. auch die Namen und Themen aller Prüfungsverfahren an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät.
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selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Analyse in Forschung und Lehre gemacht.67 Doch in den Auseinandersetzungen um die inhaltliche und institutionelle Gestaltung des Faches in seiner Einzahl oder Mehrzahl spiegelten sich auf typische Weise die verwickelten Herrschaftsverhältnisse des Dritten Reiches und ihr zeitgeschichtlicher Wandel.68 Insbesondere kam es auch auf dem Gebiet der Politischen Wissenschaft(en) zu jenem für das nationalsozialistische Regime typischen Neben- und Gegeneinander von Staats- und Partei-Dienststellen sowie den Verzahnungen zwischen diesen durch vielfach verschachtelte Personalunionen. Am wenigsten hatten die Universitäten bei der Gestaltung von Politischer Wissenschaft im Nationalsozialismus mitzureden, sie waren weitgehend Objekt und nicht Subjekt der Entwicklung.69 Vor allem jüngere Dozenten übernahmen die Parole vom ideologischen Verständnis aller Fächer als „deutschen“, sprich „politischen Wissenschaften“, doch unter der Oberfläche von Loyalitätsbekundungen zum Politisierungsprinzip des neuen Systems wirkte zumeist das tradierte deutsche Wissenschaftsverständnis fort, in dem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kein Platz für eine akademische Lehre der Politik war. In diesem Sinne sträubte sich auch die Berliner Universität gegen alle Anschlussbemühungen der (Deutschen) Hochschule für Politik. Doch Mitte 1939 war es so weit, Rektor und Senat mussten sich der von der Reichsführung SS verfügten Einrichtung einer eigenständigen Auslandswissenschaftlichen Fakultät unter Franz Alfred Six fügen.70 Dieses Oktroi wurde der Universität von ihrer staatlichen Führungsinstanz vermittelt, dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, kurz: Reichserziehungsministerium. In diesem Ministerium war mit den einschlägigen Verhandlungen der Oberregierungsrat in der Auslandsabteilung Herbert Scurla betraut, der zuvor unter Arnold Bergstraesser den DAAD mit aufgebaut hatte.71 Dieser aus der deutschen Jugendbewegung kommende promovierte Volkswirt und Dozent an der DHfP sowohl vor als auch nach dem Systemwechsel hatte sich 1933 zum überzeugten Nationalsozialisten gewendet und vertrat entschieden das Programm der „politischen Wissenschaften“, stand daher einer politikwissenschaftlichen Einzeldisziplin skeptisch gegenüber. Doch hatte das Reichserziehungsministerium im nationalsozialistischen Institutionengefüge eine eher schwache Stellung, weil sein Minister Bernhard Rust nicht zur Parteielite gehörte. In diese Einflusslücke stieß der Sicherheitsdienst der SS mit seinen wissenschaftspolitischen Aktivitäten nicht nur auf dem Gebiet der Auslandswissenschaft. Nach der Machtergreifung wurden die in der Weimarer Republik gegründeten Institutionen der staatsbürgerlichen Erziehung dem neugeschaffenen Reichsministerium für Propaganda und Volksaufklärung unter Joseph Goebbels unterstellt. Während die (Deutsche) Hochschule für Politik inhaltlich und personell gleichgeschaltet wurde, wurde die Reichszentrale für Hei-
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Karl Heinz Pfeffer scheint allerdings Ende 1944 diesen sich aus der diktatorischen Natur des Regimes ergebenden Verzicht auf einer Tagung von Soziologen und Wirtschaftswissenschaftlern bedauert zu haben: „Was der Wissenschaft von der Politik heute fehlt, ist Civilcourage ... Dass unsere Politik in den vergangenen Jahren ... zu unüberwindlichen Schwierigkeiten geführt hat, das wird uns jetzt wieder zu spät klar. ... Die Schuld liegt nicht an der Politik, sondern an der Wissenschaft, die glaubte, der Politik nach dem Munde reden zu müssen. ... Wir sind berufen worden von der Auslandswissenschaft und wir setzen auch für das Ausland gewisse Fragen an, aber in der Innenpolitik?“ Zitiert bei Botsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg, 103. Vgl. Karl Dietrich Bracher: Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln-Berlin 1969; Martin Broszat: Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München 1969; Norbert Frei: Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945, München 1987. Vgl. Helmut Seier: Universität und Hochschulpolitik im nationalsozialistischen Staat, in: Klaus Malettke (Hrsg.): Der Nationalsozialismus an der Macht. Aspekte nationalsozialistischer Politik und Herrschaft, Göttingen 1984, 143-165 und Geoffrey Giles: Die Idee der politischen Universität, 50-60. Einzelheiten bei Botsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg, 60 ff.. Biographische Angaben bei Botsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg, 249f.
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matdienst sogleich abgewickelt.72 Diese Aufgabe übernahm mit Wilhelm Ziegler ein promovierter Historiker, der seine Karriere als Propagandafachmann während des Ersten Weltkrieges im Kriegspresseamt begonnen hatte und in der Weimarer Republik als Referent in der Reichszentrale tätig war.73 Ziegler selbst wurde aber ins Propagandaministerium übernommen. Gleichzeitig war er als Dozent für Neuere Geschichte an der Hochschule für Politik tätig und übernahm die Mitherausgeberschaft der „Zeitschrift für Politik“. Der vom Mitglied der Deutschen Volkspartei im Mai 1933 zum nationalsozialistischen Parteigenossen gewordene Ministerialrat und Leiter des Judenreferates im Propagandaministerium unterstützte in den Verhandlungen um die Hochschule für Politik den Kurs seines Ministers, die Hochschule für Politik aus dem Ressort auszulagern, wobei es Goebbels eher um die geringe propagandistische Effektivität der Institution, Ziegler aber vor allem um seine eigene akademische Karriere ging: Er sollte an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät zunächst den Lehrstuhl für Politische Geschichte übernehmen, gab sich dann aber mit einer Honorarprofessur zufrieden. Angesichts der geopolitischen und auslandskundlichen Ausrichtung der Politischen Wissenschaft unter dem Nationalsozialismus musste das Auswärtige Amt ein natürliches Interesse an den Forschungen und vor allem der Ausbildung in diesen Fächern haben.74 Doch unter dem nationalkonservativen Konstantin Freiherr von Neurath, der 1933 in der Regierung Hitler parteiloser Reichsaußenminister wurde, hielt das Amt zunächst an den Traditionen einer Rekrutierung seines Nachwuchses aus einem juristisch ausgebildeten und aristokratisch geprägten Personal fest und lehnte eine Auslands-Hochschule als Ausbildungsstätte für seine künftigen Diplomaten ab. Doch neben dem Auswärtigen Amt etablierten sich sehr bald zahlreiche konkurrierende außenpolitische Berater und Organisationen der NSDAP, insbesondere die „Dienststelle Ribbentrop“ des Hitler-Vertrauten Joachim von Ribbentrop, der 1936 vom Führer zum Botschafter in London befördert wurde. Ribbentrop setzte sich für eine gesonderte akademische Institution zur Ausbildung von nationalsozialistisch gesinnten Diplomaten ein, daher förderte er nach seiner Ernennung zum Reichsaußenminister im Februar 1938 die Etablierung der Auslandswissenschaftlichen Fakultät an der Berliner Universität. Schon zuvor hatte Ribbentrop ein eigenes Institut zur wissenschaftlichen Beratung in außenpolitischen Fragen an sich gezogen, dessen Direktion sein persönlicher Berater Fritz Berber übernahm, der Leiter der Forschungsabteilung der Deutschen Hochschule für Politik. Berber verstand es, nicht nur Anfang 1936 das renommierte Hamburger „Institut für Auswärtige Politik“ zu übernehmen, sondern auch durch seinen Gönner 1937 nach Berlin verlegen zu lassen.75 Dieses privatrechtliche Institut war 1923 aufgrund einer Initiative des Bankiers Max Warburg errichtet worden und stand unter der Leitung von Albrecht Mendelssohn Bartholdy, dem Ururgroßenkel des Philosophen und Enkel des Komponisten, der an der Hamburger Universität einen Lehrstuhl für internationales Privatrecht und Auslandsrecht innehatte. Während sich Mendelssohn Bartholdy und seine Mitarbeiter in der Weimarer Republik um die Entwicklung von Leitlinien für eine demokratisch legitimierte und friedensorientierte Außenpoli72
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Vgl. Klaus W. Wippermann: Politische Propaganda und staatsbürgerliche Bildung. Die Reichszentrale für Heimatdienst in der Weimarer Republik, Köln 1976. Die Reichszentrale ging aus der im letzten Kriegsjahr 1918 gegründeten „Zentralstelle für Heimataufklärung“ hervor; an diese Traditionskette knüpfte in der Bundesrepublik die 1952 gegründete „Bundeszentrale für Heimatdienst“ an, welche 1963 in „Bundeszentrale für politische Bildung“ umbenannt wurde. Biographische Angaben zu Ziegler bei Botsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg, 254f. Hans-Jürgen Dröscher: Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der Endlösung, Berlin 1987. Vgl. Gisela Gantzel-Kress: Zur Geschichte des Instituts für Auswärtige Politik. Von der Gründung zur nationalsozialistischen Machtübernahme, in: Klaus-Jürgen Gantzel (Hrsg.): Kolonialwissenschaft, Kriegsursachenforschung, Internationale Angelegenheiten, Baden-Baden 1983, 23-88 und Hermann Weber: Rechtswissenschaft im Dienst der NS-Propaganda. Das Institut für auswärtige Politik und die deutsche Völkerrechtsdoktrin in den Jahren 1933 bis 1945, in: Klaus-Jürgen Gantzel (Hrsg.): Wissenschaftliche Verantwortung und Politische Macht (Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, Bd.2), Berlin-Hamburg 1986, 185-425.
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tik bemühten, konzentrierte sich das in Berlin zum „Deutsches Institut für Außenpolitische Forschung“ umfirmierte Anhängsel des Auswärtigen Amtes auf die Herausgabe von Dokumentensammlungen und Jahrbüchern für Auswärtige Politik (seit 1934), in welchen die revisionistische Außenpolitik des Deutschen Reiches nationalsozialistischer Herrschaft begründet wurde. Im Krieg arbeitete das Institut bei dieser außenpolitischen Propaganda mit dem Deutschen Auslandswissenschaftlichen Institut zusammen. Die „Dienststelle Rippentrop“ war, bevor ihr Namensgeber Reichsaußenminister wurde, bei der Behörde des „Stellvertreters des Führers“ angesiedelt und Rudolf Heß nahm über seinen Schützling Albrecht Haushofer auch Anteil an der geopolitischen Forschung. Auch die Reichskanzlei unter ihrem Chef Hans Heinrich Lammers war in die Verhandlungen über die institutionelle Gestaltung der Politischen Wissenschaft unter dem Nationalsozialismus zunächst involviert, zog sich später aus dieser Mitsprache weitgehend zurück, auch weil der Führer mit solchen Petitessen nicht behelligt werden wollte. Im Weltkrieg ergaben sich Kooperationen zwischen der Auslandswissenschaftlichen Fakultät sowie dem Deutschen Auslandswissenschaftlichen Institut und dem 1941 eingerichteten Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete unter Alfred Rosenberg. Spätestens ab Herbst 1938 war der Sicherheitsdienst (SD) die dominierende Kraft bei der Entwicklung und Institutionalisierung der „Politischen Wissenschaft“ unter dem Nationalsozialismus. Diese Einrichtung wuchs im letzten Drittel der 1930er Jahre unter ihrem Leiter Reinhard Heydrich, der gleichzeitig als Stellvertreter des Reichsführers SS fungierte, aus einem parteiinternen Nachrichtendienst immer mehr in die Rolle der allumfassenden Geheimdienst-, Überwachungs- und Verfolgungsorganisation des nationalsozialistischen Regimes hinein.76 An ihre Spitze trat im September 1939 das Reichssicherheitshauptamt (RSHA), in welchem die zentralen Dienststellen der staatlichen Sicherheitspolizei und des SD zusammengeführt wurden. In dieser neuen Behörde wurde auch der Politischen Wissenschaft eine zentrale Rolle im Hinblick auf die Bereitstellung einer wissenschaftlichen Grundlage der „Gegnerbekämpfung“ zugewiesen: Das einschlägige Amt II des RSHA firmierte zunächst unter dem Rubrum „Gegnerforschung“, dann „Weltanschauliche Gegner“, bevor es Anfang 1941 im Zuge einer Organisationsreform zum Amt VII „Weltanschauliche Forschung und Auswertung“ wurde.77 Zwischen dieser Gegnerbekämpfung durch den staatlich-politischen Nachrichten- und Verfolgungsapparates und der Lehre an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät sowie Forschung am Deutschen Auslandswissenschaftlichen Institut kam es zu vielfältigen Kooperationen und Personalunionen. Der SD rekrutierte Absolventen der Fakultät und umgekehrt lehrten an der Fakultät SD-Angehörige.78 Die Leitung der Gegnerforschung im RSHA übernahm bei dessen Gründung Franz Alfred Six, noch bevor er zum Dekan der Auslandswissenschaftlichen Fakultät aufstieg. Die Doppelgleisigkeit von Karrieren im sich wissenschaftlich gebenden Parteiapparat und an der politisch auszurichtenden Universität war von Anfang an für diesen prototypischen „politischen Wissenschaftler“ charakteristisch: Schon während seiner Heidelberger Studien- und Promotionszeit leitete er in der Berliner Reichsstudentenschaftsführung die Abteilung Werbung und Propaganda, wechselte 1935 nach der Entmachtung der SA in die SS, übernahm in deren SD-Hauptamt sogleich die Abteilung „Presse und Schrifttum“ und 1937 die Leitung der Hauptabteilung „Weltanschauliche Gegnerbekämpfung“. In diesen Funktionen stieg Six innerhalb von drei Jahren zum SS-Standartenführer (Oberst) auf. Mit der Einrich76 77 78
Michael Wildt: Nachrichtendienst, politische Elite und Mordeinheit. Der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, Hamburg 2003. Allgemein Heinz Höhne: Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, Gütersloh 1967. Vgl. Jürgen Matthäus: „Weltanschauliche Forschung und Auswertung“. Aus den Akten des Amtes VII im Reichssicherheitshauptamt, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 5 (1996), 287-330. Vgl. Jens Banach: Heydrichs Elite. Das Führerkorps der Sicherheitspolizei und des SD 1936-1945, Paderborn 1998.
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tung der Auslandswissenschaftlichen Fakultät und des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts gelang es ihm, seine Karriere in Parteidiensten mit der Übernahme nicht nur eines Lehrstuhls, sondern auch des Dekans- und Institutspräsidentenamtes „auf Lebenszeit“ akademisch abzurunden. Auch die übrigen Professoren dieser nationalsozialistischen Variante einer Politischen Wissenschaft waren nicht nur Mitglieder in der NSDAP – die wichtigste Ausnahme an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät scheint Albrecht Haushofer gewesen zu sein –, sondern hatten auch Arbeitskontakte zum SD-Apparat, selbst wenn nur ein Viertel von ihnen wie Six SS-Mitglieder mit einer haupt- oder nebenamtlichen Dienststellung im SD waren.79 Karl Heinz Pfeffer beispielsweise trat nach seiner Rückkehr aus dem Ausland 1933 der SA und nach der Lockerung der Aufnahmesperre 1937 der NSDAP bei und lieferte für die Partei Schulungs- und Propagandaschriften vor allem gegen das Judentum und Großbritannien. Doch im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Bemühungen dieser nationalsozialistischen Politikwissenschaftler stand ab 1938 und spätestens mit dem Ausbruch des Weltkrieges nicht mehr die Propaganda nach innen, sondern die Politikberatung bei den Expansionsbemühungen des Großdeutschen Reiches nach außen. So erklärte Pfeffer 1940 in einer internen Ausarbeitung für die neue auslandswissenschaftliche Fakultät und das Institut, das Ziel der Auslandswissenschaften seien die „Vorbereitungen der großen Umsiedlungsvorgänge durch genaue Auslandsforschung“, ein Beispiel für den „Dienst an der Politik, d.h. am Leben unseres Volkes“.80 Noch deutlicher wurde die nicht nur politikberatende, sondern auch politikgestaltende Funktion der nationalsozialistischen Politischen Wissenschaft in einem Bericht Pfeffers als Leiter der Abteilung Großbritannien des DAWI, welcher der wissenschaftlichen Englandforschung die Aufgabe zuschrieb, nach dem zu erwartenden „totalen Zusammenbruch Englands […] möglichst viel von der englischen Volkssubstanz für Europa und das Germanentum [...] retten bei völliger Zerstörung des britischen Systems“.81 Die „bisherige politische Führungsschicht“ in Großbritannien sollte „mit wenigen Ausnahmen insgesamt abgelöst werden. Es kommt darauf an, volkseigene und volksverbundene Führer zu gewinnen.“ Nur das glücklichere Kriegsgeschick ersparte der britischen Gesellschaft und Elite eine „Behandlung“, wie sie nach dem deutschen Einmarsch in der Sowjetunion umgesetzt wurde. In seinem ersten Rechenschaftsbericht für das Jahr 1940 über die Arbeit des neugegründeten Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts verwies Six als sein Präsident zwar auf ausländische Beispiele einer außenpolitikwissenschaftlichen Politikberatung wie das britische Royal Institute of International Affairs und den amerikanischen Council on Foreign Politics, hob aber als besonderes Charakteristikum des DAWI hervor: „Deutsch ist in ihm in besonderem Maße die enge Verbindung von Lehre, Forschung und Einsatz in der praktischen Politik.“ Er fügte im Hinblick auf die gegenwärtige Lage Großdeutschlands noch hinzu: „Im Kriege stehen selbstverständlich alle Mitarbeiter des Institutes in unmittelbarem politischen Einsatz“82 Was zunächst ganz unschuldig nach der auch für die bundesdeutsche Politikwissenschaft selbstverständlichen Verknüpfung von Theorie und Praxis auf dem Gebiet der Politik klingt, erhielt durch den nationalsozialistischen Gebrauch des aus dem militärischen Jargon stammenden Begriffs „Einsatz“ seine besondere Prägnanz: Einsatz war die rückhaltslose Hingabe für die Verwirklichung der weltanschaulichen Ziele des Regimes.83
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Vgl. Botsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg, 174 mit Anm. 13 und die Biographien des auslandswissenschaftlichen Lehrpersonals, ebda., 247-299. Dieses und das folgende Zitat bei Botsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg, 196. Zitiert in Botsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg, 193. Diese Empfehlungen seines Kollegen und späteren Dekannachfolgers reichte Franz Alfred Six an seine Kollegen als Amtschefs im RSHA weiter. Six: Das Deutsche Auslandswissenschaftliche Institut im Jahre 1941, in: ZfP 31 (1941), 734. Vgl. Gerhard Storz: Einsatz, in: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, München 1962, 40-45.
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In diesem Zusammenhang erhielten die von den Nationalsozialisten organisierten Einsatzgruppen und Einsatzkommandos im Rahmen der Gegnerbekämpfung eine berüchtigte Funktion.84 Sie dienten nicht nur der Erfassung der Dokumente und Archive der postulierten Gegner, die der Gegnerforschung und der darauf aufbauenden Gegnerbekämpfung zuzuführen waren, sondern auch der Vernichtung von behaupteten Gegnern des Regimes. Ein aus Angehörigen der Sicherheitspolizei und des SD gebildetes Einsatzkommando trat erstmals im Frühjahr 1938 beim Anschluss Österreichs in Aktion: Unter Führung von Franz Alfred Six beschlagnahmte es in Wien nicht nur jüdische, freimaurerische sowie sozialdemokratische Archive und arbeitete den gescheiterten Putsch der österreichischen Nationalsozialisten im Jahr 1934 zeitgeschichtlich auf, sondern ermordete auch weltanschauliche Gegner wie Wilhelm Freiherrn von Ketteler, der dem jungkonservativen Oppositionskreis gegen Hitler angehörte, dessen Spitze schon im Juni 1934 im Zusammenhang mit der Niederschlagung des so genannten „Röhmputsches“ umgebracht worden war.85 Im Sommer 1940 wurde Six mit der Leitung der Einsatzgruppe beauftragt, die nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Großbritannien („Operation Seelöwe“) dessen Eliten in dem vom Englandspezialisten Pfeffer avisierten Sinne säubern sollte.86 Zum massenhaften Einsatz bei der Gegnervernichtung kamen die Einsatzgruppen nach dem Überfall des Großdeutschen Reiches auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Six übernahm die Leitung eines „Vorauskommandos Moskau“, das in den von Deutschen besetzten Gebieten nicht nur „politisch wertvolles“ Archivmaterial und Kulturgüter einsammelte, sondern auch Partisanen bekämpfte und Intellektuelle sowie Juden umbrachte. Im Nürnberger Prozess verteidigte er sich mit der Behauptung, diese Mordaktionen hätten erst nach seiner Rückkehr nach Berlin am 20. August 1941 eingesetzt. Dort nahm Six seine auslandswissenschaftlichen Vorlesungen wieder auf.87 Danach musste Six nicht mehr zum Einsatz an die Front. Trotzdem wurde der fünfunddreißigjährige Ministerialdirigent im Auswärtigen Amt noch Anfang 1945 von Heinrich Himmler zum SS-Brigadeführers (Generalmajor) befördert, war aber auch bis zum Kriegsende an der Berliner Universität als Ordinarius für Außenpolitik und Auslandskunde tätig. In seiner Karriere offenbarte sich, in welchem Maße das Dritte Reich immer mehr zu einem „SS-Staat“ (Eugen Kogon) wurde, der mit seinem technokratischen Habitus und wissenschaftlichen Anspruch selbst bei der Behandlung von Gegnern die Inhalte und das Personal der Politischen Wissenschaft während des Nationalsozialismus prägte. 7. 1945: „Stunde Null“ der Politischen Wissenschaft? Auch in der bundesdeutschen Politikwissenschaft ist die Frage nach einer nationalsozialistischen Vergangenheit des Faches umstritten.88 Lange Zeit galt allerdings die Annahme einer „Gnade der späten Geburt“ (Helmut Kohl im Anschluss an Günter Gaus), weil man die Gründung der Politikwissenschaft in Deutschland erst nach 1945 vermutete. Selbst die Kenntnis von den Bemühungen an der Deutschen Hochschule für Politik, während der Weimarer Jahre die Lehre von der Politik zu institutionalisieren, stellte diese Vermutung nicht in Frage, ging man doch davon aus, dass die Hochschule mit der Republik 1933 untergegangen und ihr Lehrpersonal in die äußere und innere Emigration getrieben worden sei. 84 85 86 87 88
Helmut Krausnick / Hans-Heinrich Wilhelm: Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938-1942, Stuttgart 1981. Die Details bei Hachmeister: Der Gegnerforscher, 10 ff. Hachmeister: Der Gegnerforscher, 228 f. Hachmeister: Der Gegnerforscher, 233 ff. Vgl. Bleek: Geschichte, 260 ff. und 415 ff.
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Dieses Geschichtsbild ist ab den 1980er Jahren zunehmend bezweifelt worden. Zum einen wurde auf die Auslandswissenschaft als eine von den nationalsozialistischen Herrschaftsinteressen geprägte Politische Wissenschaft hingewiesen89, zum anderen ist deutlich geworden, dass die DHfP nach der nationalsozialistischen Machtübernahme weiter existierte und nationalkonservative Dozenten an ihr bruchlos fortwirken konnten.90 Doch auch diese vom Entlarvungsethos der 1968er Bewegung getragenen Befunde einer nationalsozialistischen Vergangenheit der deutschen Politikwissenschaft sind nicht unumstritten geblieben.91 Von den drei Personen, die als Beispiele für eine personelle Kontinuität zwischen Weimarer Republik, nationalsozialistischer Diktatur und Bonner Demokratie angeführt wurden, ist lediglich Arnold Bergstraesser ernsthaft in Betracht zu ziehen: Er hatte in den Anfangsjahren des Dritten Reiches dessen politisches Programm aus nationalkonservativen Gründen begrüßt, wurde 1937 in die Emigration gezwungen und gehörte nach seiner Rückkehr nach Deutschland Anfang der 1950er Jahre seit 1954 als Ordinarius für Soziologie und Wissenschaftliche Politik an der Universität Freiburg zu den zentralen Figuren im Etablierungsprozess der bundesdeutschen Politikwissenschaft. Der frühe Tod Bergstraessers im Jahr 1964 hat ihm unangenehme Fragen der nachfolgenden Generation nach seiner Vergangenheit erspart.92 Adolf Grabowsky kam auch nach dem Zweiten Weltkrieg als Mitherausgeber der „Zeitschrift für Politik“ eine gewisse Bedeutung zu, stand aber als Lehrbeauftragter und später Professor in Marburg und dann Gießen am Rande der bundesdeutschen Politikwissenschaft. Ernst Jäckh schließlich spielte keine Rolle in der Fachentwicklung, wurde lediglich Anfang der 1950er Jahre zur rhetorischen Dekoration der Wiedegrründung der Deutschen Hochschule in Westberlin eingesetzt.93 Kein einziger Protagonist der nationalsozialistischen „Politischen Wissenschaft“ oder gar „Politikwissenschaft“ kam nach 1945 im bundesdeutschen Fach unter. Franz Alfred Six tauchte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunächst mit Hilfe von Karl Heinz Pfeffer unter, wurde aber im Januar 1946 gefasst.94 Gegenüber seinem amerikanischen Vernehmer, einem Politikwissenschaftler, beteuerte Six, er sei im Dritten Reich nur ein Wissenschaftler gewesen und habe sich insbesondere auf dem Gebiet der Auslandswissenschaften für die Einführung eines Faches nach dem Vorbild der angelsächsischen Political Science eingesetzt.95 Der vormalige Professor wurde aber als SS-Führer im „Fall IX“ der Nürnberger Folgeprozesse angeklagt und im April 1948 wegen zumindest indirekter Beteiligung an der Ermordung von Juden zu 20 Jahren Haft verurteilt, kam aber schon 1952 nach der Entscheidung zur bundesdeutschen Wiederbewaffnung vorzeitig frei. Nach der Entlassung aus dem Landsberger Kriegsverbrechergefängnis war Six als Verlagsinhaber, Werbeleiter, Unternehmensberater 89
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Insbesondere Johannes Weyer: Politikwissenschaft im Faschismus (1933-1945). Die vergessenen zwölf Jahre, in: Politische Vierteljahresschrift 26 (1985), 423-437. Zur Kontroverse um diesen die nationalsozialistischen Konzepte von „politischen Wissenschaften“ und „Politischer Wissenschaft“ gleichsetzenden Beitrag Kurt Lenk: Über die Geburt der „Politikwissenschaft“ aus dem Geiste des „unübertrefflichen“ Wilhelm Heinrich Riehl, in: Politische Vierteljahresschrift 27 (1986), 252-258 und Hubertus Buchstein/Gerhard Göhler: In der Kontinuität einer ‚braunen‘ Politikwissenschaft? Empirische Befunde und Forschungsdesiderate, in: Politische Vierteljahresschrift 27 (1986), 330-340 Insbesondere Eisfeld: Ausgebürgert und Eisfeld: Science. Vgl. die gegensätzlichen Besprechungen: Michael Th. Greven: Rezension von Rainer Eisfeld: Ausgebürgert und doch angebräunt, in: Politische Vierteljahresschrift 33 (1992), 140-145 und Hubertus Buchstein: Rezension von Rainer Eisfeld: Ausgebürgert und doch angebräunt, in: Politische Vierteljahresschrift 33 (1992), 145-151. Der Bergstraesser-Schüler Kurt Sontheimer hat allerdings die Auseinandersetzung mit seinem akademischen Vater auf indirekte Weise in seiner Habilitationsschrift aufgenommen, waren doch viele der von ihm untersuchte Rechtsintellektuelle dessen geistige und persönliche Freunde: Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1962. Vgl. Ernst Jäckh / Otto Suhr: Geschichte der Deutschen Hochschule für Politik, Berlin 1952. Vgl. Hachmeister: Gegnerforscher, 271 ff. Vgl. die Zitate aus dem Vernehmungsprotokoll bei Hachmeister: Gegnerforscher, 76 und 279 sowie Botsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg, 13.
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und Dozent an der Bad Harzburger Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft tätig, die von Reinhard Höhn, seinem früheren Mitkämpfer nicht nur im Reichssicherheitshauptamt, sondern auch als nationalsozialistischer Politik- und Staatsforscher, organisiert wurde.96 1961 sagte Six als Zeuge der Verteidigung im Prozess gegen den ihm im SD-Hauptamt untergebenen Juden-Referenten Adolf Eichmann aus; seine eigene strafrechtliche Verfolgung durch die bundesdeutsche Justiz wurde 1968 aus gesundheitlichen Gründen niedergeschlagen, er starb 1975. Hingegen gelang Karl Heinz Pfeffer eine Wiederaufnahme seiner Universitätslaufbahn, wenn auch nicht in der Politikwissenschaft. Pfeffer war in den Anfangsjahren der Bundesrepublik zunächst in Forschungsinstitutionen der Landesplanung und am Hamburger Institut für Weltwirtschaft tätig, bevor er an eine Universität in Pakistan ging. 1962 wurde er auf Vermittlung Helmut Schelskys Professor für Entwicklungssoziologie an der Universität Münster. Eine Fortsetzung seiner im Dritten Reich als Stipendiat des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts begonnenen politikwissenschaftlichen, aber auch sicherheitsdienstlichen Tätigkeit auf dem Gebiet der Südosteuropaforschung gelang auch Franz Ronneberger. Er übernahm 1964 einen neuen Lehrstuhl für Politik- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Erlangen-Nürnberg, profilierte sich aber mehr in der Kommunikationswissenschaft als in der Politikwissenschaft. Zahlreiche weitere Professoren der Auslandswissenschaftlichen Fakultät und Mitarbeitern des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts auf deren geschichts- und rechtswissenschaftlichen Lehrstühlen erhielten in der Bundesrepublik Lehrstühle in ihren Mutterwissenschaften: Genannt seien nur der Völkerrechtler Fritz Berber, der sich nach dem Kriegsende Friedrich Berber nannte, zunächst als Regierungsberater im nachkolonialen Indien wirkte und 1954 ein Ordinariat an der Universität München übernahm, und der Überseehistoriker Egmont Zechlin, der als Hamburger Lehrstuhlinhaber in den 1960er Jahren durch den Streit mit seinem Kollegen Fritz Fischer über die Ursachen des Ersten Weltkrieges bekannt wurde. Andere machten eine publizistische Karriere wie Horst Mahnke, im Dritten Reich engster Mitarbeiter von Six sowohl an der Universität als auch im Reichssicherheitshauptamt und im Auswärtigen Amt, der im „Spiegel“ zum Leiter des Ressorts „Ausland“ aufstieg.97 Selbst in der DDR gelang einem Förderer der nationalsozialistischen Politischen Wissenschaft eine beruflich-politische Karriere: Herbert Scurla, der als Beamter im Reichserziehungsministerium für die Hochschule für Politik und die Auslandswissenschaftliche Fakultät zuständig war und sich an letzterer noch 1944 habilitierte, wurde Funktionär der um die früheren kleinen Parteigenossen werbenden National-Demokratischen Partei (NDPD) und des Kulturbundes sowie Schriftstellerverbandes.98 Die weit überwiegende Mehrzahl der Gründungsväter der bundesrepublikanischen Politikwissenschaft waren überzeugte Anhänger der Weimarer Demokratie. Sie hatten die nationalsozialistische Diktatur wie Wolfgang Abendroth, Eugen Kogon und Otto Suhr in der inneren Emigration überstanden, meist mit einem durch die Zugehörigkeit zu Widerstandsgruppen verbundenem Risiko für Freiheit und Leben. Andere wie Ernst Fraenkel, Aloys Hermens und Siegfried Landshut waren sogar von dem Regime in die Emigration gezwungen worden. Sie verstanden die Politikwissenschaft, ganz gleich welchen Namen sie ihr gaben, vorwiegend als „Demokratiewissenschaft“, als akademisches Fach zur staatsbürgerlichen Bildung aller Stu-
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Vgl. Franz Alfred Six: Marketing in der Investitionsgüterindustrie. Durchleuchtung, Planung, Erschließung (= Betriebspraxis der Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft Bad Harzburg, Bd. 6), Bad Harzburg 1968. Vgl. Hachmeister, Gegnerforscher, insbesondere 316 ff.: Exkurs: Zur Frühgeschichte des „Spiegels“, und Botsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg, 252. Botsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg, 248. Scurla veröffentlichte in der DDR zahlreiche biographische Bestseller, posthum erschien: Herbert Scurla: Die Brüder Grimm. Ein Lebensbild, Leipzig 1986.
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dierenden.99 Daher dominierte in dieser Anfangsphase der bundesdeutschen Politikwissenschaft die Beschäftigung mit institutionellen, prozessualen und historischen Aspekte der Innenpolitik: die Parteien-, Parlamentarismus- und Wahlforschung, aber auch der Vergleich mit anderen „westlichen Demokratien“ und die zeitgeschichtliche Analyse der jüngsten deutschen Vergangenheit. Die Untersuchung der Außenpolitik und auch die Auslandskunde spielten zunächst kaum eine Rolle. Für diese anfängliche Vernachlässigung der internationalen Beziehungen in Lehre und Forschung der bundesdeutschen Politikwissenschaft war nicht die mögliche nationalsozialistische Vergangenheit dieser Teildisziplin, sondern die politische Situation der neugegründeten Bundesrepublik ausschlaggebend: Ihr wurde zunächst nur ein relativ eingeschränktes Recht zur inneren Selbstregierung zugestanden und auch nach Erreichen der außenpolitischen Teilsouveränität im Jahr 1955 stand die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland lange Zeit, formal noch bis 1990, unter dem im Grundgesetz verankerten Vorbehalt des Ziels einer Wiederherstellung der deutschen Einheit und der Verantwortung der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges für „Deutschland als Ganzes“. Die frühen Bemühungen um die Wiederbelebung der Auslandswissenschaften in der Bundesrepublik stießen zunächst auf Widerstand. Anfang der 50er Jahre war als privatrechtlicher Verein eine „Auslandswissenschaftliche Gesellschaft“ gegründet worden. Sie wollte nach ihrer Satzung „im Gebiet der Bundesrepublik“ Persönlichkeiten sammeln, die an sachlicher Information über das Ausland interessiert und zur Beschäftigung mit Fragen des Auslandes und der Außenpolitik bereit sind“.100 Damit knüpfte man ganz offensichtlich an das programmatische Profil der Auslandswissenschaften im Nationalsozialismus an und es wundert nicht, dass Karl Heinz Pfeffer eine zentrale Rolle in diesem Verein spielte. Bis 1954 erschienen fünf Hefte dieser Auslandswissenschaftlichen Gesellschaft im Darmstädter Leske-Verlag, dessen Geschäftsführer und dann Inhaber Franz Alfred Six war. Pfeffer veröffentlichte 1956 auch einen Beitrag über die „Auslandskunde“ im „Handwörterbuch der Sozialwissenschaften“, der auf seinem programmatischen Aufsatz von 1942 über „Begriff und Methode der Auslandswissenschaften“ aufbaute.101 Doch diese nicht nur von vormals nationalsozialistischen und rechtskonservativen Professoren und Publizisten, sondern auch von christdemokratischen Politikern wie dem Berliner Bürgermeister Ferdinand Friedensburg getragenen Bemühungen um die Wiederbelebung der Aktivitäten der Auslandswissenschaftlichen Fakultät und des DAWI waren nicht erfolgreich. Dazu trug vor allem die Kontroverse um das 1956 von Pfeffer im C. W. Leske Verlag veröffentlichte „Handwörterbuch der Politik“102 bei. Darin erläuterte er ein breites Panorama von 1500 Begriffen aus den Gebieten der Geographie und Geopolitik, der Ethnologie und Demographie, des Staates und der Gesellschaft, der Wirtschaft und des Bildungssystems. Auch zum Stichwort „Politische Wissenschaft“ äußerte sich Pfeffer und sei hier im vollen Umfang zitiert, weil in dem Zitat seine bundesrepublikanische Anknüpfung an, aber auch Absetzung vom nationalsozialistischen Verständnis des Begriffes deutlich wird: „Politische Wissenschaft ist die Übersetzung des englischen Wortes Political Science und soll die Staatsformen und politischen Eigenheiten bestimmter Länder beschreiben sowie politische Erscheinungen international und historisch vergleichen. Das Wort hat nichts mit Politisierung der Wissenschaft oder 99
Vgl. Arno Mohr: Politikwissenschaft als Alternative. Stationen einer wissenschaftlichen Disziplin auf dem Wege zu ihrer Selbständigkeit in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1965, Bochum 1988 und Bleek, Geschichte, 265-307. 100 Auslandsforschung. Schriftenreihe der Auslandswissenschaftlichen Gesellschaft e.V., Heft 1: Vielvölkerheere und Koalitionskriege, Darmstadt: C.W. Leske Verlag 1952, 2, zitiert bei Botsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg, 239. Dort auch die folgende Darstellung der Aktivitäten der Auslandswissenschaftlichen Gesellschaft. 101 Karl Heinz Pfeffer: Auslandskunde, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, hrsg. von Erwin Beckerath u.a., Bd.1, Stuttgart u.a. 1956, 452-455. 102 Karl Heinz Pfeffer: Handwörterbuch der Politik, Darmstadt 1956.
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ihrem Mißbrauch für politische Zwecke zu tun, trotzdem ist seine Einbürgerung in Deutschland nicht geglückt. Es drückt aus, was früher mit der Bezeichnung „Gesamte Staatswissenschaften“ gemeint war.“103 Noch mehr am Herzen lagen Pfeffer, das kann man seinen einschlägigen Beiträgen entnehmen, die „Auslandskunde“ und „Auslandswissenschaft“. Letztere definierte er als „das deutsche Gegenstück zu den Wissenschaften, die man in den USA und in Großbritannien Political Science, International Relations, Contemporary History oder [...] in Frankreich Géographie humaine oder Sciences politiques nennt. Sie wurde 1940-1945 in einer besonderen Fakultät der Universität Berlin und im Deutschen Auslandswissenschaftlichen Institut gepflegt, seitdem in vielfältigen Institutionen und Vereinigungen, darunter in der Auslandswissenschaftlichen Gesellschaft.“104 Zum Skandal wurden aber nicht diese Anknüpfungen des Pfefferschen Handwörterbuches an die nationalsozialistische Politikwissenschaft, sondern seine beschönigenden, die Praxis des NS-Regimes ausklammernden Ausführungen zum Führerstaat und insbesondere zum Nationalsozialismus: „Nationalsozialismus nannte man eine in Deutschland entstandene Bestrebung zur Lösung der Gegenwartsfragen, die auch heute noch zum großen Teil ungelöst sind.[...] Die äußeren Gegner und Sieger betrachteten den Nationalsozialismus als eine Mischung von Nationalismus, Imperialismus, Antisemitismus, Totalitarismus, Militarismus, Terrorismus.[...] In Deutschland versuchten hingegen viele politisch interessierte Menschen, ihre eigenen politischen und sozialen Ideale auf dem Boden des Nationalsozialismus zu vertreten, wenn sie nicht Widerstand leisten wollten.“105 Rezensenten und Protagonisten des demokratiewissenschaftlichen Verständnisses der Politikwissenschaft legten entschiedenen Widerspruch gegen diesen Versuch einer Apologie nationalsozialistischer Ideen und Institutionen ein.106 Danach sah sich nicht nur der Leske Verlag gezwungen, das Handwörterbuch zurückzuziehen, und wurde das Unternehmen von seinem Geschäftsführer Six an den Westdeutschen Verlag verkauft. Auch zog sich Pfeffer von allen politikwissenschaftlichen Ambitionen zurück und ließ die Auslandswissenschaftliche Gesellschaft einschlafen. Erfolgreicher bei der Wiederbelebung außenpolitischer und auslandskundlicher Forschung und Lehre war Arnold Bergstraesser, der dabei an seine frühen akademischen Bemühungen auf dem Gebiet der Auslandswissenschaften anknüpfen konnte. Auf der Gründungsversammlung der „Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien“ sprach er sich 1953 für die Einführung von Area-Studies aus und verwies dabei auf das Vorbild der Auslandswissenschaftlichen Fakultät. Den möglichen Bedenken gegen ein nationalsozialistisches Vorbild begegnete Bergstraesser mit der Einschätzung dieser Fakultät: „wie bei zahlreichen anderen Unternehmungen des nationalsozialistischen Regimes hat man aus einer richtigen Erkenntnis wissenschaftlich, politisch und ethisch falsche und verderbliche Folgerungen gezogen. Daß dies geschehen ist, ändert nichts an dem Tatbestand einer durch die Lage der modernen Welt selbst an die Universität gerichteten Forderung.“107 Bergstraesser gelang es ab Mitte der 1950er Jahre, sein auslandswissenschaftliches Programm in der Bundesrepublik in politikberatenden und -erforschenden Institutionen wie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und ihrem Forschungsinstitut sowie in Publikationen wie den Jahrbüchern für „Internationale Politik“
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Pfeffer: Politische Wissenschaft, in ders.: Handwörterbuch, 200. Pfeffer: Auslandswissenschaft, in: ders.: Handwörterbuch, 24. Pfeffer: Handwörterbuch, 179. Ernst Fraenkel und Karl Dietrich Bracher warfen 1957 in der Einleitung ihres Fischer-Lexikons Staat und Politik dem Handwörterbuch von Pfeffer vor, „unter der Maske wissenschaftlicher Objektivität den nationalsozialistischen Vorgang zu bagatellisieren oder gar nachträglich zu rechtfertigen“. Ernst Fraenkel/Karl Dietrich Bracher (Hrsg.): Staat und Politik, Frankfurt/Main 1957, 13. 107 Arnold Bergstraesser: Amerikastudien als Problem der Forschung und Lehre , in: Jahrbuch für Amerikastudien 1 (1956), 8-14, Zitat 9.
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WILHELM BLEEK
umzusetzen.108 Mit der Expansion der bundesdeutschen Politikwissenschaft in den 1960er Jahren wuchs das Teilgebiet der Internationalen Beziehungen und wurden an vielen Universitäten auch politikwissenschaftliche Regionalstudien wie die Ostasien- und Lateinamerikastudien etabliert, doch knüpfte man dabei nicht an die Auslandswissenschaften des Dritten Reiches, sondern vor allem an das amerikanische Vorbild der International Relations und AreaStudies an. Weitgehend ein Tabu blieb die Untersuchung von Auslandsdeutschen, sieht man von einigen geschichtswissenschaftlichen Arbeiten vor allem zur deutschen Auswanderung des 19. Jahrhunderts ab. Das Thema der Deutschen im Ausland ist nach 1945 als ein Relikt einer in Deutschland überwundenen restaurativen und völkischen Zeit angesehen und verdrängt worden.109 8. Zusammenfassung Unter „politischen Wissenschaften“ wurde im Nationalsozialismus zunächst die ideologische Durchdringung und die propagandistische Verbreitung des nationalsozialistischen Gedankengutes in allen Fächern verstanden. Als dann ab dem Ende der 1930er Jahre ein eigenständiges politisches Fach etabliert wurde, beschränkte es sich auf auslandskundliche und ansatzweise auch außenpolitische Aspekte. Nationalsozialistisches Gedankengut hat in der bundesdeutschen Politikwissenschaft von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen inhaltlich wie personell keine Rolle gespielt. Das Fach konstituierte sich vielmehr aus der Opposition zur nationalsozialistischen Vergangenheit. Auch an die auslandswissenschaftlichen Bemühungen vor 1945 knüpfte man in der Bundesrepublik kaum an; interessante Ähnlichkeiten insbesondere in der Auslandskunde sind dem Gegenstand und kaum personellen Kontinuitäten geschuldet. Die „Politische Wissenschaft“ des Dritten Reiches hat allerdings dem bundesdeutschen Fach eine bis heute nicht ganz überwundene fragwürdige Bezeichnung hinterlassen. Zwar sind bei der Gründung des bundesdeutschen Faches Benennungen wie „Wissenschaft von der Politik“ und vor allem an der Freien Universität als dem langjährigen Vorposten der Fachentwicklung die „Politologie“ zum Zuge gekommen, doch zahlreiche Institute und Lehrstühle führen bis heute die Bezeichnung „Politische Wissenschaft“. Vordergründig handelt es sich dabei um eine Übersetzung des anglo-amerikanischen Codes „Political Science“, doch mehr oder weniger unbewusst haben manche Gründungsväter wie die Bochumer Gründungsautoritäten Hans Wenke und Helmut Schelsky auch an den zwischen 1933 und 1945 üblichen Begriff angeknüpft. Damit ist man nicht gefeit gegen die Missdeutung des Faches als eine „politisierte Wissenschaft“, zumal wenn wie im Dritten Reich in der Mehrzahl von „Politischen Wissenschaften“ gesprochen wird. Unserem heutigen Wissenschafts-, aber auch Verfassungsverständnis erscheint der Begriff „Politikwissenschaft“ angemessener.110 Unter dem Nationalsozialismus hat es nur geringe Ansätze einer „Politikwissenschaft“, dafür aber vielfache Formen einer „Politischen Wissenschaft“ und von „politischen Wissenschaften“ gegeben.111
108 Vgl. Daniel Eisermann: „Außenpolitik und Strategiediskussion“. Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik 1955 bis 1972, München 1999. 109 Vgl. Wilhelm Bleek: Auslandsdeutsche, in: Uwe Andersen/Wichard Woyke (Hrsg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 5. Aufl. 2003, 19-22. 110 Es muss allerdings vermerkt werden, dass einzelne Politische Wissenschaftler wie Karl Heinz Pfeffer und selbst Franz Alfred Six gegen Ende des nationalsozialistischen Regimes die von der DHfP 1930 entwickelte Formel von der „Wissenschaft von der Politik“ aufnahmen. Siehe Bötsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg, 103. 111 Damit weiche ich etwas von meinem früheren Resümee (Bleek: Geschichte, 447) ab, dass das Dritte Reich wie die DDR gar keine Politikwissenschaft zugelassen habe.
ALTORIENTALISTIK JOHANNES RENGER Die folgende Darstellung beabsichtigt zweierlei – zum einen Aussagen hinsichtlich des Faches Altorientalistik im Rahmen des Themas Kulturwissenschaften in Deutschland in den Jahren 1933 bis 1945 zu machen, zum zweiten aber auch in gewissem Umfang eine personenbezogene Dokumentation zur Situation des Faches zu bieten, soweit sich das im vorgegebenen Rahmen als machbar erweist. Bestimmte Fakten zu notieren, erscheint auch deshalb als wünschenswert, solange noch Kenntnisse aus einer lebendigen Verbindung zu den seinerzeit agierenden Fachgenossen genutzt werden können. Die hier gebotene Darstellung soll bereits vorliegende Arbeiten ergänzen, die die Geschichte des Faches zum Gegenstand haben, aber andere Akzente gesetzt haben. Sie können hier dankbar verwendet werden.1 Wissenschaftsgeschichtliche Arbeiten – die auch Biographisches zu einzelnen Personen enthalten – liegen für das Fach Altorientalistik nur partiell vor. Ein spezifisches Interesse an der Geschichte des Faches ist bisher nur in Ansätzen erkennbar. Allerdings gibt es in jüngerer Zeit einige Arbeiten in Form von Aufsätzen und Essays, die sich den bisher wenig untersuchten Aspekten einer Geschichte des Faches unter biographischer, inhaltlicher und zeit- bzw. ideengeschichtlicher Fragestellung widmen. Die Schwierigkeiten, die sich im Hinblick auf die Darstellung der Position des Faches und seiner Vertreter gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie und gegenüber dem Regime selbst ergeben, liegen einmal in seiner Kleinheit, und zum anderen in seiner im Vergleich zu größeren Fächern geringen Wahrnehmbarkeit in der Öffentlichkeit. Das hat den Effekt, dass folglich auch keine öffentlich registrierten Äußerungen aus dem oder über das Fach vorliegen. Beim Erheben von Daten und Fakten stellte sich heraus, dass die Personalakten aus den Universitätsarchiven, aus dem Reichs- und Preußischen Erziehungsministerium sowie Angaben aus der Dokumentation des Berlin Document Center vielfach kaum oder nur wenig Aussagen über das Verhalten der jeweiligen Wissenschaftler in der Zeit des Dritten Reiches machen. Es hat sich auch gezeigt, dass manche Akten und Dossiers nicht vollständig sind und, soweit möglich, durch andere Aktenbestände zu ergänzen sind. Auch mit Kriegsverlusten muss gerechnet werden. Die Durchsicht der NSDAP-Mitgliederkartei und das Computersuchprogramm Basys (Archivsystem für personenbezogene Akten) im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde/Berlin Document Center offenbaren Lücken. Kritisch muss man mit Äußerungen umgehen, die Fachkollegen über andere schriftlich abgegeben haben. Handelt es sich darum, jemandem dem Regime gegenüber als zuverlässig erscheinen zu lassen, obwohl andere Quellen eher das Gegenteil deutlich machen? Bei nach 1945 verfassten Äußerungen besteht durchaus der Verdacht eines Gefälligkeitsschreibens, besonders dann, wenn die Aktenlage das Gegenteil vermuten lässt. Es stellt sich zudem die Frage, inwieweit Äußerungen Einzelner in offiziellen Stellungnahmen oder Schreiben an die Uni1
Siehe insbesondere R. Borger, Nachruf auf W. von Soden, in: Archiv für Orientforschung 44/45, 1997/98, 588-594; M. Müller, Altorientalische Forschungen 9, 1982, 271-283; M. Müller, Die Keilschriftwissenschaften an der Leipziger Universität bis zur Vertreibung Landsbergers im Jahre 1935, in: Wissenschaftliche Zeitschrift – Karl-Marx-Universität Leipzig 28/Heft 1, 1979, 67-86; P. Koschaker, Paul Koschaker, in: N. Grass (Hrgb.), Österreichische Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 2 , Innsbruck, 1951, 105-125. – S. außerdem J. Renger, Die Geschichte der Altorientalistik und vorderasiatischen Archäologie in Berlin von 1875 bis 1945, in: W. Ahrenhövel, C. Schreiber (Hrgb.), Berlin und die Antike – Aufsätze, Berlin, 1979, 151-192 (= Renger 1979); J. Renger, Altorientalistik und jüdische Gelehrte in Deutschland – Deutsche und österreichische Altorientalisten im Exil, in: W. Barner, C. König (Hrgb.), Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 18711933, Göttingen, 2001, 247-266 (= Renger 2001).
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versitätsverwaltung, die ein deutliches Bekenntnis oder Zustimmung zum System enthalten, innerer Überzeugung des Verfassers entsprechen, oder kann man hier ein taktisches Verhalten vermuten? Auf jeden Fall muss im Einzelfall unter Einschluss anderer Quellen abgewogen werden. Auch die Durchsicht von Fachpublikationen aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 hat nur wenig Relevantes ergeben. Nur in einem Fall kann man sich auf Autobiographisches stützen. Auch die allermeisten Nachrufe haben nur eine minimale Aussagekraft hinsichtlich der Situation des Faches und seiner Repräsentanten in der Zeit zwischen 1933 und 1945. Die Nachrufe in den Fachorganen blenden – von Ausnahmen abgesehen – die Verhältnisse und Verstrickungen während der NS-Zeit aus. Gelegentlich wird die Vertreibung aus Deutschland als simpler Wechsel von einer akademischen Position in Deutschland auf eine im Ausland vermerkt, ohne den eigentliche Grund zu benennen. Insofern bekommen die Auskünfte und Erinnerungen von Zeitzeugen und Betroffenen ein besonderes Gewicht. Zudem kursieren im Fach eine Reihe von on-dits, die sich allerdings meist nicht als verwertbar erweisen, auch wenn ihnen ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit zukommt, weil nicht immer hinreichend aus anderen Quellen verifizierbar. Mehrfach ist man auf Rückschlüsse angewiesen, soweit die jeweilige akademische Position nach 1945 Schlussfolgerungen erlaubt – etwa Weiterbeschäftigung bzw. Entfernung aus dem Dienst. Zu berücksichtigen sind dabei auch die unterschiedlichen Verfahrensweisen in den jeweiligen Besatzungszonen. Am rigidesten scheint man sich in der britischen Zone verhalten zu haben. Fragen, auf die die Personalakten und andere Archivmaterialien keine Antwort geben, betreffen die Motive, die vor allem jüngere Wissenschaftler bewogen haben, sich der nationalsozialistischen Ideologie und Bewegung zu öffnen. Unbeantwortet bleibt daher auch, inwiefern die allgemeine Stimmung in den letzten Jahren der Weimarer Republik, deutschnationale Vorprägung oder auch von der Jugendbewegung ausgehende Impulse die Nähe zum NS-Regime oder die Identifikation mit dem Regime befördert haben. Nicht zu unterschätzen ist auch der Druck, den Organe des Regimes oder die Universitäten auf einige Wissenschaftler ausgeübt haben, wenn es um die berufliche Karriere ging. Die Akten geben zu erkennen, in welchem Maße Beurteilungen durch die jeweiligen Führer des Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbundes (NSDDB) bzw. der nationalsozialistisch organisierten Studentenschaft akademische Karrieren beeinflussen konnten. Grundsätzlich wurden zu allen Personalentscheidungen Stellungnahmen des jeweiligen Führers des NSDDB per Formularvordruck angefordert. Das betraf auch Reisen ins Ausland, wozu das Auswärtige Amt vom Reichserziehungsministerium fallweise um eine Stellungnahme gebeten wurde.2 Auch die Teilnahme deutscher Professoren an internationalen Kongressen wurde vom Reichserziehungsministerium ‚organisiert‘ und auch ein Leiter der ‚Delegation‘ bestimmt. In besonderen Fällen scheint auch das Amt des Stellvertreters des Führers, Hess, Beurteilungen abgegeben zu haben.3 Aber auch der SD (des Reichssicherheitshauptamtes) sammelte Informationen, die gelegentlich Eingang in die Personalakten gefunden haben. Inwieweit und ab welcher Zeit es eine organisierte und systematische Überwachung des akademischen Bereiches gab, muss von anderer Seite untersucht werden. Außerdem hatte das Amt Rosenberg – der Beauftragte des Führers für die Überwachung der gesamten geis-
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S. z.B. die Personalakte Koschaker im Archiv der Humboldt-Universität Berlin Blatt 52 (3. März 1941) betr. Reise Paul Koschakers zu Vorträgen in Bukarest. S. z.B. die Personalakte Koschaker im Archiv der Humboldt-Universität Berlin Blatt 26: „Das Urteil meiner Parteidienststellen ist nicht einheitlich. Tatsachen, aus denen die politische Unzuverlässigkeit des K. herzuleiten wäre, sind nicht bekannt geworden.“
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tigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP – ein Auge auf die akademische Elite.4 Definition des Faches, seine Stellung an den deutschen Universitäten Die Altorientalistik, so die heute übliche Bezeichnung des oft auch als Assyriologie bezeichneten Faches, beschäftigt sich mit den Sprachen, der Geschichte und den Kulturen des Vorderen Orients (d.h. Kleinasiens, Syriens und Palästinas und des Iraq) im Altertum, d.h. vom 4. bis zum Ende des 1. Jt. v. Chr., soweit sie durch die Keilschrift als Schriftmedium und die damit geschriebenen semitischen und nicht-semitischen Sprachen charakterisiert sind. Im Mittelpunkt von Forschung und Lehre im Fach Altorientalistik stehen das semitische Akkadische (Babylonisch-Assyrisch), das keiner bekannten Sprachfamilie zuzuordnende Sumerische als der ältesten schriftlich bezeugten Sprache der Menschheit (seit ca. 3200 v. Chr.), sowie das Hethitische. Vor allem das Akkadische und das Hethitische spielen in den vergleichenden Sprachwissenschaften Semitistik und Indogermanistik (vergleichende Indoeuropäische Sprachwissenschaft) als den jeweils ältesten bekannten Sprachen der jeweiligen Sprachfamilien eine bedeutende Rolle.5 Die Vorderasiatische Altertumskunde oder Vorderasiatische Archäologie konzentriert sich auf die materiellen Hinterlassenschaften der vor- und frühgeschichtlichen Zeit sowie die der altorientalischen Hochkulturen des Vorderen Orients. Sie versteht sich als eine historische Wissenschaft und bemüht sich in Zusammenarbeit mit der Altorientalistik um eine umfassende Darstellung der Kultur und Geschichte des Alten Orients.6 Die Altorientalistik ist als sogenanntes „kleines Fach“ Teil der in Deutschland seit dem 19. Jh. hervorragend vertretenen orientalistischen Fächer, die im internationalen Maßstab höchste Anerkennung genossen und auch heute weiterhin genießen. Sie ist ein wichtiges Element im Spektrum der Kulturwissenschaften. Das äußerte sich in ihren Anfängen im 19. Jh. auch darin, dass sie, wie andere orientalistische Fächer in vielfältiger Weise von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften unterstützt und gefördert wurde. Im engeren Sinne stand die Altorientalistik in direkter Verbindung mit der Semitistik, also der akademischen Disziplin, die sich mit den jüngeren semitischen Sprachen befasst: Arabisch, Aramäisch und Syrisch, Phönikisch und Hebräisch, sowie Äthiopisch, um nur die wesentlichen Sprachgruppen innerhalb der Familie der semitischen Sprachen zu nennen. Diese Verbindung zur Semitistik wird auch dadurch deutlich, dass eine Reihe von Altorientalisten Lehrstühle und Professuren innehatten, die als semitistisch definiert waren. Altorientalisten hielten daher auch regelmäßig Lehrveranstaltungen ab, die diesen Sprachen galten.7 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg haben diese Lehrveranstaltungen mit zunehmender Binnendifferenzierung im Fach Altorientalistik immer mehr abgenommen. Die beachtliche Zahl von altorientalistisch geprägten Professuren an deutschen Universitäten Ende des 19. und Anfang des 20. Jh. zeugt von der Bedeutung, die dem Fach im Fächerkanon philosophischer Fakultäten damals beigemessen wurde und bis heute auch noch wird. Um die Jahrhundertwende existierten altorientalistisch besetzte Professuren in Berlin, 4 5 6 7
Das Findbuch NS 15 im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Berlin Document Center, enthält eine alphabetische Liste aller durch das Amt Rosenberg erfassten Personen aus diesem Kreis. Allerdings enthalten die Dokumente oft nur Triviales. S. dazu J. Renger, Altorientalische Philologie und Geschichte, in: Der Neue Pauly, Bd. 13, Stuttgart, 1999, 101-113. H.-J. Nissen, Vorderasiatische Archäologie, in: Der Neue Pauly, Bd. 15, Stuttgart, 2003, 1049-1056. Zum Beispiel E. Schrader (Äthiopisch, Arabisch, Biblisches Aramäisch, Sabäisch); F. Delitzsch (Arabisch, Türkisch, Hebräisch, Aramäisch); B. Meissner (v.a. klassisches Arabisch, Iraq-Arabisch, Syrisch); W. von Soden (Äthiopisch); A. Falkenstein (klassisches Arabisch, Iraq-Arabisch, Ugaritisch).
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Breslau, Göttingen, Heidelberg, Jena, Königsberg, Leipzig, Marburg, München, Straßburg und Würzburg. Der Stellenwert der Altorientalistik an deutschen Universitäten wird auch ersichtlich, wenn man die Zahl der deutschen Professuren mit denen in den Ländern vergleicht, die entscheidenden Anteil an der Entwicklung des Faches seit der Mitte des 19. Jh. hatten – Frankreich und England, auch wenn man die andersartigen Strukturen der jeweiligen Hochschulsysteme berücksichtigt. Besonders in Frankreich war die Altorientalistik im Wesentlichen in der Hauptstadt, d.h. in Paris konzentriert (Sorbonne, Collège de France, École Pratique des Hautes Études, Louvre), in England in London (British Museum, University of London), Oxford und Cambridge. In den USA existierten Professuren an der JohnsHopkins University, Baltimore, der Columbia University in New York, Yale in New Haven, Harvard in Cambridge/MA, am Oriental Institute der University of Chicago, der University of Michigan, Ann Arbor, sowie an der University of California, Berkeley. Die Bedeutung des Faches Altorientalistik gründete zu einem nicht unbedeutenden Teil auf dem Interesse, das den Ergebnissen altorientalistischer Lehre und Forschung von seiten der Vertreter der alttestamentlichen Theologie, Geschichte und Exegese an den theologischen Fakultäten in Deutschland entgegengebracht wurde. Eine Reihe von Altorientalisten kam von der protestantischen und katholischen Theologie her, zahlreiche Alttestamentler hatten eine altorientalistische Vorbildung. Hinzu kommt, dass gegen Ende des 19. und dem Beginn des 20. Jh. das öffentliche Interesse in Deutschland für den Alten Orient und seine Kulturen im Zusammenhang mit den von der Deutschen Orient-Gesellschaft durchgeführten Ausgrabungen in Babylon und Assur in besonderer Weise geweckt worden war. Dazu hat sicher auch beigetragen, dass die politischen, intellektuellen und akademischen Eliten im Kaiserreich, besonders aber in Berlin, deutsche Forschungen in Mesopotamien großzügig und intensiv fördernd begleitet haben.8 Die Beschäftigung mit dem Alten Orient an den deutschen Universitäten war zunächst vornehmlich philologischer Natur. Archäologische Forschung und Ausgrabungstätigkeit wurden von privater Seite, d.h. zuerst vom sogenannten Orient-Comité, seit 1898 von der Deutschen Orient-Gesellschaft organisiert.9 Vor allem die Deutsche Orient-Gesellschaft hat in Zusammenarbeit mit den Berliner Museen bedeutende Ausgrabungen im Vorderen Orient unternommen. Professoren der Altorientalistik, v.a. Friedrich Delitzsch und Bruno Meissner, haben ihre Studenten mit den Ergebnissen der Ausgrabungen im Vorderen Orient bekannt gemacht, aber eben keine Archäologen ausgebildet. Erst 1922 wurde die Vorderasiatische Archäologie erstmals in Deutschland an der Berliner Universität als akademische Disziplin begründet, wobei der Althistoriker Eduard Meyer die treibende Kraft war.10 Erster Fachvertreter war Ernst Herzfeld. Er wurde, weil Jude, nach der Machtübernahme durch Hitler entlassen, d.h. in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Herzfeld lebte bereits vor 1933 vorwiegend außerhalb Deutschlands und hielt sich ab 1934 zunächst in England und später in den USA auf.11 8
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S. N. Crüsemann, „Ja! Wir werden das Licht des deutschen Genius auch dorthin tragen.“ – Der Beginn der Ausgrabungen in Assur im Spiegel Preussisch-deutscher Orientpolitik unter Wilhelm II., in: J. Marzahn, B. Salje (Hrgb.), Wiedererstehendes Assur – 100 Jahre deutsche Ausgrabungen in Assyrien, Mainz, 2003, 35-44; O. Matthes, James Simon. Mäzen im Wilhelminischen Zeitalter, Berlin, 2000, 199266. S. dazu J. Renger, loc. cit. (Anm. 1: Renger 1979), 158-162. S. J. Renger, loc. cit. (Anm. 1: Renger 1979), 186f. S. J. Renger, Ernst Herzfeld in Context: Gleanings from his Personnel File and Other Sources, in: A. Gunter, S. Hauser (Hrgb.), Ernst Herzfeld and the Development of Near Eastern Studies, Leiden, 2005, 561-582. Eine gegen Herzfeld gerichtete Denunziation durch den Prähistoriker Alexander Langsdorff (ehemaliger Mitarbeiter Herzfelds in Iran, Mitglied der NSDAP und bei Kriegsende SS-Standartenführer), die sich in den Akten des Auswärtigen Amtes findet, hat keine Spuren in der Personalakte der Berliner Universität hinterlassen, s. dazu S. 575 m. Anm. 46.
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Die Altorientalistik in Deutschland zu Beginn des Dritten Reiches Anfang 1933 war die Altorientalistik in Deutschland mit Professuren (Namen der Professoren in Klammern) in Berlin (B. Meissner, E. Ebeling, H. Ehelolf), Breslau (Th. Bauer), Giessen (J. Lewy), Leipzig (B. Landsberger, J. Friedrich, F.H. Weissbach), Marburg (A. Goetze), Münster (F. Schmidtke), Würzburg (M. Streck) vertreten. Bonn, Göttingen, Jena, Heidelberg und München waren zu dieser Zeit nicht besetzt. Die beiden herausragenden Zentren altorientalistischer Lehre und Forschung in Deutschland in den ersten drei Dezennien des 20. Jh. waren Berlin12 und Leipzig.13 Die besondere Rolle der Berliner Altorientalistik beruhte zum einen auf der engen Verbindung zwischen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, dem Vorderasiatischen Museum, der Deutschen Orient-Gesellschaft und der Universität. Nach dem Ausscheiden von Friedrich Delitzsch, dem unbestrittenen Nestor der Disziplin auch über die Grenzen Deutschlands hinaus, im Jahr 1922, gab Bruno Meissner dem Fach Altorientalistik in Berlin auch weiterhin ein über die Stadt hinauswirkendes Profil. In Leipzig wirkte nach Heinrich Zimmern, einem ebenfalls überaus bedeutsamen und einflussreichen Gelehrten, Benno Landsberger14 – ab 1920 als Privatdozent, 1926-1928 als a.o. Professor und nach einer kurzen Unterbrechung als Ordinarius in Marburg – seit 1929 als Ordinarius. Landsberger, wohl der für Jahrzehnte bedeutendste Altorientalist, hat dem Fach durch seine programmatische Schrift „Die Eigenbegrifflichkeit der babylonischen Welt“15 und seine innovativen Ideen zur Grammatik des Akkadischen aber auch der semitischen Sprachen insgesamt grundlegende Impulse für die Zukunft gegeben, und es dadurch auch endgültig aus seiner gern gesehenen Position als ‚Hilfswissenschaft‘ für die Wissenschaft vom Alten Testament gelöst.16 Sowohl Meissner als auch Landsberger haben zahlreiche Schüler ausgebildet, die in der Folgezeit die deutsche und internationale Altorientalistik geprägt haben. Dazu gehören die Schüler Landsbergers Adam Falkenstein (1929),17 Wilhelm Eilers (1931), Hans-Gustav Güterbock (1934), Fritz-Rudolf Kraus (1934), Walther G. Kunstmann (1930),18 William J. Martin (1935), Lubor Matouš,19 Karl Friedrich Müller (1933), Hans-Siegfried Schuster (1936),20 Johann Jakob Stamm (1936). Auch die Rechtshistoriker Martin David (1924), Josef Klima,21 Viktor Korošec (1930), Julius Lautner (1922) und Herbert Petschow (1939) gehörten als Schüler Paul Koschakers mittelbar zu den Schülern Landsbergers. 12 13 14 15 16 17
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Im Einzelnen s. J. Renger, loc. cit. (Anm. 1: Renger 1979). Im Einzelnen s. M. Müller, loc. cit. (Anm. 1). S. J. Renger, loc. cit. (Anm. 1: Renger 2001), 252-255. Islamica 2, 1926, 355-371, Nachdruck als Libelli 142, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1965. Siehe dazu die gedruckte Antrittsvorlesung von Heinrich Zimmern am 1. November 1889 an der Universität Königsberg mit dem Titel „Die Assyriologie als Hülfswissenschaft für das Studium des Alten Testaments und des klassischen Altertums.“ Landsberger (mündlich 1967) zu Falkenstein als seinem Schüler: Das sei eine große Ehre, aber er müsse das Kompliment an Heinrich Zimmern weiterreichen. Andererseits hat sich Falkenstein – obwohl zunächst Schüler von Fritz Hommel in München und dann unter Zimmern in Leipzig promoviert – selbst stets auch als Schüler Landsbergers empfunden und ist von der Fachwelt immer so gesehen worden, wie auch die unten zu besprechenden Polemiken zeigen. Laut Vorblatt in seiner Dissertation Promotion am 15. Mai 1930 unter H. Zimmern und A. Fischer, die Arbeit wurde aber lt. curriculum vitae (abgedruckt am Ende des Dissertationsdrucks) von Landsberger angeregt und begleitet. 1928 und 1929 Studium in Leipzig bei Landsberger, 1930 Promotion in Prag, danach wieder in Berlin und Leipzig und Zusammenarbeit mit Landsberger; s. den Nachruf von J. Klima, in: Archiv für Orientforschung 31, 1984, 235-237. Arbeit angeregt und betreut von Landsberger, Promotionsverfahren erst unter Friedrich. Landsberger hat sich aus Ankara weiterhin brieflich intensiv um die Fertigstellung der Dissertation gekümmert. 1933 und 1934 Studium bei Koschaker und Landsberger in Leipzig, Promotion 1932 in Prag; s. B. Hruška, J. Prošecky, in: Altorientalische Forschungen 17, 1990, 191-219, bes. 192.
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Schüler Meissners waren u.a. Viktor Domka (1924), Hans Schlobies (1925), Josef Schawe (1928), Pater Anton Pohl (1929), Dietrich Opitz (1930), Rudolf Scholtz (1931), Paul Kraus (1931), Oluf Krückmann (1931), Moritz Seidmann (1934), Heinz Waschow (1934), Gerhard Meier (1936) und Markus Ehrenkranz (1936). Vertreibung und Emigration Für das Fach bedeutete die Übernahme der Macht durch Hitler einen dramatischen Einschnitt. Welche Beurteilung das Fach schon bald – auch seitens fachlich hervorragender Orientalisten – erfahren konnte, verdeutlichen Bemerkungen des Iranisten H.H. Schaeder, der 1940 in einem Nachruf auf den hochverdienten Altorientalisten Hans Ehelolf schreibt: „Dagegen hat es der Orientalist nur ausnahmsweise mit Geistesschöpfungen zu tun, die ihn als Menschen seiner Zeit und seines Volkes innerlich angehen, die nicht nur sein Wissen vermehren, sondern ihn menschlich bereichern. Seine Arbeit ist darauf angelegt – und um so mehr, je ernster er sie betreibt – ihn in der Bildungsgemeinschaft, in der er lebt, zu isolieren, ihn zum abseitigen Liebhaber einer Wissenschaft des nicht Wissenswerten verkümmern zu lassen. Und diese Gefahr betrifft mehr als irgendeinen anderen den Erforscher der großen altorientalischen Kulturen. Denn diese haben nicht einmal geschlossene Literaturen – wie die israelitische, die zoroastrische, die islamische – hinterlassen, sondern sind nur in lückenhaften Umrissen aus zufälligen Funden von Texten und Textbruchstücken zu rekonstruieren, die mühseligste Arbeit erfordern und dabei den Bearbeiter, aufs Ganze und aufs Menschliche gesehen, arm und leer lassen. Muss nicht ein Mensch, der seine besten Jahren an das Entziffern und Erklären von Tontafeln setzt, auf die unweise Priester und Kanzlisten vor dreitausend Jahren und mehr die gleichgültigsten Dinge von der Welt geschrieben haben, zum Homunkulus einschrumpfen, zum Retortenmenschen, der in seiner gläsernen Kugel von der wirklichen Welt abgeschnitten ist?“22 Von der Machtübernahme durch Hitler waren zunächst zwei jüdische Gelehrte betroffen: Benno Landsberger und Julius Lewy. Der bedeutendste Fachvertreter in Deutschland und weltweit, Benno Landsberger, der in Leipzig lehrte, wurde als hochdekorierter Frontoffizier des 1. Weltkrieges erst im April 1935 entlassen und emigrierte bereits im Spätherbst 1935 in die Türkei, wo man ihm eine Professur in Ankara angeboten hatte.23 Landsbergers Entlassung aus dem Dienst an der Universität Leipzig zusammen mit sechs weiteren Professo22 23
Aus H.H. Schaeder, Hans Ehelolf – 30. Juli 1891 – 29. Mai 1939. Ein Gedenkwort, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, 94,1940, 3. S. ausführlich M. Müller, loc. cit. (Anm. 1), 76-86; J. Renger, loc. cit. (Anm. 1: Renger 2001), 252-255; S. jetzt auch J. Oelsner, Der Alltorientalist Benno Landsberger (1890-1968): Wissenschaftstransfer Leipzig – Chicago via Ankara, in: S. Wendehorst (Hrgb.), Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 2006, 269-285; außerdem Brief H.-S. Schuster vom 12. Juni 1999. – In Ankara war Landsberger 1946 Mitglied des Akademischen Senats, s. Haymatloz. Exil in der Türkei 1933-1945 (Schriftenreihe des Vereins Aktives Museum Bd. 8), Berlin 2000, 31 Abb. 5. Dass Landsberger die Stelle in Ankara durch Vermittlung der nationalsozialistischen Regierung erhalten habe, wie W. von Soden in einem Brief an E. Unger vom 13. Mai 1939 (Personalakte Unger im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK U 16/3 Blatt 51) schreibt, erscheint zweifelhaft. Ob dahinter das Wissen darüber steht, dass Landsberger seine Bibliothek hat mitnehmen können? Das Gesetz betr. die sog. 'Fluchtsteuer' von 1931, seinerzeit aus anderen Gründen verabschiedet, wurde vom NS-Regime jetzt in diskriminierender Weise gegen Juden und andere dem Regime missliebige Beamte angewandt, die emigrieren wollten. Das Gesetz verpflichtete Beamte, eine Genehmigung der Dienstbehörde zur Übersiedlung ins Ausland einzuholen. Das galt auch für ehemalige Beamte. Schließlich verfügte die „Elfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ vom 25. November 1941 in §1, daß ein Jude, der seinen gewöhnlichen Wohnsitz im Ausland hatte, nicht deutscher Staatsbürger sein könne; nach §3 verfiel das gesamte Vermögen einer Person, die auf Grund dieser Verordnung ihre deutsche Staatsanghörigkeit verloren hatte, dem Deutschen Reich.
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ren in Sachsen – u.a. Victor Klemperer – geschah durch Erlass des Gauleiters und sächsischen Reichsstatthalters Martin Mutschmann vom 10. April 1935, ausgefertigt vom Sächsischen Ministerium für Volksbildung am 29. April 1935 und am 30. April zugestellt. Landsberger wurde auf Grund von § 6 BBG in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Sein Ruhegehalt ruht wähernd seiner ‚Abwesenheit‘. Weil es für seine Entlassung zu diesem Zeitpunkt aber noch keine reichsgesetzliche Voraussetzung gab (die erst durch das Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935 gegeben war), wurde diese Maßnahme vom Reichserziehungsminister Rust als Einmischung in seine Kompetenzen betrachtet und führte am 20. Juli 1935 zu einer Intervention des Ministeriums bei Hitler „gegen die rechtswidrige Entlassung der restlichen sechs, bisher als ehemalige Frontkämpfer in ihren Stellungen geschützten nichtarischen Professoren im sächsischen Hochschuldienst durch Reichsstatthalter Mutschmann.“ Ein Vermerk vom Staatsekretär in der Reichskanzlei Lammers vom 31. Juli 1935 besagt: „Der Führer hat Kenntnis. Er hat dahin entschieden, dass eine Wiedereinsetzung der 6 Professoren nicht in Frage kommen könne.“24 In Leipzig selbst versuchte unmittelbar nach der Mitteilung über Landsbergers Entlassung sein Schweizer Schüler J.J. Stamm vergebens, einen Einspruch beim Dekanat einzubringen, ebenso wenig waren die Bemühungen eines amerikanischen Studenten (J.B. Reilly) von Erfolg gekrönt.25 Im Mai 1935 setzten sich fünf Professoren der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig, darunter Werner Heisenberg, Bernhard Schweitzer und B.L. von der Waerden vergeblich für Landsberger ein. Insbesondere von der Waerden wurde massiv von seiten des Dekans bedroht.26 Landsberger hatte sich, obwohl von seinen Schülern H.-S. Schuster und K. F. Müller gedrängt, nicht entschließen können, sich auf die 1934 freien Professuren an der Columbia University bzw. an der Yale University zu bewerben.27 Julius Lewy, Professor in Gießen, wurde bereits 1933 entlassen. Über Paris, Palästina, wo sein Vater als Arzt tätig war, gelangte er schließlich in die USA, wo er seit 1936 als Professor for Semitic Languages and Biblical History am Hebrew Union College in Cincinnati lehrte.28 Seine Professur wurde umgewidmet, Orientalistik mit Lehrauftrag für den moderneren Orient wahrgenommen.29 Mit Julius Lewy musste auch seine Ehefrau Hildegard Lewy Deutschland verlassen. Sie war eine promovierte Physikerin, die sich nach ihrer Eheschließung der Altorientalistik zugewandt und sich bald im Fach eine eigenständige und geachtete Stellung erworben hat. Anders verhielt es sich mit Albrecht Goetze (Götze), Professor in Marburg und einem der profiliertesten Vertreter der noch jungen Disziplin Hethitologie. Er engagierte sich bereits vor 1933 als dezidierter Gegner der Nationalsozialisten in den entscheidenden Reichstagswahlkämpfen der Jahre 1932 und 1933 auf der demokratischen Linken. Als Folge musste er schon im Frühjahr 1933 aus Deutschland fliehen, SA-Trupps versuchten ihn zu ergreifen.30 Auch der Mathematikhistoriker Otto Neugebauer, der sich unvergleichliche 24 25 26 27 28
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Akten der Reichskanzlei – Die Regierung Hitler, Band II: 1934/35, Teilband 2: Juni – Dezember 1935, München 1999, Vorträge Lammers bei Hitler Nr. 491. Brief H.-S. Schuster vom 12. Juni 1999. S. M. Müller, loc. cit. (Anm. 1), 84. Brief H.-S. Schuster vom 12. Juni 1999. Ausführlich K. Hecker, Julius Lewy. (1895-1963)/ Assyriologe, in: Gießener Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jh., Marburg 1982, 626-633; weitere Informationen enthält die Personalakte u.a. zur Habilitation von Lewy sowie Akten zu Wiedergutmachungsleistungen durch die Bundesrepublik Deutschland; s. außerdem Neue Deutsche Biographie Bd. 14, 1985, 419. S. L. Hanisch, Die Nachfolger der Exegeten. Deutschsprachige Erforschung des Vorderen Orients in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 2003, 134 mit Anm. 480. Das Buch von L. Hanisch enthält eine umfassende Dokumentation zur Situation der Arabistik, Semitistik, Turkologie und Iranistik in der Zeit des Dritten Reiches. Die Situation der Altorientalistik wird ebenfalls berücksichtigt, allerdings weniger ausführlich. B.R. Foster, in: J.A. Garray, M.C. Carnes (Hrgb.), American National Biography, Bd. 9, New York, 1999, 166f.
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Verdienste um die Erforschung der Mathematik und mathematischen Astronomie der Babylonier erworben hat, verließ Deutschland 1933 aus politischen Gründen und ging zunächst nach Kopenhagen, und nahm 1939 einen Ruf an die Brown University in Providence/Rhode Island an.31 Die Altorientalistik in Deutschland in den Jahren 1933-1945 Über die Haltung der deutschen Altorientalisten vor und nach 1933 gegenüber dem Nationalsozialismus – soweit sie nicht unmittelbar von der NS-Gesetzgebung und anderen ‚Maßnahmen‘ des Regimes betroffen waren – gibt es, von Einzelfällen abgesehen, nicht immer tragfähige Angaben oder Unterlagen. In den im Folgenden zusammengestellten Angaben sind alle in dieser Zeit wissenschaftlich aktiven Fachvertreter der Altorientalistik genannt. Franz Heinrich Weissbach, seit 1897 Privatdozent in Leipzig, seit 1930 Honorarprofessor für altorientalische Geschichte daselbst, hauptberuflich Bibliothekar an der Universitätsbibliothek Leipzig, wurde im Frühjahr 1935 wegen seines Eintretens für freimaurerische Kollegen mit Vorlesungsverbot belegt und schließlich im gleichen Jahr mit dem Entzug der Lehrbefugnis bestraft.32 1944 kam er bei einem Bombenangriff ums Leben. Johannes Friedrich (1924 Privatdozent, 1929 nichtbeamteter a.o. Professor in Leipzig), war einer der bedeutenden Hethitologen Deutschlands, vertrauter Kollege von Benno Landsberger und seit 1936 dessen Nachfolger auf dem Leipziger Lehrstuhl. Noch bis 1936 (Band 43) gab Benno Landsberger in Verbindung mit J. Friedrich und F.H. Weissbach die „Zeitschrift für Assyriologie“ heraus. Dass Friedrich politisch nicht im Sinne der Nationalsozialisten hervorgetreten ist, darf man auch daraus schließen, dass er nach 1945 nicht nur seine Professur behielt, sondern sogar zum Rektor der Universität Leipzig für das akademische Jahr 1948/1949 gewählt wurde, als bürgerliches Aushängeschild, wie er selbst berichtete.33 Seit 1950 war er Professor an der Freien Universität Berlin. Von besonderem Interesse dürfte in diesem Zusammenhang sein, dass es offensichtlich nicht gelungen ist die Hethitologie im Sinne nationalsozialistischer Vorstellungen zu instrumentalisieren, obwohl sich das Hethitische als die älteste bezeugte indoeuropäische (damals indogermanische) Sprache besonders gut zu derartigen Zwecken hätte einsetzen lassen. Das erhellt auch aus der Begründung des Dekans der Philosophischen Fakultät in Leipzig, der den Vorschlag für die Besetzung des altorientalistischen Lehrstuhls (Nachfolge Landsberger) statt mit einem Assyriologen mit dem Hethitologen Johannes Friedrich damit begründete, dass „heute naturgemäß die indogermanischen Völker Vorderasiens, unter denen die Hethiter eine bedeutende Rolle spielen, gegenüber den semitischen Völkern, mit denen es die Assyriologie zu tun hat, das größere Interesse“ verdienten.34 Aber damit hatte es sein Bewenden. In ähnlicher Weise argumentierte man in Berlin bei der Nachfolge von Bruno Meissner. Die Berufungskommission betonte, die Hethitologie habe „eine besondere Bedeutung vom Augenblick an gewonnen, wo sich erwies, dass zu den konstituierenden Kräften dieses altkleinasiatischen Reichs eine indogermanische Gruppe gehört.“35 Im Übrigen waren zwei der profiliertesten Vertreter des Faches, Albrecht Goetze und
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S. M. Folkerts, F. Schmeidler, in: Neue Deutsche Biographie 19, 1998, 121f. S. M. Müller, loc. cit. (Anm. 1), 85. G. Neumann, Historische Sprachforschung 109, 1996, 309. S. M. Müller, loc. cit. (Anm. 1), 85. Personalakte Meissner im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK M 125/2 Blatt 18-20 (26. Dezember 1935) im Zusammenhang mit dem Vorschlag, Hans Ehelolf zur Berufung vorzuschlagen.
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Hans-Gustav Güterbock, zur Emigration gezwungen worden. Hans Ehelolf, Kustos am Vorderasiatischen Museum, ließ sich ebensowenig einspannen wie Johannes Friedrich. In Berlin lehrte neben dem Ordinarius Bruno Meissner (emeritiert Ende März 1936) Erich Ebeling, der 1909 unter Friedrich Delitzsch promoviert worden war. Nach seiner Promotion arbeitete er als Studienrat, war aber daneben ein profilierter Altorientalist, dem das Fach sehr viel verdankt.36 Neben seinem schulischen Lehramt nahm er Lehraufträge an der Berliner Universität wahr, wurde zum Wintersemester 1924/25 zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor ernannt. Zusammen mit P. Koschaker und H. Ehelolf promovierte er im Jahr 1938 die polnische Jüdin Miriam Seif. Das hat ihm Anfang 1939 eine Vorladung der für ihn zuständigen Kreisparteileitung der NSDAP eingebracht, weil er jüdische Studenten begünstige. Auf seine Weigerung hin sich antijüdisch zu äußern wurde ihm ein Verweis erteilt und bedeutet, dass er auf Beförderungen in Zukunft nicht rechnen könne.37 Zum 6. September 1939 war er dennoch zum außerplanmäßigen Professor ernannt worden. Der Vorgang war von der Fakultät mit dem Argument begründet worden, das Ordinariat für Assyriologie sei immer noch vakant.38 Im Vorfeld seiner Ernennung wurde ihm vom zuständigen Führer des NSDDB bedeutet, ein Eintritt in die Partei könne den Vorgang beschleunigen. Ebeling lehnte einen Eintritt in die NSDAP ab.39 Ebelings wirtschaftliche Situation war durch die Schwierigkeiten an der Universität nicht ernsthaft gefährdet, da er über ein ausreichendes Einkommen aus Privatvermögen verfügte.40 Mindestens seit Frühjahr 1943 war Ebeling nicht mehr im Schuldienst beschäftigt.41 W. von Soden war vom Dekan der Philosophischen Fakultät aufgefordert, zu der Bitte Ebelings vom 12. Dezember 1942, ihn zum Honorarprofessor zu ernennen, gutachterlich Stellung zu nehmen. Von Soden erkannte zwar Ebelings wissenschaftliche Leistungen an, sah aber für die Zukunft Schwierigkeiten in der Fakultät in Sachen Assyriologie und Promotionsverfahren voraus, da Ebeling eng mit Unger (mit dem von Soden in heftiger Fehde lag) verbunden sei.42 Er wolle sich aber zurückhalten, könne aber einer Ernennung nur zustimmen, wenn eine andere Universität vorgeschlagen werde. Dass hier auch die jahrelangen wissenschaftlichen Kontroversen zwischen beiden eine Rolle gespielt haben und ein gedeihliches Nebeneinander zwischen beiden schwer vorstellbar war, leuchtet ein. Ebeling war nach 1945 Direktor des Heinrich-Schliemann-Gymnasiums im Ostteil Berlins, bis er 1947 in seine alte akademische Position, nach neuer Bezeichnung auf eine Professur mit vollem Lehrauftrag an der Ostberliner Linden-Universität berufen wurde.43 Zum 1. September 1951 wurde er zum ordentlichen Professor ernannt.44 1954 wurde er dann mit Erreichen der Altersgrenze emeritiert. 36 37
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S. u.a. J. Renger, loc. cit. (Anm. 1: Renger 1979), 187f. Brief Ebeling an die Centrale für Volksbildungswesen vom 30. Dezember 1945 (Personalakte im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK E 3a/2 Blatt 47). Ebeling hat vermutlich einen weiteren jüdischen Studenten, Saul Weingort aus Biala in Polen, promoviert. Im Dissertationsdruck (Berlin 1939) fehlen merkwürdigerweise sowohl der Hinweis auf den Tag der Promotion und die Namen der Gutachter zu Beginn als auch das curriculum vitae am Ende. Meissner wurde vom Dekan bereits mit Brief vom 6. Juli 1936 um ein Gutachten gebeten; s. die Personalakte Meissner im Archiv der HumboldtUniversität UK M 125/2 Blatt 46. Personalakte im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK E 3a/2 Blatt 63: Dekan Koch im Einvernehmen mit dem Führer des NSDDB (17.7. 1939). Personalakte Ebeling wie Anm. 38. Er versteuerte (lt. Personalakte im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK E 3a/2 Blatt 54) 1939 aus Gehalt (6000.-- RM) und weiteren 16.000,-- RM aus Vermögenseinkünften. Personalakte im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK E 3a/2 Blatt 77 (14. Mai 1943). Personalakte im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK E 3a/2 Blatt 36) Gutachten von Soden vom 28. Dezember 1942. Personalakte im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK E 3a/2 Blatt 56 (10. Januar 1947). Personalakte im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK E 3a/2 Blatt 70.
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Hans Ehelolf45 wissenschaftlich und persönlich eng verbunden mit Benno Landsberger, befand sich als Kustos an der Vorderasiatischen Abteilung der Berliner Museen nicht in einer exponierten Stellung. Mit Erlass des Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 12. Dezember 1929 war er zum Honorarprofessor ernannt worden. Die Fakultät hatte am 1. Februar 1930 zugestimmt. Hintergrund war die Befürchtung des Ministeriums, Ehelolf könne durch eine Berufung nach außerhalb Berlins dem Museum verloren gehen.46 Bruno Meissner hat in zahlreichen Briefen an die Fakultät versucht, Einfluss auf seine Nachfolge zu nehmen.47 Sein Favorit war Erich Ebeling. Die Fakultät aber einigte sich auf Ehelolf an erster und Ebeling an zweiter Stelle. Obwohl Ehelolf für die Nachfolge Meissners mit einstimmigem Votum der Fakultät vorgeschlagen worden war, wurde er nicht berufen, da Bruno Meissner und Eckhard Unger gegen ihn intrigierten,48 was anscheinend von Erfolg gekrönt war. Das Verfahren ruhte dann offensichtlich. Erst Anfang 1939 lassen sich wieder Aktivitäten feststellen, als der Dekan der Philosophischen Fakultät, Grapow, von Koschaker ein Gutachten über von Soden, Falkenstein und Schott erbat.49 Es fällt auf, dass mit von Soden und Schott nun zwei von Meissner in früheren Stellungnahmen für ungeeignet erklärte Kandidaten zur Diskussion standen.50 Falkenstein war bis dahin überhaupt nicht in Erwägung gezogen worden. In einem Brief an den Dekan hält der Islamwissenschaftler Richard Hartmann Landsberger und Ehelolf für gleichauf, von Soden, Falkenstein und Schott für „noch nicht soweit.“ In Bezug auf Ehelolf meint er darauf hinweisen zu sollen, dass dieser politisch früher nicht hervorgetreten sei, er wisse „aber aus manchen Gesprächen mit ihm, dass er mit Wärme zu unserem heutigen Staat und zum Nationalsozialismus steht.“51 Es ist durchaus denkbar, dass hier eine Gefälligkeit vorliegt, wie ja auch die Erwähnung Landsbergers, der zu dieser Zeit in Ankara 45 46 47
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S. auch H.H. Schaeder, loc. cit. (Anm. 22). Akten des Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung Acta vol. IV, Berliner Universitätssachen, IV. Abt. No. 68 B IV, Blatt 282 und 291. Die Vergütung wurde auf 1200.-- RM festgesetzt. Personalakte Meissner im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK M 125/2 Blatt 22-27, Blatt 48. Der Berufungsvorgang soweit er Meissners Interventionen umfasst im Wesentlichen die Blätter 18-70 (26. Dezember 1935 bis 14. Mai 1937). Meissner hat in mehreren Gutachten v.a. Frank, Weidner, Schott und von Soden aus verschiedenen Gründen für ungeeignet bezeichnet: Frank wegen ungenügender wissenschaftlicher Leistung, Schott habe sich mit seiner Habilitationsschrift selbst desavouriert, Weidner, weil als Privatgelehrter (er war Hauptschriftleiter [Chefredakteur] der Berliner Illustrierten) zwar einer der besten Assyriologen zu dieser Zeit aber ohne Erfahrung in der Lehre, von Soden zwar zu großen Hoffnungen Anlass gebend aber zur Zeit zu jung für den Lehrstuhl und noch zu sehr von seinem Lehrer Landsberger abhängig. V. Christian war in der Fakultät durch einen Brief (22. Januar 1936) von Hans F.K. Günther ins Gespräch gebracht worden, weil „er der einzige sei, der die Rolle des Indogermanentums für das alte Morgenland erkannt und immer wieder durch neue Forschung erwiesen hat.“ Personalakte Meissner im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK M 125/2 Blatt 27. Brief H.-S. Schuster vom 12. Juni 1999. Schuster, der den Vorfall seinerzeit von Leipzig aus verfolgen konnte, spricht von einer ganz üblen Hetzkampagne. In den Akten findet sich davon verständlicherweise nichts. Personalakte Koschaker im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK K Bd. II Blatt 5 (28. Februar 1939). Schotts Arbeit zur Geschichte der Keilschriftliteratur hielt er für eine „peinliche Arbeit“ (Personalakte Meissner im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK M 125/2 Blatt 26 [19. Januar 1936]); von Soden betrachtete er als vielversprechendes Talent, der aber als ganz junger Dozent für den Berliner Lehrstuhl nicht in Betracht komme (Personalakte Meissner im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK M 125/2 Blatt 22-25 [18. Februar 1935]). Außerdem verweist Meissner auf eine von ihm so gesehene Abhängigkeit von Sodens von seinem Lehrer Landsberger (beruft sich auf von Sodens Dank im Vorwort zu seiner Dissertation in Zeitschrift für Assyriologie 40, 1931, 163f.) und gibt zu bedenken, dass Landsberger an den Arbeiten seiner Schüler und Freunde in fast ungehöriger Weise teilgenommen habe, sodass manche von ihnen geradezu als ein 'Echo von Landsberger' genannt werden“ und daher „noch eine weitere größere Publikation von von Soden abzuwarten“ sei (Personalakte Meissner im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK M 125/2 Blatt 52 [ohne Datum, etwa Anfang 1937]). Personalakte Meissner im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK M 125/2 Blatt 40 (1937). H.-S. Schuster (Brief vom 12. Juni 1999) schreibt allerdings über Ehelolf, er sei „zeit seines Lebens integer“ gewesen.
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lehrte, ein beträchtliches Maß an Zivilcourage erkennen lässt. Betrachtet man die im Verlaufe des Verfahrens erfolgten Interventionen Meissners im Hinblick auf seine eigene Nachfolge, so stellt man ein – aus den Akten in seiner Logik nicht mehr rekonstruierbares – ausgesprochen widersprüchliches Verhalten fest.52 Allerdings hat sich die Fakultät davon nicht sonderlich beeindrucken lassen. Ehelolfs Name stand dann in der Endphase der Nachfolgeentscheidung wegen dessen plötzlichem Tod im Mai 193953 nicht mehr zur Debatte. Der Dekan Breloer schreibt zusammenfassend über das Verfahren, die Auswahl „ist deswegen so schwierig, weil die Entwicklung der Assyriologie so gestaltet worden war, dass als einziger der Jude Landsberger aus Leipzig, der jetzt in Ankara lehrt, unter allgemeiner Zustimmung den Lehrstuhl erhalten sollte. Abschließend wird im Falle der Ernennung Ehelolfs eine Beförderung Ebelings zum persönlichen Ordinarius vorgeschlagen.54 Man gewinnt im Übrigen den Eindruck, dass die Diskussion um die Nachfolge Meissners im Wesentlichen ohne politische Zwänge ausgetragen worden ist. Einen politischen Hintergrund mag man höchstens in den Bestrebungen sehen, die vakante Professur für Assyriologie in eine solche für Japanologie umzuwandeln, was sich letztlich nicht durchsetzen ließ.55 Über Theo Bauer in Breslau,56 Oluf Krückmann in Jena57 und Friedrich Schmidtke in Münster58 sind keine Fakten bekannt, die auf eine besondere Nähe zum nationalsozialistischen Regime schließen lassen.59 Dem Fach Altorientalistik engstens verbunden war der Rechtshistoriker Paul Koschaker, seit 1915 o. Professor für römische Rechtsgeschichte an der Leipziger Juristenfakultät.60 Er hat sich seit seiner Prager Zeit (1909-1915) mit dem Keilschriftrecht beschäftigt. Er war ein weltweit hochgeachteter Gelehrter auf dem Gebiet des römischen Rechts und der Begründer der keilschriftrechtlichen Disziplin innerhalb der Rechtsgeschichte. Seine intensive Zusammenarbeit mit Benno Landsberger hat die erwarteten Früchte nicht erbringen können, da Landsberger 1935 entlassen wurde. Koschaker hoffte, seine keilschriftrechtlichen Studien nach 1936, als er auf ein Ordinariat an der juristischen Fakultät der Berliner Universität berufen worden war, unter anderen Bedingungen fortsetzen zu können. Bei seinen Berufungsverhandlungen hatte er – auf Grund seiner überragenden wissenschaftlichen Reputation weit über die Grenzen Deutschlands hinaus – die Etablierung eines Seminars für orientalische Rechtsgeschichte erreicht. Man hatte ihm seitens des Ministeriums sogar angeboten, den ihm freundschaftlich verbundenen Kollegen Benno Landsberger „bei den Vorderasiatischen Museen unterzubringen, wo er in verhältnismäßiger Verborgenheit un52
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So hält er in einem Schreiben vom 27. September 1937 Ebeling für den geeigneten Nachfolger und meint Frank Ehelolf vorziehen zu sollen (Personalakte Meissner im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK M 125/2 Blatt 75) , obwohl er Ende 1935 Frank ablehnte, weil er nicht mehr produktiv sei (Personalakte Meissner im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK M 125/2 Blatt 23-25 [ohne Datum]). Ehelolf trug seit seinem Kommando am Bosporus während des 1. Weltkrieges Malaria-Bakterien in sich, sodass eine leichte Verletzung beim Rasieren zu einer tödlichen Blutvergiftung führte. Personalakte Meissner im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK M 125/2 Blatt 65-70 (14. Mai 1937). Personalakte Meissner im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK M 125/2 Blatt 72-78 und 84f. (September bis November 1937) I2n: Archiv für Orientforschung 18, 1957/58, 229f. Habilitation 1932, später außerplanmäßiger Professor in Jena, Aufenthalt im Iraq. Im 2. Weltkrieg bei der Wehrmacht, s. dazu weiter unten. Habilitation in Breslau 1925 an der Katholisch-Theologischen Fakultät, von 1937-1959 Professor in Münster. Nachruf in: Archiv für Orientforschung 23, 1970, 222. D.h. keine Nennung in den Unterlagen des Berlin Document Center betr. Mitgliedschaft in der NSDAP und ihrer Gliederungen für Bauer, Krückmann und Schmidtke. Hinweise auf Würdigungen und biographische Details finden sich bei H.P. Petschow, Koschaker, Paul, in: Reallexikon der Assyriologie, 6, 1980-1983, 213f. Ausführlich M. Müller, Paul Koschaker (18791951). Zum 100. Geburtstag des Begründers der Keilschriftrechtsgeschichte, in: Altorientalische Forschungen 9, 1982, 271-284.
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behelligt bleiben würde.“61 Ob hier W. Hinz, damals noch Referent im Reichserziehungsministerium, mit Landsberger und Koschaker aus seiner Leipziger Studienzeit vertraut, im Hintergrund hat wirken können? Durch Landsbergers Berufung auf eine Professur in Ankara erübrigte sich dieser Plan. Deshalb wollte Koschaker seine keilschriftrechtlichen Arbeiten nun mit Adam Falkenstein fortsetzen, der sich deswegen von München nach Berlin umhabilitiert hatte und ab 1937 eine Dozentur in Berlin innehatte. Das politische Klima an der Berliner Universität machte Koschaker erheblich zu schaffen, wie er das auch dem Rektor gegenüber zum Ausdruck brachte. Dazu schreibt dann der Rektor Hoppe an das Reichserziehungsministerium, wenn Koschaker nicht in der Lage sei, sich in den Betrieb einer Großstadtuniversität einzufügen, so solle man erwägen, ob er nicht an einer ruhigeren Universität besser am Platze sei. Zumindest solle man ihn nicht wegen seiner Sprachkenntnisse zu Übersetzertätigkeiten einsetzen.62 Ob das den Ruf in das „ruhigere Tübingen“ bewirkt hat, den Koschaker zum 1. Oktober 1941 angenommen hat? Hinzu kommt, dass Falkenstein im Juni 1940 zur Wehrmacht eingezogen worden ist. Damit war für Koschaker die Grundlage seiner Tätigkeit in Berlin entfallen, was ihn dazu bewog, die Auflösung des von ihm geschaffenen Seminars für Orientalische Rechtsgeschichte im November 1940 zu beantragen. Eine endgültige Entscheidung wurde nach einer Besprechung mit dem Dekan (Grapow) und von Soden zunächst aufgeschoben.63 Koschaker hat über seine Zeit während der nationalsozialistischen Herrschaft ausführlich in dem zitierten umfangreichen autobiographischen Essay berichtet. Koschaker war ein engagierter Streiter für die Rolle des römischen Rechts, dem er nicht nur eine europäische sondern vielmehr eine universale Rolle zumaß. Es sei geeignet, in jedem Staat, der zu höherer Kultur strebe, gelehrt zu werden. Dies waren die ihn bewegenden Gedanken, als er „1938 zu einem Vortrag eingeladen wurde, mit dem die Akademie für Deutsches Recht in Berlin eine Reihe rechtswissenschaftlicher Vorträge eröffnete.“ Er sprach über „Das römische Recht und die Krise der romanistischen Rechtswissenschaft“ vor einem – wie er schreibt – „exklusiv nazistischen Auditorium vom Reichsminister, hohen Reichsbeamten herab bis zum Referendar. Man wird mir nicht zumuten, dass ich das Parteiprogramm frontal angriff. Das wäre Selbstmord gewesen. Ich umging es vielmehr und rollte seine Front von hinten auf. Wie ich eingestellt war, wurde, wie ich später erfuhr, von meinen jüngeren Zuhörern richtig und mit Erbitterung empfunden. Aber am Schluss gab es rauschenden Beifall und die sehr höfliche Einladung, meinen Vortrag in Nummer eins einer neuen, von der Akademie für Deutsches Recht herausgegebenen Serie zu publizieren, was auch geschah.64 ... Ich möchte mich aber energisch verwahren, wenn man mein Verhalten als mutig bezeichnen sollte. Ich war nie mutig und hatte, als ich den Vortrag hielt, keinen Augenblick das Gefühl mutig zu sein oder irgend etwas zu riskieren. Denn für ein Kulturphänomen von der Größe und Bedeutung des römischen Rechts einzutreten und Unwissende aufzuklären, ist nicht Mut, sondern für einen Romanisten selbstverständlich.“65 Der Briefwechsel Koschakers mit seinem Schüler Guido Kisch enthält manch Entlarvendes. So beklagt sich Koschaker über die Schwierigkeiten, die ihm nach 1945 in Tübin61 62 63 64
65
P. Koschaker, loc. cit. (Anm. 1), 117. Personalakte Koschaker im Archiv der Humboldt-Universität Berlin Band I Blatt 37 (10. Oktober 1939). Personalakte Koschaker im Archiv der Humboldt-Universität Berlin Band II Blatt 7, 11f. Deutsches Recht, Heft 9/10 vom 15. Mai 1938 [d.h. doch nicht im ersten Heft]. Einige Gedanken zum Thema hat Koschaker 1939 schriftlich formuliert. Sie sind später auch abgedruckt unter dem Titel Deutschland, Italien und das römische Recht, in: Guido Kisch (Hrgb.), Paul Koschaker. Gelehrter, Mensch, Freund. Briefe aus den Jahren 1940 bis 1951, Basel und Stuttgart, 1970, 65-68; 1947 in erweiterter Form als „Europa und das römische Recht“ erschienen. Loc. cit. (Anm. 1), 122f.
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gen im Zuge der Neukonstituierung des Lehrkörpers bereitet wurden, weil er „zwei früheren Nazis im Weg war, die versorgt werden sollten.“66 Die Fakultät fand offensichtlich eine Lösung und Koschaker lehrte bis zu seiner Emeritierung 1946 in Tübingen. Die Altorientalistik im Bannkreis des Nationalsozialismus So wie in anderen Disziplinen hat sich auch eine Reihe von Altorientalisten dem nationalsozialistischen Regime und seiner Ideologie nicht verschlossen. Einige sind gleich im Frühjahr 1933 der NSDAP oder SA beigetreten, andere bereits vorher, wiederum andere recht spät. Inwieweit dabei konservative Prädisposition, jugendbewegte Aufbruchstimmung, Opportunismus oder andere Motive beigetragen haben, lässt sich weder aus den Akten noch aus sonstigen Zeugnissen oder Überlieferungen ermitteln. Selbst ihre wissenschaftlichen Schriften enthalten dazu nur vage Anhaltspunkte, die aber aus der Rückschau Bedeutung gewinnen. Dass auch ein unterschwelliger Antisemitismus im Einzelfall vermutet werden kann, ist nicht auszuschließen, denn dass einzelne Fachvertreter davon nicht ganz frei waren, lehrt bereits das Beispiel von Friedrich Delitzsch (gest. 1922).67 Bruno Meissner beantragte am 18. März 1933, kurz nach den Reichtagswahlen vom 5. März, die Aufnahme in die NSDAP.68 Er hielt bereits im Wintersemester 1933/34 im Rahmen der nationalsozialistischen Erziehung der deutschen Studenten an der Berliner Universität eine Vorlesung „Einführung in die Rassenkunde des Alten Orients.“ Im Zusammenhang mit einer beantragten Auslandsreise wird Meissner bescheinigt, „er habe sich für den Nationalsozialismus an der Universität eingesetzt.“69 Andererseits ist darauf zu verweisen, dass er in den Jahren 1934 bis 1936 mit Moritz Seidmann und Markus Ehrenkranz zwei jüdische Studenten promoviert hat. Ehrenkranz war Pole. Deutschen jüdischen Studenten war die Promotion seit einem Erlass des Reichserziehungsministeriums vom 15. April 1937 verwehrt.70 Die Atmosphäre an der Berliner Universität im Jahr 1933 erhellt auch aus einer Denunziation, die sich auf ein anonymes Pamphlet „Der jüdische Einfluss in deutschen Hohen Schulen“ gründete. Meissner hat sich gegen die darin insinuierte jüdische Abstammung in einer selbstverlegten Schrift und in Eingaben an das Ministerium mit Erfolg zur Wehr gesetzt.71 Wolfram von Soden,72 einer der bedeutendsten Vertreter des Faches in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, entstammte einem eher konservativen protestantischen Elternhaus. Das führte bei Vater und Sohn zu unterschiedlichem Verhalten gegenüber dem Nationalsozialismus. Der Vater, Neutestamentler in Marburg, war aktives Mitglied der Bekennenden Kirche, der Sohn war vom Nationalsozialismus angezogen und trat 1934 der SA, am 1. Mai 1937 der NSDAP bei.73 Das führte zu erheblichen Konflikten zwischen Vater und 66 67 68 69 70 71
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73
G. Kisch (Hrgb.), loc. cit. (Anm. 64), 23f. J. Renger, loc. cit. (Anm. 1: Renger 2001), 249f. Mitgliedsnummer 1734554. Mitteilung an den Reichsamtsleiter des NSDDB Prof. Dr. W. Schultz, München, vom 21. Januar 1937 (Personalakte Meissner im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK M 186 Blatt 7). S. dazu ausführlich L. Hanisch, op. cit. (Anm. 29), 122f. Der Vorgang findet sich in den Akten des Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung Acta vol. IV, Berliner Universitätssachen, IV. Abt. No. 68 B IV, Blatt 411-433 und 476 dokumentiert. Allerdings bestehe „die Aufnahme in die große jüdische Nationalbiographie ... zu Unrecht“ – wie das Ministerium abschließend feststellt (Blatt 429). Ausführlich R. Borger, loc. cit. (Anm. 1), 588-594. Darin geht Borger ausführlich auf von Sodens Stellung zum Nationalsozialismus ein und kann sich dabei auch auf lange Gespräche mit von Soden stützen. S. außerdem R. Borger, Assyriologie in Göttingen, in: Georgia Augusta. Nachrichten aus der Universität Göttingen, November 1997, 21-30, bes. 21-25. Mitgliedsnummer 4238289 (Lt. Berlin Document Center). Worauf die Angaben R. Borgers, loc. cit. (Anm. 1), 589 über einen Beitritt zur Partei erst im Jahr 1944 beruhen, bleibt unklar. Von Soden selbst
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Sohn. Wie gespalten allerdings von Sodens Verhalten war, zeigt sich in einer Äußerung gegenüber seinem Lehrer Benno Landsberger, dem er im Frühjahr 1933 erklärt haben soll, als Nationalsozialist sei er selbstverständlich gegen die Juden, „Sie natürlich ausgenommen, Herr Professor,“74 was wohl zu den politischen Entgleisungen gehört, von denen sein Lehrer Landsberger 1952 sprach. Im wissenschaftlichen Bereich äußerte sich von Sodens Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie in zwei Publikationen. In seiner Schrift „Der Aufstieg des Assyrerreiches als historisches Problem“75 versuchte er, die durch ihre kriegerischen Erfolge reichsbildend bedeutsam gewordenen Assyrer – den verweichlichten Babyloniern gegenüber – als wehrhaftes Herrenvolk darzustellen. In einer Rezension stellte ein namhafter amerikanischer Fachkollege fest: „While the reviewer ... considers the racial philosophy of history as purely factitious, he cheerfully admits that one‘s cultural background has very profound influence on one‘s intellectual orientation. The well-known polarity of German intellectual activity, which combines sober, slightly pedestrian patience in research ... with a tendency to indulge in far-reaching speculations in a transmundane metaphysical sphere, is nowhere better illustrated than in the sharply defined, relatively insignificant field of Assyriology. German Assyriology has not only given us Delitzsch and Landsberger (both accidentally non-aryan [was für Delitzsch nicht zurifft, J.R.] but also Winckler and A. Jeremias (both accidentally aryan). The reviewer earnestly hopes that the author remains in the first group and does not shift to the second ... Certain tendencies in the present study make one hesitate to predict what will happen.“76 In der umfangreichen und – soweit die fachwissenschaftliche Seite betroffen ist – wichtigen Schrift „Leistung und Grenze sumerischer und babylonischer Wissenschaft“77 stellte der damals 28-jährige von Soden in seiner abschließenden und bewertenden Zusammenfassung altorientalisches – semitisch geprägtes – Denken einem überlegenen indogermanischen Denksystem gegenüber,78 wenn er von der Wissenschaft anderer Völker spricht, „deren Kulturleistungen den babylonischen, aufs Ganze gesehen, gleichwertig sind“ (S. 553), aber dann fortfährt, „dass Wissenschaft im strengen Sinn des Wortes nur unter den bei den indogermanischen Griechen und Indern gegebenen besonderen Voraussetzungen Gestalt gewinnen konnte“ (S. 556). Man fragt sich allerdings rückblickend, ob diese Schrift, die in großer Ausführlichkeit die enormen kulturellen Leistungen mesopotamischer Gelehrter hervorhebt, in der aber letztendlich eine für die europäische Gegenwart geltende Überlegenheit der indogermanischen Griechen und Inder konstatiert wird, eine Verteidigung der mesopotamischen Kultur zum Ziel gehabt haben könnte, ob hier also der Versuch
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bezeichnete sich in seiner Kontroverse mit E. Unger (Brief an Unger vom 13. Mai 1939, s. Personalakte Unger im Archiv der Humboldt-Universität UK P3/2 Blatt 51) (s. unten) als auch im Ausland als Nationalsozialist bekannter deutscher Forscher und als Parteigenosse (Personalakte Unger im Archiv der Humboldt-Universität UK P3/2 Blatt 83/ 10. August 1939). So Landsberger in einem Gespräch im Sommer 1967. In: Der Alte Orient 37/1, 1938. W.F. Albright, in: Orientalia NS 8, 1939, 120; S. jetzt auch die Magisterarbeit (KAndidatenspeziale) an der Universität Kopenhagen von JAkob Bo Flygare, Assyriologi under nazismen – En kontekstuel undersogelse af tre tekster af Wolfram von Soden fra 1936-38, Kopenhagen, 2005. Die Arbeit analysiert neben den beiden oben genannten Arbeiten noch „Neue Untersuchungen über die Bedeutung der Indogermanen für den Alten Orient“, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 200 (1938). In: Die Welt als Geschichte 2, 1936, 411-464, 509-557, Nachdruck mit Nachträgen und Berichtigungen als Libelli 142, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1965. Diese Schrift wurde 1965 zusammen mit Landsbergers „Eigenbegrifflichkeit“ (siehe oben Anm. 15) bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erneut publiziert. Landsberger (mündlich 1967) hat in diesem Zusammenhang vergeblich versucht, von Soden zu einer klärenden Stellungnahme zu dessen Schrift über den Aufstieg des Assyrerreiches (s. Anm. 75) zu bewegen.
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vorgelegen haben könnte, die mesopotamische Kultur und das Fach, das sich damit befasst, gegen Vorurteile zu verteidigen, die in der herrschenden Ideologie begründet waren? Im Übrigen sind von Sodens sonstige wissenschaftliche Arbeiten aus dieser Zeit total frei von ideologisch geprägten Sichtweisen. Auch hat von Soden sich nicht daran gehalten, jüdische Gelehrte nicht zu zitieren oder, wenn unumgänglich, deren Namen mit (Jd.) zu kennzeichnen. So zitiert er in dem eben besprochenen Aufsatz seinen Lehrer Landsberger wiederholt zur Begründung eigener Aussagen und Ansichten. Im Jahr 1937 übernahm von Soden die Herausgeberschaft der wichtigsten deutschen Fachzeitschrift, der „Zeitschrift für Assyriologie,“ von dem bisherigen Herausgeber Landsberger (bis dahin zusammen mit Johannes Friedrich und F.H. Weissbach). Im Titelblatt werden als Begründer der Zeitschrift C. Bezold, H. Zimmern und weiterhin B. Landsberger genannt, was von Soden anschließend von Unger vorgeworfen wird.79 Im ersten Band unter von Sodens Ägide erschienen zudem ein längerer Artikel und eine Miszelle Landsbergers. In einem Register aller in den letzten zehn Bänden erschienenen Arbeiten wurden auch (ohne besondere Kennzeichnung, wie damals gefordert) die Landsbergers, Lewys, Güterbocks und Goetzes aufgeführt, die zu diesem Zeitpunkt alle Deutschland verlassen hatten. Albrights Pessimismus hat sich also nicht bestätigt. Von Soden fühlte sich trotz aller politischen Verirrungen immer ganz entschieden wissenschaftlichem Ethos und dem Ansehen seines Faches verpflichtet. Von Soden war von 1934 bis 1936 Privatdozent in Göttingen, 1936 bis 1940 daselbst außerordentlicher Professor, eine schon damals imponierende wissenschaftliche Leistung vorweisend. 1940 mit 32 Jahren auf das vakante Berliner Ordinariat berufen, nahm er aber, weil zur Wehrmacht eingezogen, den Lehrbetrieb nicht auf. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg blieb er in Göttingen, wo ihm die Fakultät eine erneute Lehrtätigkeit als Professor auf der durch A. Falkensteins Weggang nach Heidelberg (1949) vakanten Professur verweigerte.80 In diesem Zusammenhang sei auf eine Äußerung Landsbergers verwiesen, die er gegenüber dem Göttinger Physiker R.W. Pohl im Jahr 1952 machte, und die dieser dem Rektor Trillhaas am 9. Februar 1952 zukommen ließ: Es sei unwürdig, so Landsberger, „dass dieser hervorragende Gelehrte lediglich wegen seiner politischen Kritiklosigkeit keine angemessene Stellung finde.“ Er (Landsberger) „kenne alle politischen Entgleisungen von Sodens, das alles aber seien Bagatellen verglichen mit seinen hervorragenden wissenschaftlichen Qualitäten.“81 Schon zuvor hatte sich Landsberger Pohl gegenüber folgendermaßen geäußert: „Ich finde es unwürdig, unnatürlich und meinem Fach der Assyriologie, in hohem Maße abträglich, dass der weitaus tüchtigste, kenntnisreichste und produktivste Assyriologe, zumindest seiner Generation, sein Lehramt noch nicht zurückerhalten hat, sondern von Gelegenheitsarbeiten sein Dasein fristen muss.“82 Der Widerstand in der Philosophischen Fakultät für eine Berufung von Sodens wurde auch dadurch nicht überwunden. 79 80
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Personalakte Unger im Archiv der Humboldt-Universität UK P3/2 Blatt 52 (Unger an von Soden, 20. Mai 1939). Einzelheiten enthält die Personalakte (Rektoratsakte) im Universitätsarchiv Göttingen insbesondere Blatt 10-29. Dort auch der Hinweis, daß von Soden im Zuge seines Entnazifizierungsverfahrens als entlastet in die Kategorie V eingestuft worden sei (Blatt 12). – Ganz offensichtlich hat die Göttinger Philosophische Fakultät auch in einer Reihe anderer Fälle sich lange gegen die Wiedereinsetzung belasteter Professoren gesträubt, s. dazu die Rektoratsakte Universitätsarchiv Göttingen von Soden Blatt 18/19 zu den Fällen Kees, Hinz, Deichgräber, für deren Rehabilitation sich H.H. Schaeder einsetzte, der sich damit, wie er selber schreibt, in der Fakultät unbeliebt gemacht hat. S. auch unten S. 24 mit Anm. 130 zu W. Hinz. In dessen Rektoratsakte im Universitätsarchiv Göttingen, Ordner I (1937-1952) Blatt 116-118 (23. Mai 1947) sieht der Dekan in einer Wiedereinsetzung von Hinz eine „untragbare Ungerechtigkeit gegenüber anderen suspendierten Mitgliedern des Lehrkörpers.“ S. außerdem Blatt 1c (Entnazifizierungsbescheid) sub 3. Personalakte (Rektoratsakte im Universitätsarchiv Göttingen) Ordner I (1937-1952) Blatt 29 (9. Februar 1952). Personalakte (Rektoratsakte im Universitätsarchiv Göttingen) Ordner I (1937-1952), Blatt 29 (27. Jan. 1952).
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Der Wunsch von Sodens nach einem klärenden Gespräch ging nicht in Erfüllung, da es zwischen Rektor Trillhaas und der Fakultät über das Vorgehen zu Missverständnissen gekommen war.83 1955 folgte von Soden schließlich einem Ruf nach Wien, 1961 einem Ruf nach Münster. Nach dem Krieg hat von Soden versucht, mit seinem Lehrer Landsberger ins Reine zu kommen. Er berief sich auf einen führenden Fachvertreter in den USA, W.F. Albright, der ihm geschrieben habe, Landsberger scheine ihm nicht mehr so ablehnend gegenüberzustehen. Das hat schließlich Landsberger bewogen, von Sodens Widmung seiner Akkadischen Grammatik für seinen „hochverehrten Lehrer Benno Landsberger zum 21. April 1952,“ (d.h. zu Landsbergers 62. Geburtstag) zu akzeptieren.84 Diese Grammatik des Akkadischen ist ein epochales Werk, das bis heute seine Gültigkeit behauptet. Inhaltlich ist es sehr stark von Landsbergers innovativen Ideen aus den zwanziger und frühen dreißiger Jahren beeinflusst, als von Soden bei Landsberger studierte. Landsberger hat dann 1967 anlässlich eines internationalen Kongresses in Chicago seine Versöhnung mit von Soden auch öffentlich demonstriert, als er zu dessen Ehren („in honor of Professor Wolfram von Soden“) ein großes Essen gab. Dazu hatte er eine Reihe Kollegen geladen, darunter auch solche, die Deutschland nach 1933 hatten verlassen müssen. Trotz alledem sind die Ressentiments gegenüber von Soden und seiner politischen Vergangenheit bei einer Reihe von Fachkollegen nicht zur Ruhe gekommen, indem etwa in einem Fall seine für das Fach zentralen Werke (Akkadisches Handwörterbuch sowie Akkadisches Syllabar) ohne Nennung seines Namens zitiert werden.85 Über neuerliche Vorwürfe, meist aus den USA, über eine Beteiligung an SA-Aktionen hat von Soden Anfang 1995 ausführlich mit R. Borger aber auch anderen Kollegen gesprochen. Borger hat das dazu Nötige in seinem Nachruf gesagt, indem er versucht hat Gerüchte vom Tatsächlichen zu trennen und auch von Sodens Entschuldigungen bei Betroffenen vermerkt. Victor Christian86 war bereits vor 1933 in der oesterreichischen nationalsozialistischen Bewegung aktiv, deswegen zwischen 1934 (nach dem Dolfußputsch) dienstenthoben und 1936 in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Nach dem ‚Anschluss‘ Oesterreichs an das Deutsche Reich war er ab April 1939 zunächst im Range eines Untersturmführers (Leutnant) später als Sturmbannführer (Hauptmann) Mitglied der SS. Bereits im Oktober 1938 ist er Abteilungsleiter im „Ahnenerbe“ und gehörte damit zum „Persönlichen Stab des Reichsführers SS“ Himmler. Anfang April 1943 wurde ihm der SS-Totenkopfring verliehen. Andererseits hatte Christian sich mit Intrigen seitens des Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbundes (NSDDB) und des SD (Sicherheitsdienst, Teil des Reichssicherheitshauptamtes) auseinanderzusetzen. Die Gründe waren vielschichtig. Christian war eigensinnig genug, sein Amt als Dekan der Philosophischen Fakultät nicht aufzugeben, das er zu einer gezielten Personalpolitik nutzte. Man warf ihm aber auch zu „weiches“ Verhalten gegenüber katholisch (d.h. transmontan) orientierten Kollegen vor und bezichtigte ihn, 83 84 85 86
Personalakte (Rektoratsakte im Universitätsarchiv Göttingen) Ordner I (1937-1952) Blatt 16/17 (betr. Brief des Rektors an Prof. Schaeder vom 20. Juli 1951). Landsberger mündlich im Sommer 1967. S. dazu R. Borger, der loc. cit. (Anm.1), 592f. auf S. Lieberman, The Sumerian Loanwords in OldBabylonian Akkadian, Missoula/MO, 1977 verweist, während C. Frank, „Straßburger Keilschrifttexte“ von Lieberman namentlich erwähnt werde. Ausführlich G. Simon, Tödlicher Bücherwahn – der letzte Wiener Universitätsrektor im 3. Reich und der Tod seines Kollegen Norbert Jokl, publiziert unter http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/buecherwahn.pdf. S. außerdem Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde/Berlin Document Center/ Basys (= Archivsystem für personenbezogene Akten) DS G 115 Bild Nr. 7 (Betr. Korrespondenz Anthropologische Gesellschaft) und RS A 5347 Bild 2181 (Personalfragebogen, handschriftlicher Lebenslauf, Erbgesundheitszeugnis). S. auch den Nachruf in Archiv für Orientforschung 21, 1966, 258, der zwar Christians anerkennenswerte wissenschaftliche Leistungen zu würdigen weiß, aber in keiner Weise, auch nicht andeutungsweise, Christians enge Verbindungen zum NS Regime ahnen lässt.
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ein Judenfreund zu sein. Im Endeffekt konnte Christian sich behaupten, dank einer Intervention von seiten Himmlers (26. Februar 1942).87 Nachdem Christian bereits 1943 als Rektor vorgeschlagen worden war, wurde er schließlich noch am 10. April – kurz vor ‚Toresschluss‘ – zum Rektor der Universität Wien ernannt.88 Betrachtet man Christians wissenschaftliches Œvre, so fällt auf dass er sich da, wo es nahegelegen hätte, nicht zu rassenideologisch gefärbten Aussagen bewogen gesehen hat, wie etwa in der Einleitung zu seiner Altertumskunde des Zweistromlandes (Leipzig 1940). Carl Frank,89 der bereits im Frühjahr 1933 der NSDAP beigetreten war (bis dahin Mitglied der Deutsch-Nationalen Volkspartei), war bis 1918 a.o. Professor an der deutschen Reichsuniversität in Straßburg. Nach Ende des Krieges ging er nach Berlin, wo er neben seinen (geringen) Wartestandsbezügen als Reichsbeamter (Professor im einstweiligen Ruhestand), von 1919 bis 1935 von Lehraufträgen an der Berliner Universität und dem beträchtlichen Einkommen seiner Ehefrau lebte90 und dem es „unter dem alten System bei der bekannten politischen Einstellung maßgebender Persönlichkeiten trotz aller Bemühungen einfach nicht möglich war“, eine neue Professur zu erlangen. Er empfinde seine Situation „im Verhältnis zu den anderen, gleichaltrigen, nicht vertriebenen deutschen Professoren“ als eine „ungeheure, nicht nur persönliche, sondern auch finanzielle Benachteiligung.“91 Zum 1. April 1936 wurde er auf das durch Albrecht Goetzes Flucht vakante Marburger Ordinariat berufen.92 Seine dortige Tätigkeit hat – trotz seiner nationalsozialistischen Gesinnung – die Universitätsspitze wiederholt zu deutlicher Kritik an seinem geringen Engagement in der Lehre veranlasst93 und zu mehrfachen – allerdings vergeblichen – Versuchen geführt, ihn entweder an eine andere Universität in Preußen versetzen zu lassen oder ihn zwangsweise zu emeritieren. Der Rektor Th. Mayer schreibt dem Reichserziehungsministerium: „Von einer wirklichen Lehrtätigkeit des Professors Frank ... kann bisher überhaupt nicht gesprochen werden. ... Wenn Herr Prof. Frank durch so lange Zeit keinen Hörer gefunden hat, dann ist er in Marburg nicht recht am Platz.“ Der Rektor hat Frank dann verpflichtet, neben zwei Übungen eine öffentliche Vorlesung über die Kultur des alten Orients 87 88 89
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Bundesarchiv Berlin, Berlin Document Center, Akte Ahnenerbe, Bl. 115. S. G. Simon, loc. cit. (Anm. 86), 34f., wo vermutet wird , daß Christian in den letzten Kriegstagen zu einem Stillhalteabkommen zwischen NSDDB und SD auf der einen und ihm auf der anderen Seite für die „Zeit danach“ gelangt ist. S. zu seiner Berliner Zeit J. Renger, loc. cit. (Anm. 1: Renger 1979), 180f.; ansonsten beziehen sich die obigen Ausführungen auf die Personalakte im Universitätsarchiv Marburg, bzw. die Akten aus dem Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung im Geheimen Preußischen Staatsarchiv , Berlin-Dahlem, Acta vol. IV, Berliner Universitätssachen, IV. Abt. No. 68 B IV. Nach Ausweis der Akten hatte seine Ehefrau ein monatliches Einkommen als Prokuristin in einer Textilfirma von ca. 1200,-- RM, weshalb das Ministerium eine zusätzliche Dienstaufwandsentschädigung für nicht mehr gerechtfertigt hielt (März 1934, Blatt 523), siehe auch die Vorgänge zwischen 21. Oktober 1933 und 22. März 1934, in denen es um das Vermeiden von Doppelverdienst im Zuge des Arbeitsbeschaffungsprogramms der Regierung ging (Personalakte Frank im Universitätsarchiv Marburg). Die Akten des Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung im Geheimen Preußischen Staatsarchiv, Berlin-Dahlem, Acta vol. IV, Berliner Universitätssachen, IV. Abt. No. 68 B IV, Blatt 16 (1.4. 1927) bis Blatt 581 (22.6.1934) enthalten allein 33 von Frank initiierte Vorgänge, in denen es um eine Erhöhung seiner Wartestands- und anderer Bezüge geht. Brief Franks an den Verwaltungsdirektor der Berliner Universität vom 5. November 1933 im Zusammenhang mit der dem Doppelverdienst seiner Ehefrau (siehe dazu Anm. 90) (Personalakte Frank im Universitätsarchiv Marburg, ohne Blattnumerierung). Schreiben des Preußischen und Reichserziehungsministers vom 23. März 1936 (Personalakte Frank im Universitätsarchiv Marburg, ohne Blattnumerierung). S. z.B. die Anfrage der Verwaltung der Universität Marburg bei der Universitätskasse, ob Frank für das „Wintersemester 1938/39 Vorlesungen u. Übungen zustande gebracht hat.“ (Personalakte Frank im Universitätsarchiv Marburg, Blatt 39, 12. November 1938). – Im Schreiben des Rektors an das Reichserziehungsministerium vom 17. Januar 1941 heißt es, dass Frank viele Semester hindurch überhaupt kein Kolleg zustande gebracht habe, im laufenden Trimester habe er schließlich „eine Vorlesung hier gehalten und zwar vor einem Hörer und dieser ist ein Japaner“ (Personalakte Frank im Universitätsarchiv Marburg, Blatt 62).
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zu halten. Leider habe Frank diese Vorlesung krankheitshalber nicht abgehalten, wozu der Rektor bemerkt, dass Herrn Prof. Frank der Aufenthalt in Marburg nicht zuträglich ist, denn ich weiß, dass er sich noch vor kurzer Zeit um eine Berufung nach Berlin beworben hat. Er muss also der Überzeugung sein, trotz seines Gesundheitszustandes in Berlin eine Lehrtätigkeit ausüben zu können. Ich übernehme also den Antrag des Dekans der Philosophischen Fakultät auf Emeritierung von Prof. Frank. Sollte das aber nicht möglich sein, so beantrage ich, ihm einen Lehrstuhl an einer Universität, an der er nicht durch seine Gesundheit am Lesen behindert wird, zu übertragen.“94 Der Gaudozentenführer begrüßt „den Emeritierungsvorschlag des Dekans betr. Frank wärmstens, da letzterer auch in politischer Hinsicht kein Positivum für die Marburger Universität darstellt.“95 Der Reichserziehungsminister beauftragt die Universität Marburg, Frank zu veranlassen einen Antrag auf Versetzung in den Ruhestand zu stellen, was dieser ablehnt, woraufhin das Ministerium ihm mitteilt, dass seine Versetzung in den Ruhestand beabsichtigt sei. Auf Einwand von Frank und Vorlage ärztlicher Atteste ruht die Angelegenheit.96 Frank starb am 2. November 1945 in Marburg an den Folgen einer schweren Operation, wenige Monate vor seinem 65. Geburtstag. Franks wenige wissenschaftliche Arbeiten haben niemals prägenden Einfluss auf das Fach ausgeübt. Gleichwohl bezeichnete ihn der Rektor der Universität, Ebbinghaus, nach seinem Tod als einen der wenigen Gelehrten, die in Deutschland noch als Forscher von Rang die Orientalistik und die Assyriologie vertreten. Sein Tod hinterlasse eine große Lücke in der deutschen Wissenschaft, die kaum auszufüllen sein werde.97 Anscheinend hat der Rektor keine Kenntnis der Personalakte gehabt. Frank war wiederholt an fachinternen Polemiken zwischen der Berliner Schule Bruno Meissners und der Leipziger Schule Benno Landsbergers beteiligt, deren Ursprünge aber bereits auf die Zeit vor 1933 zurückgehen.98 In Fußnoten und Nebenbemerkungen greift Frank sowohl von Soden als auch Falkenstein an. So heißt es etwa in einer Fußnote, „als ob v. Soden ganz vergäße, dass alle diese Assyriologen [d.h. u.a. E. Ebeling, den von Soden in einer Rezension heftig kritisiert hatte, J.R.] frei und unabhängig, ohne jede fremde oder jüdische Hilfe und Nachhilfe ... zu schaffen pflegten“99 – im Gegensatz zu von Soden und Falkenstein, denen er ihre Abhängigkeit von ihrem jüdischen Lehrer Landsberger vorwirft. Weniger drastisch hatte sich Meissner bereits 1932 in einer ansonsten kenntnisreichen und auch sehr positiven Rezension zu einer Arbeit Falkensteins geäußert, in der er sich über dessen Dank an Landsberger im Vorwort mokiert und auch bei weiteren Leipziger Dissertationen Landsbergers allzu starke beratende Hand moniert.100 Nach 1933 werden dann politische Metaphern ganz bewusst in der gegenseitigen Kritik eingesetzt. So vermisst der – politisch neutrale – Erich Ebeling bei seinem Kritiker von Soden ein Verhalten, dass „bei anständigen Gelehrten, insbesondere im heutigen Deutschland, vorausgesetzt werden“ müsse.101 Von Soden wiederum wirft Ebeling in anderem Zusammenhang vor, dass er „im bewussten Gegensatz zur Wahrheit eine deutsche Behörde [d.h. das Vorderasiatische Mu94 95 96
Personalakte Frank im Universitätsarchiv Marburg, Blatt 53, 23. April 1940. Personalakte Frank im Universitätsarchiv Marburg, Blatt 54, 19. April 1940. Personalakte Frank im Universitätsarchiv Marburg, Blatt 55 (13. September 1940), 57 (24 September 1940), 58 (2. Dezember 1940), 62 (17. Januar 1941). 97 Personalakte Frank im Universitätsarchiv Marburg, Teil 2 Blatt 33. 98 Was der Auslöser für diese Polemiken war, bleibt im Ungewissen. Noch 1928/29 hat Landsberger dem Kollegen Meissner in dessen Festschrift zum 60. Geburtstag einen Artikel mit dem Titel „Das gute Wort“ gewidmet (Mitteilungen der Altorientalischen Gesellschaft 4, 1929, 294-321). 99 C. Frank, Lamastu, Pazuzu und andere Dämonen. Ein Beitrag zur babyl.-assyr. Dämonologie, Leipzig, 1941, 25 Anm. 4. 100 Meissner Archiv für Orientforschung 8, 1932), 57 zu A. Falkenstein, Literarische Keilschrifttexte aus Uruk, Berlin, 1931. 101 E. Ebeling, Kritische Beiträge zu neueren assyriologischen Veröffentlichungen, Leipzig, 1937, 3.
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seum in Berlin, J.R.] verantwortlich zu machen versucht, um deren Bloßstellung gegenüber dem Ausland [es geht um die Abteilung für Western Asiatic Antiquities des British Museum, J.R.] er sich durch eine unmissverständliche Gegenüberstellung bemüht!“102 Arthur Ungnad war nach Stationen in Berlin, Philadelphia und Greifswald seit 1923 Ordinarius in Breslau, wo er sich 1930 krankheitshalber entpflichten ließ und fortan in Falkensee bei Berlin lebte. Beim Einmarsch der Roten Armee nahm er sich am 26. April 1945 das Leben. Ungnad war ein profilierter Altorientalist, dem das Fach eine Reihe bedeutender Arbeiten verdankt und der bei den Fachgenossen dafür hohes Ansehen genoss. Schon frühzeitig hat er sich mit einem Thema beschäftigt, das schließlich in seiner Monographie von 1936 „Subartu. Beiträge zur Kulturgeschichte und Völkerkunde Vorderasiens“ eine ausführliche Erörterung erfahren hat. Zunächst erschien, 1923, seine Arbeit „Die ältesten Völkerwanderungen Vorderasiens. Ein Beitrag zur Geschichte und Kultur der Semiten, Arier, Hethiter und Subaräer“, in der er sich mit dem Verhältnis der unterschiedlichen, durch ihre jeweiligen Sprachen zu charakterisierenden Ethnien beschäftigte. Ein Versuch Ungnads im Jahre 1935 – also vor Erscheinen seines Subartu-Buches – einen Artikel zur Rassenproblematik im Alten Orient in der „Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft“ (ZDMG) zu veröffentlichen, scheiterte, weil der verantwortliche Redakteur Paul Kahle, der 1938 aus politischen Gründen seine Professur in Bonn verlieren sollte und daraufhin 1939 nach England emigrierte, meinte, ein solcher Artikel müsse, wenn in Deutschland bzw. in der ZDMG publiziert wissenschaftlich einwandfrei sein.103 Es ist Ungnads zweifelsfreies Verdienst, auf die Existenz und Rolle einer subaräischen Ethnie, charakterisiert – wie wir heute wissen – durch eine agglutinierende Sprache (wahrscheinlich mit dem Hurritischen verwandt) aufmerksam gemacht zu haben. Allerdings stellt er bereits hier Überlegungen an, ob etwa die „Habiräer-Hebräer nun rassereine Semiten“ seien und kommt zu dem Schluss, in „den Adern der Nachkommen jener Hebräer, der Juden, dürfte daher weit weniger semitisches Blut fließen, als die Gesamtmenge des von anderen Rassen beigemischten Blutes beträgt“ (S.16). Das hat ihm, da er auf Heiratsverbindungen judäischer Herrscher mit (indogermanischen) hethitischen Frauen (Prinzessinnen) verwiesen hat, von nationalsozialistischer Seite heftige Kritik eingetragen, worüber er sich gegenüber seinem amerikanischen Kollegen Th.J. Meek beschwert hat. Ungnads Vorstellung von der Rolle von Rasse als geschichtsträchtigem Faktor kommt aber vollends in seinem genannten Subartu-Buch zum Tragen. Dort spricht er in der Einleitung von den indogermanischen Sprachen, die das arteigene Gedankengut der nordischen Rasse (homo europaeus Linné) darstellen (S. 1). Er wendet sich dann der dinarischen Rasse zu, „die wohl im harten Kampf ums Dasein nicht nur einen gestählten, widerstandsfähigen Körperbau von beträchtlicher Länge und eine länglichere Gesichtsform ausbildete, sondern auch Eigenschaften zur Entfaltung brachte, die geradezu im Gegensatz zu ihrer Schwesterrasse, der vorderasiatischen, wie diese uns gegenwärtig im allgemeinen vor Augen tritt, stehen: Tapferkeit, Zuverlässigkeit und innere Vertiefung. Gemeinsam verblieben ist beiden Teilen nicht nur ihre musikalische Begabung, sondern auch ihre zähe Ausdauer, nur dass diese sich bei der dinarischen Rasse mehr zum Guten, bei der vorderasiatischen mehr zum Schlechten entwickelt hat.“ (S.14) Wenig später heißt es dann von der vorderasiatischen Rasse, dass die Eroberungen durch fremde Rassen „nicht wenig zur Ausbildung der schlechten Seiten der vorderasiatischen Seele der Unterjochten beigetragen haben mögen“ (S. 15). Des weiteren spricht Ungnad von den „wenig sympathischen Eigenschaften der vorderasiatischen Steilköpfe“ (S. 16). Er fährt dann fort, da eine Anpassung der seelischen Eigenschaften einer unterwor102 Zeitschrift für Assyriologie 44, 1938, 27. 103 S. im Detail L. Hanisch, op. cit. (Anm. 29), 154.
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fenen Rasse an die beherrschende nur bis zu einem allgemein-menschlichen Grade möglich sei, „mussten Verstellung, Heuchelei, Geldgier und Unehrlichkeit im allgemeinen das ersetzen, was ihnen an sich rassefremd war: Diese Volksteile der unterworfenen Rasse setzten sich im Laufe der Zeit durch Auslese immer mehr durch, während die, die sich weniger anzupassen vermochten, ausgemerzt wurden“ (S. 17). Explizit nennt er schließlich zum Schluss die Juden, von denen es heißt (S. 194), dass sie „wesentlich auf eine Mischung von subaräischer (vorderasiatischer) mit orientalischer (amurritischer) Rasse zurückzuführen“ seien. Allerdings knüpft Ungnad daran keine weiteren bewertenden Bemerkungen an. Sie ergaben sich für den aufmerksamen Leser von selbst. Wenige Jahre später, 1944, hat sich der amerikanische Altorientalist Ignace J. Gelb ebenfalls mit dem Thema Subartu unter dem Titel „Hurrians and Subarians“ beschäftigt. Dabei bescheinigt er Ungnad aber hinsichtlich seines auf philologischer Argumentation beruhenden historischen – aber von rassenideologischen Erörterungen freien – Teils solide wissenschaftliche Qualität, auch wenn er mit bestimmten Interpretationen Ungnads nicht einverstanden sei. Zu Ungnads Einleitung mit seinen Rassenthesen nimmt er nur indirekt Stellung, wenn er (Gelb) für sich feststellt, dass er es absichtlich vermieden habe „calling upon physical anthropology and archaeology, not because of skepticism as regards their validity in general but because for the determination of ethnic relationships and ethnic movements in the ancient Near East they still have too little to offer“ (S. iv). Wenn Gelb darauf verweist, dass „in the years after the first World War great enthusiasm prevailed in the fields of physical anthropology and archaeology“ (S. iv), so verweist er damit implizit auf Schriften wie die oben zitierte von Ungnad „Die ältesten Völkerwanderungen Vorderasiens.“ Es herrschte in der Tat eine Faszination hinsichtlich der Aussagefähigkeit der durch physische Merkmale charakterisierten Rasse und dadurch bedingter geistiger und charakterlicher Eigenschaften. Insbesondere ging es im Deutschland der dreißiger Jahre um die Besonderheiten, die Überlegenheit dessen, was man unter indogermanischer Rasse oder arischer Natur verstand.104 Dass diese Vorstellungen auch einige Altorientalisten beeinflussten, ist aus dem Vorherigen deutlich geworden. Angesichts solcher Tendenzen hat sich T. Jacobsen, ein junger amerikanischer Altorientalist dänischer Herkunft, 1939 in einem Artikel „The Assumed Conflict Between the Sumerians and Semites in Early Mesopotamian History“105 im Ton zurückhaltend, in der Sache aber deutlich, mit Vorstellungen verschiedener Historiker – u.a. Eduard Meyer, James H. Breasted, Leonard King, Harry R. Hall – auseinandergesetzt, die das Neben- und Gegeneinander durch sumerische Sprache und Namen einerseits und durch das semitische Akkadisch andererseits geprägte frühe Staaten im südlichen Mesopotamien als durch die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Rassen bedingt interpretiert haben. Obwohl, wie Jacobsen zeigt, nicht auf Deutschland beschränkt, kam dem Faktor Rasse im Kontext der NS-Ideologie natürlich er104 Zu welchen Verrenkungen das NS Regime sich in der Rassenfrage veranlasst sah, erhellt ein interministerieller Schriftwechsel vom 20. Juni 1936. Das Auswärtige Amt schreibt: „Vom Ausland verbreitete Nachrichten, dass von maßgebender deutscher Seite erklärt sein soll, die Bewohner Ägyptens, Irans und Iraks seien Nichtarier, hat im Ausland große Erregung hervorgerufen. Die Gesandten von Ägypten und Iran haben dieserhalb im Auswärtigen Amt vorgesprochen. Der ägyptische Gesandte äußerte dabei, dass die Ägypter sich für artverwandt mit dem deutschen Blute hielten.“ Dem folgte eine Besprechung im AA, „um eine grundsätzliche Auslegung des Begriffs Artverwandtschaft in Bezug auf seine Anwendung auf außereuropäische Völker herbeizuführen.“ Bereits früher haben das Reichspropagandaministerium (1. Februar 1936) und das Amt des Stellvertreters des Führers (Hess) (4. April 1936) mitgeteilt, dass sie der Frage, ob das türkische Volk als arisch zu betrachten sei, zustimmten. S. dazu Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes 85/5, Inland Partei. Zugehörigkeit der Ägypter, Iraker, Perser und Türken zur arischen Rasse. Von 1935-1936, Bd. 1, 82/35. 105 Journal of the American Oriental Society 59, 1939, 485-495, nachgedruckt in W.L. Moran (Hrgb.), Thorkild Jacobsen –Toward the Image of Tammuz and Other Essays on Mesopotamian History and Culture, Cambridge/MA, 1970, 187-192 und 416-421 (Fußnoten).
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höhte Bedeutung, wenn nicht eine Schlüsselrolle zu. Dagegen meinte Jacobsen dezidiert und gestützt auf die überlieferten Quellen Stellung beziehen zu müssen. Er kommt schlussendlich zu dem Ergebnis: „The wars which shook that country and the aims for which its rulers fought had nothing to do with differences of race; the issues were purely political and were determined solely by social and economic forces.“106 Eckhard Unger,107 Schüler von Zimmern und Weissbach in Leipzig, wurde 1917 promoviert. Von 1911 bis 1918 war er Kustos an den Altorientalischen Sammlungen des Archäologischen Museums in Istanbul, habilitierte sich 1924 in Berlin. 1924/25 und danach von 1932 bis 1935 war er Leiter der Altorientalischen Sammlungen des Istanbuler Archäologischen Museums. 1930 wurde Unger zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor in Berlin ernannt. Mit Ablauf seiner Tätigkeit am Museum in Istanbul hat das Reichserziehungsministerium Unger aufgefordert, seine Lehrtätigkeit in Berlin zum nächstmöglichen Zeitpunk aufzunehmen. Der Direktor der Außenstelle des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI) Istanbul, Schede, berichtet (17. Mai 1936) über Schwierigkeiten, die sich zwischen Unger und der türkischen Seite ergeben hätten und die die deutsche Botschaft veranlasst hätten, beim Reichserziehungsministerium Ungers Abberufung zu veranlassen, was dieser (naiverweise) als Hinweis auf eine vorgesehene Nachfolge auf den HerzfeldLehrstuhl angesehen habe.108 Ungers Streben nach wichtigen akademischen Positionen zeigt sich auch in anderem Zusammenhang. In einem Brief an Unger (15. August 1933) bezieht sich Theodor Wiegand, der Präsident des Deutschen Archäologischen Instituts, auf einen ihm vorliegenden Bericht, der zuvor vom Ortsgruppenleiter der NSDAP in Istanbul, dem Ingenieur Riener, an das Propagandaministerium geschickt worden war. Darin sei angeregt worden, den Direktor des DAI Istanbul, Schede, zu entfernen und Unger an dessen Stelle zu setzen. Unger habe gleichzeitig mit der Entlassung Herzfelds in Berlin gerechnet und sich Hoffnungen auf dessen Nachfolge als Ordinarius gemacht. Zu diesem Sachverhalt solle Unger ihm, Wiegand, „auf Ehrenwort“ erklären, dass er mit diesem Bericht nichts zu tun habe. Unger hat darauf nicht geantwortet.109 In einem Brief (2. Mai 1936) des Generaldirektors der Berliner Museen, Otto Kümmel, an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität bezieht sich Kümmel auf das Verlangen Ungers neben seiner Professorenstelle auch noch die Leitung der Vorderasiatischen Abteilung der Berliner Museen zu übernehmen, ein Verlangen, das Kümmel bereits in einem diesbezüglichen Gutachten vom 17. Januar 1936 zurückgewiesen hatte.110 Unger scheint erneut versucht zu haben, Direktor der Vorderasiatischen Abteilung der Berliner Museen zu werden, was er durch Angriffe seitens des Deutschen Archäologischen Instituts (dessen Präsident inzwischen Martin Schede war) und von Sodens behindert sah.111 Ungers Aktivitäten hätten bei Fachkollegen den Eindruck von einem zwar gutmütigen, aber außerordentlich ungeschickten und lebensunklugen Menschen erweckt, bei ihm aber auch intrigante, hinterlistige, gar verleumderische Wesenszüge gesehen.112 Der Dekan der Philosophischen Fakultät, Koch, beurteilt Un106 Loc. cit. (Anm. 105), 495. 107 Für Einzelheiten s. J. Renger, loc. cit. (Anm. 1: Renger 1979), 187 und H. Schmökel, in: M. Lurker (Hrgb.), In memoriam Eckhard Unger. Beiträge zur Geschichte, Kultur und Religion des Alten Orients, Baden-Baden, 1971, 7-13. 108 Personalakte Unger im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK U 3/2 Blatt 14. 109 Personalakte Unger im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK U 16/3 Blatt 1. 110 Personalakte Unger im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK U P16/3 Blatt 11 und 12. 111 Personalakte Unger im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK U 16/2 Blatt 68 (20. Oktober 1939). 112 Bericht Wiegand an das Reichserziehungsministerium (1. Dezember 1936) (Personalakte Unger im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK U 16/2 Blatt 17-19) und Andrae, Direktor der Vorderasiatischen Abteilung der Berliner Museen an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität (18. Dezenber 1936) (Personalakte Unger im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK U 16/3 Blatt 22).
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ger dem Rektor gegenüber als eine „eigenwillige und wie mir scheint, sehr wenig disziplinierte Persönlichkeit, die bei Fachkollegen im Rufe der Unverträglichkeit steht. Dienstlich habe ich zu beanstanden, dass er sich Freiheiten gestattet, die durchaus jene Dienstbereitschaft vermissen lassen, die unter den heutigen Umständen eine selbstverständliche Voraussetzung wären.“ All dies dürfte für den geringen Enthusiasmus der Fakultät verantwortlich sein, wenn es um Ungers – letztendlich vergebliches Bemühen – ging, das Ordinariat des entlassenen Herzfeld zu übernehmen. Sicher war Unger sehr von seinen Qualitäten überzeugt, die auch sein Verhalten im Einzelnen bestimmt haben. Seine besonderen Qualitäten als Museumsmann, Archäologe und Mensch betonen mit ihm verbundene Kollegen und sehen in seiner Eigenwilligkeit und seinen Ansprüchen eher positive Seiten.113 Unger wurde schließlich zum 1. April 1938 zum beamteten außerordentlichen Professor für Altorientalische Archäologie und Hilfswissenschaften ernannt. Bereits seit dem Wintersemester 1935 war er mit der Vertretung des Lehrstuhls für Altorientalische Archäologie beauftragt, der zunächst durch die Beurlaubung dann durch Erlass vom 10. September 1935 in den Ruhestand versetzten Ernst Herzfeld, vakant war.114 Nach 1945 wurde Unger wegen seiner Mitgliedschaft in der NSDAP (seit 1. Januar 1932)115 nicht wieder an der Berliner Universität eingestellt, obwohl der ihm freundschaftlich verbundene Baron Max von Oppenheim gegenüber dem Rektor der Berliner Universität, Stroux, 27. Februar 1946 erklärte: „ Zur Zeit des Hitlerereignisses hat Unger sich niemals gescheut, auch mit Nichtariern zu verkehren. Ich bin 50%iger Nichtarier. Nichtsdestoweniger hat Unger mir dauernd seine Freundschaft erhalten. ... Ich habe bei meinen vielfachen Begegnungen mit Professor Unger schon seit vielen Jahren immer wieder festgestellt, dass er dem nazistischen Regime gegenüber feindlich eingestellt war, den von Hitler herbeigeführten Krieg perhorreszierte und das Ende des Regimes herbeiwünschte.“ Über Ungers nationalsozialistisch geprägte Ideen vermitteln einige seiner kleinen Schriften eine Vorstellung: Bereits 1929 erschien sein Artikel „Die Völkerrassen des Alten Orients nach antiker Auffassung,“116 des weiteren „Das antike Hakenkreuz als Wirbelsturm“ (1937),117 und „Altindogermanisches Kunstempfinden“ (1939). Seine Versuche aus Gestaltungsprinzipien und Stilelementen bei nordsyrischer Vollplastik und Reliefs durch Vergleich mit hethitischen Kunstwerken einen eigenen indogermanischen Kunststil plausibel zu machen, sind methodisch nicht akzeptabel und höchstens aus der damaligen Zeit heraus zu verstehen. Eine Wirkung auf das Fach haben sie nicht ausgeübt. Allerdings haben Ungers Äußerungen in seinem Aufsatz „Unsemitisches und Indogermanisches in der altorientalischen Kunst“118 und seiner Broschüre „Altindogermanisches Kulturgut in Nordmesopotamien“ (1938) W. von Soden zu einer massiven, rein philologisch begründeten Kritik in einem Literaturbericht „Neue Untersuchungen über die Bedeutung der Indo-
113 S. H. Schmökel, loc. cit. (Anm. 107). 114 Personalakte Unger im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK U 16/1 Blatt 113 und 115 (19. November 1935). 115 Laut Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Berlin Document Center, Film 31XX S 0063, Mitglieds-Nr. 867592. Unger selbst gibt im Fragebogen (zwecks Mitgliedschaft in der Reichsschriftumkammer) das Jahr 1931 als Beginn seiner Parteizugehörigkeit an (was sich vermutlich auf den Aufnahmeantrag vom 30. Dezember 1931 bezieht). – Lt. Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde / Basys (Archivsystem für personenbezogene Akten) Bestand RSK II, Lesefilm Nr. 583, Bild-Nr. 2327 (Betr. Mitgliedschaft in der Reichsschriftumkammer); Bestand DS Lesefilm- Nr. G140 Bild Nr. 2850 (Anfrage betr. Unger ob Mitgliedschaft im Ahnenerbe zu erwägen sei). 116 Forschungen und Fortschritte 5, 1929, 145ff. 117 Zum gleichen Thema Das sumerische Hakenkreuz, in: Forschungen und Fortschritte 11, 1935,153-155., Hakenkreuz und Thorhammer als Sturmsymbol des Wettergottes, in: Forschungen und Fortschritte 12, 1936, 73-75., und Zur Entwicklung des sumerischen Hakenkreuzes, in: Forschungen und Fortschritte 12, 1936, 153-155. 118 Forschungen und Fortschritte 11, 1935, 329f.
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germanen für den Alten Orient“ veranlasst.119 Darauf antwortet Unger in seiner Broschüre „Altindogermanisches Kunstempfinden“ (1939),120 wo es u.a. heißt, man könne nur „bedauern, dass er [von Soden, J.R.] den Einfluss seines Lehrers noch nicht abgetan hat und immer noch an der berüchtigten bennolandsbergerschen ‚Kritik‘ [dies eine explizite antisemitische Wortwahl, J.R.] festhält.“ Die sich steigernde Polemik führte daraufhin zu einem geharnischten Brief von Sodens an Unger (Anrede: „Herr Unger!“) und zu einem ausgedehnten Schriftwechdel zwischen beiden, der durch beide auch den Universitätsbehörden zur Kenntnis gebracht worden ist. Über seine damaligen Motive schreibt von Soden an Unger (13. Mai 1939): „Die Formulierung dieser Schrift [Altindogermanisches Kunstempfinden] sollte und musste nämlich bei Nichtnationalsozialisten den Anschein einer Arbeit aus nationalsozialistischem Geist erwecken; sie bot damit allen Gegnern der Bewegung eine geradezu ideale Gelegenheit, das Gedankengut der Bewegung lächerlich zu machen und damit Deutschland zu schaden. Ehe nun ein Jude oder Ultramontaner diese Gelegenheit ergreifen konnte, musste eine öffentliche Antwort [d.h. die in Göttinger Gelehrte Anzeigen veröffentlichte, J.R.] durch einen als Nationalsozialisten auch im Ausland bekannten deutschen Forscher erfolgen.“121 Daraus entwickelt sich eine weitere, brieflich geführte Polemik, in der Unger von Soden seine Nähe zu dem „mährischen Juden Landsberger“ und dem Halbjuden Güterbock vorwirft, die er wiederholt lobend zitiere.122 Wegen der in den Augen des Rektors der Berliner Universität außerordentlich scharfen, ehrverletzenden Angriffe von Sodens gegen Unger sah sich der Rektor genötigt, Unger zu fragen, was er zu tun gedenke, worauf Unger um Eröffnung eines Disziplinarverfahrens gegen sich ersuchte (23. Juni 1939).123 Daraufhin wurde von Soden zu einer dienstlichen Stellungnahme aufgefordert, die er vor dem Universitätskurator in Göttingen abgegeben hat (10. August 1939). Darin wiederholt er die eben in seinem Brief an Unger zitierte Position. Eine Verleumdungsklage gegen Unger vor einem ordentlichen Gericht komme für von Soden nicht in Frage, da – weil beide Parteigenossen seien – die Angelegenheit vor ein Parteigericht gehöre.124 Am 11. November 1939 hat Unger dann noch ein Ehrengerichtsverfahren vor dem NSDDB beantragt, allerdings unter der Voraussetzung, dass auch von Soden darin einbezogen werde.125 Der hier geschilderte Konflikt hatte keine politischen Ursachen. Er bezieht seine Schärfe vielmehr aus einer durchaus berechtigten fachbezogenen Kritik durch von Soden. Im Hintergrund stehen natürlich die auf wissenschaftlicher Ebene geführten Kontroversen zwischen der Berliner Schule Bruno Meissners und der Leipziger Schule Benno Landsbergers. Wilhelm Eilers126 hat sich, nach seiner Promotion in Leipzig bei Paul Koschaker (1931), im Jahr 1938 in Berlin für das Fach Keilschriftforschung und Semitistik habilitiert. Auf Grund seiner iranistischen Ausbildung erhielt er ab 1. August 1936 eine Stelle beim Deutschen Archäologischen Institut zur Begründung des Stützpunktes Isfahan. Nach der Besetzung des Iran durch alliierte Truppen (1941) wurde er interniert und nach Australien verschifft, wo er nach seiner Entlassung von 1947 bis 1952 in Sydney als Lecturer tätig war. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland wurde von der Zentralspruchkammer Hessen in Frankfurt/Main am 17. Oktober 1952 das gegen ihn eingeleitete Entnazifizierungsverfahren 119 120 121 122 123 124 125 126
Göttinger Gelehrte Anzeigen 1938 Nr. 5, 195-216. Dort S. 11 Anm. 18. Personalakte Unger im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK U 16/2 Blatt 51. Erklärung Ungers gegenüber Reichserziehungsminister Rust vom 21. Juni 1939, s. Personalakte Unger im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK U 16/4 Blatt 33-44. Unger bezieht sich. u. a. auf Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 75, 1938, 1f. und 12 Anm. 3. Personalakte Unger im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK U 16/4 Blatt 12. Personalakte Unger im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK U 16/4 Blatt 82ff. Personalakte Unger im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK U 16/2 Blatt 70 (12. August 1939) sowie UK U 16/4 Blatt 24. (11. November 1939). Einige Informationen finden sich in der Personalakte im Universitätsarchiv Würzburg.
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eingestellt.127 Zum 1. April 1958 wurde Eilers zum außerordentlichen Professor der Orientalischen Philologie an der Universität Würzburg berufen und ihm die Amtsbezeichnung eines ordentlichen Professors verliehen. In seinen Veröffentlichungen lassen sich keine Anzeichen für eine Instrumentalisierung des Faches im Sinne des Nationalsozialismus finden. Allerdings haben frühere Leipziger Kommilitonen wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus auch Jahre später noch die Begegnung mit ihm vermieden. Ein mit dem Fach verbundener Gelehrter war auch der Iranist Walther Hinz.128 Zusammen mit Franz Babinger, damals Professor am Seminar für Orientalische Sprachen in Berlin, verfasste er im Mai 1933 eine siebenseitige an die Kultusministerien in Bayern, Preußen und Sachsen gerichtete Denkschrift „Die Morgenlandforschung im neuen Deutschland.“129 Interessant ist, dass Hinz zu diesem Zeitpunkt noch Referent im Reichswehrministerium war, erst ab November 1934 ist er im Reichserziehungsministerium tätig.130 Ist die Initiative als Versuch zu werten, sich unter den neuen politischen Bedingungen Einfluss zu verschaffen und Karriere zu machen? Die Vorwürfe der beiden Verfasser gegen die bisherigen Forschungsschwerpunkte gehen dahin, dass sich die Orientalistik (von den Verfassern durch den Begriff Morgenlandforschung ersetzt) zu sehr als Anhängsel der Religionswissenschaft und der rabbinischen Studien betrachtet habe. Sie sei ferner zu einseitig sprachwissenschaftlich und textphilologisch ausgerichtet und bemühe sich zu wenig um die historischen Probleme des Orients, im Gegensatz zu dem was ihrer Meinung nach in England und Frankreich in dieser Hinsicht geschehe. Zudem formulieren sie Vorschläge, wie die orientalischen Studien in Deutschland in Zukunft organisiert werden sollten. Gedacht ist an drei Zentren – Berlin, Leipzig, München: „Die Verteilung der Aufgabengebiete könnte hierbei folgendermaßen vorgenommen werden: Berlin: Ohne Einschränkung.
127 Angabe im von ihm ausgefüllten Personalfragebogen (in den Personalakten im Universitätsarchiv Würzburg). Laut Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Berlin Document Center Film 31XX F 0155 beantragte Eilers die Aufnahme in die NSDAP am 16. Juni 1937 und wurde zum 1. Mai 1939 in die Partei aufgenommen, Mitglieds-Nr. 7050868. 128 Benno Landsberger erinnerte sich an Hinz folgendermaßen (mündlich 1967): „Wenn der Hinz in seiner SS-Uniform ins Institut kam, hat er mich immer vorbildlich behandelt!“ Allerdings steht diese Erinnerung im Gegensatz zu den Angaben der Personalakte Hinz (Rektoratsakte im Universitätsarchiv Göttingen), wonach Hinz 1933 der SA beigetreten war, sie aber bereits nach 9 Monaten wieder verlassen hatte (vor dem sog. ‚Röhmputsch'‘. 1937 Eintritt in die NSDAP. 129 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden Min. f. Volksbildung Nr. 10230/13 (Akten des Orientalischen Instituts Leipzig). Ich verdanke die Kenntnis der Denkschrift der Freundlichkeit von Dr. Ludmilla Hanisch, Halle. 130 Rektoratsakte im Universitätsarchiv Göttingen Ordner I (1937-52), Blatt 1a: Referent im Reichswehrministerium (Heereswaffenamt), Forschungsabteilung (Februar 1932 – November 1934); ab November 1934 Referent im Reichserziehungsministerium; 5. Juli 1935 Ernennung zum Regierungsrat im Reichserziehungsministerium. – In der Personalakte Ordner I (1937-1952) Blatt 1c (Entnazifizierungsakte) heißt es „weil die ihm übertragene politische Mission es wünschenswert erscheinen ließ, wurde er aus dem Wehrministerium ins Kultusministerium und von da auf die Professur nach Göttingen versetzt.“ Mit dem 16. Juni 1937 wurde Hinz zum persönlichen ordentlichen Professor in Göttingen ernannt und ihm die freie Planstelle eines außerordentlichen Professors übertragen mit einem Lehrauftrag für Geschichte des Vorderen Orients, besonders Irans. Ordentliche Professur seit 17. Juli 1940. – Es scheint, dass Hinz im Rahmen seiner Möglichkeiten im Reichserziehungsministerium die Anliegen der orientalistischen Fächer auf Grund seiner Fachkompetenz weitgehend durchaus positiv vertreten hat. So hat z.B. eine Besprechung zwischen Hinz und Koschaker im Vorfeld von Koschakers Berufung nach Berlin stattgefunden, an die sich Koschaker Ende 1940 positiv erinnert. Es ging darum, Berlin zum Zentrum der Studien zum Alten Orient zu machen (Personalakte Koschaker im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK K(oschaker) Teil I Blatt 12). Das Ende seiner Tätigkeit im Ministerium wird von dem regimekritischen Paul Kahle mit Bedauern zur Kenntnis genommen (s. L. Hanisch, op. cit. [Anm. 29], 149 m. Anm. 530).
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Leipzig: In Wahrung der altehrwürdigen Überlieferung seit den Zeiten [des Arabisten, J.R.] Heinrich Leberecht Fleischers Betonung der sprachwissenschaftlichen Seite, wozu alle Voraussetzungen gegeben sind. München: Anknüpfend an die schon während des Weltkrieges aufgetauchten Bestrebungen könnte versucht werden, in München einen Mittelpunkt für Balkanstudien unter Einschluss des Vorderen Orients zu schaffen, wozu die Lage der Stadt besonders geeignet erscheint. Vergl. auch die gedruckt vorliegenden Programme von Männern wie Ernst Kuhn, A. Dirr, G. Reismüller, deren Bestrebungen leider durch den Weltkrieg unterbrochen wurden.131 Eine solche Zusammenfassung würde nicht nur günstigere Arbeitsbedingungen schaffen, da der Morgenlandforscher einer großen Bücherei und vor allem seltener Handschriften nicht entraten kann. Zugleich lernen sich die Fachgenossen besser kennen und vermögen sich gegenseitig zu fördern. Vielen unfruchtbaren und entwürdigenden Polemiken, wie sie in der Orientalistik leider an der Tagesordnung sind, würde so der Boden entzogen. Damit einhergehend wären auch die Fachzeitschriften zu vereinigen; nicht Aufspaltung in kleinste Bezirke, die schließlich kaum noch ein Dutzend Gelehrte angehen, sondern Zusammenfassung des in einen größeren Rahmen Gehörenden ist erforderlich.“ Die drei Leipziger Ordinarien Erich Bräunlich, August Fischer und Benno Landsberger haben darauf sofort geantwortet.132 Sie betonten, wie unsinnig der von Babinger und Hinz konstruierte Gegensatz zwischen Philologie und Geschichte sei, verwiesen darauf, dass historische Forschung philologisch gut aufgearbeiteter Quellen und sprachlich exzellent ausgewiesener Forscher bedürfe und es durchaus nicht an – auch gegenwartsbezogener – historischer Lehre und Forschung und entsprechender Publikationen mangele. Es sei angemerkt, dass Fischer und Bräunlich wenige Monate später zu den Unterzeichnern einer öffentlichen Ergebenheitsadresse an Hitler gehörten.133 Fischer war im übrigen Mitglied der NSDAP. Bemerkenswert ist die Teilnahme von Benno Landsberger, der zwei Jahre später wegen seines Judentums aus seiner Professur entlassen wurde. Die jüngere Generation Inwieweit es erkennbare Unterschiede zwischen der Haltung der Studentenschaft und den Hochschullehrern der Altorientalistik zum Nationalsozialismus in der Zeit vor 1933 gab, lässt sich schwer feststellen, da die Zahl der Studenten im Fach Altorientalistik sehr klein war, es also keine Fachschaft gab die sich kollektiv hätte äußern können. Es sind daher nur Rückschlüsse möglich, die sich auf die Haltung derjenigen gründen, die kurz vor oder nach 1933 promoviert worden waren oder sich habilitiert hatten, und wenn man deren Ergehen nach der nationalsozialistischen Machtergreifung verfolgt. Einige haben sich, wie bereits geschildert, mit dem nationalsozialistischen System eingelassen, andere nicht.
131 Der von Babinger und Hinz hinsichtlich Münchens gemachte Vorschlag entspricht in etwa dem, was Himmler im Sinne hatte, als er 1938 das Wiener Südost-Institut mit dem SS „Ahnenerbe“ zu verbinden suchte, s. dazu G. Simon, loc. cit. (Anm. 86), 10. 132 Stellungnahme zu der Ausarbeitung des Professors Dr. Franz Babinger und Dr. Walther Hinz betr. Morgenlandforschung im neuen Deutschland (Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden. Min. f. Volksbildung Nr. 10230/13); siehe zum Gesamtvorgang L. Hanisch, op. cit. (Anm. 29), 144-146. 133 „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat,“ (Dresden November 1933), s. dazu L. Hanisch, op. cit. (Anm. 29) 144f. m. Anm. 515.
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Als Folge der NS-Rassegesetzgebung mussten Fritz Rudolf Kraus,134 Hans-Gustav Güterbock,135 beide Schüler Benno Landsbergers in Leipzig, Deutschland verlassen. Sie emigrierten nach der Türkei. Paul Kraus, verzichtete 1933 auf seine venia legendi und ging über Frankreich und Israel nach Ägypten. Dort nahm er sich in für ihn aussichtsloser Lage am 14. Oktober 1944 das Leben.136 Hans H. Figulla, Bibliothekar am Seminar für Orientalische Sprachen, wurde gleich 1933 entlassen und emigrierte nach England, wo er zuletzt am British Museum beschäftigt war.137 Er starb am 6. Februar 1969 in London. Dem Rechtshistoriker Martin David, Schüler von Koschaker und Landsberger, wurde, weil Jude, 1933 in Leipzig die Lehrbefugnis entzogen. Er ging nach Holland, wo er die deutsche Okkupation überlebte. Miriam Seif kehrte nach der Promotion 1938 nach Polen zurück. Über ihr weiteres Schicksal als Jüdin kann man nur traurige Vermutungen anstellen. Lubor Matous, tschechischer Staatsbürger, ging 1939 in die Türkei, wo er in der tschecho-slowakischen Auslandsarmee diente. Hans-Siegfried Schuster wurde aus dem Universitätsdienst wegen seiner auch nach Landsbergers Entlassung fortgeführten engen Verbindungen zu seinem Lehrer („wegen Zusammenarbeit mit jüdischen Gelehrten“) entlassen.138 Karl Friedrich Müller, Pfarrer in Leipzig, der den brieflichen Kontakt mit seinem Lehrer Landsberger nicht abbrechen ließ,139 Gerhard Meier140 und Heinz Waschow sind im Krieg umgekommen bzw. gefallen. Dietrich Opitz schied 1935 aus dem Universitätsdienst aus und lebte fortan als Privatgelehrter. Auch Albert Schott, ein Schüler von Peter Jensen, zuletzt Professor in Bonn, ist aus dem Krieg nicht zurückgekehrt. Er galt als große Hoffnung für das Fach.141 W. von Soden hatte ihn der Göttinger Fakultät neben Falkenstein für seine Nachfolge vorgeschlagen.142 Der Hethitologe C.G. Freiherr von Brandenstein wurde 1940 in Leipzig von Johannes Friedrich promoviert. Er wurde 1941 in den Iran versetzt, wo er beim Einmarsch der Alliierten interniert wurde.143 Er galt als Anhänger des Nationalsozialismus. 134 Zu F.R. Kraus siehe J. Renger, loc. cit. (Anm. 1: Renger 2001), 257f.; J. Schmidt, Exil im Orient – Die Briefe von Fritz Rudolf Kraus aus Istanbul, 1937-1949, in: L. Hanisch (Hrgb.), Der Orient in akademischer Optik – Beiträge zur Genese einer wissenschaftlichen Disziplin (Orientwissenschaftliche Hefte 20), Halle, 2006, 145-153. S. außerdem Haymatloz (Anm. 23), 141: Das Referat D III des Auswärtigen Amtes vermerkt am 8. Dezember 1942, „dass der Mischling 1. Grades Dr. Fritz Rudolf Kraus ... zur Ausbürgerung vorzuschlagen ist, sobald bekannt wird, dass er die türkische Staatsangehörige Chariklia Anastasiadis geheiratet hat.“ Die Ehe konnte daher erst am 15. April 1946 geschlossen werden. 135 S. J. Renger, loc. cit. (Anm. 1: Renger 2001), 256f. und ders., In Memoriam Hans-Gustav Güterbock, in: Istanbuler Mitteilungen 51, 2001, 7-10; S. außerdem den autobiographischen Essay von H. G. Güterbock, Resurrecting the Hitties, in: J.M. Sasson, Civilizations of the Ancient Near East, New York, 1995, 2765-2777. 136 Joel L. Kraemer, The Death of an Orientalist: Paul Kraus from Prague to Cairo, in: M. Kramer (Hrgb.), The Jewish Discovery of Islam, Tel Aviv, 1999. 137 Nachruf in: Archiv für Orientforschung 23, 1970, 220. Dort heißt es „Die immer schwieriger werdenden Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg veranlassten Figulla schließlich, Deutschland zu verlassen und über die Schweiz nach England zu gehen.“ 138 S. J. Renger, Hans-Siegfried Schuster, in: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 135, 2003, 911. 139 Wie Hans-Siegfried Schuster schreibt (Brief vom 12. Juni 1999), firmierte Landsberger wegen der Kontrolle des Briefverkehrs mit dem Ausland als Lants Bergère. 140 Die Philosophische Fakultät bemühte sich im Sommer 1943 um die nachträgliche „Anerkennung des Doktorgrades an den in Afrika vermissten wissenschaftlichen Assistenten am Orientforschungsinstitut Gerhard Meyer (sic!) (Personalakte Unger im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK U Bd. 2 Blatt 103, 2. August 1943). 141 Habilitiert 1926 in Bonn, daselbst 1936 nichtbeamteter a.o. Professor (Personalakte Meissner im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK M 125/2 Blatt 26). Schott trat am 1. März 1933 der NSDAP bei (Mitglieds-Nr.. 3144173) und wurde im April 1937 aus der Partei entlassen. Zu Grunde lag ein Beschluss des Kreisgerichts der NSDAP Köln-Aachen vom 22. November 1937, s. Bundesarchiv BerlinLichterfelde, Berlin Document Center, Film 31XX Q 002. 142 Personalakte (Rektoratsakte im Universitätsarchiv Göttingen) Blatt 2 (31. Januar 1940. 143 Siehe Vorwort zu seiner Dissertation in Mitteilungen der Vorderasiatisch-Aegyptischen Gesellschaft 46/2, 1943.
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Unmittelbar nach dem ‚Anschluss‘ Oesterreichs an das Deutsche Reich mussten auch Leo Oppenheim (geb. 1904, Promotion 1933), Schüler von Viktor Christian, und Edith Porada (geb. 1912, Promotion 1935) emigrieren. Edith Porada, später eine der tonangebenden vorderasiatischen Archäologinnen, ging direkt nach New York, wo sie eine herausragende Rolle als akademische Lehrerin an der Columbia University spielte.144 Oppenheim wurde im März, unmittelbar nach dem ‚Anschluss‘ entlassen und emigrierte im Mai 1938 nach Frankreich, wo er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Collège de France tätig war. Nach Ausbruch des Krieges wurde er interniert, danach diente er in der französischen Armee, und schließlich gelang es ihm über das unbesetzte Frankreich, Spanien und Portugal nach den USA zu gelangen,145 wobei Otto Neugebauer für die Erteilung des Visums Bürgschaft leistete. Adam Falkenstein,146 Schüler Heinrich Zimmerns in Leipzig, arbeitete dort nach seiner Promotion (1929) mit Benno Landsberger zusammen, dessen Ratschläge er dankbar vermerkte.147 Er habilitierte sich 1933 in München mit einer Arbeit über die archaischen Keilschrifttexte aus Uruk (erschienen 1936) für orientalische Sprachen. P. Koschaker wollte ihn in Berlin für sein zu gründendes Seminar für die Rechtsgeschichte des Alten Orients als Keilschriftforscher an seiner Seite haben, da der Lehrstuhl Meissners vakant war und, wie sich gezeigt hat, eine Nachfolge wohl kurzfristig nicht zu erwarten war. Mit Brief vom 5. März 1937 ordnete daher das Reicherziehungsministerium auf Grund § 17 der Reichshabilitationsordnung vom 13. Dezember 1934 Falkensteins Eingliederung in die Philosophische Fakultät der Berliner Universität zum 1. April 1937 an.148 Er war dort Dozent für Sumerisch, womit ein direkter Konflikt mit der Fakultät im Hinblick auf die Wiederbesetzung auf den assyriologischen Lehrstuhl Meissners vermieden war. Bereits im Vorfeld hatten Professoren der Universität München, insbesondere der Rechtshistoriker Marian San Nicolò, dem heftig mit dem Argument widersprochen, in München sei Falkenstein genauso wichtig, wie Koschaker das für Berlin reklamiere.149 Sie wiederholten ihren Protest noch einmal nach Falkensteins Versetzung nach Berlin.150 Dass die Versetzung nach Berlin Bestand hatte, ist offenbar Koschakers enormem Ansehen, das er nicht nur in der Fakultät, sondern auch im Ministerium – trotz seiner bekannten ablehnenden Einstellung zum NSRegime – genoss, zu verdanken, und obwohl der Führer der Dozentenschaft, Prof. Landt, und des Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbundes mit Schreiben vom 16. Februar 1937, d.h. unmittelbar vor der Versetzung nach Berlin, heftigen Protest dagegen eingelegt hatte. Der NSDDB könne sich nicht für Falkenstein einsetzen, da er sich nirgends politisch betätigt habe. Seine Abhängigkeit von dem jüdischen Assyriologen Landsberger werde von den Informanten betont und es stünde zu befürchten, dass sich Falkenstein in Berlin zu einem Lager schlage, das sich bisher zu einer Mitarbeit im Sinne des Nationalsozialis144 S. auch den Nachruf von Irene Winter in: Archiv für Orientforschung 44/45, 1997/98, 587f. 145 J. Renger, in: loc. cit. (Anm. 1: Renger 2001), 255f.; s. auch International Handbook of Central Europaean Emigrés 1933-1945, 875; außerdem E. Reiner, A. Leo Oppenheim 1904-1974, in: E. Shils (Hrgb.), Remembering the University of Chicago: Teachers, Scientists and Scholars, Chicago, 1991, 374-382, s. weiter das maschinenschriftliche MS von Elizabeth Oppenheim (neé Munk), Emigration History of A. Leo Oppenheim (1904-1974) and Elizabeth Oppenheim (neé) Munk (ohne Datum) und den biographischen Essay von Robert L. Oswald, Elizabeth (Munk) Oppenheim – 10 October 1907 - 4 April 1993 (MS). 146 Für Einzelheiten siehe die Personalakte (Rektoratsakte) im Universitätsarchiv Göttingen (darin auch die Personalakten aus München und Berlin). 147 Im Vorwort zu: Literarische Keilschrifttexte aus Uruk, Berlin, 1931. 148 Personalakte Falkenstein im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK F6 Blatt 11. 149 Personalakte Falkenstein im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK F6 Blatt 7f. (Brief Koschaker an den Dekan der Philosophischen Fakultät Berlin). 150 Personalakte Falkenstein im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK F6 Blatt 19f. (9. November 1938). Zu den Unterzeichnern gehörten Marian San Nicolò, Alexander Scharff, Ferdinand Sommer, Walter Otto.
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mus nicht bereit gefunden habe. Falls eine Versetzung Falkensteins zur Unterstützung von Koschaker unabwendbar sei, würde der NSDDB die Verantwortung nicht übernehmen.151 Es ist nicht ausgeschlossen, dass Walther Hinz (übrigens Kommilitone Falkensteins aus Leipziger Zeiten), der die oben zitierte Anordnung des Ministeriums zur Versetzung Falkensteins als zuständiger Referent unterzeichnet hat, die Entscheidung des Ministeriums positiv beeinflusst hat. Er war im Vorfeld der Berufung Koschakers nach Berlin offensichtlich mit der Problematik und den Wünschen Koschakers vertraut. Am 8. November 1938 fordert der Oberregierungsrat im Reichserziehungsministerium (Auslandsabteilung), Herbert Scurla,152 Falkenstein auf, sich umgehend zu dem vom Auswärtigen Amt übermittelten Bericht zu äußern, die irakische Antikenverwaltung beabsichtige ihn für ein monatliches Gehalt von 80 Pfund Sterling einzustellen.153 Eine erneute Debatte über Falkensteins politische Zuverlässigkeit ergab sich, als er am 29. März 1939 den Antrag auf Ernennung zum ‚Dozenten Neuer Ordnung‘ stellte, was für Falkenstein mit einer gesicherten Einkommensbasis verbunden war. Auch hier äußert sich Koschaker wieder ausführlich in einem zweiseitigen handschriftlichen Gutachten, in dem er Falkenstein zwar für durchaus keinen guten Redner hält, aber er spreche klar und sei pädagogisch sehr geschickt.154 Im Zusammenhang mit seinem Antrag wird Falkenstein vom Dekan aufgefordert einen Nachweis seiner Tätigkeit für die NSDAP zu liefern. Falkenstein erklärt dazu, dass „ich seit Mai 1937 – mit Ausnahme der Zeit meines Auslandsaufenthaltes – als Blockwalter der NSV gearbeitet habe.“155 Der Führer des NSDDB, Landt, äußerte sich am 18. Juli 1939 zu Falkenstein Antrag auf ein Dozentenstipendium zunächst fachlich. Koschaker betrachte ihn als anerkannten Gelehrten, ein Fachkollege allerdings behaupte, dass „seine wissenschaftlichen Arbeiten gleich Null seien“ und betont Falkensteins Abhängigkeit von seinem jüdischen Lehrer Landsberger. Landt fährt fort, Falkenstein stehe dem Nationalsozialismus zwar kritisch gegenüber, aber er äußere sich nicht ablehnend. Allerdings halte Falkenstein eine weltanschauliche Schulung bei Volksgenossen in seinem Alter für aussichtslos, da er z.B. seine eigene Anschauung besitze und sich nicht mehr erziehen lasse. Abschließend heißt es, Falkenstein rechne daher „in keiner Weise zu dem zu fördernden Hochschullehrernachwuchs.“156 In seiner Stellungnahme bezieht sich Landt auf eine politische Beurteilung Falkensteins aus dem Jahr 1935, die sich in den Personalakten aus München findet: In einem Schreiben des Dekans der Philosophischen Fakultät München vom 13. September 1935 an den Rektor der Universität München,157 wird Falkenstein folgendermaßen zitiert: er (Falkenstein) „könne keine positiven Leistungen des Nationalsozialismus feststellen, außer etwa die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht – und das hätten die anderen Parteien wohl auch erreicht.“ Vor allem missbillige Falkenstein die Haltung des Nationalsozialismus dem Judentum gegenüber. In einem (undatierten) Vermerk des Dekans heißt es: „Dr. Falkenstein hat mir gegenüber betont, dass er die Äußerungen über den Nationalsozialismus nicht gemacht habe. Der Herr, auf dessen Bericht die Mitteilung der Dozentenschaft 151 Ausführlich auch behandelt von M. Müller, loc. cit. (Anm. 1), 280 Anm. 40. Diese Stellungnahme findet sich übrigens nicht unter den Teilen der Berliner Personalakte Falkensteins, die nach Göttingen übermittelt wurden (Rektoratsakte im Universitätsarchiv Göttingen). 152 Bekannt durch seinen Bericht „Die Tätigkeit deutscher Hochschullehrer an türkischen wissenschaftlichen Hochschulen- Bericht des des Oberregierungsrates Dr. Scurla über drei Ergebnisse einer Dienstreise vom 11.-25. Mai 1939 nach Istanbul und Ankara,“ in: K.-D. Grothusen, Der Scurla-Bericht, Frankfurt 1987. Scurla hat im übrigen nach dem Krieg in der DDR Karriere gemacht, s. etwa sein „Wilhelm von Humboldt – Werden und Wirken“ erschienen 1970 im Verlag der Nationen. 153 Personalakten im Archiv der Humboldt-Universität UK F6 Blatt 10. 154 Personalakten im Archiv der Humboldt-Universität UK F6 Blatt 19, 23. Juni 1936. 155 Personalakten im Archiv der Humboldt-Universität UK F6 Blatt 22 (18. Mai 1939). 156 Personalakten im Archiv der Humboldt-Universität Berlin, UK F6 Blatt 29. 157 Personalakte München (Akten des Akademischen Senats München) in der Rektoratsakte im Universitätsarchiv Göttingen, ohne Blattnummerierung.
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beruht, ist aber bereit, seine Behauptung Herrn Falkenstein gegenüber aufrechtzuerhalten.“ Die Akte vermerkt zudem eine Äußerung der Studentenschaft (18. Oktober 1935): „Dr. Falkenstein, der Bestrebungen des Nationalsozialismus verständnislos und vielfach ablehnend gegenüber steht sowie jüdische Tendenzen vertritt.“ Im Übrigen hat es sich Falkenstein nicht nehmen lassen während seiner Stationierung während des Krieges in der Türkei, seinen emigrierten Leipziger Kommilitonen Güterbock in Gegenwart anderer auf offener Straße mit Handschlag zu begrüßen. Falkensteins Berufung auf die freie Planstelle eines außerordentlichen Professors an der Universität Göttingen als Nachfolger von W. von Soden war anscheinend politisch nicht so brisant, wie ein Verfahren in Berlin. Allerdings teilte der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, SD-Abschnitt Braunschweig, der SD-Außenstelle Göttingen am 20. März 1940 vertraulich mit: „Politisch ist Falkenstein in Berlin wenig hervorgetreten. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass er als Schüler und Freund des Juden Landsberger (früher an der Universität Leipzig, jetzt in der Türkei) gilt.“158 Die Berufung verzögerte sich aus anderen Gründen, weil gleichzeitig die Berliner Philosophische Fakultät versuchte, Falkenstein auf Wunsch Koschakers in Berlin zu halten. Schließlich setzte sich Göttingen durch.159 Die Fakultät hatte zunächst neben Falkenstein auch A. Schott (Bonn) als Nachfolger für von Soden erwogen, sich dann letztendlich für Falkenstein entschieden, da er die Arabistik aushilfsweise vertreten könne (da auch dieser Lehrstuhl z.Z. vakant war) und entsprechend dem Ministerium eine ‚Einerliste‘ vorgelegt, da die Zahl der deutschen Assyriologen so gering sei, dass man sich mit dem Vorschlag Falkensteins begnügen müsse. Die Berufung nach Göttingen erfolgte zum 1. Juli 1940 auf die Planstelle eines a.o. Prof. mit der Verpflichtung, Assyriologie und Arabistik in Vorlesungen und Übungen in Göttingen zu vertreten.160 Falkensteins Eintritt in die NSDAP im Jahre 1940 ist vermutlich als Versuch zu werten, seine akademische Karriere nicht zu gefährden.161 Im Übrigen war Falkenstein, wie auch alle anderen Altorientalisten bzw. nahezu alle deutschen Hochschullehrer, vom Amt Rosenberg erfasst.162 1949 wechselte Falkenstein nach Heidelberg, wo er bis zu seinem Tod 1966 als weltweit führender Sumerologe zahlreiche Schüler ausbildete. Die Aktenvermerke über Falkensteins politische Haltung werden meines Erachtens in ihrer Bedeutung nicht geschmälert durch das Referat Falkensteins vor dem IX. Deutschen Orientalistentag 1938 in Bonn,163 in dem er der Frage nachging, was anthropologische Untersuchungen, genauer Schädeluntersuchungen, zur Klärung der Bevölkerungsverhältnisse in der Frühzeit Babyloniens, d.h. im 4. und 3. Jt. v. Chr., beitragen könnten. Er vermutet, dass in einem langköpfigen Schädeltyp Vertreter derselben Rasse zu sehen sein könnten, der die heutigen nordarabischen Beduinen angehörten. Seine Schlussfolgerung – das vorliegende Material lasse keine endgültigen Aussagen zu. Man fragt sich, was Falkenstein zu einem solchen Referat veranlasst haben könnte. Schließlich war niemand verpflichtet, auf dem Orientalistentag zu sprechen. Wenn man allerdings an Ungnads Subartu-Buch denkt, 158 159 160 161
Rektoratsakte im Universitätsarchiv Göttingen Blatt 8. Rektoratsakte im Universitätsarchiv Göttingen Blatt 3-7. Personalakte (Rektoratsakte Falkenstein im Universitätsarchiv Göttingen) Blatt 2, Blatt 4, Blatt 11. Im „Meldebogen anlässlich seines Entnazifizierungsverfahrens“ (4. Januar 1949; Einstufung Kategorie V [entlastet]) gibt Falkenstein das Jahr 1940 als Eintrittsdatum an, ohne eine Mitgliedsnummer zu nennen (Universitätsarchiv Heidelberg, Personalakte Falkenstein). Lt. Berlin Document Center (Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde) Aufnahmeantrag vom 22.3. 1940, Aufnahme am 1. April 1940, Mitgliedsnummer 7615820. 162 S. dazu die entsprechenden Findbücher (insbesondere Nr. 8 und Nr. 15) betreffend die Kanzlei Rosenberg im Berlin Document Center (Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde). Im Lesefilm Wi B 29 Bild Nr. 1025 (betr. Amt Rosenberg) (Personalbogen) findet sich noch kein Hinweis auf eine Parteizugehörigkeit; letzter Eintrag betr. berufl. Tätigkeit aus dem Jahre 1937. 163 Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 92, 1938, S. *23.
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das zwei Jahre zuvor erschienen war, so lassen sich Falkensteins Einlassungen leicht als Entgegnung zu Ungnads ungezügelten rassenideologischen Thesen verstehen, die einen Umgang mit dem Material zeigen, die Falkenstein in seiner wohlbekannten, sehr positivistischen wissenschaftlichen Grundhaltung zutiefst irritiert haben müssen. Die Deutsche Orient-Gesellschaft unter dem Nationalsozialismus Ein tragisches Beispiel von Verstrickung bietet das Verhalten der Deutschen OrientGesellschaft (DOG) und ihres Vorstandes im Jahr 1938 gegenüber den verbliebenen jüdischen Mitgliedern der Gesellschaft. Wie alle Vereine oder wissenschaftlichen Gesellschaften war auch die DOG gezwungen worden, ihre jüdischen Mitglieder auszuschließen.164 Der Zwang für die DOG bestand darin, dass ihr wie allen anderen wissenschaftlichen Gesellschaften die staatlichen Zuschüsse, die sie bereits seit der Zeit vor 1933 regelmäßig erhielten, gestrichen würden, falls sich die Gesellschaft nicht fügte. Konfrontiert mit der Aufforderung (21. März 1938), dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung die Liste der Mitglieder vorzulegen, hat Walter Andrae als Schriftführer der DOG versucht, dem Ministerium gegenüber hinhaltend zu taktieren. Letztendlich hat der Vorstand der DOG dem Druck nicht länger widerstanden und in einem Brief vom 25. Mai 1938 an alle Mitglieder den noch verbliebenen jüdischen Mitgliedern den Austritt nahe gelegt. Die Begründung war, dadurch Schaden von der Gesellschaft abzuwenden, denn die DOG war dringend auf die staatlichen Zuschüsse angewiesen, um ihrer Verpflichtung nachzukommen, die Ergebnisse der von ihr vor dem 1. Weltkrieg durchgeführten Grabungen zu publizieren. Die staatlichen Zuschüsse waren umso mehr erforderlich, als bereits in den ersten Jahren nach 1933 zahlreiche jüdische Mitglieder und auch andere aus Solidarität mit ihnen, die DOG verlassen hatten. Das hatte einen drastischen Rückgang an Einnahmen aus den Mitgliedsbeiträgen und Spenden zur Folge. Alles hinhaltende Taktieren nützte nichts. Mit Brief vom 12. Januar 1940 wurde der DOG mitgeteilt, dass die staatlichen Gelder gesperrt blieben, bis sichergestellt sei, dass der DOG keine inländischen jüdischen Mitglieder mehr angehörten.165 Walter Andrae hat sich 1961 in seinen Lebenserinnerungen dazu wie folgt geäußert: „Es ist ein trauriges Kapitel der sechzigjährigen Geschichte der Gesellschaft, das ich hiermit berühre. Wir standen damals vor der Entscheidung, dem Befehl der Nazidiktatur Folge zu leisten, alle jüdischen Mitglieder zu streichen oder uns aufzulösen. Wir wählten – leider – nicht das Letztere, weil die Last der Verantwortung für unsere wissenschaftlichen Publikationsarbeiten auf unseren Schultern lag. Diese Entscheidung hat es nach dem Kriege beinahe unmöglich gemacht, die Gesellschaft wieder zu beleben. Unser treuer Schriftführer [bis 1936, J.R.], Bruno Güterbock, brauchte die nazistische Schändung der Juden nicht mitzuerleben. Er starb hochbetagt [1940, J.R.] in edler Fassung.“166 Der Vorstand der DOG wagte es damals nicht, Bruno Güterbock in den Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft einen Nachruf zu widmen. Wenn Walter Andrae, der Ausgräber von Assur, 1938 in seinem auch für ein breiteres Publikum bestimmten Buch „Das wiedererstandene Assur“ im Zusammenhang mit der 164 S. dazu ausführlich G. Wilhelm, Einführung, in: G. Wilhelm (Hrgb.), Zwischen Tigris und Nil. 100 Jahre Ausgrabungen der Deutschen Orient-Gesellschaft in Vorderasien und Ägypten, Mainz 1998, 10f. 165 Eine ähnliche Situation hat die Deutsche Morgenländische Gesellschaft betroffen, s. dazu L. Hanisch, op. cit. (Anm. 29), 125f. 166 W. Andrae, Lebenserinnerungen eines Ausgräbers, Berlin 1961, 306f. Bruno Güterbock war der Vater des zur Emigration gezwungenen Hans-Gustav Güterbock.
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Stadtgestaltung Assurs im 3. und 2. Jt. v. Chr. von einem „überragenden Führerwillen“ spricht, der vorhanden gewesen sein muss, der der „Gemeinschaft andere Wege aufzuzwingen imstande ist,“ als Anlagen, wie Tore oder Durchlässe lediglich da zu errichten,“wo die Gewohnheit sie hinzwang,“167 so fällt es schwer, dies korrekt zu bewerten. Ist das eine Konzession des stark anthroposophisch geprägten Walter Andrae an den Zeitgeist oder ist es Überzeugung? Denn ansonsten ist Andrae nicht als Anhänger des Regimes bekannt. Altorientalistik und Ahnenerbe, die Hohe Schule Rosenbergs und Altorientalisten im Kriegseinsatz Es gab anscheinend Versuche, Altorientalisten für die Arbeit im „Ahnenerbe“ zu gewinnen.168 Ziel der Stiftung „Ahnenerbe“ der SS war es, über die germanischen Quellen hinauszugehen und den Urzusammenhang aller Völker nordischen Blutes zu ergründen. Viktor Christian hat in der Tat nachdrücklich versucht, sich selbst und das Fach in die Arbeit der Stiftung „Ahnenerbe“ einzubringen. Zu einem wirklichen und nachhaltigen Erfolg hat das aber nicht geführt. Unter den zahlreichen Lehr- und Forschungsstellen der Stiftung „Ahnenerbe“169 gab es auch eine Lehr- und Forschungsstätte für den Vorderen Orient unter der Leitung von Viktor Christian. Ihr war eine Abteilung für nordafrikanische Kulturwissenschaft zugeordnet. Leiter dieser Forschungsstätte war der Semitist und Berberologe Otto Rößler, ein Schüler Christians, der sich seit seinem 17. Lebensjahr aktiv in der nationalsozialistischen Bewegung Oesterreichs betätigt hatte und sich 1933 deshalb nach Deutschland hatte absetzen müssen. Seit 1954 war er außerplanmäßiger Professor in Göttingen, seit 1964 Ordinarius für Semitistik in Marburg, 1975 mit 68 Jahren daselbst als höchst profilierter und weithin anerkannter Semitist emeritiert. Bedeutsam erscheint, dass die bis 1938 vom Orientalischen Seminar der Universität herausgegebene renommierte „Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes“ auf Christians Initiative hin fortan im Verlag der Stiftung „Ahnenerbe“ erschienen ist. Christian hatte als maßgebliche Person im Orientalischen Seminar der Universität Wien die Herausgeberschaft ab 1938 übernommen. Eine Durchsicht der in dieser Zeit erschienenen Bände spricht allerdings nicht für eine erfolgreiche inhaltliche Gleichschaltung. Auf Christians Rat hin bemühte sich das „Ahnenerbe“ um einen maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung des „Reallexikons der Assyriologie,“ dessen Herausgeber zu dieser Zeit Bruno Meissner war.170 Ob diese Bemühungen Erfolg hatten, lässt sich allein deswegen nicht bestätigen, da nach dem Erscheinen des 2. Bandes 1938 zunächst, d.h. bis 1945, keine weiteren Faszikel dieses Lexikons erschienen sind. Die Bedeutung bzw. der Stellenwert des alten Orients im Rahmen der „Ahnenerbe“Forschung blieb aber marginal. Die Gründe dafür, dass dem Alten Orient und dem Vorderen Orient im Verlauf der Zeit weniger Bedeutung zugemessen wurde, liegen zum einen darin, dass seit Kriegsbeginn und dann seit den gescheiterten Operationen in Nordafrika (El Alamein 1942) sowie im Irak (s. dazu unten) das Interesse an dieser Region erlahmte. Zum anderen spielte sicher eine Rolle, dass Gegenstand der Altorientalistik semitische Völker und deren Sprachen waren und sie daher nur begrenzt zur Indogermanen- und Arierfrage beizutragen in der Lage war. In Frage kamen dafür – außer Iranistik und Indologie, die nicht Gegenstand dieses Berichtes sind – höchstens die Hethitologie. Deren Vertreter sind 167 W. Andrae, Wiedererstandenes Assur, Leipzig 1938, 87. 168 Generell L. Hanisch, Der Orient im 'Ahnenerbe' und in der Hohen Schule Rosenbergs, in: op. cit. (Anm. 29), 150-152. 169 Siehe für Einzelheiten L. Hanisch, op. cit. (Anm. 29), 150-152. 170 S. G. Simon, loc. cit. (Anm. 86), 9.
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aber anscheinend nicht beteiligt worden, wie das Beispiel des Leipziger Hethitologen Johannes Friedrich zeigt. Andere, wie etwa Heinrich Otten (Promotion 1940) standen, weil zum Kriegsdienst verpflichtet, nicht zur Verfügung. Lediglich Emil Forrer, Schweizer Staatsbürger, dem das Fach Hethitologie in den frühen 20er Jahren wesentliche Beiträge verdankt – Privatdozent 1925 in Berlin, nach Auslandsaufenthalten und Lehrtätigkeit in den USA, seit 1940 Dozent an der Berliner Universität – arbeitete in den Jahren 1940/1941 für die militärgeogaphische Abteilung beim Oberkommando der Wehrmacht. Seine Aufgaben betrafen die kartographische Vorbereitung für den Einsatz von Panzerarmeen im Nahen Osten.171 Seit 1943 war Forrer an der Forschungsstelle der Rosenbergschen „Hohen Schule“ (Leitung Prof. Reinert) in Berlin mit Arbeiten zur Chronologie beschäftigt.172 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang, dass Forrer weiterhin auf seiner Schweizer Staatsbürgerschaft beharrte. Nach dem Kriegsende, das er in Berlin erlebte, ging er in die Schweiz und anschließend nach San Salvador. Schließlich hat wohl auch die Rivalität zwischen „Ahnenerbe“ und dem Amt Rosenberg mit seiner „Hohen Schule“ dazu beigetragen, dass in beiden Institutionen keine nennenswerten Aktivitäten von Altorientalisten zu verzeichnen sind. – Über eine Beteiligung von Vertretern der Altorientalistik im Sinne der „Aktion Ritterbusch“ zu einer gesellschaftlichen Mobilisierung der Altorientalistik für einen „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“ ist nichts bekannt.173 Die Führung des Dritten Reiches bereitete sich im Frühjahr 1941 auf Aktionen im Nahen Osten vor. Das geschah zunächst planerisch seitens des Auswärtigen Amtes. Aber auch die Wehrmacht versammelte in ihren Stäben Experten, die sich in der Region auskannten und über Sprachkompetenz verfügten, so wie das im Übrigen auch auf Seiten der Alliierten geschah. Es waren dann immer nur einzelne Personen, an die man wegen ihrer Sprach- und Landeskenntnisse herantrat: Walther Hinz wurde im März 1940 zur OKW-Abwehr abkommandiert und zuletzt (Mai 1942 - April 1945) in Istanbul im Rang eines Oberleutnants eingesetzt.174 Emil Forrer war für das OKW tätig (s. oben). Adam Falkenstein, Oluf Krückmann und Wolfram von Soden wurden für Sonderaufgaben in der Wehrmacht dienstverpflichtet. C.G. Freiherr von Brandenstein als Indogermanist nach dem Iran entsandt. Krückmann und von Soden wurden wegen ihrer arabischen Sprachkenntnisse für Dolmetscherdienste herangezogen. Krückmann war zunächst für das Übersetzen arabischer Rundfunkprogramme verantwortlich. Wolfram von Soden war im deutschen Afrikakorps eingesetzt und arbeitete dort als Leiter einer Dolmetschereinheit und war mit dem Verfassen eines wehrkundlichen deutsch-arabischen Wörterbuchs betraut. Bei dem deutschen Versuch im Mai 1941 nach dem Beispiel von Lawrence von Arabien, den Orient gegen die Engländer in Aufruhr zu versetzen,175 bei dem eine kleine deutsche Gesandtschaft, bestehend aus Angehörigen der deutschen Wehrmacht und des Auswärtigen Amtes von Syrien aus bis Bagdad gelangte, waren die Professoren Adam Falkenstein176 und Oluf Krück171 Diese Angaben beruhen auf R. Oberheid, Emil Orgetorix Gustav Forrer (19. Februar 1894 - 10. Januar 1986). Eine biographische Skizze nach Zeugnissen aus seinem Nachlass und anderen bisher unveröffentlichten Dokumenten, in: Altorientalische Forschungen 30, 2003, 269-280, bes. 277. S. auch Personalakte Humboldt-Universität Berlin, Bd. 95, Blatt 129, wonach er diese Tätigkeit der Universität brieflich anzeigt. 172 S. L. Hanisch, op. cit. (Anm. 29), 185. S. auch die Personalakte Humboldt-Universität Berlin Bd. 95, Blatt 129, Brief Forrers an die Universität (18. April 1943). 173 Für Versuche andere orientalistische Disziplinen bzw. ihre Vertreter zu gewinnen siehe L. Hanisch, op. cit. (Anm. 29), 167-173. 174 Personalakte Hinz (Universitätsarchiv Göttingen) Ordner I (1937-52), Blatt 1c. 175 Dieses Unternehmen wird ausführlich geschildert von W. Kohlhaas, Hitler-Abenteuer im Irak. Ein Erlebnisbericht, Freiburg 1989. 176 Mit dem 21. Mai 40 zum Heeresdienst einberufen, ab Juni 1940 Ausbildungslehrgang bei der Fliegerkommandantur Perleberg bei Wittenberge (Akten des Akadem. Senats in München (in der Rektoratsakte im Universitätsarchiv Göttingen, ohne Blattnumerierung), anschließend Dienst als Flaksoldat an der
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man177 als Dolmetscher beteiligt. Falkenstein war für eine solche Aufgabe, die exzellente Landes- und Sprachkenntnisse erorderte, bestens geeignet: „Nicht jedem Philologen ist es übrigens gegeben … sich in der Wüste zu Pferde oder zu Fuß so sicher zurechtzufinden“ wie Falkenstein, schreibt lange vorher der Dekan der Philosophischen Fakultät München (30. November 1938).178 Nach dem missglückten Irak-Abenteuer war Falkenstein – offiziell der deutschen Botschaft in Ankara zugeordnet – im südtürkischen Adana als Mitglied der deutschen militärischen Abwehr stationiert. Er wurde 1945 nach Deutschland zurückgeführt und von der englischen Besatzungsmacht interniert.179 Abschließende Bemerkungen Es war nicht einfach, aus dem Abstand von 50 bis 70 Jahren einen Bericht über die Situation des Faches Altorientalistik zu schreiben, weil eine ganze Reihe der erwähnten Personen – Betroffene und Belastete – dem Verfasser über die vergangenen mehr als vierzig Jahre als Lehrer, Kollegen und wissenschaftliche Vorbilder begegnet sind. Persönliches Gespräch, Austausch, Zuwendung und Rat haben das Verhältnis geprägt. Die bedeutenden und bleibenden wissenschaftlichen Leistungen einiger derer, die sich dem NS-Regime und seiner Ideologie nicht verschlossen haben, sind ihm mehr als bewusst. Der Bericht über die Situation der Altorientalistik während der Jahre 1933 bis 1945 hat ein vielschichtiges Bild ergeben, sowohl das Fach insgesamt, als auch einzelne Personen betreffend. Es galt in diesem Zusammenhang auf Schicksale hinzuweisen, diese nachzuzeichnen. Das betrifft Verfolgte und Belastete gleichermaßen. Und es galt bei letzteren, soweit erkennbar, möglich und vorhanden, das Widersprüchliche im zeitbedingten Verhalten zu beleuchten. So hat die Nähe Einzelner zum Regime und seiner Ideologie nicht immer zu hundertprozentigem Wohlverhalten geführt. Wenige Gelehrte haben sich – wie das Beispiel Paul Koschaker zeigt – in einer Position gesehen, ihre Unabhängigkeit gegenüber dem Regime zu behaupten. Anderen ist es gelungen, in systemwidrigen Freiräumen, wie sie sich in allen totalitären Regimen beobachten lassen, die Zeit zwischen 1933 und 1945 unkompromittiert durchzustehen. Die Altorientalistik als Fach war durch die Ereignisse des Jahres 1933 und deren Folgen schwer geschädigt worden. Da es keine Fachgesellschaft gab, die ihre Interessen hätte artikulieren können, stellte das Fach auch keine der offiziellen Wissenschaftspolitik, etwa dem Reichserziehungsministerium gegenüber wahrnehmbare und relevante Größe dar. Wie in den Akten nachweisbare Berufungsvorgänge zeigen, haben sich die jeweiligen Philosophischen Fakultäten durchaus autonom in ihren Entscheidungen verhalten. Gleichwohl hat das Reichserziehungsministerium in strittigen Fällen sich die letzte Entscheidung vorbehalten. Soweit sich sehen lässt, hat es auch keine, etwa von der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft initiierten Bemühungen gegeben, die dem Fach Altorientalistik hätten dienen können.180 Das lag auch daran, dass die wenigen Professoren des Faches im Grunde ihres Herzens in erster Linie an traditioneller philologischer Forschung und Lehre interessiert waren. Insofern war die Altorientalistik vom Gegenstand und ihren Forschungsinteressen her kaum in der Lage, systemtragend oder gar stabilisierend zu wirken oder in Erscheinung zu treten. Selbst die Aktivitäten von Viktor Christian im Kontext der Stiftung „Ahnenerbe“
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französischen Atlantikküste. Von da für den Einsatz im Irak abkommandiert (s. Kohlhaas, op. cit., 26; s. außerdem ebda. 32, 67, 80-82, 88f, 93, 105, 114.. Für Krückmann s. Kohlhaas, op. cit., 62, 73; für Krückmann allgemein s. den Nachruf von K. Hecker, in: Archiv für Orientforschung 32 (1985), 185f. Personalakte im Archiv der Humboldt-Universität Berlin UK F 6 Blatt 43. Persönliche Kommunikation Falkenstein. S. oben Anm. 159.
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haben keine sichtbaren Unterstützungen für das Fach Altorientalistik gezeitigt, etwa im Hinblick auf die Berufungspolitik in Preußen bzw. im Deutschen Reich allgemein. Im Zusammenhang mit der Besetzung der durch von Sodens Weggang nach Berlin vakanten altorientalistischen Professur in Göttingen hat sich der Göttinger Ägyptologe Hermann Kees am 31. Januar 1940 zur Besetzung der orientalistischen Lehrstühle in Göttingen geäußert. Er schildert den von ihm mit Zustimmung des Reichsministers ins Leben gerufenen „Göttinger Plan“ zum Ausbau der orientalistischen Fächer und der damit verbundenen Professuren.181 Kriegsbedingt hat das allerdings keine konkreten Folgen gehabt, außer der erfolgten Berufung Falkensteins. Insgesamt gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Altorientalistik insgesamt inhaltlich von nationalsozialistisch geprägten Ideen und Forschungsansätzen verbogen worden ist, wie die Durchsicht der Fachzeitschriften und der während der Jahre von 1933 bis 1945 erschienenen Monographien deutlich zeigt. Auch dem Regime nahestehende oder verpflichtete Fachgenossen haben sich in ihren Veröffentlichungen – abgesehen von vereinzelten Ausnahmen – den international gültigen Standards inhaltlicher und methodischer Art verpflichtet gefühlt. Zwei Gründe erscheinen mir dafür verantwortlich zu sein. Zum einen war und ist die Altorientalistik ein in hohem Maße international geprägtes Fach. Sich in diesem Umfeld zu beweisen, verlangte die Anerkenntnis der international geltenden wissenschaftlichen Standards. Zum anderen befand sich die altorientalische Philologie in den zwanziger und dreißiger Jahren in einem Stadium, in dem grammatische und lexikalische Grundlagenforschung sowie das Erarbeiten verlässlicher Texteditionen und eine aus den Quellen zu erarbeitende Darstellung der Ereignisgeschichte die Forschung im Fach dominierten. Fragestellungen, die theoretischer Erörterung bedurften und damit anfällig für ideologische Einflüsse waren, standen nicht im Zentrum des Interesses.182 Insofern bestand auch nicht die Gefahr einer Kollision mit der nationalsozialistischen Ideologie. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Untersuchungen haben erst nach 1945 auch international allmählich an Bedeutung gewonnen. Einzig das Keilschriftrecht hat in Deutschland eine systematische Erforschung erfahren, die sich in methodischer und rechtstheoretischer Hinsicht mit der allgemeinen Rechtsgeschichte messen konnte. Paul Koschakers überragende Persönlichkeit als Gelehrter hat aber verhindert, dass es auf diesem Gebiet zu nationalsozialistisch bedingten Einbrüchen gekommen ist. Noch viel weniger als für die Zeit von 1933 bis 1945 lässt sich eine über das Jahr 1945 hinausgehende Beeinträchtigung des Faches Altorientalistik durch nationalsozialistisch geprägte Forschungsansätze und Meinungen feststellen.183 Was allerdings die Situation in den ersten Jahren nach dem Krieg kennzeichnet, ist der Verlust an enormen intellektuellen Ressourcen durch Vertreibung und Emigration seit 1933, durch den Tod junger Wissenschaftler im Krieg und durch Internierung und Gefangenschaft Einzelner. Schließlich haben die Kriegsjahre die kontinuierliche Ausbildung wissenschaftlichen Nachwuchses verhindert, eine Situation, die sich auch in den ersten Jahren nach Ende des Krieges fortgesetzt hat. Erst seit Anfang der fünfziger Jahre kann man von einem allmählichen Wiederbeginn akademischer Ausbildung sprechen.
181 Personalakte Falkenstein (Rektoratsakte Universitätsarchiv Göttingen), Blatt 2. 182 Eine für das Fach grundlegende Ausnahme stellt Benno Landsbergers Schrift über die Eigenbegrifflichkeit der babylonischen Welt von 1926 dar (s. oben Anm. 15). Eine inhaltliche, methodologische und theoretische Auseinandersetzung damit hat erst in den fünfziger Jahren eingesetzt. 183 Abgesehen von dem einen oder anderen eher exzeptionellen Fall, der aber eher am Rande des Faches steht.
ARABISTIK, SEMITISTIK UND ISLAMWISSENSCHAFT LUDMILA HANISCH I Konturen der Disziplin Die menschliche Sprache gehörte in den Augen Wilhelm von Humboldts zu den wichtigsten Merkmalen des Menschen, weshalb die allgemeine Sprachwissenschaft oder die Suche nach der Ursprache der Menschheit in den Kanon der modernen Universität aufgenommen und zum Gegenstand des fortwährenden Forschens und Lehrens in der philosophischen Fakultät gemacht wurde. Galten die Sprachkenntnisse in den vormodernen Universitäten noch als eine Kunst, so erlangten sie jetzt den Status einer Wissenschaft. Während des 18. Jahrhunderts, als Sprachstudien innerhalb der Universität noch als Propädeutika angesehen wurden, hatten Sprachlehrer bisweilen den Lehrauftrag für griechische und orientalische Sprachen zur gleichen Zeit inne. Die von Winckelmann ausgelöste Griechenlandbegeisterung zog einen Bedeutungszuwachs der klassischen Sprachen nach sich und eine Trennung der Lehre von klassischen und orientalischen Sprachen.1 Dem Neuhumanisten Friedrich August Wolf galten die orientalischen Völker im Unterschied zu den Griechen und Römern nicht als gelehrte Nationen. Sowohl Johann Gottfried Herder als auch Friedrich Rückert nahmen einen prinzipiellen Unterschied zwischen den klassischen und den orientalischen Völkern auf der Ebene der Poesie wahr und trugen auf diesem Weg zur weiteren Differenzierung bei. Die Ausformulierung der Philologie als Disziplin verdanken wir dem klassischen Philologen August Boeckh, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch den Gegenstand der orientalischen Philologien beeinflusste. Für ihn bildete die ‚ratio‘ im Unterschied zur ‚experientia‘ oder den ‚memoriae vires‘ die entscheidende Leistung philologischer Arbeit. Damit etablierte er Sprache als eine Art dritte Sache neben dem Gegensatz zwischen Natur und Geschichte. Die Abgrenzung zur Philosophie bestand für ihn nicht in dem Unterschied zwischen produktiver Spekulation (Philosophie) und reproduktiver historisch-philosophischer Empirie (Philologie), sondern eine angemessene philologische Interpretation ermöglichte in seinen Augen eine weitgehende Übereinstimmung mit der göttlichen Wahrheit. Die Arbeit des Philologen sollte bis dato nicht Erkanntes aufdecken. Damit ging Boeckh über den Anspruch seines Leipziger Kollegen Gottfried Hermann hinaus, der in der Sprache eines Volkes die eindeutigste Charakterisierung seines Wesen sah und für den die Philologie die Aufgabe hatte, den Sprachbau zu rekonstruieren. Die Vertreter der Sprachen des Orients übernahmen während des 19. Jahrhunderts beide Vorstellungen von philologischer Arbeit. Unter den orientalischen Sprachen erlangten die indischen oder indogermanischen Philologien zunächst die größere Bedeutung für die Erforschung der Sprachgeschichte und die Suche nach der Ursprache der Menschheit. Ihnen billigte man im Vergleich zu der semitischen Sprachfamilie, deren Konturen Ende des 18. Jahrhunderts in den Wissenskanon eingingen, den größeren Formenreichtum und die größere Flexibilität zu. Die ‚Sprache und Weisheit der Inder‘, wie eine Schrift von Friedrich Schlegel aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts hieß, versprach potentiell die Rekonstruktion einer Sprachgeschichte, die sich unabhängig von der göttlichen Offenbarung entwickelte. 1
Richard Walzer, Klassische Altertumswissenschaft und Orientalistik, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (ZDMG), Bd. 86/1932.
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Insbesondere im Gefolge der Aufklärung erwies sich für die Semitica ihre seit Jahrhunderten bestehende Bedeutung für das theologische Erkenntnisinteresse als erkenntnistheoretische Hypothek. Man betrachtete sie als notwendig für ein besseres Bibelverständnis, nicht aber für eine säkularisierte Welterkenntnis. Ungeachtet dieser unterschiedlichen Wurzeln wurden die orientalischen Sprachen in ihrer Gesamtheit in die philosophischen Fakultäten der modernen Universitäten aufgenommen. Im Unterschied zu den klassischen Philologien entstanden zunächst keine Seminare für diese, weil eine Systematisierung der Lehre im Interesse des Schulunterrichts für sie nicht erforderlich war. Parallel dazu pflegten die theologischen Fakultäten, darin insbesondere die Alttestamentler, weiterhin die semitischen Sprachen. Es war im 19. Jahrhundert keine Seltenheit, dass ein Kenner des Hebräischen und des Arabischen von der theologischen in die philosophische Fakultät wechselte und vereinzelt kam noch der Wechsel in umgekehrter Richtung vor. Bis etwa 1870 lauteten die Lehraufträge unspezifisch ,Lehrauftrag für orientalische Sprachen‘. Ein Lehrstuhlinhaber hatte die Aufgabe, sowohl Sanskrit und Persisch als auch Hebräisch, Arabisch, Syrisch oder andere Sprachen des Alten Orients zu unterrichten. Aus der Entdeckung weiterer Idiome resultierte in der Folge eine Teilung des Lehrauftrags entlang der Grenzen der Sprachfamilien. Die Lehrstuhlbezeichnungen hießen jetzt in der Regel ‚Lehrstuhl für allgemeine Sprachwissenschaft und indogermanische Sprachen‘ oder ‚Indologie und allgemeine Sprachwissenschaft‘. Die Lehrstühle für semitische Philologie wurden bisweilen mit einem Lehrauftrag für Religionsgeschichte kombiniert. Lediglich an der Universität Tübingen bildeten Indologie und Religionsgeschichte eine Einheit. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich die Teilung der orientalischen Sprachen bereits an jeder deutschen Universität durchgesetzt. Es gab, abhängig von deren Größe, sowohl Lehrstühle für Indologie und Indogermanistik als auch Lehrstühle für Semitistik oder semitische Sprachen. Letztere erlangten Ende des 19. Jahrhunderts dank der kolonialen Ambitionen des Deutschen Kaiserreichs einen neuen Stellenwert und wurden im Zuge des Ausbaus der Universitäten ebenso berücksichtigt wie die zuvor höher angesehenen indogermanischen Idiome. Eine Übersicht aus dem Jahr 1904 zeigt, dass nunmehr bei den Lehrstühlen für beide Sprachfamilien an der Alma Mater ein Gleichgewicht herrschte. Von den 91 Lehrkräften für Semitica lehrten nach dieser Aufstellung 34 Personen an den theologischen Fakultäten.2 Ihnen ist es zu verdanken, dass für den Ausbau genügend Lehrkräfte für die semitischen Sprachen vorhanden waren. Da nach dem Humboldtschen Universitätsideal der akademische Unterricht der Bildung dienen sollte, war er für das Erlernen praktischer Sprachfertigkeiten nicht konzipiert. Für Personen, die orientalische Sprachen nicht nur ‚kennen‘ sollten, sondern ‚können‘ mussten, bildeten das Berliner Seminar für Orientalische Sprachen und das Hamburger Seminar für Kultur und Geschichte des Orients die inländischen Anlaufstellen. Sie wurden 1887 in Anlehnung an beziehungsweise 1908 außerhalb der Universität mit dem Auftrag gegründet, Personen für den Dienst in Übersee auszubilden. Die Jahre zwischen 1885 und 1914 können als bedeutendste Expansionsphase für die orientalischen Sprachen in Deutschland angesehen werden. Dank der überseeischen Ambitionen des Deutschen Kaiserreichs, für die sie die wissenschaftliche Fundierung bilden sollte, hatte die Beschäftigung mit dem Orient nach der Jahrhundertwende unter keiner Legitimationskrise zu leiden. Während die klassischen Philologien, die sich mit ihren Arbeitsmethoden dem Ideal der angesehenen naturwissenschaftlichen Forschung annähern wollten, sich vorwerfen lassen mussten, an moralischer Orientierung und identitätsstiften2
Eduard Sachau, Orientalische Philologie (mit Ausschluss der indischen), in: Willibald Lexis, Die Universitäten im deutschen Reich, Berlin 1904.
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der Funktion eingebüßt zu haben, blieben die Orientalia von diesem Anwurf verschont. Von ihnen wurde spezialisiertes Grundlagenwissen über Sprachen, Geschichte und Kulturen der Territorien in Übersee erwartet. Die Auffächerung der Semitica in Arabistik, Semitistik und Islamwissenschaft, wie auch in Assyriologie und vorderasiatische Archäologie, verdankt sich in erster Linie den intensiven Kontakten mit dem osmanischen Reich, das zu jener Zeit noch große Gebiete mit arabisch sprechender Bevölkerung umfasste. Archäologische Expeditionen und Bibliotheksbesuche in dem Territorium erweiterten die Sammlungen von Kunstschätzen und Handschriften vor allem in der Reichshauptstadt. Auch wenn der Begriff semitische Philologien oder Semitistik weiterhin in der Fachbezeichnung vorherrschte, nahm insbesondere die Arabistik, d. h. die Beschäftigung mit der arabischen Sprache und Literatur, den breitesten Raum in Forschung und Lehre ein. Die Islamwissenschaft oder Islamkunde, welche durch Einbeziehung des Türkischen und des Persischen die Grenzen der Sprachstämme überschritt und eine kulturhistorische Forschung zu ihrem Programm machte, entstand aus der Erkenntnis heraus, dass eine Orientalistik, die im ‚Prokrustesbett‘ rein philologischer Schulung verbleibt, den Erkenntnisbedarf einer Kolonialmacht nicht decken konnte. Die Beschäftigung mit der islamischen Religion und der Kultur vorderasiatischer Länder setzte sich zunächst in den europäischen Nachbarländern durch. Sie wurde vertreten durch Gelehrte wie Ignaz Goldziher in Ungarn oder Christiaan Snouck Hurgronje in den Niederlanden. Dank der Bemühungen einzelner Fachvertreter gelangte sie auch nach Deutschland. Die Disziplin strebte zunächst Kenntnisse über die Rolle des Islams als Religion und Kultur in den muslimischen Ländern an. Carl Heinrich Becker wollte über die in seinen Augen ‚subalternen Kenntnisse‘ hinaus, auch die Bedeutung der Religion in seiner eigenen Gesellschaft erforschen. Mit diesem Anspruch lässt sich das Verhältnis der Islamwissenschaft zur Semitistik oder Arabistik mit dem Verhältnis der Altertumswissenschaften zu den klassischen Philologien vergleichen. Zwei Zeitschriften, die bis heute noch bestehen, nämlich DER ISLAM, eine Gründung Carl Heinrich Beckers und das Organ der Gesellschaft für Islamkunde DIE WELT DES ISLAMS, eine Gründung Martin Hartmanns wurden eigens zur Verbreitung dieses Forschungszweigs ins Leben gerufen und spiegelten zumindest in ihren Anfangsjahren die Nuancen der Konzepte. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs endete für die Orientalistik in ihrer Gesamtheit eine Expansionsphase oder Blütezeit. Zunächst bedeutete der Kriegsausbruch für Spezialisten, die sich im Orient aufhielten, aus praktischen beziehungsweise politischen Gründen das Ende ihrer Arbeit. Die Inhaber der wenigen Posten für Fachgelehrte außerhalb Deutschlands, zu denen die Leitung des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes in Jerusalem gehörte (Gustaf Dalman), die Bibliothekarsstelle Arthur Schaades in Kairo und die Dozentur von Josef Horovitz in Aligarh/Indien, mussten fliehen oder wurden zeitweise interniert. Die Distanzierung gegenüber deutschen Gelehrten insgesamt, die im Kreis der europäischen Kollegen aufgrund des ‚Geistes von 1914‘ einsetzte, sparte auch die Orientalisten nicht aus. Die Proklamation des ‚Heiligen Kriegs‘ durch den osmanischen Bundesgenossen im Jahr 1915, die von Deutschland massiv gefördert wurde, traf auf heftige Kritik der meisten Islamwissenschaftler außerhalb Deutschlands. Der Vorwurf bestand in erster Linie darin, dass auf diese Weise ein Bündnis mit fortschrittsfeindlichen Mächten geschlossen werde. Da die koloniale Expansion mit dem Export des Fortschritts in die rückständigen Länder legitimiert wurde, bedeutete dies eine heftige Invektive. Auf der anderen Seite bildete die direkte Beteiligung an den Kriegshandlungen in der Türkei für viele jüngere Gelehrte eine bis dahin nicht gekannte Möglichkeit zu einem, wenn man es euphemistisch formuliert, Aufenthalt im Vorderen Orient. Gefördert wurden
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außerdem die Expedition Oskar von Niedermayers und Werner von Hentigs nach Afghanistan und die Missionen Edgar Pröbsters und Ernst Kühnels nach Nordafrika. Die von Deutschland initiierte Gründung einer Akademie in Istanbul, des ‚Dar al-fünün‘ stellte eine zusätzliche Möglichkeit für Dozenten dar, sich einige Jahre im Orient aufzuhalten. Die Lager mit afrikanischen und asiatischen Kriegsgefangenen aus den Heeren Frankreichs, Englands und Russlands benötigten sprachkundige Übersetzer und Briefzensoren. Einige Philologen, die in den Lagern arbeiteten, machten bei dieser Gelegenheit mit Hilfe von Phonographen Sprachaufnahmen von den verschiedenen Dialekten der Gefangenen und erweiterten damit die Möglichkeit zu dialektologischen Studien. II Neuorientierung in der Weimarer Republik Das Ende des Kriegs und die Verträge von Versailles beendeten nicht nur die Expansionsbestrebungen des Deutschen Reichs, sondern beeinträchtigten auch die Arbeit der Spezialisten für den Orient. Weite Territorien des ehemaligen osmanischen Reichs konnten fortan nur mit Erlaubnis der jeweiligen Kolonialmächte bereist werden. Die Gründung der Sowjetunion setzte staatlich organisierten Expeditionen und Forschungsreisen in ihrem Gebiet ein Ende. Die Teilnahme an internationalen Kongressen war deutschen Gelehrten zunächst versagt. Sie wurde erst mit dem Beitritt Deutschlands zum Völkerbund (1926) wieder möglich. Ökonomische Probleme, insbesondere die Inflation, die den Erwerb von ausländischen Büchern extrem verteuerten, trugen dazu bei, dass ausländische Forschungsergebnisse nur mit Einschränkungen rezipiert werden konnten. Wenn sich auch die Anfangsjahre der Weimarer Republik für Fächer mit häufigen Auslandskontakten besonders drastisch auswirkten, betrafen diese Rahmenbedingungen die Gesamtheit der deutschen Wissenschaft. Diese versuchte, sich angesichts der äußeren Zerstörungen als die Instanz zu profilieren, welche durch Bündelung der geistigen Kräfte den Neuaufbau sichern konnte. Die Gründung der ‚Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft e.V.‘ im Jahr 1920 bildete eine der staatlichen Reaktionen auf die Probleme. Sie konnte angesichts ihres großen Aufgabengebiets die Orientforschung nur unzureichend unterstützen. Die Nachwuchsförderung in der Sparte ‚Alte und Orientalische Philologie‘ ging 1923 nicht über neun Stipendien hinaus.3 Verantwortliche aus den Kultusministerien hatten zudem die Aufgabe, aus Straßburg vertriebene Gelehrte in den Universitäten des Reichs unterzubringen. Ehemalige Kämpfer von der Türkei-Front, die sich sprachlich spezialisiert hatten, sollten ebenfalls bevorzugt eine Tätigkeit vermittelt bekommen. Die Gründungsphase für orientalische Seminare, die im Vergleich mit anderen geisteswissenschaftlichen Fächern ohnehin spät eingesetzt hatte, nämlich erst ab 1901, kam zu einem Ende. Die letzte Gründung während der Kriegsjahre erfolgte in Halle, weil dort mit der Bibliothek der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG) ein wichtiger Bestandteil des Seminarbetriebs bereits vorhanden war. Von den Universitäten, die noch kein orientalisches Seminar hatten, erhielten lediglich Königsberg und Tübingen eine solche Einrichtung. Im Fall von Königsberg bildete die geografische Lage, die noch durch den polnischen Korridor akzentuiert wurde, den Hintergrund für besondere Anstrengungen des Ministeriums, das Angebot zu verstärken. Von den universitären Neugründungen wies nur Hamburg ein Angebot für den Vorderen Orient aus, da das 3
Ulrich Marsch, Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft – Gründung und frühe Geschichte 19201935, Frankfurt 1994.
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ehemalige Seminar für Geschichte und Kultur des Vorderen Orients in die Alma Mater einging. Die Universität Köln verzichtete weitgehend auf Orientalia, lediglich Isidor Scheftelowitz erhielt einen Lehrauftrag für Indologie. Der älteste Fachverband der Orientalisten, die seit 1845 bestehende DMG, bemühte sich ihrerseits, den veränderten Bedingungen Rechnung zu tragen. In ihren Augen galt die feindliche Haltung des Auslands als das größte Hindernis für die Forschung. Ein Gegenmittel sollte die Konzentration der am Orient interessierten Gesellschaften und Vereine sein, um zumindest gegenüber den Regierungsstellen eine einheitliche Position zu vertreten. Von der Zentralstelle des Verbandes waren als Sektionen vorgesehen: vergleichende Sprachwissenschaft, Zeitgeschichte des Orients, Archäologie und Kunstwissenschaft; Grabungen und landeskundliche Expeditionen, Ägyptologie, Keilschriftforschung, Semitistik, Indologie und Iranistik, Sinologie, Turkologie, Islamkunde.4 Diese vom Fachverband beschriebenen Aufgabengebiete sollten jeweils durch bereits existierende orientalistische Zeitschriften abgedeckt werden. In der Praxis setzte sich die Spezialisierung und Zuordnung zu den Publikationsorganen jedoch weiterhin ‚naturwüchsig‘ fort. Die ORIENTALISCHE BIBLIOGRAPHIE, die von 1888 bis 1911 über Neuerscheinungen aller orientalischer Fächer berichtet hatte, wurde eingestellt.5 Damit schlug sich die fortschreitende Differenzierung der Orientalistik auf dokumentarischer Ebene nieder. Der Auseinanderentwicklung unter dem Gesichtspunkt der Sprachfamilien wurde dadurch Rechnung getragen, dass ab 1924 parallel zu der ZEITSCHRIFT DER DEUTSCHEN MORGENLÄNDISCHEN GESELLSCHAFT sowohl die ZEITSCHRIFT FÜR INDOLOGIE UND IRANISTIK als auch die ZEITSCHRIFT FÜR SEMITISTIK erschien. Auf dem 1. Deutschen Orientalistenkongress in Leipzig, dessen Einrichtung den fehlenden Austausch auf internationalen Kongressen ausgleichen sollte, formulierten zwei programmatisch gefasste Vorträge die Zukunft orientalistischer Forschung auf dem Hintergrund der veränderten äußeren Bedingungen. Carl Brockelmann verkündete für die ‚morgenländischen Studien‘ die Rückkehr zur Beschäftigung ‚mit den feinsten Blüten der Kultur‘ und zur Konzentration auf Wissenschaft, einem ‚von allem materiellen Nutzen unabhängigen Triebes der Menschennatur‘. Damit folgte er dem Ideal einer politikfernen Bildung, das die klassischen Philologen ebenfalls für sich in Anspruch nahmen. Gleichzeitig distanzierte er sich von der Anforderung, ,völkerverbindende Dolmetscherei‘, zu betreiben. C. H. Becker wollte in seinem Beitrag ‚Der Islam im Rahmen einer allgemeinen Kulturgeschichte‘ die Beschäftigung mit dem Orient als Teilbereich einer kulturhistorischen Betrachtung und Erforschung eines Teils der Welt etablieren. Mit diesem Programm erneuerte er unter den veränderten äußeren Bedingungen Bestrebungen, die Beschäftigung mit dem Ausland als Bestandteil der Bildung zu verankern.6 Gemeinsam ist dem Entwurf Brockelmanns und Beckers eine Art ‚Reakademisierung‘ der Beschäftigung mit dem Vorderen Orient beziehungsweise ein Rückzug in die Studierstube. Vor allen Dingen während der ersten Jahre der Weimarer Republik stellte dies einen Weg dar, die Bedeutung des Fachs angesichts der praktischen Hindernisse für deutsche Aktivitäten im Orient weiterhin aufrechtzuerhalten. Die Sektion Zeitgeschichte des Orients trat in der Folge auf keinem der deutschen Orientalistentage in Erscheinung. Auf instituti4 5 6
Grundsätze und Richtlinien für das Statut eines Verbandes für morgenländische Forschung, Akten der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, DMG-Bibliothek/Halle, Jahrgang 1919. August Müller (Hrsg.), Orientalische Bibliographie, Bd. 1- 26, Berlin 1888 ff. In den Kriegsjahren war die Fortsetzung nicht möglich, da auch ausländische Publikationen verzeichnet wurden. Ein Wiederbelebungsversuch aus dem Jahr 1926 blieb ein Unikum. Carl Brockelmann, Die morgenländischen Studien in Deutschland, und C.H. Becker, Der Islam im Rahmen einer allgemeinen Kulturgeschichte, in: ZDMG, Bd. 76/1922.
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oneller Ebene fand die Betonung der reinen Wissenschaft ihre Parallele darin, dass das Hamburger Seminar in die Universität eingegliedert wurde und Bemühungen erfolgten, das Berliner Seminar für Orientalische Sprachen in den akademischen Unterricht zu integrieren. Das Auswärtige Amt hatte mittlerweile viele Konsulate im Orient geschlossen und zeigte wenig Interesse an einer Ausbildung für den Dienst in Übersee. Die Eingliederung des Seminars in die Universität scheiterte am Widerstand der Lehrkräfte der Einrichtung. Sie erhielten vom Parlament Unterstützung, weil die Abgeordneten den weltfernen Universitäten die Beschäftigung mit aktuellen Entwicklungen im Ausland nicht zutrauten. In der Folge wurde die Institution vom Preußischen Kultusministerium allerdings nur noch rudimentär gefördert und hielt den Unterricht mit Mühe aufrecht. Der große Optimismus hinsichtlich der Ausbreitung der orientalischen Studien, den noch um 1910 Mitglieder der Preußischen Akademie der Wissenschaften artikulierten, indem sie das Zeitalter ‚als Zeitalter der orientalischen Wissenschaft‘ charakterisierten,7 war in den Jahren der Inflation und der Weltwirtschaftskrise der Sorge um die Bestandsrettung dieser Studien gewichen. Es gab nach 1920 ein Überangebot an Spezialisten, für das keine entsprechenden Stellen vorhanden waren. Für den Bereich der Beschäftigung mit dem Vorderen Orient betraf dies vor allem Philologen, die sich auf das Türkische spezialisiert hatten. Die Turkologie blieb nur noch in Kiel ein Schwerpunkt. Auf den dortigen Lehrstuhl wurde Theodor Menzel berufen, der zuvor aus Odessa geflohen war. Den Lehrauftrag für Türkisch in Breslau hatte Friedrich Giese inne, der während des Kriegs Dozent am Dar alfünün in Istanbul war. Wegen der geringen Nachfrage sahen sich Turkologen mit überlangen Privatdozentenzeiten konfrontiert, wenn es ihnen überhaupt gelang, eine Anstellung zu finden. Türkische Lektoren, die während der Kriegsjahre vor übervollen Kursen standen, wurden entlassen und kehrten in ihre Heimat zurück.8 Freiwerdende Lehrstühle für Semitistik oder Arabistik blieben der Disziplin erhalten, aber sie wurden verschiedentlich vakant gelassen oder mit einem Lehrbeauftragten unterbesetzt. Bisweilen vertrat ein Lehrbeauftragter das Fach an zwei verschiedenen Universitäten, wie beispielsweise Werner Caskel, der eine Zeitlang sowohl in Greifswald als auch in Rostock lehrte. Umfangreiche Projekte unter Beteiligung mehrerer Wissenschaftler, die mit den großen Editionsvorhaben aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg vergleichbar gewesen wären, konnten nicht in die Wege geleitet werden. Eine Ausnahme bildete die Auswertung der Erträge der Turfan-Expedition im Rahmen der Preußischen Akademie der Wissenschaften ab 1927. Die Handschriften waren auf vier Expeditionen nach Ost-Turkestan zwischen 1902 und 1914 unter der Leitung von Albert Grünwedel und Albert von Le Coq zusammengetragen worden. Von nun an konnten sich der Turkologe und Leiter des ungarischen Instituts, Willy Bang Kaup und seine Mitarbeiter im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften systematischer mit den etwa 30 000 Texten befassen. Zu keiner Zeit waren die Bedingungen, unter denen jemand die Orientforschung zu seiner Lebensaufgabe machte, so schwierig wie zwischen den beiden Weltkriegen. Die Kluft zwischen dem sozialen Prestige einer akademischen Karriere und der materiellen Lage der Wissenschaftler war in jenen Jahren besonders groß. Letztlich konnte der Nachwuchs nur dann forschen und sich auf eine akademische Laufbahn vorbereiten, wenn er ein Vermögen besaß oder durch einen anderen Beruf sein Geld verdiente. Selbst für Professoren ge7 8
Eingabe von sieben Berliner Vertretern der orientalischen Wissenschaft vom 9.11.1910 betreffend einer dauernden Commission zur Herausgabe der orientalischen Schriftdenkmäler, Archiv der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Signatur II-I, 17, Bl. 140 –151. Dies galt auf jeden Fall für die Lektoren in Freiburg, Halle, Leipzig, Giessen.
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rieten Studienreisen zu einem Luxus. Doktoranden hatten häufig nicht die Mittel, um ihre Doktorarbeit drucken zu lassen und Studenten absolvierten ihr Studium bisweilen unter harten materiellen Bedingungen. Von dem Semitisten Hans A. Winkler wird berichtet, dass er während des Studiums zeitweise im Freien nächtigte. Konnten Fachgelehrte während des Kaiserreichs ihren Lebensunterhalt noch durch ein Staatsexamen in klassischen Sprachen absichern, erschwerte nun zusätzlich ein Referendariat den Zugang zum Schuldienst. Aufenthalte als Dragomanatseleve (Dolmetschergehilfe) an den Konsulaten des Orients waren ebenso selten geworden wie Positionen als Hauslehrer im Ausland. Ungeachtet des säkularisierten Fachverständnisses war der Anteil der Theologen, denen es gelang, ihre orientalistischen Interessen neben ihren beruflichen Aufgaben zu pflegen und später auf einen Lehrstuhl berufen zu werden, beträchtlich. Rudolf Strothmann und Hans Bauer sind Beispiele dafür. Offensichtlich wiesen sie sich durch ihre Arbeit an Texten für den akademischen Unterricht besser aus, als Kenner des realen Orients, denen leicht der Ruf des Dilettantismus anhing. Einige Studenten jüdischer Religionszugehörigkeit machten neben der Promotion in Semitistik ein Rabbinerexamen, mit dem sie ihren Lebensunterhalt sicherten. Auf diese Weise war es ihnen möglich, als Lehrbeauftragte nebenamtlich an der Universität zu wirken. Gab es vor dem Weltkrieg eine Reihe privater Initiativen, die Vereine für Kontakte mit dem Orient und für die Verbreitung von Kenntnissen gründeten, hatten sich deren Mäzene, teils aus Desinteresse, teils aus Mangel an Geld zurückgezogen. Solche Gruppierungen konnten jetzt nur noch weiterarbeiten, wenn sie durch staatliche Gelder unterstützt wurden.9 Das Preußische Kultusministerium beriet bereits 1918 über die Finanzierung von privaten Vereinen und Instituten, welche die Beschäftigung mit dem Vorderen Orient zu ihrem Vereinsziel gemacht hatten.10 Hintergrund dieser Beratung waren die Überlegungen zur Neuordnung der ‚weltpolitischen Bildung‘, für die der zeitweilige Preußische Kultusminister C.H. Becker vehement eintrat.11 Sein Einfluss sollte in der Folge für die Erhaltung orientspezifischer Einrichtungen angesichts der knappen staatlichen Mittel von nicht zu unterschätzender Bedeutung sein. Die Bibliothek der DMG in Halle konnte dank eines Vertrags mit dem Preußischen Kultusministerium dauerhaft in Halle untergebracht und durch einen Bibliothekar betreut werden. In Analogie zu dieser Vereinbarung übernahm der Sächsische Staat die Unterbringung der Bibliothek des Deutschen Vereins für die Erforschung Palästinas. Die Zweigstelle der DMG in Istanbul, die 1927 eingerichtet wurde und deren Aufgabe in erster Linie die Sichtung und Bearbeitung von Handschriftenschätzen in den dortigen Bibliotheken war, wurde ebenso vom Preußischen Staat gefördert, wie das dortige deutsche archäologische Institut. Während der Orientalist Hellmut Ritter die Arbeit in den Bibliotheken mehr oder weniger ungehindert durchführen konnte, musste letzteres jedoch seine Ausgrabungstätigkeit reduzieren, da für diese keine staatlichen Gelder vorhanden waren. Ein wertvolles Gegengewicht gegen die engen finanziellen Möglichkeiten bildeten Stiftungen jüdischer Bürger, die zugunsten der Orientforschung entstanden. Diese Stiftungen, nämlich der Frankfurter Stiftungslehrstuhl für semitische Philologie, die OppenheimStiftung und die Lidzbarski-Stiftung gehörten zu den wenigen privaten Förderungsmöglichkeiten für Semitica in den Jahren der Weltwirtschaftskrise. Für den Frankfurter Lehrstuhl für semitische Philologie, dem zusätzlich die Pflege talmudischer und targumischer 9 10 11
Eine Auflistung der Vereine, die sich mit dem Nahen Osten beschäftigten, enthält: Jürgen Kloosterhuis, „Friedliche Imperialisten“, Frankfurt 1994, Band 2, S.563-698. Sitzung vom 19.4.1918 im Kultusministerium. Geheimes Staatsarchiv Berlin-Dahlem (GSTA), Rep. 76, V c, Sekt. 1, Tit. 11, Teil I, Nr. 55. Guido Müller, Weltpolitische Bildung und akademische Reform – Carl Heinrich Beckers Wissenschafts- und Hochschulpolitik 1908 – 1930, Köln 1991.
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Studien als Aufgabe zugeteilt wurde, konnte die Geldentwertung der Inflationsjahre dank einer Aufstockung des Kapitals durch die Witwe des Stifters Jacob H. Schiff ausgeglichen und die Arbeit fortgesetzt werden. Der wohlhabende Diplomat und Archäologe Max Oppenheim hatte bereits vor dem Ersten Weltkrieg auf eigene Rechnung Ausgrabungen am Tell Halaf in Syrien durchgeführt, die er während des Kriegs unterbrechen musste. Auf Bitten seiner Fachkollegen setzte er nach dem Krieg seine Arbeiten fort und gründete 1922 in seiner Wohnung ein privates Orient-Institut für die Beherbergung und Auswertung seiner Sammlungen. 1929 wandelte er das private Institut in eine Stiftung um, in deren Vorstand er Fachkollegen berief. Der Semitist und Epigraphiker Mark Lidzbarski, der selbst unter schwierigen Bedingungen Professor geworden war, vermachte sein Vermögen einer von ihm gegründeten Stiftung zur Förderung des semitistischen Nachwuchses, beziehungsweise für die Auszeichnung besonderer Leistungen auf dem Fachgebiet.12 Die regionalen Schwerpunkte, die sich während des Kaiserreichs herausgebildet hatten, wurden im Großen und Ganzen beibehalten. Das waren in erster Linie die Nachfolgestaaten des 1921 aufgelösten Osmanischen Reichs, der Iran und Afghanistan. Von den afrikanischen Ländern konzentrierte sich das Interesse weiterhin auf Ägypten. Marokko, das vor dem Ersten Weltkrieg die Aufmerksamkeit einiger deutschen Philologen (Hans Stumme, August Fischer und Georg Kampffmeyer) auf sich gezogen hatte, geriet wegen seiner Zugehörigkeit zum französischen Kolonialreich ebenso aus deren Blickfeld wie die übrigen Maghrebländer. Die Initiative Kampffmeyers aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, eine deutsche Marokko-Bibliothek zu gründen, kam beispielsweise zum Erliegen. Philologische und linguistische Fragen blieben und wurden auf Grund der Verhältnisse erneut thematischer Schwerpunkt der universitären Arbeit. Die Beschäftigung mit arabischer Literatur einschließlich vorislamischer Dichtung nahm an vielen Lehrstühlen, insbesondere in Leipzig und in Frankfurt einen breiten Raum ein. Demgegenüber trat die türkische Philologie zurück. Die Loslösung der Islamistik (Islamwissenschaft) von der semitischen Philologie, die von Becker als ‚Verselbstständigung der Fächer nach der Realienseite hin‘ charakterisiert wurde, setzte sich im Universitätsbetrieb nominell nur langsam durch. Als Bezeichnung eines Lehrstuhls tauchte der Begriff erstmals 1926 an der Münchner Universität auf, da Gotthelf Bergsträsser sich diese zusätzliche Bezeichnung bei seiner Berufung erbeten hatte. Die Themen, mit denen sich das Fach beschäftigen sollte, umfassten: Geschichte des Islam, seine Abhängigkeit von den früheren Religionen und Kulturen, Recht und Philosophie, politische Geschichte und Literaturgeschichte, Geschichte der allgemeinen Wissenschaften und der Kunst. Eine Aufweichung der Trennungslinie zwischen Arabistik und Islamwissenschaft dokumentiert die Gründung der Zeitschrift ISLAMICA im Jahre 1924 durch A. Fischer in Leipzig. Sie stellte ihr Erscheinen jedoch 1934 wieder ein. Die Kunstgeschichte und die Geschichte der arabischen Naturwissenschaft wurden ausgiebiger gepflegt als religionswissenschaftliche Studien nach dem Vorbild Goldzihers, die nur einzelne Bearbeiter fanden. Eine kontinuierliche Beachtung genoss das islamische Recht, das für die Kollegen in den Nachbarländern von großer Bedeutung war, weder bei Becker noch bei seinen Fachkollegen. Es fehlte in Deutschland die ‚imperiale Verantwortung‘, die einer Beschäftigung mit dem fremden Rechtssystem Impulse verlieh.
12
Mark Lidzbarski veröffentlichte seine Lebenserinnerungen anonym: Auf rauhem Wege – Jugenderinnerungen eines deutschen Professors, Gießen 1927.
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III Beginn des ‚Dritten Reichs‘ Obwohl die Weimarer Republik nicht die Sympathien der Mehrheit der Gelehrten genossen hatte, lassen die wenigen vorliegenden Äußerungen bekannter Orientalisten den Schluss zu, dass der Beginn des ‚Dritten Reichs‘ keineswegs mit Enthusiasmus begrüßt wurde. Carl Brockelmann hatte als Rektor der Universität Breslau einen Kollegen aus der juristischen Fakultät gegen Pöbeleien nationalsozialistischer Studenten zu schützen. Er äußerte sich indigniert über diese Formen der Austragung von Gegensätzen: Sie waren für ihn nicht mit der Würde der Alma Mater zu vereinbaren. Der Spezialist für Assyriologie, Bruno Meissner fühlte sich veranlasst, seine ‚prische‘ Abkunft öffentlich kundzutun und sogleich amtlich beglaubigen zu lassen.13 Ein vorsichtiges Abwarten war unter den Lehrstuhlinhabern die vorherrschende Attitude. Positive Erwartungen, eilfertige Bereitschaft, sich an die geänderten Verhältnisse anzupassen oder gar Übereifer, den neuen Gesetzen zur Durchsetzung zu verhelfen, fanden sich eher bei Personen, die keine Lehrstuhlinhaber waren. So legten der Turkologe Franz Babinger und der Iranist Walther Hinz bereits im Mai 1933 eine Denkschrift ‚Die Morgenlandforschung im neuen Deutschland – Stand und künftige Ausgaben‘ dem Preußischen und Sächsischen Kultusministerium vor.14 Die Autoren wollten die Orientalistik so gestalten, dass sie ‚der Nation in weitestmöglichem Maße zu dienen vermöge‘. Die Ausführungen lesen sich als Entwurf einer Disziplin, die vermeintlichen Kritiken an der Weltabgewandtheit des Fach entgegentreten will. Die Verfasser stellen fest, das die ‚Morgenlandkunde noch vielfach als bloßes Anhängsel der Religionswissenschaft und der rabbinischen Studien betrachtet und als solche betrieben‘ würde und dass sie ‚weltfern und im EngPhilologischen verknöchert gewesen‘ sei. Sie schlugen vor, die geschichtswissenschaftliche Seite stärker zu betonen und das Studienangebot auf Berlin, Leipzig und München zu konzentrieren. Diese Darlegungen veranlassten verschiedene Lehrstuhlinhaber zu Gegendarstellungen. Insbesondere die Leipziger Fachvertreter August Fischer, Erich Bräunlich und Benno Landsberger konnten sich diesen Ausführungen nicht anschließen. Sie wiesen in einer Stellungnahme den Gegensatz von Philologie und Geschichte zurück und betonten, dass sowohl historische Studien als auch die Betrachtung der Gegenwart ohne philologische Kenntnisse nicht durchführbar seien. Zudem gäbe die Erzählungs-, Weisheits- und Spruchliteratur sowie die Poesie besser Auskunft über die ‚Eigenart‘ der orientalischen Völker als Geschichtswerke, die vorwiegend analytischen Charakter hätten. Ihre Stellungnahme charakterisiert die Arabistik als philologische Disziplin, während die Ausführungen von Babinger und Hinz einer islamwissenschaftlich ausgerichteten Forschung das Wort redeten. Die Differenzierung aus dem Beginn des Jahrhunderts, die dank der Kulturhoheit der Länder parataktisch nebeneinander bestehen konnte, wurde in diesen Stellungnahmen nochmals akzentuiert. Der Hinweis, die Morgenlandkunde sei als Anhängsel der rabbinischen Studien betrieben worden, entbehrt hingegen jeder realen Grundlage. Er erscheint jedoch in der nationalsozialistisch geprägten Atmosphäre eingängig und liest sich wie eine krude Anbiederung. Ebenso wie einzelne christliche Theologen zu den Fachleuten für semitische Philologien zählten, gehörten auch einzelne Rabbiner dazu. Seit dem 19. Jahrhun13 14
Bruno Meissner, Verleumdung, Zeuthen 1933 (Selbstverlag des Autors). Franz Babinger & Walther Hinz, Die Morgenlandforschung im neuen Deutschland – Stand und künftige Aufgaben, in: Akten betreffend das orientalische Institut 1900-1936, Nr. 10230/13, Bl. ff., Ministerium für Volksbildung, Sächsisches Staatsarchiv Dresden; August Fischer, Ernst Bräunlich, Benno Landsberger, Stellungnahme zu der Ausarbeitung des Professors Dr. Franz Babinger und Dr. Walther Hinz, betr. Die Morgenlandforschung im neuen Deutschland, GSTA, Rep.208 A, Nr.23, Bl. 151 ff.
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dert hatte es vergebliche Versuche gegeben, die Beschäftigung mit der jüdischen Religion in den Universitäten zu verankern. Letztlich waren die außeruniversitären Rabbinerseminare und die Gründung der Hochschule der Wissenschaft des Judentums im Jahre 1872 Resultate dieser fruchtlosen Bemühungen. Den weitgehendsten Lehrauftrag für jüdisches Schrifttum innerhalb der Alma Mater hatte der Stiftungslehrstuhl für semitische Philologie in Frankfurt. Tatsächlich galt das Hauptinteresse des Lehrstuhlinhabers Josef Horovitz der Koranforschung und anderen Islamica. Die dortigen Doktoranden beschäftigten sich mehrheitlich mit Themen aus dem Umfeld des Koran oder mit islamischer Dichtung. Auch außerhalb Leipzigs waren die Reaktionen der Fachgelehrten auf die Denkschrift von Babinger und Hinz einhellig ablehnend und das Kultusministerien folgte den Vorschlägen nicht. Selbst als 1934 das Reichserziehungsministerium geschaffen wurde und sich damit die Möglichkeit ergab, von zentraler Stelle aus den Universitäten Vorgaben für die Orientforschung zu machen, änderte diese Instanz wenig an den wissenschaftlichen Traditionen der verschiedenen Universitäten. Ein Plan, Paul Kahle nach Berlin zu berufen und ihn zum Leiter eines großen Orientinstituts zu machen, das auch die Sprachausbildung des Seminars für Orientalische Sprachen miteinbeziehen sollte, wurde nicht realisiert. Kahle hatte neben seinen organisatorischen Fähigkeiten durch eine detail- und kenntnisreiche Denkschrift über die Orientalistik in ihrer Gesamtheit 1935 die Aufmerksamkeit des Ministerialbeamten und Orientalisten Walther Hinz erregt. Seine Berufung scheiterte in letzter Minute wegen fehlender ‚weltanschaulicher Verlässlichkeit‘. Kahles Überlegungen spiegeln das bis dato tradierte Fachverständnis. Auf die divergierenden Positionen in den bisherigen Stellungnahmen ging er nicht ein, sondern er hob hervor, dass es für verschiedene Disziplinen, wie Sprachwissenschaft, Geschichte, Ethnologie, Philosophie und Religionswissenschaft notwendig sei, Kenntnisse über den Orient mit einzubeziehen. Ferner betonte er die Rolle des Hebräischen insbesondere für die nord-semitische Epigraphik. Im Hinblick auf die Konzentration des Studienangebots an ausgewählten Universitäten warnte er vor der Gefahr einer zu geringen Auswahl von Kandidaten bei Neubesetzungen. Ungeachtet allen Gestaltungswillens, den man im Hinblick auf die Universität der Reichshauptstadt unterstellen kann, folgten nach der gescheiterten Berufung Kahles keine weiteren Versuche einer Neuorganisation der orientalischen Studien. Möglicherweise behinderten sich divergierende Interessen verschiedener Instanzen und offensichtlich existierte keine einheitliche oder konsistente Vorstellung davon, was nationalsozialistische Orientforschung bedeuten sollte. Eine Vortragsreihe, die in Berlin 1934 von Orientalisten und Archäologen unter dem Titel ‚Die deutsche Orientforschung, ihre Gegenwartsbedeutung und ihre Gegenwartsaufgaben‘ organisiert wurde, schuf dem Anschein nach keine Abhilfe und fand während der folgenden Jahre keine Fortsetzung.15 IV Die Vertreibung Das Gebiet, auf dem die spürbarsten Veränderungen zu verzeichnen sind, ist die Personalpolitik. Bei einem Fach, das nicht nur für Kinder aus evangelischen Pfarrhäusern, sondern auch für diejenigen aus Elternhäusern religiöser Minderheiten eine besondere Anziehungskraft hatte, war die Zahl der entlassenen Lehrkräfte überdurchschnittlich hoch. Vergleichbar ist die Zahl der Entlassungen mit Medizinern und Juristen, was an der Möglichkeit dieser Fachleute zu einer freiberuflichen Existenz lag. Grosso modo war ein Viertel der Orientalistik-Lehrstühle mit Personen besetzt, die aus jüdischen Elternhäusern stammten. Nach 15
Hans Heinrich Schaeder (Hrsg.), Die deutsche Orientforschung, ihre Gegenwartsbedeutung und ihre Gegenwartsaufgaben, Berlin 1936.
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dem damaligen Verständnis wurden sie unabhängig davon, ob sie konvertiert waren, sich als Atheisten verstanden oder der jüdischen Religion angehörten, als Juden angesehen. Bei dem wissenschaftlichen Nachwuchs der Fächer Semitistik, Arabistik, Islamwissenschaft kann man den Anteil mindestens ebenso hoch veranschlagen. Bis Ende 1938, dem Zeitpunkt, an dem die drei Entlassungswellen abgeschlossen waren, und der Druck auf die Universitäten nachließ, gab es zwei Personen, denen politische Unzuverlässigkeit vorgeworfen wurde (Albrecht Goetze, Hans Alexander Winkler). Im Jahr 1939 emigrierten die Ordinarien Paul Kahle und Joseph Schacht, um Disziplinierungsmaßnahmen zu entgehen. Die überwiegende Mehrheit der Entlassungen geschah aus ‚rassischen‘ Gründen. Bereits 1933 erfolgte, von übereifrigen Kollegen angeregt, die Absetzung Eugen Mittwochs als Direktor des Seminars für Orientalische Sprachen. Als Vorkriegsbeamter und dank kollegialer Fürsprache konnte Mittwoch zumindest seinen Lehrstuhl an der Universität noch bis zum Erlass der Nürnberger Gesetze wieder einnehmen. Die Entlassung des Giessener Ordinarius Julius Lewy aus dem ersten Jahr des ‚Dritten Reichs‘ war hingegen unwiderruflich. Eine gezielte Austrocknung einzelner Forschungsrichtungen lässt sich nicht erkennen. Die Altorientalistik und die Islamwissenschaft verloren eine überdurchschnittlich hohe Anzahl von Mitarbeitern. Bei letzterer spielte die Tatsache eine Rolle, dass der prominenteste Vertreter dieser Richtung, C. H. Becker, der Kultusminister in der ‚Regimezeit’ war, als politisch inakzeptabel angesehen wurde. Das Urteil betraf sein öffentliches Wirken und basierte nicht auf der Analyse des Beckerschen Werks. Der von ihm geförderte Nachwuchs, zu dem neben Hellmut Ritter eine Reihe von Wissenschaftlern jüdischer Herkunft gehörten, geriet in eine prekäre Lage. Ritter, der die Außenstelle der DMG in Istanbul, eine Initiative Beckers, leitete, bekam das Ressentiment sofort zu spüren. Das Preußische Kultusministerium wollte die Stelle nicht mehr finanzieren. Das Gehalt für Hellmut Ritter wurde infolge einiger Verhandlungen Paul Kahles in Berlin und dank einer Reihe von positiven Stellungnahmen ausländischer Gelehrter zu Ritters Arbeit in der Folgezeit vom Auswärtigen Amt übernommen. Durch die Entlassung einiger Nachwuchskräfte (u.a.: Martin David, Hans L. Gottschalk, Paul Kraus, Martin Plessner), die Unmöglichkeit von Promovierten eine Anstellung zu erhalten (Fritz Rudolf Kraus, Ilse Lichtenstädter, Franz Rosenthal) und die Auswanderung anderer (Richard Ettinghausen, Salomon Pines, E. I. J. Rosenthal, Richard Walzer) verlor die Suche nach wechselseitigen Einflüssen der jüdischen, griechischen und christlichen Kultur in Europa die wichtigsten Mitarbeiter. Zudem büßte die Fragestellung an Interesse offizieller Stellen ein. Die beiden bedeutendsten Ordinarien in der Reichshauptstadt, die sich als Islamwissenschaftler verstanden, setzten hingegen ihre Arbeiten ohne Behinderungen fort. Richard Hartmann, der 1936 nach Berlin berufen wurde, konzentrierte sich weiterhin auf religionswissenschaftliche Studien, suchte jedoch nicht mehr nach der Genese der eigenen Kultur. Inmitten des Kriegs publizierte er eine zusammenfassende Darstellung des Islam. Darin billigte er der islamischen Religion eine große Flexibilität und frische Lebenskraft zu. Die Berührung mit den Juden und die ‚Enttäuschung‘ über sie, führte laut Hartmann zur Herausbildung einer eigenständigen islamischen Religion, die auch dem Christentum gegenüber selbstständig blieb. Seit dem Mittelalter blieb sie hinter den christlichen Entwicklungen zurück. Erst für die Gegenwart beobachtete er eine Synthese zwischen Islam und Nationalismus. Hans Heinrich Schaeder, der bereits während der Weimarer Republik zu den angesehensten Fachvertretern gehörte, konnte seine Position trotz vereinzelter Kritik wahren. Er trug entschieden dazu bei, dass die Beschäftigung mit dem Iran, nicht nur bei den indogermanischen Philologien angesiedelt blieb, sondern innerhalb der Islamwissen-
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schaft größeren Raum einnahm. Schaeder suchte nach dem iranischen Erbe in der allgemeinen Kulturgeschichte, eine Fragestellung, die in jenen Jahren hoch angesehen war, weil die Iraner zu den indogermanischen Völkern gezählt wurden. Von den beiden wichtigsten Spezialisten für iranische Kunst wirkte nur noch Friedrich Sarre in Deutschland, während Ernst Herzfeld, der viele Jahre Ausgrabungen im Iran gemacht hatte, im Ausland bleiben musste.16 Anfang 1939 erstellten Mitarbeiter des Reichserziehungsministeriums eine Übersicht über die Neubesetzungen der Universitätslehrstühle seit dem Jahr 1933. Diese Bilanz verstärkt den Eindruck, als handele es sich bei den Entlassungen um eine Art ‚Arbeitsbeschaffungsmaßnahme‘ für verdiente Volksgenossen. Hinter dieser Aufstellung steckte wahrscheinlich der Versuch, zu demonstrieren, auf welche Weise das neue Regime zur Erneuerung der Universitäten beigetragen hatte. Für das Fach Orientalistik in seiner Gesamtheit wurden seit 1933 19 Lehrstühle neu besetzt, dazu kamen vier Neubesetzungen ab 1937. Die Mehrheit der Neubesetzungen für den Bereich des Vorderen Orients bestand aus Erstberufungen. In der Regel erhielten bereits seit langem Habilitierte eine Chance. Die Parteizugehörigkeit spielte eine Rolle, war aber nicht im jedem Fall unabdingbar.17 Die Politik der Vertreibung und Ausgrenzung machte weder vor den Studierenden noch vor den bereits emeritierten Wissenschaftlern halt. Restriktionen bei der Bibliotheksbenutzung und bei der Zulassung zu Fakultätssitzungen trafen privatim arbeitende und gezwungenermaßen ‚freischaffende‘ Gelehrte. Verschiedentlich wurden Bibliothekare ermahnt, keine Bücher an Personen auszuleihen, die nicht ‚Reichsdeutsche’ waren. Der Turkologe Karl Süssheim konnte nach seiner Entlassung bis zum November 1938 noch die Münchner Staatsbibliothek benutzen. Danach gelangte er nur mit Hilfe eines Bibliothekars an Bücher.18 Süssheims Kontakte zu namhaften türkischen Politikern ermöglichten ihm später die Ausreise nach Istanbul. Das Gesetz des Jahres 1933 gegen die ‚Überfüllung der Hochschulen‘ verfügte, dass nur 1 % der Immatrikulationen durch Studenten jüdischer Herkunft erfolgen durften. Der Anteil von Frauen sollte 1,5 % nicht überschreiten. Im Frühjahr 1937 beschloss das Ministerium zusätzlich, dass Juden deutscher Staatsangehörigkeit nicht mehr zur Promotion zugelassen werden durften. Die Regelung führte zu einem drastischen Rückgang der Promotionsarbeiten auf dem Gebiet des Vorderen Orients: Sie sanken von 23 im Jahr 1936 auf 8 im Jahr 1937, allerdings stiegen sie 1938 wieder auf 15 an. Das Beispiel der Semitistin Hedwig Klein zeigt, dass es zur Durchsetzung der restriktiven Anwendung der Verordnungen immer auch Personen geben musste, die den Willen hatten, dem Zeitgeist zur Durchsetzung zu verhelfen. H. Klein wurde in Hamburg noch 1937 zur Promotionsprüfung zugelassen, weil ihr Vater im Ersten Weltkrieg gefallen war und die Betreuer ihr herausragende Leistungen bescheinigten. Ein Jahr später, nach der Drucklegung ihrer Arbeit, verweigerte ihr der neue Dekan die Ausstellung der Promotionsurkunde, da sich die Lage ‚verschärft‘ habe. Tatsächlich hatte sich der neue Dekan im Gefolge der Reichskristallnacht beim Reichserziehungsministerium erkundigt, ob er die Urkunde ausstellen könnte. Die ‚höhere Weisung‘ verunmöglichte den Schritt, ohne dass eine neue offizielle Regelung in Kraft ge-
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Mit dem Leben und Werk Ernst Herzfelds beschäftigt sich ausführlich der Sammelband: Ann C. Gunter und Stefan R. Hauser (Hrsg.), Ernst Herzfeld and the Development of Near Eastern Studies, 1900-1950. Leiden 2005. Johann Fück, der nach Halle berufen wurde, war kein Parteimitglied. Barbara Flemming und Jan Schmidt, The diary of Karl Süssheim (1878-1947) – Orientalist between Munich and Istanbul, Stuttgart 2002, S. 265.
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treten war.19 Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verhinderte die Ausreise Hedwig Kleins nach Indien. Sie wurde später im Konzentrationslager ermordet. Zuvor hatte sie anonym an dem Arabisch-Deutschen Wörterbuch von Hans Wehr mitgearbeitet, das kurz nach dem Krieg veröffentlicht wurde und bis heute das meistbenutzte Wörterbuch für das Gebiet ist. Die Länder, in die vertriebene Gelehrte ins Exil gingen, variierten je nach Kontakten und wissenschaftlichen Kooperationen aus den Jahren der Weimarer Republik und nach dem Verlauf des Kriegs. Schweden, Italien und Frankreich empfingen einige Spezialisten. Sie bildeten aber nur Stationen für einen vorübergehenden Aufenthalt. In England und in der Türkei konnten verschiedene Orientalisten in einen neuen Wirkungskreis eintreten und ihre Kenntnisse in die Gestaltung des orientalistischen Angebots einbringen. Oxford nahm neun deutsche Altertumswissenschaftler auf, zu denen auch Richard Walzer gehörte, der die Zusammenschau von griechischer und islamischer Kultur dort fortsetzte. Auf Lehrstühle in die Türkei wurden in erster Linie Assyriologen, wie Benno Landsberger und Gustav Güterbock vermittelt, da die assyriologische Forschung ein Interessengebiet Kemal Atatürks war. Andere überlebten dank verschiedener vorübergehender Beschäftigungen in dem Land am Bosporus (u.a.: Fritz Rudolf Kraus, Robert Anhegger, Andreas Tietze, Walter Gottschalk, Karl Süssheim, Oskar Rescher, Karl Menges). Sie konnten sich dank guter Türkischkenntnisse integrieren, sahen aber nach 1945 keine berufliche Perspektive, da der Staat die ausländischen Professoren in den Geisteswissenschaften abbaute. Benno Landsberger und Gustav Güterbock schufen sich nach dem Krieg in Chicago einen neuen Wirkungskreis. Verschiedene Wissenschaftler jüdischer Herkunft gingen nach Palästina. Einige setzten ihre Arbeit fort, wie Gotthold Weil und einzelne verdienten dort ihren Lebensunterhalt in anderen Berufen (Martin Plessner, Fritz Bargebuhr). In Ägypten blieb der Spezialist für arabische Augenheilkunde Max Meyerhof, der schon mehrere Jahre eine medizinische Praxis in Kairo hatte. V Institutionelle Änderungen Beim Lehrangebot in semitischen Sprachen erfolgten Änderungen durch veränderte Schwerpunktsetzungen in der Sprachenauswahl. Von den Hebräisch-Lektoren wurden die meisten entlassen, weshalb allein schon aus diesem Grund das Angebot zurückging. Hingegen führte der verbreitete Affekt gegen das Adjektiv ‚semitisch‘ zu Anträgen einzelner Fachvertreter, die Bezeichnungen der Seminare und Lehraufträge zu ändern. Die Argumentation lautete, dass die Arbeit mit nicht-semitischen Sprachen, wie dem Türkischen oder dem indogermanischen Neupersisch von der Seminarbezeichnung nicht abgedeckt würde. Die Alternativvorschläge präferierten ‚vorderasiatisch‘ wie in Göttingen, ‚morgenländisch‘ wie in Königsberg oder ‚orientalisch‘ wie in Leipzig. Dort wo kein Antrag erfolgte, kam der Änderungsvorschlag aus dem Kultusministerium. Der Lehrauftrag für Johann Fück an der Frankfurter Universität wurde in ‚arabische Philologie und Islamkunde‘ umgewandelt. Der Hinweis, dass es sich beim Begriff ‚semitisch‘ um eine sprachwissenschaftliche Kategorie handele, verschaffte sich öffentlich kein Gehör. Es gab aber nicht nur die Neigung den Begriff ‚semitisch‘ zu umgehen, sondern es findet sich in den Forschungsvorhaben der SS-Stiftung ‚Ahnenerbe‘ und der Hohen Schule Rosenbergs die Neigung, den Orient ohne Semiten zu konstruieren oder diese allenfalls als 19
Peter Freimark, Promotion Hedwig Klein – zugleich ein Beitrag zum Seminar für Geschichte und Kultur des Vorderen Orients, in: E. Krause, L. Huber, H. Fischer (Hrsg.) Hochschulalltag im „Dritten Reich“ – Die Hamburger Universität 1933-1945, 3 Bde., Hamburg 1991;
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Kulisse für die Durchsetzung des Indogermanentums in der Region zu verwenden. Das ‚Ahnenerbe‘ wollte zur Erforschung des Daseins auf den ‚Urzusammenhang aller Völker nordischen Blutes im Indogermanentum‘ zurückgreifen. Diesem Programm sollte sowohl die Lehr- und Forschungsstätte für den Vorderen Orient als auch diejenige für nordafrikanische Kulturwissenschaft dienen. In der Hohen Schule Rosenbergs galt das Hauptinteresse der Erforschung der Antike ,unter dem heutigen Rasse-Gesichtspunkt‘. Der Begriff der Antike umfasste alle Völker ‚nordeuropäischen Ursprungs‘, auch die Inder und Iraner. Die ‚Erforschung der Judenfrage‘ bildete innerhalb der Hohen Schule ein eigenes Projekt, das die ‚Giftigkeit des jüdischen Blutes streng erfahrungsgemäß‘ feststellen wollte. Das Interesse galt der jüdischen Geschichte während der letzten 200 Jahre insbesondere innerhalb Europas. Während die hebräische Sprache bis dahin noch als Teilbereich der orientalischen Philologien angesehen wurde, ging die Federführung für die Forschungen über das Judentum an das Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands über. Ein von R. Hartmann und H. H. Schaeder unterstützter Versuch, eine Professur für die Erforschung der Judenfrage an der Berliner Universität zu verankern, misslang. Der einzige Kandidat, der als kenntnisreich für das rabbinisch-talmudische Judentum präsentiert wurde, war Karl Georg Kuhn, was man nur auf dem Hintergrund der Vertreibungen begreifen kann. K. G. Kuhn erhielt 1942 in Tübingen den so definierten Lehrauftrag. Die drei Stiftungen, die auf Stifter jüdischer Herkunft zurückgingen, wurden auf unterschiedliche Weise in ihrer Arbeit behindert. Die Stiftungsuniversität Frankfurt geriet als Ganze in das Blickfeld des Kultusministeriums; es kursierten im Ministerium zeitweise Vorschläge, sie zu schließen. Da es dem dortigen Institut für Sozialforschung gelungen war, seine Ausstattung in die Schweiz zu transferieren und die ausländischen Stifter die Zahlungen eingestellt hatten, kamen ähnliche Befürchtungen für den Lehrstuhl für semitische Philologie auf, der aus der Jacob-H.-Schiff-Stiftung finanziert wurde. Der damalige Lehrstuhlinhaber Gotthold Weil wurde 1933 entlassen, dann aber infolge einer Anfrage des Stiftungsvorstands bis 1935 wieder in sein Amt eingesetzt. Anschließend erhielt Johann Fück vorübergehend Mittel der Stiftung für einen Lehrauftrag. Als Fück nach Halle wechselte, kam das Angebot in Semitica in Frankfurt zum Erliegen. Nachdem es 1939 gesetzlich möglich geworden war, wurden die jüdischen Stiftungsvorstände entlassen. Die neuen Vorstände lösten die Stiftung auf und überführten die restlichen Gelder in die Dr.-AdolfVarrentrapp-Stiftung, deren Aufgabe nicht die Förderung der Orientalia bildete. Im Hinblick auf die Gelder der Lidzbarski-Stiftung, die vom Reichserziehungsministerium verwaltet wurden, hatten die Ministerialbeamten schnell auf ‚bessere‘ Verwendungsmöglichkeiten spekuliert. Da das Preiskomitee der Stiftung international besetzt war, war dabei Vorsicht geboten. Der Preisträger des internationalen Orientalistentags 1938 in Brüssel, Franz Rosenthal erhielt sein Preisgeld dennoch nicht. Wie von Kollegen befürchtet, bildete seine Abstammung den Hintergrund für die Ablehnung des Ministeriums. Anschließend wurde das Stiftungsgeld aus der Schweiz nach Berlin zurückbeordert, wo es in den Mäandern des Zeitgeschehens verschwand.20 Einzig die Oppenheim-Stiftung überdauerte zu Teilen das ‚Dritte Reich‘ und die Bombenangriffe. Ihre Reste konnten nach 1945 nach Köln transferiert werden.21
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Franz Rosenthal, Die Lidzbarski-Goldmedaille, in: ZDMG, Bd. 148/1998; Ludmila Hanisch, Nachwuchsförderung in den Zeiten der Cholera, in: Sprachen, Mythen, Mythiszismen – Festschrift Walter Beltz zum 65. Geburtstag, Hallesche Beiträge zu Orientwissenschaft, 32/2001, S. 333-344. Wolfgang Röllig, Vermächtnis der Vorzeit - Eine Stiftung und ein Museum, in: Gabriele Teichmann & Gisela Völkel (Hrsg.), Faszination Orient – Max von Oppenheim, Forscher, Sammler, Diplomat, Köln 2001.
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Im Vorstand der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft traten 1933 alle Mitglieder zurück, die nach der damaligen Definition jüdischer Herkunft waren. Sie realisierten, dass eine weitere Kandidatur aussichtslos war. Eine Statutenänderung der DMG erfolgte erst 1938, aber informelle Mechanismen hatten bereits zuvor dafür gesorgt, dass deutsche Gelehrte, die nicht ‚Reichsbürger‘ waren, der Gesellschaft und den Orientalistentagen fernblieben. Ausländische Mitglieder konnten ohne Nachweis ihrer Abstammung in der Gesellschaft verbleiben, aber von dieser Möglichkeit wurde kaum Gebrauch gemacht. Verschiedene Austritte erfolgten aus Protest. Bisweilen spielten bei entlassenen Gelehrten finanzielle Gründe für den Rückzug eine Rolle. Ein Blick in den Gelehrtenkalender von Kürschner zeigt, dass sich die Reihen der Orientalisten deutlich gelichtet hatten. In der Sparte Orientalistik und Verwandtes fanden sich im Jahr 1940/1 nur 180 Namen, während es 1931 noch 360 Namen waren. Die ZEITSCHRIFT FÜR SEMITISTIK und die ZEITSCHRIFT FÜR INDOLOGIE UND IRANISTIK existierten nicht länger als Parallelzeitschriften zur ZDMG, sondern sie wurden 1935 wieder in die Hauptpublikation integriert. Diese Maßnahme lässt sich eventuell als Remedium gegen eine zu weitgehende Spezialisierungen lesen; andererseits kann sie eine Reaktion auf Klagen zu Beginn der dreißiger Jahre sein, die lauteten, dass es zu wenig Artikel für die Vielfalt der Zeitschriften gäbe. VI Die Auslandshochschule Die vorgelegten Denkschriften hatten im Zusammenhang mit den Auslandsbeziehungen die prestigefördernde Bedeutung der Solidität deutscher orientalistischer Forschung hervorgehoben, aber im Übrigen diese Beziehungen nicht als ihre Angelegenheit angesehen. Die Lehrkräfte am Seminar für Orientalische Sprachen nahmen sich nun des Themas an. Die Dozenten der Einrichtung, die während der Weimarer Republik nur eine marginale Existenz gefristet hatte, bemühten sich nach 1933 deren Relevanz in das Bewusstsein der neuen Machthaber zu bringen. Sie verkündeten, dass das Seminar Kenntnisse vermitteln sollte, derer ‚das deutsche Reich in seiner politischen, militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Auseinandersetzung mit dem Ausland dringend bedarf‘. Als H. H. Schaeder Direktor war, blieb der Tonfall noch abwartend moderat, aber sein Nachfolger, der RussischDozent Anton Palme freute sich, dass der Kampf ‚gegen reaktionäre Trägheit und die antinationalen Verirrungen der Regimezeit‘ nun beendet sei, weil die Nationenwissenschaften ein unentbehrliches Glied in der Gedankenwelt des Nationalsozialismus seien. Das Studium des Gegenwartslebens fremder Nationen sollte die studierende Jugend zur ‚Vertiefung ihrer eigenen nationalen Bewusstheit‘ führen. Der Rückzug auf das Eigene wird insbesondere gegenüber den Vorstellungen über Auslandsstudien aus der Weimarer Republik deutlich, in der noch diese der Völkerverständigung dienen sollten. Seinerzeit rückten Gelehrte bisweilen von der Zumutung ab, sich ‚völkerverbindender Dolmetscherei‘ zu widmen, und beriefen sich auf das Ideal der Politikferne. In den Kriegsjahren diente die Ausbildung am Seminar nicht ausschließlich der aggressiven Selbstfindung oder der politischen Schulung. Im Auftrag der Wehrmacht stellten die Verantwortlichen Listen von Ausländern zusammen, die dem ‚Deutschtum‘ nahe standen. Die Auslandshochschule, wie das Seminar dann hieß, fusionierte Anfang 1940 mit der Hochschule für Politik und wurde als ‚Auslandswissenschaftliche Fakultät‘ der Universität angeschlossen. Damit bestand dort die Möglichkeit, zu promovieren und sich zu habilitieren. Obwohl sie großzügige finanzielle Zuwendungen von staatlicher Seite erhielt, stieg das Ansehen der Einrichtung in den Augen der Gelehrten nicht. Gegenüber der Praxisnähe bestand weiterhin ein Ressentiment, das seit dem Kaiserreich von Seiten der so genannten
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Mandarine herrschte. Dekan der Auslandsfakultät war der SS-Standartenführer Franz A. Six. Unter seiner Ägide wurden nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Kulturinstitute im Ausland errichtet, die sich mit den ‚für Deutschland interessanten Problemen und Verhältnissen‘ der jeweiligen Länder beschäftigten. In dem Institut in Sofia wirkte der Turkologe H. W. Duda und in Zagreb der Spezialist für arabische Naturwissenschaften Karl Garbers.22 VII Fortsetzung der wissenschaftlichen Arbeit In der Literatur zur Geschichte der Disziplin wird bisweilen beschrieben, dass die Spezialisten auch während des ‚Dritten Reichs‘ in der Studierstube ihren Studien ungehindert nachgehen konnten. Blickt man auf die Vorträge der Orientalistentage, die Fachzeitschriften und die Vorlesungsverzeichnisse der Universitäten bestätigt sich dieser Eindruck. Die Beiträge auf den Fachtagungen unterschieden sich in Thematik und Ausführung nicht wesentlich von Vorträgen, die auf den Tagungen während der Weimarer Republik abgehalten wurden. Als Konzession gegenüber dem Vorwurf der abgehobenen Spezialisierung erscheint die Regelung, auf den Orientalistentagen keine Sektionen mehr zu errichten, sondern ein gemeinsames Programm für alle Teilnehmer zu organisieren. Die Veränderungen im Kongressgeschehen bestanden auch darin, dass die Vertreibung jüdischer Gelehrter bei der Teilnehmerliste deutliche Spuren hinterlassen hat. Zudem wurden die kaukasischen Sprachen in den Aufgabenbereich der DMG einbezogen. Der schwedische Orientalist H. S. Nyberg konstatierte 1936, dass die jüngere Generation sich auf iranischem Gebiete betätigte und interessante Vorträge präsentierte, während die Assyriologie sich in die Einsamkeit der Studierstube zurückgezogen habe. Lediglich vereinzelte Anpassungen an den damaligen Zeitgeist fanden sich in den Titeln von Vorträgen auf dem Orientalistentag von 1938. Neben dem Vortrag von Erich Frauwallner über den ‚Arischen Anteil an der indischen Philosophie‘, beschäftigte sich Adam Falkenstein anhand der überlieferten Schädelformen mit den verschiedenen Rassen in der Frühzeit Babyloniens. Allerdings stellte Falkenstein fest, dass anthropologische Untersuchungen mangels ausreichenden Materials bisher keine endgültigen Ergebnisse erzielen konnten.23 Die Fachzeitschrift der DMG hatte sich traditionell nicht mit anthropologischen Fragen beschäftigt und behielt dieses Profil bei. Dieses Selbstverständnis mag unter anderen Gesichtspunkten als Verengung der Perspektive beklagt werden; in den Jahren des ‚Dritten Reichs‘ bildete es ein Bollwerk gegenüber zeitgenössischen Zumutungen. Für die Bearbeitung ‚moderner‘ Themen gab es andere Publikationsorgane. Wilhelm Hoernerbach publizierte beispielsweise in der ZEITSCHRIFT FÜR RASSENKUNDE über ‚Anthropologische Beiträge aus alten arabischen Werken‘. Konzessionen an den Bedarf ideologischer Legitimation des Regimes oder Verkündigungen der nationalsozialistischen Vulgata finden sich in den Fachzeitschriften aus der Feder von Spezialisten für den Vorderen Orient kaum. Insbesondere seit langem anerkannte Gelehrte sahen es nicht als ihre Aufgabe an, in ihrem Spezialgebiet Politik und Wissenschaft zu vermischen. Für das deutsche Selbstverständnis galt der Beitrag der indogermanistischen Studien zudem als bedeutender. Dennoch lassen sich bisweilen Formulierungen finden, die dem Zeitgeist Rechnung trugen. Bevorzugter Ort dafür waren Publikationen, 22 21
Frank-Rutger Hausmann, „Auch im Krieg schweigen die Musen nicht“ – Die Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2001. Erich Frauwallner, Der Arische Anteil an der indischen Philosophie, in: ZDMG, Bd. 92/1938, S. 22f.; Adam Falkenstein, Die Bevölkerungsverhältnisse in der Frühzeit Babyloniens, ebenda, S. 22.
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die sich an ein breiteres Publikum richteten. Für R. Hartmann war ‚dem türkischen Volk ein Führer entstanden, der die Notwendigkeit der Entwicklung begriffen hatte und hart und bedingungslos genug war, die Folgerungen restlos zu ziehen: Kemal Atatürk‘.24 Für Franz Taeschner fand das ‚unerbittliche Gesetz geschichtlichen Werdens und Vergehens‘ am Beispiel des Osmanischen Reichs seine Bestätigung.25 In der Einleitung zu dem Glossar von Firdosis Schahname würdigte Schaeder das Werk Firdosis als ‚geboren aus dem glücklichen Zusammentreffen einer fruchtbaren geschichtlichen Stunde und des ihr ebenbürtigen Mannes‘.26 Der Spezialist für iranische Philologie, Fritz Wolff, hatte etwa zwanzig Jahre an dem Glossar, das der iranischen Regierung 1935 als ‚Frucht deutscher Wissenschaft‘ überreicht wurde, gearbeitet. Der Autor musste 1938 wegen seiner nichtarischen Herkunft aus der DMG austreten und wurde später mit seiner Frau in einem Konzentrationslager umgebracht. Dass es nicht immer gelang, das Politische vom Wissenschaftlichen zu trennen, zeigt sich in dem fachgeschichtlichen Überblick aus der Feder Enno Littmanns. Sein Buch ‚Der deutsche Beitrag zur Wissenschaft vom Vorderen Orient‘ knüpfte an seine Darstellung des Fachs aus dem Jahr 1930 an, die seinerzeit ‚Semitische Philologie‘ hieß. War die Islamkunde 1930 noch eine Tochter der semitischen Philologie, so wurde sie jetzt zu einer Tochter der Arabistik. Nicht ganz verständlich ist, warum Littmann die Einordnung der Disziplin als ‚Kulturwissenschaft‘, wie er sie noch 1930 nannte, weggelassen hat. 1942 fiel diese Einordnung fort, obwohl der Begriff keinesfalls diskreditiert war, sondern auch auf der Arbeitstagung im Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften im selben Jahr verwendet wurde. Littmann nannte hingegen Spezialisten jüdischer Herkunft, weshalb ihm ein Kollege Mut bescheinigte. 27 VIII ‚Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften‘ Unter der martialischen Bezeichnung ‚Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften‘ sollte durch diese Fachtagungen dem Ausland die Leistungsfähigkeit der deutschen Wissenschaften nach der Entlassung jüdischer Gelehrter und anderer missliebiger Personen eindrucksvoll demonstriert werden. Im Unterschied zu den eher individuellen Forschungsaktivitäten in der Weimarer Zeit wollten die Machthaber die Vorteile einer Bündelung der Kräfte und einer Systematisierung unter Beweis stellen. Das Stocken des Blitzkriegs gegen die Sowjetunion bildete in den Augen der Nationalsozialisten einen Anlass, auch die dem Regime ferner stehenden intellektuellen Schichten in die politische und propagandistische Belehrung der Bevölkerung einzubeziehen, insbesondere weil die Geisteswissenschaften in dem Ruf standen, teilweise ‚im alten Weltbild stecken geblieben‘ zu sein. Die ‚Arbeitstagung der deutschen Orientalisten und der deutschen orientalistischen Archäologen‘ sollte ‚gegenwartsnahe Probleme der orientalistischen Forschung erörtern, die zum größten Teil 24 25 26 27
Richard Hartmann, Das Wesen des osmanischen Reichs, in: Süddeutsche Monatshefte, 33/1936, S. 521f. Franz Taeschner, Der Weg des osmanischen Staates vom Glaubenskämpferbund zum islamischen Weltreich, in: Die Welt als Geschichte, 6/1940, S. 207. H.H. Schaeder, Vorwort zu: Fritz Wolff, Glossar zu Firdosis Schahname. Festgabe des Deutschen Reiches zur Jahrtausendfeier für den persischen Dichterfürsten, Berlin 1935. Enno Littmann, Der deutsche Beitrag zur Wissenschaft vom Vorderen Orient, Reihe: Der deutsche Beitrag zur Gestaltung und Erforschung der englischen Kultur, Berlin 1942; ders., Semitische Philologie, in: Gustav Abb (Hrsg.), Aus fuenfzig Jahren deutscher Wissenschaft; die Entwicklung ihrer Fachgebiete in Einzeldarstellungen; Seiner Excellenz Herrn Staatsminister a.D. Dr. Friedrich Schmitt-Ott zur Feier seines 70. Geburtstages im Namen der deutschen Wissenschaft ueberreicht, Berlin 1930. Arthur Schaade lobte Littmann am 11.10.1943 wegen seines Muts, Nachlass Littmann, Staatsbibliothek Berlin, Handschriftenabteilung.
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unmittelbare Beziehung zum politischen Geschehen haben‘. Die Deutsche Morgenländische Gesellschaft lud unter Federführung von Helmuth Scheel, der Paul Kahle im Vorstand der DMG ersetzt hatte, vom 30.9.42 bis zum 3.10.42 zu dieser Tagung nach Berlin ein. Für die Mehrheit der Vorträge auf dieser Arbeitstagung, der ersten Gelegenheit, auf der sich die Orientalisten nach 1938 wieder versammelten, trifft zu, dass man ihnen nicht entnehmen kann, unter welcher Überschrift sie firmierten. Der große Anteil der fachlichen Übersichten, die von erfahrenen und renommierten Gelehrten ausgebreitet wurden, diente dazu, amtlichen Stellen zu zeigen, was die Orientalistik im allgemeinen leisten und bieten könne. Die Zeitgebundenheit der Vorträge gerät ins Blickfeld, wenn man im Hinterkopf behält, welche Spezialisten aus dem Fach entlassen oder vertrieben sind. Ihr Beitrag wird häufig verschwiegen. Die Aufgabe neuere Forschungen vorzustellen, wie bei anderen Kongressen üblich, übernahm die Tagung nicht. Inmitten des Kriegs war der Lehr- und Forschungsbetrieb auf ein Minimum reduziert. Er konnte nur noch mit Hilfe älterer oder für den aktiven Kriegsdienst untauglicher Gelehrter aufrechterhalten werden. Daneben gab es vereinzelt Freistellungen, wenn einem Spezialist bescheinigt wurde, wegen kriegswichtiger Arbeiten unabkömmlich zu sein. Verschiedene Fachleute mussten von der Front für die Tagungsteilnahme beurlaubt werden und nahmen in Uniform teil. Unter diesen Umständen konnten sie keine neuen Ergebnisse erarbeiten und präsentieren. Ein geplanter Vortrag über ‚Die arische Philologie als Schlüsselwissenschaft großdeutscher Forschung‘ des Indologen Walther Wüst, dem Gesamtverantwortlichen für die Tagung fiel aus. Die äußeren Bedingungen machten allen Teilnehmern den Unterschied zu anderen Kongressen deutlich. Die Teilnehmer wurden von den ‚Spartenleitern‘, die in der Regel Lehrstuhlinhaber waren, ausgesucht und nach Genehmigung des Reichserziehungsministeriums eingeladen. Einlasskontrollen, Lebensmittelkarten und die Vorführung des Films ‚Geheimnis Tibet‘, den Ernst Schäfer über seine Expedition aus den Jahren 1938/9 gedreht hatte, im Vortragssaal der Geheimen Staatspolizei bildeten Teil des Ambientes. Die ‚eigentliche Wirklichkeit‘, die Paul Ritterbusch in seiner Eröffnungsansprache in den Mittelpunkt orientalistischer Forschung stellte, oder die ‚freie Durchsetzung und Entfaltung des Deutschtums‘, wie Schaeder sie anvisierte, lassen sich nur schwer aus den Vorträgen herauslesen. Die Lektüre der beiden Bände der Kongressbeiträge aus dem Jahr 1944 vermittelt auch nicht den Eindruck einer ‚geschlossenen Arbeitsgemeinschaft‘, wie sie den Organisatoren des Kongresses vorschwebte. Neben unterschiedlichen Herausgebern, nämlich H. H. Schaeder für den Band ‚Der Orient in Deutscher Forschung‘ und R. Hartmann gemeinsam mit H. Scheel für den Band ‚Beiträge zur Arabistik, Semitistik und Islamwissenschaft‘, hieß die Tagung im Band von Hartmann und Scheel ‚Arbeitstagung im Kriegsjahr 1942‘ und nicht mehr ‚Arbeitstagung im Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften‘. Der erste Band reproduzierte die tatsächlich gehaltenen Vorträge der Tagung, während der zweite Band eine Reihe zusätzlicher Artikel aufnahm. Laut der Eröffnungsansprache wurde die Orientforschung im Angesicht des Kriegs als wichtigstes Mittel geistiger Propaganda im Orient betrachtet. H. H. Schaeder verlegte die Ostgrenze der europäischen Kultur jenseits des Irans und betonte den Zusammenhang des christlichen Abendlandes mit dem islamischen Morgenland. Die Begriffe Okzident und Orient wurden auch durch Franz Taeschner relativiert. Er legte dem Islam, also der mittelalterlichen Religion, das Auseinanderreißen der beiden Teile der Alten Welt zur Last. Für die Gegenwart konstatierte er die Umwandlung der ‚Gesetzesreligion‘ in eine ‚Gesinnungsreligion‘. Walter Braune stellte fest, dass es kaum eine zweite Religion gäbe, die ‚den Menschen so radikal von allen Bindungen an naturhaft ur-
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sprüngliches Sein‘ löse, wie der Islam. Andererseits stellte er fest, dass die religiöse Bindung der Araber nicht mehr stark genug sei, um einen Staat theokratischer Prägung zu erhalten, womit der Weg frei werde für die Bindung an das Nationale.28 Die Zusammenschau der Artikel, zu großen Teilen eine Bilanz der bisherigen Arbeit in den verschiedenen Zweigen der Disziplin, zeigt nicht nur, dass die Trennung zwischen der kulturwissenschaftlichen Arbeitsweise und der philologischen Forschung sich perpetuiert hatte. Vorträge über die südarabische Forschung und die Erforschung Abessiniens zeigen außerdem, dass der Spezialisierungsprozess weiter fortgeschritten war. Carl Brockelmann handelte vom Stand und den Aufgaben der Semitistik. Nach seinem Verständnis beschäftigte sich die Disziplin mit der Erforschung des semitischen Sprachstammes, der ebenso wie der indogermanische zu den Sprachstämmen zählte, auf ‚deren Arbeit die Kultur der Menschheit ruht‘. Dieses Verständnis von Semitistik wurde nach dem Zweiten Weltkrieg weitergepflegt, weshalb die Beschäftigung mit der hebräischen Literatur nicht mehr Bestandteil der Orientalistik ist. Die jüdische Religion wurde ohnehin seit längerem an anderer Stelle verhandelt. IX An den verschiedenen Fronten des Kriegs Die Kriegsbegeisterung der Bevölkerung war 1939 nicht zu vergleichen mit der Euphorie zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Ein eifriges Bemühen, sich mir der Waffe oder der Feder in den Dienst des Vaterlandes zu stellen, lässt sich den Äußerungen der Fachwissenschaftler ebenfalls nicht entnehmen. Daran mag die langjährige Isolation des Fachs als primär akademische Disziplin einen Anteil haben. So wenig relevant der Beitrag der Semitistik, Arabistik und Islamwissenschaft für den Weltanschauungsbedarf des Regimes im Innern angesehen wurde, so relevant wurden die Kenntnisse im Verlauf des Kriegs eingeschätzt. Ihre Bedeutung reduzierte sich keineswegs auf die Funktion einer ‚geistigen Propaganda‘ wie es bei der Eröffnungsansprache der Arbeitstagung hieß. Nach Kriegsausbruch wurden Personen mit Arabischkenntnissen zunächst als Dolmetscher nach Berlin einberufen und registriert. Danach kehrten die meisten von ihnen vorläufig zu ihrer Arbeit zurück oder sie erhielten die Aufgabe, im Auftrag der Wehrmacht Wörterbücher und Sprachführer zu erstellen. Durch die Ausdehnung der Fronten steigerte sich das Interesse an einem Expertenwissen über den Vorderen Orient. Während einige Experten unmittelbar nach Ausbruch des Kriegs eingezogen wurden (u.a. Erich Bräunlich), erfolgte bei anderen die Einberufung bisweilen Hals über Kopf. So bekam Rudi Paret im Frühjahr 1941 den Auftrag, als Sonderführer nach Nordafrika zu fliegen. Wegen der Ausdehnung der Kriegsfronten und der Auffächerung der Aufgaben, für die Spezialkenntnisse gebraucht wurden, hatten die militärischen Kreise plötzlich ‚größtes Interesse an orientalischen Studien und tüchtigen Leuten‘, wovon es nicht genug gab. Selbst der in Greifswald entlassene Werner Caskel arbeitete für die Wehrmacht, was ihm vermutlich das Überleben ermöglichte. Für den akademischen Betrieb hatte die kriegsbedingte Reduktion des Angebots die Auswirkung, dass entgegen aller ideologischen Vorgaben Frauen in der Disziplin größere Chancen hatten, als während der Weimarer Republik. Die prominentesten Beispiele sind Annemarie von Gabain, Maria Höfner und Annemarie Schimmel, die auch nach dem Krieg ihre wissenschaftliche Arbeit fortsetzten. Annemarie von Gabain, die schon seit 1927 wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Turfan-Projekt war, konnte sich dank der Fürsprache R. Hartmanns 1940 habilitieren. Hartmann hob hervor, dass sie die Einzige sei, die in 28
W. Braune, Die Entwicklung des Nationalismus bei den Arabern, in: Beiträge zur Arabistik, Semitistik und Islamwissenschaft (BASI), S.427 u. S.432.
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Deutschland die Tradition der turkestanischen Forschungen fortsetzte. Der andere Spezialist, Karl Menges hatte 1936 seinen Antrag auf Habilitation an der Berliner Universität zurückgezogen und Deutschland verlassen, weil er als politisch unzuverlässig galt. Neben dem Verfassen von Wörterbüchern und Sprachführern wurde sprachliche Kompetenz für Rundfunksendungen in arabischer Sprache, die Erstellung von Propagandamaterial, die Briefzensur und die Betreuung von Kriegsgefangenen benötigt. Im Unterschied zu Italien scheint es zu den Grundsätzen der Wehrmacht gehört zu haben, dass bei der Rekrutierung fremdsprachiger Heeresteile Dolmetscher und Sprachlehrer für die jeweilige Sprache zugegen waren. Sie unterrichteten zugleich die deutschen Ausbilder.29 An den verschiedenen Fronten und in den unterschiedlichen Institutionen, die mit der Rekrutierung muslimischer Soldaten für die Wehrmacht befasst waren, gab es sowohl den Ansatz, die religiöse Überzeugung der Beteiligten in den Dienst des deutschen Heeres zu stellen, als auch die Neigung, die ‚völkischen Gegensätze‘ auszunutzen. In diese Diskussionen, aber auch in das Ausbildungsprogramm für die neugewonnenen Rekruten wurden viele Fachwissenschaftler einbezogen. Bertold Spuler wandte sich gegen einen gemeinsamen Unterricht für Sunniten und Schiiten. R. Hartmann votiert für eine lange Ausbildung, da in seinen Augen kein Feld-Mullah besser sei als ein schlecht vorgebildeter. Herbert Jansky sammelte mit Hilfe von Kriegsgefangenen Volkslieder in usbekisch, kasachisch und anderen oststürkischen Sprachen. Johannes Benzing arbeitete an der Herausgabe von Wörterbüchern in diesen Sprachen. An der Ostfront setzte das SS-Hauptamt nach dem Vorbild der deutschen Strategie im Ersten Weltkrieg auf den ‚kämpferischen Islam‘ oder den Panislamismus. Es ließ in Dresden eine Mullah-Schule errichten, in der aus den Gefangenenlagern rekrutierte Muslime zu Feldgeistlichen ausgebildet werden sollten. Der Schule war nur einige Monate Wirkungszeit beschieden, da das Gebäude im Februar 1945 einem Bombenangriff zum Opfer fiel. Zudem übernahm das Ostministerium, das primär auf die völkischen Gegensätze setzte, während es der islamischen Religion nur in zweiter Linie eine Bedeutung zusprach, ab Anfang 1945 alle Initiativen im Hinblick auf die osttürkischen Komitees. Im Nahen Osten und an der Front in Nordafrika gestalteten sich die Verhältnisse komplizierter, weil die Bemühungen, religiöse Empfindungen oder nationale Bestrebungen der dortigen Völker für die deutschen Ziele zu mobilisieren, immer in der Rücksicht auf die dortigen Kolonialmächte oder auf die kolonialen Aspirationen des befreundeten Italiens, Spaniens und Vichy-Frankreichs ihre Grenze fanden. Im Hinblick auf das nordafrikanische Territorium waren die Kenntnisse in deutschen Fachkreisen aus historischen Gründen rudimentär. Für dieses Gebiet war man auf die Ergebnisse der französischen Forschung angewiesen, soweit diese zugänglich waren und soweit sie Fragestellungen bearbeiteten, die für die deutsche Kriegsführung relevant waren. Die Preußische Akademie der Wissenschaften versuchte dieser Lücke abzuhelfen und gründete 1941 eine Kommission für die Erforschung ‚Weißafrikas‘. Die Kommission sollte die Probleme Weißafrikas, die auf engste mit den ‚Rassen-, Vorgeschichts- und Sprachproblemen Europas‘ zusammenhingen, bearbeiten. Zudem erwartete man, dass Deutschland in Zukunft die Wege über die Sahara für seine Kolonien umfangreich nutzen werde. Die Tatsache, dass niemand über Nordafrika auf der Veranstaltung ‚Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften‘ referierte, weist auf die
29
Für die indische Legion wird das detailliert beschrieben bei Jan Kuhlmann, Subhas Chandra Bose und die Indienpolitik der Achsenmächte, Berlin 2003, S.298.
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geringen Resultate der Arbeit in der Akademie der Wissenschaften hin.30 Obwohl das Vichy-Frankreich kein Kriegsgegner Deutschlands war, beobachteten die französischen Stellen die deutschen Propagandaaktivitäten im Maghreb im Interesse ihrer Kolonialherrschaft genauestens. Deutsche Journalisten und Wissenschaftler erhielten Reiseerlaubnisse für das Gebiet, aber die französischen Behörden versäumten nicht, die einzelnen Schritte überwachen zu lassen und davon Niederschriften zu verfassen. Nach 1943 stellten sowohl die Kommission für die Erforschung ‚Weißafrikas‘ als auch andere Forschungsgruppen ihre Arbeit ein, weil weitere Kenntnisse über Nordafrika obsolet geworden waren. Deutsche Versuche, arabische Oppositionsbewegungen gegen die britische Kolonialmacht im Nahen Osten zu unterstützen und für die eigenen Interessen zu funktionalisieren, hatte es während des Kriegs verschiedentlich gegeben. Die Unterstützung für die Araber war in keine konsistente Strategie eingebunden und wurde immer ad hoc befördert oder eingestellt, je nach dem Schwerpunkt der deutschen Kriegsplanung. Der gescheiterte Umsturzversuch im Irak ist ein Beispiel dafür. Insgesamt wurde dem englischen Kriegsgegner durch diese halbherzigen Versuche kaum Schaden zugefügt. Federführend für diese Unternehmungen war das Auswärtige Amt, in dem es Reserven gegenüber panislamistischen Bewegungen gab. Aus Furcht vor der Unkontrollierbarkeit eines weitausgedehnten Gebiets wurde die Förderung nationaler Bewegungen favorisiert. Einzelne Orient-Spezialisten innerhalb des Amtes plädierten wiederum für die Unterstützung des Mufti Amin al-Husaini, weil man ihm zutraute, Einfluss auf die Gesamtheit der Muslime zu haben. Ein Sonderstab Felmy, der eine Reihe arabischer Studenten aus Deutschland mit einbezog, war in Kap Sunion bei Athen eingerichtet worden. Nach dem Sieg über die Sowjetunion sollte diese Gruppe im Mittleren Osten für die deutschen Interessen aktiv werden, wozu es aber nicht kam.31 Insgesamt vermitteln diese unkoordinierten Aktivitäten den Eindruck, dass das Expertenwissen dringend benötigt wurde, aber die Entscheidung darüber, welche Strategie in die Tat umgesetzt wurde, keineswegs von den Fachleuten getragen wurde, sondern von den politischen Instanzen. Unmittelbar nach dem Krieg waren nicht nur die Spezialkenntnisse über die ‚politischgeschichtliche Wirklichkeit der Völker und Räume‘ obsolet, sondern auch die Zielsetzungen der Forschung wurden bescheidener formuliert. Die Arbeit galt jetzt nicht mehr dem ‚Wesen des Islams‘, sondern der Erstellung grundlegender Lexika, Handbücher und Atlanten.32 Die Kongressbände der Berliner Arbeitstagung, die 1944 erschienen, erfuhren keine Rezensionen in der Literatur. Der Versuch des britischen Orientalisten D.C. Rice, die orientalistische Literatur aus der Zeit des ‚Dritten Reichs‘ zusammenzustellen, kam über das Planungsstadium nicht hinaus. Es erfolgten mithin nach 1945 keine fachinternen Diskussionen über das erhaltenswerte und das problematische Erbe der Disziplin.
30 31 32
Der Antrag vom 8.5.1941, der von R. Hartmann und dem Afrikanisten D. Westermann unterstützt wurde, befindet sich in den Akten der Akademie der Wissenschaften im Geheimen Staatsarchiv BerlinDahlem. Hans Ulrich Seidt, Berlin, Kabul. Moskau – Oskar Ritter von Niedermayer und Deutschlands Geopolitik, München 2002, S. 318. Johann Fück, Die arabischen Studien in Europa in: BASI (1944), S.251; ders., Die arabischen Studien in Euroa vom 12. bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts, (1955), S.327/8.
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ten, in: ZDMG, Bd. 90/1936; Klaus-Detlev Grothusen (Hrsg.), Der Scurla-Bericht. Die Tätigkeit deutscher Hochschullehrer in der Türkei 1933-1939, Frankfurt 1987; Ludmila Hanisch, Die Nachfolger der Exegeten – Deutschsprachige Erforschung des Vorderen Orients in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 2003; Richard Hartmann und Helmuth Scheel (Hrsg.), Beiträge zur Arabistik, Semitistik und Islamwissenschaft, Leipzig 1944; Frank-Rutger Hausmann, „Auch im Krieg schweigen die Musen nicht“ – Die Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2001; Horst Junginger, Ein Kapitel Religionswissenschaft während der NS-Zeit: Hans Alexander Winkler (19001945), in: ZEITSCHRIFT FÜR RELIGIONSWISSENSCHAFT, Bd. 3/1995; Joël H. Kraemer, The death of an orientalist: Paul Kraus from Prague to Cairo, in: Martin Kramer (ed.), The Jewish Discovery of Islam. Studies in Honor of Bernard Lewis, Tel Aviv 1999; Klaus Kreiser, Gotthard Jäschke (1894-1983): Von der Islamkunde zur Auslandswissenschaft, in: DIE WELT DES ISLAMS, Vol. 38/1998; Jan Kuhlmann, Subhas Chandra Bose und die Indienpolitik der Achsenmächte, Berlin 2003; Baber Johansen, Politics and Scholarship: The Development of Islamic Studies in the Federal Republic of Germany, in: Tareq Y. Ismael (ed.), Middle Eastern Studies, International Perspectives of the Art, New York 1990; Mark Lidzbarski, Auf rauhem Wege – Jugenderinnerungen eines deutschen Professors, Giessen 1927; Enno Littmann, Der deutsche Beitrag zur Wissenschaft vom Vorderen Orient, Reihe: DER DEUTSCHE BEITRAG ZUR GESTALTUNG UND ERFORSCHUNG DER ENGLISCHEN KULTUR, Stuttgart 1942; Julia Männchen, Gustaf Dalman als Palästinawissenschaftler in Jerusalem und Greifswald 1902- 1941, Wiesbaden 1993; Ulrich Marsch, Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft – Gründung und frühe Geschichte 1920-1925, Frankfurt 1994; Bruno Meissner, Verleumdung, Zeuthen 1933 (Selbstverlag des Autors); Wolfgang Morgenroth, Das Seminar für Orientalische Sprachen in der Wissenschaftstradition der Sektion Asienwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin, in: BEITRÄGE ZU GESCHICHTE DER HUMBOLDT-UNIVERSITÄT ZU BERLIN, Bd. 25/1990; Francis R. Nicosia, The Third Reich and the Palestine Question, Austin Texas 1985; Rudi Paret, Arabistik und Islamkunde an deutschen Universitäten, Wiesbaden 1966; Franz Praetorius, Rede gehalten am 2. October 1895, in: ZDMG, Bd. 49/1895; Johannes Renger, Geschichte der Altorientalistik und der vorderasiatischen Archäologie in Berlin 1875 bis 1945, in: Berlin und die Antike - Textband zur Ausstellung, Berlin 1979; Franz Rosenthal, Die Lidzbarski-Goldmedaille, in: ZDMG, Bd. 148/ 1998; Eduard Sachau, Orientalische Philologie (mit Ausschluss der indischen), in: Willibald Lexis (Hrsg.), Die Universitäten im Deutschen Reich, Berlin 1904; Hans Heinrich Schaeder (Hrsg.), Der Orient in deutscher Forschung, Leipzig 1944; ders.(Hrsg.), Die deutsche Orientforschung, ihre Gegenwartsbedeutung und ihre Gegenwartsaufgaben, Berlin 1936; Rüdiger Schmitt, Iranian Studies in German: Pre-Islamic Period, in: E. Yarshater, op. cit., S. 530-543; Hans Ulrich Seidt, Berlin, Kabul. Moskau – Oskar Ritter von Niedermayer und Deutschlands Geopolitik, München 2002; Hans Ulrich Seidt, Berlin, Kabul. Moskau – Oskar Ritter von Niedermayer und Deutschlands Geopolitik, München 2002; Gabriele Teichmann & Gisela Völkel (Hrsg.), Faszination Orient – Max von Oppenheim, Forscher, Sammler, Diplomat, Köln 2001; Siegfried Wölffling, Untersuchungen zur Geschichte und Organisation der deutschen archäologischen Forschung im Vorderen Orient, Habilitationsschrift Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 1968.
SINOLOGIE HARTMUT WALRAVENS Das Thema ist aus einer Reihe von Gründen nicht schlüssig zu bearbeiten: – 1933 bestanden lediglich drei Lehrstühle in Deutschland (Hamburg, Berlin, Leipzig), von denen der Leipziger Vertreter hauptsächlich japanologisch arbeitete. Darüber hinaus gab es einige Privatdozenten und (chinesische) Lektoren, so dass eine Beschränkung auf diese akademische Sinologie ein einseitiges Bild gäbe. Die chinesischen Lektoren betätigten sich als Ausländer ohnehin nicht in der deutschen Politik. – Wie es heute selbstverständlich ist, so deutete sich damals bereits die Spezialisierung in Fachdisziplinen an, so im Bereich der ostasiatischen Kunst, beim Recht, Ethnologie usw. Daneben gab es eine Reihe von Amateuren, die indes sehr ernsthaft arbeiteten, und eine Reihe von Fachleuten im Bibliotheks- und Museumsdienst. Wenn man alle diese mit den Chinawissenschaften Verbundenen rechnet, so ergibt sich schon eine ansehnlichere Zahl von Repräsentanten. Es ist schwer, dabei Grenzen zu ziehen; hier bietet sich das Kriterium des chinesischen Sprachstudiums an, das allerdings auch nicht sehr befriedigend ist. – Ein sehr hoher Prozentsatz der Sinologen/Chinainteressierten ist emigriert oder befand sich während der Zeit des Nationalsozialismus im Ausland und strebte nicht nach Rückkehr (bzw. hatte während des Weltkrieges auch keine Möglichkeit dazu). – Bei den Emigranten bzw. im Ausland Verbliebenen lässt sich nur in einem Teil der Fälle eine Emigration aus politischen oder «rassischen» Fällen konstatieren. – Erst in jüngster Zeit hat es eine Reihe historischer Untersuchungen zur Fachgeschichte gegeben, wodurch ein Anfang gemacht ist. Eine gründliche Erfassung und Auswertung weiterer Archivmaterialien und nicht zuletzt eine Prüfung des Document Centre (Berlin) bezüglich der Mitgliedschaft in NS-Organisationen steht noch aus. So lässt sich einstweilen nur eine Literaturübersicht geben, die das bislang vorliegende Material erschließt und wertet. In einem zweiten Teil werden in alphabetischer Reihenfolge die ermittelten Personen kurz vorgestellt, wobei die bisher im Kontext der Wissenschaftsgeschichte weniger bekannten oder behandelten Namen etwas ausführlicher erläutert werden. Die vorliegende Datensammlung macht deutlich, wie viel Grundlagenforschung noch zu leisten ist. Abkürzungen: AA Artibus Asiae CAJ Central Asiatic Journal HJAS Harvard Journal of Asiatic Studies JA Journal asiatique JAOS Journal of the American Oriental Society IBD International Biographical Dictionary of Central European emigrés 1933-1945. Vol. 2. 1983 MS Monumenta Serica NDB Neue Deutsche Biographie NOAG Nachrichten der Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens OAR Ostasiatische Rundschau
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OE OLZ RGG TP UaJb WZKM ZDMG
Oriens extremus Orientalistische Literaturzeitung Religion in Geschichte und Gegenwart T‘oung Pao Uralaltaische Jahrbücher Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft
Geschichte der Sinologie Eine Geschichte der deutschen Sinologie existiert noch nicht. Eine sehr nützliche Kurzdarstellung im wesentlichen der akademischen Sinologie hat Herbert Franke vorgelegt: Sinologie an deutschen Universitäten (Wiesbaden: Steiner 1968. 58 S.). David B. Honey: Incense at the altar: pioneering sinologists and the development of classical Chinese philology. Provo, UT: Brigham Young Univ. 1997. 405 S. (ohne Bibliogr. und Reg.) ComputerAusdruck, bezeichnet als «revised edition». Ursprünglich: New Haven 1995, XXV, 359 S. (American Oriental Series. 86.) Es sind darin behandelt: E. Haenisch (179-181), E. Erkes (183-184), F. Jäger (185-186), B. Schindler (189-193), W. Simon (193-194), G. Haloun (195-196, 203-206), E. v. Zach (206-208), F. Lessing (209). Die Emigration wird in einem Vorspanntext erwähnt (187-188). Françoise Kreissler: L’action culturelle allemande en Chine. De la fin du XIXe siècle à la Seconde Guerre mondiale. Paris: Ed. de la Maison des Sciences de l’homme 1989. 355 S. Die deutsche kulturelle Präsenz wird insbesondere anhand der Schulen und der Presse dargestellt. Mit zahlreichen Anhängen, umfassender Bibliographie, Register sowie Illustrationen. Eine abgewogene, kritische Darstellung. Das Deutschland-Institut ist S. 184 ff. behandelt; zu den Projekten eines deutschen Forschungsinstituts (S. 179-184) vgl. inzwischen H. Walravens: Ein deutsches Forschungsinstitut (s.u.). Dem Einfluss des Nationalsozialismus wird die gebührende Aufmerksamkeit gezollt; dabei spielt freilich die Sinologie nur eine untergeordnete Rolle, nämlich insoweit Sinologen am Deutschland-Institut oder anderwärts in China, meist nur kurzzeitig, tätig waren. Ergänzend: Françoise Kreissler: Nationalsozialisten in China. Ein verdrängtes Kapitel der deutsch-chinesischen Beziehungen? China: Nähe und Ferne. Deutsch-chinesische Beziehungen in Geschichte und Gegenwart. Zum 60. Geburtstag von Kuo Heng-yü. Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris: Peter Lang 1989, 265-274 Wolfgang Franke: The younger generation of German sinologues. MS 5.1940, 437-446 Hellmut Wilhelm: German sinology today. Far Eastern Quarterly 8. 1949, 319-322 Beides sind kurze fachliche Übersichten, die den Fachkollegen Information über Arbeiten und Publikationen geben sollen. Ein expliziter Bezug auf die NS-Zeit fehlt.
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Hans-Wilm Schütte: Die Asienwissenschaften in Deutschland. Geschichte, Stand und Perspektiven. Hamburg 2002. 460 S. (Mitteilungen des Instituts für Asienkunde Hamburg. 353.) Entsprechend der traditionellen Definition des Instituts für Asienkunde (Hamburg) umfasst der Band Indien, Südostasien und Ost- und Zentralasien. Die Fülle des Stoffs führt naturgemäß zu einer weitgehend überblicksartigen Darstellung. Ausführliche Bibliographie sowie Index. Mehrere Tabellenanhänge, so «Indologische Lehrstuhlinhaber bis 1950», «Asienwissenschaftliche Lehrkräfte im Winter 1941/42», «Japanologen und Sinologen im Bericht des Reichsministeriums von 1942» usw. Die Zeit des Nationalsozialismus ist auf 35 Seiten abgehandelt (S. 120 ff.), Sinologie allerdings nur auf 8 Seiten, wovon ein großer Teil auf ein Referat der Untersuchungen über die Emigranten entfällt. Wolfgang Franke: In Banne Chinas. Autobiographie eines Sinologen. 1912-1950. Dortmund: Projekt Verlag 1995. 248 S. Wolfgang Franke, Sohn des bekannten Sinologen Otto Franke, war zeitweise Leiter des Deutschland-Instituts in Peking und berichtet in seinen Memoiren offen und abgewogen über die Zeitverhältnisse und die Arbeit des Instituts sowie andere Sinologen, z. B. A. Hoffmann. Clavis sinica. Zur Geschichte der Chinawissenschaften. Ausgewählte Quellentexte aus dem deutschsprachigen Raum. Zusammengestellt von Helmut Martin und Maren Eckhardt. Bochum: Ruhr-Universität, Sektion Sprache und Literatur China 1997. 324 S. Eine Zusammenstellung von publizierten Aufsätzen, die als Hintergrund- und Informationsmaterial für die Tagung der DVCS 1997 bestimmt war (vgl. folgenden Eintrag). Helmut Martin und Christiane Hammer (Hrsg.): Chinawissenschaften. Deutschsprachige Entwicklungen. Geschichte, Personen, Perspektiven. Referate der 8. Jahrestagung 1997 der Deutschen Vereinigung für Chinastudien (DVCS). Hamburg 1999. 678 S. (Mitteilungen des Instituts für Asienkunde. 303) Der umfangreiche Band ist wie folgt gegliedert: I. Wissenschaftstheorie, methodische Ansätze, Chinabilder. II. Rückblick in die Geschichte. III. Nachkriegsentwicklungen in Ost- und Westdeutschland. IV. China-Wissenschaftler, China-Autoren. V. Ausblick ins Umfeld: Die europäische Perspektive. VI. Bibliotheks- und Übersetzungswesen. Die Zeit des Nationalsozialismus betreffende Beiträge sind: Thomas Harnisch: Unterlassungssünden der Sinologie? Beiträge und Anregungen chinesischer Studierender zur Chinawissenschaft in der Zeit vor 1945; Thomas Jansen: Einige Hinweise und Fragen zur Arbeit des Deutschland-Instituts in Peking 1933-1945; Astrid Freyeisen: Chinakunde oder Mittel zum Zweck für Propagandisten? Zur Funktion deutscher kulturpolitischer Institutionen in Shanghai während des Dritten Reiches; Martin Kern: Die Emigration der Sinologen 1933-1945. Wolfgang Franke: Einige Bemerkungen zu Helmut Martin und Christiane Hammer (Hrsg.): Chinawissenschaften. Hamburg 1999. Asien. 76. 2000, 115-118 Franke nimmt zu einigen Beiträgen (Jansen, Merker, Kern u.a.) Stellung und korrigiert und erklärt Sachverhalte, insbesondere bezüglich des Deutschland-Instituts und Alfred Hoffmanns.
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Auch stellt er fest, dass Max Loehr nicht Parteimitglied war, ebensowenig Walther Heissig (s.u.). Bernhard Führer: Vergessen und verloren. Die Geschichte der österreichischen Chinastudien. (Dortmund:) Projekt Verlag (2001). VI, 371 S. (Edition Cathay. 42) Rez: OLZ 97. 2002, 664-666 Gut recherchierte, umfassende und abgewogene Darstellung, die als Habilitationsschrift (Universität Bochum) des Autors gedacht war; es gelang Helmut Martin indes nicht, die Bochumer Fakultät vom unbestreitbaren Wert dieser historischen Arbeit zu überzeugen. Hartmut Walravens: Haben Sie Ihre Bibliothek retten können? Ein sinologischer Briefwechsel aus der Nachkriegszeit . NOAG 179/180.2006, 281-373 Briefe u.a. von Bünger, Erkes, O. Franke, Haenisch, Franz Kuhn, Liebenthal, Unkrig. Sie beziehen sich vielfach auch auf die Kriegszeit. Institutionen H. Walravens: Ein deutsches Forschungsinstitut in China. NOAG 171/172. 2002, 109-223 Behandelt insbesondere die Bemühungen Ernst Boerschmanns um die Errichtung eines deutschen Forschungsinstituts (1910-1912). Solche Pläne wurden zeitweise auch von Herbert Mueller («Richthofen-Institut» – mit W. Schmidt, F. Solger und R. Wilhelm; 1914) und Richard Wilhelm (1921: Pekinger Orient-Institut) entwickelt. Während des Zweiten Weltkriegs erneuerte Boerschmann (1942-1943) seine Vorschläge und gewann die Unterstützung von Fritz Jäger und Wilhelm Gundert. Auch die Deutsch-Asiatische Gesellschaft hatte 1914 ein Deutsches China-Institut geplant, das indes der Wirtschaftsförderung dienen sollte. H. Walravens: Dokumente zur Geschichte des Frankfurter China-Instituts aus den Jahren 1930 bis 1949. NOAG 163/164. 1998, 77-171 Der vorgelegte Briefwechsel, hauptsächlich zwischen dem Hamburger Ordinarius Fritz Jäger und Erwin Rousselle, Direktor des China-Instituts, beleuchtet auch die Entwicklung der Sinologie in Deutschland. Insgesamt 73 Dokumente. Geschichte der Sinologie der FU Berlin Sinologie an der Berliner Universität und der Freien Universität Berlin – ein Überblick www.fu-berlin,de/sinologie/geschih/geschich1/html Erwähnt Wilhelm Schott, G. v. d. Gabelentz, W. Grube, J. J. M. de Groot, O. Franke, E. Hauer, E. Schmitt, W. Simon, E. Haenisch, F. Hübotter, O. Kümmel (von der «Ostasiatischen Zeitung» [!], J. Witte, F. W. K. Müller, G. Wegener. Über die Nazi-Zeit heißt es: «Im Nationalsozialismus erfolgte eine am Interesse der Nutzbarmachung auslandswissenschaftlicher Kenntnisse für die nationalsozialistische Außenpolitik orientierte Reorganisation des SOS [Seminar für Orientalische Sprachen]: Es wurde 1938 in Auslandshochschule umbenannt, die 1940 mit der Deutschen Hochschule für Politik zur Auslandswissenschaftlichen Fakultät zusammengeschlossen wurde. Der Nationalsozialismus wirkte auch in das Fach Sinologie hinein: Erich Haenisch mußte aufgrund seines Eintretens für diskriminierte und verfolgte Sinologen (den 1935 wegen seiner jüdischen Abstammung entlassenen Walter Simon und den in Bu-
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chenwald inhaftierten und später ermordeten Henri Maspero1 eine Beeinträchtigung seiner beruflichen Karriere in Kauf nehmen.» Erich Haenisch: Die Sinologie an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität in den Jahren 1889-1945. Studium Berolinense. Aufsätze und Beiträge zu Problemen der Wissenschaft und zur Geschichte der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin. Berlin: W. de Gruyter 1960, 554-556 Behandelt: Georg v. d. Gabelentz 1889-93; Wilhelm Grube 1889-1909 [i.e. 1908]: J. J. M. de Groot 1912-21; Otto Franke 1923-31; Erich Haenisch 1932-45, in jeweils kurzen Skizzen. Herbert Franke: Chinakunde in München. Rückblick und Ausblick. Chronik der Ludwig-Maximilians-Universität München 1967/1968, 109-115 In München war die Sinologie zur Zeit des Nationalsozialismus nicht vertreten. Franke geht aber ausführlich auf seinen Amtsvorgänger Erich Haenisch ein. Christina Leibfried: Sinologie an der Universität Leipzig. Entstehen und Wirken des Ostasiatischen Seminars 1878-1947. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt (2003). 212 S. (Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte. B 1.) Ausführliche Darstellung auf Grund der Quellen. Georg von der Gabelentz, August Conrady, Erich Haenisch, André Wedemeyer und Eduard Erkes werden schwerpunktmäßig behandelt. Dabei werden politische Aspekte insoweit einbezogen, als sie durch die Aktenlage gestützt werden. Sinologische Traditionen im Spiegel neuer Forschungen. Herausgegeben von Ralf Moritz. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 1993. 226 S. Abhandlungen eines Symposiums aus Anlass des Gedenkens an Eduard Erkes; darin: Verzeichnis der Arbeiten [und Lehrveranstaltungen] Eduard Erkes’. 12-29 Erika Taube: Erich Haenisch – ein Beispiel für Zivilcourage. 179-189 Ostasieninstitut Berlin. OAR 1943, 123 Mitteilung über die Gründung des Ostasieninstituts, «in wissenschaftlicher Zusammenarbeit mit dem Deutschen Auslandswissenschaftlichen Institut eine Reihe von Forschungsaufgaben übernehmen soll». Der Leiter des Instituts, der Japanologe Walter Donat (1898-1970) wird ausführlich vorgestellt. Das Deutschland-Institut in Peking. OAR 13. 1932, 362; OAR 1933, 284 Berichte über die Errichtung des auf Initiative von Cheng Shou-lin2 鄭壽麟 gegründeten Deutschland-Instituts in Peking zur Förderung der deutsch-chinesischen Kulturbeziehungen; Geschäftsführer wurde Hellmut Wilhelm. Thomas Jansen: Einige Hinweise und Fragen zur Arbeit des Deutschland-Instituts in Peking 1943-1945. Chinawissenschaften, 185-201 1 2
Vgl. Paul Demiéville: Henri Maspero (1883-1945). JA 234. 1945. 1, S. 245-280. In Deutschland wurde er durch sein Büchlein Chinesische Frauengestalten. Leipzig: Asia Major 1926. 133 S. bekannt.
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Darstellung auf Grund von Aktenmaterial; vgl. aber W. Franke: Im Banne Chinas, sowie W. Franke: Asien. Nazi-Zeit Quelle: Bericht des Reichsministeriums über die Lage der Sinologie und Japanologie in Deutschland. 1942. Newsletter Frauen und China 7. 1994, 1-17 Dieses wichtige Dokument ist nicht was der Titel des Herausgebers verspricht, sondern ein Bericht des Staatssicherheitsdienstes für die Parteikanzlei der NSDAP. Es wird deutlich, dass aus politischen Gründen mehr Ostasienwissenschaftler gebraucht werden, aber die Personalressourcen wegen Emigration und Kriegsverwendung sehr geschmälert sind. Als Hauptfeind wird die Katholische Mission, insbesondere die SVD ausgemacht, die u.a. mit den beiden Fachzeitschriften Monumenta Serica und Monumenta Nipponica die Szene dominiere. Dann werden Institutionen und Personen aus fachlicher und nationalsozialistischer Sicht kritisch beleuchtet. Die Wertung ist vorsichtig und scheint auf Informationen aus Fachkreisen zurückzugehen. Es werden insbesondere folgende Personen genannt: O. Franke, E. Haenisch, F. Jäger, A. Forke, O. Kümmel, M.G. Pernitzsch, W. Trittel, W. Seuberlich, E. Schmitt, E. Rousselle, C. Hentze, W. Eichhorn, H. Stange, A. Wedemeyer, J. Schubert, W. Fuchs, A. Rosthorn, E. Diez, W. Franke, A. Hoffmann, I. Martin, M. Löhr, H. Wist, H. Franke, P. Olbricht, W. Speiser, E. Boerschmann. H. Walravens: Streiflichter auf die deutsche Sinologie 1938-1943 sowie drei Dokumente zur deutschen Japanologie. NOAG 165/166. 1999, 189-222 Der Beitrag enthält Briefwechsel Fritz Jägers bezüglich H. O. H. Stange wie auch ein Schriftenverzeichnis Stanges. Außerdem eine Reihe von Gutachten Jägers für das Reichsministerium: Hoffmann, Pernitzsch, Lessing, Stange, Eichhorn, Fuchs, Schmitt, Eberhard. Diese stammen aus der 2. Hälfte 1942 sowie aus der ersten Hälfte 1943. Dazu ein Bericht über die Lage der deutschen Sinologie vom April 1943 auf Anforderung des Ministeriums vom Febr. 1943. Es ist denkbar, dass es sich bei diesen Dokumenten um eine Reaktion auf den im August 1942 dem Reichsministerium für Wissenschaft etc. bekanntgemachten Bericht des Staatssicherheitsdienstes (s.o.) handelt. Brief von Alfred Forke an Benno Greiser, 2. August 1942 In: Bernhard Führer: Vergessen und verloren. Bochum: Projekt Verlag 2001. (Edition Cathay. 42), 197-202 Forkes Brief an den Sinologen Greiser (aber eigentlich für den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Wien bestimmt) spricht einiges ganz offen aus, was in den anderen Dokumenten eher verhalten angedeutet wird. «An jungen Sinologen herrscht augenblicklich ein großer Mangel. Die N.S. Parteileitung ist dafür verantwortlich, da sie so viele junge Gelehrte aus politischen Gründen abgesägt hat. Die Regierung möchte jetzt die japanischen und chinesischen Studien, welche bisher gegenüber anderen orientalischen Sprachen sehr vernachlässigt wurden, neu beleben, weil Ostasien in unserer Politik eine große Rolle zu spielen beginnt und man mehr über diese Länder wissen möchte.» Er erwähnt eine Konferenz in Weimar und Verhandlungen von F. Jäger und W. Gundert, die offenbar das Vertrauen des Ministeriums hätten, mit dem Dozentenbund und der Partei. Man habe vorgeschlagen, die Asia Major neu zu beleben und fünf neue Professuren einzurichten. Dann wird kurz die Lage der bedeu-
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tendsten Sinologen charakterisiert: Schindler, Erkes, Haloun, Rousselle, Balázs, Eberhard, Simon, Eichhorn, Fuchs, Hoffmann, W. Franke. Roland Felber: Zwischen Anpassung und Widerstand. Notizen über Schicksale von Ostasienwissenschaftlern in der NS-Zeit. Berliner China-Hefte. Beiträge zur Gesellschaft und Geschichte Chinas. 10. 1996, 80-86 Abdruck in Clavis sinica, a.a.O., 86-92 Felber (1935-2003) beleuchtet die deutschen Ostasienwissenschaften während der Nazi-Zeit und geht insbesondere auf folgende Personen ein: Erkes, Behrsing, Simon, Trittel, Pernitzsch, Stange, Jäger, Schindler, Eberhard, G. Mehnert (Japanologe), Hans Überschaar (Japanologe in Leipzig), Adolf Reichwein und Philipp Schaeffer. H. Walravens: Ostasiatische Sprachen an deutschen Gymnasien: Marginalie zu einem deutschen Schulversuch im Jahre 1944. NOAG 147/148. 1990, 83-91 Gibt das Protokoll einer Arbeitsbesprechung des Ostasienkreises in der Adolf-Hitler-Schule Sachsen in Pirna vom 25. bis 27. Oktober 1943 (in Zusammenarbeit mit dem Ostasien-Institut) wieder. Chinesisch und Japanisch wurden im Oktober 1944 am Joachimsthalschen Gymnasium in Templin eingeführt. Ostasien-Tagung deutscher Wissenschaftler in Berlin. OAR 1943, 124 Bericht über eine am 29. u. 30.9.1943 in Berlin stattgehabte Tagung, bei der u.a. «Der Präsident des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts und Leiter der kulturpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, Gesandter Professor Dr. Six»3 (Aufgaben der Ostasienkunde für die Deutsche Kulturpolitik) sowie der Breslauer Anthropologe Egon von Eickstedt (Die Herkunft der Thai) referierten. Emigration IBD International Biographical Dictionary of Central European emigrés 1933-1945/ Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Ed. by Herbert A. Strauss and Werner Röder. Teil 2. München: K.G. Saur 1983. XCIV, 1316 S. Umfassendes biographisches Nachschlagewerk, das auch eine Reihe von Sinologen und China-Interessierten umfasst. H. Walravens: Deutsche Ostasienwissenschaftler und Exil (1933-1945). Bibliographie und Berichte. Festschrift für Werner Schochow. München: Saur 1990, 231-266 Ein erster Versuch einer systematischen Übersicht, angeregt durch eine nähere Beschäftigung mit dem Kunsthistoriker und Museumsdirektor Curt Glaser sowie der persönlichen Bekanntschaft mit Wolfram und Alide Eberhard, Ruth Krader und Walter Simon. Utz Maas: Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933-1945. Band 1. Osnabrück: Secolo Verlag 1996. 288 S. 3
Vgl. Lutz Hachmeister: Der Gegnerforscher: die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six. München: Beck 1998. 414 S. – Six, 1909-1975, trat 1930 in die NSDAP und SA ein, wurde 1935 Amtsleiter im Reichssicherheitshauptamt und 1939 Dekan der auslandswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin. Er wurde nach Kriegsende zu 20 Jahren Haft verurteilt, aber 1952 vorzeitig entlassen.
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Sehr gründliche Arbeit, die einen Überblick über die Gelehrten, die Repressionsmaßnahmen sowie die unterschiedlichen Motive und Modalitäten der Emigration (Push- und Pull-Faktoren) gibt. Der Begriff Sprachforscher ist sehr allgemein aufgefasst, so dass auch Sinologen, Indologen usw. berücksichtigt sind. Der biographische Teil im vorliegenden Band umfasst die Buchstaben A-F; als einziger Sinologe ist darin Eduard Erkes (S. 259-261) mit einer Biographie enthalten. – Das weitere Projektmaterial (Universität Osnabrück) ist aus Mangel an Veröffentlichungsmöglichkeit nicht erschienen. Martin Kern: The emigration of German sinologists, 1933-1945. Notes on the history and historiography of Chinese studies. JAOS 118. 1998, 507-529 Der Autor behandelt die Problematik der Emigration der Sinologen und die Spiegelung dieser Tatsache in den Darstellungen zum Stand der Sinologie sowohl aus den dreißiger Jahren wie aus der Nachkriegszeit und vermisst sowohl eine deutliche Konstatierung des Phänomens wie erst recht eine historische Aufarbeitung. In einem biographischen Teil verzeichnet er alphabetisch Kurzbiographien von Emigranten, wobei er den Kreis enger fasst als Walravens a.a.O. Er diskutiert auch die (im Gegensatz zu anderen Fächern) nicht erfolgte Rückkehr von Emigranten. Folgende Personen sind mit Kurzbiographien vertreten: Bachhofer, Balázs, William Cohn, Cohn-Wiener, Eberhard, Ecke, Frankel, Haloun, Ruth Krader, Lessing, Liebenthal, Mänchen-Helfen, Franz Michael, Misch, Hugo Munsterberg, Reifler, Salmony, Schindler, Schirokauer, Schwarz, Simon, Stein, Steinen, Veith, Hellmut Wilhelm, Wittfogel, Ernst Wolff. Martin Kern: Die Emigration der Sinologen 1933-1945. Zur ungeschriebenen Geschichte der Verluste. Chinawissenschaften, 222-242 Die Darstellung ist weitgehend identisch mit der englischsprachigen Version. Zeitschriften: H. Walravens: Ostasiatische Zeitschrift (1912-1943), Mitteilungen der Gesellschaft für Ostasiatische Kunst (1926-1943). Bibliographie und Register. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2000. XIII, 206 S. (Orientalistik Bibliographien und Dokumentationen. 10.) Die Ostasiatische Zeitschrift wurde von Otto Kümmel und William Cohn herausgegeben, zwei Schlüsselfiguren der ostasiatischen Kunstgeschichte, und nahm nicht nur kunsthistorische Beiträge auf. Nach Cohns Emigration (1938) wurde sie von Kümmel weiter betreut. H. Walravens: Kultur, Literatur, Kunst und Recht in der Ostasiatischen Rundschau (19201944). Eine Bibliographie. Berlin: Bell 1991. III, 155 S. 4o (Han-pao tung-Ya shu-chi mu-lu. 4o.) Die Ostasiatische Rundschau wurde von mehreren auf Ostasien bezogenen Institutionen herausgegeben und hatte einen Schwerpunkt bei der Berichterstattung über Wirtschaft und Politik. Wichtig sind aber auch der Kulturteil und die (hier nicht ausgewerteten) Personalnachrichten. H. Walravens: Asia Major (1921-1975), eine deutsch-britische Ostasienzeitschrift. Bibliographie und Register. Wiesbaden: Harrassowitz 1997. 166 S.
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(Orientalistik Bibliographien. 2.) Hier wird die von Bruno Schindler herausgegebene Zeitschrift erschlossen; zugegeben ist das eine Heft der Neuen Folge (1944), die auf die Initiative von Fritz Jäger und Wilhelm Gundert erschien. H. Walravens: Sinica und andere periodische Publikationen des Frankfurter China-Instituts. Bibliographie und Register, 1925-1942. Bearbeitet von Hartmut Walravens. München: Kraus International Publications (1981). 194 S. 8o (Orientalische Bibliographien. 2.) Die Sinica, die Mitteilungen des China-Instituts sowie der Deutsch-Chinesische Almanach wurden bis 1930 von Richard Wilhelm herausgegeben. Danach übernahm Erwin Rousselle als Nachfolger Wilhelms die Verantwortung für die Publikationen, wozu noch die Sinica Sonderausgaben kamen, während die praktische Schriftleitung ab 1936 in den Händen von W. A. Unkrig lag. Die ost- und zentralasienwissenschaftlichen Beiträge in der Orientalistischen Literaturzeitung. Bibliographie und Register, 1898-1975. Bearbeitet von Hartmut Walravens. München: Kraus International Publications (1980). VIII, 217 S. 8o (Orientalische Bibliographien. 1.) Inhaltsbibliographie dieses wichtigen Referateorgans. Eric Bott: The XXth Century, Shanghai, 1941-1945. A guide. Berlin: Staatsbibliothek 2004. 73 S. (Neuerwerbungen der Ostasienabteilung. Sonderheft. 5.) Klaus Mehnert veröffentlichte im Auftrag des Auswärtigen Amtes diese deutsche Kulturzeitschrift in Shanghai, die indes keine politische «Schlagseite» zeigt und gerade durch diese Seriosität als Kulturpropaganda dienen sollte. Sie enthält auch Beiträge von Sinologen wie Alfred Hoffmann und Ilse Martin; Mehnert klagte allerdings über mangelnde Bereitschaft deutscher Sinologen, Artikel zu liefern. Zur Zeitschrift vgl. die (unveröffentlichte) Magisterarbeit von Christian Taaks: Die Zeitschrift The XXth Century, Shanghai 1941-1945. Deutsche Kulturpropaganda in Fernost inmitten zweier Kriege (Berlin: Freie Universität 1992.) Zu Mehnerts eigener Darstellung vgl. die Autobiographie: Ein Deutscher in der Welt. Erinnerungen 1906-1981. Stuttgart: DVA 1981. 447 S. Personen Die folgenden kurzen Anmerkungen sollen nur die Einordnung in den größeren Kontext zu China geben; sie sind nicht als biographische oder fachliche Würdigungen gedacht, zu denen vielmehr die Literaturangaben führen. Soweit aus den vorliegenden Quellenmaterialien ersichtlich, wird die Einstellung zum NS-Staat apostrophiert. Wie bereits festgestellt, steckt die Forschung hier erst in den Anfängen; die Nachrufe tendieren zur Hagiographie und blenden Politisches oder Diskreditierendes aus. Natürlich sind nur Personen aufgenommen, deren Wirkungszeit in die Zeit 1933-1945 (Österreich: 1938-1945) fällt. Schweizer sind nicht berücksichtigt. Ruheständler (z.B. Alfred Forke und O. Franke), im Berichtszeitraum Verstorbene (z.B. Hauer) sowie im Ausland (außer China) Lebende (z.B. Lessing) sind aufgenommen, desgleichen Vertreter der Zentralasienwissenschaften, da sie des Chinesischen meist mächtig waren und ihre Arbeit mit der Sinologie enge Verbindungen hat (Beispiel: Baruch, Poppe). Am zwei-
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felhaftesten ist die Verzeichnung von Journalisten (z.B. Schenke) und Diplomaten (z.B. Randow); hier wurde der Akzent auf gute Chinakenntnis gelegt. Adam, Leonhard 1891-1960 Zeitschrift für Ethnologie 81. 1956, 311-314 (Trimborn); Walravens: Exil, 232. Amerikanist und Ethnologe, spezialisiert auf chinesische und zentralasiatische Kunst. Adam war Jurist, von 1928 bis 1933 Amtsgerichtsrat in Berlin-Charlottenburg. 1936 emigrierte er nach Großbritannien. 1940-1942 interniert, wurde er nach Australien deportiert, wo er an der Universität Melbourne als Kustos der ethnographischen Sammlungen und später als Lektor der Völkerkunde und Geschichte wirkte. Bachhofer, Ludwig 1894-1976 H. Walravens: Bibliographien zur ostasiatischen Kunstgeschichte in Deutschland. 1. Adolf Fischer, Frieda Fischer, Karl With, Ludwig Bachhofer. Hamburg: C. Bell 1983. 50 S. 4o (Hanpao tung-Ya shu-chi mu-lu. 21.) Bachhofer lehrte als Kunsthistoriker an der Universität München, emigrierte 1935 in die USA, wo er Professor an der University of Chicago wurde. Balázs, Etienne (Stefan) 24.1.1905-29.11.1963 Wolfgang Franke: Étienne Balazs in memoriam. OE 12. 1965, 1-5. 1 Porträt TP 51.1964, 247-261 (P. Demiéville) Timoteus Pokora: In memoriam Étienne Balázs (1905-1963). Archiv orientalní 32. 1964, 1-3 Études Song in memoriam Étienne Balazs. Éditées par Françoise Aubin. Série. 1. Histoire et institutions. 1-3. Paris, La Haye: Mouton 1970, 1971, 1976. 300 S. (mit Nachruf). Balázs hat die Entwicklung der Sinologie in Europa entscheidend geprägt, zunächst durch seine Berliner Dissertation Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte der T’ang-Zeit, die sozialwissenschaftliche Methoden in die Disziplin einführte, später durch seine Arbeiten zur Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte und das internationale Sung-Projekt. Balázs stammte aus Ungarn, studierte bei Otto Franke und emigrierte dann 1935, als Kommunist verfolgt, nach Frankreich, wo er auf dem Lande im Untergrund lebte. Nach dem Krieg wirkte er in Paris am Centre National de la Recherche Scientifique und an der Ecole Pratique des Hautes Études. 1960 und 1963 war er Gastprofessor in Hamburg. Baruch, Willy 1900-1954 Walravens: Exil 233 Baruch war der Sohn eines Herforder Fabrikanten, studierte Indologie und zentralasiatische Sprachen und wurde 1937 von Willibald Kirfel in Bonn promoviert. Er emigrierte nach Frankreich und überlebte im Untergrund. Er starb an einer nicht operierten Blinddarmentzündung. B. arbeitete buddhologisch und linguistisch; u.a. verfasste er einen (guten, aber nicht veröffentlichten) Katalog der Mandjurica der Bibliothèque nationale, Paris. Walravens: Exil 233; NOAG 129. 1981, 88 Behrsing, Siegfried 9.11.1903-5.4.1994 Roland Felber: Siegfried Behrsing (9. Nov. 1903- 5. April 1994) in memoriam. OE 37. 1994, 117-121
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Klaus Kaden: Siegfried Behrsing – 75 Jahre. asien, afrika, lateinamerika. 7. 1979, 369-370 B. war Schüler von Conrady und Weller und promovierte 1931 über einen chinesischen buddhistischen Text (Chung-tsi-king 眾集經); er war dann Assistent am Indischen Institut. 1937 wurde B. entlassen, weil er sich weigerte der NSDAP beizutreten. Er nahm daraufhin Werkverträge an und war 1939-1945 zum Zivildienst als Übersetzer des OKW verpflichtet. Nach Kriegsende im Museumsdienst, kam er 1953 als Wahrnehmungsprofessor mit Lehrauftrag für moderne chinesische Geschichte und Literatur an das Ostasiatische Institut der Humboldt-Universität Berlin, das er 1959-1969 als Direktor leitete. 1965 übernahm er den Lehrstuhl von Paul Ratchnevsky. B. war sozialistisch eingestellt und trat auch als Übersetzer aus dem Estnischen und Russischen hervor. Bernhardi, Anna 1868-1944 Anna Bernhardi: T‘ao Yüan-ming (365-428). Leben und Werk eines chinesischen Dichters. Mit einem Schriftenverzeichnis A. Bernhardis, Fragmenten ihres Tagebuchs aus China (19051912), einem Brief über das chinesische Schulwesen und Dokumenten über den Verkauf der Bibliothek Bernhardi. Hrsg. von H. Walravens. Hamburg: C. Bell 1985. XVII, 240, 153 S., 1 Porträt 4o (Han-pao tung-Ya shu-chi mu-lu. 19.) A. Bernhardi war Porträtmalerin in Potsdam; sie wurde durch den Boxeraufstand auf China aufmerksam, lernte Chinesisch und ging 1905 als Lehrerin an einer der neu gegründeten Mädchenschulen nach China, wo sie bis 1911 blieb. Danach arbeitete sie im Werkvertrag für das Museum für Völkerkunde in Berlin. Sie starb in der Evakuierung in Wriezen in der Altmark. In frühen Briefen und Tagebuchnotizen finden sich antijüdische Bemerkungen, wie damals «modern». Irgendein NS-Engagement ist nicht bekannt. Biallas, Franz-Xaver 1878-1936 Biallas war Schüler von Grube und Chavannes und hatte bei Conrady promoviert. Er beschäftigte sich insbesondere mit dem Dichter Ch‘ü Yüan. Er war Mitglied der Societas Verbi Divini und gründete die Zeitschrift Monumenta Serica in Peking. Bleichsteiner, Robert 6.1.1891-10.4.1954 R. Nebesky-Wojkowitz: Robert Bleichsteiner, 10. April 1954. WZKM 52. 1955, 269-271, Portr. Robert Bleichsteiner. A biographical sketch. Tentative bibliography. Hitherto unpublished studies and translations. E. J. Brill: Catalogue 202. The library of the late Robert Bleichsteiner. Leiden 1955. 4 S., Porträt Leopold Schmidt: Robert Bleichsteiner. Archiv für Völkerkunde 9. 1954, 1-7 Bleichsteiner war 1945-1953 Direktor des Wiener Museums für Völkerkunde; er ist als Tibetologe, Ethnologe und Kenner des Kaukasus hervorgetreten. Eines seiner bekanntesten Werke ist Die gelbe Kirche. Blomeyer, Fritz 1868Blomeyer war 1900-1903 in Tsingtao, 1911-1914 Dolmetscher der Deutschen Botschaft in Tôkyô. Seit 1922, als Fregattenkapitän a.D., wirkte er als Lektor für Chinesisch und Japanisch an der Universität Jena. «Bericht des Reichsministeriums», S. 11: «Politisch war Blomeyer als Offizier der kaiserlichen Marine, aus deren aktivem Dienst er 1919 ausschied, deutschnational eingestellt und ge-
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hörte der deutschnationalen Volkspartei bis zu deren Auflösung 1933 an. Für den Nationalsozialismus interessierte er sich kaum. Bis zum Ausbruch des Krieges habe er fast ständig Engländer als ‹zahlende Gäste› zur Erlernung der deutschen Sprache in seinem Hause aufgenommen.» Boerschmann, Ernst 8.2.1873-30.4.1949 F. Jäger: Ernst Boerschmann (1873-1949). ZDMG 99. 1945/1949, 150-156 NDB 2. 1955, 407 (W. Franke) Ein neues Schriftenverzeichnis liegt zur Publikation bereit. Boerschmann kam 1902 als Bauinspektor zur Ostasiatischen Besatzungsbrigade nach China und war fasziniert von der chinesischen Architektur. Mit einem Stipendium des Reichs bereiste er 1906-1909 China und nahm die Architekturdenkmäler auf. 1924 wurde er Honorarprofessor an der Technischen Hochschule in Charlottenburg (Berlin). 1933-1935 weilte er erneut in China. Er war um die Gründung eines deutschen Forschungsinstituts in China bemüht. Nach dem Krieg und der Suspendierung Fritz Jägers wurde Boerschmann die Hamburger Lehrstuhlvertretung übertragen. Wir verdanken B. eine Fülle von Publikationen zur chinesischen Architektur. Seine Bibliothek wurde von den Universitäten München und Köln angekauft. Bohner, Hermann 1884-1963 Wilhelm Gundert: Hermann Bohner zum Gedächtnis. OE 11. 1964, 1-8, Porträt Hermann Bohner: Arbeiten und Veröffentlichungen Ostasien betreffend. Osaka: Bohner 1955. 52 S. Kurt Meißner: Hermann Bohner zum Gedächtnis. NOAG 94. 1963, 5-6 Bohner ging 1914 als Missionar nach Tsingtao und geriet gleich in japanische Gefangenschaft, wo er Chinesisch studierte. Nach der Entlassung ging er für zwei Jahre nach Tsingtao zurück, wandte sich dann aber dauerhaft Japan zu. Er verbrachte sein ganzes Leben, nur unterbrochen durch zwei kurze Heimaturlaube, seit 1922 als Lektor für Deutsch an der Gaikokugo gakkô in Ôsaka. Er war ein Schwager des bekannten Sinologen Richard Wilhelm. Brandt, Conrad 1920W. Franke in Asien 115 Mit China kam er erst nach seiner Emigration, als Angehöriger eines US-Dienstes in Berührung. Er war in den frühen sechziger Jahren ein Semester lang Gastdozent in München. Er konzentrierte sich auf das zeitgenössische China (vgl. A documentary history of Chinese communism [mit B. Schwartz und J. K. Fairbank]. Cambridge: Harvard 1952, 552 S.) Bünger, Karl 1903-1997 Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. Karl Bünger. OE 20. 1973, 127-128, Porträt State and law in East Asia. Festschrift Karl Bünger. Wiesbaden: Harrassowitz 1981, 318 S. (mit Schriftenverzeichnis) Biographisches Wörterbuch des auswärtigen Dienstes: Bd 1, S.337-338. Vgl. auch Walravens: Haben Sie Ihre Bibliothek ... (17 Briefe) Bünger war Jurist4, Mitarbeiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts für internationales Recht und trat in den auswärtigen Dienst ein; die Kriegsjahre verbrachte er in Shanghai und Peking; nach 4
Vgl. die Dissertation: Das Wirksamwerden der Willenserklärung nach deutschem und ausländischem Recht. Berlin 1931. 67 S. Tübingen, Rechts- und wirtschaftswiss. Diss. v. 24. Febr. 1931.
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dem Krieg wirkte er als Professor in Tübingen (Habilitation 1951). Bünger war Parteimitglied seit 1933. Bulling, Anneliese 1900B. promovierte 1936 in Berlin mit: Die chinesische Architektur von der Han-Zeit bis zum Ende der T‘ang-Zeit (Lyon 1936, 58 S.). Emigrierte nach England, um ihrem «nichtarischen» Freund, dem Architekten Erwin Gutkind zu folgen. Später heirateten sie und zogen nach Philadelphia. W. Franke in Asien 115. Cohn, William 22.6.1880-20.2.1961 George Hill: Bibliography Dr. William Cohn. In honour of his seventy-fifth birthday 22 June 1955. Oxford 1956. Lexikon deutsch-jüdischer Autoren. 5. 1997, 250-253 Peter C. Swann in Oriental Art NS 7. 1961, 90 IBD II, 192 Wolfgang Klose: Dr. William Cohn (1880-1961). Gelehrter, Publizist und Advokat asiatischer Kunst. OZ NS 12.2006, 31-40 Cohn promovierte 1904 in Erlangen, arbeitete dann als Kustos für die Staatlichen Museen in Berlin und wurde 1933 entlassen. Er war Sekretär der Gesellschaft für Ostasiatische Kunst. 1938 emigrierte er nach England und lehrte an der Universität Oxford. Außerdem leitete er 1949-1956 das Museum für Ostasiatische Kunst in Oxford. Cohn war zusammen mit Otto Kümmel seit 1912 Herausgeber der Ostasiatischen Zeitschrift. Cohn-Wiener, Ernst 1882-1941 Walravens: Exil 234; IBD II, 1, S. 193 Lexikon deutsch-jüdischer Autoren. b5. 1997, 257-263 Cohn-Wiener promovierte 1907 in Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg und wirkte an der Humboldt-Hochschule in Berlin. Er emigrierte 1934 über Indien in die USA (1939). C. beschäftigte sich peripher mit China. Consten-Erdberg, Eleanor von 23.11.1907-18.11.2002 Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Ostasiatische Kunst 21. 1997, 3-25 G. Avitabile: In memoriam Eleanor von Erdberg. OZ NS 7.2004, 53 Erdberg: Der strapazierte Schutzengel. Erinnerungen aus drei Welten. Waldeck: Siebenberg Verlag 1994. 412 S. Sie promovierte 1931 in Berlin in Kunstgeschichte, war anschließend bis 1934 Assistentin am Fogg Art Museum der Harvard-Univrsität und von 1934 bis 1936 als Research Fellow des American Council of Learned Societies in Japan. Von 1938 bis 1941 lehrte sie an der Yenching Universität und parallel dazu von 1938 bis 1945 an der National University in Peking; von 1946 bis 1950 wirkte sie als Associate Professor an der Fu-jen Universität in Peking. 1951 wurde sie Lehrbeauftragte, Dozentin (1956) und außerplanmäßige Professorin für Kunstgeschichte an der Technischen Hochschule in Aachen. Sie heiratete 1936 in Japan den Mongoleireisenden Hermann Consten und lebte mit ihm in Peking bis 1950.
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Consten, Hermann 1878-1957 Wer ist wer 1955, 171 Bilder aus der Ferne. Historische Photographien des Mongoleiforschers Hermann Consten. Hrsg. von Doris Götting. O.O.: Deutsch-Mongolische Gesellschaft o.J. 139 S. Privatgelehrter und Mongoleireisender. Er befand sich mit seiner Frau Eleanor während der Nazizeit in China. Er ist insbesondere durch sein Werk: Weideplätze der Mongolen. Im Reiche der Chalcha. (Berlin: D. Reimer 1919-20. 2 Bde.) bekannt. «bei den Nazis eine persona ingrata...» Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Ostasiatische Kunst. 21. 1997, 13. Contag, Victoria (verh. von Winterfeldt) 5.8.1906-1973 Kürschner GK 1954, 322; 1966; Wer ist’s 1962, 1721. Frau Contag promovierte 1932 in Hamburg über Tung Ch‘i-ch‘ang’s Hua Chan Shih Shui Hi (Notizen aus der Zelle der Meditation über Malerei) und das Hua Shuo des Mo Shih-lung. Sie ist heute insbesondere durch das Standardwerk Seals of Chinese painters and collectors of the Ming and Ch‘ing periods (mit Wang Ch‘i-ch‘üan. Hong Kong: Univ. Pr. 1966)5 bekannt. 1934-1946 war sie als Beraterin des Palastmuseums in Peking. 1936 heiratete sie S. R. von Winterfeldt in Shanghai. Nach dem Krieg (1947) wurde sie Lehrbeauftragte, 1957 apl. Professorin für Sinologie an der Universität Mainz. Diez, Ernst 1878-1961 Bernhard Führer: Vergessen und verloren. Bochum: Projekt Verlag 2001. (Edition Cathay. 42.), 149-151 Beiträge zur Kunstgeschichte Asiens. In memoriam Ernst Diez. Istanbul 1963 (Istanbul Üniversitesi Edebiyat Fakültesi Sanat Tarihi Enstitüsü. 1.), XI-XIII, Porträt «Bericht des Reichsministeriums», S. 11: «Kunstgeschichtler des Orients an der Wiener Universität. Von 1926 bis 1939 übte er als Kunsthistoriker eine Professur am Bryn-MawrCollege bei Philadelphia aus. Seine wissenschaftlichen Arbeiten, die sich auf dem Gebiete der asiatischen Kunst und Religion bewegen, entsprechen einem guten Durchschnitt. Diez ist Mitglied der NSDAP unter der Nummer 6 164 000.» 1943-1948 wirkte Diez als Gastprofessor (nicht Emigrant) an der Universität Istanbul. Zu seinen bekannteren Werken gehören Entschleiertes Asien (Wien 1940) sowie Shan-shui. Chinesische Landschaftsmalerei (Wien 1943). Eberhard, Wolfram 1909-1989 H. Walravens: In memoriam Wolfram Eberhard. OE 33. 1990: 2, S. 5-10, Porträt Legend, lore and religion in China, ed. by Sarah Allen and Alvin P. Cohen. San Francisco: CMC 1979. (Schriftenverzeichnis 225-266). Alvin P. Cohen: In memoriam Wolfram Eberhard, 1909-1989. Asian Folklore Studies. 49. 1990, 123-133; CAJ 34. 1990, 180 Wolfgang Bauer: Wolfram Eberhard, 17.1.1909-15.8.1889. Jahrbuch, Bayerische Akademie der Wissenschaften 1992 (München 1993), 217-224 Gutachten von Jäger. Streiflichter 208-209; Walravens: Exil 234 5
Ursprünglich: Maler- und Sammler-Stempel aus der Ming- und Ch’ing-Zeit. Shanghai: Commercial Press 1940. LXXV, 631 S.
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Eberhard studierte Sinologie, Völkerkunde und Soziologie (bei R. Thurnwald), arbeitete für das Berliner Museum für Völkerkunde, war 1934-1935 in China und dann am Leipziger Grassi-Museum tätig. 1938-1948 wirkte er als Professor für Sinologie an der Universität Ankara. 1948 ging er in die USA und wurde Professor für Soziologie an der University of California in Berkeley. Er gehörte zu den fleißigsten und vielseitigsten Sinologen. Jäger (Streiflichter 208): «Eberhard ist ... die größte Hoffnung der deutschen Sinologie. ... Bei einem Besuch auf der Reichsdozentenführung habe ich im letzten Jahr erfahren, dass aus Ankara ernsthafte Beschwerden gegen Eberhards Haltung als Deutscher vorliegen. Es würde einen großen Verlust für die deutsche Sinologie bedeuten, wenn seine weitere Entwicklung die Berufung dieses bedeutenden Gelehrten auf einen deutschen Lehrstuhl unmöglich machen sollte.» Forke: Brief (S. 200-201): «Da seine Frau Halbjüdin ist und er ostentativ mit Juden und Emigranten verkehrt und sich von den Deutschen fernhält, kommt er für Deutschland nicht mehr in Frage.» Eberhard, Alide (Römer) 1911-1994 H. Walravens: Alide Eberhard zum Gedenken. OE 38. 1995, 5-6 Sinologin und Frau von Wolfram Eberhard, den sie bei seinen Arbeiten nachdrücklich unterstützte. E. hatte einen jüdischen Stiefvater (Verwandtschaft mit der Familie Rosenthal) und mußte in Deutschland Unannehmlichkeiten befürchten. Eckardt, Hans 9.10.1905-1969 H. Walravens: Streiflichter auf die deutsche Sinologie, 1938-1943. NOAG 165/166. 1999, 219222 Eckardt war Japanologe und Musikwissenschaftler; er ist hier lediglich genannt, weil er nach dem Krieg in seiner Funktion als Direktor des Ostasiatischen Seminars an der Freien Universität Berlin erheblichen Einfluss auf die Geschicke der Sinologie hatte und durch sein Verhalten den Protest der Studenten während der Studentenbewegung 1968 herausforderte. Er war strammer Parteigenosse und denunzierte Kollegen von Fukuoka aus, wo er als Deutschlehrer wirkte. Ecke, Gustav 1896-1971 Pierre Jaquillard: Gustav Ecke 1896-1971. Artibus Asiae 34.1972, 115-118, Porträt Ecke war Kunsthistoriker (Promotion 1922) und lehrte seit 1923 in China, zuerst 19231928 an der Amoy University, dann 1928-1933 an der Tsinghua Universität in Peking und seit 1935 an der Fu-jen Universität in Peking. 1949 wurde er Kustos an der Honolulu Academy of Arts, 1950 Professor of Arts an der University of Hawaii. 1966 emeritiert, war er bis 1968 Gastprofessor an der Universität Bonn. Er heiratete 1945 die Pekinger Malerin Tseng Yu-ho (Betty Ecke).6 W. Franke: Im Banne Chinas, 68: «Er war Lektor der Deutschen Akademie und Professor an der Katholischen Universität Fujen. Gleichfalls von amtlicher deutscher Seite bezahlt, verstand er es mit großem Geschick, sich allen Seiten gegenüber abzusichern und nicht unbedingt zuverlässigen Deutschen gegenüber seine sonst recht prononcierte Anti-Nazi-Einstellung zu verschleiern. Der in Shanghai lebende Leiter der Landesgruppe China der NSDAP, Lahr-
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An interview with Tseng Yuho. Orientations. May 2001, 73-78.
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mann7, war ein alter Bekannter Eckes aus Deutschland, lange vor Beginn der Nazidiktatur. Kam jener nach Peking, versäumte Ecke es nie, ihn als ‹alten Freund› in sein Haus einzuladen und mit seiner stilvollen Lebensweise zu beeindrucken. So brauchte Ecke von dieser Seite nichts zu befürchten.» Tseng Yuho: «Politically, Gustav was very conservative. He was really a royalist.» (Orientations 2001, May, S. 74) Eder, Matthias 1902-1980 Bernhard Führer: Vergessen und verloren. Bochum: Projekt Verlag 2001. (Edition Cathay. 42.), 243-244; RGG Peter Knecht: Dr. Matthias Eder S.V.D. (1902-1980). Asian Folklore Studies 29. 1980: 2, S. 17 Eder studierte Ethnologie, Japanologie und wirkte 1938-1949 an der Fujen-Universität in Peking, wo er die Zeitschrift Folklore Studies herausgab. 1939-1957 war er auch Mitherausgeber der Monumenta Serica. 1949 ging er notgedrungen aus China nach Japan. Eichhorn, Werner 1.7.1899-1991 Klaus Flessel OE 33. 1990: H. 2, S. 11-20 Tilemann Grimm: Werner Eichhorn zum 80. Geburtstag. NOAG 125. 1979, 7-8, Porträt Klaus Flessel: Werner Eichhorn und sein wissenschaftliches Œuvre. NOAG 125. 1979, 9-12 Klaus Flessel: Werner Eichhorn (1899-1991). ZDMG 142.1992, 3-11 Gutachten von Jäger. Streiflichter 205-206 E. promovierte mit einer Arbeit über Kunsttheorie und ging 1933 für zwei Jahre nach China. 1935 wurde er am Orientalischen Seminar in Bonn tätig, erhielt aber erst 1939 seine Ernennung zum Dozenten. Nach dem Krieg ging E. mit seiner englischen Frau nach Großbritannien und schlug sich mit Farm- und Bibliotheksarbeit durch. 1960 wurde er Honorarprofessor an der Universität Tübingen. Jäger (Streiflichter 206): «Es ist zu erwarten, dass Eichhorn, der bereits vom ersten Weltkrieg das Eiserne Kreuz besitzt und jetzt wiederum Soldat ist, die Verbitterung in die ihn das erlittene Mißgeschick [Schwierigkeiten bei der Habilitation] versetzt hat, überwinden wird, sobald er eine seinen Fähigkeiten entsprechende Stellung erhält.» «Bericht des Reichsministeriums» (S. 9): «Dem politischen Leben gegenüber zeige sich Eichhorn desinteressiert.» Erkes, Eduard 23.7.1891 - 2.4.1958 G. Lewin: Eduard Erkes und die Sinologie in Leipzig. Chinawissenschaften. 449-473 Eduard Erkes in memoriam, 1891-1958. [Leipzig 1961.] 239 S. (mit Schriftenverzeichnis) Fritz Gruner: Eduard Erkes (1891-1958). Namhafte Hochschullehrer der Karl-MarxUniversität Leipzig. 1. Leipzig 1982, 81-90 Verzeichnis der Schriften und Vorlesungen. Sinologische Traditionen im Spiegel neuer Forschungen. Herausgegeben von Ralf Moritz. Leipziger Universitätsverlag 1993, 12-29 Käte Finsterbusch: In memoriam Eduard Erkes, 23. Juli 1891-2. April 1958. AA 21. 1963, 167170 Felber (in Clavis), 87-88 Erkes wurde 1913 Assistent am Leipziger Völkerkundemuseum, 1921 Kustos und 1928 npl. a.o. Professor an der Universität. 1933 wurde er aus beiden Positionen entfernt und schlug sich 7
Zu Siegfried Lahrmann (geb. 1892) vgl. Astrid Freyeisen: Shanghai und die Politik des Dritten Reiches. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, 92 ff.
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mit anderen Tätigkeiten durch, u.a. als Mitarbeiter im Antiquariat Otto Harrassowitz. Er war 1919 in die SPD eingetreten und machte aus seinen materialistisch-atheistischen Anschauungen kein Hehl. So wurde er 1945 wieder in seine Positionen eingesetzt und 1947 zum Direktor des Ostasiatischen Seminars ernannt. 1912, 1930-1932 sowie 1954/55 befand er sich auf Reisen in China.8 Feddersen, Martin 1888-1964 Feddersen war als Kunsthistoriker Kustos am Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg. Er promovierte 1925 in Hamburg9 und ist durch die beiden Standardwerke Chinesisches Kunstgewerbe (zuerst 1939, Braunschweig 1955, 3. Aufl. 1958, XIV, 302 S. Bibliothek für Kunst- und Antiquitätenfreunde. 35) und Japanisches Kunstgewerbe (Braunschweig 1960, XII, 320 S. Bibliothek für Kunst- und Antiquitätenfreunde. 2) bekannt. Er lehrte auch an der Technischen Hochschule Hannover. Fischer, Otto 1886-1948 O. Fischer. Ein Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts. Reutlingen 1886-Basel 1948. Reutlingen 1986. 72 S. Aus Reutlinger Geschichtsblätter. NF 25, 1986, 255-32010 Otto Fischer wurde am 22. Mai 1886 in Reutlingen (Württemberg) geboren. Er studierte in Tübingen, München, Wien und Berlin und promovierte 1907 bei H. Wölfflin. Studienreisen führten ihn nach Frankreich und Italien. 1913 habilitierte er sich in Göttingen mit einer Arbeit über die chinesische Kunsttheorie. Nach seiner Rückkehr aus dem ersten Weltkrieg war Fischer von 1921 bis 1927 Direktor der Gemäldegalerie in Stuttgart. In den Jahren 1925/26 unternahm er ausgedehnte Studienreisen durch Ostasien. 1928 folgte er einem Ruf an die Universität Basel, wo er bis zu seinem Tod am 9. April 1948 lehrte. Forke, Alfred 12.1.1867-9.7.1944 Forke, Alfred. NDB 5. 1961, 300 (H. Franke) Alfred Forke: Briefe aus China, 1890-1894. Hamburg: C. Bell 1985, XIX, 42 S. 4o (Han-pao tung-Ya shu-chi mu-lu.35.) Reinhard Emmerich: «Ich fühle mich immer wieder angezogen von originellen und freien Geistern» – Alfred Forke (1867-1944). Chinawissenschaften, 421-448 Zum 75. Geburtstag von Prof. Dr. A. Forke. OAR 23. 1942, 14-15 Alfred Forke† OAR 25. 1944, 69-70 Erich Haenisch: Alfred Forke. ZDMG 99. 1945/49, 4-6 Eduard Erkes: Alfred Forke. AA 9.1946, 148-149 Forke studierte Jura und war seit 1890 im auswärtigen Dienst in China. 1903 wurde er Professor am Seminar für Orientalische Sprachen, 1914-1918 Gastprofessor an der University of 8
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Erkes ist wegen der Qualität seiner sinologischen Arbeit teils scharf kritisiert worden. Nur als Anekdote sei die Existenz einer deutsch-chinesischen Flugschrift mitgeteilt, die Ying Ch‘ien-li (das war der Kanzler der Pekinger Fu-jen-Universität) gezeichnet ist, aber möglicherweise von Erwin von Zach stammt. Der pseudonyme Autor teilt mit, die Nachricht, dass der Sinologe Erkes aus politischen Gründen entlassen worden sei, habe ihn so bewegt, dass er Deutsch gelernt habe, um dessen Werke lesen zu können. Die Lektüre habe ihn indes überzeugt, dass wohl nicht politische Motive, sondern fachliche Inkompetenz zur Entlassung geführt hätten... Die Kanzeln des «Eidelstedter Typus». Ein stilkritischer Versuch. Nordelbingen 8. 1924, 588-625. Ref. hat ein nur die Ostasiatica umfassendes Schriftenverzeichnis Fischers bearbeitet (liegt im Manuskript fertig vor).
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California, Berkeley, und 1923 O. Frankes Nachfolger in Hamburg. 1935 wurde er emeritiert. Er hat sich besonders der chinesischen Philosophie und der Dichtung gewidmet. Franke, Herbert 27.9.1914Studia Sino-Mongolica. Festschrift für Herbert Franke. Herausgegeben von Wolfgang Bauer. Wiesbaden: Steiner 1979. 470 S. (Münchener Ostasiatische Studien. 25.) (Mit Würdigung und Schriftenverzeichnis) W. A. Unkrig (1883-1956): Korrespondenz mit Herbert Franke und Sven Hedin. Briefwechsel über Tibet, die Mongolei und China. Wiesbaden: Harrassowítz 2003. 293 S. (Asien- und Afria-Studien der Humboldt-Universität zu Berlin. 15.) Thomas O. Höllmann: Zum 90. Geburtstag von Herbert Franke. Akademie aktuell, 2.Dez. 2004, S. 14-15 Franke studierte Jura und orientalische Sprachen, diente während des Krieges bei der Wehrmacht, habilitierte sich nach dem Krieg in Köln für Sinologie und wurde 1952 Haenischs Nachfolger als Ordinarius in München. Franke, Otto 27.9.1863-5.8.1946 H. Franke: Franke, Alwin Wilhelm Otto. NDB 5. 1961, 348-349 Otto Franke in memoriam. MS 12. 1947, 277-296 (B. Theunissen) Otto Franke: Erinnerungen aus zwei Welten. Berlin: W. de Gruyter 1954. 185 S. Fritz Jäger: Bibliographie der Schriften von Professor Dr. Otto Franke. AM 9. 1933, 3-20 Fritz Jäger: Fortsetzung und Nachträge zur Bibliographie der Schriften von Professor Dr. O. Franke. AM NF 1. 1944, 154-158 Erich Haenisch: Nachruf auf Otto Franke. Jahrbuch der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1946-1949, 145-149 Fritz Jäger: Zum 70. Geburtstag von Professor O. Franke. OAR 14. 1933, 426-428 Fritz Jäger: Otto Franke (1863-1946). ZDMG 100. 1950, 19-36 Wolfgang Franke: Otto Franke und sein sinologisches Werk. Sinologica 1. 1948, 352-354 Franke promovierte in Indologie und war im deutschen und im chinesischen auswärtigen Dienst tätig. 1910 wurde er Ordinarius für Sinologie in Hamburg, ging 1923 nach Berlin und wurde 1931 emeritiert; auch danach wurde er zu Fachfragen von amtlichen Stellen konsultiert. Franke war national gesinnt, bewahrte jedoch Distanz zum Nationalsozialismus. Er hatte eine vergleichsweise große Zahl von Schülern und war einer der einflussreichsten Sinologen in Deutschland. Franke, Wolfgang 1912Wolfgang Franke. Von Bodo Wiethoff (Bochum). OE 24. 1977, 2-19 Verzeichnis der Veröffentlichungen von Wolfgang Franke. Von Brunhild Staiger (Hamburg) und Bodo Wiethoff (Bochum). OE 24. 1977, 21-35 China. Wege in die Welt. Festschrift für Wolfgang Franke zum 80. Geburtstag. Hamburg: Institut für Asienkunde 1992. XIII, 310 S. (mit Schriftenverzeichnis) Wolfgang Franke: Im Banne Chinas. Autobiographie eines Sinologen. Dortmund: Projekt-Verlag 1995. IV, 248 S. (Edition Cathay. 11.) [Bd. 2:] 1950-1998. Bochum: ProjektVerlag 1999. 299 S. (Edition Cathay 48.) Wolfgang Franke: Reisen in Ost- und Südostasien, 1937-1990. Osnabrück: Zeller 1998. X,462 S. Shou, Fu Wu-k‘ang chiao-shou k‘ang-li ch‘i-shih shuang-ch‘ing chu-ho ts‘e.
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壽傅吾康教授伉儷七十雙慶祝賀冊 O. O. u. J. 149 S. Sino-Malaysiana. Selected papers on Ming & Qing history and on the overseas Chinese in Southeast Asia, 1942-1988. Singapore: South Seas Society 1989. XII, 616 S. F., Sohn des Sinologen Otto Franke, studierte in Hamburg und promovierte 1935 mit einer Arbeit über K‘ang Yu-wei. 1937 wurde er Mitarbeiter des Pekinger Deutschland-Instituts. Nach Kriegsende ging F. nach Ch‘eng-tu, kehrte 1948 nach Peking zurück und folgte 1950 einem Ruf auf den Hamburger Lehrstuhl für Sinologie, wo er Nachfolger seines Lehrers Jäger wurde. Frankes Memoiren (Im Banne Chinas) sind eine wichtige Quelle zur Sinologiegeschichte. Er bemerkt bezüglich seiner eigenen Stellung zum Nationalsozialismus, dass er aus beruflichen Erwägungen durchaus mit dem Gedanken spielte, in die Partei einzutreten; der Antrag sei jedoch vermutlich verloren gegangen, was sich aus späterer Sicht als Glücksfall erwiesen habe. «Bericht des Reichsministeriums», S. 12: «Er wird als ein fleißiger junger Gelehrter bezeichnet.» Frankel (Fränkel), Hans Hermann 1916-2003 David R. Knechtges: Hans H. Frankel, teacher and scholar; Stephen Owen: Hans H. Frankel, the gentle revolutionary. T’ang Studies 13. 1995, 1-11 IBD II, 319-320; Walravens: Exil 235 In memoriam: Hans Hermann Frankel (1916-2003). CHINOPERL papers 25.20032004,VI-VIII Fränkel studierte nach seiner Emigration in die USA (1935) romanische Sprachen und später, nach dem Krieg, Sinologie; als Spezialist für chinesische Poetik erhielt er 1967 einen Lehrstuhl an der Yale-Universität. Er lehrte mehrmals als Gastprofessor in Deutschland. Frick, Johannes 1903Josefine Huppertz: Johannes Frick - beheimatet in zwei Welten. China erlebt und erforscht. Partielle Beiträge zur kritischen Chinakunde. Hrsg. v. H. Köster, München 1974, 25-42 (mit Schriftenverzeichnis) F. war von 1931 bis 1952 in der Chinamission der SVD tätig, im Wesentlichen in Kansu. Er studierte nach seiner Repatriierung in Wien Ethnologie und Urgeschichte und wurde Mitarbeiter des Anthropos-Instituts. Fuchs, Walter 1902-1979 Martin Gimm: Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Walter Fuchs. OE 19. 1972, 1-7, Porträt mit Widmung Tilemann Grimm: Walter Fuchs in memoriam. OE 25. 1978, 121-122 Wolfgang Franke: Walter Fuchs in memoriam. OE 27. 1980, 141-150 H. Walravens: Walter Fuchs in memoriam. UaJb NF 1. 1981, 238-241 H. Walravens: Deutsche Chinaköpfe: Walter Fuchs. Das neue China. 9. 1982: 1, S. 30, 1 Porträt. H. Walravens: Zur Biographie des Sinologen Walter Fuchs (1902-1979). NOAG 177/178.2005, 117-149 Fuchs studierte in Berlin Sinologie und promovierte 1924 bei Otto Franke. 1924-1926 war er Hilfsarbeiter am Völkerkundemuseum bei F. W. K. Müller, ging 1926 als Lektor an die Ikadaigaku (medizin. Hochschule) in Mukden; 1938 wechselte er als Professor zur Fu-jenUniversität in Peking, wo er bis zu seiner Repatriierung 1948 lehrte. Nach einer Lehrstuhlver-
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tretung in Hamburg habilitierte er sich in München, wirkte dort als Kustos am Völkerkundemuseum und ging 1956 als Professor an die Freie Universität Berlin. 1960 wurde er Ordinarius an der Universität Köln, wo er bis zu seiner Emeritierung tätig war. Gutachten von Jäger. Streiflichter 206-207: «Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Fuchs auf Grund seiner umfassenden Kenntnisse und seines langjährigen Aufenthalts in Ostasien zu denen gehört, die in erster Linie bei der Besetzung eines sinologischen Lehrstuhls in Frage kommen. Über seinen Charakter und seine politische Haltung steht mir ein eigenes Urteil nicht zu.» (Er erhielt 1941? einen Ruf an die Universität München, dem er aber wegen des Krieges nicht folgen konnte.) «Bericht des Reichsministeriums», S. 12. «Fuchs ist Mitarbeiter an der katholischen Fachzeitschrift Monumenta Serica. Später arbeitete Fuchs am Deutschlandinstitut. Er wird als ein vielseitiger Schriftsteller auf dem Gebiete der Sinologie bezeichnet. ... Fuchs, der eine wertvolle sinologische Bibliothek besitzt, wird im Zusammenhang mit der Schaffung einer Professur in München genannt. Er ist Parteigenosse seit dem 1. Oktober 1934, Mitgliedsnummer 2 248 329.»11 Franke sagt in seinem Nachruf (S. 143): «Nur den aktuellen Vorgängen – in Deutschland wie in Ostasien – stand er fremd und ziemlich verständnislos gegenüber. So ließ er sich – um seine Ruhe zu ungestörter wissenschaftlicher Arbeit zu haben, von wohlmeinenden Freunden dazu bereden, der Nazi-Partei beizutreten. Die Tragweite dieses Schrittes hat er damals gewiss nicht übersehen.» Fuchs, Walter 1888-1966 H. Walravens: Vincenz Hundhausen (1878-1955). Das Pekinger Umfeld und die Literaturzeitschrift Die Dschunke. Wiesbaden: Harrassowitz 2000. (203 S.) (Orientalistik Bibliographien und Dokumentationen. 7.), 73-74 Biographisches Handbuch des deutschen auswärtigen Dienstes 1871-1945. Bd 1. Paderborn: Schöningh 2000, 625-626 Fuchs war Jurist und stand von 1920 bis 1944 im auswärtigen Dienst. 1929 wurde er deutscher Konsul in Shanghai. 1934 zwangsweise pensioniert, praktizierte er als Anwalt in China.12 1952 wurde er im auswärtigen Dienst reaktiviert und trat 1955 als Generalkonsul in den Ruhestand. Er ist durch das Büchlein Der Wille der Kwan-yin bekannt geworden. Gabain, Annemarie von 4.7.1901-15.1.1993 P. Zieme: In memoriam Annemarie von Gabain (4.7.1901-15.1.1993). ZDMG 144.1994, 239249 Reinhard F. Hahn: The published works of Annemarie von Gabain; a bibliography (19281990). CAJ 35. 1991, 1-40 Hellmut Braun, Iris Hamel: Schriftenverzeichnis Annemarie von Gabain 1928-1961. Ungarische Jahrbücher 33. 1961, 5-11 G., Buddhologin und Turkologin, die mit einer sinologischen Arbeit promoviert hatte, lehrte als Vorgängerin von W. Eberhard an der Universität Ankara und war später an der Universität Hamburg tätig. Sie betonte ausdrücklich, dass sie nicht Emigrantin gewesen sei. Glaser, Curt 1879-1943 11 12
Fuchs erzählte dem Referenten, wie sein Parteieintritt verlief, was hier nur marginal anekdotisch angemerkt sei: Man sass beim Bier in Peking, als jemand in der Runde darauf hinwies, man müsse das neue Deutschland unterstützen. Es habe weiter nichts auf sich, man brauche nur ein Formular zu unterschreiben... Vgl. Freyeisen, a.a.O., 87-90.
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H. Walravens: Curt Glaser (1879-1943). Zum Leben und Werk eines Berliner Museumsdirektors. Jahrbuch, Stiftung Preußischer Kulturbesitz. 26. 1989 (1990), 99-121 Walravens: Exil 235 Andreas Strobl: Curt Glaser: Kunsthistoriker, Kunstkritiker, Sammler – eine deutsch-jüdische Biographie, Köln, Wien: Böhlau. Glaser war Kunsthistoriker, Schüler von Heinrich Wölfflin, und wurde 1924 als Nachfolger von Peter Jessen Leiter der Kunstbibliothek (früher: Bibliothek des Kunstgewerbemuseums) in Berlin. Nach seiner Entlassung 1933 emigrierte er über die Schweiz und Italien in die USA (1940). Er ist mit einer größeren Anzahl von Beiträgen zur Ostasiatischen Kunst hervorgetreten. Vgl. H. Walravens: Exil, 242-266. Greiser, Benno 1873-1950 Bernhard Führer: Vergessen und verloren. Bochum: Projekt Verlag 2001. (Edition Cathay. 42.), 199-206 Greiser stammte aus Schlesien; er ging 1899 nach China als Missionar, trat 1911 aus Gesundheitsgründen dann in den deutschen Konsulatsdienst ein und ging 1936 in den Ruhestand. 1938 übersiedelte er nach Wien, wo er als Gerichtsdolmetscher tätig war. 1943-1945 gab er an der Universität Chinesischkurse. Er wurde dann aus dem Lehrbetrieb entlassen, und die österreichische Staatsbürgerschaft wurde ihm verweigert. «Ich bin Mitglied der NSDAP, der NSV, des Reichsbundes Deutscher Beamten, des Reichskolonial-Kriegerbundes und wie früher in Zirlau als Blockwalter der Partei hier in Wien als Blockwalter der NSV seit mehreren Jahren tätig» schrieb er in einem Lebenslauf. Grimm, Tilemann 1922-2002 G. wuchs in China auf, wo sein Vater Reinhold Grimm als Arzt praktizierte. 1939 machte er in Deutschland das Abitur, woran sich Kriegsdienst anschloss. 1953 promovierte er bei W. Franke in Hamburg in Sinologie. Seit 1965 war er Professor in Bochum, seit 1974 in Tübingen. Dem Vernehmen nach war G. Mitglied der SS. NOAG 173/174. 2003, 5-18 (W. Lippert) Haenisch, Erich 27.8.1880-1966 Erich Haenisch in memoriam (1880-1966). OE 15. 1968, 121-122, 1 Porträt E. Haenisch: Sino-mongolische Späne. Ural-altaische Jahrbücher. 47. 1975, 72-83 Erika Taube: Erich Haenisch, ein Beispiel für Zivilcourage. Sinologische Traditionen im Spiegel neuer Forschungen. Leipzig 1993, 179-189. Herbert Franke: Studia sino-altaica, 1-3 Wolf Haenisch: Studia sino-altaica, 3-11 N. Poppe UaJb 22. 1960, 157-160 Wolfgang Bauer: Erich Haenisch (1880-1966). ZDMG 117. 1967, 205-210, Porträt Franke: Chinakunde in München, 113: «Immer wieder hat er [Haenisch] sich mit Schriften beschäftigt, die den Widerstreit zwischen Ethik und Realpolitik behandelten, und bezeichnenderweise tat er das am intensivsten nach der nationalsozialistischen Machtergreifung. Eine Arbeit wie die über Mencius und Liu Hiang muss man vor dem Hintergrund des Erscheinungsjahres – 1942 – sehen, um zu erkennen, wie Haenisch als überzeugter konservativer Preuße zu den damaligen unheilvollen Mächten stand. So konnte es niemand verwundern, dass er, anders als manche andere Gelehrte, auch den geringsten äußerlichen Tribut der Mitgliedschaft in Partei und ihren Gliederungen verweigerte – wir Studenten in Berlin sahen ihn niemals anders als
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mit dem Bande des EK II. Klasse im Knopfloch. Das Parteiabzeichen wäre bei ihm undenkbar gewesen.» «Bericht des Reichsministeriums», S. 7: «Haenisch wird charakterlich als ein pflichtbewusster Wissenschaftler bezeichnet. Dem Nationalsozialismus steht er etwas reserviert gegenüber.» Haenisch studierte Jura und orientalische Sprachen, promovierte 1904 bei Wilhelm Grube in Berlin und lehrte dann von 1904 bis 1911 in China. Von 1912 bis 1920 war er Hilfsarbeiter am Museum für Völkerkunde in Berlin. 1913 habilitiert, wurde er 1920 Extraordinarius an der Berliner Universität, 1925 Ordinarius in Leipzig und 1932 in Berlin, 1946 in München. 1952 wurde er emeritiert. Seine Schwerpunkte waren chinesische Geschichte und die «Kolonialsprachen». Haloun, Gustav 12.1.1898-24.12.1951 Herbert Franke: Gustav Haloun (1898-1951) in memoriam. ZDMG 102. 1952, 1-9 E.B. Ceadel: Published works of the late Professor Gustav Haloun. AM NS 3. 1953, 107-108 Bernhard Führer: Vergessen und verloren. Bochum: Projekt Verlag 2001. (Edition Cathay. 42.), 231-234 Walter Fuchs: Nachruf auf Gustav Haloun. Sinologica 3. 1953, 213-215 H. Walravens: Friedrich Ernst August Krause - Major und Ostasienwissenschaftler. Eine Bibliographie. Hamburg: C. Bell 1983, 11-15. Haloun war seit 1931 Privatdozent an der Universität Göttingen, auf Textkritik spezialisiert; er baute die Institutsbibliothek zu einer exzellenten Sammlung aus, die nach Kriegsende durch ein Bergwerksunglück zerstört wurde. 1938 ging Haloun nach Cambridge, wo er den sinologischen Lehrstuhl von A.C. Moule übernahm. H. wurde von den deutschen Behörden nicht als Emigrant (im Rahmen des Wiedergutmachungsverfahrens) anerkannt. Hauer, Erich 28.6.1878-3.1.1936 Erich Haenisch: Erich Hauer (1878-1936). ZDMG 107. 1957, 1-6 Biographisches Handbuch des deutschen auswärtigen Dienstes 1871-1945. Bd 2. 2005, 215216 Hauer studierte Jura, ging 1901 in den auswärtigen Dienst und war bis 1917 im wesentlichen in Peking an der Gesandtschaft tätig. In dieser Zeit erwarb er sich neben einer genauen Chinakenntnis auch eine gute Beherrschung der mandjurischen Sprache. Er studierte dann Sinologie bei de Groot, promovierte 1921, habilitierte sich 1923 und lehrte sowohl Chinesisch wie Mandju. Seine bedeutendsten Werke sind eine Übersetzung des umfangreichen K‘ai-kuo fang-lüeh (Berlin 1926) und sein dreibändiges Handwörterbuch der Mandschusprache. Tokyo (1952-1955). Irgendeine politische Neigung zum Nationalsozialismus ist nicht erkennbar. Hefter, John 1890-1953 Alfred Forke: Zwei chinesische Singspiele der Qing-Dynastie. Mit einer Ergänzung: Ein anonymes Singspiel der Yuan-Zeit in der Fassung von John Hefter. Bearbeitet und ergänzt von Martin Gimm. Stuttgart: Steiner 1993 (Sinologica Coloniensia. 16.), 9-12, 505-508 H. Walravens: Vincenz Hundhausen. Das Pekinger Umfeld und die Literaturzeitschrift Die Dschunke. Wiesbaden: Harrassowitz 2000, 83-100. Hefter war ursprünglich Harfenist im Sondershäusischen Hoforchester gewesen, konnte diese Tätigkeit aber, wohl auch bedingt durch eine Verwachsung, nicht mehr wahrnehmen. Er lernte weitgehend autodidaktisch Chinesisch und brachte es zu hoher Sprachbeherrschung. Er arbeitete als Hilfskraft für die Preußische Staatsbibliothek und später das Berliner Museum für
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Völkerkunde, ging dann nach China, wo er sich als Redakteur, Lehrer und Übersetzer durchschlug. Zwischenzeitlich (1925-1926) war er an der Columbia University Library tätig. Vom 1.12.1932 bis zum 1.6.1933 war er als Redakteur an den Deutsch-Chinesischen Nachrichten in Tientsin beschäftigt. Nach mehreren Werkverträgen am Museum für Völkerkunde reiste er offenbar ca. 1938 wieder nach China, von wo er nach dem Kriege repatriiert wurde. Hefter wird als «verkommenes Genie» geschildert, als begabter Bohemien mit fundierten Kenntnissen. Heissig, Walther 5.12.1913-5.9.2005 E. Taube: Walther Heissig (5 December 1913 – 5 September 2005) in memoriam. Asian folklore studies 65.2006,87-93 Heissig promovierte mit einer Arbeit Der mongolische Kulturwandel in den HsinganProvinzen Mandschukuos (Wien 1941: Holzhausen. 97 S.; auch: Wien: Exner 1944. 97 S. [Asien-Schriftenreihe. 1.]). Er gehörte der Reichsstudentenführung an, war seit 1934 Mitglied der österreichischen Abteilungen von SA und SS in Deutschland13, aber nicht der NSDAP, und ging dann nach China, wo er sich als Mongolist profilierte, aber auch Verbindungsmann der Wehrmacht war. Im sog. Shanghaiprozeß wurde er 1946 zu Festungshaft (Landsberg) verurteilt. Nach seiner Freilassung habilitierte er sich 1951 in Göttingen und wurde dann 1957 apl. Professor (1964 Ordinarius) in Bonn, wo er das Zentralasiatische Seminar aufbaute. Heissig hat sich besonders mit mongolischer Bibliographie, Literatur und Volkskunde befasst und gehörte zu den bedeutendsten Vertretern des Fachs. Hentze, Carl 22.6.1883-20.3.1975 Sinologica 3. 1963, 153-155 (M. Porkert) Manfred Porkert: Carl Hentze (1883-1975). ZDMG 128. 1978, 9-11, Porträt Hentze kam aus einer deutschen Familie in Antwerpen. Er studierte zunächst Malerei, beschäftigte sich aber seit 1912, angeregt durch die chinesische Malerei, mit China. 1926 wurde er zum Dozenten an der Universität Gent, 1932 zum Professor ernannt, nachdem er zuvor seine chinesischen Kenntnisse durch Studium bei P. Louis van Hée S.J. (1873-) erweitert hatte. 1942 erhielt er einen Ruf als Ordinarius an die Universität Frankfurt und übernahm auch die Leitung des China-Instituts, die Rousselle auf Drängen des Gauleiters abgeben mußte. 1948 wurde er emeritiert. Sein Spezialgebiet waren Mythologie und Symbolforschung. Trotz der Berufungsumstände Hentzes ist ein Engagement für den Nationalsozialismus nicht erkennbar. «Bericht des Reichsministeriums», S. 9: «In weltanschaulicher Hinsicht wird Hentze als einwandfrei bezeichnet.» Herrmann, Albert 1886-1945 Herrmann studierte an den Universitäten Göttingen und Berlin und promovierte 1910. 1911 legte er das Staatsexamen für den Schuldienst ab. 1915 legte er das Chinesische Diplomexamen ab und 1923 habilitierte er sich an der Universität Berlin für historische Geographie; 1934 wurde er außerordentlicher Professor. Während des Krieges diente er in der Wehrmacht. Wir verdanken ihm eine größere Anzahl historisch-geographischer Arbeiten, teils über China und Zentralasien.14
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Freyeisen, a.a.O., S. 382-383. Ein vom Referenten bearbeitetes Schriftenverzeichnis umfasst 20 Druckseiten.
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Heydt, Eduard von der 1882-1964 Artibus Asiae.25. 1962: 1. (Special number on the occasion of H’s 80th anniversary) 44 S.; Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft. 1930, 756-747, Porträt; NDB 9. 1972, 77 (Wolfgang Köllmann); Wuppertaler Biographien 5. 1965. Walravens: Exil 235 Rainer Stamm: Eduard von der Heydts Sammlungen ostasiatischer Kunst. OZ NS 4.2002,5-15 Heydt war Bankier und Kunstsammler, auch ein feinsinniger Kenner chinesischer Kunst. Er stiftete das Museum von der Heydt in Wuppertal und erwarb den Monte Veritá in Ascona, den er zu einer Begegnungsstätte ausbaute. Seine ostasiatischen und afrikanischen Sammlungen sowie einen Teil seiner Gemälde übergab er 1941 dem Züricher Museum Rietberg. Hoffmann, Alfred 1911-1997 Peter Merker: Anmerkungen zum Wirken von Alfred Hoffmann am Deutschland-Institut in Peking 1940-1945. Chinawissenschaften, 474-497 China, Kultur, Politik, Wirtschaft. Festschrift für Alfred Hoffmann zum 65. Geburtstag. Tübingen, Basel: Erdmann 1976, 348 S. (mit Schriftenverzeichnis) H. Martin: Alfred Hoffmann in memoriam. BJOAF 21. 1997, 301-308 Helmut Martin: Wendung nach Innen. Ein Nachruf auf den Sinologen Alfred Hoffmann (19111987). Orientierungen 1998: 1, 154-169 Gutachten von Jäger. Streiflichter 198-199 Hoffmann studierte in Hamburg, beschäftigte sich vorzugsweise mit dem modernen China, und wurde nach Ablegung der Not-Promotion 1940 dem Deutschland-Institut attachiert. «Für das Deutschland-Institut und dessen Arbeit zeigte er wenig Interesse, sondern mehr für die deutsche Gemeinde und die Partei, wo er für die politische Schulung wie auch für die Hitlerjugend zuständig wurde.» (W. Franke: Im Banne Chinas, 113). Im August 1947 repatriiert, promovierte er 1949 in Hamburg mit Die Lieder des Li Yü (937-978), einem exzellenten Werk, das ihm auch 1952 als Habilitationsschrift in Marburg diente. Nach Tätigkeiten in Marburg und Köln wurde er 1961 Ordinarius in Berlin und von 1964 bis zu seiner Emeritierung 1976 in Bochum. Nach dem Krieg widmete er sich dem klassischen China, veröffentlichte sehr wenig, und wenn, dann auf dem Gebiet der Ornithologie und Zoologie. Er trat 1939 in die NSDAP ein. Jäger (Streiflichter 198-199): «Hoffmann ist ein hochbegabter, dabei sehr strebsamer junger Gelehrter, in den seine Lehrer großen Erwartungen setzen. ... Aus mannigfachen Unterredungen mit ihm aber weiß ich, wie sehr er das Heraufkommen eines neuen Deutschlands begrüßt hat (...).» «Auf Grund seiner ausgezeichneten chinesischen Sprachkenntnisse wurde er gegen Ende 1940 vom Auswärtigen Amt an das Deutschland-Institut in Peking entsandt, um dort im kulturpolitischen Sinn zu arbeiten.» «Bericht des Reichsministeriums», S. 12-13: «Hoffmann lasse eine vorzügliche Sprachbegabung erkennen, sei jedoch in seinem wissenschaftlichen Urteil noch nicht ausgereift. ... Hoffmann ist Parteigenosse.» Hübotter, Franz 1881-1967 Martin Gimm: Franz Hübotter (1881-1967) in memoriam. NOAG 102. 1967, 5-10, Porträt (mit Schriftenverzeichnis); NDB 9. 1972, 722-723 (Jutta Rall) Hübotter promovierte 1912 in Berlin mit einer Arbeit über das Chan-kuo-ts‘e. 1919 habilitierte er sich für Medizingeschichte, ging nach Japan, wo er den japanischen medizinischen Doktorgrad erwarb, und wirkte von 1925 bis 1951 in China. Nach zwei Jahren Haft wurde er 1953 repatriiert und praktizierte dann als Arzt in Berlin.
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Hülle, Hermann 26.8.1870-18.4.1940 H. Walravens: Der erste bibliothekarische Austausch mit dem Ausland. Mit einem Exkurs über den Abteilungsdirektor Hermann Hülle. Aus der Geschichte der Staatsbibliothek. Mitteilungen SBB (PK)) NF 2. 1993: 1, S. 11-59 Hülle studierte Theologie und promovierte 1895. Nach einem in den USA verbrachten Jahr trat er als Volontär in die Königliche Bibliothek in Berlin ein. 1900 zum Hülfsbibliothekar ernannt, beantragte Hülle, ihm die Möglichkeit zu geben, Chinesisch zu lernen, und so wurde er 1901-1904 der Bibliothek des Seminars für Orientalische Sprachen überwiesen. 1904 bis 1909 wurde Hülle nach Peking beurlaubt, um dort eine Dozentenstelle zu übernehmen (als Nachfolger von August Conrady). 1909 wurde Hülle zum Professor, 1919 zum Oberbibliothekar und Vorsteher der ostasiatischen Sammlungen, 1922 zum Direktor der neu geschaffenen Ostasiatischen Abteilung ernannt. 1931 schließlich wurde er Direktor der Orientalischen Abteilung; 1935 trat er in den Ruhestand. Hundhausen, Vincenz 1887-1955 H. Walravens: Vincenz Hundhausen (1887-1955). Leben und Werk des Dichters, Druckers, Verlegers, Professors, Regisseurs und Anwalts in Peking. Mit einer Fundliste der chinesischen Texte von Lutz Bieg. Wiesbaden: Harrassowitz 1999. 211 S. (Orientalistik Bibliographien und Dokumentationen. 6.) H. Walravens: Vincenz Hundhausen (1878-1955). Das Pekinger Umfeld und die Literaturzeitschrift Die Dschunke. Wiesbaden: Harrassowitz 2000. 203 S. (Orientalistik Bibliographien und Dokumentationen. 7.) H. Walravens: Vincenz Hundhausen (1878-1955). Nachdichtungen, Pekinger Bühnenspiele und zeitgenössische Kritik. Wiesbaden: Harrassowitz 2000. 183 S. (Orientalistik Bibliographien und Dokumentationen. 8.) H. Walravens: Vincenz Hundhausen (1878-1955): Korrespondenzen 1934-1954. Briefe an Rudolf Pannwitz 1931-1954. Abbildungen und Dokumente zu Leben und Werk. Wiesbaden: Harrassowitz 2001. 176 S. (Orientalistik Bibliographien und Dokumentationen. 11.) Hundhausen war Jurist und kam zur Regelung der Erbschaftsangelegenheit Pape 1923 nach China. Er blieb da, lehrte deutsche Literatur an der Pekinger Universität und entdeckte die chinesische Literatur, insbesondere Drama und Poesie für sich. In der Folge schuf er deutsche Nachdichtungen zahlreicher Werke, gründete eine chinesische Theatertruppe und schließlich auch eine Druckerei. 1954 wurde er aus China ausgewiesen. H. machte aus seiner anti-NaziGesinnung kein Hehl und wandte sich gegen die Gründung einer Pekinger «Deutschen Gemeinde». Jäger, Fritz 21.2.1886-23.3.1957 Wolfgang Franke: Fritz Jäger in memoriam. OE 4. 1957, 1-4, 1 Porträt Festgabe Fritz Jäger zu seinem siebzigsten Geburtstag am 21. Februar 1956. NOAG 79/80. 1956 (mit Schriftenverzeichnis) Jäger war ursprünglich Altphilologe und wandte sich dann der Sinologie zu. 1925-1927 unternahm er ethnologische Forschungen in China. 1925 habilitierte er sich an der Universität Hamburg, wurde 1928 Extraordinarius und 1935 Ordinarius als Nachfolger von A. Forke. Als Hamburger Ordinarius hatte er eine einflussreiche Stellung, wurde von Ministerien wie Partei um Rat angegangen und war überdies Mitglied der NSDAP seit 1933. Jäger war eher ängstlich und kann als Mitläufer eingestuft werden. Selbst der «Bericht des Reichsministeriums» konsta-
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tiert: «kann allerdings nicht als kämpferische Natur angesehen werden», verweist dann aber auf die gute Zusammenarbeit mit dem Hamburger Japanologen Wilhelm Gundert und fügt hinzu: «Die anfallenden Probleme insbesondere der Japanologie erfahren eine geschickte und zeitentsprechende Behandlung.» (S. 6) In seinen schriftlichen Äußerungen, auch in seinen Publikationen, war er zögerlich und sorgfältig, wie auch seine Gutachten über andere Sinologen zeigen. Im Verlaufe des Krieges resignierte Jäger mehr und mehr, besonders nachdem einer seiner beiden Söhne gefallen und seine Tochter an Kinderlähmung gestorben war. Kalmer, Joseph 1898-1959 Bernhard Führer: Vergessen und verloren. Bochum: Projekt Verlag 2001 (Edition Cathay. 42.), 235-241; IBD 589 Kalmer studierte in Wien neben seiner Tätigkeit als Journalist, Herausgeber und Übersetzer 1922-1938 auch Chinesisch, wurde dann als «jüdischer Sudeljournalist» ausgewiesen und emigrierte über Prag nach Großbritannien. Er hat sich als vielseitiger Übersetzer profiliert. Kibat, Artur (Germanist, Lehrer in Wilhelmshaven) 1878-1961 Kibat, Otto (Rechtsanwalt in Gotha) 1880-1956 Djin Ping Meh. Schlehenblüte in goldener Vase. Ein Sittenroman aus der Ming-Zeit mit 200 Holzschnitten einer Ausgabe von 1755. Zum ersten Male vollständig aus dem Chinesischen übertragen von Otto und Artur Kibat. Hamburg: Die Waage 1969, Kommentarband, Biographisches Vorwort (S. 9-17) Die Brüder Kibat waren die Übersetzer des Chin-p‘ing-mei ins Deutsche (vollständige Fassung); 2 Bände erschienen in Gotha (Engelhard-Reyher) 1928 und 1932; die Gesamtausgabe wurde postum veröffentlicht (s.o.). O. Kibat hatte etwa 18 Jahre in China verbracht, als Soldat, dann als Geschäftsmann. Die Übersetzung wurde nach seiner Rückkehr begonnen und bis Kriegsende fast fertiggestellt. Weitere Bände konnten zur Nazizeit nicht erscheinen, da das Werk verboten wurde. Krader, Ruth 1911-1996 H. Walravens: Ruth Krader in memoriam (15.1.1911-16.11.1996). NOAG 159/160. 1996, 1314, 1 Porträt Ruth Schlesinger stammte aus einer Hamburger Kaufmannsfamilie. Sie studierte in Hamburg, Berlin und Paris Sinologie, ging 1935 in die Schweiz und promovierte schließlich 1946 an der Yale-Universität, nachdem sie auf Rat von Serge Elisséeff in die USA emigriert war. Sie heiratete 1941 den Ethnologen Lawrence Krader und war 1947-1976 Bibliothekarin an der University of Washington, Seattle. Krause, Friedrich Ernst August 13.8.1879-12.12.1942 H. Walravens: Friedrich Ernst August Krause - Major und Ostasienwissenschaftler. Eine Biobibliographie. Hamburg: C. Bell 1983. 100 S. 4o (Han-pao tung-Ya shu-chi mu-lu. 20.). Krause studierte Chinesisch bei de Groot in Berlin und promovierte 1914. 1919 habilitierte er sich an der Universität Heidelberg, 1924 wurde er dort zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor ernannt. 1926 wechselte er nach Göttingen, als Nachfolger von Erich Haenisch. Da die in Aussicht gestellte Planstelle nicht realisiert wurde, zog sich K. verbittert nach Heidelberg zurück. 1935 wurde der Lehrauftrag offiziell aufgehoben, nachdem Gustav Haloun be-
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reits als Vertreter wirkte. Krause verkaufte seine chinesische Bibliothek an den Arzt Lionel Müller und verzichtete auf weitere sinologische Arbeiten. Seine Liebe gehörte Italien (vgl. sein dreibändiges Werk: Italia sempiterna) und der Beschäftigung mit Familiengeschichte. Ein politisches Engagement ist aus einem erhaltenen Briefwechsel des Jahres 1937 nicht erkennbar. Kümmel, Otto 1874-1952 Hartmut Walravens: Otto Kümmel. Streiflichter auf Leben und Wirken eines Berliner Museumsdirektors. Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz, 24. 1987, 137-149 H. Walravens: Bibliographien zur ostasiatischen Kunstgeschichte in Deutschland. 3. Otto Kümmel. Hamburg: C. Bell 1985. IV, 83, 59 S., 1 Porträt (Han-pao tung-Ya shu-chi mu-lu. 28.) NDB 13. 1982, 211-212 (G. Naundorf) H. Walravens: Otto Kümmel, Kunsthistoriker und Museumsdirektor. Aus seinem Briefwechsel. In: H. Butz: Wege und Wandel. 100 Jahre Museum für Ostasiatische Kunst. Berlin: Staatliche Museen zu Berlin 2006, 71-80 Kümmel promovierte in Kunstgeschichte in Freiburg (1900) und kam dann über Hamburg (1901-1903) nach Berlin, wo er Leiter der ostasiatischen Kunstabteilung des Völkerkundemuseums, 1928 Direktor von dessen asiatischen Sammlungen und 1933 Generaldirektor der Berliner Museen wurde. Seit 1912 gab er mit William Cohn die einflussreiche Ostasiatische Zeitschrift heraus. Der «Bericht des Reichsministeriums» stellt fest: «In Wissenschaftskreisen wird Kümmel als ein Kunsthistoriker der Systemzeit betrachtet. Zu seiner engeren Umgebung zählten noch nach der Machtübernahme Kunstbolschewisten und Juden. Kümmel zeigt sich heute zur positiven Mitarbeit bereit, obwohl ihm eine klar umrissene Kunstrichtung fehlt.» (S. 7) Kümmel war ein kritischer Wissenschaftler, dem die ostasiatische Kunstgeschichte ihr wesentliches Profil verdankt. Es scheint, dass er nach anfänglichem Optimismus vom Nationalsozialismus enttäuscht war und seine einflussreiche Stellung nutzte, möglichst Schaden abzuwenden. Dem scheint zu widersprechen, dass er angeblich Erkes denunziert habe. Es liegen allerdings keine Erkenntnisse vor, ob Kümmels Äußerungen tatsächlich denunziatorisch oder fachlich kritisch waren. Kuhn, Franz Walther 10.3.1884-22.1.1961 Franz Kuhn and his translation of Jou P‘u T‘uan. Franz Kuhn (1884-1961) in memoriam. By James R. Hightower (Cambridge, Mass.). OE 8. 1961, 252-257 Gert Naundorf: Franz Kuhn. NDB 13. 1982, 257-258 Hatto Kuhn: Dr. Franz Kuhn (1884-1961). Lebensbeschreibung und Bibliographie seiner Werke. Wiesbaden: Steiner 1980. 180 S. (Sinologica Coloniensia. 10.) H. Walravens: Franz Kuhn. Ergänzungen und Register zur Biobibliographie von Hatto Kuhn. (Wiesbaden 1980.), Hamburg: C. Bell 1982. 4o (Han-pao tung-Ya shu-chi mu-lu.8.) H. Walravens: Franz Kuhn und der chinesische Roman. Zu einer Ausstellung in der Staatsund Universitätsbibliothek. Auskunft 1986, 28-35 Chang Peng: Modernisierung und Europäisierung der klassischen chinesischen Prosadichtung: Untersuchungen zum Übersetzungswerk von Franz Kuhn (1884-1961) Frankfurt a.M. [usw.]: Lang 1991. VII, 191 S. (Europäische Hochschulschriften I, 1275). Franz Kuhn promovierte 1909 mit einer juristischen Arbeit, nachdem er bereits 1904-1906 Chinesisch gelernt hatte. Von 1909 bis 1912 weilte er als Dolmetschereleve im auswärtigen Dienst in China, meist in Peking, aber auch in Harbin. Anschließend studierte er bei J.J.M. de Groot in Berlin Sinologie und wurde dessen Assistent. Seit 1919 lebte er als freier Schriftstel-
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ler und widmete sich der Übersetzung chinesischer Romane und Novellen. Seine zahlreichen Übertragungen sind in ihrer Breitenwirkung kaum zu überschätzen. Kuhn hat sich soweit bekannt nicht mit dem Nationalsozialismus eingelassen; es gibt aber eine interessante Vorgeschichte, wie sich aus einem Lebenslauf von 1937 sowie in Anträgen an die Reichsschrifttumskammer erhärtet. Er gehörte nämlich dem Deutschen Volksbund an und verfasste 1920 unter dem Pseudonym Mongtse eine Schrift «Es werde Licht» (98 S.). Der Deutsche Volksbund hatte die Devise: «Es gibt noch eine Rettung des Deutschen Volkes, wenn sich jeder Deutsche vor Augen hält, was unseren Vorfahren heiligste Pflicht war: Das Bewusstsein der blutsmäßigen Zusammengehörigkeit aller deutschen Volksteile!» Diese Organisation verlegte auch die Broschüre, die «Die Wahrheit über die Judenfrage» versprach und ein antijüdisches Pamphlet ist, der man Kuhns Autorschaft erst auf den letzten Seiten (S. 9698) anmerkt, wo er auf China eingeht; so postuliert er dort: «Man kann wohl sagen, auch wenn alle christlichen Staaten des Westens dem jüdischen Einflusse unterliegen sollten, am konfuzianischen Chinesentum wird die Macht des Judentums zerschellen!» Wie aus Untersuchungen der Gestapo hervorgeht, war Kuhn allerdings später mit einer Jüdin verheiratet, und aus dieser Ehe soll ein Kind hervorgegangen sein. Kuhn war überdies Parteimitglied, trat aber kurz nach der «Machtergreifung» aus der Partei aus, da ja das Ziel erreicht sei.15 Kuhns spätere Stellungnahme findet sich in Hatto Kuhn, a.a.O., S. 19, wo es in einem Brief an den Insel-Verlag heißt: «denn gerade in diesen Zeiten des Massenwahns und Organisationsrausches, dem auch ich vorübergehend unterlegen war...» Kuttner, Stephan 24.3.1907-12.8.1996 IBD II, 1, S. 676-677; Walravens: Exil 236; The two laws: studies in medieval legal history dedicated to Stephan Kuttner.Ed. by Laurent Mayali. Washington, D.C.: Catholic University of America Pr. 1990- XII, 248 S. (Studies in medieval and early modern canon law. 1.); 4RGG 4. 2001, 1911 Kuttner war Jurist, dem China-Institut in Frankfurt verbunden und beschäftigte sich ernsthaft mit China. So gab er 1940 Richard Wilhelms Aufsatzsammlung Sein und Zeit heraus. 1933 emigrierte er über Italien in die USA (1940). 1934-1940 forschte er an der Vatikanischen Bibliothek, 1940-1964 war er Professor an der Catholic University of America (Washington, D.C.), 1964-1970 Professor of Religious Studies an der Yale-Universität. Lessing, Ferdinand Diederich 1882-1961 H. Walravens: Ferdinand Lessing (1882-1961), Sinologe, Mongolist und Kenner des Lamaismus. Materialien zu Leben und Werk, mit dem Briefwechsel mit Sven Hedin. Osnabrück: Zeller Verlag 2000. 425 S.; Neuausgabe: Melle: Wagener Edition 2006. 432 S. H. Walravens: Ferdinand Lessing und Sven Hedin. Briefe aus dem Jahre 1931 zur Forschungsarbeit in der Mongolei und China. Studia Tibetica et mongolica (Festschrift Manfred Taube). Redigenda curaverunt Helmut Eimer, Michael Hahn, Maria Schetelich et Peter Wyzlic. Swisttal-Odendorf: Indica et Tibetica Verlag 1999, 307-322 (India et tibetica. 34.) H. Walravens: Die Hedin-Expedition 1930-1932. Briefe an Sven Hedins an seinen sinologischen Mitarbeiter Ferdinand Lessing. NOAG 173/174, 2003, 227-253 H. Walravens: Ferdinand Lessing (1882-1961) – ein Spezialist für China, die Mongolei und den Lamaismus. In: Das Reich der Mitte – in Mitte. Hrsg. von Florian C. Reiter. Wiesbaden: Harrassowitz 2006 (Asien- und Afrika-Studien der Humboldt-Universität zu Berlin. 27), 47-57 15
Kuhns antijüdische Schrift verdient eine etwas genauere Behandlung, die hier nicht gegeben werden kann.
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Gutachten von Jäger. Streiflichter 203-205 Lessing studierte Recht und orientalische Sprachen in Berlin, ging dann als Dozent nach China, holte 1925 seine Promotion nach und wurde Kustos am Völkerkundemuseum und Professor am Seminar für Orientalische Sprachen in Berlin. 1930-1933 nahm er an Sven Hedins Sino-Swedish Expedition teil und bildete sich zum Spezialisten für den tibetischmongolischen Lamaismus aus. 1935-1938 war er zur Wahrnehmung einer Professur an der University of California beurlaubt, die er 1938, nach einem Semester in Deutschland, fest übernahm, unter Verzicht auf die deutschen Pensionsansprüche. Er ist durch sein Werk Yungho-kung sowie sein Mongolian-English Dictionary bis heute bekannt. Jäger (Streiflichter 201) schlägt Lessing für einen Lehrstuhl vor, bemängelt indes, dass dieser für «1000 Dollars Gehalt» an die University of California gegangen sei. Liebenthal, Walter 12.6.1886-1982 Liebenthal Festschrift. Ed. by Kshitis Roy. Santiniketan: Visvabharati 1957. 297 S. (Chung-yin yen-chiu 中印研究 , Sino-Indian Studies. 5, 3-4.) Kürschner GK 14. 1983, 2497; Walravens: Exil 237 IBD II, 727 Liebenthal war zunächst Bildhauer und lernte nach französischer Kriegsgefangenschaft 1920 Paul Dahlke, den Leiter der buddhistischen Gemeinde in Frohnau (Berlin) kennen. Er studierte 1928-1933 Pali, Sanskrit, Tibetisch und Chinesisch und ging nach seiner Promotion 1933 nach China, wo er Forschungsassistent am Sino-Indian Institute der Harvard-Universität in Peking wurde. 1937 wurde er Lektor für Sanskrit und Deutsch an der Pekinger Universität; 1952-1960 war er Professor an der Visvabharati-Universität in Santiniketan. 1964-1967 wirkte er als Honorarprofessor in Tübingen. Er hat sich vorwiegend mit buddhologischen Themen beschäftigt. Lippe, Ernst Aschwin (Prinz zur Lippe-Biesterfeld) 1914-1988 Sherman E. Lee: Aschwin Lippe, 1914-1988. Archives of Asian Art. 42. 1989, 84-86, Porträt Lippe war Schüler von Otto Kümmel, promovierte über Li K‘an und seine «ausführliche Beschreibung des Bambus» (OZ 18. 1942/43, 1-35, 83-114, 166-183) und ging nach dem Krieg als Senior Research Fellow ans Metropolitan Museum in New York, wo er von 1949 bis 1973 Kustos war. Nach Kommilitonenbericht trat L. im Berliner Seminar in SA-Uniform auf. Löhr [Loehr], Max 1903-1988 Robert Bagley: Max Loehr, 1903-1988. Archives of Asian Art (New York) 42. 1989, 86-89, Porträt JAS 48. 1989, 240 (James Cahill) Helmut Brinker: Max Loehr (1903-1988). Münchener Beiträge zur Völkerkunde 2. 1989, 283290 Loehr promovierte 1936 in München mit einer Arbeit über chinesische Bronzen, war dann Kustos am Völkerkundemuseum und ging 1940 als Leiter des Deutschland-Instituts nach Peking. 1949 kehrte er nach München zurück, wurde aber 1951 an die University of Michigan berufen. Von 1960 bis zu seiner Emeritierung 1974 war er Professor für ostasiatische Kunst an der Harvard-Universität. «Er ... war kein Parteimitglied. Er war froh, in Peking zu sein und hier seinen wissenschaftlichen Interessen nachgehen zu können, uns gegenüber zeigte er sich als ein umgänglicher Mensch. Fürs D.I. und dessen Arbeiten hatte er kein Interesse, obwohl er im August 1941 die Leitung übernahm.» (Franke: Im Banne, 113)
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«Bericht des Reichsministeriums», S. 13: «Dr. Löhr hat sich fachlich vorwiegend ästhetisch orientiert und gilt als politisch wenig interessiert.» Löwenthal, Rudolf 1904-1996 Michael Pollak: Rudolf Loewenthal (1909-1996). MS 45. 1997, 415-417 H. Walravens: Schriftenverzeichnis von Rudolf Löwenthal (Loewenthal). MS 45. 1997, 417437 Löwenthal studierte Zeitungswissenschaft in Berlin und emigrierte 1934 nach China, wo er Dozent für Journalismus an der Yenching Universität in Peking wurde. 1947 ging er in die USA und lehrte an der Cornell und später an der Georgetown Universität. Neben dem Zeitungswesen (The religious periodical press in China) widmete er sich der Geschichte der Juden in China sowie der Bibliographie Zentralasiens, wobei er insbesondere russisches Material verwendete. Mänchen-Helfen, Otto 1894-1969 Herbert Franke: Maenchen-Helfen (eigentlich Helfen), Otto. NDB 15. 1987, 636 IBD II, 761: Walravens: Exil 237 Money Hickman in Oriental Art NS 17. 1971, 183 Robert Göbl in CAJ 13. 1969, 75-77 Charles King: The Huns and Central Asia: A bibliography of Otto J. Maenchen-Helfen. CAJ 40. 1996, 178-187 Bernhard Führer: Vergessen und verloren. Bochum: Projekt Verlag 2001 (Edition Cathay. 42.), 227-229 Mänchen promovierte 1923 bei Conrady in Leipzig, ging nach der «Machtübernahme» nach Wien, wo er 1933-1938 als Privatgelehrter lebte. Er emigrierte in die USA, wo er zunächst am Mills College (Oakland), dann an der University of California in Berkeley als Professor für ostasiatische Kunst und Archäologie wirkte. Seine Interessen galten der Geschichte Eurasiens und der Hunnen. Martin, Ilse Berlin 13.7.1914Ilse Martin erwarb ihr SOS-Diplom in Chinesisch 1937, nachdem sie die Jahre 1933-1936 in China verbracht hatte. 1939-1940 war sie als Angestellte in einer Abwehrstelle im Wehrkreis III tätig. In der Folge wurde sie 1941 nach Not-Promotion dem Deutschland-Institut in Peking attachiert, lieferte ihre Dissertation jedoch nach. Da ihre Mutter (Madeleine Becker) Amerikanerin war, ging sie von China aus in die USA, wo sie den bedeutenden Sinologen Achilles Fang heiratete. W. Franke in Asien 116. Franke: Im Banne, 114: «Sie war mehrere Jahre jünger als ich, kein Parteimitglied, aber recht naiv, und wurde bald Führerin des Pekinger BDM, d.h. der weiblichen Hitlerjugend.» «Bericht des Reichsministeriums», S. 13: «wurde ... als ungewöhnlich begabt geschildert...» Meier, Franz-Joseph 30.3.1906-1.1.1987 Führer, a.a.O., 118-119 Meier promovierte 1930 mit einer indologischen Arbeit in München. Nach kurzer Tätigkeit am Völkerkundemuseum trat er in die Bayerische Staatsbibliothek ein. Während des Krieges diente er in der Wehrmacht in Wien, wo er bei Rosthorn chinesische Texte las. Nach dem
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Krieg setzte er seine Tätigkeit an der Münchener Staatsbibliothek fort und trat 1970 als Leiter der Fernostabteilung in den Ruhestand. Meister, Peter Wilhelm 1909-1991 Festschrift für Peter Wilhelm Meister zum 65. Geburtstag am 16. Mai 1974. Hrsg. Annaliese Ohm, Horst Reber. Hamburg: Hauswedell 1975, 331 S. (ohne Biographie und Porträt, aber mit kurzem Schriftenverzeichnis, S. 327) Meister war als Kustos am Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe und dann als Direktor am Museum für Kunsthandwerk in Frankfurt am Main tätig. Meriggi, Piero 1899-1982 Meriggi war Lektor für Italienisch und Privatdozent für allgemeine Sprachwissenschaft an der Universität Hamburg, die ihn 1940 als Antifaschisten entließ. Bis zu seiner Rückkehr nach Italien lebte er als Privatlehrer in Hamburg. Neben seiner romanistischen Arbeit war Meriggi ein begabter Linguist und auch sinologisch beschlagen, wie z.B. seine Arbeit Zur Grammatik der Li-Sprache Hainans zeigt. Michael, Franz 1907-1992 Walravens Exil 238; IBD II/2, 815-816; Kern 521-522 Marie-Luise Näth in The China Quarterly 138. 1994, 513-516 Vgl. auch den Briefwechsel in Joseph Franz Rock (1884-1962): Tagebuch der Reise von Chieng Mai nach Yünnan, 1921-1922. Briefwechsel mit C. S. Sargent, University of Washington, Johannes Schubert und Robert Koc. Wien: Österreichische Akademie der Wissenschaften 2007. 580 S. (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Sitzungsberichte. 757) Michael war Jurist; 1933 emigrierte er nach China, wo er 1934-1938 an der Universität Hang-chou tätig war. 1939 ging er in die USA, wo er 1942-1964 Professor für chinesische Geschichte an der University of Washington (Seattle) war. Bis zu seiner Emeritierung 1977 war er u.a. Direktor des Institute for Sino-Soviet Studies. Sein Hauptwerk ist dem T‘ai-p‘ingAufstand gewidmet. Mish (Misch), John (Johannes) 1909-1983 David H. Stam: John L. Mish (1909-1983). JAS 43. 1984, 615 New York Times August 28, 1983 Martin Gimm in Aetas Manjurica 3. 1992, 150-151 Misch stammte aus Bismarckhütte und promovierte 1934 in Berlin in Sinologie. Er unterrichtete in der Folge in Warschau und in Bagdad; 1941-1946 war er für die indische Regierung tätig. Seit 1946 leitete er die Orientalische Abteilung, zeitweise auch die Slavische Abteilung der New York Public Library. Seine Spezialität war das Mandjurische. Mohr, Wolfgang 13.6.1903-7.10.1979 H. Franke: Wolfgang Mohr † OE 27. 1980, 151-154. Mohr stammte aus München und war Ingenieur. Die Jahre 1931 bis 1954 verbrachte er in China, als Firmenvertreter für Druckmaschinen und im Maschinenbau. Nach Deutschland zu-
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rückgekehrt, nahm er einen Lehrauftrag für chinesisches Zeitungswesen wahr und publizierte ein Handbuch Die moderne chinesische Tagespresse (Wiesbaden 1976). Mühlenweg, Fritz 1898-1961 Gabriele Goldfuß: Tausendjähriger Bambus: Lyrik und Prosa Fritz Mühlenwegs (1898-1961). Chinawissenschaften, 505-527 Kürschner LK; Vollmer16 Mühlenweg verbrachte einige Jahre bei Sven Hedin auf seiner Sino-Swedish Expedition (1927-1932). Danach studierte er Kunst in Wien und lebte als Maler. Während des Krieges wurde er zur Wehrmacht eingezogen. Aus seinen China- und Mongolei-Erinnerungen gestaltete er ein preisgekröntes Jugendbuch In geheimer Mission durch die Wüste Gobi, versuchte sich aber auch an Nachdichtungen des Buches der Lieder (Shih-ching).17 Mueller, Herbert 1885-1966 H. Walravens: Herbert Mueller (1885-1966), Sinologe, Kunsthändler, Jurist und Journalist. Eine biobibliographische Skizze. Berlin: Bell 1992 [1993]. 206 S. 4o (Han-pao tung-Ya shu-chi mu-lu. 45.) Mueller war Jurist, in der Sinologie Schüler von Wilhelm Grube. Er ging nach dem Studium 1912 auf eine Einkaufsreise für das Berliner Museum für Völkerkunde, arbeitete während des Krieges für die Nachrichtenstelle für den Orient und ging dann 1924 als Korrespondent der Frankfurter Zeitung nach Peking. Später leitete er die Pekinger Niederlassung des Deutschen Nachrichtenbüros. Auch war er als Kunsthändler tätig. Nach Kriegsende wurde er wegen angeblicher «news intelligence» im Shanghaiprozeß zu Festungshaft verurteilt. Nach seiner Entlassung lebte er in Bonn und Hamburg als Journalist. Müller, Lionel 12.8.1879W. F[uch]s: Dr. Lionel Müller. OE 6. 1959, 247 E. Haenisch: Zu den Arbeiten von Lionel Müller. ZDMG 1959, *1-*5 H. Walravens: Friedrich Ernst August Krause - Major und Ostasienwissenschaftler. Eine Biobibliographie. Hamburg: C. Bell 1983, 10 Müller praktizierte als Arzt in Wasserburg am Inn. In seiner Freizeit beschäftigte er sich mit orientalischen Sprachen, so mit dem Chinesischen, Mandjurischen und Tibetischen. Munsterberg [Münsterberg], Hugo 1916-1995 Münsterberg, Sohn des Verfassers der Chinesischen Kunstgeschichte, Oscar Münsterberg, kam 1935 in die USA und promovierte 1942 in Harvard mit einer Arbeit über frühe chinesische Bronzen. Bis zu seiner Emeritierung 1979 lehrte er Kunstgeschichte an verschiedenen Universitäten, zuletzt in New Paltz. Nobel, Johannes 1887-1960
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Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Hans Vollmer. Leipzig: Seemann 1953-1962. Tausendjähriger Bambus. Nachdichtungen aus dem Schi-King. Hamburg: Dulk (1945), 95 S.
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Wilhelm Rau, Claus Vogel: Bibliography. In: Jñânamuktâvalî. Commemoration volume in honour of Johannes Nobel on the occasion of his 70th birthday. New Delhi: International Academy of Indian Culture 1963. (XII, 276 S.) (Sarasvati Vihara Series. 38.) 7-16 Nobel, Indologe und Buddhologe, habilitierte sich 1921 an der Universität Berlin, wurde 1927 zum außerordentlichen Professor ernannt und wurde 1928 Ordinarius in Marburg. Auf chinesischem Gebiet fungierte er als Herausgeber von: Erklärendes Wörterbuch zum chinesischen Buddhismus. Chinesisch-sanskrit-deutsch. Von Heinrich Hackmann. Nach seinem Nachlass überarbeitet von J. Nobel. Leiden: Brill 1951 ff. Olbricht, Peter 11.11.1909-2001 Kürschner GK 1992, 1659-1660 Olbricht studierte in Berlin Sinologie und promovierte dort 1939. 1950 wurde er Privatdozent in Göttingen, 1956 außerplanmäßiger Professor in Bonn und 1963 daselbst Ordinarius für Sinologie. 1975 wurde er emeritiert. «Bericht des Reichsministeriums», S. 14: «Olbricht wird zu den befähigten Nachwuchskräften in der Sinologie gerechnet und als ein fleißiger und gründlicher Arbeiter geschildert. Gegenwärtig ist er als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter im Auswärtigen Amt tätig.» Olschki, Leonardo 1885-1861 Arthur R. Evans, Jr: Leonardo Olschki, 1885-1961. Romance philology. 31. 1977, 17-54; Walravens: Exil 238 Olschki, aus der bekannten Verleger- und Antiquarsfamilie, war als Romanist und Historiker Professor für neuere Sprachen in Heidelberg. Nach der «Machtübernahme» ging er nach Florenz und emigrierte von da in die USA. In Berkeley lernte er Chinesisch und wurde Research Associate und Lektor für Chinesisch an der University of California. Olschki war insbesondere Dante- und Marco Polo-Spezialist. Oppenheim, Alfred 1873-1953 Paul Arnsberg: Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution. Bd. 3, S. 329-339; Thieme/Becker18; Wininger19 Oppenheim war Maler und Sammler chinesischer Kunst. Er bearbeitete die Kunstkataloge des Auktionshauses Hugo Helbing in Frankfurt. 1938 emigrierte er nach England. Pernitzsch, Max Gerhard 1882-1945 Gutachten von Jäger. Streiflichter 199 Felber (in Clavis), 89. Jäger (Streiflichter 199) kann Pernitzsch keinerlei neue Forschungsergebnisse zuschreiben. «Immerhin gehört Pernitzsch zu den wenigen praktischen Kennern Chinas und des Chinesischen, über die wir in Deutschland verfügen, ... Für eine Beurteilung des Genannten in charakterlicher und politischer Hinsicht stehen mir leider keine Unterlagen zur Verfügung.» P. war Mitglied der NSV. Vgl. Anhang.
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Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart; begr. von Ulrich Thieme und Felix Becker. Leipzig: Semann 1907-1950. S. Winiger: Große jüdische National-Biographie. Czernowitz: Arta 1925-1936.
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Perzyński, Friedrich 1877-1962 H. Walravens: Friedrich Perzyński (1877-1962?), Kunsthistoriker, Ostasienreisender, Schriftsteller: Leben und Werk. Melle: Edition Wagener 2005. 318 S. Perzyński war weitgehend Autodidakt und promovierte 1924 an der Universität Hamburg. Er war als Reisender und Forscher in China und Japan. Er ist neben seinem Hauptwerk über japanische Masken insbesondere durch Von Chinas Göttern (München: Wolff 1920) bekannt geworden. Er verbrachte die Nazi-Zeit teils im Mittelmeergebiet, teils in Argentinien. Inwieweit er als Emigrant anzusehen ist, bleibt einstweilen unklar. Poppe, Nikolaus 8.8.1897-1992 Nicholas Poppe: Reminiscences. Edited by Henry G. Schwarz. (Bellingham:) Western Washington University (1983). XIII, 331 S. (Studies on Asia. 16.) Omeljan Pritsak: Nikolaus Poppe zum 60. Geburtstag. Studia Altaica. Festschrift für Nikolaus Poppe zum 60. Geburtstag am 8. August 1957. Wiesbaden: Harrassowitz 1957 (Ural-altaische Bibliothek. 5), (189 S.), 7-16 John R. Krueger, Omeljan Pritsak: Nikolaus Poppe Bibliographie. Ebda, 177-189 Poppe stammte aus einer russlanddeutschen Familie; sein Vater war im russischen auswärtigen Dienst und kam durch ein Attentat in Tientsin ums Leben. Poppe wurde Professor für Mongolistik an der Leningrader Universität. 1941 nutzte er das Vorrücken deutscher Truppen, um nach Deutschland zu gelangen, wo er für das Ostasieninstitut arbeitete. Nach dem Krieg ging er nach Seattle, wo er Professor für Mongolistik wurde. Poppe war einer der weltweit bedeutendsten Mongolisten. Randow, Elgar von 14.2.1904-3.2.1977 H. Walravens: Die ersten deutschen Übertragungen von Gedichten Xu Zhimos. Mitteilungsblatt. Deutsche China-Gesellschaft. 2002: 1, S. 16-24 Randow studierte Jura und legte 1924 die juristische Staatsprüfung ab. 1926 zum Attaché im Auswärtigen Amt ernannt, war er bis zum November 1930 in der Zentrale, der Ostasienabteilung, im Referat Polen und beim Protokoll tätig. 1930 legte er das Chinesisch-DiplomExamen am Seminar für Orientalische Sprachen in Berlin ab und wurde am 25.8.1930 der Gesandtschaft in Peking als Legationssekretär zugeteilt, von wo er die Versetzung als Vizekonsul an das Generalkonsulat in Shanghai erhielt. 1939 erfolgte die Ernennung zum Konsul II. Kl., und am 22.7.1939 zum Konsul II. Kl. in Basel – die Stelle konnte er aber wegen des Kriegsausbruchs nicht antreten. Insofern war er von Dezember 1939 bis März 1941 als 2. Verbindungsmann des Auswärtigen Amtes beim Luftwaffenführungsstab mit Dienstsitz im Hauptquartier der Luftwaffe tätig. Am 11.3.1941 wurde ihm die Amtsbezeichnung Gesandtschaftsrat bei der komm. Zuteilung an die Botschaftsdienststelle Shanghai als Leiter beigelegt. Seit Frühjahr 1942 war er nicht mehr kommissarisch, sondern als stellvertretender Leiter in dieser Funktion. Von Mai bis Oktober 1945 verblieb er ohne weitere Tätigkeit in Shanghai, kam am 18.10.1945 in amerikanische Internierung und am 16.4.1946 in Untersuchungshaft bei den amerikanischen Militärbehörden, wurde aber am 13.11.1946 von dem Vorwurf der Weiterarbeit mit den Japanern freigesprochen und im Februar 1947 repatriiert. 1952 in das Auswärtige Amt einberufen, wurde er schließlich, nach Zwischenstationen Leiter des Generalkonsulats in Kalkutta und trat 1969 in den Ruhestand. In der Folge war er als Generalsekretär bzw. stellv. Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ostasienkunde tätig. R. war Mitglied der NSDAP; in Shanghai war er u.a. für Propagandaarbeit zuständig. Er gehörte zu den wenigen deutschen Diplomaten, die des Chinesischen mächtig waren.
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Ratchnevsky, Paul 1899-1991 Udo Barkmann: Erinnerungen an den Nestor der ostdeutschen Mongolistik P. Ratchnevsky. asien, afrika, lateinamerika 22. 1994, 595-617 R., gebürtig aus Tiflis, stammte aus einer Petersburger Familie, studierte in Paris Sinologie und war seit 1938 in Deutschland. Er arbeitete im Krieg in einer Dresdner Firma und nach dem Krieg als Sprachlehrer. Ab 1951 war R. Lehrbeauftragter, ab 1952 Professor in Leipzig. 19541958 war R. Direktor des Instituts für Chinakunde an der Humboldt-Universität in Berlin. 1964 wurde er emeritiert. Er hat sich speziell mit der Yüan-Zeit befasst und die Mongolistik in der DDR ausgebaut. Reichwein, Adolf 1898-1944 Ullrich Amlung: Adolf Reichwein 1898-1944. Reformpädagoge, Volkskundler, Widerstandskämpfer. Marburg 1990- 95 S. (Schriften der Universitätsbibliothek Marburg. 50.) Ullrich Amlung: Adolf Reichwein 1898-1944. Ein Lebensbild des politischen Pädagogen, Volkskundlers und Widerstandskämpfers. Frankfurt a.M.: Dipa Vlg. 1991. 696 S. (Sozialhistorische Untersuchungen zur Reformpädagogik und Erwachsenenbildung. 12.) Felber (in Clavis), 91 Reichwein trat mit einer einflussreichen Dissertation China und Europa (Berlin 1923) hervor, die anschließend ins Englische und Chinesische übersetzt wurde. R. war Pädagoge, nicht Sinologe, interessierte sich aber lebhaft für Ostasien. 1933 wurde er entlassen und arbeitete dann bis zu seiner Verhaftung 1944 als Volksschullehrer. Als Mitglied des Kreisauer Kreises wurde er hingerichtet. Reifler, Erwin 1903-1965 Bernhard Führer: Vergessen und verloren. Bochum: Projekt Verlag 2001 (Edition Cathay. 42.), 245-265 Reifler ging über China (1932), wo er zuletzt Professor an der Université l’Aurore Shanghai (1943-1947) war, in die USA (1947). Dort wurde er Professor für Sinologie (1955 full professor) an der University of Washington (Seattle). Er war sprachwissenschaftlich und paläographisch interessiert und betreute insbesondere Projekte zur maschinellen Übersetzung. Reismüller, Georg 1882-1936 H. Walravens: Palastrevolution in der Staatsbibliothek? Die Kontroverse um Generaldirektor Georg Reismüller. Bibliotheksforum Bayern. 26. 1998, 256-270 Nach dem Besuch des Alten Gymnasiums in Regensburg (1892-1901) studierte R. 19011906 klassische und neuere Philologie in München, Besançon, Lyon, London und Brüssel. 1907 trat er als Praktikant bei der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB) ein, legte 1909 die Fachprüfung ab und promovierte gleichzeitig zum Dr. phil. Seit 1910 Kustos an der Bibliothek, wurde er 1921 zum Direktor der neu gegründeten Pfälzischen Landesbibliothek ernannt, die er mit Elan aufbaute. 1928/29 unternahm er eine Reise um die Welt, auf der er für die BSB eine größere Anzahl chinesischer Bücher erwarb. 1929 wurde er zum Generaldirektor der BSB ernannt, die er zielbewusst auszubauen suchte. Dabei erwiesen sich neben der Wirtschaftslage die Angriffe des Abteilungsleiters Leidinger, der sich als designierter Generaldirektor gesehen hatte, und seine Gegnerschaft zum Nationalsozialismus als große Hindernisse. Immerhin ge-
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lang ihm noch die bauliche Erweiterung der BSB. 1935 wurde er verhaftet und in den Ruhestand versetzt; kurze Zeit darauf starb er. Neben der bibliothekarischen Tätigkeit, die durch Ideen und organisatorisches Geschick geprägt ist, verfolgte R. seine sinologischen Interessen, als deren Ergebnisse kleine, aber wichtige Beiträge über die Geschichte der ostasiatischen Sammlungen der BSB sowie die Übernahme von Darstellungen aus europäischen Maschinenbüchern in die chinesische Enzyklopädie von 1726 (Ku-chin t‘u-shu chi-ch‘eng) erschienen. Rock, Joseph Franz Karl Wien 1884-1962 Honolulu Joseph Franz Rock (1884-1962): Berichte, Briefe und Dokumente des Botanikers, Sinologen und Nakhi-Forschers. Mit einem Schriftenverzeichnis. Herausgegeben von H. Walravens. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002. (VOHD Supplement. 36.) Joseph Franz Rock: Briefwechsel mit E. H. Walker, 1938-1961. Wien: Österreichische Akademie der Wissenschaften 2006. 328 S. (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte. 738.) Joseph Franz Rock (1884-1962): Tagebuch der Reise von Chieng Mai nach Yünnan, 19211922. Briefwechsel mit C. S. Sargent, University of Washington, Johannes Schubert und Robert Koc. Wien: Österreichische Akademie der Wissenschaften 2007. 580 S. (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Sitzungsberichte. 757) Rock lebte zur fraglichen Zeit in China und wear US-Staatsbürger; er hielt jedoch Kontakt zu seinen Neffen in Wien und zu Johannes Schubert in Leipzig. Er war gegen den Nationalsozialismus eingestellt. Rösel Gottfried -1992? Rösel hatte in Berlin Sinologie studiert und 1923 promoviert.20 Er ist Übersetzer des Liaochai chih-i ins Deutsche (vollständige Ausgabe) sowie der vorher nicht übersetzten Novellen des Chin-ku ch‘i-kuan. Rosthorn, Arthur von 1862-1945 Gerd Kaminski, Else Unterrieder: Von Österreichern und Chinesen. Wien, München, Zürich: Europaverlag 1980, 329 ff. Bernhard Führer: Vergessen und verloren. Bochum: Projekt Verlag 2001 (Edition Cathay. 42.), 97-123 Else Unterrieder: Arthur von Rosthorn - Diplomat, Wissenschaftler und Mittler zwischen Österreich und China. Zeitgeschichte 5. 1978, 221-246 A. Forke: Zum 80. Geburtstag von Exzellenz Arthur von Rosthorn. OAR 23. 1942, 92-93 R. studierte in Oxford bei Legge, trat dann in den österreichischen diplomatischen Dienst ein und war 1911-1917 Gesandter und Minister in Peking. Nach Österreich zurückgekehrt, wurde er Mitglied der Akademie der Wissenschaften und lehrte seit 1922 als Honorarprofessor für Chinesisch an der Universität Wien. «Bericht des Reichsministeriums», S. 11: «Politisch gilt Rosthorn als Anhänger des Weimarer Systems und ist der nationalsozialistischen Bewegung gegenüber ablehnend eingestellt. Er verkehrt heute noch in legitimistischen Kreisen.» Rottauscher, Anna 1892-1970 20
Das Leben des chinesischen Reformers Wang Ngan-shih aus Buch 327 des Sung-shih übersetzt und erklärt. Berlin, Phil. Diss. vom 15. Okt. 1923 [1924]. Auszug in Jahrbuch der Phil. Fak. Berlin 1922/23, I, 290-292.
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H. Walravens: Anna von Rottauscher, geb. Susanka (29. Dezember 1892, Wien - 12. Juni 1970). Leben und Werk. OE 37. 1994, 235-245 B. Führer, a.a.O., 213-218. R. lernte bei Rosthorn und Leopold Woitsch (1868-1939) Chinesisch und wirkte als Übersetzerin chinesischer Literatur sowie als Autorin populärer Bücher, so über chinesische Medizin und Astrologie. Sie lebte auf Grund ihres Gesundheitszustandes (dem Vernehmen nach Elephantiasis) zurückgezogen. Rousselle, Erwin 1890-1949 H. Walravens: Erwin Rousselle (Hanau 8. April 1890-Eschenlohe/Obb. 11. Juni 1949). Notizen zu Leben und Werk. MS 41. 1993, 283-298 Rousselle wurde als Nachfolger Richard Wilhelms Ende 1930 Direktor des Frankfurter China-Instituts und war seit 1935 nb. a.o. Professor an der Universität Frankfurt. Nach seiner Rückkehr von einer Chinareise 1938-1940 wurde ihm die Lehrerlaubnis und 1942 die Leitung des Chinainstituts entzogen. Er arbeitete anschließend in der Hartsteinindustrie, vermochte indes nach Kriegsende, teils durch bürokratische Hindernisse, teils auf Grund der Zerstörung des Chinainstituts, seine frühere Position nicht wieder zu erringen. Seine Absetzung erfolgte auf Betreiben des Gauleiters wegen «politischer Unzuverlässigkeit» und Rousselles früherem Engagement als Freimaurer. In den vorliegenden Unterlagen (z.B. Brief an die Spruchkammer) äußert sich Rousselle nicht bezüglich seiner Parteizugehörigkeit. «Bericht des Reichsministeriums» (S. 9): «In charakterlicher Hinsicht gehört Rousselle zu dem Typ intellektuell-bürgerlicher Wissenschaftler. Persönlich sei er von einer geistigen Elastizität und Beweglichkeit, die ihm zeitweise den Eindruck verschafft, als ob er sich auch dem Nationalsozialismus gegenüber angepasst habe. Als Freimaurer ... wurde er aus der Bewegung ausgeschlossen. Gegen Ende 1941 mußte er auch die Leitung des Chinainstitutes niederlegen.» Rudelsberger, Hans 1868-1940 Reichshandbuch der deutschen Geschichte. 1930 (mit Porträt); Führer, a.a.O., 321-322. Rudelsberger war Jurist und war wohl durch seine Weltreisen auf die chinesische Literatur aufmerksam geworden, deren Übersetzung er sich in der Folge autodidaktisch verschrieb. Im Hauptberuf war er Aufsichtsrat der Pschorr-Brauerei in München. Er veröffentlichte Chinesische Novellen (Leipzig 1914), Chinesische Liebeskomödien (Wien 1923) und Chinesische Schwänke (Wien 1920). Rüdenberg, Werner 2.11.1881-9.6.1961 NDB 22. 2005, 210 R. ging als Kaufmann nach Shanghai; 1919 wurde er repatriiert und studierte mehrere Semester am Seminar für Orientalische Sprachen und der Universität Berlin. Nach der Machtübernahme der Nazis kehrte er von China nicht nach Deutschland zurück, sondern begab sich nach London. 1940 war er kurzzeitig auf der Isle of Man interniert; 1941-1946 wirkte er als deutscher Sprachlehrer an Flieger- und Dolmetscherschulen in Cambridge und London, 19461952 als Dozent für Deutsch an der Universität London (Queen Mary College, Westfield College). R. ist als Autor eines bis heute verwendeten Chinesisch-deutschen Wörterbuchs (Hamburg 1924. IX, 687 S., 6400 Zeichen; Neuausgabe von H. Stange, 1963), das 3 Auflagen erlebte und
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etwa 50 Jahre das Standardwörterbuch war, bekannt (Jäger: «Das erste chin.-dt. Wörterbuch, das diesen Namen verdient.») Salmony, Alfred, Kunsthistoriker 10.11.1890-29.4.1958 H. Walravens: Bibliographien zur ostasiatischen Kunstgeschichte in Deutschland. 2. Alfred Salmony. Hamburg: C. Bell 1984. X, 66 S., 2 Porträts. 4o (Han-pao tung-Ya shu-chi mu-lu.27.) John F. Haskins in Artibus Asiae 21. 1958 A.B. Griswold in Revue archéologique 1. 1960, 104-106 Gustav Ecke in Ars orientalis. 4. 1961, 453 Henry Trubner: Alfred Salmony. Zur Kunstgeschichte Asiens. Wiesbaden: Steiner 1977, 17-20 NY Times May 3, 1958 NDB 22.2005, 386-387 (H. Walravens) Salmony war als Kunsthistoriker Schüler von Josef Strzygowski in Wien. Er wurde 1924 Assistent und dann stellvertretender Direktor am Museum für Ostasiatische Kunst in Köln und trat besonders durch die Asiatische Kunstausstellung 1926 in Köln sowie die Gründung der Zeitschrift Artibus Asiae (1924, mit Carl Hentze) hervor. 1933 emigrierte er über Frankreich in die USA, wo er Professor of Fine Arts an der New York University wurde. Samson, Otto William 1900-1976 Franke in Asien 115; IBD 1017. S. war 1930-1933 Kustos der ostasiatischen Sammlungen des Museums für Völkerkunde, Hamburg, und damit der Vorgänger von Hans Wist. S. emigrierte 1933 nach England, wo er als Ethnologe u.a. für die University of Edinburgh wie auch das British Museum tätig war. Schaeffer, Philipp 1894-1943 Felber (in Clavis), 91-92 Anna Seghers: Erinnerungen an Philipp Schaeffer. Neue Berliner Illustrierte 1975, Nr. 45. Dem Andenken an Dr. Philipp Schaeffer. Humboldt-Universität 29. 1984/85, Nr. 23 u. 39. Schaeffer promovierte 1935 in Heidelberg, ging dann als Bibliothekar nach Berlin, wurde 1928 Mitglied der KPD, 1935 verhaftet und zu einer fünfjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Als Mitglied der Widerstandsgruppe «Rote Kapelle» wurde er 1942 erneut verhaftet und 1943 hingerichtet. An Arbeiten Schaeffers sind mir bekannt geworden: Otto Rosenberg: Die Weltanschauung des modernen Buddhismus im fernen Osten. Aus dem Russischen übers. von Ph. Schaeffer, mit einer biographischen Skizze von Theodor Stcherbatsky. Heidelberg: Institut für Buddhismuskunde 1924, 47 S. (Materialien zur Kunde des Buddhismus. 6.) - Nagarjuna. Yukti-sastikâ. Die 60 Sätze des Negativismus, nach der chinesischen Version übersetzt von Phil. Schaeffer. Heidelberg: Institut für Buddhismuskunde 1924, 21 S. (Materialien zur Buddhismuskunde. 3.) Schedel, Josef 1856-1943 H. Walravens: Josef Schedel, ein deutscher Apotheker und Sammler in Ostasien (1856-1943). Oriens extremus. 19. 1972, 223-23021
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Eine Monographie über Schedel und Hans Rudelsberger ist im Manuskript abgeschlossen.
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Schedel studierte Pharmazie und ging dann als Apotheker nach Japan (1886-1899) und nach China (1909-1922). In Peking führte er die Deutsche Apotheke. An Polyneuritis erkrankt, kehrte er 1922 nach Deutschland zurück und lebte als Pensionär auf dem Michaelsberg in Bamberg. Seine zahlreichen Sammlungen kamen mehreren Museen und Bibliotheken zugute. In seinen Tagebüchern äußert er sich zunächst «normal» über Juden, in den dreißiger Jahren zunehmend negativ, vermutlich auf Grund der Propaganda. Scherman, Lucian 1864-1946 Vgl. u.a. Uta Weigelt, H. Walravens, Wolfgang Stein: Lucian Milius Scherman (1864-1946) Bibliographie. Münchner Beiträge zur Völkerkunde 6. 2000, 51-55 (Der gesamte Band ist S. gewidmet.) Scherman war Indologe und Direktor des Staatlichen Museums für Völkerkunde in München. Er machte sich als Herausgeber (seit 1907) der Orientalischen Bibliographie einen Namen, war auf Hinterindien spezialisiert und beschäftigte sich auch mit China («Zur chinesischen Plastik»). Er emigrierte 1939 in die USA. Schierlitz, Ernst 13.1.1902-11.2.1940 Chang Tien-Lin: Dr. Ernst Schierlitz † OAR 21. 1940, 63-65 R. Rahmann: In memoriam Ernst Schierlitz (1902-1940), Mitherausgeber der Monumenta Serica. MS 7. 1942, VII-IX, Porträt Zentralblatt für Bibliothekswesen 57. 1940, 530-531 Schierlitz war Bibliothekar der Fu-jen-Universität in Peking und Geschäftsführer des Deutschland-Instituts; er starb während eines Heimatbesuchs. Er war Parteimitglied (Inform. W. Franke). Nach dem Studium der Kunstgeschichte, Sinologie, Indologie und Völkerkunde (Promotion 1926) wurde er Mitarbeiter der Bayerischen Staatsbibliothek und legte 1929 sein Bibliothekarsexamen ab. 1930 ging er an die Fu-jen-Universität. Schindler, Bruno 16.10.1882-29.7.1964 E. Haenisch: Bruno Schindler und die alte Asia Major. OE 12. 1965, 7-9, Porträt IBD II, 1032 Paul Demiéville: Bruno Schindler (1882-1964). TP 51. 1964, 262 W. Simon: Obituary of Dr. Bruno Schindler. AM NS 11. 1965, 93-100 Felber (in Clavis), 89. Bruno Schindler reiste 1912 nach China, studierte dann Sinologie in Leipzig, wo er 1919 mit Das Priestertum im alten China promovierte. Er gründete die Zeitschrift Asia Major, die sehr erfolgreich war, aber 1935 von den Nazis liquidiert wurde. Schindler emigrierte 1933 nach England und führte die Zeitschrift Asia Major bis 1935 von dort aus weiter. Er arbeitete im Verlagwesen, ab 1939 für den Verlag Lund Humphreys, und gab ab 1949 Asia Major in Großbritannien heraus. Schirokauer, Conrad Max 1929IBD II, 1033; Kern Schirokauer kam über Italien (1935) in die USA (1939) und studierte an den Universitäten Yale und Stanford, wo er 1960 promovierte. Seither hat er an mehreren Universitäten gelehrt, seit 1977 am City College, New York. Sein Schwerpunkt ist die Philosophie der Sung-Zeit.
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Schmitt, Erich 27.2.1893-1955 W. Franke: Erich Schmitt† NOAG 79/80. 1956, 149 Gutachten von Jäger. Streiflichter 207-208 Erich Schmitt. Eine biobibliographische Skizze. In: H. Walravens: Vincenz Hundhausen. Nachdichtungen, Pekinger Bühnenspiele und zeitgenössische Kritik. Wiesbaden. Harrassowitz 2000, 147-183 Schmitt war in der Sinologie Schüler von J. J. M. de Groot, bei dem er 1916 in Berlin promovierte und sich 1919 habilitierte. 1923 erhielt er einen Lehrauftrag für chinesische Religionsgeschichte an der Universität, habilitierte sich 1927 nach Bonn um und wurde 1928 nichtbeamteter außerordentlicher Professor. Er hielt sich 1930-1931, 1938-1939 und 1941-1947 in China auf, zuletzt, um ein großes Chinesisch-Deutsches Wörterbuch abzuschließen. Schmitt gehörte der NSDAP nicht an, lediglich dem NS-Lehrerbund, der NSV und dem NS Luftschutzbund. In einem Gutachten des NS-Dozentenbundes über ihn vom Jahre 1939 heißt es: «Über die politische Einstellung von Prof. S. lässt sich kein abschließendes Urteil wiedergeben, doch ist seine Gesamteinstellung gegenüber Staat und Bewegung durchaus loyal». Jäger (Streiflichter 207): «Weniger günstig muss das Urteil über Schmitt als Menschen lauten. ... Mein Gewährsmann schreibt: ‹Kahle pflegte ihn als Lehrer zu loben, als Wissenschaftler zu verwerfen und sagte ihm nach, er meide den Umgang mit den Kollegen, um in Laienkreisen Triumphe zu feiern. Ich selbst muss ihm nachsagen, dass er zur scharfen, unberechtigten Kritik neigt gegenüber Leuten, die ihm nicht schaden können...› Vielleicht erklärt sich manches in Schmitts Charakter dadurch, dass er ... mütterlicherseits polnischer Abkunft ist.» Der «Bericht des Reichsministeriums» (S. 8) konstatiert: «Seine politische Einstellung dem nationalsozialistischen Reich gegenüber wird als ‹loyal› bezeichnet.» Schmitthenner, Heinrich 3.5.1887-18.2.1957 F. Tichy: Wissenschaftliche Veröffentlichungen von Heinrich Schmitthenner, zusammengestellt von Franz Tichy. (Auswahl). Petermanns Geographische Mitteilungen 98. 1954, 330-332 S. war (seit 1946) Ordinarius an der Universität Marburg und Direktor des Geographischen Instituts, nachdem er 1935-1945 Ordinarius an der Universität Leipzig gewesen war. Zu seinen Publikationen gehören u.a. Chinesische Landschaften und Städte (Stuttgart 1925) und China im Profil (Leipzig 1934). Schröder, Dominik 1910-1974 Arnold Burgmann: P. Dominik Schröder SVD (1910-1974). Anthropos. 70. 1975, 1-5 Schröder wurde 1937 zum Priester geweiht und reiste 1938 nach China aus. Nach Zwischenstationen in Shantung und Peking war er 1946-1949 in der Mission in Kansu tätig. Repatriiert, studierte er in Frankfurt und promovierte dort 1951. Er lehrte anschließend in St. Augustin und an der Nanzan-Universität (Nagoya). 1969 kehrte er ans Anthropos Institut zurück, um seine ethnographischen Materialien aufzuarbeiten. Er hat u.a. über die Monguor und das Geser-Epos gearbeitet. Schubert, Johannes 7.9.1896-2.8.1976 Asienwissenschaftliche Beiträge. Johannes Schubert in memoriam. Herausgegeben von Eberhardt Richter und Manfred Taube. Berlin: Akademie-Verlag 1978, 201 S., 28 Abb. (Veröffentlichungen des Museums für Völkerkunde zu Leipzig. 32.)
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Eberhardt Richter: Johannes Schubert (1896-1976). Namhafte Hochschullehrer der KarlMarx-Universität Leipzig 5. 1894, 66-74 H. Walravens: Briefwechsel Johannes Schuberts mit Ernst Schäfer und Bruno Beger. NOAG 175-176. 2004,165-224 Vgl. auch Rock (Briefwechsel). Schubert war hauptsächlich Tibetologe, aber im Chinesischen Schüler von Otto Franke. Er promovierte 1928 mit einer Arbeit über die tibetische Nationalgrammatik, begann 1928 seine Tätigkeit für die Universitätsbibliothek Leipzig, wo er bis 1954 als Bibliothekar wirkte. 1937 wurde er Mitglied der NSDAP. 1955 wurde er auf Grund seiner fachlichen Leistungen zum Professor mit vollem Lehrauftrag für Tibetisch ernannt und unternahm im selben Jahr eine Reise in die VR China. 1959 wurde er als Nachfolger von Erkes Direktor des Ostasiatischen Seminars der Universität Leipzig. «Bericht des Reichsministeriums», S. 10: «Schubert wird wissenschaftlich als ein zuverlässiger und solider Arbeiter bezeichnet. Politisch hat er sich uneingeschränkt zur nationalsozialistischen Weltanschauung bekannt.» Schwarz, Ernst 6.8.1916-2003 E. Schwarz: Stein des Anstoßes. Gedichte. Berlin: Rütten & Loening 1978. 126 S (5-27: Grenzkontrolle. Staat eines Vorworts: 25 Antworten auf Fragen von Paul Wiens) Bernhard Führer: Vergessen und verloren. Bochum: Projekt Verlag 2001. (Edition Cathay. 42.), 267-276 Schwarz stammte aus Wien; 1938 emigrierte er nach Shanghai. 1961 ging er in die DDR und promovierte 1965 mit einer Arbeit zur Ch‘ü Yüan-Forschung an der HumboldtUniversität. Er hat sich mit zahlreichen Publikationen an ein breiteres chinainteressiertes Publikum gewandt. Schwarz, Henry G. 1928Opuscula altaica. Essays presentend in honor of Henry Schwarz. Bellingham: Western Washington University (1994), XVI, 691 S. (Studies on East Asia. 19.) Schwarz, gebürtig aus Berlin, lehrte an der University of Wisconsin (1961-1963), an der Marquette University (1964), an der Universität der Philippinen (1964-1965) und an der University of Washington (1965-1968). 1969 ging Schwarz an die Western Washington University, wo er das Center for East Asian Studies aufbaute. Seuberlich, Wolfgang 1906-1985 H. Walravens. Schriftenverzeichnis Wolfgang Seuberlich. NOAG 129. 1981, 10-19 H. Walravens [Hrsg.] Wolfgang Seuberlich (1906-1985). Ostasienwissenschaftler und Bibliothekar. Staatsbibliothek zu Berlin 1998. 125 S. Wolfgang Seuberlich: Zur Verwaltungsgeschichte der Mandschurei (1644-1930). Herausgegeben von H. Walravens. Wiesbaden: Harrassowitz 2001. 123 S. (Asien- und Afrika-Studien der Humboldt-Universität zu Berlin. 7.) S. stammte aus einer deutschen Familie im Baltikum, wuchs in Harbin auf und studierte dort Chinesisch bei Baranov und Usov. Er trat 1937 in die NSDAP ein, offenbar im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit für das deutsche Konsulat in Mukden, hatte aber keine Parteiämter. 1938 wurde er Lektor am Seminar für Orientalische Sprachen (Auslandhochschule) in Berlin. Nach dem Krieg war er kurze Zeit in Mainz tätig, bevor er die Leitung der Ostasienabteilung an der Westdeutschen Bibliothek in Marburg (später Staatsbibliothek Preußischer Kultur-
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besitz) übernahm. Der «Bericht des Reichsministeriums» bemerkt: «In charakterlicher und politischer Hinsicht wird Seuberlich als nicht ganz gefestigt bezeichnet.» (S. 8) Simon, Ernest Julius Walter 10.6.1893-1981 Bruno Schindler: List of publications by Professor Simon. AM NS 10. 1963, 1-8 The Times Febr. 25, 1981, S. 19 C.R. Bawden: Ernst Julius Walter Simon, 1893-1901. Proceedings of the British Academy. 67. 1981, 459-477 Felber (in Clavis), 88-89 S. wurde zum 31.12.1935 zwangsweise in den Ruhestand versetzt und emigrierte 1936 nach England. Dort wurde er zunächst Lektor, später Professor für Sinologie an der Universität London. Simon war Romanist und Bibliothekar und hatte sich dann für Sinologie habilitiert; Schwerpunktinteressen waren Linguistik und Tibetisch. Er übernahm nach Schindlers Tod die Herausgabe der Asia major. Forke: Brief (S. 201): «Simon... ist unser einziger bedeutender Phonetiker, der in den Fußstapfen Karlgrens wandelt; er wurde als Jude abgesetzt und ist nach London gegangen.» Simon, Harry Felix 13.9.1923Sohn von Walter Simon. Studierte nach der Emigration Sinologie und wurde 1961 Professor of Oriental Studies in Melbourne, nachdem er vorher 1947-1960 Lecturer in Chinesisch an der Universität London gewesen war. Sein Schwerpunkt ist Linguistik. W. Franke in Asien 115 Speiser, Werner 1908-1965 Heinz Ladendorf: Werner Speiser 21. Januar 1908-26. Februar 1965. Wallraf-RichartzJahrbuch 27. 1965, 7-18, mit Porträt und Schriftenverzeichnis. Herbert Franke: Obituary. Oriental Art NS 12. 1966, 62 Ulrich Wiesner: Die Geschichte der Abteilung Asien. Zur Kunstgeschichte Asiens. Wiesbaden: Steiner 1977, 3-16 Speiser hatte 1932 bei Otto Kümmel in Berlin promoviert (über T‘ang Yin) und kam 1934 ans Museum für Ostasiatische Kunst Köln. Er habilitierte sich 1940 (1944) mit der Arbeit Ein großes Jahrhundert chinesischer Malerei. 1948 aus englischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, lehrte er ab 1949 an der Universität Köln und wurde 1954 zum a.o. Professor ernannt. «Bericht des Reichsministeriums», S. 14: «Dr. Werner Speiser, Köln, ist Schüler von Dr. Kümmel, Berlin, und habe sich erfolgreich auf seinem Fachgebiet betätigt. ... Der NSDAP gehört Speiser seit 1937 als Mitglied unter der Nummer 3 981 173 an.» Stange, Hans Otto Heinrich 1903-1978 H. Walravens: Streiflichter auf die deutsche Sinologie, 1938-1943. NOAG 165/166. 1999, 209212 Felber (in Clavis), 89 Stange, Sohn des Göttinger Theologen Carl Stange, war NSDAP-Mitglied seit 1932, sowie Mitglied der SA. Er wurde Lehrbeauftragter an der Göttinger Universität und wegen seiner politischen Belastung erst 1957 wieder mit der Leitung des Sinologischen Seminars betraut. Jäger (Streiflichter 195): «Stange verkörpert für mich das Ideal des jungen deutschen Dozenten: als Schüler von Prof. Franke hat er eine ausgezeichnete wissenschaftliche Ausbildung
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genossen, ist er ein gerader, offener Charakter, der sich allerdings seines Wertes bewusst ist; darüber hinaus steht er mit beiden Füßen auf dem Boden der Wirklichkeit und zeigt sich den politischen Erfordernissen der Gegenwart voll aufgeschlossen.» 205: «... und aus seiner nationalsozialistischen Gesinnung kein Hehl macht.» «Bericht des Reichsministeriums», S. 9: «Stange ist seit dem 1.1.1932 Parteigenosse (Mitgliedsnummer 855 624) und gehört der SA an.» Stein, Rolf Alfred 13.6.1911-1999 Kuo Liying: In memoriam: Rolf Alfred Stein (1911-1999) Cahiers d’Extrême-Asie. 11. 1999/2000, XI-XXX Tantric and Tibetan studies in honour of R.A. Stein. 1-3. Mélanges chinois et bouddhiques. 20. Bruxelles 1981 Stein stammte aus Posen/Westpreußen, war Schüler von Otto Franke, emigrierte dann nach Frankreich, wo er seine Studien fortsetzte. 1939 nach Indochina entsandt, wurde er 1949 Professor an der Ecole des langues orientales und 1966 Professor am Collège de France. S. hat sich auch als Tibetologe und insbesondere als Geser-Forscher profiliert. Steinen, Diether von den 1903-10.9.1954 H. Walravens: Vincenz Hundhausen. Das Pekinger Umfeld und die Literaturzeitschrift Die Dschunke. Wiesbaden: Harrassowitz 2000, 59-69 Steinen studierte ab 1921 in Berlin und später Paris Ethnologie und Sinologie, in Paris insbesondere bei Marcel Granet und Paul Pelliot. Von 1927-1937 war er als Deutschlehrer an verschiedenen chinesischen Universitäten tätig. Dank seiner amerikanischen Frau und der Befürwortung von Gelehrten wie Franz Boas, Ferdinand Lessing und Karl August Wittfogel konnte er in die USA einreisen, wo er von 1938 bis 1945 an der University of California im Department of Oriental Languages wirkte. Von 1946 bis zu seinem Tode arbeitete er für die U.S. Naval Intelligence School, Washington, D.C. Steininger, Hans 1.8.1920-1990 Kürschner GK 1987, 4533 S. promovierte 1951 an der Universität Erlangen; 1960 wurde er Privatdozent, später Professor in Würzburg. Stübel, Hans 9.6.1885-15.12.1961 Hans Steininger: Hans Stübel in memoriam. OE 10. 1963, 129-132 [mit Schriftenverzeichnis] Stübel promovierte 1908 zum Dr. med., habilitierte sich für Physiologie und verbrachte die Jahre 1923 bis 1951 als Professor an der Tung-chi-Universität. Nach seiner Repatriierung arbeitete Stübel ethnologisch und gab seine auf Reisen in China zusammengetragenen Materialien heraus. Thiel, Josef November 14, 1908-1972, Januar 11 Josefine Huppertz: Josef Thiel 1908-1972. Abriss eines nicht alltäglichen Lebens. China erlebt und erforscht. partielle Beiträge zur kritischen Chinakunde. Hrsg. v. H. Köster. München 1974, 9-23 (mit Schriftenverzeichnis)
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Thiel war von 1937-1954 in China in der Shantung-Mission der SVD tätig. Zwangsweise repatriiert, studierte er in München Sinologie und promovierte 1959. Tonn, Willy (W.Y.) ?-1957 H. Walravens: Martin Buber und Willy Tonn und ihre Beiträge zur Kenntnis der chinesischen Literatur. MS 42. 1994, 465-481 Willy Tonn hat sich offenbar schon mit China beschäftigt, bevor er nach Shanghai ging. Er arbeitete dort als Journalist, organisierte Fortbildungsprogramme für die Emigranten am Asia Seminar und ging 1948 oder 1949 nach Israel, wo er sich bemühte (z.B. durch Ausstellungen) Interesse für China zu wecken. Er starb 1957 in Tel Aviv. Er stand in Verbindung mit Martin Buber und unterstützte ihn in sinologischer Hinsicht. Auf dem Titelblatt der von ihm herausgegebenen Tao-te-ching-Übersetzung (Zürich 1959) nennt er sich: «ehemaliger Professor für Chinesische Sprachwissenschaft, Tsinan Staats-Universität, Schanghai». Trittel, Walter 1880-1948? Gutachten von Jäger. Streiflichter 200 Mitglied der NSDAP und der SA; Felber (in Clavis) 89: «ehrenamtlicher Mitarbeiter der Reichsführung SS». Jäger (Streiflichter 200): «Wenn Trittel auch nicht als ein wissenschaftlicher Forscher von Format anzusprechen ist, so trage ich doch keine Bedenken, seine Ernennung zum außerplanmäßigen Professor zu befürworten. Für eine Beurteilung des Genannten in charakterlicher und politischer Hinsicht stehen mir leider keine Unterlagen zur Verfügung.» Vgl. Anhang. Unkrig, Wilhelm Alexander 1883-1956 H. Walravens: W. A. Unkrig (1883-1956). Leben und Werk. Mit einigen seiner mongolistischen Beiträge. Wiesbaden: Harrassowitz 2003. 230 S. (Asien- und Afrika-Studien der Humboldt-Universität zu Berlin. 12.) H. Walravens: W. A. Unkrig (1883-1956): Korrespondenz mit Herbert Franke und Sven Hedin. Briefwechsel über Tibet, die Mongolei und China. Wiesbaden: Harrassowitz 2003. 293 S. (Asien- und Afrika-Studien der Humboldt-Universität zu Berlin. 15.) H. Walravens: W. A. Unkrig (1883-1956): Korrespondenz mit Hans Findeisen, der Britischen Bibelgesellschaft und anderen über Sibirien und den Lamaismus. Wiesbaden: Harrassowitz 2004. 204 S. (Asien- und Afrika-Studien der Humboldt-Universität.17.) Unkrig stammte aus Pommern, ging zum Studium der orthodoxen Theologie nach Kasan und Žitomir, mit dem Ziel Mongolenmissionar zu werden. Der Weltkrieg machte seine Pläne zunichte; er lebte als Elektriker in Polen, dann als Mitarbeiter des Anthropos-Instituts in Mödling, als Küster der russisch-orthodoxen Gemeinde in Berlin und wurde schließlich 1936 Bibliothekar des China-Instituts in Frankfurt a.M. Seit 1943 Lehrbeauftragter für Tibetisch, Mongolisch und Lamaismus. Er war wissenschaftlicher Hilfsarbeiter, indem er für andere die Kärrnerarbeit erledigte, so für Wilhelm Filchner und Sven Hedin. Er war bemüht, Mitarbeiter des Sven-Hedin-Instituts in München zu werden, um dort wissenschaftlich arbeiten und einen geeigneten Lebensunterhalt verdienen zu können. Veith, Ilza 1915Sie studierte nach ihrer Emigration in die USA (1937) Chinesisch bei Owen Lattimore und promovierte mit einer Arbeit über das Huang-ti nei-ching su-wen (Baltimore, Johns Hopkins
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University, 1947). Sie lehrte u.a. an der University of Chicago und zuletzt, 1964-1977 Medizingeschichte am San Francisco Medical Center der University of California. Vogel, Werner 1892-1936 Werner Vogel † OAR 17, 1936, 470-471; OAR 1936, 499 In memoriam Dr. Werner Vogel, Shanghai. Hamburg, Bremen: Ostasiatischer Verein 1936. Vogel hatte Chinesisch in Berlin studiert und wirkte als Rechtsanwalt in Shanghai. Er war Geschäftsführer der Deutschen Handelskammer. Wedemeyer, André 1875-1958 Horst Hammitzsch: André Wedemeyer in memoriam, 1875-1958. OE 5. 1958, 252-254 Sino-Japonica. Festschrift André Wedemeyer zum 80. Geburtstag. Leipzig: Harrassowitz 1956. 245 S. Leibfried, 158 ff. Wedemeyer war seit 1934 Extraordinarius für Ostasiatische Philologie in Leipzig und arbeitete mehr japanologisch als sinologisch; er war Mitglied des NS-Lehrerbundes, des NSDozentenbundes und der NSV. «Bericht des Reichsministeriums», S. 10: «Politisch stand Wedemeyer vor dem Umbruch der Deutschen Volkspartei nahe. Nach der Machtübernahme habe er sich stets loyal zum Nationalsozialismus gestellt. Er wird als der typische Gelehrte ohne politische Neigungen bezeichnet.» Wegener, Georg 1863-1939 Geograph, bereiste seit 1892 alle Erdteile und erforschte insbesondere China. 1910-1933 war er Dozent (seit 1911 Professor) an der Handelshochschule Berlin. Weiss, Ruth 1908- 6.3. 2005 Peking H. Walravens [Hrsg.] Ruth Weiss: Am Rande der Geschichte. Mein Leben in China. Osnabrück: Zeller 1999. XVII, 543 S.; Neuausgabe: Melle: Wagener Edition 2005. Ruth Weiss war nicht Sinologin. Sie stammte aus Wien und ging gewissermaßen aus Neugierde 1933 nach China. Sie heiratete einen Chinesen (Yeh Hsüan), arbeitete ab 1946 in New York und ging dann nach China zurück (1951), während sich ihr Mann von ihr trennte und in den USA blieb. Sie wirkte zunächst als Lehrerin, nach ihrer Rückkehr nach China als Redakteurin und lebt bis zuletzt in Peking. Weller, Friedrich 1889-1980 Manfred Taube: Friedrich Weller. Ein Leben für die Erforschung der Asia Major. Jahrbuch. Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, 1979-1980. Berlin 1982, 237-254 Verzeichnis der Arbeiten Friedrich Wellers. Asiatica, Festschrift Friedrich Weller zum 65. Geburtstag gewidmet von seinen Freunden, Kollegen und Schülern. Leipzig: Harrassowitz 1954 (XIX, 902 S.), XI-XIX Weller war, nach seinem Lehrer Conrady, «einer der ganz wenigen wirklichen Kenner des buddhistischen Chinesisch», wenn auch hauptsächlich Indologe. 1922 habilitierte er sich mit der Arbeit Über den chinesischen Dharmasamgraha. 1930-1933 war er Assistent von Alexander von Staël-Holstein am Sino-Indian Institute der Harvard-Universität in Peking. 1938 wurde
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er zum Ordinarius für Indologie an der Universität Leipzig ernannt. Er war mit Bruno Schindler befreundet und gab mit ihm die Zeitschrift Asia Major heraus. Als Buddhologe zog er stets die nordbuddhistischen Traditionen (chinesisch, tibetisch, mongolisch) mit heran; seinem Pekinger Aufenthalt verdanken wir überdies einige folkloristisch interessante Arbeiten, die hier genannt seien, da er gewöhnlich «nur» als Indologe gilt: Zehn Pekinger Erzählungen. ZDMG 87. 1934, 138-176; Fünf Pekinger Legenden. ZMR 49. 1934, 225-254: Zehn Volkserzählungen aus Peking. Anthropos 32. 1937, 743-772; Zehn Pekinger Legenden. HJAS 3. 1938, 68-98 Wilhelm, Hellmut 10.12.1905-1990 F.W. Mote: Hellmut Wilhelm: A biographical note. MS 29. 1970/71, III-VI A list of publications of Hellmut Wilhelm up to 1967. MS 29. 1970/71, VII-XII H. Walravens: Addenda to A list of publications of Hellmut Wilhelm up to 1968. MS 30. 1972/73 (1975), 634 H. Walravens: Further addenda to A list of publications of Hellmut Wilhelm up to 1968. MS 32. 1976, 400-403 David R. Knechtges, George E. Taylor, Donald W. Treadgold, Frederick W. Mote, Herbert Franke: Hellmut Wilhelm. Memories and bibliography. OE 35. 1992, 5-34 Der Sohn des bekannten Sinologen Richard Wilhelm promovierte 1932 in Sinologie und ging 1933 nach China, wo er an der Pekinger Universität lehrte und anfangs Geschäftsführer des Deutschland-Instituts war. Außerdem arbeitete er an einem großen Deutsch-chinesischen Wörterbuch (Shanghai: Max Nößler 1945. X,1236 S.). 1948 wurde er Dozent an der University of Washington (Seattle) und 1953 full professor. 1971 trat er in den Ruhestand. Wirtz, Hans 1867-1942 Hans Wirtz † OAR 1942, 95-96 H. Walravens: Die Universität Köln und Marginalien zum Wirken von Prof. Wirtz und dem Plan der Errichtung eines Japaninstituts. Zur Kunstgeschichte Asiens. Wiesbaden: Steiner 1977, 59-64 Wirtz war Kolonialbeamter in Tsingtau und nach Gründung der Deutsch-Chinesischen Hochschule Leiter der Übersetzungsanstalt. Er wurde 1920 repatriiert und lehrte seit 1922 Chinesisch an der Universität Köln. Zu seinen Schülern gehörten Karl Ganter und Hans Neef. Wist, Hans 1904-1986? Kustos am Museum für Völkerkunde in Hamburg, promovierte mit einer Arbeit über das chinesische Zensorat (Hamburg 1932).22 «Bericht des Reichsministeriums», S. 13: «... fachlich gut beurteilt. Charakterlich wird er als ein verlässlicher Arbeitskamerad bezeichnet, der in seinem Wesen zurückhaltend und bescheiden ist.» With, Karl 1891-1980 H. Walravens: Bibliographien zur ostasiatischen Kunstgeschichte in Deutschland. 1. Adolf Fischer, Frieda Fischer, Karl With, Ludwig Bachhofer. Hamburg: C. Bell 1983. 50 S. 4o (Han-pao tung-Ya shu-chi mu-lu. 21.)
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45 S. Phil. Diss. vom 9. Nov. 1933.
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With war Schüler von Josef Strzygowski in Wien und wirkte 1928-1933 als Direktor der Werkkunstschulen in Köln. 1933 emigrierte er in die Schweiz und 1939 in die USA, wo er 1948-1962 als Professor für Kunstgeschichte an der University of California Los Angeles lehrte. Witte, Johannes 1877-1945 3 RGG. 6. 1962, 1781-1782; Kürschner GK Religionswissenschaftler, 1930 Ordinarius an der Universität Berlin, 1939 emeritiert. W. war langjähriger Leiter der Ostasienmission und hat sich daher auch intensiv mit China beschäftigt. Wittfogel, Karl August 1896-1988 IBD II, 1253; Kern G. L. Ulmen: The science of society: Toward an understanding of the life and work of Karl August Wittfogel. The Hague, Paris: Mouton 1978 (mit Schriftenverzeichnis). Karl H. Menges in CAJ 33. 1989, 1-7 New York Times May 26, 1988 The Times (London) June 18, 1988 Wittfogel studierte Chinesisch und Wirtschaftsgeschichte, promovierte 1928 in Frankfurt a.M. und war als Schriftsteller tätig. Als Kommunist emigrierte er 1933 über England in die USA, wo er 1934-1939 am International Institute of Social Research und 1939-1947 als Leiter des Chinese History Project an der Columbia University wirkte. 1947-1966 war er Professor für chinesische Geschichte an der University of Washington. Nach dem Krieg wandte er sich völlig vom Kommunismus ab. Wolff, Ernst 1910Walravens: Exil 241; Kern 527-528 Wolff studierte Jura und Chinesisch in Berlin, wurde aber als «Nichtarier» aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Er ging nach Tientsin, wo er aufgewachsen war, und arbeitete 19361951 für die Kailang Mining Co. Er ging dann über Hong Kong und Tokyo nach Seattle, wo er als Lektor und Bibliotheksmitarbeiter tätig war. 1966 promovierte er in chinesischer Literatur. Von 1965 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 1978 leitete er die ostasiatische Bibliothek der University of Illinois, Urbana/Champaign. Zach, Erwin Ritter von 18.4.1872-19.1.1942 Alfred Hoffmann: Erwin Ritter von Zach† OE 10. 1963, 1-60 M. Gimm: Eine Nachlese kritisch-polemischer Beiträge und Briefe von Erwin Ritter v. Zach (1872-1942). NOAG 130. 1981, 16-61 Arthur von Rosthorn: Erwin Ritter v. Zach. Ein Nachruf. Almanach der Akademie der Wissenschaften in Wien 1943. 4 S. Bernhard Führer: Vergessen und verloren. Bochum: Projekt Verlag 2001. (Edition Cathay. 42), 157-187 Monika Motsch: Slow poison or magic carpet. The Du Fu translations by Erwin von Zach. De l’un au multiple. Traductions du chinois vers les langues européennes. Paris: Ed. de la Maison des Sciences de l’Homme 1999, 99-111 A. Forke: Erwin Ritter von Zach in memoriam. ZDMG 97. 1943, 1-15
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Vgl. die drei von H. Walravens herausgegebenen Bände: Erwin Ritter von Zach (1872-1942): Gesammelte Rezensionen. Chinesische Geschichte, Religion und Philosophie in der Kritik. Wiesbaden: Harrassowitz 2005. 169 S. (Asien- und AfrikaStudien der Humboldt-Universität zu Berlin.22.) Erwin von Zach (1872-1942): Gesammelte Rezensionen. [2:] Chinesische Sprache und Literatur in der Kritik. Wiesbaden: Harrassowitz 2006. 199 S. (Asien- und Afrika-Studien der Humboldt-Universität zu Berlin. 26) Li T‘ai-po: Gesammelte Gedichte III. Übertragen von Erwin von Zach. Wiesbaden: Harrassowitz 2007. (im Druck; enthält den Briefwechsel mit Alfred Hoffmann) Zach studierte in Wien Medizin, daran anschließend in Leiden Chinesisch, nachdem er schon vorher bei F. Kühnert und Kainz in Wien gehört hatte. Er ging 1897 in den chinesischen Seezolldienst, trat dann 1901 in den konsularischen Dienst ein, aus dem er 1919 mit dem Ende der Monarchie ausschied, um anschließend für den niederländisch-indischen BelastingsAccountingsdienst tätig zu werden. 1942 wurde er interniert; das Transportschiff «Van Imhoff» wurde von den Japanern versenkt. – Lediglich der Briefwechsel mit Alfred Hoffmann enthält Bemerkungen über die politische Situation in Deutschland; er rühmt den jüdischen Beitrag zu den Wissenschaften, hält aber den jüdischen Einfluß in Deutschland für zu stark. Dabei ist zu bedenken, daß Zach Deutschland und Österreich seit vielen Jahren nicht mehr besucht hatte, seine Meinung also aus dritter Hand bildete. Zach war einer der besten Kenner der chinesischen Sprache und der chinesischen Dichtung, dabei ein scharfer Kritiker. Zenker, Ernst Viktor 1865- nach 1941 Bernhard Führer: Vergessen und verloren. Bochum: Projekt Verlag 2001 (Edition Cathay. 42.), 125-131 Zenker war sudetendeutscher Politiker und Journalist und beschäftigte sich publizistisch mit China; so verfasste er eine Geschichte der chinesischen Philosophie, die durchaus wohlwollende Aufnahme, auch von sinologischer Seite, fand. Er war Mitglied der NSDAP und der Reichsschrifttumskammer, und in seinen späteren Werken ist durchaus nationalsozialistischer Jargon zu finden. Weitere Personen (Ergänzungen): Briessen, Fritz van23 16.7.1906 – 1991 B. studierte Anglistik, Kunstgeschichte und Philosophie in Heidelberg, Rochester (N.Y.) und Paris, promovierte 1937 in Gießen24 und ging 1940 als Schriftleiter der Kölnischen Zeitung nach China. 1950 kehrte er nach Deutschland zurück; 1955 trat er in den auswärtigen Dienst; nach seinem Ausscheiden arbeitete er für die Deutsche Welle. Er ist mit Büchern über die chinesische Maltechnik (Köln 1963, 350 S.) und die «Shanghai-Bildzeitung» (Zürich, Freiburg: Atlantis 1977) hervorgetreten. Herrfahrdt, Heinrich 1890-1969 Festgabe für Heinrich Herrfahrdt zum 70. Geburtstag. Marburg: Elwert 1961. 212 S. 23 24
Freundliche Mitteilung von Prof. Lutz Bieg (Köln). Stil und Form bei Lafcadio Hearn. Gießen 1937: Glasgow, 160 S. Auch: Berlin: Junker & Dünnhaupt 1937 (Neue Deutsche Forschungen. Abt. Engl. Philologie. 9.).
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Ordinarius für Jura an der Universität Marburg. Er verfasste u.a. Sun Yatsen, der Vater des neuen China. Hamburg: Drei-Türme-Verlag 1948. Lewin, Günther 12.11.1913-1998 L. war nach seiner Lehre teils als Hilfsarbeiter tätig, teils arbeitslos. Er besuchte die Marxistische Arbeiterschule, war Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes und verließ deshalb und auf Grund seiner jüdischen Abstammung Deutschland – buchstäblich im letzten Moment, denn nur Stunden nach seiner Abreise erschienen die Verhafter. Nach politischer Arbeit in Südafrika kehrte er dank Max Zimmerlings Hilfe 1949 nach Dresden zurück. Er studierte 1954-1959 Sinologie und Wirtschaftsgeschichte in Leipzig und Peking. 1959-1961 wirkte er als Lektor beim Fremdsprachenverlag Peking, 1962-1985 als Wissenschaftlicher Assistent an der Karl-Marx-Universität Leipzig, wo er 1970 zum Dr. phil. promovierte.25 In seinen letzten Jahren war er am Afrika-Bereich tätig. Er interessierte sich speziell für die Erforschung der vorkapitalistischen Produktionsweisen. Otte, Friedrich 15.12.1881Kürschner GK 1928/29, 1737 Volkswirtschaftler, war im chinesischen Seezoll tätig, dann 1912-1915 als Dozent an der Zollakademie in Peking, und 1922-1926 als Professor an der Universität Peking. Anschließend war er als Assistent am Statistischen Reichsamt Berlin tätig und seit 1935 wirkte er als stellvertretender Dozent an der Auslandhochschule Berlin. Piasek, Martin26 8.6.1905-19.2.1990 Piasek war in seiner Oberschulzeit Schüler des Germanisten, Folkloristen und Indonesisten Gerhard Kahlo, war Mitglied des kommunistischen Jugendverbandes und arbeitete nach Januar 1933 in einer Widerstandsorganisation mit, die noch im selben Jahr entdeckt wurde. Er wurde verhaftet und war 11 Jahre im Zuchthaus. Nach seiner Freilassung 1944 versteckte er zusammen mit seinem Bruder in seinem Heimatort zur Deportation bestimmte polnische Zwangsarbeiter. Nach dem Krieg war er als Mitarbeiter am Leipziger Ostasiatischen Institut tätig, verfasste u.a. eine Elementargrammatik des Neuchinesischen (Leipzig: Enzyklopädie 1957) und ein Chinesisch-deutsches Wörterbuch (ebenda, 1961). Richter, Otto seit 1939 Herausgeber der Ostasiatischen Rundschau, zeitweise Vorsitzender der OAGOrtsgruppe Berlin Schenke, Wolf 1914W. Schenke: Siegerwille und Unterwerfung. Auf dem Irrweg zur Teilung. Erinnerungen 19451955. München, Berlin: Herbig 1988. 423 S. S. trat 1932 in die NSDAP ein (Nr. 1328745).27 Er ging 1937 als Journalist (Korrespondent des Völkischen Beobachter) nach China; 1939 wechselte er zum Deutschen Nachrichtenbüro 25 26 27
Die ersten fünfzig Jahre der Song-Dynastie in China. Beitrag zu einer Analyse der sozialökonomischen Formation während der ersten 50 Jahre der chinesischen Song-Dynastie (960- ca. 1010). Berlin: AkademieVerlag, 1973, 355 S. (Veröffentlichungen des Museums für Völkerkunde zu Leipzig. 23.). Für Informationen über Piasek und Lewin danke ich Herrn Prof. Dr. Manfred Taube, Leipzig. Freyeisen, a.a.O., 325.
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und war außerdem geheimdienstlich tätig. Nach dem Krieg etablierte sich Schenke in Hamburg und gab dort die Zeitschrift Neue Politik heraus. Strewe, M. Th. -26.11.1950 Übersee-Rundschau 3. 1951, 30 S. wurde später Dozent für Verwaltungsrecht an der Reichsuniversität Peking, gründete den Chinesischen Verband Deutscher Ingenieure in Shanghai als Filiale des VDI, organisierte 1928 eine Studienkommission der Deutschen Industrie nach China. 1930 übernahm er die Geschäftsführung der vom Reichsverband der deutschen Industrie gegründeten ChinaStudiengesellschaft. Wickert, Erwin28 1915E. Wickert: Mut und Übermut. Stuttgart: DVA 1991. 495 S. W. trat 1933 der SA bei. Er wollte Schriftsteller werden; 1939 trat er in den auswärtigen Dienst ein und wurde 1940 Mitglied der NSDAP. 1940 erhielt er die Ernennung zum Rundfunkattaché. Nach dem Krieg ist er als Autor und Botschafter in China hervorgetreten. Tabellarische Übersicht In der folgenden Übersicht wird die jeweilige Stellung zum Nationalsozialismus kurz apostrophiert. Am einfachsten ist dies bei den Emigranten, deren Leben meist gefährdet war. Bei denen, die die ganze Zeit oder einen Teil davon im Ausland verbrachten, ist in einigen Fällen die politische Einstellung bekannt. Bei den in Deutschland Verbliebenen sind offensichtlich einige NS-Aktivisten gewesen; andere versuchten, in unauffälliger Weise zu überleben. In zahlreichen Fällen liegen keine verlässlichen Informationen über die politische Einstellung vor; in diesen Fällen – also der Mehrzahl – ist nichts angemerkt. Symbole: o * +
Kunsthistoriker Dozenten, Lehrkräfte Absolventen (Sinologie, Chinesisches Sprachstudium)
o o +
*
Adam Bachhofer Balázs Baruch Behrsing Bernhardi Biallas Bleichsteiner Blomeyer
28
Vgl. Freyeisen, a.a.O., 332 ff.
* +
Emigrant Emigrant («nichtarische» Frau) Emigrant Emigrant Nazigegner, Sozialist Lebte im Ruhestand Starb 1936 ? Gegner
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o o o o + o + + o + * * o o * + * +
+ * o * * * * + * * o + + + * +
Boerschmann Bohner Brandt Bünger Bulling Cohn Cohn-Wiener Consten-Erdberg Consten Contag Diez Eberhard, W. Eberhard, A. Ecke Eder Eichhorn Erkes Feddersen Fischer Forke Franke, H. Franke, O. Franke, W. Frankel Frick Fuchs, W. Fuchs, W. Gabain Glaser Greiser Grimm Haenisch Haloun Hauer Hefter Heissig Hentze Herrmann Heydt Hoffmann Hübotter Hülle Hundhausen Jäger Kalmer Kibat
Nationalkonservativ Lebte in Japan Emigrant Lebte teils in China; Parteimitglied Emigrantin («nichtarischer» Freund) Emigrant Emigrant Lebte in China Lebte in China Lebte in China Parteimitglied Gegner Gegnerin («nichtarische» Verwandtschaft) Lebte in China Lebte in China Dozent; Dienst in der Wehrmacht Gegner; amtsenthoben ? Lebte in der Schweiz Lebte im Ruhestand Studium; Dienst in der Wehrmacht Lebte im Ruhestand Lebte teils in China Emigrant; kam erst nach der Emigration zur Sinologie Lebte teils in China; studierte nach dem Krieg Lebte in China; Parteimitglied Emigrant Dozentin, in Deutschland; konservativ Emigrant Parteimitglied Kriegsdienst; Mitglied der SS (?) Ordinarius; Gegner Ging ins Ausland (Ruf nach Cambridge) Starb 1936 Verbrachte einen Teil der Zeit in China Lebte teils in China und der Mongolei; SA und SS Mitglied Lebte bis 1942 in Belgien Dozent; Kriegsdienst Emigrant Lebte ab 1940 in China; Parteimitglied Lebte in China Lebte im Ruhestand Lebte in China; Gegner Ordinarius, Parteimitglied Emigrant ?
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+ * o + * + + + + + +
+ + + o
* * o * * + + +
+ * + *
o +
Krader Krause Kümmel Kuhn Kuttner Lessing Liebenthal Lippe Löhr Löwenthal Mänchen-Helfen Martin Meier Meister Meriggi Michael Mish Mühlenweg Mueller, H. Müller, L. Munsterberg Nobel Olbricht Olschki Oppenheim Perzyński Pernitzsch Poppe Randow Ratchnevsky Reichwein Reifler Reismüller Rock, J. Franz Rösel Rosthorn Rottauscher Rousselle Rudelsberger Rüdenberg Salmony Samson Schaeffer Schedel Scherman
Emigrantin Lebte im Ruhestand Museumsdirektor; Parteimitglied Aus der Partei ausgetreten Emigrant Professur in den USA Emigrant Studium; SA-Mitglied (?) Lebte teils in China Emigrant Emigrant Lebte teils in China Kriegsdienst/Studium ? Gegner; amtsenthoben Emigrant Emigrant Lebte in China ? Emigrant; kam erst nach der Emigration zu den Ostasienwissenschaften ? Dozent Emigrant Emigrant Lebte im Ausland ? Lebte teils in der Sowjetunion; kam erst 1941 nach Deutschland Teils im Konsulatsdienst in China; Parteimitglied ? Gegner; hingerichtet Emigrant Gegner; starb 1936 Amerikan. Staatsbürger; lebte in China Gegner Amtsenthoben Lebte im Ruhestand Emigrant Emigrant Emigrant Gegner; hingerichtet Lebte im Ruhestand Emigrant
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* * o + + +
*
*
* + * o + +
Schierlitz Schindler Schirokauer Schmitt Schmitthenner Schröder Schubert Schwarz, E. Schwarz, Henry Seuberlich Simon, W. Simon, Harry Speiser Stange Stein Steinen Steininger Stübel Tonn Trittel Unkrig Veith Vogel Wedemeyer Wegener Weiss Weller Wilhelm Wirtz With Witte Wittfogel Wolff Zach Zenker Schenke
Parteimitglied Emigrant Emigrant; kam nach der Emigration zur Sinologie Verbrachte einen Teil der Zeit in China ? Als Missionar in China Bibliothekar; Parteimitglied Emigrant Emigrant; studierte nach der Emigration Parteimitglied Emigrant Wurde Sinologe erst nach der Emigration Parteimitglied Parteimitglied; SA Emigrant Lebte in China; «nichtarisch» Diente in der Wehrmacht; Studium nach dem Krieg Lebte in China Lebte in China Parteimitglied Bibliothekar, Lehrbeauftragter Emigrantin; studierte nach der Emigration Starb 1936 Politisch indifferent ? «Nichtarisch»; lebte in China Ordinarius; Gegner Lebte in China; seine Frau war «nichtarisch» Im Ruhestand lebend Emigrant ? Emigrant Emigrant Lebte in Niederländisch-Indien Sudetendeutscher; Parteimitglied Lebte teils in China; Parteimitglied
Auswertung: Insgesamt sind 136 Personen erfasst, die sich auf die ein oder andere Weise ernsthaft mit China befasst haben. Davon: Lehrkräfte 29 (inkl. Lehrbeauftragte, Ruheständler usw.) Absolventen der Sinologie (bzw. Sprachkurse) 40 Kunstwissenschaftler 20 Emigranten 38 (davon 10 Sinologen)
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Parteimitglieder (soweit bekannt) 16 (davon 8 Sinologen) Parteiaktivisten 3 (Greiser, Hoffmann, Stange) lebten in China 22 lebten im sonstigen Ausland 7 starben im Berichtszeitraum eines natürlichen Todes 4 lebten im Ruhestand 8 waren Nazigegner (soweit bekannt) 13 (ohne Emigranten) wurden amtsenthoben 4 studierten erst nach der Emigration Sinologie 7
Bei den drei Lehrstuhlinhabern, als den wichtigsten Vertretern der Sinologie in Deutschland, ist das politische Engagement paritätisch verteilt: Der Hamburger Sinologe Jäger wurde zurecht als Mitläufer eingestuft, sein Berliner Kollege Haenisch war ein (wenn auch nicht kämpferischer) Gegner (der aber Zivilcourage zeigte), während der Leipziger Extraordinarius Wedemeyer sich aus allem möglichst heraushielt. Von den drei genannten Parteiaktivisten ist Greiser als «alter Pg.» einzustufen, während für Stange und Hoffmann die Parteimitgliedschaft ein Karrieremittel war. Nazis des Typus Hans Eckardt (Japanologe) waren in den Chinawissenschaften nicht nachzuweisen. Die hohe Zahl der Emigranten erklärt sich aus der unmittelbaren Verfolgung der Betroffenen (politische oder rassische Verfolgung der eigenen Person oder der Partner); dazu kommt eine nicht unbeträchtliche Zahl von in Deutschland verbliebenen Nazigegnern. Die Mehrzahl der Chinakundler freilich bemühte sich, die Nazizeit mit der erforderlichen Anpassung zu überstehen, wobei die Zahl der Parteimitgliedschaften moderat ist. Eine beträchtliche Anzahl von Personen lebte im Ausland, was sich zum einen aus den für Ausländer besseren Arbeits- und Forschungsbedingungen in diesen Ländern, insbesondere in China, erklärt. Über den NS-Einfluss in China vgl. Franke: Im Banne, 66: «Abgesehen von der Botschaft war aber auch die Haltung der meisten Pekinger Deutschen, einschließlich der Ortsgruppenleiter der NSDAP, wesentlich großzügiger und weniger aggressiv als an vielen Plätzen Ostasiens mit größeren deutschen Gemeinden. Zur Zeit meiner Ankunft war ein Lehrer der deutschen Schule namens Gruber Leiter der Ortsgruppe, der jedoch bald nach Deutschland zurückkehrte. Ihm folgten im Amt Herr Wobser, Konsulatssekretär bei der Dienststelle der Deutschen Botschaft, und dann Herr Petschke, Filialleiter der Deutsch-Asiatischen Bank, beide zivilisierte Leute, die niemandem etwas zuleide taten. Ob dies eine Einwirkung der damals allgemein toleranten und friedlichen Atmosphäre Pekings oder ein besonderer Glückszufall war, mag dahingestellt bleiben. Von Typen wie F.X. Hasenöhrl, ein ehemaliger Offizier der früheren Österreichisch-Ungarischen Armee und radikaler Nazi, der schon 1932, vor der ‹Machtergreifung›, einen Stützpunkt der NSDAP in Shanghai gegründet hatte, blieb Peking glücklicherweise verschont.» Als Fazit lässt sich aus der gegebenen Literaturübersicht schließen: Die deutschen Chinawissenschaftler lagen in ihrem Engagement für den Nationalsozialismus unter dem nationalen Durchschnitt. Solidere Schlüsse erfordern freilich noch weitere Grundlagenarbeit. Anhang Da über Max Gerhard Pernitzsch und Walter Trittel bislang wenig bekannt ist, seien die folgenden autobiographischen Notizen sowie ein Schriftwechsel mit dem Architekten Ernst Boerschmann als Mosaiksteinchen für die weitere notwendige Grundlagenforschung mitge-
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teilt. Das Material beruht auf einer Umfrage, die Boerschmann unternommen hatte, um die Reisen deutscher Ostasienwissenschaftler in China zu dokumentieren. Lebenslauf W. TRITTEL Ich, Walter Richard Max Trittel wurde am 3. März 1880 als 12. Kind des Kaufmanns Gottfried Trittel in Nöschenrode (jetzt eingemeindet in Wernigerode a/H.) geboren. Von 1886-1898 besuchte ich die Bürgerschule und Gymnasium in Wernigerode und bestand die Reifeprüfung. Vom 1.IV.1898-30.IX.1900 erlernte ich das Bankfach in der Oscherslebener Bank in Oschersleben. Vom WS 1900/01-WS 1903/04 studierte ich an den Universitäten Halle und Kiel Rechtswissenschaft und Volkswirtschaft und bestand im Juni 1904 die erste juristische Staatsprüfung. Vom Juli - September 1904 war ich als Referendar am Amtsgericht Osterwieck tätig. Vom 1.X.1904-30.IX.1905 diente ich als Einjähriger im I. bayr. Inf. Regt. König in München. Vom WS 1905-SS 1906 studierte ich am Seminar für Orientalische Sprachen in Berlin Chinesisch und bestand im Juli 1906 die Diplomprüfung für Chinesisch. Am 1.1.1907 trat ich als Dolmetschereleve in den Dienst der Landesverwaltung des Schutzgebiets Kiautschou. Im März 1909 bestand ich in Tsingtau die große Dolmetscherprüfung für Chinesisch. Am 3. Mai 1911 wurde ich zum planmäßigen Dolmetscher beim Gouvernement Kiautschou ernannt. Nach Ableistung zweier achtwöchentlicher Übungen in den Jahren 1909 und 1910 wurde ich mit Patent vom 19. Oktober 1912 zum Leutnant d.R. der Marineinfanterie befördert. Im September 1914 bestand ich die Prüfung für die höheren Zivilverwaltungsstellen im Schutzgebiet Kiautschou (Bezirksamtmannsprüfung). Vom Kriegsbeginn 1914 bis zum Fall der Festung Tsingtau am 7. November 1914 nahm ich als Leutnant am Krieg teil. Darauf war ich in japanischer Gefangenschaft in den Lagern Kumamoto und Kurume bis zum 27. Januar 1920. Vom 28.II.1920-2.X.1922 stand ich als zeitlich wahrnehmender Hauptdolmetscher im Dienst der Niederländisch-Indischen Kolonialregierung in Batavia. Nach Verlust des Schutzgebiets Kiautschou war ich 1920 als Regierungsrat in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden. Nach meiner Rückkehr aus Java im Winter 1922 widmete ich mich in der Hauptsache wissenschaftlichen Studien, die auf den Gebieten meines jetzigen wissenschaftlichen Interessenkreises lagen. Vom 1.III.-31.X.1924 war ich informatorisch in den verschiedenen Abteilungen der Darmstädter und Nationalbank tätig. Mit dem WS 1925/26 wurde ich als Dozent für Malaiisch an das Seminar für orientalische Sprachen an der Universität Berlin berufen. Mein Lehrauftrag wurde in der Folgezeit auf Javanisch und Siamesisch ausgedehnt. Mit dem 1.X.1932 wurde ich zum Lehrer und Professor des Chinesischen am gleichen Institut ernannt. Ich bin Mitglied der Prüfungsausschüsse für Chinesisch, Siamesisch, Malaiisch und Niederländisch an der Auslandshochschule sowie Mitglied des Siam-Ausschusses der Deutschen Akademie. An Orden und Ehrenzeichen besitze ich: EK II, Ehrenkreuz für Frontkämpfer, Kolonialabzeichen, Treudienst-Ehrenzeichen und Chinesische Rote Kreuz Medaille. Ich gehöre seit 5.XI.1933 der SA an und bin auf meinen Antrag hin wegen beruflicher Überlastung daraus am 27.X.1937 als Scharführer ausgeschieden. Der Partei gehöre ich seit 1.VI.37 an. Ich bin Mitglied der NSV, des RLB und der NS-Altherrenschaft. Ich bin seit dem 12.XI.1910 mit Margarete Weber verheiratet. Dieser Ehe entstammten zwei Söhne. Der Älteste, Rolf, geboren 20.IX.1914 in Tientsin, Gerichtsreferendar, Pg, SA Obertruppführer, zur Zeit als Gefreiter der Infanterie an der Westfront, der Jüngste, Günter, geboren am 8.II.1920 in Buitenzorg, HJ, gefallen am 18.IX.1939 als Schütze in einem aktiven Regiment in Polen.
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Schriftenverzeichnis und wissenschaftlicher Werdegang.29 Einführung in die siamesische Sprache. [Berlin: de Gruyter 1930. VIII,112 S.] Bearbeitungen der Lautbibliothek der Universität Berlin No. 22, 23 Siamesisch, No. 149 Javanisch (letzteres in Zusammenarbeit mit Dr. [Robert] Lässig) [Javanisch, Berlin: Institut für Lautforschung; Leipzig: Harrassowitz in Komm. 1936, 8 S. (Lautbibliothek. 149.)] Band 38 der Lehrbücherreihe der Auslandshochschule (zusammen mit Professor Pernitzsch) Auswahl moderner chinesischer Prosastücke [s. unter Pernitzsch] Kommentar und Vokabular zu Nr. 3 (im Druck) [s. unter Pernitzsch] Das 4 Ecken-Aufschlagesystem und die amtliche Lateinumschrift der Reichssprache. [MSOS 40. 1937, 93-148]
In Zeitschriften 6) 7) 8) 9) 10) 11) 12) 13) 14)
Die Entwicklung des chinesischen Eisenbahnnetzes. MSOS 29. 1926 [43-98, 1 gef. Kt.] Die Töne des Siamesischen und ihre Wiedergabe in der siamesischen Schrift. MSOS 30. 1927 [1-18] Chinesisch-Deutsches Wörterverzeichnis zur chinesischen Strafprozeßordnung. MSOS 31. 1928 [dort nicht ermittelt] Chinesische Strafprozeßordnung. MSOS 31. 1928 [105-174] Chinesisch-Deutsches Wörterverzeichnis zur chinesischen Zivilprozeßordnung. MSOS 30. 1927 [86-98] Artikel Siam im Rechtsvergleichenden Handwörterbuch für das Zivil- und Handelsrecht des In- und Auslandes 1928 (Neufassung für 1940 im Druck) Text, Übersetzung und Vokabular der Verfassung des Königreichs Siam vom 10.XII.1932. MSOS 37. 1934 [169-194] Siams Verfassung und Verwaltung. MSOS 39. 1936 [139-158] Das Unterrichtswesen in Siam. Der ausländische Student. 1930
Hinsichtlich meines wissenschaftlichen Werdegang ist zu dem Vorstehenden noch ergänzend zuzufügen, dass ich in Tsingtau ein Jahr lang russischen Sprachunterricht an Beamte erteilte, an der Deutsch-Chinesischen Hochschule in Tsingtau eine Vorlesung, Einführung in die Volkswirtschaft, gelesen habe, während der Kriegsgefangenschaft russischen, englischen und chinesischen Unterricht erteilt habe, dass meine Sprachkenntnisse Chinesisch, Englisch, Französisch, Holländisch, Japanisch, Javanisch, Malaiisch, Russisch, Siamesisch und Spanisch umfassen. Ich bin ferner Schriftleiter an den Mitteilungen der Auslandshochschule und Mitarbeiter der Orientalistischen Literaturzeitung. Auslandsaufenthalte 1)
Von Anfang Februar 1907-14.XI.1914 in Tsingtau, während dieser Zeit lagen eine ganze Reihe von größeren Reisen in Nord-, Mittel- und Südchina und ein halbjähriger Stu-
29
Ergänzend sei verzeichnet: Siamesisch-deutsches Wörterverzeichnis juristischer Fachausdrücke. MSOS 36, 1933, 136-211. – Thailand. Die geschichtliche Entwicklung seiner Stellung im hinterindischen Raum. Zeitschrift für Politik 31, 1941, 129-138. – Thailand. Berlin: Junker & Dünnhaupt 1942, 61 S. (Kleine Auslandskunde. 11.) Das frühere thailändische Grenzland Malayas. Zeitschrift für Politik 32, 1942, 42-43.
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dienaufenthalt in der englischen Kolonie Hongkong. 1910 war ich 4 Monate auf Heimaturlaub. Von Ende 1914 - Februar 1920 war ich in Japan. Bis Januar 1920 in den Lagern Kumamoto und Kurume. Nach der Entlassung noch etwa 3 Wochen in Kobe, Yokohama, Tokio, Kyoto und Nagasaki. Vom Ende Februar 1920 - Anfang Oktober 1922 in Niederländisch-Indien (Batavia und Buitenzorg).
Ariernachweis Ich versichere hiermit eidesstattlich, dass der Ariernachweis geführt ist 1) bei der Universität Berlin 2) bei der Partei 3) bei dem Wehrbezirkskommando Berlin VI 4) bei der SA Walter Trittel, Professor Berlin NW 40 Alt Moabit 111/II 24.XI.39 Lieber Herr Boerschmann! Ich schicke Ihnen einen Lebenslauf, den ich vor einigen Tagen einreichen mußte und der ja wohl alles enthält, was Sie wissen möchten. Sollten Sie den Lebenslauf nicht mehr brauchen, wäre ich Ihnen für eine gelegentliche Rücksendung sehr verbunden. Was will denn die deutsche Akademie damit anfangen? Wir sind ja heftigst in Umorganisation begriffen, da uns alles schnellstens auf die neue Form umgestellt werden soll. Mir persönlich wäre etwas mehr Ruhe lieber gewesen, da mein Nervensystem recht stark die nichtgehabte Erholung – meinen Sommerurlaub mußte ich infolge des Krieges nach 8 Tagen abbrechen – und die seelische Erschütterung empfindet. Aber es hilft ja nichts, man muss halt so lange das überreichliche Maß an Arbeit leisten, bis es nicht mehr geht, oder der Krieg vorbei ist. Wann aber wird es sein? Hoffentlich haben Sie gute Nachrichten von Ihrem Sohn. Mein Ältester ist ja im Westen in irgendeinem Bunker dicht an der Grenze. Ich muss nun ja bei jeder Meldung über Zieltrupptätigkeit oder Artilleriefeuer bangen. Denn da man nicht weiß, wo er eigentlich ist, fehlt jede Möglichkeit sich vorzustellen, ob er dabei sein kann oder nicht. Und die Ostverbindung ist ja so verzögert, dass man immer nur weiß, was vor einer Woche los war. Lieber 100 mal selber an der Front und in Gefahr sein, als für seine Kinder bangen zu müssen. Verzeihen Sie die Langatmigkeit meines Schreibens, aber da man so viel in sich schließen muss, quillt es gelegentlich über. Mit den besten Grüßen von Haus zu Haus und Heil Hitler! Ihr W. Trittel
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Mein lieber Herr Trittel! Besten Dank für die freundliche Übersendung Ihres Lebenslaufes und Schriftenverzeichnisses, aus denen ich mir Notizen gemacht habe, sowie für Ihren Brief. Wie ich Ihnen schon schrieb, bereite ich eine Übersicht über die deutschen China-Forscher vor. Die Deutsche Akademie in München, wo sich besonders Herr Dr. Fochler-Hauke dafür interessiert, beabsichtigte eine entsprechende Zusammenstellung zu veröffentlichen. Aber dieses Vorhaben ist doch recht umfangreich geworden und ich komme in letzter Zeit nur ganz gelegentlich dazu, neue Unterlagen mir zu beschaffen. Ich füge noch bei das in Aussicht gestellte Blatt: Karte von China mit Reisewegen. Vielleicht haben Sie die Güte, ungefähr mit Rot- oder Blaustift Ihre Reisewege in China einzutragen. Wenn möglich am Rande auch die Hauptorte anzugeben, aber nur in ganz großen Zügen. Noch lebhaft fühle ich mit Ihrem großen Verlust mit und nehme großen Anteil an dem Schmerz von Ihnen und Ihrer Frau. Ein gutes Geschick mag Ihren Ältesten beschützen und Ihnen erhalten. Vorläufig scheint es ja noch gar nicht abzusehen zu sein, wann an der Westfront ernstere Ereignisse eintreten. Dennoch ist das Gefahrenmoment ja groß. Unser Junge ist vorläufig noch in Ruhestellung, allerdings auch sozusagen an der Front, aber in einem gemütlichen Dorf im Spessart, bis wohin die Reserven reichen. Meine Frau hat ihn gerade in diesen Tagen dort besucht, wie es auch viele andere Mütter mit ihren Söhnen getan haben. Aber einmal wird es ja auch heißen: an die richtige Front. Sie schreiben von einer Umorganisation. Hoffentlich ist nun die Lösung gefunden für eine entsprechende Umstellung Ihrer jetzigen Hochschule, ich meine doch im Zusammenhang mit der Universität. Mit allerbesten Grüßen auch für Ihre verehrte Gattin und nochmaligen schönen Dank für Ihre schnelle Bereitwilligkeit. Heil Hitler! Stets Ihr EB[oerschmann] M.G. PERNITZSCH Max Gerhard Pernitzsch, geb. am 9. März 1882. Besuchte von 1902 bis 1905 die Universität Berlin (Studium der Rechte) und das Seminar für Orientalische Sprachen (Chinesisch). Ging Ende 1905 nach China. Aufenthalt dort als Konsulatsdolmetscher hauptsächlich in Peking und Shanghai bis Mitte 1917. Anfang 1921 Ausreise nach Niederländisch-Indien, dort in Diensten der niederländisch-indischen Regierung bis Ende Juli 1935 tätig als Finanzbeamter für chinesische Sachen. Seit 1. Oktober 1935 am Seminar für orientalische Sprachen bzw. der Auslandhochschule (demnächst Auslandswissenschaftliche Fakultät der Universität Berlin) tätig als Professor des Chinesischen. Im Jahre 1907 an der Leipziger juristischen Fakultät zum Dr. jur. promoviert. Sondergebiet: Das moderne China. Veröffentlichungen:30 Shanghai, seine Verfassung, Verwaltung und Rechtsprechung. 1914 30
Ergänzend sei vermerkt: 2. Entwurf eines Wahlgesetzes für die Provinziallandtage. MSOS 13. 1910, 163176. – Bestimmungen über Abhaltung von leicht verständlichen Vorträgen über lokale Selbstverwaltung. MSOS 13. 1910, 123-150. – Regulationen der Provinziallandtage. MSOS 13. 1910, 177-194. – Das Beratungsamt (hui-i-ting). MSOS 16. 1913, 61-65. – Änderungen in der staatlichen Organisation Chinas. MSOS 42. 139, 15-20. – Die Burmastraße. Geschichte und Geographie der Provinz Yünnan. Zeitschrift für Politik 31. 1941, 197-209. – Shanghai, die «isolierte Insel». Zeitschrift für Politik 32. 1942, 118-125. – China. Berlin: Junker & Dünnhaupt 1940, 64 S. (Kleine Auslandskunde. 4.) – China. 2., erweiterte Auflage. Berlin: Junker & Dünnhaupt 1943, 156 S. (Kleine Auslandskunde. 4/5.) – China im Jahre 1940. Jahrbuch für Politik und Auslandskunde 1941, 300-315.
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Reise in Honan und Shansi, 1916 (in Jahrbuch des Vereins für chinesische Sprache und Landeskunde, Shanghai). Die chinesische Buchhaltung (zusammen mit H[ans] Tittel). 1927 [MOAG Suppl. 10. S. 1-84] Auswahl moderner chinesischer Prosastücke (zusammen mit Prof. W. Trittel] [Berlin, Leipzig: W. De Gruyter 1936 (Ausg.: 1938). 404, III S.), Lehrbuch der Auslandshochschule [38]. Vokabular dazu im Druck. [Wörterbuch zur Auswahl ... Leipzig: O. Harrassowitz 1942. 245 S. (Sprachenkundliche Lehr- und Wörterbücher. 41.)] Die Religionen Chinas (erscheint demnächst als Lehrbuch der Auslandshochschule [40]). [Berlin: W. de Gruyter 1940. 111 S. ] Aufsätze in den Mitteilungen des Seminars für Orientalische Sprachen bzw. der Auslandshochschule: Örtliche Selbstverwaltung in China. [MSOS 13. 1910, 119-122] Die Provinziallandtage in China. [MSOS 13. 1910, 151-162] Die örtliche Selbstverwaltung der Präfekturen, Subpräfekturen und Kreise (in China). [MSOS 14. 1911, 369-374] Das Staatswesen des modernen China (1936). [MSOS 39. 1936, 67-138] Die Chinesen in Niederländisch-Indien (1935). [MSOS 37. 1934, 32-52] Shanghai (1937). [MSOS 40. 1937, 37-92] Einige Sonderfälle des chinesischen Eherechts (1938). [MSOS 41. 1938, 1-8] Volksvertretung im China der Kriegszeit (erscheint 1940). [MSOS 42. 1939, 1-14] Dazu noch kleinere Aufsätze und Übersetzungen chinesischer Novellen in verschiedenen Zeitschriften. Mahlsdorf, den 23. November 1939 Kiekemalerstraße 2 Lieber Herr Kollege [Boerschmann], Ihrem Wunsche entsprechend, darf ich Ihnen die gewünschten Unterlagen über meinen Werdegang usw. übersenden. Ausgelassen bzw. nur kurz erwähnt habe ich kleinere Beiträge für verschiedene Zeitschriften, kleine Gelegenheitsarbeiten ohne weiteren Wert. Ferner füge ich noch einen kurzen Aufsatz über einige Sonderfälle des chinesischen Eherechts bei, hoffentlich findet er Ihr Interesse. Mit den schönsten Grüßen stets Ihr ganz ergebener Dr. M.G. Pernitzsch 30. November 1939 Mein lieber Herr Pernitzsch! Allerbesten Dank für Ihre schnelle Beantwortung meiner damaligen Anfrage und für die Übersendung der Notizen. Auch für den Sonderdruck über das Eherecht, der mich sehr interessiert hat, da ich viele Parallelen gerade bei meinem letzten Aufenthalt in China in Erfahrung bringen konnte, allerdings mehr zufällig, da es ja doch nicht mein Fach ist. In der Anlage übersende ich Ihnen nun das in Aussicht gestellte Blatt Karte von China und möchte Sie bitten, Ihre Reisewege in China freundlichst mit Rot- oder Blaustift einzuzeichnen und nach Möglichkeit auch die Hauptpunkte Ihrer Reisewege am Rande zu verzeichnen, doch nur in großen Zügen. Es handelt sich, wie ich Ihnen schon andeutete, um eine Zusammenstel-
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lung, die ich seit langem vorbereite, jetzt aber nur gelegentlich weiterführen kann, über die deutschen China-Forscher. Wenn die Übersicht abgeschlossen ist, wollte Dr. Fochler-Hauke von der Deutschen Akademie sie veröffentlichen. Doch diese Dinge sind ja durch den Krieg nun etwas unterbrochen, ich will sie aber dennoch versuchen fortzuführen. Mit den besten Grüßen, auch an Ihre verehrte Gattin, stets Ihr sehr ergebener B. Mahlsdorf, den 2. Dezember 1939 Kiekemalerstraße 2 Lieber Herr Kollege, anbei die Karte mit Andeutung meiner Reisewege in China sowie einigen Randbemerkungen. Natürlich habe ich von den Orten, an denen ich länger blieb, auch Ausflüge in die Umgebung gemacht. Als Konsulatsbeamter hatte ich ja wesentlich nur dann Anlass zum Reisen, wenn ich versetzt wurde oder, wie von Nanking und Hankou aus, Dienstreisen machte, nur im Jahre 1916 konnte ich mit weiland Prof. v. Schab eine größere Reise in Honan und Shansi machen. Ach, es waren schöne Zeiten, und sie kommen nicht wieder, teils weil ich nun auch schon bald 58 bin, und vor allem auch, weil es mehr als zweifelhaft ist, dass ich je wieder Zeit und Geld, vor allem Devisen, für solche Reisen bekomme. Die Umwandlung unserer Auslandshochschule in eine Fakultät geht weiter, es finden Besprechungen statt, und vielleicht wird nun doch etwas daraus. Haben Sie sich schon mit Prof. Six wegen der von Ihnen zu haltenden Vorlesungen in Verbindung gesetzt? Mit den schönsten Grüßen von meiner Frau und mir an Sie und Ihre Frau Gemahlin bin ich stets Ihr Dr. M. G. Pernitzsch
DEUTSCHE PHILOLOGIE/SPRACHGERMANISTIK JÖRG RIECKE
1. Zur Einleitung Das Fach „Germanistik“ tritt uns heute an den meisten Universitäten in einer institutionellen Vierteilung entgegen, bestehend aus „Neuerer deutscher Literaturwissenschaft“, „Älterer deutscher Literaturwissenschaft“ (Mediävistik), „Sprachwissenschaft“ (Germanistische Linguistik) und „Didaktik der deutschen Sprache und Literatur“. Diese Bereiche sind aus einer gemeinsamen Wurzel „Deutsche Philologie“ hervorgegangen und sind das Ergebnis der Universitätsreformen der 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Die ersten Fachvertreter waren oft noch bis tief ins 19. Jahrhundert hinein für den gesamten Bestand germanistischer Fragestellungen verantwortlich. Obwohl sie, wie gerade auch die vielfach als Gründerväter des Faches bezeichneten Jacob und Wilhelm Grimm, ihr Hauptinteresse meist auf die ältere deutsche Sprache und Literatur gerichtet hatten, ist es heute in weiten Kreisen des Faches üblich geworden, die Begriffe „Germanistik“ und „Neuere deutsche Literaturwissenschaft“ synonym zu verwenden. Das hat zu einer Reihe recht einseitiger Darstellungen der Fachgeschichte geführt, die dringend um eine germanistischsprachwissenschaftliche Komponente ergänzt werden müssten. Die Struktur der meisten germanistischen Institute, die vor der Hochschulreform in der Regel nur aus mindestens einem Ordinariat für „Neuere deutsche Literatur/Literaturgeschichte“ und einem Ordinariat für „Ältere deutsche Literatur und Sprache“ bestanden, macht es erforderlich, eine Geschichte der Sprachgermanistik themen- und personenbezogen, aber nicht institutsbezogen zu konzipieren. Unter einer Denomination „Ältere deutsche Sprache und Literatur“ können Germanisten zu finden sein, die sich ausschließlich als Literaturwissenschaftler verstanden und die ihre Kenntnisse älterer Sprachstufen allenfalls als Hilfsmittel für die literarhistorische Forschung einsetzten. Es konnten hier aber auch Fachvertreter mit ausgeprägt sprachwissenschaftlichen Interessen ihren Platz finden. Im Extremfall führte das wie an der Ludwig-Maximilians-Universität München zu einer Berufungspolitik, die unter der Denomination „Professur für deutsche Philologie“ mit Hermann Paul (1893–1916), Carl von Kraus (1917–1935) und Erich Gierach (1936–1943) nacheinander drei nach heutigem Verständnis völlig unterschiedliche Fachvertreter einsetzte. Auf einen Sprachwissenschaftler, der historische Grammatik unter Einschluss des Neuhochdeutschen lehrte, folgte ein Editionsphilologe mittelhochdeutscher Dichtungen und mit Erich Gierach schließlich ein Germanist, der sich nach Anfängen als Erforscher der mittelhochdeutschen Sprache und Literatur später vor allem der sudetendeutschen „Volkstumspflege“ widmete. Für die Zeitgenossen Pauls, von Kraus‘ und Gierachs war das gemeinsame Band der „Älteren deutschen Sprache und Literatur“ aber offensichtlich noch hinreichend tragfähig, um eine solche heterogene Konstellation zu rechtfertigen. Einheit und Wurzeln der älteren Sprachgermanistik sind demnach nur nachträglich zu rekonstruieren. Neben einem harten Kern bilden sich breite Übergangszonen zur Literaturwissenschaft, zur Vergleichenden Sprachwissenschaft und schließlich auch zur Volkskunde. Aus heutiger Perspektive sollen als Sprachgermanisten daher nur all jene Fachvertreter gelten, die vorzugsweise oder zumindest zu gewichtigen Anteilen neben der älteren Literatur oder anderen Schwerpunkten in Forschung und/oder Lehre Themen der Historischen Grammatik, Sprachgeschichte, Dialektologie und Namenkunde des Deutschen oder
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Fragen der Strukturen und Funktionen der deutschen Sprache insgesamt behandelt haben. Aus diesen Anfängen sind in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dann die noch heute bestehenden Professuren für „Germanistische Sprachwissenschaft“ hervorgegangen, in deren Zentrum die ausschließliche Beschäftigung mit der deutschen Sprache steht. Die Arbeitsbereiche germanistischer Sprachwissenschaft finden ihren gemeinsamen Nenner daher in Bezug auf den Gegenstand „deutsche Sprache“ und in dem damit verbundenen sprachreflexiven Niveau, das erkennbar höher liegt als das Niveau alltäglicher Sprachreflexion.1 Maßgeblich für die Bezeichnung als „Sprachgermanist“ ist hier – in Abgrenzung zu Vertretern anderer Philologien – die Aufnahme in das „Internationale Germanistenlexikon“.2 Vor allem in Verbindung mit der Frage nach der Bedeutung der Germanistik im Nationalsozialismus wird deutlich, dass der Komplex „deutsche Sprache“ trotz der institutionellen Unbehaustheit der Sprachgermanistik noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu den zentralen Themen der damaligen kulturwissenschaftlichen Forschung gezählt werden darf. Besonders wichtig wurde dabei die Auseinandersetzung um die angenommenen Wechselbeziehungen zwischen Sprache, Denken und nationalen Verschiedenheiten, die schließlich von einem patriotisch-völkischen in einen rassistischen Diskurs über Sprache hinüberglitt. Dieser Diskurs war nicht auf die germanistischen Sprachwissenschaftler beschränkt, sondern vereinte – gebündelt durch nationalsozialistische Institutionen wie das „Amt Rosenberg“ und das „Ahnenerbe“ der SS – gleichermaßen Indogermanisten, Allgemeine Sprachwissenschaftler, Romanisten, Anglisten und Germanisten, sofern sie nicht vertrieben wurden, emigriert waren oder – durch eine gesicherte akademische Position geschützt – es sich erlauben konnten, an diesem Diskurs nicht teilzunehmen. Dieser Themenkomplex ist durch neuere Überblicksdarstellungen von Christopher M. Hutton, Gerd Simon, Utz Maas und Clemens Knobloch3 sowie durch einige groß angelegten Einzelstudien4 vergleichsweise gut erforscht. Weniger bekannt ist allerdings bisher, welchen konkreten Anteil die Sprachwissenschaftler der Germanistik an diesem Diskurs hatten bzw. welche anderen Themen für die Sprachgermanistik in der Zeit des Nationalsozialismus wichtig waren. Dabei rechtfertigt sich die Fokussierung auf die germanistische Sprachwissenschaft nicht nur aus einer fachinternen Perspektive, die heute für das Selbstverständnis des Faches wichtig sein kann. Da die Germanistik seit Ende des Ersten Weltkrieges beständig wachsende Studentenzahlen verzeichnet und vor allem durch die Komponente der Lehrerausbildung stark zu einer Verbreitung sprachwissenschaftlicher Themen und Positi1 2
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Ulrike Hass-Zumkehr, Sprachwissenschaft innerhalb der Germanistik um 1900, in: Christoph König – Eberhard Lämmert (Hg.), Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, Frankfurt/M. 1999, S. 232. Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Hg. u. eingeleitet v. Christoph König, 3 Bde., Berlin – New York 2003. Das beeindruckende Lexikon ist allerdings nicht auf Vollständigkeit angelegt, einige Fachvertreter des betreffenden Zeitraums werden nicht, auch nicht in den Registern, erwähnt. So vermisst man Einträge zu Edmund Baldauff, Franz Beranek, Anneliese Bretschneider, Walther Niekerken, Hans Teske, Walther Vogt oder Ladislaus Weifert. Christopher M. Hutton, Linguistics and the Third Reich. Mother tongue fascism, race and the science of language, London – New York 1999; Gerd Simon, Sprachwissenschaft im III. Reich. Ein erster Überblick, in: Franz Januschek (Hg.), Politische Sprachwissenschaft. Zur Analyse von Sprache als kultureller Praxis, Opladen 1985, S. 97-141; Utz Maas, Die Entwicklung der deutschsprachigen Sprachwissenschaft von 1900 bis 1950 zwischen Professionalisierung und Politisierung, in: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 16 (1988), S. 253-290 und Clemens Knobloch, Sprachwissenschaft, in: Frank-Rutger Hausmann – Elisabeth Müller-Luckner (Hg.), Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933–1945, München 2002, S. 305-327. Ruth Römer, Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland, München, 2. Aufl. 1989; Utz Maas, Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933–1945, Bd. 1, A-F, Osnabrück 1996, Bd. 2, G-P (Q), Osnabrück 2004 und Joachim Lerchenmüller – Gerd Simon, Im Vorfeld des Massenmords. Germanistik und Nachbarfächer im 2. Weltkrieg. Eine übersicht, 3. Aufl. Tübingen 1997. Clemens Knoblochs gewichtiger Band „Volkhafte Sprachforschung“. Studien zum Umbau der Sprachwissenschaft in Deutschland zwischen 1918 und 1945, Tübingen 2005, ist erst nach Abschluß des Manuskripts erschienen und konnte nicht mehr systematisch ausgewertet werden.
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onen in der Gesellschaft beiträgt, kommt der Sprachgermanistik auch im Hinblick auf die universitäre Lehre und ihre Präsenz in der Öffentlichkeit – anders als etwa die Allgemeine Sprachwissenschaft oder die kleineren Philologien – eine herausgehobene Bedeutung zu.5 Der vorliegende Beitrag soll daher durch ein Verzeichnis der „Sprachgermanisten an deutschsprachigen Hochschulen 1930–1945“ den Grund für eine noch ausstehende Untersuchung der Hauptarbeitsgebiete der germanistischen Sprachwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus legen und einige ihrer Traditionslinien nachzeichnen. Da dies nicht vorraussetzungslos geschehen kann, ist zunächst ein kurzer Überblick über die Geschichte des Faches notwendig. Jede fachhistorische Analyse muss die Merkmale der wissenschaftlichen Entwicklung zwischen 1933 und 1945 auf die langfristigen Entwicklungsverläufe abbilden, wie sie vor 1933 bereits angelegt waren.6 Gelegentliche Überschneidungen mit Themen der Allgemeinen Sprachwissenschaft/Indogermanistik liegen in der Natur des Gegenstandes und sind daher unvermeidbar. 2. Kurze Skizze der Fachgeschichte bis 1933 Nachdem sich die deutsche Sprache im 18. Jahrhundert als Wissenschaftssprache an den Universitäten im deutschen Sprachraum durchgesetzt hat, beginnt um das Jahr 1800 auch die Entstehungsphase der „Deutschen Philologie“ als Wissenschaft. Sie ist geprägt von einer starken thematischen Spezialisierung und führt zur Verdrängung des praktischen akademischen Deutschunterrichts der älteren „Generalistenprofessoren“.7 Statt Rhetorik und Stilistik dominierte nun die Beschäftigung mit dem „deutschen Altertum“. Vorbild für das neue Fachverständnis war die seit langem als Wissenschaft anerkannte Klassische Philologie, deren Methoden nun auf deutschsprachige Texte übertragen wurden. Im Gegensatz zu dem an rein praktischen Bedürfnissen ausgerichteten Sprachunterricht älteren Zuschnitts war die philologische Methode unzweifelhaft wissenschaftlich und damit auch schulebildend. Sprachgermanistik etablierte sich als Fach an den Universitäten also durch eine extreme Verengung auf den Gegenstand „deutsche Philologie“ als Altertumskunde. Außerwissenschaftliche Anforderungen an die Wissenschaft wie etwa die Ausbildung zu einer umfassenden Sprachkompetenz werden zurückgedrängt. Zunehmend diktieren innerwissenschaftliche Zusammenhänge die Zugehörigkeit von Verfahren und Gegenständen. Die Entwicklung der Germanistik – wie wohl des modernen Wissenschaftssystems überhaupt – vollzieht sich folglich als Prozess von Binnendifferenzierung.8 5
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Zur Ausbildungsfunktion der Germanistik sieh die Hinweise bei Detlef Kopp, (Deutsche) Philologie und Erziehungssystem, in: Jürgen Fohrmann – Wilhelm Voßkamp (Hg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart – Weimar 1994, S. 738f.; Uwe Meves, Zum Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie. Die Periode der Lehrstuhlerrichtung (von ca. 1810 bis zum Ende der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts), in: Jürgen Fohrmann – Wilhelm Voßkamp (Hg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik, S. 196 und Rainer Kolk, Liebhaber, Gelehrte, Experten. Das Sozialsystem der Germanistik bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, in: ebd., S. 58. Man vergleiche für die Sprachwissenschaft insgesamt Utz Maas, Die Entwicklung der deutschsprachigen Sprachwissenschaft, S. 255 sowie zu den ideologischen Kontaminationen vieler Sprachwissenschaftler E.F.K. Koerner, Ideology in 19th and 20th century study of language. A neglected aspect of linguistic historiography, in: Indogermanische Forschungen 105 (2000), S.1-26 und ders., Linguistic historiography: Projects & prospects, Amsterdam – Philadelphia 1999. Mit der öffentlichen Begeisterung über die Neuedition von Alexander von Humboldts wissenschaftlichen Schriften kündigt sich jetzt nach mehr als 200 Jahren, zumindest außerhalb der Universitäten, eine Renaissance der Generalisten an. Sieh dazu grundlegend Rainer Kolk, Liebhaber, Gelehrte, Experten, S. 48-55; Uwe Meves, Zum Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie, S. 127 sowie Stefan Sonderegger, Sprachgeschichtsforschung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Werner Besch – Anne Betten – Oskar Reichmann – Stefan Sonderegger, Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 1. Teilbd., 2., vollst. neu bearb. Aufl., Berlin – New York 1998, S. 443-473.
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Gemeinsam ist allen germanistischen Strömungen jedoch das Verständnis der Germanistik als historischer Wissenschaft. Die Literaturwissenschaft wurde historisch als Teil der Geschichtsphilosophie, die Sprachwissenschaft demgegenüber als Teil der Naturgeschichte verstanden.9 Der Prozess der Binnendifferenzierung wird für ziemlich genau ein Jahrhundert die Fachgeschichte dominieren. Er ist mit einer stellenweise geradezu aggressiven Ausgrenzungsstrategie gegenüber den sogenannten „Dilettanten“ des älteren Professorentyps verbunden und bezieht sich nicht nur auf die Ablehnung universeller wissenschaftlicher Ergebnisse und Erkenntnisziele, sondern zielt nicht selten auf die moralische Denunziation der „Dilettanten“.10 So ist das neue Fach bereits um 1848/49 an 17 von 20 Universitäten durch ordentliche oder außerordentliche Professoren in den Kreis der wissenschaftlichen Disziplinen aufgenommen. Es fehlen nur Freiburg, Gießen und – nach dem Abbruch älterer Traditionen – Königsberg. Möglich wurde die Ausdehnung vor allem deshalb, weil trotz aller wissenschaftlichen Verengung und Spezialisierung stets auch ein gesellschaftliches Interesse bedient wurde: Für die Gründerväter wie Jacob Grimm hatte die Sprache eine die Nation konstituierende und erhaltende Funktion. Vor allem in der Zeit der Befreiungskriege (1813–14) wird diese Funktion patriotisch gedeutet und erleichtert damit wesentlich die Konsolidierung des Faches als etablierte akademische Disziplin.11 Erst nach dem Wiener Kongress und der gescheiterten Revolution von 1848 gerät der patriotische Impuls der neuen Wissenschaft zusehends in die Defensive, die deutschen Fürsten sind an einer kulturellen, ökonomischen und politischen Einheit Deutschlands nicht sonderlich interessiert. Die daraus entstehenden Konflikte führen zur Entlassung einzelner Professoren, wie etwa der Grimms, bei den verbliebenen Lehrkräften aber zusehends zur Entpolitisierung des Faches. An die Stelle patriotischer Aussagen tritt mit dem „Nibelungenstreit“ die Zuspitzung der Frage von wissenschaftlicher Professionalität auf der einen und Popularisierung des Wissens auf der anderen Seite. In dieser zentralen Kontoverse des „Sozialsystems der Germanistik“12 wird der Prozess der Binnendifferenzierung des Faches weiter vorangetrieben. Die Vertreter der reinen philologischen Lehre kommen, auch wenn sie sich nicht zu Unrecht als Hüter der erfolgreichen Fachtradition sehen, in immer größere Legitimationsschwierigkeiten. Der „Nibelungenstreit“ zeigt deutlich, wie labil die auf Verengung, philologische Spezialisierung und Abgrenzung nach Außen gegründete Identität des Faches trotz aller institutionellen Erfolge ist. In dieser Periode der Neuorientierung fordert Wilhelm Scherer, der einflussreichste Vertreter der zweiten Germanistengeneration im 19. Jahrhundert, über dessen Zugehörigkeit zum Kreis der „Experten“ kein Zweifel besteht, vehement die flexiblere Handhabung tradierter Normen, das heißt auch die Zulassung externer Motivationen und die gezielte Popularisierung des Wissens. Mit Scherer relativiert nun erstmals ein Vertreter aus dem innersten Kreis des Faches die hermetische Ausrichtung an der klassischen Philologie. Auch Philosophie, Psychologie und die Geschichts- und Sprachwissenschaften gelten ihm als Disziplinen, die ebenfalls zur Orientierung des Faches taugen13. Dieser Pluralismus von Orientierungen führt zu einem Differenzierungsschub gegen Ende des Jahrhunderts, der schließlich die Trennung der Arbeitsbereiche „Neuere deutsche Literatur“ und „Ältere Literatur und Sprache“ nach sich zieht. Da es sich in der Praxis nach wie vor um 9 10 11 12 13
Ulrich Wyss, Die Grimmsche Philologie in der Postmoderne, in: Reiner Hildebrandt – Ulrich Knoop (Hg.), Brüder-Grimm-Symposion zur Historischen Wortforschung. Beiträge zur Marburger Tagung vom Juni 1985, Berlin – New York 1986, S. 279. Sieh Rainer Kolk, Liebhaber, Gelehrte, Experten, S. 60 u. 75. Man vergleiche dazu vor allem: Frank Fürbeth – Ernst E. Metzner (Hg.), Zu Geschichte und Problematik der Nationalphilologie in Europa: 150 Jahre Erste Germanistenversammlung in Frankfurt am Main 1846–1996. Tübingen 1999. Rainer Kolk, Liebhaber, Gelehrte, Experten, S. 84. Ebd., S. 100f.
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eine Philologie, um eine Textwissenschaft handelte, war die Verbindung von älterer Literatur und Sprache durchaus nahe liegend. Es dominierte dann die Beschäftigung mit Literatur oder Sprache, je nach persönlichen Vorlieben der Stelleninhaber. Während die Literaturwissenschaft in dieser Phase allerdings auf die geisteswissenschaftliche Tradition Wilhelm Diltheys zurückgreift, bewegt sich die Sprachwissenschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts weiterhin fast ausschließlich in einem sehr engen, an Positivismus und Naturwissenschaft orientierten Paradigma der sogenannten Junggrammatiker, das im Umkreis der Indogermanistik und historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft entstanden war.14 Zwar ist das junggrammatische Paradigma vielleicht bis heute – neben der Generativen Grammatik – das ambitionierteste Modell der Spezialisierung und Professionalisierung innerhalb der Germanistik, und es hat mit Hermann Paul und Ferdinand de Saussure einige der bedeutendsten Sprachtheoretiker der Neuzeit hervorgebracht. Die von Wilhelm Scherer eingeleitete Öffnung war aber nicht mehr aufzuhalten. Der Bewunderung für die an Fakten ausgerichtete Germanistik alter Prägung tritt die Einschätzung zur Seite, dass es dieser Art von Forschung an jedweder sinnstiftenden Struktur zu fehlen scheine. Auch wenn wir noch heute die in der Zeit der Junggrammatiker entstandenen historischen Grammatiken benutzen, so herrscht doch weitgehend Konsens darüber, dass sich Sprachwissenschaft nicht in der „atomistischen“ Betrachtung von phonologischen und morphologischen Fakten erschöpft. Für die Mehrzahl der Sprachgermanisten hatte das enge junggrammatische Paradigma, dem noch um das Jahr 1900 mit Wilhelm Braune, Theodor Sievers, Herrmann Paul, Otto Behaghel und Friedrich Kluge die bedeutendsten Fachvertreter angehörten, seine Faszination verloren.15 Ganz offensichtlich ist der Gegenstandsbereich einer Einzelphilologie sehr viel vielfältiger, nämlich an die jeweilige Kultur einer Sprachgemeinschaft gebunden, als beispielsweise die Fragestellungen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Von daher ist es voraussehbar, dass sich hochspezialisierte theoriezentrierte Paradigmen in den Einzelphilologien auf Dauer nicht halten können. Hier führt die Abkoppelung von den Sprechern und ihren Lebenswelten unweigerlich zu einem Legitimationsverlust. Der verloren geglaubte Sinn sprachgermanistischer Forschungen konnte daher offensichtlich für viele Wissenschaftler am leichtesten dadurch wieder hergestellt werden, dass man sich den außerwissenschaftlichen Anforderungen der Gesellschaft öffnete und die spezialistische Verengung, die für die Gründung und Etablierung des Faches nötig war, aufgab. So vollzog sich um 1900 die Hinwendung zur politisch kulturellen Öffentlichkeit, die nun allerdings seit der Reichsgründung 1871 wieder stark nationalistisch gestimmt war. Die neue „Deutschkunde“ die in diesem Umfeld entsteht, war offensichtlich auch als Basiskonsens für die alt- und neugermanistischen Abteilungen der Germanistik tragfähig.16 Auf diesem Konsens beruht auch die Gründung des „Deutschen Germanistenverbandes“ im Jahre 1912. Die „Deutschkunde“ wird im patriotisch-nationalistischen Umfeld zu einer „Erziehung zur Gesinnung“; die philologische Gelehrsamkeit alten Stils gerät in Verdacht, lebensfern und Selbstzweck zu sein. Mit der Relativierung der philologischen Arbeit auch auf institutioneller Ebene hat die Germanistik endgültig Anschluss an die kulturwissenschaftlichen Disziplinen gefunden, allerdings von vorn herein unter patriotisch-nationalisti14
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Sieh dazu z.B. Eveline Einhauser, Die Junggrammatiker. Ein Problem für die Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung, Trier 1989, sowie dies., Grammatikschreibung in der Tradition der Historischen Grammatik: Ein Ausblick auf das 20. Jahrhundert, in: Peter Schmitter (Hg.), Sprachtheorien der Neuzeit II. Von der Grammaire de Port Royal (1660) zur Konstitution moderner linguistischer Disziplinen, Tübingen 1996, S. 216-243. Zur Neuorientierung in der Germanistik um 1900 sieh auch Ulrich Wyss, Abgrenzungen. Die Germanistik um 1900 und die Tradition des Faches, in: Christoph König – Eberhard Lämmert (Hg.), Konkurrenten in der Fakultät, bes. S. 64f. Sieh Rainer Kolk, Liebhaber, Gelehrte, Experten, S. 109.
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scher Ausrichtung. Von der „national gebändigten Universalität“, durch die sich die Brüder Grimm bei all ihren patriotisch-romantisch geprägten Ambitionen stets auszeichneten17, war die Sprachgermanistik am Ende des 19. Jahrhunderts entfernter denn je. Ulrike Hass hat für die Sprachgermanistik um 1900 sieben Themenkreise ermittelt, die für Forschung und Lehre maßgeblich waren.18 Mit der Dialektologie bzw. Sprachgeographie, die sich aus dem junggrammatische Paradigma herausentwickelt hat, möchte ich ihnen einen achten Bereich zur Seite stellen. Dann ergibt sich folgendes Bild: 1. Die philologische Tradition 2. Das junggrammatische Paradigma 3. Die Sprachgeographie 4. Lexikologie und Lexikographie 5. Die Einflüsse der vergleichenden Sprachwissenschaft 6. Die Einflüsse der Sprach- und Völkerpsychologie 7. Die auf schulische Zwecke ausgerichtete Sprachreflexion 8. Orthographie und Orthographiereform Diese acht Domänen der Sprachgermanistik spiegeln bereits sehr deutlich, dass die Öffnung gegenüber den verschiedenen gesellschaftlichen Bedürfnissen relativ weit fortgeschritten war. Bis in die Zeit der Weimarer Republik hinein herrscht ein buntes Nebeneinander verschiedenster Methoden und Ansätze. Teils handelt es sich um die Fortführung und Modifikation des junggrammatischen Ansatzes, teils werden Anregungen von außen, etwas bei Hans Sperber aus der Psychologie oder bei Theodor Frings aus der Geschichtswissenschaft verarbeitet. Auch sozial ausgerichtete Forschungen vermehren sich, meist in Allianz mit den alten Fragen um eine nationale Identität. Denn nicht zuletzt die schnelle Industrialisierung und Urbanisierung Deutschlands riefen Gegenkräfte hervor, die vereint in der Ablehnung von Technik und Moderne stattdessen altdeutsche Kultur, Heimat und Volkstum betonten. Untergangstimmung und eine weitverbreitete Reaktion gegen die westliche Zivilisation wuchsen heran.19 Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg nahmen diese Strömungen auch in der Germanistik einen immer breiteren Raum ein. Der Literaturwissenschaftler Julius Petersen mahnt 1924 die enttäuschten Deutschen, sie müssten ein neues Selbstbewusstein in der Sprache suchen: „Wo können wir besseres Selbstvertrauen hernehmen als aus unserer Sprache, dem letzten Gemeinbesitz aller Deutschen, deren unerschöpfliche, schöpferisch immer neu sich bildende Urkraft den Verflachungen der Zivilisation noch immer siegreich widersteht und in sich die Bürgschaft der Auferstehung trägt.“20 Es war nun nicht mehr erforderlich, die Einheit der Nation durch die Einheit der Sprache zu begründen. Stattdessen mündet die nationalhistorische Ideologie ein in neue Konzepte von „deutschem Geist“ und „deutschem Wesen“. Kultur wurde zurückgeführt auf das derart umgedeutete Konzept des „Volksgeistes“, das wiederholt und zunächst noch in durchaus unterschiedlicher politischer Ausrichtung herangezogen wurde, um das Spezifische deutscher Kultur – und als „Sprachgeist“ deutscher Sprache – zu ermitteln.21 Verstärkt 17 18 19
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Stefan Sonderegger, National gebändigte Universalität, in: Reiner Hildebrandt – Ulrich Knoop (Hg.), Brüder-Grimm-Symposion zur Historischen Wortforschung. Beiträge zur Marburger Tagung vom Juni 1985, Berlin – New York 1986, S. 1-23. Ulrike Hass-Zumkehr, Sprachwissenschaft innerhalb der Germanistik um 1900, S. 232-239. Zu diesen Hintergründen vergleiche man Birgitta Almgren, Germanistik und Nationalsozialismus: Affirmation, Konflikt und Protest. Traditionsfelder und zeitgebundene Wertung in Sprach- und Literaturwissenschaft am Beispiel der Germanisch-Romanischen Monatsschrift 1929–1943, Uppsala 1997, S. 78f. Sieh dazu ebd., S. 92f. Ulrike Hass-Zumkehr, Das gesellschaftliche Interesse an der Sprachgeschichtsforschung im 19. und 20. Jahrhundert, in: Werner Besch – Anne Betten – Oskar Reichmann – Stefan Sonderegger, Sprachgeschichte., S. 353.
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durch die Sprachkrise der Jahrhundertwende, die auf soziologischer Ebene mit der Krise des Bildungsbürgertums im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts korrespondierte, zog sich die Mehrheit der Gebildeten und mit ihr die Mehrheit der Sprachgermanisten auf letztlich missverstandene patriotisch-nationalistische Traditionen zurück. Hier findet der völkischrassistische Diskurs seinen Anschlusspunkt, der keineswegs erst ab 1933 einsetzt, dann aber verständlicherweise zur vollen Entfaltung kommt. Die von dem Genfer Linguisten Ferdinand de Saussure vorgegebene Möglichkeit, das junggrammatische Paradigma in ein neues – strukturalistisches – Modell zu überführen und so einen neuen Professionalisierungsschub zu initiieren, wurde von der Sprachgermanistik kaum, allenfalls ansatzweise in Jost Triers Wortfeldforschung, genutzt.22 Die Mehrzahl der Fachvertreter blieb Philologe und bestimmte Sprachwissenschaft als Hilfsmittel für die lexikalische Analyse, als Instrument, um in Texten Spuren historischer Prozesse zu lesen, und stellte sich damit zugleich gegen die Reduzierung der Germanistischen Sprachwissenschaft auf die Geschichte der Laute und Formen.23 Weder die Beharrungskräfte der Tradition, noch die Öffnung der Sprachgermanistik, die nun auch „gesellschaftlichkulturelle Vorartikuliertheit der Sprachpraxis“24 untersucht, führten allerdings zwangsläufig und direkt in den völkisch-rassistischen Diskurs hinein. Den Sprachgermanisten standen durchaus verschiedenen Optionen offen. Für das beginnende 20. Jahrhundert bis 1933, das heißt nach Abschluss des nach Eric Hobsbawm „langen 19. Jahrhunderts“ um das Jahr 1914, lassen sich vor diesem Hintergrund vier Domänen der Sprachgermanistik unterscheiden: 1. Die Tradition Die ältere philologische Tradition wird vor allem von Germanisten gepflegt, deren Forschungen eher dem Bereich der „Älteren deutschen Literatur“ zuzurechnen sind. Ein sprachwissenschaftliches Arbeitsfeld entsteht im Bereich der Lexikographie, vor allem durch die kontinuierliche Arbeit am „Deutschen Wörterbuch“. Die jüngere sprachgermanistische Tradition bewegt sich im positivistischen, aber modifizierten und zur Gegenwart hin erweiterten junggrammatischen Paradigma mit einem an den Naturwissenschaften und an physiologisch bestimmter Psychologie orientierten Begriff von Kulturwissenschaft.25 Wichtige Vertreter sind Otto Behaghel (1854–1936), Friedrich Kluge (1856–1926) und Agathe Lasch (1879–1942?). 2. Die „Kulturmorphologie“ Nachdem die sprachlich inhomogenen Befunde der Mundartforschung deutlich gemacht hatten, dass sich die Ausgliederung von Dialekten nur im Rückgriff auf soziale historische Faktoren erklären lässt, wächst die Mundartforschung aus dem junggrammatischen Paradigma hinaus und wird in Deutschland von ihrem Hauptvertreter Theodor Frings zu einer kulturgeschichtlich – er sagt „kulturmorphologisch“ – interpretierten historischen Sprachwissenschaft und Sprachgeographie ausgebaut. Staats- und Territorialgrenzen werden als Sprachgrenzen und damit zugleich als Kulturgrenzen aufgefasst. In deutlicher Abgrenzung 22
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Zitiert wird de Saussure dagegen von den sich als modern verstehenden Sprachgermanisten wie Brinkmann und Stroh recht intensiv. Noch anders liegen die Dinge in der Allgemeinen Sprachwissenschaft, man vergleiche dazu Claas-Hinrich Ehlers, Saussure-Lektüre in Weisgerbers Habilitationsschrift, in: Klaus D. Dutz, Interpretation und Re-Interpretation. Aus Anlaß des 100. Geburtstages von Johann Leo Weisgerber (1899–1985), Münster 2000, S.51-66 sowie die Hinweise bei Utz Maas, Die Entwicklung, S. 262f. und Clemens Knobloch, Sprachwissenschaft, S. 306f. Utz Maas, Die Entwicklung, S. 260. Ebd. Zur Einordnung in die Wissenschaftsgeschichte sieh Renate Schlesier, Anthropologie und Kulturwissenschaft in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, in: Christoph König – Eberhard Lämmert (Hg.), Konkurrenten in der Fakultät, S. 224.
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zu den deterministischen Konzepten Weisgerbers oder Whorfs werden Sprachräume vor allem als Kulturräume gedeutet, in denen sich Sprache als „ein geschichtsgeographisch bedingtes soziales Gebilde“ entfaltet.26 Berührungspunkte entstehen zur Volkskunde und zur in der Germanistik insgesamt weniger etablierten Wörter und Sachen-Forschung.27 Mit dem Konzept öffnet sich die Sprachwissenschaft für die kulturgeschichtlichen Nachbardisziplinen.28 Im Vordergrund stehen dabei die Aspekte „Raum“ und „Geschichte“. 3. Die „Kultursemantik“ Die neue „Kultursemantik“ der Nachkriegszeit versteht sich als historische Semantik auf psychoanalytischer Grundlage. Hauptvertreter in der Germanistik ist der aus Wien stammende und in Köln lehrende Hans Sperber, der wie sein romanistischer Gegenüber Leo Spitzer schon früh psychoanalytische Analysefiguren aufnahm, um kulturelle Zwänge und individuelles Handeln zu vermitteln. Beide konzipierten schon 1916 ein Forschungsprojekt unter dem Titel „Motiv und Wort“, das eine Neubegründung der Sprach- und Literaturwissenschaften auf psychoanalytischer Grundlage leisten sollte. Sein als Hauptwerk geplantes historisches Wörterbuch der germanischen Sprache(n), wurde durch seine Vertreibung aus Deutschland verhindert.29 Sperber nimmt neben psychoanalytischen auch Einflüsse der Wörter und Sachen-Forschung auf, die sonst wenig Resonanz in der Sprachgermanistik gefunden hat. Mit dem Konzept öffnet sich die Sprachwissenschaft (wieder) für die psychologischen Nachbardisziplinen. 4. Die völkisch-nationale Sprachgermanistik Die völkisch-nationale Sprachgermanistik erwächst aus dem Versuch der wissenschaftlichen Legitimation der „Deutschkunde“ und hat ihre Heimat im „Deutschen Germanistenverband“. Dem Verband war es weitgehend gelungen, wenn noch nicht das deutsche, so doch das germanistische Geistesleben auf eine „völkische Grundlage“ zu stellen30. Das bedeutet für die Sprachwissenschaft, dass diese Grundlage vor allem auf einer völkischen Deutung der Sprache beruht.31 Diskussionen um Verhältnis von Sprache und „Rasse“ waren in Deutschland seit Beginn des 20. Jahrhunderts geführt worden.32 In Sprachwissenschaft und Germanistik hält die Rassenideologie aber nur langsam Einzug. Wegbereitend ist dafür die Historisierung völkisch-nationaler Auffassungen, die sich unter dem Dach der „Germanischen Altertumskunde“ vollzieht. Herkunft, Heimat und Lebensformen der „In26 27
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Man vergleiche Peter Porsch, Theodor Frings und moderne Ansätze landeskundlich orientierter Linguistik, in: Sprache in der sozialen und kulturellen Entwicklung. Beiträge eines Kolloquiums zu Ehren von Theodor Frings (1886–1968), hg. v. Rudolf Grosse, Berlin 1990, S. 255f. Sieh dazu Wolfgang Settekorn, Die Forschungsrichtung „Wörter und Sachen“, in: Sylvain Auroux – E. F. K. Koerner – Hans-Josef Niederehe – Kees Versteegh, Geschichte der Sprachwissenschaften, 2. Teilbd., Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 18.2, Berlin – New York 2001, S. 1628–1650. Sieh Wolfgang Fleischer, Sprachwissenschaft und Kulturgeschichte, in: Sprache in der sozialen und kulturellen Entwicklung, S. 164f. Utz Maas, Die Entwicklung, S. 261, sieh auch ders., Sperber, Hans, in: Lexicon Grammaticorum. Who’s Who in the History of World Linguistics, hg. v. Harro Stammerjohann, Tübingen 1996, S. 875876, sowie ders., Probleme und Traditionen der Diskursanalyse, in: Zeitschrift für Phonetik, Kommunikationsforschung und Sprachwissenschaft 41 (1988), S. 721-723. Sieh Joachim Lerchenmüller – Gerd Simon, Im vorfeld des massenmords, S. 3 sowie Reiner Bessling, Schule der nationalen Ethik: Johann Georg Sprengel, die Deutschkundebewegung und der deutsche Germanistenverband, Frankfurt/M. 1997; Christa Hempel-Küter, Germanistik zwischen 1925 und 1955. Studien zur Welt der Wissenschaft am Beispiel von Hans Pyritz, Berlin 2000, S. S. 32-40. Man vergleiche auch Klaus von See, Völkische Ideologie und Sprachforschung des 19. und 20. Jahrhunderts, in: ders., Barbar – Germane – Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg 1994, S. 135160, Hartmut Gaul-Ferenschild, National-völkisch-konservative Germanistik. Kritische Wissenschaftsgeschichte in personengeschichtlicher Darstellung, Bonn 1993. So noch 1926 Friedrich Panzer, Volkstum und Sprache. Rektoratsrede. Gehalten bei der Stiftungsfeier der Universität Heidelberg am 22. November 1926, Frankfurt a.M. 1926 Ruth Römer, Sprachwissenschaft und Rassenideologie, S. 131-137.
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dogermanen“, Germanen und Kelten sollten nun, durchaus in deutlicher Abgrenzung zu führenden Vertretern der Forschungsrichtung, wie etwa Alfons Nehring und Sigmund Feist, tagespolitischen Fragen nutzbar gemacht werden. Großen Anteil daran hat der Wiener Germanist und Altertumsforscher Rudolf Much, etwa 1926 mit seinen Aussagen zu „Rasse und Sprache“, wo er eine ursprüngliche Einheit von Rasse und Sprache voraussetzt. Die gallischen Stämme hält er dabei allerdings „für nicht immer und überall gleichwertig“, da der Verlust des nordischen Blutes unter den Galliern einen Verfall mit sich gebracht habe.33 Während zu Beginn der 30er Jahre auch in der „völkisch-nationalen Sprachgermanistik“ noch keineswegs Einstimmigkeit in der Beurteilung des Verhältnisses von Rasse und Sprache bestand, so war es doch Konsens, dass diese Faktoren in einen Zusammenhang gebracht werden sollten. So entwickelt sich zunächst ein Nebeneinander von einem „völkischen Diskurs“ und einem „rassischen Diskurs“34, an dem die Sprachgermanisten vor 1933 aber nur erst am Rande durch die Altertumskunde beteiligt sind. Allerdings bietet der Germanistenverband nun den Rahmen, um nach und nach große Teile der „Tradition“, die ursprünglich wenig an „anwendungsbezogenen“ Fragen interessiert war, in den völkischnationalen Diskurs hineinzuziehen. Nicht zu unterschätzen ist in diesen Kreisen der biographische Aspekt der Herkunft aus dem „Grenz- und Auslandsdeutschtum (so u.a. bei Gierach, Panzer und Weisgerber). Gemeinsam ist den Bebauern der drei jüngeren Domänen die von Clemens Knobloch herausgestellte Art „aufs Ganze zu gehen“.35 Von diesem Punkt aus sollte es nach 1933 besonders für die völkisch-nationale Sprachgermanistik, aber auch für die „Kulturmorphologie“ und die „Tradition“ zahlreiche Anknüpfungspunkte geben, die es erlaubten, die jeweils eigenen Forschungsinteressen mit den nationalsozialistischen Wissenschaftsdiskursen zu verbinden. Besonders deutlich wird dies selbstredend im Feld der völkischnationalen Sprachwissenschaft. Hier zeigt sich früh, dass Wissenschaftler, die etwa in solchen Fragen wie zur Herkunft und Verbreitung der Germanen zu anderen Ergebnissen kommen als es völkisch-nationale Standpunkte nahe legten, ausgegrenzt und diffamiert wurden. Wenn es sich dann noch auch noch um Wissenschaftler jüdischen Glaubens handelte, war eine Hochschulkarriere, anders als bei Forschern der drei ersten Domänen, im Bereich der sprachwissenschaftlichen germanischen Altertumskunde schon lange vor 1933 offensichtlich unmöglich. Ruth Römer hat die Ideologisierung der Sprachwissenschaft am Beispiel von Sigmund Feist in exemplarischer Deutlichkeit gezeigt.36 Das Potential für eine fünfte Domäne wurde sicherlich durch die „strukturelle Wortfeldforschung“ Jost Triers freigelegt, war aber am Beginn der 30er Jahre noch nicht in ei33
34 35 36
Rudolf Much, Die angebliche Keltenherrschaft in Germanien, in: Volk und Rasse 1 (1926), S. 100-105. Sieh dazu auch Ruth Römer, Sprachwissenschaft und Rassenideologie, S. 141. Zu Rudolf Much sieh auch Peter Wiesinger – Daniel Steinbach, 150 Jahre Germanistik in Wien. Außeruniversitäre Frühgermanistik und Universitätsgermanistik, Wien 2001, S. 69-73, wo es S. 73 heißt: „Mit diesen seinen Lehren wurde Much, noch dazu bei deutschnationaler Einstellung, leider auch ein Wegbereiter der nationalsozialistischen Ideologien in der Altgermanistik und Volkskunde.“ – Wie weit sich die heutige Forschung von diesen Auffassungen entfernt hat, zeigt exemplarisch der Beitrag von Hans-Werner Goetz, Gentes et linguae. Völker und Sprachen im Ostfränkisch-deutschen Reich in der Wahrnehmung der Zeitgenossen, in: Theodisca. Beiträge zur althochdeutschen und altniederdeutschen Sprache und Literatur in der Kultur des frühen Mittelalters, hg. v. Wolfgang Haubrichs – Ernst Hellgardt – Reiner Hildebrandt – Stephan Müller und Klaus Ridder, Berlin – New York 2000, S. 290-312. Sieh dazu Utz Maas, Die Entwicklung, S. 275-283. Clemens Knobloch, Sprachwissenschaft, S. 305. Ruth Römer, Sigmund Feist und die Gesellschaft für deutsche Philologie in Berlin, Muttersprache 103 (1993), S. 28-40, dies., Sigmund Feist, Deutscher – Germanist – Jude, in: Muttersprache 91 (1981), S. 249-308. Man vergleiche auch Jörg Riecke, „Sollte irgend eine Aktion gegen diese Dilettanten in Aussicht genommen werden ...“. Zu einem Brief Max Vasmers an Otto Behaghel, in: Raum, Zeit, Medium – Sprache und ihre Determinanten. Festschrift für Hans Ramge zum 60. Geburtstag, hg. v. Gerd Richter – Jörg Riecke – Britt-Marie Schuster, Darmstadt 2000, S. 929-948.
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ner Weise entfaltet, die es rechtfertigt, sie den vier Domänen als gleichrangig zur Seite zu stellen.37 3. Germanistische Sprachwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus 3.1 Verfolgung und Vertreibung Utz Maas (1988) hat überzeugend herausgearbeitet, dass die Jahre nach 1933 für die meisten Sprachwissenschaftler keine gravierende Zäsur bedeutet haben. Dies gilt gleichermaßen für die große Mehrheit der Sprachgermanisten. Davon auszunehmen sind selbstredend die aus ethnischen oder politischen Gründen verfolgten Germanisten. Auch wenn ihre Zahl, nicht zuletzt bedingt durch den latenten Antisemitismus der vorausgegangenen Jahre, nicht eben besonders groß ist. Utz Maas verzeichnet in seinem biographischen Lexikon verfolgter und ausgewanderter deutschsprachiger Sprachforscher nach jetzigem Stand 53 Forscher, die sich vor 1933 als Sprachgermanisten betätigt haben, sowie drei Jiddisten, die ich hier hinzuzählen möchte. Davon waren fünf als Professoren oder hauptamtliche Dozenten an deutschen Hochschulen beschäftigt.38 Salomon A. Birnbaum (1891–1989) Nach der Promotion 1921 in Würzburg war der Wiener Salomon A. Birnbaum 1922– 1933 Dozent für Jiddisch in Hamburg, dort erfolgten 1927 und 1930 zwei gescheiterte Habilitationsversuche. Nach der Emigration 1933 Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten in England, so in London und Cambridge. Sein sprachwissenschaftliches Hauptwerk ist die „Grammatik der jiddischen Sprache“ von 1918, jetzt in 4. Aufl. Hamburg 1984. 1986 Ehrendoktor der Universität Trier.39 Die Bezeichnung „jiddisch“ erscheint im Deutschen wohl zum ersten Mal 1913 bei Birnbaum40, er kann in diesem Sinne als der Begründer des Faches in Deutschland gelten.41 Agathe Lasch (1879–1942? im Getto Riga?) Agathe Lasch aus Berlin war bis zu ihrer Vertreibung aus dem Amt eine führende und hochgeschätzte Vertreterin der „Tradition“, die es verstanden hatte, am Beispiel des Niederdeutschen traditionelle Philologie und moderne, im weitesten Sinne soziolinguistische Fragestellungen zu verknüpfen. Nach ihrer Promotion 1909 in Hei37 38
39 40
41
Sieh Utz Maas, Die Entwicklung, S. 271. Zu Trier vergleiche man auch Christopher M. Hutton, Linguistics and the Third Reich, S. 86-105. Utz Maas, Verfolgung, Einleitung Bd. 1, sowie Nachträge zu Bd. 1 und den noch unveröffentlichten Bänden 2 und 3, die mir freundlicherweise vorab vom Autor zur Verfügung gestellt wurden. – Die Zahlen sind für die verschiedenen Fächer und Universitäten sehr unterschiedlich. So waren allein an der Universität Berlin insgesamt 230 Professoren und wissenschaftliche Mitarbeiter in den Ruhestand versetzt worden, was geradezu zu einem „Wiederbesetzungsstau“ führte. Man vergleiche dazu Joachim Lerchenmüller – Gerd Simon, Im vorfeld des massenmords, S. 21. Zu den ähnlichen Verhältnisse in Heidelberg sieh B. Vezina, „Gleichschaltung“ der Universität Heidelberg im Zuge nationalsozialistischer Machtergreifung, Heidelberg 1982. Utz Maas, Verfolgung, Bd. 1, S. 201-204. Sieh Ulrike Kiefer, Das Jiddische in Beziehung zum Mittelhochdeutschen, in: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2. vollst. neu bearb. Aufl., hg. v. Werner Besch – Anne Betten – Oskar Reichmann – Stefan Sodergger, 2. Teilbd., Berlin – New York 2000, S. 1400. Seine bis heute anhaltende Bedeutung wird eindrucksvoll demonstriert in den Literaturverzeichnissen neuerer Standardwerke. Sieh etwa Ewa Geller, Warschauer Jiddisch, Tübingen 2001, Steffen Krogh, Das Ostjiddische im Sprachkontakt. Deutsch im Spannungsfeld zwischen Semitisch und Slavisch, Tübingen 2001. Sieh auch Christopher M. Hutton, Linguistics and the Third Reich, S. 197-205.
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delberg bei dem Junggrammatiker Wilhelm Braune („Der Übergang vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen in der Berliner Kanzlei“) wurde sie 1919 in Hamburg als erste Frau im Fach „Deutsche Sprachwissenschaft“ habilitiert. Erlassen wurden ihr dabei sämtliche Habilitationsleistungen bis auf die Antrittsvorlesung („Der Anteil des Plattdeutschen am niederelbischen Geistesleben im 17. Jahrhundert“). 1923 wurde sie erste Professorin in Hamburg, 1927–1934 Mitdirektorin des Germanistischen Seminars. Wegen ihrer jüdischen Abstammung sollte sie 1933 entlassen werden, Proteste schwedischer und Hamburger Kollegen konnten dies zunächst verhindern, 1934 erfolgte aber die Zwangspensionierung nach § 6 des Bundesbeamtengesetzes. Die Annahme von Rufen aus Dorpat und Oslo wurde 1939 von den Behörden untersagt. So wurde sie 1943 nach Riga deportiert, wo sich ihre Spur verliert.42 Friedrich Ranke (1882–1950) Der Lübecker Friedrich Ranke war ein führender Vertreter der „Tradition“, allerdings mit deutlichem Schwerpunkt in der Älteren Literatur. Daneben finden sich aber auch Arbeiten bzw. Lehrveranstaltungen zur Historischen Grammatik und deutschen Syntax. Seit 1930 auf dem Lehrstuhl für deutsche Philologie, Nachfolge Theodor Siebs, an der Universität Breslau. 1937 Entlassung wegen jüdischer Abstammung der Ehefrau, im Anschluss dann o. Professor in Basel.43 Konstantin Reichardt (1904–1976) Der Nordist Reichardt war 1930/31 Assistent bei Friedrich von der Leyen in Köln und wurde bereits 1931 zum planmäßigen ao.Prof. für Nordische Philologie an der Universität Leipzig ernannt. 1937 wanderte er über ein Lektorat in Göteborg in die USA aus. Der in St. Petersburg geborene Reichardt war evangelisch getauft, das IGL. gibt keine Auskunft über die Gründe seiner Ausreise. Utz Maas gibt an, er habe sich geweigert, in seiner Lehre antisemitischen Anweisungen zu folgen.44 1938 wird er Visiting Prof., 1939–1945 Professor an der Universität Minnesota. Bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1970 ist er Professor für „Germanic Languages and Literatures“ in Yale. Hans Sperber (1895–1963) Der Wiener Hans Sperber war der führende Vertreter einer Historischen Semantik auf psychoanalytischer Grundlage (vgl. oben Kapitel 2., 3.) und ao.Prof. für Deutsche und Nordische Philologie in Köln. Am 29.4.1933 erging an Hans Sperber die „Empfehlung“, die Venia Legendi nicht länger auszuüben. Am 2.9.1933 wurde die Lehrbefugnis entzogen. 1934 erfolgte die Emigration in die USA, dort ist Sperber seit 1934 bis zur Emeritierung Professor an der Ohio State University. dazu treten als Assistenten: Edda Tille-Hankammer (1895–1982) Edda Tille war mit ihren Eltern aus Glasgow nach Deutschland gekommen und als Schülerin von Theodor Frings die zweite Frau, die sich in Köln habilitieren konnte. 1925 bis 1933 war sie Privatdozentin in Köln, damit 1932/33 die einzige Frau im
42
43 44
Utz Maas, Verfolgung, Bd. 2, S. 225-230. Sieh auch Utz Maas, Vom Faschismus verdrängte Sprachwissenschaftler – Repräsentanten einer anderen Sprachwissenschaft?, in: Edith Böhne – Wolfgang Motzkau-Valeton (Hg.), Die Künste und die Wissenschaften im Exil 1933–1945, Gerlingen 1992, S. 447-453. Zahlreiche weiterführende Literaturangaben finden sich im IGL-Artikel von Ulrike Hass, S. 1060–1062. Man vergleiche Wojciech Kunicki, Germanistik in Breslau 1918–1945, Dresden 2002, S. 37f., 92-97, 301f. Vom Faschismus verdrängte Sprachwissenschaftler S. 460.
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Lehrkörper der Universität.45 Im selben Jahr wurde sie beurlaubt, da sie den „Ariernachweis“ nicht erbringen konnte. Sie siedelte darauf hin nach Königsberg über, wo ihr Mann Paul Hankammer einen Ruf erhalten hatte. 1939 emigrierte sie in die USA, wo sie zunächst an Privatschulen unterrichtete. Ab 1945 Lehrtätigkeit am Seton Hill College in Greenburg/ Pennsylvania, ab 1955 Professorin an der State University Tennessee in Knoxville. Nach der Emigration ist sie allerdings kaum noch sprachwissenschaftlich tätig geworden. Hans Neumann (1903–1990) Der gebürtige Bielefelder Neumann war von 1931 bis 1933 Assistent an der Universität Berlin und hauptamtlicher Mitarbeiter beim Grimmschen Wörterbuch. Neuman wurde 1933 wegen der jüdischen Abstammung eines Großvaters entlassen und emigrierte nach Rumänien. 1942 erreichte ihn dort ein Ruf an die Universität Istanbul, und er reiste zur wissenschaftlichen Vorbereitung nach Deutschland ein, wo er festgenommen und als „wehrfähiger Mischling“ zum Wehrdienst gezwungen wurde. Den Ruf konnte er deshalb nicht mehr antreten. Nach 1945 war er zunächst Hilfsassistent, 1947/48 Privatdozent und 1948 bis zur Emeritierung 1969 o.Prof. an der Universität Göttingen;46 Ernst Alfred Philippson (1900–1993) Ernst Alfred Philippson aus Mönchengladbach war von 1925 bis 1931 wissenschaftlicher Assistent am Deutschen Seminar der Universität Köln, nachdem er zuvor von Friedrich von der Leyen mit einer Arbeit über den Märchentyp des Königs Drosselbart promoviert worden war, und habilitierte sich im Anschluss mit einer Arbeit über „Germanisches Heidentum bei den Angelsachsen“. Darauf hin wurde er 1928 in Köln zum Privatdozenten für Englische Philologie ernannt. Nach der Verlängerung einer Gastdozentur in den USA gibt er 1937 nach Ausweis des IGL. die venia legendi von sich aus zurück. Das IGL nennt aber die Gründe nicht, vermutlich ist Philippson jüdischer Abstammung, er selbst hat sich als konfessionslos und calvinistisch erzogen bezeichnet. In den USA wird er Assistant Professor an der University of Michigan, ab 1947 ist er Professor an der University of Illinois, Urbana.47 sowie als Professor mit stärker mediävistisch-philologischer Ausrichtung: Friedrich von der Leyen (1873–1966) Ordentlicher Professor für Deutsche Philologie, insbesondere ältere Germanistik, Altnordisch und Deutsche Volkskunde. Direktor des Deutschen Seminars. Entbindung von den „amtlichen Verpflichtungen“ auf „eigenen Antrag“ am 31.3.1937, in Wahrheit wegen „jüdischer Versippung“ dazu gedrängt. Bei von der Leyen fielen politische und rassistische Verfolgungsmaßnahmen zusammen, und das obwohl er seit den 20er Jahren völkische und antisemitische Thesen vertrat. Der international durchaus hoch angesehene Gelehrte war folglich ein Befürworter der NSDAP, nicht ahnend, dass der Großvater väterlicherseits seiner Frau erst als Elfjähriger im Jahre 1809 evangelisch getauft worden war. Nur wenn er vor 1800 getauft worden wäre, hätte dies nach damaligem Recht zum „Ariernachweis“ ausgereicht. Dies wurde im April 1936 festgestellt. Als dann noch durch eine Denunziation bekannt wurde, dass von der Leyen im SS 1935 in einer Übung über mittelhochdeutsche Dichtung gesagt haben soll: „Es ist Einbildung, daß die heutige Zeit groß ist, sie wird noch einmal vor der Geschichte ganz klein erscheinen“, war seine 45 46 47
Frank Golczewski, Kölner Universitätslehrer und der Nationalsozialismus. Personengeschichtliche Ansätze, Köln – Wien 1988, S. 26. Utz Maas, Verfolgung, Bd. 2, S. 331-333. Hier in Details vom IGL abweichende Angaben. Frank Golczewski, ebd., S. 454.
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eigene Zeit vorerst abgelaufen. Obwohl er nicht eigentlich zur Gruppe der Gegner des Regimes gezählt werden kann, zeigt sein Fall exemplarisch die Absurdität der nationalsozialistischen Rasse-Bestimmungen.48 Es wird deutlich, dass die Amtsenthebung und Vertreibung der Sprachgermanisten fast ausschließlich die drei Universitätsgründungen der Weimarer Republik betraf: Hamburg, Köln und Frankfurt. Ganz offensichtlich war hier der Anteil der Wissenschaftler jüdischer Abstammung größer als an den etablierten älteren Hochschulen.49 In wissenschaftlicher Hinsicht hat vor allem die Vertreibung Hans Sperbers eine Lücke in der Forschungslandschaft hinterlassen, die bis heute nicht annähernd gefüllt ist. Während Utz Maas zu dem Schluss kommt, dass das Gesamtprofil der deutschsprachigen Sprachwissenschaft durch den Nationalsozialismus „keine dramatischen Veränderungen“ erfuhr50, stellt sich die Lage für den Teilbereich der germanistischen Sprachwissenschaft durchaus etwas differenzierter dar. Maas selbst stellt allerdings klar, dass er seine Einschätzung aus der Perspektive der „Affinität zu einer modernen Sprachwissenschaft im Sinne der strukturalistischen Entwicklung“51 trifft. So besehen, ist die Aussage auch für die Sprachgermanistik zutreffend. Agathe Lasch, Friedrich Ranke und einige Angehörige der jüngeren Emigrantengeneration wie Otto Springer waren meist herausragende Vertreter der Tradition, aber eben in theoretischer Hinsicht keine Neuerer wie Frings, Trier oder Sperber. Anders als die „Kulturmorphologie“ oder die „strukturelle Wortfeldforschung“ hat die psychologische Kultursemantik in Deutschland nach Sperbers Emigration keine Nachfolger gefunden. Bezeichnenderweise gehört mit Helen(e) Adolf eine zweite Wissenschaftlerin, die auf diesem Gebiet in historischer Perspektive arbeiten wollte, zur selben Personengruppe wie Sperber: Sie stammt aus Wien, ist Jüdin und muss 1939 in die USA emigrieren. Ihr sprachwissenschaftliches Hauptwerk, „Wortgeschichtliche Studien zum Leib-/ Seeleproblem“ war als Habilitationsschrift geplant und erschien 1937 als Sonderheft der Zeitschrift für Religionspsychologie.52 Der 1925 nach Köln berufene Sperber hatte in Deutschland nicht die Zeit, schulebildend zu wirken.53 Durch seine klare Haltung bietet er sich wie kaum ein zweiter als Vorbild für eine jüngere Generation von Wissenschaftlern an. Er verzichtete nach der Aufforderung, seine Venia niederzulegen, auf alle Vorteile, die sich möglicherweise aus seiner zweiten, schwedischen Staatsbürgerschaft ergeben hätten, und schrieb bereits am 20.4.1933 an den Dekan der Kölner Philologischen Fakultät: „Ich bin jüdischer Herkunft, Demokrat und Pazifist, drei Tatsachen, die ich auch dann nicht verleugnen werde, wenn meine Existenz auf dem Spiel steht.“54 Es gehört zu den traurigen Begleitumständen der Nachkriegsgermanistik, dass solche Möglichkeiten der Vorbildbildung geradezu systematisch vertan wurden. Hans Sperber ist heute, wie der schon erwähnte Sigmund Feist, nur noch einer kleinen Gruppe von Spezialisten bekannt, ganz anders als
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50 51 52 53 54
Man vergleiche Frank Golczewski, Kölner Universitätslehrer und der Nationalsozialismus, S. 164-169, S. 454, Zitat S. 167. Zur Bestimmung als „Weimarer“ Universität am Beispiel Köln ebd., S. 24-31. – Laut Joachim Lerchenmüller – Gerd Simon, Im vorfeld des massenmords, S. 21, wollte das Wissenschaftsministerium nach 1933 alle politisch problematischen Wissenschaftler an der Universität Frankfurt zusammenziehen, um diese dann in einem zweiten Schritt, der nicht vollzogen wurde, aufzulösen. Die Entwicklung der deutschsprachigen Sprachwissenschaft, S. 266. Ebd., S. 267. Sieh auch ders., Probleme und Traditionen der Diskursanalyse. Utz Maas, Verfolgung, S. 160. Erst nach der Emigration nimmt Helen Adolf ihre akademische Lehrtätigkeit auf. Das IGL. nennt als einzigen Kölner Schüler Wolfgang Fleischhauer, der seinem Lehrer an die Ohio State University folgt, wo er zunächst Assistent, dann Instruktor und 1946 Professor wird. Seine Dissertation wird allerdings noch 1938 in Köln gedruckt. Frank Golczewski, Kölner Universitätslehrer und der Nationalsozialismus, S. 114f.
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etwa der in seinem Rang vergleichbare, ebenfalls bis 1933 in Köln lehrende Leo Spitzer in der Romanistik.55 Die insgesamt nur geringe Zahl der aus „rassischen“ und politischen Gründen aus dem Hochschuldienst vertriebenen Sprachgermanisten macht vor allem sinnfällig, dass die Sprachgermanistik bereits vor 1933 deutlich „nationaler“ ausgerichtet war als etwa die Allgemeine und Vergleichende Sprachwissenschaft. Jüdischen Wissenschaftlern wurde also schon vor 1933 der Weg zur Universitätskarriere mehr als erschwert. Nur wenige waren überhaupt so weit gekommen, dass sie aus einem deutschen germanistischen Institut vertrieben werden konnten. Der Ausschluss Rankes und von der Leyens in Breslau und Köln war zudem eher eine Art Betriebsunfall. Trotz der Rassegesetze ist der sprachgermanistische Lehrkörper im Großen und Ganzen offensichtlich konstant geblieben. Noch immer ist aber unklar, ob nicht stattdessen versucht wurde, die Personalstruktur durch Neuberufungen nachhaltig zu verändern. Zur Verdeutlichung von Kontinuität und Wandel soll daher die folgende Tabelle dienen, die den Zeitraum der Jahren zwischen 1930 und 1945 erfasst. Sie verzeichnet alle von mir bisher ermittelten Sprachgermanisten nach der eingangs angeführten weiten Definition, die im betreffenden Zeitraum eine Stellung an einer deutschsprachigen Hochschule hatten unter Einschluss einzelner außeruniversitärer Institutionen und Universitäten in besetzten Gebieten. Im Zweifallsfall wurde ein Name aufgenommen.56 Die Mitarbeiter der Arbeitsstellen des „Deutschen Wörterbuchs“ werden im Anschluss an die Tabelle zumindest namentlich aufgelistet. Die Namen der nach 1933 aus ihren Ämtern vertriebenen Lehrkräfte werden unter ihrem letzten deutschen Hochschulort kursiv gekennzeichnet. Aufgenommen sind auch Universitäten in den von Deutschland besetzten Gebieten, sofern dort Sprachgermanisten nach 1933 neu berufen wurden. Besonders in diesen Fällen bedarf es noch weiterer intensiver Recherchen, die für diesen Beitrag aber nur ansatzweise zu leisten waren. Sprachgermanisten, die nicht im IGL. verzeichnet sind, werden durch einen Asterisk gekennzeichnet, ist der Name zumindest in der etwas ausführlicheren CD-Rom enthalten, erscheint der Asterisk in Klammern (*).57 3.2 Sprachgermanisten an deutschsprachigen Hochschulen 1930–1945 ORT Agram (Zagreb) Athen Basel
NAME
DIENSTZEIT
POSITION
Henning Brinkmann
1944/45
o.Prof.
Rudolf Fahrner Andreas Heusler
1939–1944 1920–1936 1909–1936
Staatsvertragsprof. o.Prof. o.Prof.
E. Hoffmann-Krayer 55 56
57
Zu Spitzer sieh etwa Hans Ulrich Gumbrecht, Vom Leben und Sterben der großen Romanisten, S. 72151 sowie Frank Golczewski, Kölner Universitätslehrer und der Nationalsozialismus, S. 455f., und 128f. Man vergleiche auch Utz Maas, Probleme und Traditionen der Diskursanalyse. Hauptquelle der Tabelle ist das IGL, eigene Nachforschungen treten hinzu. Wichtige Ergänzungen zum IGL bietet vor allem Christa Hempel Küter, Germanistik zwischen 1925 und 1955. Einzelne Hinweise zur Germanistik an polnischen Universitäten bietet Adam Kleczkowski, Germanistik, Anglistik und Skandinavistik in Polen, in: Zur Geschichte der Germanistik, Anglistik und Skandinavistik in Polen, St. Ingbert 1995, knappe Hinweise auf die Germanistik in Litauen vor 1945 finden sich auch bei Michael Heidbreder – Ina Meiksinait÷, Zur Situation der Germanistik in Litauen, in: Germanistik in Mittel- und Osteuropa 1945–1992, hg. v. Christoph König, Berlin – New York 1995, S. 128-136. Zu Ladislaus Weifert sieh den Nachruf von Kurt L. Rein, Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 45 (1978), S. 320-323. Für Auskünfte zur Germanistik in Kaunas danke ich Monika Bukantait÷ und Michael Klees. Um weitere Hinweise, Ergänzungen und Korrekturen der Tabelle möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich bitten.
JÖRG RIECKE
600
Belgrad
Bern
Berlin
Wilhelm Bruckner Friedrich Ranke Ladislaus M. Weifert*
Samuel Singer Helmut de Boor Walter Henzen Arthur Hübner Hans-Friedr. Rosenfeld Wilhelm Wissmann Hans Neumann Richard Kienast Hans Kuhn Gustav Neckel Henning Brinkmann Julius Schwietering Ulrich Pretzel Hans Fromm Siegfried Beyschlag Friedrich Ohly
– Akademie – Dt. Spracharchiv Bonn
Gerhard Cordes Konrad Burdach Eberhard Zwirner Rudolf Meißner Adolf Bach
Heinrich Hempel Wilhelm Will* Hans Naumann Carl Wesle Josef Quint [Leo Weisgerber Werner Betz
1936–1940 1938–1950 1935 1939–1943 1943–1944 1910–1930 1930–1945 1944–1945 1927–1937 1928–1931 1931–1937 1930–1938 1931–1933 1934–1938 1936–1937 1941–1945 1920–1935 1937–1940 1937–1938 1942–1945 1938–1945 1938–1941 1941–1944 1940–1941 1940 1941–1944 1944 1942–1945 1902–1936 1932–1940
Vertretungsprof. o.Prof. Habilitation Dozent ao.Prof. o.Prof. o.Prof. Vertretungsprof. o.Prof. PD ao.Prof. Assistent Assistent PD Vertretungsprof. o.Prof. o.Prof. o.Prof. Vertretungsprof. Prof. (ohne Lehre) o.Prof. Habilitation Dozent Wiss.Ass. Habilitation Wiss.Ass. Habilitation o.Prof. (ohne Lehre) o.Prof Leiter, Dr. med.
1913–32 1932–1948 1927–1931 1931–1939 1939–1941 1928–1938 1930–1934 1932–1945 [1944 1934/35 1935–1938 1942–1967 Kelt. und Allg. 1941–1948
o.Prof. Emeritus; o.Prof. PD ao.Prof. apl.Prof. ao.Prof. Wiss.Ass. o.Prof. Versetzung Breslau] o.Prof. apl.ao.Prof. o.Prof. Sprachwissenschaft] PD
DEUTSCHE PHILOLOGIE/SPRACHGERMANISTIK
Braunschweig – TU – Dt. Spracharchiv Bratislava Breslau
Karl Hoppe Eberhard Zwirner Gerd Eis Theodor Siebs Friedrich Ranke Josef Quint Walther Steller Wolfgang Jungandreas
Ernst Scheunemann
Bukarest Danzig
Hermann Schneider Walther Mitzka Max Ittenbach
Darmstadt
Arnold Berger Friedrich Maurer Johann Weidlein Adolf Spamer Franz Saran Eduard Hartl (*) Friedrich Maurer Fritz Stroh
Debrecen Dresden Erlangen
Siegfried Beyschlag Ewald Geißler* Frankfurt a.M. Ferdinand Holthausen Max Ittenbach Julius Schwietering Henning Brinkmann
Freiburg i.B.
Ludwig Wolff John Meier Friedrich Wilhelm Ernst Ochs Friedrich Maurer
601
1930–1932 1932–1945 1940–1957
PD o.Prof. Leiter, Dr. med.
1943–1945 1929–1938 1930–1937 1938–1945 1928–1937 1933 1933–1940 1940 1933–1938 1937 1938 1943–1944 1929–1933 1933–1938 1935 1939–1942 1905–1933 1928–1931 1940 1926–1936 1913–1931 1928–1931 1931–1937 1937 1938–42 1942–1947 1942–1948 bis 1946
ao.Prof. o.Prof. (reaktiv.) o.Prof. o.Prof. ao.Prof. (unbes.) Habilitation PD apl.Prof. apl.Ass., Doz. Habilitation Vertretungsprof. Gastprof. apl.Prof. Lehrbeauftragter Habilitation apl. ao.Prof. Prof. Lehrbeauftragter Habilitation ao.Prof. o.Prof. Vertretungsprof. o.Prof. Vertretungsprof. ao.Prof. o.Prof. PD ao.Prof. („Deutsche Sprachkunst) Gastprofessur Assistent o.Prof. o.Prof. Istanbul Agram/Zagreb Vertretungsprof. Hon.Prof. o.Prof. Doz. o.Prof.
1927–1932 1931–1933 1932–1938 1938–1945 1943/44 beurl. 1944/45 beurl. 1940 1913–1945 1920–1936 1927–1945 1937–1966
JÖRG RIECKE
602
Freiburg/Schweiz
Gent Gießen
Göttingen
Graz
Greifswald
Groningen Halle
Wilhelm Wissmann
1940–1942
Walter Henzen
1933
Direktor des Sprachwiss. Seminars Habilitation
1933–1943 1943–1947 1940–1941 1941–1944 1925–1931 1925–1945 1929–1931 1934 1934–1938 1936–1945 1927–1935 1935–1937 1927–1945 1929–1937 1937–1950 1938 1944/45 1912–1934 1936–1940 1940–1959 1942–1945 1924–1936 1926–1933 1933–1942 1937–1946 1939–1941 1928–1934 1921–1948 1934/35 1943 1943–1948 1943 1944/45 1919–1938 1939–1945 1922–1933 1926–1934 1934–1938 1938–1946 (?) 1938 1938–1942
PD Tit., ao.Prof. Gastprofessur Gastprofessur Emeritus o.Prof. apl. ao.Prof. Habilitation PD apl. ao.Prof. Emeritus o.Prof. o.Prof. ao.Prof. o.Prof. Habilitation Lehrbeauftragter o.Prof. ao.Prof. o.Prof. ao.Prof. o.Prof. PD beurlaubt o.Prof. Wiss. Ass. Emeritus o.Prof. ao.Prof. Habilitation PD Habilitation Dozent o.Prof. Emeritus Dozent für Jiddisch ao.Prof. ao.Prof o.Prof. Habilitation PD
Lutz Mackensen Max Ittenbach Otto Behaghel Alfred Götze Friedrich Maurer Fritz Stroh Kurt Wagner Edward Schröder Gustav Neckel Friedrich Neumann Ludwig Wolff Wolfgang Krause Wilhelm Wissmann Adolf Bach Konrad Zwierzina Leo Jutz Eberhard Kranzmayer Wolfgang Stammler Lutz Mackensen Hans-Friedr. Rosenfeld Ludwig Erich Schmitt Otto Bremer Georg Baesecke Kurt Wagner Karl Bischoff Alfred Zastrau
Hamburg
Conrad Borchling Salomo A. Birnbaum Agathe Lasch Hans Teske* Gerhard Cordes
DEUTSCHE PHILOLOGIE/SPRACHGERMANISTIK
Heidelberg
Innsbruck
Jena
Kaunas
Kiel
Köln
Königsberg
Willy Krogmann Walther Niekerken* Friedrich Panzer
1939–1967 1943–1969 1920–1935 1935–1947 Hans Teske* 1928–1934 Richard Kienast 1938–1945 Elfriede Stutz 1940–1945 Wilhelm Wissmann 1941/42 Josef Schatz 1912–1939 1939–1945 Leo Jutz 1926–1936 Kurt Halbach 1940–1945 Eduard Hartl (*) 1942–1944 Albert Leitzmann 1930–1935 Henning Brinkmann 1930–1938 Carl Wesle 1935–1950 Irmgard Weithase 1935–1947 Gottlieb Studerus 1927-1934 1934 1934–1939/40 Edmund Baldauff* 1940 1942 Walther Vogt* 1921–1945 Carl Wesle 1929–1934 Otto Mensing 1931–1939 Otto Höfler 1935–1938 Heinrich Hempel 1938/39 Walther Steller 1940–1945 Wolfgang Mohr 1941–1942 1942–1957 1925–1933 Hans Sperber Edda Tille-Hankammer 1925–1933 1920–1937 Friedrich v.d. Leyen Ernst Alfred Philippson 1925–1931 Konstantin Reichardt 1930/31 Hans Kuhn 1934–1936 1937/38 Wolfgang Mohr 1938 Heinrich Hempel 1939–1940 1940–1953 August Langen 1942 1942–1948 Heinrich M. Heinrichs 1942/43 Friedrich Ranke 1921–1930 Walther Ziesemer 1922–1945
603 Wiss. Mitarbeiter ao.Prof. o.Prof. Emeritus PD o.Prof. Wiss. Hilfskraft Vertretung o.Prof. Emeritus PD o.Prof. Vertretungsprof. o.Prof. ao.Prof. o.Prof. Lektor Sprechkunde Dozent Habilitation Lehrstuhlleiter PD Lehrstuhlleiter o.Prof. o.Prof. ao.Prof. o.Prof. Vertretungsprof. apl.Prof. Vertretungsprof. o.Prof. ao.Prof. PD o.Prof. Wiss.Ass. Wiss.Ass. Dozent Dozent Habilitation ao.Prof. o.Prof. Habilitation PD Lehrbeauftragter o.Prof. o.Prof.
JÖRG RIECKE
604
Kopenhagen – Dt. Wiss. Inst.
Leipzig
Lemberg Marburg
Irmgard Weithase Otto Maußer Wilhelm Wissmann Otto Höfler
1933/34 1938–1942 1942/43 1943–1944
Wiss.Ass. ao.Prof. Vertretungsprof. Präsident
Wolfgang Langen
1943–1945
Leiter der Geisteswiss. Abt. Wiss.Ass. Leitung Ahd.WB o.Prof. ao.Prof. ao.Prof. Wiss.Ass. Habilitation o.Prof. Oberass. ao.Prof. Dozent; Ahd.WB Habilitation Habilitation Ahd.WB. o.Prof. o.Prof. Emeritus PD ao.Prof. apl.Prof. Wiss Ass. ao.Prof. Habilitation Wiss.Ass. PD stellv. Direktor Dt. Sprachatlas o.Prof. Vertretungsprof. o.Prof. o.Prof.; Allgemeine u. idg. Sprachwiss.] o.Prof. ao.Prof. ao.Ass. PD apl.Prof. o.Prof.
Elisab. Karg-Gasterstädt
1922–1933 1935–1951 Theodor Frings 1927–1957 Fritz Karg 1929–1934 1931–1937 Konstantin Reichardt Ludwig Erich Schmitt 1934–1938 1941 1941–1943 1944 Hans Kuhn 1938–1941 Ingeborg Schröbler 1938–1946 1943 Werner Betz 1940 Gabriele Schieb 1943–1947 Viktor Dollmayr 1916–1939 Karl Helm 1921–1936 1936–1958 Luise Berthold 1923–1930 1930–1940 1940–1952 Anneliese Bretschneider* 1924–1930 Kurt Wagner 1926–1934 Hans Kuhn 1931 1930–1933 1933/34 Bernhard Martin 1933–1945 Walther Mitzka Ludwig Wolff [Leo Weisgerber
München
Karl von Kraus Otto Maußer Eduard Hartl (*)
Erich Gierach
1933–1947 1936 1937–1960 1938–1942 1917–1935 1920–1938 1925–1935 1926–1931 1940–1946 1936–1943
DEUTSCHE PHILOLOGIE/SPRACHGERMANISTIK
Otto Höfler Edmund Baldauff* Eberhard Kranzmayer
Münster
Wolfgang Langen Ludwig Erich Schmitt Karl Schulte-Kemminghausen Julius Schwietering Jost Trier Wolfgang Mohr William Foerste
Posen
Prag (DU)
August Langen Lutz Mackensen Wolfgang Jungandreas Erich Gierach Ernst Schwarz
Gerd Eis
Franz Beranek* Ulrich Pretzel Riga – Herder-Institut Ludwig Wolff Lutz Mackensen
Rostock
Hermann Teuchert [Leo Weisgerber
Straßburg
Hermann Menhardt Adolf Bach
Tübingen
Hans Fromm Siegfried Gutenbrunner Klaus Ziegler Karl Bohnenberger
605 1938–1945 1938 1938–1940 1940–1942 1940–43 1944 1926–1934
o.Prof. Wiss.Ass. Dozent apl.Prof. Wiss.Ass. Vertretungsprof. PD
1934–1945 1928–1932 1932–1963 1940–1941 1940–44 1943 1944–1951 1943/44 1941–1945 1941 1942–1945 1921–1936 1924–1930 1930–1935 1935–1945 1935 1935–1940 1940–1944 1944–1945 1943 1944 1944
ao.Prof. o.Prof. o.Prof. PD Extraordinariat Habilitation ao.Prof. Vertretungsprof. o.Prof. Vertretungsprof. ao.Prof. o.Prof. PD ao.Prof. o.Prof. Habilitation PD Doz. apl.Prof. Habilitation. PD (Volkskunde) apl. nicht angetreten
1931/32 1932/33 1933–1936 1936–1940 1920–1946 1927–1938
ao.Prof. Reichsdozent ao.Prof. Auslandsprof. o.Prof ao., o.Prof.; Vergl. Sprachw., Sanskrit] ao.Prof. Vertretungsprof.. Direk. Germ. Sem. Wiss.Ass. ao.Prof. Habilitation (Fricke) o.Prof.
1941–1944 1941–1943 1943–1944 1941–1945 1943–1945 1944 1921–1930
JÖRG RIECKE
606 Hermann Schneider Gustav Bebermeyer Kurt Halbach
Wien
Felix Genzmer Hermann Menhardt Rudolf Much Max Hermann Jellinek Dietrich von Kralik Anton Pfalz Walter Steinhauser Edmund Wießner Otto Höfler Eberhard Kranzmayer
Wilna
Hermann Menhardt Siegfried Gutenbrunner Friedrich Kainz Franz Doubek Heinrich Anders* Gottlieb Studerus Edmund Baldauff*
Würzburg Zürich
Kazimieras Alminas Franz Rolf Schröder Albert Bachmann Rudolf Hotzenköcherle Bruno Boesch
1921–1954 1925–1933 1931–1939 1939/40 1940–1945 1944/45 1906–1934 1906–1934 1924–1957 1926–1945 1927–1935 1935–1945 1929–1939 1939–1945 1932–1934 1933 1933–1938 1934–1941 1936–1941 1939–1950 1927–1934 1934– (?) 1940 1940 1941 1940–1944 1925–1959 1900–1932 1935–1938 1939–1969 1940 1942–1946
o.Prof. ao.Prof. PD ao.Prof. Lehrbeauftragter ao.Prof. o.Prof. o.Prof. o.Prof. ao.Prof. PD ao.Prof. PD ao.Prof. PD Habilitation PD ao.; apl.Prof. PD ao.Prof., Sprachpsych.
ao. Prof. (?) ao. Prof. (?) PD Lektor PD Dozent o.Prof. o.Prof. ao.Prof. o.Prof. Habilitation PD
Die Bearbeiter des Grimmschen Wörterbuches, von denen viele zur gleichen Zeit Professoren waren oder in späteren Jahren wurden, sollen für diesen Zeitraum zumindest – in chronologischer Abfolge – kurz genannt werden. Unter der Leitung von Arthur Hübner (1929–1937), Julius Petersen (1937–1939) und Julius Schwietering (1939–1945) arbeiteten im betreffenden Zeitraum in Berlin und Göttingen: Rudolf Meißner, Bruno Crome, Karl Euling, Alfred Götze, Viktor Dollmayr, Carl Wesle, Hermann Kunisch, Hans Neumann, Ulrich Pretzel, Wilhelm Wissmann, Fritz Tschirch, Ernst Scheunemann, Werner Simon, Heinrich Wesche, Willy Krogmann, Siegfried Beyschlag, Hans Pyritz, Marie-Luise Dittrich, Walter Paetzel, Hans-Holm Bielfeld, Bernhard Beckmann, Fritz Karg, Anna Krüger, Herbert Wegener, Kurt Ranke, Hans Bork, Ludwig Denecke, Helmuth Thomas, Werner Matz, Peter Diepers, Theodor Kochs, Karl Langosch, Otto Basler, Adolf Korn, Heinrich Micko, Karl Münzel, Ernst Schwendtner.
DEUTSCHE PHILOLOGIE/SPRACHGERMANISTIK
607
3.2.1 Kontinuität Die Aufstellung vermittelt vor allem einen Eindruck von der personalen Kontinuität und dem kontrollierten Ausbau der Hochschullandschaft. Personale Kontinuität zeigt sich an den deutschsprachigen Hochschulen außerhalb der Schweiz an 13 ordentlichen Professoren, die vor 1933 berufen wurden und den gesamten Zeitraum bis mindestens 1945 im Amt blieben: Hermann Teuchert (1920–1946, Rostock), Hermann Schneider (1921–1954, Tübingen), Georg Baesecke (1921–1948, Halle), Walther Vogt (1921–1945, Kiel), Walther Ziesemer (1922–1945, Königsberg), Dietrich von Kralik (1924–1957, Wien), Alfred Götze (1925– 1945, Gießen), Franz Rolf Schröder (1925–1959, Würzburg), Friedrich Neumann (1927– 1945, Göttingen), Theodor Frings (1927–1957, Leipzig), Hans Naumann (1932–1945, Bonn), Karl Hoppe (1932–1945, Braunschweig), Jost Trier (1932–1963, Münster). Damit sind an immerhin 12 von 32 für diesen Zeitraum relevanten Hochschulen auf der Position des Ordinariats keine personellen Veränderungen eingetreten. Dazu kommen in Wien noch die ao. Professoren Anton Pfalz (1926–1945) und Walter Steinhauser (1935– 1945) sowie in Marburg Luise Berthold, die von 1930 bis 1940 ao.Prof., im Anschluss von 1940 bis 1952 apl.Prof. war. Die national-konservative Ausrichtung der Sprachgermanisten brachte es mit sich, dass sich die Mehrzahl der vor 1933 berufenen Professoren zunächst ohne Probleme mit der neuen Situation anfreunden oder arrangieren konnte. Größeren Einfluss auf die Entwicklung des Faches haben aus diesem Personenkreis allerdings nur Theodor Frings und Jost Trier gehabt. 3.2.2 Wandel Personaler Wandel zeigt sich dagegen in den 55 Neuberufungen (Gastprofessuren und Vertretungen nicht mitgerechnet) des Zeitraums, die auf 41 Personen entfallen. 1933 Walther Mitzka (o.Prof., Marburg). 1934 Hans Teske (ao.Prof., Hamburg), Karl Schulte-Kemminghausen (ao.Prof., Münster), Kurt Wagner (ao.Prof., Halle), Carl Wesle (o.Prof., Bonn). 1935 Otto Höfler (o.Prof., Kiel), Gustav Neckel (o.Prof., Göttingen), Josef Quint (apl. ao.Prof., Bonn), Carl Wesle (o. Prof., Jena). 1936 Erich Gierach (o.Prof., München), Lutz Mackensen (Auslandsprof., Riga), Kurt Wagner (apl.ao.Prof., Gießen). 1937 Wolfgang Krause (o.Prof., Göttingen), Friedrich Maurer (o.Prof., Freiburg), Gustav Neckel (o.Prof., Berlin), Hans-Friedrich Rosenfeld (o.Prof., Greifswald), Ludwig Wolff (o.Prof., Marburg). 1938 Henning Brinkmann (o.Prof., Frankfurt), Otto Höfler (o.Prof., München), Richard Kienast (o.Prof., Heidelberg), Hans Kuhn (o.Prof., Leipzig), Josef Quint (o.Prof., Breslau), Otto Maußer (ao.Prof., Königsberg), Julius Schwietering (o.Prof., Berlin); Fritz Stroh (ao.Prof. Erlangen), Hans Teske (o.Prof., Hamburg). 1939 Adolf Bach (apl.Prof., Bonn), Rudolf Fahrner (Staatsvertragsprofessur, Athen), Heinrich Hempel (ao.Prof., Köln), Friedrich Kainz (ao.Prof., Wien), Edmund Wießner (ao. Prof., Wien). 1940 Luise Berthold (apl.Prof., Marburg), William Foerste (Extraord., Münster), Kurt Hallbach (o.Prof., Innsbruck), Eduard Hartl (apl.Prof., München), Heinrich Hempel (o.Prof., Köln), Eberhard Kranzmayer (apl.Prof., München), Walther Steller (apl. Prof., Kiel).
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JÖRG RIECKE
1941 Hans Kuhn (o.Prof., Berlin), Lutz Mackensen (o.Prof., Posen), Hermann Menhardt (ao.Prof., Straßburg), Ludwig Erich Schmitt (o.Prof., Leipzig). 1942 Edmund Baldauff (Prof., Kaunas), Henning Brinkmann (Prof., Berlin), Gerhard Cordes (o.Prof., Berlin), Wolfgang Jungandreas (ao.Prof., Posen), Eberhard Kranzmayer (ao.Prof., Graz), Wolfgang Mohr (o.Prof., Kiel), Fritz Stroh (o. Prof., Erlangen). 1943 Adolf Bach (Prof., Straßburg), Gerd Eis (ao.Prof., Bratislava), Siegfried Gutenbrunner (ao.Prof., Straßburg), Otto Höfler (Präsident Dt.Wiss.Inst., Kopenhagen), Wolfgang Langen (Inst.Leiter Dt.Wiss.Inst., Kopenhagen), Walther Niekerken (ao. Prof., Hamburg), Ladislaus Weifert (ao.Prof., Belgrad). 1944 Gerd Eis (apl.Prof., Prag), William Foerste (ao.Prof., Münster), Hermann Menhardt (ao.Prof., Tübingen). Am Ausbau der Sprachgermanistik sind 35 Standorte beteiligt, Berlin mit vier und München mit drei Neuberufungen nehmen eine Spitzenposition ein. Die Statistik macht zuerst auf eine kleine Welle von Neuberufungen des Jahres 1938 aufmerksam, womöglich auf dem Höhepunkt der Konsolidierung des NS-Regimes. 1938 scheinen auch erstmals verdiente Parteigenossen bzw. Forscher, deren Arbeiten auf der Linie der Parteiführung lagen, in größerer Zahl mit Berufungen auf ordentliche oder außerordentliche Professuren „belohnt“ worden zu sein. Ab 1942/43, als die Zahlen noch einmal leicht ansteigen, betreffen die Neuberufungen dann hauptsächlich die neuen und alten „Grenzlanduniversitäten“ wie Straßburg, Posen und Graz sowie Prag, Preßburg/Bratislava, Kaunas, Kopenhagen oder Belgrad.58 Die Zahlen würden noch deutlicher ausfallen, wenn auch die Gastprofessuren im z.T. besetzten Ausland hinzugezählt werden. An diese Universitäten konnten junge Wissenschaftler offensichtlich zur Belohnung, aber auch als Chance zur Bewährung berufen werden, so dass auch hier wieder eine sehr heterogene Personengruppe zusammen kommt. Die Aufstellung der nach dem Kriege „heimatlosen“ Grenz- und AuslandsProfessoren bei Christa Hempel-Küter zeigt, dass es vor allem diese Gruppe nach 1945 schwer hatte, im akademischen Leben abermals Fuß zu fassen.59 Dem Verhältnis von fachlicher Qualifikation und politischem Engagement für den nationalsozialistischen Staat wäre im Falle der 41 zwischen 1933 und 1945 berufenen Professoren und der einen Professorin noch einmal genauer nachzugehen.60 Neben den Neuberufungen kann auch die Zahl und Thematik der Habilitationen und Habilitationsschriften des Zeitraums einen Aufschluss über den Wandel der Forschungslandschaft geben. Zum Abschluss kamen 30 sprachwissenschaftliche bzw. mediävistisch-philologische (so z.B. Gerd Eis, Max Ittenbach, Hugo Kuhn, Friedrich Ohly, Ernst Scheunemann) Habilitationen der hier erfassten Personengruppe. Zum Vergleich konnten für die Zeit von 1900 bis 1932 42 sprachwissenschaftliche und/ oder mediävistische Habilitationen ermittelt werden,61 was einen nicht ganz unbeträchtlichen Anstieg sichtbar macht.
58 59 60
61
Nicht immer ist bisher der genaue Status der Lehrkräfte im besetzten Ausland deutlich, die Rolle der Germanistik ist in diesen Regionen insgesamt noch kaum genauer untersucht. Zu Prag sieh Gerd Simon, Die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik und die Universität Prag, Tübingen 2001. Germanistik zwischen 1925 und 1945, S. 96. Man vergleiche auch Utz Maas, Verfolgung und Auswanderung, S. 18 mit Anm. 31. Dort weitere Literatur zu den „Reichsuniversitäten“ Posen und Straßburg. Darunter sind auch Zwangsversetzungen aus politischen (Carl Wesle) und disziplinarischen (Gustav Neckel) Gründen. Sieh dazu Klaus von See – Julia Zernack, Germanistik und Politik in der Zeit des Nationalsozialismus. Zwei Fallstudien: Hermann Schneider und Gustav Neckel, Heidelberg 2004, S. 115– 202 (Neckel) und S. 118 (Wesle). In einem anderen Licht erscheint Wesle durch die Aufnahme in: Ernst Klee, Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt a.M. 2007, S. 659f. IGL., S. 2145–2149.
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1933 Walter Henzen („Zur Abschwächung der Nachtonvokale im Höchstalemannischen“); Wolfgang Jungandreas („Zur Geschichte der schlesischen Mundart im Mittelalter“); Eberhard Kranzmayer („Sprachschichten und Sprachbewegungen in den Ostalpen“) 1934 Fritz Stroh („Der volkhafte Sprachbegriff“); Gottlieb Studerus („Der Artikel im Deutschen“) 1935 Gerhard Eis („Beiträge zur mittelhochdeutschen Legende und Mystik“); Max Ittenbach („Der frühe deutsche Minnesang“); Ladislaus Weifert („Die deutsche Mundart von Werschetz (Vrsac)“) 1936 Siegfried Gutenbrunner („Die german. Götternamen der antiken Inschriften“) 1937 Ernst Scheunemann („Artushof und Abenteuer“) 1938 Gerhard Cordes („Zur Sprache Eilhards von Oberg“); Wolfgang Mohr („Wortschatz und Motive der jüngeren Eddalieder mit südgermanischem Stoff“); Ulrich Pretzel (1. Artikel zum deutschen Wörterbuch. 2. Studien zum Marienleben des Priesters Wernher. 3. Ms. zu Bd. II der Dissertation); Wilhelm Wissmann („Die ältesten Postverbalia des Germanischen“) 1939 Hugo Kuhn („Minnesangs Wende“); Bodo Mergell („Wolfram von Eschenbach und seine französischen Quellen“); Heinz Stolte („Eilhard und Gottfried“) 1940 Werner Betz („Die Lehnbildungen der althochdeutschen Benediktinerregel“), Siegfried Beyschlag („Die Wiener Genesis“); Bruno Boesch („Untersuchungen zur alemannischen Urkundensprache des 13. Jahrhunderts“); Johann Weidlein (auf Grund seiner 1940 bereits vorliegenden Arbeiten über die deutschen Mundarten in Südungarn) 1941 Ludwig Erich Schmitt („Sprachgeschichte des thüringisch-obersächsischen Raumes im ausgehenden Mittelalter“) 1942 August Langen („Der Wortschatz des deutschen Pietismus“) 1943 Karl Bischoff („Zur Sprache des Sachsenspiegels von Eike von Repgow“); William Foerste („Das Niederdeutsche in der politischen Propaganda des 17. und 18. Jahrhunderts“); Ingeborg Schröbler („Notker III. von St. Gallen als Übersetzer und Kommentator von Boethius‘ ‚De consolatione Philosophie‘“); Alfred Zastrau („WAHR. Studien zu einer wortgeschichtlichen Untersuchung“) 1944 Friedrich Ohly („Untersuchungen zur Geschichte der abendländischen Auslegung des Hohen Liedes bis zum Ende des 13. Jahrhunderts“); Klaus Ziegler („Sprache, Mythos und Geschichte in der Weltanschauung und Wissenschaft Jacob Grimms“). In der Gruppe der jüngeren Wissenschaftler, die nach 1933 erstmals berufen wurden oder sich habilitieren wollten, sind die größten Anpassungen an das System zu erwarten. Die Mehrzahl der Habilitationsschriften ist aber in einem politisch eher unauffälligen Raum, vorzugsweise des Mittelalters, angesiedelt. Das spricht sehr deutlich für eine weitgehende Trennung von Politik und Wissenschaft zumindest auf der Oberflächenebene der wissenschaftlichen Forschung. Die politische Zuverlässigkeit der Kandidaten musste nicht in der Forschung, sondern im Habilitationsverfahren unter Beweis gestellt werden. Hier werden daher auch am ehesten Behinderungen deutlich, so etwa im Fall von Ulrich Pretzel, dem im März 1938 der Titel Dr. phil. habil. verliehen wurde, der aber seine Probevorlesung als zweiten Bestandteil des Habilitationsverfahrens erst im September 1941 halten konnte. Erst danach wurde er zum Dozenten ernannt.62 Vergleichbare Schwierigkeiten gab es auch bei Ludwig Erich Schmitt.63 Nur in einem Fall scheint dagegen bekannt zu sein, dass mit Heinrich Wesche ein Sprachgermanist aus politischen Gründen auf ein Habilitationsverfahren und damit auf eine Professur verzichtet.64 62 63 64
Christa Hempel-Küter, Germanistik zwischen 1925 und 1945, S. 29. IGL. S. 1632–1635 (Elisabeth Feldbusch – Sabine Grundke). IGL. S. 2018–2020 (Ulrich Scheunemann).
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Thematisch auffällig im Sinne einer politischen Sprachwissenschaft ist wohl einzig die Schrift Fritz Strohs zum „volkhaften Sprachbegriff“ von 1934. Offen für eine politischnationale Argumentation waren jedoch auch die Arbeiten von Kranzmayer zu „Sprachschichten und Sprachbewegungen in den Ostalpen“ (1933), von Gutenbrunner zu „germanischen Götternamen“ (1936), von Foerste zum „Niederdeutschen in der politischen Propaganda des 17. und 18. Jahrhunderts“ (1943) und von Ziegler zu „Sprache, Mythos und Geschichte in der Weltanschauung und Wissenschaft Jacob Grimms“ (1944). Fast alle Habilitanden des Zeitraums konnten ihre wissenschaftliche Karriere im Nachkriegsdeutschland problemlos fortsetzen, viele der Habilitationsschriften – etwa von Betz, Langen oder Ohly – sind Klassiker der Fachgeschichte geworden. Auffällig ist allenfalls, dass sich die von Ferdinand de Saussure eingeleitete Hinwendung zu den Strukturen der Gegenwartssprache in den deutschen Habilitationen der Jahre 1933 bis 1944 noch nicht widerspiegelt. Einzig der Schweizer Gottlieb Studerus mit seiner 1934 in Kaunas verteidigten Arbeit „Der Artikel im Deutschen“ bildet hier eine gewisse Ausnahme. 3.3 Skizze der Forschungslandschaft Für den gesamten Bereich der Sprachwissenschaften in Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus unterscheidet Clemens Knobloch sechs „Kraftzentren“ der Sprachwissenschaftsentwicklung im Nationalsozialismus65, die auch die völkisch-nationale Sprachgermanistik mehr oder weniger stark beeinflussen: a) Das Problem des Grenz- und Auslandsdeutschtums, b) Die Sprach- und Kulturpropaganda im Ausland, c) Die Verwissenschaftlichung der Propaganda mit dem zentralen Gedanken der Muttersprache als Trägerin der Weltanschauung, d) Die Vorbereitung der Sprachpolitik in den besetzten Ländern, e) Die rassekundliche Sprachforschung und f) Sprachpflege und Sprachpurismus. Die völkischnationale Sprachwissenschaft in Deutschland wird damit zu einer „angewandten Sprachwissenschaft“ par excellence. Aus heutiger Perspektive scheint sie sich daher vergleichsweise deutlich von der traditionellen Normalwissenschaft abzugrenzen. Die Abkehr von der fachspezifischen Professionalisierung und Öffnung für tagespolitisch aktuelle Fragen der nationalsozialistischen „Weltanschauung“ führte aber vor allem dazu, dass der Kreis der sprachwissenschaftlich Tätigen sehr viel größer wurde und eine Vielzahl von Laien an den Diskursen über Sprache, Volk, Rasse und germanisches Altertum teilnahmen. Die Tradition reagierte auf die Anmaßungen und Übergriffe der Dilettanten zunächst genau so scharf, wie sie es schon im 19. Jahrhundert getan hatte. Der entscheidende Unterschied war jedoch der, dass hinter den Laien, sofern ihre Anschauungen im nationalsozialistischen Sinne „politisch korrekt“ waren, jetzt der Staatsapparat stand, meist repräsentiert durch die rivalisierenden Ämter der Abteilung „Ahnenerbe“ der SS und das „Amt Rosenberg“. Die Verflechtungen zwischen Staat und Universität sind für den Gesamtbereich der Sprachwissenschaft bereits wiederholt skizziert worden und brauchen daher hier nicht ausführlich dargestellt zu werden. An Gliederungen, Organisationen, Ministerien und sonstigen Instanzen, die in der Zeit des Nationalsozialismus mit inhaltlichen und personalen Fragen insbesondere der Germanistik befasst waren, lassen sich nennen: als Gliederungen der NSDAP vor allem der NSDDozB unter dem Reichsdozentenführer Walter Schultze und die SS mit der 1935 gegründeten „Lehr- und Forschungsgemeinschaft Studiengesellschaft für Geistesgeschichte Deutsches Ahnenerbe“, das Reichserziehungsministerium unter Bernhard Rust und seit 1934 das „Amt Rosenberg“ mit der „Reichsstelle zur Förderung
65
Sprachwissenschaft, S. 311-315.
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des deutschen Schrifttums“66. Während das „Amt Rosenberg“ für den Versuch stand, die Verhältnisse unter ideologischen Vorzeichen möglichst rasch umzugestalten, und dabei vor allem auf eine große Zahl von ideologisch gefestigten Laien und ambitionierten Nachwuchswissenschaftlern zurückgriff, war der Wissenschaftsapparat der SS, das „Ahnenerbe“ entsprechend dem elitären Selbstverständnis der SS eher ein Förderer der traditionellen Wissenschaften und versuchte möglichst viele renommierte Wissenschaftler zu gewinnen, die dann den Rang eines „Sonderführers“ erhielten. Alles in allem nehmen die sprachwissenschaftlichen und sprachgermanistischen Forschungen beim „Ahnenerbe“ aber nur einen eher kleinen Raum ein. Deutlicher wird zumindest die personale Verflechtung von Staat und Wissenschaft während des Krieges, wenn Sprachwissenschaftler wie „Sonderführer“ Weisgerber, Cordes, Teske oder Stammler im Auftrag des Innen- und Propagandaministeriums im Rahmen des „Germanischen Wissenschaftseinsatzes“ in den besetzten Gebieten arbeiten, um völkische und nationalistische Kräfte zur Kollaboration in den Bereichen Wissenschaft, Kultur und Propaganda zu bewegen.67 Vor allem die ideologisch motivierten Vorstöße aus dem Amt Rosenberg, aber auch vom „Ahnenerbe“ geförderte Forschungen wie die zur sogenannten „Ura Linda-Chronik“68 schufen eine Spielwiese für germanophile Laienforscher aller Art. Das Konfliktpotential, das sich aus den Kontroversen zwischen Laien und Experten entwickeln sollte, haben Hans Ramge und Reinhard Olt exemplarisch am Fall des Gießener Emeritus Otto Behaghel ausgeleuchtet.69 Welches Verhältnis zwischen den Beiträgen der „Hochschul-Sprachwissenschaft“, der „Hochschul-Sprachgermanistik“ und der „Laien-Sprachwissenschaft“ im Bereich der sechs „Kraftzentren“ tatsächlich bestand, ist bisher nicht untersucht worden. Aufschlussreich ist allerdings die Überblicksdarstellung Heidrun Kämper-Jensens, die 1993 unter dem Titel „Spracharbeit im Dienste des NS-Staats 1933 bis 1945“ eine Auswahlbibliographie mit 61 Titeln vorlegte, in denen sprachtheoretische Positionen dargelegt bzw. die sprachliche Gegenwart der Zeit beschrieben werden.70 „Die Zahl dieser Arbeiten – häufig kürzere Beiträge in ‚Muttersprache‘, ‚Zeitschrift für Deutsche Bildung‘, ‚Nationalsozialistische Literatur‘ u.a. – ist Legion, die Vielzahl von Publikationen der ideologischen Germanistik aus der Zeit von 1933 bis 1945 unüberschaubar. (…) Diese Veröffentlichungen lassen sich sowohl methodisch als auch hinsichtlich ihrer Kernaussage auf bloße Stereotype reduzieren. Die Gleichschaltung der Germanistik und ihre ideologische Ausrichtung auf den nationalsozialistischen Staat, m.a.W. ihre politische Befangenheit, verhindern die originelle Behandlung sprachwissenschaftlich interessierender Themen. Was die von 1933 bis 1945 ideologisierte Sprachwissenschaft kennzeichnete, beruht auf einer abstrusen Version einer phänomenologisch ausgerichteten, romantisch getönten, nationalistisch durchsetzten Germanistik. Solche Art Sprachreflexion 1933 bis 1945 vermittelt ein Bild von der Selbstein66 67
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Man vergleiche Utz Maas, Verfolgung, S. 64-74, Christa Hempel-Küter, Germanistik zwischen 1925 und 1955, S. 30-32, Joachim Lerchenmüller – Gerd Simon, Im Vorfeld des Massenmords, S. 27f. u. 6265 mit weiterer Literatur sowie Gerd Simon, Sprachwissenschaft im III. Reich, S. 120-131. Zu Weisgerber sieh die ausführlich Darstellung bei Christopher M. Hutton, Linguistics, S. 106-143 unter dem Titel „The Strange Case of Sonderführer Weisgerber“ sowie Joachim Lerchenmüller – Gerd Simon, Im Vorfeld des Massenmords, S. 53f., zu Cordes und Teske in Belgien, Stammler in Norwegen sieh Utz Maas, Verfolgung, S. 69f. Sieh dazu Joachim Lerchenmüller – Gerd Simon, Im Vorfeld des Massenmords, S. 53f., Utz Maas, Verfolgung und Auswanderung, S. 68f. Die vermeintlich in altfriesischer Sprache geschriebene Chronik altgermanischer Lebensverhältnisse wurde von Experten wie Artur Hübner rasch als Fälschung identifiziert, stand aber lange im Zentrum des öffentlichen Interesses und band zeitweise erhebliche fachliche Energien. Reinhard Olt – Hans Ramge, „Außenseiter“: Otto Behaghel, ein eitel Hirngespinst und der Nationalsozialismus, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 53/54 (1984), S. 194-223. Zeitschrift für Germanistische Linguistik 21 (1993), S. 150-183.
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schätzung des Faches, und wir erhalten Aufschluß über die Weltsicht seiner Vertreter.“71 Diese Auffassung ist, was die Qualität der bibliographierten Beiträge betrifft, sicher fast immer zutreffend. Fraglich ist es aber, ob von diesen Beiträgen, deren Verfasser in den seltensten Fällen biographisch fixiert werden, unmittelbar auf das Fach Germanistik geschlossen werden kann.72 Vergleicht man nämlich die in der oben angeführten Tabelle genannten Hochschulgermanisten mit der Liste der Autoren, die Heidrun Kämper-Jensens in ihre Bibliographie aufgenommen hat, so ergeben sich nur sehr wenige Übereinstimmungen. Die überwiegende Zahl der Autoren, offensichtlich meist Lehrer, Beamte und nationalsozialistische Funktionsträger der unteren und mittleren Führungsschicht, mögen gelegentlich Germanistik studiert haben, sind aber kaum je etablierte Hochschullehrer. Aus dem engeren Kreis der Sprachgermanisten erscheinen hier nur Alfred Götze (Gießen), Friedrich Panzer (Heidelberg) und Fritz Stroh (Gießen, später Erlangen). Dazu treten noch Beiträge von Ewald Geißler, ao. Prof. für „Deutsche Sprachkunst“ (= Rhetorik) in Erlangen73, und schließlich als Vertreter der Allgemeinen Sprachwissenschaft Leo Weisgerber. Die unmittelbare „Spracharbeit im Dienste des NS-Staats“ geht daher nicht vorrangig von der Sprachgermanistik selbst aus. Die germanistische Tätigkeit Götzes, Panzers und Strohs kann beim derzeitigen Forschungsstand nicht einmal als repräsentativ für die Gruppe der Professorenschaft gelten. Aber sie kann durchaus als exemplarisch für die schrittweise Ideologisierung des Faches in der Zeit des Nationalsozialismus betrachtet werden. Ansätze zu einer „nationalsozialistischen“ Sprachwissenschaft finden sich daher noch am ehesten unter den jüngeren Nachwuchswissenschaftlern im Umkreis von „Ahnenerbe“ und „Amt Rosenberg“. Bezeichnenderweise machen Forscher wie Schmidt-Rohr, Hartl oder Beranek zunächst keine – oder nur sehr mühsam – Karriere in der Welt der Wissenschaften. Besonders die „Hemmung im Fortkommen“ Eduard Hartls, der sich 1933 und noch einmal 1938 an das Regime anpassen wollte und dafür durch seine Herkunft aus kleinbürgerlichen, zudem „auslandsdeutschen“ Verhältnissen und seine national-konservative Haltung vor 1933 auch bestens geeignet schien, zugleich aber doch immer wieder auf Distanz zum Regime ging, zeigt die Unmöglichkeit eindeutiger und schneller Zuordnungen.74 Friedrich Panzer, Alfred Götze und Fritz Stroh tragen auf je unterschiedliche Weise dazu bei, die Kluft zwischen Ideologie und Hochschulgermanistik zu überwinden. Der älteste unter ihnen, Friedrich Panzer (1870–1956)75, steht für die „wissenschaftliche“ Überführung des völkisch-national gesinnten Denkens in das Zentrum des Nationalsozialismus. Ohne selbst je Parteimitglied gewesen zu sein, ist mit seinem Namen die bruchlose Kontinuität von den Anfängen des „Germanistenverbandes“ und der „Deutschkunde“ bis hin zur Rassenideologie verbunden. Noch 1926 gibt er der völkischen Deutung der Sprache den Vorzug, 1937 scheint seine „Wortforschung“ bereits fest auf einer rassistischen Grundlage zu ruhen. Diese Grundlage ist allerdings in wissenschaftlicher Hinsicht nicht mehr als ein 71 72 73 74
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Ebd., S. 152. Daran ändern für die Sprachgermanistik auch die differenzierten Aussagen von Birgitta Almgren, Germanistik und Nationalsozialismus, S. 178f., nichts. Zu Geißler sieh Klaus Ross, Spracherziehung statt Rhetorik, Opladen 1994. Sieh dazu Stefan Hemler, Zwischen Annäherung und Distanzierung. Der Weg des deutschnationalen Germanisten Eduard Hartl durch die NS-Zeit, in: Euphorion 96 (2002), S. 205-250, bes. S. 216-220, sowie Hemlers Beitrag auf der CD-Rom des IGL. – Um so dringlicher scheint die Forderung, das von Birgitta Almgren, Germanistik und Nationalsozialismus, S.25f. entwickelte „Thematische Komponentenraster“ zur Herausfilterung von Ideologemen in germanistischen Texten auf das gesamte sprachgermanistische Textkorpus der Zeit auszudehnen. Zu Panzer vergleiche man besonders Ruth Römer, Rassenideologie, S. 160 u. 178 sowie Christopher M. Hutton, Linguistics, S. 246. Eine kritische Skizze der forschungsgeschichtlichen Position Friedrich Panzers, allerdings mit einem Schwerpunkt auf den literaturwissenschaftlichen und volkskundlichen Facetten seiner „Deutschkunde“, bietet Ingrid Kasten, Friedrich Panzer (1870–1956), in: Christoph König – Hans-Harald Müller – Werner Röcke (Hg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, Berlin – New York 2000, S. 152-161.
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Ornament, denn an keiner Stelle wird die Bedeutung der „Rasse“ für die Sprachforschung tatsächlich begründet.76 Ersetzt man in seiner Schrift rassisch durch kulturell und Volksseele durch Kulturgemeinschaft, so käme ein zumindest diskussionswürdiger Text zum Vorschein.77 Panzer behandelt „Rasse“ in der Einleitung und im Schlusskapitel, dazwischen bleibt der Begriff ausgespart. Seine Texte erwecken den Anschein, als sei die Rassenideologie etwas ganz Alltägliches, das in seiner wissenschaftlich-gereinigten Form niemandem weh tun könnte. Als einer der Meinungsführer des Faches hat er Anteil an der Sprachlenkung zum Nationalsozialismus hin und prägt mit seinen nicht selten pathetischen Aussagen das Bild der Sprache für eine breite Öffentlichkeit. Damit erhöht er wesentlich die Akzeptanz auch der brutalen Wirklichkeit des Rassenwahns.78 Nur wenige konnten oder wollten dem Eindringen der Rassenideologie entgegentreten. Eines der raren Beispiele gibt Otto Behaghel, der noch im Alter von 82 Jahren in einem seiner letzten Texte dem Zeitgeist widerspricht. Zu einem in der Zeitschrift „Muttersprache“ erschienenen Beitrag unter dem Titel „Rasse, Sprache, Fremdwort“ bemerkt er: „In der Tat entbehren Gadings Ausführungen über das Verhältnis von Rasse und Sprache in weitgehendem Maße der zwingenden Beweise. Zum Teil sind sie geradezu falsch. (…) Auch in der Sprachwissenschaft gilt das Wort: erst wägen, dann wagen.“79 Otto Behaghels Nachfolger Alfred Götze (1876–1946), nur sechs Jahre jünger als Friedrich Panzer, blieb auf seinem Gießener Lehrstuhl, den er 1925 fast 50jährig erhielt – trotz unbestreitbarer Verdienste für die Wortforschung, die Namenkunde, das Frühneuhochdeutsche und die historische Fachsprachenforschung –, wohl stets im Schatten seines ungleich berühmteren Vorgängers. Alfred Götze erlebt die nationalsozialistische Herrschaft in der Hauptphase seiner beruflichen Tätigkeit als Professor. Wie schon bei Panzer zeigt sich hier, dass die zeitgenössische Lexikologie durch die Beschäftigung mit den aktuellen Bedeutungen der Wörter in eine viel größere Nähe zu den politisch-ideologischen Themen der Zeit gerät als etwa ein fest in der junggrammatischen Tradition verwurzelter Otto Behaghel. Götzes Tätigkeit als Lexikologe und Lexikograph hat Spuren hinterlassen. So im „Grimmschen Wörterbuch“, in „Trübners Deutschem Wörterbuch“ und in der Bearbeitung 76
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Man vergleiche Friedrich Panzer, Der deutsche Wortschatz im Spiegel deutschen Wesens und Schicksals, Köln 1938. – Die Spiegel-Metapher ist sicher eine Anleihe bei Karl Voßler, aber eben nur der 1. Auflage von 1913, wo es hieß: „Frankreichs Kultur im Spiegel seiner Sprachentwicklung“. Die Diskussion um diesen Band, die zum veränderten Titel der Neuauflage von 1929 als „Frankreichs Kultur und Sprache“ führte, hat Panzer offensichtlich gar nicht rezipieren wollen oder können. Vergleichbares ließe sich auch für viele Stellen aus dem Werk Adolf Bachs sagen, wenngleich rassistische Denkfiguren bei Bach insgesamt viel tiefer zu gehen scheinen. Beispiele für den OrnamentCharakter vieler Aussagen befinden sich in der „Geschichte der deutschen Sprache“, 1943, so § 10: „Wenn sprachliches Gestalten (bei aller Würdigung mechanischer Entwicklungen) aus dem Geiste einer Sprachgemeinschaft und damit letztlich aus rassischer Wesensart erfolgt …“ gegenüber der 8. Auflage von 1965: „Wenn sprachl. Gestalten (bei aller Würdigung mechanischer Entwicklungen) aus dem Geiste einer Sprachgemeinschaft erfolgt …“ oder 1943, § 10: „Bei dieser Auffassung kommt die unbestrittene Abhängigkeit der Sprache vom Volksgeist und damit von der Rassengeistigkeit keineswegs zu kurz …“ gegenüber 1965: „Hierbei kommt die Abhängigkeit der Sprache vom Volksgeist keineswegs zu kurz …“. Eine kritische Skizze der forschungsgeschichtlichen Position Friedrich Panzers mit Schwerpunkt auf den literaturwissenschaftlichen und volkskundlichen Facetten seiner „Deutschkunde“ bietet Ingrid Kasten, Friedrich Panzer (1870–1956), in: Christoph König – Hans-Harald Müller – Werner Röcke (Hg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, Berlin – New York 2000, S. 152-161. Sieh auch Peter Sturm, Literaturwissenschaft im Dritten Reich. Germanistische Wissensformation und politisches System, Wien 1995, S. 203. Rasse, Sprache, Fremdwort, in: Muttersprache 51 (1936), Sp. 184f. Behaghel begnügt sich allerdings hier damit, ein gutes Dutzend der schwersten Irrtümer des germanistischen Laien Gading zu zerpflücken. Eine auf das Grundsätzliche zielende Ablehnung der Verknüpfung von Rasse und Sprache formuliert er jedoch nicht. Dies lag in seinem Verständnis wohl jenseits seiner Kompetenzen und damit seiner Zuständigkeit als „Fachmann“ für die deutsche Philologie. Den Nachgeborenen fällt es heute natürlich leicht einzuwenden, dass diese Art der Kritik gegenüber der Rassenideologie bei weitem nicht ausreichend war.
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des „Kluge“, des „Etymologischen Wörterbuchs der Deutschen Sprache“. Die Wörterbucharbeit wird flankiert von einigen kleineren, vordergründig etymologisch ausgerichteten Texten, deren Schwerpunkt aber nicht auf der sprachlichen Deutung der Herkunft von Wörtern liegt, sondern auf der Überführung von Etymologie in eine für die völkischnationale Sache verwertbare, gegenwartsbezogene Wortgeschichte. Anfällig für nationalsozialistische Ausformung des „Völkischen“ scheint er durch seinen in den 30er Jahren stark zur Geltung kommenden Antisemitismus zu sein.80 Dazu passt es gut, dass der später als „Rasse-Günther“ zu zweifelhaftem Ruhm gelangte Hans F. K. Günther 1914 mit einer höchst dürftigen Arbeit über die „Herkunft des Volksbuchs von Fortunatus und seinen Söhnen“ von Götze in seiner Freiburger Zeit promoviert worden ist.81 Zu den wenigen Stellungnahmen außerhalb der Fachwissenschaft, die von Götze überliefert sind, gehört seine Rede zur „Brüder-Grimm-Feier“ der Universität Gießen am 11. März 1940, in der er auch die Waffen des nationalsozialistischen Krieges mit einem philologischen Lobpreis zu adeln versuchte: „Kampf und Krieg haben auch die deutsche Sprache gesegnet und bereichert.“82 Das eigentlich Bemerkenswerte an dieser Rede mit dem entlarvenden Titel „Deutscher Krieg und Deutsche Sprache“ ist jedoch die Tatsache, dass es die aktualisierte Fassung eines Textes ist, der schon einmal 1915 und 1918 mit Bezug auf den Ersten Weltkrieg erschienen war.83 Ganz unverkennbar liegt hier eine Tradition vor, die den bruchlosen Übergang von der völkisch-nationalen „Blut und Eisen-Ideologie“ des Bismarck-Reiches zum nationalsozialistischen Denken anschaulich vor Augen führt.84 „…und gerade die jüngsten Waffen, die uns immer wieder so viel Freude bereiten, Panzer, Unterseeboot und Flugzeug, sind auch sprachliche Glanzleistungen einer im Aufstieg begriffenen, rein deutschen Welt. (…) Ein Deutsch, wie es der Führer in seinen Reden, wie es unsere Heeresleitung in ihren Tagesberichten erklingen läßt, in Erz geschrieben und doch von einem Wohlklang, daß es der Dichter Wort für Wort in seine Lieder aufnehmen könnte – wer hat sie solches Deutsch gelehrt? Das ist der sprachgewaltige Krieg.“85 In der Fassung von 1915 war statt des Führers der Kaiser genannt. Der Schritt vom Völkischen zum Nationalsozialistischen wird auf der fachwissenschaftlichen Ebene gespiegelt als ein Schritt von der historisch exakten etymologischen Forschung zur spekulativen, politisch instrumentalisierbaren Wortgeschichte. Dies wird am deutlichsten in den kleineren Beiträgen für die Zeitschrift „Muttersprache“, weniger deutlich in seinen Arbeiten zum Grimmschen Wörterbuch, die festeren Regeln unterworfen 80
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Sieh auch Christopher J. Wells, Deutsch: eine Sprachgeschichte bis 1945, Tübingen 1990, S. 427, Peter von Polenz, Sprachpurismus und Nationalsozialismus. Die „Fremdwort“-Frage gestern und heute, in: Germanistik – eine deutsche Wissenschaft. Beiträge von Eberhard Lämmert, Walther Killy, Karl Otto Conrady, Peter von Polenz, Frankfurt/M. 1967, S. 128f. Sieh auch Utz Maas, Zur Entwicklung der deutschsprachigen Sprachwissenschaft, S. 280. Deutscher Krieg und Deutsche Sprache. Rede zur Grimm-Feier der Universität Gießen gehalten am 11. März 1940, in: Nachrichten der Gießener Hochschulgesellschaft 15 (1941), S. 20-33. Man vergleiche auch v. Polenz, Sprachpurismus und Nationalsozialismus, S. 143. Deutscher Krieg und Deutsche Sprache, in: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und Literatur, I. Abt., Bd. 35 (1915), S. 146-157; Wissenschaftliche Beihefte zur Zeitschrift des deutschen Sprachvereins, R. 5, H. 38/40 (1918), S. 268-282. Derartige Reden hatten vor beiden Weltkriegen Konjunktur. Anregungen hat sich Alfred Götze vermutlich bei seinem Erlanger Kollegen Ewald Geißler geholt, der den ersten Weltkrieg mit seiner Schrift: „Was ist deutsch. Versuch einer Selbstbesinnung im Deutschen Kriege“ begrüßt hatte. Für Geißler ist der Krieg gleichermaßen Dienst am Vaterland wie an der Sprache. Der Militarismus sei „eine der besten Stilschulen überhaupt.“ Sieh dazu auch Joachim Lerchenmüller – Gerd Simon, Im vorfeld des massenmords, S. 58. Man vergleiche auch Helmut Gold, Sonja Hassel, Matthias Peter, Klaus-Peter Ulbrich, Heinz-Lothar Worm, Zur Arbeit Alfred Götzes am Deutschen Seminar, in: Hans Ramge – Conrad Wiedemann (Hg.), Germanistik in Gießen 1925–1945. Beiheft zur Ausstellung, Gießen 1982, S. 43.Weitere wertvolle Hinweise zur Sprachgermanistik in Gießen verdanke ich Hans Ramge und seinem unveröffentlichten Vortragsmanuskript „Otto Behaghel und die Folgen: Gießener Philologen und ihre Schüler“. Hinweise zu Franz Beranek verdanke ich Herrn Dr. Bernd Kesselgruber (Gießen). Deutscher Krieg und Deutsche Sprache, S. 33.
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sind. Die Hinwendung zu Wortgeschichte statt Etymologie zeigt sich überraschenderweise schon sehr deutlich ausgerechnet im Etymologischen Wörterbuch von Kluge/Götze; ganz besonders stark dann in seinen Artikeln zu Trübners Wörterbuch. Hier erkennt man mit Verblüffung, dass von einem ausgewiesenen Experten nicht einmal mehr zwischen Wort und Sache, zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem differenziert wird. Auch zwischen der Bedeutung der Lexeme und der Bewertung der damit bezeichneten Sachverhalte wird so nicht mehr unterschieden.86 Gegen eine einseitig-verharmlosende Sicht auf das Werk Alfred Götzes87 hat sich Hans Ramge zuletzt 1981 gewandt.88 Wenn jedoch Peter von Polenz 1967 als wissenschaftsmethodischen Forschungsintergrund für die Anfälligkeit von Forschern wie Alfred Götze auf die „diachronisch-isolierenden Methoden der Lexikologie“ in den 30er Jahren verweist und daraus folgert, dass diese atomistische historische Betrachtungsweise dazu geführt habe, blindlings historische Verhältnisse in eine synchronische antisemitische, ideologische Betrachtungsweise zu überführen, dann bleibt dabei wohl außer acht, dass Männer wie Alfred Götze nicht „blind“ in die Falle des Nationalsozialismus gelaufen sind, sondern dass sie ganz bewusst Versatzstücke einer Methode verwendet haben, um eine Verbindung von Rasse und Sprache herzustellen. Mit Alfred Götze geht erstmals auch die engere sprachwissenschaftliche Tradition Allianzen mit dem Völkisch-Nationalsoziaistischen ein. Die scheinbar rhetorische Frage, die Peter von Polenz auch in Bezug auf Götze stellt: „Hätten sich die genannten Hochschulgermanisten gegenüber dem nationalsozialistischen Sprachpurismus in der gleichen Weise verhalten, wenn sie an der methodologischen Entwicklung der internationalen Linguistik seit de Saussure Anteil genommen hätten?“89, lässt sich allerdings für die Sprachgermanistik insgesamt mit einem klaren Ja beantworten, wenn man den dritten bei Heidrun Kämper-Jensen genannten Sprachgermanisten zu Rate zieht. Bei Fritz Stroh finden wir nämlich in Anlehnung an de Saussure die Trennung von Inhalts- und Ausdrucksseite der Sprache ebenso wie das strukturale Konzept der valeurs, wonach sich der Wert eines Elements im System durch seine strukturellen Beziehungen zu den anderen Elementen des Systems definiert. Stroh hat de Saussure intensiv studiert und zitiert.90 Peter von Polenz‘ These von der Abkoppelung der deutschen Philologie von der internationalen Entwicklung des Faches in den 30er Jahren stimmt daher nicht für die Kenntnisebene, aber sie stimmt weitgehend für die Ebene der Akzeptanz. Stroh wendet seinen strukturalistischen Ansatz nämlich nach 1930 ausschließlich ins Volkhafte. Indem er die „Willensgemeinschaft Nation“ und die „Wesensgemeinschaft Volk“ unterscheidet, steht für ihn „der Begriff der Nationalsprache als Hochsprache in keinem völlig neuen Entsprechungsverhältnis mit dem der totalen Wesensgemeinschaft. Die Nationalsprache in diesem Sinne ist aber unmittelbar wesentlich beteiligt an der Schöpfung und Verwirklichung der Willensgemeinschaft Nation. Unter 86
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Man vergleiche Ulrike Haß-Zumkehr, Deutsche Wörterbücher. Brennpunkt von Sprach- und Kulturgeschichte, Berlin – New York 2001, S. 215-219. – Darüber hinaus können viele Artikel nicht anders als antisemitisch bezeichnet werden, oft wissenschaftlich getarnt durch die Auswahl der Zitate. So heißt es im Artikel „Jude“ (1943) u.a. Juden seien „Nachkommen eines Volkes, das den Heiland gekreuzigt hat“, hätten ein „fragwürdiges Geschäftsgebaren“ und erforderten daher „deutschen Blutschutz“. Sieh jetzt auch Wenke Mückel, Trübners Deutsches Wörterbuch – Ein Wörterbuch aus der Zeit des Nationalsozialismus. Eine lexikografische Analyse der ersten vier Bände (erschienen 1939-1943). Tübingen 2005. Vgl. auch Ruth Römer, Sprachwissenschaft und Rassenideologie, S. 174. Ludwig Erich Schmitt, Alfred Götze (1876–1946) als Germanist in Leipzig, Freiburg und Giessen mit Schriften und Doktorandenverzeichnis von Fritz Stroh, Gießen 1980. Hans Ramge, „Lächelnd und freundlich durchs Dasein“. Der Germanist Alfred Götze (1876–1946), in: JLU-Forum. Zeitschrift der Justus Liebig-Universität Gießen, H. 2 (1981), S. 16. Peter von Polenz, Sprachpurismus und Nationalsozialismus, S. 147. Man vergleiche vor allem Strohs Habilitationsschrift „Der volkhafte Sprachbegriff“, Halle/ Saale 1933. Zu Stroh sieh auch Andreas Gardt, Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland. Vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Berlin – New York 1999, S. 316-319.
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Volkssprache wäre die in der Wesensgemeinschaft Volk, zumal in seinen Mutterschichten, erwachsene und wirkliche Sprache – und zwar eben auf ihre volkhaften Bezogenheit hin zu verstehen.“91 Durch die „Überwindung des anorganisch-mechanistischen Denkens“92 und einer „atomistischen Philologie“93 wird der Blick frei für die innere Sprachform und die Untersuchung der Sprache als gegliedertes Ganzes; die „nationalen Philologien finden ihren Mittelpunkt und ihre Einheit in den Nationalsprachen“, und damit „in der Erforschung der ‚subjektiven Bahnen‘ (Humboldt), auf denen die Völker in ihren Sprachen schicksalhaft schreiten, um sich zu erfüllen.“94 Volkssprache gilt also als Gegenbegriff zu Nationalsprache. 1939 definiert er dann: „Die seiner Art gemäße und seinem geschichtlichen Ursprung verhaftete Sprache eines Volkes nennen wir Volkssprache“95 Der VolkssprachenBegriff wird ex-negativo bestimmt, wird nicht an soziale, regionale oder zeitliche Grenzen gebunden, „wo doch das Volk als blutmäßig bedingter Erbzusammenhang Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenschließt“.96 Damit ist aber auch bereits der Anschluss an rassistische und in der Folge antisemitische97 Kategorien erreicht. Daneben gibt es gewiss noch eine Reihe weiterer etablierter germanistischer Sprachwissenschaftler, die sich zu jener Zeit darum bemüht haben, Politik und Wissenschaft miteinander in Einklang zu bringen. Für einige Fälle liegen inzwischen aufschlussreiche Studien vor98, meist stehen aber detaillierte Untersuchungen noch aus.99 Ebenfalls noch nicht ausreichend geklärt ist die Rolle Theodor Frings‘ und seiner „kulturmorphologischen“ Forschungsrichtung. Für die erfolgreiche Karriere des Leipziger Ordinarius war es von Vorteil, dass im Mittelpunkt seiner im Fach über viele Jahrzehnte dominanten Vorstellung von der „Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache“ die Aspekte „Volk“, „Raum“ und „Mündlichkeit“ standen. Diese Schwerpunkte waren, etwa im Unterschied zum vorausgegangenen bildungsgeschichtlichen Programm Konrad Burdachs, das heute zu Unrecht weithin vergessen ist, sowohl im nationalsozialistischen Deutschland als auch in der DDR außerordentlich gut geeignet, um die Interessen von Politik und Wissenschaft gleichermaßen zu befriedigen. Theodor Frings musste, um diese beiden Pole so weit wie möglich einander anzunähern, nach 1933 weder in der Öffentlichkeit nationalsozialistische Positionen vertreten noch mit dem Nationalsozialismus sympathisieren.100 So ist die kulturmorpholo91 92 93 94 95
Der volkhafte Sprachbegriff, S.58. Ebd., S. 59. Ebd., S. 60. Ebd., S. 59. Fritz Stroh, Besinnung der deutschen Sprachwissenschaft, in: Zeitschrift für Mundartforschung (1939), S. 132. 96 Ebd., S. 133. 97 Ebd., S. 138 im Abschnitt „jüdische Tarnnamen“. 98 So etwa zu Anneliese Bretschneider: Gerd Simon, Blut- und Boden Dialektologie. Eine NS-Linguistin zwischen Wissenschaft und Politik. Anneliese Bretschneider und das „Brandenburg-Berlinische Wörterbuch“, Tübingen 1998, zu Ernst Gierach: Gerd Simon, Die hochfliegenden Pläne eines „nichtamtlichen Kulturministers“ [des Sudetenlandes; J.R.]. Erich Gierachs „Sachwörterbuch der Germanenkunde“, Tübingen 1998. 99 So etwa zu Henning Brinkmann oder Adolf Bach. Zu untersuchen wären dabei gesellschaftspolitische Schriften wie etwa Henning Brinkmann, Die deutsche Berufung des Nationalsozialismus. Deutsche Spannungen – Deutsche Not – Deutsche Umkehr, Jena 1934. Zu Brinkmann sieh die Hinweise bei Joachim Lerchenmüller – Gerd Simon, Im vorfeld des massenmords, S. 21f., Christopher M. Hutton, Linguistics, S. 74-77; zu Adolf Bach vergleiche man die Zitate und deren Einordnung bei Ruth Römer, Sprachwissenschaft und Rassenideologie, S. 92, 144, 160, 174, 176f., Birgitta Almgren, Germanistik und Nationalsozialismus, S. 168 sowie Christopher M. Hutton, Linguistics, S. 77-83. 100 Frings erscheint allerdings 1933 als Unterzeichner des Leipziger Bekenntnisses für Adolf Hitler, Parteimitglied war er jedoch nie. Man vergleiche Christopher M. Hutton, Linguistics, S. 25. Sieh auch P. Boden, Universitätsgermanistik in der SBZ/DDR. Personal- und Berufungspolitik 1945–1958, in: Zeitschrift für Germanistik 5 (1995), S. 373f. sowie Walter Müller-Seidel, Freiräume im nationalsozialistischen Staat. Erinnerungen an Leipzig und seine Universität (1937–1943), in: Atta Troll tanzt noch, Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert, hg. v. Petra Boden – Holger Dainat, Berlin 1997, S. 164.
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gische Forschung vermutlich der Arbeitsbereich, der sich am ehesten zu einer professionellen völkisch-nationalen Sprachgermanistik im Nationalsozialismus entwickelt hätte. Genauer untersucht werden müsste die Rolle der „Kulturmorphologie“ vor allem im Zusammenhang mit der zeitgenössischen historischen „Ost- und Westforschung“, die Aufschlüsse über die in der Geschichtswissenschaft intensiv diskutierten Beziehungen zwischen fachwissenschaftlicher Ost- und Westforschung und nationalsozialistischer Ost- und Westexpansion geben sollte.101 Auch die Beziehungen zur Geopolitik Karl Haushofers sind noch zu klären. Im Gegensatz zur expliziten „Kulturmorphologie“ konnte die Tradition der Dialektologie, für viele Zeitgenossen überraschend, in der Anfangsphase kaum an Boden gewinnen. Als der „Reichsbund der deutschen Beamtenschaft“ Adolf Hitler zu seinem 50. Geburtstag eine Schallplatte mit Proben deutscher Dialekte überreichte,102 soll er keineswegs erfreut gewesen sein.103 Schon in „Mein Kampf“ hatte Hitler festgestellt: „Die Leichtigkeit des modernen Verkehrs schüttelt die Menschen derart durcheinander, daß langsam und stetig die Stammesgrenzen verwischt werden und so selbst das kulturelle Bild doch allmählich auszugleichen beginnt.“ Der Ausgleich kultureller Eigenheiten würde somit auch zu einer sprachlichen Reichseinheit führen. Das war für Hitler so selbstverständlich, dass ihm jedes Verständnis für Mundartpflege abging. „Es ist nicht erwünscht, daß Dialekte literaturfähig gemacht werden.“104 Diese Facette der „Modernität“ der nationalsozialistischen Kulturpolitik105 war offensichtlich an den meisten Sprachgermanisten völlig vorüber gegangen. Interesse für Mundarten und Mundartforschung bestand nur dort, wo die Forschung, wie im Falle des „Brandenburg-Berlinischen Wörterbuchs“ auch außenpolitisch nutzbar gemacht werden konnte. Anneliese Bretschneider wusste dies geschickt auszunutzen: „Das Auswärtige Amt wolle einem wertvollen Material seine Anteilnahme zuwenden, das zum Nachweis der Deutschheit der ehemaligen Provinzen Posen und Westpreußen hervorragend geeignet und bisher politisch noch nicht ausgewertet worden ist.“106 Die klassische Dialektologie war daher zunächst nur in Verbindung mit dem Grenz- und Auslandsdeutschtum von Interesse, wenn es darum ging aus vermeintlich historischen Besiedlungsverhältnissen Ansprüche auf Besitz und Boden abzuleiten. Die Beschäftigung mit den Dialekten des Altreichs selbst war hingegen gerade nicht gefragt, denn das Konzept der Modernisierung sah vielmehr ausschließlich die Förderung der Standardsprache vor, nicht die Erforschung und 101 Man vergleiche dazu etwa den Sammelband von Peter Schoettler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt/M. 1997. Die Zusammenarbeit mit Historikern und Volkskundlern dokumentieren zwei von Frings mit herausgegebene Bände: Hermann Aubin – Theodor Frings – Josef Müller, Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden. Geschichte, Sprache, Volkskunde, Bonn 1926. Nachdruck Darmstadt 1966; Wolfgang Ebert – Theodor Frings – Käte Gleißner – Rudolf Kötzschke – Gerhard Streitberg, Kulturräume und Kulturströmungen im mitteldeutschen Osten, Halle 1936. 102 Man vergleiche Eberhard Kranzmayer, Das Lautdenkmal reichsdeutscher Mundarten. Ein Geburtstagsgeschenk für unseren Führer, in: Heimat und Volkstum 17 (1939), S. 113-115. 103 Man vergleiche Jan Wirrer, Dialekt und Standardsprache im Nationalsozialismus – am Beispiel des Niederdeutschen, in: Konrad Ehlich (Hg.), Sprache im Faschismus, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1995, S. 87103, hier S. 96. Sieh auch Hanno Birken-Bertsch – Reinhard Markner, Rechtschreibreform und Nationalsozialismus. Ein Kapitel aus der politischen Geschichte der deutschen Sprache, Göttingen 2000, S. 77f. 104 Tischgespräche Nr. 32/312 vom 26.7.1941, zitiert nach Hanno Birken-Bertsch – Reinhard Markner, Rechtschreibreform, S. 78 Anm. 87. 105 Zum Thema „Nationalsozialismus und Moderne“ sieh Michael Prinz – Rainer Zitelmann (Hg.), Nationalsozialismus und Modernisierung. Mit einem aktuellen Nachwort zur Neuauflage. 2. Aufl., Darmstadt 1994, S. 1-20 sowie A. Hewitt, Fascist modernism: aesthetics, politics and the avant-garde, Stanford 1993. Man vergleiche auch Krystyna Radziszewska – Jörg Riecke, Die Germanisierung von Lodz im Spiegel der nationalsozialistischen Presse 1939–1944, Lodz 2004. 106 Anneliese Bretschneider 1939 brieflich an das Auswärtige Amt. Zitiert nach Gerd Simon, Blut und Boden-Dialektologie, S. 65.
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Pflege von Dialekten und anderen Varietäten.107 Dies hatte auch Auswirkungen auf das neben dem „Grimmschen Wörterbuch“ zweite germanistische Großprojekt des ersten Jahrhundertdrittels, den „Deutschen Sprachatlas“ in Marburg. Die Förderung der Dialektologie erfolgte nach 1933 vor allem durch die „Deutsche Forschungsgemeinschaft“, die als zentrale Wissenschaftsstiftung 1934 die „Reichsgemeinschaft für Deutsche Volksforschung“ gründete, die aus den Abteilungen „Volkskunde“, „Vor- und Frühgeschichte“, „Rassenkunde“, „Grenz- und Auslandsdeutschtum“, und „Volkssprache“ bestand. Walther Mitzka, seit 1933 Leiter des „Sprachatlasses“, ist es dann gelungen, im Rahmen der Abteilung „Volksprache“ auch einen Platz für die binnendeutsche Dialektologie zu sichern, indem er die Dialekträume an historische Stammesgrenzen band und zugleich die „Bauern“, als Träger der Dialekte, zur „Mutterschicht des Volkes“ erklärte.108 Damit wurde Mitzka zugleich zum entschiedenen Gegenspieler von Theodor Frings und seiner Kulturraumtheorie. Mitzka zu fördern war daher zugleich auch ein Beitrag zum Erhalt des Gleichgewichts der Kräfte im Fach. Dies um so mehr, da sich die Partei der Loyalität Theodor Frings‘ wohl nie ganz sicher sein konnte. Mitzkas genial-einfache Umdeutung der Dialektforschung als Erforschung der „Volkssprache“ dürfte die Akzeptanz der Dialektologie im Nationalsozialismus nachhaltig gefördert haben. Das weitere Schicksal der vier sprachgermanistischen Domänen der Zeit um 1930 liegt damit vergleichsweise klar auf der Hand. Die „Kultursemantik“ existiert nach der Emigration Hans Sperbers im Deutschen Reich nicht mehr, und die Vertreter bzw. die Forschungspositionen der anderen drei Domänen gehen so enge Allianzen ein, dass die Unterschiede längst nicht mehr so klar zu Tage treten wie noch um 1930. Theodor Frings ragt heraus, wo es um die mit Zeit und Raum verknüpften Fragestellungen geht, Henning Brinkmann, Fritz Stroh und der als Germanist allerdings nie akzeptierte und etablierte Georg Schmidt-Rohr109 prägen, unterstützt von dem Allgemeinen Sprachwissenschaftler Leo Weisgerber, die sprachtheoretischen Auffassungen der Zeit. Das zentrale sprachtheoretische Problem, die Klärung der Bedeutung der Sprache im Geflecht von Volk, Raum und Rasse ist bereits wiederholt thematisiert und beleuchtet worden.110 Es soll hier daher ein kurzer Hinweis genügen. Dafür ist entscheidend, dass die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik einerseits weitgehend pragmatisch ausgerichtet war und letztlich alles förderte, was der Stabilisierung des Regimes diente. So ließ sich auch die moderne „ideologiefreie“ Natur- und Sozialwissenschaft durchaus in das System integrieren. Andererseits wurde die Grenze der pragmatischen Wissenschaftspolitik stets dort erreicht, wo es um die Definitionshoheit für Bergriffe ging, durch die sich das Regime konstruierte. Eine solche Grenze war bei der Auffassung von „Rasse“ erreicht, die in der nationalsozialistischen Ideologie als alleingültiges Merkmal der Volksbildung zu gelten hatte. Sprache gilt in diesem Sinn als „stellvertretende Form der Rassenseele“. Die vom frühen Schmidt-Rohr propagierte Auffassung von Sprache als einer dritten Größe neben Blut (Rasse) und Boden (Raum) wurde nicht toleriert. Die NS-Ideologen lasen die Texte der Sprachwissenschaftler 107 Auch die Unterdrückung der deutschtümelnden und fremdwortfeindlichen Tätigkeit des „Allgemeinen Deutschen Sprachvereins“ durch die nationalsozialistischen Behörden ist im Zusammenhang mit der angestrebten Modernisierung der Gesellschaft zu sehen. 108 Man vergleiche Stefan Wilking, Der deutsche Sprachatlas im Nationalsozialismus. Studien zur Dialektologie und Sprachwissenschaft zwischen 1933 und 1945, Hildesheim 2003, zu Mitzka bes. S. 114f. 109 Zu Georg Schmidt-Rohr, der sich wiederholt vergeblich bemüht hatte, als Germanist habilitiert zu werden, vergleiche man Gerd Simons Artikel im IGL. (S. 1630-1632) sowie ders., Wissenschaft und Wende 1933. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik am Beispiel des Sprachwissenschaftlers Georg Schmidt-Rohr, in: Das Argument 158 (1986), S. 527-542., Christopher M. Hutton, Linguistics, S. 288294 und Ruth Römer, Sprachwissenschaft und Rassenideologie, S. 159-163, Utz Maas, Die Entwicklung der deutschsprachigen Sprachwissenschaft, S. 274f. u. 277. 110 Ruth Römer, Sprachwissenschaft und Rassenideologie, S. 131-137; Utz Maas, Die Entwicklung der deutschsprachigen Sprachwissenschaft, S. 275-283.
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dann, wenn es um die „Rasse“ ging, offensichtlich sehr genau, und sie ließen sich mit einer allein auf das Volk gegründeten Sprachdefinition nicht abspeisen.111 Nicht aus sprachlichen, geographischen und sozialen Konstellationen, die ja auch das deutsche Judentum hätten mit einbeziehen können, sondern ausschließlich aus biologischen, rassischen Merkmalen sei der Volksbegriff zu denken. Ausschlaggebend war hierfür die Position Adolf Hitlers, der in „Mein Kampf“ notiert hatte, dass „daß Volkstum, besser die Rasse, eben nicht in der Sprache liegt, sondern im Blute“.112 Das große Problem der völkischnationalen Sprachgermanistik bestand daher darin, dass in einem derart rassistisch verabsolutierten Volks-Konzept für die theoretische Begründung der Sprache eigentlich kein Raum mehr übrig blieb, nur allenfalls am Rande für die deutsche Sprache im Konzept der Muttersprache, wie es Leo Weisgerber und in seinem Gefolge schließlich auch Georg Schmidt-Rohr vertreten haben. Daher erklärt sich wohl auch die intensive Beschäftigung des Allgemeinen Sprachwissenschaftlers, Indogermanisten und Keltologen Leo Weisgerber mit der deutschen (Mutter-)Sprache. Das „Muttersprachen-Konzept“ wurde dadurch auch zur Gelenkstelle zwischen der fachlichen und der öffentlichen Kommunikation.113 Wie schwer sich ansonsten die Sprachgermanisten mit dieser Frage taten, zeigt wohl exemplarisch der Schlusssatz in Adolf Bachs „Geschichte der deutschen Sprache“: „Der Kampf um Bestand und Reinheit unserer Muttersprache ist daher – wie der Kampf um die Reinheit unserer Rasse – ein Ringen um den Bestand, die Einheit und den Geist unseres Volkes in der Zukunft. Deutsche Sprache wird so deutsches Schicksal.“114 An die Seite der alten Großprojekte, die zwar fortgeführt werden konnten, aber nicht mehr im Zentrum des Interesses standen, treten neue Unternehmungen wie Erich Gierachs geplantes „Sachwörterbuch der Germanenkunde“115 zur „Erschließung des germanischen Erbes“, der Auf- und Ausbau des „Deutschen Wissenschaftlichen Instituts“ in Kopenhagen unter Otto Höfler116 und Wolfgang Langen und vor allem der sogenannte „Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften“117. Das in der Anfangsphase des Krieges wohl bedeutendste nationalsozialistische Wissenschaftsprojekt illustriert exemplarisch, auf welche Weise das Gemeinschaftswerk, das nebeneinander Beiträge von vermeintlich vornehmer Sachlichkeit und ideologische Anbiederung enthält, die von den Nazis geduldete und schließlich zur Systemstabilisierung geförderte „Mehrstimmigkeit“ wissenschaftlicher Meinungen zum Ausdruck bringt.118 Scharfmacher und Regimegegner sind hier vereint, um die geistige, militärische und wirtschaftliche Rüstung des deutschen Volkes im
111 Ruth Römer, Sprachwissenschaft und Rassenideologie, S. 143-159. 112 Zitiert nach Senya Müller, Sprachwörterbücher im Nationalsozialismus. Die ideologische Beeinflussung von Duden, Sprach-Brockhaus und anderen Nachschlagewerken während des Dritten Reichs, Stuttgart 1994, S. 79. 113 Adolf Bach, Geschichte der deutschen Sprache, Leipzig 1928, S. 235. 114 Sieh dazu auch Clemens Knobloch, Über die Schulung des fachgeschichtlichen Blickes: Methodenprobleme bei der Analyse des „semantischen Umbaus“ in Sprach- und Literaturwissenschaft, in: Georg Bollenbeck – Clemens Knobloch (Hg.), Semantischer Umbau der Geisteswissenschaften nach 1933 und 1945, Heidelberg 2001, S. 209. 115 Zu Gierach sieh Gerd Simon, Die hochfliegenden Pläne eines „nichtamtlichen Kulturministers“. 116 Zu Otto Höflers Wirken im Dritten Reich paradigmatisch Manfred Jakubowski-Tiessen, Kulturpolitik im besetzten Land. Das Deutsche Wissenschaftliche Institut in Kopenhagen 1941 bis 1945. in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 42 (1993), S. 129-138. Zu den „Deutschen Wissenschaftlichen Instituten“, die Anreize zur Kollaboration geben sollten und dies – bis auf Athen – auch gründlich erfüllten, sieh auch Frank-Rutger Hausmann, „Termitenwahn“ – Die Bedeutung der Gemeinschaftsforschung für die NS-Wissenschaft, in: Georg Bollenbeck – Clemens Knobloch (Hg.), Semantischer Umbau der Geisteswissenschaften nach 1933 und 1945, Heidelberg 2001, S. 58-79. 117 Sieh dazu, mit einem Schwergewicht auf den romanistischen Beiträgen, Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940–1945), Dresden – München 1998. 118 Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“, S. 8f.
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„Kriegseinsatz der Wissenschaft“ zu demonstrieren.119 Dem „Kriegseinsatz der Germanistik“, der unter dem Titel „Von deutscher Art in Sprache und Dichtung“, zeigen sollte, „was deutsch ist an der deutschen Sprache und Dichtung“120 haben sich nur wenige Hochschullehrer, wie die Literaturwissenschaftler Friedrich Beißner, Max Kommerell und Walther Rehm entzogen.121 Schließlich ermöglichte die Teilnahme auch denen, die sonst dem Nationalsozialismus eher skeptisch gegenüberstanden, mit großer Wahrscheinlichkeit die Freistellung vom Kriegseinsatz an der Front.122 Der erste Band, „Die Sprache“, „geleitet“ – auch hier also gilt das „Führerprinzip“ – von Friedrich Maurer, enthält Beiträge von Leo Weisgerber („Die deutsche Sprache im Aufbau des deutschen Volkslebens“), Friedrich Maurer („Sprachgeschichte als Volksgeschichte“), Walther Mitzka („Bauern- und Bürgersprache im Ausbau des deutschen Volksbodens“), Friedrich Kainz („Deutsche Sprachdeutung“), Kurt Herbert Halbach („Wolfram von Eschenbach und Goethe als Sprachschöpfer“) und Ewald Geißler („Deutsches Wesen in Laut und Lautung“).123 Charakteristisch ist weiter, meist schon begonnen bei der Wahl des Beitragstitels, die ununterbrochene Rede von Volk und Wesen. Auch Faust und Parzival erscheinen bei Halbach als „denkmalhafte Heldengestalten“ des „volkhaften deutschen Menschentums“, „Sonderwerte deutscher Art“ erspürt Kainz in „deutscher Sprachgestaltung“. Nur am Rande sei bemerkt, dass die Autoren allesamt zwischen 1937 und 1940 auf ihre jeweilige Professur berufen worden waren.124 Parallel zur „deutschen Art in Sprache und Dichtung“ erschien 1941 erstmals das von Werner Schulze herausgegeben neue „Jahrbuch der Deutschen Sprache“. Es versteht sich als Instrument im „Kampf um den Lebensraum der deutschen Sprache“ und bietet im ersten Jahr eine Mischung aus Laien-, Funktionärs- und Wissenschaftler-Texten für einen weiten Leserkreis.125 Aus der Hochschulgermanistik erscheinen im ersten Band nur kürzere Beiträge von Ulrich Pretzel „Die Vollendung des Grimmschen Wörterbuches“, Anneliese Bretschneider „Das Brandenburg-Berlinische Wörterbuch“ und Ewald Geißler „Die deutsche Hochsprache im Widerspiel von Nord und Süd.“ Den Anfang machen, im Anschluss an einen knapp einseitigen Text des „Vorsitzers“ des Deutschen Sprachpflegeamtes und des Deutschen Sprachvereins Dr. Rudolf Buttmann („Die Sprache, ein Kampfmittel unserer Zeit“), der omnipräsente Weisgerber („Die germanische Haltung zur Muttersprache“) und Georg Schmidt-Rohr („Die Stellung der Sprache im nationalen Bewußtsein der Deutschen“). Vorgestellt werden vor allem die Wörterbuch-Großprojekte und die Bedeutung der sprachlichen Erschließung des europäischen Ostens in Geschichte und Gegenwart. Auffällig sind darüber hinaus die Bereiche, die den traditionellen Kanon der Disziplin erweitern, neben der Sprachpflege vor allem die Ansätze zu einer soziolinguistischen Varietätenlinguistik – wenngleich natürlich unter nationalsozialistischen Vorzeichen. So Walter 119 So nach Josef Ammelounx, Deutsche Wissenschaft auf neuem Wege, in: Deutsche Erneuerung 27 (1943), S. 12. 120 Aus dem Themenplan des Herausgeberkomitees aus dem Jahr 1940, zitiert nach Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“, S. 171. Zum „Kriegseinsatz der Germanistik“ vergleiche man Wendula Dahle, Der Einsatz der Wissenschaft. Eine sprachinhaltliche Analyse militärischer Termini in der Germanistik 1935–1945, Ruth Römer, Sprachwissenschaft und Rassenideologie, S. 177-179. 121 Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“, S. 173. 122 Ebd., S. 22. 123 Von Deutscher Art in Sprache und Dichtung. Erster Band, Stuttgart und Berlin 1941. 124 Die Rolle Friedrich Maurers kann noch nicht abschließend beurteilt werden. Bei ihm stehen sich ein weitgehend ideologiefreies Schreiben und eine relative Nähe zu den Zielen der Partei gegenüber. Viel spricht für die Deutung, dass sich Maurer seine fachliche Autonomie durch eben diese Nähe zum Herrschafts- und Machtapparat erkauft hat. Dazu lässt sich dann auch sein Engagement für den „Kriegseinsatz“ zählen. Man vergleiche Hans Peter Herrmann, Germanistik – auch in Freiburg eine „Deutsche Wissenschaft“?, in: Eckhard John (Hg.), Die Freiburger Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, Freiburg – Würzburg 1991, S. 129-133. 125 Jahrbuch der Deutschen Sprache, Bd. 1, Leipzig 1941. Werner Schulze, Zum Beginn, S. 5f.
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Schönbrunn („Die Sprache des deutschen Soldaten“) und Erhard Manthei („Die Sprache der Hitlerjugend“). Allein ein Vergleich der beiden Artikel von Pretzel, dessen Karriere bereits ins Stocken geraten war, und der überaus erfolgreichen Anneliese Bretschneider verdeutlicht die Spannbreite des Schreibens im Dienste der nationalsozialistischen Instrumentalisierung der Sprachgermanistik. Während Pretzels Artikel heute einschließlich der kurzen Würdigung Salomon Hirzels, des ersten Verlegers des „Deutschen Wörterbuchs“126 unverändert abgedruckt werden könnte, versteigt sich Frau Bretschneider zu Formulierungen wie: „Über allen anderen aber erwächst gerade unserem Wörterbuch eine besondere Aufgabe: nämlich den Beweis zu führen, daß – wie die Vorarbeiten mancher verdienten Forscher es bereits gezeigt haben – das Gebiet der Mark Brandenburg alter deutscher Siedlungs- und Kulturboden ist, und damit auf wissenschaftlicher Grundlage die Ansprüche abzuwehren, die ein fremdes Volkstum an die Landschaft zu stellen wagt, die die Wiege des Preußentums und die mütterliche Umgebung der Hauptstadt aller Deutschen ist.“127 Kaum jemand beherrscht die „Neue Sprache“ so sehr wie sie, die Verbindung von „Aufgabe“, „Boden“, „Abwehr fremden Volkstums“ und die Deutung von Landschaft als „mütterlicher Umgebung“ der Hauptstadt sind Schlüsselwörter des neuen Pathos in der Sprache der Wissenschaft.128 Ein zweiter Band des Jahrbuchs erscheint dann noch 1944 in der „Obhut“ der „Deutschen Akademie“, als Herausgeber wurde Erich Gierach bestimmt, der das Erscheinen des Bandes jedoch nicht mehr erlebt hat. Die Schriftleitung besteht aus den Herren Basler, Frings, Geißler, Götze, Hartl, von der Leyen (der inzwischen offenbar in München lebende, 1937 in Köln entlassene Altgermanist wird im Verzeichnis der Autoren geführt als „Professor an der Universität zu Köln i.R.“) und Schulze. Der eingangs abgedruckte Nachruf auf Gierach schließt mit den Worten: „Es ist ihm nicht vergönnt gewesen, die Erfüllung seines Wirkens zu schauen: er starb mitten in der Schlacht, und adelig war sein Tod.“129 Ganz im Gegensatz dazu stehen die sichtlich um Seriosität und Wissenschaftlichkeit bemühten Beiträge des Bandes. Wolfgang Krause zitiert in seinem Eröffnungsbeitrag „Deutsch als indogermanische Sprache“ sachlich und wie selbstverständlich auch Arbeiten von längst zur Emigration gezwungenen Forschern wie Feist und Nehring. Der Band gibt im Folgenden eine weitgehend neutrale Übersicht über die Hauptarbeitsgebiete der zeitgenössischen Sprachgermanistik und ihre Anwendungsmöglichkeiten: Georg Baesecke „Althochdeutsch“, Elisabeth Karg-Gasterstädt „Das Althochdeutsche Wörterbuch“, Ulrich Pretzel „Die Sammlungen des mittelhochdeutschen Wortschatzes“, Theodor Frings und Ludwig Erich Schmitt „Der Weg zur deutschen Hochsprache“, Alfred Götze „Landschaftsgebunde Forschung in Hessen“, Friedrich von der Leyen „Friedrich Nietzsche und die deutsche Sprache“, Walther Mitzka „Vom Deutschen Sprachatlas“, Eberhard Kranzmayer „Der Bairische Sprachraum“, Adolf Bach „Über die zeitlich-räumliche Staffelung der deutschen Familiennamen“, sowie Walter Kunze „Die Spracharbeit der Deutschen Akademie“, Max Wachler „Die Wiedergeburt der deutschen Rechtssprache“, Ludwig Götting „Die Sprache des Arbeitsdienstes“130 und Johannes Weinbender „Filmdeutsch“ und „Rundfunkdeutsch“. 126 Ulrich Pretzel, Die Vollendung des Grimmschen Wörterbuchs, Jahrbuch der Deutschen Sprache, Bd. 1, S. 51. 127 Anneliese Bretschneider, ebd., S. 55. 128 Zu Sprache und Geist des Bandes sieh auch Ruth Römer, Sprachwissenschaft und Rassenideologie, S. 178f. 129 Jahrbuch der Deutschen Sprache, Bd. 2, Leipzig 1944, Nachruf, S. 6. Ein späterer Benutzer des Bibliotheksexemplars der Justus Liebig-Universität Gießen hat den Nachruf als Reaktion auf das unerträgliche Pathos mit „Anne Frank“ unterzeichnet. 130 Man vergleiche dazu jetzt auch Maresa Hottner, Sprache im Reichsarbeitsdienst. Eine Untersuchung propagandistischer, parteiinterner und privater Texte, in: Albrecht Greule – Waltraud Sennebogen
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Auch in diesem Band sind Texte enthalten von längst etablierte Professoren, aber auch von Germanisten wie von der Leyen, Pretzel und Schmitt, deren Karrieren unterbrochen oder nicht recht voranzukommen schienen, und von Laien wie Götting, Kunze und Weinbender, deren Aufgabe es offensichtlich war, die Sprachen der durch den nationalsozialistischen Staat neu geschaffenen Gruppen sowie gleichgeschalteter Einrichtungen zu beschreiben. Nicht zuletzt dieses soziolinguistisch ausgerichtete Forschungsinteresse rückt die Gegenwartssprache viel stärker in den Vordergrund als noch zu Zeiten der Weimarer Republik.131 Es präsentiert sich eine Wissenschaft, die sich im Kern bereits gefestigt fühlt und es nicht für nötig hält, durch auffällige politische Äußerungen aus- und abzugrenzen. Das Jahrbuch ist im Sinne der Schriftleitung zweifellos ein Beitrag zur „Normalisierung“ der Verhältnisse.132 Hier zeigt sich, welchen Weg die Sprachgermanistik im Nationalsozialismus vermutlich genommen hätte, wenn der Spuk des „Dritten Reichs“ nicht bereits nach 12 Jahren wieder vorbei gewesen wäre: Der Weg geht zu fachlich solider Forschung, die zugleich durch Vor- und Nachworte in einen emotional aufgeladenen ideologisch eindeutigen Kontext eingebettet wird. Die „seriöse Normalwissenschaft“ der Zeit begegnet auch weiterhin in den wissenschaftlichen Fachzeitschriften, was Birgitta Almgren am Beispiel der „Germanisch-Romanischen Monatshefte“ exemplarisch nachgewiesen hat.133 Die Großprojekte, aber auch die Arbeiten der Panzers, Götzes, Bachs und Strohs knüpfen jedoch auch für die „Normalwissenschaft“ ein ideologisches Koordinatensystem, in das jeder zwischen 1933 und 1945 entstandene Fachtext einzuordnen ist. 5. Resümee Überblickt man die Entwicklung der Sprachgermanistik in den 150 Jahren zwischen 1800 und 1950, dann erkennt man eine Abfolge von Spezialisierung und Professionalisierung auf der einen, von Öffnung und Popularisierung auf der anderen Seite. Die Öffnung hin zu Fragen von allgemeinem gesellschaftlichem Interesse, die eine notwendige Reaktion auf das enge und etwas blutleere junggrammatische Paradigma war, setzt in Deutschland genau zu dem Zeitpunkt ein, als die völkisch-nationalen Tendenzen ihren ersten Höhepunkt erreichen. Auf die erste Professionalisierung folgt also eine folgenschwere Öffnung, die erst im Nachkriegs-Deutschland mit der Hinwendung zum Strukturalismus wieder beendet wird. Die „Pragmatische Wende“ der Nach-68er-Zeit hat dann zu einer neuerlichen Öffnung geführt, die dieses Mal aber nicht unter nationalen, sondern unter politisch-sozialen Vorzeichen stand. Nimmt man diesen Ablauf ernst, so steht uns in Kürze – trotz aller Polyphonie zeitgenössischer Forschung – ein neuer Schub hin zur Spezialisierung bevor. Deutlich wird, dass sich bislang mit jeder Öffnung – unter verschiedenen politischen Vorzeichen – eine Hinwendung zu den kulturwissenschaftlichen Wurzeln des Faches vollzogen hat. Die Hoffnungen einer völkisch-nationalen Sprachgermanistik, die zu Beginn der 30er Jahre bestanden haben dürften, sind durch die nationalsozialistische Sprachpolitik jedoch kaum je erfüllt worden. Es herrschte offensichtlich zunächst keine Klarheit darüber, was sich die Parteispitze unter einem nationalsozialistischen Staat vorstellte und welche Auswirkungen das auf die Sprache hatte. Die Rassenideologie als zentrales Dogma verhin(Hg.), Tarnung – Leistung – Werbung. Untersuchungen zur Sprache im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2004, S. 89-172. 131 Sieh dazu auch Erich Gierachs „Vorrede“, Jahrbuch der deutschen Sprache, Bd. 2, S. 5. 132 Das vielleicht eindrücklichste Beispiel für diese angestrebte Normalisierung unter völkischrassistischen Vorzeichen ist die Festschrift für Alfred Götze: Deutsche Wortgeschichte. Alfred Götze zum 65. Geburtstag am 17. Mai 1941, hg. v. Friedrich Maurer und Fritz Stroh, 3 Bde., Berlin 1943. 133 Germanistik und Nationalsozialismus. Eine eingehende Untersuchung verdienten sicher die Arbeiten Franz Rolf Schröders, des Herausgebers der „Monatsschrift“.
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derte die Deutung von Sprache als der dritten Kraft der Volksgemeinschaft. Auch die Durchsetzung der alten sprachpuristischen Ideale völkisch-nationaler Germanisten wird durch Ideologie und Propaganda bis hin zur Ausschaltung des „Allgemeinen Deutschen Sprachvereins“ verhindert. Eine auf gesellschaftliche Modernisierung ausgerichtete Politik steht zudem für die Aufwertung der Standardsprache auf Kosten der Dialekte. Unter diesen Vorzeichen konnte in den wenigen Jahren zwischen 1933 und 1945 keine genuin nationalsozialistische Sprachgermanistik entstehen. Die Interessen der völkisch-nationalen Germanistik des ersten Jahrhundertdrittels ließen sich nicht nahtlos in die neue Zeit eingliedern, auch wenn die Fachvertreter dem Nationalsozialismus überwiegend positiv oder zumindest doch nicht negativ gegenüber standen. Erst Anfang der 40er Jahre scheinen sich die etablierten Wissenschaftler den neuen Bedingungen angepasst zu haben. Davon zeugt vor allem der zweite Band des „Jahrbuchs der Deutschen Sprache“ und die Festschrift für Alfred Götze. Die Entwicklung der Sprachgermanistik in der Zeit des Nationalsozialismus lässt sich daher in drei Phasen untergliedern. Phase 1: Diffamierung und Vertreibung jüdischer Gelehrter. Damit verschwinden Forschungsfelder und mit ihnen Forschungspersönlichkeiten wie Sigmund Feist, Hans Sperber und auch Agathe Lasch, die das Fach hätten entscheidend beleben können. Phase 2: Die Festlegung auf die „Rasse“ als Basis der Volks- und Sprachgemeinschaft. Das Scheitern aller Versuche, Sprache als dritte Kraft neben den ideologischen Konstanten „Blut“ und „Boden“ einzuführen, nimmt den ansonsten durchaus vielversprechenden sprachtheoretischen und soziolinguistischen Ansätzen etwa Georg Schmidt-Rohrs oder Fritz Strohs ihre Dynamik und führt zur Überinterpretation der Rolle der „Muttersprache“ im Gefolge Leo Weisgerbers. Phase 3: Statt spektakulärer Ergebnisse setzen das Regime und seine Repräsentanten auf den Rückzug zur Normalität. Nach „erfolgreichem“ Abschluss der beiden ersten Phasen war die Sprachgermanistik hinsichtlich der Wahl ihrer Themen weitgehend autonom. Die alten Kerngebiete der Sprachforschung schälen sich erneut heraus. Politische Kontrolle wurde über das Habilitationsverfahren ausgeübt, nicht über die Art der wissenschaftlichen Leistung. Eine Zunahme der Beschäftigung mit der Gegenwartssprache ist erkennbar, die allerdings noch meist von sprachwissenschaftlichen Laien getragen wird. Das eigentliche Kennzeichen dieser dritten und letzten Phase liegt in der alltäglichen Anpassung einer ganzen Wissenschaftlergeneration an ein verbrecherisches Regime. Auf diese Weise wäre es der Politik wohl auch langfristig gelungen, über eine erneute Professionalisierung der Wissenschaft systemstabilisierend tätig zu werden. Für viele Sprachgermanisten scheint – in deutlicher Abgrenzung zu den sprachwissenschaftlichen Laien – die Betonung des Rassegedankens nur ein Ornament gewesen zu sein, dessen man sich bediente, um am Aufbau einer neuen Zeit Anteil zu haben oder zumindest ungestört weiter arbeiten zu können.134 Das Beispiel Adolf Bach zeigt, das in diesem Sinne eindeutige Stellen nach dem Krieg leicht ersetzt werden konnten, ohne dass sich ein Text dadurch in seiner wissenschaftlichen Aussage wesentlich verändert hätte. Was dann im Text stehen blieb, war der national-konservativen Sprachgermanistik der Vorkriegszeit verblüffend ähnlich. Zwölf Jahre Sprachgermanistik waren damit weitgehend ausgewischt, gerade viele der ambitioniertesten Autoren wie Maurer und Stroh wendeten sich nach 1945 vor allem Themen der älteren deutschen Literatur zu.135 Für die alte These 134 Kritischer wertet Gerd Simon, Kontinuitäten und Brüche in der linguistischen Bedeutungsforschung, in: Georg Bollenbeck – Clemens Knobloch (Hg.), Semantischer Umbau der Geisteswissenschaften, S. 175181, der pauschal zwischen „Sprachfaschismus und „Rassenfaschismus“ unterscheidet. 135 Für viele der „Neuerer“ wie Maurer, Stroh, Brinkmann, aber natürlich auch Weisgerber, steht eine Entscheidung darüber – trotz einzelner Versuche – noch immer aus, ob ihre ideologische Verstrickung eine
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Peter von Polenz‘, der 1967 eine besondere Anfälligkeit gerade der traditionellen diachronen Sprachwissenschaft für die Bejahung des Nationalsozialismus erkennen wollte, gibt es dagegen bei genauerer Betrachtung keine überzeugenden Hinweise. Es waren vielmehr die sich – wie Alfred Götze – kulturwissenschaftlich öffnenden Vertreter der „Deutschkunde“ und gerade auch die sich als „modern“ verstehenden Vertreter der sprachtheoretisch und gegenwartsbezogen ausgerichteten Volkssprachenforschung, die nationalsozialistische Denkstile favorisierten. Das von Otto Behaghel vertretene Expertentum der älteren junggrammatischen Tradition hat sich allerdings stets nur gegen den fachlichen Dilettantismus der nationalsozialistisch inspirierten Sprachwissenschaft gewendet, nicht gegen diese Weltanschauung selbst. Als Gegengewicht zur politischen Vereinnahmung des Faches konnte es daher nicht funktionieren. Dies zu erwarten hieße aber ganz sicher ohnehin, die Möglichkeiten einer sprachwissenschaftlichen Methode weit zu überschätzen. Für die Entwicklung und Akzeptanz der historischen Sprachgermanistik in der Bundesrepublik hatte diese Fehleinschätzung jedoch, ebenso wie die Vertreibung von Wissenschaftlern wie Sigmund Feist, Hans Sperber oder Agathe Lasch, weitreichende Folgen.136
methodische, hier vor allem soziolinguistische Innovation kategorisch ausschloss. Clemens Knobloch geht davon aus, dass aus dem Studium der „gemeinschaftsbildenden“ Sprachfunktionen seit den 20er Jahren Impulse für die Sprachsoziologie und Varietätenlinguistik hervorgegangen sind. Clemens Knobloch, Über die Schulung des fachgeschichtlichen Blickes: Methodenprobleme bei der Analyse des „semantischen Umbaus“ in Sprach- und Literaturwissenschaft, in: Georg Bollenbeck – Clemens Knobloch (Hg.), Semantischer Umbau der Geisteswissenschaften, S. 232. 136 Frau Prof. Dr. Ruth Römer danke ich sehr für die wohlwollend-kritische Durchsicht des Manuskripts.
GERMANISTIK BIRGITTA ALMGREN „O Jahrhundert, o Wissenschaften! Es ist eine Lust zu leben!“ Bei der Bücherverbrennung im Mai 1933 vor der Universität in Berlin zitierte der in Heidelberg promovierte Germanist Joseph Goebbels den alten Humanisten Ulrich von Hutten, als er triumphierend feststellte, das Zeitalter des Intellektualismus sei zu Ende. Niemand habe geglaubt, dass „so schnell und radikal in Deutschland aufgeräumt werden könnte“.1 Goebbels sprach von dem tiefen Verantwortungsgefühl der Dichter und Germanisten als Retter aus der angeblich kulturellen Krise. Aus den Reden der Germanisten bei den Bücherverbrennungen in Deutschland geht hervor, wie sie ihre Aufgabe religiös-kultisch verstanden. In Bonn beispielsweise forderte Hans Naumann die Studenten auf: „So verbrenne denn, akademische Jugend deutscher Nation, heute zur mitternächtigen Stunde an allen Universitäten des Reichs, – verbrenne, was Du gewiß bisher nicht angebetet hast, aber was doch auch Dich wie uns alle verführen konnte und bedrohte.“ In Göttingen beschwor Gerhard Fricke die „kopernikanische Wende und Umprägung des Fühlens, Wollens und Denkens, des sozialen, politischen und kulturellen Wertens. Diese Wendung setzt an die Stelle von Demokratie, Liberalismus, Individualismus und Humanismus, an die Stelle des Manchestertums mit seinen Entwicklungszielen zum Atomismus und Kollektivismus – den völkischen Sozialismus als das schlagende Herz im Organismus der Nation ...“. Gerade die Germanisten sollten an die Stelle alles Artfremden „den völkischen Sozialismus als das schlagende Herz im Organismus der Nation“ setzen.2 Die Reden, die Vertreter der Germanistik anläßlich der Kundgebungen der NS-Studentenschaft bei den Bücherverbrennungen unter dem Motto „Wider den undeutschen Geist“ hielten, zeigen, wie die Germanisten meinten, eine kulturpolitische und nationalpädagogische Aufgabe bekommen zu haben und sich daher mit Begeisterung in den Dienst des Dritten Reiches stellten. Sie redeten und schrieben für den „deutschen Geist“ gegen „artfremde Zivilisationsliteraten“, für „deutsche Tiefe“, für Dichtung aus „irrationalen Gründen“, gegen Werke von „kaltem Verstand“. Sendboten deutschen Volkstums So waren auch viele Germanisten bereit, dem NS zu dienen, als ihnen bei einer geplanten nationalsozialistischen Neuordnung Europas eine Schlüsselstellung zugewiesen wurde. In den Akten der Deutschen Akademie, der Nordischen Gesellschaft und des DAAD wird ersichtlich, dass das NS-Regime Germanisten mit ideologischen Aufträgen als Agenten ins Ausland entsandte. Germanisten wurden nicht nur Sendboten des germanisch-deutschen 1 2
Der Angriff vom 11. Mai 1933. Goebbels hatte denselben Doktorvater in Heidelberg wie der ins Exil getriebene Richard Alewyn. Siehe dazu Fischer, Malte Jens (1987): „‚Zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald‘. Germanisten im Dritten Reich.“ In: Merkur 41, 1987, Heft 1. S. 12-25. Hier S. 16. Die Reden wurden in Völkischer Beobachter und in Der Angriff referiert. Zitate aus den Reden auch in Voßkamp, Wilhelm (1985): „Kontinuität und Diskontinuität. Zur deutschen Literaturwissenschaft im Dritten Reich.“ In: Lundgreen, Peter (Hrsg.) (1985): Wissenschaft im Dritten Reich. Frankfurt am Main.
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Volkstums, sondern von ihnen wurde auch Spitzeltätigkeit verlangt, sie sollten Berichte über die Einstellung zum Nationalsozialismus im Ausland nach Berlin senden.3 Dabei wurde u.a. Schweden wichtiges Ziel einer getarnten NS-Kulturpolitik: Es ging darum, „die schwedische Seele im Geheimen zu erobern“.4 Deshalb liegt in deutschen und schwedischen Archiven ergiebiges Quellenmaterial vor, da die Lektoren der Deutschen Akademie sowie der DAAD regelmäßig Berichte nach Deutschland schickten. Besonders die Akten im Auswärtigen Amt und im Bundesarchiv Berlin (BArch) mit den Tätigkeitsberichten der Lektoren der Deutschen Akademie und den Akten des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (des REM) beleuchten, wie die Germanistik in der geistigen Kriegsführung eingesetzt wurde.5 Erforschung der Geschichte der Germanistik In diesem Artikel wird – aufgrund der zur Verfügung stehenden Seiten natürlich nur skizzenhaft – versucht, die damalige Germanistik in Deutschland sowohl aus deutscher Perspektive als auch aus einer internationalen Perspektive zu beleuchten. Vieles ist über die Rolle der Germanistik6 als Disziplin im Dritten Reich geschrieben worden. Auf dem Gebiet germanistischer Fachgeschichtsforschung ist eine beachtliche Menge von Arbeiten erschienen, die Personen, Institutionen und Zeitschriften im Dritten Reich methodisch reflektiert behandeln. Germanisten wie Wolfgang Adam, Holger Dainat, Jürgen Fohrmann, Wolfgang Höppner, Ludwig Jäger, Christoph König, Peter Lundgreen, Utz Maas, Gerd Simon, Wilhelm Voßkamp und zahlreiche andere sind u.a. den Fragen nach Kontinuität und Diskontinuität in der Germanistik nachgegangen.7 Ihre Forschungen zeigen die Viel3 4 5
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Siehe dazu u.a. Höppner, Wolfgang (1997): Germanisten auf Reisen. Die Vorträge und Reiseberichte von Franz Koch als Beitrag zur auswärtigen Kultur- und Wissenschaftspolitik der deutschen NSDiktatur in Europa. In: TRANS: Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Nr. 2. Siehe dazu Almgren, Birgitta (2001): Illusion und Wirklichkeit. Individuelle und kollektive Denkmuster in nationalsozialistischer Kulturpolitik und Germanistik in Schweden 1928-1945. Södertörn Academic Studies Nr. 7. Stockholm. Vgl. auch u.a. Jäger (2003): „Erringung der geistigen Führung in Europa. Zur Rolle der ‚deutschen Akademie‘ in der Kultur-Außenpolitik des NS-Systems.“ In: Kirsch, Frank-Michael/Almgren, Birgitta (Hrsg.) (2003): Sprache und Politik im skandinavischen und deutschen Kontext 1933-1945. Aalborg. S. 41-60; Höppner, Wolfgang (1998): „Der Berliner Germanist Franz Koch als ‚Literaturmittler‘, Hochschullehrer und Erzieher.“ In: Gesine Bey (Hrsg.): Berliner Universität und deutsche Literaturgeschichte. Studien im Dreiländereck von Wissenschaft, Literatur und Publizistik. Frankfurt am Main u. a. In diesem Artikel wird Germanistik als Bezeichnung für deutsche Literatur- und Sprachwissenschaft verwendet. Damals existierte keine strikte Trennung zwischen Literatur- und Sprachwissenschaft. Der schwankende Gebrauch von Germanistik, deutsche bzw. germanische Philologie und Literaturwissenschaft als Bezeichnungen des Faches im Dritten Reich ist interessant. In den Akten der Deutschen Akademie und des Reichserziehungsministeriums wird vorwiegend die Bezeichnung Germanistik gebraucht. Germanisten selbst verwendeten den Begriff eher selten. Der Redakteur der GRM, Franz Rolf Schröder, dessen Artikel in der GRM 1929-1943 Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft und Religionswissenschaft behandeln, war zuerst Professor der deutschen Philologie, 1938 Professor der germanischen Philologie. Edward Schröder meinte, das ”unschöne Geschäftswort” Germanistik sollte man „auf die Antiquariatskataloge“ beschränken. Für Jacob Grimm waren bekanntlich Germanisten Juristen, Historiker und Philologen, die sich deutscher Wissenschaft widmeten. Jacob Grimm selbst gebrauchte meistens den Ausdruck Germanist nicht für die Philologen, sondern dem früheren Gebrauch gemäß in Bezug auf die Erforscher des deutschen Rechts. Er verwendet Germanisch und deutsch synonym. Vgl. auch das Vorwort in Von Deutscher Art in Sprache und Dichtung von 1941, in dem Franz Koch darstellt, wie sich schon in der mittelalterlichen Welt „der entscheidende Wandel vom Germanischen zum Deutschen“ vollzieht. Einen frühen Beleg für die aus Germanist abgeleitete Fachbezeichnung Germanistik gibt Rudolf Hildebrand, seit 1869 Professor für Deutsche Philologie in Leipzig, allerdings zieht er die Bezeichnung Deutsche Philologie vor: „... ‚germanist‘ und ‚germanistik‘ ist und bleibt mir barbarisch.“ Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, 1873, Sp. 1. Siehe dazu u.a. Wissenschaft im Dritten Reich, hrsg. von Peter Lundgreen (1985). Siehe ferner Wolfgang Höppner (1995): „Mehrfachperspektivierung versus Ideologiekritik. Ein Diskussionsbeitrag zur
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schichtigkeit der Germanistik. Der jetzige Herausgeber des Euphorion, Wolfgang Adam, hat die Geschichte des Euphorion nachgezeichnet und stellt fest, dass obwohl sich die Zeitschrift als solche offen zum NS bekannte und ohne Druck von außen sogar den Titel in Dichtung und Volkstum änderte, um die Verbundenheit mit der nationalsozialistischen Ideologie auszudrücken, auch unpolitische Beiträge von wissenschaftlichem Rang erschienen.8 Auch Holger Dainats Untersuchung über die Deutsche Vierteljahrschrift, deren „Verhältnis zum NS-Regime eher von Distanz geprägt war,“9 zeigt, dass es nicht nur eine nationalsozialistische Germanistik gegeben hat, sondern auch eine Germanistik im Nationalsozialismus, die ideologisch nicht unbedingt konform mit den Doktrinen der Machthaber ging.10 In diesem Zusammenhang sollte auch ein wichtiges Zentrum für die Erforschung der Geschichte der Germanistik erwähnt werden, die 1972 im Marbacher Deutschen Literaturarchiv eingerichtete Arbeitsstelle: Der Marbacher Arbeitskreis für Geschichte der Germanistik, der kontinuierlich in seinen Mitteilungen über wissenschaftsgeschichtliche Forschungen berichtet. Wie war es möglich gewesen, dass Germanisten Menschheit und Volkstum, Humanität und Nationalität als Antithesen darstellten und damit den Nationalsozialismus und antisemitische Verfolgungen legitimierten? Erst in den 1960er Jahren stellten Studenten und jüngere Dozenten ihre alten Lehrer zur Rede. In Vorlesungsreihen an den Universitäten in Tübingen, München und West-Berlin wurde die germanistische Fachgeschichte durchleuchtet: „Wie konnte die Germanistik im Dritten Reich zu einer Deutschwissenschaft erweitert werden, zu einer Wissenschaft vom deutschen Menschen?“11 Einen wichtigen Meilenstein in den Analysen zur Geschichte der Germanistik bildet der Germanistentag in München 1966.12 Sowohl die Gesamtgeschichte der Germanistik als auch viele Teilaspekte wurden auf der Tagung beleuchtet. Eberhard Lämmert betonte, dass es schwierig sei, eine spezifische Richtung innerhalb der Germanistik auszumachen, die von sich aus zu nationalsozialistischer Anfälligkeit und zur Gleichschaltung disponiert hätte. Die Gesamtdispo-
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Methodik der Wissenschaftsgeschichtsschreibung.“ In: Zeitschrift für Germanistik. 1995, Nr. 3. S. 624633. Adam, Wolfgang: „Einhundert Jahre Euphorion“. In: Euphorion 88. Band (1994), 1. Heft. S. 55. „‚wir müssen ja trotzdem weiter arbeiten‘. Die Deutsche Vierteljahrsschrift vor und nach 1945“. Sonderdruck aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 1994. Siehe auch Vorträge über dieses Thema, die im Oktober 1993 auf einem Symposium des Marbacher Arbeitskreises im Deutschen Literaturarchiv gehalten wurden: Barner, Wilfried, und Christoph König (1996): Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945. Siehe auch die umfassende gründliche Erforschung der Literaturpolitik im Dritten Reich von Barbian, Jan-Pieter (1995): Literaturpolitik im „Dritten Reich“. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. Frankfurt am Main. Viele wissenschaftsgeschichtliche Arbeiten, deren Gegenstand vorwiegend die Literaturwissenschaft im Dritten Reich ist, sind veröffentlicht worden, zu nennen sind u.a.: Horst Denkler und Karl Prümm, Uwe Ketelsen und Hartmut Gaul-Ferenschild, der 1993 die Werke des Germanisten Hermann Pongs in einer personengeschichtlich orientierten Studie analysierte; Petra Boden und Bernhard Fischer haben 1994 eine Bibliographie und ein Nachlassverzeichnis des Berliner Germanisten Julius Petersen veröffentlicht. Eine wertvolle schriftliche und bildliche Dokumentation jener Epoche ist Klassiker in finsteren Zeiten, Ausstellungskatalog des Deutschen Literaturarchivs, hrsg. von Bernhard Zeller 1983. Conrady, Karl Otto (1967): „Deutsche Literaturwissenschaft und Drittes Reich.“ In: Nationalismus in Germanistik und Dichtung. Dokumentation des Germanistentages in München vom 17. bis 22. Oktober 1966. Hrsg. von Benno von Wiese und Rudolf Henß. Berlin. S. 37-60. Hier S. 42. Vgl. auch Lämmert, Eberhard u.a. (1967/1980): Germanistik - eine deutsche Wissenschaft. Siehe auch Fohrmann und Voßkamp (1994): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Vgl. auch den Fall Schneider/Schwerte, wie der SS-Hauptsturmbannführer Schneider BRD-Hochschulrektor Schwerte wurde, siehe u.a. Ludwig Jäger (1998): Seitenwechsel. Der Fall Schneider/Schwerte und die Diskretion der Germanistik. München Für Literaturhinweise zu Schneider/Schwerte siehe ferner Schöttler, Peter (1999): „Von der rheinischen Landesgeschichte zur nazistischen Volksgeschichte oder Die ‚unhörbare Stimme des Blutes‘.“ In: Schulze, Winfried, und Otto Gerhard Oexle (Hg.) (1999): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. S. 89-113. Hier S. 105- 107. Dokumentation im bereits erwähnten Sammelband Nationalismus in Germanistik und Dichtung 1967 und in Germanistik – eine deutsche Wissenschaft 1967.
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sition der Wissenschaft selbst – so Lämmert – mit dem seit Beginn der Fachgeschichte geltenden Auftrag, eine deutsche Wissenschaft zu sein, stelle einen Hauptgrund für die Gefährdung dar. Es mache ihm und seinen Kollegen zu schaffen, dass im Dritten Reich Gelehrte wie Hermann Pongs, Josef Nadler, Herbert Cysarz, Ernst Bertram „... jahrelang mit dem Vokabular der NS-Propaganda ihre eigene Sprache durchsetzen und so deutschen Geist mit einer politischen Macht von zynischer Selbstherrlichkeit sich wirr verschwistern sehen ...“.13 Nach dem Zusammenbruch der DDR wurde die Frage nach den Beziehungen der Germanistik zu Politik und Öffentlichkeit erneut aktualisiert. Gibt es Parallelen zur Germanistik in der DDR und in der NS-Diktatur? Wie reagierten Germanisten, als ihnen erneut ein ideologischer Auftrag zugewiesen wurde und sie dabei die Nützlichkeit ihrer Forschung und ihres Unterrichts unter Beweis stellen konnten?14 Heute gibt es auch außerhalb Deutschlands ein neues Interesse unter den Germanisten für die Geschichte des eigenen Faches. Der Schweizer Germanistik wurde 1996 eine Studie Germanistik und Politik gewidmet, in der der schweizerische Literaturwissenschaftler Julian Schütt zeigte, dass es sich während des Dritten Reiches in der Schweizer Geschichte nicht nur um Geld und Gold drehte, sondern dass auch schweizerische Germanisten sich in den nationalsozialistisch beeinflussten ideologischen Machtfeldern bewegten.15 In den USA analysierte Magda Lauwers-Rech die heikle Situation der amerikanischen Germanisten als Kulturvermittler und Träger des deutschen Kulturerbes in den dreißiger und vierziger Jahren in ihrer Arbeit Nazi Germany and the American Germanists. Als sie die Reaktionen der amerikanischen Germanisten auf die vom Nationalsozialismus beeinflusste Forschung der deutschen Kollegen analysierte, konnte sie ein sehr vorsichtiges Verhalten im Werturteil bei den amerikanischen Germanisten feststellen. Nur sehr ungern haben sie ihre Kollegen in Deutschland kritisiert, eher haben sie es vorgezogen zu schweigen.16 Das wachsende Interesse an der Germanistik im Nationalsozialismus belegten nicht zuletzt viele Vorträge auf dem X. Internationalen Germanistenkongress in Wien „Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“ im September 2000. In der Sektion 22 unter der Leitung von Christoph König und Andreas Gardt wurde die Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in der Zeit des NS nicht nur in Deutschland, sondern auch in Argentinien, China, Großbritannien, Italien, Japan, Polen, Schweden und in der Schweiz beleuchtet.17 Auf welche Art sich die Germanistik im Nationalsozialismus durch eine zunehmende Anreicherung mit nationalistischen und rassistischen Elementen inhaltlich und methodisch veränderte, ist ausführlich analysiert und dokumentiert worden. Die offizielle Germanistik in Deutschland war von nationalsozialistischen Vorstellungen durchdrungen, und Fachvertreter huldigten dem Nationalsozialismus. In den Traditionsfeldern der Germanistik gab es 13 14
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Lämmert, Eberhard (1967): „Germanistik - eine deutsche Wissenschaft“ in: Nationalismus in Germanistik und Dichtung. S. 15-36. Hier S. 24. Die Beziehungen der Germanistik zu Politik und Öffentlichkeit in den Diktaturen des Dritten Reiches und der DDR bilden den thematischen Schwerpunkt in dem Sammelband: Boden, Petra, und Holger Dainat, (Hrsg.) (1997): Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert. Berlin. Siehe Schütt, Julian (1996): Germanistik und Politik. Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus. Zürich. Siehe dazu Magda Lauwers-Rech (1995): Nazi Germany and the American Germanists. New York: Peter Lang. Siehe das Programm der IVG 50 Jahre Internationale Vereinigung für Germanische Sprach- und Literaturwissenschaft. X. Internationaler Germanistenkongress. 10-16. September 2000 an der Universität Wien. Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000 „Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“. Hrsg. von Peter Wiesinger. Bd. 63. „Aktuelle und allgemeine Fragen der germanistischen Wissenschaftsgeschichte.“
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aber auch andere starke Strömungen seit den Tagen der Brüder Grimm, in denen Germanisten ihre Arbeit fortführten und unpolitische Texte publizierten. Gerade in den Berichten der Germanisten aus dem Ausland treten die Komplexität und die Differenzierungen in den verschiedenen Positionen der Fachvertreter hervor. Als Repräsentanten der deutschen Sprache und der deutschen Kultur im Ausland mussten die entsandten Germanisten sich ständig mit dem Nationalsozialismus und der Germanistik in Deutschland auseinandersetzen. Es wird deutlich, welche Funktion die NS-Ideologie bekommen konnte. Ihre Berichte spiegeln oft die Enttäuschung der frustrierten nationalsozialistischen Beamten, als ihre Erfahrungen der Wirklichkeit mit ihren idealisierten Vorstellungen kollidierten und ihre Illusionen zerbrachen. Denn gerade in den scheinbar persönlichen Ereignissen, Reaktionen und Entscheidungen der Einzelpersonen wird Geschichte deutlich. Wissenschaftler wurden zwischen Anpassung und Integrität hin- und hergerissen, als Fragen zur Verantwortung der Wissenschaft und zur Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft brennend aktuell wurden.18 „Voran die Kulturpolitik, hinterher die Wirtschaft, zum Schluß die eigentliche Außenpolitik“19 Als der NS-Staat nach der Phase der inneren Konsolidierung zur äußeren Expansion überging, wurde die auswärtige Kulturpolitik intensiviert. Wichtig für die Position der Kulturpolitik war Adolf Hitlers Rede auf dem Nürnberger Reichsparteitag im September 1937, in der er betonte, dass im Rahmen der NS-Gesamtpolitik besonders der Kulturpolitik eine große Bedeutung zukomme, denn das nationalsozialistische Deutschland sei „Träger und Wächter einer höheren Kultur“.20 Das Reichserziehungsministerium, das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, das Auswärtige Amt und die Auslandsorganisationen der NSDAP versuchten alle, auf die deutsche auswärtige Kulturpolitik einzuwirken. Ende 1937 konnte das Auswärtige Amt die Führung der deutschen auswärtigen Kulturpolitik stärker an sich ziehen.21 Für eine bevorstehende Neuordnung Europas sollten die Geisteswissenschaftler vom Standpunkt des Nationalsozialismus aus die Entwicklung der Vergangenheit im Hinblick auf die Zukunft interpretieren. In diesen Plänen hatten u.a. die Deutsche Akademie und der DAAD ihre kulturpolitische Funktion gleich nach der NS-Machtübernahme zugewiesen bekommen. Deutsche Germanisten gingen als Kundschafter und Agenten mit Aufträgen für Lehr- und Vortragstätigkeit ins Ausland. Sie sollten Schlüsselpersonen und dabei besonders Auslands-Germanisten für das neue nationalsozialistische Deutschland werben sowie Beobachtungen zur politischen Lage im Gastland und zur Haltung der Gastgeber gegenüber dem „neuen Deutschland“ rapportieren.
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Siehe dazu Almgren (2001). Durch empirische Detailstudien wird konkret dargelegt, wie die Praxisfelder und Netzwerke der deutschen und schwedischen Germanisten in Schweden aussahen. Anhand der Fallbeispiele können Denkmuster, Vorstellungen und interkulturelle Prozesse sichtbar werden. Richtlinien für die nationalsozialistische kulturpolitische Eroberung der nordischen Länder. 1934/1935. Denkschrift der Nordischen Gesellschaft. Blatt 34. Bundesarchiv Berlin (BArch.), NS 8/222. Siehe dazu „Die große Rede des Führers auf der Kulturtagung.“ In: Völkischer Beobachter vom 9. September 1937. Institut für Zeitgeschichte, MZ 9/37. Nr. 19. Mikropress. Vgl. dazu auch Richtlinien für die Arbeit der Zweigstelle des Deutschen Akademischen Austauschdienstes im Ausland. Berlin, den 20. Dezember 1938. Unterzeichnet Twardowski. Akten betreffend: Deutscher Akademischer Austauschdienst (Dr. Kappner). Bd. 2. 1937-1938. Gesandtschaft Stockholm, 95 Abt. 27. Auswärtiges Amt (AA), Politisches Archiv.
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Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden die Kriegsgeschehnisse als entscheidende geistig-kulturelle Auseinandersetzungen dargestellt.22 Das Reichserziehungsministerium rief alle deutschen Geisteswissenschaftler dazu auf, sich für einen Kriegseinsatz zu engagieren. Dabei werden Kompetenzwirrwarr und Machtstreitigkeiten zwischen der NSDAP, dem Auswärtigen Amt, (AA), dem Reichserziehungsministerium und dem Amt Rosenberg aus den Akten ersichtlich, besonders in Zusammenhang mit der sogenannten Aktion Ritterbusch, als der Rektor der Universität Kiel, der Jura-Professor Paul Ritterbusch, die Geisteswissenschaftler dazu aufforderte, ihren Beitrag zur Erringung des deutschen Sieges und zur Nachkriegsordnung Europas unter deutscher Hegemonie zu leisten.23 Für die nationalsozialistische Kulturpolitik im Ausland war es von entscheidender Wichtigkeit, Stand und Entwicklung der Germanistik „ihre volle Aufmerksamkeit“ zuzuwenden, als die militärische Expansion von einer geistig-kulturellen Expansion begleitet werden sollte. Es hieß, dass Germanistik und deutsche Literaturgeschichte für die Vermittlung einer Vorstellung vom Wesen des Deutschtums von ausschlaggebender Bedeutung waren. Die Parallele zu den Feldzügen der deutschen Wehrmacht ist einleuchtend: Die Soldaten sollten Länder besetzen, die Germanisten sollten Themen und Begriffe und damit die Gedanken der Menschen besetzen. Die Kriegsmetaphorik ist in den Berichten über Kulturpolitik auffallend. In einem Brief an das Auswärtige Amt in Berlin wurde es so formuliert: „Was wir im Geisteskampf versäumen, muss der deutsche Soldat mit seinem Blut bezahlen.“24 Aber in Dokumenten, die die Schlüsselstellung der Germanistik für die Entwicklung des Deutschlandbildes bei der Eroberung Europas hervorheben, wird die miserable Lage hinsichtlich nationalsozialistischer Germanistik bloßgelegt. Es wird kritisch festgestellt, dass trotz verstärkter Förderung auf den Gebieten der Germanistik kaum bedeutende wissenschaftliche Ereignisse oder Veröffentlichungen zu verzeichnen seien. In einem Bericht des Reichssicherheitshauptamtes vom Jahre 1939 heißt es beispielsweise, die Zeit der Programme und der Konjunktur sei vorüber, aber die versprochenen Leistungen und grundsätzlichen Neuerungen seien „bisher zum grossen Teil ausgeblieben“. Es werde „in den alten Wissenschaftsmethoden weiter gearbeitet“. Als positive Ausnahme und Vorbild wurde jedoch der Germanist Heinz Kindermann genannt.25 Im Herbst 1942 wurde für eine Tagung über die Lage der Germanistik und der deutschen Literaturgeschichte an den nichtdeutschen wissenschaftlichen Hochschulen Kontinental-Europas vom Auswärtigen Amt und der Auslandsabteilung des Reichserziehungsministeriums ein Positionspapier erarbeitet. Dieses Schreiben enthielt Richtlinien, nach de22
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Bericht über die Tagung der kulturpolitischen Referenten des Auswärtigen Amtes in Berlin 25.-30. August 1941, u.a. über die kulturpolitischen Richtlinien für „den Aufbau des neuen Europas“. BArch, R 51/472. Blatt 0202164-72. Vgl. auch Hausmann, Frank-Rutger (1998): Deutsche Geisteswissenschaft im Zweiten Weltkrieg. Die Aktion Ritterbusch (1940-1945). Siehe dazu auch Hausmann, Frank-Rutger: „Die Aktion Ritterbusch.“ In: FAZ, 13.3.1999. Zum „Kriegseinsatz“ der deutschen Geisteswissenschaftler siehe Frank-Rutger Hausmann (Hrsg.): Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933-1945. Wien 2002 und „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg – Die „Aktion Ritterbusch“ (1940-1945). Krottenmühl 1999. Die NSDAP kritisierte jedoch Professor Ritterbusch dafür, dass er unter Außerachtlassung der Partei gehandelt habe. Siehe dazu das Schreiben vom Stab, Stellvertreter des Führers in München, 19.3.1941. BArch, NS 8/185. Blatt 136-137. Brief an das Auswärtige Amt, Kulturabteilung für Schweden, von Professor Wolf Meyer-Erlach in Jena, 17.1.1944. Auswärtiges Amt, Politisches Archiv, R 64378. Hochschulwesen Nr. 5. 1.Vierteljahreslagebericht 1939 des Sicherheitshauptamtes, BArch, R 58/717. Band 2. Bl. 67-68. Über den schlechten nationalsozialistischen „Nachwuchs auf dem Gebiet der Germanistik sowohl wissensals auch haltungsmäßig“, siehe ferner Schreiben vom Stab, Stellvertreter des Führers, am 26.3.1941. BArch, NS 8/185; weiter auch über „Geistige Kriegsführung“ und die „Desorganisation und der Ressortstreit zur Zeit durch das eindeutige Versagen des Reichserziehungsministeriums“ siehe Plan vom 4.3.1943. Der Hauptleiter, Hauptamt Wissenschaft. BArch, NS 8/241. Bl. 70.
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nen das Auswärtige Amt und das Propagandaministerium schon längst arbeiteten. Die Germanistik erfülle aber nicht die Voraussetzungen, „die unerläßlich sind, wenn den heranwachsenden Generationen im Ausland ein zutreffenderes Bild vom Wesen des Reiches gegeben werden soll“. Das Ende des Lageberichts, der „streng vertraulich“ gestempelt war, mündete in Maßnahmen zur Förderung der Stellung der Germanistik und der Kenntnis des neuen Deutschlands und des deutschen Geistes an den ausländischen wissenschaftlichen Hochschulen.26 Besprechungen „über die Lage der Germanistik an den ausländischen Hochschulen Europas“ hatten einen so „streng vertraulichen Charakter“, dass Niederschriften oft nicht angefertigt wurden.27 In diesen Dokumenten wurde folglich bestätigt, was die Germanisten in ihren Forschungsbeiträgen in dem berüchtigten Sammelwerk Von deutscher Art in Sprache und Dichtung mit dem Rahmenthema „Deutsches Wesen im Spiegel deutscher Dichtung“28 betonten: Auch Germanisten sollten ihren Beitrag leisten, „um den deutschen Sieg zu sichern und zu vollenden in der Weltgeltung deutschen Geistes“, wie es der Germanist Leo Weisgerber ausdrückte.29 Germanistik – Inhalte, Methoden, Weltbilder und Funktionen Mit Hilfe rassistisch gefärbter Stilanalysen und Formulierungen von der „Volks- und Blutgemeinschaft“ unterstützten damals viele Germanisten in Deutschland den wachsenden Nationalismus und die Vorstellung von der Dichtung als „Wesensabdruck und Wesensstärkung“ germanisch-deutscher Art.30 Das Konkrete und das Individuelle wurden als positivistisch abqualifiziert, in den literatur- und sprachwissenschaftlichen Analysen rotierten stattdessen die Antithesen des „Artgemäßen“ oder des „Artfremden“, die sich jeder empirischen Verifizierbarkeit entzogen. Die Tendenzen, das Germanentum zu vergöttlichen und das Irrationale zu verherrlichen, waren aber nichts Neues, nur ihre Intensität und Radikalität waren neu. Die Quellen sind in den breiten geistigen Strömungen des Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, Kulturpessimismus und der romantischen Germanenmythologie vorhanden. Wie u.a. Andreas Gardt (2000) und (2003) gezeigt hat, reichen die im NS bevorzugten Themen und Argumentationsformen zurück bis ins 17. Jahrhundert.31 Allerdings muss festgehalten werden: „Natürlich ist das Konzept des sprachlichen Weltbildes bei Wilhelm von Humboldt nicht identisch mit dem eines Wanke aus den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts [...]Und natürlich ist die Verknüpfung von Sprache und Volk bei den Schlegels oder den Grimms nicht dieselbe wie die der Ethnologie und Anthropologie des späten 19. 26 27 28 29 30
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„Zur Lage der Germanistik und der deutschen Literaturgeschichte an den nichtdeutschen wissenschaftlichen Hochschulen Kontinental-Europas.“ BArch, R 51/35. Abschrift. Blatt 0206085-86. So heißt es u.a. in einem Schreiben vom Reichserziehungsministerium, gez. Scurla, vom 3. Dezember 1942 an die Deutsche Akademie in München. BArch, R 51/35. Blatt 0206027. Vgl. Klassiker in finsteren Zeiten (1983), S. 261-262. Weisgerber, Leo (1941): „Die deutsche Sprache im Aufbau des deutschen Volkslebens.“ In: Von deutscher Art in Sprache und Dichtung. S. 3-41. Hier S. 41. Bekannte Literaturwissenschaftler, die durch ihre Arbeiten den NS unterstützten, waren vor allem: Gerhard Fricke, Heinz Kindermann, Franz Koch, Walther Linden, Josef Nadler und Hermann Pongs. Siehe dazu u.a. Lämmert (1967), Klassiker in finsteren Zeiten (1983); Lundgreen (1985) und Sturm, Peter (1995): Literaturwissenschaft im Dritten Reich. Germanistische Wissenschaftsformationen und politisches System. Wien. Zu Koch siehe besonders erwähnte Arbeiten des Literaturwissenschaftlers Wolfgang Höppner an der Humboldt-Universität, Berlin. Gardt, Andreas (Hrsg.)(2000): Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Berlin 2000 und Gardt (2003): „Wann ist ein Germanist ein ‚Nazi‘? Überlegungen zu einem schwierigen Thema.“ In: Kirsch, Frank-Michael/Almgren, Birgitta (Hrsg.): Sprache und Politik im skandinavischen und politischen Kontext 1933-1945. S. 21-39.
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Jahrhunderts und auch nicht dieselbe wie die eines sprachwissenschaftlichen Agitators von 1933. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass bei Humboldt, den Grimms, den Schlegels, bei Fichte und zahlreichen anderen Sprachwissenschaftlern und -philosophen des früheren und mittleren 19. Jahrhunderts grundsätzlich dieselbe Neigung zur Hypostasierung von Sprache besteht wie bei Autoren der Zeit bis 1945, zur diffusen Übereinanderblendung von Sprachcharakter und Volkscharakter, zum Pathos nationalen (bei einigen: nationalistischen) Einheitsdenkens, zur ahistorischen, ins Mythische und Sakrale ausgreifenden Beschreibung von Sprache.“32 Traditionsfelder statt Traditionslinien Als Träger des germanischen Kulturerbes spielte die Germanistik folglich eine schicksalsschwere Rolle, indem sie den politischen Auftrag erhielt, zur Vereinigung der germanischen Welt beizutragen. In den Traditionsfeldern der Germanistik findet eine Erhebung des Deutschen und Germanischen zu einer abstrakten positiven kulturtragenden Norm und Vision statt. In der NS-Diktatur ging es den Nationalsozialisten um lineare Entwicklungslinien: Von Tacitus‘ Germania, über Arminius/Hermann, Luther und Friedrich den Großen führte der direkte Weg zu Hitler. Mit dem Schlagwort „Von Herder zu Hitler“ beriefen sie Jacob Grimm und Johann Gottfried Herder als Vorläufer ihrer Anschauungen. Der Germanist Benno von Wiese sah 1940 eine geistesgeschichtliche Entwicklung von Herder, die „bis in die Bewegung des Nationalsozialismus hinein weitergewirkt hat.“33 Die literaturwissenschaftliche Stilforschung entwickelte sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg immer radikaler zu einer Nationalitätsforschung. Die Werke der Dichter, Künstler und Musiker wurden zum Ausdruck der Nation, der Ethnizität, der Rasse.34 Die Individualität und die ästhetischen Aspekte traten dagegen in den Literaturanalysen zurück. Ständige Vergleiche fixierten auch Gegensätze: Stereotype wurden zu Vorurteilen, und die biologistische Sicht fand Eingang in vielen Texten. Mit der Erforschung des „art-undwesenmäßig Deutschen“ wollten Germanisten zu den Traditionen Jacob Grimms zurückkehren. Die Aufgabe der Forschung sei, der „Sprache und Dichtung, dieser Selbstoffenbarung der deutschen Seele, deutscher Art, das reine Gold ihres Wesens abzugewinnen“35. Damit könnte die Einheit der deutschen Dichtung „als Beweis für die Einheit des Wesens, der rassischen Substanz“ aufgebaut werden.36 Im Vorwort zum Deutschen Wörterbuch 1854 hatte Jacob Grimm geschrieben: „... der ruhm unserer sprache und unsers volks, welche beide eins sind ... [...]Deutsche geliebte landsleute, welches reichs, welches glaubens ihr seiet, tretet ein in die euch allen aufgethane halle eurer angestammten, uralten sprache, lernet und heiliget sie und haltet an ihr, eure volkskraft und dauer hängt in ihr.“37 Die deutsche Sprache erhält in der Beschreibung Grimms einen sakralen Wert, was im Dritten Reich von Bedeutung werden sollte. In diesem Sinne stellte 1989 Wolfgang Werner Sauer, der den Duden im Dritten Reich untersucht hat, fest:
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Gardt (2003), S. 38. Kölnische Volkszeitung vom 4. August 1940, Beilage Siehe dazu u.a. die nationale Formpsychologie bei Heinrich Wölfflin (1915/1918):Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, über beispielsweise holländische Subtilität gegen flämische Massigkeit. S. 7. Vgl. auch Dilthey, Wilhelm (1933): „Klopstock.“ In: Von deutscher Dichtung und Musik. Aus den Studien zur Geschichte des deutschen Geistes. Besonders S. 301-324. Der Germanist Franz Koch in Von deutscher Art in Sprache und Dichtung (1941), S. VI. Koch (1941), S.VIII. Vorwort zum Deutschen Wörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1854.
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„Sprachlich gesehen gab es 1933 keine Wende, es mußte nur ein Sprachgebrauch, der längst existierte, in großen Teilen der deutschen Sprachgemeinschaft gang und gäbe war, im Wörterbuch registriert werden.“38 Es gibt aber keine einheitliche chronologische Traditionslinie von Herder zu Hitler. Der Terminus Traditionsfelder drückt deutlicher als der Terminus Traditionslinie aus, dass innerhalb der Germanistik eine Mannigfaltigkeit von unterschiedlichen Forschungsrichtungen, Ideen und Methoden existiert hat. Gewiss gab es Komponenten in der deutschen Geistesgeschichte, die unter Ignorierung aller anderen Tendenzen verflacht, vergröbert und isoliert werden konnten, um in die nationalsozialistische Kulturpolitik eingepasst zu werden. Die Verherrlichung der deutschen Sprache z.B. konnte leicht übernommen werden. Die geistige Welt der von den Nationalsozialisten beschworenen Zeitbilder war aber komplexer als das vereinfachte nationalsozialistische Bild davon. Im Nationalsozialismus wurde die fundamentale Bedeutung einer Germanistik, deren Kern aus den Wertekategorien deutsch-germanisches Volk und deutsch-germanisches Wesen bestand, immer wieder hervorgehoben. Dabei handelte es sich nicht mehr in erster Linie um Wissenschaft, sondern um Fundierung und Legitimierung der NS-Politik. An Stelle einer nationalsozialistischen Literaturtheorie gab es frequente Leitbegriffe wie Führer, Gemeinschaft, Held, Rasse und Volk. Jeder Begriff hat eine Reihe von negativen und positiven Kollokationen und Wertvorstellungen: Rasse z. B. hat positiv germanisch und nordisch, negativ jüdisch, westlich und slawisch. Volk hat beispielsweise positiv Boden, Heimat, Seele, Wesen und negativ Dekadenz, entwurzelt, Intellektualismus und Internationalismus. Aber hinter denselben sprachlichen Zeichen können sich auch verschiedene semantische Inhalte verstecken. Begriffe wie Deutschtum, Gemeinschaft, Wesen und Volk konnten ideologisch unschuldig sein, aber auch zu höchst brisanten Begriffen werden. Bekanntlich definierte Jacob Grimm Volk: „volk ist der inbegriff von menschen, welche dieselbe sprache reden, das ist für uns Deutsche die unschuldigste und zugleich stolzeste erklärung.“39 Im Nationalsozialismus wurde statt Sprache dagegen der biologische Faktor, das Blut, identitätsschaffende Komponente. So konnten wohlvertraute Begriffe aus den Traditionsfeldern des 19. Jahrhunderts als „Fähre“, wie Utz Maas (1984) sagt, in die nationalsozialistischen Denkmuster und Vorstellungen führen.40 Die Entwicklung gewisser Traditionen im NS darf aber nicht als ein mechanisch zwangsläufiges Kausalprojekt betrachtet werden. Statt dessen sollte man die verschiedenen Traditionsfelder beobachten, in denen sich Forschungsrichtungen, Ideen und Methoden entwickeln. Versuche, die Traditionsfelder zu beleuchten, anstelle von schematisierten, stilisierten Entwicklungslinien sind unumgänglich, um der Komplexität und der Mehrdimensionalität Rechnung zu tragen. Bereits 1941 analysierte der Herausgeber der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Paul Kluckhohn, die zeitgenössische Literaturwissenschaft, für die er im übrigen den Terminus Dichtungswissenschaft bevorzugte, da Literat im Dritten Reich zu einem Schimpfwort geworden war. In seiner Übersicht wurden besonders folgende Forschungsrichtungen hervorgehoben: • die geistesgeschichtliche, von Wilhelm Dilthey angeregt • die formanalytische, die in Anlehnung an Heinrich Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe von 1915 Dichtung als Ausdruck der Ethnizität erfasste 38 39 40
Sauer, Wolfgang Werner: „Der Duden im ‚Dritten Reich‘“. In: Sprache im Faschismus. Hrsg. von Konrad Ehlich. Frankfurt am Main. S. 104-119. Hier S. 114. Jacob Grimm 1846/1884, S. 557. Die Eröffnungsrede zu den „germanistenversammlungen zu Frankfurt am Main am 24., 25. und 26. September 1846“. In: Kleinere Schriften. Bd. 7. Maas, Utz (1984): „Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand.“ Sprache im Nationalsozialismus. Versuch einer historischen Argumentationsanalyse. Opladen.
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• die ethnologische, vor allem durch Josef Nadler mit der Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften vertreten • die existentielle Stilforschung, von der Existenzphilosophie Martin Heideggers beeinflusst • die völkische Literaturbetrachtung • die rassisch-biologische.41 Germanisten wie Gustav Roethe und August Sauer propagierten schon vor dem Ersten Weltkrieg eine völkische Germanistik als „Deutschkunde“. Das Völkische und Nationale waren bereits virulent und mussten nur noch instrumentalisiert und zugespitzt werden. Besonders die geistesgeschichtliche Richtung, die sich mit den ethnologischen literaturwissenschaftlichen Theorien von Josef Nadler vermischte, konnte das kulturelle, ästhetische Fundament des Nationalsozialismus befestigen: Die Germanistik als Vermittler kultureller Identität. Josef Nadler war August Sauers Schüler und hatte seine Ideen von der Bedeutung von Stamm, Sippe und Landschaft auf die Literatur übertragen. Auch die Sprachwissenschaft im Nationalsozialismus knüpfte an ältere kulturwissenschaftliche Traditionen an mit ihrer Betonung der Verbindungen zwischen Klima, Landschaft und Sprachcharakteristiken. Sprachunterschiede und Sprachwandel wurden im Dritten Reich mit diffusen Rassenverhältnissen erklärt. Ein immer wiederkehrendes Thema war die Frage der Wechselbeziehung von Sprache, Denken und nationalen Verschiedenheiten. Eindimensionale, simplifizierende biologistische Denkmuster sahen Nationalcharaktere als genetisch bedingt an. Die innere Sprachform – in direkter Anlehnung an Leo Weisgerbers Theorien von der Muttersprache – wurde als Denkform der verschiedenen Völker definiert. Die geistesgeschichtliche Methode war von Wilhelm Dilthey und Rudolf Unger mit ihren Arbeiten aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts inspiriert. Für Literaturwissenschaftler wie Herbert Cysarz, Gerhard Fricke, Heinz Kindermann und Julius Petersen, die alle im Dritten Reich führende Repräsentanten der Literaturwissenschaft waren, stand das Studium des deutschen Wesens, des deutschen Geistes in Vergangenheit und Gegenwart unter Betonung sogenannter metaphysischer Urprobleme im Fokus. Die formanalytische Methode mit Vertretern wie Oskar Walzel und Ernst Bertram orientierte sich früh an Wölfflins Kunstkategorien, aber auch an den Ideen des George-Kreises mit einer Mythisierung des literarischen Prozesses. Die existentielle Methode wurde von Hermann Pongs42 und Julius Petersen vertreten, Herausgeber der Zeitschrift Euphorion, die 1934 opportunistisch den Namen Dichtung und Volkstum annahm. Unter Berufung auf Martin Heidegger setzte sich Pongs mit der existentiellen Methode von den für den „westlichen Geist“ typischen psychoanalytischen Ideen und von der geistesgeschichtlichen Methode mit einer „begrifflichen bildlosen Sprache“ ab. Er wollte das „bewußt-unbewußte Dasein“, „das Kunstwerk als Gehalt-Gestalt-Einheit, als wirkende Gestalt“ studieren. Kluckhohn unterscheidet auch zwischen der rassisch-biologischen und der völkischen Methode, eine Trennung die sich kaum aufrechterhalten lässt, besonders nicht als völkisch bei Hitler als Schlüsselwort verwendet wird: Die völkische Weltanschauung sei die Grundlage der neuen Politik und erkenne „die Bedeutung der Menschheit in deren rassischen Urelementen.“43
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Kluckhohn, Paul (1941): „Deutsche Literaturwissenschaft 1933-1940. Ein Forschungsbericht.“ In: Forschungen und Fortschritte XVII, 1941. Abgedruckt in Gilman, Sander L. (Hrsg.) (1971): NSLiteraturtheorie. Eine Dokumentation mit einer Einleitung von Cornelius Schnauber. Frankfurt am Main. S. 244-264. Zu Pongs siehe die Dissertation von Gaul-Ferenschild, Hartmut (1993): National-völkisch-konservative Germanistik. Kritische Wissenschaftsgeschichte in personengeschichtlicher Darstellung. (= Literatur und Wirklichkeit. Bd. 27. Hrsg. von Uwe-K. Ketelsen). Bonn. Hitler, Adolf (1925/1927/1933): Mein Kampf. S. 420.
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Aus der heutigen Perspektive ist m.E. dieser Methodenpluralismus nur scheinbar, da alle diese Forschungsrichtungen dieselbe Synthese erstrebten und das gemeinsame Ziel hatten, „das Wesen des deutschen Geistes“ zu ergründen oder wie es auch ausgedrückt wurde: „Auch in der Literaturgeschichte ist national und sozialistisch nicht zu trennen. [...] Denn wir wollen ja endlich auf das Ganze. Wir wollen nicht eine neue Methode, nicht einmal eine neue Wissenschaft. Wir sind ausgezogen, eine neue Einheit des Lebens zu finden.“44 Auseinandersetzung zwischen Germanistik und NS am Beispiel der GRM Als Musterbeispiel für eine belegbare Vielfalt an Traditionen sei hier die Zeitschrift Germanisch-Romanische Monatsschrift angeführt. Seit der Gründung der Zeitschrift 1909 wurde über die Jahre in verschiedenen Artikeln das gemeinsame europäisch-abendländische Erbe hervorgehoben. In Analysen der Zeitschrift 1929-1943 konnte neben den üblichen nationalen Stereotypen auch eine Reaktion gegen eine Stilforschung, die sich lediglich als Nationalitätsforschung verstand, festgestellt werden.45 In Artikeln gegen antihumanistische und antiinternationalistische Tendenzen wurde Kulturaustausch als Bereicherung, nicht als Bedrohung angesehen. Redakteur Franz Rolf Schröder distanziert sich vor 1933 von der starken Betonung der biologischen, volkhaften und rassenkundlichen Aspekte, wie sie in anderen germanistischen Publikationen zum Ausdruck kamen. Nach 1933 folgt er dieser Linie, allerdings viel vorsichtiger, in zurückhaltender, abgewogener Form. Er verwendet eine Strategie, die ich Crimino-laudo-Technik nenne, indem er zuerst seine Kritik beispielsweise an der rassenbiologischen Literaturbetrachtung äußert, um sich dann zurückzuziehen, indem er die Form und stilistische Schönheit lobt. Er publizierte „politisch erwünschte“ Aufsätze in seiner Zeitschrift gleichzeitig mit kritischen Artikeln. In seinen eigenen Artikeln gibt es eine Absage an die zeitgemäßen Ideale, manchmal auch Proteste gegen eine Idyllisierung und Verklärung des Germanentums, gegen eine Überbetonung der völkischen und rassenkundlichen Aspekte in philologischen Arbeiten. In der Bücherschau ist Kritik an nationalsozialistischen Elementen auf der wissenschaftlichen Ebene feststellbar u.a. durch eine indirekte getarnte Schreibtechnik: Camouflage durch Analogien, Parallelen und Rückprojektionen. Neben Artikeln mit nationalsozialistischen Komponenten war auch eine Vermeidung nationalsozialistisch besetzter Forschungsbereiche ersichtlich, eine Art Immunität und Resistenz. Die Zeitschrift GRM spiegelt folglich eine wechselnde Skala verschiedener Haltungen der Philologen dem NS gegenüber. In der Mehrzahl der Artikel, 59 % von insgesamt 374 Artikeln, ist keine Interaktion erkennbar, 8 % zeigen Ambivalenz, 21 % enthalten Komponenten, die Bestandteile der NS-Ideologie sind, während 12 % der Artikel Kritik gegen Komponenten des NS, gegen antihumanistische und antiinternationalistische Tendenzen enthalten. 46
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Weydt, Günther (1933): „Die germanistische Wissenschaft in der neuen Ordnung.“ In: Zeitschrift für Deutsche Bildung 9, 1933. S. 638-641. Siehe dazu Almgren, Birgitta: (1997): Germanistik und Nationalsozialismus: Affirmation, Konflikt und Protest. Traditionsfelder und zeitgebundene Wertung in Sprach- und Literaturwissenschaft am Beispiel der Germanisch-Romanischen Monatsschrift 1929-1943. Uppsala. Siehe dazu Almgren (1997).
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636 Politisch erwünschter Artikel – ein konkretes Beispiel
Ganz konkret kann anhand eines Artikels von Fritz Martini vom Jahre 1942 in der GRM demonstriert werden, wie sich die angeblich vielen literaturwissenschaftlichen Methoden im Nationalsozialismus vermischten. Als Forschungsgegenstand hat Martini Christian Dietrich Grabbes niederdeutsches Drama gewählt.47 Ein ideologisch passenderes Thema hätte Martini nicht wählen können, denn Grabbe war zu einer Art Kultfigur stilisiert und laut Martini begriff Grabbe die „Geschichte als das große Kampffeld der Menschheit“, eine gängige sozialdarwinistische Betrachtungsweise im Dritten Reich. Schon Ende des 19. Jahrhunderts war das Niederdeutsche in Mode gekommen und als idealisierte Sprach- und Lebensform verklärt worden. Die Nationalsozialisten haben diesen Traditionsstrang aufgegriffen. Für Martini ist Grabbes Werk ein „höchst gegenwärtiges Sehen eines ‚ewigen Deutschland‘ in seiner zeitlosen Volksnatur“. Er bettet Grabbes Dramen in einen legendärhistorischen Kontext ein: Der damals erfolgreiche Rembrandtdeutsche wird als Autorität zitiert; die Hermannsschlacht und Friedrich Barbarossa, die im neu erwachenden Nationalismus des Wilhelminischen Kaiserreiches eine Renaissance erlebt hatten, werden – so Martini – als zeitlose Gegenwärtigkeit gefeiert. Grabbes Drama Die Hermannsschlacht sei ein „Bekenntnis zu der angeborenen Welt von Stamm und Rasse“. Im Artikel werden die, laut Martini, übergreifenden, grundlegenden und determinierenden Begriffe Volk, Stamm, Landschaft, Rasse und Zeitgeist hervorgehoben. Schon am Anfang deklariert der Textverfasser seinen theoretischen Ansatz: Grabbes Drama aus seinem stammestümlich-landschaftlichen, rassisch-biologischen Wachstumsgrunde heraus begreifen zu wollen. Grabbe wird „erbmäßig biologisch“ betrachtet: „Vom Volksganzen aus gesehen hat das Niederdeutsche die germanische Grundkraft unseres Volkskörpers besonders rein bewahren können.“ Martini scheint ausdrücklich betonen zu müssen, dass seine Studien kein Nachgeben gegenüber aktuellen Forschungsrichtungen bedeuteten, er folge vielmehr einem durch die „dichterische Erscheinung“ selbst gesetzten Gebot. Wie allen Lesern offenbar ist, passt dieser Ansatz merkwürdig gut auch zu den vom Regime ideologisch erwünschten Texten.48 Philosophischer Kontext Im Artikel über Grabbe sind Reminiszenzen der deutschen Philosophie, wie sie Martini als Germanist integriert hat, enthalten. Das wird nicht nur aus der Lexik ersichtlich, sondern auch hinsichtlich der Ideen. Es handelt sich um Intertextualismen, die mit mehreren Allusionsmarkern indiziert werden. Als Basis liegt den Artikeln die Forderung des Philosophen Dilthey für die Geisteswissenschaften im Unterschied zu den Naturwissenschaften zugrunde, die Welt und die Phänomene nicht zu „erklären“, sondern zu „verstehen“. Das „Erlebnis“ ist zentral, um die „Ausdrücke“ zu verstehen. Aus der Phänomenologie Edmund Husserls hat Martini die „Wesenschau“ übernommen. Nicht nur an die Gedanken Husserls, der 1928 von seiner Professur emeritiert wurde, sondern auch an seinen Schüler und Nachfolger als Professor in Freiburg, Martin Heidegger, erinnern viele begriffliche Anklänge. Bei Heidegger führten die phänomenologische Analyse und die „Wesenschau“ zur Kritik der Vernunft, zur Ablehnung der modernen Wissenschaften und zu einem Existentialismus, in dem auch die Außenwelt zu Bewußtseinsinhalten des eigenen Ichs wird. Die Heidegger47 48
„Chr. D. Grabbes niederdeutsches Drama“ in: GRM 30:1942. S. 87-106 und S. 153-171. Martinis Karriere in der NS-Zeit laut Personalakte im Bundesarchiv Berlin: Disputation 1933, Habilitation 1940, Dozentur an der Hamburger Universität im April 1940, 1944 Professur.
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sche Einsamkeit und „Geworfenheit“ des Menschen ist auch in Martinis Texten über Grabbe präsent, zudem gibt es wörtliche Übernahmen. Als Philosoph hatte Heidegger viele der Ideen, die im Schwange waren, subsumiert und den Intellektuellen in anziehender Form präsentiert. Sein und Zeit, 1927 publiziert, lieferte den Germanisten eine Menge alternativer Begriffe. Martini thematisiert Ideen, die schon Heidegger formuliert hatte. Im Leben gelte vor allem eine aktivistische, heroische Grundhaltung. Als Rektor hielt Heidegger am 23. Mai 1933 eine Rede über das Wesen der Wissenschaft, die ein Teil der drei Ordnungen sei: Arbeitsdienst, Wehrdienst und Wissensdienst. Husserls Hoffnung auf die intellektuellen Traditionen und Möglichkeiten der Vernunft, der Wissenschaft und der Philosophie des Abendlandes war durch Heideggers Destruktion der Vernunft ersetzt. Wille, Instinkt und Irrationalismus als tragende Elemente im NS ersetzten Vernunft und diskursive Analyse. Hier liegt auch eine Erklärung für den auffallenden Mangel an Konkretion im Artikel von Martini, für die Ausklammerung der Empirie. Aber der Artikel versteht sich auch als Aufnahme der altehrwürdigen philosophischen Frage „was etwas ist“, nicht die materialistische „wie etwas funktioniert“. Inhalt und Struktur Martinis Artikel über Grabbe wurde damals als wissenschaftlicher Aufsatz eingestuft. Erwartungsgemäß sollte der Text funktionalstilistisch explikativ und informierend sein. Der Textverfasser führt aber keine literaturwissenschaftliche Analyse durch, er verfährt nicht deskriptiv und sachbezogen, vielmehr trägt er zur Mystifikation und Verklärung vieler zeittypischer Begriffe bei. Der Verfasser diskutiert wie Stamm und Landschaft die Persönlichkeit des Dichters determinieren: „Das Wesen des niederdeutschen Lebensraumes“. Grabbes Geschichtsbild wird als ein Kampffeld der Menschheit charakterisiert. Es sind Kräftespannungen, die aus „politisch-volklicher und epochaler Notwendigkeit“ entstehen, Blutsordnung und Stammesart erweisen sich als die entscheidenden Mächte, die die menschliche Existenz bestimmen. Grabbe wird zum Vorbild für einen historischen Dichter erklärt. Er zeigt nicht „den kühlen Abstand des wissenden Historikers“, sondern durch seine niederdeutsche Art verfüge er über eine ganz andere Tiefe. „... die Formung einer politischen Ordnung und Einheit des ganzen Volkes in der Auseinandersetzung mit dem Niedersachsentum und aus dem Einsatz seiner Kräfte. Darin bewährt sich ein bluthaft-stammestümlich gebundenes Geschichtsgefühl, nicht nur patriotisches Geschichtswissen“ (GRM 30:1942, S. 161). Wie schon aus dem Titel Chr. D. Grabbes niederdeutsches Drama hervorgeht, werden Grabbes Dramen als eine Einheit gesehen.49 Inhalt, Syntax und Stil der Dramen werden nicht von Grabbe als Dichter selbst bestimmt, es sind andere Kräfte, die hier im Spiel sind. Die angeborene Welt von Stamm und Rasse forme die Dramen, die von „westfälischniederdeutscher Art“ geprägt seien. Nicht nur der Inhalt und der Humor seien besonders rassisch geprägt, auch die sprachlich-formale Ausformung sei aus der antithetischen „Anlage im niederdeutschen Wesen“ erklärbar. Abschließend diskutiert der Verfasser das Übergreifende, seiner Ansicht nach das Wichtigste, das das ganze Werk durchströmt: Die Dichtungskräfte, die in dem „rassischen und stammestümlichen Wachstumsgrunde“ liegen, bestimmen die Struktur und die Gestalt des Werks und führen zurück auf „überindividuelle
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Die einzelnen Dramen werden nur nebenbei erwähnt, nicht einzeln besprochen: Don Juan und Faust, Marius und Sulla, Die Hermannsschlacht, Herzog von Gothland, Kaiser Friedrich Barbarossa, Hannibal, Napoleon, Heinrich VI.
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Wesensgesetzlichkeit“. Damit wird das Zentrale im Text markiert. Die Makrostruktur des Textes ist überall präsent: Dichtung ist Ausdruck von Stamm und Rasse. In einem dichten Satz von 27 Wörtern, der aber nur ein Verb enthält, subsumiert Martini: „Grabbe arbeitet das Heimatliche, Landschaftliche, Naturhafte, Stammestümliche, Volkskundliche, Germanische als nicht nur symbolische, sondern reale Dauer in der völligen Übertragung des gegenwärtigen Volksbildes auf die Vergangenheit heraus“ (GRM 30:1942, S. 159). Martinis Text hat eine stilistische und inhaltliche, eine ideologische Kohärenz, die in Lexemen wie Beispielsweise Lebensraum sichtbar wird. Martini setzt strategisch zusätzliche nationalsozialistische Bedeutungskomponenten ein. So spielte in Reden und im Denken im Dritten Reich bekanntlich der Begriff Lebensraum eine wichtige Rolle,50 indem er ein NSSchlagwort für die Ausdehnung des Reiches wurde. Stilprägende lexikalische und semantische Züge In dem Grabbe-Text von Martini finden sich Lexeme, die gebündelt auftreten, und als Schlüsselwörter gebraucht werden. Das Vokabular signalisiert die grundlegenden politischen und ideologischen Wertungen des Nationalsozialismus. Viele frequente Lexeme sind diffus und ohne Bedeutungsprofil, sie bekommen aber in diesem Text eine wichtige Signalfunktion in einer Art von Begriffsnetzen. Deshalb können sie vom Verfasser ohne Definition oder Präzisierung verwendet werden, sie evozieren nämlich andere Texte, andere größere ideologische Zusammenhänge. Die frequentesten Adjektivlexeme verteilen sich fogendermaßen:niederdeutsch wird – aus natürlichem Grund – mindestens 42mal verwendet, auch in Zusammensetzungen mit echt. Die Belege folgender Lexeme – mit Zusammensetzungen und Ableitungen – schwanken zwischen 15mal und 20mal in dem Artikel von Martini: nordisch, germanisch, deutsch, heldisch, heroisch. Andere im Nationalsozialismus bevorzugte frequente Adjektivlexeme im Text sind: brutal, fanatisch, gewaltsam, gigantisch, groß, hart, kämpferisch, kolossal, kühn, männlich, monumental, rücksichtslos, stählern, stolz, tapfer. Der dynamische konnotative Bedeutungsaspekt ist deutlich erkennbar. Mit der Verwendung dieser Wörter wird eine aktive positive Wirkung erzielt, wie es auch Heidegger in seiner Rektoratsrede von 1933 als Forderung formulierte. Die Schlüsselbegriffe des NS verteilen sich mit Zusammensetzungen und Ableitungen auf zwischen 25 und 35 Belege in dem Text: Volk/volkshaft/volkisch/völkisch; Art/Artung/arthaft/artbedingt; Rasse/rassisch; Stamm mit Ableitungen stammhaft, stämmisch, stammestümlich. Die Tatsache, dass diese Lexeme in derart hoher Frequenz vorkommen, zeigt, dass hier eine bewußte Wortwahl vorliegt, um die zugrundeliegende thematische Einstellung zu stützen. Volk, Art, Rasse scheinen ihren deskriptiven semantischen Inhalt verloren zu haben. Stattdessen sind sie Wertbegriffe geworden und als solche austauschbar. Die latente Polysemie der Begriffe kann eine Erklärung für die Bereitschaft und Empfänglichkeit der deutschen Bevölkerung für den NS sein. Bedeutungen sind konzeptuelle kognitive Einheiten. Die Differenzen zwischen den mentalen Bildern, den Prototypen, die diese Lexeme in den Köpfen der Menschen produzierten, waren mit größter Wahrscheinlichkeit beträchtlich. Die traditionellen Begriffe wie Volk, Art, Reich, Rasse, Boden und Leben erhielten einen neuen politischen Stellenwert. Besonders Volk ist zentral im Martini-Text im Sinne von „Menschen gleichen Blutes und gleicher Kultur“. Es ist interessant im Vergleich fest50
Meyers Lexikon 1936, Artikel Lebensraum.
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zustellen, wie die Nationalsozialisten die Begriffe Volk und Volksgemeinschaft besetzten, während dagegen es in Schweden dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Per Albin Hansson gelungen ist, den Begriff für die schwedische Sozialdemokratie zu gewinnen. Volk ist immer ein zentraler Begriff, um Volksnähe zu suggerieren.51 Von Martini wird der Begriff im Sinne von Gemeinschaft verwendet.52 Auffallend ist wie Martini nicht nur völkisch sondern auch volklich53 verwendet. Völkisch bekam die Bedeutung „rassisch und blutsmässig bedingt“, als positiver Gegenbegriff zu dem negativ konnotierten international. Obwohl Hitler die Vagheit und Unbegrenzheit des Wortes völkisch kritisierte, setzte es sich durch und wurde nach 1933 häufig als Synonym zu nationalsozialistisch verwendet. Martini verwendet beide Lexeme, ohne dass sich ein semantischer kontextbedingter Unterschied feststellen ließe. Eine Variante dazu im Text ist echt deutsch. Denkbilder Der oben skizzierte Sprachstil kann Indikator des Denkstils sein. So hat laut Martini „die rassische Zwiespältigkeit, die nordische und fälische Art“, Grabbes Werk geprägt. Persönlichen, kulturellen, sozialen oder ökonomischen Faktoren werden keine Bedeutung zugemessen, sie werden fast nicht erwähnt. Der Verfasser konstatiert ohne irgendwelche Belege, dass Grabbe sich heftig gegen „allen Liberalismus westlicher Prägung“ gewandt habe. Hier rückt Grabbe in die Gemeinschaft derer, die den konservativen und faschistischen Ideen huldigten. Grabbes Humor dann sei „an eine ursprunghafte Artanlage gebunden“ und sei „rassisch bedingt“. Der literarische Prozeß wird als biologischer Vorgang gesehen, ganz im Sinne der literaturwissenschaftlichen Ideen des NS. Heinz Kindermann sprach beispielsweise vom „Blutkreislauf der Seele“. Grabbes Dichtung wird mithin durchgehend aus biologischen und landschaftlich bedingten Aspekten betrachtet, eine Sehweise, die sich mit Josef Nadlers Orientierung in der Literaturgeschichtsschreibung völlig deckt. Auf Nadler verweist Martini dementsprechend mehrmals. Der Artikel wirft wegen seiner Widersprüchlichkeit viele Fragen auf. So sind die Helden in Grabbes Dramen überwiegend nicht Niederdeutsche. Wie kommt es dann, dass Grabbe, der laut Martini so tief „im Westfalentum verwurzelt“ war, und dessen Drama „von niedersächsischem Stolz emporgetrieben wurde“, über Hannibal, Napoleon und Don Juan dichtete? Mit Hilfe eines Zitats des Westfalen Peter Hille gibt Martini aber eine Erklärung, die eine ungewollt komische Wirkung erzielt: Es ist ein Menschenbild, das nordisch-germanischer Heldensage durchaus entspricht. Die Hartnäckigkeit niederdeutscher Art lebt in ihm – schon in Faust und vor allem in Don Juan: „[...]So ein Westfale muß auch der Prometheus gewesen sein!“ (GRM 30: 1942, S.156).54 „Männlich“ sei Grabbes Welt, selbst die Frauen erhielten „männliche Züge, einen gesteigerten mythischen Charakter“ und sie seien stolz wie die Helden, „tapfer und unbedingt“ und „bereit zu Kampf, Opfer und Leid, fähig zur Größe und von ausgeprägtem politischem Sinn“. 51 52 53 54
Vgl. die Entwicklung von Volk: Nach Leipzig 1989 hat der Begriff eine neue Dimension bekommen mit der Entwicklung von „Wir sind das Volk“ zu „Wir sind ein Volk“. Vgl. die auf Ferdinand Tönnies zurückgehende Distinktion von 1878 zwischen organischer Gemeinschaft und künstlicher Gesellschaft im NS. Der Große Brockhaus 1934 erklärt im Artikel Volkstum auch Volkheit als „gleiche Geistesrichtung und gleiche rassische Zugehörigkeit“. Vgl. dazu auch der „Rembrandt-Deutsche“ Julius Langbehn, der das „Niederdeutsche“ ständig positiv hervorhob.
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Nicht Grabbe an sich als konkrete historische Person und Dramatiker scheint für Martini zentral zu sein. Die Geschichte hat keinen Wert an sich, sondern bekommt einen Wert durch die Funktion als Spiegelbild, Bestätigung oder Feindbild. Gegenwärtig positiv konnotierte Eigenschaften projiziert der Text auf die Protagonisten in Grabbes Dramen. Der Artikel hat wenige Fakten, fast gar keine konkrete Substanz, stattdessen eine Menge appellativer persuasiver Formulierungen. Als Hauptfunktion des Textes ergibt sich somit die ideologische Beeinflussung des Lesers. Durch die oben angeführten emotional beladenen Schlüsselwörter anstelle rationaler Argumente will er die vage Vorstellung einer „rassischen Einheit“ wachrufen. Er unterlässt es, die Leser darüber aufzuklären, wie die vagen Begriffe, die nicht auf real existierende wahrnehmbare Verhältnisse oder Sachverhältnisse referieren, inhaltlich gefüllt werden sollen. Gefüllt werden können sie allenfalls mit der „faulen Mystik“ nationalsozialistischer Schlagwörter. In diesem Sinne mahnte schon Bertolt Brecht: „Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung und statt Boden Landbesitz sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht. Er nimmt den Wörtern ihre faule Mystik.“55 Früh hat auch Thomas Mann die Gefahren einer Germanistik erkannt, die dem Nationalsozialismus „wissenschaftliche“ Unterstützung mit ihrer Verwendung von Vokabeln wie z.B. völkisch, rassisch oder heldisch gab.56 Die Helden Grabbes denken – so Martini – „in weltgeschichtlichen Dimensionen“. Sie „verhüllen, verrätseln“ sich beständig gegenüber ihrer Umwelt – „daher ihre List und Diplomatie, ihre unheimliche Ausstrahlungskraft“. An der Faszination des Textverfassers den großen starken Männern gegenüber, die demokratische Ideale verachten, kann kein Zweifel bestehen. Der Artikel Martinis ist eine Legitimierung totalitärer Machtausübung. Die Interpretation des Artikels von Fritz Martini zu Christian Dietrich Grabbe zeigt, wie der Textverfasser ein Vokabular verwendet, in dem die grundlegenden politischen und ideologischen Wertungen zum Vorschein kommen. Die nationalsozialistischen Schlüsselwörter, dessen Bedeutungsprofil sehr diffus ist, bekommen eine Signalfunktion, indem sie andere nationalsozialistische Zusammenhänge evozieren. In dem Grabbe-Text gibt es keine distanzierte Analyse, keine konkreten Bezüge oder Belege. Dem Textverfasser geht es in erster Linie nicht darum, Grabbe und seine Dramen zu erläutern, stattdessen werden sie ideologisch funktionalisiert. Aus der Argumentation des Textverfassers geht hervor – allerdings nicht explizit ausgedrückt – dass sich im Dichter Grabbe NS-Ideologie, Philosophie und Literatur zu einer Synthese vereinigen.57 Der historische Kontext, soziologische und kulturelle Aspekte werden ausgeblendet, stattdessen formt sich der Text zu einer Hymne auf niederdeutsche germanische Art. Die Dramen Grabbes werden geistige Erscheinungen, in denen sich der imaginäre ewig konstante niederdeutsche völkische germanische Geist offenbart.
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Brecht, Bertolt (1934/1980): „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit.“ In: Brecht. Ein Lesebuch für unsere Zeit. S. 445-459. Hier S. 452. Mann, Thomas (1926/1960): „Pariser Rechenschaft.“ In: Tagebücher und Lebensabriss (=Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. XI): S. 9-97. Oldenburg. Hier S. 48. Laut Aussage am 18.9.1996 in meinem Interview mit Professor Egon Schwarz, Emeritus in the Humanities an der Washington University in St. Louis, habe Martini „Wiedergutmachung im Stillen“ geleistet, indem er nach dem Krieg jüdischen Forschern geholfen habe, u.a. der bekannten Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger, damit sie nach Deutschland zurückkehren konnten. Vgl. dazu auch Käte Hamburger selbst über Fritz Martini bei der Ehrenpromotion in Siegen am 25. Juni 1980: „Und dann war wieder Thomas Mann der Anlass, daß Fritz Martini in mein Leben trat und ihm im Jahre 1956 die entscheidende und glückliche Wendung gab: Stuttgart als neue Heimat und Wirkungsfeld mit allem, was an Lebensfreundschaft dazu gehört.“ In: Ehrenpromotion Käte Hamburger, hrsg. von Johannes Janota und Jürgen Kühnel. S. 39. Zu Fritz Martini und Egon Schwarz siehe auch Almgren (1997), S. 233.
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Die oben erwähnten Begriffe, die im Artikel Martinis frequent vorkommen, wurden besonders von u.a. Josef Nadler, Heinz Kindermann und Gerhard Fricke in ihren völkischnationalen Literaturgeschichten lanciert. Im Zentrum der Betrachtung steht das Deutsche mit höchstem Wert. Vor dem Hintergrund des Martinitextes kann man die sich nach 1945 vollziehende Wende der deutschen Literaturwissenschaftler zur werkimmanenten Interpretation nur zu gut verstehen. Gerade das Fehlen eines präzisierten literaturwissenschaftlichen Vokabulars verleitet zu einer diffusen poetischen Beschreibungssprache. Nach 1945 wurde die stammeskundliche Literaturbetrachtung Nadlers heftig kritisiert, denn „die Stämme schriftstellern nicht und die Landschaften dichten nicht“.58 Es ist interessant, den Literaturwissenschaftler Martini von 1942 mit dem Martini von 1991 zu vergleichen. In seiner Literaturgeschichte von 1991 gibt es auch einen Abschnitt über Grabbe. Dort haben sich nur zwei Reminiszenzen der geopsychischen Literaturbetrachtung von 1942 erhalten. Martini schreibt 1991: 1. Grabbe ist der „psychisch schwer belastete, unselig zerrissene Westfale“ 2. Grabbes Humor wird personifiziert wie damals 1942: „das Grotesk-Tiefsinnige des weniger romantischen als stammhaft niederdeutschen Humors, der einst im ‚Eulenspiegel‘ Posse und Ironie großartig mischte ...“.59 Das Bild des Dichters hat sich aber merkbar verschoben. 1942 waren Grabbe und seine Dramenhelden verklärte Ideale, „Willensmenschen von übermenschlicher Härte“, keineswegs nur psychisch zerrissene Personen. „Die großen hochklingenden Worte“ „Er sah Rosen und Marmor, wo ich nichts sah als Teufelsdreck, Giftfusel fürs Volk, eingeborene Mordlust und das sichere Verderben Deutschlands und Europas“ (Thomas Mann über den Germanisten Ernst Bertram).60 Einer der Schlüssel zur Antwort auf die Frage nach der Mobilisierbarkeit der Germanistik, nach Motivationen und Gründen für die Anpassung in der Zeit des NS-Regimes, kann in der Sprache selbst liegen. Sicher spielten auch Profilierungsstreben und Karrieredenken in dem Motivkomplex eine Rolle. Als aber deutsche Germanisten im Rahmen der Deutschen Akademie und dem DAAD als Sendboten des „neuen“ Deutschlands über ganz Europa geschickt wurden, waren sie fest überzeugt, dass „am deutschen Wesen die ganze Welt genesen“ sollte und brachten das alte Deutschland mit dem Kulturerbe mit sich. Dabei spielte die Sprache mit ihrer suggestiven Rhetorik eine entscheidende Rolle. Durch den Sprachgebrauch bekam der NS eine Resonanz sowohl unter schwedischen als auch deutschen Germanisten, da eine geistig-konzeptionelle Wahlverwandtschaft als Fundament vorhanden war. Wie linguistisch basierte Analysen gezeigt haben, waren es in den 1930er und 1940er Jahren nicht in erster Linie die „Unworte“, sondern umgekehrt wohlbekannte, gutklingende Begriffe, die den Weg zum NS bereitet und erleichtert haben.61 Es waren Begriffe, die spätestens seit den Tagen der Brüder Grimm vertraut waren und nun 58 59
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Gaul-Ferenschild (1993), S.45, zitiert einen der Kritiker, Otto Nickel. Martini, Fritz (1991): Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 19., neu bearbeitete Auflage. Stuttgart. S. 393f. Martini betont 1991, wie Grabbe kämpfte, um das Bild des Heroischen zu retten, „dessen Fragwürdigkeit er selbst doch einsah“. Eine auf Grabbe projizierte Einsicht, zu der Martini selbst schließlich gelangte? Im Text von 1942 ist sie jedenfalls weder bei Grabbe noch beim Textverfasser zu finden. Thomas Mann über den Germanisten Ernst Bertram, Brief vom 14.6.1953. Zitiert in Fest, Joachim C. (1963/1996): Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft. München/Zürich. S. 487. Vgl. Almgren (2001).
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mit veränderten Akzenten semantisch verschoben in der nationalsozialistischen Kulturpropaganda instrumentalisiert wurden. Durch die sprachlichen Übereinstimmungen meinten viele Germanisten, ein gemeinsames, emotionales Fundament im NS zu haben. Die archivierten Berichte und Briefe der Germanisten aus Schweden in der Zeit der NSDiktatur lassen die faszinierende Wirkung erkennen, die der NS offenbar ausübte, die emotionale Fesselung durch Fackelzüge und Lichtdome, dieses widersprüchliche Doppelgesicht des NS, das heute manchmal unverständlich scheint, da das grauenvolle Regime in allen Einzelheiten enthüllt worden ist. Die Sehnsucht nach Ganzheit und Reinheit, nach existentiellen Werten, die dem Alltag einen mythischen Überbau geben könnten, war stark. Es war eine Sehnsucht nach einem enthusiastischen Aufbruch weg von einer depressiven Kulturmüdigkeit und von einer öden Alltäglichkeit. Zu spät – wenn überhaupt – zerriss der Schleier der Illusion, als viele Germanisten erkannten, dass mehr von ihnen verlangt wurde und dass die NS-Repressionspolitik sie keineswegs auszunehmen gedachte. Wie die Analysen jedoch auch ergeben, wurden diese Risiken der „magischen Wörter“ wie der Philosoph Ernst Cassirer sie nannte, früh erkannt, in Schweden beispielsweise von dem Literaturwissenschaftler Olle Holmberg in Lund, der sich für größere Klarheit und Präzision in der Sprache einsetzte sowie auch von seinem Kollegen in Uppsala, dem strengen Professor für Deutsch John Holmberg, der dem NS kritisch gegenüberstand und alle „großen, hochklingenden Worte“ zurückwies. Gerade die Sprache konnte auch als Korrektiv gegen pseudoromantische Irrationalität wirken. Holmberg verlangte Analysen statt Visionen und hob die Integrität und Verantwortung der Wissenschaftler hervor. In einer seiner Vorlesungen wies er auf die latente Bereitschaft vieler Germanisten hin, sich von der Vernunft loszusagen und mit Hilfe der Sprache Wunschbilder und Illusionen zu schaffen, so wie Thomas Mann 1935 über den deutschen Germanisten Ernst Bertram treffend gesagt hat, dass er Rosen und Marmor sah, wo nur Teufelsdreck, Giftfusel und Mordlust steckten. Holmbergs Vorlesung in Uppsala, die die Anpassung der Wissenschaft in Deutschland beanstandete, wurde sofort wegen der Kritik an der nationalsozialistisch beeinflußten Sprachwissenschaft nach Berlin berichtet.62 Dass diese Vorlesung gemeldet und der Bericht aufbewahrt wurde, lässt die Bedeutung erkennen, die man der Germanistik zumaß. Auch die leiseste Kritik wurde vom NS-Regime sofort registriert. Deutschland – das Land der Dichter und Denker Bei schwedischen Germanisten ist von der politisch-kulturellen Aufgabe, die in Deutschland so betont wurde, weniger zu spüren. Dagegen führte die NS-Diktatur sie direkt in einen Loyalitätskonflikt: Durch ihr Studium und ihren Beruf hatten sie Deutschland und der deutschen Kultur viel zu verdanken und wollten den Ruf und das Prestige Deutschlands nicht schädigen. Deutschland war das Land der Dichter und Denker, das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“. Das Verschwinden und Versinken alles dessen, was sie geliebt hatten und wofür sie lebten, war zu erschreckend, so dass nur wenige den Mut aufbringen konnten, zu erkennen, dass Deutschland nicht länger Deutschland war. Sie standen alle in einer sprachgeschichtlichen Tradition, vor allem der des Niederdeutschen, da der Altmeister der niederdeutschen Philologie in Hamburg, Conrad Borchling, als Anreger und Berater eine große Rolle gespielt hatte. Allen schwedischen Germanisten war gemeinsam, dass sie die Einstellung vertraten, Wissenschaft und Kultur sollten außerhalb der wechselnden politischen Machtverhältnisse leben können. Darum waren sie bemüht, ihre beruflichen und wissenschaftlichen Beziehungen wegen der politischen Entwicklung nicht abzubrechen. 62
Siehe dazu Almgren (2001), S. 125-129.
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Als es darauf ankam, verfolgten Kollegen aus Deutschland zu helfen, verhielten sie sich passiv, obwohl gerade sie – mit ihrem humanistischen Erbe – hätten reagieren und agieren können, da sie durch ihre Kontakte mehr als die meisten anderen wußten, was in Deutschland tatsächlich passierte. Die Charakterisierung der skandinavischen Universitäten durch den Münchener Professor Otto Höfler, ehemals Lektor für Deutsch an der Universität Uppsala, als „Widerstandsnester“63 stimmt aber nicht, es lässt sich eine wechselnde Skala verschiedener Haltungen und Positionen an schwedischen Universitäten und graduell unterschiedliche Involviertheit im Nationalsozialismus unterscheiden. In den Berichten der deutschen Germanisten aus Schweden wird ersichtlich, dass der Wissenschaftsbegriff selbst kontrovers wurde. Wie ein roter Faden ziehen sich durch die analysierten Texte die Fragen nach Integrität oder Anpassung der Forschung. Alfred Rosenberg, Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP, betonte, dass die Rasse und Rassengegensätze alles bedingten: „Es gibt keine voraussetzungslose Wissenschaft, sondern nur Wissenschaft mit Voraussetzungen.“64 Auch Martin Heidegger, der damals Rektor der Universität Freiburg war, plädierte im November 1933 für eine neue nationalsozialistische Wissenschaftlichkeit: Nicht Lehrsätze und Ideen sollten Regeln sein, sondern der Führer selbst und die „deutsche Wirklichkeit“ sollten ihr Gesetz sein.65 Die schwedischen Professoren für Deutsch in Uppsala und Göteborg, John Holmberg und Axel Lindqvist, wandten sich gegen die NS-Ideologisierung der Wissenschaft, indem sie ein wissenschaftliches Ideal mit Respekt vor Fakten verteidigten und die Notwendigkeit eines Strebens nach Objektivität in der Wissenschaft hervorhoben, während dagegen die Professoren für Deutsch in Stockholm und Lund, Erik Wellander und Erik Rooth, Verständnis für die nationalsozialistische Relativierung der Wissenschaft zeigten. Ihre Einstellungen wurden nach Berlin rapportiert. In Göteborg markierte der Professor für Deutsch, Axel Lindqvist, deutlich den Unterschied zwischen NS-Deutschland und deutscher Kultur. Lindqvist wurde im Oktober 1935 gleichzeitig mit dem bekannten exilierten Hamburger Philosophen Ernst Cassirer in Göteborg in sein Amt eingeführt und sprach in seiner Antrittsvorlesung über die Begriffe Gedankenfreiheit und Kulturkampf. Aus dem Archivmaterial geht hervor, dass Lindqvist 1938 aus Protest gegen die nationalsozialistische Gewaltpolitik den Vorsitz der SchwedischDeutschen Vereinigung niederlegte und sich mehrmals von der Deutschen Akademie distanzierte, ohne seine Anhänglichkeit an die deutsche Kultur aufzugeben. Diskurshistorische semantische Analysen ergeben jedoch eine widersprüchliche Komplexität: In Zusammenhang mit der Lektoratsbesetzung an der Hochschule Göteborg 1938 verwendete Lindqvist in Briefen und Gutachten eine subtile, indirekte, vorurteilsvolle Schreibweise, die zum antisemitischen und frauenfeindlichen Diskurs gehört und stellte dabei die bekannte Professorin aus Hamburg, Agathe Lasch und die Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger zurück.66 „Im Interesse der politischen Neutralität“ wollte er keine deutschen Emigranten anstellen. Es war eine Neutralität, die nicht neutral war. Für Agathe Lasch bedeutete es eine Katastrophe, die Deportation nach Theresienstadt.
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Otto Höfler im Brief 24.3.1942 an den Reichsführer SS Heinrich Himmler. Bundesarchiv Berlin, BDC, Ahnenerbe, B 255. Der Mythos des 20. Jahrhunderts, 48. Aufl. 1935. S. 119. „Deutsche Studenten.“ Freiburg im Breisgau, den 3. November 1933. Photokopie der Rede in: Härd, John Evert (1989): Nibelungenseposets moderna historia. Stockholm. S. 156. Siehe dazu „Die nicht Berücksichtigten – Agathe Lasch und Käte Hamburger“ in Almgren (2001), S. 285-300.
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In der Zeit der NS-Diktatur war es in Schweden durchaus nicht unüblich, heftiger Antinazi zu sein und zur gleichen Zeit antisemitische Vorurteile auszudrücken. In seinen Vorlesungen und in seinen Briefen plädierte Axel Lindqvist dagegen genau wie der Rektor der Hochschule Göteborg, Curt Weibull, für Gedankenfreiheit und Toleranz. Germanisten im Auftrag – DA und DAAD Wie die Deutsche Akademie (DA) vor dem Zweiten Weltkrieg arbeitete, kann anhand eines Fallbeispieles des deutschen Germanisten Fritz Rose in Schweden gezeigt werden. Die Analyse seiner Korrespondenz mit der Deutschen Akademie macht sichtbar, wie das klassische deutsche Kulturerbe, das über ein großes Vertrauenskapital verfügte, in der NSKulturpropaganda im Ausland eingesetzt wurde. Aus Roses Texten spricht die Überzeugung, eine große kulturpolitische Aufgabe erfüllen zu müssen. Als Germanist hielt er es für seine Pflicht zu zeigen, wie Schweden durch den NS vor zerstörerischen Kräften gerettet werden könne: Deutschlands Mission in der Welt. Es wird deutlich, wie Fritz Rose die Sprachmuster der NS-Kulturpropaganda für das echt Deutsche, das Reine und Schöne übernommen hat. Dagegen fehlt in seinen Texten die zentrale Komponente des NS, der Antisemitismus. Politische Gläubigkeit und NSbeeinflusste Vorstellungen korrespondieren seinen Texten zufolge mit seiner Tätigkeit als Lehrer der Deutschen Akademie. Die sprachlich tradierten stereotypischen Vorstellungen von den Stammesverwandten im Norden kollidierten mit den eigenen Realitätserfahrungen und verursachten Frustration und Enttäuschung. Die Tätigkeit der Deutschen Akademie während des Zweiten Weltkrieges kann am Beispiel des Deutschen Akademie-Lektors Johannes Klein in Schweden erhellt werden. Wegen der jüdischen Herkunft seiner Frau verlor er 1938 seine Dozentur in Marburg und musste Deutschland verlassen. Durch die Hilfe von schwedischen Freunden bekam er ein Lektorat für Deutsch an der Hochschule Göteborg – eine Stelle, die er wegen nazistischer Aktivitäten verlor. Sein ganzes Leben lang hielt Johannes Klein an den Idealen eines vermeintlich heroischen, germanisch-deutschen Volkstums fest. Er war fest überzeugt von seiner Aufgabe im Dienst einer heiligen Sache. Für ihn war die deutsche Literatur in der Tradition von Wilhelm Dilthey und Ernst Bertram Lebensdeutung und Lebenshilfe. Wie diese träumte er von einem neuen Menschentypus, der erfüllt von neuen Werten und strenger Schönheit durch geheime Zeremonien dem Absoluten näher kommen sollte. Bereits in seinem Fachverständnis als Germanist gab es folglich eine Disposition und eine Bereitschaft für nationalsozialistische Vorstellungen. So konnte er die brutalen Konsequenzen der Ideologie ausblenden – auch die Konsequenzen für seine eigene Familie – und stattdessen positive Ziele und Werte auf den Nationalsozialismus projizieren. Die Grenzen zwischen Illusion und Wirklichkeit verwischten sich. Meine Textanalysen weisen auf auffallende Parallelen zwischen dem deutschen Literaturwissenschaftler Johannes Klein und den schwedischen Wissenschaftlern Fredrik Böök und Sven Hedin hin. Wie diese bejahte auch Johannes Klein den angeblichen Idealismus, die positive Kraft und mitreißende Begeisterung im Nationalsozialismus. Bestimmende Faktoren in ihren politischen Analysen und Stellungnahmen waren die über Generationen hinweg entwickelten Feindbilder, geschürt durch die „Russenangst“ und die demütigende Behandlung Deutschlands durch den Versailler Frieden, das als Kulturland einen Schutzwall gegen das bolschewistische Russland bilden konnte. Die Analysen von Kleins Texten ergeben, dass immer wieder Schlüsselbegriffe wie Aufgabe, deutsches Wesen, deutsche Werte, Geist, Kampf, Leid, Schönheit, Sieg und Treue eine Rolle spielen. Die Denkmuster, die mit diesen Begriffen assoziert wurden, enthüllen die Kompatibilität mit dem National-
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sozialismus. Die Realität und die Konsequenzen der NS-Diktatur wollte Klein nicht einsehen, selbst dann nicht als er nach dem Krieg eine Professur in Marburg erhielt und Käte Hamburger ihn wegen seiner NS-Aktivitäten in Schweden anklagte. Auch die Doppelrolle des deutschen Beamten Hermann Kappners macht die Tätigkeit des DAAD in Schweden sichtbar.67 Kappners Arbeit im Dienst des NS-Regimes und gleichzeitig als Assistent in der Königlichen Schwedischen Oberschulbehörde ist in den Archiven ausführlich dokumentiert. Ein Vergleich der Dokumente der Schwedischen Sicherheitspolizei mit Kappners eigenen Berichten an das AA und den DAAD in Berlin macht sein weit verflochtenes Kontaktnetz in akademischen, militärischen und adligen Kreisen in Schweden sichtbar. Nach 1939 vermittelte er als Kulturattaché deutschschwedische Kontakte nicht nur im Bereich von Musik, Kunst, Theater und Film, sondern auch zwischen Universitäten und Schulen. Die Archivdokumente lassen erkennen, dass die Deutsche Gesandtschaft in Stockholm offenbar großen Wert auf seine Informationen als Auge und Ohr NS-Deutschlands in Schweden legte. Das heute zugängliche Archivmaterial bestätigt folglich die Tätigkeit des DAAD in Schweden, Kappners Doppelrolle, seine Zwiespältigkeit und Widersprüchlichkeit: Beamter im Dienst der NS-Diktatur, gleichzeitig Germanist im schwedischen Dienst, der meinte, seine Arbeit für deutsche Sprache und deutsche Kultur mit seiner Liebe zu Schweden hingebungsvoll vereinen zu können. Aus seinen Texten geht hervor, dass er nordischgermanische Identität als etwas Substantielles, Statisches und Unveränderliches betrachtete. Die Analysen seiner Berichte ergeben, dass er in der NS-Diktatur über die Einstellung schwedischer Kulturpersönlichkeiten zum NS-Deutschland berichtete und in Schweden lebende Emigranten und Juden denunzierte, während er im Oktober 1944, nachdem er seinen Dienst an der Deutschen Gesandtschaft quittiert hatte, regimetreue Nazis anzeigte. Bereits in den 30er Jahren als die schwedische Presse kritische Fragen stellte, dementierte die Schwedische Oberschulbehörde alle Gerüchte über Kappners vermeintliche NS-Propagandatätigkeit, und 1962 erhielt er erneut eine Stelle in der Oberschulbehörde. Bemerkenswert ist, dass es ihm gelang, seine eigene Geschichte neu zu konstruieren und damit auch seinen Nachruf positiv aufzubauen, indem er die Darstellung der NS-Kulturpropaganda in Schweden von einem schwedischen Historiker Åke Thulstrup (1962) maßgeblich beeinflussen konnte. Die deutschen Germanisten in Schweden befanden sich in einer weitaus schwierigeren Lage als ihre schwedischen Kollegen. Wie aus den Berichten von Fritz Rose und Johannes Klein wird aus den Briefen Hermann Kappners deutlich, wie Angst ihr Leben in Schweden beherrschte. Sie wussten, dass ihnen Entlassung, Brotlosigkeit und Konzentrationslager drohten, wenn sie als „politisch unzuverlässig“ eingestuft wurden. Ihre Texte zeigen jedoch, dass sie sich gerade dadurch, dass der NS an deutsche Werte und deutsches Wesen appellierte und diese vagen Begriffe Leerstellen für eigene Vorstellungen boten, mit dem NS arrangieren und die Gewalt und Brutalität der NS-Politik ausblenden konnten. Die realen Konsequenzen der NS-Ideologie konnten sie nicht einsehen. Möglicherweise machten sich darin aber auch Realismus und selektive Wahrnehmung bemerkbar, da es galt, sich und die eigenen Familien zu retten. Zusammenfassend ist hervorzuheben, dass deutsche und schwedische Germanisten als Repräsentanten für deutsche Sprache und Kultur durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten vor Schwierigkeiten gestellt wurden. Zwar konnten sie an Wichtigkeit und Selbstbewusstsein gewinnen, da ihnen eine kulturpolitische Aufgabe zugewiesen worden war. Aus vielen Texten geht aber hervor, dass sie oft dadurch in Konflikte gerieten, die sie 67
Siehe dazu kap. 8 „In deutschem und schwedischem Dienst - Zur Doppelrolle Hermann Kappners“ in Almgren (2001).
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auf verschiedene Weise lösten. Als Ausweg diente oft die Flucht aus der Wirklichkeit in die Illusion. So hat die Fachgeschichtsschreibung auch einen Beitrag zur Geschichte der menschlichen Mängel und Unzulänglichkeiten zu leisten. Die Rolle der Germanisten als Vorläufer und Mitläufer ist nicht zu unterschätzen, da sie ein suggestives Sprachmaterial bekräftigt und verbreitet haben. Sie unterstützten das nationalsozialistische Regime in seiner Germanomanie, indem literarische Stilforschung in Nationalitätsforschung hinüberglitt. Fest steht, dass Germanisten sowohl themengeschichtlich als auch methodengeschichtlich eine wichtige Rolle in der Ausformung der nationalsozialistischen Ideologie spielten. Die vom NS infiltrierte Germanistik stellt jedoch nicht das zwangsläufige Ergebnis einer kontinuierlichen Entwicklung dar. In den Traditionsfeldern der Germanistik gab es auch andere starke Strömungen. Auch in der Germanistik im Dritten Reich konnten selbstständig denkende Forscher einen Freiraum finden. Von einer totalen Kapitulation und einer ideologischen Indienstnahme kann nicht die Rede sein, dagegen von einer Komplexität und Differenzierung in den verschiedenen Positionen der Philologen. Auch unter den Philologen im Dritten Reich gab es Wissenschaftler, die gegen die geopsychische, biologische Sehweise protestierten und die „Identität“ als eine soziale und historische Konstruktion ohne einen postulierten konstanten essentiellen Kern betrachteten. Die offizielle Germanistik huldigte dem NS, aber in den unspektakulären und ideologisch nicht leicht zu vereinnahmenden Bereichen gab es selbstverständlich auch seriöse Wissenschaftler, die weiter wirkten.
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Forschungsstand und Fragestellungen Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Anglistik und Amerikanistik im „Dritten Reich“ setzte spät ein, und bis heute gehört die Frage nach Quantität und Qualität der Beteiligung dieser Wissenschaft(en) sowie ihrer Vertreter an nationalsozialistischen Ideologien und Programmatiken noch nicht zum selbstverständlichen Repertoire der beiden Disziplinen. Dies gilt, obwohl die Forschung zum Themenbereich in den vergangenen fünfzehn Jahren erhebliche Fortschritte gemacht hat. Zunächst sind vor allem zwei Publikationen zu nennen: 1992 erschien das von Gunta Haenicke und Thomas Finkenstaedt erarbeitete Anglistenlexikon 1825–1990, das sorgfältig belegte biographische und bibliographische Angaben zu mehr als 300 Anglisten enthält; auf diesen Grundlagen aufbauend und sie durch umfangreiche Quellenarbeit erweiternd legte der Romanist (!) Frank-Rutger Hausmann 2003 eine Maßstäbe setzende Monographie zu Anglistik und Amerikanistik im „Dritten Reich“ vor.1 Hausmann kommt zu dem Resümee, dass „alle späteren Urteile über die eher unbedeutende Beteiligung der Hochschulanglisten an den Zielen des Nationalsozialismus [...] nicht haltbar“ seien.2 Seine Kritik an der Geschichte der fachinternen Auseinandersetzung mit dem Thema ist deutlich: Nach 1945 habe (auch) in der Anglistik „keineswegs eine kritische Selbstreflexion“ eingesetzt, „die nach den Ursachen des Versagens fragte und Reue artikulierte.“3 Weiterhin glaubt Hausmann nicht, dass solche Defizite später aufgeholt worden sind: „Eine Auseinandersetzung mit der anglistischen NS-Vergangenheit hat bisher noch nicht wirklich stattgefunden.“4 Einen möglichen Wendepunkt markiere der Wiener Anglistentag von 2001, in dessen Rahmen sich eine eigene Sektion der Fragestellung „Research Paradigms and Institutional Policy in English Studies during the Third Reich“ widmete.5 Ursache der verzögerten oder versäumten Auseinandersetzung mit der Vergangenheit war nicht etwa ein im Vergleich zu anderen Disziplinen geringerer Grad der Verwicklung in den Nationalsozialismus. Im Gegenteil könnte – neben der eher schwach ausgeprägten 1
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Gunta Haenicke / Thomas Finkenstaedt, Anglistenlexikon 1825-1990. Biographische und bibliographische Angaben zu 318 Anglisten (Augsburger I-&-I-Schriften 64), Augsburg: Universität, 1992. Darin aufgegangen ist: Gunta Haenicke, Biographisches und bibliographisches Lexikon zur Geschichte der Anglistik 1850-1925 (mit einem Anhang bis 1945), Augsburg: Univ., 1981. Frank-Rutger Hausmann, Anglistik und Amerikanistik im „Dritten Reich“, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2003. Auf die Augsburger Forschungen verweisend stellt Hausmann fest: „[K]ein anderes Fach verfügt seit nunmehr einem Dezennium über eine derart vollständige und exakte bio-bibliographische Erfassung aller in dieser Epoche [gemeint ist das „Dritte Reich“] tätigen Hochschullehrer“ (32). Hausmann, Anglistik, 391. Das Gewicht von Hausmanns Buch und der Umfang der von ihm bearbeiteten oder erschlossenen gedruckten wie auch ungedruckten Quellen bedingen es, dass Teile des vorliegenden Aufsatzes stark von der Auseinandersetzung mit dieser Monographie geprägt sind. Hausmann, Anglistik ,17. Hausmann, Anglistik, 406. Siehe Dieter Kastovsky / Gunther Kaltenböck / Susanne Reichl (Hg.), Anglistentag 2001 Wien. Proceedings, Trier: WVT, 2001, 179-263. Vgl. Hausmann, Anglistik, 406. Die Reaktion der Disziplin auf Hausmanns Monographie scheint für den Autor dann jedoch unbefriedigend verlaufen zu sein. Vgl. z. B. Wulf Rüskamp, Anglistik. Eine Kampfwissenschaft gegen England, Badische Zeitung 21. Januar 2004. In dieser Rezension ist die Rede von der „Klage“ des Autors „über mangelnde Resonanz seines Buches unter Anglisten“.
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Selbst- und Methodenreflexion des Fachs6 – gerade der überdurchschnittlich hohe messbare Grad der Belastung der Fachvertreter die Bearbeitung des Gewesenen blockiert haben: Bei Kriegsende gehörten gut 83% der Lehrstuhlinhaber in der Anglistik und in der neu institutionalisierten Amerikanistik der NSDAP an, und selbst die wenigen NichtParteimitglieder waren fast ausnahmslos wenigstens dem Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbund (NSDDB) oder/und dem Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) beigetreten. Insgesamt zeigten die Vertreter des Doppelfachs damit einen Grad der Organisation, der nur noch von den bekanntlich besonders eng an das Regime gebundenen Universitätsmedizinern erreicht wurde.7 In der Nachkriegszeit vertraten jene Anglisten, die ihre akademische Laufbahn fortsetzen konnten8, nahezu einhellig die so genannte Autonomiethese: Das Wirken einiger völlig ideologisierter Fachvertreter ausgenommen habe die universitäre Anglistik von der sie umgebenden nationalsozialistischen Gesellschaft sowie von nationalsozialistischen Ideologien und Wissenschaftskonzepten weitgehend unberührt in alten Bahnen weiterexistieren und ihren humanistischen Kern sowie die Integrität universitärer Forschung und Lehre bewahren können. Noch Mitte der Neunzigerjahre war es für Fachvertreter möglich, davon auszugehen, dass die Anglistik ein im Großen und Ganzen unbelastetes Fach gewesen sei und sich darin positiv von verwandten Disziplinen unterscheide.9 Und innerhalb der deutschen Amerikanistik – deren Karriere als von der Anglistik im engeren Sinn emanzipierter eigener Disziplin zunächst eben nicht im Kontext der besatzungspolitisch geförderten Zuwendung zu den USA nach 1945 begann, sondern im Zusammenhang mit spezifischen nationalsozialistischen hochschul- und wissenschaftspolitischen Interessen – ist die Geschichte des Fachs während des „Dritten Reichs“ bislang überhaupt noch nicht wirklich zum Thema geworden. Dies gilt, obwohl mit Christian H. Freitags 1977 an der Freien Universität abgeschlossener Dissertation über die Entwicklung der Amerikastudien in Berlin bis 1945 schon verhältnismäßig früh eine sowohl gründliche wie auch kritische institutionengeschichtliche Darstellung vorlag und obwohl die 1997 publizierte Studie des Historikers Philipp Gassert zu Amerika im Dritten Reich weitere Anstöße zum Thema enthält.10 Der erste und bis heute einzige Überblick zur Gesamtgeschichte der deutschen Anglistik wurde von Thomas Finkenstaedt 1983 veröffentlicht. Seine Kleine Geschichte der Anglistik in Deutschland, die auch die Amerikanistik mitberücksichtigt, lässt die Schilderung der Fachgeschichte während der NS-Zeit in einer Gesamtdarstellung der Periode „Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg“ aufgehen, die allerdings durch ein knappes spezifizierendes Unterkapitel „Anglistik im Dritten Reich“ ergänzt wird.11 Die Darstellung Finkenstaedts, der 6 7 8 9
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Vgl. u. a. Wolfgang Iser, Anglistik. Eine Disziplin ohne Forschungsparadigma?, in: Poetica 16 (1984), 276-306. Hausmann, Anglistik, 396f. Unmittelbar nach dem Krieg wurden achtzehn anglistische Hochschullehrer als Nationalsozialisten aus dem Dienst entfernt, sieben von ihnen konnten auch später nicht mehr an die Universität zurückkehren. Vgl. Hausmann, Anglistik, 359. So Horst Breuer, Stichworte zur Shakespeare-Rezeption im Nationalsozialismus, in: Konvent der Philipps-Universität (Hg.), Die Philipps-Universität Marburg im Nationalsozialismus. Veranstaltungen der Universität zum 50. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1995, Marburg: Philipps-Universität, 1996, 117-120. Christian H. Freitag, Die Entwicklung der Amerikastudien in Berlin bis 1945 unter Berücksichtigung der Amerikaarbeit staatlicher und privater Organisationen, phil. Diss., Berlin, 1977. Philipp Gassert, Amerika im Dritten Reich: Ideologie, Propaganda und Volksmeinung, Stuttgart: Steiner, 1997; zugl. phil. Diss., Heidelberg, 1996; vor allem 116-136: „Amerikakunde in Schule und Universität“. Siehe auch Gassert, Between Political Reconnaisance Work and Democratizing Science. American Studies in Germany, 1917-1953, in: GHI Bulletin 32 (2003), 33-50. Thomas Finkenstaedt, Kleine Geschichte der Anglistik in Deutschland. Eine Einführung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983. Darin: „Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg“ (126-168) mit dem Unterkapitel „Anglistik im Dritten Reich“ (161-168) sowie „Neuzehnhundertfünfundvierzig“ (169-170).
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1930 geboren wurde und sein Studium in der unmittelbaren Nachkriegszeit absolvierte, ist durch die unverkennbare Bemühung um objektive Erfassung des Gewesenen gekennzeichnet. Sie zeigt aber auch eine deutliche Zurückhaltung nicht nur vor Wertungen, sondern überhaupt vor umfassenden Thesenbildungen zur Rolle der Anglistik im „Dritten Reich“. In einer erläuternden Fußnote führt der Verfasser aus: „Der Abschnitt [zur ‚Anglistik im Dritten Reich‘] bringt weder besondere Enthüllungen, noch versucht er, bestimmte Personen besser oder schlechter zu machen, als sie waren. Da nicht wenige Personen noch leben, verzichte ich in vielen Fällen auf Nachweise und Namennennungen. Diese werden in Augsburg hinterlegt und zu gegebener Zeit zugänglich gemacht.“12 Als stark Thesen bildende und bewusst wertende Zusammenschau durch einen Anglisten ist dagegen Ludwig Pfeiffers Beitrag zum Sammelband Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich (2002) zu nennen. Im Kern steht hier eine interessante Doppelthese, auf die später im Detail zurückzukommen sein wird. Pfeiffer geht davon aus, dass „die Anglistik ihre Quote an fachlicher (Über-)Anpassung voll erfüllt“ habe und teilweise sogar zu einer regelrechten „Blut-Boden-Anglistik“ degeneriert sei.13 Die Anfälligkeit für Vorgaben und Ideologien des Nationalsozialismus erklärt er mit den methodologischen Aporien einer Disziplin, die „sehr lange von besonders ‚ausgefallenen‘ Positionierungsproblemen zwischen den Extremen vermeintlich reiner Wissenschaft und praktischer oder politischer Indienstnahme heimgesucht wurde und möglicherweise immer noch heimgesucht wird“.14 Auf der anderen Seite nimmt Pfeiffer aber auch an, dass dieselben Faktoren, welche die Verpflichtung der Anglistik im Sinn des Nationalsozialismus erleichterten, sie als Werkzeug antienglischer Ideologisierung im Krieg weitgehend unbrauchbar machten. Er spricht von der „Selbstüberforderung der Anglistik“ im Dienst des Nationalsozialismus und vermutet, dass die „meist ermüdend langen Aufsätze“, die Fachvertreter im Rahmen des so genannten „Kriegseinsatzes“ der deutschen Geisteswissenschaften produzierten, im Sinne des Nationalsozialismus geradezu „kontraproduktiv“ gewesen sein könnten.15 Neben dieser die Funktionen und die Funktionalität der Anglistik als Disziplin in den Blick nehmenden übergreifenden Thesenbildung folgt aber auch Pfeiffer der für den Forschungsstand zur Anglistik im „Dritten Reich“ insgesamt noch kennzeichnenden Tendenz, die Auseinandersetzung mit der Fachgeschichte primär als Auseinandersetzung mit einzelnen Fachvertretern anzugehen und nach der Qualität ihres Verhaltens im Spektrum zwischen (versteckter) Widerständigkeit, Mitläufertum und schuldhafter Verstrickung zu fragen. Besonderes Interesse wird dabei stets dem Anglisten Herbert Schöffler entgegengebracht, und zwar nicht nur wegen seiner wissenschaftlichen Bedeutung, sondern auch aufgrund der signifikanten Widersprüchlichkeit seiner Äußerungen und seines Verhaltens. Wie Finkenstaedt so versucht auch Pfeiffer, Schöffler gegen den Verdacht der Verstrickung zu verteidigen.16 In seiner fachgeschichtlichen Monographie schließt Hausmann an diese Diskussion an und widmet Schöffler sogar ein eigenes – sehr kritisches – Hauptkapitel.17 Der Symbolfall Schöffler wird auch im vorliegenden Aufsatz noch einmal aufgegriffen werden. Er soll dann als Beispiel für die Potentiale und Grenzen eines im Ansatz biographisch orientierten Zugangs zum Thema Anglistik im „Dritten Reich“ dienen und das 12 13 14 15 16 17
Finkenstaedt, Kleine Geschichte der Anglistik, 293, Anm. 117. Ludwig Pfeiffer, Anglistik, in: Frank-Rutger Hausmann (Hg.): Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933-1945, München: Oldenbourg, 2002, 39-62; zit. 42f. Pfeiffer, Anglistik, 39. Pfeiffer, Anglistik, 52-57; zit. 41. Pfeiffer, Anglistik, 57-62. Der Titel des Abschnitts lautet: „Herbert Schöffler und die intellektuelle Allegorie der Distanz“. Hier erklärt Pfeiffer: „F.-R. Hausmann [...] möchte bei Finkenstaedts Ausstellung eines Persilscheins für Schöffler [...] nicht mitmachen. Aber Finkenstaedt hat recht“ (57). Hausmann, Anglistik, 365-390. Der Titel des Kapitels lautet: „‚Sprechen im Kontext‘: Herbert Schöffler, ein ungewöhnlicher Fachvertreter“.
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Desiderat einer die Disziplin als Funktionszusammenhang in den Blick nehmenden wissenschaftssoziologischen und ideologiekritischen Betrachtung unterstreichen, die sich noch stärker von der Tendenz emanzipieren würde, die unbefriedigend verlaufende „Entnazifizierung“ der Fachvertreter noch einmal durchzuspielen. Neben Hausmanns gewichtiger, umfangreiches Material erschließender biographie-18 und institutionengeschichtlicher Darstellung sowie Haenickes und Finkenstaedts biobibliographischem Anglistenlexikon könnte ein solches Unterfangen auch auf die bereits recht zahlreichen Darstellungen zu einzelnen Universitäten und Seminaren aufbauen.19 Mit Ruth Ledeburs Monographie zur Geschichte der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft zwischen 1918 und 1945 liegt zudem eine die Akten der DSG aufarbeitende Darstellung zu diesem überaus signifikanten Aspekt der deutschen Anglistik vor. Auch Reiner Lehbergers 1986 erschienene Untersuchung zum Englischunterricht im Nationalsozialismus bietet wichtige Grundlagen für eine Darstellung der Hochschulanglistik, die gerade im Nationalsozialismus nicht zuletzt die Aufgabe der Lehrerausbildung wahrnehmen sollte und dabei arbeitsteilig mit dem Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) sowie mit als Autoren ambitionierten nationalsozialistisch gesonnenen Lehrern zusammenarbeitete.20 Gleichzeitig kann oder könnte die fachgeschichtliche Diskussion wesentliche Anregungen durch die stärker interdisziplinär, diskursgeschichtlich und wissenssoziologisch ausgerichtete neueste Forschung zum Verhältnis von Nationalsozialismus und Geistes- bzw. Kulturwissenschaften erhalten – genannt sei hier zunächst das von Hartmut Lehmann und Otto Gerhard Oexle herausgegebene zweibändige Handbuch Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, das weniger biographisch und fachgeschichtlich orientiert ist, sondern einige die Wissenschaft der Zeit prägende Milieus, Leitbegriffe und Deutungsmuster diskutiert.21 Noch weniger als fachgeschichtliche Darstellungen zu anderen Zeiträumen kann sich eine Geschichte der Anglistik im „Dritten Reich“ auf innere Strukturen oder Entwicklungsrichtungen des Fachs beschränken. Ihr übergreifendes Ziel ist notwendig die Verortung der Disziplin und ihres Wirkens im politischen, institutionellen und ideologischen Systemgeflecht des Nationalsozialismus bzw. der nationalsozialistischen Gesellschaft und Wissenschaft. Eine Darstellung der Anglistik in der NS-Zeit muss also nach Quantität und Qualität der Verbindung des Fachs als einer Kulturwissenschaft mit nationalsozialistischen Ideologien, Herrschaftspraktiken und Verbrechen fragen sowie nach den Voraussetzungen und Folgen dieser Verbindung. Dabei geht es nicht nur um Biographien oder um das Wirken einzelner Fachvertreter und Organe, sondern vor allem um die institutionellen und diskursiven Strategien, welche die Anschlussfähigkeit der Anglistik an den Nationalsozialismus begründeten, sich während verschiedener Phasen der NS-Zeit entwickelten und in mancher 18 19
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Hausmanns Darstellung fußt auf 75 Personenprofilen. Siehe Hausmann, Anglistik, 10, Anm. 2. Außer der bereits zitierten Dissertation Freitags sind hier zu nennen: Manfred Scheler (Hg.), Berliner Anglistik in Vergangenheit und Gegenwart 1810-1985, Berlin: Colloquium, 1987; Ulrich Bertram/Dieter Petzold (Hg.), Erlanger Anglistik und Amerikanistik in Vergangenheit und Gegenwart. Festschrift zum hundertjährigen Bestehen eines Instituts 1890-1990, Erlangen: Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, 1990; Hans Peter Lütjen, Das Seminar für englische Sprache und Kultur 1933-1945, in: Eckart Krause/Ludwig Huber/Holger Fischer (Hg.), Hochschulalltag im „Dritten Reich“. Die Hamburger Universität 1933-1945. Berlin: Reimer, 1991, Bd. 2, 737-756; Alwin Fill/Alois Kernbauer (Hg.), 100 Jahre Anglistik an der Universität Graz, Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt, 1993; Lars U. Scholl, „Zum Besten der besonders in Göttingen gepflegten Anglistik“. Das Seminar für englische Philologie, in: Heinrich Becker, Hans-Joachim Dahms, Cornelia Wegeler (Hg.), Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus, 2., erw. Aufl. München: Saur, 1998, 391-426. Ruth Ledebur, Der Mythos vom deutschen Shakespeare. Die deutsche Shakespeare-Gesellschaft zwischen Politik und Wissenschaft 1918-1945, Köln: Böhlau, 2002. Reiner Lehberger, Englischunterricht im Nationalsozialismus, Tübingen: Stauffenburg, 1986; gleichzeitig Habil., Hamburg, 1984. Hartmut Lehmann / Otto Gerhard Oexle (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, 2 Bde., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2004.
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Hinsicht über diese Zeit hinauswirken mussten.22 Der skizzierte Ansatz müsste auch die Umkehrung der Perspektive beinhalten: Es wäre zu fragen, welchen Platz die Anglisitik aus der Sicht „des Nationalsozialismus“ einnahm und welche Instanzen und Politiken auf die Disziplin einwirkten. Eine von diesen Fragen ausgehende Fachgeschichte könnte Ausgangspunkt für die kritische Reflexion des aktuellen Selbstverständnisses und aktueller Methodologien der Anglistik, der Literaturwissenschaften oder der Kulturwissenschaften sein. Sie böte unter anderem Gelegenheit, die ideologische Anfälligkeit humanistischer Programmatiken und Methoden zu erwägen – und auf die Befunde zu reagieren. Die Untersuchung der Geschichte der Anglistik oder anderer Disziplinen im „Dritten Reich“ kann aber auch einen Beitrag zur Beantwortung allgemeiner historischer Fragestellungen leisten, so etwa nach dem Grad der Homogenität der nationalsozialistischen Gesellschaft, nach dem Verhältnis von nationalsozialistischer „Polykratie“ und ideologisch-politischer Wirkmächtigkeit oder nach den Zusammenhängen zwischen Herrschaft, gesellschaftlichen Konsensen und individuellen Haltungen. Vorbereitung auf die Mobilisierung: Wirkungen des Ersten Weltkriegs Die „Selbstmobilisierung deutscher Wissenschaftler während der NS-Zeit“ führt Lutz Raphael auf in den Geisteswissenschaften verbreitete, Generationen und Einzeldisziplinen übergreifende „Wahrnehmungs- und Urteilsdispositionen“ zurück. Die Genese solcher Dispositionen (und Semantiken) erklärt er als „Antwort auf die Grundlagenkrise der modernen Kulturwissenschaften zwischen 1880 und 1910 einerseits und als Politisierung dieser Antwort im Zuge von Erstem Weltkrieg und der Mobilisierung der deutschen Gelehrten, der unverstandenen Niederlage von 1918 und der nachfolgenden inneren Krisen des Deutschen Reiches“.23 Obwohl Raphael in erster Linie Juristen, Sozialwissenschaftler und Historiker im Blick hat, könnte der so skizzierte Entwicklungsrahmen auf die Anglistik sogar in besonderer Weise zutreffen. Die zu Beginn des Kriegs erfolgende Politisierung einer allgemeinen Sehnsucht nach sozialpragmatischer Relevanz und ihre Entwicklung im Sinn eines antagonistischen Chauvinismus führt zum Beispiel das häufig zitierte Grußwort vor Augen, das der Anglistikprofessor Hans Hecht 1914, „im Jahre des Sieges des deutschen Geistes“, aus dem Feld an die in Weimar tagende Deutsche Shakespeare-Gesellschaft richtete und das den ausgesprochenen „Hass“ auf „die Engländer“ mit dem auf Shakespeare bezogenen Anspruch verband, dass „wir Deutsche echtere Erben seines Geistes sind als seine Landsleute.“24 Das Grußwort wird von einem Beitrag gespiegelt, den derselbe Verfasser 1934 im Shakespeare-Jahrbuch publizierte. Dort wird die „deutsche Revolution“ gefeiert als endlicher Sieg des früher beschworenen Shakespearschen Geistes sowie als
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Mit Blick auf die Geschichte der Geschichtswissenschaft argumentiert Bernd Weisbrod in vergleichbarer Weise für eine „Umkehrung der Sichtweise“ von der „oftmals moralisierenden Disziplingeschichte zur keineswegs unpolitischen Kulturgeschichte der Wissenschaft“. Diese müsse vor allem nach „den institutionellen und diskursiven Strategien suchen, die eine erstaunliche Kontinuität des wissenschaftlichen Selbstverständnisses über das Ende des ‚Dritten Reichs‘ hinaus ermöglichten“. Das Moratorium der Mandarine. Zur Selbstentnazifizierung der Wissenschaften in der Nachkriegszeit, in: Lehmann / Oexle (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 2. 258-279; bes. 259-262; zit. 260; 262. Lutz Raphael, „Ordnung“ zwischen Geist und Rasse. Kulturwissenschaftliche Ordnungssemantik im Nationalsozialismus, in: Lehmann / Oexle (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 2, 115-137; zit 117. Shakespeare-Jahrbuch 51 (1915), VI; zit. nach Finkenstaedt, Kleine Geschichte der Anglistik, 127.
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Grundlage einer neuen für die ganze Gesellschaft relevanten, an der „uneingeschränkten Dynamik des Lebens“ teilhabenden Forschung.25 Tatsächlich erfolgte während des Ersten Weltkriegs eine Selbstmobilisierung deutscher Wissenschaftler, die sich – bei aller angebrachten Vorsicht – als Vorläufer des staatlich organisierten „Kriegseinsatzes“ der Geisteswissenschaften während des Zweiten Weltkriegs betrachten lässt. Zeugnis des nationalistischen Beitrags der Wissenschaften zu den Kriegsanstrengungen der Gesellschaft ist die knapp 100 Broschüren umfassende Flugschriftenreihe Der Deutsche Krieg, welche die Deutsche Verlagsanstalt zwischen 1914 und 1917 herausgab. Zu den aufgenommenen öffentlichen Vorträgen von Wissenschaftlern gehörte 1915 die Schrift Der englische Volkscharakter von Levin L. Schücking, der als einer der bedeutendsten Anglisten der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gilt. Mit der verwissenschaftlichten Propaganda bzw. der propagandistisch verzweckten Wissenschaft, welche die meisten Beiträge zum „Kriegseinsatz“ der Anglistik im „Dritten Reich“ kennzeichnet, lassen sich Schückings an ein allgemeines Publikum gerichtete Ausführungen zwar keinesfalls vergleichen. Ihr Tenor und ihre Methode müssen aber doch überraschen, und zwar nicht nur aufgrund des wissenschaftlichen Gewichts des Autors, sondern auch im Licht seiner politischen Überzeugungen und seines späteren Verhaltens während der NSZeit. Pfeiffer bezeichnet Schücking als eine „Lichtgestalt“, die unter den das „Dritte Reich“ durchlebenden Anglisten „die maximal mögliche Distanz zum Regime“ verkörpere.26 1929 trat Schücking aus der Shakespeare-Gesellschaft aus, als diese ein ausländisches Mitglied aufgrund angeblich deutschlandfeindlicher Äußerungen ausschloss. Bereits während des Ersten Weltkriegs soll er gegen die Kriegspropaganda von Kollegen protestiert haben, 1918 wurde er Mitglied der „Schlesischen Abteilung der Deutschen Friedensgesellschaft“.27 Dennoch enthält Schückings ursprünglich im Jenaer Volkshaus als Vortrag gehaltener Text Sätze wie den folgenden: „Und es ist gewiß nicht daran zu zweifeln, daß England im gegebenen Falle aus Deutschland ein zweites Irland machen würde, vorausgesetzt, daß es zweckmäßig wäre, d. h. daß durch die vollkommene industrielle Vernichtung Deutschlands die Bequemlichkeit jedes einzelnen Engländers erhöht werden würde.“28 Neben der unvermeidlichen „Heuchelei“ werden „unsystematisches“ und „unkritisches“ Denken als typische Kennzeichen der englischen Durchschnittsbevölkerung vorgeführt.29 Deren „erschreckende Ungebildetheit“ erklärt Schücking – der sich später gegen eine zur Charakterkunde entgleisende Kulturkunde wehrte30 – mit einem volkscharakterlich bedingten Mangel an „Bildungstrieb“ und mit einer „geistigen Bequemlichkeit“, die angeblich schon von Aussprache, Syntax und Grammatik des gegenwärtigen englischen Sprachstands dokumentiert wird.31 Schückings Schrift zeugt nicht nur von der Etablierung nationalistisch-antagonistischer Tendenzen sowie vom charakterkundlichen Kollabieren idealistischer Semantiken und Methoden im Kontext einer unreflektierten Politisierung, sondern 25
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Hans Hecht, Shakespeare in unserer Gegenwart, Shakespeare-Jahrbuch 70 (1934): 117-133; zit. 118. Ein wichtiger Katalysator der Idee vom „deutschen Shakespeare“ war Friedrich Gundolf, Shakespeare und der deutsche Geist, 1914. 2., durchgesehene Aufl, Berlin: Bondi, 1914. Gundolfs expressionistisch gefärbte Studie ist freilich viel komplexer und reflektierter als die Postulate späterer Vertreter einer Germanisierung Shakespeares. Seine These von der „Wiedergeburt Shakespeares als eines deutschen Sprachganzen“ (z. B. 354) eignet sich dennoch als Beispiel für die Möglichkeit des essentialistischen Kollabierens eines radikalen Konstruktivismus. Gundolfs Shakespeare-Buch wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder aufgelegt. Pfeiffer, Anglistik, 41. Vgl. biographisches Kurzporträt in Hausmann, Anglistik, 505-507. Levin Ludwig Schücking, Der englische Volkscharakter (Der Deutsche Krieg, Heft 53), Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1915, 30. Schücking, Der englische Volkscharakter, 13f. Siehe Levin Ludwig Schücking, Die Kulturkunde und die Universität, in: Die Neueren Sprachen 35 (1927), 1-16. Vgl. Pfeiffer, Anglistik, 40; Finkenstaedt, Kleine Geschichte der Anglistik, 145 Schücking, Der englische Volkscharakter, 9-11.
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auch von der Dominanz solcher diskursiven Vorgaben über biographisch zu verortende Motive, Haltungen und Verhaltensweisen.32 Einen Eindruck von der Haltung, mit der deutsche Anglisten in den Ersten Weltkrieg gingen, wie auch von den Wirkungen von Krieg und Niederlage geben die Erinnerungen, die der Berliner Ordinarius Alois Brandl, der Lehrer des bereits zitierten Hecht, in der Frühphase des „Dritten Reichs“ veröffentlichte: „Keine Schicht der deutschen Bevölkerung wurde vom Weltkrieg so hart getroffen wie die energisch aufstrebende, nach Tausenden zählende Schar der Anglisten. Sie hatten ihr Leben der Verbreitung der englischen Sprache und Dichtung gewidmet und sahen sich auf einmal vor britischen Kanonen. [...] Besonderes Erstaunen weckte dann in unserer Zentrale der Englandforschung die offensichtlich inspirierte Verstiegenheit der englischen Propaganda und leider auch die Schwäche der deutschen Abwehr. Die Engländer keine Germanen – wie hätten die englischen Seminare darauf zu antworten vermocht, wären sie dazu eingeladen worden. [...] Es gab in unserer Mitte englische Geschichtsgelehrte von hohem Rang, aber man wird sie in Zukunft besser mobilisieren.“33 Brandl wertet die Kriegserfahrungen als Anlass, Aufgaben, Methoden und Inhalte der Hochschulanglistik zu revidieren. Er fragt, ob die „deutsche Anglistik gegenüber dem deutlichen Heranrücken dieses Krieges eine Unterlassungsschuld begangen“ habe. Statt das „Volk“ mit „Stimmung, Macht und politischer Tradition“ Englands vertraut zu machen, hätten die Hochschullehrer ja „die vornehme Literatur und ihre Dauerschätze“ studiert. Obwohl Brandl die selbst gestellte Frage schließlich negativ beantwortet, sieht er es doch als eine der wichtigsten „Zukunftsaufgaben“ der Disziplin, Aufklärung über die Methoden der englischen Presse zu leisten.34 Diese Umsetzung der frustrierenden nationalen Erfahrung des Ersten Weltkriegs als Impuls zu Reformen von Wissenschaft und Lehre war prägend für die gesamte Zeit zwischen 1918 und den Dreißigerjahren. Der Verweis auf den verlorenen Krieg wurde geradezu ein Topos anglistischer Publikationen, insbesondere wenn sie neue Ansätze propagierten oder exemplifizierten. In diesem Sinn beginnt auch die 1921 publizierte, fachgeschichtlich bedeutsame Schrift Amerikakunde – Eine zeitgemäße Forderung, deren Verfasser Friedrich Schönemann wenige Jahre später als erster in Deutschland mit einem amerikanistischen Thema innerhalb der englischen Philologie promovierte und 1936 in Berlin den ersten Lehrstuhl für Amerikanistik erhielt: „Wir haben den Weltkrieg schließlich verloren, weil wir die Vereinigten Staaten von Amerika nicht genügend kannten.“35 Der durch die Erfahrung des verlorenen Krieges ausgelöste oder verstärke bzw. politisierte Reformimpuls brach die ohnehin unscharfen Grenzen des Fachs noch stärker auf. Die weitere Entwick32
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Als wichtiger anglistischer Beitrag zum politischen Diskurs über England während des Kriegs ist zu nennen: Friedrich Brie, Imperialistische Strömungen in der englischen Literatur, 1916, 2., durchgesehene und erweiterte Aufl., Halle: Niemeyer, 1928. Bries (durchaus innovativer) Versuch einer „Literaturgeschichte des englischen Imperialismus“ (z. B. XIV; 279) wurde später zwar noch von den Anglisten des „Kriegseinsatzes“ zitiert, erscheint insgesamt aber weniger von der Kriegsrhetorik geprägt, als das Thema erwarten lässt. Alois Brandl, Zwischen Inn und Themse. Lebensbeobachtungen eines Anglisten, Berlin: Grote, 1936, 320f. Brandl, Zwischen Inn und Themse, 318f. Friedrich Schönemann, Amerikakunde. Eine zeitgemäße Forderung, Bremen: Angelsachsen Verlag, 1921, 3. Als späteres Beispiel für den topischen Verweis auf den ersten Weltkrieg sei genannt: Ferdinand Wilhelm Héraucourt, Die Darstellung des englischen Nationalcharakters in John Galsworthys Forsyte Saga, Marburg: Elwert, 1938 (= Nachdruck der Ausg. von 1933), 5: „Die Anglistik strebt über die heute für gewöhnlich noch gezogenen Grenzen hinaus: sie sucht einen Beitrag zu geben zur großen kulturellen Aufgabe unserer Zeit, der Herbeiführung eines tief menschlich verankerten Verständnisses des englischen Wesens. Wie sehr es hiermit im Argen war, hat unser völliges Mißverstehen der englischen Politik in, vor und nach dem Kriege gezeigt.“
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lung vollzog sich in einem komplexen Spannungsfeld zwischen dem fortdauernden Ideal zweckfreier Wissenschaft einerseits und Didaktisierung oder politischer Indienstnahme andererseits. Auch der Katalog der Gegenstände der Anglistik erweiterte sich: Neben die zunehmend auseinander tretenden und miteinander konkurrierenden Forschungsfelder der Sprache und der Literatur trat nun verstärkt die Kultur, aber auch politische Fragestellungen rückten auf die Agenda. Unvollständiger Paradigmenwechsel: Die Etablierung der Kulturkunde „Der Gedanke zu diesem Buch ist im Kriege entstanden.“36 So beginnt der Brandl-Schüler Wilhelm Dibelius, der während des Kriegs im Pressedienst des Auswärtigen Amts tätig gewesen war, das Vorwort seines 1922 erstveröffentlichten Werks England. Das zweibändige Handbuch wurde schnell zu einem Standardwerk: 1929 erreichte die Auflage bereits das dreizehnte Tausend. Es gilt als wesentlicher Beitrag zur Durchsetzung der Kulturkunde als neuer Teildisziplin bzw. neuem Ansatz der Anglistik.37 Dibelius betrachtete seine Englandkunde zum einen als „bescheidenen Baustein zum Wiederaufbau des Vaterlandes“, zum anderen als „Beitrag [...] zur Lösung eines wissenschaftlichen Problems“.38 Er wollte der Anglistik eine neue, sichere Ausrichtung geben – und diese suchte er nicht nur in der Loslösung vom Vorbild der klassischen Philologien und der Hinwendung zu einer auf die Gegenwart gerichteten Kultur- und Institutionenkunde, sondern auch in einer bewussten Pragmatisierung, Politologisierung und politischen Aufladung der Disziplin: „Die Zeiten sind hoffentlich vorüber, wo man ein Sakrileg an der Wissenschaft darin erblickte, wenn in einem wissenschaftlichen Werke eine politische Note erklang. Die Politik braucht die Wissenschaft – zum mindesten in Deutschland; so wie der Deutsche nun einmal ist, wird er fremde Völker und ihr Willensstreben nie intuitiv, sondern immer nur verstandesmäßig begreifen. Und die Wissenschaft braucht die Politik – um von größeren Dingen zu schweigen, zum mindesten die Wissenschaft vom Engländertum: niemand kann Milton oder Carlyle, nicht einmal Shakespeare verstehen, der nicht weiß, daß ein Engländer alle Erscheinungen der Außenwelt zunächst einmal willensmäßig und politisch wertet.“39 Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs, so resümiert Hausmann, trat die Anglistik von ihrer „junggrammatisch-lautgesetzlichen Phase“ in eine Periode „idealistisch-geistesgeschichtlicher Fokussierung“. Auf den ersten Blick scheint sich diese Periodisierung auf Dibelius wie auch auf viele andere Beiträge zum kulturkundlichen Diskurs nur bedingt anwenden zu lassen. Die Englandkunde ist ja nicht zuletzt durch eine an sich ganz und gar unidealistische, pragmatisch-politologische Institutionen- und Realienkunde gekennzeichnet. So enthalten die beiden Bände des Englandhandbuchs Abschnitte zu Themen wie „Stadt36 37
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Wilhelm Dibelius, England, 2 Bde., 5., 1922, stark umgearbeitete Auflage, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1929, Bd. 1: xi (Vorwort zur 1. Aufl.). Zur „Kulturkunde“ siehe Walter Apelt, Die kulturkundliche Bewegung im Unterricht der neueren Sprachen in Deutschland in den Jahren 1886 bis 1945. Ein Irrweg deutscher Philologen, Berlin: Volk und Wissen, 1967; Volker Raddatz, Englandkunde im Wandel deutscher Erziehungsziele 1886-1945, Kronberg/Ts.: Scriptor, 1977; Hausmann, Anglistik, 98-124 (eigenes Hauptkapitel „Von der Englandkunde zur ‚Deutschen‘ England- und Amerikawissenschaft“). Die Terminologie ist unübersichtlich: „Kulturkunde“ ist die übliche Bezeichnung für die generelle Entwicklungsrichtung. Dibelius selbst sprach im Zusammenhang mit seinem Werk von „Auslandskunde“. Sein Buch und sein Ansatz werden aber häufig auch als „Englandkunde“ bezeichnet. Die quasi-politologisch zugespitzte nationalsozialistische Variante sollte später „(Deutsche) Auslandswissenschaft“ heißen. Bestimmte Ausprägungen der „Kulturkunde“ verstanden sich als „Charakterkunde“ oder „Wesenskunde“. Dibelius, England, Bd. 1: xi. Dibelius, England, Bd. 1: xif.
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verwaltung“, „Steuersystem“, „Grafschaftsverwaltung“ oder „Friedensrichtersystem“. Gleichzeitig finden sich aber etwa auch folgende Stichworte: „Volkscharakter“, „Typenindividualismus“ oder „angelsächsische Kulturidee“. Kennzeichnend ist also die Verschränkung von positivistischen und quasi-idealistischen Herangehensweisen, d. h. die Rückführung politisch-institutioneller Sachverhalte auf mehr oder weniger intuitiv postulierte übergreifende Wesenheiten, die vor dem Hintergrund einer expliziten politisch-praktischen Motivation formuliert werden. Hausmann betont die „antagonistische Tendenz“ einer solchen Wissenschaft und spricht von der „Entstehung der Englandkunde und der späteren Englandwissenschaft aus dem Geist von Versailles“.40 Tatsächlich ist in kulturkundlichen Arbeiten wie denen von Dibelius im Grunde bereits das ganze Repertoire einer späteren nationalsozialistischen Wesens- oder Auslandskunde mit ihren Zentralkategorien „Rasse“, „Raum“ und „Volksgemeinschaft“ vorgebildet – wobei der im Ganzen gründliche Text zu teilweise extremen Reduktionen kommt: „Der Engländer ist seinem Charakter nach im wesentlichen ein niedersächsisch-friesischer Bauer, der in der Abgeschlossenheit seines Inselreiches die Eigenschaften seiner Rasse streng bewahrt hat.“41 Die These von der Anschlussfähigkeit der Kulturkunde Dibeliusscher Prägung an nationalsozialistische Programmatiken wird dadurch unterstützt, dass sich Wolfgang Schmidt in seinem 1934 erschienenen Entwurf einer dezidiert nationalsozialistischen Anglistik anerkennend auf den Kulturkundler bezieht und sein Englandbuch unter die propädeutischen Schriften der geforderten auslandswissenschaftlich orientierten Neuphilologie aufnimmt.42 Es gab allerdings auch Inhalte und Ausprägungen der so genannten Kulturkunde, die keinesfalls mit nationalsozialistischen Programmatiken kompatibel waren. Auf dem Hamburger Neuphilologentag von 1928 soll die Kulturkunde ein zentraler Diskussionspunkt gewesen sein, wobei deutsch-national und europäisch ausgerichtete Perspektiven aufeinanderprallten.43 Eine im gleichen Jahr erschienene Untersuchung arbeitete die vielfältigen und teilweise deutlich divergierenden kulturkundlichen Inhalte und Positionen heraus: Neben einer nationalistisch oder revanchistisch ausgerichteten Haltung stand eine pazifistisch orientierte Linie, neben der „Folientheorie“ – nach der kulturkundlich unterrichtete Schülerinnen und Schüler vor allem ihr eigenes „Deutschtum“ deutlicher erfassen sollten – gab es auch eine transnational integrative Position des „Westeuropäismus“.44 Folglich äußerten nicht nur skeptische Anglisten der älteren Schule Kritik an der Kulturkunde45, sondern auch nationalsozialistisch orientierte Fachvertreter sahen neben Potentialen zugleich Probleme. Der Neuphilologe Rudolf Münch meinte in einer didaktischen Schrift aus dem Jahr 1936: „Ich selbst glaube, daß die Kulturkunde [...] der Umgestaltung, in unserem Falle auch der Umbenennung bedarf, daß sie dann aber, und nun erst recht, zu einer unserer besten Waffen im Kampf um die neue Weltanschauung – und um unser Daseinsrecht als Neuphilologen werden kann.“46 40 41 42
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Hausmann, Anglistik, 107. Dibelius, England, Bd. 1: 181. Wolfgang Schmidt [Schmidt-Hidding], Neuphilologie als Auslandswissenschaft auf der Grundlage des Sprachstudiums, Marburg: Elwert, 1934. Auch das von Gustav Gräfer herausgegebene dezidiert nationalsozialistisch geprägte Handbuch des englischen Unterrichts (1939) nimmt positiv Bezug auf Dibelius: vgl. Hausmann, Anglistik, 106. Scheler, Berliner Anglistik, 36. Fritz Oeckel, Englische Kulturkunde im Lichte der Unterrichtspraxis (Leipzig: Teubner, 1928); vgl. Lehberger, Englischunterricht, 54. Insbesondere Schöffler (der in seinen religionssoziologischen Studien jedoch selbst kulturkundliche Methoden und Semantiken verwandte) und Schücking. Vgl. Pfeiffer, Anglistik, 40 und 44, Anm. 12; Finkenstaedt, Kleine Geschichte der Anglistik, 145; Hausmann, Anglistik, 109, Anm. 225. Rudolf Münch, Die dritte Reform des neusprachlichen Unterrichts, Frankfurt a. M.: Diesterweg, 1936, 19. Vgl. Lehberger, Englischunterricht, 53-55. Kritisch gegenüber der herkömmlichen Kulturkunde äußerte sich der bereits zitierte nationalsozialistische Reformer und Pragmatiker Wolfgang Schmidt, Neu-
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Folgt man Finkenstaedt, so hatten die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, der Niederlage und der auf sie folgenden – teilweise auch den sozialen Status akademischer Eliten gefährdenden – Strukturprobleme weder zu einer partei- noch zu einer hochschulpolitischen Mobilisierung der Universitätsanglisten geführt.47 Im Zusammenhang mit die Erfahrung bestimmenden ideologischen Vorprägungen hatten die Zeitereignisse aber sehr wohl neue Haltungen, Programmatiken und Semantiken angestoßen, die eine bewusste und unbewusste Mobilisierung der Disziplin mit sich brachten oder vorbereiteten: Der Wunsch nach politischer und gesellschaftlicher Relevanz der wissenschaftlichen Tätigkeit war gewachsen; er strebte meist nach Realisierung im Kontext der Restitution nationaler Größe; bei nicht wenigen Fachvertretern verbanden sich pragmatische Zielvorstellungen und quasipolitologische Fragestellungen vor diesem Hintergrund mit einer entfremdeten, auf die Grundkategorien „Rasse“ und „Kultur“ gesetzten idealistischen Epistemologie. Die geschilderten Intentionen und Entwicklungen konnten freilich nicht zur Entwicklung einer schlüssigen Methodologie oder eines kohärenten Selbstverständnisses des Fachs führen. Stattdessen war die Anglistik zu Beginn der NS-Zeit im Gesamtbild eine Disziplin auf der Suche, die hin und her zu schwanken drohte zwischen Historismus und Gegenwartsorientierung, zwischen den Idealen abgehobener Wissenschaftlichkeit und möglichst unmittelbarer sozialer oder politischer Relevanz, zwischen nationalistischer Vaterlandsbindung und dem Wunsch nach dem Verständnis anderer Länder, Kulturen oder politischer Systeme, aber auch zwischen Politik, Geschichte, Kultur, Literatur und Sprache. Wie das zum Ende des vorangehenden Kapitels angeführte Zitat von Rudolf Münch nahelegt, fürchtete die Disziplin zudem um ihr „Daseinsrecht“ im Kontext der durch die Nationalsozialisten betriebenen Umgestaltung der Gesellschaft.48 Vor diesem Hintergrund erscheint es einleuchtend, dass die Anglistik nicht nur für Ideologien und Programmatiken des Nationalsozialismus anschlussfähig, sondern auch für entsprechende Interventionen in den Lehr- und Wissenschaftsbetrieb anfällig war. Das „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ („Aufruf an die Gebildeten der Welt“) vom Oktober 1933 wurde von mehreren Hochschulanglisten unterzeichnet, unter denen auch der dem Nationalsozialismus fern stehende Schücking war.49 Zu den häufig angeführten Ergebenheitssignalen führender Anglisten gehört neben dem bereits zitierten Beitrag Hechts zum Shakespeare-Jahrbuch von 1934 auch der die Gleichschaltung der Disziplin bereits resümierende, von Robert Spindler verfasste „Gruß der Englischen Philologie zum 50. Geburtstag Hitlers“: „Die nationalsozialistische Revolution hat auf die englische Philologie, die Wissenschaft von der Kultur und Sprache der angelsächsischen Völker, in Forschung
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philologie als Auslandswissenschaft, 29f. Dibelius, dessen Englandkunde nach wie vor das „nicht überholte deutsche Standardwerk“ sei, habe „keine ihm entsprechende Nachfolge gefunden.“ Die „Kulturkunde“ habe zwar die Absetzung vom rein Philologischen gebracht, es sei aber keine „Gesamtanschauung“ geleistet worden: Ihre „erste Gefahr“ sei gewesen, dass „sie zu einem Geschwätz über Dinge verführte, von denen man nichts verstand, weil sie andere Facharbeit und anderes Fachwissen voraussetzten“. Finkenstaedt, Kleine Geschichte der Anglistik, 126f.: „Angesichts der Ereignisse des Weltkriegs, der Niederlage und all ihrer Auswirkungen auf das Wirtschaftssystem und das Bildungswesen ist die hochschulpolitische und allgemein politische Abstinenz fast aller Anglisten zumindest bis 1933 immerhin erwähnenswert, ohne den Vergleich mit anderen Fächern allerdings nur von begrenzter Aussagekraft.“ Zur methodologischen Unsicherheit der Anglistik im betreffenden Zeitraum siehe insbesondere Pfeiffer, Anglistik, 39-41. Hausmann, Anglistik, 81 mit Anm. 150.
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wie Lehre in weitem Ausmaß und in hohem Grade bestimmend und befruchtend eingewirkt.“50 Schwieriger zu bestimmen sind die Haltungen und Strategien, mit denen die neuen Machthaber sowie ihr Herrschafts- und Verwaltungsapparat der Anglistik gegenübertraten. Finkenstaedts These, die „Geisteswissenschaften an der Universität“ (also nicht die entsprechenden Schulfächer!) seien „den Machthabern recht gleichgültig“ gewesen und außer im Fall direkter Angriffe habe man „die Leute weiterspinnen“ lassen, ist sicher mit großer Skepsis zu begegnen.51 Dagegen spricht allein schon die Zahl der nach 1933 wegen ihrer Herkunft und aus politischen Gründen aus dem Amt gesetzten Fachvertreter: Acht von fünfundzwanzig Lehrstuhlinhabern wurden entlassen.52 Ein fast noch deutlicheres Indiz für das Interesse der Machthaber und ihres Apparats am Tun und Denken der Hochschulanglisten sind die detaillierten, nicht selten denunziatorischen Auskünfte, die Funktionäre – wie z. B. Vertreter des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) oder des konkurrierenden Hauptamts Wissenschaft im Amt Rosenberg – auch über ausgewiesene Nationalsozialisten unter den Wissenschaftlern einholten.53 Freilich fehlte es den Nationalsozialisten an einem genauen Bild der gleichwohl geforderten nationalsozialistischen Wissenschaft.54 Dies hinderte sie aber keineswegs daran, wirkungsvolle – wenn auch in der Praxis häufig widersprüchliche – Hochschulpolitik und Hochschuladministration zu betreiben. Als Beispiel für die dabei zugrunde liegenden Vorstellungen sei aus dem Band Erziehungsmächte und Erziehungshoheit im Großdeutschen Reich zitiert, mit dem Funktionäre der Bildungsadministration das Chaos der nationalsozialistischen Bildungslandschaft einem breiteren Publikum verständlich machen wollten. Nach dem Beitrag „Die deutsche Hochschule“ war es Ziel nationalsozialistischer Politik, „aus dem Überkommenen heraus die Hochschulen zu einem geschlossenen Arbeitskörper und Erziehungskörper umzuschaffen“.55 Auffallend ist hier die Abwesenheit von Begriff und Wert der „Wissenschaft“: Auch die Universitäten sollten staatliche Erziehungsanstalten und Exekutivorgane werden. So erklärt der Verfasser, dass der mehr dynamisch und pragmatisch anmutende Begriff „Forschung“ dem der „Wissenschaft“ vorzuziehen sei.56 Dem tatsächlichen Stand der Umgestaltung der Universitäten vorausgreifend, teilt er die Hochschulen in „Arbeits-“ und „Erziehungskreise“ ein – und deutet dabei die Vorbehalte an, die eine nationalsozialistisch motivierte Hochschulpolitik den Kulturwissenschaften entgegenbringen musste: „Schwieriger scheint es um den geschichtlichen Arbeitskreis zu stehen, also um den Bereich der verschiedenen geschichtlichen und sprachlichgeschichtlichen Fächer.“ Es gelte sicherzustellen, dass auch dieser Arbeitskreis „einen Weg zur politischen Erfahrungskunst“ finde, denn in der „Vergangenheit“ hätten sich die 50 51 52
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56
Zit. nach Finkenstaedt, Kleine Geschichte der Anglistik, 161. Finkenstaedt, Kleine Geschichte der Anglistik, 163. Hausmann, Anglistik, 57. Unter den Entlassenen waren Friedrich Brie, Karl Brunner, Rudolf Hittmair, Hans Hecht, Leo von Hibler zu Lebmannssport und Rudolf Imelmann. Der Anteil von Entlassenen war laut Hausmann im Vergleich zu anderern Disziplinen „außerordentlich hoch“. Weil sie nicht zu anglistischen Seminaren gehörten, werden die beiden vertriebenen Amerikanisten Moritz J. Bonn und Ernst Jäckh bei Hausmann offenbar nicht berücksichtigt. Vgl. Gassert, Amerika im Dritten Reich, 118. Viele dieser Noten werden von Hausmann angeführt und ausführlich zitiert; vgl. z. B. ein entsprechendes Dokument zu Hans Galinsky in Hausmann, Anglistik, 189f. Dies betont z. B. Michael Grüttner, Die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik und die Geisteswissenschaften, in: Holger Dainat (Hg.), Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus, Tübingen: Niemeyer, 2003, 13-39; bes.: 13-20. Friedrich Neumann, Die deutsche Hochschule, in Rudolf Benze / Gustav Gräfer: Erziehungsmächte und Erziehungshoheit im Großdeutschen Reich als gestaltende Kräfte im Leben des Deutschen, Leipizig: Quelle & Meyer, 1940, 167-186; zit. 174. Benze war Gesamtleiter des Deutschen Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht, Berlin; Regierungsdirektor Gräfer fungierte als Leiter der Abteilung für höheres Schulwesen beim Staatspräsidenten der Reichshauptstadt. Es handelt sich also um eine gewissermaßen amtliche Publikation. Neumann, Hochschule, 180.
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zugehörigen Fächer „noch nicht in wirklich fruchtbringender Weise in das Gesamtleben eingegliedert“. Wie der Text offenbart, bereitete neben der Tradition des Historismus vor allem der in literaturwissenschaftlichen und anderen ästhetischen Fragestellungen verborgene humanistische Grundbestand sowie der mit beidem verbundene Relativismus Sorge: Vielen Fächern des „geschichtlichen Arbeitskreises“ habe bislang „zu viel von einer rein literarischen Wissenschaft“ angehaftet, „die einer antiquarischen Neigung entsprach oder einer mehr ästhetischen allmenschlichen Bildung diente“. Aber auch diese Disziplinen müssten nun auf „eine Politik der Volksgestaltung“ bezogen werden.57 Diese Aussage enthält eine zweifache Forderung an Wissenschaften wie die Anglistik: Zum einen sollten sich die kultur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen als Ausführende eines von der „Volksgemeinschaft“ gegebenen politischen Auftrags verstehen und in diesem Sinne pragmatisieren und politisieren; zum anderen sollten sie sich zu den rassistisch transformierten „Lebenswissenschaften“ hin öffnen. „Volksgemeinschaft“, „Rasse“ und „Raum“ würden – wenigstens nach dem Ideal nationalsozialistischer Visionäre – die gemeinsamen Grundkategorien aller Wissenschaften sein. Neben Defiziten hatte die Anglistik aus nationalsozialistischer Sicht aber auch eine Reihe von Qualitäten und Potentialen anzubieten. Sie konnte notwendiges Orientierungswissen zu Großbritannien liefern, das sowohl einen wichtigen Bezugspunkt nationalsozialistischen Selbstverständnisses wie auch einen zentralen Gegenstand nationalsozialistischer Außenpolitik darstellte. Insbesondere im Vorfeld des amerikanischen Kriegseintritts wuchs dann der – von den Nationalsozialisten nach Kräften geförderten – Amerikanistik mit Bezug auf die USA eine ähnliche Rolle zu. Die beiden Schwesterdisziplinen waren aber auch in der Lage, Propagandaarbeit zu leisten bzw. solche Arbeit zu befruchten. Sie vermochten kompetente Dolmetscher auszubilden sowie sprachgeschulte Eliten, die das nationalsozialistische Deutschland im Ausland vertreten würden. Bei der „Gleichschaltung“ der Anglistik und beim Ausbau einer NS-konformen Amerikanistik konnten die Machthaber auf in der Professorenschaft verhältnismäßig stark ausgeprägte nationalistische Ressentiments aufbauen und diese zu einem Denkstil bündeln. Sie konnten an starke Selbstorganisationsund Selbstmobilisierungskräfte anschließen, welche die Anglistik bereits in gewünschter Richtung zu verändern begonnen hatten. Bei Versuchen solcher Einflussnahme war es zudem möglich, einen latenten akademischen Generationengegensatz auszunutzen. Denn durch die Forderungen des NS-Staats an die Disziplin wurde „ein insbesondere von aufgeschlossenen und jungen Fachvertretern längst vorgebrachtes Postulat der Modernisierung durch Gegenwartsbezug eingelöst“.58 Kongruenz: Anglistik im Nationalsozialismus Wie eingangs ausgeführt, wird in der bisherigen Forschung das Thema der Anglistik im „Dritten Reich“ primär über die Aufarbeitung der Lebensgeschichte und des Wirkens einzelner Anglisten sowie über die statistische Auswertung der wissenschaftlichen Publikationstätigkeit in den Blick genommen. Angesichts der Kürze der bisherigen Forschungsgeschichte und der Menge des zu erschließenden Materials erscheint dies auch natürlich und richtig. In Verbindung mit der unbewusst verkürzenden Hauptfragestellung, „wie stark die Geisteswissenschaften nazifiziert waren“59, muss die biographisch-statistische Zugangsweise allerdings zu widersprüchlichen Ergebnissen führen: Man weiß um die Existenz ei57 58 59
Neumann, Hochschule, 183f. Hausmann, Anglistik, 77. Grüttner, Die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik, 20.
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ner sich in das Projekt Nationalsozialismus fügenden und zu ihm beitragenden Anglistik, bekommt sie im bibliographischen oder biographischen Detail aber offenbar nicht zu fassen. Besonders deutlich tritt dies bei Versuchen zutage, das akademische Schrifttum nach dem Grad seiner nationalsozialistischen Prägung zu klassifizieren und aus den Ergebnissen auf die ideologische Durchdringung des Fachs als Ganzem zu schließen. Hausmann beispielsweise unterscheidet zwischen (1.) „neutralen“ Publikationen, (2.) durch Titel, Anfangs- oder Schlussfloskeln nur äußerlich, aber nicht in der Substanz an nationalsozialistische Ideologeme angepassten Schriften, (3.) Versuchen der Fundierung einer völkischrassischen Anglistik sowie (4.) „reinem Propagandaschrifttum“. Unter dem Vorbehalt, dass genaue Zahlenangaben schwer beizubringen seien, weil hierfür eigentlich das gesamte damalige Schrifttum ausgewertet werden müsste, kommt Hausmann zu dem Ergebnis: „Die Gruppe 1 dürfte etwa 80% ausmachen; die Gruppe 2 ist größer als die Gruppen 3 und 4.“60 Später wird diese Aussage im Prinzip noch weiter eingeschränkt: „Der Anteil NSgeprägten anglistischen Schrifttums dürfte zwischen 10 und 20% liegen.“61 In ähnlicher Weise bleiben bei Finkenstaedts Versuch, „die aktiven Nationalsozialisten unter den Anglisten namentlich aufzuzählen“, schließlich „nur wenig[e] eindeutige Fälle“ übrig: „Rainald Hoops [...]; Wolfgang Schmidt-Hidding, ein im Grunde unpolitischer Mensch; Robert Spindler, in dessen Veröffentlichungen weniger Inkriminierendes als Törichtes zu finden ist. Und bei weiteren Namen beginnen schon die Zweifel, ob man entsprechende Veröffentlichungen auf Überzeugung oder Opportunismus zurückführen soll.“62 Das auf dem problematischen Kriterium einer echten Überzeugtheit fußende Ergebnis ist sicherlich nicht zuletzt der ausgeprägt versöhnlichen Haltung zuzuschreiben, die Finkenstaedts in einem frühen Stadium der Diskussion erschienene Publikation prägen. Hausmann ist bei der Beurteilung des Verhaltens der Fachvertreter sehr viel kritischer. Dennoch zeugen Widersprüche, die sich auch bei Hausmann bezüglich der Bewertungen einzelner Anglisten beobachten lassen, von der Problematik eines zunächst die Personen fokussierenden und sie klassifizierenden Zugriffs. Im Zusammenhang einer überblickenden Kategorisierung der Wissenschaftler führt Hausmann den zur jungen Riege der damaligen Anglistik gehörenden Hans Galinsky – der sich durch einschlägige Publikationen nicht nur im Rahmen des Kriegseinsatzes als Protagonist einer nationalsozialistischen Anglistik auswies und später eine wichtige Rolle in der aufstrebenden bundesrepublikanischen Amerikanistik spielte – interessanterweise auf der erstaunlich langen Liste jener, „die sich ambivalent verhielten“ und die man darum „im negativsten Fall als ‚Gläubige‘ und im neutralsten als ‚Gleichgültige‘ oder ‚Gelegentliche‘ bezeichnen kann“.63 Im Kontext einer gesonderten Darstellung des Falls kommt Hausmann dann jedoch zu einem anders akzentuierten Ergebnis und bezeichnet Galinsky als einen „der überzeugtesten und aktivsten NSAnglisten“.64 Besonders signifikant erscheinen die Ambivalenzen und Kontroversen, die in der Diskussion über die Frage der Verstricktheit Herbert Schöfflers auftreten. Bereits die Eckdaten von Schöfflers Lebenslauf65 machen die vielseitige Widersprüchlichkeit seiner Person und seines Verhaltens deutlich. Der über die engeren Fachgrenzen hinaus bedeutende Anglist hatte sich 1911 mit einer Arbeit zur französischen Literatur promoviert und 1918 mit einer lexikographischen Studie zur mittelenglischen Medizinliteratur habilitiert. 1926 nahm er 60 61 62 63 64 65
Hausmann, Anglistik, 124. Hausmann, Anglistik, 127. Finkenstaedt, Kleine Geschichte der Anglistik, 166f. Hausmann, Anglistik, 78. Hausmann, Anglistik 185. Siehe v. a. Hausmann, Anglistik, 502f. und 365-390; Haenicke/Finkenstaedt, Anglistenlexikon, 284286.
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einen Ruf nach Köln an und wurde dort 1932 Dekan. Nach Darstellung von Hausmann trat Schöffler „in keine NS-Organisation ein und hatte permanent Ärger mit nationalsozialistischen Studenten, Professoren und der Partei“.66 Eine Artikelserie über den „Witz der deutschen Stämme“, die er – wohlgemerkt auf Anregung der Redaktion – für das Goebbels nahestehende nationalsozialistische Profilierungsorgan Das Reich verfasst und dort Anfang 1941 publiziert hatte, erregte den Zorn des Kölner Gauleiters, der für die Suspendierung des Professors sorgte.67 Ausschlaggebend war dabei offenbar nicht etwa die politische Position der Artikel, sondern vielmehr die geringschätzende Darstellung des Kölschen Humors. Schöffler ging als Professor nach Göttingen, wo er in der unmittelbaren Nachkriegszeit das Dekanat der Philosophischen Fakultät innehatte. In dieser Funktion hielt er im Oktober 1945 vor etwa 500 Zuhörenden und 30 Kollegen eine Rede, in der er sich auch mit seinem eigenen Antisemitismus auseinandersetzte, ohne diesen aber überwunden zu haben.68 Solche Ausführungen erregten Anstoß bei den Besatzungsbehörden, die Schöffler vorluden. Die Verunsicherung durch die Reaktionen auf seine umstrittene Rede könnte einer der Gründe gewesen sein, warum sich Schöffler im Frühjahr 1946 das Leben nahm. An Finkenstaedts überaus positive Bewertung Schöfflers schließt Pfeiffer an und bringt das Verhalten des Ordinarius während der NS-Zeit mit einer „intellektuellen Allegorie der Distanz“ in Verbindung.69 Hausmann betont zwar ausdrücklich, Schöffler solle „keinesfalls in die NS-Ecke gestellt werden“70, kommt im Rahmen einer ausführlichen Darstellung – die nicht nur auf Schöfflers Serie zum Witz und ihre Hintergründe, sondern auch auf seinen Beitrag zum „Kriegseinsatz“ der Geisteswissenschaften sowie auf die Göttinger Nachkriegsrede eingeht – schließlich aber dennoch zu einer ausgesprochen kritischen Beurteilung. Dass der Querdenker Schöffler auch während des „Dritten Reichs“ in vielem „ein Nonkonformist“ gewesen sei, so zeigt sich, schließt seine bewusste und unbewusste Einordnung, Zustimmung und Partizipation in anderen Zusammenhängen keinesfalls aus. Zwar habe Schöffler sich selbst für einen Nazi-Gegner gehalten, er habe aber gleichzeitig in vielen wesentlichen Punkten mit Hitlers Politik übereingestimmt.71 Es ist gerade die Auseinandersetzung mit Schöffler, die Hausmann zu dem Schluss veranlasst: „Hätte das ‚Großdeutsche Reich‘ Bestand gehabt, wäre die traditionelle deutschsprachige Geisteswissenschaft philologisch-historischer Ausrichtung [...] mit Sicherheit
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Hausmann, Anglistik, 502. An anderer Stelle (386) zitiert Hausmann jedoch eine zeitgenössische Parteiquelle, nach der Schöffler zwar nicht in der Partei, jedoch in der NSV und im NSDDB war. Siehe v. a. Hausmann, Anglistik 369-371; 375f.; 378-385. Die Witz-Serie machte nach 1945 eine lange und bis in die Gegenwart anhaltende Karriere: 1955 erschien sie unter dem Titel Kleine Geographie des deutschen Witzes bei Vandenhoeck & Ruprecht mit einem Nachwort von Helmuth Plessner, 1984 erreichte sie das 91. Tausend, 1995 wurde die 10. Auflage veröffentlicht. Vgl. Hermann Heimpl, „Zur Lage“: Eine Vorlesung des Professors der Englischen Philologie, Herbert Schöffler, gehalten im Oktober 1945, in: Hartmut Boockmann / Hermann Wellenreuther (Hg.), Geschichtswissenschaft in Göttingen, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1987, 364-399; Weisbrod, Moratorium der Mandarine, 273; Pfeiffer, Anglistik, 58f.; Haenicke / Finkenstaedt, Anglistenlexikon, 286. Die Angaben in der Literatur weichen voneinander ab. So ist bei Hausmann von einer dreiteiligen Vorlesung am 18., 19. und 28. Oktober 1945 die Rede; bei den anderen Autoren aber nur von einer offenbar einmaligen Rede am 18. Oktober. Interessant ist die lakonische Darstellung und deutliche Wertung bei Weisbrod: „In Göttingen hat sich . . . der Nachkriegsdekan der Philosophischen Fakultät, der Anglist Herbert Schöffler, im Oktober 1945 mit einer öffentlichen Vorlesung ‚Zur Lage‘ vor etwa 500 Zuhörern und 30 Kollegen um Kopf und Kragen geredet. [...] Wer wie Schöffler öffentlich darüber räsonierte, man könne wohl einen oder zwei Juden in der Fakultät verkraften, mehr aber nicht, wer in Anwesenheit der britischen Bildungsoffiziere die deutschen Soldaten als die besten der Welt ausrief, der sprach möglicherweise den Studenten und Kollegen aus dem Herzen, aber seine Forderung nach einem Ende der ‚Denunziationen‘ und der Rettung des Geistes aus ‚innerer Haltung‘ war damit nicht zu begründen.“ Pfeiffer, Anglistik, 57-62. Hausmann, Anglistik, 368. Hausmann, Anglistik, 385-87.
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untergegangen.“72 Bei einem Zurücktreten einer biographisch-klassifizierenden Perspektive scheint also gerade der Ausnahmemensch Schöffler als wichtiges Beispiel für die Existenz einer im Ganzen mit dem Regime konvergenten – und dabei erodierenden – Anglistik hervorzutreten, d. h. einer Anglistik, die sich zwar nicht immer als nationalsozialistisch verstehen wollte, die trotz gelegentlicher Reibungen aber hervorragend mit dem Nationalsozialismus, der nationalsozialistischen Gesellschaft und ihren Ideologien kompatibel war. In diesem Licht betrachtet erscheint es fraglich, ob eine wirkliche persönliche Distanz zum Nationalsozialismus zu einem geringeren Preis zu realisieren gewesen wäre als den des Bruchs mit der Disziplin – ihren Institutionen genauso wie ihren Methoden und Semantiken.73 Tatsächlich erhoffte sich ja auch ein prinzipieller Nonkonformist wie Schöffler, dass bestimmte schon lange vor 1933 begonnene Forschungen im Kontext des neuen Regimes erst Recht Gehör finden würden. Im Vorwort seiner 1937 erschienenen religionssoziologischen und kulturmorphologischen Studie Abendland und altes Testament erklärte er, dass die dargestellten Forschungen bis auf eine Probevorlesung von 1918 zurückgingen, und fuhr fort: „Was 1918 vielleicht als blasse These eines Anfängers wirken mochte, dürfte heute allen Lagern wesentlich einleuchtender erscheinen.“74 Schöfflers außerordentlich komplexe Argumentation hebt von der Grundthese eines englischen Exzeptionalismus ab, der auf der starken Anlehnung des englischen Christentums an das im Wesen „hebräische“ Alte Testament beruhe. Bei aller Vieldeutigkeit der Repräsentation des jüdischen Glaubens und des Judentums durch Schöffler, ist die Studie doch von einer sehr deutlichen antisemitischen Tendenz gekennzeichnet, deren spezifische Qualität sich durch einige für den Text insgesamt typische Begriffe und Phrasen andeuten lässt. So spricht Schöffler bezüglich bestimmter Tendenzen der englischen Religionsgeschichte von „einem dauernden SichÜberbieten im Judaisieren“, lebendige jüdisch-europäisch Kultur erscheint ihm „sozusagen“ als „empirisches Altes Testament“ und die Länder, in denen Juden leben, bezeichnet der Anglist als „Wirtsländer“.75 Auch das Klischee vom „Münzklingeln des jüdischen Wechslers“ fehlt nicht.76 Gleichzeitig zeichnet sich Schöfflers Schrift durch einen esote-
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Hausmann, Anglistik, 389. Im Zusammenhang mit dieser These wäre die genauere Auseinandersetzung mit Walter F. Schirmer, der in bisherigen Veröffentlichungen zur Fachgeschichte während des Nationalsozialismus eine relativ geringe Rolle spielt, interessant und notwendig. Der Schüler des später aufgrund seiner teilweise jüdischen Herkunft ausgegrenzten Friedrich Brie ist nicht nur unter die bedeutenden Anglisten der Zeit vor 1945 zu rechnen, sondern er war später auch einer der echten „Mandarine“ der bundesrepublikanischen Anglistik und wirkte persönlich sowie über seine Schüler weit über seine Emeritierung im Jahr 1957 hinaus prägend. Während des „Dritten Reichs“ zeigte sich Schirmer gegen den Zeittrend als konsequenter Literaturgeschichtlicher. Seine Publikationen hielten nicht nur deutlichen Abstand zu kulturkundlichen Paradigmen, sondern waren auch überraschend frei von Verbeugungen vor nationalsozialistisch anerkannten Ideologemen. Überhaupt fällt bei Betrachtung der 1937 erschienenen Erstausgabe seiner später vielfach umgearbeiteten Geschichte der englischen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart eine generelle, beinahe schon lakonische Nüchternheit auf: Es gibt kein Vorwort, keine Einleitung und nicht einmal ein Resümee. Den Gedanken der Flucht (?) in einen schmucklosen Positivismus bestätigt auch die 1943 erstveröffentlichte und 1945 bezeichnenderweise ohne jegliche Veränderung neu aufgelegte Kurzfassung desselben Werks. Andererseits machte Stürmer während des „Dritten Reichs“ ungebrochen Karriere. Er wurde nicht nur Vorstandsmitglied der überaus stark ideologisch ausgerichteten Shakespeare-Gesellschaft, sondern 1943 sogar der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Herbert Schöffler, Abendland und altes Testament. Untersuchungen zur Kulturmorphologie Europas, insbesondere Englands (Kölner Anglistische Arbeiten 30), Bochum: Pöppinghaus, 1937, o. p. Vgl. aber Pfeiffer, Anglistik, 60: Hier wird das zitierte Vorwort mit seinem Verweis auf die lange Genese der Darstellung als „antinazistischer Sarkasmus“ interpretiert. Fraglich erscheint allerdings nicht nur, ob sich das Vorwort wirklich als sarkastisch versteht, sondern auch, ob ein solcher Sarkasmus tatsächlich antinazistisch wäre. Schöffler, Abendland und altes Testament 71; 83. Schöffler, Abendland und altes Testament 90.
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risch anmutenden Begriff von „Volk“ aus, der zu terminologischen Konstruktionen wie etwa „volksseelische Tatsachen“ oder gar „christliche Volksgemeinschaft“ führt.77 Ansätze einer nationalsozialistischen Anglistik Im vorangehenden Abschnitt wurde die These vertreten, dass die nicht zuletzt unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs mobilisierte deutsche Anglistik schon bis 1933 sehr weitgehend mit nationalsozialistischen Programmatiken und Ideologien kompatibel war und nach diesem Zeitpunkt bewusst oder unbewusst am Projekt Nationalsozialismus partizipierte. Daneben standen freilich auch explizite Versuche der programmatischen Neuorientierung hin zu einer im emphatischen Sinn nationalsozialistischen Anglistik. 1934 legte der drei Jahre zuvor in Marburg habilitierte 31-jährige Anglist Wolfgang Schmidt unter dem etwas sperrigen Titel Neuphilologie als Auslandswissenschaft auf der Grundlage des Sprachstudiums eine Schrift vor, die Finkenstaedt als Versuch der „theoretischen Grundlegung einer Anglistik des Dritten Reichs“ einordnet.78 Die Broschüre changiert in ihrer Funktion zwischen einem Reformpapier für die Neuphilologien im Ganzen, einer programmatischen Schrift für die Anglistik und einem reformerischen Studienführer für Hörer desselben Fachs. Im Vergleich zu Versuchen, die mit unscharfen Begriffen wie „Charakter“, „Wesen“ oder „Typus“ operierende Kulturkunde durch verstärkte Ausrichtung auf die Kategorien „Rasse“ und „Volkstum“ im nationalsozialistischen Sinn zur „Charakterkunde“ oder „Volkslebenslehre“ weiterzuentwickeln79, fällt die pragmatische Nüchternheit von Schmidts Ansatz auf. Er versucht, Zielsetzungen, Gegenstände und Methodenrepertoire der konzipierten nationalsozialistischen Anglistik möglichst klar zu bestimmen und einzugrenzen, indem er die Disziplin als Teil einer alle Neuphilologien umfassenden nationalsozialistischen „Auslandswissenschaft“ versteht. Das heißt auch, dass Schmidt am Charakter der Anglistik als einer Sprach- und Textwissenschaft festhält. Er meint allerdings eine mit umfangreichen (volks-)didaktischen Aufgaben betraute, von allem humanistischen Ballast befreite, politisch aufgeladene Sprach- und Textwissenschaft. Die von Schmidt projektierte Anglistik lässt sich vielleicht als von England handelnder sprachkritischer Teil einer interdisziplinären machtpragmatischen Politologie charakterisieren – einer Politologie, die explizit auf die Belange der eigenen Nation ausgerichtet ist und die eine wesenhafte Beziehung zwischen Politik und „Nationalcharakter“ unterstellt: „Es gilt, die „Mächtigkeit“ unserer Feind- und Freundnationen zu erforschen und den deutschen Kameraden ein klares Bild davon zu geben, die es haben müssen. Zur ‚Mächtigkeit‘ gehört aber nicht allein die politisch-militärisch-wirtschaftliche Macht, sondern all das, was ein Volk innerlich stark macht. [...] Shakespeare ist ein gewaltiger politischer Machtfaktor für England. Die Sprachwissenschaft vom Ausland hat in all die Leistungsgebiete einzudringen, zu denen von der Sprache her ein besonderer Zugang besteht.“80 Die von Schmidt geforderte Anglistik würde weiterhin literaturwissenschaftliche Fragestellungen verfolgen – allerdings nur insoweit sie von machtpolitischem Belang sein könnten. Bestimmte Gegenstände sollten an die Germanistik abgegeben werden, so die als „germanisch“ verstandene epische angelsächsische Literatur.81 Nach den Vorstellungen Schmidts hatten sich die in Deutschland betriebenen Neuphilologien weitgehend von der 77 78 79 80 81
Schöffler, Abendland und altes Testament 61; 79. Finkenstaedt, Kleine Geschichte der Anglistik, 165. Ähnlich Hausmann, Anglistik, 11. Vgl. z. B. Héraucourt, Die Darstellung des englischen Nationalcharakters; Münch, Die dritte Reform. Schmidt, Neuphilologie als Auslandswissenschaft, 33f. Schmidt, Neuphilologie als Auslandswissenschaft, 26.
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Sprachgeschichte freizumachen. Diese könne absolut gesehen zwar ihren Wert haben, sei aber Sache des betreffenden Volkes selbst und nicht der deutschen Auslandswissenschaft.82 Der Sprachwissenschaft werden vor allem zwei Aufgaben zugeschrieben: Sie soll zum einen der praktischen Sprachbeherrschung des Englischen durch Deutsche dienen, zum anderen hat sie sich einer in der Konsequenz rassenhygienischen „deutenden Stilkunde“ zu widmen, welche „Besonderheiten des Ausdrucks“ erfassen und diese „auf die Persönlichkeit des Sprechenden, dessen Familien-, Stammes-, Volks-, Rassen- und Zeitzugehörigkeit“ zurückführen kann.83 Die antagonistische Tendenz einer solchen Anglistik trat im Krieg deutlich zutage. Noch 1939 veröffentlichte Schmidt einen programmatischen Aufsatz über „Die Anglistik im zweiten deutsch-englischen Krieg“.84 Zu den als Broschüren-Reihe veröffentlichten „Kriegsvorträgen der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn“ steuerte er im folgenden Jahr zwei Titel bei.85 In der (propagandistischen) Verarbeitung von Vorfällen wie dem „Altmark-Zwischenfall“ vom Februar 1940, bei dem ein britischer Zerstörer in norwegischen Gewässern ein deutsches Versorgungsschiff enterte, wies Schmidt der Anglistik eine gleichgewichtige Rolle neben Völkerrechtslehre und Geschichtswissenschaft zu. Im Sinn einer quasi-kriminologischen Charakterkunde ist es Aufgabe des Anglisten zu zeigen, dass es sich bei den Engländern – genauer: der „englischen Herrenschicht“ – um internationale „Gewohnheitsverbrecher“ handelt.86 Vor allem war Schmidt dann unter den treibenden Kräften des anglistischen „Kriegseinsatzes“. Neben Paul Meißner und Carl August Weber gehörte er zu den Herausgebern der in diesem Rahmen unter dem übergreifenden Titel „England und Europa“ entstandenen bzw. geplanten „Gemeinschaftsarbeit der deutschen Englandwissenschaft“.87 Im Kontext des nationalsozialistischen Paradigmas einer machtpragmatischen „Auslandswissenschaft“ erlebte auch die deutsche Amerikanistik ihren Durchbruch als akademische Disziplin. Sie war von Anfang an stärker landes-, institutionen- und kulturkundlich orientiert gewesen als die Anglistik: Für eine Nachahmung der klassischen Philologie, wie sie die Anglistik lange bestimmt oder beeinflusst hatte, bot die junge sprachliche Kultur Nordamerikas nicht den richtigen Stoff.88 Die außeruniversitäre Institutionalisierung der Amerikanistik hatte einen Anfang schon vor dem Ersten Weltkrieg: 1910 wurde von der Regierung in Berlin ein Amerika-Institut gegründet, welches zu einem beträchtlichen Teil aus amerikanischen Privatspenden finanziert war.89 Im Kontext der auf den Krieg folgenden kulturkundlichen Welle schien der Zeitpunkt für die universitäre Institutionalisierung der jungen Disziplin gekommen. Die Programmschrift, in welcher der noch junge Amerika-erfahrene Germanist und Anglist Friedrich Schönemann 1921 – mit direktem Verweis 82 83 84 85
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Schmidt, Neuphilologie als Auslandswissenschaft, 24. Schmidt, Neuphilologie als Auslandswissenschaft, 23. Wolfgang Schmidt [Schmidt-Hidding], Die Anglistik im zweiten deutsch-englischen Krieg, in: Die Neueren Sprachen 47 (1939), 631-38. Wolfgang Schmidt [Schmidt-Hidding], Altmark: Ein neuer Übergriff britischer Arroganz (Kriegsvorträge der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Heft 1), Bonn: Scheur, [1940]; Ders., Träger und Methoden der britischen Außenpolitik (Kriegsvorträge der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn, Heft 3), Bonn: Scheur, 1940. Schmidt, Altmark, 3. Vgl. Carl August Weber, Hg., Die englische Kulturideologie (England und Europa – Gemeinschaftsarbeit der deutschen Englandwissenschaft), 2 Bde., Stuttgart: Kohlhammer, 1941 und 1943. Auf dem Vorsatzblatt der Bände werden Wolfgang Schmidt und Paul Meißner neben Weber (in dieser Reihenfolge) als Herausgeber der gesamten, unter dem Titel „England und Europa“ stehenden „Gemeinschaftsarbeit“ genannt. Eine umfassende Darstellung der Geschichte der deutschen Amerikanistik müsste über die anglistischen Institute hinausgreifen. Hier soll es nur um die Institutionalisierung der Amerikanistik im Kontext der Anglistik und um ihre beginnende Emanzipation von der Anglistik im engeren Sinn gehen. Finkenstaedt, Kleine Geschichte der Anglistik, 149.
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auf die Rolle der USA im Krieg – eine sich als „angewandte Geschichtswissenschaft“ verstehende „Amerikakunde“ forderte, ist oben bereits zitiert worden. Trotz seiner ausgezeichneten Qualifikation – er hatte von 1912 bis 1920 in den Vereinigten Staaten gelehrt, zuletzt sieben Jahre lang in Harvard – musste Schönemann dann allerdings lange auf seinen endgültigen Durchbruch als Pionier der deutschen Fach-Amerikanistik warten. Zwar habilitierte er sich 1923 als erster Deutscher mit einem rein amerikanistischen Thema und wurde 1926 als planmäßiger Assistent an das Berliner Englische Seminar geholt, wo unter der Ägide von Dibelius mit dem Aufbau einer Amerika-Abteilung begonnen wurde. Doch einen eigenen amerikanistischen Lehrstuhl, den ersten in Deutschland90, erhielt der nun bereits 50-Jährige erst 1936, nachdem sich im Kontext des Nationalsozialismus die Agenda an den Hochschulen verändert hatte – und nachdem das ehemalige DVP-Mitglied Schönemann 1933 der NSDAP beigetreten sowie als Autor einer nationalsozialistischen Bekenntnisschrift hervorgetreten war.91 Schönemanns Lebenslauf illustriert, das von Philipp Gassert hervorgehobene Faktum, dass die Amerikakunde an Schulen und Universitäten zu den Bereichen gehörte, „in denen der Nationalsozialismus tatsächlich einen Innovationsschub bewirkte“.92 Mit dem spät arrivierten Friedrich Schönemann als wichtigstem Protagonisten einer nationalsozialistischen Amerikanistik hat der oben behandelte Vordenker einer nationalsozialistischen Anglistik, Wolfgang Schmidt, die späte Konversion zum Nationalsozialismus gemeinsam: Schmidt trat im Mai 1933 in die NSDAP ein, und nach einer Beurteilung durch den Marburger Dozentenbundführer soll er „bis Januar 1933 überzeugter Demokrat“ gewesen sein.93 Trotzdem agierten sowohl Schönemann als auch Schmidt nicht als „Opportunisten“, sondern als „wirklich Überzeugte“. Sie teilten auch jenen quasi-politologischen Pragmatismus, der die zukunftsträchtige nationalsozialistische Anglistik/Amerikanistik von der Regime-konformen Anglistik im Nationalsozialismus unterscheidet. Verklammerung und Erosion: Der „Kriegseinsatz“ und die Anglistik der Zukunft Der nach seinem Hauptinitiator, dem jungen Kieler Universitätsrektor Paul Ritterbusch, auch als „Aktion Ritterbusch“ bekannte so genannte „Kriegseinsatz“ der deutschen Geisteswissenschaften gehört zu den gleichermaßen absurd anmutendenden wie signifikanten Episoden der Wissenschaftsgeschichte des „Dritten Reichs“.94 Es handelte sich um den von
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Außer in Berlin fanden im Untersuchungszeitraum von entsprechend qualifizierten Dozenten oder dem Lehrstuhlinhaber selbst getragene regelmäßige amerikanistische Lehrveranstaltungen auch in Gießen, Göttingen, Tübingen und Wien statt. Als neben Schönemann bedeutendster Amerikanist gilt der Gießener Anglistik-Professor Walt[h]er Fischer. Hervorzuheben ist ferner der Linguist und Migrationsforscher Heinz Kloss [Kloß], der während des „Dritten Reichs“ erhebliche Mittel für seine Forschungen über das Deutschtum in den Vereinigten Staaten erhalten haben soll. Vgl. Gassert, Amerika im Dritten Reich, 128-130. Friedrich Schönemann, Amerika und der Nationalsozialismus (Schriften der Deutschen Hochschule für Politik 4), Berlin: Junker und Dünnhaupt, 1934. Zu Biographie und Karriere Schönemanns siehe vor allem Hausmann, Anglistik, bes. 191-206 und 414-418, sowie Gassert, Amerika im Dritten Reich, 119126. Eine frühe und verhältnismäßig wohlwollende Darstellung bietet Earl R. Beck, Friedrich Schönemann, German Americanist, in: The Historian 26 (1963/64), 381-404. Schönemann konnte seine Hochschullaufbahn nach 1945 nicht fortsetzen. 1950 bis 1954 gehörte er als Abgeordneter der FDP dem baden-württembergischen Landtag an. Gassert, Amerika im Dritten Reich, 116. Zit. Hausmann, Anglistik, 500. Schönemann wiederum gab in seinem Entnazifizierungsverfahren an, bis 1933 nicht nur der DVP, sondern im Besonderen deren radikalem linken Flügel angehört zu haben. Hausmann, Anglistik, 415. Auch bei der Erforschung des „Kriegseinsatzes“ kommt Frank-Rutger Hausmann eine Pionier-Rolle zu. Siehe Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“
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Erich Ludendorffs Konzept des „totalen Kriegs“95 inspirierten Versuch, auch die Geisteswissenschaften „im Kampf um Reich und Lebensraum“ zu mobilisieren.96 Ihre Aufgabe im Krieg sollte nach den Worten Ritterbuschs die „geistige Auseinandersetzung mit der geistigen und Wertwelt des Gegners“ sein.97 Am Grad der Partizipation der deutschen Kultur- und Geisteswissenschaftler gemessen wurde die angestrebte Totalität weitgehend erreicht: Insgesamt waren rund 600 Wissenschaftler, einschließlich einiger Wissenschaftlerinnen98, an abgeschlossenen oder begonnenen Projekten im Rahmen des „Kriegseinsatzes“ beteiligt. Wie bei den anderen kulturbzw. geisteswissenschaftlichen Disziplinen standen freilich auch beim „gemeinsamen Werk der deutschen Englandwissenschaft“ Intention, Aufwand und messbares Ergebnis in keinem wirklich günstigen Verhältnis: Von einem ursprünglich geplanten elfbändigen Werk unter dem Gesamttitel „England und Europa – Die Absonderung der englischen Lebens- und Kunstformen“ wurden neben isolierten Fragmenten schließlich nur drei gewichtige Bände zur Veröffentlichung gebracht: Zum einen das von Paul Meißner herausgegebene Sammelwerk Grundformen der englischen Geistesgeschichte (1941), zum anderen die beiden durch Carl August Weber betreuten Bände von Die Englische Kulturideologie (1941 / 1943).99 Unter den Autoren der zuletzt genannten Publikation war ein junger, dezidiert nationalsozialistisch agierender Wissenschaftler, der hier erwähnt werden soll – zumal er nach einer Unterbrechung seiner Universitätskarriere zwischen 1945 und 1952 zu einer Schlüsselfigur der aufstrebenden bundesrepublikanischen Amerikanistik wurde. Die Rede ist von dem 1909 in Breslau geborenen, aus einer streng katholischen Familie stammenden Hans Galinsky. Er war im Oktober 1933 der NSDAP beigetreten, für die er zunächst in England – u. a. als Adjutant des HJ-Führers in London – aktiv war. 1941 wurde er an die „KampfUniversität“ Straßburg berufen, wo er die Anglistik im Rahmen des „Groß-Seminars für außerdeutsche Kulturen der Gegenwart“ aufbauen sollte.100 Schon früh entwickelte Galinsky eine nationalsozialistische Methodik für die Anglistik. Auch in der Wortwahl erinnert hier einiges an Schmidt – doch stärker als dieser blieb Galinsky den Traditionen einer humanistischen Philologie verhaftet, denen er allerdings eine wesenskundlich-rassistische Wendung gab. Die nationalsozialistische „Auslandswissenschaft“ habe als Sprachwissenschaft vom britischen Ausland die „innere Mächtigkeit“ eines Volkes als Voraussetzung seiner „äußeren Macht“ auszuloten. „In der Wechselwirkung zwischen beiden“ suche sie „die Funktion der Sprache zu erkennen, der Sprache in all ihrer Weite als Umgangssprache, Dichtung, politische Rede, schrifttümliches Zeugnis überhaupt“.101 Zum zweiten Band der Kulturideologie steuerte Galinsky den Aufsatz „England und die altgermanische Welt im britischen Traditionsbewusstsein der Gegenwart“ bei, in dem er das Ziel verfolgte, die Entfremdung der vormals als „germanisches“ Brudervolk betrachteten Engländer mit den Mitteln des Literaturwissenschaftlers zu erklären. Nach der Grundthese Galinskys sollte (1940 - 1945), 2., erw. Aufl. (Schriften zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 1), Dresden: Dresden University Press, 2002. Zur Anglistik siehe v. a.: Hausmann, Anglistik, 297-364. 95 Erich Ludendorff, Der totale Krieg, München: Ludendorffs Verlag, 1935. 96 Paul Ritterbusch, Wissenschaft im Kampf um Reich und Lebensraum, Stuttgart: Kohlhammer, 1942. 97 Zit. Hausmann, Anglistik, 298f. 98 Z. B. Marie Schütt, Die Begriffe Land, Volk, Staat, Reich bei den englischen Geschichtsschreibern, in: Weber, Hg., Kulturideologie, Bd. 2, 49-104. 99 Paul Meißner, Hg., Grundformen der englischen Geistesgeschichte (England und Europa – Gemeinschaftsarbeit der deutschen Englandwissenschaft), Stuttgart: Kohlhammer, 1941. Weber (Hg.), Kulturideologie. 100 Zu Biographie und Karriere Galinskys siehe Hausmann, Anglistik, 185-190 sowie 458f.; Klaus Lubbers, Hans Galinsky zum Gedächtnis, in: Amerikastudien/American Studies 36 (1991), 459-463. 101 Hans Galinsky, Oliver Cromwell vom Standpunkt deutscher Englandwissenschaft, in: Hochschule und Ausland 14 (1936): 596-611; zit. 597-598. Vgl. Hausmann, Anglistik, 189.
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sich in der britischen Literatur eine bis in die Gegenwart fortschreitende, die „gesamtgermanische Zusammengehörigkeit“ zerstörende „Überlagerung des englisch-germanischen Blutzusammenhangs durch den britischen Raumzusammenhang“ nachweisen lassen.102 War es Wolfgang Schmidt um die linguistisch fundierte Vermittlung einer sich gleichermaßen sprachdidaktisch wie rassenhygienisch verstehenden Neuphilologie mit einer machtpragmatischen Politologie zu tun, so arbeitete Hans Galinsky an der Verbindung von Kultur- und Rassenkunde auf literaturwissenschaftlicher Grundlage. In seiner Publikationstätigkeit während des „Dritten Reichs“ überschritt er die von älteren Universitätsanglisten in der Regel beobachtete Linie zwischen einer NS-konformen Anglistik, die gleichwohl innerhalb der Grenzen wissenschaftlicher Konventionen agierte, einerseits und einem klar doktrinären Propagandaschrifttum andererseits.103 Im Ganzen operierten die Beiträge zum „Kriegseinsatz“ der Anglistik auf einer anderen Ebene: Trotz überaus deutlicher, willkürlich oder unwillkürlich auf den Entstehungskontext verweisender Markierungen sind keineswegs alle so exponiert nationalsozialistisch wie der zitierte Aufsatz Galinskys. So mutet etwa Marie Schütts im gleichen Band veröffentlichte Abhandlung zu Grundbegriffen der englischen Geschichtsschreibung fast schon überraschend „unideologisch“ an: Überwiegend wird englische Forschungsliteratur zitiert, und auch der Schluss wirkt bei allem Bemühen um Gegenwartsbezug noch verhältnismäßig offen.104 Und Hermann Heuers Beitrag zur „Ideenwelt der politischen Dichtung in England“ könnte – wenigstens aus heutiger Perspektive gelesen – geradezu doppeldeutig erscheinen: Denn die Kritik am englischen Chauvinismus scheint, so wie sie formuliert ist, nahezu unvermeidlich auf die deutschen Füße zu fallen.105 Vor dem unterstellten doppelten Hintergrund des Mangels an durchschlagender ideologischer Überzeugung bei vielen Beteiligten einerseits und des Unvermögens, vorhandene ideologische Überzeugungen wissenschaftlich plausibel umzusetzen, andererseits entwickelt Ludwig Pfeiffer seine eingangs referierte These von der „Selbstüberforderung“ der Anglistik im „Kriegseinsatz“. So sei beispielsweise „das geistesgeschichtliche Gefasel“ von Harro de Wet Jensens Beitrag zu Grundformen der englischen Geistesgeschichte nicht nur von „nahezu erstickender Langatmigkeit“, sondern auch „von nationalsozialistischem Gedankengut praktisch völlig frei“. Überhaupt werfe „kaum einer der langen Beiträge“ zum „Kriegseinsatz“ wirklich „propagandistisch verwertbare Erträge ab.“106 Dagegen betont Hausmann den „wissenschaftspolitischen ‚Vernetzungscharakter‘„ des Projekts, das – aus nationalsozialistischer Perspektive – „die Strukturen einer neuen Wissenschaftsorganisation für die Nachkriegszeit“ habe vorbereiten sollen.107 Wie Hausmann bemerkt, spiegelten die Publikationen aus dem „Kriegseinsatz“ die „Summe“ des damals für wissenschaftlich konsensfähig Erachteten wider, und zwar umso mehr, als eben nicht alle Teilnehmende als „notorische Nazis“ anzusehen gewesen seien.108 Im Licht solcher Befunde erscheint es naheliegend, dass der „Kriegseinsatz“ als weitgehend gelungene Verklammerung von Anglistik im Nationalsozialismus und nationalsozialistischer Anglistik, von NS-kompatibler und radikal nationalsozialistischer England- und Amerikaphilologie zu betrachten ist. 102 Hans Galinsky, England und die altgermanische Welt im britischen Traditionsbewusstsein der Gegenwart, in: Weber, Hg., Kulturideologie, Bd. 2, 397-435; zit. 399; 401. 103 Vgl. Hans Galinsky, British Fascism. The British Union of Fascists (Teubners neusprachliche Lesestoffe im Dienste nationalpolitischer Erziehung, Heft 9), Leipzig 1935. 104 Schütt, Die Begriffe Land, Volk, Staat, Reich bei den englischen Geschichtsschreibern. 105 Hermann Heuer, Die Ideenwelt der politischen Dichtung in England, in: Weber, Hg., Kulturideologie, Bd. 2, 1-47. 106 Pfeiffer, Anglistik, 54f. 107 Hausmann, Anglistik, 298, Anm. 3. 108 Hausmann, Anglistik, 354.
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Ein Schüler des für den „Kriegseinsatz“ der Anglistik maßgeblichen Carl August Weber gab später an, sein Lehrer habe durch dessen Beteiligung „der Bedrohung der Anglistik durch eine von den Machthabern diktierte, fach- und wissenschaftsfremde Zielsetzung zuvorkommen“ wollen.109 Für Weber erscheint dies kaum glaubwürdig, für andere Teilnehmende des Kriegseinsatzes könnten ähnliche Überlegungen aber wenigstens für die Rechtfertigung vor sich selbst eine gewisse Bedeutung gehabt haben. In Wirklichkeit trug der „Kriegseinsatz“ dazu bei, den wissenschaftlichen Diskurs als Ganzes ostentativ und zustimmend in die Hände des einen Eroberungs- und Vernichtungskrieg führenden Regimes zu legen. Alle inhaltlichen und institutionellen Unabhängigkeiten, die nach einer solchen umfassenden Kapitulation und Kollaboration auch der nicht dezidiert nationalsozialistischen Fachwissenschaftler etwa noch verbleiben mochten, hatten längst begonnen zu erodieren. Welche Entwicklungsrichtung ein siegreicher nationalsozialistischer Staat für die Universitäten vorsah und welche neue Wissenschaftsorganisation den nationalsozialistischen Eliten vorschwebte, deuten die institutionellen Entwicklungen an, die sich in Berlin seit Beginn des Krieges vollzogen. Auf der Einrichtung einer „Kulturpolitischen Abteilung“ des Englischen Seminars der Friedrich-Wilhelm-Universität und der Etablierung von Schönemanns amerikanistischem Lehrstuhl aufbauend, war es dort 1940 gelungen, die Berliner Auslandshochschule mit der Hochschule für Politik und dem orientalischen Seminar zu einer „Deutschen Auslandswissenschaftlichen Fakultät“ (DAWF) zusammenzuführen und diese der FWU anzugliedern. Die auf Lehraufgaben zugeschnittene, mit einem Etat von 1,5 Mio. RM ausgestattete DAWF war zudem mit einem „Deutschen Auslandswissenschaftlichen Institut“ (DAWI) als Forschungsinstitut verbunden worden. Diese großangelegte Umstrukturierung hatte der 1909 geborene Zeitungswissenschaftler Franz Alfred Six organisiert und durchgesetzt. Er war 1938 SS-Standartenführer geworden und betrieb als führender Mitarbeiter des Sicherheitsdiensts (SD) der SS dessen systematische Akademisierung. Durch seine Einsetzung sowohl als Leiter des DAWI wie auch als Dekan der DAWF hatte Six, dem die nötigen wissenschaftlichen Qualifikationen fehlten, den Titel eines ordentlichen Professors erlangt. Sein weiteres Tun in der Zeit des Nationalsozialismus zeigt, dass er keineswegs nur mächtiger SS-Wissenschaftsfunktionär war und sein wollte. Vielmehr gingen pragmatische Wissenschaftsorganisation im Sinne des elitären Nationalsozialismus der SS, militärische Aktion und Bereitschaft zu Kriegsverbrechen und Völkermord bei Six unmittelbar ineinander über: 1941 bis 1942 führte er das „Vorauskommandos Moskau“ der Einsatzgruppe B der Sipo und des SD. Seit März 1943 war er Leiter der neu gegründeten kulturpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes und hatte damit den Rang eines Gesandten erlangt. Noch im Januar 1945 wurde er zum SSBrigadeführer. Im Nürnberger Einsatzgruppenprozess wurde er wegen Kriegsverbrechen zu 20 Jahren Haft verurteilt, die er freilich nur zum kleinen Teil abbüßen musste.110 Hausmann stellt fest: „Wer sich von Six an die DAWF verpflichten ließ, schloß einen Teufelspakt, auch wenn er, wie mehrere Mitarbeiter, kein NS-Hardliner war.“111 Six war wichtiger Protagonist einer neuen nationalsozialistischen Wissenschaftsorganistion, welche die traditionellen Hochschulen langfristig nicht nur gleichgeschaltet, sondern im Kern abgeschafft hätte. Er verkörperte gleichzeitig die verbrecherischen Möglichkeiten und Konsequenzen, die sich hinter der von Friedrich Neumann in seinem oben zitierten Aufsatz zur deutschen Hochschule im NS-Staat geforderten Ausrichtung auch der Philologien auf „eine Politik der Volksgestaltung“ verbargen. Aufbauend auf den vor allem von Frank-Rutger 109 Gerhard Müller-Schwefe; zit. Hausmann, Anglistik, 338. 110 Zu Six siehe Lutz Hachmeister, Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München: Beck, 1998. Zur „Akademisierung“ des SD vgl. Joachim Lerchenmueller, Sicherheitsdienst (SD) des Reichsführers SS, Shoa.de, http://www.shoa.de/ (Zugriff vom 12.03.06). 111 Hausmann, Anglistik, 203.
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Hausmann geleisteten umfangreichen Vorarbeiten, wäre es nun Aufgabe einer sowohl selbst- als auch methoden- und ideologiekritischen Fachgeschichte zu untersuchen, wie deutsche Anglisten und Amerikanisten – absichtlich oder unabsichtlich – nicht nur der institutionellen Gleichschaltung, sondern auch der inhaltlich-methodischen Anschlussfähigkeit einer humanistisch geprägten Wissenschaft an die verbrecherischen Programmatiken des Nationalsozialismus zugearbeitet hatte.
ROMANISTIK JOHANNES KRAMER
1. Die Anfänge der Romanistik im 19. Jahrhundert Die Romanistik als Wissenschaft, die sich im Prinzip mit allen romanischen Sprachen und den in ihnen sich ausdrückenden Kulturen (mit einem besonderen Akzent auf den in ihnen geschriebenen Literaturen) beschäftigt, ist im Deutschland der nachnapoleonischen Aufbruchsstimmung entstanden: Friedrich Diez, 1823 nach Bonn berufen für germanische und romanische Sprachen, gilt im Allgemeinen als Vater der Romanistik, und mit einem gewissen Recht hat man die Romanistik als eine Bonner Erfindung bezeichnet (Hirdt 1993). Jedenfalls ist die Prägung der neuen Wissenschaft durch den Geist der deutschen Romantik unübersehbar. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Organisationsform fast überall in Europa übernommen, auch in Frankreich, wo man sich durchaus der Tatsache bewusst war, eine Fachstruktur des deutschen Erbfeindes nachgeahmt zu haben (Gumbrecht 1984). Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war die Romanistik in Deutschland primär eine auf das Mittelalter ausgerichtete Textwissenschaft: Ziel ihrer Bemühungen war die Zugänglichmachung alter Texte durch zuverlässige Ausgaben und faktenreiche Kommentare. Hingegen hatte die Beschäftigung mit neufranzösischer Literatur keinen Stellenwert, gute Beherrschung der modernen Umgangssprache und Landeskenntnis wurden gerne als „Oberkellnerfähigkeiten“ abqualifiziert. Dass die meisten Studenten Französischlehrer werden wollten, schlug sich in der universitären Lehre kaum nieder. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, warum das immer schlechter werdenden Verhältnis zu Frankreich das Fach Romanistik kaum tangierte: Der Krieg 1870/1 und seine Folgen scheinen so gut wie keine Auswirkungen auf die deutsche Romanistik gehabt zu haben, und die Gesamtzahl der Lehrenden wie der Studierenden war viel zu gering, um im Fach vaterländische Wallungen entstehen zu lassen1. 2. Die Reaktion der deutschen Romanisten auf den Ersten Weltkrieg Im Umfeld des ersten Weltkrieges wurde das anders. Inzwischen waren die meisten „Kunden“ des Universitätsfaches Romanistik angehende Französischlehrer, und wenn es der Romanistik auch – anders als der Anglistik und der Germanistik – gelungen war, die von den Schulbehörden betriebene Eins-zu-Eins-Übereinstimmung Schulfach-Universitätsfach abzuwenden (Christmann 1985, 25), so war doch neufranzösische Sprache und Literatur trotz weiterer Pflege des Altfranzösischen / Altprovenzalischen stärker ins Zentrum des 1
Diese Zusammenhänge waren den Zeitgenossen durchaus geläufig. Oskar Schultz-Gora schrieb mitten im Ersten Weltkrieg (1916. 733): „Durch den Weltkrieg sind die deutschen Romanisten in eine andere Lage versetzt worden, als es durch den Krieg 1870-71 der Fall war. Damals handelte es sich nur um ein romanisches Volk, und nach dem Kriege schlossen sich die Franzosen nicht gerade von uns ab, wie denn die Deutschen sich noch viel weniger von Frankreich fernhielten. Dazu kam, daß seinerzeit an den deutschen Universitäten nur erst wenige Lehrstühle für romanische Philologie bestanden, die Zahl derer also verhältnismäßig gering war, die etwa durch unfreundliches oder gar feindseliges Verhalten französischer Romanisten betroffen werden konnten; und hinwiederum wurden auch in Frankreich erst nach dem Kriege die romanistischen Studien in ausgedehnterem Maße betrieben“.
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Universitätsfaches Romanistik gerückt, und die zahlreicher gewordenen Romanisten kamen in die Lage, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie zur eigenen Beschäftigung mit Sprache und Kultur des „Erbfeindes“ standen. Der Berliner Romanist Eduard Wechßler hat das Dilemma im letzten Jahre des Weltkrieges – mit dem zeittypischen Schuss Rassismus gewürzt – so formuliert (Wechßler 1918,1): „So mancher steht jetzt als Wehrmann im Franzosenland und hat zuvor seiner Arbeit und seine Liebe – beide sind ja untrennbar verbunden – aus freiem Willen diesem Volke geschenkt, gegen das er nun zu Felde zieht, um sein Kindesland vor Madagassen und Annamiten zu schützen. Soll er verwerfen, was er bis dahin hochgeschätzt?“ Oskar Schultz-Gora schlug allen Ernstes vor (1916, 748-749), im Schulunterricht auf „ein übermäßiges Gewicht auf die äußere Beherrschung der Sprache [...] nunmehr, wo sich die Verbindungen gelöst haben und vermutlich noch längere Zeit gelöst bleiben“, zu verzichten und stattdessen „die wirklich sinngemäße und zugleich geschmackvolle Übersetzung aus dem Französischen ins Deutsche“ zum obersten Unterrichtsziel zu machen. Wenn der Stellenwert der praktischen Sprachbeherrschung zurückgefahren würde, dann würde auch das universitäre Lektorenproblem geringer werden (Schultz-Gora 1916, 742): „Soll man unseren Studierenden zumuten, einen Franzosen als Lehrer hinzunehmen, der ihnen vielleicht in erbittertem Nahkampf gegenübergestanden hat? Das darf in absehbarer Zeit nicht geschehen. Wie aber soll Ersatz beschafft werden? Lektoren aus der französischen Schweiz zu beziehen, muß wegen der feindseligen Gesinnung, die die dortige Bevölkerung während des Krieges gegen uns bekundet hat, ebenfalls als ausgeschlossen gelten, ganz abgesehen davon, daß deren Französisch eben das Französisch der Schweiz ist, ebenso wie das Französisch der Belgier, an die noch weniger gedacht werden darf, das belgische wäre. Also bleiben nur inländische Kräfte, und zu diesen sollte in der Tat gegriffen werden. Zuvörderst kommen solche Deutsch-Lothringer in Frage, die von Geburt an Französisch gesprochen haben. [...] In ähnlicher Weise wird man bei der Auswahl von Lektoren des Italienischen die österreichischen Grenzgegenden ins Auge zu fassen haben. Bedingung ist natürlich eine stichfeste vaterländische Gesinnung, deren es nicht schwer fallen dürfte sich zu vergewissern. Dann aber sind auch unbedenklich Männer von ganz deutscher Herkunft heranzuziehen.“ „Stichfeste vaterländische Gesinnung“ als Hauptkriterium bei der Einstellung von Lektoren deutscher oder österreichischer Staatsangehörigkeit, „engere Fühlungsnahme und kräftigerer Zusammenschluß“ der deutschen und österreichischen Romanisten bei gleichzeitigem Abbruch aller persönlichen Beziehungen zu französischen und italienischen Kollegen (Schultz-Gora 1916, 736-737), Veröffentlichungen nur noch in deutschen Zeitschriften, Forschungen ausschließlich zu Themen, die man am heimischen Schreibtisch behandeln kann („Personennamenforschung und das große Feld der Stiluntersuchungen, [...] die Wortbildungs- und besonders die Bedeutungslehre, [...] Textinterpretation [...] und auch die Gebiete der Syntax und der Etymologie“, Schultz-Gora 1916, 738) – eine solche Romanistik ohne Romania und ohne Kontakte zu Romanen hielt man ernsthaft für möglich und gar für zukunftsweisend: „Die deutsche Romanistik wird, soweit sie reine Wissenschaft ist, sich selber genügen“ (Schultz-Gora 1916, 750). Die „Südfront“ wurde von Österreich aus bedient, wo beispielsweise Hugo Schuchardt (1915) Aus dem Herzen eines Romanisten keine Mördergrube machte und für seine Person und seine Wissenschaft weitere Berührungen mit Italienern ablehnte, unter dem Beifall deutscher Romanisten wie Werner Mulertt, der Schuchardts martialische Kontaktabsage wie folgt kommentierte (1916, 321):
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„Der grosse Gelehrte, der italienischer Sprache und italienischem Volkstum einen Hauptteil seines Lebensstudiums gewidmet, der sich Anfeindungen zum Trotze früher für eine italienische Universität in Oesterreich eingesetzt hat, sieht keinen Platz mehr für sich, den Deutschen, auf dem Markusplatz zu Venedig oder in der Gesellschaft Passatelle spielender Kutscher oder Kastanienröster. Aus Metastasios „Verlassener Dido“ sendet er dem „versunkenen Italien“ einige Verse: Erloschen ist die Fackel, zerrissen ist das Band, Und deines Namens entsinne ich mich kaum noch. Als Mensch nimmt er diesen bitteren Abschied von der „Weihe Land, der Väter Paradies“, wie Stefan George einst Italien nannte – als Fachgelehrter stellt Sch. infolge der Zeitereignisse seiner Wissenschaft, der deutschen Romanistik, ein böses Horoskop für die Zukunft.“ Ein im Ruhestand befindlicher Sprachwissenschaftler wie Hugo Schuchardt konnte für sich beschließen, Italienisch, Französisch und Rumänisch hinfort links liegen zu lassen und sich in Zukunft nur den Sprachen der Verbündeten oder Neutralen zu widmen – für die aktiven Romanisten galt es, andere Auswege aus dem Dilemma zu finden, sich von Berufs wegen mit Sprache, Literatur und Kultur des „Feindes“ beschäftigen zu müssen. Es gab fünf Auswege, um die Daseinsberechtigung einer Romanistik zu vertreten: Herausarbeitung eines klaren Feindbildes, Flucht ins Mittelalter, Flucht ins Ländlich-Ursprüngliche fern vom Main-Stream der französischen Kultur, Abkehr vom Französischen und Italienischen zugunsten der Iberoromania, Betonung der überzeitlichen Gemeinsamkeiten jenseits der aktuellen Differenzen. Schauen wir diese Orientierungen, deren Weiterentwicklungen den Weg der deutschen Romanistik in die nationalsozialistische Umklammerung säumen sollten, etwas näher an! Eduard Wechßler (1869-1949) wurde zur leitenden Figur der „Wesenskunde“, die sich in der „Frankreichkunde“ konkretisierte. Das Standardwerk dieser Richtung wurde das zu Recht berüchtigte Esprit und Geist, das sich das Ziel setzte, „den Geist der deutschen und den der französischen Volkheit in ihren dauernden Wesenzügen zu erfassen“ (Wechßler 1927, V). Ausgangspunkt der Darlegung ist eine recht verquaste Rassenlehre, die unterscheidet zwischen „drei wohlausgestatteten und zur Herrschaft berufenen Rassen“, nämlich der „West- oder Mittelmeerrasse, der „nordischen, auch germanisch genannten Rasse“, und der „dinarischen, auch adriatisch genannten Rasse“ einerseits und andererseits einer vierten „ostischen oder alpinen Rasse“, die als „Rundschädel und Kurzbeine“ „überall die Vorzüge des kleinen Mannes und selten Anlage zum Heldentum und zu schöpferischer Größe“ zeigen (Wechßler 1927, 27-29). Das frühe Frankreich habe seine Größe dem Zusammentreffen von West- und Nordrasse – Galloromanen und Germanen – zu verdanken, während die Kombination von adriatischer und germanischer Rasse die Deutschen positiv geprägt habe; die ostische Rasse, in Frankreich in den Ardennen, in der Auvergne und Bretagne, in Deutschland in Sachsen und im Schwarzwald ausgemacht, wäre hingegen für die negativen Züge in beiden Ländern verantwortlich. Die zähen Rundköpfe überleben nach Wechßler Katastrophen besser als die Angehörigen der edleren Rassen, die durch vielfachen Heldentod dezimiert werden (Wechßler 1927, 28-29): „Eben darum hat sich in Frankreich seit der Revolution eine immer stärkere Umschichtung auf Kosten des alten, wesentlich germanischen Adels vollzogen, eine Wandlung, die eben jetzt in Deutschland seit unserer Revolution und Verarmung sich ebenfalls anbahnt. Und die besorgten Warner dürften nicht Unrecht haben, die dort und hier von dem Rückgang der geistigeren Rassen und von dem Vordringen der kleinen ostischen Rundköpfe Verarmung und Verödung an höheren Gütern ernsthaft fürchten. Soviel scheint einwandfrei, daß im östlichen Deutschland der Mangel an geistigem Streben bei den Massen zunächst der ostischen Rasse zur Last gelegt wer-
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den kann. In Frankreich sind die Auvergnaten als Dickköpfe (têtes carrées) und die Bretonen, die vornehmlich dieser Rasse angehören, als minder beweglich durchs Sprichwort bekannt geworden. [...] Nach wissenschaftlichen Schätzungen macht die ostische Rasse bei uns etwas mehr als 20%, drüben mehr als die Hälfte aus.“ Ein derartiger Unsinn wurde nicht von irgendeinem Provinzgelehrten von sich gegeben, sondern vom Inhaber eines der beiden Berliner Romanistik-Ordinariate, also von einem Vorzeigevertreter der deutschen Romanistik. Mehr als 600 Seiten lang gibt es kapitelweise Gegenüberstellungen nach dem Muster: L‘ordre et le style – Deutsches Naturgefühl, La joie de vivre et la sérénité – Ernsthaftigkeit des Deutschen, L‘ambition, la gloire, l‘honneur, le triomphe – Arbeitsamkeit und Sachlichkeit des Deutschen, La galanterie: Madame et la courtoisie – Die Heiligung der reinen Weiblichkeit: die Jungfrau. Das Ziel dieser Gegenüberstellungen ist es, die „Verschiedenheit der Wesensmitte“ (Wechßler 1927, 39) herauszustellen und so die Voraussetzungen zur unvermischten Entfaltung der sich gegenseitig ergänzenden „Staaten germanischer und romanischer Wesensart“ (Wechßler 1927, 575) zu schaffen, anders gesagt (Wechßler 1927, 40): „Französische Art zu erkennen, das heißt für uns, daß wir uns selber finden, und den Franzosen geistig überwinden, das heißt, daß wir uns handelnd von ihm trennen.“ So sah der eine Weg aus, wie die deutsche Romanistik ihr Tun rechtfertigen zu können glaubte: Nicht aus Liebe beschäftigte man sich mit den Hervorbringungen des „Feindes“, sondern damit man durch klares Herausarbeiten der Unterschiede umso deutscher werden konnte. Frankreichkunde im Dienste der Deutschtümelei, um es pointiert zu sagen. Das war, wie schon angedeutet, nicht eine persönliche Verirrung von Eduard Wechßler, sondern es hatte sogar seine Verankerung im preußischen Lehrplan. Die vom Ministerialrat Hans Richter herausgegebenen Richtlinien von 1925 sahen als Ziel des neusprachlichen Unterrichtes, „anhand literarischer Werke in synthetisierender Gesamtschau das Wesen des fremden Volkes, das Engländer- bzw. Franzosentum deutlich zu machen“ und so „die Folie des Fremden zur Abgrenzung und höheren Wertschätzung des eigenen Deutschtums zu nutzen“ (Lehberger 1989, 479). Die Verankerung der „Wesenskunde“ im Unterricht ist auch vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um die Sprachenfolge am Gymnasium zu sehen, die in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte. „Im Laufe des 19. Jahrhunderts erreichte das Französische den Zenit seiner Geltung“ als Schulfach, denn „wenn eine lebende Sprache unterrichtet wurde, [...] dann war es an erster Stelle das Französische, dem weder das Englische noch gar eine andere moderne Sprache Konkurrenz machen konnte“ (Kramer 1992, 140). Der Abstieg begann, als 1900 in Preußen für das Gymnasium, an dem ja nur eine lebende Sprache unterrichtet wurde, die Wahlfreiheit zwischen Englisch und Französisch geboten wurde. 1923 wurde dann in Bayern, Braunschweig und Hamburg Englisch als erste Fremdsprache vorgeschrieben, und in Preußen wurde die Sprachenfolge freigestellt, was zur Folge hatte, dass 1930 etwa 40 % aller höheren Schulen mit Englisch anfingen (Legberg 1989, 477). Einen letzten Pyrrhussieg erzielte das Französische zu Beginn der dreißiger Jahre: Um dem „Sprachenwirrwar“ zu steuern, beschloss das preußische Unterrichtsministerium 1931, einheitlich das Französische als erste lebende Fremdsprache festzulegen, und am 30. Januar 1932 einigten sich die Schulbehörden aller deutschen Länder darauf, dass „in allen höheren Schulen, die in der Sexta mit einer lebenden Fremdsprache begannen, Französisch die Anfangssprache, und in den altsprachlichen Gymnasium die erste erlernte Fremdsprache sein sollte“ (Hausmann 1998, 140). Diese für das Schuljahr 1933/34 zur Einführung vorgesehene Regelung kam wegen der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht mehr zur Geltung. Man darf aber wohl annehmen, dass diese Neuordnung der Sprachenfolge zugunsten des Französischen eine weitere Stärkung des „Wesenskunde“ bedeutet hätte.
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Kommen wir wieder zur Universitätsromanistik! Eine zweite Möglichkeit, dem aktuellen deutsch-französischen Konflikt auszuweichen, war die Beschäftigung mit mittelalterlichen Themen. Da waren zum einen die eher technischen Schwerpunktsetzungen (historische Grammatik mit lautlich-morphologischer Ausrichtung, Erstellung von Textausgaben und von Sachkommentaren), zum anderen aber Betrachtungsweisen, in denen die mittelalterlichen Franzosen geradezu als Germanen ehrenhalber gezeichnet wurden. Der Gedanke als solcher geht schon ins 19. Jahrhundert zurück: Im Handbuch der romanischen Philologie von Gustav Körting, das sich weiter Verbreitung erfreute, liest man beispielsweise (1896, 52): „Man darf sagen, dass das Romanenthum auf Verschmelzung des italisch-römischen, keltisch-römischen, iberisch-römischen etc. Volksthums mit dem Germanenthum beruht, dass also die romanischen Völker mehr oder minder zugleich auch germanische Völker sind. In Sonderheit sind die Altfranzosen als Halbgermanen zu betrachten; dazu berechtigt, um von allem Anderen abzusehen, das durchaus germanische Wesen der Chanson-de-geste-Dichtung. [...] Ohne die belebende, kräftigende, auffrischende Einwirkung des Germanenthums auf die (sprachlich latinisirte) Bevölkerung der weströmischen Provinzen würde dieselbe geistiger Versumpfung unrettbar anheimgefallen, würde zur Neuentwicklung der Cultur durchaus unfähig geworden sein.“ Eine andere Möglichkeit der Abwendung von der Beschäftigung mit aktuellen Fragen der französischen Sprache, Literatur und Kultur bot sich in der Beschäftigung mit dem Neuprovenzalischen, das in seiner ländlichen Verankerung dem spätromantischen Geschmack vieler deutscher Professoren durchaus entgegenkam. Karl Voretzsch, der unbestrittene Meister des Altfranzösischen, publizierte 1928 eine Auswahl aus der Lyrik von Frédéric Mistral und schrieb der Felibredichtung „Heimatliebe“, „tiefe Religiosität“, „scharfe Naturbeobachtung“, „Gefühlstiefe“, „bis zu naturechter Sinnlichkeit sich steigernde Liebesleidenschaft“, einen „Hang zur Melancholie“ und eine „Freude am Volkstum der Gegenwart“ zu (Voretzsch 1934, VI), also lauter Eigenschaften, die im Gegensatz zum Klischee von der Rationalität und städtischen Prägung der französischen Literatur stehen. Auch die Hinwendung zum Spanischen wurde schon während des Ersten Weltkrieges als eine der Möglichkeiten gesehen, die Romanistik vom Odium der Beschäftigung mit Sprache und Literatur des „Feindes“ zu befreien. Adolf Schulten (1916, 803) behauptete: „Tiefe Spuren hat das germanische Element in Spanien hinterlassen“ – die Völkerwanderungszeit, „die Teilnahme deutscher Ritter am Kampfe gegen die Mauren“ (ib.), die Zeit Karls V. gelten ihm als Belege für diese Behauptung. Alle positiven Klischees, kreisend um das Konzept der Ritterlichkeit (818), werden aufgeboten, um Spanien in einem guten Licht erscheinen zu lassen, denn „in Deutschland regt sich ein starkes Gefühl des Dankes gegen das einzige Land, welches ihm in seiner Schicksalsstunde wirkliche, uneigennützige Sympathie gezeigt hat“ (852). Der „spanische Nationalcharakter“ (818) wird als „ernst“, „ruhig“ und „konservativ“ (850) beschrieben: „Jeder, der mit den romanischen Ländern vertraut ist, empfindet, daß jenseits der Pyrenäen ein ganz anderer Menschenschlag beginnt, daß der Spanier vom Italiener und Franzosen völlig verschieden ist. Wer mit der Ethnologie des Landes vertraut ist, weiß, daß dieser Gegensatz vor allem auf der Verschiedenheit der Urbevölkerung beruht, daß Spanien durch die afrikanisch-iberische Rasse bestimmt wird, während in jenen Ländern das indogermanische Element vorwiegt.“ Die Argumentation bewegt sich also auf drei Ebenen: Spanien war kein Kriegsgegner, deshalb ist Beschäftigung mit dem Spanischen in besonderem Maße angesagt; Spanien hat eine starke germanische Prägung; die Spanier unterscheiden sich rassisch von den anderen Romanen.
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Während der Jahre der Weimarer Republik blieben diese Argumentationsmuster im Wesentlichen bestehen. Karl Vossler empfahl das Spanische als erste moderne Fremdsprache am Gymnasium, das Italienische als zweite und das Französische erst für den „ausgereiften Schüler“ (1922, 234) als dritte. „Die spanische Sprache [...] umspannt zwei große Gebiete: das westliche Europa und das südliche Amerika. Dem Spanischen gehört die Zukunft. [...] Die Ehre, der Dienst, der Gehorsam, die Kühnheit, die unbedingte, schmelzende zarte und heftigste Hingabe an eine Idee, der düstere Ernst und dessen echter Bruder, ein goldener, tiefer, harmloser Humor, das alles findet sich in der spanischen Geschichte und Dichtung mit einer Gewalt und Größe ausgedrückt, wie man es in Italien und Frankreich nicht wieder findet. [...] Welches Interesse haben denn wir Deutschen, daß das Französische als internationale Umgangssprache erhalten bleibe? Wir haben alles Interesse, daß es aus dieser Rolle verschwinde. [...] Möge das Spanische in den unteren Klassen, besonders in den realistischen Anstalten, seinen Einzug halten und mehr oder weniger das Französische verdrängen“ (Vossler 1922, 32-33) Europäische Gemeinsamkeiten ließen sich am leichtesten im Mittelalter ausmachen, und die Hinwendung zum Mittellateinischen, die Ernst Robert Curtius während des Nationalsozialismus ein ungestörtes Forschen in einer regimefernen Nische ermöglichen sollte, ist bereits in den zwanziger Jahren vorgezeichnet. 3. Direkte Eingriffe der Nationalsozialisten in Lehre und Forschung Als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, war das Fach Romanistik an eigentlich allen deutschen Universitäten vertreten. Es gab im Deutschen Reich 25 Hochschulen, an denen Romanistik betrieben wurde, wobei die Vertretung des Faches durch nur einen Professor und einen Assistenten die Regel war; nur wenige große Universitäten wie Berlin, Leipzig oder München hatten zwei Ordinariate, und natürlich gab es – von biographischen Zufällen abhängig – immer wieder Privatdozenten, die in der Zeit zwischen ihrer Habilitation und ihrer Wegberufung Lehraufgaben wahrnahmen, durchaus nicht selten ohne Bezahlung für ihre Tätigkeit. Die Anzahl der wissenschaftlich tätigen Romanisten betrug etwas über 1002. Da fast alle Studierende die Lehramtsprüfung ablegten, stand das Französische unumstritten im Zentrum des Unterrichts, wobei ein (nach heutigen Begriffen primär sprachwissenschaftlicher) Schwerpunkt im Altfranzösischen lag; die Literaturwissenschaft behandelte mehrheitlich Autoren des 17. bis 19. Jahrhunderts. Einen Aktualitätsbezug gab es in der romanistischen Lehre nur selten, da Literatur des 20. Jahrhunderts kaum betrieben wurde und da sogar die „Wesenkunde“ mehr auf überzeitliche Züge des „Dauerfranzosen“3 als auf seine Erscheinungsformen in der Gegenwart eingestellt war. Der normale Bildungsgang des deutschen Romanistikprofessors der zwanziger und frühen dreißiger Jahre wurde von Frank-Rutger Hausmann (2000, 7) prägnant skizziert: „Neben dem Studium meist dreier Schulfächer, darunter häufig Altphilologie, wurden möglichst beide, in jedem Fall das erste Lehrerexamen, die Promotion und die Habilitation gefordert. Ein mindestens einjähriges Auslandsstudium, vorzugsweise in einer der Hauptstädte Paris, Madrid oder Rom, oder doch eine Lektorentätigkeit in einem romanischsprachigen Land, waren die Regel, vermittelten aber eher Sprach2
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In Kürschners Deutschem Gelehrtenkalender 1931 werden 138 Romanisten genannt (Hausmann 1989, 31), aber es werden dort auch Personen aufgeführt, die in Österreich und in der Schweiz tätig waren, zudem einige ausländische Wissenschaftler, die viel in Deutsch publizierten. 1940 findet man noch 96 Romanisten aufgeführt. Dieser von Viktor Klemperer erfundene Begriff meint die Inkarnation aller typischen Eigenschaften des Durchschnittsfranzosen. Zur Kritik vgl. schon früh Fritz Schalk (1932).
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und Methodenkenntnisse als Weltläufigkeit. Nach der Promotion schloß sich eine unbestimmte Zahl von Jahren als Privat- oder Gymnasiallehrer, Assistent oder Mitarbeiter eines Ordinarius, als Privat- oder Diätendozent an, bis etwa im Alter zwischen dreißig und fünfundvierzig Jahren eine Berufung auf ein planmäßiges Extraordinariat erfolgte, das nach mehrjähriger Bewährung in ein persönliches oder planmäßiges Ordinariat umgewandelt werden konnte.“ Auffällig war bereits für aufmerksame zeitgenössische Beobachter, dass die Romanistik als Fach eine besondere Attraktivität auf „Randdeutsche“ (Spitzer 1938, 474) ausübte, auf Menschen also, die eher vom westlichen oder südlichen Rand des deutschen Sprachgebietes stammten. Auch war der Anteil der Katholiken höher, als es für das primär protestantisch geprägte Bildungsbürgertum normal war. Anders als beispielsweise die Altphilologie, die Germanistik oder die Geschichtswissenschaft war die Romanistik für junge Adlige kein anziehendes Studienfach: Die vier Romanistikprofessoren adliger Abkunft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen alle nicht aus Deutschland in den Grenzen von 1919. Kurz: Soziologisch gesehen war die Romanistik ein Fach, das den alten Eliten des Deutschen Reiches eher fern stand, sie gehörte nicht zum Kanon der Geisteswissenschaften mit dem höchsten Prestige. Offenkundige Bereiche, in denen ein Aufeinanderprallen der nationalsozialistischen Ideologie und romanistischer Kernaxiome unvermeidlich gewesen wären, gab es nicht, und die Romanistik wurde von den Vordenkern des Nationalsozialismus allerhöchstens in ihrer Eigenschaft als ancilla historiae oder eben als Landeskunde mit sprachlichen und literaturgeschichtlichen Komponenten wahrgenommen. Konflikte im wissenschaftlichen Bereich waren also nicht vorprogrammiert, und so ist es durchaus nicht verwunderlich, dass zunächst einmal die nationalsozialistische Machtergreifung wenig Einfluss auf die Tätigkeit der Romanisten an den Hochschulen zu haben schien. Eine wichtige Einschränkung dieser generell gültigen Aussage ist allerdings zu machen: Fast alle Hochschulangestellten, die von den Nationalsozialisten als Juden eingestuft wurden, wurden bereits im Laufe des Jahres 1933 aus dem Dienst entfernt, die letzten Ausnahmefälle („Frontkämpfer“ des Ersten Weltkrieges, Personen, die schon vor dem 1. 8. 1914 Beamte gewesen waren, Väter von Gefallenen usw.) mussten 1935 gehen. Die Grundlage dieser Maßnahmen war das berüchtigte „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933, dessen Ziel die Beseitigung von Oppositionellen (Sozialisten, Kommunisten, Linksliberale, Freimaurer usw.); darin war allerdings nicht nur die Entlassung von „Juden“ aus dem Staatsdienst vorgesehen, sondern auch die Amtsenthebung politisch missliebiger Personen, wobei hier eine Art Frühpensionierung der in den meisten Fällen eingeschlagene Weg war. Dank der Recherchen von Frank-Rutger Hausmann wissen wir inzwischen recht genau, in welchem Maße die „rassische Säuberung“ die Romanistik Deutschlands betraf (2000, 223-227). 10 Professoren (5 Ordinarien4 und 5 Extraordinarien / Dozenten5) wurden aus rassischen Gründen entlassen – 9 galten als Juden, einer (E. Lerch) lebte im „Konkubinat“ mit einer polnischen Jüdin. „Die Gruppe der betroffenen Assistenten und potentiellen Habilitanden ist wesentlich schwerer zu erfassen, [...] doch können noch einmal 12 Namen genannt werden“ (Hausmann 2000, 225).6 Der Aderlass aus „rassischen“ Gründen war prozentual erheblich, denn es gab ja nur 42 insgesamt Professorenstellen im Deutschen Reich. Hingegen wurde nur ein einziger Ro4 5 6
Erich Auerbach (Marburg), Victor Klemperer (Dresden), Eugen Lersch (Münster), Leonardo Olschki (Heidelberg), Leo Spitzer (Köln) Wilhelm Friedmann (Leipzig), Carl Sigmar Gutkind (Mannheim), Helmuth Hatzfeld (Heidelberg), Leo Jordan (München), Ulrich Leo (Frankfurt). F.-R. Hausmann bietet folgende Liste: Susanne Bach geb. Eisenberg, Alice Bergel, Herbert Dieckmann, Leonie Feiler, Kurt Jäckel, Heinrich Kahane, Renée Toole-Kahane, Kurt Lewent, Yakov Malkiel, Georg E. Sachs, Manfrd Sandmann, Ernst Wolf, 1938 in Wien Wolfgang Pollak.
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manistikprofessor aus politischen Gründen aus seinem Amt entfernt: Der liberale Pazifist Walther Küchler (1877-1953) musste – trotz verzweifelter Versuche, duch Anbiederungsadressen an die neuen Herren seine Professur zu retten (Küchler 1933, 193-195) – im Mai 1933 seine Lehrveranstaltungen an der Hamburger Universität einstellen; er wurde zum 31. 12. 1933 mit 56 Jahren in den Ruhestand versetzt (Hausmann 1989, 22-24) und überlebte die Zeit des Nationalsozialismus als zurückgezogenen Pensionär in Oberbayern. 1945 konnte er auf seine Professur zurückkehren. Die Tatsache, dass Amtsenthebung aus politischen Gründen nicht häufiger vorkam, spricht dafür, dass die Romanisten wie die meisten Geisteswissenschaftler der Weimarer Republik mit der politischen Mitte oder mit der Rechten, jedenfalls aber nicht mit der Linken sympathisierten, falls sie überhaupt politisch interessiert waren. Professoren und solche, die es werden wollten, neigten in den unruhigen zwanziger und frühen dreißiger Jahren nicht zum Partei-Engagement, und so darf es nicht verwundern, dass auch von den Rechts-Sympathisanten nicht ein einziger schon vor 1933 Mitglied der NSDAP war (Hausmann 2000, 113) – „alte Kämpfer“ sind in der Romanistik nicht nachzuweisen. Sympathien für die nationalsozialistische Bewegung gab es aber durchaus, und es gab einen latenten Antisemitismus: „Mindestens von drei Romanisten (Wechßler, Voretzsch, Becker) sind antisemitische, nur von einem (Vossler) philosemitische Äußerungen überliefert“ (Hausmann 2000, 11). Eine nennenswerte Opposition von Romanisten gegenüber dem nationalsozialistischen Umschwung musste man jedenfalls nicht befürchten, und zu Recht durften die neuen Machthaber davon ausgehen, dass sich in relativ kurzer Frist eine alles überwölbende Mitläuferszene herausbilden würde. Zunächst bekannten sich 1933 diejenigen zum Nationalsozialismus, die mit dessen Zielen sympathisierten, aber es bis dahin nicht gewagt hatten, sich einer Organisation anzuschließen, die doch im öffentlichen Erscheinungsbild ihren Bürgerschreck-Charakter keineswegs völlig abgelegt hatte. Mit der legal erfolgten Übernahme der Regierung durch die Nationalsozialisten fielen diese Bedenken weg, und einige ehrgeizige junge Männer, die sich eine Förderung ihrer Karriere versprachen, traten der Partei oder anderen Organisationen bei7; zu dieser ersten Eintritts-Welle gehörte charakteristischerweise kein einziger Professor oder Dozent. Nach 1933 war es zunächst einmal nicht mehr möglich, der NSDAP beizutreten: Man konnte nur Parteianwärter, nicht aber Parteimitglied werden. Das war erst vom 1. Mai 1937 an wieder möglich, und in der Tat traten an diesem Tage mindestens 17 Romanisten ein (Hausmann 2000, 114), davon sechs Professoren8. Ab 1937 konnte man nur noch verbeamtet werden, wenn man in der NSDAP war, so dass bei dem noch nicht Berufenen eine Parteimitgliedschaft Berufsvoraussetzung war. Wer freilich schon im Amt war, der konnte problemlos auf den Parteieintritt verzichten – und so wurden einige eifrige Stützen der nationalsozialistischen Hochschulpolitik wie beispielsweise Ernst Gamillscheg oder Fritz Neubert nie Parteimitglieder. Es gilt also: Wer nach dem Wintersemester 1937/8 zum Professor berufen wurde, musste in der Partei sein, und unter diesen Umständen hatte der Parteieintritt keinen wirklichen Bekenntnischarakter mehr. Jenseits der Amtsenthebungen, die ja am Anfang der nationalsozialistischen Herrschaft stattfanden, gab es direkte staatliche Einflussnahme auf die Tätigkeit der Professoren nicht. Nach 1935 ist keine Amtsenthebung mehr erfolgt. Das Regime verstand es, durch Krawalle linientreuer Studenten seinen Gegnern den akademischen Alltag sauer zu machen, und es traf durchaus Maß7
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Hausmann 2000, 114, nennt vier Namen: Hermann Gmelin (Kiel; 1.5.1933), Gerhard Moldenhauer (Bonn; 20.4.1933)), Günter Reichenkron (Berlin, 1.5.1933), Friedrich Schürr (Marburg, 27.3.1933). Kurt Wais trat im Juni 1933 in den Kampfbund für Deutsche Kultur ein, wurde aber nie ordentliches Parteimitglied, W. Th. Elwert war im Februar 1934 in Livorno in die Auslandsorganisation der NSDAP eingetreten (Hausmann 2000, 451). Josef Brüch (Innsbruck), Arthur Franz (Königsberg), Wilhelm Giese (Hamburg), Adalbert Hämel (Würzburg), Fritz Krüger (Hamburg), Walter Mönch (Berlin), Julius Wilhelm (München).
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nahmen, die als hart empfunden wurden („Zwangspensionierung“ mit 65 statt mit 68 Jahren im Falle von Karl Vossler, „Zwangsversetzung“ von Rostock nach Köln im Falle von Fritz Schalk, weitgehender Ausschluss vom „Wissenschaftstourismus“ im Falle von Ernst Robert Curtius), aber es bedrohte unbotsame Professoren nicht wirklich; das Empfinden der Unsicherheit war immer weit größer als die Unsicherheit selber. Niemand wurde gezwungen, in Wortwahl oder Inhalt seiner Äußerungen der nationalsozialistischen Ideologie zu Willen zu sein, und gerade in einem Fach wie der Romanistik gab es genügend Nischen, die auf gar keinen Fall für ideologischen Verbiegungen zugänglich waren. Massiven Druck in Bezug auf die Lehr- und Forschungsinhalte gab es nicht. Natürlich versprach man sich etwas davon, wenn man in das Horn des Regimes stieß, und natürlich wusste man, dass es Themenstellungen gab, deren Behandlung einen unweigerlich zur persona non grata machen musste. Studien zum ruralen Regionalismus in Frankreich erlebten also einen Boom, zum Judenspanischen wurde nichts mehr publiziert. Man darf aber nicht simplizistisch an ein Gebot oder Verbot denken; die Forscher passten sich einfach dem an, was opportun schien, und die Klügeren vermieden es, vernehmlich ins Horn eines Regime zu stoßen, an dessen tausendjähriger Dauer sie doch in tiefster Seele erhebliche Zweifel hatten. 4. Die Romanistik des Dritten Reiches im Spiegel der Zeitschriften Das Zeitschriftenwesen erlaubt einen guten Blick auf die Strömungen, die in der Romanistik Deutschlands vorhanden waren. Hier haben wir das große Glück, dass uns die zeitgenössische Außensicht eines vertriebenen Romanisten auf „Die Romanistischen Zeitschriften im Deutschen Reich“ vorliegt (Spitzer 1938). Es gab in den dreißiger Jahren in Deutschland etwa 10 Zeitschriften, die ganz oder zu größeren Teilen romanistischen Fragestellungen gewidmet waren. Insgesamt kam Spitzer zu einem vergleichsweise positiven Gesamteindruck (1938, 478): „Das Bild [...] ist im Ganzen nicht ungünstig [...]. Die wissenschaftliche Tradition ist intakt, wenngleich sie nicht verbessert wurde, noch immer sind die Zeitschriften im alten Umfang vorhanden, einige haben sogar ihre Qualität verbessern können. Dies liegt vielleicht an der Festigkeit der romanistischen wissenschaftlichen Erziehung: die Dinge erziehen den Forscher, ein wahrer Freund des Romanischen kann den neuen Idealen nicht erliegen.“ Im Einzelnen sah Leo Spitzer bei der altehrwürdigen Zeitschrift für romanische Philologe durch den Übergang der Redaktion an den in Leipzig tätigen Schweizer Walther von Wartburg „zweifellos eine Verbesserung“, weil damit „eine vielseitige, gerechte und weitschauende Persönlichkeit an die Spitze dieses ehrwürdigen Organs getreten, das Niveau gehoben, der internationale Charakter aufrechterhalten worden“ sei (Spitzer 1938, 475). Bei der Zeitschrift für französische Sprache und Literatur schien es, dass im sprachwissenschaftlichen, von Ernst Gamillscheg geleiteten Teil „im Ganzen objektiv gearbeitet“ werde, aber es fehle dem von Emil Winkler betreute literaturwissenschaftlichen Teil „jede rationelle kritische Aufarbeitung“, weil „jüngere Kräfte ohne ihre Studien noch beendet zu haben mit komischem Eifer ins Horn ihres Lehrers tuten“, der „seinen privaten Ressentiments nur allzu gerne freien Lauf lasse“ (Spitzer 1938, 475). Im Archiv für das Studium der neueren Sprachen habe Gerhard Rohlfs den „linguistischen Teil auf eine respektable Höhe gebracht“, während der „gänzlich unerfahrene, stets zu Husarenstreichen bereite und mehr rauf- als erkenntnislustige K[urt] Wais“ (Spitzer 1938, 475) den literaturwissenschaftlichen Teil heruntergewirtschaftet habe. Viel Lob bekommt die Neuausrichtung, die die Romanischen Forschungen seit 1935 unter Fritz Schalk erfuhren, der aus einem Publikationsorgan für oft unoriginelle Dissertationen eine echte internationale Zeitschrift für „die lebenden
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Sprachen und Literaturen, ohne Kulturkundelei“ schuf (Spitzer 1938, 476). Lediglich den beiden Zeitschriften, die Germanisches und Romanisches im Titel verbinden, wird eine vernichtende Beurteilung zuteil: Beim Literaturblatt für germanische und romanische Philologie habe Kurt Glaser, „der nie eine eigene Note in seiner langatmig farblosen schriftstellerischen Tätigkeit entfaltet hat, unkritisch wie nur je ein Unproduktiver, das traurige Verdienst, die Zeitschrift [...] auf ein provinzielles Niveau gebracht zu haben“ (Spitzer 1938, 476), und die Germanisch-romanische Monatsschrift sei unter Leitung des Germanisten Franz Rudolf Schröder, dem für romanistische Belange u.a. der überzeugte Nationalsozialist Gerhard Moldenhauer zur Seite stand, „gegenstandslos geworden“ und „z.T. in dem propagandistisch unterheizten Weihestil der Bewegung geschrieben“ (Spitzer 1938, 477). Spitzers negatives Urteil sollte im Jahre nach der Publikation seines Aufsatzes eine traurige Bestätigung erfahren: Im 2. Heft des Jahrganges 1939 erschien ein serviler Glückwunsch zu Hitlers 50. Geburtstag (20. 4. 1939), etwas, das in keiner anderen Fachzeitschrift passierte9 (Hausmann 2000, 381-382; Almgren 1997, 118-121). Abgesehen von den beiden „germanisch-romanischen“ Sonderfällen fiel also Spitzers Zeugnis über die romanistische Zeitschriftenlandschaft Deutschlands recht positiv aus. Man darf allerdings nicht übersehen, dass er nur die „seriösen“ Fachorgane im engeren Sinne berücksichtigt hat. Nicht dort aber erschienen normalerweise ideologielastige Aufsätze, sondern vielmehr in didaktischen oder populärwissenschaftlichen Organen, wo sie natürlich ein viel größeres Publikum erreichten und den Eindruck hinterließen, dass eine Romanistik mit nationalsozialistischer Ausrichtung im Entstehen begriffen sei. Exemplarisch sei hier ein Blick auf Die Neueren Sprachen geworfen, eine Zeitschrift, die sich als vermittelndes Organ zwischen Hochschule und Gymnasium verstand. Schon im Mai-Juni Heft des Jahrganges 1933 wurde hier die neue Zeit bejubelt, pikanterweise von Walther Küchler, der zum Zeitpunkt des Erscheinens seiner markigen Worte bereits wegen politischer Unzuverlässigkeit seine Vorlesungen hatte einstellen müssen (Hausmann 2000, 159). Unter dem Titel Die neueren Sprachen in der neuen Universität erfährt man (Küchler 1933, 194): „Wir Neusprachler haben eine doppelte Aufgabe. Einmal, die um die politische Freiheit unseres Volkes kämpfende Außenpolitik der Regierung dadurch zu unterstützen und erfolgreich zu machen, daß wir im Sinne des Reichskanzlers mithelfen die unausbleiblichen Auseinandersetzungen zwischen den Völkern auch in kritischen Zeitläufen »der Sphäre der Leidenschaftlichkeit zu entziehen« (Worte Hitlers zu Beginn 9
Zu nennen ist hier allerdings der zwei Seiten umfassende Artikel über die „Romanische Philologie”, die Ernst Gamillscheg in der sogenannten „Hitler-Festschrift” (Deutsche Wissenschaft. Arbeit und Aufgabe, Leipzig [Hirzel] 1939) veröffentlichte. Nach einem Rückblick auf die Geschichte der Romanistik unter Hervorhebung des Anteils der „deutschen romanistischen Arbeit” [41] leitet der Autor das befruchtende Wasser der Ideologie auf seine eigenen Mühlen [42]: „Der deutschen Romanistik fällt heute eine besondere nationale Aufgabe zu: ihrerseits beizutragen zur Aufklärung der deutschen Frühgeschichte. Viel altgermanisches Sprach- und Sagengut ist nur in romanischer Überlieferung erhalten. Zahllose germanische Volkssplitter, aber auch ganze, hochbegabte, in ihrer Entwicklung jäh gehemmte Völker sind im romanischen Volkstum aufgegangen. Nicht spurlos, denn Hunderte von altgermanischen Lehnwörtern, Tausende von Namen zeugen noch von ihrem Werden und Vergehen. Diese Schätze müssen gehoben werden, die romanische Sprachwissenschaft muß in den Dienst der germanischen Volkstumsforschung treten. Dies hat die deutsche Romanistik auch erkannt. Ein großer Teil des altgermanischen Wortschatzes ist bereits aus dem romanischen Gewand herausgehoben worden. Die Spätgeschichte der Westfranken, der Goten, der Langobarden, der Burgunden und der Gepiden beginnt vor unseren Augen deutlich hervorzutreten. Sächsische, friesische, niederdeutsche und mittelfränkische Einwanderung in Nordfrankreich, von der die Geschichtsquellen nichts berichten, läßt die Untersuchung der fränkischen Ortsnamen erkennen. So ist auch hier die Aufbauarbeit in vollem Gang. Sie einem glücklichen Abschluß zuzuführen, wird mehr als einen Zeitraum von vier Jahren ausfüllen. Daß sie aber geleistet werden wird, verspricht am heutigen Tage die deutsche Romanistik”. Das Buch hat auf der ersten Seite folgende Widmung: „Dem Führer und Reichskanzler legt die Deutsche Wissenschaft zu seinem 50. Geburtstag Rechenschaft ab, über ihre Arbeit im Rahmen der ihr gestellten Aufgabe. Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Rust. Der Chef des Amtes Wissenschaft Wacker”.
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der Reichstagsrede vom 17. Mai 1933) und demgemäß unsere Studenten und Schüler und über ihre Kreise hinaus die öffentliche Meinung, soweit wir sie erfassen können, aufzuklären über die politischen und geistigen Wirklichkeiten des Auslandes. Sodann, daß wir auf Grund unserer Kenntnisse des eigenen und des fremden Wesens die geistigen Leistungen unseres Volkes hinübertragen zu den anderen Völkern und ihnen Deutschland nahe bringen. Das ewige Deutschland und das Deutschland von heute in seinen Nöten und Ansprüchen, in seinem tragischen Kampf mit sich selbst und mit der Welt.“ Die Neueren Sprachen waren nicht nur die erste (teilweise) romanistische Zeitschrift, die sich dem Nationalsozialismus öffnete, sie tat das auch besonders gründlich. So findet man beispielsweise bereits im Jahrgang 1936 einen langen Aufsatz über Französisch und Englisch in Dienste der rassenpolitischen Erziehung (Harlander 1936), der völlig im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie abgefasst ist. Im dort angestrebten Französischunterricht werden „fremde Wesensbilder dem deutschvölkischen Wesensbild gegenübergestellt“ (46), denn „in Sprache, Schrifttum, Musik, Malerei, Bildhauerei und Baukunst offenbart jede Rasse ihr Streben nach arteigener Vollkommenheit“ (47), weswegen „die fremde Sprache als Laut, als Kundgebung der andersgearteten Rassenseele dargestellt werden“ müsse (48). Empfohlen wird eifrige „Lektüre fremdsprachlicher Werke über Rassenkunde und Rassenpolitik“ (59), wobei für das Französische Joseph Arthur Conte de Gobineau und Vacher de Lapouge die Liste anführen. Aber auch die Klassiker bleiben im Programm, allerdings klingt das folgendermaßen (55): „Der heutige Franzose denkt und handelt rationalistisch. Von den beiden tätigsten Rassenelementen des französischen Volkes, der westischen und der nordischen Rasse – der ostische Rassenbestandteil verhält sich passiv, ist Knetmasse in den Händen der beiden anderen Teile und wirkt mehr durch die Größe und Schwere seiner Masse –, hat keine das entscheidende Übergewicht erlangt. In den großen Dichtern und Schriftstellern Frankreichs finden wir immer wieder rassischen Zweispalt und Widerstreit und ihre schließliche Unterordnung unter die gemeinsame Ratio. Unter den heutigen Franzosen, deren Rasseninstinkt immer schwächer wird, erfassen nur wenige mehr die wirkliche Größe der gotischen Dome Nordfrankreichs als Schöpfungen germanischen Gestaltungswillens. Es sind zwei Welten, die sich hier begegnen und nicht mehr verstehen. Corneilles Cid, der die Liebe als etwas Persönliches dem Gebot der Wiederherstellung verletzter Familienehre unterordnet, gewiß also eine nordische Forderung, wendet sich, um verstanden zu werden, nicht an die mitschwingende Rassenseele des Zuhörers, sondern an dessen Verstand.“ Derart verquaster Unsinn füllt in zunehmender Frequenz die Jahrgänge bis zur Einstellung der Zeitschrift aus Papiermangel im Jahre 1943. Einen Höhepunkt der ideologisierten Entwissenschaftlichung stellt ein Aufsatz Zur Betrachtung der neufranzösischen Sprache von der Rasse her (Niederstenbruch 1942) dar, in dem die Folgen der französischen Revolution als „Entnordungsprozess“ (169) klassifiziert werden, wohingegen seit Beginn der vierziger Jahre (!) „ein Aufleben nordischen Geistes“ (172) zu beobachten sei, erkennbar vor allem an „Spreizstellungen“ und „Zwischenschiebungen“, die „Ausdruck nordisch aktivistischer und individualistischer Art sind“ (176). „Das Gemeinsame aller dieser verheißungsvollen Ansätze ist die Auflockerung des nach logischen Gesichtspunkten festgelegten Aufbaus der französischen Sprache. Ihre „vivacité“ weist heute auf ein Wideraufleben des nordischen Elementes infolge der vor allem vom modernen Deutschland ausgehenden Impulse. Das speziell Interessante daran ist, daß hier in der Entwicklung der lebenden Sprache ein Fall eintritt, der ganz deutlich die neue Auslösung nordischer Kräfte erkennen läßt, die durch ganz bestimmte politische Umstände zum mindesten beschleunigt wird.“
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Eine derartige wirre Pseudowissenschaft war allerdings für die etablierte Romanistik zu viel: Der Münchner Ordinarius Gerhard Rohlfs wagte es, folgende vernichtende Kritik zu veröffentlichen (1943, 61): „Für solche ‚Wissenschaft‘ gibt es nur eine Bezeichnung: Rassenfimmel!“. Überhaupt muss zur Ehre der Hochschulromanistik gesagt werden, dass der harte ideologische Kurs der Neueren Sprachen diese Zeitschrift als Publikationsorgan völlig desavouierte: Hatten die namhaften Fachvertreter in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren noch durchaus Beiträge geliefert, so ist das nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten nicht mehr der Fall. Nach 1935 trat aus dem Hochschulbereich lediglich noch Gerhard Moldenhauer als Autor auf, der sich ja bedingungslos dem Nationalsozialismus verschrieben hatte; nach 1940 gab es überhaupt keine Aufsätze universitärer Verfasser mehr. 5. Romanische Sprachen in der nationalsozialistischen Schulpolitik Als Verbindung zwischen Hochschulromanistik und Gymnasiallehrern wurden Die Neueren Sprachen allerdings von der Mitte der dreißiger Jahre ab immer weniger gebraucht, schlicht und einfach deswegen, weil das Fach Französischen an den höheren Schulen ausgedünnt wurde und auf lange Sicht zum Verschwinden bestimmt war. Erlasse des Reichserziehungsministeriums vom 20.3.1935, 20.4. und 28.12.1936 sahen eine Umorganisierung des höheren Schulwesens vor, derzufolge es nur noch eine einheitliche „Deutsche Oberschule“ geben sollte; daneben konnten noch einige wenige meist traditionsreiche humanistische Gymnasium (nur für Jungen) mit dem Schwerpunkt Latein und Griechisch weiterbestehen. In der „Deutschen Oberschule“ wurden Fächer und Lehrinhalte rigoros zusammengestrichen. Englisch wurde zur ersten, Latein zur zweiten Pflichtsprache (für Mädchen war im Normalfall nur ein hauswirtschaftliches Abitur mit Englisch als einziger Fremdsprache, das keine allgemeine Hochschulreife beinhaltete, vorgesehen – es war ja ausdrücklich beabsichtigt, das Frauenstudium zurückzufahren). Das Französische wurde zur dritten Sprache degradiert, zum Wahlpflichtfach also, das in Konkurrenz zum Spanischen und Italienischen, aber auch zum Schwedischen, Dänischen, Russischen, Polnischen und Tschechien stand. Seit 1940 galt folglich das Französische nicht mehr als Grundfach für das höhere Lehramt (Hausmann 1989, 38-39). Der zuständige Regierungsdirektor Gustav Gräfer stellte resigniert fest (1939, 231): „Wir haben uns damit abzufinden, daß Französisch eine Randstellung zugewiesen wurde, und haben unsere Arbeit entsprechend umzustellen“. Die Wahlpflichtfächer Italienisch und Spanisch wurden zwar euphorisch willkommen geheißen (Kühn 1939; Marx 1939; Neßer 1939; Wacker 1939), blieben aber in der Schulwirklichkeit – schon aus Mangel an kompetentem Lehrpersonal – eine quantité négligeable, übrigens zum nicht geringen Verdruss der italienischen Verbündeten. Damit musste man im Universitätsbereich eigentlich kaum noch auf die Bedürfnisse des Gymnasiums Rücksicht nehmen, hatte also in gewisser Weise einiges an Freiraum hinzugewonnen. Während für den schulischen Französischunterricht Themen wie „Heldentum, Führertum, Verhältnis von Staat zu Individuum, soziale Frage, Mensch und Arbeit, Bourgeoisie, Kriegs- und Nachkriegsjugend in Frankreich“ postuliert wurden (v. Roeder 1934, 545), konnte sich die Hochschulromanistik in ihren Elfenbeinturm zurückziehen. In vielen Fällen erfolgte dieser Rückzug auch in der Tat, und der Mehrzahl der Texteditionen, Mundartbeschreibungen, historischen Lautlehren, etymologischen Wörterbüchern, literaturgeschichtlichen Abhandlungen usw. merkt man ihre Entstehungszeit höchstens am einen oder anderen zeittypischen Ausdruck, nicht aber am wissenschaftlichen Inhalt an – die Beschreibung der rumänischen Mundart von Şerbăneşti-Tituleşti, die Ernst Gamillscheg, einziger romanistische Mitarbeiter an der Hitler-Festschrift und auch sonst wahrlich kein Un-
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schuldsengel, 1936 publizierte, lässt beispielsweise nicht am mindesten Detail erkennen, in welchem politischen Kontext sie entstanden ist. Wer den Rückzug in ideologieferne Bereiche der Wissenschaft wählte, hatte für sich selbst kaum Nachteile zu erwarten: Gewiss war es der Aufnahme in wissenschaftliche Schlüsselpositionen (Akademiemitgliedschaft, Gutachtertätigkeit, Auslandseinsatz, Berufung an Universitäten mit hohem Prestige) förderlich, wenn man als regimenahe Person bekannt war, aber massive Nachteile hatte man nicht, wenn man in Forschung und Lehre keine ausgeprägte Verbeugung vor den neuen Herren machte: Nicht nur wegen ihres Weltrufes schwer angreifbare Größen wie Karl Voßler oder Ernst Robert Curtius, sondern auch kleinere Lichter (wie z.B. Fritz Schalk, Heinrich Kuen, Hans Rheinfelder, Franz Rauhut, Hellmuth Petriconi) sangen nicht das Lied der neuen Zeit, sondern blieben ihren Gegenständen und Ansätzen treu. Wer eine Professur hatte, war durch nichts gezwungen, Themen zu bearbeiten, die ins nationalsozialistische Weltbild passten 6. Romanistische Forschung gemäß nationalsozialistischer Ideologie Umso erstaunlicher ist es, dass sich doch drei romanistische Untersuchungsbereiche nachweisen lassen, bei denen die Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie unübersehbar ist: die rassenkundliche Literaturwissenschaft, die rassenkundliche Sprachwissenschaft und die Landnahmeforschung. Zu den beiden erstgenannten Ansätzen kann man sich kurz fassen, auch deswegen, weil sie trotz aller Systemkonformität nicht wirklich eine Zentralposition im Fach erobern konnten. Der Grundgedanke der rassenkundlichen Literaturwissenschaft ist simpel: Was in den romanischen Literaturen wertvoll ist, geht auf Autoren zurück, in deren Adern letztlich germanisches Blut fließt. In der Umkehrung heißt das, dass Werke umso weniger wertvoll sind, je weniger ihre Verfasser der Vorstellung vom nordischen Menschen entsprechen, und natürlich sind Arbeiten jüdischer Schriftsteller per definitionem abzuweisen. Diese Betrachtungsweise förderte Arbeiten nach dem Muster LebensWerk, wobei die Biographie der Verfasser ihr Werk erklären musste. In diesem Geiste war das – nach dem Kriege entschärft immer wieder neu aufgelegte – Standardwerk von Eduard v. Jan zur französischen Literaturgeschichte geschrieben (1937), aber auch einige Arbeiten zur französischen Gegenwartsliteratur. Die rassenkundliche Sprachwissenschaft hat nur in Eduard Glässer einen universitären Herold gefunden: Dessen Einführung in die rassenkundliche Sprachforschung (1939a; Kurzfassung 1939b) versucht, aus der Verschiedenheit des Sprachstrukturen auf die Verschiedenheit der Rassen zu schließen. Eduard Glässer verstieg sich zu der Behauptung, „daß die Erhaltung des indogermanischen Sprachplanes geradezu als Erhaltung des rassischen Bewußtseins der Führerschicht angesehen und gewertet werden muß“ (1939b, 358) und „daß die Sprache [...] als stellvertretende Form der Rassenseele anzusprechen ist“ (1939b, 357). Die verquaste Argumentationsweise Gläsers mag aus folgendem Zitat klar werden, das mühsam eine Brücke zur Wesenskunde schlägt (1939b, 364): „Nun hat die romanische und romanisch bedingte, vor allem die französische Sprachenpolitik von Hause aus das Gepräge des Nationalstaatsgedankens, der mit unserem wuchshaften Volksstaatsbegriff grundsätzlich nichts Gemeinsames aufweist. Demgemäß ist die Übertragung der französischen Sprachgesinnung in gewalttätig oder auszeichnend eroberndem Sinne gleichläufig eine Übertragung französischer Staats-, Nationalgesinnung, oder doch zumindest Herstellung einer politischen Botmäßigkeit im Sinne der stets angestrebten potestas indirecta. [...] Wir haben es längst als unser irdisch-ewiges Schicksal erkannt, niemals einen Nationalbegriff als rein zusammenzählendes Machtgefüge im französischen Sinne verwirklichen zu sollen. Un-
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ser wuchshafter Volksbegriff erwächst demgegenüber aus der inneren Lebensmacht der besten schöpferischen Kräfte, aus denen unser Volk geworden ist und deren planetarischen Bestand wir in bewußter Gesinnung auf das Wesen dieser schöpferischen Kräfte ewig mehren und zu den höchsten Leistungen ausgestalten wollen, deren sie fähig sind. Darum vernehmen wir in unserer angestammten Sprache die nicht zu überhörende Stimme des Blutes.“ Die deutschen Romanisten bedachten Glässers Arbeit mit vornehmem Schweigen (mir ist keine einzige romanistische Besprechung bekannt), aber in Rumänien geißelte Iorgu Iordan die „furchtbare wissenschaftliche Verirrung“ (Iordan 1962, 135) in einer vor dem Hintergrund des faschistischen Antonescu-Regimes mutigen Rezension (Iordan 1941 / 1942). Insgesamt blieben die rassenkundliche Literatur- und Sprachwissenschaft Randphänomene in der Romanistik ohne Breiten- und Langzeitwirkung; von der Landnahmeforschung, in der Romanisten, Germanisten und Historiker zusammenarbeiteten, kann man das nicht behaupten. Die Grundthese dieser Landnahmeforschung besteht darin, dass erst das Vordringen der Franken ins nördliche Gallien die Basis für die Herausbildung einer französischen Nation und Sprache gelegt habe. Die westliche Sprachgrenze sei „keine Siedlungs-, sondern eine Ausgleichsgrenze, [...] also kein unmittelbares Relikt aus der Völkerwanderung, sondern ein erst allmählich zustande gekommenes Ergebnis der kulturellen Wiederabsetzung zwischen der germanischen und romanischen Welt“ (Petri 1977, 10). Die „Verlagerung des europäischen Schwerpunktes in die Gebiete zwischen Rhein und Loire“ sei erst aus dem Zusammenwirken von fränkischer Landnahme und fränkischer Reichsgründung zu erklären. Die romanistischen Stichwortgeber in dieser Diskussion waren vor allem Ernst Gamillscheg und Walther von Wartburg, die wohl ausgewiesensten Spitzenforscher ihrer Generation. Die 1934, 1935 und 1936 erschienen drei Bände der Romania Germanica, noch 1983 von einem entschiedenen Gegner der Grundthese des Werkes als „eine kühne und eindrucksvolle Synthese“ bezeichnet (Meier 1983, 225), verfolgten das Ziel, nachzuweisen, dass die Zufuhr „frischen germanischen Blutes ein offenkundig zum Untergang verurteiltes Volk, das seiner großen Vergangenheit unwürdig geworden war, vor der Auflösung bewahrt“ (Gamillscheg 1934a, 538; fehlt 1970) – ohne germanische Aufnordung also keine Romanen. Den Germanen wird so das Stigma genommen, das sie vor allem in der italienischen Geschichtssicht seit der Renaissance (Korruptionstheorie von Flavio Biondo) hatten, nämlich wilde Horden gewesen zu sein, die die antike Zivilisation und Kultur brutal vernichtet haben (Schlemmer 1983, 26-29). In Gamillschegs Sicht hingegen „bedeutet die Einwanderung der Germanen für das morsch gewordene Römerreich nicht den Untergang, sondern die Voraussetzung für einen neuen Aufstieg; die Einwanderung der Germanen bringt nicht nur Zerstörung, sondern vor allem Aufbau mit neuen Kräften“ (Gamillscheg 1936, 215), und germanisches Blut fließe in den Adern der Elite der romanischen Länder; so gelte für Italien, „daß Träger altgermanischer Namen wie Mussolini, Garibaldi, Alighieri, Tasso heute als die hervorragendsten Vertreter des romanischen Volkstums angesehen werden“ (1934b, 526). Walther von Wartburg ging noch einen Schritt weiter: Für ihn waren die Germanen nicht nur die Auffrischer der ermatteten romanischen Vitalität, sondern geradezu die Ahnherren der einzelnen romanischen Sprachen, denn die Differenzierung des einen Lateins in verschiedene Sprachen erklärte er aus der unterschiedlichen Beeinflussung des Lateinisch-Romanischen der römischen Provinzen durch die Sprachen der Germanenstämme (Langobarden, Goten, Vandalen, Franken, Burgunder, Bajuwaren usw.) und anderer Eroberer (Slaven, Araber): Die Superstratsprachen (der Terminus wurde von W. von Wartburg selbst geprägt, vgl. Kontzi 1982, 9) sind verantwortlich für die Gliederung der Romania und für die Ausprägung der einzelen romanischen Sprachen. Dem fränkischen Superstrat wäre demnach sowohl die Herausbildung der sprachlichen Sonderform des Französischen (verursacht z.B. durch Längung der Tonvokale in frei-
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er Silbe mit nachfolgenden Diphthongierungsphänomenen, durch stärkere Akzentuierung der Tonsilbe, durch das Verstummen intervokalischer stimmhafter Konsonanten) als auch der mittelalterliche Verlauf der französisch-provenzalischen Sprachgrenze zuzuschreiben (Wartburg 1939, 127 und 129): „Diese Linie erweist sich auf den ersten Blick als identisch mit jener Linie, bis zu der im fünften und sechsten Jahrhundert Franken und Burgunder gesiedelt haben. Ich glaube, in einer besonderen Abhandlung nachgewiesen zu haben, daß tatsächlich dieser Eingriff in das romanische Lautsystem darauf zurückgeht, daß die Franken das Latein in einer Weise artikulierten, die eben ihren Lautgewohnheiten entsprach. Südlich der Loire behält das romanische Idiom seine klaren, einfachen Laute, es entsteht das von unvergleichlicher Harmonie beseelte Provenzalisch, die Sprache, die wie geschaffen war, zum Ausdruck der Gefühle und Gedanken der Welt des Minnesangs zu werden. Im Norden aber werden die Laute weithin verschoben, zerschlagen und zerrieben; sie sind hier zusammengestoßen mit einem ganz anderen Sprachrhythmus, der sie sich gewaltsam anzupassen sucht. [...] Im nördlichen Gallien haben mehrere Jahrhunderte hindurch zwei Sprachen, zwei Sprachrhythmen, zwei Artikulationssysteme nebeneinander gelebt. Die Auseinandersetzung zwischen beiden hat das germanische Idiom wieder vom Boden Nordgalliens verschwinden lassen; sie hat aber zugleich dem Latein im Siedlungsgebiet der Franken und Burgunder einen Stempel aufgeprägt, der es vom Provenzalischen und Iberoromanischen abhebt. Der Ausgleich zwischen Romanen und Franken, auf den die merowingischen Könige von der ersten Stunde an hingewirkt haben, hat also auch in die Sprachgestaltung eingegriffen. Der Ruf zur Zusammenarbeit in der Ausgestaltung des staatlichen Lebens erging vor allem an die Vornehmen und Befähigten beider Völker. Sie bildeten zusammen eine Führerschicht, die den Staat trug, eine Schicht, in der vorerst das germanische Element noch in der Überzahl war. Diese Schicht ist nun auch für das sprachliche Schicksal Nordgalliens ausschlaggebend geworden. Der vornehme Franke sprach das Latein, das er sich als comes hatte aneignen müssen, mit unlateinischem Akzent und übertrug darauf seine eigenen Artikulationsgewohnheiten. Sein Beispiel wirkte weiter in der aus Galloromanen und Franken gemischten Bevölkerung, und so entfernte sich das Latein nördlich der Loirelinie immer mehr von dem südlich dieses Flusses.“ (Wartburg 1939, 127 und 129). Der Gedanke, dass die romanischen Sprachen und Völker ihre Existenz letztlich den Germanen verdanken und dass konkret erst die fränkische Führerschicht in ihrer Mischung mit der lateinischsprachigen Elite Galliens die Voraussetzung für die Entstehung des französischen Volkes und der französischen Sprache boten, passte natürlich wunderbar in nationalsozialistische Gedankengänge von der Überlegenheit der germanischen Rasse im Allgemeinen und von der Berechtigung der Etablierung eines deutschen Protektorates über das morsche Frankreich im Besonderen. Man würde allerdings falsch liegen, wenn man Walther von Wartburg vorwerfen wollte, er habe seine Theorie unter dem Einfluss der nationalsozialistischen Ideologie entwickelt: Ohne jeden Zweifel war er kein Nationalsozialist, und er stand auch der Rassenlehre keineswegs nahe; seine Gedanken – die er teilweise schon vor 1933 formuliert hatte (Wartburg 1930; 1932) und die ja an ältere Ansätze der Romanistik anknüpften – passten freilich nur allzu gut in das Konzept der offiziell geförderten Geschichtsbetrachtung (Kramer 1988, 77). Das Regime konnte sich hier großzügig bedienen, wenn es um wissenschafliche Argumente für pseudowissenschaftliche Ausführungen ging. Der Romanistik als Fach ist in diesem Zusammenhang eine Mischung von Opportunismus und Weltfremdheit vorzuhalten: Natürlich wurde die öffentliche Förderung gerne mitgenommen, die Forschungen zur germanischen Landnahme relativ leicht zu Teil wurde,
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und natürlich war man froh, dem eigenen Fach, das je wegen der Rückstufung des Französischunterrichtes an den Schulen seine bis dahin vorwiegende raison d‘être verloren hatte, ein neues Arbeitsfeld zu erschließen, das sich staatlichen Wohlwollens sicher war. Welfremd war man insofern, als sich viele Romanisten der Tatsache nicht wirklich bewusst waren, vor den Karren einer Weltanschauung gespannt zu werden, die nun wirklich nichts Wissenschaftliches an sich hatte. Dass man im Fach die Verbindungen zwischen dem nationalsozialistischen Mythos von der Überlegenheit der nordischen Rasse und der historischen Führungsrolle der Germanen einerseits und romanistischen Arbeitsbereichen wie Landnahme und Superstratforschung andererseits nicht sah oder nicht sehen wollte, lässt sich am besten daran erkennen, dass noch lange nach dem Ende des Hitler-Regimes, konkret bis in die siebziger Jahre hinein, die Ausgliederung der romanischen Sprachen vor allem aus dem unterschiedlichen Superstrat die gängige Handbucherklärung war. Das Schlusswort wurde erst 1978 von Max Pfister, einem Schüler Walther von Wartburgs, gesprochen: „Die von v. Wartburg vertretene germanische Superstratthese [...] entspricht in ihrer Formulierung und Vereinfachung nicht mehr dem heutigen Forschungsstand“ (Pfister 1978, 169). Die ideologischen Querverbindungen zum Nationalsozialismus wurden erst in den achtziger Jahren thematisiert (Kramer 1988, 76-78). 7. Ausbleibende Ideologisierung des Gesamtfaches Die wissenschaftsgeschichtlichen Forschungen der letzten zwei Jahrzehnte haben deutlich nachgewiesen, dass es in der deutschen Romanistik Bereiche gab, die – meist in Fortsetzung von kurz vor oder nach dem Ersten Weltkrieg aufgekommenen Ansätzen – bereitwillig an Grundtendenzen der nationalsozialistischen Ideologie angepasst wurde. Die romanistische Forschung ließ sich also durchaus in einigen ihrer Teilbereiche vor den nationalsozialistischen Karren spannen. Es bleibt aber zu betonen, dass keineswegs die gesamte Romanistik von nationalsozialistischen Gedanken durchtränkt wurde. Landnahmeforschung und Wesenskunde wurden nie zum Mittelpunkt des Faches, und die durch Antisemitismus verursachte Ausklammerung bestimmter Themen (Werke jüdischer Autoren, Beschäftigung mit jüdischen Sondersprachen) musste sich ja nicht in anderen Gegenstandsbereichen niederschlagen. Insgesamt ist für die Romanistik unter dem Nationalsozialismus zu konstatieren, dass abgesehen von den drei „anfälligen“ Domänen Landnahmeforschung, Wesenkunde und Autor-Werk-Analyse weder in der Forschung noch in der Lehre eine Ideologisierung festgestellt werden kann: Die üblichen Veranstaltungen zur historischen Lautlehre, zur Sprachgeographie und Dialektologie, zur Namenkunde, zur mittelalterlichen und zur klassischen Literatur, zu Lyrik und Roman im 19. Jahrhundert usw. liefen so weiter, wie sie auch vor 1933 gelaufen waren (und, das sei hinzugefügt, wie sie sich nach 1945 fortsetzten). In der Forschung dasselbe Bild: Neue Etymologien, unerwartete lautliche Entwicklungen, neue Deutungen von Isoglossenbündeln, das Weiterleben vulgärlateinischer Elemente im Romanischen, die Dauerpräsenz der lateinischen Tradition in romanischen Literaturen, Motivstudien, Metrik – es gab genügend Gebiete, in die man sich flüchten konnte, wenn man sich mit der Gegenwart nicht abgeben wollte. Von der wissenschaftlichen Produktion „müssen etwa 10-20% als deutlich ideologisch geprägt bezeichnet werden“, und „allein in etwa 5-10% der Schriften wurde versucht, eine neue eigenständige nationalsozialistische Romanistik zu entwerfen, die aufgrund ihrer völkisch-rassistischen Orientierung das Epitheton ‚Deutsch‘ verdiente“ (Hausmann 2000, 673), wobei die lautesten Töne von Nachwuchsromanisten kamen, die sich mit ihrer Anbiederung an Denkweise und Sprachstil der Herrschenden einen Karriereschub erhofften. Was Thomas Bräutigam (1997, 253) für die Hispanistik konstatiert, gilt für die ganze Romanistik:
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„Die Frage nach einem exklusiven Profil der deutschen Hispanistik im Dritten Reich, das diese Epoche aus der Fachgeschichte markant herausheben und eine isolierte Betrachtung aus fachinternen Gründen rechtfertigen würde, muß – soweit es sich an den Publikationen ablesen läßt – verneint werden. Anders formuliert: Die Hispanistik bot nach 1933 thematisch und methodisch kein wesentlich anderes Bild als vor 1933. Zwischen den Texten und dem Nationalsozialismus an der Macht besteht kein ursächlichr Zusammenhang.“ Man kann also mit gutem Gewissen das Urteil von Frank-Rutger Hausmann (1989, 47) aus den achtziger Jahren unterstreichen, dass „die deutsche Romanistik, gemessen an anderen Disziplinen, in der Nazizeit noch einmal glimpflich davongekommen ist und sich, bis auf wenige Ausnahmen, um neutrale Zurückhaltung bemühte“. Dieses Urteil bezieht sich freilich nur auf den inneren fachlichen Diskurs der Romanistik, nicht auf die Außendarstellung, die nicht wenige Romanisten als Fachleute für Fragen der Romania in Kulturzeitschriften o. ä. lieferten: Hier gaben nie die Romanisten die Richtung der Argumentation vor, sondern sie wurden von Ideologen, Publizisten wie Politikern, als nützliche Materiallieferanten gebraucht. Die Romanistik als Fach blieb hingegen weitgehend von einer Ideologisierung in nationalsozialistischem Sinne verschont, weil sie zu einer quantité négligeable wurde, zu einem „Orchideenfach“, wie man später sagen würde. 8. Nationalsozialistische Zukunftsperspektiven für die Romanistik Auf lange Sicht hatte das Regime mit Sicherheit vor, die Organisationsform nach Sprachen zugunsten einer völkisch-landeskundlichen Ausrichtung aufzugeben – keine Romanistik mehr, sondern Volks- und Landeskunde Frankreichs, Italiens, Spaniens, Rumäniens usw. Vor diesem Hintergrund interessierten sich die Herrschenden schlicht und einfach gar nicht für die Weiterentwicklung des sowieso auf dem Aussterbeetat stehenden Faches Romanistik, was eine gewisse „Narrenfreiheit“ zur Folge hatte, derer sich die Zeitgenossen freilich nur in den wenigsten Fällen bewusst waren. In welche Richtung die Nationalsozialisten wohl auf lange Sicht die alte Romanistik umkrempeln wollten, kann man an drei Maßnahmen erkennen, nämlich an den Dozentenlagern, am Kriegseinsatz der Geisteswissenschaftler und an den Kulturinstituten im Ausland. Die Nationalsozialisten waren – vor dem Hintergrund ihrer diffusen Vorstellung einer „Volksgemeinschaft“ – daran interessiert, „Arbeiter der Stirn und Arbeiter der Faust“ zusammenzuführen. Damit zukünftige Hochschullehrer die Welt der Handarbeit kennenlernten, eine paramilitärische Ausbildung erfuhren und ideologisch geschult würden, richtete man sogenannte „Dozentenlager“ ein. Zunächst hatten diese eine Dauer von 13 Wochen, nämlich 10 Wochen körperlicher Ertüchtigung und 3 Wochen Indoktrination; ab 1938 richtete man unter dem Eindruck des Personalmangels an den Universitäten eine Kurzform von insgesamt 3 Wochen Dauer ein. Wer bereits eine Festanstellung an der Universität hatte, musste nicht teilnehmen, aber für den Nachwuchs war der Eintritt in eine Universitätslaufbahn ohne Nachweis der Teilnahme an einem Dozentenlager nicht möglich. In den „wissenschaftlichen Lagern“ wurde „den Philologen und Literaturwissenschaftlern aufgegeben, sich als ‚Auslandswissenschaftler‘ zu verstehen und eine durch die Methoden der gesamten Staats- und Volkswirtschaft abgesicherte Auslandsforschung zu betreiben“ (Hausmann 2000, 110). Sicher dachten die nationalsozialistischen Bildungsplaner daran, universitäre Strukturen zu schaffen, die diesem Ziel eher entsprechen würden als die traditionellen Romanischen Seminare. Wirklich erreicht werden konnte das – vor allem wegen des hinhaltenden Widerstandes der romanistischen Zunft – nicht: Die „Deutsche
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Auslandswissenschaftliche Fakultät“ der Berliner Universität umfasste keine romanistische Professur (Hausmann 2000, 77), und die in Köln und München 1940 in die Wege geleiteten Versuche, eine nicht in die Romanistik eingebundene eigenständige Italianistik mit einem starken landeskundlichen Anteil zu etablieren, waren ebenfalls aus personellen Gründen – alle in Aussicht genommenen Professoren sprangen bei der ersten sich bietenden Gelegenheit in Richtung „alte“ Romanistik ab – nicht von Erfolg gekrönt (Kramer 2002, 7). Die Tendenz war aber dennoch klar: Hätte das nationalsozialistische Regime Bestand gehabt, wäre es um die Romanistik alten Stils geschehen gewesen und eine auslandskundlich organisierte Organisationsform wäre an ihre Stelle getreten. Soweit war es, wie gesagt, beim Kriegsausbruch noch lange nicht, und so musste der sogenannte „Kriegseinsatz der deutschen Wissenschaft“, der nach dem Familiennamen seines Organisators, des Kieler Juraprofessors und Universitätsrektors Paul Ritterbusch (1900-1945), als „Aktion Ritterbusch“ bekannt ist, entlang der traditionellen Fachgrenzen aufgezogen werden. Durch eine äußerst materialreiche Arbeit von Frank-Rutger Hausmann (1998) sind wir über die Einzelheiten dieses Unternehmens exzellent informiert, so dass hier nur Eckdaten zu referieren sind. Am 27. und 28. April 1940 fand in Kiel eine Tagung statt, auf der die Grundzüge eine gemeinsamen „Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften“ geplant und „Spartenleiter“ benannt wurden (Übersicht Hausmann 1998, 70-74). Für die Romanistik war der Breslauer, ab 1943 Berliner Ordinarius Fritz Neubert (1886-1970) zuständig, der schon für den 17. und 18. Mai 1940 zu einer Romanistentagung nach Berlin einlud, „überhaupt das erste Mal in der Weltgeschichte, daß die Deutschen Romanisten für sich beisammen waren“ (Heinrich Kuen brieflich am 1.6.1940, in: Hausmann 1998, 294) – der erste deutsche Romanistenkongress also. Eine zweite Tagung folgte am 29. und 30. November 1940 in Weimar. Eingeladen wurden nahezu alle Ordinarien (anscheinend mit Ausnahme der Emeriti) und die meisten Extraordinarien sowie Privatdozenten, sogar fortgeschrittene Habilitanden, insgesamt rund vier Dutzend Romanisten (Liste bei Hausmann 1998, 308-309). „Frankreich, sein Weltbild und Europa“ war der geplante Titel, unter dem 50 Monographien zusammengefasst werden sollten, die vier Themenkreisen zugeordnet wurden (Jehle 1996, 168-170): „Struktur-Grundlagen Frankreichs“, „Die französische Sprache“, „Frankreichs Weltbild“, „Frankreich und Europa“ (mit zwei Teilbereichen, „Frankreich und Deutschland“ und „Frankreich und die übrige Romania“). Immerhin 11 Arbeiten, Bände im Umfang zwischen etwas über 100 und etwas unter 500 Seiten, konnten noch vor dem Ende des Dritten Reiches erscheinen10. Obwohl die Zielrichtung des Unternehmens ganz klar darin bestand, die traditionelle sprach- und literaturwissenschaftliche Gesamtromanistik durch eine „landeswissenschaftliche“ Frankreichkunde mit „Weltbild“- und „Wesenskunde“-Aspekten abzulösen, war das Beharrungsvermögen der Romanisten stärker als alle ideologischen Vorgaben: Abgesehen von einigen wenigen Anklängen an die „nationalsozialistische Offizialsprache, deren Spuren sich meist nur in den Einleitungen und Zusammenfassungen finden“ und „im Innern dann glücklicherweise“ fehlen, sind eigentlich alle Bände „bieder und konventionell“ (Hausmann 1998, 355-356), methodisch altmodisch und abgetrennt von Entwicklungen im Ausland, aber eben auch frei von offenkundigen Entstellungen der Realität – ein hausbackenes Sammelwerk, das gerade 10
Es handelt sich um folgende Bände: Josef Brüch, Die Anglomanie in Frankreich, 1941; Theodor Heinermann, Frankreich und der Geist des Westfälischen Friedens, 1941; Bernhard Knoop, Hegel und die Franzosen, 1941; Hans Leube, Deutschlandbild und Lutherauffassung in Frankreich, 1941; Fritz Neubert, Die französische Klassik und Europa, 1941; Karl d’Ester, Die Presse Frankreichs im eigenen Urteil, 1942; Mario W. Wandruszka von Wanstetten, Wille und Macht in drei Jahrhunderten französischer Schau, 1942; Walter Mönch, Voltaire und Friedrich der Große, 1943; Erhard Preißig, Die französische Kulturpropaganda in der Tschechoslowakei, 1943; Hans Spanke, Deutsche und französische Dichtung des Mittelalters, 1943; Karl Knauer, Künstlerisches Schaffen im Dienste der nationalen Gemeinschaft und der politischen Propaganda Frankreichs, 1944.
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nicht vor der Welt demonstrieren konnte, dass die „Neue Zeit“ auch eine überlegene „Neue Wissenschaft“ erzeugt hatte. Wäre der Nationalsozialismus siegreich geblieben, so hätte der Beitrag der Romanisten zur „Aktion Ritterbusch“ den Machthabern eher als Argument für die Abschaffung des Faches denn als Zeichen für seine Kompatibilität mit der Wissenschaftsideologie des Regimes dienen können. Wenn die Romanisten auch bei ihren fachlichen Arbeiten partout nicht von ihrer herkömmlichen sprach- und kulturübergreifenden Vorgehensweise zugunsten „landeswissenschaftlicher“ Ansätze abzubringen waren, so waren sie doch auf Grund ihrer Sprach- und Realienkenntnisse für die praktische Propaganda-Arbeit in den einzelnen romanischen Ländern unverzichtbar, und sie waren auch durch die Bank nur zu gerne bereit, hier ihre helfende Hand zu leihen. Von 1940 ab errichtete das Deutsche Reich in den Hauptstädten neutraler und besetzter Länder „Deutsche Wissenschaftliche Institute“ (DWI), zu deren Leitern und wichtigsten Mitarbeitern in den romanischen Ländern fast ausschließlich Romanisten berufen wurden (Brüssel: Walter Mönch; Bukarest: Ernst Gamillscheg; Madrid: Theodor Heinermann; Lissabon: Harri Meier; Odessa und Tirana: Günter Reichenkron). In Rom wurden die Aktivitäten des „Kaiser-Wilhelm-Institutes für Kunst- und Kulturwissenschaft“, der früheren „Bibliotheca Hertziana“, fortgeführt, wobei der Akzent eher auf Kunst und Archäologie fiel. Einzig in Paris konnten der Leiter des „Deutschen Instituts“, Karl Epting, und sein Assistent Karl Heinz Bremer, beides „Landeskundler“ im Sinne der Parteidoktrin und Gegner der traditionellen Romanistik, einen Versuch unternehmen, Weichenstellungen im Sinne der nationalsozialistischen Zukunftsvisionen zu unternehmen. Die Zeitschrift Deutschland-Frankreich und die Cahiers de l‘Institut Allemand wurden zum Sprachrohr der Aktivitäten, deren Charakteristikum darin bestand, der politisch genehme Gegenwartsliteratur und weltanschaulich-rassenkundlichen Abhandlungen ein Forum zu bieten. Es gelang, die intellektuelle Elite des Dritten Reiches zu Vorträgen nach Paris zu bringen, und die Schriftenreihen informierten über deutsche Erfolge in den Naturwissenschaften, in der Rechtskunde und in der Medizion. All das passte besser zum Zuschnitt des intellektuellen Lebens in Frankreich als die traditionelle Romanistik, die ja in Frankreich kein Pendant (mehr) hatte. Es ist sicher kein Zufall, dass in Paris kein Romanist zum Zuge kam; hier zeigte sich am deutlichsten, was der Weg gewesen wäre, den die Nationalsozialisten nach dem „Endsieg“ verfolgt hätten: Auslaufen der Romanistik, Etablierung einer Landeswissenschaft, bei der Literatur und Sprache zwar noch ein Plätzchen, aber ganz gewiss keine zentrale Stellung mehr haben würden. 9. Die deutsche Romanistik nach 1945 im Zeichen der Kontinuität Mit dem Ende des Dritten Reiches in der bedingungslosen Kapitulation vor den Alliierten endete keineswegs die Verstrickung der Romanistik in den Nationalsozialismus. Wie bei den meisten anderen Wissenschaften ist auch hier vor allem Kontinuität und kaum Korrektur an eingenommenen Positionen festzustellen. Es fehlte zunächst einmal ein personeller Neuanfang: „Fast alle Romanisten, auch die, die sich offen exponiert hatten, haben nach Kriegsende in der BRD, DDR oder Österreich wieder einen Lehrstuhl erlangt; für einige lagen dazwischen allerdings ca. 5–10 Jahre des Ruhestandes oder statusmäßiger Zurückstufungen, da sich natürlich auch die Professoren der Entnazifizierung unterziehen mußten“ (Hausmann 1989, 35). Sowohl der sich anbahnende Kalte Krieg wie die Notwendigkeit der Besetzung von Lehrstühlen neugegründeter Universitäten (z.B. in der französischen Zone Mainz, Germersheim, Mannheim, in Westberlin die Freie Universität) führten zur „Wiederverwendung“ alter Parteigenossen: W. Th. Elwert konnte in Mainz Fuß fassen (pikanterweise neben Eugen Lerch, den die Nationalsozialisten wegen „Rassenschande“ von der
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Universität Münster vertrieben hatten), Walter Mönch in Mannheim, Edgar Glässer in Germersheim, und die Bewerbung (damals völlig ungewöhnlich) von Günter Reichenkron an die neu gegründete Freie Universität war von Erfolg gekrönt. Rückberufungen von ins Ausland emigrierten Romanisten wurden nur halbherzig betrieben, und niemand kam endgültig. Eine Wiedereinsetzung ins eigene Amt scheint nur im Falle von Walther Küchler in Hamburg von Erfolg gekrönt worden zu sein, wo Fritz Krüger es vorgezogen hatte, seinen Lehrstuhl durch Emigration nach Argentinien freizumachen. Nach Argentinien wanderte auch Gerhard Moldenhauer aus, der lauteste Trommler des Nationalsozialismus, der seinen Wiener Lehrstuhl aber keineswegs wegen seiner Regimenähe verloren hatte, sondern weil generell alle „Reichsdeutschen“, die nach dem „Anschluss“ von 1938 an eine österreichische Universität berufen worden waren, aus dem Amte entfernt wurden. Victor Klemperer, über dessen Leben als zwangspensionierter und am Betreten von Bibliotheken und Bildungsstätten gehinderter Professor und als Vorzeigeromanist der DDR wir durch seine Tagebücher, die sogar die Vorlage zu einer Fernsehserie gebildet haben, besonders gut unterrichtet sind (Klemperer 1995; 1999), konnte nur vorübergehend an seine alte Wirkungsstätte in Dresden zurückkehren, wurde aber schon 1947 nach Halle versetzt, weil an der Technischen Universität kein Raum mehr für Geisteswissenschaften war. Die Personen blieben weitgehend dieselben, die Inhalte von Lehre und Forschung auch: Die Diskussion um den Anteil der Germanen an der „Ausgliederung“ der romanischen Sprachen beherrschte noch die fünfziger und sogar die frühen sechziger Jahre, die historisch-vergleichende Methode, die noch tief im 19. Jahrhundert wurzelt, blieb das beherrschende Beschreibungsmodell in der Sprachwissenschaft und verhinderte das Aufkommen von Strömungen wie dem Strukturalismus, der außerhalb Deutschlands spätestens in den dreißiger Jahren eine voll akzeptierte Methode war, die Geistes- und Ideengeschichte bestimmte neben Literatursoziologie und Rezeptionsforschung weiterhin die Literaturwissenschaft, und selbst die Wesenskunde konnte sich in einer demokratisch gewandeten Kulturkunde wiederfinden. Die Großvätergeneration führte ein Fach weiter, das sich während des Dritten Reiches nicht hatte verjüngen können, denn „die Romanistik war in der NS-Zeit kein Karrierefach“ (Hausmann 2000, 682) und hatte daher kaum talentierte junge Männer anziehen können; junge Frauen hatten sowieso keine Aussicht auf eine akademische Laufbahn, und zumindest in diesem Punkte etablierte die restaurative Adenauer-Zeit de facto, wenn auch nicht de jure, eine nahtlose Kontinuität zur vorhergehenden Epoche (und auch in der jungen DDR konnte nur eine einzige Frau, Rita Schober, eine romanistische Karriere machen). Der Umbruch der sechziger Jahre, der in der Explosion des Jahres 1968 kulminierte, traf die deutsche Romanistik besonders hart und auch unvorbereitet, weil eben nicht, wie es normal ist, die Generation der Kinder die der Eltern ablöste, sondern weil Großväter ihren Enkeln Platz machen mussten und alle Chancen auf einen gleitenden Übergang in den Forschungsansätzen vertan waren. Es entstand eine Polarisierung, an der die Romanistik der deutschsprachigen Länder noch heute mehr als andere Fächer leidet, bei denen die Generationenfolge weniger gestört war: Einige Schüler passten sich den Interessensgebieten ihrer Lehrer an und widmen sich heute mit technischen Mitteln des 21. Jahrhunderts Fragestellungen, die im 19. Jahrhundert wurzeln, andere Schüler brachen total mit der Vergangenheit und folgten nicht selten mit dem typischen Fanatismus von Spätbekehrten neuen Heilslehren, wieder andere versuchten die Quadratur des Kreises, indem sie eine Neuausrichtung des Faches unter Bewahrung guter Traditionen und gleichzeitiger Berücksichtigung der Umwälzungen, die in anderen Bereichen der Geisteswissenschaften inzwischen stattgefunden hatten, anstrebten. Vor diesem Hintergrund ergibt sich das Paradoxon, dass bei einer während des Nationalsozialismus zur Marginalität verurteilten Wissenschaft wie der Romanistik, die eben deshalb äußeren Pressionen wenig ausgesetzt war und ihre Forschungs-
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inhalte weitgehend selbst bestimmte, die Langzeitwirkung des zwölfjährigen nationalsozialistischen Intermezzos spürbarer ist als bei systemnäheren Wissenschaften, in denen klarere Schnitte nötig waren. 10. Bibliographie Bräutigam, Thomas, Hispanistik im Dritten Reich, Frankfurt (Vervuert) 1997. Christmann, Hans Helmut, Romanistik und Anglistik an der deutschen Universität im 19. Jahrhundert, Stuttgart (Steiner) 1985. Gamillscheg, Ernst, Romania Germanica. 3 Bände. Berlin / Leipzig (Walter de Gruyter) 1934 (=1934a) / 1935 / 1936. Band I, zweite vollständig neu bearbeitete Auflage, Berlin(Walter de Gruyter) 1970. Gamillscheg, Ernst, „Romania Germanica“, Die Neueren Sprachen 42, 1934, 527-539. Gamillscheg, Ernst, Die Mundart Şerbăneşti-Tituleşti, Jena / Leipzig (Wilhelm Gronau) 1936. Glässer, Edgar, Einführung in die rassenkundliche Sprachforschung, Heidelberg (Winter) 1939 (= 1939a). Glässer, Edgar, „Rassenkundliche Sprachforschung“, Neuphilologiche Monatsschrift 10, 1939, 353-365 und 395-403 (= 1939b). Gräfer, Gustav, „Der neusprachliche Unterricht nach den amtlichen Lehrplänen in Erziehung und Unterricht“, Die Neueren Sprachen 47, 1939, 223-234. Gumbrecht, Hans Ulrich, „«Un souffle d‘Allemagne ayant passé». Friedrich Diez, Gaston Paris und die Genese der Nationalphilologien“, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 53-54, 1984, 37-78. Harlander, Otto, „Französisch und Englisch im Dienste der rassenpolitischen Erziehung“, Die Neueren Sprachen 44, 1936, 45-67. Hausmann, Frank-Rutger, „Die nationalsozialistische Hochschulpolitik und ihre Auswirkungen auf die deutsche Romanistik von 1933 bis 1945“, in: Christmann, Hans Helmut & Hausmann, Frank-Rutger (edd.), Deutsche und österreichische Romanisten als Verfolgte des Nationalsozialismus, Tübingen (Stauffenburg) 1989, 9-54. Hausmann, Frank-Rutger, „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940-1945), Dresden (Dresden University Press) 1998. Hausmann, Frank-Rutger, „Vom Strudel der Ereignisse verschlungen“. Deutsche Romanistik im „Dritten Reich“, Frankfurt (Vittorio Klostermann) 2000. Hirdt, Willi, Romanistik – eine Bonner Erfindung, Bonn (Bouvier) 1993. Iordan, Iorgu, Rez. zu Glässer 1939, in: Buletinul Institutului de Filologie româna˘ Alexandru Philippide 7 / 8, 1940 / 1941, 337-344. Iordan, Iorgu, Einführung in die Geschichte und Methoden der romanischen Sprachwissenschaft, Berlin (Akademie-Verlag) 1962. Jan, Eduard von, Französische Literaturgeschichte in Grundzügen, Leipzig (Quelle & Mayer) 1937 (6Heidelberg 1967). Jehle, Peter, Werner Kraus und die Romanistik im NS-Staat, Hamburg (Argument) 1996. Klemperer, Victor, Ich will Zeugnis ablegen bis zum Letzten. Tagebücher 1933-1945, Berlin (Aufbau) 1995. Klemperer, Victor, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945-1960, Berlin (Aufbau) 1999. Kontzi, Reinhold, Substrate und Superstrate in den romanischen Sprachen, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1982. Körting, Gustav, Handbuch der romanischen Philologie, Leipzig (Reisland) 1896. Kramer, Johannes, „Die romanische Sprachwissenschaft im Dritten Reich“, in: Rainer Geißler / Wolfgang Popp (edd.), Wissenschaft und Nationalsozialismus. Eine Ringvorlesung an der UniversitätGesamthochschule Siegen, Essen (Die Blaue Eule) 1988, 63-78. Kramer, Johannes, Das Französische in Deutschland, Stuttgart (Steiner) 1992. Kramer, Johannes, „Romanistik und Italianistik – eine schwierige Partnerschaft“, in: J. Kramer (Ed.), Italienische Sprache und Kultur an der Jahrtausendwende, Hamburg (Buske) 2002, 1-12. Küchler, Walther, „Die neueren Sprachen in der Neuen Universität“, Die Neueren Sprachen 41, 1933, 193197. Kühn, Johann, „Spanisch als Wahlpflichtfach“, Die Neueren Sprachen 47, 1939, 291-296. Lehberger, Reiner, „Geschichte des Fremdsprachenunterrichts“, in: Karl-Richard Bausch / HErbert Christ / Werner Hüllen / Hans-Jürgen Krumm (edd:), Handbuch Fremdsprachenunterricht, Tübingen (Francke) 1989, 475-480.
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NORDISCHE PHILOLOGIE JULIA ZERNACK Zweierlei legt den Gedanken nahe, daß die Nordische Philologie1 von vornherein Affinität zum Nationalsozialismus gehabt haben müßte: die Fachbezeichnung mit dem Epitheton »nordisch«, das ein Schlagwort nationalsozialistischer Propaganda aufzugreifen scheint, sowie der Gegenstand des Faches, das sich – allgemein gesagt – der (nord)germanischen Kultur widmet. Vermeintlich deutet sich hier zumindest sprachlich eine Analogie zu jener sogenannten nordisch-germanischen Weltanschauung an, die als Spezifikum nationalsozialistischer Ideologie gilt. Infolgedessen steht die Nordische Philologie in dem Verdacht, daß sie in der politischen Ideologie des »Dritten Reiches« nicht nur förmlich aufgegangen wäre, sondern diese darüber hinaus wissenschaftlich fundiert hätte. Diese Vermutung hat jedoch Klaus von See schon vor über 20 Jahren wissenschaftsgeschichtlich widerlegt: Eine »totale Beschlagnahme des Faches« hat es nicht gegeben.2 Die Fachvertreter haben sich mit dieser Feststellung offensichtlich begnügt. Jedenfalls fehlt es in auffälliger Weise an weiterführenden fachgeschichtlichen Studien. Dies gilt im übrigen nicht nur für die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft.3 Vor allem die Aufarbeitung von Archivmaterial kommt nur zögernd in Gang.4 Nicht für alle nordistischen Institute bzw. Abteilungen gibt es verläßliche historische Daten,5 so daß sich etwa die Institu1
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Heute werden die Fachbezeichnungen »Nordische Philologie«, »Nordistik« und »Skandinavistik« meist mehr oder weniger synonym gebraucht. Der Begriff »Skandinavistik« hat sich jedoch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – vor allem im Zusammenhang mit der Etablierung der Neueren Skandinavistik – durchgesetzt; bis dahin sprach man in der Regel von »Nordischer Philologie« oder »Nordistik«, bisweilen auch von »Nordischen Studien«. Ich folge hier dem Sprachgebrauch der Zeit. Die Altnordistik im »Dritten Reich«. In: Bernd Henningsen und Rainer Pelka (Hg.): Die Skandinavistik zwischen gestern und morgen. Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektiven eines »kleinen Faches«. Sankelmark 1984 (= Schriftenreihe der Akademie Sankelmark, N.F. 59), 39-63; überarbeitete Fassung unter dem Titel Das Schlagwort vom ›nordischen Menschen‹ 1994 in: ders.: Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen. Heidelberg, 207-232. Eine Ausnahme bildet die kurze – und gelegentlich verkürzende – Darstellung von Bernard Mees: Völkische Altnordistik: The Politics of Nordic Studies in the German-Speaking Countries, 1926-1945. In: Geraldine Barnes, Margaret Clunies Ross (Hg.): Old Norse Myths, Literature and Society. Proceedings of the 11th International Saga Conference 2-7- July 2000, University of Sydney. Sydney 2000, 316-326 (www.arts.usyd.edu.au/departs /medieval/ saga.html [Zugriff 6. August 2006]). Vgl. aber Julia Zernack: Kontinuität als Problem der Wissenschaftsgeschichte. Otto Höfler und das Münchner Institut für Nordische Philologie und Germanische Altertumskunde. In: Klaus Böldl, Miriam Kauko (Hg.): Kontinuität in der Kritik. Zum fünfzigjährigen Bestehen des Münchener Nordistikinstituts: Historische und aktuelle Perspektiven der Skandinavistik. Freiburg 2005 (= Nordica, 8), 47-72, und dies.: »Wenn es sein muß, mit Härte...«. Die Zwangsversetzung des Nordisten Gustav Neckel 1935 und die »Germanenkunde im Kulturkampf«. In: Klaus von See, Julia Zernack: Germanistik und Politik in der Zeit des Nationalsozialismus. Zwei Fallstudien: Hermann Schneider und Gustav Neckel. Heidelberg 2004 (= Frankfurter Beiträge zur Germanistik, 42), 115-203. Neuere Darstellungen liegen vor für Göttingen (Fritz Paul: Fünfzig Jahre Skandinavistik an der GeorgAugust-Universität Göttingen. Göttingen 1985; Zernack 2004), die Humboldt-Universität in Berlin (H.J. Hube: Die Nordistik und das Berliner Germanische Seminar. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der HUB. Gesellschaftswissenschaftliche Reihe 36 (9), 1987, 794-800; Zernack 2004), München (Klaus Böldl: Das Münchner Institut für Nordische Philologie – eine historische Skizze. In: Klaus Böldl, Miriam Kauko (Hg.): Kontinuität in der Kritik. Zum fünfzigjährigen Bestehen des Münchener Nordistikinstituts: Historische und aktuelle Perspektiven der Skandinavistik. Freiburg 2005 [= Nordica, 8]; Zernack 2005), Leipzig (Rainer Kößling: Die Anfänge der Nordistik an der Universität Leipzig. In: Wilhelm Heizmann, Astrid van Nahl (Hg.): Runica – Germanica – Mediaevalia. Festschrift für Klaus Düwel. Berlin 2003, 356-374) und Wien (Otto Gschwantler: Skandinavistik an der Universität Wien. In: Helmut Neumann (Hg.): Österreichs Beitrag zur Islandforschung. Wien 1987, 144-154). An älteren Studien ist unter anderem zu nennen: Leopold Magon: Die Geschichte der nordischen Studien und die Begründung des Nordischen Instituts. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-nordischen kulturellen Verbindungen. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz Arndt-Universität, Festschrift 11, 1956, 237-272; Walter Heinrich Vogt: Die Gründung der Germanistik, der deutschen und nordischen
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tionalisierung der Nordischen Philologie als akademisches Fach noch immer nur ungenau rekonstruieren läßt. Aus diesen Gründen ist es für eine systematische Bestandsaufnahme des hier zu besprechenden Themas zu früh. Und es wäre ebenso voreilig, wollte man von Sees Beobachtung als das beruhigende letzte Wort in dieser Angelegenheit auffassen. Seine Feststellung begründet von See mit der Diffusion der weltanschaulichen Vorstellungen im Nationalsozialismus, mit der Polykratie der Ressorts und mit dem pragmatischen Kalkül der Machthaber, die von der überkommenen Germanenschwärmerei nur das politisch Verwertbare gelten ließen. Doch läßt sich zusätzlich auch wissenschaftsgeschichtlich argumentieren. Denn wer und was müßte kompromittiert sein, damit man von einer »totalen Beschlagnahme des Faches« überhaupt reden könnte? Woraus besteht »das Fach« zu jener Zeit? Wissenschaftsgeschichtlich gesehen sind das nicht etwa rhetorische Fragen. Denn Konturen eines Faches »Nordische Philologie« im engeren Sinn beginnen sich überhaupt erst in dem hier interessierenden Zeitraum abzuzeichnen. Wer nordistisch forschte, tat dies zunächst meist als Germanist, bisweilen auch als Volkskundler, Indogermanist, Religionswissenschaftler oder Rechtshistoriker, und eine venia legendi ausschließlich für Nordische Philologie besaßen die wenigsten Professoren. 6 Entsprechend gering war die Zahl der nordistischen Ordinariate: Im 19. Jahrhundert gab es ein solches nur an der ehemals dänischen Universität Kiel. Zwei weitere kamen 1913 in Berlin und 1923 in Leipzig hinzu. Diese Zahl erhöhte sich vorübergehend – von 1942 bis 1945 – um ein viertes Ordinariat in Jena. An der Universität Heidelberg war die Nordische Philologie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis 1919 durch ein Extraordinariat vertreten; dies war vor der Einrichtung der Ordinariate auch in Berlin und Leipzig der Fall. Zudem gab es an der Universität Greifswald, wo man im Zuge der vom preußischen Abgeordnetenhaus beschlossenen Förderung der Auslandswissenschaften 1918 das erste selbständige »Nordische Institut« gegründet hatte, sowie in Bonn je eine Professur, die zu gleichen Teilen der deutschen und der skandinavischen Literatur gewidmet war. So tendiert das Fach zwar seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dazu, sich zu verselbständigen. Doch die institutionellen Folgen zeigen sich mit einer gewissen Verzögerung: In nennenswerter Zahl werden nordistische Abteilungen und Institute erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingerichtet. Bis dahin ist die Nordische Philologie in erster Linie eine Altnordistik und als solche Bestandteil anderer Fächer, vor allem der Germanistik, mit der gemeinsam sie einst – als ›Wissenschaft von den Germanen‹ – entstanden war. Wissenschaftsgeschichtlich gesehen war eine Gleichschaltung des Faches also von vornherein kaum möglich. Durch diesen Umstand aber wird der Blick um so nachdrücklicher auf die einzelnen Berührungspunkte der Nordischen Philologie mit dem Nationalsozialismus gelenkt.
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Philologie an der Universität Kiel. In: Festschrift zum 272jährigen Bestehen der Christian-AlbrechtsUniversität Kiel. Leipzig 1940. Vgl. ferner Bernhard Kahle: Die nordische Philologie auf den Universitäten des Deutschen Reiches im 20. Jahrhundert. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 1910, 9199. Außerdem bieten manche Institute (Göttingen, Wien, Greifswald, Freiburg, Bonn, Berlin) Informationen über ihre Geschichte auf ihren Websites an. Das Entstehen eines nordistischen »Fachbewußtseins« und einer Art frühen, inoffiziellen Fachöffentlichkeit in Form eines Netzes persönlicher Bekanntschaften dokumentiert aber die Korrespondenz des ersten Berliner Ordinarius für nordische Philologie, Andreas Heusler, in der immer wieder die Lage der Nordischen Studien zur Sprache kommt. So fragt er zum Beispiel seinen Briefpartner Hermann Schneider 1938 nach der Emigration des Leipziger Nordisten Konstantin Reichardt: »Der ist uns verloren. Wie viele ›Norden‹ haben wir noch?« Zitiert nach Klaus von See: Hermann Schneider und der Nationalsozialismus. Mit einem Anhang: »Ich bin kein freier Mensch mehr...« – Hermann Schneider im Briefwechsel mit Andreas Heusler 1920-1939. In: von See/Zernack 2004, 9-58, hier 93. Zu Heuslers Korrespondenz vgl. im übrigen: ders.: »Mich hat der gelehrte Beruf nur mäßig beglückt« – Andreas Heusler als Wissenschaftler und Zeitzeuge. In: Jürg Glauser, Julia Zernack (Hg.): Germanentum im Fin de Siècle. Wissenschaftsgeschichtliche Studien zum Werk Andreas Heuslers. Basel 2005 (= Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel, 3), 21-61.
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Solche Berührungen lassen sich an vielen Stellen beobachten. Ins Auge fällt zunächst die Flut von Germanenliteratur, die bereits vor 1933 einsetzte und ihren ersten Höhepunkt bald nach dem Beginn der NS-Diktatur erreichte. Die Verfasser gaben ihre Bücher oft ausdrücklich als Reaktion auf die politischen Ereignisse aus. Auffallend große Beachtung schenkten sie der altnordischen Überlieferung, nicht zuletzt in Gestalt von Übersetzungen, und dazu trugen die einschlägig ausgewiesenen Philologen ihren Teil bei. Mancher von ihnen begrüßte das neue Regime eben deshalb, weil es endlich jene politischen Umstände geschaffen zu haben schien, die eine sich längst schon als Wissenschaft vom Nationalen begreifende Forschung sich gewünscht hatte. So heißt es 1934 bei Gustav Neckel (1878-1940) im Vorwort zu einem Buch über die Kultur der alten Germanen: „Die nationalsozialistische Revolution [ist] für unsere Wissenschaft ein Ereignis von besonderer und umfassender Bedeutung. Der gewaltige Durchbruch germanischdeutschen Geistes, der ihr innerstes Wesen ausmacht und der sich immer tiefer in einer gläubigen Begegnung unserer eigenen Gegenwart mit den Quellen unseres völkischen Ursprungs erfüllt, gab der Germanenkunde erst die höchste Rechtfertigung und die unlösliche Verbindung mit den lebendigen Kräften der Nation. Sinn und Absehen des vorliegenden Buches sind damit klar vorgezeichnet.“7 Rückblickend bestätigte sich diese Ansicht auch für Hermann Schneider (1886-1961): „Das Jahr 1933 brachte eine Betrachtung der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte zum Siege, die dem germanischen Element im Deutschen eine bisher ungeahnte Bedeutung verschaffte: das Beste am Deutschen ist germanisch und muß in der germanischen Frühzeit in reinerer Gestalt zu finden sein.“8 Wieder andere gaben sich selbstbewußt als Wegbereiter dieser Erkenntnis aus: „Die nordische Philologie gehört mit zu jenen kleinen Vortrupps der Wissenschaft, die, abseits und ohne große Anhängerschaft, auf dem tiefsten Urstrom unseres geistigen Lebens die neuen Ufer miterforscht haben, an denen wir heute unser neues Leben bauen wollen.“9 Eilfertig und ohne Not dienten sich viele Wissenschaftler – ebenso wie im Übrigen auch Dilettanten und Ideologen, darunter Herman Wirth (1885-1981), Wilhelm Teudt (18601942) und andere – dem neuen Regime als Experten für alles Germanische an. Germanischer Schicksalsglaube, Germanisches Heldentum, Altgermanisches Brauchtum, Germanenkunde im Kulturkampf, Um Germanenehre, Das Weltbild der Germanen, Germanenkunde und nationale Bildung, Feldherrntum und Kriegskunst der Germanen: So oder ähnlich lauten die Titel, die in den Jahren nach dem Herrschaftsantritt der Nationalsozialisten in großer Zahl publiziert wurden. Nicht einem davon lag ein ›offizieller‹ Auftrag von politischer Seite zugrunde. Aber alle beruhten auf der Erwartung, daß sie die richtige Antwort auf ein aktuelles politisches Bedürfnis seien und daß diesem Bedürfnis die Hinwendung zu der sogenannten altnordischen Überlieferung – den mittelalterlichen Zeugnissen Skandinaviens und vor allem Islands – in besonderer Weise entspreche. Aus heutiger Perspektive ist es erklärungsbedürftig, daß für die Ausdeutung des »germanischen Elements im Deutschen« überhaupt Zeugnisse aus Skandinavien und Island herangezogen werden konnten. Das hatte sich jedoch aus der Geschichte der deutschen Germanenrezeption folgerichtig ergeben. Von jeher nämlich war es deren Dilemma, daß die 7 8 9
Hier zitiert nach der 2., überarbeiteten Auflage. Potsdam 1939 (= Handbuch der Kulturgeschichte), 7. Die germanische Altertumskunde zwischen 1933 und 1938. In: Forschungen und Fortschritte 15, 1939, 1-3, hier 1. Zu Schneiders Verhältnis gegenüber dem Nationalsozialismus und zu seinem – ambivalenten – Verhalten vgl. von See 2004, 9-58. Reinhard Prinz: Die altnordische Literatur in der deutschen Schule. In: Zeitschrift für deutsche Bildung 10, 1934, 256-266, hier 257.
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nationale Frühzeit einheimisch nur dürftig belegt ist. Wesentlich reichere Quellenbestände besitzen die skandinavischen Länder und Island. Den Ausgriff auf diese suchte man durch eine geschichtsmythische Konstruktion zu rechtfertigen: die Vorstellung eines gemeinsamen Altertums aller germanischen Völker. Die Anfänge dieser Denkfigur liegen in der Romantik mit dem ihr eigenen Bemühen um die Erkenntnis des Nationalen aus dem Ursprung der Geschichte. Nicht allein die Deutschen, auch andere ›nichtklassische‹ Völker Europas empfanden jetzt den Mangel einer eigenen nationalen Frühzeit, die der klassischen Antike ebenbürtig sein sollte. In dieser Situation sahen sich die deutschen Romantiker – angesichts der Quellenlage – genötigt, im Norden gewissermaßen auszuleihen, was sie in Mitteleuropa vergebens suchten.10 Unter dem, was sich die Deutschen in der Folgezeit von der Kultur ihrer nördlichen Nachbarn aneigneten, nahmen die altnordischen Schriftdenkmäler einen herausgehobenen Platz ein. Das Interesse galt dabei einseitig den Zeugnissen, die man für genuin germanisch erachtete: jenen Gattungen, welche sich der einheimischen Tradition widmen und weit in die vorchristliche Zeit zurückzureichen scheinen, vor allem die Isländersagas und die eddische Dichtung. Alle anderen Genres, die an die mittelalterlichen Traditionen Europas anknüpfen, Matière de Bretagne und Matière de France oder hagiographische Vorbilder aufnehmen, wurden – obwohl wesentlich reicher bewahrt – als ungermanisch marginalisiert. Diese Zweiteilung des altnordischen Korpus‘ – hier heidnisch-germanisch, dort mittelalterlich-christlich – ist charakteristisch für die altertumskundliche Sichtweise. Einer ihrer bekanntesten und einflußreichsten Vertreter war der Basler Altgermanist Andreas Heusler (1865-1940), der in den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Berlin lehrte. Von Heusler stammt eine kulturtypologische Definition des Altgermanischen. Sie verzichtete auf jede zeitliche Fixierung und erlaubte es so, das Altertum im Mittelalter aufzusuchen. Den genuinen Zeugnissen aus Island, vor allem den Isländersagas, verlieh Heusler dabei als Quelle für das Germanentum geradezu paradigmatischen Rang.11 1926 forderte er, »niemand« solle sich mehr herausnehmen, »altgermanische Menschenart zu schildern, dem das Zeugnis Islands fremd geblieben ist.«12 Heuslers eigene Ausdrucksweise – die leichtfertige Rede von der »altgermanischen Menschenart« – zeigt, wo das Problem seines kulturtypologischen Ansatzes liegt: Dieser tendiert – schon in Heuslers eigener Auslegung – zum Substantialismus. Damit war er ontologisierenden und später auch biologistischen, rassenideologischen Interpretationen leicht zugänglich. In dieser – zweifellos mißbräuchlichen – Deutung hat der Heuslersche Begriff des Altgermanischen während des »Dritten Reiches« oft herhalten müssen als Begründung, warum gerade isländische Zeugnisse des Mittelalters »das germanische Element im Deutschen« anschaulich machen sollten: Altgermanisch galt jetzt als ein »im wesentlichen einheitlicher Rasse- und Kulturbegriff« und Island als »Schulbeispiel rassischer Geschichtsentwicklung«.13 In der Germanenliteratur der dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts tritt die altisländische Überlieferung vor allem im Kontext eines radikalisierten Heroismus in Er10 11
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Von See 1994, 78 (u.ö.). Für Heuslers Germanenbild vgl. Julia Zernack: Altertum und Mittelalter bei Andreas Heusler. In: Jürg Glauser, Julia Zernack (Hg.): Germanentum im Fin de siècle. Wissenschaftsgeschichtliche Studien zum Werk Andreas Heuslers. Basel 2005 (= Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel. Neue Folge, 3), 120-145. Andreas Heusler: Altgermanische Sittenlehre und Lebensweisheit. In: Hermann Nollau: Germanische Wiedererstehung. Ein Werk über die germanischen Grundlagen unserer Gesittung. Heidelberg 1926, 156-204, das Zitat 159. Reinhard Prinz: Die altgermanische Dichtung. In: Rudolf Benze, Alfred Pudelko (Hg.): Rassische Erziehung als Unterrichtsgrundsatz in den Fachgebieten. Frankfurt 1937, 50-59, das Zitat 52. – Zur Rezeption von Heuslers Germanenbild in der nationalsozialistischen Zeit s. Julia Zernack: Geschichten aus Thule. Íslendingasögur in Übersetzungen deutscher Germanisten. Berlin 1994 (= Berliner Beiträge zur Skandinavistik, 3), 68f.
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scheinung. Bereits während des Ersten Weltkriegs war das Bild des germanischen Kriegers gleichsam militarisiert worden. Auch daran war die nordistische Forschung nicht unbeteiligt. Insbesondere der bereits erwähnte Gustav Neckel bemühte sich um die Deutung des Kriegsgeschehens aus der Sicht der germanischen Altertumskunde. Anlaß waren die politischen Ereignisse von 1914, als das Ausland wegen des (völkerrechtswidrigen) Überfalls auf das neutrale Belgien den »deutschen Militarismus« heftig attackierte. Wie die meisten anderen Hochschullehrer des Reiches fühlte sich auch Neckel veranlaßt, diese Kritik zurückzuweisen: Den berühmt-berüchtigten Gelehrtenmanifesten des Jahres 1914 stellte er eine unbeachtet gebliebene Schrift mit dem Titel Germanisches Heldentum (1915) an die Seite. Ebenso wie jene Aufrufe war sie bestrebt, den Vorwurf des Militarismus umzudeuten in eine heldische Gesinnung. Als »Belege« instrumentalisierte Neckel unter anderem Figuren und Szenen aus der Sagaliteratur. Damit statuierte er ein Exempel, demonstrierte, wie sich die historischen Zeugnisse in den Kontext anderer Epochen stellen und so der Modernitätskritik verfügbar machen ließen. Unter dem wirkungsmächtigen Schillerschen Motto »Das Leben ist der Güter höchstes nicht« wurde das heroische Sterben zum Mittelpunkt germanischer Lebensauffassung verklärt.14 Nach 1933 verband sich dies mit einer geradezu obsessiven Todesmystik, die meist im Zeichen des germanischen Gottes Wotan (des nordischen Odin) stand. Dies zeigen zwei Beispiele von 1934: Hans Naumann (1886-1951), Germanist in Frankfurt und Bonn, wollte in der »ungeheuren Tragik«, die »über dem ganzen germanischen Weltbild« schwebe, eine »grandiose Sinnvollmachung des Sinnwidrigen« im Namen Odins, eine »grundsätzliche Einbeziehung des Todes in das Leben« erkennen; diese begegne in der Geschichte nur noch ein weiteres Mal: bei dem Philosophen Martin Heidegger (1889-1976). Naumanns Versuch einer »altgermanischen Philosophie« aus der Perspektive des Heideggerschen »Geworfenseins« verwischt mit aktualisierendem Duktus die historische Distanz und gibt sich – obgleich Produkt einer Situation des politischen Aufbruchs – jener Faszination des Untergangs hin, die das deutsche Germanenbild von jeher bestimmt.15 Doch beherrscht das Thema des Todes nicht nur die Vorstellung vom heroischen Sterben als der eigentlichen Bestimmung des germanischen Menschen; es dominiert auch in Otto Höflers (1901-1987) Theorie von der staatsbildenden Potenz der germanischen Männerbünde, deren Zusammenhalt eine ekstatische Totenreligion gestiftet habe.16 Diese Todesbezogenheit eines radikal lebensfeindlichen Heroismus dominiert die Wahrnehmung der altnordischen Literatur in der Zeit des Nationalsozialismus. Besonders nachdrücklich machte sich das im Schulunterricht bemerkbar. 1933 erneuerte der Nationalsozialistische Lehrerbund in einem Aufruf der Zeitschrift Deutsches Bildungswesen die längst schon bekannte Kritik am humanistischen Bildungsideal. Jetzt forderte er, »dem germanisch-nordischen Schrifttum in der deutschen Bildung den gebührenden Platz zu erobern«.17 Bereits in der folgenden Nummer derselben Zeitschrift befürworteten mehrere Vertreter der Hochschulgermanistik, die alle auch nordistisch arbeiteten – darunter Rudolf Meißner (1863-1948), Hans Kuhn (1899-1988), Walter Heinrich Vogt (1878-1951), Wolfgang Krause (1895-1970) und der später emigrierte Konstantin Reichardt (1904-1976) –, die Aufnahme altnordischer Literatur in den Lektürekanon des Deutschunterrichts. In der Folgezeit übernahmen es dann einschlägig vorgebildete Schulgermanisten, ihre Kollegen im Unterrichten der altnordischen Literatur anzuleiten. Die Zeitschrift Die deutsche Schule brachte beispielsweise 1936 eine Themennummer über »Altnordische Dichtung und ihre nationalerzieherische Bedeutung« heraus, Weltanschauung und Schule widmete 1938 ein 14 15 16 17
Ausführlicher zu Neckels Schrift Zernack 1994, 210-213. Hans Naumann: Germanischer Schicksalsglaube. Jena 1934, 22, 44, 77, 82. Otto Höfler: Kultische Geheimbünde der Germanen. Bd. I. Frankfurt am Main 1934. Deutsches Bildungswesen, Oktober 1933, 245-246.
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Heft dem Thema »Die Saga als Quelle germanischen Lebensgefühls«. Bis in die vierziger Jahre hinein erschien eine Unzahl von Publikationen dieser Art, zu denen gelegentlich auch Hochschulgermanisten beitrugen.18 Als 1938 mit dem »Reichslehrplan« die Etablierung der altnordischen Literatur im Kanon des Deutschunterrichts gelang, gab es schon ein ganzes Korpus von billigen Heftreihen mit Übersetzungen aus der altnordischen Literatur, sogenannte Klassenlesestoffe, gedacht zur Ergänzung des Lesebuchs nach dem Ermessen des Lehrers.19 Sie waren ohne größeren Aufwand schnell produziert, hatte doch die Universitätsgermanistik bereits zwischen 1911 und 1930 im Eugen-Diederichs-Verlag in Jena 24 Bände mit Übertragungen aus der altnordischen Literatur vorgelegt.20 Die Übersetzungen dieser Reihe, die unter dem Namen Sammlung Thule bekannt wurde, besaßen, weil sie von Philologen stammten, hohes Ansehen und nahezu kanonische Geltung und liegen den meisten deutschen Versionen altnordischer Texte zugrunde, die zwischen 1933 und 1945 gedruckt wurden. Schon die Sammlung Thule adaptierte die altnordische Literatur einseitig germanentümelnd und heroisierend, doch sie zeugt auch von genauer philologischer Quellenkenntnis.21 Von der sekundären Rezeption der dreißiger und vierziger Jahre läßt sich das nicht mehr sagen: Unangefochten von philologischen Rücksichten auf den überlieferten Text spitzte diese die Deutungen der Sammlung Thule ideologisch zu und trieb deren Heroismus ins Extrem. Vollends nach dem Beginn des Krieges wurde die Reduktion auf das Heldische zur privilegierten Lesart und die solchermaßen interpretierte Literatur in den Dienst der »Wehrerziehung« gestellt, die systematisch auf das massenhafte Sterben im Krieg vorbereitete. Ganz offen wurde dafür geworben, die Schüler auf diesen Tod einzustimmen; den Gestalten aus der altnordischen Literatur kam dabei die Aufgabe zu, ihn als »Heldensterben« ideologisch aufzuwerten. Eine Handreichung für den Lehrer erläutert: „Thorolf [aus der Egils saga] wußte als Held zu sterben. Das heben wir besonders hervor, und damit schlagen wir die Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart. Wir denken heute genauso. Unsere Helden des Weltkriegs wußten ebenso zu sterben. Das gilt auch von den Helden dieses Krieges. Mag ihre Lage noch so gefahrvoll sein, ein Ergeben gibts nicht [...]. Für unsere tapferen Soldaten heißt es wie bei Thorolf: »Durch! und wenn es den Tod kostet.« Durch viele Beispiele aus dem Weltkrieg können wir dieses Heldensterben belegen.“22 Es ist bezeichnend, wie sehr hier der gewaltsame Tod an der Front verklärt und in den Vordergrund gerückt wird; dem Verfasser erscheint es nebensächlich, ihn als ›sinnvolles‹ Opfer für eine übergeordnete Idee zu legitimieren: Der Tod selbst wird durch die stupide Aufzählung immer neuer »Heldentaten« von »gefallenen« Germanen und Deutschen mystifiziert als der eigentliche Sinn menschlicher Existenz. So gesehen, mußte das bloße Vorhandensein der Sagas als Zeugnis dafür erscheinen, daß der einzelne durch den Heldentod 18
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Vgl. zum Beispiel: Walter Baetke: Kinderleben und Kindererziehung in altgermanischer Zeit (nach den Isländersagas). In: Pädagogische Warte 41, 1934, 14-22; Andreas Heusler, Das germanische Heldenideal. In: Pädagogische Warte 41, 1934, 1-3; Bernhard Kummer, Alt-Island im Bildungsgut des jungen Deutschland. In: Zeitschrift für deutsche Bildung 10, 1934, 1-9; ders.: Germanische Frauen und Mütter. In: Badische Schule 1, 1934, 146-51; ders.: Deutschkunde und altnordisches Menschentum. In: Badische Schule 1, 1934, 371-372; Gustav Neckel: Altgermanische Heldensage in der Schule. In: Die völkische Schule 12, 1934, 121-124. Nachgewiesen in Julia Zernack: Bibliographie der deutschsprachigen Sagaübersetzungen 1791-1995. Berlin 1997 (= Berliner Beiträge zur Skandinavistik, 4), vgl. zum Beispiel die Nummern 28-35, 36, 38, 55, 60-62, 71, 74-76, 94, 100, 102, 104, 105, 212, 215, 226, 230-232, 304, 357, 419 u.a. – Zur altnordischen Literatur in der Schule vgl. auch Zernack 1994, 57-67. Thule. Altnordische Dichtung und Prosa. Herausgegeben von Felix Niedner. 24 Bde. Jena 1911-1930. Neuausgabe 1963-1967. Für die einzelnen Bände und ihre Publikationsgeschichte vgl. die in Anm. 19. genannte Bibliographie, Nummern 117-166. Für eine eingehendere Analyse vgl. Zernack 1994. Richard Hofmeister: Nordische Dichtung. Ihre Bedeutung für die Wehrerziehung. Berlin 1941 (= Die Werkstatt der Volksschule), 37.
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würdig wurde, in die Überlieferung und damit in das kollektive Gedächtnis einzugehen. Hier mag man sich an Höflers Auffassung von 1934 erinnert fühlen, nach der Gemeinschaft sich über den Tod konstituiere, und zugleich an die kultischen Totenfeiern, welche die NSDAP zum Beispiel am »Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung« zelebrierte. Wie wir noch sehen werden, ließen sich solche Vorstellungen angesichts des Zweiten Weltkrieges ohne weiteres erneuern.23 Als Beleg für das hohe Alter dieser Anschauung wurde – überaus häufig – eine Strophe aus der altnordischen Spruchsammlung der Hávamál zitiert. Der Jurist und Germanist Felix Genzmer (1878-1959) hatte das Lied 1920 für die Sammlung Thule übersetzt. Und in eben dieser Übersetzung wurde die Strophe so bekannt, daß man ihr einen »Platz auf einem Denkmal für die Toten des Weltkrieges« wünschte: »Besitz stirbt, Sippen sterben. / Du selbst stirbst wie sie; / Eins weiß ich, das ewig lebt: / Des Toten Tatenruhm«. Zitiert wurde Genzmers Übersetzung meist mit einer bezeichnenden Abweichung: dem Plural »der Toten Tatenruhm«. Diese Variante verstärkte den Eindruck, daß der Text einem archaisch-germanischen Kriegerethos Ausdruck gebe. Jedoch hat sich diese Konnotation erst durch Genzmers Übersetzung eingeschlichen; wörtlich heißt es in der zweiten Halbstrophe nämlich: »Ich weiß eines, das niemals stirbt / Das Urteil über jeden Toten« (»ec veit einn, at aldri deyr: / dómr um dauðan hvern«) – die Strophe entpuppt sich als biblisch inspirierte Reflexion auf die Vergänglichkeit alles Irdischen.24 Eine solche Funktion für die Verherrlichung von Krieg und Tod konnte die altisländische Überlieferung – entlegen wie sie ist – in der deutschen Kultur nur deshalb übernehmen, weil sich ihre Rezeption 1933 bereits einen – wenn auch ephemeren – Platz in der deutschen Literatur erobert hatte. Er war zunächst unter den antinaturalistischen Strömungen und in der Nähe der Heimatliteratur, Ende der Zwanziger Jahre dann auch im Kontext der sogenannten Weltkriegsliteratur zu finden. Aus dieser Aktualisierung der Sagas entstand in der Folge eine völkisch-national orientierte Literaturströmung, die ihren Höhepunkt in den dreißiger Jahren hatte und eine ganze Anzahl an programmatischen Schriften und heute – zu Recht – vergessenen Romanen und Erzählungen »im Sagastil« hervorbrachte. Schon vor 1933 war die altnordische Literatur in Deutschland also in das Kielwasser einer extrem nationalistischen Literaturströmung geraten. Die Ideologeme, die sie während der nationalsozialistischen Zeit transportieren mußte, hatte sie so längst vorher an sich gezogen.25 Auch die Verfahren der Aktualisierung waren schon lange etabliert, als die Sagahelden helfen sollten, Jugendliche in einen sinnlosen Tod zu schicken. In diesem Rezeptionsprozeß ist eine säuberliche Trennung von »wissenschaftlichen« und »außerwissenschaftlichen« Beiträgen kaum möglich; vielmehr ist eine enge Wechselbeziehung von seriösen wissenschaftlichen und – teils weniger seriösen – populären Anregungen kennzeichnend für die deutsche Rezeption der altnordischen Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
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Dies zeigen zum Beispiel die Beiträge Otto Höflers zur »Aktion Ritterbusch«, die Aufsätze Germanische Einheit und Deutsche Heldensage in: Gerhard Fricke u.a. (Hg.): Von deutscher Art in Sprache und Dichtung. Stuttgart und Berlin 1941, Bd. II., 3-35 und 73-98. Es handelt sich um die Hávamál-Strophe 77 (Edda. Die Lieder des Codex regius nebst verwandten Denkmälern. Bd. I: Text. Hg. von Gustav Neckel. 5. verb. Aufl. von Hans Kuhn. Heidelberg 1983); in Genzmers Übersetzung ist es die Strophe 69 des Alten Sittengedichts (Edda. Zweiter Band. Götterdichtung und Spruchdichtung. Übertragen von Felix Genzmer. Mit Einleitungen und Anmerkungen von Andreas Heusler. Jena 1920 [= Thule, 2], 130). Die Deutung der Strophe und ihre biblischen Reminiszenzen werden ausführlich erörtert von Klaus von See: Europa und der Norden im Mittelalter. Heidelberg 1999, 376ff. Diese Entwicklung beschreibt zusammenfassend Zernack 1994, 344-373, und dies.: »Der Toten Tatenruhm« und die nordische Philologie im Nationalsozialismus. In: Einsichten. Forschung an der LudwigMaximilians-Universität München 19, 2001, 42-45.
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Man kommt kaum umhin, in diesem Verhalten der Altgermanisten und Nordisten jene »Selbstindienstnahme« wiederzuerkennen, die Wilhelm Voßkamp in einem vielgelesenen Aufsatz der deutschen Literaturwissenschaft im »Dritten Reich« attestiert hat.26 Zweifellos deutet dies bei dem einen oder anderen Wissenschaftler auf ideologische Nähe zum Regime. Von diesen Fällen wird noch zu handeln sein. Doch im Ganzen muß man wohl vor allem mit einer pragmatischen Motivation rechnen und mit dem Wunsch, die politischideologischen Ressourcen27 für das eigene Fortkommen sowie für die Forschung und das Fach zu nutzen. Gerade dies zeigt die Beteiligung der Philologen an der Kampagne des Nationalsozialistischen Lehrerbundes: Eine Verankerung nordistischer Gegenstände in den schulischen Lehrplänen – zu der es im übrigen in dem gewünschten Umfang nicht gekommen ist – hätte es nötig gemacht, die Nordische Philologie als Fach an den Universitäten auszubauen, wo sie seinerzeit nur im Rahmen der Germanistik, nicht aber als eigenes Fach studiert werden konnte. Mancher Germanist hielt nach 1933 die Verbesserung der institutionellen Lage der Nordischen Philologie für ein Gebot der Stunde. Dies läßt sich etwa für die Universität Köln nachweisen: Hier legte der – extrem deutschnationale und doch 1937 zwangsemeritierte – Altgermanist Friedrich von der Leyen (1873-1966),28 der sich seit den zwanziger Jahren wiederholt dafür ausgesprochen hatte, die nordischen Studien institutionell besserzustellen, gleich im Juni 1933 eine »Denkschrift« vor, die zugleich mit der Erweiterung der deutschen auch den Ausbau der nordischen Philologie einforderte. Dabei bezog er sich ausdrücklich auf die Erklärung des Nationalsozialistischen Lehrerbundes und darauf, daß die Behandlung des Altnordischen im Schulunterricht eine »nationale Notwendigkeit« sei. Auch sonst rekurriert von der Leyen argumentativ – wenngleich in Maßen – auf die veränderte politische Situation, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Sie liefen dennoch ins Leere: Ein eigenes Institut für Nordische Philologie wurde in Köln erst 1966 eingerichtet.29 Auch an anderen Universitäten versuchte man, die politische Neuorientierung für eine institutionelle Festigung der Nordischen Philologie zu nutzen, so in München, in Jena und in Rostock.30 Erfolg war diesen Bemühungen kaum beschieden. Zwar wurden während des »Dritten Reiches« zwei nordistische Abteilungen neu gegründet. Bestand hatte davon jedoch nur eine: das heutige Skandinavische Seminar der Universität Göttingen. Dessen Gründung war allerdings eher das Ergebnis ungeschickter Personalpolitik des Ministeriums denn ideologisch motiviert. Und sie verursachte keinerlei Kosten, denn sie war die Folge einer Disziplinarmaßnahme gegen den Berliner Ordinarius Gustav Neckel, der mitsamt seinem Lehrstuhl, aber bei reduzierten Bezügen und ohne Assistenten und Lektoren von 1935 bis 1937 nach Göttingen strafversetzt wurde.31 Politischem Willen gehorchte dagegen 26 27
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Kontinuität und Diskontinuität. Zur deutschen Literaturwissenschaft im Dritten Reich. In: Peter Lundgreen (Hg.): Wissenschaft im Dritten Reich. Frankfurt 1985, 140-162, das Zitat 151. Den Begriff der Ressource verwende ich hier in dem von Mitchell Ash vorgeschlagenen spezifisch wissenschaftsgeschichtlichen Sinn (Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander. In: Rüdiger vom Bruch, Brigitte Kaderas (Hg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2002, 32-51). Zu von der Leyen und zu seiner Zwangsemeritierung vgl. Carl Otto Conrady: Völkisch-nationale Germanistik in Köln. Eine unfestliche Erinnerung. Schernfeld 1990. Alle Informationen über von der Leyens Bemühungen, die Nordische Philologie in Köln institutionell zu etablieren, entnehme ich der unveröffentlichten Magisterarbeit von Anne Burgmer (Die Skandinavistik an der Universität Köln während des Nationalsozialismus. Köln 2005), die auf einer gründlichen Auswertung der Fakultätsakten beruht. Ich danke Frau Burgmer dafür, daß sie mir bereitwillig Einsicht in ihre Arbeit gewährt hat. Zu München und Jena s.u.; zu Rostock vgl. Gerd Simon: Chronologie Nordistik. http://homepages. unituebingen.de/gerd.simon/nordistikchr.pdf (Zugriff 01.09.06), 12 (zu dieser Publikation vgl. aber u., Anm. 78). Die näheren Umstände sind ausführlich dokumentiert in Zernack 2004.
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1944 die Einrichtung des »Nordischen Seminars« an der Universität Jena, welche zur nationalsozialistischen Musterhochschule umgestaltet werden sollte. Zusammen mit dem 1942 für den Nationalsozialisten Bernhard Kummer (1897-1962) eingerichteten Lehrstuhl für »Altnordische Sprache und Kultur« wurde dieses Seminar bereits 1945 wieder aufgelöst. Darauf ist zurückzukommen. Anders als etwa in der Prähistorie oder in der Volkskunde, die als Weltanschauungsfächer nach 1933 auch institutionell eine erhebliche Aufwertung erfuhren,32 gelang es mithin in der Nordischen Philologie nicht, die wissenschaftspolitische Lage im »Dritten Reich« als Ressource für die Verbesserung ihrer Ausstattung zu mobilisieren. Auch hatten keineswegs alle Wissenschaftler, die dem neuen Regime so bereitwillig ihre Arbeit anboten, damit Erfolg. Indessen rechnete man auf nationalsozialistischer Seite durchaus mit der nordistischen Forschung. Wie von den anderen einschlägigen Disziplinen auch erwartete man von ihr vor allem einen Beitrag zu der sogenannten Germanenkunde: Sie sollte die Germanomanie als zentrales nationalsozialistisches Ideologem wissenschaftlich ›absichern‹. Allerdings waren die nationalsozialistischen Vorstellungen von der Geschichte der Germanen und ihrem Nutzen für die Gegenwart in sich höchst uneinheitlich. Nicht nur Himmler – der alle Arten von Germanen- und Vorzeitschwärmerei gleichsam von Amts wegen aufgriff33 – und Hitler – der derlei mit Blick auf das völkische Ursprungsmilieu als »Getue« verwarf34 – standen in dieser Frage in Gegensatz zueinander. Vielmehr macht sich hier darüber hinaus die Rivalität der Instanzen im NS-Staat bemerkbar, in diesem Fall des »Amtes Rosenberg« der NSDAP und der Stiftung »Ahnenerbe« der SS. Unstrittig war wohl allein der Grundsatz, daß die Germanenkunde als Mittel der Politik zu dienen hatte. Für die SS formulierte dies 1937 ein Plan zur Erschließung des germanischen Erbes.35 Hier heißt es, daß »die Schutzstaffel« dem Germanentum »erstmalig [...] nicht bloß aus geschichtlichem Interesse« gegenübertrete, »sondern mit rein weltanschaulichem Willen, das Weltbild der vorchristlichen Ahnen richtungsweisend für ihre eigene Daseinsform zu erwecken«. Für dieses Geschichtsbild ließ sich mit den bis dato vorliegenden Ergebnissen der wissenschaftlichen Germanenforschung wenig anfangen: „Was die Hochschule, insbesondere die germanistische Wissenschaft im letzten halben Jahrhundert dafür geleistet hat und noch leisten wird, ist höchstens als Vorarbeit verwendbar, weil die Fragestellung fast durchgehend von einem falschen weltanschaulichen Standort ausging.“ Was die SS anstrebte, war also eine Germanenkunde als politische Zweckwissenschaft. Dieses Ziel verfolgte sie vor allem auf zwei Wegen: zum einen mit der Gründung der Stiftung »Ahnenerbe« als einer außerwissenschaftlichen Forschungseinrichtung, die zunächst vor allem germanenkundlich arbeiten sollte.36 Zum anderen bemühte sich die SS, politischen Einfluß auf die universitäre Germanenforschung zu erlangen. Die dafür geeigneten Strukturen entstanden durch die Gründung des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) 1934 und durch die Neuordnung der Universitäten nach
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Vgl. Michael Grüttner: Die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik und die Geisteswissenschaften. In: Holger Dainat, Lutz Danneberg (Hg.): Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus. Tübingen 2003 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 99), 13-39, hier 35. Vgl. Michael H. Kater: Das »Ahnenerbe« der SS 1935-1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des »Dritten Reiches«. 3. Aufl. München 2001 (= Studien zur Zeitgeschichte, 6) [Heidelberger Diss. von 1966; 1. Aufl. 1974], 17ff., Joseph Ackermann: Heinrich Himmler als Ideologe. Göttingen 1970. Zit. n. von See 1994, 209. Abgedruckt bei Ackermann 1970, 253-255. Kater 2001.
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dem »Führerprinzip«37, ergaben sich mithin aus einer weitgehenden Zerstörung der Hochschulautonomie. Dadurch eröffneten sich für die SS Möglichkeiten, insbesondere in Personalfragen mitzusprechen, und gerade bei Berufungsangelegenheiten arbeiteten »Ahnenerbe« und Reicherziehungsministerium oft Hand in Hand.38 Wie sich dieser Einfluß auf die Germanenforschung und auf die Nordische Philologie auswirkte, zeigt das viel diskutierte Beispiel Otto Höflers, der 1934 nach Kiel und von dort 1938 an die Ludwig-Maximilians-Universität in München berufen wurde. Daran, daß Höfler Nationalsozialist war und dem Regime in vielerlei Institutionen – darunter außer der Universität der NS-Dozentenbund, das »Ahnenerbe«, das Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschland, die Deutsche Akademie, der Reichssicherheitsdienst, das deutsche wissenschaftliche Institut in Kopenhagen – zuarbeitete, besteht heute kein Zweifel mehr.39 Der 1901 geborene Germanenforscher, der bereits Anfang der zwanziger Jahre in Wien mit den Nationalsozialisten in Berührung gekommen war, hatte sich den Machthabern und insbesondere der SS mit seiner 1934 erschienenen Habilitationsschrift über Kultische Geheimbünde der Germanen empfohlen. In Fachkreisen immer umstritten, war dieses Buch, mit dem Höfler nachweisen wollte, daß die wichtigste soziale Organisationsform der Germanen der kriegerisch-kultische Männerbund gewesen sei, doch geeignet, dem nationalsozialistischen Ideal des männerbündisch organisierten Ordensstaates historische Legitimation zu verleihen.40 Noch im selben Jahr wurde Höfler nach Kiel berufen; schon daran sollen – wie Höflers Schüler Helmut Birkhan berichtet41 – Himmler und die SS beteiligt gewesen sein. 1938 führte dann eine weitere Intervention Himmlers zu Höflers Wechsel nach München.42 Das entscheidende Moment war dabei das Interesse des »Ahnenerbe«-Präsidenten Walther Wüst (1901-1993), der zugleich Dekan der philosophischen Fakultät der LudwigMaximilians-Universität war (später wurde er deren Rektor). Wüst gelang es, einen freigewordenen Lehrstuhl für die Germanistik umwidmen zu lassen. Anschließend betrieb er die Berufung Höflers, und zwar – an der Fakultät vorbei – direkt bei dem »Reichsminister für 37
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Vgl. Peter Lundgreen: Hochschulpolitik und Wissenschaft im Dritten Reich. In: ders.: (Hg.): Wissenschaft im Dritten Reich. Frankfurt 1985, 9-30, und Hellmut Seier: Der Rektor als Führer. Zur Hochschulpolitik des Reichserziehungsministeriums 1934-1945. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 12, 1964, 105-146. Dazu Kater 2001, 135ff. Vgl. von See 1994; Helmut Birkhan: Nachruf auf Otto Höfler. In: Almanach der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 138, 1988, 384-406; ders.: Vorwort. In: Otto Höfler: Kleine Schriften. Hg. von Helmut Birkhan u.a. Hamburg 1992, IX-XVI; Magdalena Bonk: Deutsche Philologie in München. Zur Geschichte des Faches und seiner Vertreter an der Ludwig-Maximilians-Universität vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. München 1993, 321-345; Harm-Peer Zimmermann: Männerbund und Totenkult. Methodologische und ideologische Grundlinien der Volksund Altertumskunde Otto Höflers 1933-1945. In: Kieler Blätter zur Volkskunde 26, 1994, 5-27; Esther Gajek: Germanenkunde und Nationalsozialismus. Zur Verflechtung von Wissenschaft und Politik am Beispiel Otto Höflers. In: Richard Faber (Hg.): Politische Religion – religiöse Politik. Würzburg 1997, 173-203; Zernack 2005. Vgl. ferner Jan Hirschbiegel: Die ›germanische Kontinuitätstheorie‹ Otto Höflers. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 117, 1992, 181-198, und dazu die Kritik einer Reihe von Schülern Höflers sowie eine abschließende Stellungnahme von Hirschbiegel in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 118, 1993, 299308. Vgl. unter anderem von See 1994, 230; Ulrich Hunger Die Runenkunde im Dritten Reich. Frankfurt am Main etc. 1984 (= Europäische Hochschulschriften III/227), 422-426; Stefanie von Schnurbein: Geheime kultische Männerbünde bei den Germanen – Eine Theorie im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Ideologie. In: Gisela Völger, Karin von Welck (Hg.): Männerbande – Männerbünde. Zur Rolle des Mannes im Kulturvergleich. Köln 1990, Bd. 2, 97-102; Zimmermann 1994. Allerdings irritierenderweise ohne Nachweis; vgl. Birkhan 1992 (wie Anm. 39), XI; vorsichtiger äußert sich Birkhan in dem ebd. genannten Nachruf auf Otto Höfler 1988, 400. Die Umstände von Höflers Berufung nach München haben bereits des öfteren wissenschaftsgeschichtliches Interesse gefunden; vgl. von den in Anm. 39 angeführten Arbeiten v.a. Bonk 1993, 321345, und Gajek 1997, außerdem Ludwig Jäger: Seitenwechsel. Der Fall Schneider/Schwerte und die Diskretion der Germanistik. München 1998, 201; Kater 2001; Zernack 2005.
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Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung«, Bernhard Rust (1883-1945). Da Wüst befürchtete, daß dieser die Angelegenheit verschleppen könnte, wandte er sich mit Schreiben vom 15. Oktober 1937 an Himmler, der Rust die Dringlichkeit von Höflers Berufung nahebrachte: „Da ich beabsichtige, im Rahmen der Kulturarbeit der SS den Professor O. Höfler von München aus massgeblich bei der Erschließung des germanischen Erbes einzusetzen, wäre ich dankbar, wenn die Versetzung möglichst bald noch zum kommenden Winterhalbjahr 1937/38 vollzogen wird.“43 Nach nicht einmal einem Monat antwortete Rust, daß die Berufung in die Wege geleitet sei.44 Wüsts Interesse an der Berufung Höflers stand in direktem Zusammenhang mit einem Großprojekt des »Ahnenerbes«. Dabei handelte es sich um ein germanenkundliches Nachschlagewerk, das der seit 1936 in München lehrende Germanist Erich Gierach (1881-1943) angeregt hatte. Dieses sollte es nach Umfang und Ambition mit dem »Pauly-Wissowa«, der Realenzyklopädie des klassischen Altertums, aufnehmen können.45 Nachdem das »Ahnenerbe« sich Gierachs Pläne für das Sachwörterbuch der Germanenkunde zueigen gemacht hatte, wurde freilich Wüst mit der Leitung des Projekts beauftragt. Dazu erklärte er sich bereit unter der Bedingung, »daß ihm Gierach und Höfler zur Seite stehen, und daß letzterer zu dem Zweck aus Kiel nach München berufen wird«.46 Das gewaltige Unternehmen ist nicht über eine im Krieg vernichtete Stichwortsammlung hinausgelangt. Für die Nordische Philologie in München hatte es dennoch beachtenswerte Implikationen: Gleich zweimal wurde in seinem Umfeld die Forderung gestellt, daß die Nordistik – im Rahmen eines umfassenden Um- und Ausbaus der Münchner Germanistik – als Fach (»Nordische Abteilung«) institutionalisiert werden möge. Zuerst forderte dies 1936 Gierach in einer Denkschrift über den Ausbau des Seminars für deutsche Philologie,47 sodann 1937 Wüst in einem Brief an das Ministerium, der direkt auf die mit Höfler zu besetzende »Lehrkanzel« Bezug nimmt.48 Aus beiden Schreiben geht hervor, daß man die Nordistik für einen – angesichts der aktuellen politischen Bedürfnisse – zu Unrecht vernachlässigten Bestandteil jener Germanenkunde hielt, zu der die Germanistik umstrukturiert werden sollte. Die Nordistik dachte man sich als Sparte der Germanenkunde, institutionalisiert mit dem Ziel, »dieses Forschungsgebiet für die Deutschtumskunde verwerten zu können«.49 Es ist mehr als eine Randbemerkung wert, daß solche Institutionalisierung der Nordistik in München erst nach dem Krieg verwirklicht wurde, und zwar offensichtlich in zeitlicher Korrelation mit der Rehabilitierung des 1945 von der Militärregierung entlassenen Höfler, der von 1954 bis 1957 der erste hauptamtliche Leiter des Münchner Instituts für Nordische Philologie und Germanische Altertumskunde war. Dessen Gründungsgeschichte enthält mithin ein Moment der Kontinuität über das Ende der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik hinaus.50 In seiner wissenschaftlichen Arbeit verfolgte Höfler konsequent die Perspektive der »germanischen Einheit«51, so daß Skandinavien bzw. die skandinavische Überlieferung um 43 44 45 46 47 48 49 50 51
Himmler an Rust 29.10.1937, zitiert nach Bonk 1993 (wie Anm. 39), 325. Ebd. Gerd Simon: Die hochfliegenden Pläne eines »nichtamtlichen Kulturministers«. Erich Gierachs ›Sachwörterbuch der Germanenkunde‹. Tübingen 1998 (= Wörterbücher im Dritten Reich, 1); Kater 2001, 78. Simon 1998 (wie Anm. 45), 11. Ebd., 19-22, bes. 20. Ebd., 26-32. Gierach, zit. n. ebd., 20; Zernack 2005, Anm. 16. Dies wird eingehend diskutiert bei Zernack 2005. So der Titel eines 1941 im Kontext des »Kriegseinsatzes der Deutschen Geisteswissenschaften« publizierten Aufsatzes; s.o. Anm.23.
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ihrer selbst willen kaum einmal in seinen Blick kamen. Die Machthaber hinderte das allerdings nicht, den Professor, der bis 1934 viele Jahre in Schweden gelebt, studiert und gearbeitet hatte, als Experten für Skandinavien zu konsultieren, zumal nach der Besetzung Dänemarks und Norwegens im April 1940. Dies belegt nicht nur Höflers Ernennung zum Leiter des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts in Kopenhagen 1943,52 sondern auch seine Tätigkeit als Gutachter und Berater hinter den Kulissen. So erhielt er 1942 vom SD, der politische Maßnahmen gegen den Widerstand in den besetzten Ländern Skandinaviens vorbereitete, den nachrichtendienstlichen Auftrag, über »die Entwicklung der geistigen Lage in Skandinavien« zu berichten. Höfler reiste zu Recherchen »auf SS-Fahrschein« nach Dänemark und lieferte seinen Bericht im November auf einer Tagung des Reichssicherheitshauptamtes ab,53 wo er mit einer Vielzahl antisemitischer Seitenhiebe (»die Presse ist in ihrem Nervenzentrum verjudet« u.ä.) empfahl, bei der Planung des »großgermanischen Reiches« Rücksicht auf die Mentalität der Skandinavier zu nehmen, die doch die weltpolitische Fähigkeit der »Nordrasse, immer und überall Staaten« zu errichten, durchaus teilten.54 Hier zeigt sich abermals die politische Verwertbarkeit von Höflers Forschungsergebnissen für den Nationalsozialismus. Denn er hatte nicht nur aus der Geschichte der Germanen die Einsicht gewonnen, daß deren eigentümliche Begabung – ihre staatsbildende Kraft – eine politische war; er hatte vielmehr mit seiner Theorie von der »germanischen Kontinuität«55 auch dafür gesorgt, daß die Übertragung dieser Erkenntnis in die Gegenwart als wissenschaftlich abgesichert gelten konnte. Und schließlich scheute er sich nicht, die aus dem historischen Material abgeleiteten Ansichten persönlich einem auf politische Entscheidungen ausgerichteten Kontext verfügbar zu machen. Im Fall Höflers ist es daher müßig, Instrumentalisierung und »Selbstindienstnahme« der Wissenschaft unterscheiden zu wollen: Höflers Germanenbild erfüllte offenbar von vornherein die Ansprüche dessen, was den neuen Machthabern vorschwebte, wenn sie »mit einer gewissen Selbstverständlichkeit« davon sprachen, daß mit ihrem Machtantritt eine neue, nationalsozialistische Wissenschaft entstehen sollte.56 Nun bestand jedoch ein prinzipielles Dilemma nationalsozialistischer Wissenschaft darin, daß stets unklar blieb, »welche Art von Wissenschaft die wahre nationalsozialistische Wissenschaft« eigentlich sei, welche Anschauungen also politische Anerkennung und damit beruflichen Erfolg versprächen. Dieser Umstand schürte die Konkurrenz unter den Wissenschaftlern, wie Michael Grüttner gezeigt hat: „Professoren, die versuchten, sich als nationalsozialistische Denker zu profilieren, stießen in der Regel sehr rasch auf die Konkurrenz anderer Professoren, die ähnliche Ambitionen verfolgten. Die Frage, welche dieser Theorien im nationalsozialistischen Sinne richtig oder falsch war, ließ sich in der Regel nicht klären, weil es an eindeutigen Entscheidungskriterien ebenso wie an Entscheidungsinstanzen fehlte. Öffentliche Kontroversen über unterschiedliche Interpretationen und Spielarten des Nationalsozialismus durfte es nicht geben, weil sonst der monolithische Charakter der NS52
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Dazu Frank-Rutger Hausmann: ›Auch im Krieg schweigen die Musen nicht‹. Die Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg. Göttingen 2001, 183-210; außerdem Manfred JakubowskiTiessen: Kulturpolitik im besetzten Land. Das Deutsche Wissenschaftliche Institut in Kopenhagen 1941-1945. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 42, 1994, 129-138. Zu den Umständen der Recherche-Reise s. Jakubowski-Tiessen 1994 (wie Anm. 52), 134f., das Zitat ebd. Höflers Vortrag Die Entwicklung der geistigen Lage in Skandinavien ist mittlerweile im Wortlaut online zugänglich (http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/ hoeflerentwicklung.pdf; Zugriff am 5. August 2006). Vgl. Otto Höfler: Das germanische Kontinuitätsproblem. In: Historische Zeitschrift 157, 1938, 1-26; ders.: Volkskunde und politische Geschichte. In: Historische Zeitschrift 162, 1940, 1-18. Dieser Anspruch wird ausführlich diskutiert von Grüttner 2003; das Zitat ebd. 11.
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Ideologie mit ihrem absoluten Wahrheitsanspruch in Frage gestellt worden wäre. Derartige Meinungsverschiedenheiten wurden daher bevorzugt auf dem Wege politischer Diffamierung ausgetragen.“57 Gerade in der Germanenforschung gab es in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft ein förmliches Gerangel um das der politischen Situation angemessene Germanenbild. Dabei erhielt Höflers Vorstellung Konkurrenz von nationalsozialistischer Seite und wurde Gegenstand eines Konflikts, der als charakteristisches Beispiel für die oben beschriebene Situation schon des öfteren behandelt worden ist: die Auseinandersetzung Höflers mit dem Rosenberg-Anhänger Bernhard Kummer.58 Charakteristisch ist diese Auseinandersetzung für die Lage der Geisteswissenschaften in der Zeit des Nationalsozialismus deshalb, weil sich in ihr die Kontroverse um ein wissenschaftliches Problem untrennbar mit politischem Opportunismus und persönlichem Karrierestreben verbindet. Unter Beteiligung der SS, die – von Höfler dazu aufgefordert – dessen Germanenbild vor Kummers Anfeindungen meinte in Schutz nehmen zu müssen, wuchs sie sich zu einer förmlichen Weltanschauungskontroverse zweier durchaus ›gläubiger‹ Nationalsozialisten aus.59 Anders als Höfler mit seiner aktivistischen Vorstellung von den germanischen Odinskriegern und ihren ekstatischen Bünden vertrat Bernhard Kummer ein ›pazifistisches‹ Germanenbild, nämlich die überkommene Ansicht, daß die Germanen friedliche, in der »Sippe« lebende Bauern gewesen seien. Freilich bezeugten die erhaltenen Schriftdenkmäler, insbesondere die Edda, nach Kummers Auffassung bereits den Niedergang dieser ursprünglichen religiös begründeten Lebensordnung, in der die Germanen der Frau besondere Verehrung entgegengebracht und eine nahezu monotheistische Thor-Gläubigkeit gepflegt hätten. Diesen »Freundgottglauben« (altisländisch fulltrúi) hielt Kummer für das Wesen und den Höhepunkt germanischen Heidentums, das so der christlichen und der jüdischen Religion überlegen sei.60 Die »Odinsreligion« müsse hingegen als ein Symptom des Glaubenswechsels und der kulturellen Degeneration betrachtet werden und als der eigentlich Grund dafür, daß die germanische Kultur der christlichen Mission zum Opfer fallen konnte. Formuliert hatte Kummer diesen Entwurf in seiner Leipziger nordistisch-religionswissenschaftlichen Dissertation, die er zuerst 1927 unter dem beziehungsvoll auf Oswald Spengler anspielenden Titel Midgards Untergang publizierte. Ebenso wie viele spätere Schriften Kummers war sie Bestandteil einer teils außerordentlich polemisch geführten Debatte über das Verhältnis von Christentum und Germanentum in der Gegenwart, die Theologen, Germanenforscher, Germanengläubige und Politiker in der Übergangszeit von 57 58
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Ebd., 32. So auch von Grüttner selbst (ebd. 32); außerdem von Hunger 1984 (wie Anm. 40), 422-426; Gajek 1997, Kater 2001, 125; Barbara Schier: Hexenwahn und Hexenverfolgung. Rezeption und politische Zurichtung eines kulturwissenschaftlichen Themas im Dritten Reich. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde. 1990, 43-115, hier bes. 69ff. (die Anm. 332 nennt weitere Beispiele für Kritik an Höflers Theorie aus dem Rosenbergschen Lager); dies.: Hexenwahn-Interpretationen im ›Dritten Reich‹. In: Sönke Loren u.a. (Hg.): Himmlers Hexenkartothek. Das Interesse des Nationalsozialismus an der Hexenverfolgung. Bielefeld 2000; 1-19; von See 1994, 225-232. Gajek 1997, 185. Vgl. auch Julia Zernack: Fulltrúi. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. 2. Auflage. Bd. 10, 1996, 243-245. – Kummers Germanenbild ist abhängig von der kulturmorphologischen Germanendarstellung des dänischen Religionswissenschaftlers Vilhelm Grønbech (Vor Folkeæt i Oldtiden, 1909-1912). Höfler betrachtete Kummers Grønbech-Rezeption indes als ein grobes Mißverständnis und gab, um das angemessene Verständnis Grønbechs in deutscher Sprache zu sichern, das Buch in deutscher Übersetzung heraus. Zuerst 1937/1942 mit einem Vorwort Höflers erschienen, erlebte das Werk mit verändertem Vorwort – in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft von 1954 bis 1997 zwölf Auflagen. Zu der 12. Auflage sehr kritisch Wolfgang Behringer: Das »Ahnenerbe« der Buchgesellschaft. Zum Neudruck einer Germanen-Edition des NS-Ideologen Otto Höfler. In: Sowi 27, 1998, 283-289. In der 13. Auflage wurde das Vorwort Höflers durch ein Vorwort von Heinrich Beck ersetzt.
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der Weimarer Republik in das »Dritte Reich« austrugen. Ausgelöst hatte diesen sogenannten Weltanschauungskampf nicht zuletzt Alfred Rosenberg (1893-1946) mit seinem Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts (1930). Darin behauptete er, daß sich seit dem Mittelalter zwei Mächte gegenüber stünden: das Papsttum, das »physische und geistige Unterwerfung« fordere und das germanische Volkstum, das die »Freiheit von Gewissen, Glauben und Nation« verlange.61 Das Buch war eine Kampfansage an die christlichen Werte und vor allem an die Kirchen. Während in der Folge die Germanengläubigen die – später enttäuschte – Hoffnung hegten, im »Dritten Reich« endlich staatliche Anerkennung als ›dritte Konfession‹ zu erlangen, nahm man in den Kirchen, vor allem in der katholischen Kirche mit einer Anzahl von Gegenschriften den Kampf gegen den nationalsozialistischen Antiklerikalismus und die neuheidnische Verherrlichung germanischer Religion auf. Bekannt ist die Neujahrspredigt des Jahres 1933 über Christentum und Germanentum des Münchner Kardinals Faulhaber, dem nicht entgangen war, daß es zu dem rassistischen Germanenbild neuheidnischer Prägung Affinitäten in der Germanenforschung gab.62 Zu denjenigen, die im Namen der Wissenschaft einer neuheidnischen Aktualisierung der Germanen das Wort redeten, ist Kummer zu rechnen. Er stand im »Weltanschauungskampf« auf der Seite Rosenbergs und deutete die Situation seiner Gegenwart – von ihm meist als »Kulturkampf« bezeichnet – im Licht der Germanenmission: Damals habe die katholische Kirche mit ihren zweifelhaften Moralvorstellungen die arteigene heidnische Sittlichkeit der Germanen systematisch zerstört. Erst mit dem völkischen Aufbruch seiner Gegenwart sah Kummer das »wirkliche Ende des Mittelalters« gekommen und damit die Aussicht, die verderbliche Macht der katholischen Kirche durch die Besinnung auf die rassischen Grundlagen des Germanentums zu beenden.63 Midgards Untergang mit seinem idyllischen Germanenbild und seiner Kritik an der »Odinsreligion« provozierten Höfler zu einer vernichtenden Besprechung des Buches, publiziert als mehrseitige Fußnote in den Kultischen Geheimbünden.64 Kummer, der sich im übrigen offenbar Chancen auf Höflers Kieler Lehrstuhl ausgerechnet hatte, setzte sich zur Wehr und diente sich dabei in einer Reihe von Publikationen ganz unverblümt der Partei und vor allem ihrem Chefideologen Rosenberg an.65 Allerdings liegt es etwas im Dunkeln, ob er tatsächlich Rückhalt im Amt Rosenberg oder bei Rosenberg persönlich hatte.66 Höfler fand hingegen Mitstreiter in der SS, neben Wüst vor allem Joseph Otto Plaßmann (1895-1964), den Hauptschriftleiter des Ahnenerbe-Organs Germanien. Und auch hinter den Kulissen suchte die SS nach Mitteln und Wegen, Kummer zum Schweigen zu bringen. Wüst informierte Himmler im November 1937 ausführlich über die Angelegenheit, wohl
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Vgl. Raimund Baumgärtner: Weltanschauungskampf im Dritten Reich. Mainz 1977, 260. Zu Rosenberg vgl. außerdem Reinhard Bollmus: Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Stuttgart 1970, 2. Aufl. 2006 (= Studien zur Zeitgeschichte, 1); zu Kummers Position im »Weltanschauungskampf« vgl. Zernack 2004. Michael Kardinal Faulhaber: Christentum und Germanentum. In: ders.: Judentum, Christentum, Germanentum. Adventspredigten gehalten in St. Michael zu München 1933. München 1934, vor allem 103104. Bernhard Kummer: Herd und Altar. Wandlungen altnordischer Sittlichkeit im Glaubenswechsel. Bd. I. Leipzig 1934, 3. Höfler 1934, 335-339. Dies ist besonders deutlich in dem Pamphlet: Germanenkunde im Kulturkampf. Beiträge zum Kampf um Wissenschaft, Theologie und Mythus des 20. Jahrhunderts. Leipzig 1935. Vgl. außerdem: Bernhard Kummer: Kultische Geheimbünde der Germanen? In: ders. (Hg.): Reaktion oder deutscher Fortschritt in der Geschichtswissenschaft. Leipzig 1935 (= Reden und Aufsätze zum nordischen Gedanken, 32), 5777, u.a. Vgl. aber Matthes Ziegler: Germanische Religionsforschung im Weltanschauungskampf. Bemerkungen zum neuesten germanenkundlichen Schrifttum. In: Nationalsozialistische Monatshefte 7, 1936, 819-824.
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mit dem Ziel, Strafantrag gegen Kummer stellen zu dürfen.67 Seine Argumentation macht unmittelbar deutlich, worin das Interesse der SS an Höflers Theorie begründet war: „In Deutschland allein besteht neben der Wehrmacht der Typus des politischen Männerbundes als entscheidender innenpolitischer und auch aussenpolitischer Machtfaktor [...]. Die germanische Geschichte aber zeigt, dass es sich dabei nicht um eine willkürliche Neuerung der Revolution handelt, sondern dass ähnliche Kampfgemeinschaften bis ins germanische Altertum nachweisbar sind (was Kummer leugnet), und dass sie überall die wichtigsten und entscheidendsten politischen Machtfaktoren in unserer Geschichte seit altgermanischer Zeit gewesen sind.“ Zweifellos war Kummer in dem Konflikt mit Höfler und der SS immer der Unterlegene. Das hing nicht zuletzt damit zusammen, daß seine berufliche Position unsicher war, während Höfler 1934, als die Auseinandersetzung begann, bereits eine sichere Anstellung, und zwar als Professor auf Lebenszeit, innehatte. Kummer war zu diesem Zeitpunkt Assistent von Gustav Neckel in Berlin, mit dem er zunächst gemeinsam an der Verbreitung seines Germanenbildes arbeitete.68 Seine Ansprüche erfüllte diese Stellung jedoch nicht, und er suchte – wenngleich nicht habilitiert – nach Wegen, eine Professur zu erlangen. Dabei waren ihm offenbar alle Mittel recht, denn weder vor öffentlicher Diffamierung von Kollegen69 noch vor Denunziationen – gern im Namen der nordischen Sittlichkeit – scheute er zurück: In Berlin gelang es ihm mithilfe einer Gruppe nationalsozialistischer Studenten eine Kampagne gegen seinen ehemaligen Vorgesetzten Neckel zu inszenieren, die schließlich zu dessen Versetzung nach Göttingen von 1935 bis 1937 führte, obwohl man im Ministerium seine Arbeiten ideologisch durchaus zu schätzen wußte.70 Den Theologen Johannes Witte (1877-1945) denunzierte Kummer als Freimaurer, nachdem dieser dazu beigetragen hatte, daß jenem ein Lehrstuhl für germanische Religionswissenschaft in Berlin versagt blieb.71 Erfolg hatte er damit jedoch nicht, solange die SS dies verhinderte. Sie zwang ihn zunächst – 1938 – zu »Ehrenerklärungen« in jenen Zeitschriften, die Forum des öffentlichen Teils der Auseinandersetzung mit Höfler gewesen waren, in Germanien und den von Kummer herausgegebenen Nordischen Stimmen, deren Schriftleitung er zudem niederlegen mußte.72 Als schließlich der NSDAP-Gauleiter und Reichsstatthalter in Thüringen, Fritz Sauckel (1894-1946), der gemeinsam mit dem Rektor der Universität Jena, Karl Astel (1898-1945), deren Umbau zu einer nationalsozialistischen »Musteruniversität« betrieb, Kummer eine neu zu errichtende Professur für »Altnordische Sprache und Kultur« in Aussicht stellte, intervenierte Höfler über die SS, so daß sich Kummers Berufung infolge von Himmlers Einspruch bis 1942 verzögerte.73 Da er 1944 Soldat und 1945 amtsenthoben wurde, blieb ihm nur wenig Zeit, auf dieser Position im Sinn seines Germanenbildes zu wirken. Doch erhielt er noch Gelegenheit, sich 1944 an einer von Astel zum Zweck der ideologischen »Umerziehung« inhaftierter norwegischer Studenten initiierten Vorlesungs67
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Das Bedenkliche und Gefährliche in der Germanenauffassung von Dr. Bernhard Kummer, besonders im Hinblick auf die SS; die Akte aus dem Bundesarchiv (BDC) ist online zugänglich unter http:// homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/nordkummer.pdf (Zugriff 5. August 2006); hier findet sich weiteres Archivmaterial zu der Kontroverse. Vgl. Zernack 2004, 133-141. Zum Beispiel in der in Anm. 65 genannten Schrift Germanenkunde im Kulturkampf. Im Detail ist dies rekonstruiert bei Zernack 2004. Hartmut Ludwig: Die Berliner Theologische Fakultät 1933 bis 1945. In: Rüdiger vom Bruch u.a. (Hg.): Die Berliner Universität in der NS-Zeit. Bd. II: Fachbereiche und Fakultäten. Stuttgart 2005, 93-121, hier 110 mit Anm. 119. Germanien. Monatshefte für Germanenkunde zur Erkenntnis deutschen Wesens 1938, 144; Nordische Stimmen 1938, 128. Kummer war seit 1936 in Jena im Gespräch. Die näheren Umstände sind rekonstruiert bei Annett Hamann: »Männer der kämpfenden Wissenschaft«: Die 1945 geschlossenen NS-Institute in Jena. In: Uwe Hoßfeld u.a. (Hg.): »Kämpfende Wissenschaft«. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus. Köln etc. 2003, 202-234, hier 208-210 und 227, Anm. 82-88.
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reihe von Jenaer Professoren im Konzentrationslager Buchenwald zu beteiligen.74 Kummers kurze Karriere endete abrupt, denn nach 1945 hatte er – anders als Höfler – keine Aussichten auf eine wissenschaftliche Laufbahn. Er stilisierte sich nun zum Opfer des NSRegimes, das ihn in seinem beruflichen Fortkommen gehindert habe, und pflegte seine sektiererischen Vorstellungen von nordischer Sittlichkeit im Selbstverlag weiter.75 Zum einen zeigt der Fall Kummers mit den Schwierigkeiten zugleich die Chancen auf, die sich in dem wissenschaftspolitischen Kompetenzenwirrwarr der nationalsozialistischen Zeit auch für wissenschaftliche Außenseiter bot. Doch ist er – zum anderen – auch in jenem Kontext zu sehen, den Grüttner »Machtergreifung als Generationskonflikt« genannt hat:76 Dies belegen Kummers Denunziationen arrivierter Hochschullehrer, insbesondere seine Kampagne gegen Neckel, und der Umstand, daß er dafür auch die Nationalsozialistische Studentenschaft zu gewinnen vermochte. Diese verkündete sogleich bereitwillig, daß »der alte Frontkämpfer und frühzeitig nationalsozialistische Vorkämpfer für den nordischen Gedanken Dr. Bernhard Kummer [...] die wissenschaftliche Arbeit seines Chefs Neckel längst überflügelt hat«.77 Der Coup mißlang allerdings, und Neckels Nachfolger wurde schließlich 1940 der Kandidat der Fakultät, Hans Kuhn. Wo bisher wissenschaftsgeschichtliche Forschung zur Nordischen Philologie vorliegt, hat sie sich naheliegenderweise den exponierten Fällen gewidmet. Das sind diejenigen, welche – wie die Kontroverse zwischen den Nationalsozialisten Bernhard Kummer und Otto Höfler – viele Spuren in den Akten hinterlassen haben, bzw. jene, die – wie der Mißbrauch der altnordischen Literatur – in Publikationen gut dokumentiert sind. Ein vollständiges Bild – das hier im Übrigen gar nicht intendiert sein kann – geben diese Fälle selbstverständlich nicht. Wollte man dies wenigstens etwas korrigieren, wäre auch der wissenschaftliche Alltag solcher Gelehrten zu betrachten, die den Machtantritt der Nationalsozialisten nicht in Zusammenhang mit ihren wissenschaftlichen Auffassungen brachten. Den Ansprüchen von Partei und Regime konnten sie sich wohl dennoch nicht immer entziehen: Wer seine wissenschaftlichen Kontakte im Ausland weiter pflegen wollte, etwa durch Vortragsreisen nach Skandinavien, mußte nicht nur zuvor seine politische Verläßlichkeit prüfen lassen; er mußte nach seiner Rückkehr Bericht auch über die politische Orientierung der skandinavischen Kollegen erstatten. Wie sich solche Reglementierungen auf die internationalen wissenschaftlichen Kontakte auswirkten und auf den Zugang der deutschen Wissenschaftler zu Informationen, aber auch zu den Quellen und zu Fachdiskussionen – die Teilnahme an Kongressen im Ausland war genehmigungspflichtig –, das ist, jedenfalls für die Nordische Philologie, gänzlich unerforscht. Eine höchst eigentümliche Form des deutsch-skandinavischen Wissenschaftskontaktes, die indes ohne Frage zur Wissenschaftsgeschichte der Nordistik im »Dritten Reich« gehört, ergab sich im übrigen durch die Deportation des norwegischen Philologen Didrik Arup Seip (1884-1963). Seip war als Rektor der Universität Oslo 1941 von der deutschen Besatzungsmacht abgesetzt und inhaftiert worden, 1942 wurde er nach Sachsenhausen depor74
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Ronald Hirte, Harry Stein: Die Beziehungen der Universität Jena zum Konzentrationslager Buchenwald. In: Uwe Hoßfeld u.a. (Hg.): »Kämpfende Wissenschaft«. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus. Köln etc. 2003, 361-398, hier 384. Zur Deportation und »Umerziehung« der norwegischen Studenten s. auch Kater 2001, 185-186. Vgl. Gisela Lienau-Kummer: Bernhard Kummer zum Gedächtnis. Zeven 1963. Michael Grüttner: Machtergreifung als Generationskonflikt. Die Krise der Hochschulen und der Aufstieg des Nationalsozialismus. In: Rüdiger vom Bruch u.a. (Hg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2002, 339-353. Zu Kummers Generationskonfikt mit Neckel vgl. Zernack 2004, 140f.; zu dem Engagement der Studenten in dieser Sache ebd. 151-164; das Zitat 156.
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tiert. Nach seiner Entlassung aus dem Konzentrationslager stand er zunächst in München, später in Berlin unter Hausarrest und mußte für das »Ahnenerbe« arbeiten. Zu denjenigen, die sich für Seips Freilassung eingesetzt hatten, gehörte sein Fachkollege Hans Kuhn, der sich Seips in Berlin annahm – allerdings offenbar in offiziellem Auftrag –, ihm Bücher und einen Arbeitsplatz im Germanischen Seminar verschaffte etc. 78 Ebenso unerforscht wie die Einschränkungen in den internationalen Wissenschaftsbeziehungen in der NS-Zeit ist die Frage, welche Folgen die gerade zu Beginn des »Dritten Reiches« im akademischen Milieu verbreitete Gesinnungsschnüffelei – nicht zuletzt durch die organisierten nationalsozialistischen Studenten – für die wissenschaftliche Kommunikation hatte.79 Die Bereitschaft zu offener Diskussion und konstruktiver Kritik dürfte dadurch in großem Umfang beeinträchtigt worden sein. Umso erstaunlicher ist es, daß es noch nach 1933 Versuche gab, die Integrität der Wissenschaft gegen die Versuche der politischen Instrumentalisierung zu verteidigen. Ein couragiertes Beispiel bietet Friedrich von der Leyen, der Otto Höfler 1935 in einer Rezension der Kultischen Geheimbünde öffentlich der »Selbstindienstnahme« zieh und den aktualisierenden Duktus des Buches ironisierte: „Walhall, die Einherjer, ihre Bestimmung, den Göttern in ihrem letzten Kampf zu helfen, diese Überlieferungen sind doch, woher sie auch stammen mögen, WikingerMythologie. Sie führen uns nicht in die dunklen kultischen Anfänge des germanischen Glaubens. Wenn die Einherjer kultischen Geheimbünden entstammen, dann sind auch die Walküren eigentlich ein kultischer Geheimbund germanischer Mädchen gewesen und die Vorläuferinnen des B.D.M.“80 Die »Grundthese« Höflers sei der »Hauptschaden« der Studie, deren Verfasser »vielleicht [...] durch die Erlebnisse der letzten Jahre hingerissen, zu der Meinung verführt worden« sei, »was er zeige, daß [sic] sei ein Beweis aus der germanischen Urgeschichte für die Richtigkeit der nun erreichten Ziele«: „Auch[!] der Kult und die Mythologie unserer Vorfahren hätten die Ekstase über die Vernunft, die Gesamtheit über den Einzelnen gestellt, und die Kräfte, in Geheimbünden gepflegt, die unseren neuen Bünden gleichen, seien von ›unabsehbarer‹ und ›ungeheurer‹ Bedeutung.“ 78
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Davon berichtet Seip in seinem Erinnerungsbuch: Hjemme og i fiendeland 1940-45. Oslo 1946. – Einzelne Informationen über den Hintergrund von Seips Deportation gibt auch die hier des öfteren herangezogene »Chronologie Nordistik« von Gerd Simon (vgl. o., Anm. 30). Jedoch zeigen gerade die Hinweise auf Seip, daß Simons Angaben in dieser – ausdrücklich als work in progress gekennzeichneten – Übersicht nicht immer zuverlässig sind und in jedem Einzelfall der Überprüfung bedürfen: Simon leitet aus einem Schreiben Otto Höflers an das Bayerische Staatsministerium vom 29. Oktober 1941 (aufbewahrt im Archiv der Ludwig-Maximilians-Universität München unter der Signatur 1e O-N) den Verdacht ab, daß Höfler die Anregung zu Seips Verhaftung gegeben haben könnte. Daraus zieht er sodann den weitreichenden Schluß, dies könnte »unter Umständen« die SS auf den Gedanken gebracht haben, »die aufsässigen Studenten der Universität Oslo in deutsche Lager zur Umerziehung zu bringen« (Gerd Simon: Der Modernisierer des nordischen Gedankens. Otto Höfler und die Skandinavistik im 3. Reich. http:// homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/hoeflereinleitung. pdf, S. 2; Zugriff 01.09.06). Freilich war Seip zum Zeitpunkt von Höflers Schreiben bereits seit über einem Monat – nämlich seit dem 11. September 1941 – inhaftiert, und Höfler hatte auch gar nicht – wie Simon in seiner »Chronologie« (S. 48) behauptet – geschrieben, »Seip müsste verhaftet werden«. Vielmehr lautet die entsprechende Passage: »Bei einem vierwöchigen Aufenthalt in Skandinavien musste ich mich soeben wieder überzeugen, dass das Zentrum des verbissensten inneren Widerstandes gegen Deutschland heute die Universitäten bilden. (Der amtierende Rektor der Universität Oslo, Professor Seip, musste Mitte September aus politischen Gründen verhaftet werden.).« Vgl. Michael Grüttner: Studenten im Dritten Reich. Paderborn etc. 1995, 62ff., und die von ihm zitierten Erinnerungen des Mathematikers Heinrich Behnke: Semesterberichte. Ein Leben an deutschen Universitäten im Wandel der Zeit. Göttingen 1978, 117ff; sowie die Erinnerungen Karl Reinhards (in: Vermächtnis der Antike. Gesammelte Essays zur Philosophie und Geschichtsschreibung. Hg. von Carl Becker. Göttingen 1960, bes. 395). – Ein Beispiel für die Folgen dieses Verhaltens ist aber das Schicksal Gustav Neckels, dazu Zernack 2004. In: Anzeiger für deutsches Altertum 54, 1935, 153-165, hier 156.
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Darin erkannte von der Leyen klar eine Bedrohung für die Wissenschaft: „Aber die frischen Erfahrungen weniger Jahre in die Urzeit versetzen und wieder aus der Urzeit diese Erfahrungen rechtfertigen wollen, das verträgt die Wissenschaft nicht.“81 Und als Höfler heftig widersprach, insistierte von der Leyen sogar: „Man hat den Eindruck, daß das Buch zu einer bestimmten Zeit fertig sein sollte. Der Enthusiasmus über Ereignisse der letzten Zeit hat den Verfasser doch wohl beflügelt. Ist das ein Vorwurf? Wenn auch dieser Enthusiasmus ihn wie manchen anderen über die Grenzen trug, die wissenschaftlichem Erkennen gesteckt bleiben.“82 In dieser Grundsätzlichkeit blieb von der Leyens Kritik singulär. Ihr Verfasser verlor 1937 sein Lehramt; dafür gab es allerdings noch weitere Gründe.83 Eine andere – vorsichtigere – Strategie der Kritik verfolgte der Nordist und Religionswissenschaftler Walter Baetke, der sich – zunächst ganz im terminologischen Gewand der Zeit – in die Debatte über den Glauben und die Bekehrung der Germanen einschaltete, ausdrücklich davor warnte, den »religionsgeschichtlichen Gesichtspunkt« zu überspannen, und gerade das Modell Kummers für unwissenschaftlich erklärte.84 Baetke kritisierte darüber hinaus zum Beispiel Höfler, Neckel und Naumann für ihre quellenfernen Konstruktionen und schonte in dieser Hinsicht auch die Religionswissenschaft nicht. Die Machthaber hatten nach Angaben seiner Biographen auch ihn im Visier, ohne daß es jedoch zu der offenbar bereits geplanten Verhaftung gekommen ist.85 Außer diesen – und möglicherweise einigen wenigen anderen – Kritikern müssen schließlich auch diejenigen zumindest erwähnt werden, die nach 1933 entlassen wurden oder einer Entlassung durch Emigration zuvorkamen. Unter den Nordisten – bzw. den auch nordistisch tätigen Germanisten – waren das nicht sehr viele, darunter der Sprachwissenschaftler Hans Sperber (1885-1963) in Köln, Walter A. Behrendsohn (1884-1984) in Hamburg – einer der wenigen Germanisten, die sich so früh schon der neueren Literatur Skandinaviens widmeten86 – und Konstantin Reichardt (1904-1976) in Leipzig, der 1935 gegen die Entlassung von vier Leipziger Kollegen öffentlich aufgetreten war und 1937 über Schweden in die USA emigrierte, weil »ihm die ganze Richtung nicht paßte«.87 Für eine umfassende Bestandsaufnahme der Lage, in welcher sich die Nordischen Studien zwischen 1933 und 1945 befanden, wären außer den genannten weitere Aspekte zu berücksichtigen: etwa der sogenannte germanische Wissenschaftseinsatz des »Ahnenerbes«, das Wirken des niederländischen Germanisten und Nordisten Jan de Vries (18901964), der, seit 1926 Leidener Professor, 1944 ins Deutsche Reich flüchtete und 1945 aus der Universität entlassen wurde, die Auswahl der Themen für die Forschung, die Überschneidungen mit anderen Fächern (der Vor- und Frühgeschichte, der Volkskunde, der Religionswissenschaft etc.), außerdem die Situation der skandinavischen Lektoren an den deutschen Universitäten und diejenige des wissenschaftlichen Nachwuchses sowie anderes mehr.
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Ebd. 165-66. In: Oberdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 11, 1937, 94- 97, hier 96; Höflers Erwiderung (Der germanische Totenkult und die Sagen vom Wilden Heer) war ebd. 10, 1936, 33-49, erschienen; auf von der Leyens Replik antwortete Höfler ein weiteres Mal (Oberdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 11, 1937, 99-102). S.o. Anm. 28. Vgl. etwa Walter Baetke: Art und Glaube der Germanen. Hamburg 1934, 22, 75. Kurt Rudolph, Fritz Heinrich: Walter Baetke (1884-1978). In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 9, 2001, 169-184, hier 175; Rudolph und Heinrich behandeln ausführlich »Baetkes Wirken im Dritten Reich«. Vgl. Hermann Zabel (Hg.): Zweifache Vertreibung. Erinnerungen an Walter A. Behrendsohn. Essen 2000 (= Beiträge zur Förderung des christlich-jüdischen Dialogs, 18). Vgl. von See 2004, 48; das Zitat geht auf einen Brief Andreas Heuslers zurück; vgl. ebd. 93.
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Soweit es sich indessen nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen beurteilen läßt, scheint die nordistische Forschung vor allem in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft von politisch und ideologisch motivierten Debatten wie den beschriebenen betroffen gewesen zu sein. Darin spiegelt sich recht deutlich die politische Aufbruchstimmung wider, in der die allgemeine Unsicherheit darüber, was eine politisch opportune Germanenkunde zu sein hätte, den – irrigen – Eindruck aufkommen ließ, in dieser Frage gäbe es Spielräume, die der einzelne Wissenschaftler zu seinen Gunsten bzw. zugunsten seines Faches nutzen könnte. Seit dem Ende der dreißiger Jahre scheint sich diese Aufregung gelegt zu haben, vielleicht unter dem übermächtigen Eindruck des Krieges, der nun die Schulgermanisten dazu trieb, Sagas für die »Wehrerziehung« militaristisch zuzurüsten. Zu diesem Zeitpunkt ist schließlich noch einmal in dem »Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaften« ein politisch motivierter Übergriff auf die geisteswissenschaftlichen Fächer zu beobachten. Nordistische Themen kamen in dem fünfbändigen germanistischen Teilprojekt mit dem Titel Von deutscher Art in Sprache und Dichtung (1941) erwartungsgemäß im Rahmen der germanenkundlichen Beiträge zur Sprache (und zwar in dem von Höfler verantworteten zweiten Band). Einmal mehr mußten sie hier als Beleg dafür herhalten, daß der germanische Mensch von jeher seine Erfüllung im heroischen Tod gefunden habe.88 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die Nordische Philologie vor allem dank ihrer institutionellen Verselbständigung grundlegend gewandelt. Sie hat nicht nur die Neuere Skandinavistik neben der Altnordistik als festen Bestandteil hinzugewonnen, sondern sie hat sich weiter ausdifferenziert, hat die Linguistik als eigenes Arbeitsgebiet ausgebaut und sich der kulturwissenschaftlichen Herausforderung geöffnet. An vielen deutschen Universitäten bietet sie einen eigenen, meist fremdsprachenphilologisch konzipierten Studiengang an. Damit hat sich die Nordische Philologie aus der engen Bindung an die Germanistik gelöst, mit der zusammen sie ihre konstitutive Bedeutung für das nationale Selbstverständnis der Deutschen verloren hat. Seit die Germanistik nicht mehr Wissenschaft von den Germanen, sondern von der deutschen Sprache, Literatur und Kultur ist, hat die Germanische Altertumskunde als Bindeglied zur Altnordistik ihren disziplinären Ort eingebüßt und einen Platz zwischen den Disziplinen eingenommen: zwischen der Älteren Germanistik, der Nordischen Philologie, der Geschichtswissenschaft, der Volkskunde, der Vor- und Frühgeschichte. Die Altnordistik wiederum versteht sich zunehmend als ein ausgesprochen internationales mediävistisches Fach, erforscht nun – als skandinavistische Mediävistik – intensiv jene Gattungen der skandinavischen Überlieferung des Mittelalters, die dessen kulturellen Kontakt mit Westund Mitteleuropa belegen, und öffnet sich methodisch den anderen mediävistischen Philologien. Dabei hat sie den Blick von der Geschichte der Germanen zwar nicht völlig abgewendet, aber bevorzugt richtet sie ihn jetzt doch auf die mittelalterliche Kultur Skandinaviens als Bestandteil des europäischen Mittelalters.89 Auf den ersten Blick könnte man meinen, daß diese Wandlungen einen deutlichen Bruch mit der Vergangenheit markieren. Doch es fällt auf, daß das Fach diese hinter sich 88 89
Vgl. o., Anm. 23. – Allgemein zum »Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaften« Frank-Rutger Hausmann: »Deutsche Geisteswissenschaft« im Zweiten Weltkrieg. Die »Aktion Ritterbusch« (1940– 1945). 2., erweiterte Auflage. Dresden 2003. Die eigentümliche Lage der Altnordistik, die von den einen als altertumskundliches Fach und von den anderen als mediävistische Disziplin aufgefaßt wird, erörtert anhand der Epochenbegriffe Andreas Heuslers Julia Zernack: Altertum und Mittelalter bei Andreas Heusler. In: Jürg Glauser, Julia Zernack (Hg.): Germanentum im Fin de siècle. Wissenschaftsgeschichtliche Studien zum Werk Andreas Heuslers. Basel: Schwabe 2005 (= Geschichte der Wissenschaften in Basel, 3), 120-145; vgl. außerdem die Einleitung in: ebd., 11-17.
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gelassen hat, ohne überhaupt zurückzuschauen, also ohne den Prozeß der disziplinären Verselbständigung wissenschaftsgeschichtlich zu reflektieren. Anderes erschien vordringlich, wollte man Anschluß an die skandinavischen, die amerikanischen, die englischen »Old Norse Studies« finden und sich jene Gebiete erschließen, für die eine altertumskundliche Nordistik kein Interesse hatte: hagiographische Überlieferung, Übersetzungsliteratur, spätmittelalterliche Unterhaltung und anderes.90 Dadurch ergab sich insofern eine widersprüchliche Situation, als diesen Versuchen der fachlichen Neuorientierung zumindest teilweise eine personelle Kontinuität gegenübersteht: In München wurde Otto Höfler nach der Amtsenthebung 1945 durch die Generalamnestie Anfang der fünfziger Jahre wieder Professor, diesmal für Nordische Philologie und Germanische Altertumskunde.91 Und in den folgenden Jahrzehnten wurden viele nordistische (und manche altgermanistischen) Lehrstühle an den deutschen und österreichischen Universitäten – etwa in Bonn, Göttingen, Wien, Freiburg, Kiel und München – mit seinen Schülern besetzt. Dieser Umstand führte aber offenbar nicht zu einer Festlegung auf die Höflerschen Themen – die er nach 1945 beharrlich weiterverfolgte92 – oder gar auf seinen Germanenbegriff. Jedoch verzögerte sich dadurch die Auseinandersetzung mit Höflers Auffassungen und mit deren Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie bis in die Zeit nach seinem Tod 1987. So mußte Helmut Birkhan 1992 bekennen, daß die zu Höflers Lebzeiten herausgegebenen Schriftenverzeichnisse einen antisemitischen Aufsatz aus dem Jahr 1940 einfach totgeschwiegen hatten!93 Den Finger auf Höflers Vergangenheit als Germanenforscher im »Dritten Reich« legte zunächst allein Klaus von See – ein Schüler Hans Kuhns in Kiel – in einer von beiden Seiten mit scharfer Polemik geführten Kontroverse mit Höfler.94 In der »neuen« Skandinavistik spielte Höflers für die SS so verführerische Männerbundtheorie – anders als in manchen Nachbarfächern95 – zunächst keine Rolle. Erst in den neunziger Jahren wurde ihr wieder Interesse entgegengebracht, nun allerdings aus einer wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive, der es in erster Linie auf die politischen Implikationen der These ankam.96 In der Sache aber scheint man nur schwer über diese hinauszukommen, und zwar in allen beteiligten Disziplinen.97 Denn Höflers ungeheuer breite Quellenkenntnis und seine spezifische Methode, mit der er Schriftquellen und Volksbräuche, mittelalterliche und neuzeitliche Zeugnisse als Quellen aufeinander bezieht, machen es 90 91 92 93 94
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Dabei konnte man auch im deutschen Sprachgebiet auf einzelne Vorläufer im 19. und 20. Jahrhundert zurückgreifen, etwa auf Arbeiten von Eugen Kölbing oder von Rudolf Meißner. Vgl. Zernack 2005. Und in mancher Hinsicht sogar ausbaute; vgl. ebd., 66-72. Birkhan 1992 (wie Anm. 39), XV; es handelt sich um den folgenden Aufsatz: Friedrich Gundolf und das Judentum in der Literaturwissenschaft. In: Forschungen zur Judenfrage 4, 1940, 115-133. Vgl. Klaus von See: Kontinuitätstheorie und Sakraltheorie in der Germanenforschung. Antwort an Otto Höfler. Frankfurt am Main 1972. Dies war eine Reaktion auf Höflers Kritik an von Sees Habilitationsschrift (Altnordische Rechtswörter. Philologische Studien zur Rechtsauffassung und Rechtsgesinnung der Germanen. Tübingen 1964 [= Hermeae, 16]): ›Sakraltheorie‹ und ›Profantheorie‹ in der Altertumskunde. In: Festschrift für Siegfried Gutenbrunner. Hg. von Heinz Klingenberg u.a. Heidelberg 1972, 71116. Das zeigt Wilhelm Heizmann: Germanische Männerbünde. In: Rahul Peter Das, Gerhard Meiser (Hg.): Geregeltes Ungestüm. Bruderschaften und Jugendbünde bei indogermanischen Völkern. Bremen 2002, 117-138, hier 128-129. Von Schnurbein 1990 (wie Anm. 40). Vgl. Joseph Harris: Love and Death in the Männerbund. An Essay with special reference to the Bjarkamál and the Battle of Maldon. In: Helen Damico, John Leyerle (Hg.): Heroic Poetry in the Anglo-Saxon Period. Studies in Honor of Jess B. Bessinger. Kalamazoo 1993 (= Studies in Medieval Culture, 32), 77-114, hier vor allem 79f; Mischa Meier: Zum Problem der Existenz kultischer Geheimbünde bei den frühen Germanen. In: Zeitschrift für Religion- und Geistesgeschichte 51 (4), 1999, 322341, hier vor allem 322, mit vielen weiterführenden Literaturhinweisen in den Anmerkungen. S. außerdem – auch für den breiteren Kontext indoeuropäischer Männerbünde – Stefan Arvidsson: Ariska idoler. Den indoeuropeiska mytologin som ideologi och vetenskap. Stockholm 2000.
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schwer, seine Ergebnisse im einzelnen zu überprüfen. So kann die Theorie als solche – wie stark politisch belastet sie auch immer sein mag – bis heute nicht als systematisch widerlegt gelten.98 Dies alles zeigt, warum die Frage nach Kontinuitäten über 1945 hinaus für die Nordische Philologie bzw. die Skandinavistik so schwierig zu beantworten ist: Im deutschen Sprachgebiet haben sich die Fachgrenzen im 20. Jahrhundert in einer Weise verschoben, die es unmöglich macht, solche Fragen auf der Ebene der Disziplin zu erörtern; gerade Forschungsansichten aus der germanischen Altertumskunde bzw. der Germanenkunde können heute auch in anderen Fächern nachwirken. Man muß deshalb vor allem die Kontinuität von Forschungsproblemen und Ansätzen zu ihrer Lösung im Auge behalten, unabhängig von den bestehenden Fächergrenzen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß der Epochenschwelle 1945 eine weitere Epochenschwelle vorausging: jene von 1933 mit dem ihr eigenen Verhältnis von Fortdauer und Veränderung, auch im Hinblick auf die Germanenforschung. Gerade diese Disziplin ist in ihrer Genese eng verbunden mit der Geschichte des deutschen Nationalstaats und ebenso des deutschen Nationalismus. Dies retrospektiv auseinanderzulegen erfordert einigen analytischen Aufwand, und so ist auch nicht ohne weiteres zu erkennen, wie die Einflußlinien von und zu der nationalsozialistischen Germanomanie verlaufen. Denn diese war nicht mehr als ein – allerdings brisantes – Gemisch aus längst bekannten Vorstellungen, wie sie im Umkreis nationaler Mythen und nationalistischer Ideologien kursierten. Dazu gehört die romantische Sehnsucht nach dem Norden ebenso wie die bildungsbürgerliche Skandinavienschwärmerei der wilhelminischen Ära, der rassistische »Nordische Gedanke«, die sogenannte Welteislehre, ein trivialisierter Nietzsche, schließlich auch die These vom nordischen Ursprung der Kultur (ex septentrione lux) und vieles andere mehr.99 Vor allem aber war die nordisch-germanische Weltanschauung der Nationalsozialisten – von der man im übrigen im Singular eigentlich nicht sprechen kann – ein Ausläufer der im 19. und 20. Jahrhundert ganz und gar selbstverständlich akzeptierten Ansicht, daß die nationale Identität der Deutschen aus der Geschichte der Germanen herzuleiten sei. An Entstehung, Formulierung und Verbreitung dieses deutschen Germanenmythos hat die Wissenschaft durchaus ihren Anteil. Diesem muß das Interesse einer kritischen Wissenschaftsgeschichte ebenso gelten wie den großen wissenschaftlichen Leistungen der Vergangenheit, die ja auch – wie alle wissenschaftlichen Leistungen – Produkte ihrer Zeit sind.
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Im Reallexikon der germanischen Altertumskunde stehen sich denn auch die kontroversen Meinungen in ein und demselben Artikel gegenüber: Zustimmend verhält sich Georg Scheibelreiter: Geheimbünde I: Historisches. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 10, 1998, 558-562, und ablehnend Christoph Daxelmüller: Geheimbünde II: Volkskundliches. In: ebd., 562-565. – Mehr als erste Hinweise für eine systematische Überprüfung der Höflerschen Thesen bieten aber schon manche Rezensionen, insbesondere diejenigen von Friedrich von der Leyen (o. Anm. 80) und Friedrich Ranke, der in Basel Zuflucht gefunden hatte (Das wilde Heer und die Kultbünde der Germanen. Eine Auseinandersetzung mit Otto Höfler. In: Niederdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 18, 1940, 1-33). Eine ausführliche Bibliographie zum Thema findet sich im übrigen bei Heizmann 2002 (wie Anm. 95). Im Detail rekonstruiert bei von See 1994.
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AUSGEWÄHLTE LITERATURHINWEISE Vorbemerkung: Der Beitrag stützt sich auf eine Anzahl früherer Untersuchungen (Zernack 1994, 2001, 2004, 2005). Übereinstimmungen in den Formulierungen werden in den Fußnoten nicht einzeln nachgewiesen. Ash 2002 - Mitchell Ash: Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander. In: Rüdiger vom Bruch, Brigitte Kaderas (Hg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2002, 32-51. Böldl/Kauko 2005 - Klaus Böldl, Miriam Kauko (Hg.): Kontinuität in der Kritik. Zum fünfzigjährigen Bestehen des Münchener Nordistikinstituts: Historische und aktuelle Perspektiven der Skandinavistik. Freiburg 2005 (= Nordica, 8). Gajek 1997 - Esther Gajek: Germanenkunde und Nationalsozialismus. Zur Verflechtung von Wissenschaft und Politik am Beispiel Otto Höflers. In: Richard Faber (Hg.): Politische Religion — religiöse Politik. Würzburg 1997, 173-203. Grüttner 2002 - Michael Grüttner: Machtergreifung als Generationskonflikt. Die Krise der Hochschulen und der Aufstieg des Nationalsozialismus. In: Rüdiger vom Bruch u.a. (Hg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2002, 339-353. Grüttner 2003 - Michael Grüttner: Die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik und die Geisteswissenschaften. In: Holger Dainat, Lutz Danneberg (Hg.): Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus. Tübingen 2003 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 99), 13-39. Hausmann 2001 - Frank-Rutger Hausmann: ›Auch im Krieg schweigen die Musen nicht‹. Die Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg. Göttingen 2001. Hoßfeld 2003 - Uwe Hoßfeld u.a. (Hg.): »Kämpfende Wissenschaft«. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus. Köln etc. 2003. Kater 2001 - Michael H. Kater: Das »Ahnenerbe« der SS 1935-1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches. 3. Aufl. München 2001 (= Studien zur Zeitgeschichte, 6) [Heidelberger Diss. von 1966; 1. Aufl. 1974]. Lundgreen 1985 - Peter Lundgreen (Hg.): Wissenschaft im »Dritten Reich«. Frankfurt am Main 1985. Von See 1984 - Klaus von See: Die Altnordistik im »Dritten Reich«. In: Bernd Henningsen und Rainer Pelka (Hg.): Die Skandinavistik zwischen gestern und morgen. Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektiven eines »kleinen Faches«. Sankelmark 1984 (= Schriftenreihe der Akademie Sankelmark, N.F. 59), 39-63. Von See 1994 - Klaus von See: Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen. Heidelberg 1994. Von See 2004 - Klaus von See: Hermann Schneider und der Nationalsozialismus. In: Klaus von See, Julia Zernack: Germanistik und Politik in der Zeit des Nationalsozialismus. Zwei Fallstudien. Heidelberg 2004 (= Frankfurter Beiträge zur Germanistik, 42), 9-58. Von See/Zernack 2004 - Klaus von See, Julia Zernack: Germanistik und Politik in der Zeit des Nationalsozialismus. Zwei Fallstudien: Hermann Schneider und Gustav Neckel. Heidelberg 2004 (= Frankfurter Beiträge zur Germanistik, 42). Voßkamp 1985 - Wilhelm Voßkamp: Kontinuität und Diskontinuität. Zur deutschen Literaturwissenschaft im Dritten Reich. In: Peter Lundgreen (Hg.): Wissenschaft im Dritten Reich. Frankfurt am Main 1985, 140162. Zernack 1994 - Julia Zernack: Geschichten aus Thule. Íslendingasögur in Übersetzungen deutscher Germanisten. Berlin 1994 (= Berliner Beiträge zur Skandinavistik, 3). Zernack 2001 - Julia Zernack: »Der Toten Tatenruhm« und die nordische Philologie im Nationalsozialismus. In: Einsichten. Forschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München 19, 2001, 42-45. Zernack 2004 - Julia Zernack: »Wenn es sein muß, mit Härte...«. Die Zwangsversetzung des Nordisten Gustav Neckel 1935 und die »Germanenkunde im Kulturkampf«. In: Klaus von See, Julia Zernack: Germanistik und Politik in der Zeit des Nationalsozialismus. Zwei Fallstudien: Hermann Schneider und Gustav Neckel. Heidelberg 2004 (= Frankfurter Beiträge zur Germanistik, 42), 115-203 Zernack 2005 - Julia Zernack: Kontinuität als Problem der Wissenschaftsgeschichte. Otto Höfler und das Münchner Institut für Nordische Philologie und Germanische Altertumskunde. In: Klaus Böldl, Miriam
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Kauko (Hg.): Kontinuität in der Kritik. Zum fünfzigjährigen Bestehen des Münchener Nordistikinstituts: Historische und aktuelle Perspektiven der Skandinavistik. Freiburg 2005 (= Nordica, 8), 47-72. Zimmermann 1994 - Harm-Peer Zimmermann: Männerbund und Totenkult. Methodologische und ideologische Grundlinien der Volks- und Altertumskunde Otto Höflers 1933-1945. In: Kieler Blätter zur Volkskunde 26, 1994, 5-27.
SLAWISCHE PHILOLOGIE HELMUT W. SCHALLER Bei der Slawischen Philologie handelt es sich um eine multidisziplinäre Wissenschaft, die neben den Sprachen, den Literaturen und dem Brauchtum weitere Bereiche der Kultur der slawischen Völker zum Gegenstand hat. Ihre beiden Hauptrichtungen sind daher die Sprach- und die Literaturwissenschaft, die sich jeweils auf historische Entwicklungen beziehen, aber auch die gegenwärtigen slawischen Sprachen und Literaturen behandeln können. Als Schwerpunkt steht seit langem und auch heute noch die russische Sprache im Zentrum slawistischer Studien, gefolgt vom Polnischen und Tschechischen sowie den beiden südslawischen Sprachen Serbisch/Kroatisch und Bulgarisch. Andere slawische Sprachen und Literaturen werden mehr oder weniger nur vergleichend in die wissenschaftliche Forschung und Lehre mit einbezogen, so die beiden ostslawischen Sprachen Ukrainisch und Weißrussisch, das in Deutschland noch gesprochene Sorbische, das südslawische Slowenische und das seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges als eigene slawische Sprache anerkannte südslawische Makedonische.1 Für die Untersuchung der Frage des Wechselverhältnisses von Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus spielt die Slawische im Gegensatz zu anderen Philologien und auch zur Osteuropäischen Geschichte eine keineswegs aktive, fast ausschließlich passive Rolle. Ausschlaggebend hierfür war u.a. die damals geringe Zahl der Vertreter des Faches an deutschen Universitäten. Slawistik oder Slawische Philologie war zudem vor allem eine Aufgabe für die so genannten „Ostuniversitäten“ Königsberg, Breslau und die Deutsche Universität Prag, darüber hinaus auch noch für Leipzig und Berlin, wo das Fach bereits im 19.Jahrhundert vertreten war. München bildete mit seiner Slawistik kurz vor dem Ersten Weltkrieg ohne direkten Kontakt zur slawischen Welt eine Ausnahme. Die Anfänge einer institutionalisierten Slawistik in Deutschland gehen bereits auf die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, als erste Pläne für eine universitäre Slawistik für Breslau und Berlin in Angriff genommen wurden, während in Königsberg seit dem 16. Jahrhundert ein Litauisches und ein Polnisches Seminar für angehende Theologen existierte.2 Für die Zeit des Nationalsozialismus muss von einem Stillstand in der Weiterentwicklung der Slawischen Philologie ausgegangen werden, während in den Jahren von 1948 bis 1959 alleine in der Bundesrepublik Deutschland 14 Professuren für das Fach neu eingerichtet wurden, wobei in einigen Fällen dieser und auch späterer Neugründungen bereits auf eine länger vorangegangene Tradition zurückgegriffen werden konnte. Eine weitaus stürmischere Entwicklung hat die Slawische Philologie, vor allem aber durch die Russistik in der Deutschen Demokratischen Republik erlebt, dort vor allem bedingt durch einen riesigen Bedarf an Russischlehrern für alle Schulgattungen. Durch die Teilung Berlins 1945 kam es zur Einrichtung einer Slawischen Philologie an der Freien Universität Berlin im Jahre 1949, deren Leitung Max Vasmer übernahm, der bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges das Fach an der Friedrich-Wilhelms-Universität vertreten hatte, an der es bereits 1841 konkrete Pläne für einen slawistischen Lehrstuhl gab, ein solcher aber erst 1874 mit dem kroatischen Slawisten Vatroslav Jagić besetzt wurde, der aber bereits nach kurzer Zeit wegen des Mangels an Hörern einem Ruf an die Universität St. Petersburg folgte. Die Tradition der Slawischen Philologie in Berlin wurde fortgesetzt von Alexander Brückner und Max Vasmer, der 1923 von Leipzig nach Berlin berufen worden 1 2
Vgl. hierzu A. Schmaus: Makedonische Schriftsprache und Literatur, in: Osteuropa 3, 1952, S.178-183. Vgl. H.W. Schaller: Die Geschichte der Slawischen und Baltischen Philologie an der Albertus- Universität Königsberg i.Pr., in: Zeitschrift für Ostforschung 40, 1991, H.3, S.321-354.
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war. In Tübingen bestand seit 1928 ein Lehrstuhl für die Slawistik, allerdings innerhalb eines Schwerpunktes für Sprachwissenschaft. In Hamburg hatte die Osteuropa-Forschung eine lange, jedoch nicht speziell philologische Tradition, die dort auf das 1901 gegründete Seminar für Geschichte und Landeskunde Osteuropas zurückging, bevor 1946 ein Slawisches Seminar gegründet wurde. An der Universität gab es seit 1926 ein Lektorat für Russisch, bis auch dort 1949 ein Lehrstuhl eingerichtet wurde. In Kiel ging dem 1952 eingerichteten Lehrstuhl für Slawische Philologie bereits eine regelmäßige Lehre und Forschung seit 1945 voraus. In Münster war 1930 ein Slawisches Seminar begründet worden und in Bonn und Erlangen bestanden seit 1953 Professuren für Slawische Philologie. Doch die Tradition der Slawischen Philologie reicht in Deutschland, wie schon angedeutet, viel weiter zurück: 1842 wurde in Breslau der erste, 1870 in Leipzig der zweite Lehrstuhl für Slawische Philologie eingerichtet, 1872 in Berlin und 1910 in München.3 Im Jahre 1908 hatte Friedrich Paulsen (1846-1908), Professor der Philosophie und Pädagogik an der Universität Berlin, die Forderung ausgesprochen, Posen zu einer weiteren Universität im damaligen Königreich Preußen zu verhelfen und dort einen Schwerpunkt für slawische Studien zu bilden: „Machen wir Posen zu einem Mittelpunkt slawischer Studien. Die slawische Welt ist groß und bedeutend genug, um auch dem wissenschaftlichen Studium wichtig und anziehend zu sein. Und sie ist uns nahe genug, um auch praktisch die größte Wichtigkeit zu haben, sitzt doch die deutsche Welt auf tausenden von Quadratmeilen mit ihr im Gemenge. Begründen wir also an der neuen Universität Lehrstühle und Lektoren für polnische und russische Sprache, Literatur und Geschichte, so daß alles, was für diese Dinge Interesse hat, hier bereits Belehrung und Anleitung zum Studium findet. Setzen wir Prämien und Stipendien für deutsche Studierende aus, die diese Studien mit Ernst betreiben.“4 Feststehende Vorurteile, ebenso aber auch Wissenslücken spielten in der Öffentlichkeit des Deutschen Kaiserreiches bereits eine nicht unerhebliche negative Rolle im Verhältnis zu den slawischen Nachbarvölkern, den Polen, Tschechen und Russen, aber auch gegenüber den in Deutschland beheimateten Sorben und Kaschuben. Im Jahre 1908 hatte der Münchener Byzantinist Karl Krumbacher (1856-1909) seinen programmatischen Artikel „Der Kulturwert des Slawischen und die slawische Philologie in Deutschland“ veröffentlicht und konnte damit vor allem die Einführung der Slawischen Philologie an der Universität München und damit in Bayern erreichen. Auch heute noch gilt nach allen Veränderungen in der Struktur der deutschen Slawistik Krumbachers Satz: „Muß denn nicht schon der einfache Blick auf die Landkarte Europas jeden Denkenden widerspruchslos überzeugen, dass die viel gerühmte Universalität des deutschen Geistes hier eine gewaltige Lücke auszufüllen hat?“5 Bereits zehn Jahre später war der Leipziger Slawist Matthias Murko (1861-1952) mit einem weiteren Programm für die Slawische Philologie an die Öffentlichkeit getreten, das wie Krumbachers Ausführungen in der „Internationalen Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik“ veröffentlicht worden war und damit auch ein breites Publikum erreichte.6 3 4 5 6
Vgl. hierzu insgesamt W. Zeil: Slawistik in Deutschland. Forschungen und Informationen über die Sprachen, Literaturen und Volkskulturen slawischer Völker bis 1945. Köln-Weimar-Wien 1994. H. Paulsen: Eine neue deutsche Universität im Osten, in: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik vom 15.August 1908, Sp.1030-1031. K. Krumbacher: Der Kulturwert des Slawischen und die slawische Philologie in Deutschland, in: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik vom 29.Februar 1908, Sp.1-26, hier: H.W. Schaller: Die Geschichte der Slavistik in Bayern. Neuried 1981, S.121. M. Murko: Die slawische Philologie in Deutschland. Ein Programm. In: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 12, 1918, Sp.225-253 und Sp.295-320.
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Die Neuordnung der europäischen Staatenwelt nach dem Ersten Weltkrieg hatte bekanntlich auch zur Bildung neuer slawischer Nationalstaaten bzw. auch Mehrvölkerstaaten geführt, die ganz offensichtlich in Deutschland und auch in anderen europäischen Ländern ein verstärktes Interesse für Ost- und Südosteuropa zur Folge hatten. Dies veranlasste Heinrich Felix Schmid und Reinhold Trautmann dazu, „Wesen und Aufgaben der deutschen Slavistik“ in einer 1927 veröffentlichten Schrift darzustellen.7 Dort heißt es u.a., dass der deutsche Slawist neben seiner Aufgabe als Forscher noch eine weitere Verpflichtung habe, nämlich zwischen der deutschen und slawischen Geisteshaltung zu vermitteln, Ergebnisse slawischer Kulturarbeit der deutschen Öffentlichkeit zu vermitteln. Die beiden Verfasser der Schrift vertraten auch die Auffassung, dass manche Forschungsaufgaben slawischen Wissenschaftlern überlassen werden sollten, da diese vielfach die größere Sachkenntnis hätten. Der nichtslawische, in diesem Falle der deutsche Slawist habe andererseits weniger gefühlsmäßige Hemmungen, wenn es z.B. um die Einwirkung der polnischen Literatur auf die der Ukraine gehe. Die beiden Verfasser der Programmschrift zielten darauf ab, dass das bisherige gegenseitige Missverstehen zwischen Deutschen und Slawen abgebaut würde, was vor allem für das Verhältnis zu den in Deutschland lebenden Sorben gelte, ebenso aber auch für die Kaschuben, die durch die staatspolitischen Veränderungen nach dem Ersten Weltkriege nicht mehr als preußische und damit deutsche Bürger galten, sondern von polnischer Seite als polnischstämmige Bürger betrachtet und behandelt wurden. Die von weiten Kreisen in Deutschland nicht akzeptierten Gebietsverlusten in der Folge des Friedensvertrages von Versailles waren vor allem die Einrichtung eines „Korridors“ für Polen als Zugang zur Ostsee sowie die Stellung Danzigs als einer „Freien Stadt“ u.a. auch mit einer eigenen Währung. Zusammenfassend heißt es daher bei H.F. Schmid und R. Trautmann: „Zu der Rolle eines deutschen Slawisten ist nur der berufen, der von aller politischen und nationalistischen Stellung des Slawentums absieht und sich Manns genug fühlt, auch solche Probleme wissenschaftlich anzuführen, die Kreisen des deutschen Volkes mit besonderen wirtschaftlichen und politischen Aspirationen unsympathisch sind. Denn wir glauben, dass ein Geisteswissenschaftler solcher Richtung, wie wir den deutschen Slawisten sehen möchten, auf jede Erkenntnis der eigentümlichen Geistesstruktur des Slawentums verzichtete, wenn er den slawischen Völkern eine Antipathie entgegenbringt, die vorgefassten Meinungen entgegenarbeitet.“8 Trautmann hat mehrfach bewiesen, dass er sich an diesen Grundsätzen ausgerichtet hat, nicht nur im Bereich seiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit, sondern auch zusammen mit Vasmer als Herausgeber des „Grundrisses der Slavischen Philologie und Kulturgeschichte“, wo eine ganze Reihe von Übersetzungen slawischer Monographien erscheinen konnte, die für einen breiteren Leserkreis – interessiert an Ost- und Südosteuropa, gedacht waren. In der Reihe erschienen also nicht nur philologische Themen wie die Geschichte der bulgarischen oder pomoranischen Sprache, sondern auch Abhandlungen zur Kunstgeschichte und zur Wirtschaftsgeschichte: 1. 2. 3. 4.
7 8
Friedrich Lorentz: Geschichte der pomoranischen (kaschubischen) Sprache. 1925. E.Karskij: Geschichte der weißrussischen Volksdichtung und Literatur. 1926. Dmitrij Zelenin: Russische (ostslavische) Volkskunde. 1927. Josef Schranil: Die Vorgeschichte Böhmens und Mährens. Mit einem Ergänzungskapitel über die ältere Steinzeit von Hugo Obermeier.
Erschienen als Band 1 der „Slavisch-baltischen Quellen und Forschungen“. Dass., S.10.
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5. 6.
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Ivan Sakazov: Bulgarische Wirtschaftsgeschichte. Aus dem Bulgarischen übertragen von Otto Müller-Neudorf. Stefan Mladenov: Geschichte der bulgarischen Sprache. 1929.
Der von Vasmer und Trautmann herausgegebene „Grundriß der slavischen Philologie und Kulturgeschichte“ stellte sich die Aufgabe, der in Deutschland und auch sonst in Westeuropa herrschenden mangelhaften Kenntnis der slawischen Länder abzuhelfen. Vorgesehen wurden für diese Reihe Abhandlungen zu den Sprachen (Sprachgeschichte und Mundartenkunde), zur Volksdichtung, Literaturgeschichte, Volkskunde, Kunstgeschichte, Musikgeschichte, Geographie, Urgeschichte, Staaten- und Wirtschaftsgeschichte, Kirchenund Rechtsgeschichte aller slawischen Länder. Dass dieses groß angelegte Programm nur zu einem kleinen Teil verwirklicht werden konnte, versteht sich aufgrund der Zeitumstände. So ist offensichtlich nach 1933 nur noch Literatur zur bulgarischen Kunstgeschichte veröffentlicht worden, was sich durch die traditionell engen Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien auch nach 1933 erklären lässt. Die Reihe wurde vor einigen Jahren unter dem Titel „Slavischer Grundriß“ wieder aufgenommen, so konnte 1969 eine deutsche Übersetzung von Christo Vakarelskis „Bulgarischer Volkskunde“ erscheinen. In die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und vor 1933 gehören auch zwei Veröffentlichungen, die von der ukrainischen Emigration in Berlin herausgegeben wurden, nämlich die „Mitteilungen des Ukrainischen Wissenschaftlichen Instituts in Berlin“, deren erster Jahrgang 1927 erschienen war sowie die „Abhandlungen des Ukrainischen Wissenschaftlichen Instituts in Berlin“, deren erster Band 1928 erschien. In Prag wurde als berichtende und kritische Zeitschrift für das geistige Leben der slawischen Völker seit 1929 die „Slavische Rundschau“ von Franz Spina und Gerhard Gesemann herausgegeben. Die Zeitschrift sollte rasch, zuverlässig und auch kritisch über den damals aktuellen Stand des gesamten Kulturlebens aller slawischen Völker berichten, wie es seinerzeit aus der Sicht des Berliner Verlages de Gruyter hieß, bürgten die beiden Namen der Herausgeber, Dr. Franz Spina, damals Arbeitsminister der Tschechoslowakischen Republik und Dr. Gerhard Gesemann, beide Professoren der Slawistik an der Deutschen Universität Prag dafür, dass diese Zeitschrift den angekündigten Zweck erfülle. Der Verlag de Gruyter hatte sich bereits vor dem Zweiten Weltkrieg um die Popularisierung der slawischen Sprachen in Deutschland sehr verdient gemacht. So hatte er 1897 Erich Bernekers „Russische Grammatik“, sein „Russisches Lesebuch mit Glossar“ und sein „Russisch-deutsches Gesprächsbuch“ veröffentlicht. Die dritte Auflage der russischen Grammatik war verbessert von Max Vasmer 1927 erneut herausgegeben worden, ebenso auch das russisch-deutsche Gesprächsbuch, das von Vasmer gänzlich neu bearbeitet worden war. Erschienen waren in diesem Verlag auch eine „Serbokroatische Grammatik“, ein „Serbokroatisches Lesebuch mit Glossar“ von Vladimir Ćorović, alle im Jahre 1913 veröffentlicht. Hinzu kamen während des Ersten Weltkrieges noch Darstellungen der russischen Literatur von Erich Boehme, 1913 und 1914 erschienen sogar Lehrwerke zum Ukrainischen von Stefan Smal-Stockij unter dem Titel „Ruthenische Grammatik“ und „Ruthenisch-deutsches Gesprächsbuch“. 1920 und 1922 folgten Lehrwerke zum Tschechischen, nämlich eine „Tschechische Grammatik“ und ein „Tschechisch-deutsches Gesprächsbuch“, beide von Emil Smetánka verfasst, der als Professor an der böhmischen/tschechischen Universität in Prag tätig war. Anzuführen ist schließlich eine polnische Literaturgeschichte von Alexander Brückner im Jahre 1920 und eine polnische Grammatik, verfasst von Richard Meckelein und veröffentlicht im Jahre 1926. Der Verlag de Gruyter hatte mit diesen Veröffentlichungen in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg die wichtigeren slawischen Sprachen und Literaturen einem breiteren Publikum in Deutschland zugänglich machen können.
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Von Reinhold Trautmann, damals an der Deutschen Universität Prag, war 1920 ein „Polnisches Lesebuch“ veröffentlicht worden, das eine Auswahl polnischer Poesie und Prosa brachte. Das Lesebuch trug dem wohl gestiegenen Interesse an der Kultur des polnischen Nachbarn Rechnung, wenngleich dies Trautmann im Vorwort eher vorsichtig zum Ausdruck bringt: „Die Unvertrautheit mit allen r e s p o l o n i c a e hat sich im Weltkriege bitter am deutschen Volk gerächt. Eine Brücke zwischen deutschem und polnischem Empfinden zu schlagen – darauf kam schließlich alles an –, wäre damals dem größten Politiker nicht mehr möglich gewesen. Eine Welt von inneren Gegensätzen lag zwischen beiden Völkern. Auch in der Zukunft wird es schwer für den Deutschen sein, einen Zugang zur polnischen Seele zu finden.“9 Entsprechend diesem polnischen Lesebuch wurde eine Auswahl aus der neueren serbokroatischen Literatur zu einem Lesebuch von Karl Heinrich Meyer, damals noch Privatdozent an der Universität Leipzig und Anton Stojićević, Professor der serbokroatischen Philologie an der Universität Ljubljana zusammengestellt. Die Texte waren akzentuiert und mit einem vollständigen Wörterbuch versehen, so dass die Sammlung eher für akademische Zwecke vorgesehen war.10 Eine mehr politische Zielsetzung konnte der Leipziger Romanist und Balkanphilologe Gustav Weigand (1860-1930) mit seiner „Bulgarischen Bibliothek“ verfolgen, deren erster Band „Bulgarien – Land und Leute“ in deutscher Sprache von dem Sofioter Geographen Ischirkow herausgebracht wurde. Mit der „Bulgarischen Bibliothek“ sollte dem deutschen Publikum die Möglichkeit gegeben werden, sich über alle Gebiete des öffentlichen Lebens, über Geschichte, Ethnographie, Volkskunde, also alles spezifisch Bulgarische informieren zu können. Weigand lag es dabei fern, eine „Unterhaltungsbibliothek“ zu schaffen, die dem damals geltenden größeren Interesse beider Völker zueinander Rechnung getragen hätte, vielmehr sollten wissenschaftliche Leistungen von dauerndem Wert geschaffen werden, bestimmt sowohl für den gebildeten Laien als auch den Gelehrten. So erschien als vierter Band dieser Reihe 1917 eine Darstellung der bulgarischen Festbräuche von Michail Arnaudov, als neunter Band dieser Reihe wurden 1919 Penčo Slavejkovs gesammelten bulgarischen Volkslieder, aus dem Bulgarischen von Georg Adam übertragen, veröffentlicht. Immer wieder waren es die außenpolitischen Gegebenheiten, die offensichtlich zu einer stärkeren Beachtung der slawischen Völker im Deutschen Kaiserreich vor und während des Ersten Weltkrieges führten. So waren die Bulgaren ein vom Deutschen Reich mit der gebotenen Rücksicht behandelter Bündnispartner. Polen und Jugoslawien waren neben der Sowjetunion die wenigen slawischen Länder, bei denen es sich überhaupt zu lohnen schien, sich mit ihrer Kultur eingehender zu beschäftigen. Wie in den 1952 veröffentlichten „Beiträgen zur Ostforschung“ deutlich gemacht wurde, stand das „Dritte Reich“ den Fragen der Ost- und Volkstumsforschung außerordentlich aufgeschlossen gegenüber.11 Aber es waren keineswegs ideelle Motive, die den Anlass dazu gaben, und es war nicht nur der Wunsch, hier Wissenschaft um ihrer selbst willen zu fördern, sondern es war der Versuch, sich ihrer zu bemächtigen, um sie mehr und mehr für machtpolitische Zwecke nutzbar zu machen. Verständlich ist, dass eine jede Regierung, heißt es in den „Beiträgen zur Ostforschung“ weiter, ganz gleich welcher Ausrichtung, versuchen wird, aus der nationalen Wissenschaft, die von ihr finanziert und gefördert wird, auch entsprechenden Nutzen zu ziehen. Forschung befindet sich aber dann auf dem Abwe9 10 11
Polnisches Lesebuch, S.IV. Serbokroatisches Lesebuch. Akzentuierte Texte mit vollständigem Wörterverzeichnis. Göttingen 1927. G. v. Mende, W. Hoffmann, H. Koch: Beiträge zur Ostforschung.
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ge bzw. Irrwege, wenn bestimmte politische Ziele nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen untermauert werden sollen. 12 Und so lässt es sich auch genau verfolgen, wie die deutsch-bulgarischen Wissenschaftsbeziehungen in der Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1944 mehr und mehr politisch ausgerichtet waren. Der bulgarische Archäologe Bogdan Filov (1883-1945), in Freiburg promoviert, war u.a. Präsident der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften, dann Minister und seit 1940 bulgarischer Ministerpräsident. In seine Regierungszeit fällt der Beitritt zum Dreimächtepakt unter der Führung von Hitlerdeutschland. Nach dem Tod von Zar Boris III. am 28. August 1943 wurde er Mitglied des Regentschaftsrates für den minderjährigen Zaren Simeon II. Nach dem Einmarsch der Roten Armee in Bulgarien wurde er wegen seines deutschfreundlichen Regierungskurses gestürzt und am 1. Februar 1945 hingerichtet. 1938 war Filov zum korrespondierenden Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften gewählt worden, 1943 wurde er sogar Ehrenmitglied der Berliner Akademie. Ganz im Gegensatz dazu stand das Verhältnis zu Polen, das nach dem deutschen Überfall im September 1939 zunächst aufgehört hatte als Staat zu existieren. Die Berliner Akademie hatte 1938/39 mit Theodor Vahlen als Präsident eine nationalsozialistische Leitung aufgezwungen bekommen, zugleich wurden die Statuten der Akademie nach dem „Führerprinzip“ umgestaltet. 1935 war der Klassische Philologe Tadeusz Zielinski aus Warschau auf Vorschlag u.a. von Max Vasmer als korrespondierendes Mitglied gewählt worden. Nach der Okkupation Polens hatte Vahlen nun Zielinski aus der Liste der Mitglieder gestrichen, was zu schriftlichen Protesten Vasmers und des Klassischen Philologen Johannes Stroux führte, was bewirkte, dass Zielinski nunmehr weiter als korrespondierendes Mitglied der Akademie geführt wurde. Ein entsprechender Erlass des Reicherziehungsministers Bernhard Rust wurde Anfang 1941 dem Plenum der Berliner Akademie bekannt gegeben. Für Konflikte mit dem Nationalsozialismus gab die Slawische Philologie weniger Anlass als etwa die Osteuropäische Geschichte, wo Otto Hoetzsch in Berlin und Oskar Sacke in Leipzig aus politischen und weltanschaulichen Gründen ihre Lehrtätigkeit beenden mussten. In der Slawischen Philologie galt dies für Eugen Häusler an der Universität Königsberg, in Marburg für den Indogermanisten Hermann Jakobson, der bis 1933 auch die slawischen Sprachen in seine Lehrtätigkeit mit einbezogen hatte und im Rahmen der „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ seine Professur aufgeben musste und sich das Leben nahm. In vorbildlicher Weise hat an der Universität Berlin und in der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin Max Vasmer Forschung und Lehre im Bereich der Slawischen Philologie vertreten, ohne sich ideologisch anzupassen, während sich Gerhard Gesemann an der Deutschen Universität weitaus größeren Schwierigkeiten ausgesetzt sah. Eugen Häusler hatte sich 1930 an der Universität Königsberg für das Fach Slawische Philologie habilitiert. Das Thema seiner Habilitationsschrift war „Der Kaufmann in der russischen Literatur“, erschienen 1935 in Königsberg, eine Arbeit, in die sozialgeschichtliche Interessen sehr stark zum Vorschein kamen. 1931 wurde Häusler noch beamteter außerordentlicher Professor, wegen seiner Zugehörigkeit zur SPD und seinem Bekenntnis zur Sowjetunion, die er 1931 und 1932 besucht hatte, wurde er gemaßregelt und in den Ruhestand versetzt. Häusler war dann als Privatlehrer und Dolmetscher tätig und konnte erst nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges seine Lehrtätigkeit an der Universität HalleWittenberg wieder aufnehmen. Mit dem Beginn der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland war nicht nur die Idee des deutschen Nationalismus verstärkt aufgegriffen worden, sondern auch die Ideologie zunächst so verstanden worden, dass man einer Germanisierung slawischer Nachbar12
Dass.
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völker sehr distanziert gegenüberstand. Vielmehr sollte dem Deutschtum eine ganz außergewöhnliche, einmalige Rolle zukommen. So sprach Hitler davon, dass er es als Glücksfall betrachte, dass eine Germanisierung im Sinne Joseph II. von Österreich nicht durchgeführt werden konnte. Für Deutschland hielt es Hitler für besser, wenn ein Vermischungsprozess mit anderen Völkern vermieden werde. Wörtlich heißt es bei ihm in „Mein Kampf“: „Also nicht nur in Österreich, sondern auch in Deutschland selbst waren und sind die sogenannten nationalen Kreise von ähnlich falschen Gedankengängen bewegt. Die von so vielen geforderte Polenpolitik im Sinne einer Germanisation des Ostens fußte leider fast immer auf demselben Trugschluß. Auch hier glaubte man eine Germanisation des polnischen Elements durch eine rein sprachliche Eindeutschung desselben herbeiführen zu können. Auch hier wäre das Ergebnis ein unseliges gewesen: ein fremdartiges Volk in deutscher Sprache seine fremden Gedanken ausdrückend, die Höhe und Würde unseres eigenen Volkstums durch seine eigene Minderwertigkeit kompromittierend.“13 Bereits seit 1931 gab es in Berlin-Dahlem die so genannte „Publikationsstelle“ unter der Leitung des Historikers Albert Brackmann (1871-1952), die zur „Abwehr der polnischen Angriffe auf das preussisch-deutsche Geschichtsbild geschaffen worden war“14, wobei sich genauere Daten über die Anfänge dieser Einrichtung nicht mehr ermitteln lassen. „Die „Publikationsstelle“ gehört in eine Reihe mit anderen solchen Einrichtungen, u.a. auch den volksdeutschen Forschungsgemeinschaften, die seit Anfang der 30-er Jahre gegründet worden waren, um Volkstums- und Grenzlandfragen wissenschaftlich bearbeiten zu können. In einem Tätigkeitsbericht für die Jahre 1934 und 1935 heißt es zu den Aufgaben der „Publikationsstelle“ u.a.: „Die Zeiten sind vorbei, in denen jeder tun und lassen konnte, was er wollte. Wir setzen mit unserer wissenschaftlichen Forschung überall da ein, wo es gilt die Interessen des deutschen Volkstums zu stützen und zu fördern. Dabei müssen wir alle unsere wissenschaftliche Arbeit rationalisieren und bestimmen lassen von dem einen großen Gedanken: Wie kann ich mit meiner Arbeit dem Vaterlande dienen? Also politische Zielsetzung, aber wissenschaftliche Methode.“15 Um ein steuerbares und kontrollierbares Organ für die Erforschung der Völker und Staaten im Osten und Norden Europas zu haben, wurde 1938 die Zeitschrift „Jomsburg“ begründet16, die als Vierteljahresschrift von Johannes Papritz und Wilhelm Koppe zusammen mit Hermann Aubin/Breslau, Albert Brackmann/Berlin, Theodor Oberländer/Kiel, Walter Recke/Danzig, Fritz Rörig/Berlin, Fritz Scheel/Kiel und Hans Übersberger/Berlin durch den Verlag S. Hirzel in Leipzig veröffentlicht wurde. Die Gliederung der Beiträge erfolgte nach geographischen Gesichtspunkten, nämlich an erster Stelle „Deutscher Osten“, gefolgt von „Polen“, „Norden“ und „Baltikum“. Nur gelegentlich wurde diese vorwiegend historisch ausgerichtete Zeitschrift auch durch slawistische Beiträge ergänzt, z.B. im ersten Heft durch eine Besprechung von R. Trautmann zu dem von Adolf Stender-Petersen veröffentlichten Buch „Die Warägersage als Quelle der altrussischen Chronik“. In der Zeitschrift „Jomsburg“ wurde im Jahre 1937 durch Paul Diels/Breslau auch des verstorbenen polnischen Literaturwissenschaftlers Gabriel Korbut gedacht, ebenso wurde aber auch die polnische Sprachwissenschaft im Hinblick auf ihre Beschäftigung mit Schlesien näher beleuchtet. Anlass bot hierzu eine polnische Darstellung des Standes und der Zielsetzung der polnischen Wissenschaft, wobei auch ein Arbeitsprogramm veröffentlicht wurde, an dem auch 13 14 15 16
A. Hitler: Mein Kampf. Zweiter Band: Die nationalsozialistische Bewegung. München 1934. S.26-27. G. Camphausen: Die wissenschaftliche historische Russlandforschung im Dritten Reich 19331945.Frankfurt a. M. u. a. O. 1990, S.198. BARCH R. 153/48. Jomsburg zuletzt Heft 3 / 4 des Jahrganges 6, 1942, erschienen.
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der führende Krakauer Sprachwissenschaftler Kazimierz Nitsch mitgewirkt hatte. Ein dazu gehörender Arbeitsplan hatte folgende Ziele: 1. Grammatische Erfassung der Mundarten, 2. Schaffung eines schlesischen Sprachatlas, 3. Schaffung eines Wörterbuches des Wortschatzes der schlesisch-polnischen Mundarten, 4. Bearbeitung von Personen- und Familiennamen, 5. Sammlung mundartlicher Texte. Nitsch wurde nicht das erste Mal mit den polnischen Dialekten Schlesiens konfrontiert, bereits 1907 hatte er eine Abhandlung zu diesem Thema veröffentlicht. In der Zeitschrift „Jomsburg“ befasste sich auch der Breslauer Slawist Heinz Brauner mit den polnisch-tschechischen Beziehungen aus aktuellem Anlass heraus, Franz Doubek/Berlin stellte anlässlich des Erscheinens des Buches von A. Kleczkowski die deutschpolnischen sprachlichen und literarischen Beziehungen dar, das Werk war in polnischer Sprache in den Schriften der Krakauer Akademie 1935 erschienen und konnte nur im Rahmen einer Besprechung im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht werden. Widerspruch erregte der Atlas geographischer Namen des westlichen Slawentums von Stanisław Kozierowski, den H.-G. Ost/Berlin unter dem Titel „Polnische Ortsnamen bis SchleswigHolstein und Dänemark“ folgenden kritischen Anmerkungen unterzog: „Wenn Verf. in diesen historischen Namensformen Stützen seiner Polonisierungsversuche erblickt, dann hätte er allerdings besser getan, auf jede Quellenangabe zu verzichten, um damit seine Arbeit als das zu kennzeichnen, was sie ist: Eine willkürliche Übersetzungs- und Neuschöpfungsübung…“17 Im Hinblick auf solche polnischen Veröffentlichungen wurden 1936 Dissertationen, die sich mit Volkstumsfragen der deutschen Grenzgebiete befassten, einer besonderen Prüfung unterzogen. In einem entsprechenden Schreiben des Reichs- und Preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 19. August 1936 an die Hochschulverwaltungen der Länder hieß es: „Im Interesse der grenzdeutschen sowie der auslandsdeutschen Volkstumsfragen wird es öfters als zweckmäßig sich erweisen, wichtige Einzelfragen als Themen bei Dr.-Dissertationen zu stellen oder anzunehmen. Indessen ist es nicht immer angezeigt, dass die Arbeiten gedruckt oder weiterverbreitet werden. Es ist vielmehr in jedem Falle zu prüfen, ob nicht von dem Publikationszwange abgesehen werden müsse. Ich bestimme deshalb, daß wir alle Themen von Dr.-Dissertationen, die sich auf Volkstumsfragen, sowohl grenzdeutsche als auch auslandsdeutsche Grenztumsfragen und auch auf Auslandsangelegenheiten erstrecken, anzuzeigen sind. Die zur Promotion eingereichten und angenommenen Arbeiten sind mir sodann mit einer eingehenden Stellungnahme einzureichen, ob von dem Zwange der Veröffentlichung abgesehen werden soll.“18 Ein ganz konkreter Fall lag mit einer der Universität Greifswald vorliegenden Dissertation zum Thema „Die Orts- und Flurnamen des Kreises Lauenburg in Pommern“ von Kurt Zinn vor, die im Hinblick auf die polnische Propaganda „für politisch“ unerwünscht erklärt wurde. Die Dissertation wurde in der Tat nicht veröffentlicht und ist damit für die Sprachwissenschaft und Namenkunde verloren. Eine ähnliche Entwicklung war mit der Promotion von Werner Fast an der Universität Berlin verbunden, die zu dem Thema „Beiträge zum Kaschubischen Sprachatlas“ unter Anleitung von Max Vasmer entstanden war, am 16. Ap17 18
BARCH R 153/1412 – Kaschubenforschung von Kurt Zinn. Verzeichnis der Hochschulschriften.
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ril 1940 von der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin angenommen worden war, aber nicht veröffentlicht werden durfte. Das Hochschulschriftenverzeichnis bringt dazu den Vermerk „In Bibliotheken nicht vorhanden.“19 In der „Publikationsstelle“ hatte man sich immer wieder auch mit den Neuerscheinungen in polnischer Sprache befasst. Dies war der Fall mit Aleksander Majkowskis „Geschichte der Kaschuben“, die unter dem Titel „Historia Kaszubów“ erschienen war und 1991 eine Neuauflage erlebte. Parallel zu Majkowski hatte der deutsche Slawist Friedrich Lorentz (1870-1937) im Jahre 1926 eine „Geschichte der Kaschuben“ herausgegeben, die aber von polnischer Seite, nämlich von Jan Karnowski als eine „Geschichte des Deutschtums in der Kaschubei“ bezeichnet wurde. In seinem 1911 in Berlin veröffentlichten Buch „Von einem unbekannten Volk in Deutschland, ein Beitrag zur Volks- und Landeskunde der Kaschubei“ hatte Ernst Seefried-Gulgowski darauf hingewiesen, dass der damals regierende deutsche Kaiser Wilhelm II. zugleich auch preußischer König, neben vielen anderen Titeln auch den eines Herzogs der Wenden und Kaschuben führte, ihm also eine besondere Fürsorgepflicht für diese slawischen Bewohner Preußens zukam. Über die Wenden oder Sorben war man damals gut unterrichtet, die Kaschuben waren aber dem breiteren Publikum kaum dem Namen nach bekannt.20 1947 hatte der Göttinger Slawist Maximilian Braun festgestellt, dass man mit dem Kaschubischen ein Gebiet der slawischen Sprachwissenschaft vor sich habe, das „praktisch bedeutungslos“ sei, „theoretisch aber manche schwierige und interessante Aufgabe stelle.“21 Im selben Jahr 1947 spricht der Leipziger Slawist Reinhold Trautmann davon, dass seit Jahrhunderten das Kaschubische immer mehr eingeengt worden sei, und zwar einerseits durch die Deutschen, andererseits durch die Polen. Sowohl die polnische als auch die deutsche Slawistik hat sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts sehr intensiv mit dem Kaschubischen, darüber hinaus aber auch mit der Geschichte und Kultur der Kaschuben befasst. Waren es auf polnischer Seite mehrere Sprachwissenschaftler, so war es in Deutschland eigentlich nur Friedrich Lorentz, der sich mit dieser westslawischen Sprache wissenschaftlich befasste. Lorentz war auch Herausgeber der „Mitteilungen des Vereins für Kaschubische Volkskunde“, einer Vereinigung, die er zusammen mit J. Gulgowski und anderen begründet hatte. In allen seinen wissenschaftlichen Arbeiten hat es Lorentz vermieden, irgendeine politische Position zu beziehen, insbesondere auch in seiner 1925 erschienenen „Geschichte der pomoranischen Sprache“. Seine in polnischer Sprache abgefasste „Gramatyka pomorska“ war 1927 und 1937 in Posen erschienen, 1952 in Breslau neu aufgelegt worden, wenige Jahre später folgte sogar noch eine dritte Auflage dieser Grammatik. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1910 behandelte Lorentz die Frage der kaschubischen Stammesnamen22, 1933 waren die kaschubischen Ortsnamen und ihre Ableitungen Thema eines Aufsatzes von Lorentz23. Eine allgemein verständliche „Kaschubische Grammatik“ hatte Lorentz 1919 in Danzig veröffentlicht, sie sollte auch dem nicht sprachwissenschaftlich Gebildeten die Bekanntschaft mit dieser Sprache vermitteln, zugleich aber auch eine von den Zufälligkeiten und Besonderheiten der Dialekte losgelöste, also über den Dialekten stehende Norm aufstellen. Gedacht war von Lorentz auch an eine Verwendung seiner Grammatik als Grundlage für einen kaschubischen Sprachunterricht, über den sich aber keine Informationen finden ließen.24 Damit ist aber keineswegs 19 20 21 22 23 24
M. u. a. O. 1990, S.198.Verzeichnis der Hochschulschriften. E. Seefried-Gulgowski: Von einem unbekannten Volke in Deutschland, ein Beitrag zur Volks- und Landeskunde der Kaschubei. Berlin 1911. M. Braun: Grundzüge der slawischen Sprachen. Göttingen 1947. S.9. In: Mitteilungen des Vereins für kaschubische Volkskunde 1, 1910, S.55-60. Die kaschubischen Ortsnamen nebst Ableitungen. Berlin 1933. BARCH R 153/1312 – Plan eines etymologischen Wörterbuches für die slawischen Ortsnamen Pommerns.
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umfassend die wissenschaftliche Tätigkeit von Friedrich Lorentz dokumentiert, die bereits Ende des 19.Jahrhunderts mit Veröffentlichungen bei der Petersburger Akademie ihren Anfang nahm und die seit 1933 auch die offiziellen Stellen in Berlin-Dahlem ausführlich beschäftigten25. Im Jahre 1934 wurde bei der Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft erstmals der Plan eines etymologischen Wörterbuches für die slawischen Ortsnamen Pommerns erörtert, ein Unternehmen, mit dem in Deutschland nur Friedrich Lorentz betraut werden konnte. Hierzu heißt es in den Bemerkungen Brackmanns u.a.: „Vor der Inangriffnahme des Vorhabens gilt es auch, die Frage endgültig zur Entscheidung zu bringen, ob politische Bedenken dagegen geltend gemacht werden können. In den bisher darüber stattgefundenen Besprechungen haben sich bekanntlich die Herren Professoren Reche, Vasmer u.a. für die Durchführung des Planes eingesetzt und die Bedenken nicht geteilt. Ich möchte trotzdem darüber hinaus bindende schriftliche Erklärungen herbeiführen.“26 Am 2. Juli 1934 hatte sich Brackmann gegenüber dem preußischen Innenministerium zur „Kaschubenfrage“ u.a. wie folgt geäußert: „Die Notwendigkeit, die Kaschubenfrage durch fortgesetzte wissenschaftliche Behandlung stets wach zu halten und den Unterschied zwischen Polen und Kaschuben zu unterstreichen, ist sich die Publikationsstelle seit ihrer Gründung bewußt gewesen. Angesichts der Lage im Korridor ist entscheidendes Gewicht darauf zu legen, daß der wissenschaftlich wohl begründete Unterschied zwischen Polen und Kaschuben nicht nur der deutschen Wissenschaft, sondern weitesten Kreisen des deutschen Volks bewußt wird. Die Trennung zwischen Kaschuben und Polen liegt wohl auf sprachlichem wie politischem Gebiet. Sprachlich hat diese Trennung der ausgezeichnete und auf deutscher Seite beinahe einzige Sachkenner Prof. Lorentz-Zoppot in seiner kaschubischen Grammatik erwiesen. Er hat eine m.E. vorerst ausreichende Geschichte der Kaschuben geschrieben, wenn auch die Trennungslinie zwischen Kaschuben und Polen vielleicht noch schärfer herausgearbeitet werden kann… …Um die einzigartige Sachkennerschaft des Prof. Lorentz-Zoppot, nach Möglichkeit auszuwerten, ist die Publikationsstelle bezw. Nordostdeutsche Forschungsgemeinschaft dazu übergegangen, ihm größere Forschungsaufträge zu erteilen. Es wird in diesem Frühjahr in Angriff genommen werden: ein Wörterbuch der kaschubischen Frage, das für den Unterschied zwischen dem Kassubischen und Polnischen zeugen und zugleich das absterbende Sprachmaterial absichern wird und ein Lexikon der slawischen Ortsnamen in Pommern, von dem u.a. der Beweis zu erhoffen ist, daß die Namensformen pomeranisch-kassubisch, nicht aber polnisch sind. U.E. hat es bisher an wirksamer Unterstützung der Kaschubenforschungen von amtlichen deutschen Stellen nicht gefehlt. Insbesondere hat das Reichsministerium des Innern (durch das Ostland-Institut in Danzig, den Westpreußischen Geschichtsverein und auch sonst) die einschlägigen Arbeiten nach Bedarf unterstützt. Die Ergebnisse der philologischen Untersuchungen über das Verhalten der pomeranisch-kassubischen Sprache zum Polnischen, die Herr Prof. Lorentz in seiner kaschubischen Grammatik festgelegt hat, sind eindeutig und nicht mehr anzuzweifeln. Durch sie ist erwiesen, daß das Kaschubische nicht ein Dialekt des Polnischen ist, sondern neben diesem eine besondere Stelle im West-Slawischen einnimmt. Nur eine Frage ist bis 25 26
BARCH R 153/1312 – Plan eines etymologischen Wörterbuches für die slawischen Ortsnamen Pommerns. BARCH R 153/1312 – Plan eines etymologischen Wörterbuches für die slawischen Ortsnamen Pommerns.
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heute noch ungeklärt geblieben, ob die Sprache der Slawen zwischen Elbe und Oder und dem Kaschubischen zusammen eine engere Einheit gegenüber dem Polnischen bildet oder ob das Kaschubische gleichberechtigt neben ihr und dem Polnischen als dritter besonderer Sprachstamm anzusehen ist. Im Augenblick kann m.E. an dieser Frage nur dadurch weitergearbeitet werden, daß Forschungen wie die oben angegebenen unternommen werden, damit die bisherigen Erkenntnisse weiter vertieft und noch besser unterbaut werden. Zugleich wird durch die erneute Publikation die Kaschubenfrage wachgehalten und werden von uns die jetzt noch zur Verfügung stehenden, ausgezeichneten Kenntnisse des Herrn Prof. Lorentz ausgenutzt. Durch eine streng wissenschaftliche Form der Bearbeitung wird nicht nur jede Möglichkeit einer Verletzung der Gebote deutsch-polnischer Annäherungspolitik ausgeschaltet, vielmehr werden ernsthafte Forscher aus dem polnischen Lager den wissenschaftlichen Wert der Arbeit nur anerkennen können und die Publikation begrüßen.“27 Max Vasmer widmete dem am 29. April 1937 verstorbenen Friedrich Lorentz in der von ihm begründeten und herausgegebenen „Zeitschrift für slavische Philologie“ einen Nachruf, in dem es u.a. hieß, dass die deutsche Slawistik in Lorentz einen Forscher verliere, dessen Name nach dem Ausspruch des polnischen Sprachwissenschaftlers K. Nitsch eng verbunden bleibe mit seinen erschöpfend wissenschaftlichen Forschungen gegen alle kaschubischen Mundarten.28 Weiter führte Vasmer aus, dass die Ortsnamenforschung schon früh zu den Lieblingsstudien von Lorentz gehörte, und er gerade hier das Verdienst habe, dafür gesorgt zu haben, dass auf dem von ihm bearbeiteten Gebiet der Dilettantismus zuerst weiche musste.29 Wie sachlich Lorentz die Probleme der Kaschuben und ihrer Kultur angegangen war, zeigte auch eine Abhandlung zur älteren kaschubischen Literatur aus dem Jahre 1898, wo er deutlich macht, wie schmal die literarische und damit auch schriftsprachliche Basis für das Kaschubische eigentlich aussah.30 Welche Politik die Nationalsozialisten gegenüber den Kaschuben verfolgten, wird deutlich, wenn man sich die Darlegungen nicht nur der „Publikationsstelle“, sondern auch anderer offizieller Stellen nach dem Angriff auf Polen vornimmt. Bis 1939 ging es ganz offensichtlich nur darum, die Zuordnung des Kaschubischen zum Polnischen und damit auch der Kaschuben zu Polen aus wissenschaftlicher Sicht abzuwenden. Dazu waren alle sprachwissenschaftlichen Forschungen willkommen, die entsprechende Ergebnisse aufzuweisen hatten. Wurde das slawische Element im deutschsprachigen Raum zu deutlich, griff man einfach zum Publikationsverbot wie in den Fällen Zinn und Fast. Eine sehr ernste Situation war für die Kaschuben mit den Richtlinien zur Behandlung der Masuren, Schlonsaken, Oberschlesier und Kaschuben entstanden, die am 8. September 1939 von der Volksdeutschen Mittelstelle bekannt gegeben wurden: „Die augenblickliche Propaganda erfordert es, folgenden vier Bevölkerungsgruppen, nämlich den Masuren im Regierungsbezirk Allenstein, den Schlonsaken im Teschener Land, den „Oberschlesiern“ und den Kaschuben im nördlichen Pomerellen erhöhte sorgfältige Beachtung zu schenken. Die verschiedenartige Lage in volkspolitischer Beziehung mache es unmöglich, für diese vier Bevölkerungsgruppen allgemein geltende Grundsätze aufzustellen. Es kann nur gesagt werden, daß keine von ihnen als polnisch bezeichnet werden darf und daß es ebenso unklug ist, ihre Gebräuche und ihre von der umgrenzenden Bevölkerung sich abhebende Haussprache als slawisch zu bezeichnen. Überhaupt den Begriff „slawisch“ mit ihnen in der Öf27 28 29 30
BARCH R 153/1391 – Kaschubenfrage. M. Vasmer, in: Zeitschrift für Slavische Philologie XIV, 1937, S.241. Dass., S.241. Zur älteren kaschubischen Literatur, in: Archiv für Slavische Philologie 20, 1898, S.556-557.
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fentlichkeit in Beziehung zu bringen. Es scheint ferner nicht angebracht, diese vier Bevölkerungsgruppen als Mischstämmige oder ihre Sprache als Mischsprache zu bezeichnen, weil dadurch ein Minderwertigkeitsgefühl bei den Einzelnen hervorgerufen werden kann, welches sich auf dem Wege zum Deutschbewusstsein als unüberwindliches Hindernis entgegenstellen kann. Für die einzelnen Gruppen stellen sich die zu beachtenden Punkte wie folgt dar: Die K a s c h u b e n sind keine Polen. Man kann in ihnen die Reste der alten Pomeranen erblicken. Bei der Behandlung der Kaschuben müssen die Gegensätze zum Polentum, die sich immerhin als recht zahlreich darstellen, hervorgeholt werden. Auf lange Sicht muß einer derartigen Behandlung der Kaschuben allerdings eine ganz besondere Beachtung zugewandt werden, um nicht in die Rolle eines ganz besonderen – etwa gar slawischen Volkstums, hineinzudrängen, die einen Übergang zum Deutschtum, dessen Ansätze unzweifelhaft sowohl in der Vergangenheit wie in der Jetztzeit zu finden sind, zu verhindern. Bei den Kaschuben liegt die Vermutung nahe, den Begriff slawisch zu gebrauchen. Das muß unter allen Umständen unterbleiben. Wegen ihrer Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Kirche ist auch für ihr Siedlungsgebiet der Gegensatz polnisch-katholisch, deutsch-evangelisch unzutreffend. Bei Kartendarstellungen sind in ethnographischer und sprachlicher Beziehung die Masuren, Schlonsaken und „Oberschlesier“ ohne besondere Kennzeichnung immer dem deutschen Volks- und Sprachgebiet anzurechnen. Kaschuben können unter Umständen als solche genannt werden. Die vorstehenden Richtlinien empfehlen sich für Zeitungen, Zeitschriften, Broschüren usw. Da diese Richtlinien volkspolitischen Notwendigkeiten entspringen, ist bei wissenschaftlichen Arbeiten zu prüfen, ob ihre Veröffentlichung mit Rücksicht auf diese Richtlinien statthaft ist.“31 Eine zusammenfassende Bewertung aus nationalsozialistischer Sicht hat für die westslawischen Völker der Anthropologe und Ethnologe Otto Reche, damals an der Universität Leipzig, abgegeben. In seiner Darstellung der Anteile nordischer Rasse bei den Westslawen schreibt er im Jahre 1942: „Das Großdeutsche Reich hat das Westslawentum nun endgültig in seine Obhut genommen. Damit gewinnt auch die Frage nach dem rassischen Bestand dieser Völker für uns ein erhöhtes Interesse, denn wir müssen uns darüber klar werden, was wir an rassischen Werten vor uns haben, schon weil sonst ein wirklich sinnvoller Einsatz nicht möglich ist, vor allem aber um die notwendigen biologischen Grenzen gegen die uns fern stehenden Elemente ziehen zu können, die sich zahlreich genug im Slawentum finden.“ 32 Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde der rücksichtslose „Volkstumskampf“ gegen das polnische Volk, dann auch gegen andere, insbesondere ostslawische Völker zum politischen Prinzip erklärt. Der für den Warthegau zuständige Gauleiter A. Greiser sah das Ziel eines solchen Kampfes darin, dass die Deutschen „allesamt zu einem Herrenvolk“ werden müssten und forderte auch die Wissenschaft in den Dienst eines solchen Kampfes zu stellen. Auch die „Nationalsozialistischen Monatshefte“ erklärten, dass die Besatzungspolitik in Polen Probleme aufwerfe, die nur mit Hilfe der Wissenschaft gelöst werden könnten. In zahlreichen Varianten wurde daher auch die Funktion eines zu schaffenden Zentrums des Deutschtums im Warthegau als ein „Bollwerk am Ostwall des deutschen Geistes“, als „Vorposten des Großdeutschen Reiches auf der Wacht im Osten“ und in ähn31 32
BARCH R 153/280 – Untersuchungen über die nichtdeutschen Bevölkerungen… O.Reche: Stärke und Herkunft des Anteiles Nordischer Rasse bei den Westslawen, in: Deutsche Ostforschung, Leipzig 1942, S.58.
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lichen nationalsozialistischem Wortschatz entnommenen Wendungen beschrieben. In der Anfangszeit der am 27.April 1941 feierlich eröffneten „Reichsuniversität Posen“ sollte auch die Slawische Philologie durch Maximilian Braun und Paul Wirth vertreten sein. Für den Bereich der sorbischen Bevölkerung, Sprache und Kultur, der von Paul Wirth wissenschaftlich bearbeitet wurde, schien man sich aus der Sicht des Nationalsozialismus weniger Sorgen zu machen als für Polen, wenn es in einem 1938 erschienenen Konversationslexikon hieß, dass es sich bei den „Wenden“ um die slawische, „politisch völlig deutschgesinnte“ Bevölkerung in der Ober- und Niederlausitz handle.33 Schlägt man aber Reinhold Trautmanns in den „Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften“ in Leipzig erschienenen „Slawischen Ortsnamen Mecklenburgs und Holsteins“ auf, so fällt zunächst auf, dass es sich – für eine slawistische Spezialuntersuchung seltene Tatsache um eine zweite, verbesserte Auflage handelt, die im Jahre 1950 in Berlin erschienen ist. Das im Mai 1949 in Jena verfasste Nachwort schafft hier erste Klarheit: „Die vorliegende Arbeit lag im Sommer 1939 gedruckt vor und sollte ausgegeben werden, da wurde – es war in den ersten Wochen des für uns so unheilvollen Krieges – das Erscheinen durch den Erlaß des Reichsinnenministeriums in Berlin auf Verlangen der berüchtigten sog. „Publikationsstelle“ verboten. Das Buch, obwohl gar nicht erschienen, kam auf den nazistischen Index prohibitorum librorum, sollte in der Folge vernichtet werden, und obwohl dies verhindert werden konnte, erreichte es sein Schicksal: nicht der Gestapo, aber einem englisch-amerikanischen Fliegerangriff auf Neumünster fiel die Auflage zum Opfer: und da auch die Exemplare im Kieler Schloß verbrannten, so blieben nur zwei der Gestapo verheimlichte Exemplare übrig, die es mir aus meinem brennenden Haus in Leipzig zu retten gelang – dies Buch hat also wirklich sein besonderes „fatum“ gehabt. Auch das ist sein Fatum, dass es nunmehr zuerst in zweiter Auflage erscheint: ich habe recht reichlich verändert, zusammengestrichen, verbessert, vor allem mit Rücksicht auf die Ausführungen in meiner Abhandlung über die „Elb- und ostseeslavischen Ortsnamen.“34 Ende März 1938 hatte Trautmann in einem Schreiben an Brackmann mitgeteilt, dass er sein Manuskript „Die wendischen Ortsnamen…“ der Redaktion der Mecklenburgischen Jahrbücher in Schwerin eingereicht habe. Daraufhin erfolgte eine Anfrage der „Publikationsstelle“ beim zuständigen Mecklenburgischen Staatsministerium, die wiederum zu einer Rückfrage seitens des Reichsministeriums des Innern bei der Publikationsstelle führte. Im Juli 1938 verzichtete Trautmann auf die Veröffentlichung in den „Mecklenburgischen Jahrbüchern“. Am 5. September 1939 erfolgte das Verbot von Trautmanns Buch durch das Reichsministerium des Innern und am 3. Mai 1940 wurde Trautmanns Buch sogar in die Liste des „schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ aufgenommen.35 Noch am 25.Januar 1940 hatte sich der Leipziger Sprachwissenschaftler Theodor Frings in einem Schreiben an Brackmann gegen das Gutachten der „Publikationsstelle“ gewandt und um die Freigabe des Buches von Trautmann für Fachforscher gebeten: „Ich habe im Sommer 1939 eine Reihe von älteren und jüngeren Forschern, Ausländern und Deutschen, im Germanistischen Institut der Universität Leipzig zu regelmäßigen Sitzungen zusammen gebeten, in denen über die Ergebnisse der Ortsnamenforschung in den wichtigsten europäischen Ländern und Sprachzonen, immer von Fachleuten, gehandelt wurde. Die grundsätzlichen Ergebnisse seines Buches hat 33 34 35
Vgl. Taschenbrockhaus zum Zeitgeschehen. Leipzig 1940, wo die Sorben bzw. Wenden überhaupt nicht mehr genannt werden. R. Trautmann: Nachwort zu den „Wendischen Ortsnamen…“ o.S. BARCH R 153/1258 – Reinhold Trautmann
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Prof. Trautmann bei dieser Gelegenheit vor einem großen Kreis von zuständigen Forschern vorgetragen. Er hatte die ursprünglichste Leistung und den stärksten Eindruck zu verzeichnen. Die Ergebnisse sind für die allgemeinen Fragen der Siedlungsund Ortsnamenforschung so wichtig, daß ich das Verbot des Buches auf das tiefste bedauere. Einem wesentlichen und entwicklungsbedürftigen Zweig der nationalen Wissenschaft ist schwerer Schaden zugefügt.“36 Bereits am 26. April 1937 wurde im Reichsministerium des Innern in Berlin der so genannte „Wendenerlaß“ beschlossen, der in acht Punkten Richtlinien für die weitere Behandlung der sorbischen Bevölkerung, ihrer Sprache und Kultur festlegte: 1. Es gibt keine „Sorben“ oder „Lausitzer“ im Deutschen Reich, sondern nur Wenden oder wendisch sprechende Deutsche. 2. Die Wenden bilden keine eigene Nationalität, sondern stellen ein Volk dar, das teilweise eine slawische Sprache innerhalb des deutschen Volkes und Staates spricht. 3. Es gibt keine „Wendei“ und kein wendisches Siedlungsgebiet. Die Bezeichnung „wendische Sprachregion“ ist zu vermeiden. Sollte trotzdem die Notwendigkeit bestehen, eine Bezeichnung zu gebrauchen, so sollten Bezeichnungen wie „Ober-„ oder „Unterlausitz“ oder Spreewald verwendet werden. 4. Das Auftreten wendisch Sprechender, wendischer Tracht und anderer Manifestationen wendischen Brauchtums sind kein Hinweis auf eine nichtdeutsche Nationalität. Die Kultivierung wendischer Tracht in gegebenen Grenzen ist durchaus zulässig. Die wendische Sprache verschwindet aufgrund natürlicher Prozesse. 5. Eine kleine Gruppe in Sachsen versucht die Wenden von der deutschen Nation als eigenes „Sorbisches Volk“, als ausländische nationale Gruppe abzuspalten. Solche Bestrebungen werden unterstützt von der Tschechoslowakei, Polen, Jugoslawien und Frankreich. Es ist daher empfehlenswert, dass die „Wendische Frage“ im Reich nicht in der Öffentlichkeit weder publizistisch noch wissenschaftlich erörtert wird. 6. Fragen, die aufgrund allgemeiner wissenschaftlicher Erfordernisse behandelt werden müssen, sollen nicht veröffentlicht werden, oder nur für den internen Gebrauch bestimmt sein. 7. Die Behandlung der „Wendenfrage“ kann nicht vermieden werden in Zusammenhang mit akademischen Studien in Ostdeutschland, Sachsen, Brandenburg und Schlesien. In solchen Studien sollte nachdrücklich auf den Zusammenhang mit der Geschichte und dem Brauchtum des deutschen Volkes verwiesen werden. 8. Wenn, ganz gleich aus welchem Grunde, z.B. wegen feindlicher Studien zu Hause oder im Ausland es notwendig ist, letztere zu widerlegen oder das Thema zu studieren, wird nachdrücklich empfohlen, das Manuskript vor der Veröffentlichung an die Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft zu senden, die im Gegenzug bereit ist, den Kontakt mit den zuständigen Behörden aufzunehmen.37 Noch am 30. August 1933 war im Ergebnis einer „Wendenbesprechung“ der Sächsischen Staatskanzlei und des Auswärtigen Amtes zur Vorsicht gegenüber den Sorben, insbesondere im Hinblick auf die deutschen Minderheiten im Ausland geraten worden: 36 37
BARCH R 153/1258 – Reinhold Trautmann Nach M. Burleigh: Germany turns eastwards. Cambridge 1994. S.122-123.
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„…daß im Interesse der deutschen Minderheiten in Europa eine tolerante Politik auch gegenüber den Wenden geboten sei. Um das Deutschtum im Ausland möglichst vor Schaden zu bewahren, sei es der Mühe wert, im Reich gegenüber den nationalen Minderheiten Opfer zu bringen. Bei allen Maßnahmen gegenüber den Wenden müsse berücksichtigt werden, daß diese schwerwiegende Rückwirkungen zum Nachteil der deutschen Volksgruppen im Auslande zeitigen könnten. Wenn sonach auch das Vorgehen gegen die wendischen Hetzer in Sachsen gebilligt werden könne, so sei doch manches in Sachsen geschehen, was vom Auslande als Germanisierung gedeutet werden könnte, die der Herr Reichskanzler in seiner bekannten Rede abgelehnt habe.“38 Mit einem Erlass des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 26. November 1940 wurde sogar die Umsiedlung sorbischer Lehrer in den westlichen Teil des Deutschen Reiches angeordnet. Es war auch die Rede von Geistlichen, die wie einige Lehrer als leitende Persönlichkeiten der „Wenden“ betrachtet wurden: „Seit seiner Ansiedlung in den zum großen Teil von ihm noch heute bewohnten Gebieten hat sich das Wendentum jahrhundertelang seine volkliche Eigenständigkeit innerhalb des deutschen Volkes erhalten. Wenn auch heute eine politische Wendenbewegung nicht mehr vorhanden ist, so betreiben die Wenden doch noch eine rege Kulturarbeit (Sprachwissenschaft, Volkstumspflege, Kirche), die geeignet ist, eine endgültige Lösung des Wendenproblems zu verhindern. Als die führenden und aktivsten Elemente dieser Arbeit betätigen sich vor allem die wendischen Lehrer und Pfarrer, die mit ihren Erziehungsmethoden und ihrer starken Einflußnahme die Voraussetzungen für die wendisch-nationale geistige Grundhaltung der Wenden bestimmen und stets als Vertreter der wendischen Belange in den Vordergrund treten. Der Reichsführer SS und Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums hält es daher für unbedingt erforderlich, daß diesen aktiven Förderern des Wendentums die Möglichkeit für ihre prowendische Tätigkeit genommen wird, was sich nur durch eine dienstliche Versetzung, und zwar am zweckmäßigsten nach Westdeutschland, der in Frage kommenden Personen erreichen läßt. Besonders die derzeitige Kriegslage hält der Reichsführer SS zur Durchführung derartiger Maßnahmen für günstig, da sich gerade jetzt Versetzungen im dienstlichen Interesse ohne größere Schwierigkeiten begründen ließen. Hierbei müsse jedoch strengstens beachtet werden, daß diese Versetzungen unter keinen Umständen in diejenigen westdeutschen Gebiete erfolgen dürfen, in denen fremdvölkische, besonders polnische Minderheitengruppen sind (Ruhrgebiet).“39 Im Weiteren werden in diesem Erlass insgesamt 25 Lehrer namentlich mit ihrem Dienstort genannt, deren Versetzung unbedingt durchzuführen sei. Zu dieser Maßnahme kam es allerdings nicht mehr, da Hitler selbst der Meinung war, dass die Unruhe, die durch die Versetzung sorbischer Lehrer und Pfarrer nach Westdeutschland entstehen würde, weitaus größer wäre als der Schaden, der dadurch entstünde, wenn sie an ihren Dienstorten in der Lausitz weiter tätig wären. Die Versetzung sorbischer Pfarrer und Lehrer wurde auf die Zeit nach dem Kriege verschoben.40 Dass den nationalsozialistischen Machthabern die nach wie vor ideologische Unabhängigkeit Max Vasmers sowohl in seinen eigenen wissenschaftlichen Arbeiten als auch in der Anregung und Leitung von Arbeiten seiner wissenschaftlichen Mitarbeiter nicht verborgen blieb, wird von Helmut Heiber deutlich gemacht, wenn dieser in seinem Sammelwerk 38 39 40
In: Geheim. Aus Geheimakten nazistischer Wendenpolitik. Bautzen 1960. S.7. M. Kaspar: Ein faschistischer Plan zur Aussiedlung sorbischer Lehrer, in: Letopis B 8 S.127-132. Dass., S.132.
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„Universität unterm Hakenkreuz“ in seine Bilder aus der „Akademischen Provinz“ auch die Slawistik mit einbezieht: „Und da versendet ein finnischer Gelehrter namens Nieminen eine Schrift mit dem Titel „Dr. Max Vasmers Urteilsfähigkeit“, die den berühmten Berliner Slawisten, Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften und einer Handvoll weiterer im In- und Ausland, falsche Zeugenaussage, Parteilichkeit, Sachunkenntnis und dergleichen mehr vorwirft – für den Kollegen Karl Heinrich Meyer in Münster Anlaß genug, im Dezember 1934 damit bei seinem Gauleiter vorzusprechen, die finnischen Vorwürfe zu bestätigen und mit einigen Angaben zur Vita Vasmers anzureichern: Noch im bolschewistischen Rußland Professor gewesen, nach Leipzig vom „marxistischen Minister Fleißner“, nach Berlin von Becker berufen und beim SPD-Minister Grimme hat er sich für Geldzuwendungen bedankt…“41 Wie gefährdet Reinhold Olesch und Reinhold Trautmann mit ihren slawistischen Forschungen waren, wird ebenfalls von Helmut Heiber deutlich gemacht: „…Oder bis zur »polnischen Dialektgrenze« im deutschen Osten, die der Greifswalder Lektor Reinhold Olesch zwar korrekt, aber instinktlos zu weit westlich und nördlich ermittelt hatte, und zu den »wendischen Ortsnamen Ostholsteins, Lübecks, Lauenburgs und Mecklenburgs«, die von dem Leipziger Slawisten Reinhold Trautmann erforscht und der Öffentlichkeit 1939 in einem schönen Buch präsentiert worden waren – leider hatte es verboten werden müssen, da dem Autor »jegliches politisches Feingefühl« abging.“42 Größere Schwierigkeiten ergaben sich für Vasmer mit Veröffentlichungen des Slavischen Institutes in Berlin, für die er aus wissenschaftlicher Sicht als Herausgeber verantwortlich war. In einem Schreiben des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda an die Universität Berlin heißt es kurz nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges am 29.September 1939: „In der letzten Zeit hat sich verschiedentlich die Notwendigkeit ergeben, gegen die von Professor Vasmer herausgegebene Schriftenreihe des Berliner Institutes für slavische Sprachen mit Verbotsmaßnahmen einzuschreiten. Die Behandlung der Minderheitenfrage war in diesen Schriften nicht immer mit der politischen Vorsicht durchgeführt worden, die bei einem derartig delikaten Stoff verlangt werden muß. In verschiedenen Unterredungen mit dem unterzeichneten Sachbearbeiter hat Professor Vasmer erklärt, daß er sich besonders bemühe, bestimmte Thesen und Forderungen der politischen Führung wissenschaftlich zu unterbauen. Es ist hier jedoch der Eindruck entstanden, als fehle es Herrn Professor Vasmer, der zweifellos durch die zahlreichen slavischen Volkssplitter, die sich im großdeutschen Raum befinden, ein besonders schwieriges Arbeitsgebiet hat, an der notwendigen politischen Übersicht. Es wäre daher zweckmäßig, wenn ihm von Ihnen aus zu Beginn des neuen Semesters die notwendigen politischen Direktiven gegeben würden. Sehr zu begrüßen wäre es, wenn Professor Vasmer mit der Volksdeutschen Mittelstelle, dem Bund Deutscher Osten und dem Minderheitenreferat beim Herrn Reichsminister des Innern in Verbindung gebracht werden könnte…“43 Bereits im August 1938 waren die von Reinhard Olesch, einem Schüler Vasmers veröffentlichten „Slawischen Dialekte in Oberschlesien“ beanstandet und die Frage aufgeworfen worden, ob etwas zur Zurückziehung dieser Schrift aus dem Buchhandel unternommen worden sei.44 41 42 43 44
H. Heiber: Universität unterm Hakenkreuz. Teil 1: Der Professor im Dritten Reich. Bilder aus der akademischen Provinz. München u.a.O.1991, S.323. Dass., S. 258. Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin/PA Vasmer, Max.Bd.2. Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin/Phil.Fak.n.45/Nr.44.
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Im Jahre 1945 hatte Max Vasmer einen persönlichen Fragebogen zu beantworten, den er am 11.Oktober 1945 unterzeichnete und in dem u.a. die Frage nach der Teilnahme an antifaschistischer illegaler Arbeit von 1933 bis 1945 gestellt wurde, von Vasmer mit folgenden Sätzen beantwortet wurde: „Meist privat, indem ich Juden und antifaschistische Deutsche förderte und Internierte aus Konzentrationslagern befreien half. In meiner Lehrtätigkeit, indem ich den Studenten Achtung und Liebe zu den geistigen Errungenschaften der Slawen beibrachte. In meiner Zeitschrift, indem ich mich nicht an die dummen Bestimmungen hielt.“ Vasmer führte bei dieser Gelegenheit auch aus, dass er keine „Parteigenossen“ als Assistenten gehabt habe, „auch kein Hitlerbild weder im Institut noch zu Hause, während der ganzen Zeit“. Auf die Frage, ob er oder Familienangehörige von der Hitler-Regierung wegen ihrer politischen Einstellung verfolgt, gemaßregelt oder bestraft worden seien, schrieb Vasmer: „Mehrere Verweise vom Kultusministerium wegen jüdischer Dissertation, wegen Abweisung faschistischer Habilitation. Mehrere von den Veröffentlichungen meines Instituts wurden verboten.“45 Offensichtlich in Zusammenhang mit diesem Fragebogen für die weitere Tätigkeit an der Universität Berlin im Herbst 1945 gab Vasmer auch eine Darstellung der Zeit zwischen 1933 und 1945 aus eigener Sicht als Ergänzung seiner Antworten: „Mit der NSDAP habe ich nichts zu tun gehabt, weil ich viel zu viel Respekt vor jeder Kultur hatte, zu gut das Ausland kannte und weder den nordischen Unsinn noch den Judenhaß mitmachen konnte. Meine Ansichten sind seit 1933 sehr vielen befreundeten Ausländern bekannt geworden, so z.B. Prof. Mazon – Paris, Unbegaun – Strassburg, Prof. Broch und Seip in Oslo, J. Horák – Prag, Nitsch-Krakau, LehrSpławiński und Semnowicz – Krakau, Ramovš – Laibach, aber auch die meisten Studenten wissen wohl von mir genug. Ich habe allen verfolgten jüdischen, slavischen, norwegischen u.a. Freunden in Deutschland beigestanden, wo ich konnte. Darüber wissen Prof. Hans Hecht (früher Göttingen…), Prof. Ernst Fraenkel (Hamburg…, früher Kiel) und die Ausländer oben. Seit 1933 habe ich keinen Augenblick an einem Schiffbruch des Nationalsozialismus gezweifelt. Meine Freunde in Berlin und anderswo habe ich unter Gleichgesinnten gehabt (bes. Kreis um Prof. Meinecke). Bei der Auswahl von Assistenten war ich besonders darauf bedacht, keine Pg‘s anzustellen. Ein Vortrag von mir 1941 über slav. Ortsnamen in der Mark Brandenburg wurde mehrfach verboten, mehrere Veröffentlichungen meines Instituts wurden ebenfalls vom Prop.-Min. unterdrückt. Meine wissenschaftlichen Arbeiten vor 1933 betrafen die griechisch-slav. (bis 1914) und die germanisch-slavischen Beziehungen. Dann trat die Ortsnamenforschung Russlands und der Balkanländer seit 1933 immer mehr in den Vordergrund. Mehrere dieser Arbeiten verfolgten die Spuren alter finnisch-ugrischer Namen in Russland (1932-1936). Sie haben teilweise bei finnischen Chauvinisten Verstimmung hervorgerufen. Meine größte Arbeit in den letzten Jahren umfaßte das Problem der Slaven in Griechenland im Mittelalter. Daneben befaßte ich mich mit dem Briefwechsel Grimms mit slavischen Gelehrten. Diese Arbeiten haben besonders in Jugoslawien interessiert… In Vorlesungen vertrete ich die ganze slavische Sprachwissenschaft und Literaturgeschichte. Ich treibe beides streng wissenschaftlich und habe meine Ansichten seit ca. 30 Jahren nicht revidieren müssen…Eine Politisierung der Wissenschaft habe ich immer gehasst, die Leistungen des Auslandes stets verfolgt und gern anerkannt. An meiner Zeitschrift haben noch nach 1939 tschechische, polnische, holländische und skandinavische Gelehrte mitgearbeitet.“46 45 46
Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin/U 7 – Max Vasmer. Dass.
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Im Jahre 1947 veröffentlichte Max Vasmer einen Forschungsbericht zum Stand der slawischen etymologischen Forschungen seit dem Ersten Weltkrieg, wo er u.a. folgendes auch in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus anführte: „Ein wendischer und ein kaschubischer Sprachatlas sind von unserer Akademie der Wissenschaften, dem Verbote solcher Forschungen durch den Nationalsozialismus zum Trotz in Angriff genommen worden. Den ersten bearbeitete der Berliner Dozent Dr. Paul Wirth, den zweiten Dr. W. Fast. Beide sind uns durch den unseligen Krieg geraubt worden, und für beide ist auch kein Ersatz da. Hoffen wir, daß das seit dem Friedensschluß verstärkte Interesse für slavische Dinge sich bei uns in einer regen Beteiligung an der wissenschaftlichen Forschung zeigt. Es gilt hier eine Tradition zu wahren, die seit den Leistungen A. Leskiens die ganze wissenschaftliche Welt beeindruckt hat und die heute zu schwinden droht.“47 Daß sich die Mehrheit der deutschen Slawisten, allen voran Max Vasmer, von der nationalsozialistischen Ideologie nicht beeinflussen ließ, ist über jeden Zweifel erhaben und wurde auch von Margarete Woltner in ihrem Nachruf auf Max Vasmer im Jahre 1963 nochmals deutlich gemacht: „Es kam die Nazizeit, die Sorge um jüdische Kollegen, das Verbot der Drucklegung jüdischer Autoren, die Verfügung, jüdische Autoren durch Zufügung jüdischer Vornamen kenntlich zu machen. Vasmer ließ sich nicht beirren, er veröffentlichte einen Aufsatz O. Burghardts über Heine (Zeitschrift für Slavische Philologie), den Kroatennamen aus einem germanischen Hroizgotar zu erklären, wies er „als ganz bombensicher falsch“ zurück (Zschr.Bd.13, 1936, S.329f.), er ließ über polnische Dialekte arbeiten, ohne sich zu überlegen, daß auch die Bearbeiter Olesch und Wirth dadurch gefährdet wurden. In dieser Zeit erregte es ihn stark, wenn er auf Versuche einer Politisierung der Wissenschaft auch bei anderen Völkern stieß.“48 Ein ideologisches Programm der NSDAP, das für die Slawische Philologie richtungweisend gewesen wäre, hat es ganz offensichtlich wie für andere Wissenschaftszweige hier nicht gegeben, wo etwa Walter Steller 1935 in der Abhandlung „Volkskunde als nationalsozialistische Wissenschaft“ entsprechende Ausführungen gemacht hat. Anzuführen ist lediglich eine Abhandlung des Slawisten Friedrich Wilhelm Neumann (1899-1979), die im Jahre 1938 unter dem Titel „Das Slawentum und die deutsche Slawistik“ erschienen ist49 und vom Autor, der in Königsberg und Greifswald, nach dem Kriege in Mainz als Lektor und dann als Professor für Slawische Philologie tätig war, mit den folgenden Überlegungen eingeleitet wird: „Wenn es auch in der Wissenschaft um die Lebenswirklichkeit des deutschen Volkes geht und wer raumpolitisch denken gelernt hat, dem muß sich als Kennzeichen des Kartenbildes des Deutschen Reiches vor allem aufdrängen: Im Westen und Süden verläuft die Reichsgrenze verhältnismäßig gradlinig, im Osten aber stößt die größere Hälfte des tschechoslowakischen Staatsgebietes als mächtiger Keil weit nach Westen vor, nördlich davon schneidet die Landmasse Polens, gleichfalls mit ausgeprägter Ausbuchtung gegen Westen, Ostpreußen vom übrigen Reich ab. Hier kann also nicht mehr von bloßen „Nachbarstaaten“ die Rede sein, hier liegt eine weit engere Berührung des deutschen Lebensraumes mit dem der genannten slavischen Staaten vor. Fügen wir noch hinzu, daß mit der Heimkehr Österreichs das Reich auch an Jugos47 48 49
M. Vasmer: Forschungsbericht: Die slavische etymologische Forschung seit dem Ersten Weltkriege, in: Deutsche Literaturzeitung 1947, H.2, Sp.11. M. Woltner: Max Vasmer+, in: Zeitschrift für Slavische Philologie XXXI, 1963, H.1, S.1-21 m.e. Schriftenverzeichnis. F.W. Neumann: Das Slawentum und die deutsche Slawistik, in: Geist der Zeit – Wesen und Gestalt der Völker 16.Jhg. H.9, S.614-620.
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lawien grenzt, erinnern wir schließlich daran, daß im ungeheuren Problem „Russland“ die Auseinandersetzung zumindest einer Generation beschlossen liegt, so erübrigt sich wohl jedes weitere Wort über Rolle, Bedeutung, Gewicht des Slaventums für Deutschland und damit für die deutsche Wissenschaft.“50 Im weiteren Verlauf dieser Abhandlung wird das Volk als „rassisch bedingte, geschichtlich gewordene leiblich-geistig-seelische Wirklichkeit“ aufgefasst und daraus die Notwendigkeit abgeleitet, über die Muttersprache hinaus auch „fremde Sprachen“ zu verstehen. Der liberalistischen These, dass Größtes und Kleinstes, Nächstes und Fernstes als gleichrangige Forschungsgegenstände behandelt werden können, werden von Neumann die nationalsozialistischen Wissenschaftsauffassungen gegenübergestellt: „Ein dynamischer Vorgang ungeheuren Ausmaßes, den die deutsche Wissenschaft nur in Zusammenarbeit mit der Slawischen Philologie bewältigen könne, stelle die „Ostwanderung deutschen Blutes und Geistes“ seit dem frühen Mittelalter dar, so daß es deutsche Lebensvorgänge seien, denen der Slawist nachzugehen hätte. Neumann spricht sich dafür aus, auch die slawische Volkskunde in die Slawistik mehr und mehr einzubeziehen und schließt seine Abhandlung mit folgenden Bemerkungen: „Insgesamt sind die Aufgaben einer Slawenkunde als einer umfassenden Kulturwissenschaft so große, zudem, wie wiederholt sei, arbeitstechnisch so verschiedenartig, daß Forscher verschiedener Arbeitsrichtung zu ihnen auf Jahrzehnte hinaus Arbeit in Fülle finden. Auch handelt es sich unbestreitbar um Aufgaben und Zielsetzungen, deren jede der deutschen Wissenschaft förmlich vor den Füßen liegt, so daß sie darüber stolpern könnte. Sie müssen also aufgegriffen werden, schon um der deutschen Wissenschaft willen, fruchtbar werden kann hier allerdings nicht der reine abgelöste Intellekt, vielmehr nur der im vollen Menschentum gründende Geist. Dieser Satz ist noch nicht Allgemeingut der deutschen Slavistik. Erlebnisfähigkeit, Einfühlungsvermögen, ein mit dem Sinn für Maß und wissenschaftliche Zucht begabter Instinkt sind unerläßliche Eigenschaften eines Auslandskundlers, der mehr erzielen will als sprachwissenschaftliche Formeln: Du sollst nicht töten, sondern lebendig machen.“51 Demnach wollte Neumann zwar die rassischen Unter- und Hintergründe des „bolschwistischen Phänomens“ aufgeklärt wissen, eine ausgesprochen negative Darstellung slawischer Völker und ihrer Kulturen ist bei ihm jedoch nicht zu finden. In einem im Februar 1935 abgefassten Bericht hat der damals noch an der Universität Münster tätige Slawist Karl Heinrich Meyer über die Erfordernisse der Slawistik und ihre Vertretung an den deutschen Universitäten abgegeben, der folgenden Wortlaut hatte und im folgenden teilweise wiedergegeben werden soll: „Seit dem Humanismus, in den Religionskämpfen der Reformation und Gegenreformation, sowie vor allem im Zeitalter der Aufklärung und des Marxismus, hat das deutsche Volk seine Augen vornehmlich nach dem Westen gerichtet und von dorther Fortschritt, Kultur und Heil erwartet. Es scheint mir hohe Zeit zu sein, daß die Blicke des deutschen Volkes auf diejenigen Völker gelenkt werden, bei denen das Deutschtum seit nachweislich fast zwei Jahrtausenden im höchsten Grade a k t i v wirken konnte. Die Rückeroberung des östlichen Deutschland im Mittelalter erklärt der Führer in „Mein Kampf“ als die eine der drei größten Taten des deutschen Volkes, und der mit Polen im Januar 1934 geschlossene Vertrag wird nach meiner Überzeugung in derselben Richtung epochal wirken. In diesem Sinne kommt der Universität eine besondere Aufgabe zu: Der Forscher hat mit gründlichem Wissen und kraft seiner Autorität die Bedeutung des europäischen 50 51
Dass., S.614. Dass., S.620.
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Ostens für Deutschland zu verkünden und die Willensbildung seiner Studenten und weiterer Kreise zu richten. Der Professor hat von der Sprache auszugehen, um mit ihrer Hilfe die geistige Haltung der slawischen Menschen zu ergründen. Sodann wird er die Erzeugnisse des slawischen Geistes in Literatur und Volkstum verstehen lehren. Im Interesse des Ansehens der deutschen Forschung hat er in überlegenen Untersuchungen sein Können auch der außerdeutschen Gelehrtenwelt zu beweisen. Besonders infolge der Haltung der deutschen Regierungskreise der Vergangenheit ist das Studium der Slawistik an den deutschen Universitäten jahrzehntelang stiefmütterlich behandelt worden; es erschöpfte sich zumeist in Kollegs vor verschwindend kleinem Auditorium mit der Behandlung sprachwissenschaftlicher Fragen, die dem Ansehen der deutschen Forschung in der Welt gewiß sehr förderlich gewesen sind, aber nicht den Erfordernissen des Deutschtums im Osten dienten. Mehrfach wurden Gelehrte aus den slavischen Ländern geholt, die naturgemäß den deutschen Belangen nicht gerecht werden konnten.“52 Karl Heinrich Meyer (1890-1945), der seit 1935 an der Universität Königsberg lehrte, bringt im weiteren Verlaufe seines Berichtes Darstellungen der Slawistik an den Universitäten in Berlin, Leipzig, Breslau und München und weist darauf hin, daß ihm selbst 1927 ein Lehrauftrag für Slawische Philologie an der Universität Münster erteilt worden sei, aber erst 1930 dort ein Slavisches Seminar eingerichtet werden konnte, wo etwa 20 bis 40 Studenten studierten. Von Max Vasmer berichtet er in diesem Zusammenhang in einer Darstellung der Slawischen Philologie in Berlin, daß dieser „deutsche Fachgenossen im Ausland zu denunzieren und herabzuwürdigen versucht hat. Dieses und anderes zeigt, daß er dem deutschen Denken und dem nationalsozialistischen Geiste völlig fern stehe.“53 Über den damaligen slawistischen Nachwuchs schreibt in diesem Bericht K.H. Meyer folgendes: „Ein Nachwuchs slavistischer Forscher in dem von mir eingangs dargelegten Sinne kann zur Zeit anscheinend unmöglich geschult werden. Über Berlin ergeben sich die Aussichten nach dem Gesagten von selbst. Trautmann hat vor Jahren einen in Russland geborenen und aufgewachsenen Dr. Braun habilitiert, der jetzt in Leipzig ein russisches Lektorat versieht. In Breslau steht der n.b.ao. Prof. Hanisch im 59., Grünenthal im 55.Lebensjahr. Mir persönlich läge die Ausbildung einiger seiner derzeitigen Schüler, hochbegabter, geeigneter Studenten, die ganz im nationalsozialistischen Geiste arbeiten, sehr am Herzen. Aber solange ich nicht der Fakultät angehöre und selbst noch in der täglichen Sorge um die Lebensmöglichkeit meiner Familie ringe, kann ich die Ausbildung von Studenten für die Hochschullaufbahn nicht verantworten.“54 So war die Slawische Philologie im Jahre 1935 nur in Berlin durch Max Vasmer (18861962), in Leipzig durch Reinhold Trautmann (1883-1951), in Breslau durch Paul Diels (1882-1963) und in München durch Erich Berneker (1874-1937) vertreten. Hinzu kam noch die Slawische Philologie an der Deutschen Universität Prag, wo Franz Spina und Gerhard Gesemann das Fach in Lehre und Forschung vertraten. Die Nachfolge Erich Bernekers in München trat 1939 der in Breslau habilitierte und nach Wilna berufene Erwin Koschmieder (1895-1977) an, der neben der Slawischen Philologie wie auch Erich Berneker die Baltische Philologie vertrat. Aus einem in der Zeitschrift „Jomsburg“ 1942 veröffentlichten Bericht geht hervor, dass in Erweiterung der „Deutschen Akademie“ in München eine Abteilung für deutsche 52 53 54
BARCH-BDC-Bestand A 46, Film. BARCH-BDC-Bestand A 46, Film. BARCH-BDC-Bestand A 46, Film.
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Ostbeziehungen eingerichtet wurde, womit erstmals im Jahre 1942 Vorbesprechungen und Arbeitstagungen in München durchgeführt wurden, an denen fast alle damals führenden Fachvertreter der mit Osteuropa befassten Fächer teilnahmen: „Eine Abteilung für deutsche Ostbeziehungen wurde im Rahmen der Wissenschaftlichen Abteilung der Deutschen Akademie in München begründet und namhafte deutsche Wissenschaftler dazu berufen. Eine erste Arbeitsbesprechung der neugegründeten Abteilung fand im September unter dem Vorsitz des Leiters der Abteilung Prof. Dr. Erwin Koschmieder, München statt. Im Sinne der Aufgabe, Anteil und Leistung des deutschen Volkstums im Ostraum bis zum Ural und von Ungarn über Finnland zu ermitteln und zu würdigen, wurde über die Planung eines auf 12 Bände berechneten Handwörterbuches des europäischen Ostens beraten, das dem bereits in Arbeit befindlichen Balkan-Lexikon der Deutschen Akademie an die Seite treten soll.“55 Ein anderer Schritt für die Organisation der Osteuropaforschung im Deutschen Reich war die Begründung der „Zentrale für Ostforschung beim Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete“ am 14. Oktober 1943. Diese erste offizielle Zusammenkunft brachte eine Darstellung des „nordisch-germanischen Zugriffs nach Osten“ als eine Forschungsaufgabe und einer Auswertung der Vor- und Frühgeschichte, ferner einen Vortrag des Historikers Reinhard Wittram über den russischen Imperialismus und einen Bericht des Sprachwissenschaftlers Kurt Stegmann über das Wesen des Kriegseinsatzes der Wissenschaft im Reichskommissariat Ostland. Auch Max Vasmer war zu dieser Tagung eingeladen worden, trat jedoch mit keinem Vortrag hervor. Die „Zentrale für Ostforschung“, deren Statuten bereits am 23. Dezember von Reichsminister Alfred Rosenberg bestätigt worden waren, sollte der einheitlichen Lenkung der wissenschaftlichen Erforschung des „Ostraumes“ und der zusammenfassenden Auswertung der Ergebnisse dieser Forschungen für das Deutsche Reich und die besetzten Ostgebiete sowie der fachwissenschaftlichen Lenkung und Überwachung der Forschungseinrichtungen in den besetzten Ostgebieten dienen. Geleitet wurde die „Zentrale“ von Leo von zur Mühlen, Professor für Geologie und angewandte Geologie an der Fakultät für Bergbau und Hüttenwesen der Technischen Hochschule in Berlin. Von zur Mühlen war 1888 in Dorpat geboren, so dass ein direkter Bezug zu Osteuropa auch persönlich gegeben war. Ihm standen ein Chemiker, ein Historiker und eine für Sprachen zuständige Fachkraft zur Seite. Die „Lenkung“ der Forschung sollte durch Fachgruppenleiter erfolgen, eingeteilt in Natur- und Geisteswissenschaften. Für die Fachgruppe Sprachen I, nämlich Russisch, Ukrainisch und Weißruthenisch sollte Max Vasmer zuständig sein,56 für die Fachgruppe Sprachen II, nämlich die kaukasischen Sprachen der Erlanger Sprachwissenschaftler Karl Bouda, für die Fachgruppe Sprachen III, nämlich türkische und tatarische Sprachen wurde der Dozent Johannes Benzing benannt. Eine Fachgruppe IV war für die baltischen Sprachen vorgesehen, ihre Leitung wurde dem in Kiel habilitierten Sprachwissenschaftler Kurt Stegmann von Pritzwald übertragen, der in der Kulturabteilung des Reichskommissariats in Riga tätig war. Weitere Bereiche, die im Rahmen der „Zentrale“ genannt wurden, waren „Deutschtum“, „Volkstumsfragen des Ostraumes“, „Geschichte des Ostraumes“, vertreten durch den Osteuropahistoriker Reinhard Wittram, „Völkerpsychologie“, vertreten durch Rudolf Hippius, ein „Psychologe“, der zuerst an der Reichsuniversität Posen, dann an der Deutschen Universität Prag lehrte. Von der „Zentrale für Ostforschung“ wurden auch Forschungsaufträge vergeben, u.a. für den Bereich der Sprachwissenschaft, wo ein „Tschuwaschisch-deutsches Wörterbuch“ geplant wurde. Ein sehr ehrgeiziges Projekt war wohl der von Dagobert Frey im Osteuro55 56
In: Jomsburg 6, 1942, H.3/4, S.324. BARCH R 153/1198 – Arbeitsbesprechung der Abt. für deutsche Ostbeziehungen.
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pa-Institut in Breslau geplante „Kunstgeschichtliche Atlas von Osteuropa“. Bei all diesen Planungen war jedoch die Slawische Philologie nicht vertreten.57 Im Januar 1944 fand in Prag eine Arbeitsbesprechung der Hauptgruppe „Geisteswissenschaft“ der „Zentrale für Ostforschung“ statt, wobei ein Überblick über den Stand der Erforschung der Probleme der Sowjetunion auf den Gebieten der Geschichte, Vorgeschichte, Volkstumskunde, Rassenkunde, Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft gegeben werden sollte und die daraus sich ergebenden Forschungsaufgaben festgelegt werden. Zu diesem Zweck wurden acht Referate gehalten, so von Reinhard Wittram, der 1902 in der Nähe von Riga geboren wurde, über die Grundzüge eines deutschen Geschichtsbildes von Osteuropa und von dem Prager Slawisten Ferdinand Liewehr (1896-1985), der die Aufgaben der Slawistik behandelte.58 Anzuführen ist die wenige theoretische und sprachpraktische Literatur, die in den Jahren der Herrschaft des Nationalsozialismus erscheinen konnte. Ideologisch gefärbt erscheint das Buch „Die deutschen Lehnwörter in der slowenischen Volkssprache“ von Eberhard Kranzmeyer, der den deutschen Einfluss auf das Slowenische überbetonte. Das Buch wurde 1944 als erster Band der „Veröffentlichungen des Kärntner Instituts für Landesforschung“ herausgegeben. Kranzmeyer war Germanist, zunächst in Wien, dann in München, wo er mehrfach Übungen zum Slowenischen abgehalten hatte. Eine besondere Stellung scheinen im „Deutschen Reich“ vor allem das Bulgarische, dann aber auch das Slowakische und das Ukrainische eingenommen zu haben. So sind für den Bereich der Bulgaristik die Jahrbücher der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft zu nennen, die mit Beiträgen deutscher und bulgarischer Fachvertreter bis in den Zweiten Weltkrieg hinein erscheinen konnten. Zu nennen sind das von Michael Schwarz veröffentlichte „Slowakisch-deutsche“ und „Deutsch-slowakische Wörterbuch“, die in der Reihe „Junkers Wörterbücher“ in Berlin erschienen waren. Anzuführen sind auch die bis 1944 in mehreren Auflagen erschienenen deutsch-ukrainischen Wörterbücher der Berliner Slawistin Hanna Nakonetschna und das 1940 veröffentlichte „Lehrbuch der ukrainischen Sprache“ von Jaroslav Rudnyckyj, das im Jahre 1943 bereits in dritter Auflage veröffentlicht wurde. Für den sprachwissenschaftlichen Bereich sind auch die von Nakonetschna und Rudnyckyj veröffentlichten Arbeiten über ukrainische Dialekte am Institut für Lautforschungen an der Universität Berlin zu nennen. Im Hintergrund dieser Förderung von ukrainistischen Arbeiten stand die zu Beginn des deutschen Angriffes auf die Sowjetunion geförderte nationalukrainische Bewegung, die sich eine reale Möglichkeit für eine Wiederherstellung der nationalen Selbständigkeit der Ukraine erhofft hatte. Hinweise auf eine direkte Förderung ukrainischer Studien während des Zweiten Weltkrieges lassen sich aufgrund einer 1942 erschienenen Abhandlung von Roman Smal-Stockij über die germanisch-deutschen Kultureinflüsse im Spiegel der ukrainischen Sprache feststellen, zumal diese Veröffentlichung auch für breitere Kreise der deutschen und ukrainischen Bevölkerung gedacht war.59 Die im Rahmen der „Fremdvolkpolitik“ festgelegten Grundsätze für die Bewertung und damit auch Behandlung der slawischen Völker waren zunächst politisch aus der Sicht des Nationalsozialismus vorgegeben worden und gehen vor allem auf Housten Stewart Chamberlein (1855-1927) zurück, der den Versuch gemacht hatte, die Geschichte der abendländischen Welt in seinen „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ (1898) von rassischen, „arischen“ Gesichtspunkten aus zu erklären. In seiner Nachfolge steht der nationalsozialistische Politiker Alfred Rosenberg (1893-1946), zeitweise Herausgeber des „Völ57 58 59
Dass. Vgl. bei Rudnyckyj die Beibehaltung des Terminus „arisch“ auch in einer 1964 erfolgten Neuauflage seines „Lehrbuches der ukrainischen Sprache“. R. Smal-Stockij: Die germanisch-deutschen Kultureinflüsse im Spiegel der ukrainischen Sprache. Leipzig 1942.
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kischen Beobachter“ und Verfasser des „Mythos des 20. Jahrhunderts“, das eine weitere Grundlage für die nationalsozialistische Rassentheorie und die Verherrlichung des „nordischen“ Menschen als dem „einzigartigen Verwirklicher von Kultur“ darstellte. Im akademischen Bereich war der Naturwissenschaftler Hans Friedrich Karl Günther (1891-1968) mit der Behandlung rassenideologischer Fragen hervorgetreten. Seine Veröffentlichungen „Rassenkunde des deutschen Volkes“ (1928, 1933 bereits in 12.Auflage veröffentlicht!) waren aus der Sicht des Nationalsozialismus grundlegende Darstellungen der nationalsozialistischen Rassenideologie. Günther wurde 1930 Professor in Jena, 1934 in Berlin und 1939 in Freiburg und Breisgau. 1945 wurde Günther von seinem Professorenamt suspendiert. Ein Schwerpunkt der nationalsozialistischen Rassenkunde hatte sich mit dem Anthropologischen und Ethnographischen Institut der Universität Breslau herausgebildet, wo Ilse Schwidetzky (geb.1907) eine „Rassenkunde der Altslawen“ verfasste und sie als Beiheft der „Zeitschrift für Rassenkunde und die gesamte Forschung am Menschen“, geleitet von Eugen Freiherrn von Eickstedt (geb.1892), im Jahre 1938 veröffentlichte. Von Eickstedt, der Leiter des Breslauer Institutes, hatte im Rahmen der Rassenkunde und Rassengeschichte selbst zwei Beiträge veröffentlicht, während Schwidetzky im Jahre 1934 mit einer Abhandlung über „Die polnische Wahlbewegung in Oberschlesien“ an der Universität Breslau promoviert worden war. In der Einleitung zu dieser Veröffentlichung „Rassenkunde der Altslawen“ wies die Verfasserin darauf hin, dass der Schwerpunkt der „Altslawenforschung“ im Laufe der Zeit eine Verlagerung erfahren habe, indem nämlich die Frage nach einer Deutung abweichender Schädelformen gestellt wurde. Sie ging vom „nordischen“ Charakter der indogermanischen Ur- und Altslawen als dem „Natürlichen“ und „Gegebenen“ aus, von dem aus dann die Beimengung „nichtnordischer Elemente“ im späteren Slawentum zu erklären sei. Nach Auffassung Schwidetzkys wiesen die Slawen wohl das bunteste Bild in „rassischer Hinsicht“ auf, das nicht nur durch verschiedenartige „Einschläge“ gestaltet wurde, sondern in seinen Teilbereichen auch ganz verschiedene Grundzüge aufwies: „Von besonderem Interesse ist dabei die Frage, wann und wie die einst sicherlich vorwiegend nordischen Slawen nichtnordische Bestandteile in sich aufnahmen. Diese müssen zunächst einmal ausgesondert und dann nach ihren geschichtlichen Beziehungen und ursprünglichen Bindungen gefragt werden.“60 In einer 1939 in der „Zeitschrift für Slavische Philologie“ 61 veröffentlichten Besprechung ließ Max Vasmer seine Meinungsverschiedenheiten mit der Verfasserin deutlich werden, weil „Einwände die Erforschung der Problematik oft weiter bringen würden“. Vasmer spricht sich aber auch keineswegs gegen solche anthropologischen Untersuchungen aus, fordert aber die ständige Beachtung der Ergebnisse der Ortsnamenforschung, denn wenn erst einmal für die benachbarten Bereiche der baltischen, kaukasischen und turkotatarischen Sicht ähnliche Arbeiten geleistet worden seien, dürfe man hoffen, dass manche Unklarheiten beseitigt seien, und auch „das anthropologische Material für uns NichtRassenkundler verständlicher werde.62 Vasmer stellt abschließend die folgende Frage an die Anthropologen: „Ließe sich nicht ein Unterschied feststellen zwischen den ‚alpinen‘ Kurzköpfen südlich des Ladogasees und denen der Alpenländer und ließe sich hier nicht auch eine Unterscheidung durchführen? Dasselbe würde ich für die ‚mediterranen‘ Elemente in Russland für erwünscht halten, denn sprachlich sehe ich keine Brücke zwischen ihnen und der eigentlichen Mittelmeerbevölkerung.“63 60 61 62 63
I. Schwidetzky: Rassenkunde der Altslawen, S.5. Band 16, S.230-232. Ebenda S.232. Dass.
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Max Vasmer hatte nicht nur „wissenschaftliche“, sondern auch „organisatorische Kraft“ bewiesen, wenn er in den Jahren der Herrschaft der Nationalsozialisten Dissertationen anregte und zu einem erfolgreichen Abschluss führte, die in keiner Weise mit den Plänen des Regimes in Einklang standen, geschweige denn die oben erwähnten rassenkundlichen Grundlagen der nationalsozialistischen Ideologie in irgendeiner Form in Anwendung bringen ließen. Dies gilt nicht nur für die beiden bereits in anderem Zusammenhang erwähnten Dissertationen von Paul Wirth und Werner Fast, die den sorbischen und kaschubischen Sprachatlas zum Gegenstand hatten, sondern auch für den Band 11 der „Veröffentlichungen des Slavischen Instituts an der Friedrich-Wilhelms-Universität“, der von Vasmer herausgegebenen Reihe, wo 1931 in 1.Auflage die Abhandlung „Wendisches Volkstum in Sage, Brauch und Sitte“ von Willibald von Schulenburg erschienen war, der 1934 eine weitere Auflage folgen konnte. Aus dem Vorwort Vasmers als Herausgeber geht hervor, dass er damals sogar noch einen Druckkostenzuschuss erwirken konnte, wenn er am 30. Juli 1934 schreibt: „Die neue Bearbeitung der vorliegenden Schrift hätte nicht erscheinen können, wenn das Preußische Kultusministerium nicht in großzügiger Weise die notwendigen Geldmittel zur Verfügung gestellt hätte. Es ist mir eine angenehme Pflicht, Herrn Minister Rust, Herrn Ministerialdirektor Vahlen und Herren Geheimrat Gürich für dieses Entgegenkommen meinen verbindlichsten Dank zu sagen…“ Anzuführen sind aber noch eine ganze Reihe anderer Arbeiten, vor allem Dissertationen, die an der Universität Berlin entstanden sind und alleine schon aufgrund ihrer Thematik keine Beziehungen zur nationalsozialistischen Ideologie aufweisen: Hans Holm Bielfeldt: Die deutschen Lehnwörter im Obersorbischen. Berlin, Phil. Diss. vom 12.Juli 1933. Louise Wanstrat: Beiträge zur Charakteristik des russischen Wortschatzes. Gräfenhainichen 1933. Berlin, Phil.Diss.v.1.März 1933.(=Veröffentlichungen des Slavischen Instituts an der Friedrich-WilhelmsUniversität Berlin..) Ernst Dickenmann: Die Nominalkomposita im Russischen. Berlin, Phil. Diss. vom 28.Februar 1934. (=Veröffentlichungen des Slavischen Instituts an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin.12. Hans Karstien: Vergleichende Untersuchungen zum slavischen Adverb. Gräfenhainichen 1926. Berlin, Phil.Diss.v.18. Juni 1936. Hans Hartmann: Studien über die Betonung der Adjektiva im Russischen. Gräfenhainichen 1936. Berlin, Phil.Diss. vom 6.Mai 1936. (=Veröffentlichungen des Slavischen Instituts an der Friedrich-WilhelmsUniversität Berlin.16.) Alfred Rammelmeyer: Studien zu Geschichte der russischen Fabel des 18.Jahrhunderts. Charlottenburg 1937. Berlin, Phil. Diss. vom 28. April 1937. (=Veröffentlichungen des Slavischen Insituts an der FriedrichWilhelms-Universität Berlin.21.) Reinhard Olesch: Beiträge zur oberschlesischen Dialektforschung. Die Mundart der Korbylorze. 1.Deskriptive Phonetik. Leipzig 1937. Zugl. Phil. Diss. Berlin vom 28.02.1937 (=Veröffentlichungen des Slavischen Insituts an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin.19.) Vsevolod Setschkareff: Schellings Einfluß In der russischen Literatur der 20er und 30er Jahre des 19.Jahrhunderts. Gräfenhainichen 1939. Berlin, Phil. Diss. vom 26.Oktober 1939. (=Veröffentlichungen des Slavischen Instituts an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin.22.) Heinz Wissmann: Die Syntax der nominalen Determination im Großrussischen. Gräfenhainichen 1938. Phil. Diss. Univ. Berlin vom 14.Dezember 1938. (Veröffentlichungen des Slavischen Insituts an der FriedrichWilhelms-Universität Berlin.25.) Ljubomir Ognjanov: Die Volkslieder der Balten und Slaven und ihre Übersetzungen in deutscher Sprache. Berlin 1941. Berlin, Phil. Diss. vom 12.Dezember 1941. Ganka Najdenowa: Rainer Maria Rilke und die slawische Welt.o.O. 1942. Berlin, Phil. Diss. vom 27.November 1942. Anna Padeva: Beiträge zur nominalen Wortbildungslehre im Bulgarischen.o.O. 1943. Berlin, Phil. Diss. vom 19.März 1943.
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1939 erschien in den von Vasmer herausgegebenen „Veröffentlichungen“ die Abhandlung von Jevko M. Milović mit dem Thema „Übertragungen slavischer Volkslieder aus Goethes Briefnachlaß veröffentlicht“. Im Jahre 1941 folgte eine weitere Abhandlung Milovićs mit dem Thema „Goethe, seine Zeitgenossen und die serbokroatische Volkspoesie“, erschienen in Leipzig. Auch an der Universität München waren zwischen 1933 und 1945 mehrere Dissertationen mit slawistischer Thematik entstanden, so u.a.: Wilhelm Lettenbauer: Das Deminutivum im Russischen. München 1933. München, Phil.Diss.vom 13.Juli 1933. Heinrich Stammler: Die geistliche Volksdichtung als Äußerung der geistigen Kultur des russischen Volkes. Heidelberg 1939. München, Phil. Diss.vom 13.Mai 1939. (=Sammlung slavischer Lehr- und Handbücher. Reihe 3, 8.) Anastas Salambaschev: Die Flussnamen im bulgarischen Sprachgebiet.o.O. 1943. München, Phil.Diss.vom 14.Juli 1943. Hyazinth Pakosch: Der Humor von N.V.Gogols. München 1944. München, Phil.Diss.vom 6.Februar 1944. Ursula Preuss: Das Grundprinzip der Wortstellung im Russischen. München 1945. München, Phil.Diss.vom 23.April 1945.
Slavistische Dissertationen wurden in der Zeit von 1933 bis 1945 auch an den Universitäten Leipzig, Breslau, Königsberg, vereinzelt auch an den Universitäten Hamburg, Münster und Halle vorgelegt: Heinrich Kurtz: Slavische Bodenfunde in Schlesien. Breslau 1936. Breslau, Phil. Diss. vom 4.Mai 1936. (=Schriften des Osteuropa-Instituts in Breslau, N.R.H.5.) Hans Jannoch: Die deutsch-tschechische Sprachgrenze am Fuße des Hohen Böhmerwaldes. Leipzig 1936. Leipzig, Phil. Diss. vom 17.Dezember 1936. Marianne von Zychlinski: Die Anwendung des Genetiv singularis masc./neutr. in der gegenwärtigen Russischen Sprache. O. O. 1937. (=Schriften der Albertus-Universität. Geisteswissenschaftliche Reihe.12.). Königsberg, Phil. Diss. vom 31.Dezember 1937. Michael Aschenbrenner: Iwan Schmeljow. Leben und Schaffen des großen russischen Schriftstellers. Königsberg 1937. Königsberg, Phil. Diss. vom 14.Oktober 1937. (=Schriften der Albertus-Universität. Geisteswissenschaftliche Reihe.9.) Herbert Rister: Die Sprache M. M. Cheraskows. Ein Beitrag zur Geschichte der russischen Literatursprache. Berlin 1938. Breslau, Phil. Diss. vom 4.April 1938. Ch. Wolf Stecker: Jan Kochanowski und das Judentum. Ein Beitrag zur polnischen Literaturgeschichte. Breslau 1937.Breslau, Phil. Diss. vom 28.Februar 1938. Heinz Brauner: Die tschechische Lexikographie des 16.Jahrhunderts. Breslau 1939. Breslau, Phil.Diss.vom 17.April 1939. Philipp Wick: Die slavischen Lehnwörter in der neuhochdeutschen Schriftsprache. Marburg/Lahn 1939.Marburg, Phil. Diss. vom 26.Juli 1940. Alexander Adamczyk: Grundfragen der russischen Versgeschichte. 1.Trediakovskij und die Reform. Eine Erörterung über den „Novyj i kratkij sposob k složeniju rossijskich stichov.“ Breslau 1940. Breslau, Phil.Diss.vom 6.März 1940. Walter Kaestner: Die deutschen Lehnwörter im Polnischen. Hamburg 1939. Hamburg, Phil. Diss. vom 10. Juni 1939. (=Veröffentlichungen des Slavischen Instituts der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin.23.) Karl Gröver: Die Ausbreitung der Westslaven und ihre erste Berührung mit den Germanen. O.O.1941. Münster, Phil. u. naturwiss. Diss. vom 24.Oktober 1941. Alfred Mietzschke: Heinrich Milde. Ein Beitrag zur Geschichte der slavischen Studien in Halle (S.)1941. Halle, Phil. Diss. vom 6.Januar 1942. (=Veröffentlichungen des Slavischen Instituts an der FriedrichWilhelms-Universität Berlin.29.) Theodor Essler: Der analogische Ausgleich in der russischen Umgangs- und Literatursprache. Seine semasiologische und stilistische Funktion und deren Einwirkung auf die Sprache der russischen Dichtung.O.O.1942. Halle, Phil. Diss. vom 23.Juni 1942.
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Krasimir Kovačević: Das kroatische Volkslied aus dem Murinselgebiet.O.O. 1943.Leipzig, Phil. Diss. vom 15.Juli 1943 Annemarie Beck: Die slawischen Grabfunde Pommerns. (Nebst Katalogteil).O.O. 1945.Greifswald, Phil. Diss. vom 21.März 1945. Mathilde Saenger: Die Gestalt der Mutter im Spiegel der bulgarischen Volksdichtung. Leipzig 1945.Leipzig, Phil. Diss. vom 12.April 1945.
Einige in der Zeit zwischen 1933 und 1945 veröffentliche Dissertationen behandeln Themen der slawischen Kulturgeschichte: Heinz Thomas: Die slavische und baltische Religion vergleichend dargestellt. Wohlau Bez. Breslau.Bonn, Phil. Diss. vom 20.Dezember 1933. Franz Engel: Deutsche und slavische Einflüsse in der Dobbertiner Kulturlandschaft. Siedlungsgeographische und wirtschaftliche Entwicklung eines mecklenburgischen Randgebietes. Würzburg 1934.Kiel, Phil.Diss. vom 4.Februar 1934. Marie Louise Burian: Die Klosterkirche von Studenica. Ein Beispiel für die Begegnung armenischer, byzantinischer und italienischer Formen in der Architektur und Plastik des mittelalterlichen Serbiens. Zeulenroda 1934. Leipzig, Phil. Diss. vom 22.Januar 1935. Werner Hülle: Westausbreitung und Wehranlagen der Slaven in Mitteldeutschland. Leipzig 1939. Berlin, Habilitationsschrift vom 7.Januar 1939. (= Mannus-Bücherei, 68.) Erich Wienecke. Untersuchungen zur Religion der Westslaven. Leipzig 1939.Leipzig, Phil.Diss. vom 8.Dezember 1939. Olaf Ahlers: Die Bevölkerungspolitik der Städte des „wendischen“ Quartiers der Hanse gegenüber den Slaven. Baruth/Mark Brandenburg-Berlin 1939.Berlin, Phil.Diss. vom 11.Juli 1934. Gerhard Lukas: Die deutsche Politik gegen die Elbslaven vom Jahre 982 bis zum Ende der Polenkriege Heinrich II.Halle (Saale) 1940, Phil.Diss. vom 23.April 1940.
In einem „Kriegsvortrag der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn a.Rh.“ behandelte der Bonner Professor Kurt Tackenberg das Thema „Germanen und Slaven zwischen 1000 vor und 1000 nach Beginn unserer Zeitrechnung“. Der Vortrag wurde 1940 als Heft 12 der „Kriegsvorträge“ veröffentlicht. In den Vorträgen der Breslauer Universität im Kriegswinter 1941/42 behandelte Felix Haase das Thema „Der russische Mensch“. Wie stark im Gegensatz zur Slavischen Philologie germanistische Dissertationen das deutsche Element in den deutsch-slavischen Kontaktzonen betonten, zeigen die Beispiele zweier Dissertationen der Universitäten Breslau und Marburg aus den Jahren 1934 und 1944: Franz Kaser: Der Volks- und Kulturboden des Slowakeideutschtums. Beiträge zur Siedlungsgeographie. Breslau, Phil. Diss. vom 7.November 1934. (=Schriften des Osteuropa-Instituts Breslau. N.R.2.) Grete Weber: Deutsche Wortgeographie des Warthelandes. Marburg 1944. Marburg, Phil. Diss. vom 31.Januar 1944.
Auffallend ist die relativ große Zahl von Dissertationen aus dem Bereich der Slawischen Philologie, die von Ausländern, vor allem Bulgaren vorgelegt wurden. Es fällt demgegenüber aber auch auf, dass Russen und Polen als Verfasser wissenschaftlicher Arbeiten an deutschen Universitäten für den Bereich der Slawischen Philologie fehlen. Die kriegswirtschaftlichen Bedingungen, die sich vor allem seit dem Jahre 1940 spürbar bemerkbar machen, führten zu einer Einschränkung der Publikationsmöglichkeiten, so dass auch Vasmers Reihe keine Fortsetzung mehr finden konnte. Auch während der Kriegsjahre konnte Max Vasmer die von ihm begründete und herausgegebene „Zeitschrift für Slavische Philologie“ fortsetzen, die er mit dem folgenden Werbetext in den Veröffentlichungen des Verlages Harrassowitz in Leipzig vorstellte:
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„Die Zeitschrift für Slavische Philologie“, zurzeit das einzige Fachorgan der Slavistik in Deutschland, will eine Brücke schlagen zwischen der ost- und westeuropäischen Forschung, sie will ein Bindeglied sein zwischen der Slavistik und ihren Nachbardisziplinen, besonders der Germanistik. Neben Untersuchungen auf dem Gebiet der slavischen Philologie im weitesten Sinne des Wortes bietet diese Zeitschrift eingehende Literaturberichte über größere Zeitspannen, mit denen sie dem Mangel an slavistischen Bibliographien abzuhelfen versucht…Als deutsches Organ berücksichtigt die Zeitschrift auch die mannigfachen Beziehungen zwischen Germanen und Slawen in Vergangenheit und Gegenwart.“ Max Vasmer war es gelungen, seine Zeitschrift über die Jahre des Krieges weiter herauszugeben – trotz Papiermangel und trotz ideologischen Druckes. In den dort veröffentlichten Artikeln findet sich kein einziges Zugeständnis an die Ideologie der Jahre 1933 bis 1945. Nicht fortführen konnte Vasmer dagegen die von ihm ebenfalls herausgegebenen „Slavistischen Abhandlungen im Auftrage der Preussischen Akademie der Wissenschaften“. Hier blieb es bei den beiden Lieferungen der „Beiträge zum sorbischen (wendischen) Sprachatlas von Paul Wirth, die Texte und Karten umfassten. Wie sehr Vasmer auch Wissenschaftsbereiche förderte, die mehr am Rande der Slawischen Philologie lagen, zeigt die in seiner Reihe „Veröffentlichungen des Slavischen Instituts an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin“ als Band 17 veröffentlichte Habilitationsschrift seiner damaligen Mitarbeiterin Margarete Woltner (1897-1985): Das wolgadeutsche Bildungswesen und die russische Schulpolitik. Teil 1: Von der Begründung der Wolgakolonien bis zur Einführung des gesetzlichen Schulzwanges. Leipzig 1937. Berlin, Habil.-Schr. Vom 10.Mai 1937. Im Jahre 1937 veröffentlichte Vasmer „B. Kopitars Briefwechsel mit Jakob Grimm“, im Jahre 1939 folgten seine „Bausteine zur Geschichte der deutsch-slawischen geistigen Beziehungen“, beide in Berlin veröffentlicht, zwei wichtige Veröffentlichungen zur Wissenschaftsgeschichte. Nicht mehr fortführen konnte dagegen Max Vasmer den zusammen mit Reinhold Trautmann herausgegebenen „Grundriß der slawischen Philologie und Kulturgeschichte“, in dem grundlegende Werke zur Sprachgeschichte, Kunstgeschichte, ja sogar der Wirtschaftsgeschichte erschienen waren. Für die Zeit vor 1933 waren bereits Schriften wie von dem Breslauer Historiker Manfred Laubert verfasste, vom „Deutschen Ostbund“ 1928 in Berlin herausgegebene Veröffentlichung unter dem Titel „Deutsch oder slawisch? Kämpfe und Leiden des Ostdeutschtums“ verbreitet worden, die nicht gerade geeignet waren, das Verhältnis der Deutschen zu seinen Nachbarn zu verbessern. H. F. K. Günthers weitverbreitete Schriften, vor allem „Die nordische Rasse bei den Indogermanen Asiens“, erschienen 1934 in München, trugen dazu bei, die slawischen Nachbarn nicht mehr mit ihren kulturellen Leistungen, sondern nur noch aus „rassischen Gesichtspunkten“ zu bewerten. So wurde im Jahre 1942 von dem Vorgeschichtsforscher Werner Hülle die Schrift „Indogermanen und Germanen im Ostraum“ veröffentlicht. Als Herausgeber zeichnete der „Beauftragte des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP.“ – Parteiamtliche Lehrmittel, die nur für den Dienstgebrauch bestimmt waren. In dieser kurzen Schrift heißt es unter der Überschrift „Die Altslawen“: „Es unterliegt keinem Zweifel, das die Altslawen, die bis zum 3.Jhdt. u.Ztr. ein wenig bedeutendes und in seiner bäuerlichen Kultur verhältnismäßig unentwickeltes Volk waren, erst durch die Einbeziehung in das gotische Reich den Anschluss an die Weiterentwicklung de indogermanischen Welt wieder gefunden hatten. Erst im 6.Jhdt. beginnt auch die zunächst nach Westen gerichtete Ausdehnung der Slawen aus ihrem Heimatraum südlich der Pripjetsümpfe bis in die Gegend von Kiew. Of-
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fenbar hatte die slawische Oberschicht einen Zustrom nordischen Blutes ostgermanischer Herkunft erhalten, denn die später ausgestorbenen westslawischen Stämme wie Obotriten, Wilzen und Sorben, die bis zur EIbe und Saale vorstießen, haben in ihren Gräberfeldern viele Vertreter nordischer Rasse. Dagegen erhielten die in Böhmen und Mähren eindringenden Tschechen einen starken asiatischen Einschlag durch die Awaren. Auch die südslawischen Völker gingen meist aus einer Mischung der Altslawen mit asiatischen Zuwanderern hervor, ebenso die Ostslawen. Wenn auch bei diesen Vermischungen wenigstens die slawische Sprache sich fast überall durchsetzte und so im Laufe der Jahrhunderte wieder scheinbar ein indogermanisches Volk im Ostraum siedelte, so darf uns dies doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier viel fremdes und verschiedenartiges Blut sich vermischt hat.“64 Die vorangegangenen Ausführungen konnten verdeutlichen, dass die Slawische Philologie sowohl in den Jahren vor dem Ersten Weltkriege als auch vor und nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten keine zentrale Rolle gegenüber den philologischen Fächern mit großen Studentenzahlen wie etwa Englische, Romanische und Deutsche Philologie spielen konnte. Wie die wenigen Andeutungen Karl Heinrich Meyers zur Situation der Slawischen Philologie in Deutschland um das Jahr 1935 gezeigt haben, waren die Studentenzahlen des Faches sehr gering und auch die Möglichkeiten einer beruflichen Verwendung waren sehr beschränkt. Für die Slawische Philologie war es nach 1933 eine große Schwierigkeit, dass bestimmte Themen für eine wissenschaftliche Bearbeitung ausscheiden mussten, dies galt zunächst für alle mit dem Sorbischen in Verbindung stehenden Arbeitsvorhaben. So wurde ein von Paul Wirth beantragtes Stipendium abgelehnt, die Dissertation von Werner Fast nicht veröffentlicht.65 Nur Max Vasmer selbst hatte noch die Möglichkeit in der Preußischen Akademie der Wissenschaften slawistische Themen vorzutragen und auch zu veröffentlichen, so seine 1941 erschienene Abhandlung „Die Slaven in Griechenland“ und seine 1944 veröffentlichte Abhandlung „Die griechischen Lehnwörter im SerboKroatischen“. Trotz des „Wendenerlasses“ hatte Vasmer noch weiter sorabistische Abhandlungen in seiner „Zeitschrift für Slavische Philologie“ veröffentlicht. In Königsberg wurde Alfred Rammelmeyer mit einer Abhandlung „Die Philipponen in Ostpreußen“ habilitiert, die die Geschichte und die Sprache dieser russischen Altgläubigen behandelte, die wie Hugenotten und Salzburger in Preußen Zuflucht gefunden hatten. Die Arbeit wurde von der „Königsberger Gelehrten Gesellschaft“ mit einem Preis ausgezeichnet, konnte aber nicht veröffentlicht werden. Im Jahre 1941 konnte der ukrainische Historiker Ivan Mirtschuk noch ein „Handbuch der Ukraine“ veröffentlichen, das im Auftrag des Ukrainischen Instituts in Berlin entstanden war, das sich in seiner Tätigkeit aber sehr an die Regierung in Berlin anlehnen musste. Insgesamt kann wohl festgestellt werden, dass die Vertreter der Slawistik zum großen Teil der NSDAP ferne standen, allen voran Max Vasmer, aber auch Reinhold Trautmann, der mit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit nach 1937 in Konflikte geraten war. So lässt sich vielleicht erklären, dass die Slawische Philologie in der Zeit von 1933 bis 1945 keinen Zuwachs, aber auch keinen Verlust an Lehr- und Forschungsmöglichkeiten in Deutschland hinnehmen musste.
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W. Hülle: Indogermanen und Germanien im Ostraum. München 1942, S. 10. Werner Fast: Beiträge zum Kaschubischen Sprachatlas. Berlin Phil. Diss vom 16. April 1940. Laut Jahresverz. Der deutschen Hochschulschriften 60, 1944/45, S. 75: „In Bibliotheken nicht vorhanden.“
BALTISCHE PHILOLOGIE HELMUT W. SCHALLER Die „Baltische Philologie“ oder „Baltistik“ befasst sich mit den baltischen Sprachen als einem Zweig der indoeuropäischen Sprachen. Sie stellt eine wissenschaftliche Disziplin dar, deren Anfänge auf das 19. Jahrhundert zurückgehen. Von einer institutionalisierten Baltischen Philologie kann jedoch erst seit dem Ende des Ersten Weltkrieges gesprochen werden, als die baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit erlangt hatten und damit auch die dort gesprochenen Sprachen ein breiteres Interesse in der europäischen Öffentlichkeit gefunden hatten. Nur gelegentlich war die Öffentlichkeit mit den baltischen Völkern, ihren Sprachen und Kulturen in Berührung gekommen, z.B. im Kontext mit den Schulplänen des Jahres 1809 von Wilhelm Humboldt, als in Zusammenhang mit der inneren und äußeren Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin 1810 auch der „Königsberger und der litauische Schulplan“ diskutiert wurden1. Über Sammlungen litauischer Volkspoesie wurde Jacob Grimm durch den Sprachforscher August Schleicher in Jena unterrichtet, der ihm auch wichtige sprachliche Auskünfte zukommen ließ. Auf lettischem Gebiet ist der hervorragende Forscher August Bielenstein durch Jacob Grimm angeregt worden, was ihm wiederum sein Lehrer Koberstein vermittelt hatte2. Demnach geht es in Max Vasmers „Bausteinen zur Geschichte der deutsch-slavischen geistigen Beziehungen“ auch um die Beziehungen zwischen Deutschen und Balten. Als Zweig der indoeuropäischen Sprachen umfasst das Gebiet der baltischen Sprachen das Lettische und das Litauische sowie das im 17. Jahrhundert ausgestorbene Altpreußische und die nur mit Eigennamen bekannten Dialekte Selisch und Kurisch. Die baltischen Sprachen sind charakterisiert durch eine altertümliche Grammatik und einen in mancher Hinsicht alten Lautstand, der für die benachbarten und am nächsten verwandten slawischen Sprachen von grundlegender wissenschaftlicher Bedeutung ist. Ob es einen enger zusammengehörigen Sprachzweig eines „Baltoslawischen“ gegeben hat, ist nach wie vor umstritten. Noch weniger als die Slawische Philologie ist die Baltische Philologie im engeren Interessenbereich des Nationalsozialismus gestanden, im Vordergrund stand hier die Rolle der „Baltendeutschen“ oder „Deutschbalten“ in Lettland und Estland, wobei das Estnische nicht zu den baltischen Sprachen wie das Lettische und Litauische gehört, daher auch für die folgende Darstellung nicht zu berücksichtigen ist, während die Deutschen eine niederdeutsche Mundart, das „Baltendeutsche“ sprachen, die aber mit der Umsiedlung der Deutschen aus dieser Region in das Deutsche Reich in den Jahren 1940 bis 1942 nahezu ausgestorben ist.3 Die Bezeichnung „Deutschbalten“ kam im 19. Jahrhundert für die deutschen Bewohner der Ostseeprovinzen des Russischen Reiches, den späteren Staaten Estland und Lettland auf. Seit dem Beginn der Herrschaft des Deutschen Ordens im 13. Jahrhundert stellten die Deutschbalten die Oberschicht der Adligen, Gelehrten, Geistlichen, Handwerker und Kaufleute dar, die eine ständische Verfassung hatten. Bei den Deutschbalten waren die Bauern nicht vertreten. Die Herkunft der Deutschbalten läßt sich vor allem mit Westfalen und Niedersachsen festlegen, weshalb bis etwa 1600 auch das Niederdeutsche als Schriftsprache Verwendung fand, im 18.Jahrhundert allerdings nurmehr als Umgangspra1 2 3
Studienbehelf für Übungen der erziehungswissentschaftlichen Seminare. Hamburg. Universität 1946. Vasmer: Bausteine zur Geschichte der deutsch-slavischen geistigen Beziehungen I. Berlin 1939. S.XXXII u.S.XXXII. BARCH R 153/1429-Rückführung der Deutschbalten in das Reich. V.a.Frage der Kulturgüter.
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che gebraucht wurde. Verwendet wurde nunmehr eine niederdeutsch beeinflusste deutsche Hochsprache. Bekannt sind die zahlreichen Führungsrollen, die Deutschbalten im Russischen Reich spielten. Seit etwa 1850 waren aber auch viele Deutschbalten in Deutschland tätig geworden, genannt seien Adolf von Harnack, E. von Bergmann oder G. Dehio u.a. Die Deutschbalten waren mit dem Ende des Ersten Weltkrieges auch mehr und mehr Gegenstand politischer Auseinandersetzungen geworden, denn bis 1918 gehörte der Großgrundbesitz zu einem wesentlichen Teil den Deutschbalten, wurde aber durch die Agrarreformen der neuen unabhängigen Staaten Estland und Lettland 1919 und 1920 enteignet. Den deutschbaltischen Minderheiten wurde aber eine Kulturautonomie gewährt. In Estland befanden sich im Jahre 1934 noch 16300 Deutschbalten, in Lettland waren es noch 62000, von denen alleine 28000 in der Hauptstadt Riga wohnten. Das Ende des Deutschbaltentums war mit der durch den Hitler-Stalin-Pakt erfolgten Umsiedlung von 15000 Deutschbalten aus Estland und 55000 Deutschbalten aus Lettland aufgrund der Umsiedlungsverträge vom Oktober 1939 gekommen. Im Rahmen der am 14. März 1942 erlassenen „Vorläufigen Sprachregelung über Begriffe des Ostens“, verfasst von Georg Leibbrandt, einem der führenden Männer im „Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete“ unter der Leitung von Alfred Rosenberg, wurde für den Bereich der baltischen Völker ausgeführt: Der Ausdruck „Baltische Staaten“, auch „ehemalige baltische Staaten“ oder „ehemalige Randstaaten“ sollte vermieden werden. Ausnahmen kämen nur in Frage für staatsrechtliche oder streng historische Darstellungen. An deren Stelle sollten Bezeichnungen wie „baltische Länder“ oder „Gebiet der baltischen Völker“ und Vergleichbares verwendet werden. Der Begriff „Baltikum“ war früher die Bezeichnung für die baltischen Provinzen des Russischen Reiches, nämlich Estland, Livland und Kurland, später für das Gebiet der beiden baltischen Staaten Estland und Lettland, im weiteren Sinne auch unter Einschluß von Litauen. Der Begriff „Baltikum“ sollte nach Auffassung des „Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete“ nur mehr so verwendet werden, daß die damaligen Generalbezirke Estland, Lettland und Litauen des Reichskommissariats sich mit dem Gebiet der gleichnamigen Staaten deckten, sondern eben nur teilweise über den Bereich der früheren Staaten hinausreichten. Aus diesem Grund erschien die Bezeichnung „Baltikum“ für das Reichskommissariat Ostland, aber auch für das Gebiet der drei baltischen Generalbezirke ungeeignet, denn im strengen Sinne des Wortes deckte sich die Bezeichnung „Baltikum“ nur mit den drei historischen Ordenslandschaften Estland, Livland und Kurland. Unter „Balten“ waren 1942 nur die „Baltendeutschen“ oder „Deutschbalten“ zu verstehen, nicht aber die in den baltischen Ländern ansässigen baltischen Völker, nämlich die Litauer und Letten sowie die finno-ugrischen Esten. Damit war versucht worden, die baltischen Völker, ihre Sprachen und Kulturen aus dem Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit zu verdrängen. In der am 14.Oktober 1943 begründeten „Zentrale für Ostforschung beim Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete“, das im Jahre 1941 nach dem Angriff auf die Sowjetunion eingerichtet worden war, war ein Instrument zur einheitlichen Lenkung der Erforschung des „Ostraumes“ geschaffen worden, wo sich auch eine Fachgruppe „Baltische Sprachen“ unter der Leitung von Kurt Stegmann von Pritzwald fand, Privatdozent für baltische Sprachen an der Universität Kiel, als Leiter des Wissenschaftlichen Beirates des Reichskommissars für das Ostland Verfasser der bei der „Verlagsgesellschaft Ostland m.b.H.“ 1943 in Riga erschienenen Abhandlung „Die Hochschulen im Ostland zwischen Gestern und Morgen“.4
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Die Darstellung umfasst 45 Seiten und ist mit Bildmaterial ausgestattet.
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An der Beschreibung der Baltischen Philologie oder Baltistik hat sich im Laufe der Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wenig geändert, so dass die von Erwin Koschmieder 1973/74 in einem Studienführer der Universität veröffentlichte Beschreibung des Faches als heute noch allgemeingültig gesehen werden kann: „Die Baltische Philologie hat die beiden heute lebenden Völker und Sprachen, nämlich das Litauische und das Lettische, und die ausgestorbenen Idiome, vor allem das Altpreußische, zum Gegenstand. Diese baltische Sprachgruppe steht der slavischen besonders nahe und kann daher mit Gewinn als Hauptfach oder als Nebenfach mit Slavischer Philologie zusammen studiert werden. Die Rolle des Kirchenslavischen übernimmt das bloß trümmerhaft überlieferte Preußische nur im beschränkten Umfang. Dafür hat das Baltische für die Slavische Philologie und vor allem für die Indogermanistik eine sehr große Bedeutung. Eines dieser beiden Fächer sollte mit dem der Baltischen Philologie gekoppelt sein. Im übrigen spielt in der Baltischen Philologie natürlich die sprachwissenschaftliche Seite die Hauptrolle, so daß eine Spezialisierung in Sprachwissenschaft, Literatur und Volkskunde nicht statthaft ist. An der Universität München besteht ein Lektorat für litauische Sprache und Landeskunde; darüber hinaus werden Spezialvorlesungen und -übungen abgehalten.“5 Erwin Koschmieder (1895-1977), seit 1939 an der Universität München in Lehre und Forschung für die Gebiete der Slawischen und der Baltischen Philologie tätig, hat in Erfüllung seiner Verpflichtung für die Baltistik im Sommersemester 1941 eine „Einführung in das Litauische mit Übungen“ durchgeführt, im Wintersemester 1943/44 sowie im Sommersemester 1944 hat er „Litauische Texte“ angeboten, im Wintersemester 1944/1945 „Baltischslavische Übungen“ durchgeführt. Am 16. Januar 1946 stellte Koschmieder einen Antrag auf die Errichtung eines litauischen Lektorates, direkter Anlass hierfür war eine Bewerbung des bekannten Baltisten Viktor Falkenhahn, der seine baltistische Ausbildung an der Universität Königsberg erhalten hatte. Die baltische Philologie an der Universität München führte nach dem Zweiten Weltkrieg zu zwei Dissertationen, nämlich: Daine Augustaitis: Das litauische Phonationssystem. München 1965. Lucia Baldauf: Der Gebrauch der Nominalform des Adjektivs im Litauischen. München 1967. Erwin Koschmieder hatte damit die baltistische Tradition seines Vorgängers Berneker weitergeführt, der 1910 von der Universität Breslau nach München berufen worden war und ebenfalls neben der Slawischen Philologie die Baltistik vertreten hatte. Welche Bedeutung nicht nur der Slawischen, sondern auch der Baltistischen Philologie an der Universität Königsberg zukam, zeigt alleine schon die Tatsache, dass dort mehrere Slawisten und Baltisten das Amt des Rektorats der Universität innehatten, so 1816 der Slawist Johann Severin Vater, 1820 der Baltist Ludwig Gedimin Rhesa, 1890, 1919 bis 1921, also insgesamt dreimal war Adalbert Bezzenberger Rektor, während 1935 bis 1937 der Baltist Georg Gerullis nur mit den Geschäften eines Rektors der Universität Königsberg beauftragt war. Zu den Anfängen der Baltistik schreibt im Jahre 1964 der Berliner Slawist und Baltist Viktor Falkenhahn: „Wie in der Geschichte einer jeden Wissenschaft so ist auch in der Geschichte der Baltistik eine Periode der Vorbereitung von der eigentlichen Baltistik zu unterscheiden. Die Zeit der Vorbereitung, die weitgehend die Fundamente für die moderne, wissenschaftliche Baltistik im engeren Sinne legte, wurde eingeleitet durch die 5
E. Koschmieder: Baltische Philologie, in: Studienführer der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ausgabe 73/74.S.216.
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Schaffung der ersten, meist religiösen Texte im 16.Jahrhundert, denen im 17. Jahrhundert die ersten grammatischen und lexikalischen Darstellungen, im 18. und 19. Jahrhundert die ersten geschichtlichen Abhandlungen und Volksliedersammlungen folgten.“6 Bereits der Berliner Slawist Alexander Brückner (1856-1939), aus Polen stammend, hatte im Jahre 1877 bei Franz Miklosich in Wien seine Promotion mit der im folgenden Jahre in Weimar veröffentlichten Dissertation „Die slawischen Fremdwörter im Litauischen“ abgeschlossen, einer der vielen Hinweise auf die engen Beziehungen zwischen der Slawischen Philologie und der Baltischen Philologie andererseits, wie sie auch bei August Leskien (1840-1916), dem Verfasser u.a. eines „Litauischen Lesebuches“ deutlich werden, wenn R. Eckert über Leskiens baltistische Forschungen 1981 u.a. ausführt: „A. Leskien hat einen nachhaltigen Einfluß auf die Entwicklung der Baltistik ausgeübt und dies nicht allein durch seine hervorragenden Forschungen zur baltischen Sprachwissenschaft und Folkloristik, sondern auch durch seine über vier Jahrzehnte währende Lehrtätigkeit an der Leipziger Universität. Seine Lehrveranstaltungen zu den verschiedensten Gegenständen der Slavistik und Baltistik zogen Wissenschaftler aus aller Welt an. Selbst Litauer studierten bei ihm Baltistik.“7 Über Leskiens baltistische Vorlesungen berichtet auch A.Richter im Jahre 1969: „Fast das gleiche Bild (=wie die altbulgarischen Studien) bietet die in historischer Sicht dem Slawischen nahe stehenden Baltistik Den Beginn machte im Sommersemester 1871 die ‚Grammatik der litauischen Sprache‘, daran schlossen sich an ‚Übungen nach Schleichers Handbuch der litauischen Sprache‘; dazu kam noch die ‚Berücksichtigung des Lettischen und Altpreußischen‘, verschiedene Lektüre-, Übersetzungs- und Interpretationsübungen, besonders auf litauische Volkspoesie, einmal auch, Sommer 1899, speziell auf die Werke des litauischen Dichters Donelaitis bezogen. Der Synthese der grammatischen Einzeluntersuchungen begegnen wir vom Wintersemester 1914/15 ab in Gestalt einer „‚Vergleichenden Grammatik der baltischen Sprachen‘. Im Unterschied zu anderen Disziplinen blieben die Baltistik wie auch die Sorabistik auch später allein an Leskiens Person gebunden.“8 Der eigentliche Beginn der Baltistik wird mit dem Letten Janis Endzelins (1873-1962) angesetzt, der ursprünglich Philologe war und als solcher an der Universität Kazan wirkte, zuvor Gymnasiallehrer und Dozent in Dorpat/Tartu war, wo er erste Arbeiten zum Lettischen verfasste. Zusammen mit dem lettischen Lexikographen K. Mühlenbach unternahm er Studienreisen durch Lettland, wohin er 1920 zurückkehrte und 1921 das Amt des Bildungsministers übernommen hatte. Endzelins hatte 1922 eine „Lettische Grammatik“ in deutscher Sprache in Heidelberg bei Carl Winter veröffentlicht, sein vierbändiges Lettischdeutsches Wörterbuch erschien 1923 bis 1932 in Riga, 1943 folgte noch eine Darstellung der alten Preußen („Senprusų valoda“), veröffentlicht in Riga. Endzelins vertrat die Auffassung, dass man von einer „Baltischen Philologie“ erst ab 1920 sprechen könne, als die Litauer und die Letten mit ihren neuen Nationalstaaten auch ihre eigenen Universitäten bekamen, wo als offizieller Studiengegenstand auch die Baltische Philologie vertreten war. Adalbert Bezzenberger (1851-1921), Professor für baltische Sprachen an der Universität Königsberg studierte in München und Göttingen vor allem Indo-Iranistik, schloss seine Studien 1872 mit einer germanistischen Dissertation ab, im Jahre 1874 folgte seine germa6 7 8
V. Falkenhahn: Zu den Anfängen der Baltistik. Berlin 1964, S.239-266. R. Eckert: Zu Leskiens baltistischen Forschungen, in: Zeitschrift für Slawistik 26, 1981, S.204. A. Richter: 100 Jahre deutsche Slawistik. Zum Gedenken an einen Begründer: August Leskien 18401916, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der TH Magdeburg 13, 1969, H.7, S.729-730.
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nistische Habilitation. Durch den Sprachvergleicher August Fick wurde die Aufmerksamkeit Bezzenbergers auf die baltischen Sprachen gelenkt, er unternahm Studienreisen nach „Preußisch-Litauen“ und widmete sich nunmehr ganz der Baltistik. 1876 gründete er die Zeitschrift „Beiträge zur Kunde der indogermanischen Sprachen“, 1877 veröffentlichte er in Göttingen seine „Beiträge zur Geschichte der litauischen Sprache“. 1879 wurde er Professor in Göttingen, 1880 in Königsberg, wo er dreimal zum Rektor gewählt wurde. Von Bezzenberger liegen zahlreiche Veröffentlichungen zu den meisten Teilgebieten der Baltistik vor. Erich Berneker (1874-1937), wurde 1895 an der Universität Leipzig mit der von August Leskien betreuten Dissertation „Die preussische Sprache. Texte, Grammatik, etymologisches Wörterbuch“ promoviert, die 1896 als Buchveröffentlichung in Straßburg erschien. In seinem Gutachten hatte sich Leskien u.a. wie folgt zu Bernekers Abhandlung geäußert: „Die altpreußischen Sprachquellen sind seit Jahrzehnten nicht zusammenfassend behandelt worden, und die früheren Bearbeiter litten namentlich darunter, daß die Bearbeiter nicht genügend litauisch verstanden. Der Kandidat hat nun, ausgerüstet mit guter Kenntnis des Litauischen, eine umfassende Darstellung des Preussischen unternommen…“9 Erich Berneker, der sich im Jahre 1899 in Berlin habilitiert hatte, war 1902-1909 Professor an der Deutschen Universität Prag, 1909-1911 an der Universität Breslau und von 1911 bis 1937 Professor an der Universität München, wo er im Sommersemester 1914 erstmals „Litauische Übungen“ abhielt, denen dann weitere Veranstaltungen aus dem Bereiche der Baltischen Philologie folgten. Nach dem Ersten Weltkrieg erlebte die Baltische Philologie in München einen großen Aufschwung, was sicher auch in Zusammenhang mit der neuen Selbständigkeit Litauens und Lettlands zu sehen ist. Auffallend ist nunmehr eine relativ hohe Zahl von Studierenden aus diesen beiden Ländern. Im Wintersemester 1918/19 behandelte Berneker in seinen Übungen nicht nur das Litauische, sondern auch das Lettische, an der Veranstaltung nahmen neun Studenten teil. Im Sommersemester 1921 folgten „Litauische Übungen“, besucht von 14 Teilnehmern. Die litauischen Übungen wurden im Sommersemester 1925 erneut durchgeführt und im folgenden Wintersemester noch fortgesetzt. Für das Sommersemester 1927 hatte Berneker Übungen sowohl an slavischen als auch an litauischen Texten angekündigt. Im folgenden Wintersemester 1927/28 wurden litauische und altkirchenslawische Texte behandelt, ebenso im Wintersemester 1930/31 und im Sommersemester 1931. Die slawische und baltische Volksdichtung war ein Vorlesungsthema im Sommersemester 1934. Mit Beginn des Wintersemesters 1924/25 war Erich Berneker ein besoldeter Lehrauftrag für Baltische Philologie erteilt worden. Damit war keine Erweiterung seiner bisherigen Lehrtätigkeit verbunden, die Erteilung war vielmehr nicht nur als staatliche Anerkennung seiner Leistungen in diesem wissenschaftlichen Bereich, sondern vor allem im Zusammenhang mit seinem Ruf an die Universität Berlin im Sommer 1924 zu sehen. In einem anlässlich der 100-Jahrfeier der Verlegung der Universität München von Landshut nach München im Jahre 1927 von Berneker veröffentlichten Beitrag heißt es: „Die Übungen des Seminars, die nun während des Krieges unterbrochen werden mussten, erfreuen sich steigender und stetiger Teilnahme der Studierenden. In Interpretationen und Vorträgen der Seminarmitglieder werden die wichtigsten Stoffe der
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A. Richter: 100 Jahre deutsche Slawistik, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der TH Magdeburg 15, 1971, H.5, S.532.
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gesamten slavischen Philologie und Teile der Baltischen Philologie behandelt, eine unentbehrliche Ergänzung der Vorlesungen.“10 Zur Erweiterung der Bibliotheksbestände wurde 1922 erstmals eine Sendung litauischer Bücher im Auftrage des Bildungsministers der Republik Litauen an das „SlavischLitauische Seminar“ der Universität München geschickt. Im Jahre 1924 wurde der bekannte Schriftsteller Balys Sruoga von Erich Berneker mit der Dissertation „Die Darstellung im litauischen Volkslied“ promoviert. Wie hoch gerade Bernekers Tätigkeit als Lehrer und Forscher nicht nur im Bereiche der Slawischen, sondern auch der Baltischen Philologie einzuschätzen ist, zeigt uns nicht nur sein Slavisches Etymologisches Wörterbuch11, das ohne seine weitreichenden Kenntnisse der baltischen Sprachen in dieser Form undenkbar wäre, sondern auch die hohe Einschätzung, die er vor allem in Litauen nicht nur zu Lebzeiten, sondern auch heute noch findet12. Bereits in den ersten Jahren seiner wissenschaftlichen Laufbahn war Erich Berneker sich dessen bewußt geworden, dass eine Behandlung vieler historischer Probleme der slawischen Sprachwissenschaft nur unter Einbeziehung der baltischen Sprachen möglich ist. Trotz der heute nach wie vor aktuellen „baltoslawischen Sprachgemeinschaft“ ist es vielfach zu einer mehr oder weniger unauffälligen Abwendung der Slawischen Philologie von der Baltistik gekommen, so dass bei Horst Röhling in einer Besprechung des Katalogs der Baltica-Abteilung der „Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz“ zu lesen ist: „Die mittlerweile wohl überall auch organisatorisch vollzogene Trennung von baltischer und slavischer Philologie markiert das Ende einer wissenschaftsgeschichtlichen Periode, in der nicht selten Slavisten mit baltistischen Arbeiten hervorgetreten sind oder ihre Laubahn damit begonnen haben.“13 Eine besondere Rolle in der Geschichte der Baltischen Philologie hat Georg Gerullis (1888-1945) eingenommen, weil er sich nicht nur als Wissenschaftler betätigt hat, sondern auch wiederholt staatliche Ämter in den Jahren nach 1933 eingenommen hat, u.a. als Ministerialdirektor im preußischen Bildungsministerium, ein Amt, das er jedoch sehr bald wegen aufkommender Differenzen mit der Regierung niederlegte und in den wissenschaftlichen Arbeitsbereich zurückkehrte. Zeitweise war Gerullis auch sächsischer Hochschulreferent und war in einem Ausschuss für „Erneuerung der Hochschule“ für die Amtsenthebung des Ostpreußenhistorikers Georg Sacke mit verantwortlich. Georg Gerullis wurde am 13. August 1888 in Jogdauen bei Tilsit als Sohn eines litauischen Landwirtes geboren, hatte das Gymnasium in Tilsit besucht und studierte 1909-1912 Indogermanistik und Klassische Philologie in Königsberg und Berlin. 1912 wurde er bei A.Bezzenberger mit der Dissertation „De prussicis Sambiensium locorum nominibus“ promoviert, war seit 1919 Privatdozent an der Universität Königsberg, 1922 bis 1933 außerordentlicher Professor für Baltische Philologie in Leipzig, 1934 bis 1937 ordentlicher Professor in Königsberg und seit 1937 an der Universität Berlin. 1921 bis 1922 war Gerullis als Studienrat in Königsberg tätig. Nur vom 1. bis 12. April 1933 war Gerullis kommissarischer Personalreferent im Sächsischen Volksbildungsministerium nachdem er der NSDAP bereits am 15. Dezember 1930 beigetreten war und vom 1. Januar bis 1. April 1933 der SA angehörte. Seit dem 12. April 1933 war er Ministerialdirektor im Preußischen Kultusministerium. In Königsberg wurde Gerullis zum ordentlichen Mitglied der dortigen 10 11 12 13
E. Berneker: Das Seminar für Slavische Philologie, in: Die wissenschaftlichen Anstalten der LudwigMaximilian-Universität zu München. Chronik zur Jahrhundertfeier im Auftrag des akad.Senats herausgegeben von K.-A.v.Müller. München 1926, S.193. E. Berneker: Slavisches Etymologisches Wörterbuch I.Bd.A-L. Heidelberg 1924. Vgl.A.Sabaliauskas: Erichas Bernekeris, in: Musu Kalba 1974, H.1, S.37-40. H. Röhling, in:Verband der Bibliotheken des Landes Nordrhein-Westfalen e.V. 31, 1981, Nr.2, S.209211, hier 209-210.
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„Gelehrten Gesellschaft“ gewählt, korrespondierendes Mitglied war Gerullis bei der „Filologen Biedriba“ in Riga.14 In Königsberg, wo Gerullis kommissarisch das Amt des Rektors der Albertus-Universität innehatte, kam es zu schwerwiegenden Auseinandersetzungen mit Gauleiter Erich Koch. In einem Schreiben vom 5.Mai 1936 an das Reichs- und Preußische Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung schrieb der stellvertretende Gauleiter in Königsberg: „Wie ich erfahren habe, soll in den nächsten Tagen eine Kommission des Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung nach Königsberg kommen, um hier in der Angelegenheit betr. des Rektors der Albertus-Universität Gerullis zu verhandeln. Der Gauleiter und Oberpräsident möchte diese Kommission selbst vor ihrer Beschäftigung mit der eigentlichen Materie kurz informatorisch sprechen. Er befindet sich aber gegenwärtig auf einer Gauleiterkonferenz in München und wird erst am Mittwoch, den 13. Mai d.J. hierher zurückkehren. Ich möchte deshalb ergebenst anheim stellen, den Besuch bis zu diesem Zeitpunkt zu verschieben.“15 Gerullis, der u.a. aufgrund seiner wissenschaftlichen Leistungen am 20. Juni 1936 zum korrespondierenden Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften gewählt worden war, wurde aufgrund der in Königsberg entstandenen Schwierigkeiten zum 1. April 1937 in gleicher Diensteigenschaft, nämlich als ordentlicher Professor der baltischen Philologie an die Philosophische Fakultät der Universität Berlin versetzt und darauf hingewiesen, dass er sein Lehramt in Vorlesungen und Übungen angemessen wahrzunehmen habe und in jedem Semester mindestens eine „private“, alle zwei Jahre eine „öffentliche Vorlesung“ zu halten habe. In diesem Zusammenhang wurde auch genehmigt, dass die baltische Seminarbibliothek von Königsberg nach Berlin mitgenommen werden könne. Damit ist die erstaunliche Tatsache dargelegt, dass aufgrund parteiinterner Differenzen, ein Universitätsfach von einer Universität, nämlich Königsberg, an eine andere, nämlich Berlin verlegt wurde. Kurz vorher war jedoch versucht worden, die Baltische Philologie von Königsberg nach Marburg an der Lahn zu verlegen. In einem Schreiben vom 15. Januar 1937 des Reichs- und Preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an den Kurator der Universität Marburg hieß es: „Ich beabsichtige, den ordentlichen Professor für Baltische Philologie an der Universität Königsberg Georg Gerullis zum 1. März 1937 unter Verlegung seines Lehrstuhls an die dortige Universität nach Marburg zu berufen, und ersuche, die Philosophische Fakultät hierzu Stellung nehmen zu lassen. Auf tunliche Beschleunigung ersuche ich hinzuwirken.“16 In der Antwort der Philosophischen Fakultät der Universität Marburg hieß es bereits am 21. Januar desselben Jahres: „Die Philosophische Fakultät hat, seitdem mir als Dekan die Führung derselben übertragen worden ist, ihr Hauptaugenmerk auf die Entwicklung der Sprachwissenschaft und auf den Ausbau der verschiedensten Gebiete der Sprachwissenschaft gelegt. Die Fakultät begrüßt somit aufs lebhafteste die Absicht des vorgesetzten Ministeriums, einen weiteren Zweig der Sprachwissenschaften durch Verlegung des Lehrstuhls für Baltische Philologie nach hier auszugestalten, zumal sie auch in dem zukünftigen Inhaber des neuen Lehrstuhls, Professor Gerullis, ein Mitglied begrüßt, das behilflich sein wird, die Gesamtfakultät im Sinne des neuen Staates weiter auszubauen. 14 15 16
Barch/Personalakte G.Gerullis. Dass. Dass.
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Trotzdem vermag sich die Fakultät nicht der Tatsache verschließen, daß für das eng begrenzte Gebiet der Baltischen Philologie in Marburg als einer ausgesprochen westdeutschen Universität nur geringes Bedürfnis vorliegt, wobei sie auch die Aufmerksamkeit darauf hinlenkt, daß hier weder an der Universitäts-Bibliothek, noch in den Seminar-Bibliotheken das genügende Unterrichtsmaterial zur Verfügung steht.“17 Im Zusammenhang mit Georg Gerullis tauchten bei der Berliner Publikationsstelle, geleitet von Albert Brackmann, litauische Presseauszüge aus „Lietuvos Aidas“, Nr. 74 vom 17. Februar 1938 auf, wo von „schiefen Ausführungen“ des Professor Gerullis im Rahmen eines Gastvortrages in Stockholm kritisch die Rede war: „Am 7. Februar hielt Prof. Gerullis in der Philologischen Gesellschaft der Stockholmer Hochschule eine Vorlesung über das Thema „Die baltischen Stämme und ihre Beziehungen zum germanischen Norden“. Den Inhalt der Vorlesung bildeten die Züge der Wikinger (Dänen und Schweden) in die baltischen Länder – Preussen, Kurland und Semgallen –, wo sie Städte, Handelszentren usw. gegründet haben sollen. Die archäologischen Grabungen sollen eine Ausbreitung der Wikingerkultur an der ganzen Küste entlang und in das Innere des Landes an den Flussläufen (Weichsel, Memel, Düna) entlang zeigen. Unter anderen Ausgrabungen zeigten die Grabungen des Prof. Engert im Memelgebiet bei Linkaiten die Spuren der hohen Wikingerkultur. Resultate der Sprachforschung sollen die Ausbreitung der Wikingersiedlungen in den aistischen Ländern bestätigen. Genau das gleiche zeigten angeblich auch die schriftlichen Ueberlieferungen (Reisebeschreibungen des Wulfstan usw.). Das Erbe der Wikinger hätten die Deutschen übernommen, jedoch mit dem Unterschiede, dass die Wikinger sich mit den örtlichen Einwohnern vermischten, zum Teil sich assimilierten und später die Verteidigung vor den neuankommenden Wikingerscharen organisierten, und zweitens sich überhaupt nicht um die Christianisierung der örtlichen Einwohner kümmerten. Die Deutschen dagegen hätten sich in keiner Weise mit der eingesessenen Bevölkerung gemischt, hätten das Land planmäßig erobert, Burgen gebaut und eine verwaltungstechnische Einteilung und Verwaltung organisiert. Die Deutschen wären ja berühmte Organisatoren. Außerdem wäre es die Aufgabe der Deutschen gewesen, die Bewohner zu christianisieren. In neuerer Zeit drangen die Russen in das Baltikum und unterjochten die dortigen Völker. Aus dieser Knechtschaft befreiten sie die Ereignisse des Jahres 1918. Der Vortragende schloss ungefähr mit folgenden Worten: „Haben wir die Hoffnung, daß die baltischen Staaten nicht noch einmal unter das russische Joch kommen, das sie so schwer auf ihrem Nacken gespürt haben.“ Von einzelnen Äußerungen des Vortragenden könnte man hervorheben: 1. die Behauptung, daß das heutige Memelgebiet fast gänzlich unbewohnt gewesen sei, als die Deutschen sich dort niederließen. Die Bewohner sollen erst im 15. bis 17. Jahrhundert ins Memelgebiet gekommen sein, 2.der breite Küstengürtel (das Land Ceclis) und das ganze heutige Gebiet hätte, stützt man sich auf die Ortsnamenforschungen Bugas, von Kuren, d.h. von Letten bewohnt gewesen sein müssen. In Wirklichkeit ist bekanntlich dieses Ergebnis der Forschung Bugas falsch, denn in diesem Land lebten mit größter Gewissheit nur Litauer. Doch das hat Prof. Gerullis verschwiegen. Die schwedische Presse hat ziemlich wenig auf die Reise und die Vorlesung von Gerullis reagiert, größtenteils bot sie nur das Thema der Vorlesung. Etwas längere Berichte
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brachten „Svenska Dagbladet“ und „Aftenbladet“. 40 Studenten und zwei Professoren (Prof. Normann und Dozent Schück) waren zu der Vorlesung gekommen.“18 Gerullis hat in der deutschen Baltistik weitreichende wissenschaftliche Leistungen aufzuweisen, angefangen von seiner bereits erwähnten Königsberger Dissertation des Jahres 1912, seiner in litauischer und deutscher Sprache herausgegebenen „Mažvydas-Ausgabe“ der Jahre 1922 und 192319 bis hin zu seinen ebenfalls 1922 erschienenen „Altpreußischen Ortsnamen“, seinen 1930 erschienenen „Litauischen Dialektstudien“ und der zusammen mit dem norwegischen Slawisten Christian Stang veröffentlichten Monographie über die litauische Fischersprache in Preußen.20 In einer 1932 erschienenen Abhandlung behandelte Gerullis die Entwicklung des Deutschtums in einem litauisch-sprachigen Gebiet. Gerullis war auch Mitherausgeber des „Archivs für Slavische Philologie“ und der baltischen Veröffentlichungen der bei Carl Winter in Heidelberg erschienenen „Indogermanischen Bibliothek“. Es scheint so gewesen zu sein, dass Gerullis als „alter Kämpfer“ zwar gewillt war, den Zielen der Partei zu dienen, in Königsberg aber in Konflikt mit den Spitzen der Gauleitung kam, daneben aber sich einer ideologisch nicht beeinflussbaren Wissenschaft, nämlich der Baltischen Philologie widmete. Gerullis ist 1945 im Rahmen eines militärischen Auftrages in Riga erschossen worden. Sein genaues Todesdatum und die Umstände seines Todes sind nicht bekannt. Ein nicht unwesentlicher Teil des wissenschaftlichen Werkes von Reinhold Trautmann (1883-1951) war neben der Slawischen Philologie der Baltistik gewidmet, obwohl er im Gegensatz zu Gerullis, Berneker und Koschmieder das Fach nie offiziell vertreten hatte. Trautmann studierte neuere Sprachen, Germanistik und Indogermanistik in Freiburg i.Br., Berlin und Königsberg, wo ihn vor allem Bezzenberger entsprechend angeregt hatte. Von Trautmanns baltistischen Veröffentlichungen sind vor allem seine 1910 in Göttingen erschienenen „Altpreußischen Sprachdenkmäler“ zu nennen, wo er alle bekannten Sprachreste und auch ein etymologisches Wörterbuch des Altpreußischen zusammengestellt hatte. Zu nennen ist ferner sein 1923, 1970 als Nachdruck erschienenes „Baltisch-slawisches Wörterbuch“, das bis heute ein unverzichtbares Standardwerk darstellt. Anzuführen sind schließlich die 1925 in Göttingen erschienenen „Altpreußischen Personennamen“, mit dem Untertitel „Ein Beitrag zur baltischen Philologie“. Sichtbare Ergebnisse der Forschungs- und Lehrtätigkeit der genannten deutschen Baltisten zwischen den beiden Weltkriegen sind auch die Dissertationen, die zu sprachwissenschaftlichen, literaturwissenschaftlichen, historischen und anderen, die baltischen Völker betreffenden Themen veröffentlicht wurden. Sprachwissenschaftliche Themen behandelten die folgenden Dissertationen: Eberhard Tangl: Der Accusativus und Nominativus cum Participio im Altlitauischen. Einleitung und Inhaltsübersicht. Weimar 1928. Berlin, Phil. Diss. vom 5.März 1929. Paul Salopiata: Das Verhältnis der Evangelien-Texte in den ältesten katholisch-litauischen Drucken. Göttingen 1929. Königsberg, Phil. Diss. vom 10 Juni 1929. Pronas Skardžius: Die slavischen Lehnwörter im Altlitauischen. Kaunas 1931. Leipzig, Phil. Diss. vom 18.März 1931. Paul Schultze: Der Ausklang der litauischen Sprache im Kirchspiel Pillupönen. Kreis Stallupönen. Beiträge zur Geschichte und Volkskunde des osteuropäischen Grenzgebietes. Halle (Saale) 1932. Halle, Phil. Diss. vom 16.August 1932.
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Dass. Erschien als erster Band der fünften Abteilung „Baltische Bibliothek“ der von H.Hirt und W.Streitberg herausgegebenen „Indogermanischen Bibliothek“. Zu erwähnen ist auch seine Darstellung „Die altpreußischen Personennamen“, erschienen 1922 in Berlin und Leipzig.
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Helmut Arntz: Sprachliche Beziehungen zwischen Arisch und Baltoslavisch. Heidelberg 1933. (=Indogermanische Bibliothek.3.13.).Gießen, Phil. Diss. vom 20.Juni 1933. Walter Frenzlau: Die deutschen Formen der litauischen Orts- und Personennamen des Memelgebiets. Halle (Saale) 1936. (=Zeitschrift für Mundartforschung.Beih.13.).Königsberg, Phil. Diss. vom 28.März 1936. Viktor Falkenhahn: Der Übersetzer der litauischen Bibel Johannes Bretke und seine Helfer. Beiträge zur Kultur- und Kirchengeschichte Altpreußens. Königsberg und Berlin 1941. Königsberg, Phil. Diss. vom 2.November 1939.
Aus dem Bereiche der baltischen Sprachwissenschaft ist eine Habilitationsschrift zu nennen: Kurt von Stegmann Pritzwald: Das Attribut im Altlitauischen. Heidelberg 1934. (=Indogermanische Bibliothek.3.14.).Kiel, Philos. Habil.-Schr. von 1933.
Zu nennen ist in diesem Kontext auch eine Veröffentlichung von Ernst Fraenkel aus dem Bereich der Sprachwissenschaft aus dem Jahre 1929: Syntax der litauischen Postpositionen und Präpositionen, erschienen als Band 19 der „Sammlung indogermanischer Lehr- und Handbücher“ in Heidelberg. Das zweibändige „Etymologische Litauische Wörterbuch“ Ernst Fraenkels wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg bearbeitet, ebenso seine kurze Darstellung der baltischen Sprachen, die auch ins Litauische übersetzt wurde.21 Eine ganze Reihe anderer Dissertationen haben ebenfalls Themen behandelt, die die Baltistik im weiteren Sinne betreffen: Balis Sruoga: Die Darstellung im litauischen Volkslied. Memel 1924. München, Phil.Diss.vom 8.Februar 1924. Moritz Mintz: Die nationale Autonomie des Minderheitenrechts unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsentwicklung in den baltischen Randstaaten. Riga 1927. Jur. Diss. vom 18.Juni 1927. August Müller: Die preußisch-deutsche Kolonisation in Nordpolen und Litauen (Neuostpreußen). Teildruck I-III. Bromberg 1927.Marburg, Phil. Diss. vom 9.September 1927. Erich Maschke: Der Deutsche Orden und die preußische Bekehrung und Unterwerfung in den preußischbaltischen Minderheiten des 13.Jahrhunderts. Berlin 1928. Königsberg, Phil. Diss. vom 2.Oktober 1928. Antonina Domeikate: Die litauischen Volkslieder in der deutschen Literatur. Warupönen bei Schwirwindt/Ostpr.1928. München , Phil. Diss. vom 22.Dezember 1926. (1929). Abba Gomer: Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte des litauischen Judentums im 17. und 18.Jahrhundert. Bochum 1930. Köln, Phil. Diss. vom 26.August 1930. Heinrich Thoma: Die slavische und baltische Religion vergleichend dargestellt. Wollau Bez. Breslau 1934. Bonn, Phil. Diss. vom 20.Dezember 1933. Jürgen von Hehn: Die lettisch-litterärische Gesellschaft und das Lettentum. Königsberg und Berlin 1938. (=Schriften der Albertus-Universität, Geisteswissenschaftliche Reihe. Bd.20.). Königsberg, Phil. Diss. vom 30.September 1935. Heinz Comberg: Die lettische Revolution von 1905/06 im Spiegel der reichsdeutschen Presse und Publizistik. Greifswald 1939. Greifswald Phil. Diss. vom 28.September 1939. Manfred Hellmann: Die preußische Herrschaft Tauroggen in Litauen (1690-1793). Berlin 1940. Königsberg, Phil. Diss. vom 17.April 1941. Lothar Kilian: Die schnurkeramische Kultur Ostpreußens und ihre Bedeutung für den Ursprung der Balten. o.O.1942. Königsberg, Phil. Diss. vom 2.November 1939. Hans-Bernd Peege: Lettische Angriffe auf die kulturelle Herrschaftsstellung der Deutschen in Lettland. o.O.1938. Greifswald, Phil. Diss. vom 29.Juli 1939. Margarethe Lindemuth: Das lettisch-deutsche Verhältnis vor dem Weltkriege auf Grund der lettischen Presse unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1905-1907. o.O. 1944. Heidelberg, Phil. Diss. vom 7.März 1945.
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Vgl. hierzu: Slawistik in Deutschland von den Anfängen bis 1945, Bautzen 1992, S.132-133.
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Burkhard Herm: Außereuropäische Einflüsse auf die Bevölkerungszusammensetzung von Litauen. Berlin 1945. Berlin, Med. Diss. vom 12.April 1945. Helmut Muskat: Bismarck und die Balten. Ein geschichtlicher Beitrag zu den deutsch-baltischen Beziehungen. Berlin 1934. Homburg, Phil. Diss. vom 29.November 1934. Jonas Puzinas: Vorgeschichtsforschung und Nationalbewusstsein in Litauen. Kaunas 1935. Heidelberg, Phil. Diss. vom 30.September 1935. Eduard Sturm (Šturms): Die ältere Bronzezeit im Ostbaltikum. Berlin 1936. (=Vorgeschichtliche Forschungen.H.10.). Königsberg, Phil. Diss. vom 15.Mai 1936. Vladislas Kaupas: Die Presse Litauens. Unter Berücksichtigung des nationalen Gedankens und der öffentlichen Meinung. Teil 1: Vom Anfang bis zum Jahre 1904. Band 1. Klaipeda (Memel) 1936. München, Phil. Diss. vom 23.März 1936. Pronas Meškauskas: Volksbräuche im litauischen Familienleben. (Niederkunft, Taufe, Hochzeit und Begräbnis der preußischen Litauer). Tilsit 1936. Leipzig, Phil. Diss. vom 16.März 1936
Anzuführen ist für den weiteren Bereich der Baltistik auch noch eine Berliner Habilitationsschrift: Klaus Grimm: Jahre deutscher Entscheidung im Baltikum 1918/1919. Mit Abb. auf Kunstdrucktafeln u. Ktn. Essen 1939. Berlin, Habil.-Schrift Phil. F. vom 13.Dezember 1939.
Aus den angeführten baltischen Themen wird deutlich, wie problematisch in mancher Hinsicht das Verhältnis Deutschlands zu den baltischen Staaten vor allem im Hinblick auf die nach dem Ersten Weltkrieg durchgeführten Enteignungen war. Am 16. November 1934 wurde von der Deutschen Gesandtschaft in Kowno (Kaunas) an das Auswärtige Amt in Berlin eine Mitteilung darüber gemacht, dass seit einiger Zeit bereits eine von der Studentenverbindung „Romuwa“ veröffentlichte Broschüre mit dem Titel „Preußen – das vierte Glied des Baltikums“ verbreitet wurde, in der die Ansprüche Litauens auf Ostpreußen dargelegt wurden. Die Broschüre trug auf der Titelseite auch eine geographische Karte, auf der Ostpreußen als Bestandteil des Baltikums gekennzeichnet wurde. Im Vorwort der von A. Umbras geschriebenen, von A. Briedis redigierten Schrift mit dem Untertitel „Die baltischen Länder: Estland, Lettland, Litauen, Preußen“ heißt es: „Glauben wir an die Wiedergeburt der Balten – Aisten! In Europa wird es enger – überall riecht man Pulver. Die Fabriken arbeiten Nächte hindurch an der Herstellung von modernem Kriegsgerät und von Gasen. Wir stehen am Vorabend einer neuen Weltkatastrophe, die für die kleinen gespaltenen Völker eine besondere Gefahr bedeutet. Auf diesem dunklen Hintergrund erscheint unerwartet aber die baltische Idee als Rettung. In Reval, Riga und Kaunas hört man die unzweideutigen und entschlossenen Losungen: Halten wir einander fest, stellen wir uns unter einen baltischen Schild, hören wir auf das Wort Geschichte! Ja, hören wir auf das Wort der baltischen Geschichte! Sie wird uns veranlassen, zu einem Neuen – Baltikum aufzuerstehen, die große Wiedergeburt der Balten - Aisten durchzumachen. Der Glaube versetzt Berge…Also glauben wir, und die Preußen werden wieder erstehen! Die in dieser Schrift niedergelegten Gedanken haben auch die Angehörigen der „Romuwa“ jahrelang beschäftigt. Es ist aber auch sehr erfreulich, daß sich auch neue Verfechter dieser Idee finden… Die Verwirklichung der baltischen Idee ist unsere heilige Pflicht. Seien wir also ehrenhafte Balten – Aisten und erfüllen sie. Vergessen wir dabei nicht, daß die Grenzen
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der Balten-Aisten hinter Elko, Elbing, ja selbst dort liegen, wo der zweite unterwegs befindliche Ehrenkranz Litauens festgehalten worden ist.“22 Unterzeichnet ist dieses Vorwort von Albinas Briedis, dem Vorsitzenden der Sektion der Studentenkorporation „Romuwa“ an der Universität Vytautas des Großen.23 In einem anderen Abschnitt dieser Broschüre mit dem Titel „Ostpreußen und die deutschen Pläne“ wurde angenommen, daß nach dem Abschluß des deutsch-polnischen Verständigungspaktes der deutsche „Drang nach dem Osten“ von Ostpreußen aus organisiert werde, damit Ostpreußen und die deutsche Ostpolitik eine ganz entscheidende Bedeutung habe. Es sei daher unerlässlich, heißt es in der Broschüre weiter, möglichst viel über Ostpreußen zu wissen… Über die Bevölkerung wird in der Broschüre gesagt, daß der Typ des preußischen Landbewohners dem des Žemaiten sehr ähnlich sei. Etwas anderes sei aber die Sprachenfrage: Aus den Ortsnamen in Preußen müsse jedoch der Schluß gezogen werden, daß vor nicht allzu langer Zeit die baltische, aistisch-preußische Sprache noch gebräuchlich gewesen sei. Anhand einer Kartenskizze wird noch deutlich gemacht, daß in der Tat die meisten der preußischen Ortsnamen baltischer Herkunft seien.24 In einer litauischen Verlautbarung, veröffentlicht am 23.November 1935, wurde darauf hingewiesen, daß im Jahre 1705 in Preußen eine Regierungsverordnung zur Ordnung des Fußvolkes in der Reiterei in litauischer Sprache erlassen worden sei! Im Jahre 1777 wurde in Ostpreußen eine Verordnung über die Tätigkeit der Amtsgerichte in litauischer Sprache bekannt gegeben. Im Jahre 1799 schließlich erschien in litauischer Sprache eine Verordnung, die die Zahlungen für die aus dem Militärdienst entlassenen Unteroffiziere festlegte. Auch in späteren Jahren wurden noch mehrere andere Erlasse der preußischen Regierung in litauischer Sprache veröffentlicht. Ganz im Gegensatz zu diesen Tatsachen stand eine Sammlung von 17000 Unterschriften, die dem preußischen König Wilhelm I. 1879 mit der Bitte vorgelegt wurden, den Gebrauch der litauischen Sprache in den Schulen und Kirchen weiter zuzulassen. Im Jahre 1892 folgte eine weitere Bittschrift mit nunmehr 27775 Unterschriften in der gleichen Angelegenheit. Noch im Jahre 1848 waren litauische Gottesdienste in zahlreichen ostpreußischen Gemeinden möglich, so in Darkehnen, Gumbinnen, Insterburg, Wellau, Goldap, Labiau, Tilsit, Niedung, Ragnit, Memel und Heydekrug. Im Jahre 1886 sprachen in den nördlichen und mittleren Kreisen Preußisch-Litauens von 59629 Kindern 20778 zu Hause nur Litauisch, also mehr als ein Drittel. Anzuführen ist in diesem Zusammengang noch ein Denkmal für den preußischen König Friedrich Wilhelm I. in Gumbinnen aus dem Jahre 1835, wo sich in der Inschrift die Worte fanden: „Littauens Wiederhersteller“.25 Aus einem Bericht des Regierungspräsidenten von Gumbinen an den Oberpräsidenten in Königsberg vom 7. Februar 1936 geht auf eine Anfrage des Reichs- und Preußischen Ministers des Innern vom 8. Oktober des gleichen Jahres hervor, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts für den Kreis Gumbinen nur von „Littauern“ die Rede war, wie dies der Regierungspräsident von Gumbinen ausdrücklich festgestellt hatte. In Gumbinen führten auch zwei Kavallerie- und zwei Artillerieregimenter die Bezeichnung „litthauisch“: „Besonders lange hat sich die litauische Sprache in dem abgetretenen Memelgebiete, in den Kreisen Labiau und Niederung (Haffgebiet) und den Melstrom hinauf – Kreis Tilsit – Ragnit – erhalten. Während in den Kreisen Pillkallen und Stallupönen nur noch vereinzelt und von alten Menschen neben der deutschen auch die litauische Sprache gesprochen wird, ist weniger am Memelstromtal im Haffgebiet noch oft das 22 23 24 25
Die baltischen Dissertationen wurden den betreffenden Jahrgängen des „Deutschen Hochschulschriftenverzeichnisses“ entnommen. BARCH R 153/1313-Litauertum in Ostpreußen Dass. Dass.
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Litauische – meistenteils gleichzeitiger Beherrschung der deutschen Sprache – die Umgangssprache in der Familie. Aber auch hier ist ungeachtet der Anstrengungen, die der „Naujasis Tilžes Kaleimis“ zur Erhaltung des Litauertums macht, mit Bestimmtheit mit einem völligen Verschwinden des Litauertums in der nächsten Generation zu rechnen.“26 Keine Beanstandung seitens der Publikationsstelle Berlin-Dahlem erfuhr ein Vortrag eines Königsberger Bibliotheksdirektors Dr. Krollmann, der sich mit der „Herkunft der Einwohner von Königsberg“ Anfang Januar 1936 auseinandersetzte und der ebenfalls im litauischen „Neujasis Tilzes Kaleimis“ vom 25. Januar 1936 erwähnt wurde. Krollmann hatte in seinen Ausführungen auf die Träger slawischer und litauischer Namen in Königsberg hingewiesen und auch auf die Tatsache aufmerksam gemacht, dass die Litauer nicht unmittelbar aus ihrer Heimat nach Königsberg gelangt seien, sondern schon gegen Ende der Zeit des Deutschen Ordens Aufnahme gefunden hätten, später aber gänzlich eingedeutscht worden seien.27 Für größere Aufregung sorgte dagegen ein in den „Leipzier Neuesten Nachrichten“ am 18. November 1936 erschienener Artikel mit dem Titel „Das Volk der Letten“ von Ernst Urssen anlässlich des 15. Jahrestages der Unabhängigkeit Lettlands, wo es wörtlich hieß: „Die Letten bilden zusammen mit den Litauern und den im Laufe der Geschichte germanisierten Alt-Preußen den baltischen Zweig der indogermanischen Völkerfamilie. Die Vorgeschichtsforschung beweist, daß als Urheimat der baltischen Völker das Gebiet von der Passarge (Fluß zwischen Königsberg und Danzig) bis zur Düna anzusehen ist. Hier kann schon für die Bronzezeit (um 1500 v.Chr.) ein urbaltisches Kulturgebiet festgestellt werden. Dieser ihrer Heimat sind die baltischen Völker im wesentlichen bis zum heutigen Tage treu geblieben. Hieraus erklärt es sich auch, daß die lettische und ganz besonders die litauische Sprache viele altertümliche Elemente aufbewahrt hat, die sonst nur noch im Sanskrit zu finden sind. Die baltischen Sprachen sind eng miteinander verwandt und bilden einen durchaus selbständigen Zweig der indogermanischen Sprachen. Um die Wende unserer Zeitrechnung setzten einzelne Stämme der Letten über den Mittellauf der Düna und breiteten sich im nördlichen Teil des heutigen Lettland aus. Im Osten erreichten sie schnell die jetzige Grenze mit Sowjet-Rußland, die hierdurch ethnographisch gerechtfertigt wird, im Westen gegen das Meer und die Dünamündung hin – konnten sie nur langsam vordringen, denn dort saßen die zu den finnisch-ugrischen Völkern gehörigen Liven, die von den Letten im Laufe der Zeit allmählich aufgesogen wurden… … Die Ausgrabungen zeigen auf das deutlichste, daß die baltischen Völker eine beachtenswerte Kulturstufe erreicht hatten und ebenso wenig wie die alten Germanen als Barbaren zu betrachten seien…“28 In einer Reaktion der „Livländischen Gemeinnützigen und ökonomischen Sozietät/Institut für Wissenschaftliche Heimatforschung“ in Dorpat vom 23. November 1936 wurde mitgeteilt, dass dieser Aufsatz in der deutschen Volksgruppe großes Ärgernis hervorgerufen habe, während die lettische Presse dieser Veröffentlichung große Anerkennung entgegenbrachte. So war u.a. von „objektiver Anerkennung der hohen lettischen Kultur in Deutschland“ die Rede, ferner wurde von Anerkennung der neuen lettischen Geschichtsschreibung durch die deutsche Wissenschaft gesprochen, schließlich wurde in dem Beitrag auch eine
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Dass. Dass. BARCH R 153/1318-15 Jahre unabhängiges Lettland.
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Widerlegung der deutschen Auffassungen von der deutschbaltischen Geschichte gesprochen. In einer Mitteilung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda vom 12. Januar 1937 an die „Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft in Berlin“ heißt es zu diesem Artikel „Das Volk der Letten“, dass die berechtigte Annahme bestehe, dass der Verfasser des beanstandeten Artikels im Besitze von Literatur über die geschichtliche Entwicklung Lettlands gelangt ist, die vor allem vor dem lettischen Staatsfeiertag durch die lettischen Konsulate an einige große deutsche Zeitungen versandt wurde. Diese Literatur sei, heißt es weiter, vom Verfasser augenscheinlich recht kritiklos und ohne Kenntnis der tatsächlichen geschichtlichen Zusammenhänge verwertet worden.29 Von deutscher Seite wurde der Plan im Ansatz verwirklicht, ein mehrbändiges Werk unter dem Titel „Baltische Lande“ herauszugeben. Zu diesem Zweck wurde am 24. Januar 1941 in Berlin eine Besprechung durchgeführt, an der Albert Brackmann als Generaldirektor der Staatlichen Archive und Leiter der Publikationsstelle Dahlem, Staatsarchivdirektor Papritz, der Historiker Reinhard Wittram, der Vor- und Frühgeschichtler Carl Engel sowie Leonid Arbusow teilnahmen. Für das groß angelegte Werk, von dem aber nur zwei Bände erscheinen konnten, waren neben einer Darstellung der Vorgeschichte der baltischen Lande deren frühgeschichtliche Quellen als weitere Bände vorgesehen. Ein weiterer Band sollte den Bolschewismus und die baltische Front zum Thema haben, wurde aber einstweilen zurückgestellt und sollte aus politischen Gründen auch nicht mehr bearbeitet werden. Für zwei weitere Bände war die Kunstgeschichte mit Einzelbeiträgen verschiedener Verfasser vorgesehen. Besonders behandelt werden sollte Livland und das Reich, Literaturgeschichte, Kriegsgeschichte, Kultur und Geistesgeschichte der baltischen Lande sollten weitere zu bearbeitende Themen sein. Am 18. Juli 1941 fand in Posen eine weitere Besprechung zur Fortführung des Plans der Publikation „Baltische Lande“ statt. Herausgegeben wurden die „Baltischen Lande“ von Albert Brackmann und Carl Engel. Der deutsche Historiker Brackmann (1871-1952), wurde 1905 Professor in Marburg, 1913 in Königsberg und 1922 in Berlin, wo er auch die Generaldirektion des Archivwesens übernahm und seit 1930 die Leitung der „Publikationsstelle“ in Dahlem innehatte. Von seinen Veröffentlichungen sind zu nennen „Germania pontificia“ in vier Bänden (19101927), „Papsttum und Kaisertum im Mittelalter“ (1926) sowie seine in fünf Ausgaben erschienenen „Ostpreußischen Kriegshefte“ (1915-1916). Brackmann war Mitglied der Zentraldirektion der „Monumenta Germaniae historica“ und Mitherausgeber der „Historischen Zeitschrift“. Zu erwähnen ist noch seine Auseinandersetzung mit den Auffassungen der polnischen Geschichtswissenschaft nach dem Ersten Weltkriege. Carl Engel war Professor für Vor- und Frühgeschichte an der Universität Greifswald, zugleich auch Leiter der Außendienststelle West des Pommerschen Landesmuseums. Vor seiner Berufung an die Universität Greifswald war Engel Professor an der deutschen Hochschule „Herder-Institut“ in Riga bis 1937. Der erste Band der „Baltischen Lande“, herausgeberisch von Carl Engel betreut, erschien 1939 und bietet ein eindrucksvolles Bild der damals aktuellen baltistischen Forschungen im weitesten Sinne. Es finden sich u.a. die folgenden Beiträge namhafter Wissenschaftler, von denen an erster Stelle Valentin Kiparsky, damals Dozent an der Universität Helsinki, mit seinen Aufsätzen „Die Ostseefinnen im Baltikum“ und „Baltische Sprachen und Völker“ genannt sei. Das „Altgermanische Sprachgut in den ostbaltischen Ländern“ wurde von T.E. Karsten behandelt, damals Professor an der Universität Helsinki. „Die mittelalterliche Schriftüberlieferung als Quelle für die Frühgeschichte der ostbaltischen Völker“ war das Thema von Leonid Arbusow, Professor am „Herder-Institut“, der 29
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damaligen privaten deutschen Hochschule in Riga. Heinrich Laakmann vom Institut für wissenschaftliche Heimatforschung in Dorpat behandelte die Themen „Estland und Livland in frühgeschichtlicher Zeit“ und gab ferner einen Abriss der Gründungsgeschichte der Stadt Riga. Paul Johansen, Stadtarchivar in Reval (Tallin) behandelte Kurlands Bewohner zu Anfang der historischen Zeit. Der Band wurde abgeschlossen mit einem Beitrag von Reinhard Wittram, damals ebenfalls am „Herder-Institut“ in Riga tätig. Eine Sonderstellung nimmt in der Reihe der hier veröffentlichen Abhandlungen aber sicher Sophie Ehrhardts Abhandlung zur Rassenkunde und Rassengeschichte der Baltischen Länder und Ostpreußens ein, wo sie einen Bericht über die bisherigen rassenkundlichen Untersuchungsergebnisse abgibt. Rein sprachwissenschaftlich ausgerichtet sind die beiden Beiträge von Valentin Kiparsky, wo eine objektive Darstellung der Bevölkerungsverhältnisse im Baltikum gegeben wird, wenn es bei ihm in „Baltische Sprachen und Völker“ u.a. heißt: „Das heute stark zusammengeschrumpfte Gebiet der baltischen Völker war noch zu Beginn der historischen Zeit (12.J.) um ein beträchtliches größer; seine wahrscheinliche maximale Ausdehnung zeigt unsere Karte, die auf Grund der OrtsnamenForschungen, besonders von Max Vasmer für den Osten, Gerullis und F.Lorentz für den Westen des Gebietes entworfen ist. Welcher Teil dieser Gebiete als die eigentliche Urheimat der Balten gelten muß, ist vorläufig nicht festzustellen; auf philologischem Wege läßt sich jedenfalls für keinen Teil dieses Gebiets eine vorbaltische Bevölkerung nachweisen, sondern nur spätere Überdeckung der Balten durch Slawen im Süden und Osten, durch Ostseefinnen im Norden und Nordwesten und durch Deutsche im Westen. Erst im späten Mittelalter hat sich unter dem Schutz des deutschen Ordensstaates das lettische Sprachgebiet wieder auf Kosten der ostseefinnischen Liven in Kurland und Livland erweitert.“30 In diesem Beitrag war Kiparsky auch auf grundsätzliche Fragen der baltischen Völker und ihrer Sprachen eingegangen, wenn es u. a. heißt: „Die baltischen Sprachen, von denen uns zwei lebende, Litauisch und Lettisch und eine um 1700 ausgestorbene, Altpreußisch, bekannt sind, bilden einen Zweig der indogermanischen Sprachfamilie. Der Name ‚baltisch‘, der letzten Endes auf ‚Baltia‘ (Skandinavien) bei Plinius Nat.Hist.IV95 zurückgeht, wurde erst 1835 von Nesselmann vorgeschlagen. Vorher wurde dieser Sprachzweig der litulettische oder einfach der ‚lettische‘ genannt. Den heutigen lebenden baltischen Volkssprachen ist der Name vollständig fremd und darf daher nicht mit lit. Baltas ‚weiß‘ oder *balta ‚Sumpf‘ (russ.boloto) zusammengestellt werden.“31 In seinem Beitrag zum altgermanischen Lehngut in den ostbaltischen Ländern unterscheidet T. E. Karsten für Estland, Livland und Kurland bei den Lehnwörtern urgermanische und urnordische Lehnwörter neben älteren und jüngeren schwedischen Lehnwörtern sowie altdeutschen Lehnwörtern. Bei den Landes-, Volks-, Fluß- und Inselnamen unterscheidet Karsten urnordische und altschwedische Namen gegenüber altdeutschen Sprachdenkmälern u.a. auch in Form von Ortsnamen im Südostbaltikum. In seinem Beitrag „Baltische Lande – Schicksal und Name, Umrisse der äußeren geschichtlichen Wandlungen seit dem 13. Jahrhundert im Spiegel des Landesnamens“ geht Reinhard Wittram auch auf die Frage der Bezeichnungen des Baltikums näher ein: „Im Deutschen ist die Ausprägung eines dem Worte „baltisch“ entsprechenden Hauptworts als Landesnamen nicht gelungen. Es blieb bei den Zusammensetzungen, die in der Mitte des Jahrhunderts aufkamen: baltische Provinz, baltische Lande. Die 30 31
In: Baltische Lande. 1.Band: Ostbaltische Frühzeit. Leipzig 1939. S.48-49. Dass., S.49.
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gelehrte Bezeichnung „Baltikum“, die neben „Ostbaltikum“ gebraucht wurde, ist erst viel später in die Umgangssprache übergegangen und trotz ihrer bedenkenlosen Anwendung – mit der sprachlich ganz unglücklichen Ableitung „Baltikumer“ – ein Fremdkörper geblieben; sie wird den Charakter des Künstlichen und Sprachwidrigen nicht verlieren, sofern sie nicht wieder in die Schranken der Gelehrtensprache zurücktritt.“32 Mit dem Beitrag von Sophie Ehrhardt „Zur Rassenkunde und Rassengeschichte der Baltischen Länder und Ostpreußens“ wurden Erkenntnisse der „Rassenhygienischen und bevölkerungskundlichen Forschungsstelle“ des „Reichsgesundheitsamtes“ in Berlin ganz im Sinne der herrschenden Ideologie der Öffentlichkeit präsentiert, mit den folgenden einleitenden Erläuterungen begründet: „Heute leben in den baltischen Ländern die finnischen Völker der Esten und Liven und die baltische Völkergruppe der Letten und Litauer. Ihnen schließen sich gegen Westen die Ostpreußen an. Viele Volksstämme sind in den genannten Völkern aufgegangen und bestehen nicht mehr: So die Wepsen unter den finnischen Völkern; so die Kuren und Kreewinen, ferner die Semgaler und Selen im heutigen Lettland; so die Galinder, Sudauer und andere altpreußische Stämme im heutigen Ostpreußen. Einige Stämme sind im Aussterben begriffen, wie die Liven… …Es ist die Aufgabe des Rassenforschers, zu untersuchen, wie sich diese Völker und Stämme anthropologisch voneinander unterscheiden, und ob und welche rassischen Beziehungen sie zu ihren Nachbarvölkern besitzen… Ebensowenig, wie es ein Bild „des“ Deutschen geben kann, kann es auch nicht ein Bild „des“ Esten und Letten geben. Es wird noch viel zu untersuchen sein, ehe deutlich erkannt werden wird, wie sich die einzelnen Völker rassisch gegeneinander abgrenzen. Im folgenden werden nur die körperlichen Merkmale beschrieben, seelische Züge, über die bisher so gut wie keine Untersuchungen vorliegen, bleiben unberücksichtigt.“33 Die Verfasserin kommt in ihrem mit reichhaltigem Bildmaterial ausgestatteten Beitrag zu folgendem Ergebnis: „So sind die ostbaltischen Völker ein Rassengemisch im wesentlichen aus nordischer Rasse und ostbaltischem Schlag.“34 Die beiden Bände „Baltische Lande“ haben sowohl in der wissenschaftlichen Welt als auch in der Tagespresse ein ausführliches Urteil erfahren. So bezeichnet Gerhard Masnig 1941 in „Jomsburg“ die „Baltischen Lande“ als ein „Standardwerk zur Geschichte der baltischen Lande“: „Unter „baltische Lande“ ist, wie R. Wittram in seinem freilich sich in den Rahmen dieses Bandes nicht recht einordnenden Aufsatz ausführt, das Gebiet der heutigen Sowjetrepubliken Estland und Lettland zu verstehen. Wechselvoll wie die Geschichte dieses Landstriches an der Ostsee sind auch seine Bezeichnungen gewesen. Ursprünglich ward er „Livland“ nach dem zuerst bekannt gewordenen, heute bis auf wenige hundert Personen bereits ausgestorbenen, ostseefinnischen Volksstamm der Liven genannt. Nach dem Zusammenbruch des mittelalterlichen Staatsgefüges 1561 und der zentrifugalen politischen Entwicklung des Landes setzen sich die Bezeichnungen für die Einzelteile des Landes, die Sonderschicksale erleben, allmählich fest. Diese „Herzogtümer“ Estland, Livland und Kurland werden als Gouvernements unter dem gleichen Namen übernommen. Nach dem Wiederzusammenfinden unter der Herrschaft des Zaren kommt auch ein einheitlicher Namen auf – „Ostseeprovinzen“, der sich bis zur Bildung der Nationalstaaten Estland und Lettland gehalten hat. Nach 32 33 34
In: Baltische Lande. 1.Band: Ostbaltische Frühzeit. Leipzig 1939.S.492. Dass., S.490. Dass., S.144.
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dem Weltkrieg hat sich dann neben „Baltikum“ und „Baltenland“ vor allem „Baltische Lande“ durchgesetzt. Dieser Name ist dann auch für dieses Werk gewählt worden. Der aufschlussreiche Aufsatz Wittrams gehört damit mehr an die Spitze des ganzen Werkes als an das Ende des ersten Bandes.“35 Eine bewußt vorsichtige Haltung hat der Berliner Slawist Max Vasmer gegenüber dieser Neuerscheinung eingenommen, wenn er am 18. Dezember an den Herausgeber Carl Engel in Greifswald schreibt: „Sehr verehrter Herr Kollege! Leider bin ich noch immer nicht dazu gekommen, den von Ihnen herausgegebenen Band „Die baltischen Lande“ zu lesen. Wäre es nicht möglich, mir ein Rezensionsexemplar für meine Zeitschrift zu verschaffen? An Herrn Br. mag ich mich mit dieser Bitte nicht zu wenden, da unsere Beziehungen nicht so eng sind. Mit den besten Wünschen für die kommenden Ferien bin ich Ihr sehr ergebener M. Vasmer.“36 Am 8. September 1939 hatte Hans Schadewaldt in der „Ostdeutschen Morgenpost“ zu den „Baltischen Landen“ geschrieben: „…Mit diesem von Carl Engel unter Mithilfe erster Fachgelehrter besorgten, schon durch die äußere Aufmachung imponierenden Bande wird ein Gesamtbild der ostbaltischen Vor- und Frühgeschichte gegeben, das den Weg zur Erkenntnis der wechselvollen Geschichte der Baltischen Länder, der Wesensart, ihrer Kultur und ihrer Volkstümer öffnet. Sämtliche Bearbeiter haben ihre Darstellung auf tiefer wissenschaftlicher Grundlage und langjähriger Verwurzeltheit mit ihrem Sachgebiete aufgebaut. Die Raum- und Besiedlungs-, Sprach- und Volkstumsverhältnisse der einzelnen Baltischen Länder, die Gründungsgeschichte Rigas, die deutsche Einwanderung im 12. Jahrhundert, die Anfänge deutscher Literatur- und Kunstgeschichte und die Grundlagen baltendeutscher Kunstgeschichte werden aus einer Fülle von Fachmaterial behandelt und dabei immer die großen Linien und Zusammenhänge der baltischen Gebiete und ihrer deutschen Volks- und Kultureinwirkung klar herausgearbeitet. Zahlreiche Skizzen und Bilder, Statistiken und vor allem reiche Schrifttumsangaben machen den Band zu einem Quellenwerk erster Ordnung, d.h. wer über die Baltischen Lande arbeiten oder sich über ihre Entwicklung unterrichten will, der kann an diesem ungemein inhaltvollen und in jeder Frage zuverlässigen Anschauungsmaterial nicht vorübergehen. Zum erstenmal werden in geschlossener Darstellung die deutsche Einwanderung im 13.Jahrhundert, die Entwicklung der Ordensbaukunst, die Frühgeschichte Semgallens, die rassischen und völkischen Verhältnisse der Vor- und Frühzeit geboten. Daß auch die Leistungen der jungen estnischen, lettischen und litauischen Vorgeschichts- und Geschichtsforschung berücksichtigt worden sind, erhöht noch den Qualitätswert des Bandes, dem in Kürze als Band II der Sammlung „Baltische Lande“ die Ostbaltische Vorzeit und die frühgeschichtlichen Quellen folgen werden. Wir begrüßen das mustergültige Gemeinschaftswerk und heben dabei die großzügige Ausstattung seitens des Verlages Hirzel besonders hervor. Solche Bücher sind nach Anlage, Aufmachung und Inhalt Zierden des deutschen Schrifttums.“37 Über die Veröffentlichung der „Baltischen Lande“ hinausgehend sind aber auch andere Arbeiten zu den baltischen Ländern veröffentlicht worden, so aus dem Bereiche der
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In: Jomsburg 5, 1941, H.2, S.240-246, hier S.241. BARCH R 153/1815. BARCH R 153/1815.
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Kunstgeschichte von Niels von Holst38: Baltenland. Berlin: Deutscher Kunstverlag 1937. (=Deutsche Lande, - Deutsche Kunst.42) Die deutsche Kunst des Baltenlandes im Lichte neuer Forschung. Bericht über das gesamte Schrifttum seit dem Weltkrieg (1919-1929). München 1942. (=Schriften der Deutschen Akademie. Nr.31.) „Deutsche Bildungsarbeit am lettischen Volkstum des 18. Jahrhundert“ war das Thema einer Abhandlung von Heinrich Schaudinn, die als Band 29 der „Schriften der Deutschen Akademie“ im Jahre 1937 in München erschienen war. Es ist sicher auch in diesem Zusammenhang von Interesse, wie im militärischen Bereich die Geschichte des Baltikums dargestellt wurde, so in „Ein Führer für deutsche Soldaten“, der 1941 im Auftrage der Feldkommandantur veröffentlicht wurde, aber nur für den internen Gebrauch bestimmt war: „Wer durch Kurland fährt, meint in Deutschland zu sein. Wer nach Riga kommt, fühlt sich dort zu Hause. Erst wenn man tieferen Einblick in die Verhältnisse bekommt, sieht man noch die Probleme des letzten Volkstumskampfes: Deutsche, Letten, Russen, Juden. Fest steht für alle Zeit, daß Riga eine deutsche Stadt ist. Nennenswerte eigene lettische Literatur und Kunst gibt es seit kaum 50 Jahren. Russisches nur in der vergangenen Staatsführung und in den Kreisen der Emigranten, Jüdisches in den geschlossenen Kramläden und in den Kulturzerstörungen des Bolschewismus. Leider wurde die volle Entwicklung des Deutschtums gehemmt durch den Machtkampf zwischen Kirche, Ritterorden, Bürgertum und durch die Ohnmacht des Reiches im entscheidenden 16. Jahrhundert. Daß trotzdem die deutsche Vorherrschaft nicht gebrochen wurde, ist ein stolzes Zeugnis für die Treue der alten Bürger zu unserem Volkstum. 60000 Deutsche sind dem Ruf des Führers gefolgt und nach dem Altreich gewandert. Wohl hat dieses Opfer das Leben gerettet und sie bereitgestellt für erneuten Einsatz. Für Riga beginnt jetzt ein neues Kapitel seiner Geschichte, und wir hoffen, es wird ohne die Schatten der alten sein.“39 Riga wurde 1201 gegründet, erhielt 1225 deutsches Stadtrecht und wurde 1282 Hansestadt. 1522/25 begann in Riga die Reformation zu wirken, 1566 wurde es eine freie deutsche Reichsstadt, kam aber 1582 wegen fehlender deutscher Unterstützung zu Polen. Eine personell ganz unterschiedliche Entwicklung hat die Baltische Philologie aber an der Universität Kiel genommen. Ernst Fraenkel wurde im Jahre 1936 zwangspensioniert und konnte seine Lehrtätigkeit erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder in Hamburg aufnehmen, Kurt Stegmann von Pritzwald, sein Schüler, war nach 1941 Leiter des Wissenschaftlichen Beirates des Reichskommissars Hinrich Lohse für das Ostland. Ernst Fraenkel (1881-1957) war 1905 an der Universität Berlin mit der Dissertation „Griechische Denominativa in ihrer geschichtlichen Entwicklung und Verbreitung“ promoviert worden, nachdem er Indogermanistik, Klassische Philologie und Sanskrit an den Universitäten Berlin und Bonn, dann wieder in Berlin bei Wilhelm Schulze studiert hatte. Mit einer Untersuchung zur Geschichte griechischer Nomina agentis wurde er 1909 an der Universität Kiel habilitiert, wo er zunächst außerordentlicher, dann nach vier Jahren 1920 ordentlicher Professor für vergleichende indogermanische Sprachwissenschaft geworden war. In den Jahren 1923 bis 1936 unternahm er mehrere Reisen nach Litauen, Lettland und Polen, nachdem er bereits 1921 in Göttingen unter dem Titel „Baltoslavica“ Beiträge zur baltoslawischen Grammatik und Syntax veröffentlicht hatte, gefolgt von seiner „Syntax der 38 39
N. von Holst hat auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch eine Reihe kunsthistorischer Behandlungen veröffentlicht. BARCH R 153/770-Stadtführer von Riga.
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litauischen Kasus“, erschienen 1928 in Kaunas und der „Syntax der litauischen Präpositionen und Postpositionen“, erschienen 1929 in Heidelberg. Auf Reisen gingen auch seine umfangreichen Sammlungen zu litauischen Dialekten, zur Lexikologie und Syntax des Litauischen zurück. Im Jahre 1936 folgte das politisch-ideologisch bedingte Ende dieser so glänzend begonnenen Lehr- und Forschungstätigkeit an der Universität Kiel: „Am 1.1.1936 wird Ernst Fraenkel aus rassischen Gründen in den Ruhestand versetzt. 1938 erfolgt das Publikationsverbot für Deutschland. Er siedelt mit seiner Familie nach Hamburg über. In den neun schweren Jahren bis 1945 lebt er hier in äußerster Zurückgezogenheit, ganz seiner Forschungsarbeit hingegeben. Hin und wieder gelingt es ihm, in Finnland, Rumänien und den baltischen Ländern einige seiner wissenschaftlichen Arbeiten zu veröffentlichen. Ein Unfall bewahrt ihn 1944 davor, in ein Konzentrationslager gebracht zu werden. 1945 wird er nach Beendigung des Krieges mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Direktors des Seminars für Vergleichende Sprachwissenschaft an der Universität Hamburg beauftragt, ein Amt, das er bis zum Jahre 1954 innehat. Auch seither hält er trotz hohen Alters noch Vorlesungen und Übungen an der Universität Hamburg als Honorarprofessor. Die schweren Jahre, die hinter ihm liegen, haben ihn nicht verbittert. Mit nie versagender Hilfsbereitschaft hat er allen, die sich um Rat an ihn wandten, beigestanden und bereitwillig die Schätze seiner ausgezeichneten Bibliothek zur Verfügung gestellt, als während der Nachkriegsjahre in Hamburg erhebliche Schwierigkeiten in der Beschaffung sprachwissenschaftlicher Literatur aus öffentlichen Bibliotheken bestanden.“40 Kurt Stegmann von Pritzwald wurde am 30. Mai (12. Juni neuer Stil) 1901 in Wenden/Livland in der Nähe von Riga geboren. Sein Vater war der Universitätsprofessor der Tiermedizin an der Universität Jena F.P. Stegmann von Pritzwald. Kurt Stegmann besuchte das Gymnasium in Riga, beteiligte sich an den Freiheitskämpfen seiner Heimat in den Jahren 1919 und 1920, erhielt die Hochschulreife am Gymnasium von Meiningen. Er studierte an den Universitäten Gießen, Jena und München Indogermanische Sprachwissenschaft, Germanistik, Slawistik und Geschichte u.a. bei Hermann Hirt/Gießen, Ferdinand Sommer/Jena, Friedrich Slotty/Jena und Erich Berneker/München, der ihn sicher auch dazu anregte, sich mit den baltischen Sprachen zu befassen. Die Anregung zu seiner Dissertation erhielt er von Gustav Herbig/München, nach dessen Tod wurde die Arbeit von Albert Debrunner/Jena weiter betreut. 1928 wurde Kurt Stegmann mit der Dissertation „Zur Geschichte der Herrscherbezeichnungen von Homer bis Plato“, einem bedeutungsgeschichtlichen Vergleich an der Universität Leipzig promoviert. 1934 erschien bei Carl Winter in Heidelberg seine Habilitationsschrift mit dem Thema „Das Attribut im Altlitauischen“, die im Wintersemester 1932/33 von der Philosophischen Fakultät der Universität Kiel angenommen worden war. Die Anregung, sich mit dem baltischen Adjektiv zu beschäftigen, ging nach seiner Aussage auf Ferdinand Sommers und Hermann Ammanns Arbeiten zurück. Ernst Fraenkel in Kiel hatte ihm den Rat gegeben sich auf eine einzige Sprache, nämlich das Litauische zu beschränken. Kurt Stegmann, der u.a. auch an der Universität Marburg lehrte, hatte 1936 eine Schrift unter dem Titel „Einsatz der Sprachwissenschaft“ im Armanenverlag in Leipzig und Frankfurt am Main veröffentlicht, in der er ausgehend von den sprachwissenschaftlichen Positionen vor allem die Sprachwissenschaft im Sprachunterricht, in den kulturkundlichen Fächern und in der Religionslehre behandelt. Ergebnis seiner Überlegungen sind Erkenntnisse für den Einsatz der Sprachwissenschaft für die Ei40
F. Scholz: Ernst Fraenkel (1881-1957), in: Onoma VII, 1956/57, H.1, S.345-349, hier S.346-347.
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genständigkeit der Völker. Für Litauen hält er in dieser Schrift fest: Man würde in Litauen nach der Einfuhr von Ideen aus Genf oder Rom Ausschau halten anstatt das in litauischer Sprache niedergelegte Gedankengut zu aktivieren.41 In einer 1943 in der Verlagsanstalt Ostland GmbH in Riga erschienenen Schrift behandelt er die „Hochschulen im Ostland zwischen Gestern und Morgen“, wobei er nunmehr ganz offen die Positionen der nationalsozialistischen Machthaber vertritt, wenn Stegmann die deutsche Aufgabe im Bereiche des Reichskommissariates Ostland wie folgt betrachtet: „Das Reich erscheint auch auf hochschulpolitischem Gebiet als Treuhänder des europäischen, nordisch bestimmten Kulturgefüges und hat im Sinne dieses Auftrages die Hochschulen des Ostlandes zu betreuen. Das bedeutet: es genügt nicht, die sozialen und volklichen Voraussetzungen, wirtschaftlichen Kräfte und politischen Zielsetzungen des Ostlandes sowie seine Aufgaben beim Neubau Europas zu erkennen und in den Hochschulaufbau einzusetzen, vielmehr gilt es zunächst – wie der Lehre die Forschung vorauszugehen hat – durch Vertiefung in die Wissenschaftsgeschichte des Ostlandes, in die wissenschaftlichen Leistungen und Besonderheiten seines Kulturgefüges den geistigen Standort für den neuen Ansatz festzuhalten. Denn in der Wissenschaft ist Traditionslosigkeit unmöglich. Sieht man von den Nachwirkungen des liberalistischen Hochschulgedankens ab, der für die Bildung der kommenden Generationen kaum mehr Gültigkeit haben wird, so gilt es an den Hochschulen gegenüber des Ostlandes der Geschichtslosigkeit, in der die rote Masse lebt, die Anerkennung idealer Traditionen, in denen Völker leben, durchzusetzen und gegenüber der marxistischen Gleichmacherei wie dem Spezialistentum der kommunistischen Fach-Universitäten die Idee der Mannigfaltigkeit alles Lebendigen schöpferisch zu gestalten. In der organischen Einordnung von Tradition und Mannigfaltigkeit, von geschichtlicher Tiefe und völkischer Breite ruhen dann die Lebensgrundlagen für einen schöpferischen und leistungsfähigen Wissenschaftsbetrieb im Ostland.“42 Wie „bunt“ das akademische Erbe sei, das das Deutsche Reich im Ostland seiner Meinung nach angetreten hat, wird anhand der estnischen Universität in Dorpat, der lettischen Universität in Riga, der litauischen Universitäten in Kaunas und Wilna, der weißruthenischen Universität in Minsk und anderer hochschulartiger Einrichtungen gezeigt. Ausgeführt werden von Stegmann in diesem Zusammenhang auch die nach Posen umgesetzten deutschen Einrichtungen, das Institut für Heimatforschung in Dorpat, das Luther-Institut in Dorpat, und die Herder-Hochschule in Riga. Eine eindeutig ideologische Position nimmt Stegmann mit seiner Zusammenfassung ein, wo er u.a. auch mit Recht beklagt, dass das Fach Slawische Philologie an den baltischen Universitäten nicht vertreten gewesen sei, worin er eine Abwehrhaltung gegenüber der Sowjetunion zu sehen glaubte: „Europa steht in der Entscheidung zwischen dem westlerisch-romanischen Gestern und dem nordisch-germanischen Morgen. Es kann nicht zweifelhaft sein, wohin die Völker des Ostlandes gehören, welche Denkwege der nordische Bluts- und Kulturanteil diesen Völkern offenhält. Die Freilegung und Erwerbung dieser Güter, nun durch keine staatspolitische Spezialvernunft beschränkt, ist die Aufgabe, vor der die geisteswissenschaftliche Forschung im Ostland steht. Indem sie keine der im Ostlande vorhandenen und wirkenden geschichtlichen Kräfte ausschließt, schafft sie in ihren eigenständigen Leistungen überhaupt erst die Voraussetzungen für eine originale, raumverbundene Lehrmeinung mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen. Dann 41 42
K. Stegmann von Pritzwald: Einsatz der Sprachwissenschaft. Leipzig, Frankfurt a.M. 1936, S.15. K. Stegmann: Die Hochschulen im Ostland zwischen Gestern und Morgen. Riga 1943, S.3-4.
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treten an die Stelle des Denkens an Form und Inhalt die erfüllten Gehalte eigener, erworbener Wissenschaftlichkeit, die einmal, wenn die Waffen schweigen, eine gemäße Gestalt finden mögen.“43 Kurt Stegmann von Pritzwald war auch an der Eröffnungstagung der „Zentrale für Ostforschung“ am 14. und 15. Oktober 1943 in Dresden mit einem Vortrag beteiligt gewesen, dessen Thema lautete: „Vom Wesen des Kriegseinsatzes der Wissenschaft im Ostland“. Der Historiker Reinhard Wittram, damals schon an der Reichsuniversität Posen tätig, sprach über den russischen Imperialismus, der Vor- und Frühgeschichtler Hans Reinerth behandelte den nordisch-germanischen Ausgriff nach Osten, Gerhard von Mende sprach über volkstumspolitische Fragen in den besetzten Ostgebieten.44 Es besteht wohl kein Zweifel, dass die Baltische Philologie vor, während und nach der Epoche des Nationalsozialismus wissenschaftliche Ergebnisse erzielen konnte, die weder von der nationalsozialistischen Ideologie beeinflusst waren noch ihr von direktem Nutzen waren. Der Baltischen Philologie wurde in den Jahren des Nationalsozialismus insofern großer Schaden zugefügt, indem man den damals führenden Baltisten Ernst Fraenkel seines Dienstes enthob. Heute kann es als Glücksfall betrachtet werden, daß Fraenkel diese Jahre überlebte und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Möglichkeit wahrnehmen konnte, sowohl sein „Litauisches Etymologisches Wörterbuch“ in zwei umfangreichen Bänden als auch seine grundlegende Darstellung der baltischen Sprachen fertig zu stellen und zu veröffentlichen. Beide Werke stellen unverzichtbare wissenschaftliche Grundlagen für die Beschäftigung mit den baltischen Sprachen und ihrer Geschichte dar.
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Dass., S.44-45. BARCH R 153/1165-Zentrale für Ostforschung.
KELTOLOGIE JOACHIM LERCHENMÜLLER Stellenwert der Keltologie im Spektrum der Kulturwissenschaften in der Zeit des Ersten Weltkrieges und in den 1920er Jahren Die Keltologie wurde erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur eigenständigen universitären Disziplin. Den 1901 eingerichteten Lehrstuhl für keltische Philologie an der FriedrichWilhelms-Universität zu Berlin besetzte Heinrich Zimmer, ein außergewöhnlich streitbarer Sprachwissenschaftler, der in Kollegenkreisen unter dem Spitznamen «Löwe aus Greifswald» bekannt und gefürchtet war. Vor ihrer Institutionalisierung an der Universität war die Keltologie eine Spezialisierung innerhalb der Indogermanistik und vergleichenden Sprachwissenschaft. Im Kanon der Kulturwissenschaften des Kaiserreichs und der Weimarer Republik spielte die Keltologie, quantitativ betrachtet, keine Rolle: sie war und blieb bis heute ein typisches Orchideenfach; im Hinblick auf ihre politische Valenz und damit ihre Multifunktionalität in Friedens- und Kriegszeiten hatte sie jedoch einen Stellenwert, der jenen größerer Disziplinen bei weitem übertraf. Der politische Einfluss der Keltologie auf militärisch-politische Entscheidungen während des Ersten Weltkrieges lag in dem Umstand begründet, dass der führende Keltologe jener Jahre – der Nachfolger Zimmers auf dem Berliner Lehrstuhl, Kuno Meyer – aufgrund enger persönlicher Verbindungen zu alldeutschen Kreisen direkten Zugang zur Kaiserlichen Regierung hatte sowie mit den führenden Vertretern der irischen Unabhängigkeitsbewegung «Sinn Féin» persönlich bekannt war. Die politische und militärische Unterstützung des Kaiserreichs für die Aufstandsbewegung in Irland, welche im sog. «Osteraufstand» des Jahres 1916 mündete, war wesentlich das Ergebnis der politischen Lobby-Arbeit Kuno Meyers und seiner engsten alldeutschen Professorenfreunde: Eduard Meyer (Kunos Bruder), Dietrich Schäfer, Theodor Schiemann. Zu den wichtigsten Politikern, die diese Irlandpolitik im Weltkrieg unterstützten, gehörten unter anderen Kuno Graf von Westarp (der Fraktionsvorsitzende der Deutschkonservativen Partei im Reichstag), Arthur Zimmermann (Staatssekretär im Auswärtigen Amt) und – bis 1917 – Matthias Erzberger. Es war vor allem das ›praktisch-politische Wirken‹ der deutschen Keltologie im Ersten Weltkrieg, welches die nachfolgende Generation deutscher Wissenschaftler zum Kern ihres Traditionsbestandes machte. Ignoriert oder in Kauf genommen wurde dabei, dass eben dieses «praktisch-politische» Engagement die deutsche Keltologie im Ausland nachhaltig diskreditiert hatte: Mit der aktiven Unterstützung des militanten irischen Nationalismus hatte sich die deutsche Keltologie nicht nur in Frontstellung zur englischen (und französischen) Politik gebracht, sondern auch zur großen Mehrheit der weltweiten keltologischen «scientific community»: selbst die irischen Keltologen standen in ihrer überwältigenden Mehrheit dem militanten irischen Nationalismus ablehnend gegenüber. Mit dem Zusammenbruch des kaiserlich-militärischen Regimes kam auch der unmittelbare politische Einfluss der akademischen Elite auf die Regierung zu seinem Ende. Die engen Kontakte zwischen den führenden Vertretern des Bildungsbürgertums, allen voran den Universitätsprofessoren, und der kaiserlichen Bürokratie hörten auf; letztere war nunmehr, zumindest nominell, der demokratischen Regierung – und damit den «verhassten» Parteien – verantwortlich. Kuno Meyer beklagte den Zusammenbruch der alten Ordnung, ohne jedoch die Mitverantwortung der akademischen Elite oder die umittelbare Verantwortung
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der politisch-militärischen Führung Deutschlands auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Aus seiner Sicht waren nur die Alliierten schuld: „[...] our enemies, by crushing us so mercilessly have destroyed the bulwark that has for centuries preserved Western Europe from the lawless eastern hordes [... and] lawlessness and brutal ferocity are now rapidly spreading in a country hitherto lawabiding, peaceful and orderly par excellence. [...] and as our army is now going to be reduced to a ridiculous number, we shall be at the mercy of these elements.“ Die Lage an der Berliner Universität war aus Meyers Sicht ebenso wenig erfreulich. Die Zahl der Studenten war höher als je zuvor, doch für keltistische Sprachwissenschaft interessierte sich in diesen Notzeiten kaum jemand: „The classes at the University here are full as they never were (we had 13,000 students last winter) and my course, delivered in English, on the races and languages of Gt. Britain and Ireland was very well attended. But not a single student turned up for Welsh grammar, which I had announced, and I am afraid it will be the same with Irish.“1 Die Situation wurde für Kuno Meyer so unerträglich, dass er erwog, „to go away from Berlin to Giessen where Professor Hirt has taken up Irish, or to Bonn, to chat with Thurneysen or to Vienna where Pokorny represents Austrian Celtology in solitary grandeur or confinement.“ Dieser Aussage Meyers folgte ein nostalgischer Rückblick auf die Vergangenheit, aus dem jedoch auch die Entschlossenheit des deutschen Professors spricht, die «Tradition» fortzuführen: „When I was in America [Theodore] Roosevelt, who believed then that the war would soon be over, talked of a Celtic campaign with me and was really in earnest about it. But now poor Miss Schoepperle has been driven from Urbana, and all her and my plans for a great Celtic library, museum, etc., have come to nothing. They may say what they like, but Wissenschaft is only understood and honoured in Germany by the people, and as a matter of course; but now the nation is thoroughly unsettled, half paralysed, uncertain of the morrow, and largely demoralised, it will not be easy to keep up the tradition.“2 Im ersten Jahr der Republik verlor die deutsche Indogermanistik und Keltologie mit Ernst Windisch und Kuno Meyer zwei ihrer drei Großen: übrig blieb Rudolf Thurneysen, mit über sechzig Jahren der Pensionierung nahe. Die Frage, wer Kuno Meyer auf dem Lehrstuhl für keltische Philologie in Berlin nachfolgen sollte, war daher schnell entschieden: neben Thurneysen hatte nur der Wiener Keltologe Julius Pokorny sich international einen Namen gemacht. Einen Ausländer zu berufen (Frauen kamen nicht in Betracht), wurde von den Berliner Professoren offensichtlich erst gar nicht erwogen: die deutsche Unterschrift unter dem Versailler Vertrag war kaum getrocknet, als Kuno Meyer starb. Julius Pokorny verband mit dem Ruf nach Berlin in erster Linie den Vorzug, die «Hölle» Wien verlassen zu können. Unmittelbar nach seinem Umzug nach Berlin wandte sich Pokorny an John Morris-Jones, der die Keltologie an der University of Bangor vertrat, um ihm von den Vorgängen in der deutschen Keltologie zu berichten und seine Kriegsaktivitäten zu erläutern. Obschon die eigentliche Intention des Schreibens darin bestanden haben dürfte, den Kontakt zu ausländischen Kollegen wieder herzustellen, verlieh Pokorny gleichwohl in eindeutigen Worten seinen politischen und ideologischen Überzeugungen Ausdruck:
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K. Meyer an Alice S. Green, 21.8.1919. National Library of Ireland, MS 15091 folder 1. K. Meyer an Green, 26.9.1919. National Library of Ireland, MS 15091 folder 1.
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„In these days I am leaving Vienna for ever for Berlin where I am to take the chair of our late unforgotten friend, Prof. Kuno Meyer. At the same time I have been appointed editor of the ‚Zeitschrift für celtische Philologie‘. [...] I can‘t tell you how happy I am to be able to leave for ever this city of horrors. It is a very hell of cold, starvation and Bolshevism. The manual workers are earning enormous wages, the rich Jews have grown much richer than ever before and are feasting and enjoying themselves, while the middle-class is slowly passing away to tír na n’Og! [...] I hope that you have come safe and healthy out of the war. I served only 5 months as a foot-soldier, the rest I spent as a teacher in our Military Academy. In England some people believe that I was at the head of the Anti-English Propaganda Department. This is absolutely untrue. I have never been in such or a similar position; our government was far too stupid to create such a post at all. All that I did was to write a few pro-Irish articles in our newspapers for which I did not get even paid a farthing.“3 Pokorny lässt hier an seinem Antisemitismus keinen Zweifel aufkommen. Ob der gebürtige Prager zu diesem Zeitpunkt tatsächlich nicht wusste, dass er selbst jüdische Vorfahren hatte, ist von mir nicht zu beurteilen; der prähistorisch ausgebildete Pokorny jedenfalls bestand darauf, über seine eigenen Vorfahren erst 1933 Nachforschungen angestellt zu haben, wobei „to my astonishment my father informed me, that my mother‘s father had not been an «Aryan».“4 Pokornys euphemistische Schilderung seiner Propagandatätigkeit während des Krieges in dem zitierten Brief ließ unerwähnt, dass er zwei Wochen zuvor in den Vorstand der Deutsch-Irischen Gesellschaft gewählt worden war, welche während des Kriegs Propaganda produziert und die Aktivitäten Sir Roger Casements in Deutschland unterstützt hatte; zudem stand Pokorny mit dem politischen Vertreter der (von Deutschland noch nicht anerkannten) irischen Regierung, John Chartres, in Kontakt.5 Pokorny (mit-)veröffentlichte in den Jahren 1921 bis 1923 nicht weniger als vier Werke zum Thema Irland. Bezüglich ihres anti-britischen Impetus unterscheiden sich diese Schriften kaum von seinen Kriegspublikationen. Interessant ist jedoch, dass Pokorny in seinem 1921 erschienen Buch «England und Irland» vor allem auf die ökonomische Unterdrückung Irlands eingeht und darüber den konfessionellen Aspekt des Konfliktes herunterspielt. Wenn diese Tendenz schon in seinem «Irland»-Buch der Kriegszeit erkennbar war, so wurde sie hier in ihrer bisher deutlichsten Form vorgestellt: die ökonomische Situation Nachkriegsdeutschlands – auch die von Seiten der Entente noch nach dem Waffenstillstand fortgesetzte Wirtschaftsblockade – dürfte diese Betonung der wirtschaftlichen Argumentation erklären. Wie schon im Vorwort seines «Irland»-Buches, glaubte Pokorny, auch hier unterstreichen zu müssen, dass persönliche Gefühle die Behandlung des Stoffes nicht beeinflusst hätten: „Wenn die folgende Darstellung vom Anfang bis zum Ende den Anschein einer bitteren Anklage gegen die englische Politik erweckt, so liegt das nicht am Verfasser, der trotz seiner grossen Liebe zu Irland auch für England Bewunderung und Sympathie empfindet, sondern an dem Stoffe selbst [...].“6 Pokorny gehörte zu jenen Professoren, die während des Krieges die Alldeutschen und Annexionisten unterstützten und nach dem Zusammenbruch wenn nicht unbedingt die Monarchie zurückwünschten, so doch dem demokratischen Regime feindlich gegenüberstanden. 3 4 5 6
Pokorny an John Morris-Jones, 8.3.1920. University of Bangor (Wales) Archives, Nachlass MorrisJones, Inv. No. 3249 No. 64. Pokorny an D. Hyde, hsl, O — 5.5.[1933]. National Library of Ireland, MS 17, 996 folder ii. Siehe Pokorny an Eoin MacNeill, 3.12.1922. University College, Dublin, Archives, LA 1/H/168 No.1. Julius Pokorny, England und Irland. Berlin 1921, S.3.
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und diesem die Verantwortung für die gegenwärtigen Verhältnisse zuschoben. Vor dem Hintergrund dieser politischen Überzeugung dürfte Pokornys Schlusswort in seinem Buch «England und Irland» als Aufforderung an Nachkriegsdeutschland intendiert gewesen sein, sich das irische Volk «zum Vorbild» zu nehmen: „Und hier sehen wir ein einiges Volk von Arbeitern, Bürgern und Bauern, das durch eine viele Jahre währende Hungerblockade nicht demoralisiert werden konnte und im Gegenteil den eigenen Hunger zur moralischen Schwächung der Gegner zu benützen weiß, ein Volk, das sich nicht von einem falschen Internationalismus blenden lässt, das weder Rechts-, noch Mittel-, noch Linksparteien kennt, sondern das Interesse des Vaterlandes hoch über den Egoismus des einzelnen oder der Partei zu stellen weiß.“7 Über das Beispiel Irland bekannte sich Pokorny damit klar zum Gedanken der «Volksgemeinschaft», wie ihn vor allem die völkischen Elemente seit Gründung der Weimarer Republik propagierten, um das demokratische System der Republik zu diskreditieren, das auf dem offenen Wettbewerb der Individual-, Gruppen- und Parteiinteressen basierte.8 Ein Jahr nach dem «England und Irland»-Buch (1921) erschienen eine Auswahl von Novellen und Gedichten von Padraig Pearse, Padraig Ó Conaire und Padraig Ó Siochfhardha, welche Pokorny noch im Kriege übersetzt hatte. Das Vorwort enthält keinerlei Hinweis auf die jüngsten politischen Ereignisse in Irland: den anglo-irischen Vertrag und den irischen Bürgerkrieg. Stattdessen betont Pokorny einmal mehr die «rassische Überlegenheit» der Iren: „Die Geschichte der grünen Insel ist vielleicht die ergreifendste Tragödie, die sich jemals in der Weltgeschichte abgespielt hat, um so ergreifender, als die zivilisierte Welt sogar Völkern, die infolge ihrer geistigen und körperlichen Minderwertigkeit ein hartes, aber nicht unverdientes Los gefunden, ihr Mitgefühl nicht verweigert hat, der irischen Nation aber, die zu den begabtesten und edelsten Völkern des Erdballs zählt und nicht nur Anspruch auf unser Mitgefühl, sondern auch auf unsere Bewunderung erheben darf, bis vor wenigen Jahren beides versagt geblieben war.“9 Finanziell konnte sich der Berliner Ordinarius in den Anfangsjahren der Republik nur mit Hilfe bezahlter Forschungsaufträge aus Irland über die Runden retten. Diese irische Unterstützung illustriert den Rollentausch, der sich auf dem Gebiet der Keltologie in diesen Jahren abzuzeichnen begann: die führende Stellung der deutschen Keltologen gehörte zunehmend der Vergangenheit an. In wissenschaftlicher Hinsicht war der Bonner Ordinarius Rudolf Thurneysen international (in mancherlei Sinne) zwar eine Klasse für sich, doch keiner der anderen in Deutschland arbeitenden Keltologen konnte besondere Ansprüche hinsichtlich seines wissenschaftlichen Status geltend machen. Zwar kamen auch in diesen Jahren noch eine Zahl irischer, englischer und amerikanischer Studierender nach Deutschland, um an den Universitäten Keltologie zu studieren; wissenschaftlich standen diese ausländischen Vertreter der nächsten Generation indes sowohl ihren Lehrern als auch ihren deutschen Kommilitonen und -innen keineswegs nach.10 In materieller Hinsicht hatte sich das Verhältnis wohl am deutlichsten verändert: dass die deutsche Keltologie durch Steuergelder des «armen Irland» subventioniert werden musste, wäre «zu Kaisers Zeiten» wohl kaum denkbar gewesen. Wie sehr gerade der materielle Besitzverlust die akademische Elite in 7 8 9 10
Julius Pokorny, England und Irland. Berlin 1921, S.20. Es war im Übrigen eine für Pokornys Intentionen günstige Laune der Geschichte, dass das Buch veröffentlicht wurde, bevor das ‚einige Volk von Arbeitern, Bürgern und Bauern‘ sich in einen blutigen Bürgerkrieg stürzte. Julius Pokorny, Die Seele Irlands. Halle 1922, S.1. Das Buch ist Michéul Ó Buachalla gewidmet, „dessen grossmütige Unterstützung erst den Druck dieses Buches, das seit 1917 druckfertig in meinem Schreibtische lag, ermöglichte“ (S.11). Zum Beispiel Daniel A. Binchy, Myles Dillon, Michael Ó Brien, die in den 1920er Jahren in Deutschland studierten.
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ihrem Selbstbewusstsein traf, illustriert eindrücklich die Aussage Pokornys: „I should never have dreamed that we should sink so deeply!“11 Einen zusätzlichen Verdienst erwarb sich Pokorny in den Jahren 1922-24 auch durch Propagandavorträge in den ehemals deutschen und österreich-ungarischen Gebieten; mehrere Auftritte des Keltologen sind dokumentiert, unter anderem in Liberec (Reichenberg), Teplice (Teplitz) und Opava (Troppau). Pokornys eigenen Aussagen vom Januar 1923 zufolge dürfte diese Vortragstätigkeit jedoch wesentlich umfangreicher gewesen sein: „I am travelling much abroad in order to give lectures on «The Irish Fight for Liberty», adding in this way something to my small income.“12 Pokornys Vorträge illustrieren, wie die keltologische Irlandpropaganda auch nach dem Kriege fortgesetzt wurde – und welchen innenpolitischen Zielen diese Agitation diente. Wenn während des Krieges die Absicht verfolgt wurde, am Beispiel Irlands die Doppelmoral des Gegners zu entlarven, um so die deutschen Völkerrechtsverstöße zu relativieren, so wurde nun der «Behauptungskampf» der Iren den Deutschen in den abgetretenen Gebieten und in den von alliierten Truppen besetzten Reichsgebieten als historisches Beispiel für die Selbstbehauptung eines Volkes unter fremder Herrschaft vermittelt. Hier zeigt sich, wie die Keltologen ihre Argumentation nahezu mühelos auf die deutschen Nachkriegsverhältnisse übertragen konnten: die Behauptung und Pflege der Sprache, die Betonung der «rassischen Besonderheit» im Angesicht der zahlenmäßigen Überlegenheit des Oppressors sei die erste und wesentliche Voraussetzung für die Wiedergewinnung der Selbständigkeit und der Würde des Volkes. Der Kampf um die kulturelle Eigenständigkeit, die «Seele» des Volkes, sei Voraussetzung für die Durchsetzung der politischen Ziele. Nach der Niederlage im Weltkrieg und der Reduzierung des militärischen Potentials des Reiches „to a ridiculous number“,13 war die Verlagerung des Kampfes auf das kulturelle Gebiet der einzige Ratschlag, den die Vertreter des Reiches den Auslandsdeutschen geben konnten, um ihren Hoffnungen auf eine «Heimkehr ins Reich» Ausdruck zu verleihen. Irland, wie gesagt, lieferte hierfür das ideale und zugleich jüngste Beispiel: „Ein Volk, das durch systematische Bekämpfung von 8 auf 4 Millionen Seelen sank, hat sich gegen ein 38 Millionen Nachbarvolk siegreich behauptet und den Weg zur Autonomie gefunden.“14 Stellung zum Nationalsozialismus vor der Machtübernahme Hitlers Der deutsche Keltologe Ludwig Mühlhausen (1888-1954) gehörte derselben Generation an wie der Österreicher Julius Pokorny (1887-1970), und beider Lebensläufe und Karrieren illustrieren den dramatischen Unterschied, den soziale Herkunft und Kriegsteilnahme machen konnten: Während der Bürgersohn Pokorny die Kriegsjahre an der «Heimatfront» zubrachte und seine wissenschaftliche Arbeit weiterverfolgen konnte, war Mühlhausen von Februar 1915 bis Kriegsende zum Militär eingezogen. Mühlhausens Werdegang illustriert die Krise, der sich der letzte «wilheminische Nachwuchs» der akademischen Elite in Deutschland ausgesetzt sah. Sohn eines Bürgerschulleh11 12
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Pokorny an Michael Tierney, 28.12.22. University College, Dublin, Archives, LA 1/H/168, No.13. Pokorny an Eoin MacNeill, 10.1.23. University College, Dublin, Archives, LA 1/H/168, No.13. Es wäre interessant zu wissen, was MacNeill wohl dachte und fühlte, als er las, dass der von ihm finanziell unterstützte deutsche Kollege Vorträge über den «Freiheitskampf» der Iren hielt, als in Irland der Bürgerkrieg tobte? Kuno Meyer an Best, 5.9.19. National Library of Ireland, MS 11,002 folder 45. Vorträge: „Pokorny – ‚Irland‘, Volksbildungsheim“ in Teplitz-Schönauer Anzeiger, 22.2.24. Siehe auch „Das ‚grüne‘ Irland und sein Freiheitskampf“ in Teplitzer Zeitung 22.2.24 (Kopie in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, R 64035, Anlage 3 zum Schreiben: Pokorny an AA, 31.1.36).
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rers, hatte Mühlhausen zunächst in Zürich Germanistik und danach bei Ernst Windisch in Leipzig Keltologie studiert, wo er im Sommer 1914 «Über die lateinischen, romanischen und germanischen Lehnwörter des Cymrischen» promovierte. Während des Krieges war der Sprachwissenschaftler im Nachrichtendienst eingesetzt, vermutlich als deutscher Agent in Flandern. Mit dem Zusammenbruch des Kaiserreiches und der wirtschaftlichen und sozialen Krise der Nachkriegszeit schwand auch für Mühlhausen zunächst die Aussicht auf eine gesicherte materielle Zukunft in Form einer Universitätskarriere. Mühlhausen gehörte damit zu jenen wenigen Jahrgängen, denen der Eintritt in die Universitätslaufbahn – und damit die Zugehörigkeit zur akademischen und gesellschaftlichen Elite des Kaiserreiches: das wohl für selbstverständlich genommene Ziel ihrer universitären Ausbildung – nicht mehr gelungen war. Stattdessen musste sich Mühlhausen durch Erteilen von Privatunterricht, Anfertigen von Antiquariatskatalogen und andere Arbeiten finanziell über Wasser halten. Seiner wissenschaftlichen Arbeit als Keltologe konnte er in diesen Jahren nur in seiner Freizeit nachgehen. 1922 erhielt Mühlhausen einen Lehrauftrag für Keltologie an der Hamburgischen Universität, 1928 folgte die Ernennung zum Honorarprofessor, 1932 drohte aufgrund der Wirtschaftskrise das Ende der Lehrtätigkeit. Im Unterschied zur Mehrheit jener Akademiker, die noch im Kaiserreich zu Amt und Würden gelangt waren, bezog Mühlhausen, promoviert, aber ohne besonderen gesellschaftlichen Status, nach dem Kriege offen Partei: Er engagierte sich zunächst in der DNVP und im ‚Stahlhelm‘, später in der nationalsozialistischen Bewegung. In Parteikreisen galt er als „einer der ältesten Nationalsozialisten Hamburgs“, der an den „Strassenkämpfen gegen die Barmbeeker Kommunisten“ teilgenommen hatte. Die Zahl seiner fachwissenschaftlichen Publikationen in den 1920er Jahren ist sehr gering; Mühlhausen nutzte die Jahresurlaube, um in Irland Feldforschung zu treiben und seine aktiven Sprachkenntnisse des Irischen zu vervollständigen. Seine erste Reise nach Irland fand 1925 statt; sie erfolgte auf eigene Kosten. Bis 1937 unternahm Mühlhausen fünf weitere Studienreisen nach Irland. Auf diesen Reisen entstand die umfangreiche Sammlung von Aufnahmen, aus denen hier Beispiele gezeigt werden. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten bedeutete für den Wissenschaftler Mühlhausen den Beginn eines zweiten sozialen und beruflichen Aufstieges, der ihn innerhalb weniger Jahre an die unangefochtene Spitze seiner Fachwissenschaft bringen sollte. Von den Säuberungsmaßnahmen des NS-Regimes im Hochschulbereich war auch die Keltologie betroffen: 1933 wurde der Berliner Lehrstuhlinhaber Julius Pokorny vorübergehend vom Dienst suspendiert und 1935/36 aufgrund seiner «nicht-arischen» Abstammung zwangspensioniert. Nachfolger Pokornys wurde Ludwig Mühlhausen, nachdem der Dekan der Philosophischen Fakultät von Parteiseite angewiesen worden war, sich für Mühlhausen auszusprechen. Mühlhausen war der einzige Keltologe, der sich vor 1933 offen zum Nationalsozialismus bekannte und die Bewegung aktiv unterstützte. Der Bonner Sprachwissenschaftler und Keltologe Johann Leo Weisgerber15 stand dem Nationalsozialismus vor 1933 aus privatreligiösen – er war praktizierender Katholik – und wissenschaftlichen Gründen distanziert gegenüber: der biologische Rassismus der Nazis und die daraus resultierende Definition dessen, was «deutsch» sei, lagen quer zu Weisgerbers Forschungen über Muttersprache und Sprachgemeinschaft. Weisgerbers Bonner Kollege, der Keltologie-Privatdozent Ru15
Zu Weisgerber siehe den folgenden Sammelband und die dort angegebene Literatur: Klaus D. Dutz (Hrsg.), Interpretation und Re-Interpretation. Aus Anlaß des 100. Geburtstages von Johann Leo Weisgerber (1899-1985). Münster 2000.
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dolf Hertz, war national-konservativ orientiert und stand dem Nationalsozialismus reserviert gegenüber; er wurde 1938 aus rassischen Gründen aus dem Lehramt entfernt,16 wie zuvor Julius Pokorny, der ebenfalls jüdische Vorfahren hatte. Pokorny hatte ideologische Berührungspunkte mit dem Nationalsozialismus: Er dachte und argumentierte in einigen seiner Publikationen in völkischen und rassischen Kategorien und außerte sich privatim auch antisemitisch. Es gibt keine Hinweise darauf, dass er die Machtübernahme durch den Nationalsozialismus bedauert hätte. Um seiner Suspendierung aus rassischen Gründen 1933 entgegenzuwirken, holte er vom zuständigen NSDAP-Ortsgruppenleiter ein Gutachten ein, das ihm eine «völkische Gesinnung» bescheinigte. Studentenschaft und Nationalsozialismus Die Keltologie verzeichnete in den 1920er und 1930er Jahren nur wenige Studierende. Auffallend ist, dass einige der Jungakademiker, welche in der Zeit des Nationalsozialismus auf dem Gebiet der Keltologie arbeiteten, «Fachfremde» waren: Sie hatten nicht vergleichende Sprachwissenschaft oder keltische Philologie, sondern Geschichte oder politische Auslandskunde studiert. Diese Studierenden der Weimarer Zeit nahmen somit die politische Wende vorweg, welche das Fach ab Mitte der 1930er Jahre vollziehen würde: die Abkehr von der historisch-philologischen Forschung und die Hinwendung zur gegenwartsbezogenen Volksforschung. Zu diesem teils «fachfremden» Nachwuchs gehörten Angehörige der «überflüssigen Generation» (Peukert), die in den 1920er und frühen 1930er Jahren die Universität besuchten, sich während des Studiums volkspolitisch engagierten und – der eine früher, der andere später – Geheimdienstkontakte knüpften. Hervorzuheben sind an dieser Stelle zwei Studenten, welche frühzeitig Kontakte zum Sicherheitsdienst des Reichsführer-SS hatten: Gerhard von Tevenar und Helmut Bauersfeld, die in den 1930er und 1940er Jahren zu den engeren Mitarbeitern Ludwig Mühlhausens gehörten. Gerhard von Tevenar, Sohn eines Rittergutsbesitzers, wurde 1912 in „Banin, Kreis Karthaus, Provinz Westpreussen (z.Zt. Polen)“ geboren.17 Sein Vater, Friedrich von Tevenar, war im Weltkrieg als Bataillonsführer an der Westfront eingesetzt, wo er 1917 fiel. Die Familie verlor das Rittergut nach Kriegsende und verzog nach Bad Harzburg, wo sie „völlig vermögenslos“ lebte.18 Später besuchte Tevenar das humanistische Gymnasium in Goslar, wo er 1930 das Abitur machte. Der verarmte Rittergutserbe war einer der zahlreichen Schüler und Schülerinnen, die von den Reformen im Bildungswesen der zwanziger Jahre profitierten: In seiner Gymnasialzeit genoss er Schulgeldfreiheit und erhielt zudem Reichserziehungsbeihilfe. Sein Studium der Rechtswissenschaft, Geschichte und politischen Auslandskunde wurde vollumfänglich von der Studienstiftung des Deutschen Volkes finanziert. Dass die materielle Hilfe durch das demokratische System dazu beigetragen hätte, die Republik von Weimar vorteilhaft zu beurteilen, dafür gibt es indes keine Anzeichen: unmittelbar nach Aufnahme des Studiums in Göttingen trat Tevenar 1930 dem NSDStB bei.19 Während der folgenden Jahre dürfte der Student neben dem Studium vor allem mit Umziehen beschäftigt gewesen sein: In zehn Semestern studierte er an nicht weniger als acht Universitäten: Göttingen, Wien, Königsberg, Hamburg, Berlin, Frankfurt, Paris und Brüssel. 16 17 18 19
Zu Hertz vgl. Joachim Lerchenmueller, Keltischer Sprengstoff. Eine wissenschaftsgeschichtliche Studie über die deutsche Keltologie 1900-1945. Tübingen 1997, S. 425-429. So seine Angabe zum Geburtsort: Personalbogen Tevenar, 15.6.1936 [!]. Bundesarchiv Berlin, R 73/15142. Personalbogen Tevenar, 15.6.1936; Lebenslauf Tevenar, 4.9.1942. Bundesarchiv Berlin, BDC Tevenar Kulturkammer SII file; Tevenar an DFG, 15.6.1936. Bundesarchiv Berlin, R 73/15142. Llf. Tevenar, 4.9.1942.
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Eine aktive Mitarbeit in der SA scheiterte daran, dass Tevenar schwer herzleidend war; auch der Wehrdienst blieb ihm aus diesem Grunde versagt. Tevenar promovierte ‚magna cum laude‘ im Juli 1934 in Frankfurt. Von Tevenars Doktorvater war der Jurist Ernst Forsthoff, seinerseits ein Carl SchmittAdept. Forsthoff freundete sich in Hamburg mit Ludwig Mühlhausen an. Die Bekanntschaft zwischen Mühlhausen und Tevenar könnte auf Forsthoffs Vermittlung zurückgehen, möglicherweise aber auch auf den Mitarbeiter der «Abwehr», Hans Otto Wagner, der später zu den Gründungsmitgliedern der «Deutschen Gesellschaft für Keltologie» (DGKS) gehörte. Bevor Tevenar an der Universität unter den Einfluss der sog. ‚konservativen Revolutionäre‘ Forsthoff und Günther geriet, engagierte sich der Gymnasiast 1927 bis 1930 in der „Schilljugend unter Führung des Freikorpskämpfers Rossbach“:20 eine Jugenderfahrung, die er mit einem anderen Gründungsmitglied der DKGS gemein hatte, Helmut Clissmann. Clissmann hielt sich später länger im Irischen Freistaat auf und verfügte über enge Kontakte zur Irischen Republikanischen Armee (IRA). Clissmann und von Tevenar lernten sich vermutlich in diesem linksnationalistischen Verein kennen, spätestens aber wohl in Frankfurt, wo auch Clissmann bis 1935 studierte. Die Studenten von Tevenar und Clissmann verband das Interesse an westeuropäischen Minderheiten. Clissmann hatte über seine Arbeit als «Grenzlandkämpfer» im Westen Interesse für die politischen Bewegungen in der Bretagne, in Wales, Schottland und Irland gefunden, wie auch Tevenars Interesse an der Keltologie und den ‚keltischen‘ Minderheiten seinen Ausgangspunkt in der Beschäftigung mit den „politischen Problemen des Grenz- und Auslandsdeutschtums“ hatte. Anders ausgedrückt: die zahllosen privaten ‚volkspolitischen‘ Vereinigungen in der Weimarer Republik, zum Teil von staatlicher Seite unterstützt – und oftmals von Persönlichkeiten dominiert, die der ehemaligen wilhelminischen Elite angehörten: Militärs, Beamte, Professoren –, erwiesen sich als entscheidende Institutionen bei der Sozialisation einer Generation, die sich später bereitwillig in den Dienst des nationalsozialistischen Regimes und seiner Ziele stellte. Mitte der dreißiger Jahre erhielt von Tevenar ein Stipendium der GefallenenGedenkstiftung, um „an Ort und Stelle mit dem Studium der westeuropäischen Volkstumbewegungen in Vlandern [sic], Irland, Schottland, Wales, der Bretagne, dem Baskenland und Katalonien fortzufahren. Während der beiden durch die Deutsche Studentenschaft ermöglichten Studienjahre in Paris und Brüssel widmete [er sich] u.a. der Keltologie und der Geschichte der germanisch-keltischen Wanderungen und fasste von hierher den Plan zu einer volkskundlichen Bestandsaufnahme des bretonischen und walisischen Volkes unter besonderer Berücksichtigung der Sprach- und Autonomiebewegungen.“21 Hinter den erwähnten ‚Studienaufenthalten‘ in Paris (1934/35) und Brüssel (1935/36) hatte jedoch ein konkreter politischer Auftrag gestanden: „A partir de 1933 cependant, quelques renseignements sont établis: c’est à cette époque qu’intervient en effet le Docteur Hans Otto Wagner, qui semble être la première liaison. A l’été 1934, les nationalistes [bretons] sont contactés par le Docteur Gerhard von Tevenar, dont le rôle semble également important. Les contacts se développeront sans cesse à partir de cette période avec ces Allemands qui, acquis aux thèse de Breiz Atao, s’efforceront de les faire partager par de hauts-responsables des services secrets de leur pays.“22 Ob Tevenar diese Kontakte zur bretonischen Nationalbewegung auf eigene Faust aufgenommen hat, oder ob er schon in dieser Zeit für die Abwehr (oder den SD) arbeitete, 20 21 22
Lebenslauf Tevenar, 4.9.1942. Tevenar an DFG, 15.6.36 — BAK R 73/15142. Bertrand Frelaut, Les Nationalistes Bretons de 1939 à 1945. Beltan Prasparts 1985, S.11. ‚Breiz Atao war die von Oliver Mordrel geleitete Zeitschrift der bretonischen Autonomisten.
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steht nicht fest. Spätestens aber seit 1936, als Tevenar als «Auslandskorrespondent» der Berliner Börsenzeitung und der Münchner Neuen Nachrichten in Holland und Belgien arbeitete, erfüllte er „Sonderaufträge im Rahmen der deutschen Kulturarbeit“: die übliche Umschreibung für nachrichtendienstliche Tätigkeiten.23 Mit führenden Vertretern der SS und des SD hatte Tevenar schon seit längerer Zeit Kontakt: mit Wolfram Sievers, dem Geschäftsführer des Ahnenerbe der SS, und mit Werner Best, einem der ‚Väter‘ der Gestapo und enger Mitarbeiter Heydrichs, des Chefs des Sicherheitsdienstes.24 Helmut Bauersfeld war, anders als Gerhard von Tevenar, kein «fachfremder» Nachwuchs: Er gehörte zu den wenigen Keltologie-Studenten Ludwig Mühlhausens in Hamburg, der diesem später nach Berlin folgen sollte, und er war der einzige unter diesen Hörern/-innen, der die Keltologie zu seinem Studienschwerpunkt machte. Nach dem Abitur am humanistischen Gymnasium in Weimar studierte Bauersfeld zunächst in München Germanistik, Nordistik und vergleichende Sprachwissenschaften, bevor er 1927 nach Hamburg wechselte, um bei Mühlhausen auch Keltologie zu studieren.25 Er promovierte im Sommer 1932 über „Die Kriegsaltertümer im Lebor na hUidre“.26 Am 21. April 1907 in eine Familie des unteren Mittelstandes geboren (sein Vater war Sekretär), war er zu jung, um am ‚Fronterlebnis‘ teilzuhaben. Stattdessen engagierte er sich in seiner Schulzeit als örtlicher Führer der ‚Adler und Falken‘ in Weimar und leistete, wie er selbst ebenso lapidar wie aufschlussreich sagte, „die übliche VDA-Arbeit an führender Stelle“.27 Für den ‚nichtgedienten‘ Bauersfeld scheint das Engagement für die Auslandsdeutschen, die „volkspolitische Arbeit“, gleichsam ein Kompensat für den verpassten Kriegsdienst gewesen zu sein: in einem sozialen Umfeld, das von paramilitärischen Aktivitäten, politischen Morden, offenen Revanchegelüsten gegen den (innen- wie aussenpolitischen) Gegner, Heroisierung des Krieges und Denunzierung der ‚landesverräterischen Erfüllungspolitiker‘ geprägt wurde, scheint das Verhalten des Primaners Helmut Bauersfeld nicht gerade ungewöhnlich. Nach dem Umzug in die Landeshauptstadt des bayrischen ‚Freistaats‘, dessen Reputation als Zufluchtsstätte ultra-antidemokratischer Kräfte durch die Übernahme der Ministerpräsidentschaft durch Knilling im Herbst 1922 nochmals einen Schub erhielt, engagierte sich Bauersfeld in der akademischen Ortsgruppe des VDA und auch im Kolonialbund, „den [er] an der Universität München massgeblich mit aufbauen half“. Seine ersten Semesterferien verbrachte der Germanistikstudent „im Auftrag des VDA“ auf ei-
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Lebenslauf Tevenar, 4.9.1942 So berichtete Tevenar Sievers zum Beispiel, dass er demnächst mit Best zu Abend essen werde (Tevenar-Amsterdam an Sievers, 29.8.1937. Bundesarchiv Berlin, NS 21/120). Vgl. auch: „Anderseits ist mir Dr. Gerhard von Tevenar als einer der besten Kenner des Bretonentums gut bekannt“. (Best an DFG, 8.5.1942 Bundesarchiv Berlin, R 73/15142). Bauersfeld belegte in Hamburg auch deutsche Altertums- und Volkskunde und deutsche Vorgeschichte. Lebenslauf Bauersfeld, 19.6.1940. Bundesarchiv, Zwischenarchiv Dahlwitz, ZM 838-1, Bl.117-119; lt. Lebenslauf vom 20.2.1934 (ebd., Bl.137) studierte Bauersfeld seit dem SS 1926 Germanistik, Anglistik und Geschichte, wandte sich jedoch von Anfang an „speziell dem Studium des Nordischen zu“. Teilveröffentlicht in Zeitschrift für celtische Philologie 19 (1933), S. 294-345. Lebenslauf Bauersfeld, 20.2.1934, Bl. 137. „Freiwilliger Austritt [aus den ‚Adler und Falken‘] als zu starke Wandervogeltendenzen sich breit machten.“ Der ‚Verein für das Deutschtum im Ausland‘ (VDA) war schon 1881 unter dem Namen ‚Allgemeiner deutscher Schulverein‘ gegründet worden; zusammen mit dem vom VDA wesentlich mitgegründeten ‚Deutschen Schutzbund für das Grenz- und Auslandsdeutschtum‘ (später: ‚Deutscher Schutzbund‘) und der 1920 etablierten ‚Deutschen Stiftung‘ engagierte sich der VDA in der Propaganda in den (bzw. für die) ehemaligen deutschen und österr.ungar. Gebieten. Finanziert wurden der VDA und die anderen genannten Institutionen „von massgeblichen Kräften des deutschen Finanzkapitals“; die Auslandskulturpropaganda dieser Organisationen wurde, so Schlicker, „in Verbindung, teilweise unter direkter Anleitung durch das Berliner Auswärtige Amt“ durchgeführt. In der Wilhelmstrasse wurde 1920 die ‚Abteilung für Deutschtum im Ausland und kulturelle Angelegenheiten‘ (die spätere ‚Kulturabteilung‘) eingerichtet, die von Hans Freytag geleitet wurde.
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ner „volksdeutsche[n] Fahrt nach Südtirol“, die „ausschließlich auf Außenarbeit gerichtet war“.28 In Hamburg trat Bauersfeld der ‚Alten Strassburger Burschenschaft Alemannia‘ bei, wo er sich als „Grenzamts- und Schulungsleiter“ betätigte und die Burschenschaftler auf volksdeutsche Fahrt nach Nordschleswig führte. Bauersfeld erweiterte seine Studien in der Hansestadt übrigens nicht nur um die Keltologie, sondern belegte auch Vorlesungen und Seminare in deutscher Altertums- und Volkskunde und deutscher Vorgeschichte. Sein Lehrer im letzteren Fach war Bolko von Richthofen, mit dem sich der Student „gut befreundet[e]“. Richthofen machte Bauersfeld mit dem Cosinna-Schüler Hans Reinerth in Tübingen bekannt und wollte den Studenten „für die Deutsche Vorgeschichte praktisch einbauen“.29 Der Schwerpunkt der Aktivitäten Bauersfelds in seiner Studienzeit lag jedoch im Bereich der Studentenpolitik. In Hamburg engagierte er sich in der reaktionären ‚Deutschen Studentenschaft‘ (D.St.), die zunehmend unter den Einfluss des Nationalsozialismus geriet und auf ihrem Studententag im August 1931 in Graz unter die Führung der beiden Nationalsozialisten Walter Lienau und Gerhard Krüger kam.30 Bauersfeld besuchte sog. ‚Grenzlandtagungen‘ der D.St. in Flensburg und, im November 1927, eine D.St.-‚Schulungstagung‘ in Weimar mit dem ominösen Titel «Der Staat Weimar».31 An der Hamburgischen Universität arbeitete Bauersfeld mit dem Hochschulgruppenführer Andreas Feickert zusammen,32 der in studentischen Kreisen „den Ruf eines engagierten und wohlinformierten Fachmannes in allen sozialpolitischen, die Studentenschaft betreffenden Fragen“ genoss.33 Feickert engagierte sich, ganz auf der populistischen Linie der NSDAP in Fragen der Studenten- und Hochschulpolitik, für die Herabsetzung der Hochschulgebühren und die Einführung eines ‚studentischen Arbeitsdienstes‘.34
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Lebenslauf Bauersfeld, 19.6.1940. Lebenslauf Bauersfeld, o.D. [nach Feb.1934]. Bundesarchiv, Zwischenarchiv Dahlwitz, ZM 838-1, Bl.135; Gustav Cosinna (gest. 1931) und Reinerth gehörten zur sog. ‚ostdeutschen Richtung‘ der deutschen Vorgeschichtsforschung; vor allem Reinerth war es, der die völkische Schule Cosinnas, die das germanische Erbe deutscher Kultur in den Vordergrund stellte, dahingehend weiterentwickelte (oder eher pervertierte), dass die germanische Geschichte ohne fremde Einflüsse (wie etwa griechische Philosophie, römische Kultur und Christentum) unmittelbar in die deutsche Gegenwart eingemündet sei. Die Phil. Fak. der Friedrich-Wilhelms-Universität beschloss (ca.) 1919, von der Verleihung einer ordentlichen Professur an Cosinna „aus sachlichen und persönlichen Gründen [...] abzusehen“: die Zeit für eine ord. Professur für die Prähistorie sein noch „nicht reif“; überdies kämen ggf. „in erster Linie andere Namen“ in Frage, da Cosinna, „der von der germanischen Philologie ausgegangen ist, doch die sichere Vertrautheit mit der klassischen Archäologie“ fehle, und er „mit allzu grosser Sicherheit schwach begründeten Hypothesen, verwegenen Deutungen und Konstruktionen sich zuwende[t], ohne dass die auf diesem Gebiet besonders gesunde und wache Kritik ihn immer zügelt und zweifeln lässt. Wir können nicht wünschen, dass seine einseitige, wenn auch mit grosser Energie geübte wissenschaftliche Arbeitsweise sich einen massgebenden Platz erwerbe.“ Anstatt Cosinna ein Ordinariat zu verleihen, empfahl die Universität „unter diesen Umständen“, „dass ihm ergänzend ein zweiter Extraordinarius zur Seite gestellt werde“, der Cosinnas Wissenschaftstendenzen korrigiere. ([Philosophische Fakultät, Universität Berlin] an [Preuß. Erziehungsministerium.], o.D. [ca. 1919]. Humboldt-Universität zu Berlin, Archiv, Phil. Fak. 1468 B.198). Reinerth wurde damit zum ideologischen Verbündeten Rosenbergs, der auf der Grundlage des Nationalsozialismus und der Reinerthschen Thesen eine neugermanische Religion stiften wollte. Reinerth wurde unmittelbar nach der Machtergreifung zum Leiter des Reichsbundes für deutsche Vorgeschichte und 1934 zum Beauftragten für Vor- und Frühgeschichte im Amt Rosenberg ernannt, verlor im Laufe der Jahre jedoch immer mehr an Ansehen und Einfluss. (vgl. hierzu v.a. Michael H. Kater, Das Ahnenerbe der SS 1933-1945. Stuttgart 1974, S.17-24, S. 300). Michael H. Kater, Studentenschaft und Rechtsradikalismus in Deutschland 1918-1933. Hamburg 1975, S.120. Lebenslauf Bauersfeld, RuSH Fragebogen. Bundesarchiv Berlin, BDC, Bauersfeld file; Lebenslauf Bauersfeld, 20.2.1934. Lebenslauf Bauersfeld, RuSH Fragebogen. Kater, Studentenschaft, S.122. Kater, Studentenschaft, S.122+172.
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Bauersfelds Entwicklung zum Nationalsozialisten war kein Einzelfall: Im Sommer 1931 durfte die Mehrheit der Studierendenschaft in Deutschland als nationalsozialistisch angesehen werden.35 Nachdem sich Bauersfeld über die D.St. schon seit einiger Zeit im Umfeld des Nationalsozialismus betätigt hatte, trat er am 23. April 1932 in die Partei ein — zehn Tage nach dem Verbot von SA und SS und am Ende einer Wahlkampagne, die der NSDAP große Stimmengewinne in Hamburg brachte.36 Verhältnis der Keltologen zum Nationalsozialismus nach der Machtübernahme Hitlers und Agenturen der NS-Wissenschaftspolitik und ihre Ziele auf dem Gebiet der Keltologie Mir ist keine Hochschuldisziplin bekannt, die sich so unbedingt und ausschließlich der Schutzstaffel (SS) unterstellt hätte, wie das die deutsche Keltologie tat. Die personellen und strukturellen Verflechtungen erreichten einen Grad, der aus der Sicht der SS beinahe als idealtypisch gegolten haben dürften. Fast alle aktiven Keltologen – gleichviel ob Professor, Assistent oder Student – waren Mitglieder der SS oder zumindest zur Kooperation mit dem Sicherheitsdienst bereit. Entsprechend waren es ausschließlich Institutionen und Funktionäre der Schutzstaffel, welche wissenschaftspolitisch auf dem Gebiet der Keltologie aktiv wurden. Die Ziele dieser wissenschaftspolitischen Initiativen waren zuvor mit den Wissenschaftlern abgesprochen und kamen sowohl den sicherheits- und kulturpolitischen Absichten der SS, als auch den Forschungsinteressen der Keltologen entgegen. Der erste und für alle weiteren Planungen entscheidende Schritt war die Berufung Ludwig Mühlhausens auf den angesehenen Lehrstuhl für keltische Philologie in Berlin. Diesen hatte seit 1920 der gebürtige Österreicher Julius Pokorny inne, der im Frühjahr 1933 aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums zeitweilig vom Lehramt suspendiert wurde. Diesen Umstand versuchten Mühlhausen und der SD zu nutzen: „[...] as soon as I was suspended, Mühlhausen, with whom I was always on the best of terms, did at once everything in order to get my post!! The danger was grave, he being an old SA man. Only the fact that he has practically done nothing in all these 20 years has saved me [...].“37 Zwar wurde die Suspendierung Pokornys im Herbst 1933 wieder aufgehoben, doch als sich 1935 mit den Nürnberger Gesetzen eine erneute Gelegenheit bot, dem «nicht-arischen» Pokorny den Lehrstuhl zu entziehen, waren Mühlhausen und die SS besser aufgestellt: Trotz einer diplomatischen Intervention der irischen Regierung38 zugunsten des Amtsinha35
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Kater, Studentenschaft, S.11. Der NSDStB war die erste ‚Berufsorganisation‘ des Nationalsozialismus (gegründet im Februar 1926 durch zwei Jurastudenten in München); der NSDStB wurde damit zum organisatorischen Vorbild aller späteren Berufsverbände des NS. 1928 gründete Hans Frank den Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen, dem ein Jahr später der Nationalsozialistische Deutsche Ärztebund folgte (unter dem Sanitätsrat Ludwig Liebl). Rund 60% der reichsdeutschen Studierendenschaft rekrutierte sich aus dem unteren Mittelstand, ca. 1/3 entstammte dem oberen Mittelstand. Nur zwischen 3.7% (SS 1928) und 5,9% (SS 1931) kamen aus der Gruppe der unteren Beamten- und Arbeiterfamilien (vgl. Deutsche Hochschulstatistik, Sommerhalbjahr 1931, S. 41, zit. nach Kater, Studentenschaft, S.208 Tafel 2). Anselm Faust stellt fest, dass sich die nationalsozialistischen Studierenden nach Studienrichtung, Altersstruktur und Studienerfolg „in keiner Hinsicht wesentlich“ von den anderen Studierenden unterschieden (Anselm Faust, Der Nationalsozialistische Studentenbund. Düsseldorf 1973, S.117f). Die Nazis erzielten am selben Tag ähnliche Erfolge bei den Landtagswahlen in Bayern, Württemberg, Anhalt und in Preussen, wo die seit 1925 regierende Weimarer Koalition unter Otto Braun ihre Mehrheit verlor. Zwei Wochen zuvor (am 10. April) hatte Hitler im 2. Wahlgang der Reichspräsidentschaftswahl 36,8% der Stimmen auf sich vereinigt. Das Verbot der SA wurde Mitte Juni vom dem neu amtierenden Kabinett von Papen wieder aufgehoben. Zu Bauersfelds Mitgliedschaft (NSDAP.-Nr. 1152336): Llf. Bauersfeld, 20.2.1934. Pokorny an Best, o.D. [nach 4.5., vor 14.10. 1933]. National Library of Ireland, MS 11,003 folder 8. „The Chair of Celtic Philology in Berlin University, which Professor Pokorny has filled with such distinction during the past fifteen years, is naturally of great interest and importance from the point of view of the Irish Government. In view of the Professor’s long association with Celtic studies in this country,
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bers wurde Mühlhausen 1936 zum Ordinarius für keltische Philologie (später: keltische Philologie und Volksforschung) ernannt. Dem Wechsel auf dem Berliner Lehrstuhl folgten diverse wissenschaftspolitische Initiativen Mühlhausens und seiner Schüler: Mit der Gründung der »Deutschen Gesellschaft für keltische Studien« wurde eine außeruniversitäre Einrichtung geschaffen, über die Kontakte mit Förderern im Partei- und Militärapparat des Dritten Reiches liefen; die Übergabe der Herausgeberschaft der »Zeitschrift für celtische Philologie« an Mühlhausen erzwang die SS über den Umweg der DFG.39 Wie zuvor der Lehrstuhl wurde auch die Zeitschrift in »Zeitschrift für keltische Philologie und Volksforschung« umbenannt. Der neue Titel war eine Verbeugung vor den wissenschaftspolitischen Prioritäten des NS-Regimes, er stand aber auch für die programmatische Wende, die Mühlhausen zu vollziehen gedachte: „Darin scheint mir eines der wichtigsten Ziele der deutschen Keltistik zu liegen, die sich allzulange philologischen Selbstzwecken hingegeben hat, die sich eingekapselt hat, bis es schließlich nur noch ein paar Leutchen gab, die sich damit beschäftigen mochten, weil keiner außerhalb dieses kleinen Gremiums etwas von dem verstand, womit sie sich denn eigentlich beschäftigten. Es war wirklich beinahe zu einer Geheimwissenschaft geworden. So sehe ich eine dringend notwendige praktische Aufgabe der Keltistik, wenn sie nicht verschwinden soll, darin, die Türen zu ihr weit aufzureißen, d.h., ganz nüchtern gesprochen, dem Anfänger das notwendige Handwerkszeug in die Hand zu geben. [...] Was wir auf diesem und entsprechend auf anderen Gebieten brauchen, wenn die Keltistik nicht einfach in ihrer eigenen Gottähnlichkeit versacken soll, das sind Hilfsmittel, die an die Wissenschaft überhaupt erst einmal heranführen. Wir Hochschullehrer sollen eben doch nicht nur Forscher, sondern zugleich Lehrer sein. Aber mein pp. Vorgänger [Julius Pokorny] war ja heilfroh, wenn er keine Studenten hatte! [...] Immerhin mögen Sie aus dem Vorstehendem schon ersehen, wie es für die Keltistik mit der Fragestellung ‚Gestaltwerdung des idg. Geistes‘ oder ‚Wesen des idg. Geistes‘ steht. Es ist ein unendlich langer Weg bis dahin von den Kelten her gesehen und es ist noch nichts getan worden; konnte auch nicht getan werden, wenn die Frage, ob, wie warum und wieso ein, na meinetwegen langes e zum langen i geworden ist, oder ob die Lesart der Hs. x besser sei als die [der] Hs. y das ganze Denken der Keltisten erfüllte, vielleicht besser ausgedrückt, wenn man hinter diesen zahllosen Äußerlichkeiten den kelt. Menschen überhaupt nicht sah. (Eine rühmliche Ausnahme machte eigentlich nur der streitbare Heinrich Zimmer). Es ist mir manchmal so, als ob wir wieder ganz von vorne anfangen müssten.“40 Mit dieser emphatischen Kritik an der exakten philologischen und sprachwissenschaftlichen Arbeit seiner Vorgänger (die immerhin den Ruhm der deutschen Wissenschaft in Irland begründet hatte) stand Mühlhausen bekanntlich in jenen Jahren nicht allein. Der Vorwurf, die Forschung habe ›den Menschen überhaupt‹ aus Blick verloren, findet sich auch in zahlreichen SD-internen Einschätzungen zur Lage der Wissenschaft im Dritten Reich.41
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the Irish Government would regard it as a generous gesture if the German Government could see their way to allowing the Professor to retain his post.“ DFA an Bewley, 18.11.1935. National Archives, Dublin, DFA 438/146. Die Initiative zur Absetzung Pokornys als Herausgeber scheint vom Ahnenerbe ausgegangen zu sein; dem Niemeyer Verlag wurde angedroht, dass dieser für die ZCP keinen Druckkostenzuschuss mehr von der DFG erhalten werde, falls Pokorny weiterhin Herausgeber der Zeitschrift bleibe. Vgl. Huth an Sievers, 30.3.1939. Bundesarchiv, NS 21/817; Thurneysen an Richard I. Best, 25.6.1939. National Library of Ireland, MS 11,004 folder 6.v. Mühlhausen an Hauer, 17.9.1942 – Bundesarchiv Berlin, Nachlass Hauer. Siehe dazu George Leaman, Heidegger im Kontext. Gesamtüberblick zum NS-Engagement der Universitätsphilosophen. Hamburg 1993; Gerd Simon, Germanistik in den Planspielen des Sicherheitsdienstes
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Die von der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik geforderte «Zusammenschau» (heute würde man sagen: Interdisziplinarität) sollte auf dem Gebiet der «Volksforschung» geleistet werden: „Es ist das Ziel unserer neubelebten keltischen Volksforschung, die geistigen Werte der lebenden keltischen Völker (Iren, Schotten, Waliser und z.Zt. vor allem Bretonen) als der Nächstverwandten des Germanentums von dem Blickpunkt nationalsozialistischer, d.h. politischer Wissenschaft zu erarbeiten. [...] Die Methode der keltischen Volksforschung beruht auf einer Zusammenfassung und Querverbindung zwischen Ur- und Vorgeschichte, Volkskunde, Religionswissenschaft, Volkstums- und Landeskunde mit der früher zu Unrecht dominierenden Sprachwissenschaft; Grabungen und Studienreisen erscheinen ebenso wichtig wie die Beschaffung einer bislang fehlenden Fachbibliothek.“42 Dieses Programm einer keltologischen Volksforschung entsprach den wissenschafts- und kulturpolitischen Interessen der SS. Entsprechend wurden Mühlhausen und seine jüngeren Kollegen in SD-internen Lageberichten dafür gelobt, dass sie „die alte, lediglich sprachlich ausgerichtete Forschung durch rassenbiologische und Brauchtumsforschung zu ergänzen“ suchten.43 Auch im Ahnenerbe wurde dieser programmatische Wandel nachdrücklich begrüßt und nach Kräften gefördert; der Münchner Indologe und Präsident des SSAhnenerbes, Walther Wüst, hob 1942 gegenüber dem Reichswissenschaftsministerium hervor, die ‚neue‘ Keltologie habe es verstanden, den „grossen Gedanken des indogermanischen Ahnenerbes zu aktivieren“ und ihr früheres, „enges, spezialisiertes Randdasein“ zu überwinden.44 Wüst sprach sich in dem zitierten Schreiben für die Einrichtung eines keltologischen Lehrstuhls an der Reichsuniversität Straßburg aus. Es handelte sich hierbei um ein Projekt, das vom Ahnenerbe schon seit Ende 194045 vorangetrieben wurde. Die ‚Westforschung‘ des Ahnenerbes sollte auch organisatorisch nach Westen verlegt werden, was angesichts der Kriegsbedingungen auch rein praktische Vorteile bot. Die Geschäftsführung der HDGKS befand sich schon im Elsaß, und auch Otto Huths AhnenerbeAbteilung für indogermanische Glaubensgeschichte sollte dorthin verlegt werden.46 Der Verwaltungschef beim Militärbefehlshaber Frankreich und hochstehende SD-Funktionär Werner Best befürwortete gegenüber seinem SD-Kollegen Mentzel, dem Leiter des Amtes Wissenschaft im Reichswissenschaftsministerium, einen keltologischen Lehrstuhl in Straßburg: „[Ich halte] es für dringend erforderlich, dass neben dem notwendigen politischen Vormarsch nach Osten der westeuropäische Bereich keineswegs verachlässigt wird. Dieser Bereich bedarf aber – anders als im Osten – in erster Linie einer geistigen Bewältigung und Durchdringung.“47 Walther Wüst argumentierte gegenüber Mentzel ebenfalls raumpolitisch. Der KeltologieLehrstuhl an der Reichsuniversität sei ein Element in der „geistigen Eroberung des Westens“, die „Keltistik [habe] eine führende Rolle“ zu spielen. Der Kandidat der SS für diesen neu zu schaffenden Lehrstuhl war Ludwig Mühlhausen.48 Entsprechend wurde Mühl-
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der SS. Tübingen 1998; Joachim Lerchenmueller, Die Geschichtswissenschaft in den Planungen des Sicherheitsdienstes. Bonn 2001. Mühlhausen, Aufzeichnung über den Aufgabenkreis einer Abteilung für keltische Volksforschung im „Ahnenerbe“, 10.05.1942. Bundesarchiv Berlin, BDC, Mühlhausen file. Zit. nach Heinz Boberach (Hrsg.): Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, Bd. II. Herrsching 1984, S.917. Wüst an Mentzel, 10.6.1942. Bundesarchiv Berlin, NS 21/343. Jankuhn an Sievers, 21.11.1940. Bundesarchiv Berlin, BDC, Jankuhn file. Bericht Huth, 27.2.1941. Bundesarchiv Berlin, BDC, Huth AE file. Best an Mentzel-REM, 27.5.1942. Bundesarchiv Berlin, NS 21/343. Aktenvermerk, o.V., 30.4.1942. Bundesarchiv Berlin, NS 21/343. Als Nachfolger Mühlhausens in Berlin schlug Wüst „eventuell“ Weisweiler vor (Wüst an Mentzel, 10.6.1942, ebd.).
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hausen im Juli 1942 vom RFSS zum Ahnenerbe-Mitglied ernannt und mit der Leitung der „Lehr- und Forschungsstätte für keltische Volksforschung“ betraut. Auch seinem Übertritt von der SA zu SS stimmte Himmler zu.49 Zum Zwecke der „geistigen Eroberung des Westens“ wurde 1943 im Ahnenerbe die Erweiterung des sog. Germanischen Wissenschaftseinsatzes (GWE) auf Frankreich beschlossen.50 Zum Leiter des GWE in Frankreich („im Aufbau“) wurde wiederum Mühlhausen ernannt, und seine Abkommandierung nach Frankreich vorbereitet. In einer Unterredung am 3. Juni 1943 kommen Mühlhausen und der GWE-Leiter Hans Ernst Schneider überein, „an den Höheren SS- und Polizeiführer in Paris heranzutreten und ihn auf die Fähigkeiten und Einsatzwünsche von Prof. Mühlhausen hinzuweisen. Es müsste dabei die bisherige Tätigkeit Prof. Mühlhausens auch in der praktischen Propaganda-Arbeit nach Irland und nach der Bretagne erwähnt werden und auch auf die enge Zusammenarbeit mit SS-Gruppenführer Dr. Best hingewiesen werden.“51 Mühlhausens Aufnahme in die Waffen-SS erfolgte im Zusammenhang mit diesem Vorbereitungen des GWE in Frankreich.52 Am Tag nach der Besprechung zwischen Schneider und Mühlhausen äußerte der Ahnenerbe-Geschäftsführer zur selben Angelegenheit: „Prof. Mühlhausen ist als Leiter der Lehr- und Forschungsstätte für keltische Volksforschung einer der wenigen in Deutschland vorhandenen Keltisten. Er wurde auf Anordnung des Reichsführers-SS zur besonderen Verwendung vorgesehen und soll innerhalb seines Arbeitsgebietes in Westeuropa für wissenschaftliche und politischpraktische Aufgaben (Volkstumsarbeit) eingesetzt und später nach Brüssel bzw. Paris weiterkommandiert werden. Erwähnt sei, dass Mühlhausen zwei Jahre lang im Rundfunk die irische und bretonische Propaganda leitete.“53 Der Frankreich-Einsatz Mühlhausens verzögerte sich schließlich bis zum Frühjahr 1944, als es dort nicht mehr viel zu tun gab: kurz nach ihm trafen die Allierten in Frankreich ein. Die «souris grises» – die Angehörigen der deutschen Militärverwaltung, darunter wohl auch Leo Weisgerber – erhielten schon am 6. Juni 1944 Befehl, Rennes zu evakuieren, und am 4. August wurde die Stadt von alliierten Truppen befreit.54 Weisgerber hatte unmittelbar nach der Besetzung der Bretagne durch deutsche Truppen damit begonnen, die bretonischen Regional- und Nationalbewegungen zur Kollaboration mit den Deutschen zu bewegen. Weisgerber arbeitete zunächst als „Sonderführer (Z)“ bei der Propaganda-Abteilung Frankreich. Diese gehörte zur Behörde des Militärbefehlshabers in Frankreich; Weisgerbers Vorgesetzter dort war Werner Best, auf dessen Initiative die Heranziehung Weisger49
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Sievers an Mühlhausen, 8.7.1942. Bundesarchiv Berlin, NS 21/965; Mühlhausen an Grapow (Dekan Philolosphische Fakultät, Berlin), 15.7.1942. Humboldt Universität zu Berlin, Archiv, UK 267/1 Personalakte Mühlhausen, Bl. 82. Dem Reichsführer-SS wurde der Vorschlag zur Gründung eines keltologischen Lehrstuhles in Strassburg am 20.6. 1942 von Wüst unterbreitet (Wüst an RFSS, 20.6.1942. Bundesarchiv Berlin, NS 21/964). Die unmittelbare Umsetzung des Planes scheiterte offensichtlich am Widerstand des Finanzministeriums, das vor 1943 keine Etatstelle verfügbar machen konnte (vgl. Sievers an Tevenar, 10.7.1942. Bundesarchiv Berlin, NS 21/120 + NS 21/123). Später musste der Plan kriegsbedingt aufgegeben werden. Der «Germanische Wissenschaftseinsatz» (GWE) sowie H. E. Schneider sind einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden, als der frühere Rektor der RWTH Aachen, Prof. Hans Schwerte, 1995 bekanntgab, mit Schneider identisch zu sein und bei Kriegsende 1945 einen anderen Namen angenommen zu haben. Zum GWE und zu Schneider/Schwerte siehe Joachim Lerchenmueller/Gerd Simon, Maskenwechsel. Wie der SS-Hauptsturmführer Schneider zum BRD-Hochschulrektor Schwerte wurde und andere Geschichten über die Wendigkeit deutscher Wissenschaft im zwanzigsten Jahrhundert. Tübingen 1999. Vgl. auch die dort angegebene, umfangreiche Literatur zum sog. «Fall Schneider/Schwerte». Aktenvermerk Schneider, 3.6.1943. Bundesarchiv Berlin, BAK NS 21/61. Mühlhausen an Grapow (Dekan Philosophische Fakultät, Berlin), 10.7.1943. Humboldt Universität zu Berlin, Archiv, UK 267/1 Personalakte Mühlhausen, Bl. 84. Sievers an Breitfeldt (Persönlicher Stab Reichsführer-SS), 4.6.1943. Bundesarchiv Berlin, BDC, Mühlhausen file. Siehe Rennes 1939-1944. Le Rennais Spécial Libération. Supplément au no. 245. Rennes, Juin 1994, S. 16.
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bers auch zurückging. Best hatte im Dezember 1940 in einer Denkschrift dargelegt, weshalb eine enge Zusammenarbeit mit der bretonischen Nationalbewegung – bei gleichzeitiger politischer Kontrolle derselben – im Interesse des Dritten Reiches zwingend sei: „Die bretonische Bewegung [...] ist zu werten nach ihrer Bedeutung 1. für unmittelbare strategische und politische Zwecke des Reiches, 2. für die völkische Neuordnung West-Europas 3. für die Bindung des gesamten Keltentums an die europäische Grossraumordnung.“55 Best führte diese drei Punkte detailliert aus, und seine Darstellung macht deutlich, dass seine Überlegungen und Ziele identisch sind mit jenen, die hinter dem Germanischen Wissenschaftseinsatz in den ‚germanischen Randländern‘ standen. Allerdings hatte nicht nur, wie gesagt, das Auswärtige Amt jede Konzession an die bretonische Nationalbewegung verweigert: Auch die Wehrmachtsführung hatte im Sommer 1940 auf Geheiss Hitlers weitere Kontakte mit bretonischen Separatisten untersagen müssen.56 Mit der Heranziehung Leo Weisgerbers für Propaganda-, Wissenschafts- und Kulturaufgaben in der besetzten Bretagne scheint Werner Best einen Weg gefunden zu haben, dieses doppelte Berliner „Nein“ zu umgehen: als „Sonderführer (Z)“ – eine Bezeichnung, die für Zivilisten verwendet wurde – und als Wissenschaftler konnte er Kontakte mit der bretonischen Nationalbewegung aufbauen und ‚völkische Aufbauarbeit‘ leisten, ohne dass dadurch Berliner Vorgaben direkt zuwidergehandelt wurde. Unter den Bedingungen des militärischen Rückzuges aus Frankreich kam es zur Konzentration der wissenschaftlichen Kräfte im Kriegseinsatz und damit auch zu einer Eingliederung der Arbeit Weisgerbers in der besetzten Bretagne in den Germanischen Wissenschaftseinsatz und in die Planungen des Reichssicherheitshauptamtes. Am 2. Oktober 1944 legte der Leiter des GWE Hans Ernst Schneider dem ReichsführerSS einen Entwurf über die „Weiterführung unserer Arbeit“ vor, in dem der BretagneEinsatz Weisgerbers schon als selbstverständlicher Teil seiner Arbeit figuriert. Schneider teilte Himmler mit: „Die geflüchteten Bretonen sind, soweit sie sich nicht schon bei der SS gemeldet haben, ebenfalls möglichst wissenschaftlich zu beschäftigen. Dies geschieht in Zusammenarbeit mit Prof. Weisgerber, Marburg und Prof. Mühlhausen. Eine politische Betätigung der Bretonen in dem von ihnen gewünschten Sinn über Rundfunk und Zeitung wird von den dafür verantwortlichen Dienststellen bis auf weiteres gänzlich abgelehnt (Reichssicherheitshauptamt, Propagandaministerium).“57 Dieses Vorgehen war zwischen Schneider und seinen Kollegen im Sicherheitsdienst, Walter von Kielpinski und Hans Rössner, am 27.9.1944 abgesprochen wurden. Ursprünglich 55 56
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W[erner] B[est], „Freie Bretagne!“ Die Bedeutung der bretonischen Bewegung für das Dritte Reich. Unveröffentlichtes Manuskript, datiert Paris, im Dezember 1940. Institut für Zeitgeschichte, München, MA 137/1. Siehe Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989. Bonn 1997, S. 269, Fn. 63). Vgl. auch das Schreiben [Ribbentrops?] an Unterstaatssekretär Woermann vom 8.7.1940: „Ich bitte das Oberkommando der Wehrmacht (Admiral Canaris) dahin zu verständigen, dass von der Weiterverfolgung des Gedankens, eine Aufstandsbewegung in der Bretagne zu fördern, abgesehen werden muss. Nach Lage der tatsächlichen Verhältnisse ist es nun mindestens ungewiss, ob es überhaupt gelingen würde, eine Aufstandsbewegung mit durchschlagendem Erfolg ins Werk zu setzen. Davon abgesehen, haben wir zur Zeit auch kein Interesse daran, die Regierung Pétain durch Förderung solcher Vorgänge zu schwächen. Vor allem aber wird es, auf weite Sicht betrachtet, für uns vorteilhafter sein, dass die Bretagne einem schwachem Frankreich angehört, als dass sie als mehr oder weniger selbständiges Gebilde, dessen Bewohner doch immerhin durch viele Bande mit den englischen Inseln verbunden sind, es etwa den Engländern erleichtert, auf dem Kontinent als Betätigungsfeld für die englische Politik zu dienen.“ Schneider, Entwurf für Vorlage beim RFSS über Weiterführung unserer Arbeit, 2.10.1944. Bundesarchiv Berlin, BDC, Schneider file.
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war von Seiten der SS geplant gewesen, die bretonischen Kollaborateure aus dem Umfeld des Keltischen Instituts der Bretagne an die Universität Bonn, an Weisgerbers Keltologisches Seminar, zu transferieren. Ende August 1944 teilte Weisgerber dem Dekan der Philosophischen Fakultät in Bonn mit: „Damit würde zugleich erreicht, dass man für Arbeiten abwehr- und propagandamässiger Art einen günstigen Ansatzpunkt hätte, ein Gedanke, der umso näher liegt, als insgesamt dort eine beträchtliche Anzahl von in Frage Kommenden in Deutschland lebt. [...] Auf diese Weise wäre es möglich, um das Keltologische Seminar Arbeitskreise zu bilden, die sowohl die wissenschaftlichen Bestrebungen im engeren Sinne fortführen und ausbauen könnten, aber auch den Zusammenhalt schaffen, um die Betreuung der im Reich lebenden Bretonen zu organisieren und jeweils die Kräfte verfügbar zu machen, die für eine militärische oder politische Aufgabe gebraucht werden könnten.“58 Ein alliierter Luftangriff auf Bonn am 18. Oktober 1944 zerstörte jedoch die Räumlichkeiten des Keltologischen Seminars. Schon eine Woche zuvor war zwischen Weisgerber und dem Reichssicherheitshauptamt die Bildung einer „Ausweichstelle“ für einen solchen Fall diskutiert worden, und anstelle des Keltologischen Seminars in Bonn wurde zum ‚Stationierungsort‘ der bretonischen Kollaborateure nunmehr das Indogermanische Seminar der Universität Marburg bestimmt. Auch Weisgerber hielt sich dort auf, allerdings nur „soweit [s]eine anderen Arbeiten im Auftrage der Leitstelle für Frontaufklärung sowie des Stabsoffiziers für Propaganda-Einsatz beim Oberfehlshaber West [ihn] nicht fernhalten“.59 Diese von Weisgerber in Absprache mit militärischen und SS-Dienststellen getroffenen Maßnahmen entsprachen denjenigen, die Hans Ernst Schneider zur selben Zeit hinsichtlich der niederländischen und belgischen Kollaborateure traf. Diese wurden ebenfalls deutschen Wissenschaftlern und Universitätsinstituten zugeteilt, um sie an wissenschaftlichen Arbeiten zu beteiligen, „[...] die sich in kurzer Zeit kulturpolitisch und propagandistisch verwerten lassen und die mit den Führungsaufgaben insbesondere der SS-Hauptämter abgestimmt sind“.60 Das letzte mir bekannte zeitgenössische Dokument, das über Weisgerbers Kriegstätigkeit Auskunft gibt, stammt vom 8. November 1944. Es ist ein Schreiben Weisgerbers an den Dekan der Philosophischen Fakultät in Bonn. Darin äußert er sich über die „Verteilung seiner Tätigkeit“ in der nächsten Zeit: „1. Für den dem Keltologischen Seminar zugewiesenen Kriegsauftrag (Reichssicherheitshauptamt, Abt. Militärisches Amt v. 3.9.1944) sind die notwendigen Arbeitsunterlagen im Zusammenhang mit dem Indogermanischen Seminar der Universität Marburg/Lahn geschaffen worden. Der für die wissenschaftliche Seite dieses Auftrages nötige Kreis von Personen und Hilfsmitteln ist dort beisammen und wird auch hochschulmäßig in der Form eines privatissime gehaltenen Seminars arbeiten. 2. Meine darüber hinaus bestehende Wehrmachtsverpflichtung wird nunmehr vorwiegend durch Sonderaufträge des Kommandeurs der Frontaufklärungsstelle II West (Feldp. 42619) ausgefüllt. Diese Arbeiten erfordern laufend meine Tätigkeit an verschiedenen Orten Süd- und Westdeutschlands, sodass ich meinen Aufenthaltsort öfter wechseln muss.“61 58 59 60 61
Weisgerber an Spektabilis (Philosophische Fakultät, Bonn), 23.8.1944. Universität Bonn, Archiv, Personalakte Weisgerber Phil. Fak. Weisgerber an Dekan (Philosophische Fakultät, Bonn), 20.10.1944. Universität Bonn, Archiv, Personalakte Weisgerber Phil. Fak. Schneider: Entwurf für Vorlage beim RFSS über Weiterführung unserer Arbeit, 2.10.1944. Bundesarchiv Berlin, BDC, Schneider file. Weisgerber an Dekan (Philosophische Fakultät, Bonn) 8.11.1944. Universität Bonn, Archiv, Personalakte Weisgerber Phil. Fak.
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Die Ende 1936 von Mühlhausen und anderen gegründete «Deutsche Gesellschaft für keltische Studien» wurde nach Kriegsausbruch als Koordinationsstelle zwischen Keltologen und Partei- bzw. staatlichen Dienststellen genutzt. Die in der DGKS zusammengefassten Wissenschaftler stellten sich und ihr fachliches Können für propagandistische, nachrichtendienstliche und militärische Maßnahmen zur Verfügung: Die beiden Berliner Assistenten Mühlhausens, Dr. Hans Hartmann und Dr. Anneliese Heiermeier, die bis Kriegsausbruch Forschungsarbeiten in Irland durchführten, kehrten nach Deutschland zurück;62 der Direktor des irischen Nationalmuseums und Leiter der Ortsgruppe Dublin der NSDAPAO, Prof. Adolph Mahr, nahm bei Kriegsausbruch in Berlin an einem Archäologenkongress teil und musste in Deutschland bleiben. Hartmann und Mahr arbeiteten seit Januar 1940 für die Auslands-Rundfunkpropaganda, die zunächst unter der Regie des Auswärtigen Amtes, ab 1941 des Propagandaministeriums stand. Hartmann wurde im März 1941 „zwecks Verwendung in einer mit staatspolitisch kriegswichtigen Aufgaben betrauten Sonderdienststelle des Auswärtigen Amtes“ als wissenschaftlicher Assistent von der Universität Berlin beurlaubt63, um die Irland-Redaktion des Deutschen Europasenders zu leiten, das Auswärtige Amt übernahm die Begleichung seiner Dienstbezüge. Auch Mühlhausen arbeitete in der Rundfunkpropaganda. Die Aufgabe der drei Keltologen bestand in der Konzeption und Durchführung von Rundfunksendungen in englischer und irischer Sprache. Mahr wurde in den letzten Kriegsjahren auch zur Mitarbeit in der sog. Informationsstelle XIV des Auswärtigen Amtes herangezogen, die zur Aufgabe hatte, im Ausland umlaufende Informationen über den Holocaust als antideutsche Gräuelpropaganda darzustellen. Das Organigramm zeigt die institutionelle Verflechtung der deutschen Keltologie mit dem nationalsozialistischen Regime in der Spätphase des Zweiten Weltkrieges:
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Lebenslauf Hartmann, 17.8.1942. Humboldt Universität, Archiv, UK 106/4, Bl. 51. Reichswissenschaftsministerium an Auswärtiges Amt, 29.4.1941. Humboldt Universität, Archiv, UK 106/1, Bl. 63.
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Bedeutung und Funktion der Keltologie aus der Sicht des Nationalsozialismus Aus der Sicht des nationalsozialistischen Herrschaftsapparates hatte die Keltologie eine zweifache Bedeutung. Ihre ideologische Relevanz ergab sich aus dem Gegenstand der Disziplin: den keltischen Völkern in Geschichte und Gegenwart, den «nächsten Verwandten» der Germanen. Ihre politische Relevanz ergab sich aus dem praktisch-politischen Potential der wissenschaftlichen Arbeit der Keltologen: ihre persönlichen und wissenschaftlichen Verbindungen nach der von deutschen Truppen besetzten Bretagne und nach Irland, das (wie schon im Ersten Weltkrieg) als «Achillesferse» des Vereinigten Königreiches angesehen wurde. Aus dieser zwiefachen Bedeutung ergab sich eine doppelte Funktion der deutschen Keltologie, vor allem während des Krieges: Zum einen half sie, ideologisch nahestehende Regional-, National- und Autonomiebewegungen in der sog. «Celtic Fringe» in kulturelle (Ausstellungen, Veranstaltungen), wissenschaftliche («Keltisches Institut der Bretagne», «Deutsche Gesellschaft für keltische Studien»), propagandistische (Radiosendungen in bretonischer und irischer Sprache) und auch militärische Projekte (Werbung für die Waffen-SS) einzubinden, um sie durch diese Formen der Kollaboration kontrollieren und für ihre politische «Entmündigung» entschädigen zu können. Zum anderen trugen die Vertreter der Keltologie durch ihre wissenschaftliche und politische Arbeit mit dazu bei, eine neue staatliche Ordnung Europas auf völkischer Grundlage zu propagieren.
SPORTWISSENSCHAFT JÜRGEN COURT „… Da muß der Student nachweisen, daß er einen aus dem Wasser holen und einem anderen in die Fresse hauen kann. Das ist allgemeine Bildung“ (Carl Krümmel)1 1. Einführung Die Berechtigung für einen Beitrag zur Sportwissenschaft im Rahmen dieses Sammelbandes folgt bereits aus der Tatsache, daß ihre Rubrizierung unter die kulturwissenschaftlichen Fächer ihrem Selbstbegriff im ‚Dritten Reich‘ entsprach.2 Vor der Folie der Wirkungsgeschichte der Sportwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg3 ist der Gegenstand dieser Studie die differenzierte Prüfung der gängigen Behauptung4 ihrer Instrumentalisierung zwischen 1933 und 1945, die von drei Arbeitshypothesen ihren Ausgang nimmt. Erstens: Die Nationalsozialisten konnten die Sportwissenschaft für ihre Zwecke einspannen, weil sie bereits in der Weimarer Republik Kriterien wissenschaftlicher Dignität nicht erfüllen konnte. Zweitens: Die Instrumentalisierung der Sportwissenschaft nach 1933 und ihr vorgeblicher Mangel an Wissenschaftlichkeit sind auch unabhängig voneinander zu betrachten; bei der Konstatierung einer inneren Verknüpfung von politischer Instrumentalisierung und dem Absprechen wissenschaftlicher Dignität der Sportwissenschaft handelt es sich um eine bloße argumentative Taktik, die vordergründig ihren Mißbrauch nach 1933 hervorhebt, um in Wirklichkeit den hochschulpolitischen Kampf gegen die universitäre Anerkennung der Sportwissenschaft aus der Weimarer Republik fortzusetzen. Drittens: Der Mißbrauch nach 1933 war möglich, obwohl die Nationalsozialisten eine Sportwissenschaft vorfanden, die 1 2
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Aus einer Rede Krümmels 1938 über den Sinn von Lehrgängen, zit. n. Ueberhorst, Horst: Carl Krümmel und die nationalsozialistische Leibeserziehung. Berlin u. a. 1976. Zu den „kulturwissenschaftlichen Fächern“ zählt sie bspw. Jürgens, Adolf (Hrsg.): Ergebnisse deutscher Wissenschaft. Eine bibliographische Auswahl aus der deutschen wissenschaftlichen Literatur der Jahre 1933-1938. Essen 1939, S. 496 f; hierzu trat noch die „Sportmedizin“ (ebd., S. 586 f.) als Teilfach der Medizin. – Aus wissenschaftstheoretischer Sicht ist für eine Zuordnung der Sportwissenschaft als Kultur- bzw. Geisteswissenschaft lediglich das Kriterium Diltheys zu erfüllen, daß das Objekt der Theorie vom Sport als Geistiges erlebbar und verstehbar sein muß, obgleich die Natur seine „Unterlage“ (Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt/M. 1981, S. 141) ist; so auch in bezug auf eine Theorie der Leibesübungen Englert, Ludwig: Möglichkeit und Grenzen einer Wissenschaft der körperlichen Erziehung. In: Leibesübungen und körperliche Erziehung (1935) 16, S. 313-314, hier: S. 314. Anzumerken ist ferner, daß aus Gründen der Allgemeinverständlichkeit im folgenden in der Regel durchgängig der Begriff „Sport“ verwendet wird, obgleich, vor allem im Zusammenhang mit dem Schulsport, „Leibeserziehung“ oder „körperliche Erziehung“ die korrekten Termini sind; hierzu Peiffer, Lorenz: Reichs- und Preußisches Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (Hrsg.): Richtlinien für die Leibeserziehung in Jungenschulen (1937). In: Court, Jürgen/Meinberg, Eckhard (Hrsg.): Klassiker und Wegbereiter der Sportwissenschaft. Stuttgart 2006, S. 249-261, hier: S. 249. Vgl. Buss, Wolfgang: „Die Stunde der Sieger“ oder: Wie die fragwürdige Überwindung totalitärer Strukturen zu einem Pyrrhussieg wurde. In: Ferger, Katja u. a. (Hrsg.): Sport gelebt und gelehrt. FS Hannes Neumann. Gießen 1999, S. 21-31 (hier: S. 24-25). Vgl. die Erläuterungen von Buss (ebd., S. 21-25); Hammerstein, Notker: Antisemitismus und deutsche Universitäten. 1871-1933. Frankfurt/ M./New York 1995, S. 93-94. Es falle schwer, die Sportwissenschaft im Nationalsozialismus „unter dem Namen und Anspruch von Wissenschaft zu fassen“ (Grupe, Ommo: Vierzig Jahre Sportwissenschaft in Deutschland [1950-1990]. In: Digel, Helmut [Hrsg.]: Sportwissenschaft heute: eine Gegenstandsbestimmung. Darmstadt [1995], S. 19-38, hier: S. 21), weil sie „nicht mehr wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern politischideologischen Direktiven folgte“ (Bernett, Hajo: Zur Entwicklungsgeschichte der deutschen Sportwissenschaft. In: Stadion XII/XIII [1986/1987], S. 225-240, hier: S. 234).
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sich trotz ihrer Jugend auf seriöse Weise und akademischen Standards folgend entwickelte. Da diese Hypothesen zur Sportwissenschaft im Nationalsozialismus notwendig eine Analyse ihrer Kontinuitäten und Diskontinuitäten einschließen, ist im folgenden Blick auf den aktuellen Stand der Forschung auch ihre Vorgeschichte berücksichtigt. 2. Forschungsstand Eine Durchsicht der einschlägigen Literatur ergibt zunächst einmal den Befund, daß das lange Zeit geringe Interesse der Geschichtswissenschaft an der Zeitgeschichte des Sports5 mittlerweile einer intensiven Zusammenarbeit von Sport- und Allgemeinhistorikern weicht6, das sich – im Zuge eines wachsenden „Interesses an wissenschafts- und disziplingeschichtlichen Fragestellungen“7 – auch auf das Gebiet der Fachgeschichte erstreckt und außer in Arbeiten wie von Eisenberg8, Hausmann9, Haupts10 und Pabst11 seinen für uns wesentlichen Ausdruck in der Aufnahme eines eigenes Kapitels zur Sportwissenschaft in Peiffers einschlägiger Bibliographie gefunden hat.12 Da noch um 1900 der Sport eine „neue 5
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Dies beklagten beispielsweise noch Bernett, Hajo: Nationalsozialistische Leibeserziehung. Eine Dokumentation ihrer Theorie und Organisation. Schorndorf 1966, S. 9; Peiffer, Lorenz/Spitzer, Giselher: „Sport im Nationalsozialismus“ – im Spiegel der sporthistorischen Forschung. Eine kommentierte Bibliographie. In: Sozial- und Zeitgeschichte des Sports 4 (1990) 1, S. 35-74; Peiffer, Lorenz: Besprechung von: Ruck, M.: Bibliographie zum Nationalsozialismus. Köln 1995. In: Sozial- und Zeitgeschichte des Sport (1997), 80-83 (hier: S. 81). – Nach Eisenberg hat ein solches Desinteresse möglicherweise seinen Ursprung darin, daß die mutterwissenschaftlichen Vertreter der Geschichte der Sportgeschichte deshalb so wenig Aufmerksamkeit widmen, weil ihnen aufgrund ihrer eigenen Biographie der Sport „allzu vertraut ist“ (Eisenberg, Christiane: Die Entdeckung des Sports durch die moderne Geschichtswissenschaft. In: Teichler, Hans-Joachim [Hrsg.]: Moden und Trends im Sport und in der Sportgeschichtsschreibung. Hamburg 2003, S. 31-44, hier: S. 31). Diese Beobachtung wird – am Beispiel der Fußballgeschichte – geteilt von Pyta, Wolfram: Einleitung. Der Beitrag des Fußballsports zur kulturellen Identitätsstiftung in Deutschland. In: Ders. (Hrsg.): Der lange Weg zur Bundesliga. Zum Siegeszug des Fußballs in Deutschland. Münster 2004, S. 1-30 (hier: S. 2-3); ebenso Krüger, Michael: Sportwissenschaft und Schulsport: Trends und Orientierungen (1). Sportgeschichte. In: sportunterricht 55 (2006), S. 227-234, hier: S. 230. Heimbüchel, Bernd: Die neue Universität. Selbstverständnis – Idee und Verwirklichung. In: Ders./Pabst, Klaus: Geschichte der Universität zu Köln. Bd. II. Das 19. und 20. Jahrhundert, Köln 1988, S. 109. Eisenberg, „English sports“, S. 9. Vgl. dies.: Sportgeschichte. Eine Dimension der modernen Kulturgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 295-310; dies.: Die Entdeckung des Sports durch die moderne Geschichtswissenschaft. In: Teichler, Hans-Joachim (Hrsg.): Moden und Trends im Sport und in der Sportgeschichtsschreibung. Hamburg 2003, S. 31-44.– Zur Übersicht dient Gissel, Norbert: Kulturgeschichte – Eine Herausforderung für die Sportwissenschaft. In: Ders. (Hrsg.): Öffentlicher Sport. Hamburg 1999, S. 7-16; zur Kritik an Eisenberg siehe Court, Jürgen: Court, Jürgen: Rezension: Michael Burleigh: Die Zeit des Nationalsozialismus. In: Stadion XXVI (2000) 2, S. 309314; hier: S. 310; ders.: Zur Renaissance des Idealismus – Bemerkungen zu Christiane Eisenberg. In: Krüger, Michael: (Hrsg.): Transformationen des deutschen Sports seit 1939. Hamburg 2001, S. 57-69; Langenfeld, Hans: Rezensionen: Die deutsche Turnbewegung des 19. Jahrhunderts im Lichte neuerer Forschungen. In: Stadion XXVI,2 (2000), S. 293-308, hier: S. 298-299; Teichler, Hans-Joachim: Besprechung von: Christiane Eisenberg, „English sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800-1939. Paderborn 1999. In: Sportwissenschaft 31 (2001), S. 334-342; Pyta, Einleitung, S. 3, Anm. 5. Hausmann, Frank-Rutger: Einführung. In: Ders. (Hrsg.): Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933-1945. München 2002, S. VII-XXVII (hier: S. X), und die Aufnahme eines entsprechenden Beitrags (Court, Jürgen: Sportwissenschaft, in: ebd., S. 281-304). Haupts, Leo: Die Universität zu Köln, die Ausbildung von Sportlern und die Entstehung der Sporthochschule Köln. In: Geschichte im Westen 17 (2002) 1, S. 67-75. Pabst, Klaus: Wie schreibt man eigentlich Geschichte? Über methodische und praktische Probleme der historischen Forschung. In J. Court (Hrsg.), Jahrbuch 2005 der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Sportwissenschaft e. V. Münster 2006, S. 7-18. Peiffer, Lorenz: Sport im Nationalsozialismus. Zum aktuellen Stand der sporthistorischen Forschung. Eine kommentierte Bibliografie. Göttingen 2004, Kap. 8.6; siehe auch S. 7; diese Arbeit ist die Aktualisierung von Ders./Spitzer, Giselher: „Sport im Nationalsozialismus“ – im Spiegel der sporthistorischen
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Kultur“13 und die Sportwissenschaft der Zwanziger Jahre an den Universitäten eine „neue Disziplin“14 war, ist es jedoch natürlich, daß fachgeschichtliche Untersuchungen sie auch erst spät in den Blick nehmen konnten. Gleichwohl ist auch die universitäre Sportwissenschaft insofern zu kritisieren, als die Dominanz ihres anwendungsorientierten Interesses generell mit einer Vernachlässigung sportgeschichtlicher Forschung einhergeht.15 Blickt man nun auf die einschlägige sporthistorische Literatur, so ist festzuhalten, daß weder für die Sportwissenschaft in Weimar oder im nationalsozialistischen Deutschland noch als Zusammenschau beider Epochen fachgeschichtliche Gesamtdarstellungen existieren, obgleich Dokumentensammlungen reiches Material bieten.16 Allerdings fehlen Gesamtdarstellungen auch für den Sport in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus überhaupt.17 Über die Geschichte der Sportmedizin hingegen, deren sportärztliche Untersuchungsstellen nach Beginn des Zweiten Weltkriegs institutionell den Hochschulinstituten für Leibesübungen zugeordnet wurden18, existieren monographische Gesamtdarstellungen19, Studien zu ihrer Entwicklung in der Weimarer Zeit20, epochenübergreifende biographische Monographien21 sowie wirkungsgeschichtliche Studien22, in denen auch für diese Arbeit wichtige sportwissenschaftliche Gegenstände behandelt werden.
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Forschung. Eine kommentierte Bibliographie. In: Sozial- und Zeitgeschichte des Sports 4 (1990) 1, S. 35-74. – Die große Studie von Helmut Heiber zur Universität unterm Hakenkreuz ist leider für unsere Zwecke unergiebig, weil Heiber zum einen lediglich Universitäten und Technische Hochschulen, nicht aber die für unser Thema so bedeutsame Deutsche Hochschule für Leibesübungen bzw. Reichshochschule für Leibesübungen behandelt (zur Begründung ders: Universität unterm Hakenkreuz. Teil II. Die Kapitulation der Hohen Schulen. München u. a. 1994, S. 9-11) und zum anderen auch über den für die Umfunktionierung der Universitäten exemplarischen Pflicht- und Wehrsport kein Wort verliert. Diese Bemerkungen ergänzen die allgemeine Kritik Heibers durch Hausmann, Frank-Rutger: „Vom Strudel der Ereignisse verschlungen“ – Romanistik im „Dritten Reich“. Frankfurt/M. 2000, S. XIV-XV. Diem, Carl: Ausgewählte Schriften. 3 Bde. St. Augustin 1982 (hier: Bd. 1, S. 52). Grupe, Vierzig Jahre, S. 19. Vgl. Gissel, Norbert: Vom Burschenturnen zur Wissenschaft der Körperkultur. Struktur und Funktion der Leibesübungen an der Universität Gießen. Gießen 1995, S. 3; ders.: Wozu noch Sportgeschichte? Gedanken zur Legitimation und Funktion sporthistorischer Forschung. In: Sportwissenschaft 30 (2000), S. 311-325; hier: S. 311-312. Krüger, Michael/Grupe, Ommo: Sport oder Bewegungspädagogik? In: sportunterricht 47 (1998), S. 180-187, hier: S. 184, sprechen ausdrücklich von der „Geschichtsvergessenheit“ der modernen Sportwissenschaft. – An dieser Stelle sei der Hinweis auf die 2006 in Köln gegründete „Deutsche Gesellschaft für Geschichte der Sportwissenschaft e. V.“ und ihr Publikationsorgan „Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Sportwissenschaft e. V“ erlaubt, die versuchen, hier ein Gegengewicht zu setzen. Carl-Diem-Institut (Hrsg.): Dokumente zur Gründung und zum Aufbau einer wissenschaftlichen Hochschule auf dem Gebiete des Sports. Köln 1967; ders.: Dokumente zum Aufbau des deutschen Sports. Das Wirken von Carl Diem (1882-1967). St. Augustin 1984. Während für den Sport im Nationalsozialismus wenigstens eine kommentierte Quellensammlung (Bernett, Hajo: Nationalsozialistische Leibeserziehung. Eine Dokumentation ihrer Theorie und Organisation. Schorndorf 1966) und eine aktuelle kommentierte Bibliographie (Peiffer, Sport) vorliegen, bleiben solche Vorarbeiten für die Weimarer Republik ein Desideratum. Engels, Joachim: Geschichte und Entwicklung der deutschen Sportmedizin im 20. Jahrhundert. Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Medizin. Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf 1994, S. 13, unter Bezug auf Wolfgang Kohlrausch. Engels, Geschichte; Keul, Josef et. al.: Geschichte der Sportmedizin. Freiburg und die Entwicklung in Deutschland. Heidelberg 1999. Pfister, Gertrud: Professionalisierungsprozesse im Sport. Zur Entwicklung der Sportmedizin in der Weimarer Republik. In: Meck, Sabine/Klussmann, Paul Gerhard (Hrsg.): Festschrift für Dieter Voigt. Münster 2001, S. 297-320. Beck, Herta: Leistung und Volksgemeinschaft. Der Sportarzt und Sozialhygieniker Hans Hoske (19001970). Husum 1991; Schäfer, Joachim: Ministerialrat Dr. med. Arthur Mallwitz (1880-1968). Ein Leben für Sport, Sportmedizin und Gesundheitsvorsorge. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Hohen Medizinischen Fakultät Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Bonn 2003; Uhlmann, Angelika: „Der Sport ist der praktische Arzt am Krankenlager des deutschen Volkes“. Wolfgang Kohlrausch (1888-1980) und die Geschichte der deutschen Sportmedizin. Frankfurt/M. 2005 [Rez.: Court, Jürgen: Uhlmann, Angelika: „Der Sport ist der praktische Arzt am Krankenlager des deutschen Volkes“. Wolfgang Kohlrausch (1888-1980) und die Geschichte der deutschen Sportmedizin. Frankfurt/M. 2005. In: Das historisch-politische Buch 54 (2006) 1, S. 105-106; Sportwissenschaft 36
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Kurzfassungen der Sportwissenschaft zwischen 1918 und 1945 finden wir zum einen innerhalb von Arbeiten, die einen Überblick über größere Etappen ihrer Entwicklung23 geben: Bernett24 und Heim25 behandeln jenen Abschnitt innerhalb einer Darstellung der Sportwissenschaft von Jahn bis zur Gegenwart, Court26 und Willimczik27 in ihrer systematischen Zusammenfassung interdisziplinärer Sportwissenschaft von der Antike bis zur Gegenwart und Austermühle28 von der Weimarer Republik bis zur Gegenwart. Zum anderen ist die Sportwissenschaft in Weimar und im Nationalsozialismus Gegenstand von Arbeiten, die sich zwar nicht im Schwerpunkt mit der Sportwissenschaft beschäftigen, deren Berücksichtigung jedoch allererst die Vollständigkeit ihres genuinen Gegenstandes gewährleistet. Dazu gehört Neuendorffs große vierbändige Geschichte der Leibesübungen29, die trotz aller berechtigter Kritik seiner „geschlossenen Geschichtsschreibung“30 aufgrund ihrer enormen Fülle an Quellen sowohl für die Turn- wie die frühe Sportwissenschaft wertvoll ist. Im Kapitel „Die neuen Bildungsstätten für Turn- und Sportlehrer, Hochschulen“ seiner Geschichte der Leibesübungen spannt Saurbier zwar einen Bogen von der Weimarer Republik bis zur Gründung der Bundesrepublik, widmet der Sportwissenschaft im Nationalsozialismus jedoch nur einen Nebensatz.31 M. Krüger32 geht in seiner Sportgeschichte sowohl auf die Bedeutung der Deutschen Hochschule für Leibesübungen (DHfL) für den Sport in der Weimarer Republik wie auf die ihrer Nachfolgerin, der Reichshochschule für Leibesübungen (RfL), für den Sport im Nationalsozialismus ein. A. Krügers33 Übersicht zur Turn- und Sportlehrerausbildung bietet auch wertvolles Zahlenmaterial. Laude/Bausch34 und Ueberhorst35 behandeln die universitäre und außeruniversitäre Sportwissenschaft, insofern sie für die Biographie Edmund Neuendorffs, Carl
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(2006), S. 223-226]; Brinkschulte, Eva: Körperertüchtigung(en) – Sportmedizin zwischen Leistungsoptimierung und Gesundheitsförderung 1895-1933. Habilitationsschrift zur Erlangung der venia legendi für das Fach Geschichte der Medizin. Institut für Geschichte der Medizin am Zentrum für Human- und Gesundheitswissenschaften der Berliner Hochschulmedizin (ZHGB) 2003. Tauber, Peter: „Sport und Entartung“. Biologistische Argumente im Streit zwischen Turnen und Sport zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: SportZeiten 5 (2005) 3, S. 33-56. Aus Gründen der Platzersparnis werden Quellen zur Sportwissenschaft vor 1918 erst in den entsprechenden Kapiteln dieser Studie aufgeführt. Bernett, Entwicklungsgeschichte; vgl. auch seine motivgeschichtliche Ergänzung in: ders: Grundformen der Leibeserziehung. Schorndorf 19753. Heim, Rüdiger: Sportwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Münster 1991. Court, J.: Interdisziplinäre Sportwissenschaft, S. 13-61. Willimczik, Klaus: Sportwissenschaft interdisziplinär. Bd. 1. Hamburg 2001, S. 32-72. Austermühle, Theo: Sport als aufstrebendes Wissenschaftsgebiet in einer etablierten akademischen Landschaft. In: Leirich, Jürgen/Leuchte, Siegfried (Hrsg.): Paradigmenwechsel in der Sportwissenschaft. Hamburg 2000, S. 19-32. Neuendorff, Edmund: Geschichte der neueren deutschen Leibesübung vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. 4 Bde. Dresden o. J. (1930-1936); siehe auch Krüger, Michael: Edmund Neuendorff: Geschichte der neueren deutschen Leibesübung vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Band IV. Die Zeit von 1860 bis 1932. Dresden n. d. (1936). In: Court/Meinberg, Klassiker, S. 237-248. Krüger, Michael: Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports. Teil 2. Schorndorf 1993, S. 10-12. Saurbier, Bruno: Geschichte der Leibesübungen. Frankfurt/M. 1955, S. 190-197; siehe auch Krüger, Neuendorff, S. 239. Krüger, Michael: Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports. Teil 2. Schorndorf 1993, S. 110-111, 141. Krüger, Arnd: Turnen und Turnunterricht zur Zeit der Weimarer Republik – Die Grundlage der heutigen Schulsportmisere? In: Krüger, Arnd/Niedlich, Dieter (Hrsg.): Ursachen der Schulsportmisere in Deutschland. London 1979, S. 13-31 (hier: S. 16-21). Laude, Achim/Bausch, Wolfgang: Der Sport-Führer. Die Legende um Carl Diem. Göttingen 2000. (Berechtigte) Kritik an Laude/Bausch übt Haupts, Universität, S. 70, Anm. 17 Ueberhorst, Krümmel, S. 37 f., 97-108; ders.: Edmund Neuendorff. Turnführer ins Dritte Reich. Berlin u. a. 1978, S. 10; ders.: Ferdinand Goetz und Edmund Neuendorff – Wirkungsgeschichte zweier Turnführer. In: Buss, Wolfgang/Krüger, Arnd (Hrsg.): Sportgeschichte: Traditionspflege und Wertewandel. FS Wilhelm Henze. Duderstadt 1985, S. 147-160.
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Krümmels und vor allem Carl Diems eine Rolle spielen. Wertvolle Hinweise zur Geschichte der DHfL vor und nach 1933 finden sich außer in den oben erwähnten Dokumentensammlungen verstreut in den Schriften von Diem36, in seinem Briefwechsel mit dem Pädagogen Eduard Spranger37 und in den Erinnerungen und Briefwechseln von Diems Ehefrau Frau Liselott38. Die – leider bisher unveröffentlichte – Arbeit von Borgers39 zur DHfL bietet eine wertvolle Chronologie. Zur Kontinuitätsfrage zwischen der Sportwissenschaft in der Weimarer Zeit und im Nationalsozialismus finden sich ferner Arbeiten von Court40 mit einem Vergleich zwischen Diem (als Vertreter der Sportwissenschaft) und Victor Klemperer (als Vertreter einer Sprachwissenschaft), von Bernett41 am Beispiel der Begriffsgeschichte von Sport, Spiel, Kampf und Arbeit sowie von Bernett42 anhand der „Wissenschaftlichen Gesellschaft für körperliche Erziehung“, der hier auch die geistesgeschichtlichen Wurzeln des Konflikts zwischen Turnwissenschaft, Sportwissenschaft, Rhythmischer Gymnastik Rudolf Bodes und dem Natürlichen Turnen Karl Gaulhofers berührt. Die überragende Bedeutung Carl Diems für die Entwicklung der Sportwissenschaft vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik macht es erforderlich, hier außer der Anführung von Arbeiten, die zwar nur peripher Diems Rolle in ihrer universitären Etablierung, dafür jedoch ihr geistiges und institutionelles Umfeld behandeln43, auf das Münsteraner Forschungsprojekt zu „Leben und Werk Carl Diems“ aufmerksam zu machen, dessen erster Tagungsband einen Überblick der inhaltlichen und methodischen „Perspektiven einer CarlDiem-Biographie“44 bietet. Relativ gut dokumentiert ist die Geschichte einzelner Institute für Leibesübungen (IfL) an den deutschen Hochschulen und Universitäten in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus wie Freiburg/B.45, Gießen46, Göttingen47, Greifswald48, Hamburg49, Heidel36 37
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Diem, Carl: Ausgewählte Schriften; ders.: Ein Leben für den Sport. Erinnerungen aus dem Nachlaß. Ratingen u. a. o. J; ders.: Weltgeschichte des Sports. Stuttgart 1960. Zum unterschiedlichen wissenschaftlichen Wert dieser beiden Arbeiten Peiffer/Spitzer, Sport, S. 40. Lück, Helmut E./Quanz, Dietrich R.: Der Briefwechsel zwischen Carl Diem und Eduard Spranger. St. Augustin 1995; vgl. Lück, Helmut E.: Zu Eduard Spranger und dessen Verhältnis zu Carl Diem und der Leibeserziehung. In: Sportonomics 3 (1997) 1, S. 37-42; ders.: Eduard Spranger: Psychologie des Jugendalters (1924). In: Court/Meinberg, Klassiker, S. 122-125. Diem, Liselott: Leben als Herausforderung. 3 Bde. St. Augustin 1986. Borgers, Walter: Die Auflösung der Deutschen Hochschule für Leibesübungen. Referat für das DiemKolloquium während des Kongresses Images of Sport in the World an der Deutschen Sporthochschule Köln am 2. November 1995. Dem Autor sei herzlich für seine Manuskriptfassung gedankt. Interdisziplinäre Sportwissenschaft, S. 202-224; Sportwissenschaft, S. 281-304. Zu Klemperers Einschätzung von Sport und Sportwissenschaft siehe auch ders.: Victor Klemperer als Zeitzeuge des Sports. In: Stadion XXIII (1997), S. 112-136 (hier: S. 125). Bernett, Hajo: Sport zwischen Kampf, Spiel und Arbeit – Zum Perspektivwechsel in der Theorie des Sports. In: Gabler, Hartmut: u. a. (Hrsg.): Für einen besseren Sport ... Themen, Entwicklungen und Perspektiven aus Sport und Sportwissenschaft. Schorndorf 1990, S. 163-185 (hier: S. 168-175). Bernett, Hajo: Die Anfänge sportwissenschaftlicher Vereinigungen. In: Kapustin, P. (Hrsg.): Beiträge zu Grundfragen des Sports und der Sportwissenschaft. Schorndorf o. J., S. 18-27 (hier: S. 22-24); vgl. ders., Grundformen, passim; Größing, Stefan: Pädagogische Reformen vor und nach dem Ersten Weltkrieg und ihr Einfluß auf und Schulsport. In: Ueberhorst, Leibesübungen, S. 641-656 (hier: S. 652-654). Alkemeyer, Körper; Bernett, Hajo: Carl Diem und sein Werk als Gegenstand der sportgeschichtlichen Forschung. In: Sozial- und Zeitgeschichte des Sport 1 (1987) 1, S. 7-41; Dwertmann, Rolle; Eisenberg, „English sports“; Menze, Clemens: Zur Einführung in die Ausgewählten Schriften Carl Diems. In: CarlDiem-Institut (Hrsg.): Carl Diem. Ausgewählte Schriften. Bd. 1. St. Augustin 1982, S. 7-18, passim; Teichler, Hans Joachim: Der Weg Carl Diems vom DRA-Generalsekretär zum kommissarischen Führer des Gaues Ausland im NSRL. In: Sozial- und Zeitgeschichte des Sports 1 (1987) 1, S. 42-91; ders., Rolle. Becker, Frank.: Perspektiven einer Carl-Diem-Biographie. In: BIOS 18 (2005), S. 157-168, hier: S. 158; siehe insgesamt BIOS 18 (2005). Bach, Hermann: Körperliche Wiederaufrüstung: Die Einführung des Pflichtsports für Studenten. In: John, Eckhard u. a. (Hrsg.): Die Freiburger Universität in der Zeit des Nationalsozialismus. Freiburg/Würzburg 1991, S. 57-71; Uhlmann, Kohlrausch, S. 192-193. Gissel, Burschenturnen.
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berg50, Jena51, Köln52, Marburg53, Tübingen54 und Wien55. Über die IfL in Breslau und den Reichsuniversitäten Posen, Prag und Straßburg ist bisher keine eigenständige Untersuchung bekannt; es finden sich lediglich Hinweise auf Saurbier als Gründer und Leiter des Prager IfL56 und auf Kohlrausch als Inhaber des Straßburger Lehrstuhls für Bewegungstherapie57. Da die Idee studentischer Leibesübungen für die Entwicklung der IfL eine wichtige Funktion innehatte, ist hier auch die grundlegende Studie von Buss/Peiffer58 zur Hochschulsportordnung (HSO) von 1934 angeführt, die ihre Vorgeschichte in der Weimarer Republik einbezieht. Schließlich liegt es im Charakter der Sportwissenschaft als „typische Querschnittswissenschaft“59 begründet, daß auch epochenüberschreitende Arbeiten zu ihren Einzeldisziplinen anzuführen sind. Im Sammelband von Bäumler/Court/Hollmann60 wird der Zeitraum zwischen 1918 und 1945 für Sportmedizin61, Bewegungslehre62, Sportpädagogik63, Sportgeschichte64 und Sportphilosophie65 untersucht. Die hier fehlende Sportpsychologie ist Gegenstand bei Janssen66, während Court67 die Kontinuitätslinien dieser Teildisziplin und die der Sportanthropometrie nachzeichnet und vergleicht. Ein solcher disziplinspezifischer Zugang findet Ergänzung durch den theoriegeschichtlich motivierten Sammelband von Court und Meinberg über Klassiker und Wegbereiter der Sportwissenschaft68, dessen Autoren im folgenden den jeweiligen zeitlichen Abschnitten der von ihnen verfaßten Beiträge zugeordnet werden.
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Buss, Wolfgang: Das Göttinger IfL und die Diskussion über Sport und Sportlehrerausbildung an den Universitäten der britischen Zone 1945/46. Die Neuauflage einer Auseinandersetzung der Weimarer Zeit im Schatten der nationalsozialistischen Fehlentwicklung, In: Sozial- und Zeitgeschichte des Sports 1 (1987) 2, S. 58-78. Grasmann, Gerhard: Von privaten Turnlehrerkursen zum Institut für Leibesübungen – Zur Institutionalisierung der Sportwissenschaft an der Pommerschen Landesuniversität (1864 bis 1945). In: Gissel, Norbert u. a. (Hrsg.): Sport als Wissenschaft. Hamburg 1997, S. 25-36. Joho, Michael: Prof. Dr. Wilhelm Knoll und die Entwicklung der Sportwissenschaft in Hamburg bis 1945. In: Stadion XII/XIII (1986/7), S. 273-281 Jost-Hutflesz, Ursula: Sport und Sportlehrerausbildung an der Universität Heidelberg von 1844-1950; In: Zeitschrift für Sozial- und Zeitgeschichte des Sports 1 (1987) 2, 79-93. Kremer, Hans-Georg: Zur Geschichte des Sports an der Universität Jena. Bucha bei Jena 2002. Nitsch, Franz: Die Geschichte des Kölner Hochschulsports. Von den Anfängen bis in die Zeit des Nationalsozialismus, in: Sozial- und Zeitgeschichte des Sports 1 (1987) 2, S. 28-57. Zhorzel, Wolfgang: Zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus – Sport an der Universität Marburg 1907-1945. In: Bernsdorff, Walter: (Hrsg): Siebzig Jahre Turn- und Sportlehrerausbildung in Marburg. Gladenbach 1977, S. 9-85. Nitsch, Franz: „Dann kam die Doppelriege von Tübingen ...“. In: Krüger, Michael u. a. (Red.): 150 Jahre Gymnastik, Turnen und Sport an der Universität Tübingen (1839-1989). Tübingen 1989, S. 33-50. Saurer, Edith: Institutsneugründungen 1938-1945. In: Heiß, Gernot u. a. (Hrsg.): Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938-1945. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik, S. 303-328, hier: S. 312313. Krüger, Neuendorff, S. 239. Uhlmann, Kohlrausch, S. 192-201. Buss, Wolfgang/Peiffer, Lorenz: 50 Jahre Hochschulsportforschung. In: Sportwissenschaft 16 (1986), S. 38-60. Diem, Schriften, Bd. 1, S. 93; vgl. Englert, Möglichkeit, S. 314. Bäumler, Günther/Court, Jürgen/Hollmann, Wildor (Hrsg.): Sportmedizin und Sportwissenschaft. St. Augustin 2002. Hollmann, Wildor: Sportmedizin, S. 21-132 (hier: S. 66-68). Loosch, Eberhard/Böger, Claudia: Bewegungslehre, S. 217-286 (hier: S. 231-238). Grupe, Ommo/Krüger, Michael: Sportpädagogik, S. 373-412 (hier: S. 396-398). Gissel, Norbert: Sportgeschichte, S. 413-438 (hier: S. 420-424). Court, Jürgen: Sportphilosphie, S. 439-460 (hier: S. 450-452). Janssen, Jan-Peters: Deutsche Sportpsychologie im Wandel dreier Epochen. In: psychologie und sport 4 (1997), S. 8-33 (hier: S. 15-19). Court, Jürgen: Sportanthropometrie und Sportpsychologie in der Weimarer Republik. In: Sportwissenschaft 32 (2002), S. 401-414. Zur Erläuterung ausführlich Court, Jürgen/Meinberg, Eckhard: Vorwort. In: Dies. (Hrsg.): Klassiker und Wegbereiter der Sportwissenschaft: Stuttgart 2006, S. 9-16.
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Eine parallele Gliederung der Literatur ist auch speziell für die Sportwissenschaft in der Weimarer Republik möglich, wobei die soeben angeführte Literatur nicht mehr eigens aufgeführt wird. In seiner Zusammenfassung des Sports in der Weimarer Republik widmet Beyer69 dem Schul- und Hochschulsport sowie der Sportwissenschaft eigene Kapitel, die durch die Ausführungen Größings70 zu schulischen Lehrplänen und Richtlinien zu ergänzen sind. Geschichte und Vorgeschichte der drei wichtigsten universitären Ausbildungsinstitutionen für Leibesübung – DHfL, Preußische Hochschule für Leibesübungen (PrHfL) und IfL – werden behandelt in der Aufsatzsammlung Bergers71 und der Erlaßsammlung Brieses72. Zur DHfL der Weimarer Zeit ist neben zeitgenössischen Arbeiten von Diem73 und der Aufsatzsammlung von Schiff74 auch Eisenberg75 zu nennen, weil sie die DHfL mit der weniger bekannten Sportwissenschaft an der Wünsdorfer Heeressportschule in Verbindung setzt, die für die institutionalisierte wissenschaftliche Verbindung von Sport und Militär steht. Während sich Lennartz76 der in der sonstigen Literatur zu August Bier vernachlässigten Rektoratszeit Biers widmet, wird das Verhältnis zwischen DHfL und ihrem staatlichen Gegenstück PrHfL im Briefwechsel zwischen ihrem Direktor Neuendorff und Erich Harte77 beleuchtet; eine wertvolle Quelle zu diesen beiden Institutionen sind auch die jeweiligen Berichte in der Zeitschrift Die Leibesübungen, in der Diem, Neuendorff und Harte als Herausgeber fungierten. Dorsch, Janssen, Lück, Wildt und Wohl behandeln Sportpsychologie78, Sportgeschichte79 und Sportsoziologie80 als Lehr- und Forschungsdisziplinen an DHfL und PrHfL. Autoren der Weimarer Zeit, die mit ihren Beiträgen als „Klassiker und Wegbereiter“ der zeitgenössischen Sportwissenschaft in Deutschland bezeichnet werden können, sind Heinz Risse81, Ernst Kretschmer82, Walter Werner83, Eduard Spranger84, Ru-
69 70 71 72 73 74 75 76 77 78
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Beyer, Erich: Sport in der Weimarer Republik. In: Horst Ueberhorst (Hrsg.): Leibesübungen und Sport in Deutschland vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Berlin 1982, S. 657-701 (hier: S. 665-673). Größing, Reformen, S. 650-652. Berger, Lothar (Hrsg.): Leibesübungen an deutschen Hochschulen. Göttingen 1922. Briese, Georg (Hrsg.): Das Studium der Leibesübungen und der körperlichen Erziehung in Preußen. Berlin 1933. Diem, Carl: Die Deutsche Hochschule für Leibesübungen. O. O. 1924; ders.: Der Deutsche Reichsausschuß und seine Hochschule. In: Carl Diem u. a. (Hrsg.): Stadion. Berlin 1928, S. 457-467 Schiff, Alfred: Die Deutsche Hochschule für Leibesübungen 1920-1930. Berlin 1930. Eisenberg, „English sports“, S. 360-366; vgl. auch Ueberhorst, Krümmel, passim. Lennartz, Karl: Die August-Bier-Plakette. In: Kurier. Informationen der Deutschen Sporthochschule Köln 26 (2003) 3, S. 5-8. Lennartz, Karl (Hrsg.): Die Briefe Edmund Neuendorffs an Erich Harte 1923-1932. Oberwerries 1989. Dorsch, Friedrich: Geschichte und Probleme der angewandten Psychologie. Bern/Stuttgart 1963, S. 160-164; Janssen, Jan-Peters: Zur Institutionalisierung der Sportpsychologie in der Weimarer Republik an der Universität Berlin. In: Schorr, Angela (Hrsg.): Psychologie Mitte der 80er Jahre. Bonn 1986, S. 88-100; Lück, H. E.: Klinisch-psychologische Interpretationen historischer Dokumente. Eine forschungs-methodologische Studie zum Abschiedsbrief von Robert Werner Schulte. In: Psychologie und Geschichte 6 (1994), S. 180-199; ders.: „... Und halte Lust und Leid und Leben auf meiner ausgstreckten Hand.“ Zu Leben und Werk Robert Werner Schultes. In: Gundlach, Horst: (Hrsg.): Arbeiten zur Psychologiegeschichte. Göttingen 1994, S. 39-48. Wildt, Klemens: Grundlagen und Tendenzen der Sporthistorischen Lehre in Deutschland um 1920/1930. In: Wonneberger, Günther/Liebold. Klaus: (Hrsg.): Geschichte der Sportwissenschaft. Bd. 1. Leipzig 1980, S. 303-311. Wohl, Andrzej: Entwicklung der Sportsoziologie als einer wissenschaftlichen Disziplin und der aktuelle Forschungsstand in diesem Bereich. In: Wonneberger, Günther/Liebold. Klaus (Hrsg.): Geschichte der Sportwissenschaft. Bd. 1. Leipzig 1980, S. 264-276; vgl. Wildt, Grundlagen, S. 307. Lüschen, Günther: Heinz Risse: Soziologie des Sports (1921). In: Court/Meinberg, Klassiker, S. 87-94. Janssen, Jan-Peters: Ernst Kretschmer: Körperbau und Charakter (1921). Ebd., S. 95-104. Gissel, Norbert: Walter Werner: Ein Institut für Körperkultur an der Universität Gießen. Ebd., S. 105111; vgl. ders.: Die Institutionalisierung der Körperkultur als wissenschaftliche Universitätsdisziplin. In: Ders. (Hrsg.), Sport, S. 37-46 (hier: S. 41-45). Lück, Spranger.
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dolf Bode85, Robert Werner Schulte86, Hanns Sippel87, G. A. E. Bogeng88, Karl Krümmel89 und Alfred Peters90. Aufgrund ihres großen, auch internationalen Einflusses gehören auch die Österreicher Karl Gaulhofer91 und Margarete Streicher92 in diesen Zusammenhang. Die Sportwissenschaft im Nationalsozialismus innerhalb von Übersichtsarbeiten zum Sport von 1933–1945 ist Gegenstand bei Bernett, Diem, Joch, Peiffer/Spitzer und Peiffer. Während Joch93 sie als eigenes Kapitel „Sportwissenschaft“ aufnimmt und auch Kurzporträts von Alfred Baeumler, Carl Krümmel und Edmund Neuendorff einfügt, behandelt Bernett94 sie im Kapitel über „Leibeserziehung an staatlichen Institutionen“ und Diems95 Manuskript Der deutsche Sport in der Zeit des Nationalsozialismus im Abschnitt „Leibeserziehung in Schule und Hochschule, Umwandlung der DHfL in Reichsakademie für Leibesübungen“. Diem zeichnet dort die enge Verzahnung dieser beiden Bereiche anhand Carl Krümmels Funktionen in Schul- und Hochschulorganisation nach, wobei er sowohl auf die Entwicklung an der DHfL wie an den IfL eingeht. Die Bibliographie von Peiffer/Spitzer96 enthält sowohl ein Kapitel „Nationalsozialistische Sporttheorie“ als auch eines zu „Sport in Schule und Hochschule“ mit der Untergliederung „Staatliche Organisation und Verwaltung“, „Sportunterricht und außerschulischer Schulsport“, „Hochschulsport“ und „Sportlehrerausbildung und -fortbildung“, während ihre Fortsetzung bei Peiffer, wie oben erwähnt, um ein eigenes Kapitel „Sportwissenschaft“97 ergänzt wurde. Wegen Krümmels überragendem Einfluß auf allen diesen Gebieten sei in Ergänzung dieser Übersichtsarbeiten und der noch vorzustellenden Einzelstudien auf die Arbeit von Ueberhorst98 verwiesen. Zeitgenössische Quellensammlungen in diesem Kontext enthalten die Hochschulsportordnung (HSO) von 1934 des Reichserziehungsministeriums (REM)99 und Prüfungsordnungen sowohl für Lehrer im Schul- wie im freien Beruf100. Der Vollständigkeit halber sei auf die 85
Gröben, Bernd: Rudolf Bode: Das Lebendige in der Leibeserziehung (1925). In: Court, Jürgen/ Meinberg, Eckhard (Hrsg.): Klassiker und Wegbereiter der Sportwissenschaft: Stuttgart 2006, S. 126-134. 86 Janssen, Jan-Peters: Robert Werner Schulte: Eignungs- und Leistungsprüfung im Sport. In: Court, J./ Meinberg, E.(Hrsg.): Klassiker und Wegbereiter der Sportwissenschaft: Stuttgart 2006, S. 135-142. 87 Lück, Helmut E.: Hanns Sippel: Körper – Geist – Seele (1926). Ebd., S. 143-147. 88 Decker, Wolfgang: G. A. E. Bogeng (Hrsg.): Geschichte des Sports aller Völker und Zeiten (1926). Ebd., S. 148-154. 89 Bäumler, Günther: Karl Krümmel: Maß und Zahl in der Körpererziehung. Ebd., S. 155-166. 90 Court Jürgen/Nitsch, Jürgen R.: Alfred Peters: Psychologie des Sports (1927). Ebd., S. 167-177; Court, Jürgen: Zum Beispiel Alfred Peters (1888-1974). In: BIOS 18 (2005), S. 199-205; ders.: Alfred Peters (1888-1974). Ein Kölner Wissenschaftler im Lichte neuer Quellen. In: Historische Mitteilungen (HMRG) 18 (2005). Stuttgart 2006, S. 222-233. 91 Rechberger, Wolfgang: Karl Gaulhofer: Natürliches Turnen – gesammelte Aufsätze (1930; 1931). In: Court/Meinberg, Klassiker, S. 199-204. 92 Größing, Stefan: Margarete Streicher: Natürliches Turnen – gesammelte Aufsätze. In: Court, J./Meinberg, E.(Hrsg.): Klassiker und Wegbereiter der Sportwissenschaft: Stuttgart 2006, S. 205-214. 93 Joch, Winfried: Sport und Leibeserziehung im Dritten Reich. In: Ueberhorst, Horst (Hrsg.): Leibesübungen und Sport in Deutschland vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Berlin 1982, S. 701-742; speziell: S. 739-740; ders: Sport und Sportwissenschaft an den Deutschen Universitäten im Jahr der „Machtergreifung“. In: Geissler, Rainer/Popp, Wolfgang (Hrsg.): Wissenschaft und Nationalsozialismus. Essen 1988, S. 179-196. Zur Kritik an der Methodik, dem Aufbau und den Ergebnissen Jochs siehe Peiffer/Spitzer, Sport, S. 39. 94 Bernett, Hajo: Leibeserziehung, S. 128-139. 95 Diem, Carl: Der deutsche Sport in der Zeit des Nationalsozialismus. Bearbeitet von Lorenz Peiffer. Köln 1980, S. 25-29; vgl. ders.: Weltgeschichte, S. 1012-1015. Siehe zu Diems Manuskript außer Peiffers Vorbemerkungen auch Peiffer, Lorenz: Carl Diem und der Sport in der Zeit des Nationalsozialismus. In: Sozial- und Zeitgeschichte des Sports 1 (1987) 1, S. 92-110. 96 Peiffer/Spitzer, Sport, S. 43-44, 60-63. 97 Peiffer, Sport im Nationalsozialismus, S. 42. 98 Ueberhorst, Krümmel, passim. 99 Hochschulsportordnung vom 30. Oktober 1934 (zusammengestellt von Georg Briese). Berlin 1937. 100 Kunze, Oskar: Die Prüfungsordnung für Turn-, Sport- und Gymnastiklehrer (-lehrerinnen) im freien Beruf vom 2. Juni 1936 sowie eine Zusammenstellung einschlägiger Erlasse und Bestimmungen. Berlin 1936.
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Passagen zum studentischen Sport in Teichlers101 Arbeit über die internationale Sportpolitik im ‚Dritten Reich‘ verwiesen. Berücksichtigen wir in diesen Übersichtsarbeiten auch die Literatur, in der der Sportwissenschaft kein eigener Abschnitt gewidmet wurde, und die Arbeiten zur Sportwissenschaft, die Einzelfragen behandeln, empfiehlt sich – bei selbstverständlich vorhandenen Querverbindungen – eine dreifache Gliederung: Sportwissenschaft als Institution, als Theorie und Sportwissenschaft und ihre Beziehung zum Olympismus. Sportwissenschaft als Institution bedeutet zum einen ihren Bezug zur Schule und zum anderen ihre eigene universitäre Entwicklung. Der enge sachliche Zusammenhang zwischen Sportunterricht und universitärer Sportlehrerausbildung ist der Grund dafür, daß die zahlenmäßig umfangreichste Literatur zur Sportwissenschaft im nationalsozialistischen Deutschland in der Literatur über Schulsport und Sportlehrerausbildung enthalten ist. Da diese jedoch in weit überwiegendem Maße den Schwerpunkt auf dieses Gebiet und nicht die Sportwissenschaft legt, sei hier insgesamt auf die Bibliographien von Peiffer/Spitzer102 bzw. Peiffer103 und lediglich auf zwei Arbeiten explizit verwiesen, die bereits im Titel die Verbindung von Schulsport, Wissenschaft und Lehrerausbildung enthalten.104 Zentral gesteuert wurde die Reformierung des Sports an Schule und Hochschule vom neuen Amt ‚K‘ im REM, dessen HSO nicht nur einschneidende Konsequenzen für die Lehrerausbildung, sondern als Verordnung studentischen Pflichtsports für sämtliche Studiengänge besaß.105 Die bereits in der Literatur zur Weimarer Republik erkennbare große Bedeutung der DHfL für die Entwicklung der Sportwissenschaft spiegelt sich auch hier und betrifft sowohl ihre Stillegung 1933 als auch ihre Neugründung als RfL.106 Die dritte universitäre sportwissenschaftliche Institution neben DHfL (RfL) und den IfL war die von Krümmel geleitete Führerschule des Berliner Instituts für Leibesübungen im Schloß Neustrelitz.107 Ob die durch Krümmel in den Zwanziger Jahren begründete Forschungstradition an der Heeressportschule in Wünsdorf nach 1933 fortgesetzt wurde, darf stark bezweifelt werden.108 Sportwissenschaft als Theorie umfaßt die Aussagen und Untersuchungen in Sport und Sportwissenschaft von Hochschullehrern109 inner- und außerhalb sportwissenschaftlicher
101 Teichler, Hans-Joachim: Internationale Sportpolitik im Dritten Reich. Schorndorf 1991, S. 105-106, 263-265. 102 Peiffer/Spitzer, Sport, S. 43, 61-64. Als methodisch bedeutsames Beispiel greife ich aufgrund der Verbindung allgemeiner und lokalhistorischer Aussagen heraus: Peiffer, Lorenz: Turnunterricht im Dritten Reich – Erziehung für den Krieg? Münster 1987, S. 45-78, der dort die Konsequenzen der Aufwertung des Schulsports für das IfL Münster behandelt. Die Sonderstellung der Arbeit Peiffers wird auch daran ersichtlich, daß sie als einzige sporthistorische Arbeit Aufnahme gefunden hat in das Standardwerk von Burleigh, Michael: Die Zeit des Nationalsozialismus. Frankfurt/M. 2000, S. 278, 976. 103 Peiffer, Sport. 104 Bernett, Hajo: Wissenschaft und Weltanschauung. Sportlehrerausbildung im Dritten Reich. In: Krüger, Arnd/Niedlich, Dieter (Hrsg.): Ursachen der Schulsportmisere in Deutschland. London 1979, S. 3244; Bernett, Hajo/John, Hans-Georg (Red.): Schulsport und Sportlehrerausbildung in der NS-Zeit. Methodologische Probleme der Zeitgeschichtsforschung. Clausthal-Zellerfeld 1982. 105 Einhellig wird beklagt, daß die einschlägige Dissertation von Wolfgang Buss aus dem Jahre 1975 bislang nicht publiziert wurde (so Peiffer/Spitzer, Sport, S. 43). Zum Thema Bernett, Untersuchungen, S. 83-114; Buss/Peiffer, Hochschulsportforschung; Ueberhorst, Krümmel, S. 75-80. Die Bedeutung vom Amt ´K` wird auch gewürdigt bei Buddrus, Michael: Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik. München 2003, S. 227-228; Peiffer, Lorenz: Reichsund Preußisches Ministerium für Wissenschaft. Erziehung und Volksbildung (Hrsg.): Richtlinien für die Leibeserziehung in Jungenschulen (1937). In: Court/Meinberg, Klassiker, S. 249-261, hier: S. 249-250. 106 Bernett, Hajo: Der deutsche Sport im Jahre 1933. In: Stadion VII/2 (1982), S. 225-283, hier: S. 234236; ders., Wissenschaft, S. 36-39; ders.: Die Reichsakademie für Leibesübungen im Traditionsverständnis der deutschen Sporthochschule. In: Stadion XVIII, 2 (1992), S. 247-255. 107 Bernett, Wissenschaft, S. 39-42. 108 Diem, Sport, S. 32, spricht lediglich von einem „ausgezeichneten Lehrkörper“ (Hervorh. J. C.). 109 Eine solche Einteilung auch bei Joch, Sport, S. 706. Daher gehören Untersuchungen beispielsweise über die theoretischen Vorstellungen des Reichssportführers von Tschammer und Osten durch Tiet-
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Institute, insofern sie ein die bloße Sportpraxis transzendierendes theoretisches Interesse erkennen lassen. Hierzu gehören die Theorie der politischen Leibeserziehung, die von Alfred Baeumler110 und seinen Schülern, vor allem Heinz Wetzel111, konzipiert wurde, Hermann Altrock112, Albert Hirn113, die konstitutionspsychologischen Arbeiten der Brüder Erich Rudolf Jaensch114 und Walther Jaensch115, die Leipziger Motorik-Forschung um Otto Klemm116 sowie Carl Krümmel117 und Hans Möckelmann118. Das Kapitel über Sportwissenschaft und Olympismus bezieht die These Carl Diems119 vom unpolitischen Charakter der Spiele von 1936 auf den „‚Kriegseinsatz‘ der deutschen Geisteswissenschaften“120. Die Notwendigkeit einer Analyse ihrer Beziehungen liegt in der Idee begründet, daß der Zweck des Sports als Hinführen zu einer menschlichen Idealgestalt seine höchste Erfüllung in Olympischen Spielen findet.121 Während eine als Theorie von
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113 114 115 116
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ze, Lothar: Nationalsozialistische Leibeserziehung. Ursprung und Entwicklung ihrer Theorie. InauguralDissertation. Düsseldorf 1984, S. 106-131, nicht hierher. Alkemeyer, Körper, S. 239-273; Bernett, Hajo: Untersuchungen zur Zeitgeschichte des Sports. Schorndorf 1973, S. 104; ders., Grundformen, S. 91-104; Caysa, Volker: Nietzsches Leibphilosophie und das Problem der Körperpolitik. In: Nietzsche-Forschung. Ein Jahrbuch. Bd. 4. Berlin 1998, S. 285-299 (hier: S. 285 f.); Dahms, Hans Joachim: Philosophie. In: Hausmann, Rolle, S. 193-228 (hier: S. 223227); Joch, Winfried: Theorie einer politischen Pädagogik. Alfred Baeumlers Beitrag zur Pädagogik im Nationalsozialismus. Bern/Frankfurt/M. 1971; ders.: Politische Leibeserziehung und ihre Theorie im Nationalsozialistischen Deutschland. Bern/Frankfurt/M. 1971; ders: Sport und Leibeserziehung im Dritten Reich. In: Ueberhorst, Horst (Hrsg.): Leibesübungen und Sport in Deutschland vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Berlin 1982, S. 701-742, hier: S. 707-720; ders.: Alfred Baeumler: Männerbund und Wissenschaft (1934). In: Court/Meinberg, Klassiker, S. 215-222; Leske, Monika: Philosophen im „Dritten Reich“. Berlin 1990, S. 184-187, 294-295; Tietze, Leibeserziehung, S. 71-105; Wirkus, Bernd: Deutsche Sozialphilosophie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Darmstadt 1996, S. 197-199. Alkemeyer, Körper, S. 251; Anm. 49; Buddrus, Erziehung, S. 227, Anm. 255; Joch, Sport, S. 706; Tietze, Leibeserziehung, S. 158-194. Zu Baeumler und Wetzel auch Bernett, Grundformen, S. 91-104. Teichler, Hans Joachim: Hermann Altrock in der NS-Zeit. In: Sportwissenschaft 35 (2005), S. 375-402. – Wenn Teichler, ebd., S. 377, Anm. 16, bezweifelt, daß Diem ein zentraler Gegenstand der Sportwissenschaft im ‚Dritten Reich‘ sein dürfe, hat er übersehen, daß ein entsprechender Versuch bei Court, Sportwissenschaft, nicht im strengen Sinne die universitär-institutionelle Sportwissenschaft betraf. Tietze, Leibeserziehung, S. 195-218. Ash, Mitchell G.: Psychologie. In: Hausmann, Rolle, S. 229-264 (hier: S. 242 f.); Geuter, Ulfried: Nationalsozialistische Ideologie und Psychologie. In: Ash, Mitchell G./Geuter, Ulfried (Hrsg.): Geschichte der Psychologie im 20. Jahrhundert. Opladen 1985, 172-200 (hier: S. 179-195); Joch, Sport, S. 708. Ash, Psychologie, S. 242 f.; Geuter, Ideologie, S. 181, 242 f. – Da Walther Jaensch in seinem Band Körperformung, Rasse, Seele und Leibesübungen (Berlin 1936) seinen eigenen Ansatz und den seines Bruder als Einheit behandelt, werde ich im entsprechenden Kapitel dieser Einteilung folgen. Geuter, Ulfried: Die Zerstörung wissenschaftlicher Vernunft. Felix Krueger und die Leipziger Schule der Ganzheitspsychologie. In: Psychologie heute. April 1980, S. 35-43; Janssen, Sportpsychologie, S. 18-19.; Loosch, Eberhard: Das Ganze läuft genauer ab als seine Teile. Zur Geschichte der Motorikforschung von 1925-1939 am Psychologischen Institut in Leipzig. In: sportpsychologie 7 (1993) 1, S. 26-30; ders.: Allgemeine Bewegungslehre. Wiebelsheim 1999, S. 51; ders./Böger, Bewegungslehre, S. 231; ders.: Otto Klemm: Zwölf Leitsätze zu einer Psychologie der Leibesübungen (1938). In: Court/Meinberg, Klassiker, S. 262-270; Krueger, Felix: Otto Klemm und das Psychologische Institut der Universität Leipzig. Leipzig 1939. – Ferner sei verweisen auf die sich im Druck befindliche Monographie von Eberhard Loosch über Leben und Werk Otto Klemms (Münster 2007), die auch für die Geschichte dieses Instituts von Bedeutung ist. Joch, Sport, S. 707 f; Tietze, Leibeserziehung, S. 133-157; Ueberhorst, Krümmel, S. 123-134. Alkemeyer, S. 292 f.; Anm. 98; Gissel, Burschenturnen, S. 202-208; Joch, Sport, S. 706. Diem, Leben, S. 200; ders.: Sport, S. 36; ders: Weltgeschichte, S. 1010, 1018. Hausmann, Frank-Rutger: „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940-1945). Zweite, erweiterte Auflage. Dresden/München 2002, S. 19; vgl. ders.: Einführung, S. X, XX f.; Court, Sportwissenschaft, S. 302 f. Diem, Schriften, Bd. 1, S. 98 [1944]; ders.: Körpererziehung bei Goethe. Frankfurt/M. 1948, S. 468; Klemm, Otto: Zwölf Leitsätze zu einer Psychologie der Leibesübungen. In: Neue Psychologischen Studien (1938), Bd. 9, 4. (Schluß-)Heft, S. 383-398, hier: S. 387, 396; zur körperlichen und geistigen Entwicklung durch Sport auch Schulte, Robert Werner: Eignungs- und Leistungsprüfung im Sport. Berlin 1925, S. 22; zu Baeumlers Sicht der Olympischen Spiele als organisch gewachsene Form Alkemeyer, Körper, S. 268-269.
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der Praxis und für die Praxis verstandene Wissenschaft vom Sport einerseits diesen Zweck befördert, zieht sie andererseits selbst ihre wichtigsten Lehren aus diesen Spielen. 3. Folgerungen Wenn im Folgenden die DHfL (RfL) in den Mittelpunkt der Studie rückt, trägt dieser Umstand nicht nur der Häufigkeit ihrer Nennung Rechnung, sondern entspricht auch dem zeitgenössischen Tenor.122 Weil ein achtsemestriges wissenschaftliches Studium der Leibesübungen an den IfL in Preußen erst ab Sommersemester 1930 möglich war, während die DHfL bereits im Mai 1920 eröffnet wurde, besitzen wir Beurteilungen der Wissenschaftlichkeit dieser Institutionen in der Weimarer Republik lediglich über die DHfL. Ihre Spannweite erstreckt sich von der Konstatierung eines „wissenschaftlichen Defizits“123 bis zur Einschätzung als „weltweit anerkannte Institution“124. Die einhellige Einschätzung und Begründung der wissenschaftlichen Minderwertigkeit der Sportlehrerausbildung im Nationalsozialismus umfaßt dann RfL und IfL.125 Außerdem hat die Konzentration auf die DHfL ihren Grund darin, daß sich Carl Diem in seiner Begründung der Notwendigkeit einer eigenen Hochschule für Leibesübungen unter einer historischen Perspektive auf Vorgängerinstitutionen und unter einer systematischen Perspektive auf Kriterien wissenschaftlicher Zwecke stützt, was uns einerseits zu Anhaltspunkten für die historische Einordnung der DHfL und andererseits einer schärferen Fassung des Begriffs der Wissenschaftlichkeit führt.126 Diem unterscheidet nämlich prinzipiell interne und externe Zwecke von Wissenschaft, wobei jene nationale oder wissenschaftsmethodische Motive enthalten können.127 Ein externer Zweck bezieht sich z. B. auf die unmittelbare Befriedigung des Bedarfs an Lehrern für Leibesübungen nach dem Ersten Weltkrieg, während sich auf der Seite der internen Zwecke der innere Drang eines Volkes zu verstärkten Leibesübungen mit der kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Notwendigkeit der Bewältigung der Kriegsfolgen verbindet. Die methodische Begründung dieser neuen Art von Wissenschaft hängt nun insofern unmittelbar mit solchen nationalen Zielen zusammen, als zu ihrer Verwirklichung die Zusammenarbeit einerseits von Wissenschaftlern und Praktikern und andererseits von Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen erforderlich ist. Weil nun diese Kriterien der Wissenschaftlichkeit einerseits der zeitgebundenen „Forderung des Tages“128, andererseits dem – aufgrund seiner idealistisch-humanistischen Prinzipien – überzeitlichen Geltungsanspruch von Diems Reformpädagogik129 entspringen, läßt 122 Siehe beispielsweise die Ausführungen des Reichssportführers Hans von Tschammer und Osten: Die Bedeutung des Reichssportfeldes für die deutschen Leibesübungen. In: Reichsministerium des Innern (Hrsg.): Das Reichssportfeld. Eine Schöpfung des Dritten Reiches für die Olympischen Spiele und die Deutschen Leibesübungen. Berlin 1936, S. 85-102. 123 Bernett, Entwicklungsgeschichte, S. 232. 124 Beyer, Sport, S. 670. 125 Bernett, Wissenschaft, S. 42; Buss, „Stunde der Sieger“, S. 24-25; Buss/Pfeiffer, Hochschulsportordnung, S. 45-47. 126 Diem, Hochschule, S. 5-11; die entsprechenden Dokumente in: Carl-Diem-Institut, Dokumente zum Aufbau, S. 120, 123. 127 Diese grundsätzliche Abgrenzung von internen und externen Zwecken auch bei Drexel, Gunnar: Paradigmen in Sport und Sportwissenschaft. Schorndorf 2002, S. 209, und Grupe, Vierzig Jahre, S. 21, der diese Unterteilung ausdrücklich den Gründungsdokumenten der DHfL entnimmt. 128 Diem, Hochschule, S. 10. 129 Von den drei Kriterien der Reformpädagogik (vgl. Prohl, Robert: Grundriß der Sportpädagogik. Frankfurt/M. 1999, S. 47-48) Kulturkritik, Ausrichtung der Erziehung am Begriff des Kindes als eigenständiges Wesen und Kritik des Schulwesens erfüllt Diem das erste und das dritte explizit und das zweite implizit. Zum Humanismus Diems siehe Menze, Einführung, S. 9-13; zum Idealismus Court, Renaissance, passim.
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sich dieser Befund auch als Präzisierung der Aufgabe dieses Beitrags formulieren: Sie besteht darin, das jeweilige Verhältnis interner und externer Zwecke von Wissenschaftlichkeit vor dem Hintergrund des Kontinuitätsproblems zu interpretieren. Das anschließende Kapitel analysiert die Wissenschaftlichkeit der Sportwissenschaft in der Weimarer Republik, indem sie die von Diem vorgezeichneten Kontinuitätslinien aufgreift, bevor dieses Material wiederum für die Kontinuitätsfrage im Kapitel zur Sportwissenschaft im Nationalsozialismus verwendet werden kann. Wegen ihres engen Zusammenhangs mit der Sportlehrerausbildung für Schule und Vereine beschränkt sich diese Studie auf die universitäre Sportwissenschaft.130 Methodisch stützt sie sich auf die opinio communis im Geflecht von Sportwissenschaft und Universitäts(fach)geschichte, daß Fachgeschichte einen methodischen Pluralismus der Theorien auf der heuristischen Grundlage der Paradigmentheorie Thomas S. Kuhns mit einer wechselseitigen Interpretation möglichst vielfältiger Quellen und Quellenarten zu verbinden habe.131 Eingeschlossen ist hier der Verweis auf die notwendige Berücksichtigung der „Trias ‚Institution, Inhalte/Ideologien und Individuen‘“132 oder die These einer Korrespondenz zwischen wissenschaftlichem Mikro- und staatlich-gesellschaftlichem Makrokosmos.133 4. Sportwissenschaft in der Weimarer Republik 4.1. Vorgeschichte Die DHfL wurde am 15. Mai 1920 in Anwesenheit Friedrich Eberts feierlich in der Berliner Aula eröffnet. Ihr Heim war das nach Plänen von Otto March in Charlottenburg inmitten der Grunewald-Pferderennbahn errichtete Stadion. In seinem Büchlein Die Deutsche Hochschule für Leibesübungen (1924) nennt Carl Diem als die Vorgänger der DHfL Karl Friesens und Friedrich Ludwig Jahns „Turnkünstlerverein zur wissenschaftlichen Erforschung und kunstgerechten Begründung“ von 1812, die Sportabteilung des DresdnerHygiene-Museums 1911, die 1913 gegründete „Vereinigung zur wissenschaftlichen Erforschung des Sports und der Leibesübungen“, das Charlottenburger und Spandauer Stadion-
130 Außerhalb der universitären Sportwissenschaft sind die Heeressportschule Wünsdorf (s. o.) und zivile Institute zu nennen (dazu Court, Sportanthropometrie, S. 401-403). 131 Vgl. Hausmann, Frank-Rutger: Auch eine nationale Wissenschaft? Die deutsche Romanistik unter dem Nationalsozialismus. 1. Teil. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 22 81998), S. 1-39; hier: S. 4-7, S. 25; ders.: „Ritterbusch“, S. 12; ders., „Strudel“, S. 14-15; Willimczik, Sportwissenschaft, S. 32. Siehe ferner aus der Universitätsgeschichte Heimbüchel, Universität, S. 101-705, hier: S. 107110, und aus der Fachgeschichte der Psychologie Sprung, Lothar et. al.: Welchen Sinn hat eine Regionalgeschichte der Psychologie? In: Ders./Schönpflug, Wolfgang (Hrsg.): Zur Geschichte der Psychologie in Berlin. Frankfurt a. M. u. a. 1992, S. 9-21.– Zum methodischen Pluralismus aus der Sicht der Sportwissenschaft siehe Meinberg, Eckhard: Zwischen Verstehen und Beschreiben. In: Karl-Heinrich Bette u. a. (Hrsg.): Zwischen Verstehen und Beschreiben. Köln 1993, S. 9-20, hier: S. 12-17; zur Sportgeschichte als Konzept einer „offenen“ Geschichtsschreibung Krüger, Einführung. Teil 2. u. S. 10-16, bzw. zum „mehrdimensionalen Ansatz“ in der Sporthistoriographie auch Peiffer/Spitzer, Sport, S. 41; Pyta, Einleitung, S. 3. Zu einzelnen sporthistorischen Ansätzen vgl. Krüger, Arnd: Trasybulos – oder warum wir bei der Geschichte der Sportwissenschaft weiter vorn anfangen müssen. In: Gissel, Norbert u. a. (Hrsg.): Sport als Wissenschaft. Hamburg 1998, S. 57-74, hier: S. 57, und in der Psychologiegeschichte bei Sprung, Sinn, S. 14-17; zu den allgemeinen Prinzipien historischen Arbeitens grundlegend Pabst, Geschichte. 132 Hausmann, „Strudel“, S. 15; vgl. Franke, Elk: Der Sport nach 1933: Äußere Gleichschaltung oder innere Anpassung? In: Fachbereich 3 der Universität Osnabrück (Hrsg.): Schriftenreihe Fachbereich 3. Osnabrück 1984, S. 341-361, hier: S. 359. 133 Hausmann, „Strudel“, S. 11; vgl. Heimbüchel, Universität, S. 577.
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Projekt, die verschiedenen Initiativen im Deutschen Reichsausschuß für Leibesübungen (DRA) seit 1917 und schließlich seine eigene Denkschrift aus dem Jahre 1919.134 Für eine Einordnung dieser Institutionen in das Kontinuitätsproblem ist vorauszuschicken, daß der Zeitraum zwischen dem „Turnkünstlerverein“ von 1812 und der Gründung der DHfL 1920 durch eine „Revolution“135 der Turn- durch die Sportwissenschaft gekennzeichnet werden kann. Sie ist die wissenschaftliche Reaktion auf den sportlichen Zweck der persönlichen Höchstleistung, der den erstarrten „Formalisierungsprozeß des Turnens“136 dynamisierte. Weil die Sportbewegung mit ihrer höchsten Form, der Olympischen Idee, einerseits das reformpädagogische Ganzheitsideal, andererseits aber auch das Prinzip der Arbeitsteilung spiegelt, schöpft sie ihre große kulturelle Werbekraft zwar aus jenem antidualistischen Grundzug, gerät aber in der Sorge um die negativen Auswirkungen des professionalisierten Sports auf die Verwirklichung jenes Ideals wiederum selbst in den Bereich der Kulturkritik.137 Vor diesem Hintergrund ist die Entwicklung der Sportwissenschaft als Ausdifferenzierungsprozeß pädagogischer, ästhetischer, physiologischer, psychologischer, anatomischer oder biomechanischer Erkenntnisse, deren Zweck und Gegenstand die Theorie und Praxis der jeweiligen Wirkungen unterschiedlicher Intensitätsstufen des Sports auf ‚Körper‘ und ‚Geist‘ ist. Insofern hier vergleichende Erkenntnisse über Turnen und Gymnastik einbezogen sind138, kann die Sportwissenschaft auch als Teilbereich einer ‚Theorie der Leibesübungen‘ bzw. ‚Leibeserziehung‘ verstanden werden. Kontinuität zwischen Turn- und Sportwissenschaft in der Begründung jener Institutionen und ihrer „beiden Grundelemente, Forschung und Lehre der Leibesübungen“139, läßt sich dort nachweisen, wo ihr nationaler Zweck der Wehrhaftigkeit140 dominiert, Diskontinuität hingegen, wo ihre neue interdisziplinäre Wissenschaftskonzeption, ein (dadurch) gewandeltes Verhältnis von Theorie und Praxis oder der Zusammenhang zwischen der Internationalität des Sports und seiner Institutionalisierung herausgestrichen wird. Nehmen
134 Diem, Hochschule, S. 11-21; ders., Leben, S. 102-103; ausführlich Court, Jürgen: Die „Vereinigung zur wissenschaftlichen Erforschung des Sports und der Leibesübungen e. V.“ von 1912 – Bemerkungen zum ersten sportwissenschaftlichen Verein in Deutschland. In: Ders. (Hrsg.): Jahrbuch 2005 der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Sportwissenschaft e. V. Münster 2006, S. 141-187. 135 Bernett, Entwicklungsgeschichte, S. 230. 136 Krüger, Michael: Körperkultur und Nationsbildung. Die Geschichte des Turnens in der Reichsgründungsära – eine Detailstudie über die Deutschen. Schorndorf 1996, S. 410. Zu den wissenschaftlichen Implikationen dieses neuen Ziels auch Court, Interdisziplinäre Sportwissenschaft, S. 20, 24-25; Hoberman, John: Sterbliche Maschinen. Doping und die Unmenschlichkeit des Hochleistungssports. Aachen 1994, passim; Krüger, Michael: Turnen und Turnphilologie des 19. Jahrhunderts als Vorläufer moderner SW. In: Sportwissenschaft 30 (2000), S. 197-210, hier: S. 205-207; Langenfeld, Hans: Deutsche Ärzte des 19. Jahrhunderts als Vorläufer der modernen Sportwissenschaft. In: Wonneberger, G./ Liebold, K. (Hrsg.): Geschichte der Sportwissenschaft. Bd. 2. Leipzig 1980, S. 129-137, hier: S. 133-134; Quanz, Dietrich R.: Die Sportwissenschaft in Deutschland und ihre olympischen Wurzeln. In: Gabler, Sport, S. 290-307, hier: S. 293; am Beispiel der Rezeption Darwins siehe Tauber, Sport. 137 Zeitgenössische Zitate von Bertz, Fendrich, Koch oder F. A. Schmidt bei Court, Ideengeschichte, passim. 138 Vgl. das folgende vielzitierte Beispiel Carl Diems: „Wenn wir [...] uns nun vereinten, um Kniebeugen zu machen [...], um der Verdauung förderlich zu sein, so trieben wir Gymnastik; wenn wir uns vereinten, [...] um uns gemeinsam auf ein gewisses Niveau des Könnens hin zu erziehen, so trieben wir Turnen; wenn wir uns aber vornähmen, soviel Kniebeugen zu machen als möglich, um den Sieg zu erringen, so trieben wir Sport“ (zit. n. Fendrich, Anton: Der Sport, der Mensch und der Sportsmensch. 3. Aufl. Stuttgart 1914, S. 17). 139 Krause, Gerhard: Vom Stadion zum Sportforum. In: Schiff, Alfred (Hrsg.): Die deutsche Hochschule für Leibesübungen 1920-1930. Berlin 1930, S. 20-26; hier: S. 20. 140 Dieser Begriff wird hier im Sinne einer allgemeinen Lebenstüchtigkeit (vgl. Diem, Schriften, Bd. 2, S. 131) verwendet, für den das Vorbild Friedrich Ludwig Jahns charakteristisch ist. Vgl. ebd., S. 137 [1919]: „Unseres Volksheeres als Turnlehrstätte beraubt, müssen wir in der freien Turn- und Sportbewegung einen Ersatz schaffen, was uns nur gelingt, wenn die Nationalversammlung schon bei der Verfassungsarbeit die Grundlage dafür legt. Möge doch in ihr ein neuer Friedrich Ludwig Jahn entstehen, der erkennt, daß hier die Wurzeln späterer Kraft einzusetzen und zu heben sind!“
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wir als Beispiel aufgrund seines „Zäsurcharakters“141 das Jahr 1913, repräsentieren die seit 1897 vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) veranstalteten internationalen Kongresse zur Vertiefung der Olympischen Idee142 oder die Dresdner Hygiene-Ausstellung 1911 mit ihrer Betonung der durch den Sport notwendigen neuen wissenschaftlichen Denkweisen Elemente von Diskontinuität, mit denen die Einbürgerung des Begriff einer ‚Sportwissenschaft‘ einhergeht143. An dem in Dresden eingerichteten Sportlaboratorium mit seinem Schwerpunkt auf dem volksgesundheitlichen Nutzen des Sports144 kann man jedoch gerade in jener wissenschaftlichen Revolution auch die Kontinuität jenes nationalen Interesses demonstrieren, welches im Vorfeld und nach dem Ausbruch des I. Weltkriegs wieder in den Vordergrund rückt. Nachdem Deutschland 1912 den Zuschlag für die Olympischen Spiele 1916 erhalten hatte, betonte Diem zuerst noch, daß ein nationaler Nutzen aus Olympischen Spielen eine „Modernisierung“145 der Leibesübungen voraussetzt, die sich in wissenschaftlicher und organisatorischer Hinsicht an internationalen Vorbildern orientiert.146 Sein unmittelbar vor Kriegsausbruch 1914 erschienenes Büchlein „Friede zwischen Turnen und Sport“147 ist jedoch bereits ein Hinweis darauf, daß die allgemeingeschichtliche Situation allmählich zu einer vollständigen Abkehr der Sportbewegung von der Idee internationaler Olympischer Spiele und zu einer Annäherung an die nationale Tradition des Turnens führt, die in den sportwissenschaftlichen Konzeptionen des Ersten Weltkriegs durch eine eigentümliche Vermengung moderner und traditioneller Elemente gespiegelt wird. 4.2 DHfL Vergleichen wir die Dokumente zur Gründung der DHfL aus dem Beginn der Weimarer Republik mit den vorangegangenen Denkschriften Diems – 1917 an August Bier, Militärarzt im Ersten Weltkrieg und Professor der Chirurgie an der Universität Berlin, 1919 an die Weimarer Nationalversammlung – zur Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Erforschung der Leibesübungen auf Hochschulebene148 zunächst unter der Perspektive der Kontinuität zwischen Turn- und Sportwissenschaft, ist festzuhalten, daß die auch hier nachweisbare ideelle Kontinuität zwischen Wissenschaft und Wehrtüchtigkeit personelle und institutionelle Kontinuitäten einschließt. Die DHfL wurde gegründet als private Einrichtung des Deutschen Reichsausschusses für Leibesübungen (DRA), der in Umbenennung des Deutschen Reichsausschusses für Olympische Spiele (DRAfOS) seit 1917 mit der Organisation ‚Deutscher Kampfspiele‘ anstelle internationaler Olympischer Spiele betraut war. Diem, Generalsekretär des DRA, wurde auch Prorektor der DHfL und Bier ihr erster
141 Eisenberg, „English sports“, S. 284, begründet ihn mit der „Vorwegnahme der innenpolitischen Situation des Jahres 1914“. 142 Vgl. Diem, Carl: Der Olympische Gedanke. Köln 1967, S. 31, 126; zur Übersicht Müller, Norbert: Von Paris bis Baden-Baden. Die Olympischen Kongresse 1894-1981. 2. Aufl. Niedernhausen/Taunus 1983. 143 L. Diem, Leben, Bd. 1, S. 363. 144 Aus der Fülle an Literatur sei hier nur genannt Mallwitz, Arthur: Internationale Hygiene-Ausstellung Dresden 1911. In: Jahrbuch für Volks- und Jugendspiele (1911), S. 332-347; Tauber, Sport, S. 50-54; Court, Vereinigung, S. 148-149. 145 Diem, Schriften, Bd. 1, S. 38. 146 Diem, Leben, S. 90-92; ders., Schriften, Bd. 3, S. 27-48; ders: Die Olympischen Spiele 1912. 3. Aufl. Berlin 1912, S. 3, 194; siehe auch Lennartz, Karl: Die VI. Olympischen Spiele Berlin 1916. In: Stadion VI (1980), S. 229-249; Quanz, Sportwissenschaft, S. 304-305. 147 Diem, Carl: Friede zwischen Turnen und Sport. Leipzig/Berlin 1914. Vgl. ders., Schriften, Bd. 2, S. 113, 116.- Eine ausführliche Interpretation bei Krüger, Michael: Carl Diem: Friede zwischen Turnen und Sport (1914). In: Court/Meinberg, Klassiker, S. 75-86. 148 Diem, Leben, S. 102-103.; ders., Schriften, Bd. 2, S. 133; ders., Hochschule, S. 13.
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Rektor.149 Eisenbergs Bezeichnung des DRA als „Reichssportamt“150 besagt, daß in der Spezifizierung jenes übergreifenden Ideals der Wehrtüchigkeit eine wesentliche Funktion des DRA nach dem Versailler Vertrag und der Abschaffung der Wehrpflicht in der Organisation von Sport und Sportwissenschaft als Wehrpflichtersatz lag.151 Diskontinuität zwischen Turn- und Sportwissenschaft zeigt sich nun gerade im Vergleich zwischen DHfL und der 1921 zur Preußischen Hochschule für Leibesübungen beförderten Spandauer Landesturnanstalt, die seit 1925 von Edmund Neuendorff, Führer der Deutschen Turnerjugend, geleitet wurde.152 Zwar waren sich Diem und Neuendorff im Ausbildungsziel der „körperlich vorbildlichen Führerpersönlichkeit“153 und im reformpädagogischen Kampf gegen die „Einseitigkeit“154 des „dreimal geheiligten Intellektualismus“155 einig. Während hier die PrHfL jedoch einem an Jahns ‚Turnkunde‘ ausgerichtetes Hochschulkonzept folgte, in welchem die Medizin lediglich den Charakter einer „‘Hilfswissenschaft‘“156 annahm, besaß die DHfL eine modernere Konzeption. Sie begriff sich als „Sammelstelle“, in der Praktiker und Wissenschaftler „philosophischer und naturwissenschaftlicher Art“ im „gegenseitigen Austausch“ eine „volltönende Symphonie“157 erklingen lassen. Dazu verfügte sie über anthropometrische, physiologische, psychologische und Röntgen-Laboratorien, die sich sowohl auf dem Gelände der DHfL im Grunewalder Stadionbereich wie auch im Kaiser-Wilhelm-Institut für Arbeitsphysiologie befanden, mit dem ebenso wie mit dem Institut für Anatomie ein Gegenseitigkeitsvertrag bestand.158 Von einer solchen Institution erhoffte sich der DRA Impulse für ‚moderne‘ nationale und internationale Formen von Kultur und Wissenschaft.159 Obgleich die Ausbildung an der DHfL für Verein und Schule konzipiert war, wurde die staatliche Aufgabe zunächst ausschließlich von der PrHfL übernommen. 1923 betraute das Preußische Ministerium die DHfL damit, gemeinsam mit der Spandauer Hochschule die Akademiker-Turn- und Sportlehrgänge der Berliner Universität durchzuführen. Mit Erlaß vom 1. April 1930 wurde eine neue Arbeitsgemeinschaft für das Studium der Leibesübungen und der körperlichen Erziehung gegründet. Sie bestand aus der Spandauer Anstalt, der DHfL sowie den IfL der Universität, der Technischen Hochschule und der Handelshochschule. Sie endete mit der Auflösung der PrHfL im Dezember 1931 aufgrund der 2. Sparverordnung vom 23. Dezember und nach dem Tod ihres Leiters Ottendorff; an ihre Stelle trat das IfL an der Universität Berlin, das Diem abwechselnd mit Albert Hirn und Neuendorff leitete. Von der am 11. Juni 1931 staatlich anerkannten DHfL wurde unter be149 Diem, Hochschule, S. 11-13.; ders., Schriften, Bd. 2, S. 138-139; 160; Lennartz, 1916, S. 244; Court, Vereinigung, S. 164-178. 150 Eisenberg, „English sports“, S. 346. 151 Auf der Hauptversammlung des DRA am 14. Mai 1920 sprach sein Vorsitzender Theodor Lewald vom „Ersatz für die verlorene Gesundheitsquelle des ehemaligen Heeres“ (zit. n. Buss/Peiffer, Hochschulsport, S. 41). Zur Rolle Lewalds und zum Einfluß des Militärs im DRA Eisenberg, „English sports“, S. 342-353; zu Bier siehe außer Lennartz, August-Bier-Plakette, Vogeler, Karl: August Bier. Leben und Werk. München/Berlin 1941, S. 42-44, der allerdings Biers Tätigkeit für die DHfL nicht erwähnt, sondern lediglich seine entsprechenden Aufsätze; zur Beziehung zwischen Bier und Reichswehrminister Noske vgl. Zhorzel, Kaiserreich, S. 12. 152 Vgl. Diem, Schriften, Bd. 2, S. 223-225; Krüger, Neuendorff, S. 240-241. 153 Diem, Schriften, Bd. 2, S. 161. 154 Ebd. 155 Neuendorff, Geschichte, Bd. IV, S. 617. 156 Bernett, Entwicklungsgeschichte, S. 231. Selbst Neuendorff, Geschichte, Bd. IV, S. 624, 630, bezeichnete den Namen der „Hochschule“ für die Landesturnanstalt als „ebenso gutklingenden wie hohlen Titel“ und ihre Ausbildung als „berüchtigt“; für Diem, Leben, S. 103, war die Spandauer Ausbildung schlichtweg „verkalkt“. 157 Diem, Hochschule, S. 6, S. 10; ders., Schriften, Bd. 1, S. 59. 158 Diem, Hochschule, passim; Krause, Stadion, passim. 159 Eisenberg, „English sports“, S. 353-355, nennt den Anschluß an die internationale Forschung vor allem auf dem volksgesundheitlich bedeutsamen Gebiet der „Leistungswissenschaft“, an die internationale Kulturpolitik und die Entfaltung einer „modernen“ Kultur im Interesse nationaler Einheit.
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stimmten Umständen die praktische Hauptprüfung auf die Vorprüfung zur staatlichen höheren Lehramtsprüfung angerechnet.160 Während in der DHfL von den vier Abteilungen Übungs-, Gesundheits-, Erziehungsund Verwaltungslehre im Wintersemester 1923 in der Abteilung Gesundheitslehre sieben ordentliche und elf außerordentliche Lehrer verzeichnet waren, waren es in der Abteilung Erziehungs- und Verwaltungslehre zusammen sechs ordentliche und acht außerordentliche Lehrer. Die Verwaltungslehre unter ihrem Leiter Diem übernahm den historischphilosophischen Aufgabenbereich161, in dem beispielsweise im Sommersemester 1923 über „Philosophische und ethische Probleme aus der Geschichte der Leibesübungen“ und über „Die Entwicklung des leibeserzieherischen Gedankens von den Uranfängen bis zur Jetztzeit“162 gelesen wurde. Für alle Abteilungen der DHfL galt, daß an ihr herausragende Persönlichkeiten lehrten.163 Das sechssemestrige Studium schloß mit der Prüfung zum Diplom-Turn- und Sportlehrer ab. Voraussetzung für die Zulassung zum Studium war das Reifezeugnis einer neunstufigen deutschen Lehranstalt oder das Zeugnis über die bestandene Lehrerprüfung. Ausnahmen galten – nach Senatsentscheid und unter Vorbehalt für ein Semester – für besonders begabte und bewährte Turner und Sportler sowie seit dem Wintersemester 1923/24 für mindestens 17-jährige Mädchen mit Schlußzeugnis des Lyzeums, die Vor- und Weiterbildungsstudien zu absolvieren hatten. Ca. 4% der Studenten wurden aufgrund der ersten Ausnahme eingeschrieben. 1926 mußte eine Aufnahmeprüfung eingerichtet werden, weil die Zahl der Studierenden von 71 im Sommersemester 1920 auf über 200 gestiegen war.164 4.3 IfL Obgleich die Entwicklung der staatlichen Ausbildung der Lehrer für Leibeserziehung an den IfL der deutschen Staaten zwei gegensätzlichen Konzeptionen folgte, konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf Preußen. Zum einen war Preußen der größte deutsche Staat, und zum anderen lassen sich auch innerhalb Preußens jene unterschiedlichen Vorstellungen nachweisen. Für das Konzept des Fachturnlehrers standen die Vertreter der organisierten Leibesübungen und die DHfL. Sie brachten vor, daß das vom modernen Leibeserzieher verlangte Wissen und Können nur durch ein ausschließliches Studium der Leibeserziehung erlangt werden könne, das bis zu drei Fächer gleichwertig anzuerkennen sei. Das Konzept des Turnphilologen hingegen wurde durch die Landesturnanstalt und das traditionell philologenfreundliche Ministerium befürwortet, die eine völlige Integration der 160 Briese, Studium, S. 20, Anm. 2, S. 138-140; CDI, Dokumente zur Gründung, S. 54-65; Diem, Schriften, Bd. 2, S. 194 ., S. 223 f.; Eisenberg, „English sports“, S. 365; Neuendorff, Geschichte, Bd. IV, S. 633; Krüger, A, Turnen, S. 20; Lennartz, Karl (Hrsg.): Die Briefe Edmund Neuendorffs an Erich Harte 19231932. Oberwerries 1989. Eine hilfreiche Chronologie dieses komplizierten und bis heute nicht richtig entschlüsselten Vorganges gibt Borgers, Auflösung. 161 Dieser „geht den geschichtlichen Grundlagen und der Entwicklung der Leibesübungen im Zusammenhange mit der Kultur unserer Völker nach, um aus ihr Form und Betreib der Leibesübungen unserer Tage zu begreifen“ (Diem, Hochschule, S. 26). 162 Ebd. (S. 25, S. 68); Carl-Diem-Institut, Dokumente zum Aufbau, S. 127-129; Diem, L., Leben, Bd. 1, S. 52 f. 163 Anschaulich sind die Erinnerungen von Liselott Diem, Leben, Bd. 1, S. 364: „Unsere Lehrer waren bekannte Mitglieder der Berliner Universität, wie der Berliner Physiologe du Bois-Reymond, der Anatom Kopsch, der Orthopäde Klapp und die Mediziner Atzler, Kisch, Stier, Rubner. Der spätere Nobelpreisträger Forssmann demonstrierte in unserem Hörsaal zum ersten Mal die neugefundene Methode der Katheterisierung des Herzens in Belastung. In der Berliner Anatomie sezierten wir bei Baetzner, in der Poliklinik lernten wir die Unfallkunde direkt an dem gerade von der Straße hereingebrachten Unfallgeschädigten. Die Pädagogik hörten wir bei Spranger, der in zwei berühmten Festreden [...] ein neues Wertbild der Leibeserziehung und vor allem der Person des Turnlehrer schuf.“ 164 Diem, Hochschule, passim; Schiff, Alfred: Zehn Jahre äußere Entwicklung. In: Ders., Hochschule, S. 819.
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Turnlehrerbildung in die allgemeine Philologenausbildung und eine Gleichberechtigung mit jedem anderen wissenschaftlichen Fache verlangten.165 Bis zum Ersten Weltkrieg erfolgte die Ausbildung der preußischen Turnlehrer über Kurse oder Prüfungen an der Spandauer Turnlehreranstalt, die Ausbildung auf Volksschullehrerseminaren oder universitäre Ausbildungskurse in den Provinzen. Die in den Prüfungsordnungen deutlich werdende Akademisierung des Turnlehrerstudiums führte allerdings zu keiner Angleichung an das Wissenschaftsverständnis der traditionellen Universitätsdisziplinen. Auf der einen Seite folgte die praktische Ausbildung der Tradition des Gesinnungsunterrichts mit seinen Zielen wie Fleiß, Gehorsam oder Patriotismus, und auf der anderen erwies sich der Standesdünkel der wissenschaftlich vorgebildeten Philologen, ein Turnlehrerstudium aufzunehmen, als Hindernis. Zwar gab es – im Gegensatz zur Ausbildung für die höheren Schulen – ein relativ hohes Ausbildungsniveau auf den Volksschullehrerseminaren, jedoch wurden sie in hohem Maße zum Erwerb einer Berechtigung zum Turnunterricht an Gymnasien besucht. Diese Lehrer fehlten auf der Volksschule, während sie auf der höheren Schule ein Fremdkörper waren.166 Die verschiedenen Motive der wissenschaftlichen Aufwertung des Studiums der Leibesübungen nach dem Ersten Weltkrieg lassen sich einer antithetischen und humanistischen Phase der Kulturkunde167 in der Weimarer Republik zuordnen. Entscheidendes Merkmal der antithetischen Phase, die bis 1923/24 andauerte und politisch durch Krisen wie den Kapp-Putsch und die Besetzung des Ruhrgebiets oder sportpolitisch durch zwei Olympische Spiele ohne deutsche Beteiligung gekennzeichnet werden kann, ist das gemeinsame nationalkonservativ geprägte Interesse von Politik, Professoren- und Studentenschaft an einem studentischen Pflichtsport. Die deutschen Studententage 1920 in Göttingen und 1921 in Erlangen, die vom Deutschen Hochschultag 1921 unterstützt wurden, forderten die Einrichtung von studentischen Ämtern für Leibesübungen, die Anstellung hauptamtlicher Turn- und Sportlehrer, die Schaffung geeigneter Übungsstätten und die Ablegung von Leistungsprüfungen in den Leibesübungen vor der Zulassung zur wissenschaftlichen Abschlußprüfung. Grundmotive der vom rechtsnationalen Verbindungswesen beherrschten Studentenschaft waren die Verbesserung des nach dem Weltkrieg verheerenden gesundheitlichen Zustandes der Bevölkerung, die Opposition gegen den demokratischen Weimarer Verfassungsstaat und die Suche nach einem Ersatz für die im Versailler Vertrag abgeschaffte Wehrpflicht. Eine allgemeine studentische Sportpflicht wurde bereits 1912 von Carl Diem propagiert.168 Auf hochschulpolitischer Ebene spiegelten sich diese Motive vor allem im Erlaß der preußischen Unterrichtsverwaltung vom 22. Dezember 1920 zur Einrichtung des für den Hochschulsport zuständigen Akademischen Ausschusses für Leibesübungen (AAfL) und im Erlaß vom 24. März 1925 des Preußischen Kultusministers, der einen zweisemestrigen Pflichtsport für alle Philologiestudenten und Technischen Hochschulen anordnete, dem
165 Vgl. Neuendorff, Geschichte, Bd. 4, S. 625-630; Krüger, A., Turnen, S. 16-20; dort auch Übersicht zu den anderen Ländern und Statistiken. 166 Ausführlich auch mit Einzelheiten zu besoldungs- und versicherungsrechtlichen Fragen Großbröhmer, Rainer: Die Geschichte der preußischen Turnlehrer. Aachen 1994; vgl. Krüger, A., Turnen, S. 16-21. 167 Hausmann, Nationale Wissenschaft, S. 25-27; vgl. deren Anwendung auf Carl Diem bei Court, Interdisziplinäre Sportwissenschaft, S. 202-207; ders., Sportwissenschaft, S. 284-292.– Die vorhergehende antagonistische Phase fällt noch in die Zeit des Ersten Weltkriegs. 168 Diem, Schriften, Bd. 2, S. 60-61; zur ideellen Tradition studentischen Pflichtsports siehe Bernett, Untersuchungen, S. 88-92; Buss/Peiffer, Hochschulsportordnung, S. 40-42; Court, Sportwissenschaft, S. 293-295; Nitsch, Geschichte, S. 48; Ueberhorst, Krümmel, S. 75.
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später die angehenden Theologen und Mediziner folgten. Die Organisation des Hochschulsports oblag dem per Erlaß vom 30. September 1925 gegründeten IfL.169 Kennzeichen der humanistischen Phase, die allgemeingeschichtlich mit dem Vertrag von Locarno und sportgeschichtlich mit den Olympischen Spielen 1928 in Amsterdam unter deutscher Teilnahme und der erstmaligen Teilnahme 1928 einer offiziellen deutschen Studentenmannschaft an internationalen Studentenmeisterschaften zusammenfällt, ist die Entfaltung einer auf Universitätsniveau institutionalisierten wissenschaftlichen Vertiefung der Leibesübungen. Der Aufwertung der Leibesübungen als Versetzungs- und Prüfungsfach, der Vielzahl neuer Bewegungsformen und der Notwendigkeit ihrer wissenschaftlichen, vor allem sportmedizinischen Analyse entsprach keine adäquate akademische Ausbildung. Während in der antithetischen Phase die Impulse zur Aufwertung der universitären Leibesübungen nationalkonservativem Gedankengut entsprangen, sind sie in der humanistischen Phase Ausdruck der reformpädagogischen Überzeugung von der Bedeutung der körperlichen Erziehung für die Gesamterziehung, der ein verändertes Konzept der Lehre und Forschung des Sports zu entsprechen habe. Der Erlaß des preußischen Kultusministers vom 1. August 1929 rückte explizit die wissenschaftliche vor die praktische Ausbildung und ordnete an, daß die Lehrbefähigung für Leibesübungen und körperliche Erziehung ab dem Sommersemester 1930 als Haupt- oder Nebenfach innerhalb der Lehramtsprüfung für höhere Schulen am IfL erworben werden kann. Der Umstand, daß in der oben erwähnten Arbeitsgemeinschaft lediglich die praktischen Prüfungen der DHfL für das staatliche Studium der Leibesübungen anerkannt wurden, ist ein Indiz dafür, daß sich in Preußen die Position der Turnphilologen durchgesetzt hatte.170 4.4 Zwischenfazit Die Leitfrage, ob die Sportwissenschaft zwischen 1918 und 1933 eher als Ort „wissenschaftlicher Freiheit“ oder eher als „dienendes Glied der deutschen Wissenschaft“171 aufzufassen ist, hat eine Vielzahl ideeller, personeller, institutioneller, politischer, pädagogischer und historischer Faktoren zu berücksichtigen. Zunächst einmal sind hier unter wissenschaftssoziologischen und paradigmentheoretischen Kriterien Übereinstimmungen zwischen der Entwicklung der Sportwissenschaft und der allgemeinen Universitätsgeschichte festzuhalten. Stützen wir uns auf wissenschaftssoziologisch-empirische Kriterien der Entwicklung einer Theoriegruppe vom Paradigmagruppenstadium über die Stadien des Netzwerks und Clusters bis zum Stadium des Spezialgebiets172, läßt sich auch an der Sportwissenschaft eine für das Spezialgebiet charakteristische enge Verknüpfung zwischen der Zunahme von Instituten und Stellen auf der einen und der steigenden Anzahl von Veröffentlichungen nachweisen, in deren Umkreis auch Tagungen, Vereine oder die für die Entwicklung der Sportwissenschaft wichtigen akademischen Wettkämpfe wie das (Deutsche) Akademische Olympia gehören.
169 Ausführlich Berger, Leibesübungen; Briese, Studium, passim. Nach Ueberhorst, Krümmel., S. 76, übernahmen die meisten Länder die studentische Sportpflicht; zur Ausnahme Gießens siehe Gissel, Burschenturnen, S. 216. 170 Beyer, Sport, S. 668; Briese, Studium, S. 20, Anm. 2, S. 138-140; weitere Literatur bei Court, Sportwissenschaft, S. 292-295; Zhorzel, Kaiserreich, S. 12-13. 171 Diem, Hochschule, S. 9-10. 172 Ausführlich Mullins, N. C.: Ein Modell der Entwicklung soziologischer Theorien. In: Lepenies, Wolfgang (Hrsg.): Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin. Bd. 2. Frankfurt/M. 1981, S. 69-96. Leider existieren keine Studien, die speziell anhand dieser Kriterien die Wissenschaftlichkeit der Sportwissenschaft in der Weimarer Reublik analysieren; die dafür nötigen Informationen sind in der einschlägigen Literatur also nur verstreut zu finden.
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Weitere Übereinstimmungen mit der allgemeinen Universitätsgeschichte ergeben sich durch die Übertragbarkeit kulturkundlicher Phasen und Paradigmenwechsel anhand des Kriteriums der „Selbstreflexion“173. Die wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung in der Kulturkunde zwischen idealistischem und positivistischem Paradigma, bei der persönliche, ideelle und materielle Interessen eine oft undurchschaubare Gemengelage ergeben, stellt sich in der Theorie der Leibeserziehung der Weimarer Zeit als ein facettenreicher Kampf zwischen ‚Sport‘ und ‚Turnen‘ dar, der letztlich auf den Gegensatz von ‚System‘ und ‚Leben‘ zurückgeführt werden kann.174 Wie vergleichende Studien von Sportanthropometrie und -psychologie175 zeigen, erlaubt die Unterscheidung einer antagonistischen, antithetischen und humanistischen Phase genauere Differenzierungen, insofern das Modell um eine Phase der Radikalisierung176 am Ende der Weimarer Republik ergänzt wird. Wenn Diem die Entwicklung des Sports als „Gebärprozeß“ eines „neuen Wesens“177 bezeichnet hat, läßt sich dieses Bild auf seine institutionalisierte Theorie übertragen. Auch wenn ‚neue‘ institutionelle Elemente (Positionen, Zeitschriften, Apparaturen etc.) in der Theorie der Leibeserziehung das allmähliche Vordringen des sportwissenschaftlichen Paradigmas kennzeichnen, hängt die Zuordnung zu einer bestimmten Phase auch von der jeweiligen Stärke ‚alter‘ ideeller Elemente (nationale Zwecke, Motiv der Körperbeherrschung etc.) ab. Eine vertiefende weiterführende Analyse hätte hier zum Beispiel die Forschungshypothese zu prüfen, ob sich die jeweilige Haltung zu Deutschlands Beteiligung an den Olympischen Spielen auf der Seite der Wissenschaft in der Rezeption ausländischer Forschung spiegelt. Immerhin hatte Diem aus Amerika wichtige Erkenntnisse pädagogischer und naturwissenschaftlicher Provenienz nach Deutschland importiert und Krümmel bei Hill in London studiert. Näher zu untersuchen wäre ferner die Vermutung, daß nicht nur ein „national style“178 von Wissenschaft, sondern auch der nach dem Ersten Weltkrieg durch die internationale Wissenschaft verkündete Boykott der deutschen Wissenschaft179 dazu führte, daß sich insgesamt auch umgekehrt für alle Phasen der Weimarer Republik in der Theorie der Leibeserziehung eine durchgängige Vernachlässigung internationaler Forschung nachweisen läßt, aus der lediglich naturwissenschaftlich ausgerichtete Arbeiten punktuell wahrgenommen werden.180 Als Querschnittsdisziplin ‚naturwissenschaftlicher‘ und ‚philosophischer‘ Art steht die beginnende Sportwissenschaft in Deutschland hier aber auch exemplarisch für eine die Wissenschaftskultur der einzelnen universitären Disziplinen generell kennzeichnende Differenz in der Berücksichtigung internationaler Forschung.
173 Heimbüchel, Universität, S. 108. 174 Vgl. Bernett, Anfänge, S. 24; Court, Interdisziplinäre Sportwissenschaft, S. 196-201. 175 Ausführlich Court, Sportanthropometrie, der allerdings die folgenden Phasen dort nicht explizit verwendet. 176 Dieser Ausdruck ist entlehnt von Winkler, Heinrich August: 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. München 1998, S. 357, für den die Phase einer „zunehmenden politischen Radikalisierung“ 1929 beginnt. Vgl. Parker, R. A. C.: Das Zwanzigste Jahrhundert. 1918-1945. Frankfurt a. M. 1967, S. 244: „Die Jahre von 1929 bis 1933 sind die Zeit zwischen der Liquidation eines Krieges und der Vorbereitung des nächsten.“ – In bezug auf Bühlers Werk Die Krise der Psychologie (1927) könnte man auch unter stärkerer Betonung dieses wissenschaftlichen Sachverhalts von einer Phase der Krise sprechen. 177 Diem, Schriften, Bd. 1, S. 39. 178 Harwood, J.: National Styles of Scientific Thought. In: Weingart, Peter: (Hrsg.): Grenzüberschreitungen in der Wissenschaft, Baden-Baden 1995, S. 31-53, hier: S. 48. 179 Weingart, Peter: Einheit der Wissenschaft – Mythos und Wunder. In: Ders., Grenzüberschreitungen, S. 11-28, hier: S. 15. 180 Der Personenindex in Diems Ausgewählten Schriften enthält lediglich Verweise auf den Italiener Mosso und den Amerikaner Sargent. Es paßt zu den Thesen dieser Arbeit, wenn Hoberman, Maschinen, S. 88, das Ende einer „Physiologischen Internationale“ auf das Jahr 1914 datiert, in der eine „Einengung des intellektuellen Appetits“ stattgefunden habe.
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Auf der einen Seite übersieht die Kritik von „Vertretern des elitären akademischen Traditionalismus“181 an der Wissenschaftlichkeit einer Theorie der Leibeserziehung, die mutatis mutandis der Kritik der ‚universitas litterarum‘ an der ‚neuen universitas‘ der neugegründeten Technischen Hochschulen und der neuen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten entspricht182, daß die Wissenschaftlichkeit der von ihr angegriffenen Positionen in einer Analyse der Bedeutung des Weltkriegs für universitäre Konzepte und Reformen liegt, die sie eben nicht leistet. In der Ursachenanalyse wird seiner Vorgeschichte gerade die Überbetonung des Intellekts im Bildungsverständnis der ‚universitas litterarum‘ zugerechnet183, und in der Ebene der Wirkungsanalyse sind die Konzepte sowohl der ‚neuen universitas‘ als auch der Theorie der Leibeserziehung bewußte Versuche der Bewältigung seiner Schäden auf universitärer Ebene. Daher läßt sich Diems humanistisches Konzept der Sportwissenschaft als Versuch lesen, einerseits das in der traditionellen universitas faktisch ausgeblendete Ideal der „kalokagathia“184 zu rehabilitieren und andererseits im Sinne der ‚neuartigen universitas‘ die Synthese zwischen Praxis und Hochschulbildung, die Integration neuer Fächer sowie einen weltanschaulichen und wissenschaftsmethodischen Pluralismus zu übernehmen.185 Die für Friedrich Ludwig Jahns Turnlehre charakteristische Verbindung von „Kennen und Können“186 leitet auch die ‚neue universitas‘187. Wenn andererseits die Warnung innerhalb der Theorie der Leibeserziehung vor der „Gefahr der wissenschaftlichen Halbbildung“188 den systematischen Gehalt der von außen vorgebrachten Einwände189 vorwegnimmt, dann handelt es sich hier jedoch nicht nur um Vorurteile seitens der ‚universitas litterarum‘, sondern auch um die grundsätzliche Problematik, in den neuen „‚Handlungswissenschaften‘“190 allererst einen Begriff von Wissenschaftlichkeit zu bestimmen und in institutionelle Strukturen zu gießen.
181 Zitate bei Buss, „Stunde“, S. 23 f.; am Beispiel Marburgs Zhorzel, Kaiserreich, S. 21-23. 182 Vgl. Court, Jürgen: Victor Klemperers Kölner Kandidatur. Dresden/München 1999, S. 51-55; Hammerstein, Antisemitismus, S. 82-94; Heimbüchel, Universität, passim. 183 Zitate bei Court, Jürgen: Überlegungen zur Entwicklung der Sportwissenschaft aus ideengeschichtlicher Sicht. In: Gissel, Sport, S. 109-120, hier: S. 113. Dazu paßt die Stellungnahme Marburger Professoren gegen die universitäte Aufwertung der Leibesübungen, die der „Kopfarbeit das Übergewicht“ erhalten wollten, da sie von ihnen „geistige Schlaffheit“ (zit. n. Zhorzel, Kaiserreich, S. 23) befürchteten. 184 Diem, Carl: Die tägliche Turnstunde, eine Forderung seit 30 Jahren. In: Monatsschrift für Turnen, Spiel und Sport 2 (1922), S. 216-219, hier: S. 217. Weitere Zitate Diems bei Court, Interdisziplinäre Sportwissenschaft, S. 207-209; zur Vernachlässigung dieser Seite der Erziehung in der „bloß büchergelenkten Graecophilie der Gymnasien“ siehe Honold, Alexander: Nach Olympia. Hölderlin und die Erfindung der Antike, Berlin 2002, S. 134-141; das Zitat hier stammt von S. 138; siehe auch die Rezension von Krüger, Michael: Alexander Honold. „Nach Olympia“. In: Sportwissenschaft 33 (2003), S. 205-206. 185 Diese Kriterien betonen in bezug auf die Staatswissenschaft Heimbüchel, Universität, S. 329, 574-575., und in bezug auf die Altphilologie Wegeler, Altertumswissenschaft, S. 47 .– Einen solchen Versuch der Integration der Leibesübungen in die ‚universitas litterarum‘ finden wir beispielsweise bei Arthur Franz (Geistiges in unsern Bestrebungen nach körperlicher Ausbildung. In: Berger, Leibesübungen, S. 172179; hier: S. 175), Rektor der Gießener Universität, der als Grund dieser Zuordnung das soziale Erlebnis der Gemeinschaft in den Leibesübungen anführt. 186 Jahn, Friedrich Ludwig/Eiselen, Ernst: Die deutsche Turnkunst zur Errichtung der Turnplätze. Berlin 1816, S. 216. 187 Siehe die Ausführungen über „Wissen und Können“ bei Heimbüchel, Universität, S. 235. 188 Schmidt, F. A.: Zur Denkschrift des Preußischen Turnlehrervereins vom 30. Dezember 1921. In: Monatsschrift für Turnen, Spiel und Sport 2 (1922), S. 173-178, hier: S. 174. – Das schöne Zitat Neuendorffs über die „zu drei Vierteln ganz kümmerliche Pseudowissenschaft“ bei Krüger, A., Turnen, S. 19 f., ist leider unter der angegebenen Quelle nicht zu finden.– Krügers Behauptung, ebd., S. 29, eine Turnwissenschaft könne es nicht geben, weil sie ausschließlich auf Ergebnisse der Mutterwissenschaften angewiesen sei, ist angesichts der Entwicklung moderner ‚Bindestrich-Wissenschaften‘ zumindest zu überdenken. 189 Vgl. die große Übereinstimmung der Zitate bei Buss, „Stunde“, S. 23-24, mit denjenigen von Schmidt und Neuendorff. 190 Heimbüchel, Universität, S. 26.
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Während beispielsweise die TH Dresden das Recht erlangte, einen ‚Doktor der Kulturwissenschaften‘ zu verleihen191, war eine sportwissenschaftliche Promotion in der Weimarer Republik weder an der DHfL noch den IfL möglich. An der DHfL scheiterte die Anerkennung eines ‚Dr. gym‘ am zu kurzen Studium sowie ihren großzügigen Zulassungsbestimmungen und an den IfL an der mangelnden wissenschaftlichen Qualifikation ihrer Direktoren, an deren formaler Anhebung die Ministerien kein Interesse zeigten. Für diese Position erwünscht waren „Studienräte und Studienassessoren mit Turnbefähigung“, denen es lediglich „unbenommen [bleibt], sich zu habilitieren.“192 Nur in Gießen, Hamburg, Leipzig, Marburg und Rostock waren die Direktoren (außerplanmäßige) Professoren.193 Die Streitigkeiten zwischen den medizinischen und philosophischen Fakultäten der Universität zu Köln um die Ausbildung der Sportlehrer könnte ein Indiz dafür sein, daß sich jene mit der akademischen Aufwertung der Leibeserziehung leichter taten als diese.194 Davon abgesehen ist die fehlende Promotionsmöglichkeit aber auch Ausdruck der gängigen Ansicht der Vertreter der Theorie der Leibeserziehung, daß die vorrangige Aufgabe der IfL in der sportpraktischen Ausbildung liege und zu viel Theorie dem Sportlehrer schade.195 Diese Ausführungen erlauben eine differenzierte Analyse der gängigen Ansicht, bei der Sportwissenschaft in der Weimarer Republik handle es sich insgesamt um ein „durchaus schon solides und seriöses Gebäude einer sich entwickelnden akademischen Sportlehrerausbildung“196. Generell läßt sich festhalten, daß die die universitäre Gleichstellung einer Theorie der Leibeserziehung von einer Mehrzahl der Universitätsprofessoren – mit Ausnahme einiger Reformpädagogen wie Hermann Nohl – abgelehnt und der Ministerialbürokratie gestützt wurde.197 Ihre Differenz lag in einer unterschiedlichen Interpretation eines Mangels im Verhältnis von „Bildungsanspruch und Bildungswirklichkeit“198: Während die Vertreter des Ministeriums diesen bildenden Anspruch der Leibeserziehung prinzipiell bejahten und den Mangel lediglich auf das (aufgrund der fehlenden Zahl von Lehrern bestehende) Problem seiner Realisierung bezogen, lag er für jene bereits in seiner Konzeptionierung begründet. Der Kompromiß bestand darin, Institute für Leibesübungen ohne Pro191 Siehe hierzu Victor Klemperers Tagebücher aus der Weimarer Republik (Klemperer, Victor: Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. 2 Bde. Berlin 1996). 192 Zitate aus den entsprechenden Erlassen bei Briese, Studium, S. 129, 135. Zur gescheiterten Promotion an der DHfL Eisenberg, „English sports“, S. 363-364.; Krüger, A., Turnen, S. 24; der entsprechende Schriftwechsel bei Carl-Diem-Institut, Dokumente zur Gründung, S. 65-66. Habilitationen waren dort gleichfalls nicht vorgesehen; vgl. die entsprechenden Ausführungen Theodor Lewalds auf einer Kuratoriumssitzung der DHFL, abgedruckt in der Monatsschrift für Turnen, Spiel und Sport 2 (1922), S. 239. 193 Habilitiert hatten sich bis 1933 Hermann Altrock (Leipzig), Peter Jaeck (Marburg), Wilhelm Knoll (Hamburg), Hans Möckelmann (Gießen) und Klemens C. Wildt (Rostock). Vgl. Gissel, Burschenturnen, S. 169; Joch, Leibeserziehung, S. 36; Joho, Knoll, S. 275; A. Krüger, Turnen, S. 20; Zhorzel, Kaiserreich, S. 16. 194 Zu Köln siehe Nitsch, Geschichte, S. 39-43; verwandte Vorgänge in Gießen bei Gissel, Burschenturnen, S. 166-197. Diese Einschätzung wird indirekt bestätigt durch Saurbier, Geschichte, S. 192, wenn er ab 1925 die medizinische „Seite wissenschaftlicher Durchdringung der Leibesübungen im besten Vorwärtsschreiten“ sieht. Hier ist jedoch zu bedenken, daß Neuendorff gerade diese vorgeblich naturwissenschaftliche Dominanz der DHfL vehement kritisiert, dabei aber ihren pädagogischen Impetus unterschlagen hatte (vgl. Court, Sportanthropometrie, S. 407-410). 195 Pars pro toto Diem, Schriften, Bd. 1, S. 72 [1932]: „Der richtige Sportplatzlehrer ist ein ganz spezieller Menschentyp. Menschen, die vorwiegend geistig interessiert sind, also theoretische Menschen, eignen sich nicht dazu.“ Siehe auch aus dem Erlaß des Preußischen Kultusministers vom 30.9.25 über die wissenschaftlichen Aufgaben der IfL: „Jedoch darf die praktisch-erzieherische Aufgabe durch diese wissenschaftliche Betätigung keinesfalls in den Hintergrund gedrängt werden. Das wichtigste Arbeitsfeld des Turn- und Sportlehrers sind die Übungsstätten für alle Übungszweige“ (zit. n. Briese, Studium, S. 117). Siehe auch die entsprechenden Zitate bei Joch, Leibeserziehung, S. 39. 196 Buss, „Stunde der Sieger“, S. 24-25; vom „erfolgreichen Ansatz in der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik“ spricht Bernett, Wissenschaft, S. 42. 197 Vgl. Austermühle, Sport, S. 25; Buss, „Stunde“, S. 23; zum Verhältnis Nohl-Streicher siehe Größing, Streicher, S. 205. 198 Zhorzel, Kaiserreich, S. 12.
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motions- und Habilitationsmöglichkeit und ohne Promotions- und Habilitationspflicht ihrer Direktoren einzurichten. So war den Erfordernissen einer akademischen staatlichen Sportlehrerausbildung Genüge getan, ohne den dafür geschaffenen Instituten wissenschaftliche Gleichberechtigung zu erteilen. Wissenschaftsgeschichtlich bedeutsam an dieser Entwicklung ist das Zusammenspiel ideeller, individueller und institutioneller Faktoren. Das die „Frontkämpfer-Generation“199 vereinigende Erlebnis der ‚Gemeinschaft‘, die Betonung von ‚Charakter‘ und ‚Persönlichkeit‘ sowie die deutschnationale Haltung sind Grundüberzeugungen, die auf der einen Seite Gegner und Befürworter der universitären Aufwertung der Leibesübungen und auf der anderen Seite ‚Vernunft-Republikaner‘ und Fürsprecher der ‚konservativen Revolution‘ teilten.200 An der DHfL standen der „streng nationale“201 Rektor Bier und der Arbeitersportler Gustav Zepmeisel für die Vereinbarkeit unterschiedlicher politischer Ansichten. Exemplarisch für diesen Prozeß steht das Preußische Kultusministerium: Während der „alte Sozialist“ Minister Haenisch202 1922 die Notwendigkeit staatlicher Förderung der Leibesübungen mit Hinweis auf den Wegfall der Wehrpflicht verteidigte und damit die gleiche Haltung einnahm wie Militär und rechtskonservative Studentenschaft, förderte sie sein Nachfolger Becker, weil er in ihnen eben den Geist der ‚Moderne‘ erblickte, der seine universitären Konzepte durchzog.203 Daß der Diems und Beckers Vorstellungen gemeinsame Idealismus am Ende der Weimarer Republik einer Sportwissenschaft Platz machen konnte, die eher restaurativem denn reformpädagogischem Denken folgte, erweist die DHfL als „Kind der Weimarer Epoche“204. Die Inflation des Jahres 1923 und der staatlich unterstützte Bau einer eigenen Sportschule für den Arbeiter- Turn- und Sportbund (ATSB) entzogen dem DRA finanzielle Mittel, um renommierte Wissenschaftler fest an die DHfL zu binden, die stattdessen auf Personal der alten Turnlehrerbildungsanstalten zurückgreifen mußte. Moderne und innovative Spitzenforschung fand an der wesentlich besser ausgestatteten Heeressportschule Wunsdorf statt. Daher ergab sich die paradoxe Situation, daß Sporthochschulen in Moskau, Warschau, Tokio und Rom unter Berufung auf das wissen-
199 Teichler, Weg, S. 46. Zitate zum Fronterlebnis bei Ueberhorst, Krümmel, S. 47-48. 200 Man vgl. z. B. die programmatischen Ausführungen von Bier, August: Die deutsche Hochschule für Leibesübungen, in: Berger, Leibesübungen, S. 130-134, mit den Zitaten von Professoren ‚klassischer‘ Universitäten bei Hammerstein, Antisemitismus, S. 86-89. Siehe zur ‚Persönlichkeit‘ die Zitate bei Eisenberg, „English sports“, S. 363-364. Anhand bayrischer und preußischer Lehrplänen der 20er Jahre zeigt Ueberhorst, Krümmel, S. 81, daß solche Ziele durchaus humanistisch legitimiert werden konnten. Für die Romanistik belegt Hausmann, ‚Strudel‘, S. 13, die parteiübergreifende Ablehnung des Versailler Vertrags. 201 Diem, Leben, S. 128-129. 202 So seine Selbstbezeichnung in seiner Stellungnahme zu Neuendorffs Werbeschrift Volk in Not. In: Monatsschrift für Turnen, Spiel und Sport 2 (1922), S. 7-8. 203 Vgl. Diem, Hochschule, S. 14; Eisenberg, „English sports“, S. 354, 360-363; Hammerstein, Antisemitismus, S. 90-91; Heimbüchel, Universität, passim. 204 So Heimbüchel, Universität, S. 577, über die Universität zu Köln. Bernett, Hajo: Sportunterricht an der nationalsozialistischen Schule. Der Schulsport an den höheren Schulen Preußens 1933-1940. St. Augustin 1982, S. 45, deutet in diesem Zusammenhang die Reform des preußischen Schulturnens für höhere Jungenschulen unter dem Aspekt seiner Integration in den „neuhumanistischen und deutschnationalen Gedankenkreis, schulisch zentriert auf das deutschkundliche Prinzip. Die von der preußischen Schulreform intendierte Einordnung des harmonisch gebildeten ´deutschen Menschen` in die nationale Gemeinschaft ist für den traditionellen deutschen Turnunterricht eine Selbstverständlichkeit. Soziale Verhaltensweisen, die einer demokratischen Gesellschaftsordnung angemessen wären, stehen nicht zur Diskussion. Der von Neuendorff und Harte konzipierte Lehrplan für höhere Jungenschulen ist bildungspolitisch ebenso konservativ wie der Richertsche Rahmenplan. Neuendorff hielt das dürftige Werk für wegweisend, und er verteidigte es vehement gegen seinen Kritiker Karl Gaulhofer, den österreichischen Turnreformer.“ Zum Vergleich deutscher und österreichischer Lehrpläne auch Krüger, A., Turnunterricht, S. 26-27; zum Streit zwischen Neuendorff und Gaulhofer siehe Rechberger, Gaulhofer, S. 202.
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schaftliche Vorbild der DHfL gegründet wurden, gerade hier aber die Forschung zugunsten praktischer Aufgaben der Aus-, Weiter- und Fortbildung in den Hintergrund trat.205 Die Phase der Radikalisierung schließlich wird an der DHfL durch den studentischen Streik im Wintersemester 1929/1930 eingeleitet. Diems Anliegen, nationale und internationale Zwecke des Sports unter Wahrung seiner vorgeblichen politischen Neutralität zu wahren, standen in zunehmendem Maße völkische, antisemitische und nationalsozialistische Interessen der Studenten- und auch der Dozentenschaft entgegen.206 Die Berliner Arbeitsgemeinschaft 1930 bedeutete vor diesem Hintergrund in politischer Hinsicht, daß das DVP-Mitglied207 Diem nun verstärkt dem Einfluß Neuendorffs, der 1932 der NSDAP beitrat und auch im Streik zwei Jahre zuvor gegen Diem agitiert hatte, ausgesetzt war. Als im Mai 1933 Diem unter bislang nicht entschlüsselten Umständen von seinen Funktionen an der DHfL entbunden wurde208, war der Versuch, die Sportwissenschaft im Sinne einer ‚neuen universitas‘ in der deutschen Universitätslandschaft zu institutionalisieren, gescheitert. An die Stelle der Gleichberechtigung von Theorie und Praxis trat die Dominanz der Praxis, an die der Akzentuierung neuer Fächer die Renaissance „erdhafter Leibesübungen“209 und an die der Idee eines Pluralismus die des Totalitarismus210. Damit wurde „die ursprüngliche Absicht, die Sportwissenschaft als Sozialtechnologie einer modernen bürgerlichen Gesellschaft zu nutzen, verwässert und am Ende ad absurdum geführt. Die Modernen hatten ungewollt ihren Gegnern die Infrastruktur für die Erneuerung überwunden geglaubter Traditionen aufgebaut“211. Da dieses Fazit die opinio communis der zeitgeschichtlichen Forschung wiedergibt212, ist ihre differenzierte Analyse Gegenstand des anschließenden Kapitels.
205 Court, Renaissance, passim; Eisenberg, „English sports“, S. 354, 360-363; Hammerstein, Antisemitismus, S. 91; A. Krüger, Turnen, S. 26-29. 206 Den allgemeinpolitischen Hintergrund dieser Phase verdeutlicht Zhorzel, Kaiserreich, S. 25-26, am Marburger IfL. 207 Diem war seit 1922 Mitglied der DVP, die sich 1932 mit der DNVP zusammenschloß, und warb 1932 öffentlich für Hindenburg (Teichler, Rolle, S. 70, Anm. 65). Zu Übereinstimmungen zwischen der Ideologie der DNVP und der NSDAP Wegeler, Altertumskunde, S. 116. 208 Als treibende Kräfte seiner Entlassung werden Alfred Baeumler, Erich Klinge, Karl Krümmel und Neuendorff genannt; dazu Bernett, Reichsakademie, S. 249, 254, Anm. 4; Carl-Diem-Institut, Dokumente zur Gründung, S. 118-119; Diem, Leben, S. 141-142, 154-155; Eisenberg, „English sports“, S. 363-366; Joch, Baeumler, S. 215-216; Ueberhorst, Krümmel, S. 186. 209 Neuendorff, zit. n. Eisenberg, „English sports“, S. 365. 210 Am Beispiel der Universität zu Köln Heimbüchel, S. 576-578. 211 Eisenberg, „English sports“, S. 366. 212 Vgl. Buss, „Stunde der Sieger“, S. 24-25: „Die ab 1933 nachfolgenden Nationalsozialisten konnten [...] ein durchaus schon solides und seriöses Gebäude einer sich entwickelnden akademischen Sportlehrerausbildung und im Verbund damit eine sich vermehrt Anerkennung verschaffende junge Sportwissenschaft übernehmen. Rein formal verstärkten sie aus systemfunktionalen Gründen nun diese Entwicklung noch und rückten das Fach umgehend in den Mittelpunkt ihres Erziehungskonzeptes; die universitären Leibesübungen erfuhren somit reichsweit eine nie geahnte Aufwertung und scheinbare Blütezeit.“ Ebenso Bernett, Wissenschaft, S. 42: „Nach dem erfolgreichen Ansatz in der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik hat die Sportlehrerausbildung im Dritten Reich eine Scheinkonjunktur erfahren. Sie ist zwar zu einer Schnellproduktion angewachsen, aber qualitativ reduziert, weltanschaulich indoktriniert und politisch instrumentalisiert worden.“
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5. Sportwissenschaft im Nationalsozialismus 5.1 Sportwissenschaft als Institution 5.1.1 Schulsport Unter der methodischen Perspektive des „Funktionswandels“213 wird die große Bedeutung von Schulsport und Sportlehrerausbildung innerhalb der nationalsozialistischen Erziehungskonzeption an Aussagen des Reichserziehungsministers Rust und des Reichssportführers Hans von Tschammer deutlich, nach denen sich die nationalsozialistische Erziehung am „sinnfälligsten [...] in der neuen Wertung der Leibeserziehung“ zeige, die damit in der „vordersten Linie der Staatsaufgaben“214 stehe. Ein solcher Paradigmenwechsel bedeutet, daß Theorie und Praxis der Sportlehrerausbildung nun nicht mehr der Idee einer „aus Freiwilligkeit aufgebauten Leibeserziehung“, sondern dem Interesse der „Gesamtheit deutscher Leibeserziehung“215 an der Einheit von Volk, Staat und Organisationen folgten. Ihre Grundlage wurde Hitlers rassistische, militaristische und antidemokratische Rechtfertigung der bereits im Parteiprogramm der NSDAP 1921 geforderten gesetzlichen Turn- und Sportpflicht aus seinem „Kampfbuch“216. Unter Rückgriff auf Jahns „unentbehrliche Vorarbeit“ und als „Protest gegen die leibfeindliche Welt dieses Jahrhunderts“ wurde der Vorrang der körperlichen vor der charakterlichen- und der geistigen Erziehung betont: „Es ist daher nicht übertrieben, wenn ich sage, daß sich der Neubau der Leibesübungen auf alle erzieherischen Einrichtungen des deutschen Volkes erstreckt; denn es gehört zum Wesen nationalsozialistischer Erziehung, daß sie den Menschen nicht allein am Geiste angreift, wie es die Pädagogik des vergangenen Jahrhunderts forderte, sondern ihn an Leib und Seele gleichermaßen packt“217. Vor diesem Hintergrund fällt die Leibeserziehung aus dem allgemeinen schulpolitischen Periodisierungsmodell, das eine Phase administrativer Maßnahmen unmittelbar nach der Machtübernahme vom 30. Januar 1933 von einer Phase der „planmäßigen inneren und äußeren Umgestaltung“218 ab 1937 unterscheidet, heraus. Kennzeichen jener Phase sind die Einführung des Hitlergrußes, die nationalsozialistische und rassistische Ausrichtung der deutschkundlichen Fächer und die Einführung von Rassenkunde und Vererbungslehre bei 213 Eisenberg, „English sports“, S. 396; diese Begrifflichkeit auch bei Peiffer/Spitzer, Sport, S. 42; Peiffer, Turnunterricht, S. 6. 214 Zit. n. Joch, Leibeserziehung, S. 26. 215 Von Tschammer und Osten, Reichssportfeld, S. 94. 216 Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Berlin 1947, S. 9; zu einem weiteren Anknüpfungspunkt wurde Hitlers Rede auf dem Stuttgarter Turnfest; vgl. von Tschammer und Osten, Reichssportfeld, S. 90. Zum allgemeinen Einfluß dieser Quellen auf die Theorie der Leibeserziehung siehe Tietze, Leibeserziehung, S. 222: „Hitlers unvollständige Ausführungen ließen vor allem Erziehungswissenschaftler, Sportpädagogen und Sportfunktionären die Möglichkeit offen, die Lücken zu schließen und das Fragment zu einer umfassenden Theorie auszubauen.“ Zum Parteiprogramm der NSDAP von 1921 Joch, Theorie, S. 231; Tietze, Leibeserziehung, S. 34-40; von Tschammer und Osten, Reichssportfeld, S. 89.– Die m. E. immer noch beste Interpretation des Einflusses von Hitler auf die Theorie der Leibeserziehung bietet Peiffer, Turnunterricht; Interpretation und Textauszüge aus Mein Kampf bei Bernett, Leibeserziehung, S. 18-26: Kurzfassung bei Peiffer, Richtlinien, S. 249-251. Vgl. auch die Zusammenfassung bei Zehnpfennig, Barbara: Hitlers Mein Kampf. Eine Interpretation. München 2000, S. 183-190, 197-199, die Hitlers Gedanken zur Erziehung im Gegensatz zur üblichen Meinung, Mein Kampf enthalte „kein geschlossenes politisches Konzept“ (Peiffer, Turnunterricht, S. 25), in seinen „systematischen Charakter“ (Zehnpfennig, Mein Kampf, S. 34) einfügt. Ergänzend siehe Joch, Theorie, S. 230-234; Tietze, Leibeserziehung, S. 40-70. 217 Von Tschammer und Osten, Reichssportfeld, S. 93. 218 Fricke-Finkelnberg, zit. n. Peiffer, Turnunterricht, S. 211; zum folgenden ebd., S. 38-42; 137-208.
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Kürzung des übrigen wissenschaftlichen Unterrichts; in die anschließende Phase fallen der Abbau der gymnasialen Vielfalt und die Verkürzung der Schulzeit auf acht Jahre. In der dritten Phase schließlich wird die Erziehung vollkommen kriegspolitischen Zwecken und Erfordernissen wie der Umfunktionierung von Turnhallen zu Getreidespeichern unterstellt. Während die Einführung der SA-Kommandosprache und des Boxens in den Turnunterricht ab Oktober 1933 noch der ersten Phase zugeordnet werden kann, beginnt die Umgestaltung der körperlichen Erziehung bereits 1934. Im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) – errichtet am 1. Mai 1934 und ab 1. Januar 1935 in Personalunion mit dem Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung geleitet – wurde Ende 1934 unter der Leitung Karl Krümmels ein eigenes „Amt für körperliche Erziehung“ („Amt K“) geschaffen. Es handelte sich um eine vom „Amt für Erziehung“ unabhängige „oberste Führungsstelle“, die unmittelbar dem Minister Bernhard Rust verantwortlich war, einem früheren Studienrat für Deutsch, Philosophie, Latein und Sport. Ihre „vier wichtigsten Aufgaben“ waren die „Schaffung eines straff gegliederten staatlichen Führungs- und Verwaltungsapparates [...]; der Aufbau einer einheitlichen Turn-Lehrerausbildung [...]; die Herausgabe von Richtlinien für die Leibeserziehung an den Schulen und Hochschulen [...]; die Schaffung von Einrichtungen für die Förderung des Luftfahrtgedankens an Schulen und Hochschulen.“219 Nach Einführung der Dritten Turnstunde 1935 an den Höheren Schulen für Jungen220 wird diese Phase der Umgestaltung der körperlichen Erziehung 1937 mit dem Erlaß der Richtlinien für Leibeserziehung an Jungenschulen abgeschlossen. Diese Richtlinien ordnen die körperliche Erziehung als „grundlegender und untrennbarer Bestandteil der nationalsozialistischen Gesamterziehung“ ausschließlich den politischen Zwecken „Volksgemeinschaft, Wehrhaftigkeit, Rassebewußtsein und Führertum“221 unter und leiten die neue kriegspolitische Phase der Verbindung schulischer und militärischer Zwecke ein. Das anschließende Kapitel nimmt seinen Ausgang von der für die Sportwissenschaft folgenreichsten Maßnahme des REM: der Hochschulsportordnung von 1934 (HSO), die „das erste geschlossene, für einen Teilbereich gültige Konzept der Nationalsozialisten zur Organisation und inhaltlichen Gestaltung des Sports und der Leibesübungen im Sinne einer weltanschaulich geleiteten körperlichen Erziehung war“ und exemplarisch „die Funktionalisierung des Sports für die militanten Ziele einer nationalsozialistischen Macht- und Gewaltpolitik verdeutlicht“222. Dieser besondere Einfluß der Dritten Turnstunde auf die institutionelle Entwicklung der Sportwissenschaft ist der Grund dafür, daß auf die große Bedeutung der körperlichen Erziehung beispielsweise für die nationalsozialistischen Eliteschulen hier nur zu verweisen ist.223 219 Die Zitate über das „Amt K“ stammen vom Ministerialrat im REM Otto Graf zu Rantzau 1939, zit. n. Bernett, Leibeserziehung, S. 108-109.; über Rust, Krümmel und das „Amt K“ siehe ferner Hausmann, „Ritterbusch“, S. 46-47; Peiffer, Turnunterricht, S. 45-47; 51, 210-211; ders., Richtlinien, S. 250; Ueberhorst, Krümmel, S. 109-122. 220 Zum Schulsport der Mädchen siehe Pfister, Gertrud/Sprenger, Reinhard K.: Die Leibeserziehung der Mädchen im Nationalsozialismus – Inhalte und Zielsetzung in den verschiedenen Schulformen. In: Bernett/John, Schulsport, S. 53-77. 221 Richtlinien für die Leibeserziehung an Jungenschulen. Berlin 1937, S. 7. Vgl. Stünzner, Friedrich: Methodik der Leibeserziehung im Schulunterricht (Leipzig 1938), S. V: „Unter dem Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus ist die Erziehung des Leibes und durch den Leib als politische Leibeserziehung zu einem unentbehrlichen Bestandteil der Gesamterziehungsgrundsätze unserer Zeit geworden“; zu den Richtlinien auch Bernett, Leibeserziehung, S. 107-117; Peiffer, Turnunterricht, S. 137-141; ders., Richtlinien, S. 250-259; Ueberhorst, Krümmel, S. 82-86. 222 Buss/Peiffer, Hochschulsportordnung, S. 38. 223 Zur Auswirkung der Dritten Turnstunde auf die Sportwissenschaft Bernett, Hajo: Das Interesse des Reiches an der Einführung der 3. Schulturnstunde im Jahre 1935. In: Ders./John, Schulsport, S. 6-34, hier: S. 25; Buss, Wolfgang: Sportlehrerfortbildung im Dritten Reich – dargestellt am Beispiel des Instituts für Leibesübungen an der Universität Göttingen und der Lehrgänge im Reichsschulungslager Rittmarshausen. In: ebd., S. 35-52, hier: S. 42.– Zum Turnen an den Eliteschulen des Nationalsozialismus siehe
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806 5.1.2 Universitäten und Hochschulen
Die am 30. Oktober 1934 erlassene, zunächst nur in Preußen und ab 1. April 1935 in allen deutschen Ländern gültige HSO verbindet die Zentralisierung der körperlichen Erziehung mit Krümmels Machtpolitik sowohl in inhaltlicher wie organisatorischer Hinsicht. Ihre drei Hauptfunktionen waren die einheitliche Organisation des Hochschulsports, seine inhaltliche Ausrichtung an der nationalsozialistischen Weltanschauung und die Auslese und Qualifikation der Studenten. Abschnitt I („Die Grundausbildung der Studierenden der ersten drei Semester“), II („Der freiwillige Sportbetrieb der älteren Studierenden“) und III („Das Wettkampfwesen der Studierenden“) traten zum Wintersemester 1934/35 in Kraft, Abschnitt IV („Die Lehrerausbildung auf dem Gebiete der körperlichen Erziehung“ und V („Das Lehrgangswesen für Fortbildungszwecke“) am 24. April 1935. Abschnitt VI („Das wissenschaftliche Studium der körperlichen Erziehung an den Hochschulen und die wissenschaftliche Prüfung“) und VII („Gliederung, Personal und Etat der Institute für Leibesübungen nach ihrer Neuordnung“) erschienen nicht mehr als eigenständiger Teil der HSO.224 Zu ergänzen ist, daß alle Lehrkräfte an Universitäten bis Kriegsbeginn in Gemeinschaftslagern geschult wurden, deren sportliche Organisation den Sportlehrern des NSLB (Nationalsozialistischer Lehrerbund) oblag.225 Ideologie und Praxis der Leibeserziehung blieben daher nicht auf die eigentliche Sportlehrerausbildung beschränkt, sondern umfaßten den gesamten universitären Lehrkörper. Die „Grundausbildung“ (Abschnitt I) bedeutete die erste reichseinheitliche Institutionalisierung der Idee einer allgemeinen studentischen Sportpflicht. Die Sportpflicht der HSO ersetzte frühere Konzeptionen des Amts für Leibesübungen (AfL) zum Kameradschaftssport und der für den Wehrsport bis zu ihrer Abschaffung am 31. Oktober 1934 zuständigen SA-Hochschulämter, blieb aber mit den wehrsportlichen Übungen des SA-Sportabzeichens in „organischem Zusammenhang“226. Als Voraussetzung für die Zulassung zum vierten Fachsemester mußte die Grundausbildung von allen Studenten in den ersten drei Semestern absolviert werden und umfaßte ausschließlich sportpraktische Inhalte in zwei Übungszeiten im Umfang von drei bis vier Wochenstunden.227 Ihr Bestehen war Zulassungsvoraussetzung für eine anschließende Lehrerausbildung auf dem Gebiet der körperlichen Erziehung, die ein Jahr dauerte und außer einem Segelfliegerlehrgang, einem Wintersport- und Geländesportlager eine praktische, theoretische und Lehrausbildung enthielt. Der Schwerpunkt der theoretischen Ausbildung lag auf medizinisch-naturwissenschaftlichen Aspekten; geisteswissenschaftlichen Inhalts war lediglich eine zweistündi-
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die Literatur bei Peiffer/Lorenz, Sport, S. 44, 63-64.; vgl. ferner Joch, Leibeserziehung, S. 33-35; ders., Sport, S. 733. Aus der neueren Literatur sind zu nennen die Passagen zu den Junkerschulen der SS bei Burleigh, Nationalsozialismus, S. 230-232, sowie den Adolf-Hitler-Schulen Buddrus, S. 874-883. Buss/Peiffer, Hochschulsportordnung, S. 38-40; Gissel, Burschenturnen, S. 215. Zitate nach Briese, Hochschulsportordnung, S. 9. Vgl. im Übrigen den exakt in die Veröffentlichung der HSO fallenden Tagebuch-Eintrag Victor Klemperers v. 17.4.1935: „alle Rundschreiben des Rektorats bringen seit langen Wochen Verordnungen des Reichsministers in Berlin. Rust betont in jeder Verordnung für höhere und Hochschulen, in jeder Rede die Überwindung des ‚faden Intellektualismus‘, den Vorrang der ‚körperlichen und charakterlichen Fähigkeiten‘, das Verbot, sie durch ‚rein verstandesmäßige Leistungen‘ zu kompensieren, die ‚rassische‘ Auswahl.“ Ausführlich zu Klemperers scharfsichtiger und hellsichtiger Analyse Court, Zeitzeuge, S. 120-125. Zur Organisation siehe Bernett, Zeitgeschichte, S. 59-82; ders., Leibeserziehung, S. 77-86. Bernett, Deutscher Sport, S. 262-264; ders., Untersuchungen, S. 94-97; Buss/Peiffer, Hochschulsportordnung, S. 44; Ueberhorst, Krümmel, S. 78; Zhorzel, Kaiserreich, S. 30-32. Ausnahmen wurden von der HSO und anschließenden Erlassen geregelt; Briese, Hochschulsportordnung, passim. Zur Frage, ob im universitären Alltag die strikten Bestimmungen der Grundausbildung eingehalten wurden, siehe exemplarisch Buss/Peiffer, Hochschulsportordnung, S. 53-58, zur Universität Münster. Danach ist kein Fall von Exmatrikulation aufgrund des Nichtbestehens der Grundausbildung, vielmehr eine großzügige Auslegung der HSO überliefert.
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ge philosophisch-historisch-politische Einführung in Grundlagen der körperlichen Erziehung. In beiden Semestern war das „Hören einer politisch-weltanschaulichen Vorlesung“ verbindlich. Abgeschlossen wurde das Studium der Körpererziehung durch eine Wanderfahrt und ein Prüfungslager.228 Die mit der HSO verbundenen Aufgaben auf Hochschulebene wurden von drei verschiedenen Institutionen wahrgenommen. Grundsätzlich waren für ihre Durchführung die IfL zuständig, die Krümmel als staatliche Ämter nicht mehr den Universitäten, sondern unmittelbar dem REM unterstellte. Ihre Leiter wurden aus der akademischen Laufbahn herausgenommen und erhielten den Titel Regierungs- oder Oberregierungsrat.229 Erst mit der Umfunktionalisierung der Universitäten zu einer „Hochschule des Willens“230 wurde an einigen IfL wie denen in Hamburg und Marburg nun die Promotion zum „Dr. phil“ sowie die Habilitation mit sportwissenschaftlichen Arbeiten möglich.231 So habilitierten sich zwischen 1933 und 1945 an den Universitäten die IfL-Direktoren Albert Hirn (Berlin), Erich Lindner (Marburg), Erwin Mehl (Wien), Hans Möckelmann (Gießen) und Bruno Saurbier (Prag).232 Die gleichzeitig mit der Verkündung der allgemeinen Wehrpflicht eingeführte Dritte Turnstunde 1935, die auf dem Gebiet der körperlichen Erziehung durch die Bereitstellung von Reichsmitteln den ersten Eingriff des REM in Länderkompetenzen bedeutete, erforderte an den IfL vor der Zulassung zur einjährigen Turnlehrerausbildung die Abhaltung von Ausleselehrgängen. Da diese zusätzliche Turnstunde ausschließlich auf militärische Bedürfnisse zugeschnitten war und die bisher nicht in der Ausbildung vorgesehenen Disziplinen Boxen, Schwimmen und Fußball enthielt, griff man für die Lehrgänge nicht auf ältere Sportlehrer, sondern auf die große Zahl arbeitsloser Junglehrer mit Turnfakultas oder auf besonders geeignet erscheinende sportliche Kandidaten zurück. Dem Argument der Beseitung der hohen Arbeitslosigkeit wurde weniger Gewicht beigemessen als der explizit geäußerten Hoffnung, die jungen Lehrer seien eher geeignet, die Dritte Turnstunde im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie zu unterrichten233, obgleich insgesamt „die Grundsätze Hitlers über die Funktion und Aufgaben der körperlichen Erziehung im neuen völkischen Staat in Kreisen der deutschen Turn- und Sportlehrer auf fruchtbaren Boden gefallen waren“234. Um die nach Kriegsbeginn entstandenen Lücken in der Lehramtsausbildung zu schließen, entfiel für Turnphilologen ab November 1939 die Grundausbildung, und die einjährige Ausbildung wurde durch ein von Januar bis August dauerndes Trimester ersetzt. Ab 1943 war ein Studium der Leibesübungen nur noch in Wien und Leipzig möglich235, und am IfL
228 Briese, Hochschulsportordnung, S. 27-31; zur wehrpädagogischen Bedeutung des Segelfliegens in Krümmels Konzeption ausführlich Ueberhorst, Krümmel, S. 91-96. Zu den Konflikten zwischen REM und dem NS-Lehrerbund in diesem Zusammenhang siehe Buss, Sportlehrerfortbildung, S. 42-44. 229 Briese, Hochschulsportordnung, S. 9-10; Diem, Sport, S. 26. 230 Aus dem Gießener Anzeiger v. 9.5.33, zit. n. Gissel, Burschenturnen, S. 210. 231 Widersprüchlich Joch, Leibeserziehung, S. 37, 57, Anm. 138. Vgl. dagegen Joho, S. 277; Streib, W./Klein, R.: Deutschland. In: Krümmel, Carl/Jaeck, Peter: Die Sporthochschulen der Welt. Der Kongreß für körperliche Erziehung und das Internationale Sportstudentenlager. Berlin 1937, S. 136140, hier: S. 139; Zhorzel, S. 41-48. In Marburg wurden zwischen 1935 und 1945 acht sportwissenschaftliche Dissertationen abgeschlossen; in Hamburg sechzehn. 232 Gissel, Burschenturnen, S. 201-202.; Joch, Leibeserziehung, S. 37; Tietze, Leibeserziehung, S. 195; Zhorzel, Kaiserreich, S. 41-48. 233 Wegen seiner Auswertung entsprechender Akten des Reichsfinanzministeriums ist für die Dritte Turnstunde grundlegend Bernett, Interesse. Siehe auch Peiffer, Turnunterricht, S. 51-59. 234 Peiffer, Turnunterricht, S. 34. Seine Belege sind zum einen Analysen der Fachzeitschriften und zum anderen ihre Mitgliedschaften in nationalsozialistischen Organisationen; siehe ebd., S. 81. 235 Bernett, Wissenschaft, S. 15.
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Gießen fungierte aufgrund des Mangels an männlichen Kräften ab 1943 sogar eine Frau als kommissarischer Direktor236. Während das Prüfungslager am Ende der Turnlehrerausbildung für die weiblichen Turnstudenten an der Universität Marburg stattfand, wurde es für die männlichen Studierenden von einer eigenständigen Institution übernommen: der Führerschule des Berliner IfL in Neustrelitz. Sie wurde von Krümmel im Rahmen einer Honorarprofessur an der Berliner Universität geleitet und als seine „Lieblingsschöpfung“ bezeichnet. Die militärisch organisierte „Auslese einer zuverlässigen Gemeinschaft kampfgläubiger Leibeserzieher“237 erstreckte sich nach der Verkündung der Richtlinien 1937 auf sämtliche mit der Leibeserziehung befaßten Personengruppen und erfaßte durch Fortbildungskurse und die seit 1935 jährlich abgehaltene Reichstagung der Leibeserzieher Anwärter auf die Turnfakultas für die Dritte Turnstunde, Leibeserzieher an Schulen und Hochschulen, insbesondere die Direktoren der IfL, Sachbearbeiter im zentralen Führungsapparat, Schulleiter, Schulaufsichtsbeamte und Sportschriftleiter. Von besonderer Bedeutung war die Reichstagung 1939, auf der erstmals führende Leibeserzieher aus der ‚Ostmark‘ und dem ‚Protektorat‘ erschienen waren. Die deutsche Universität Prag erhielt ein besonderes Lob, weil sie bereits vor dem Einmarsch der deutschen Truppen ein IfL nach dem reichsdeutschen Vorbild der HSO gegründet hatte. Im Gefolge des Kriegs wurden zwar zum ersten Mal weibliche Lehrkräfte nach Neustreitz einberufen, die in Lehrgängen die 1941 erschienenen Richtlinien für die Leibeserziehung der Mädchen vermitteln sollten. Die für 1942 angekündigte Reichstagung fiel jedoch bereits ebenso wie Krümmels Plan für den Ausbau der Neustrelitzer Schule zu einer gesamteuropäischen Ausbildungsstätte für Leibeserzieher dem Krieg zum Opfer. Als dritte Institution schließlich ist in diesem Zusammenhang die RfL als Nachfolgeorganisation von PrHfL und DHfL zu nennen. Nach Rektoraten Ferdinand Sauerbruchs von 1932 bis Frühjahr 1933 und Alfred Baeumlers im Sommersemester 1933 wurde die DHfL geschlossen und per nachträglichen Führererlaß vom 7. April 1937 als RfL am 1. April 1936 wiedereröffnet. Ihre Leitung übernahmen Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten als Präsident und Karl Krümmel als Direktor.238 Ihr unmittelbar der Verwirklichung der HSO dienender Zweck war die „einheitliche Führerausbildung“ der gesamten Sportlehrerschaft „durch Lehre und Forschung im Geist des Nationalsozialismus“239. Zwar übernahm die RfL die Gliederung der DHfL in vier Abteilungen; das Studium wurde jedoch durch gestaffelte Lehrgänge ersetzt.240 A-Lehrgänge dienten nach Einführung der Dritten Turnstunde, der mit der Verkündung der Richtlinien von 1937 die der täglichen Sportstunde folgte, der Deckung des kurzfristig entstandenen 236 Gissel, Burschenturnen, S. 246. 237 Zit. n. Bernett, Wissenschaft, S. 39; die weiteren Angaben ebd., S. 39-41; ders., Leibeserziehung, S. 136; Ueberhorst, Krümmel, S. 87-90. Zur Marburger Ausbildung Bernsdorff, Walter: Prüfungsklausuren 1941/42 als Dokumente zur Klärung der Frage, wie die Turnlehrerinnen-Ausbildung (zum freien Beruf) tatsächlich abgelaufen ist. In: Bernett/John, Schulsport, S. 78-93. 238 Die genauen Umstände dieser Vorgänge sind bislang nicht hinreichend erforscht. Hierzu Bernett, 1933, S. 234-236; ders., Wissenschaft, S. 36-38; ders., Leibeserziehung, S. 137-139; Carl-Diem-Institut, Dokumente zur Gründung, S. 118-119.; Diem, Sport, S. 27, Anm. 22; Ueberhorst, Krümmel, S. 97-100; zur Rolle Carl Diems siehe Bernett, Reichsakademie.– Außerhalb der Sporthistoriographie finden sich zu den Rektoraten Sauerbruchs und Baeumlers keine Hinweise. In seiner anekdotisch geprägten Autobiographie Das war mein Leben (Göttingen 1956, S. 345-349) widmet Sauerbruch zwar seiner Beziehung zu August Bier ein eigenes Kapitel, erwähnt aber ihre institutionelle Einbindung an der DHfL nicht. 239 Zit. n. Bernett, Wissenschaft, S. 36. Vgl. von Tschammer und Osten, Reichssportfeld, S. 97: „Der Reichserziehungsminister hat kurz nach der Errichtung seines Ministeriums am 1. Mai 1934 die Hochschulsportordnung erlassen, in der die Vereinheitlichung der Turn- und Sportlehrerausbildung eingeleitet wurde. Die verschiedenen Arten der Führer- und Erzieherausbildung erhielten durch die Errichtung der Reichsakademie für Leibesübungen eine gemeinsame Spitze, in der die verschiedenen Funktionen und Aufgaben in der Einheit von Forschung, Lehre und Erziehung zusammengefaßt werden sollen.“ 240 Bernett, Wissenschaft, S. 36-38; ders., Reichsakademie, S. 250.
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Lehrerbedarfs. Nachdem zunächst in einem einjährigen Lehrgang nur Studienassessoren mit vollständiger Turnfakultas zugelassen waren, wurde er bald darauf um ein halbes Jahr verkürzt und auch für Assessoren mit kleiner Fakultas und schließlich sogar für Assessoren und Referendare ohne Turnfakultas geöffnet.241 Die B-Lehrgänge bezweckten die Ausbildung der Turn- und Sportlehrer im freien Beruf aus Verbänden, Vereinen, NSFormationen, Polizei und Wehrmacht zum „akademischen Sportlehrer“ und ersetzten das Diplom der DHfL, während im C-Lehrgang eine Fortbildung für Übungsleiter stattfand, in dem – anders als in den A- und B-Lehrgängen – auch Frauen zugelassen waren. Nach Kriegsbeginn stellte die RfL zum Wintersemester 1939/40 ihren Betrieb ein.242 Mitte 1938 frequentierten nur noch 700 Lehrer, aber 10 000 Übungsleiter die Akademie.243 5.2 Sportwissenschaft als Theorie Dieses Kapitel beschäftigt sich anhand von drei Beispielen mit der Frage, ob die Theorie der Leibeserziehung nach 1933 eine spezifisch nationalsozialistische Gestalt angenommen hat. Bei ihrer Analyse ist vorauszuschicken, daß sich die Auffassung, es habe keine originäre NS-Philosophie gegeben244, zwar in der Theorie der Leibesübungen spiegelt245, jedoch – unangesehen ihrer Richtigkeit – um den Verweis auf ihre enormen „sportpolitischen Konsequenzen“246 zu ergänzen ist. Als einziger systematischer Versuch, „in der Ausrichtung des Sports einige Grundpfeiler der nationalsozialistischen Weltanschauung umzusetzen“247, gilt das erste Beispiel, die von Alfred Baeumler und seinen Schülern wie Heinz Wetzel vertretene Theorie einer politischen Leibeserziehung.248 Eine noch aus der Weimarer Republik stammende Skepsis gegenüber der Wissenschaftlichkeit des Sports, die gleichfalls die Zeit vor und nach 1933 verbindenden Theorieabstinenz der Sportlehrerausbildung, aber auch die Schwierigkeit naturwissenschaftlicher Teildisziplinen der Sportwissenschaft, von sich aus eine umfassende Theorie zu konzipieren, sind Gründe dafür, daß 241 Bernett, Wissenschaft, S. 37; Ueberhorst, Krümmel, S. 97-98. Nach Verkündung der Richtlinien 1937 sah ab 1938 die neue Stundentafel für Jungen auf der Oberschule fünf Stunden und für Mädchen vier bis fünf Stunden Turnen in der Woche vor. Für die unteren vier Klassen der Volksschulen galt eine Sonderregelung; hierzu Bernett, Hajo: Sportunterricht an der nationalsozialistischen Schule. St. Augustin 1985, S. 51-52; Peiffer, Turnunterricht, S. 118-125; Pfister/Sprenger, Leibeserziehung, S. 53-77. 242 Bernett, Wissenschaft, S. 37-38; Ueberhorst, Krümmel, S. 97-106. Zum B-Lehrgang („Ausbildungsgruppe II“) Kunze, Prüfungsordnung, S. 77-79. 243 Zahlen nach Bernett, Wissenschaft, S. 39; ders., Reichsakademie, S. 250. 244 Die These von Leske, Philosophen, S. 16, es habe eine „qualitative Spezifik“ und „durchaus vorhandene Kohärenz“ der „nazifaschistischen Philosophie“ gegeben, wird von Dahms, Philosophie, S. 206-210, unter einer ideengeschichtlichen Sicht, aber nicht wissenschaftssoziologisch und institutionell zurückgewiesen. Eine für unser Thema hilfreiche Übersicht zur Frage der ‚Geschlossenheit‘ der NSWeltanschauung gibt Geuter, Ideologie, S. 174-175, da er sie auf die uns gleichfalls noch beschäftigende Psychologie überträgt. 245 Vgl. Joch, Leibeserziehung, S. 42-43: „Objektiv waren die Schwierigkeiten, eine Theorie der Leibeserziehung auf der Grundlage und in Einklang mit der NS-Ideologie zu konzipieren, auch darin begründet, daß dem Nationalsozialismus keine geschlossene theoretische Konzeption zugrunde lag.“ Auch Peiffer/Spitzer, Sport, S. 42, kommen zu dem Schluß, daß hier von einem „in sich geschlossenen Konzept nicht gesprochen werden kann.“ Systematisierungsversuche dieser NS-Sporttheorie bieten Bernett, Kreuzfeuer, S. 211-213; Joch, Leibeserziehung, S. 45-52. 246 Bernett, Hajo (Hrsg.): Der Sport im Kreuzfeuer der Kritik. Schorndorf 1982, S. 211. 247 Peiffer/Spitzer, Sport, S. 42. Vgl. Tietze, Leibeserziehung, S. 222: „Eine zusammenhängende, jedoch nicht immer stringente Theorie der nationalsozialistischen Leibeserziehung hat nur der Philosoph und Pädagoge Alfred Baeumler konzipiert“; eine Zusammenfassung auch bei Joch, Baeumler, S. 216-220. 248 Vgl. Mester 1939, zit. n. Bernett, Grundformen, S. 96: „Die politische Leibeserziehung, wie sie der Reichssportführer organisierte, Alfred Baeumler wissenschaftlich begründete und Heinz Wetzel programmatisch formulierte, wurde Grundlage einer neuen deutschen Volkserziehung.“ – Baeumler allerdings bestritt in einem Brief an Bernett 1966, daß man ihn als „‚Initiatior‘ der politischen Leibeserziehung bezeichnen“ könne und er eine „planmäßige Theorie der politischen Leibeserziehung gegeben habe“ (zit. n. Bernett, Untersuchungen, S. 104, Anm. 73); vgl. Joch, Leibeserziehung, S. 65-67.
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sich mit Alfred Baeumler lediglich ein namhafter Geisteswissenschaftler im Nationalsozialismus der Grundlegung einer Theorie der Leibeserziehung widmete.249 Vor dem Hintergrund der Kontinuitätsfrage soll aus ihr nur der Gedanke hervorgehoben werden, der unmittelbar ideelle Voraussetzungen und institutionelle Konsequenzen verknüpft.250 Für Baeumler schließt politische Leibeserziehung die „Loslösung der Forschung aus den Fesseln des Liberalismus“ und den Ersatz von Wissenschaft durch „Weltanschauung und politische Pädagogik“ ein. Der „neue Lehrertypus“ des Turn- und Sportlehrers richtet sich nicht mehr an Wissenschaften wie Physiologie oder Psychologie aus, die ihn lediglich zum Spezialisten ausbilden, sondern an seiner „Stelle im Gesamterziehungssystem des deutschen Volkes“ und seiner „gemeinsamen Weltanschauung.“ Als „politischer Lehrer schlechthin“ bezieht er hieraus sein Selbstbewußtsein, aber auch die Pflicht, seine „Teilnahme an diesem Geschehen auch zu durchdenken“, um den „Sinn“ zu kennen, der den „Leibesübungen im Staate Adolf Hitlers zukommt.“251 Für Theorie und Praxis der Lehrerausbildung bedeutete dies einen Paradigmenwechsel sowohl in bezug auf ihre Quantität wie Qualität.252 Das zweite Beispiel ist die Konstitutionslehre von Erich Rudolf Jaensch, 1933 Gründungsdirektor des Instituts für psychologische Anthropologie an der Universität Marburg, und seines Bruders Walther, Leiter des Instituts für Konstitutionsforschung an der Berliner Charité und Dozent an der DHfL. Die empirische Überprüfung dieser Lehre wurde auch mit Mitarbeitern und Studenten der DHfL vorgenommen.253 Gemeinsamkeiten zwischen ihr und der politischen Theorie der Leibeserziehung liegen in der ausdrücklichen Anlehnung an Jahn und seinen Idealismus254, in der miteinander verschränkten Begrifflichkeit
249 Hierzu – teilweise unter Berufung auf Baeumler – Joch, Leibeserziehung, S. 37-43; ders., S. 17-38. Joch nennt als Kritiker der Wissenschaftlichkeit der Leibeserziehung Spranger, Neuendorff, Gaulhofer und Otto Neumann, während Krieck für die NS-Pädagogik steht, die die Leibeserziehung nicht behandelt haben. Ein spezifischer Grund für die Theorieabstinenz der Leibeserzieher im Dritten Reich ist nach Wetzel die vorrangige Arbeit am Aufbau der SA, die keine Zeit für wissenschaftliche Betätigung gelassen habe.– Krümmel, der mit seinem soldatisch und biologistisch geprägtem Denken durchaus der Theorie einer nationalsozialistischen Leibeserziehung zugerechnet werden kann (vgl. Tietze, Leibeserziehung, S. 133-157; Ueberhorst, Krümmel, S. 144), war von Hause aus kein Pädagoge, sondern Volkswirt- und Naturwissenschaftler, und hat auch keine systematische Schrift zur Leibeserziehung verfaßt. 250 Ein anderes mögliches Thema wäre eine vertiefte Analyse des Begriffs der Leistung, mit dem die NSIdeologie große Probleme hatte. Reizvoll wäre hier sowohl in Bezug auf die Rechtfertigung der Olympischen Spiele 1936 als auch die Interpretation der Richtlinien für den Turnunterricht ein Vergleich zwischen Krümmels und Baeumlers Arbeiten, für den Vorarbeiten von Bäumler, Krümmel; Bernett, Untersuchungen, S. 98-100; Eisenberg, „English sports“, S. 402; Joch, Leibeserziehung, S. 23, 45-47; 119123; ders., Theorie, S. 245-247, 263-272; Peiffer, Richtlinien; Tietze, Leibeserziehung, S. 145-157, und Ueberhorst, Krümmel, S. 123-134, eine nützliche Grundlage bilden. 251 Baeumler, Alfred: Politische Leibeserziehung (1937). ND in: Joch, Leibeserziehung, S. 213-226, hier: S. 213-214; siehe auch Jochs Kommentar, ebd., S. 87-90; ders., Theorie, S. 227-230; ders., Baeumler, S. 216-221. 252 Vgl. Baeumler (1934), zit. n. Bernett, Leibeserziehung, S. 135: „Es wird also in diesen ersten Semestern der zukünftige Turnlehrer von einer überwiegend lehrmäßigen Ausbildung so lange verschont gelassen, bis er haltungsmäßig durch nahezu ausschließliche Bindung an die Praxis selber zu neuen Haltung leiblich-äußerlich erzogen wird und dadurch für die späteren Semester die innere Bereitschaft und willensmäßige Ausrichtung schon mitbringt, die den Weg zu einer politisch-geistigen Seite der Leibesübungen leichter und, was wesentlicher ist, in nationalpolitischer Hinsicht sicherer gestalten.“ Vgl. auch Martin Boye, Abteilungsleiter am IfL Berlin: „Die Anwendung wissenschaftlicher Kategorien auf die Leibesübungen und die Schaffung eines Wissenschaftsgebäudes der Leibesübungen können möglich und für den philosophisch denkenden Menschen interessant sein; praktisch sind sie von minderer Bedeutung in einer Zeit, die tatkräftiges Handeln und persönlichen Einsatz verlangt“; zit. n. Buss, Göttinger IfL, S. 72. 253 Jaensch, Körperformung, passim. Da E. R. Jaensch nebenamtlich am Marburger IfL angestellt war, hat er vermutlich auch mit Marburger Studenten experimentiert. Zum großen Einfluß E. R. Jaenschs auf das Marburger IfL siehe Zhorzel, Kaiserreich, passim, insbes. S. 40, 46, 78. 254 Jaensch, Körperformung, Bd. 1, S. 33 f.; Bd. 2, S. 76, 97, Wetzel, Heinz: Politische Leibeserziehung. Berlin 1936, S. 32. Zu Baeumler und Jahn siehe Joch, Theorie, S. 239-242; Vorgeschichte und Kontinu-
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von ‚Organischem‘255, ‚Ganzheit‚256, ‚Struktur‘257, ‚Lebendigem‘258 und ‚Ewigem‘259, in der Opposition von ‚Leben‘ und ‚Wissenschaft‘260 und schließlich in der Auffassung, eine Klärung der Beziehung von Theorie und Praxis setze Anthropologie voraus. Auf ihrer Metaebene stimmen Baeumler und E. R. Jaensch darin überein, Theorie sei der Praxis vorgängig und von ihr unabhängig zu bestimmen.261 Unterschiede sowohl innerhalb der politischen Leibeserziehung als auch zwischen ihr und der Jaenschen Konstitutionslehre treten nun aber in der Frage zutage, in welchem Sinne diese Trennung von Theorie und Praxis auf der begrifflichen Ebene auch auf der Ebene der Handlung gilt. Für Baeumler führt ihr mögliches Zusammenfallen zu einem „Dilettantismus der Tat“ und einem „Dilettantismus des Wortes“, weil beide auf ein „Ganzes“262 verpflichtet sind. Gleichwohl wird die theoretische Aufgabe, konkrete Handlungszwecke zu formulieren, keineswegs suspendiert, sondern anstelle einer isolierten Theorie von einer sich diesem „Ganzen“ einordnenden Praxis vorgenommen. Auf diese Weise kann die „wahrhaft philosophische Begründung der Leibesübungen“ auf die Existenz konkreter Zwecke verweisen und gleichzeitig die Freude an Leibesübungen als „Ausdruck der Freiheit von aller (wenn auch noch so richtigen und wichtigen) Zweckeinstellung“263 anerkennen. Wenn für Wetzel hingegen „die nationalsozialistische Revolution wieder die Möglichkeit und die Verpflichtung gegeben hat, Theorie und Praxis in Einheit zu sehen und zu gegenseitigem Verstehen zusammenzuführen“264, läßt er zwar – wie Baeumler – Theorie aus Praxis hervorgehen, weist ihr jedoch – anders als Baeumler – über ihre Begründungsfunktion hinaus eine unmittelbare Anwendungsfunktion zu. Der tiefere Grund dieser Differenz liegt auf der Sachebene der Anthropologie: Während in Baeumlers philosophischer Anthropologie die rassische Verfaßtheit des Menschen seiner geschichtlichen untergeordnet ist265, reduziert sie Wetzel auf „Bindungen des Blutes und des Bodens“266 und schließt sich damit an die psychologische Anthropologie E. R. Jaenschs an, die inhaltlich auf den „biologischen Grundlagen von Vererbung, Rasse, Blut und Boden“267 beruht.
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itätslinien wären zu erschließen über Sprenger, Reinhard K.: Zur Jahnrezeption in der Weimarer Republik, in: Stadion VIII/IX (1982/1983), S. 169-192. Baeumler, Alfred: Männerbund und Wissenschaft. Berlin 1934, S. 52; Jaensch, Körperformung, Bd. 1, S. 9. Jaensch, Körperformung, Bd. 2, S. 6; Wetzel, Leibeserziehung, S. 19. Jaensch, Körperformung, Bd. 2, S. 6; Wetzel, Leibeserziehung, S. 13. Jaensch, Körperformung, Bd. 2, S. 98-100; Wetzel, Leibeserziehung, S. 34. Jaensch, Körperformung, Bd. 2, S. 97; Wetzel, Leibeserziehung, S. 18. Jaensch, Körperformung, Bd. 2, S. 98-100; Wetzel, Leibeserziehung, S. 62-63. Vgl. zu Baeumlers Position Joch, Leibeserziehung, S. 85-86, und zu Jaensch Geuter, Ideologie, S. 185186 Baeumler, Männerbund, S. 136. – Auch wenn Baeumler noch 1966 in schriftlichen Stellungnahmen diese Trennung ausdrücklich bekräftigt hat, ist es natürlich eine ganz andere Frage, ob seine politische Leibeserziehung den Umschlag in Praxis nicht zumindest billigend inkauf genommen hat. Zu diesem Problem siehe Alkemeyer, Körper, S. 239; Caysa, Leibphilosophie, S. 285-286.; Joch, Leibeserziehung, S. 85-86; ders., Theorie, S. 285. Baeumler, Männerbund, S. 49-50. Wetzel, Leibeserziehung, S. 63; vgl. ebd., S. 12. Baeumler, Männerbund, S. 50, 127. Die Frage nach Baeumlers Rassebegriff hängt unmittelbar mit jener nach dem Verhältnis von Theorie und praktischer Anwendung zusammen. Während Leske, Philosophen, S. 179-180, die Übereinstimmung und Joch, Theorie, S. 88-94, 135-191; ders., Baeumler, S. 220, den Bruch zwischen Baeumlers Rassebegriff und der NS-Ideologie betont, nimmt Alkemeyer, Körper, S. 242, Anm. 34, eine differenzierte Position ein. Wetzel, Leibeserziehung, S. 10. Vgl. Tietze, Leibeserziehung, S. 223-224. Jaensch, Körperformung, Bd. 2, S. 21; vgl. Geuter, Ideologie, S. 185-187. Baeumler allerdings zählte 1941 E. R. Jaensch zu „jenen an sich achtenswerten Professoren von nationaler Haltung, die das Revolutionäre im Nationalsozialismus niemals auch nur von ferne zu verstehen vermochten“ (zit. n. Geuter, Ideologie, S. 195); zu einer widersprüchlichen Einschätzung von Jaensch kommt Zhorzel, Kaiserreich, S. 40, 42. Siehe auch den Eintrag in Victor Klemperers Tagebuch v. 12.7.38 (Klemperer, Victor: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1941. Berlin 1995, S. 415): „Irgendwo [...] tagt
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Von dieser Ebene aus ist es nun sowohl Wetzel wie den Jaenschs möglich, eine Theorie der Leibeserziehung unmittelbar in „Menschenwirtschaft“268 und „praktische Blutspolitik“269 zu überführen. Während Wetzel hier die Leibeserziehung der „Gesetzgebung des Staates zum Schutze des deutschen Blutes“ eingliedert, es jedoch bei der Beschreibung ihrer Aufgabe einer „Wahrung und Pflege deutscher Lebenskraft“270 beläßt, gehen die Brüder Jaensch weiter und verbinden dieses sportliche Prinzip der „Auslese“ explizit mit der „Sterilisierung der gröbsten Minderwertigkeiten und Erbkranken“ sowie der „eugenischen Ausmerze der Minderwertigen“271. Folgerichtig erfüllt sich in der Übertragung der Klassifikation Hans F. K. Günthers der politischen Sinn ihrer Anthropologie nach 1933 im Kampf des J- gegen den S-Typus, zu dem sowohl die Juden wie die Egoisten auf dem Sportplatz gezählt werden.272 Als drittes Beispiel schließlich sei hier auf die Leipziger Schule der Ganzheitspsychologie eingegangen. Während sich die Berliner Gestalttheorie in den 20er und 30er Jahren vorwiegend mit dem Phänomen der Wahrnehmung beschäftigte, stehen in Leipzig die Arbeiten Otto Klemms und seiner Mitarbeiter für einen „wohl einzigartigen und methodologisch außerordentlich geschlossenen Beitrag zur Ganzheitlichkeit von sportlichen, Alltagsund künstlerischen Bewegungen“273. Unter der Herausgeberschaft Felix Kruegers und Otto Klemms, einem vielseitig begabten Sportler274, erschienen zwischen 1933 und 1938 als Band Neun der Neuen Psychologischen Studien vier Hefte mit insgesamt zehn Beiträgen zu motorischen Themen wie Reaktionsverhalten, Nachfolgeverhalten, Arbeitsbewegung, Hammerschlag oder Zielwurf.275 Halten wir den programmatischen Beitrag von Klemm mit dem Titel Zwölf Leitsätze zu einer Psychologie der Leibesübungen276 aus dem Schlußheft von 1938 – über die häufige Verwendung der Begriffe ‚Ganzheit‘, ‚Gestalt‘, ‚Lebendiges‘ und ‚Struktur‘ hinaus – einerseits an die politische Theorie der Leibeserziehung und andererseits an die Konstitutionslehre der Jaenschs, ist Klemms Psychologie bereits auf den ersten Blick näher an Baeumlers philosophischer als an Jaenschs psychologischer Anthropologie. Baeumlers Idee der prinzipiellen inneren Zweckfreiheit der Leibesübungen findet sich bei Klemm ebenso wie der Gedanke, daß sie keineswegs Loslösung von allen Zwecken, sondern vielmehr eine Einbettung in eine größere zwecksetzende „Gemeinschaft“ bedeutet: „Um ihres hohen Eigenwertes willen nehmen die Leibesübungen zugleich einen besonderen Dienstwert an. Den Einzelnen gilt es zu stärken, daß er dem Ganzen freudig diene“277. Der Unterschied zwischen Klemm und den Gebrüdern Jaensch liegt nicht nur in der Konsequenz dieser Überlegung für das Verhältnis der Praxis zur Theorie, sondern auch in ihrer eigentlichen Ausprägung. Zwar wird im Zusammenhang mit Klemms zweiten Leitsatz, daß der „Psychologie der Leibesübungen die Aufgabe zufällt, das seelische Geschehen zu erforschen, das sich in den Leibesübungen abspielt, und von dem Zusammenhange mit der Persönlichkeit Rechenschaft abzulegen“, auf Experimente E. J. Jaenschs und die
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die Gesellschaft der Psychologen, und Jaentsch (sic) verdonnert die materialistische Psychologie der Juden, insbesondere Freuds, und stellt ihr die Geistigkeit der neuen Lehre entgegen.“ Jaensch, Körperformung, Bd. 1, S. 31. Wetzel, Leibeserziehung, S. 17. Ebd. Jaensch, Körperformung, Bd. 2, S. 94, 103, 89. Vgl. Geuter, Ideologie, S. 182-190. Loosch, Bewegungslehre, S. 51; ebenso Janssen, Sportpsychologie, S. 18. Die Differenz zwischen (Berliner) Gestalttheorie und (Leipziger) Ganzheitspsychologie betonen z. B. Klemm, Leitsätze, S. 389; Krueger, Klemm, S. 25; vgl. auch Geuter, Zerstörung, S. 36. Krueger, Klemm, S. 2, 26-27. Vgl. Krueger, Klemm, S. 24-30; Loosch, Das Ganze, S. 27-29; ders., Klemm, S. 263-264; ders./Böger, Bewegungslehre, S. 231. Klemm, Leitsätze, S. 383-398. Klemm, Leitsätze, Zwölfter Leitsatz, S. 396; vgl. ebd., Erster Leitsatz, S. 387.
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Bedeutung der Rasse verwiesen: „Achter Leitsatz: Die Arten der Bewegungsbeanlagung und die beherrschbaren Leistungsgebiete ordnen sich den Körperbauformen der neueren Konstitutionslehre und den Eigenarten der Rasse zu“278. Bedeutsam ist jedoch, daß Klemm nicht dieser für Jaensch charakteristischen Verbindung zwischen Experiment und Rasse nachgeht, sondern ein Experiment zur Frage der Körperbauformen anführt, obgleich im achten Leitsatz ‚Rasse‘ und ‚Körperbauformen‘ formal gleichwertig erscheinen. Der Begriff ‚Rasse‘ taucht außer in der Überschrift des achten Leitsatzes nirgends mehr auf, und die seiner Illustration dienenden Beispiele werden entweder sprachlich abgeschwächt oder kommentarlos von anderen Autoren übernommen.279 Wenn auch dieser eindeutige Verzicht auf rassistisches Vokabular und rassistische Zwecksetzungen, die sowohl Wetzel wie die Jaenschs kennzeichnen, wiederum Klemm und Baeumler vergleichbar macht280, darf jedoch ein Indiz nicht übersehen werden, das Zweifel an der Tragfähigkeit dieser Parallele zuläßt. Zwar findet sich im Zweck der Leibesübungen als Erziehung zur Wehrfähigkeit ein Bindeglied zwischen Klemm und Baeumler, das nicht spezifisch nationalsozialistisch ist, sondern vielmehr im Sinne allgemeiner Lebenstüchtigkeit der Tradition des „Volkstums Jahns“281 entstammt. Baeumler jedoch verwendet seine Berufung auf Jahn und den Zweck der Wehrtüchtigeit auch dazu, unter Verweis auf die antike Tradition die Rechtfertigung der Olympischen Spiele und ihres Gemeinschaftsprinzips mit einer Kritik am mechanistischen Individual- und Leistungsverständnis des englischen Sports zu verbinden282, während Klemm gerade diesen „englischen Sportgeist gegen Technisierung“283 stellt. Obgleich diese Auffassung Klemms als Teil einer längeren Aufzählung erscheint, erhält sie die wichtige Funktion, auf eine differentia specifica aufmerksam zu machen. Während nämlich Baeumler seine Begründung der leibeserzieherischen Zwecke von der Antike bis zu den Olympischen Spielen der Neuzeit organisch in das Gemeinschaftsprinzip einfügt, insofern ihr Individualprinzip als Einordnung in dieses Prinzip sein Recht erhält284, findet sich in Klemms Ausführungen ein deutlicher Bruch. Auf der einen Seite verknüpft das Ganzheitsprinzip sportlicher Handlungen zwar prinzipiell innere und äußere Zwecke285, auf der anderen Seite jedoch wird durch seine Deutung der Olympischen Spiele das Gewicht eindeutig zugunsten des inneren, individuellen und schöpferischen Prinzips verschoben286 und eine Verbindung zu denjenigen Positionen hergestellt, die im Individualprinzip des Sports explizit ästhetische und moralische Funktionen verknüpften287. Während ein solcher Zusammenhang zwischen subjektiver 278 Ebd., S. 388, 394-395. 279 Ebd., S. 394. 280 In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, daß auch Kruegers Ganzheitspsychologie auf Rassismus und Antisemitismus verzichtet; vgl. Geuter, Zerstörung, S. 42. 281 Vgl. Klemm, Leitsätze, S. 396, und ebd., S. 398: „Schimmerndem Aufmarsche lichter Knaben folgt dröhnender Erzschritt von Waffenträgern. Leibeserziehung dient deutscher Männlichkeit; sie stärkt den Einzelnen, auf daß er das Ganze freudig beschütze“, mit Baeumler, Männerbund, S. 63; ein solcher allgemeiner Begriff der Wehrfähigkeit auch bei Diem (siehe oben). 282 Baeumler, Männerbund, S. 55-57; 62-67. 283 Klemm, Leitsätze, S. 396; 284 Zusammenfassungen bei Joch, Theorie, S. 235-239; 268-272; ders., Baeumler, S. 217-219; Tietze, Leibeserziehung, S. 100-103. 285 Vgl. oben seinen Zwölften Leitsatz. 286 Vgl. aus dem Ersten Leitsatz, S. 387: „Weil die Leibesübungen frei von äußeren Zweckbestimmungen sind, verwirklicht sich ihr eigener Sinn in einem unbegrenzbaren Streben nach einer stärksten, schönsten, edelsten Endform: dies bleibt dem Menschen aufgegeben.“ 287 Siehe z. B. Benary, Wilhelm: Der Sport als Individualerscheinung, Berlin 1913, S. 67: „Unendlich weit verbreitet aber ist die Sehnsucht des Mannes, teilzuhaben an jener vollkommenen Idee der Menschheit, und er setzt seine Kräfte und seine Begabung ein, um im freien Spiele durch das größte Maß an Geschicklichkeit die seinem Wesen adäquaten, ihm wertvoll erscheinenden Eigenschaften zur vollkommensten ihm möglichen Form der Darstellung zu bringen.“ Zur Unvereinbarkeit der Position Benarys mit der NS-Pädagogik Court, Jürgen/Janssen, Jan-Peters: Wilhelm Benary (1888-1955). Leben und Werk. Lengerich u. a. 2003, S. 46-49.
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Form und subjektivem Zweck als Ergebnis einer experimentell abgesicherten Analyse erscheint, beruht jene Verknüpfung lediglich auf Spekulation. Diese Überlegungen haben nun auch Konsequenzen für die These, Klemms Sentenzen stellten „in ihrem politischen Gehalt unmißverständliche Reverenz an die herrschende Dieologie“288 dar. Vordergründig paßte Otto Klemm durchaus in das politische Selbstverständnis des Leipziger Instituts, das sein Direktor Felix Krueger als „Kampf gegen Versailles“289 beschrieb. Klemm war Weltkriegsteilnehmer, 1919/1920 zunächst im Freiwilligenregiment Leipzig und nach dessen Verbot Mitglied in einer getarnten Wehrsportgruppe, trat am 1. Mai 1933 – übrigens am selben Tag wie Bauemler – in die NSDAP ein und wirkte in der Gaufachschaft Hochschulen als Schriftführer.290 Zu Kruegers Aussage, Klemm „schien das Ideengut der Bewegung kernhaft übereinzustimmen mit Hauptergebnissen der am höchsten von ihm geachteten deutschen Denker und zugleich tragfähig für den Aufbau des völkischen Staates“291, paßt, daß Klemm 1933 auf dem Leipziger Psychologiekongreß seine wissenschaftliche Analyse der Technik der „Aufgabe des Vierjahresplans“292 unterordnete. Für eine tiefere Deutung dieser Verbindung von Politik und Wissenschaft ist jedoch von großer Bedeutung, daß Klemm „keine ausgesprochen politische, sondern eine ErzieherNatur von streng wissenschaftlicher Haltung“293 war. Wenn dieser schwerblütige, nüchterne, jedem Soldatischen abholde und bloß dem experimentell Erschließbaren zugängliche Charakter294 sich nach der ‚Machtergreifung‘ in die Sphäre des Politischen begab, folgte er nicht einem politischen, sondern genuin wissenschaftlichen Drange, dem zwangsläufig ein Widerspruch auffallen mußte. Einerseits ist Klemms wissenschaftliches Selbstverständnis eines Experimentalforschers auch Ausdruck eines Ideals der schöpferischen Einzelpersönlichkeit, andererseits steht gerade der politische Raum der Gemeinschaft, in dem dieses Arbeiten stattfindet, nicht nur dem Experiment, sondern vor allem diesem Ideal entgegen.295 Gerade am Ende seines Lebens verspürte Klemm immer ausdrücklicher diesen „Zwiespalt“ zwischen der Idee der Freiheit und der Einordnung als „erlebten Gegensatz“296, und so mögen wir hier den Schlüssel zur Interpretation jenes Bruchs in seinen Leitsätzen297 sehen. Trotz aller Parallelen zwischen Baeumler und Klemm, die auch die 288 Loosch/Böger, Bewegungslehre, S. 237. Vgl. Loosch, Das Ganze, S. 29: „Klemms Überlegungen sind nicht frei von ideologischer Verbrämung und philosophischer Überhöhung.“ 289 Krueger, Klemm, S. 35; vgl. Geuter, Zerstörung, passim. 290 Angaben entstammen einem Schreiben Kruegers an den Dekan der Philosophischen Fakultät Leipzig v. 13.4.1937 (Universitätsarchiv Leipzig [UAL], Film 1340, Bl. 36: ich danke Eberhard Loosch für die Einsicht in diese Unterlagen); ferner siehe Krueger, Klemm, S. 4, 33, 74. Das Datum von Baeumlers Eintritt bei Dahms, Philosophie, S. 225. 291 Krueger, Klemm, S. 74. 292 Klemm, Otto: Die psychologischen Grundfragen der Technik. In: Ders. (Hrsg.): Bericht über den XIII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Jena 1934, S. 63-75, hier: S. 74. 293 Aus dem Schreiben Kruegers an den Dekan der Philosophischen Fakultät Leipzig v. 13.4.1937 (UAL, Film 1340, Bl. 36). 294 Krueger, Klemm, S. 4,7, 90 f. 295 Vgl. ebd., S. 12: „Dem wissenschaftlichen Interesse Klemms lag die Gefühlsseite des Seelenwesens und ebenso seine soziale Bedingtheit ferner als die anderen Zusammenhänge, mit aus dem Grunde, weil beides dem Experiemten und besonders der Messung schwer zugänglich ist.“ 296 Ebd., S. 83, 87-88. 297 Man lese vor diesem Hintergrund auch Klemms Vortrag über Verantwortlichkeit von 1938 (Klemm, Otto: Verantwortlichkeit. In: Ders. [Hrsg.]: Charakter und Erziehung. Bericht über den XVI. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Leipzig 1939, S. 98-103). Im Übrigen ist m. E. die Lektüre Klemm ein vortreffliches Beispiel zur Illustration der sprachidealistische Überzeugung Victor Klemperers, „die Aussagen eines Menschen mögen verlogen sein – im Stil seiner Sprache liegt sein Wesen hüllenlos offen“ (Klemperer, LTI, S. 16). Man darf dabei nicht übersehen, daß im NS-Staat „selbst souveräne Gelehrte gelegentlich die Diktion von peniblen Beamten, eifernden Parteigenossen, siegestrunkenen Soldaten und besserwisserischen Musterdeutschen übernahmen“ (Hausmann, „Strudel“, S. XV).
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Zustimmung zur ‚Machtergreifung‘ 1933 umfassen298, vergrößert sich Mitte der 30er Jahre die Kluft zwischen ihren Ansätzen: Während Klemm den Leib in der Verfügungsmacht des Einzelnen beläßt, lädt Baeumler ihn politisch auf.299 Vergleichen wir zum Abschluß dieses Kapitels Baeumler, Wetzel, die Brüder Jaensch und Klemm, so stehen Wetzel sowie Walter und Erich Rudolf Jaensch für eine explizite und durchgängige Anpassung von Wissenschaft an rassistische, militaristische und antisemitische Dogmen der NS-Pädagogik, während Baeumlers Aussagen einen wesentlich größeren Interpretationsspielraum lassen, der – je nach Perspektive – als Anpassung oder Distanzierung gelesen werden kann.300 Gerade dieser unsystematische Charakter von Baeumlers Ansatz bildet aber auch den kategorialen Unterschied zu Klemm, bei dem sich zwar auch Passagen angeben lassen, die im Sinne einer Anpassung an die NS-Ideologie gelesen werden können, jedoch auch eine Theorie der „Eigengesetzlichkeiten der Bewegungsgestalt“301 mit heute noch aktueller Gültigkeit markiert werden kann. Klemm steht exemplarisch für die Ambivalenz im Typus des Wissenschaftlers, der durch sein Verhalten 1933 zunächst in Tat und Wort das nationalsozialistische Regime zu stützen half302, allmählich jedoch vom Zweifel befallen wurde. Ausdruck verlieh ihm Klemm in den Passagen, die durch ihren zeitlos-ideologiefreien Charakter zeigen, daß unter den wissenschaftsfeindlichen Bedingungen einer Diktatur das Einhalten hoher Qualitätsmaßstäbe möglich war.303 Klemm, dem daher auch eine Ausnahmestellung innerhalb der für ihre ideologische Anfälligkeit bekannten Leipziger Ganzheitspsychologie zugesprochen werden kann, nahm sich unter bis heute ungeklärten Umständen am 5. Januar 1939 das Leben.304
298 Klemms Reaktion, wie sie sich in seiner Rede auf dem Leipziger Psychologiekongreß zeigt (s. oben), ist allerdings m. E. doch noch von anderer Qualität als Baeumlers Aufforderung zur Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 in Berlin; Ausschnitte aus seiner Rede bei Dahms, Philosophie, S. 225 f. 299 Wenn nach Joch, Theorie, S. 268, Baeumlers Kritik an der bloßen Leistung „verkennt, daß auch die quantitativ erfaßbare Leistungsfähigkeit – als Ergebnis der motorischen Dimension des Menschen – Merkmal seiner Persönlichkeit ist“, drückt dieser Gedanke also Klemms ureigene Überzeugung aus. 300 Ausführlicher Joch, Theorie, S. 277-279.– Auch wenn Hausmann, Strudel, S. 669, darin zuzustimmen ist, daß Baeumler prinzipiell den Individualismus und Liberalismus der Weimarer Republik angriff, finden sich gerade in seiner Konzeption der Leibeserziehung Passagen einer Verteidigung ‚individualistischer‘ und ‚liberalistischer‘ Prinzipien. 301 Klemm, Leitsätze, Dritter Leitsatz, S. 389. Man denke auch daran, daß die Leitsätze im Schlußheft 1938 der Neuen Psychologischen Studien den unmittelbar vorausgehenden Beitrag von Gerhard Steger (Über den Diskuswurf. In: Neue Psychologischen Studien [1938], Bd. 9, 4. [Schluß-]Heft, S. 353-381) abrunden, der sich ausschließlich mit der Bewegungsgestalt des Diskuswurfes und seinen didaktischen Konsequenzen beschäftigt; dazu Loosch, Klemm, S. 234.– Insgesamt lautet sein Fazit über Klemm, ebd., S. 269: „Dem Urteil einer ‚Zerstörung wissenschaftlicher Vernunft‘, wie es Geuter (1980) insgesamt für die Leipziger Ganzheitspsychologie fällt, kann [...] im Hinblick auf die motorischen Forschungen nicht vorbehaltlos zugestimmt werden. Bestenfalls kann man Klemm eine Art intellektuelle Neutralität und unverbindliche Sachlichkeit in weiten Teilen seines Werks unterstellen, die keine klaren politischen Orientierungen oder ein fest umrissenes Menschenbild erkennen lassen: mögliche Zeichen wissenschaftlichen Anstands, aber auch ideale Voraussetzungen für deren ideologische Verwertung.“ 302 Diesen Vorgang zeichnet Hausmann, „Strudel“, S. 664-665, am Beispiel der Romanistik nach. 303 Am Beispiel des Romanisten Fritz Schalk beschreibt ders., „Aus dem Reich der seelischen Hungernot“. Briefe und Dokumente zur Fachgeschichte der Romanistik im Dritten Reich. Würzburg 1993, Kap. IV, anschaulich, daß es möglich war, nach 1933 eine Zeitschrift auf hohem wissenschaftlichen Niveau zu führen.– In der Theorie der Leibeserziehung untersucht Tietze, Theorie, S. 219-220, diese Möglichkeit wissenschaftlichen Arbeitens an den Schriften Albert Hirns. 304 Vgl. Ash, Psychologie, S. 240-241; Geuter, Ideologie, S. 192; ders., Zerstörung, S. 42-43, der allerdings Klemm nur unzureichend deutet; Loosch/Böger, Bewegungslehre, S. 232-233; 237; Loosch, Das Ganze, S. 30. Janssen, Sportpsychologie, S. 19, sieht den Grund für Klemms Suizid in seiner Verbitterung darüber, daß er aus politischen Gründen nicht Institutsdirektor in der Nachfolge Kruegers wurde, während Loosch, Klemm, S. 263 auch auf mögliche „persönlichen Gründe“ verweist.– Interessanterweise unterblieb ein Nachruf auf Klemm in der Zeitschrift für Psychologie wie bspw. für E. R. Jaensch und Friedrich Schumann. Kruegers Nachruf auf Klemm erschien immerhin als Sonderdruck der Zeitschrift für angewandte Psychologie und Charakterkunde, deren Mitherausgeber er war.
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5.3 Sportwissenschaft und Olympismus Eine Analyse der Beziehung zwischen Sportwissenschaft und den Olympischen Spielen 1936 hat vor dem Hintergrund der politischen Bedeutung der Spiele drei unterschiedliche Positionen zu berücksichtigen. Die erste betont die Instrumentalisierung der Spiele als „Höhe-, aber auch [...] Abschlußpunkt der NS-Friedenspropaganda“305, die zweite streitet als „‚Insel- und Oasen-These‘“306 diese Einschätzung vollkommen ab307, und die dritte ist ein Vermittlungsversuch dieser konträren Auffassungen.308 Unstrittig ist, daß in einem wechselseitigen Nutzen die Spiele 1936 von der – auf das Jahr 1913 zurückgehenden – Tradition der trainingswissenschaftlichen Vorbereitung Olympischer Spiele in Deutschland unmittelbar durch die Anwendung moderner wissenschaftlicher Anlagetechniken und eine „Spitzenschulung“309 professioneller Trainer, deren Methoden auch von ausländischen Studienkommissionen begutachtet wurden, profitierten. Treibende Kraft war Diem in seiner Tätigkeit als Generalsekretär für die Olympischen Spiele, in der er sein „Organisationsgenie“310 und seine Erfahrung sowohl bei der Organisation der (ausgefallenen) Spiele 1916 wie auch als Leiter der Abteilung „Verwaltungslehre“ an der DHfL bis 1933 ausschöpfen konnte311. Was den Nutzen für die Wissenschaft betrifft, so erlaubt es – über den engeren Kreis der Teildisziplinen der Sportwissenschaft hinaus312 – ihr Charakter als Querschnittswissenschaft, auch die im Umfeld der Olympischen Spiele staatlich geförderten Mutterdisziplinen wie Geographie, Medizin und Archäologie – die „Spatenwissenschaft“313 – einzubeziehen. Die geologischen, geographischen, kartographischen und medizinischen Forschungen während der Expeditionen am Nanga-Parbat wurden von der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, dem Reichsluftfahrt- und Reichswissenschaftsministerium mitfinanziert314, und Diem gelang im Vorfeld der Spiele 1934 die Wiederaufnahme der Grabungen in Olympia315. Der im Vorfeld der Spiele von Krümmel organisierte Kongreß für körperliche Erziehung, dem sich ein internationales Studentenlager mit über 900 Teilnehmern an-
305 Teichler, Hans-Joachim: Die Olympischen Spiele 1936 – eine Bilanz nach 60 Jahren. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (1996) 29, S. 13-22; hier: S. 22; ebenso Burleigh, Nationalsozialismus, S. 206, 430; Krüger, Einführung, Teil 2, S. 147. Zu Victor Klemperers Interpretation Court, Klemperer, S. 125-127. Die entsprechenden Belege betreffen das Aussetzen politischer Verfolgungen während der Spiele, aber auch versteckte Maßnahmen wie den gleichzeitigen Bau des Konzentrationslagers Oranienburg. 306 Teichler, Eisenberg, S. 341. 307 Vgl. Diem, Leben, S. 200: „Die Behauptung, daß die Spiele des Jahres 1936 als politische Propaganda gewirkt hätten, wie sie dann im In- und Ausland nach dem Zusammenbruch auftauchte, ist [...] unzweifelbar widerlegt“; ebenso ders., Sport, S. 36. 308 Vgl. Eisenberg, „English sports“, S. 415: „Man muß daher den propagandistischen Mißbrauch der Spiele durch die Nationalsozialisten nicht bestreiten, um in der Veranstaltung zugleich die Eigenwelt des Sports zu erkennen.“ Zu ihrer bewußten Absetzung gegen die erste These siehe auch ebd., S. 410. 309 Diem, Sport, S. 18, 36; vgl. Eisenberg, „English sports“, S. 417. 310 Wolfe, Thomas: Es führt kein Weg zurück, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 536, spricht zwar anläßlich seiner Besuche der Berliner Spiele 1936 vom „Organisationsgenie des deutschen Volkes“, trifft aber damit vollkommen Diems bereits 1914 gewonnenes Selbstbild, daß an „Zielsicherheit und Organisationskraft uns vielleicht schon heute niemand gleichkommt“ (Diem, Schriften, Bd. 2, S. 87-88). 311 Vgl. das Organigramm bei Carl-Diem-Institut, Wirken von Carl Diem, S. 127. 312 Vgl. die Aufgabenbestimmung für das Internationale Olympische Komitee in Lausanne und ein in Berlin einzurichtendes Olympisches Archiv bei Diem, Schriften, Bd. 2, S. 237 [1938]. 313 Von Tschammer und Osten, Reichssportfeld, S. 86. 314 Märtin, Ralf-Peter: Nanga-Parbat. Wahrheit und Wahn des Alpinismus. Berlin 2002, S. 144-145, 174. 315 Diem, Schriften, Bd. 2, S. 262-265 [1940]; ders.: Erinnerungen, S. 195-197. Zur kritischen Würdigung der Grabungen in Olympia unter dem Motiv „Kriegseinsatz und Opferkult“ (Honold, Olympia, S. 159) siehe Losemann, Volker: Nationalsozialismus und Antike. Hamburg 1977, S. 21; Pape, Wolfgang: Urund Frühgeschichte. In: Hausmann, Rolle, S. 329-359; hier: S. 358.
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schloß, bot Wissenschaftlern aus der ganzen Welt ein Forum, pädagogische, anthropologische, historische oder auch medizinische Aspekte der Olympischen Idee zu diskutieren.316 Diems wissenschaftliche Tätigkeit als Direktor des Internationalen Olympischen Instituts (IOI) ab 1937/38 erstreckt sich auf zwei Bereiche. Zum einen hatte Diem im Rahmen der Institutsaufgaben die Gelegenheit zur Herausgabe der Zeitschrift Olympische Rundschau und zu eigenen Forschungen, die sich beide hauptsächlich antiken und klassischen Themen widmeten.317 Eine indirekte Beziehung zur ‚Aktion Ritterbusch‘ besteht hier durch den Berliner Ordinarius für Publizistik Emil Dovifat, der den Läufer aus Diems 1941 in die Heeresbücherei übernommener Erzählung Der Läufer von Marathon318 zum „ersten ‘PKMann‘, d. h. zum Prototyp eines Kriegsberichterstatters in einer Propaganda-Kompanie der Wehrmacht erklärte“319. Zwar scheiterte der ‚Kriegseinsatz‘ Dovifats für die Publizistik, aber er war Teilnehmer am romanistischen Gemeinschaftswerk.320 Zum zweiten nutzte der „‚Außenminister‘ des deutschen Sports“321 Diem seine wissenschaftlichen Forschungen als Thema seiner Vortragsreisen in seinen weiteren Funktionen als kommissarischer Leiter der Auslandsabteilung des Nationalsozialistischen Reichsbundes für Leibesübungen (NSRL) ab 1939 und als geschäftsführender Vizepräsident der Deutsch-Italienischen Gesellschaft unter dem Präsidenten und Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten ab 1940. Diems Aufgaben im internationalen Sportverkehr führten ihn zwischen 1933 und 1945 zu 85 nachweisbaren Auslandsaufenthalten.322 Vorträge 1943/44 in Athen und Sofia über Goethe und den Olympischen Gedanken wurden organisiert von den örtlichen Deutschen Wissenschaftlichen Instituten.323 Beziehen wir diese Befunde auf jene unterschiedlichen Interpretationen, so gerät die sogenannte ‚Eigenweltthese‘ des Sports in den Mittelpunkt.324 Ihre besondere Bedeutung für die Sportwissenschaft liegt darin, daß sie als Variante des Deutschen Idealismus den historistischen Widerspruch zwischen einem als überzeitlich verstandenen Ideal des zweckfreien Sports und seiner Realisierung in der je geschichtlich-kulturellen Wirklichkeit spiegelt. Auf der Seite der Theorie schließt dieses Ideal seinen vorgeblich unpolitischen Charakter ein; auf der Seite der Praxis jedoch erscheint ihm jede Politik willkommen, die dieses Ideal befördert.325 Dieses idealistische Paradigma hat vor dem Hintergrund synchroner und diachroner Elemente der Kontinuitätsfrage wichtige Konsequenzen. Erstens erlaubt die Einbettung der Theorie der Leibeserziehung in der Tradition des Deutschen Idealismus einen Vergleich mit denjenigen Geisteswissenschaften, die gleichfalls ihre Wurzeln bei Schiller, Fichte oder Jahn sehen. Diese Parallele umfaßt inhaltliche und methodische Grundfragen: die 316 Abgedruckt sind die Beiträge bei Krümmel/Jaeck, Sporthochschulen. Vgl. Alkemeyer, Körper, S. 305; Ueberhorst, Krümmel, S. 100-106. 317 Diem, Sport, S. 36 f.; Teichler, Weg, S. 43, 68, 73. 318 Diem, Carl: Der Läufer von Marathon. Leipzig o. J. [1941]. Neudruck in: Court, Jürgen (Hrsg.): Was ist Sport? Sportarten in der Literatur. Schorndorf 2001, S. 137-174. 319 Bernett, Hajo: Sportpublizistik im totalitären Staat 1933-1945. In: Stadion XI (1985), S. 263-295, hier: S. 280. Zu dieser Erzählung ferner Alkemeyer, Körper, S. 296; Teichler, Rolle, S. 73; ders.: Weg, S. 78. 320 Hausmann, „Ritterbusch“, S. 353-354, 382, 392. 321 Teichler, Weg, S. 69. 322 Dwertmann, Rolle, S. 27-34; Peiffer, Diem, S. 108-109; Teichler, Rolle, S. 63; ders., Weg, S. 43, 69-79. 323 Diem, Liselott, Leben, Bd. 2, S. 304, 306; Hausmann, Frank-Rutger: „Auch im Krieg schweigen die Musen nicht“. Die Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg. Göttingen 2001, S. 139, 248-249. 324 Ausführlich Court, Renaissance, S. 58-64. 325 Dieses Ideal hat Peiffer, Turnunterricht, S. 30, als Frage formuliert: „War Sport nicht gleich Sport, gleichwohl unter welchen politischen Vorzeichen er betrieben wurde?“ Zur anthropologischen Untermauerung jetzt Havemann, Nils: Fußball unterm Hakenkreuz. Der DFB zwischen Sport, Politik und Kommerz. Frankfurt/M./New York 2005, S. 26-29, dessen Rehabilitierung des individualhistorischen Zugangs and die „Skepsis gegenüber dem gesellschafts- und strukturgeschichtlichen Ansatz“ (ebd., S. 29) gekoppelt ist.
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Spannung zwischen nationalen und internationalen Zwecken, zwischen Idealismus und Positivismus, das dezisionistische Problem der Beziehung von Biologismus und Demokratie, die Frage nach dem ‚Wesen‘ eines wissenschaftlichen Gegenstands, aber auch die nach Schuld und Verantwortung.326 Zweitens erklärt dieses Theorem der ‚Eigenwelt-These‘ auch die Merkwürdigkeit, daß Diems Ideal der Olympischen Spiele einerseits mit der bewußt politischen Begrifflichkeit Baeumlers327 und andererseits mit der von Vertretern der heutigen Zeitgeschichte kompatibel sein kann. Beiden Seiten ist das Problem des Dezisionismus gemeinsam, das entsteht, wenn „Leerstellen“328 sowohl im überzeitlichen Ideal wie in der NS-Ideologie mit ihrer semantischen Umwertung einhergehen. Während jedoch Diems Rechtfertigung der Spiele aus dem Geiste Baeumlers das dezisionistische Paradoxon der Anpassung des Ideals verdeutlicht329, betrifft hingegen seine Vergleichbarkeit mit Eisenberg das Ideal selbst. Indem sie ein objektiv unveränderliches ‚Wesen‘ des Sports im subjektiven Erleben von Sportlern und Zuschauern verifiziert, übersieht sie, daß gerade dieses Erlebnis subjektiver Freiheit bewußter politischer Steuerung entsprungen sein kann.330 Ein überzeitlich begriffener Idealismus sensu Eisenberg fällt daher hinter die Positionen zurück, die zwar gleichfalls ein ästhetisches Prinzip der Freiheit annehmen, seine Verwirklichung jedoch an interne und externe Kriterien von Fairneß binden.331 6. Zusammenfassung Die Kapitel zur Sportwissenschaft im Nationalsozialismus hatten zum Zweck eine differenzierte Analyse des scheinbar paradoxen Befunds, sie könne als Prozeß einer gleichzeitigen akademischen Auf- und Abwertung verstanden werden. Seine Bedeutung kann nun vor der Folie einiger Leitfragen des vorliegenden Bandes verständlich gemacht werden. Erstens: Die ideologische Aufwertung der Leibeserziehung im ‚Dritten Reich‘, wie sie an der Einführung der täglichen Turnstunde deutlich wird, spiegelt sich in ihrer Wissenschaft. Sie ist einerseits durch die Ausdehnung des Pflichtsports auf alle Studenten, hohe Absolventenzahlen und die universitäre Anerkennung sportwissenschaftlicher Dissertationen sowie Habilitationen gekennzeichnet, andererseits aber auch dadurch, daß nicht nur die Theorie zugunsten der praktischen Ausbildung, sondern auch ihrem eigenen Begriff nach 326 Untersucht wurden – auf der Basis des Schiller-Wortes „Es ist der Geist, der sich den Körper baut“ – die Parallelen zwischen Sportwissenschaft und Romanistik bei Court, Interdisziplinäre Sportwissenschaft, S. 202-227; ders., Sportwissenschaft, S. 284-292. 327 Ausführlich zu den militaristischen, rassistischen und nationalistischen Passagen bei Diem Alkemeyer, Körper, S. 286-304; zum Vergleich mit Baeumler ebd., S. 295, 303. 328 Hausmann, „Strudel“, S. 664-665, siehe auch ebd., S. 684. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht untersucht Knobloch, Clemens: Sprachwissenschaft. In: Hausmann, Rolle, S. 305-327, am Beispiel des Begriffs der ‚Ganzheit‘; siehe dazu auch die Ausführungen oben zu Klemm sowie Court, Sportanthropometrie, S. 411 f. 329 Vgl. Lieber, Hans Joachim: Kulturkritik und Lebensphilosophie. Studien zur Deutschen Philosophie der Jahrhundertwende. Darmstadt 1974, S. 117: „Die gesellschaftliche Problematik eines solchen Dezisionismus besteht ja nicht so sehr in der Abstraktheit und Inhaltsleere seines Entscheidungsbegriffes, als vielmehr darin, daß der beschworene Aktivismus der Entscheidung, weil dieser das inhaltliche SichEinlassen mit der konkreten Wirklichkeit [...] sich versagt, von ebendieser Wirklichkeit selber ereilt wird, als Begleitphänomen an gesellschaftliche Inhalte und Bewegungen sich engagiert, die – wenn sie nur geschichtliche Entschiedenheit propagieren – als seine okkasionelle Bewährung und Vollendung fungieren können.“ Ebenso Alkemeyer, Körper, S. 239: „Indem die philosophische Form das Gesagte gegenüber dem politisch-ideologischen Kontext verallgemeinert, kann es desto subtiler zur politischen Sozialisierung beitragen.“ 330 Ausführlich Court, Renaissance, S. 64-67 ; Teichler, Eisenberg, S. 341-342. 331 Eine solche Position vertrat bereits 1913 in seiner Breslauer Dissertation Wilhelm Benary; vgl. Court/Janssen, Benary, S. 40, 49. Zur (uneinheitlichen) Rezeption Benarys bei Baeumler und im ‚Dritten Reich‘ Court/Nitsch, Benary, S. 65.
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reduziert wurde. Vor diesem Hintergrund ist die führende Rolle Baeumlers und Berliner Sportstudenten bei der Berliner Bücherverbrennung332 am 10. Mai 1933 nicht nur ein Symbol der Radikalisierung von Dozenten- und Studentenschaft333, sondern auch der Wissenschaft. Zum näheren Verständnis ist auf zwei Besonderheiten der Sportwissenschaft der Weimarer Republik aufmerksam zu machen. Zum einen gilt der Satz, daß in anderen Disziplinen334 der große Qualitätsverlust der Wissenschaft nach 1933 in hohem Maße mit dem Ausschluß der jüdischen Wissenschaftler aus dem deutschen Universitätsleben begründet werden kann, hier nicht, da es m. W. vor 1933 weder jüdische Direktoren noch Abteilungsleiter an den IfL oder der DHfL gab.335 Zum anderen existierte kein den anderen Fächern vergleichbares wissenschaftliches Selbstverständnis. Ursache hierfür waren sowohl die alleine aus zeitlichen Gründen fehlende akademische Tradition einer noch sehr jungen Wissenschaft als auch eine sich aus wissenschaftsinternen und -externen Quellen speisende Unterbestimmung ihrer theoretischen Funktion. Entscheidend gefördert wurde die universitäre Institutionalisierung einer Disziplin zwischen ‚universitas litterarum‘ und ‚neuer universitas‘ vielmehr durch parteiübergreifende, d. h. politische, pädagogische und wirtschaftliche Interessen, die dem nationalkonservativen Gedankengut der Frontkämpfer-Generation entsprangen, anhand einer internationalen Kulturform wissenschaftlich analysiert und einer ‚modernen‘, d. h. pluralistischen und interdisziplinären Konzeption eingefügt wurden.336 Das Spezifikum der Sportwissenschaft im Nationalsozialismus besteht also nicht in ihrer Übernahme und Radikalisierung jenes Gedankenguts (die läßt sich auch in anderen Wissenschaften nachweisen337) oder in einer neuen Gewichtung der Beziehung von Theorie und Praxis (die gab es bereits in der Sportwissenschaft und Staatswissenschaft der Weimarer Republik). Der in der Berliner Bücherverbrennung symbolisierte Paradigmenwechsel bedeutet hingegen, daß an die Stelle einer pluralistisch und interdisziplinär konzipierten Wissenschaft vom Sport der Weimarer Republik eine Auffassung tritt, in der die programmatische Abkehr von ‚modernen‘ Konzeptionen ausgerechnet an einem ‚modernen‘ Gegenstand exekutiert wird.338 Ein Versuch, die Sportwissenschaft nach 1933 in Ana332 Vgl. Bernett, Grundformen, S. 92. 333 Man vgl. die Ausführungen zur Göttinger Universität bei Wegeler, Altertumswissenschaft, S. 118-122, mit den Vorgängen an der DHfL bei Diem, Leben, S. 141-142. 334 In den Altertumswissenschaften wurden 25% der Hochschullehrer aus rassischen oder politischen Gründen entlassen, wobei dies oft zusammenfiel (vgl. Wegeler, Altertumswissenschaft, S. 193) und in der Romanistik 20% (vgl. Hausmann, „Strudel“, S. 223-224). 335 Eisenbergs, „English sports“, S. 403, Antwort auf die Frage, worin denn das spezifisch Nationalsozialistischen des Sports im Nationalsozialismus liege, nämlich „im Ausschluß der im deutschen Sport bis dahin so zahlreich vertretenen jüdischen Athleten“, läßt sich daher nicht auf seine Wissenschaft übertragen. Die von Diem genannten jüdischen Wissenschaftler der DHfL nahmen keine leitenden Stellungen ein, sondern arbeiteten als Assistent, Lehrbeauftragter oder Verwaltungsdirektor (Diem, Leben., S. 127129). Von den Direktoren der IfL wurde 1937 der Göttinger Bernhard Zimmermann wegen seiner jüdischen Ehefrau entlassen und emigrierte nach England (vgl. Buss, Göttinger IfL, S. 73). 336 Auch in den Altertumswissenschaften zeigen diese Kriterien nach Wegeler, Altertumswissenschaft, S. 61, einen „Modernisierungsschub“ an.– Eine Differenzierung des Begriffs der FrontkämpferGeneration nun bei Kruse, Wolfgang: Gibt es eine Weltkriegsgeneration? In: BIOS 18 (2005), S. 169173. 337 Siehe z. B. Wegeler, Altertumskunde, S. 115-122. 338 Vgl. Zhorzel, Kaiserreich, S. 25: „Das Paradoxe an der neuen Situation war, daß das humanistische Weltbild vergeistigte, körperlose Wesen herangezogen hatte, während der faschistische Staat in das andere Extrem verfallen und geistlose Muskelprotze ‚züchten‘ wollte.“ So hatte der Völkische Beobachter vom 13. August 1932 moniert, daß „unsere Sportführer“ nur Abstrakta wie „Geist, Technik und Taktik“ im Sinne hätten (zit. n. Bernett, Hajo: Der Deutsche Olympische Ausschuß – das nationale olympische Komitee zur Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 1928, 1932 und 1936. In: Sportwissenschaft 26 [1996], S. 137-156; hier: S. 145).- Interessant ist auch hier wieder der Vergleich mit der Romanistik, deren nationalsozialistischer Paradigmenwechsel die „Auswahl der Gegenstände, die methodische Fundierung ihrer Auslegung sowie die Nutzanwendung der gewonnenen Ergebnisse betraf“ (Hausmann, „Strudel“, S. 16). Bedenken wir, daß bspw. Curtius in Bonn nach 1933 Literatur höchstens bis zum
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logie zur „endgültigen Niederlage des Turnens im ‚Kulturkampfe‘ mit dem Sport“339 als eine sich „mit Macht durchsetzende kulturelle Moderne“340 zu deuten, scheitert an dieser Stelle daher nicht an ihrem Inhalt, sondern daran, daß an der DHfL vor 1933 noch gelehrte Fächer wie Sportsoziologie oder die empirisch-analytische Sportpsychologie aus der Theorie der Sportlehrerausbildung341 verschwanden und in der vom Reichssportführer betonten „Einheit“342 von Sportmedizin und -pädagogik ihr spannungsreiches, aber prinzipiell gleichberechtigtes Verhältnis vor 1933 durch die Dominanz der politischen Leibeserziehung mit ihrer nationalistischen und antidemokratischen Tradition zerstört wurde. Zweitens: Die deutsche Sportwissenschaft kann sowohl unter einer ideologischen als auch wissenschaftssoziologischen Perspektive dem Kontext der ‚Aktion Ritterbusch‘ zugeordnet werden. Obgleich sie – wie alle pädagogischen Fächer – nicht an den wissenschaftlichen Publikationen des durchaus ‚männerbündlerischen‘ Gemeinschaftswerks beteiligt war, leistete sie jedoch alle anderen „Formen von ‚Kriegseinsatz‘“343. ‚Modern‘ war sie dabei in ihrem wissenschaftsorganisatorischen Charakter als ‚Netzwerk‘344: Die Ausgliederung der Hochschulinstitute für die Leibesübungen aus der universitären Organisation und ihre Eingliederung in das Amt ‚K‘ beschnitt zwar in inhaltlicher und methodischer Hinsicht die für die Weiterentwicklung einer Querschnittswissenschaft so wichtige Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen, bot aber seinem Direktor Krümmel die Möglichkeit, seine ideologischen Vorstellungen und Machtansprüche im gesamten Bereich der Leibeserziehung durchzusetzen.345 Reichssportfeld und RfL als „Schöpfung des Dritten Reichs für die Olympischen Spiele und die deutschen Leibesübungen“346 drücken im Totenkult der Berliner Spiele 1936 oder im Namen ‚Langemarckhalle‘ für die am Olympiastadion gelegene Halle des Reichssportfelds nicht nur jene Ideologie der Frontkämpfer-Generation aus, sondern ebenso diese wissenschaftsgeschichtliche Sonderstellung der Sportwissenschaft. Sie ist begründet in der Ausdehnungsmöglichkeit ihres wissenschaftlichen Selbstverständnisses, dessen unmittelbarer Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg sich von der täglichen Turnstunde über den studentischen Pflichtsport und den Schulungslagern für Dozenten sämtlicher Fächer bis zur Propaganda der „‚Spiele unter dem Hakenkreuz‘“347 er-
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19. Jh. behandelte (siehe hier mit bewußtem Hinweis auf das Problem der ‚Modernität‘ Hausmann, Frank-Rutger: „Aus dem Reich der seelischen Hungersnot“. Briefe und Dokumente zur Fachgeschichte der Romanistik im Dritten Reich. Würzburg 1993, S. 52), sich in Sport und Sportwissenschaft jedoch das ´moderne` Prinzip der Leistung durchsetzte (vgl. Bernett, Zeitgeschichte, S. 96; Eisenberg, „English sports“, S. 401-402), bildet in der Tat der Gegenstand die wissenschaftsgeschichtliche differencia specifica. Eisenberg, „English sports“, S. 394. Ihre Begründung ist die Auflösung der Deutschen Turnerschaft (DT) am 30.9.1935. Ebd., S. 394. Der Sachverhalt, daß im Nationalsozialismus die „Rhetorik der Leibesübungen weitergeführt wurde und der Militarismus fortlebte“, führt sie zu dem Schluß, hier handle es sich um „zum Teil geradezu absurde Bemühungen der NS-Propaganda, die sich im Sport nun mit Macht durchsetzende kulturelle Moderne als Zeichen des ‚völkischen Aufbruchs‘ und als genuin nationalsozialistische Entwicklung zu verstehen und mit Sinn zu füllen.“ Janssen, Sportpsychologie, S. 18; Wildt, Grundlagen, S. 307; vgl. die Angaben zur theoretischen Ausbildung für die angehenden Lehrer der Leibesübungen bei Briese, Hochschulsportordnung, S. 27-29. Von Tschammer und Osten, Reichssportfeld, S. 99. Sein Vorwurf, in der Weimarer Zeit habe sich ein „wesensmäßiger Gegensatz“ zwischen dem natur- und geisteswissenschaftlichen Bilde der Leibesübung gezeigt, mit dem er die vehementen Angriffe vor allem Neuendorffs gegen Diem wiederholt, unterschlägt Diems pluralistisch-interdisziplinäre Konzeption, der stets ein pädagogisches Interesse zugrunde lag. Hausmann, „Ritterbusch“, S. 30-31; zum ‚Männerbündlerischen‘ ebd., S. 26-27. Ebd., S. 35-36. Vgl. Ueberhorst, Krümmel, S. 114-115. Vgl. den Titel des vom Reichsministerium des Innern herausgegebenen Bandes: Das Reichssportfeld. Eine Schöpfung des Dritten Reiches für die Olympischen Spiele und die Deutschen Leibesübungen. Berlin 1936. Krüger, Einführung, Teil 3, S. 134.
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streckt. Die Behauptung, daß durch die Theorie und Praxis der Sportwissenschaft eine „neue Form der Wissenschaft entstand“348, ist daher nicht übertrieben. Drittens: Eine differenzierte Analyse des Begriffs ‚moderner‘ Wissenschaft nach inhaltlichen, methodologischen und wissenschaftssoziologischen Merkmalen erlaubt eine Verbindung zwischen der ‚Eigenwelt-These‘ und der Frage, inwiefern die universitäre Institutionalisierung der Leibeserziehung im Nationalsozialismus mit dem Begriff ‚Sportwissenschaft‘ bezeichnet werden dürfe. Die Merkwürdigkeit, daß Eisenberg einerseits der Sportwissenschaft nach 1933 die Zugehörigkeit zur ‚Moderne‘ abspricht349, die sie gleichwohl dem Sport zugesteht, ist dabei lediglich ein weiterer Beleg für die Aporien der von ihr vertretenen These der ‚Eigenwelt‘. Eben weil Praxis und Theorie der Leibeserziehung nach 1933 sowohl diese Elemente von ‚Tradition‘ und ‚Moderne‘ kombinierten, ist ein theoretisches Konzept nötig, das jene Kontinuitäten völkischen und militaristischen Gedankenguts im Sportbegriff nicht – wie es vor der Folie der idealistischen Annahme eines ‚an sich‘ existierenden Sports geschieht – gleichsam ausklammert, sondern als semantische Umwertung zu verstehen erlaubt. Nehmen wir zunächst ein Beispiel aus dem Schulsport, so wurde zwar das typische Sportspiel ‚Fußball‘350 obligater Inhalt der Dritten Turnstunde, aber die Begründung dafür bezog sich eben nicht auf seinen freudvollen Selbstzweckcharakter, sondern seine soldatischen und volksgemeinschaftlichen Möglichkeiten.351 Eine semiotische Theorie, welche die Eigenwelt des Sports im bewußten Gegensatz zu ihren üblichen Deutungen als Ergebnis eines situationsspezifischen Konstruktionsprozesses der Indikatoren „‚Reflexibilität‘“ und „‚spezifisches Ziel‘“352 interpretiert, könnte im Sinne von Reinhart Kosellecks „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“353 daher von der Praxis der Dritten Schulstunde auf ihre institutionalisierte Theorie übertragen werden. Die gleichermaßen zu findenden Bezeichnungen wie ‚Reichsakademie für Leibesübungen‘ für ihre wichtigste Institution, „sportwissenschaftliche Arbeiten“354 für ihre Forschungsresultate oder der Begriff „Sport“355 als Zuschreibung zur kulturwissenschaftlichen Fächergruppe sind dann weniger ein Beleg für die Ankunft des Sports in der ‚kulturellen Moderne‘ als vielmehr ihre sprachliche und politische Verführbarkeit. Viertens: Die Suche nach dem Standort der Sportwissenschaft im Fächerkanon der Kulturwissenschaften schließt die – durch die Rehabilitierung individualhistorischer Ansätze wieder in den Blickpunkt gerückte – moralische Frage nach individueller Schuld und Verantwortung ein. Dabei ist vorauszuschicken, daß die angeführten wissenschafts- und institutionengeschichtlichen Besonderheiten der Sportwissenschaft nur vor dem Hintergrund ihrer gemeinsamen Merkmale verstanden werden können. Sie erstrecken sich von der Umwertung gemeinsamer Begriffe wie ‚Ganzheit‘, ‚Leben‘ oder ‚Idealismus‘ bis zur Markierbarkeit bestimmter Phasen des Einflusses von Politik auf Wissenschaft und ihre Repräsentanten. Obgleich Analysen des Politisierungsgrades einer Wissenschaft mit großen inhaltli348 Siehe Hausmann, „Strudel“, S. 666: „Die von den Jüngeren durchlaufene paramilitärische Ausbildung wie die ideologische Indoktrinierung, die zu den neuen Organisationsformen hinzugehörten, wurden unlösbar mit der Wissenschaft im eigentlichen und überkommenen Sinne verknüpft, so daß eine neue Form der Wissenschaft entstand“. 349 Vgl. das Zitat oben (Anm. 211) aus Eisenberg, „English sports“, S. 366. 350 Siehe Eisenbergs explizite Zuschreibung des „Eigenweltcharakters“ auf den Fußball der vierziger bis sechziger Jahre des 20. Jhs. (Eisenberg, Christiane: Einführung. In: Dies. [Hrsg.], Fußball, soccer, calcio. Ein englischer Sport auf seinem Weg um die Welt. München 1997, S. 7-21; hier: S. 18). 351 Vgl. Peiffer, Turnunterricht, S. 98-100; ders., Richtlinien, S. 251. 352 Franke, Elk: Theorie und Bedeutung sportlicher Handlungen. Schorndorf 1978. 353 Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 19953, S. 125. 354 Aus einem Schreiben des ‚Amtes für körperliche Ertüchtigung‘ an der Universität Hamburg v. 29.4.37, zit. n. Joho, Knoll, S. 277. 355 Jürgens, Ergebnisse, S. 496.
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chen356 und methodischen Problemen behaftet sind357, läßt eine vergleichende Analyse des Verhaltens der nichtentlassenen Geisteswissenschaftler in Deutschland den Schluß auf zwei gewissermaßen idealtypische Handlungsmuster zu: die Flucht in die Sphäre vermeintlich ‚reiner‘ Wissenschaft358 oder die Anpassung, wobei hier wiederum eine „weiche“ von einer „harten“359 Form abzugrenzen ist. Versuchen wir eine Übertragung dieses Vorschlags auf die Sportwissenschaft, ist allerdings zu bedenken, daß beispielsweise in der Romanistik die ‚Gleichschaltung‘ der Wissenschaft auch dadurch erleichtert wurde, daß selbst jüdische oder demokratische Gelehrte wie Küchler, Spitzer und Voßler in den deutschnationalen Ton der Ablehnung des Versailler Vertrags einfielen.360 Für eine Wissenschaft wie die Theorie der Leibeserziehung, in der es keine jüdischen Fachvertreter auf einflußreichen Positionen gab, deutschnationale Positionen dominierten und die Geringschätzung von Wissenschaft als theoretische Reflexion den traditionellen Kern ihres wissenschaftlichen Begriffs bildete, soll daher abschließend die Arbeitshypothese formuliert werden, daß in ihr quantitative, qualitative und temporale Varianten jenes allgemeinen Handlungsmusters zu verzeichnen sind: Das quantitative Kriterium wäre durch eine höhere Zahl ‚harter‘ anpasserischer Handlungen, das der Qualität durch eine besonders große Wirksamkeit bei der Erfüllung nationalsozialistischer Ziele und die Zeitlichkeit durch die Schnelligkeit ihrer Anpassung zu belegen. Vertiefende Studien anhand dieser Kriterien könnten sich auf einzelne Universitätsinstitute361, die Vermutung, daß sich der Grad der Politisierung an der wissenschaftlichen Qualität der jeweiligen Arbeit zeige362, den Versuch, den in diesem Beitrag behaupteten Zusammenhang zwischen Sportwissenschaft und ‚Aktion Ritterbusch‘ auf ein systematisches Fundament dieser Kriterien zu stellen, oder auf die Frage beziehen, in welcher Art und Weise sich Enttäuschungen über das nationalsozialistische Regime in der Sportwissenschaft äußerten. Denken wir nur an den Freitod Otto Klemms oder die Formen der Kritik bei Carl Krümmel und Carl Diem, die beide ideell und institutionell in das erweiterte Umfeld der ‚Aktion Ritterbusch‘ einzureihen sind, dann dürfte an dieser Stelle der wahre Probierstein jener Arbeitshypothese liegen. 356 So betont Wegeler, Altertumskunde, S. 117, daß in Göttingen die „Gruppe der Lehrenden nicht unpolitisch war“, während Hausmann, „Strudel“, S. 11, über die Romanisten schreibt, daß die meisten politisch „wenig engagiert“ waren. Vor diesem Hintergrund ist Wegelers Auffassung, ebd., S. 14, hervorzuheben, daß Fachgeschichte individuelles Verhalten und die jeweiligen örtlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen habe. Möglicherweise ist auch schärfer eine genuin politische Haltung der Dozenten von ihrer Auffassung zu unterscheiden, daß Wissenschaft unpolitisch zu sein habe (vgl. Hausmann, „Strudel“, S. 13). 357 Vgl. z. B. die Problematik der Beziehung von offiziellen Quellen und Interviews mit Zeitzeugen bei Peiffer, Lorenz: Das Interview? Welche Bedeutung hat diese Methode der empirischen Sozialforschung für die sporthistorische Forschung im Bereich der Zeitgeschichte? In: Bernett/John, Schulsport, S. 94115. – In diese Problematik gehören die z. T. widersprüchlichen Aussagen zum ideologischen ´Erfolg` der nationalsozialistischen Ausleselehrgänge für die Dritte Turnstunde (vgl. Peiffer, Turnunterricht, S. 61 f.) oder des studentischen Pflichtsports (vgl. Gissel, Burschenturnen, S. 220; Zhorzel, Kaiserreich, S. 35). Während in bezug auf die Lagerschulung der Dozenten nach Hausmann, „Strudel“, S. 17, ihr „Gleichschaltungseffekt nicht unterschätzt werden darf“, betont Wegeler, Altertumskunde, S. 223, daß es nach Kriegsbeginn zu einer Einschränkung der ideologischen Schulung kam. Zum einen protestierten Professoren gegen die dadurch erfolgte Beeinträchtigung des Lehrbetriebs, und zum anderen umgingen Studenten sie. Belege sind einmal allgemein sinkende Studierendenzahlen und zum anderen der Anstieg in den weniger ideologieverdächtigen Fächern wie Medizin oder Technik. 358 Siehe hier Anm. 304. 359 Für die Romanistik Hausmann, „Strudel“, S. 15. Das paßt zu Wegelers, Altertumskunde, S. 14, Auffassung, daß es keine „durchgehend aktive Anpassung, sondern vielfältige Formen der Unterstützung des Regimes“ gegeben habe. 360 Vgl. Hausmann, „Strudel“, S. 13. 361 Eine erste Musterung der drei Marburger Direktoren Jaeck, Lindner und Möckelmann und ihrer wissenschaftlichen Arbeit gemäß dieser Kriterien (vgl. Zhorzel, Kaiserreich, S. 40-47) läßt auf die Tauglichkeit dieser Arbeitshypothese schließen. 362 Joch, Leibeserziehung S. 42; für die Romanistik legt dies Hausmann, „Strudel“, S. 667, nahe.
PSYCHOLOGIE1 MITCHELL G. ASH
Einleitung In der neueren Forschung zur Geschichte der Geistes- und Kulturwissenschaften im Nationalsozialismus zeichnet sich eine Abkehr von einer alleinigen Konzentration auf die Suche nach ideologischen „Affinitäten“ der jeweiligen Disziplinen und ihrer Vertreter mit Elementen der NS-Ideologie hin zu einer genaueren Untersuchung des – u. a. auch ideologisch motivierten – praktischen Einsatzes dieser Wissenschaften für konkrete politische Projekte, insbesondere im Krieg ab. Es ist ein Verdienst der Arbeiten von Ulfried Geuter zur Professionalisierung der Psychologie im Nationalsozialismus gewesen, diese Trendwende bereits in den 1980er Jahren mit eingeleitet zu haben; dabei hat er die immer noch gängige Vorstellung einer grundsätzlichen Trennung zwischen NS-Ideologieproduktion einerseits und dem funktionalen Einsatz vermeintlich ‚wertneutraler’ Wissenschaft bereits zu jener Zeit in Frage gestellt.2 Obwohl es an ideologischen Angeboten führender Psychologen an das NSRegime wahrlich nicht gefehlt hat – von diesen wird weiter unten die Rede sein – zeigt Geuter anhand des massiven Engagements deutschsprachiger Psychologen im Rahmen der Offiziersauslese der Wehrmacht, dass es im Falle der Wehrmachtpsychologie keiner solchen NS-Ideologisierung bedürfte, um einem der beiden Hauptziele der NS-Herrschaft, der Eroberung von ‚Lebensraum‘, zur teilweisen Verwirklichung zu helfen.3 Im folgenden Beitrag sollen die von Geuter und anderen erbrachten Forschungsergebnisse ergänzt und aktualisiert werden. Dabei werden auch Fälle besprochen, in denen es um eine Ideologisierung der Forschungs- sowie der Berufspraxis ging. Denn auch hier zeigt es sich, dass der Versuch, dieses Thema mit einer Suche nach ideologischen „Affinitäten“ anhand mehr oder weniger leicht auszusuchender Gesinnungsäußerungen abzuhandeln, entschieden zu kurz greift. Zwar mag es durchaus sein, dass ideologische Überzeugung bei vielen Geisteswissenschaftlern eine motivierende Rolle im „Kriegseinsatz“ gespielt hat, doch auch dann kommt es doch eher auf die Praxis selbst und deren Wandlungen an, will man das ganze Ausmaß dessen begreifen, in dem Wissenschaft und nationalsozialistische Politik als Ressourcen füreinander fungieren konnten.4 Konkret sollen im Folgenden drei Thesen aufgestellt und Belege für ihre Plausibilität erbracht werden: (1) Nach der Etablierung der experimentellen Psychologie als Teilfach der Philosophie vor 1914 kam es in den 1920er Jahren zu einer Gegenbewegung sowohl innerhalb als auch außerhalb der akademischen Fachrichtung, die zum Teil in einer Kritik an den Grenzen der damals verwendeten naturwissenschaftlichen Methodiken begründet lag, aber zum gewichtigen Teil auch als Reflex der kulturellen Krisensituation der Weimarer Zeit – und damit 1 2 3 4
Teile dieses Beitrags sind entnommen aus Mitchell G. Ash, Psychologie. In: Frank-Rutger Hausmann (Hrsg.), Die Rolle der Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. München 2002, 229-264. Ulfried Geuter, Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus, umgearb. Aufl. Frankfurt a. M. 1988. Erstmals erschienen 1984. Geuter, Die Professionalisierung, Kap. V. Vgl. hierzu im Allgemeinen Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander. In: Rüdiger vom Bruch und Brigitte Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik – Bestandaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2002, 32-51.
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auch politisch – deutbar ist. In diesem Kontext befanden sich kulturkonservative/deutschnationale Tendenzen bereits Anfang der 1930er Jahre im Aufwind, auch wenn sie im Fach noch nicht vorherrschend waren. (2) Im Nationalsozialismus kam es dann zu einer Wiederkehr der Psychologie als Kulturwissenschaft, wenngleich in sehr merkwürdiger Gestalt, nämlich (a) als Fortsetzung bzw. Neukonstruktion früherer Ansätze entlang von Ideologemen wie „Rasse“, „Wille“, „Ganzheit“ und „Gestalt“ auf Kosten der Naturwissenschaftlichkeit einerseits, und (b) in Form einer in der Praxis durchaus brauchbaren, durch geschulte Intuition begründeten Verhaltenshermeneutik andererseits. (3) Dabei kam Geisteswissen im Sinne einer Hermeneutik der Menschenkenntnis und des menschlichen Handelns als praktisches und damit bewertendes Selektionswissen auf mehreren Wegen zum Einsatz, während in anderen Anwendungskontexten Methoden, die sich an diejenigen der Ingenieurwissenschaften orientierten, sich unter dem Vorzeichen „Psychotechnik“ ebenfalls bewährten. Im ersten Abschnitt des Beitrags wird die Situation der Psychologie in Deutschland vor 1933 kurz skizziert und dabei auch auf die Frage eingegangen, wie einzelne Vertreter des Faches dem Nationalsozialismus in den 20er Jahren begegnet waren. In einem zweiten Schritt werden dann der tiefgreifende personelle Bruch nach 1933 bzw. in Österreich nach 1938 und dessen Folgen für die Verhältnisse an den psychologischen Instituten sowie für bestehende Forschungsprogramme kurz umrissen. Im dritten Abschnitt werden einige Versuche, die psychologische Forschungspraxis nach 1933 zu ideologisieren, exemplarisch besprochen; dabei soll nachgewiesen werden, wie sich ideologische und technologische/ technokratische Angebote an das Regime verschränken konnten. Im vierten Abschnitt wird die Durchsetzung einer intuitiven, im oben angedeuteten Sinne hermeneutischen Berufspraxis in der Wehrmachtspsychologie sowie im Projekt der sogenannten ‚Umvolkung‘ in den besetzten Ostgebieten aufgezeigt und die Komponente dieser Praxis näher besprochen. Im fünften Abschnitt werden die bekanntesten Beispiele von Widerstand und Verfolgung in der Psychologie kurz besprochen, und im letzten Abschnitt folgen einige Bemerkungen zur Frage der personellen und inhaltlichen Kontinuitäten nach 1945. Die akademische Psychologie vom Ende des I. Weltkriegs bis 1933 An dieser Stelle ist eine Vorbemerkung zum Gegenstand des Beitrags nötig. Als „Psychologie“ mag heute im populären Diskurs gar manches gelten, und dies war auch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts der Fall; doch war zur betreffenden Zeit sehr wenig von alledem, was als psychologisches Denken und Forschen behandelt werden konnte, akademisch institutionalisiert. Kurz gefasst: das Wissenschafts-„Gebiet“ der Psychologie und ihre Stellung als akademisches Fach deckten sich im deutschsprachigen Raum nicht.5 Akademisch am stärksten vertreten war wohl, wie heute auch, das Spezialgebiet der Medizin namens Psychiatrie; die Psychoanalyse hingegen war in Kreisen des kulturellen Avantgarde präsent, ihre Pflege als Wissenschaft fand jedoch gänzlich an eigenen Instituten außerhalb der Universität statt. Die folgenden Ausführungen befassen sich weder mit dem ersten noch mit dem zweiten Gebiet, sondern mit einer allgemeinen Psychologie, die an mehreren deutschsprachigen Universitäten zu jener Zeit eine Art Zwitterdasein errungen hatte.6 Hin5 6
Für diese Unterscheidung siehe Horst Gundlach, Reine Psychologie, Angewandte Psychologie und die Institutionalisierung der Psychologie, Zeitschrift für Psychologie, 212 (2004), 183-199. Vgl. zum Folgenden ausführlicher Mitchell G. Ash, Psychologie in Deutschland um 1900: Reflexiver Diskurs des Bildungsbürgertums, Teilgebiet der Philosophie, akademische Disziplin. In: Christoph König u. a. (Hrsg.), Konkurrenten in der Fakultät. Kulturwissenschaften um 1900. Frankfurt a. M. 1999,
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sichtlich der formalen Stellung im Fächerkanon war die akademische Psychologie, wenn überhaupt, als Teilfach der Philosophie etabliert. Genauer formuliert: ihre führenden Vertreter hatten meist Lehrstühle der Philosophie bzw. der Philosophie und Psychologie oder gar der Philosophie, Psychologie und Pädagogik inne und leiteten an diesen angeschlossenen psychologischen Forschungsinstitute; als philosophisches Prüfungsfach für das Lehramt war die Psychologie bereits seit dem 19. Jahrhundert im Examenswesen verankert. Hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Inhalte und Methoden war die akademische Psychologie zu dieser Zeit weitestgehend, wenngleich nicht zur Gänze naturwissenschaftlich ausgerichtet. Ob die Psychologie als Natur- oder als Geisteswissenschaft gelten sollte, war bereits seit dem späten 19. Jahrhundert heftig umstritten. Institutionell blieb die akademische Psychologie in der Weimarer Zeit an den Universitäten meistens der Philosophie zugeordnet, obwohl adaptierten Methodiken aus der psychologischen Grundlagenforschung unter dem Vorzeichen „Psychotechnik“ in verschiedenen praktischen Kontexten im I. Weltkrieg – z.B. in der Personalauslese spezialisierter Truppeneinheiten wie Kraftfahrer und Fliegerbeobachter wie auch in der Entwicklung von Instrumenten zur Bestimmung der Richtung einfallender Artilleriegeschosse – zum Einsatz gekommen waren.7 Unter ausdrücklichem Hinweis auf diesen Einsatz forderte der Göttinger Professor G. E. Müller als Vorsitzende der „Gesellschaft für experimentelle Psychologie“ in einem Rundschreiben im Jahre 1921 die Einrichtung eigener Lehrstühle für das Fach, allerdings ohne sichtbaren Erfolg; die Psychotechnik wurde jedoch an einigen Technischen Hochschulen vertreten.8 Inhaltlich wurde die Psychologie von vielen, wenn nicht allen, ihrer führenden Vertreter nach wie vor als eine mit naturwissenschaftlichen Mitteln arbeitende Grundlegungswissenschaft der Philosophie begriffen. So wundert es nicht, wenn sich die zu jener Zeit führenden Richtungen der akademischen Psychologie um die damals verbreiteten Kategorien bildungsbürgerlicher Subjektivität und Sinnstiftung, wie zum Beispiel „Ganzheit“, „Gestalt“, „Erlebnis“, „Sinn“ oder „Charakter“, organisierten. Immerhin gehörten die meisten Psychologen wie Philosophen dem Bildungsbürgertum an; und die Erfahrungen der unmittelbaren Nachkriegszeit verstärkten den Wunsch vieler Bildungsbürger nach einem festen Halt, den Peter Gay als „Hunger nach Ganzheit“ beschrieben hat.9 In der deutschsprachigen Psychologie gab es viele Versuche, diesen Hunger zu stillen und zugleich den Nachweis zu erbringen, dass in diesem Fach einer Materialisierung des Geistes keinesfalls das Wort geredet würde.10 Am stärksten international beachtet wurde
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78-93. Eine etwas andere Sicht vertritt Horst Gundlach, Die Lage der Psychologie um 1900. Psychologische Rundschau, 55 (S1) (2004), 2-11. Für die Situation anderer psychologischer Disziplinen und Berufe vor 1933 und im Nationalsozialismus siehe z.B. Geoffrey Cocks, Psychotherapy in the Third Reich: The Göring Institute, 2. Aufl. New York 1999; Regine Lockot, Erinnern und Durcharbeiten: Zur Geschichte der Psychoanalyse und Psychotherapie im Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 1985. Durch die Einschränkung auf die Fachgeschichte werden kulturwissenschaftliche Anwendungen psychologischer Kategorien und Ansätze (wie z.B. in der Psychologie der Kunst oder der Musik) nicht berücksichtigt. Horst Gundlach, Faktor Mensch im Krieg: Der Eintritt der Psychotechnik in den Krieg. Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 19 (1996), 131-143. Geuter, Die Professionalisierung, S. 49 f. Peter Gay, Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918-1933. Frankfurt a. M. 1970, Kap. 4. Zum Kontext vgl. Fritz K. Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarinen. Stuttgart 1983; Konrad H. Jarausch, Die Krise des deutschen Bildungsbürgertums im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in Jürgen Kocka (Hrsg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil IV. Politischer Einfluss und gesellschaftliche Formation. Stuttgart 1989, 180-205; Wolfgang Bialas, Intellektuellengeschichtliche Facetten der Weimarer Republik, in: Ders. und Georg Iggers (Hrsg.), Intellektuelle in der Weimarer Republik. Frankfurt a.M. 1996, 13-30. Vgl. hierzu u. a. Eckart Scheerer, Organische Weltanschauung und Ganzheitspsychologie (S. 15-54) und Ulfried Geuter, Das Ganze und die Gemeinschaft. Wissenschaftliches und politisches Denken in
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der Versuch der so genannten „Berliner Schule“ der Gestaltpsychologie, Begriffen wie „Ganzheit“, „Gestalt“ und sogar auch „Sinn“ einen naturwissenschaftlich nachvollziehbaren Inhalt zu geben. Wie der Gestaltpsychologe Max Wertheimer es formulierte, ging es darum, ob naturwissenschaftliches Vorgehen unweigerlich zu einer atomisierenden Zerstückelung der Natur oder des Bewußtseins führen müsse, oder ob es nicht vielmehr möglich sei, von den phänomenologisch vorgefundenen „natürlichen“ Einheiten des menschlichen Erlebens und des tierischen Verhaltens auszugehen und auf dieser Basis eine naturwissenschaftliche Weltanschauung zu begründen.11 So betonten die Gestaltpsychologen die immanente Strukturiertheit des Anschaulichen, d.h. die Möglichkeit einer sich selbst tragenden, sinnhaften Struktur in den Phänomenen selbst.12 Das klingt wie eine Wiederkehr der deutschen Romantik, war aber durchaus mit Laborforschung vereinbar und wurde zur damaligen Zeit auch international als innovativer Ansatz anerkannt. Gegen eine einfache Darstellung dieses Strebens nach Ganzheit, Sinn, Gestalt und dergleichen allein als Reflex der krisenhaften Situation des Bildungsbürgertums in der Weimarer Zeit spricht allerdings die Hochkonjunktur verschiedener technokratisch orientierter Modernismen während der relativen Stabilität der mittleren 1920er Jahre. Schon früher, aber vor allem zu jener Zeit kam ein technokratischer Diskurs zur Geltung, die sich beispielsweise in der Eugenik, im Fordismus oder in den Rationalisierungsdebatten, sowie in populären Phantasien einer Fahrt zum Mond und der damit einhergehenden Raketen-Mode der 20er Jahre offenbarten.13 Zur selben Zeit hatte die Psychotechnik nach ihrem Einsatz im Krieg im Kontext der Rationalisierungsbestrebungen in der Industrie eine zweite Hochkonjunktur. In dieser strebte man objektivierende Normierungen intentional gesteuerter Handlungen – wie zum Beispiel der Handhabung von Werkzeugmaschinen – an, um den „Faktor Mensch“ im Betrieb zur Optimierung der Produktion entweder durch eine Eignungsauslese von Arbeitern oder eine Umgestaltung des Arbeitsplatzes möglichst effizient zu nutzen. Man bediente sich dabei Slogans wie „der richtiger Mensch am richtigen Ort“, die sich in den Rationalisierungsdiskurs der Zeit mühelos einfügten.14 Allerdings sprach man u.a. mangels objektiver Nachweise der versprochenen Produktivitätserhöhungen spätestens bis zum Ende der 1920er Jahre, und zwar schon vor dem Beginn der Weltwirtschaftskrise, zunehmend von einer „Krise der Psychotechnik“.15 Neben dieser Entwicklung stellten führende Vertreter der Kinder- und Jugendpsychologie wie William Stern und Martha Muchow in Hamburg, Wilhelm Peters in Jena und Charlotte Bühler in Wien ihre Arbeit in den Dienst der Schul- und Sozialreformprojekte der 1920er Jahre und trugen damit auf ihre Weise zum technokratischen Aspekt der Weimarer und Wiener Moderne bei. Dabei verließen sich Peters und Stern auf eine teilweise quantita-
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der Ganzheitspsychologie Felix Kruegers (S. 55-88), beide in Carl-Friedrich Graumann (Hrsg.), Psychologie im Nationalsozialismus. Berlin/Heidelberg 1985. Max Wertheimer, Über Gestalttheorie. Erlangen 1925. Siehe hierzu ausführlicher Mitchell G. Ash, Gestalt Psychology in German Culture 1890-1967. Holism and the Quest for Objectivity. New York 1995, insbes. Kap. 17; Anne Harrington, Die Suche nach Ganzheit: die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren vom Kaiserreich bis zur NewAge-Bewegung. Reinbek bei Hamburg 2002. Mary Nolan, Visions of Modernity: American Business and the Modernization of Germany. New York, 1994; Peter S. Fischer, Fantasy and Politics: Visions of the Future in the Weimar Republic. Madison 1991; Michael Neufeld, Weimar Culture and Futuristic Technology: The Rocketry and Spaceflight Fad in Germany, 1923-1933, Technology and Culture, 31 (1990), 725-752. Gabriele Wohlauf, Moderne Zeiten - Normierung von Mensch und Maschine. In: Horst Gundlach (Hrsg.), Untersuchungen zur Geschichte der Psychologie und der Psychotechnik. München/Wien, 1996, 147-164. Vgl. Siegfried Jaeger, Zur Herausbildung von Praxisfeldern der Psychologie bis 1933. In: Ash und Geuter (Hrsg.), Geschichte der deutschen Psychologie, 83-112; Anson Rabinbach, Motor Mensch, Wien 2004, insbes. Kap. 7 u. 10. Alexandre Métraux, Die angewandte Psychologie vor und nach 1933 in Deutschland. In: Graumann (Hrsg.), Psychologie im Nationalsozialismus, 221-262.
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tiv-statistische Psychologie individueller Unterschiede, während in Wien die Suche nach empirisch festlegbaren Normen psychischer Entwicklung mittels der von Bühler und Hildegard Hetzer entwickelten „Kleinkindertests“ neben eher geisteswissenschaftlichen Methoden wie die vergleichende Lektüre von Tagebüchern Bestand hatte.16 Als Karl Bühler das Stichwort einer „Krise der Psychologie“ im Jahre 1926 kreierte, meinte er damit allerdings nicht die Situation der Psychotechnik oder der Kinder- und Jugendpsychologie, sondern die scheinbar nicht enden wollende Uneinigkeit der Fachvertreter über den Gegenstand, Methode und Zielrichtung dieser neuen Wissenschaft.17 Die Wurzeln dieser Wissenschaftskrise reichten bis zur Jahrhundertwende und davor zurück;18 Anfang der 20er Jahre lebte die Kontroverse in einer Reihe von Schriften über die „Eigenart des Geistigen“ und dergleichen mehr wieder auf.19 Allen diesen Kritiken gemeinsam war die Forderung nach einer Psychologie mit statt einer vermeintlich „positivistischen“ Psychologie ohne Seele. Zur Lösung dieser Aufgabe wurden die oben schon genannten Reizworte wie „Ganzheit“, „organisches Denken“ und „Sinn“ mehrfach bemüht. Allerdings dienten sie in diesem Zusammenhang dazu, die jeweiligen Autoren als gehörige Vertreter der geisteswissenschaftlichen Richtung und ihre Theorieangebote gleichzeitig als Antworten auf die Krise im Selbstverständnis des Bildungsbürgertums zu positionieren. Wichtig in diesem Zusammenhang ist jedoch der Hinweis darauf, dass auch die Befürworter einer „geisteswissenschaftlichen“ Psychologie ihrerseits typologische Klassifizierungssysteme und systematische Forschungsprogramme entwarfen. So unterschied Karl Jaspers in seiner Psychologie der Weltanschauungen idealtypisch zwischen aktiven, kontemplativen, mystischen und „enthusiastischen“ Welteinstellungen, sowie zwischen sensorisch-spatiellen, seelisch-kulturellen und metaphysischen Weltbildern.20 Die prominenteste dieser Stellungnahmen in der Weimarer Zeit war die von Eduard Spranger, der die Bezeichnung „geisteswissenschaftliche Psychologie“ auch prägte.21 Er bezeichnete sich selbst dabei als geistiger Nachfolger Wilhelm Diltheys. Sein gelegentlich auch „Strukturpsychologie“ genannte Ansatz war ebenso typologisch, wie der von Jaspers, er bezog sich jedoch auf Persönlichkeits- statt Weltanschauungstypen. Die Persönlichkeitstheorie Sprangers beruhte auf ein System von sechs idealtypisch gedachten Persönlichkeiten, denen er jeweils eine spezifische „Lebensform“ zuordnete und die seiner Meinung nach in verschiedenen historischen Epochen stärker vorhanden seien. So konnten Individuen als Mischungen vom theoretischen, ökonomischen, ästhetischen, sozialen, religiösen oder Machttypus hervortreten, mit einem Typus als Dominante über die anderen. Im Mittelpunkt seines Ansatzes standen also „geistige Totalstrukturen, nicht die der primitiven Wahrnehmungs- und Ver-
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Weitere Auskunft hierzu geben Monika Schubeis, „Und das psychologische Laboratorium muss der Ausgangspunkt pädagogischer Arbeiten werden!“ Zur Institutionalisierungsgeschichte der Psychologie 1890-1933. Frankfurt a. M. 1990; Helmut Moser, Zur Entwicklung der akademischen Psychologie in Hamburg bis 1945. Eine Kontrast-Skizze als Würdigung des vergessenen Erbes von William Stern. In: Eckart Krause, Ludwig Huber und Holger Fischer (Hrsg.), Hochschulalltag im „Dritten Reich“. Die Hamburger Universität 1933-1945. Berlin/Hamburg 1991, Teil II, 483-518; Gerhard Benetka, Psychologie in Wien. Sozial- und Theoriegeschichte des Wiener Psychologischen Instituts 1922-1938. Wien 1995; Georg Eckardt, Der schwere Weg der Institutionalisierung: Wilhelm Peters. In: Ders. (Hrsg.), Psychologie vor Ort – ein Rückblick auf vier Jahrhunderte. Die Entwicklung der Psychologie in Jena vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2003, 337-402. Karl Bühler, Die Krise der Psychologie. Jena 1927. Erstmals als Aufsatz in Kant-Studien 1926 erschienen. William Stern, Die psychologische Arbeit des 19. Jahrhunderts, Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 2 (1900), 329-352 und 413-436. Vgl. Ash, Psychologie in Deutschland um 1900. Theodor Erismann, Die Eigenart des Geistigen, 2. Aufl. Leipzig 1924. Vgl. z.B. Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, 3. Aufl. Berlin 1925. Eduard Spranger, Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Theorie der Persönlichkeit, 3. Aufl. Halle, 1922.
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haltensstrukturen“ der Experimentalpsychologen.22 Nur auf der Grundlage eines solchen Systems von Totalstrukturen könnte seiner Meinung nach eine pädagogische Theorie entwickelt werden, die der deutschen Jugend zu den idealistischen Werthaltungen von früheren Zeiten zurückbringen würde. Wichtig bei diesem und anderen Entwürfen einer geisteswissenschaftlichen Psychologie in der Weimarer Zeit, aber auch richtungsweisend für die Zeit danach, war die immer wieder hervor kehrende Behauptung der Vorzüge einer systematisch geschulten Intuition oder Wesensschau gegenüber der vermeintlich mechanischen Anwendung experimenteller Methodiken. Im Kontrast zum vermeintlich deterministisch-kausalen Denken der Experimentalisten betonte z.B. Jaspers, dass der Wahrheitsgehalt seiner Typologie der Weltanschauungen nur über dessen „intuitive Evidenz“ beurteilt werden könne; gemeint war weder rationales Argumentieren noch historische Dokumentation, sondern konzeptionelle Klarheit und vor allem die Fähigkeit der Leser, das Gemeinte mit unmittelbarer Evidenz nachvollziehen zu können.23 Diese Betonung des Intuitiven verband Ansätze wie der von Jaspers mit den ebenfalls aus den Geisteswissenschaften kommenden, explizit rassisch orientierten Typologien eines Ludwig Ferdinand Clauß und Hans F. K. Günther, auch wenn sie ansonsten nichts miteinander zu tun haben wollten. Explizit geisteswissenschaftlich gab sich die „Rassenseelenlehre“ von Clauß. Ein Schüler Edmund Husserls, gab er jedenfalls in den 1920er Jahren noch an, „phänomenologisch“ vorzugehen und eine Art „Wesenschau“ der Rassenseele anzustreben.24 Er meinte damit ein analoges Vorgehen zu dem der Kunsthistoriker, die sich in der Lage wähnen, den charakteristischen Stil einer Epoche anhand ihrer Kunstwerke oder Bauten direkt ablesen zu können. So sollte das Wesen des nordischen ebenso wie das des von Clauß so genannten „wüstenmenschlichen“ oder „ursemitischen“ Stils anhand von Blicken und Körperhaltungen unmittelbar abzulesen sein. Dabei deutete Clauß die in der damaligen Kunst- und Literaturwissenschaft gebräuchliche Kategorie der Stilechtheit als Artgemäßheit um. Sein Ansatz war von vornherein auf die Festlegung des Eigenen im möglichst klaren Unterschied zum Anderen ausgerichtet; aber nicht nur den nordischen war vom „wüstenländischen“ Menschen, sondern beide waren vom Judentum als Mischwesen zu unterscheiden. In der Weimarer Zeit wollte Clauß allerdings betonen, dass er nur von Wesens- und nicht von Wertunterschieden sprach.25 Weitaus stärker verbreitet als die Lehre von Clauß war die „Rassenkunde“ Hans F. K. Günthers.26 Nach seiner „Methode“ sollten verschiedene Untergruppen des deutschen Volkes, die er mit klingenden Namen wie „nordisch“, „ostisch“, „westisch“ etc. belegte, mithilfe bestimmter typologischer „rassischer“ Merkmalen identifizierbar und systematisch klassifizierbar gemacht werden. Von der Ausbildung her war Günther Philologe und kein Psychologe, doch das psychologische Moment seiner „Methodik“ ist kaum zu übersehen. Auch hier wurde eine Art geschulte Intuition bevorzugt; bemerkenswert dabei war der gezielte Einsatz von Photographien als Demonstrationsinstanzen der jeweiligen, vermeintlich evidenten Wesensmerkmale. Bereits 1931 wurde Günther durch eine Intervention des damaligen Kultusministers in Thüringen Wilhelm Frick (NSDAP) zum Professor für Anthropologie – wohlgemerkt aber nicht für Psychologie! – an der Universität Jena berufen. Dort 22 23 24 25 26
Eduard Spranger, Die Frage nach der Einheit der Psychologie. Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl., 1926, 172-199. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, insbes. S. 159. Ludwig Ferdinand Clauß, Rasse und Seele. Eine Einführung in die Gegenwart. München 1926, insbes. S. 27. Clauß, Rasse und Seele, S. 137 ff., 24. Vgl. hierzu u. v. a. Michael Hau und Mitchell G. Ash, Der normale Körper, seelisch erblickt. In: Sander Gilman und Claudia Schmölders (Hrsg.), Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte. Köln 2000, 12-31, hier: S.19-20.
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amtierte zu jener Zeit seit 1923 als Professor und seit 1925 als Leiter der „Psychologischen Anstalt“ der oben genannte Wilhelm Peters, dessen Lehrstuhl und Institut allerdings der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät zugeordnet war. Gleichwohl hat die Berufung Günthers Implikationen für die Frage nach der Stellung seiner und vergleichbarer Ansätze vor 1933. Diese Diskussion war keineswegs nur theoretischer Natur. Trotz ihrer Polemiken gegen das Spezialistentum hatten viele der Verfechter einer geisteswissenschaftlich orientierten Psychologie in den 20er Jahren offenbar nichts dagegen, selbst an der entstehenden Expertengesellschaft beteiligt zu sein. Denn sie betonten die Überlegenheit ihrer Entwürfe gegenüber denen der Experimentalpsychologen nicht nur im Hinblick auf eine engere Verbindung von Psychologie und Philosophie, sondern vor allem für die pädagogische Praxis und zuweilen auch für die rein praktische Berufsauslese.27 Von einem solchen Blickwinkel aus gesehen konnte diese Persönlichkeitslehren durchaus als Gegenentwurf zur psychotechnischen Diagnostik begriffen werden. Während der Ansatz Sprangers sich wenigstens implizit auf die pädagogische Arbeit am Gymnasium richtete, zogen andere hermeneutische Deutungsmuster vor allem in die Berufsauslese der neuen Angestellten ein. So versuchten Ludwig Klages und andere mittels Handschriftenanalyse eine ausdruckspsychologische Diagnostik zu begründen, die der psychotechnischen ebenbürtig sein sollte. Dabei stellte man als Alternative zur vermeintlich mechanisch arbeitenden „Schulpsychologie“ und Psychotechnik eine geschulte Intuition dar, welche „unter den wechselnden Handlungen des Menschen die bleibende Eigenart, hinter den Masken seiner Höflichkeit die wahren Beweggründe“ fassen sollte.28 Angeboten wurde mithin eine alternative Professionalisierung des psychologischen Blicks. Die von Klages und anderen entwickelten Methoden der Ausdrucks- und Handschriftenanalyse wurden in den 20er Jahren tatsächlich in Personalverwaltungen eingeführt – und hielten sich dort auch lange nach 1945.29 Andere zeitgenössischen Entwürfen einer typologischen Charakterologie, die aus der Medizin kamen, fanden in diesem Zusammenhang Gehör. Der einflußreichste derartige Versuch, der auch bei vielen Psychologen Anklang fand, war die Konstitutionstypologie des Tübinger Psychiaters Ernst Kretschmer.30 Er postulierte drei morphologische Konstitutionstypen, den leptosomen, athletischen und pyknischen, die mit unterschiedlichen psychischen Krankheiten in Verbindung gebracht wurden. Kretschmer legte Wert darauf, dass diese Typen an sich nicht pathologisch waren. Alle drei waren für ihn vollkommen normale Typen, keiner war minder- oder höherwertig bzw. an sich gesünder oder kränker. Er vermied deshalb auch bewußt eine Terminologie, die abwertend interpretiert werden könnte. Wichtig in diesem Zusammenhang ist ein methodologischer Punkt. Kretschmers Typen waren Idealtypen in dem Sinne, dass sie nicht nur das Resultat statistisch ermittelter Häufigkeitsverteilungen bestimmter Merkmalen waren. Obgleich die Daten auf Messungen von Körpermerkmalen Geisteskranker beruhten, waren Messungen allein für ihn kein ausreichendes Mittel zur Ermittlung von Konstitutionstypen. Vielmehr war der „künstlerische Blick“ des Arztes gefragt: „Auf eine vollkommen künstlerische, sichere Schulung unseres Auges kommt nämlich alles an. Denn ein schülerhaftes Aufnehmen von Einzelmaßen ohne eine Idee und Intuition vom Gesamtaufbau wird uns nicht vom Fleck bringen. Das Band27 28 29 30
Siehe hierzu Helmut Hildebrandt, Zur Bedeutung des Begriffs der Alltagspsychologie in Theorie und Geschichte der Psychologie. Eine psychologiegeschichtliche Studie anhand der Krise der Psychologie in der Weimarer Republik. Frankfurt a. M. 1991. Ludwig Klages, Die Grundlagen der Charakterkunde, 4. Aufl. Leipzig 1926, 1. Für einen satirischen Kommentar hierzu siehe Siegfried Kracauer, Die Angestellten, erweiterte Ausgabe. Frankfurt a. M. 1971, S. 22-23. Erstmals erschienen 1929. Ernst Kretschmer, Körperbau und Charakter. Untersuchungen zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den Temperamenten, 7. und 8. Aufl. Berlin 1929.
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maß sieht nichts. Es führt an sich niemals zur Erfassung von biologischen Typenbildern, die unser Ziel ist“.31 Empirische Messungen könnten demnach höchstens bestätigen, was zuvor durch eine ganzheitliche Wahrnehmung des Körpers schon intuitiv erfaßt worden ist. Dass auch denjenigen Wissenschaftlern, die sich einer rein naturwissenschaftlichen Vorgehensweise in der Weimarer Zeit verschrieben, der normative Blick nicht fern blieb, ist bereits angedeutet worden. Das zentrale, verbindende Moment in allen Fällen ist das Sichverlassen auf das „unmittelbar Gegebene“ beziehungsweise eine vermeintlich unvermittelte, intuitive Schau. Dabei wurden sowohl die Grenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften als auch die Linie zwischen Expertenwissen und Alltagspsychologie verwischt. Über diese Brücke der geschulten Intuition bzw. der unmittelbaren Wesensschau näherte sich der methodisch gesicherte Wissenschaftlerblick dem des Alltagsmenschen, den man ansonsten zum wissenschaftlichen Gegenstand auserkoren hatte. Auf dem Weg zu dieser Annäherung wurde eben diejenige Physiognomik legitimiert, die vor 1914 in Wissenschaftlerkreisen verpönt und romantischen Außenseitern überantwortet worden war.32 Aber wie das Beispiel Kretschmers zeigt, gingen Versuche, den lebendigen Körper und die menschliche Persönlichkeit durch einen ganzheitlichen Blick gleichsam zu entziffern, jedenfalls zu dieser Zeit nicht immer mit einer Stigmatisierung des Anderen wie bei Clauß, Günther und ihren Kollegen einher. Die Bücher von Günther, Klages und Kretschmer, wie auch die von Spranger und Clauß hatten mehrere Auflagen und wurden in der Öffentlichkeit breit diskutiert. Gleichwohl blieb die institutionelle Vormachtstellung der Experimentalpsychologen an den Universitäten und damit des Experiments als die via regia zu einer Wissenschaft des Psychischen während der Weimarer Zeit noch ungebrochen. Am XI. Kongreß der vormals so genannten „Gesellschaft für experimentelle Psychologie“ im Jahre 1929 zeigten aber die Psychologen, dass sie die Zeichen der Zeit durchaus erkannt hatten. So benannten sie in diesem Jahre ihre Vereinigung in „Deutsche Gesellschaft für Psychologie“ um und relativierten damit schon in der Namensgebung des eigenen Fachverbandes den Dominanzanspruch der Experimentalpsychologen. In einer dem Kongreßbericht vorangestellten „Kundgebung“ wiesen sie auch explizit darauf hin, dass man von einer allzu „rigiden“ Fixierung aufs Experiment bereits abgerückt habe.33 Als Reaktion auf diese Stellungnahme entstand 1930 unter der Leitung der Professoren Walter Moede (TH Charlottenburg), Walter Poppelreuter (Bonn), Narziß Ach (Göttingen), des Leiters der Psychologischen Abteilung der Reichwehr Johann Baptist Rieffert u. a. ein – allerdings kurzlebiger – Fachverband für Berufspsychologen.34 Am nächsten zu einer expliziten politischen Stellungnahme aus dieser Zeit sind die Äußerungen des Leipziger Professors Felix Krueger, dem Leiter der so genannten „Leipziger Schule“ der „Ganzheitspsychologie“, zugunsten des völkischen Denkens, vor allem in der Betonung der Rolle von Gefühl und Wille im Erlebnis neben der Kognition, und die explizite Einordnung der von ihm geführten Richtung sowie auch der Psychologie seines Vorgängers Wilhelm Wundt in die deutsche philosophische Tradition.35 Schon 1930 hielt F. Krueger einen Vortrag vor dem NS-Dozentenbund in Leipzig; am XII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie im Jahre 1931 sprach er der Psychologie einen dement31 32 33 34 35
Kretschmer, Körperbau und Charakter, S. 7. Für Beispiele siehe Hau und Ash, Der normale Körper, seelisch erblickt. Kundgebung der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Über die Pflege der Psychologie an den deutschen Hochschulen. Bericht über den XI. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Jena 1929, vii. Zur Rolle Achs vgl. Rainer Paul, Psychologie unter den Bedingungen der „Kulturwende“. Das Psychologische Institut 1933-1945. In: Heinrich Becker u. a. (Hrsg.), Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus, 2., erw. Aufl. München 1998, 499-522, hier: S. 505. Felix Krueger, Wilhelm Wundt als deutscher Denker. In: August Hoffmann (Hrsg.), Wilhelm Wundt. Eine Würdigung. Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus, 2 (1922), 1-44.
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sprechenden Auftrag zur Lösung der Kulturkrise der Weimarer Zeit zu.36 Der damals in Tübingen tätiger Pädagoge und Psychologie Gerhard Pfahler entwickelte bereits vor 1933 eine von ihm so genannte „Erbcharakterologie“, in der er die Grundkategorien und Standardmethodiken der Experimentalpsychologie mit einem Deutungsmuster verband, das gewisse Affinitäten zur Rassenpsychologie Günthers hatte.37 Schon 1932 trat Pfahler der NSDAP bei; das taten nur zwei Professoren aus dem Gebiet der Psychologie vor 1933 (siehe unten). Seitens der Partei selbst ist allerdings noch kein Indiz dafür bekannt geworden, dass sich die NS-Parteileitung von Psychologen etwa Rat darüber geholt hätten, wie sie ihre Propaganda psychologisch zutreffender anbringen oder ihre Massenveranstaltungen am wirksamsten organisieren sollten. Trotz allen der geschilderten Entwicklungen war das Werkzeug der Naturwissenschaften nun keineswegs aus der Seelenwissenschaft verschwunden. Im Gegenteil: Am Ende der 1920er Jahre hielten sich die experimentellen, psychotechnischen und geisteswissenschaftlichen Ansätze noch die Waage.38 Doch gab es auch Ideologeme im Nazismus, wie zum Beispiel die Betonung von „Echtheit“, „Wille“ und „Charakter“, die Rede von einer intuitiven Erfassung vom rassischen „Kern“ eines „ganzen“ Menschen oder vom Volk bzw. der Volksgemeinschaft als „Ganzes“, die einer rein technokratischen Verwendung experimenteller, psychotechnischer oder verwandter Methoden zuwider zu laufen schienen. Und es gab auch kulturell bedingte Widerstände gegen solche Praxisformen zugunsten einer geschulten Intuition als Instrument der Unterscheidung von Menschen. Die Herausforderung bestand also darin, einen ganzheitlichen, geisteswissenschaftlich orientieren Diskurs mit den Erfordernissen der Expertengesellschaft zu verbinden. Weiter unten wird gezeigt, wie dieses Problem gelöst wurde. Personelle Brüche nach 1933 Am Anfang der NS-Zeit stand ein eklatanter Bruch.39 Sechs der 20 ordentlichen Professuren an reichsdeutschen Hochschulen, die sich in Lehre und Forschung hauptsächlich mit Psychologie befaßten, wurden infolge des Berufsbeamtengesetzes von April 1933 entlassen oder zwangsweise emeritiert. Namentlich waren es: Max Wertheimer (Frankfurt a. M.), William Stern (Hamburg), Wilhelm Peters (Jena), David Katz (Rostock), Adhemar Gelb (Halle) und Otto Selz (Handelshochschule Mannheim). Des Weiteren wurden sieben außerordentlichen Professoren die Lehrbefugnis entzogen: Curt Bondy (Göttingen), Jonas Cohn (Freiburg), Richard Goldschmidt (Münster), Erich von Hornbostel (Berlin), Traugott Konstantin Österreich (Tübingen), Erich Stern (Gießen) und Heinz Werner (Hamburg). Ein achter, Kurt Lewin (Berlin), legte seine Venia von sich aus zurück, bevor er entlassen werden konnte. Fast alle dieser entlassenen Wissenschaftler sowie viele ihrer Studenten und Mitarbeiter emigrierten. Gelb erhielt eine Gastprofessur in Lund, Schweden, kehrte jedoch krankheitshalber nach Deutschland zurück und verstarb 1936. Ende 1937 wurde Aloys Fischer (Pädagogikprofessor und Vorstand des Psychologischen Instituts in München) infol36 37 38 39
Vgl. Geuter, Das Ganze und die Gemeinschaft. Gerhard Pfahler, Vererbung als Schicksal. Eine Charakterkunde. Leipzig 1932. Als Beleg hierfür mag die Verbreitung des Methodenlehrbuchs des Münchener Psychologen Richard Pauli pars pro toto stehen: Richard Pauli, Psychologisches Praktikum. Leitfaden für experimentellpsychologische Übungen. Jena 19304. Zum Folgenden vgl. Mitchell G. Ash, Disziplinentwicklung und Wissenschaftstransfer. Deutschsprachige Psychologen in der Emigration. Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 7 (1984), 207f.; Geuter, Die Professionalisierung, S. 99-102; Gerhard Benetka, „Im Gefolge der Katastrophe…“ Psychologie im Nationalsozialismus. In Paul Mecheril und Thomas Teo (Hrsg.), Psychologie und Rassismus. Reinbek b. Hamburg 1997, 42-72, hier: S. 43-44.
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ge des „Deutschen Beamtengesetztes“ von 1937, welches die Nürnberger Rassengesetze auf das Beamtentum anwendete, wegen seiner „nicht-arischen“ Ehefrau dienstenthoben; er starb kurz nach seiner Entlassung. Zu ihnen gesellte sich im Jahre 1935 der Gestaltpsychologe Wolfgang Köhler, seit 1922 Professor für Philosophie und Direktor des Psychologischen Instituts an der Universität Berlin. Er war einer der wenigen nichtjüdischen Professoren, die gegen die Beamtenpolitik der Nazis öffentlich Stellung bezog und kämpfte zwei Jahre lang gegen Versuche des ehemaligen Reichswehrpsychologen Johann Baptist Rieffert in Verbindung mit dem Leiter der Berliner NS-Studentenschaft, ihm sein Institut zu entreißen.40 Nachdem seine beiden Assistenten entlassen wurden und einer von ihnen, Karl Duncker, an der Habilitation verhindert wurde, nahm er, wie sein Freund Wertheimer vor ihm, ein Angebot aus den USA an. Vergleichbares ereignete sich in Österreich mit der politisch verursachten Emigration von Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda bereits vor 1938, sowie der zeitweise Verhaftung und Entlassung des Wiener Professors Karl Bühler, der Entlassung seiner Frau Charlotte Bühler und der fluchtartigen Emigration vieler ihrer Schüler und Schülerinnen nach dem so genannten „Anschluss“.41 Die Psychologie in Deutschland und Österreich wurde also im Gegensatz zur Psychoanalyse nicht fast zur Gänze des Landes verwiesen; sie wurde enthauptet. Im starken Kontrast dazu stand das Verhalten der Deutschen Gesellschaft für Psychologie.42 Auf Betreiben des neuen Vorsitzenden Felix Krueger wurde der XIII. Kongress der Gesellschaft vom ursprünglichen Termin im April bis Oktober 1933 verschoben. Bis dahin wurden die inzwischen aus dem Universitätsdienst entlassenen jüdischen Mitglieder des Vorstands, William Stern und David Katz, ausgewechselt; ein drittes Vorstandsmitglied, Gustav Kafka (Dresden), trat aus Protest freiwillig zurück. Krueger trat in keinem einzigen Fall zugunsten eines Entlassenen ein, sondern intervenierte bei den zuständigen Ministerien, um sicher zu stellen, dass die vakanten Lehrstühle wieder mit Psychologen besetzt würden. In seiner Plenaransprache am Kongress begrüßte Krueger Adolf Hitler als „weitschauenden, kühnen, gemütstiefen Kanzler“.43 Auch andere Prominente taten sich am Kongress durch überdeutliche Begeisterungsäußerungen hervor. Der Göttinger Professor Narziß Ach berief sich ebenfalls auf Hitler, um seine ansonsten streng naturwissenschaftlich begründete Willenspsychologie politisch konform erscheinen zu lassen: „Die Determinationspsychologie selbst aber steht in schärfsten Gegensatz zu der liberalistisch-indivualistischen Auffassung des seelischen Geschehens, wie wir bei den Vertretern der sog. Psychoanalyse finden … Nein! Die Führung hat das bewusste Sein, die Verantwortung ist es, welche der Führung zukommt und zukommen muss 40
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Mitchell G. Ash, Ein Institut und eine Zeitschrift. Das Psychologische Institut der Universität Berlin und die Zeitschrift ‚Psychologische Forschung‘ vor und nach 1933, in Graumann (Hrsg.), Psychologie im Nationalsozialismus, 113-137; Ulfried Geuter, ‚Gleichschaltung‘ von oben? Universitätspolitische Strategien und Verhaltensweisen in der Psychologie während des Nationalsozialismus, Psychologische Rundschau, 35 (1984), 198-213; Ash, Gestalt Psychology, Kap. 19. Sein vermeintlicher Sieg kam Rieffert aber nicht zugute. Weil er seine frühere Mitgliedschaft in der SPD verschwiegen hatte, wurde er 1937 als „Fragebogenfälscher“ aus der Partei ausgeschlossen und verlor alle Ämter. Mitchell G. Ash, Österreichische Psychologen in der Emigration: Fragestellungen und Überblick. In: Friedrich Stadler (Hrsg.), Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft. München/Wien 1988, 252-267; Gerhard Benetka, Psychologie in Wien. Vgl. zum Folgenden Ulfried Geuter, Der Leipziger Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie 1933, Psychologie- und Gesellschaftskritik, 3:12 (1979), 6-28; Geuter, Die Professionalisierung, S. 102 ff.; Mitchell G. Ash, Zeitpunkte. Geschichte eines Kongresses als Geschichte einer Disziplin. Psychologische Rundschau, 55 (2004), 107-117 und die dort zitierte Literatur. Für eine andere Sicht siehe Werner Traxel, Zur Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Psychologie im so genannten Dritten Reich, Psychologische Rundschau, 55 (S1) (2004), 21-32. Felix Krueger, Die Lage der Seelenwissenschaft in der deutschen Gegenwart. In: Bericht über den XIII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Jena 1934, 9-36: hier, S. 36.
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… und so stimmen wir aus vollem Herzen dem zu, was unser oberster Führer, Adolf Hitler sagt: ‚Der Wille ist alles’.“44 Der Bonner Professor Walter Poppelreuter – der zweite Lehrstuhlinhaber aus dem Gebiet der Psychologie neben Gerhard Pfahler, der der NSDAP vor 1933 beitrat – ging so weit, Adolf Hitler als „großer Psychologe“ zu titulieren. In der Folge wurden die Namen von fast 70 als Juden eingestuften Mitgliedern vom Mitgliederverzeichnis der Gesellschaft stillschweigend und ohne Rücksprache entfernt.45 Diese Änderung wie auch der Wechsel im Vorstand sind ohne gesetzlichen oder anderen nachweisbaren Zwangs erfolgt. Dies gilt ebenfalls für den Wechsel in der Leitung der führenden Fachzeitschriften der Disziplin. So wurden David Katz als Mitherausgeber der Zeitschrift für Psychologie durch Erich Rudolf Jaensch ersetzt; William Stern und Otto Lippmann wurden als Herausgeber der Zeitschrift für angewandte Psychologie durch Otto Klemm und Philipp Lersch ersetzt und der Zusatz „und Charakterkunde“ wurde dem Titel der Zeitschrift angefügt. In den folgenden Jahren wurde der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie nach zu jener Zeit angesagten Themen ausgerichtet: 1934 hieß die Überschrift „Psychologie des Gemeinschaftslebens“, 1936 „Gefühl und Wille“, 1938 „Charakter und Erziehung“. Ein kurzer, als Platzgründen unvollständiger Überblick über einige Lehrstuhlbesetzungen der NS-Zeit vom Standpunkt der Kontinuität und Diskontinuität ergibt ein bunt gemischtes Bild. So blieb der Lehrstuhl in Marburg mit Erich Rudolf Jaensch bis zu seinem Tode 1940 besetzt; seit 1936 war er auch Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (siehe unten). Nachfolger in Marburg war sein ehemaliger Assistent Gert Heinz Fischer, der als überzeugter Nationalsozialist für die Fortsetzung der Richtung seines Lehrers sorgte. In Hamburg, Frankfurt und Berlin blieben hingegen die Lehrstühle der Zwangsentlassenen Stern und Wertheimer bzw. die Nachfolge Wolfgang Köhlers jahrelang unbesetzt. Das Institut in Hamburg wurde durch den Pädagogen Gustaf Deuchler, das Berliner zunächst durch Johann Baptist Rieffert und dann – nachdem Rieffert wegen der Verschweigung seiner ehemaligen Mitgliedschaft in der SPD alle seine Ämter verlor und aus der Partei ausgeschossen wurde46 – durch einen Nichtpsychologen, Walter Malmsten Schering, kommissarisch verwaltet. Erst 1942 erfolgte eine Neubesetzung mit dem überzeugten Nationalsozialisten und (seit 1940) Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Psychologie Oswald Kroh.47 In Göttingen und Würzburg ging man wiederum anderer Wege. An beiden Orten wurden als Nachfolger der Professoren Narziß Ach respektive Karl Marbe Mitte der 1930er Jahre stramme NSDAP-Mitglieder (Bruno Petermann in Göttingen und Karl Jessinghaus als planm. ao. Prof. in Würzburg) ernannt, doch nachdem Petermann 1941 in einem Luftangriff bei Hannover starb, setzte sich der parteilose Johannes von Allesch in Göttingen trotz des vehementen Widerspruchs des NS-Dozentenführers vor Ort als Nachfolger durch.48 Ein Grund, weshalb dies möglich war, wird im folgenden Abschnitt zu besprechen sein.
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Zit. n. Geuter, Der Leipziger Kongress, S. 20. Traxel, Zur Geschichte der Deutschen Gesellschaft, S. 25. Vgl. Anm. 40. Zu Hamburg siehe Moser, Zur Entwicklung der akademischen Psychologie in Hamburg. Für eine ausführliche Behandlung der Situation in Berlin siehe Sven Ebisch, Über den Fakultätenwechsel des Psychologischen Instituts der Universität Berlin 1935-1947. Diplomarbeit, Humboldt Universität zu Berlin, 2006. Vgl. zu Göttingen Paul, Psychologie unter den Bedingungen der „Kulturwende“, S. 514-515; zu Würzburg vgl. der Beitrag von Wilhelm Janke in: Ders. und Wolfgang Schneider (Hrsg.), 100 Jahre Institut für Psychologie und Würzburger Schule der Denkpsychologie. Göttingen 1999.
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Für die akademische Psychologie liegt bereits seit 1985 eine eingehende Studie zu diesem Aspekt vor.49 Neben anderen Personen umfasst diese Untersuchung alle Hochschullehrer, die im Bereich der Psychologie in der NS-Zeit im Rang eines außerordentlichen oder ordentlichen Professors tätig waren; das waren insgesamt 20 Ordinarien, 13 planmäßige Extraordinarien, 12 nicht beamtete außerordentlichen Professoren und sechs weitere Dozenten und Professoren anderer beamtenrechtlicher Stellung, insgesamt also 51 Personen. Die wesentlichsten Ergebnisse dieser Studie (in aktualisierter Fassung) sind die Folgenden: (1) Die NSDAP-Mitgliedschaft auf diesem Gebiet ist zweifelsohne hoch gewesen. So waren unter den ordentlichen Professoren 65 Prozent (13 von 20), von den planmäßigen Extraordinarien 58 Prozent und von den nicht beamteten außerordentlichen Professoren sogar 85 Prozent NSDAP-Mitglieder. Gerade in der letzten Kategorie – die bekanntlich in der NS-Zeit zum Teil als eine Art Belohnung für so genannte „alte Kämpfer“ eingeführt wurde, die noch keine Beförderung erhalten hatten -, liegt auch nach Betrachtung der dazu gehörigen Einzelfälle nahe, dass die Beförderung mit dem Parteieintritt zusammenhing. (2) Gleichwohl kann – entgegen weit verbreiteter Annahmen in dieser Hinsicht – keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen Parteieintritt und beruflichem Aufstieg in allen Fällen im Bereich der Psychologie nachgewiesen werden. So waren z.B., wie oben erwähnt, zwei der Ordinarien, die schon vor 1933 Parteimitglieder geworden waren – der Bonner Ordinarius Walter Poppelreuter und der Tübinger (ab 1933 Giessener) Professor Gerhard Pfahler, dessen Forschung weiter unten näher diskutiert wird, bereits zum Zeitpunkt des Eintrittes Ordinarien gewesen. Weitere sechzehn der 31 Parteimitglieder aus dieser Personengruppe (52%), die nach 1933 eintraten, stiegen danach nicht mehr auf. Für die übrigen 15 (48%) gab es nach dem Parteieintritt einen Aufstieg, doch gilt dies auch für sechs der 14 Nicht-Parteimitglieder (43%). Am spektakulärsten darunter war der Fall von Philipp Lersch, der zwischen 1933 und 1942 insgesamt drei Lehrstühle herangetragen bekam, ohne in die Partei einzutreten; der wesentliche Grund dafür wird unten zu besprechen sein. Ein ähnlicher Befund zeichnet sich für die Extraordinarien ab: Von 12 derselben waren 7 bereits 1933 in diesem Rang, von den übrigen fünf, die in der NS-Zeit befördert wurden, waren 3 nicht in der Partei. Insgesamt waren von den 26 „Aufsteigern“ der NS-Zeit aus dieser Personengruppe 15 (57,7 Prozent) zum Zeitpunkt des Aufstiegs schon Parteimitglieder. Das heißt, dass der Schluss nicht zulässig ist, dass ein Aufstieg für Parteimitglieder in jedem Fall eher möglich war als für Nicht-Parteimitglieder. (3) Die Bedeutung des Alters für Parteieintritte in diesem Bereich ist ebenfalls differenziert zu betrachten. In der neueren Literatur gilt es als plausibel, dass der Eintritt in die NSDAP für jüngere eher als für bereits etablierte ältere Personen attraktiv gewesen sei. Ergänzt und scheinbar bestätigt wird diese Annahme in Studien über den engeren Kreis der NS-(Schreibtisch)Täter, z.B. am Reichsicherheitshauptamt.50 Wider die Rede einer „Generation des Unbedingten“ steht allerdings der Typus des (älteren) Überläufers, wie er bereits von Michael Kater vor mehr aus 20 Jahren genannt wurde.51 Ein klassisches Beispiel dieses Typs aus der Psychologie ist der Marburger Ordinarius Erich Rudolf Jaensch, der wie andere, die sich bis dahin fern gehalten hatten, im Frühjahr 1933 voll und ganz auf die 49 50 51
Zum Folgenden vgl. Mitchell Ash und Ulfried Geuter, NSDAP-Mitgliedschaft und Universitätskarriere in der Psychologie. In: Graumann (Hrsg.), Psychologie im Nationalsozialismus, 263-278, insbes. S. 265-271. Über die Zusammenstellung der betreffenden Personengruppe vgl. S. 266. Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg 2002. Michael Kater, Die nationalsozialistische Machtergreifung an den deutschen Universitäten. Zum politischen Verhalten akademischer Lehrer bis 1939. In Hans Jochen Vogel, H. Simon und A. Podleck (Hrsg.), Die Freiheit des Anderen. Festschrift für Martin Hirsch. Baden-Baden 1981, 49-75, hier: S. 61.
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neue Linie einschwenkten. Im diesem Falle scheint eine mögliche Erklärung in einem erhofften Zugewinn an innerdisziplinärem Einfluss zu liegen, und dies wurde ihm in der Folge tatsächlich zuteil (siehe unten). (4) Wenigstens ein für die Psychologie spezifischer Faktor ist für die hohe Anzahl der Parteieintritte in dieser Personengruppe heranzuziehen: Neben den Schwerpunkten der Parteieintritte 1933 und 1937, die bei Parteieintritten fast überall sonst vorkommen, kommt hier eine weitere Massierung von Eintritten um 1940 hinzu, womöglich wegen Druckes aus der Wehrmacht (siehe der entsprechende Abschnitt unten). (5) Dies hängt wiederum mit einem letzten Befund zusammen: Bis 1936 scheint die Berufung von einer NSDAP-Mitgliedschaft abhängig, nach 1936 weitgehend unabhängig gewesen zu sein. Ein Grund hierfür liegt nahe: Im Jahre 1935 wurde die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, und die Wehrmacht sah sich im Zuge der Wiederaufrüstung mit einem bis dahin nie da gewesenen Bedarf an Offizieren konfrontiert. Für deren Auswahl wurden Fachkräfte benötigt, die in erster Linie Professoren mit Schwerpunkt Psychologie bzw. von diesen auszubildenden Leuten sein sollten. In der Tat sind bei den bislang dokumentierten Berufungsverfahren der späten 1930er und frühen 1940er Jahre die Belange der Wehrmacht immer wieder in Erwägung gezogen worden, vor allem – aber nicht nur! – zugunsten der Beförderung von Nicht-Parteimitgliedern wie der eben genannten Philipp Lersch (ao. Prof. in Dresden 1936, planm. ao. und persönlicher o. Prof. in Breslau 1937, o. Prof. in Leipzig 1938, o. Prof. München 1942), Johannes von Allesch in Göttingen (o. Prof. 1942), Hubert Rohracher in Wien (ao. Prof. 1942) und andere.52 Freilich sind auch Parteimitglieder wie Wolfgang Metzger (o. Prof. Münster 1942) oder Georg Anschütz (ao. Prof. Hamburg 1942) zu jener Zeit und aus demselben Grunde ebenfalls befördert worden. Es wäre demnach keinesfalls gerechtfertigt, solche Berufungen von Nicht-Parteimitgliedern etwa als „wertneutral“ oder gar „unpolitisch“ hinzustellen, denn auch hier lag ein eindeutig politischer Zusammenhang vor, der wie folgt formuliert werden könnte: Als es um die tatsächliche Realisierung der politischen Projekte des Nationalsozialismus ging – in diesem Falle die Eroberung von „Lebensraum“ in Europa –, wurden Schritte, die in diesen Zusammenhang gestellt werden konnten, offenbar wichtiger als Gesinnungsnachweise in Form eines Parteieintritts. „Semantische Umbauten“53 und Ideologische Umstellungen – Die Wiederkehr der Psychologie als Kulturwissenschaft im Nationalsozialismus In der Zeitschrift Nationalsozialistisches Erziehungswesen gab der Jenaer Psychologe Georg Schliebe im Jahre 1937 einen selbstzufriedenen Bericht über die Entwicklungen der letzten Jahre zum Besten: „Das Jahr der Machtübernahme führte innerhalb der Psychologie zugleich zu einer klaren Scheidung der Geister. Die (jüdische Psychologen) ..., die dank eines raffinierten Systems der gegenseitigen Belobigung und des Totschweigens und Übersehens andersrassiger Fachvertreter beinahe (eine) Monopolstellung innerhalb der Schulpsychologie an den deutschen Universitäten errungen hatten, wichen Kräften, 52
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Zur Karriere Lerschs siehe Klaus Weber, Vom Aufbau des Herrenmenschen. Philipp Lersch. Eine Karriere als Militärpsychologe und Charakterologe, Pfaffenweiler 1993, Kap. 2; zur Berufung Rohrachers nach Wien vgl. Gerhard Benetka und Giselher Guttmann, Akademische Psychologie in Österreich. Ein historischer Überblick. In: Karl Acham (Hrsg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Bd. 3.1. Wien 2001, 83-168, hier: S. 138-140. Zu diesem Begriff vgl. Georg Bollenbeck und Clemens Knoblauch (Hrsg.), Semantischer Umbau der Geiteswissenschaften nach 1933 und 1945. Heidelberg 2001.
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die bisher zwar energisch, aber trotzdem mit ungenügendem Erfolg gegen die Überfremdung der deutschen Psychologie gekämpft hatten. An ihrer Spitze standen Männer, die heute der Deutschen Gesellschaft für Psychologie vorstehen: Felix Krueger-Leipzig, E. R. Jaensch-Marburg, Oswald Kroh-Tübingen u.a.“54 Nach der Auffassung Schliebes führte diese personelle Wandlung auch zu einer folgenschweren inhaltlichen Veränderung: „Das Experiment als ausschließliches Hilfsmittel der Forschung ist in seiner Bedeutung stark eingeschränkt und in seinem Wesen verändert worden. Die Überschätzung des Quantitativen ist zugunsten des Qualitativen ... aufgegeben worden“.55 Somit markiert dieser Text eine Wiederkehr der Psychologie als Kulturwissenschaft im Nationalsozialismus, wenngleich in einer sehr merkwürdigen Form, die mit einem heutigen Verständnis von Kulturwissenschaft wenig gemeinsam hat. Doch im Gegensatz zur Feststellung – oder vielleicht war es nur eine Hoffnung – Schliebes ergibt sich nach näherem Hinsehen ein kompliziertes Zusammenspiel von Anpassungen verschiedener Art, wobei die Gewichtung und Semantik sich nach dem jeweiligen Adressat im NS-Staat durchaus variieren konnte. Tatsächlich gerieten infolge der oben beschriebenen personellen Brüche die ehemals führenden Forschungsrichtungen der Weimarer Zeit, insbesondere die in Deutschland verbliebenen Schüler der Gestaltpsychologen sowie die von den Zwangsentlassenen William Stern in Hamburg und Wilhelm Peters in Jena vormals vertretenen Differenzialpsychologie, in die Defensive,56 während die Vertreter der Richtungen, die vor 1933 eher weniger bedeutend waren, ihre Chance witterten und auch nützten. Die folgenden drei Beispiele deuten die breite Palette von „semantischen Umbauten“ bzw. diskursiven Ressourcenmobilisierungen und deren Verhältnis zur Praxis an, ohne das gesamte Spektrum annähernd abzudecken. 57 Wie oben bereits gezeigt wurde, hatte die von Felix Krueger geleitete „Leipziger Schule“ der Ganzheitspsychologie schon in den 20er Jahren klare Affinitäten zum völkischen Denken gezeigt, und am XIII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie im Oktober 1933 hatte er Adolf Hitler als „weitschauenden, kühnen, gemütstiefen Kanzler“ begrüßt.58 Allerdings wurde er bereits 1935 wegen angeblicher prosemitischer Äußerungen denunziert und von seinem Lehrstuhl wie vom Rektorat der Universität abgesetzt; 1936 legte er den Vorsitz der Deutschen Gesellschaft für Psychologie nieder. Somit gesellte er sich zur Reihe der enttäuschten deutschnationalen Konservativen, der sein Leipziger Kollege Hans Freyer ebenfalls angehörte.59
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Georg Schliebe, Wandlungen der Psychologie. Nationalsozialistisches Bildungswesen, 2 (1937), 195205, hier: S. 195. Schliebe, Wandlungen der Psychologie, S. 200. Für die Gestaltpsychologie siehe Michael Stadler, Das Schicksal der nichtemigrierten Gestaltpsychologen im Nationalsozialismus. In: Graumann (Hrsg.), Psychologie im Nationalsozialismus, 139-164; kritisch hierzu Ash, Gestalt Psychology, Kap. 20-21. Für die Differenzialpsychologie siehe Herbert Fitzek und Simone Wittmann, Die Psychologische Anstalt im Nationalsozialismus unter Friedrich Sander. In: Georg Eckart (Hrsg.), Psychologie vor Ort – ein Rückblick auf vier Jahrhunderte. Die Entwicklung der Psychologie in Jena vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2003, 337-401. Für den schillernden Fall Willy Hellpachs in Heidelberg, siehe Horst Gundlach, W. Hellpach – Attributionen. In: Graumann (Hrsg.), Psychologie im Nationalsozialismus, 165-196. Vgl. Anm. 43. Geuter, Das Ganze und der Gemeinschaft. Vgl. Jerry Z. Muller, The Other God that Failed. Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism. Princeton,1987; Fritz Stern, Der Traum vom Frieden und die Versuchung der Macht. Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert. Erw. Neuaufl., Berlin 1999; Michael Grüttner, Das Scheitern der Vordenker. Deutsche Hochschullehrer und der Nationalsozialismus. In: Ders. u. a. (Hrsg.), Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup. Frankfurt a.M. 1999, 458-481.
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Der bedeutendste Schüler Kruegers, Friedrich Sander, ging weit über die Stellungnahmen Kruegers hinaus. Im Jahre 1933 übernahm er den Lehrstuhl des entlassenen jüdischen Psychologen Wilhelm Peters in Jena, einer der bedeutendsten Vertreter der statistisch orientierten Testpsychologie in Deutschland; 1937 wurde er in die NSDAP aufgenommen. Im selben Jahre befürwortete er in der Zeitschrift Nationalsozialistischen Erziehungswesen – wohl kaum zufälligerweise im selben Heft, in dem sein Mitarbeiter Georg Schliebe die oben zitierte Äußerung festhielt – eine „Ausschaltung des parasitisch wuchernden Judentums“ und die Zwangssterilisierung von Deutschen mit „minderwertigem Erbgut“ als Ausdrucke eines „Willens zur reinen Gestalt deutschen Wesens“.60 Allerdings blieb das Angebot der Leipziger Schule nicht auf ideologische Statements begrenzt. In Jena führte Sander das schon in Leipzig begonnene Forschungsprogramm zur Entstehung oder „Aktualgenese“ von Wahrnehmungsgestalten unter dem Namen „Ganzheit und Gestalt“ fort.61 Ebenfalls in dieser Forschungsreihe befindet sich der auch schon vor 1933 begonnene Versuch, Ganzheitspsychologie mit Arbeitspsychologie durch Studien der Rolle von „rhythmischen Gestaltbildungen“ in der Erhöhung der Arbeitsleistung und Arbeitsfreude zu verbinden – mit einem Wink in Richtung der Arbeitsämter bzw. der Deutschen Arbeitsfront.62 Dabei wurden Arbeitskurven – nicht die von Emil Kraepelin um die Jahrhundertwende eingeführte, quantitative Messungen, sondern bildhafte Darstellungen des Arbeitsvorgangs bzw. der Arbeitsintensität – hergestellt und verglichen, aber keine statistische Bewertung im heute üblichen Sinne vorgenommen. Somit kann man diesen Ansatz als Entwurf einer Hermeneutik des Handelns begreifen – ein Arbeitsstil, der Sander, der sich auch für die Psychologie der Kunst interessierte, anscheinend nahe lag. Noch prominenter zu jener Zeit als die Publikationen der „Leipziger Schule“ waren die zahl- und wortreichen Arbeiten des Marburger Professors Erich Rudolf Jaensch, der nach der Amtsniederlegung Felix Kruegers im Jahre 1936 bis zu seinem Tod im Jahre 1940 alleiniger Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychologie war. Bereits 1933 war er der NSDAP beigetreten und hatte mit einer starken Schrift über „Die Lage und Aufgaben der Psychologie und ihre Sendung in der deutschen Bewegung“ auf sich aufmerksam gemacht.63 Im nächsten Jahre wurde er gemeinsam mit Oswald Kroh (der ebenfalls 1933 der NSDAP beitrat) zum Nachfolger des zwangsentlassenen David Katz als Mitherausgeber (mit dem im Amt verbliebenen Friedrich Schumann) der führenden deutschsprachigen Fachzeitschrift, der Zeitschrift für Psychologie.64 Eine Analyse der rastlosen, fast als fieberhaft zu bezeichnenden fachpolitischen Tätigkeit von Jaensch zu jener Zeit sowie der Frage, mit welchen Instanzen des NS-Staates er dabei vor allem verhandelte, harrt noch der Forschung. Seine Schriften aus dieser Zeit werden seit langem angeführt als Musterbeispiel der Ideologisierung von Wissenschaft im Nationalsozialismus. Sie sind dies in der Tat, wenn unter ‚Ideologisierung‘ der Versuch begriffen wird, den eigenen Ansatz als Beitrag zur NS-Ideologie zu präsentieren.65 60 61 62
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Friedrich Sander, Deutsche Psychologie und nationalsozialistische Weltanschauung. Nationalsozialistisches Bildungswesen, 2 (1937), 641-649, hier: S. 642. Z.B. G. Hausmann, Zur Aktualgenese räumlicher Gestalten. Archiv für die gesamte Psychologie, 93 (1935), 289-334. H. Busse, Rhythmische Gestaltbildungen bei der Arbeit in der Gruppe. Archiv für die gesamte Psychologie, 99 (1937), 213-259. Näheres zum Forschungsprogramm und zur Tätigkeit Sanders in Jena mit einer ausführlichen Bibliographie vgl. Fitzek und Wittmann, Die Psychologische Anstalt im Nationalsozialismus. Erich Rudoph Jaensch, Die Lage und Aufgaben der Psychologie. Ihre Sendung in der Deutschen Bewegung und an der Kulturwende. Leipzig, 1933. Lydia Lange, Externe Einflüsse auf die Wissenschaft und die Reaktion der „wissenschaftlichen Gemeinschaft“ am Beispiel von E. R. Jaensch und der Zeitschrift für Psychologie 1933-1944, Zeitschrift für Psychologie, 198 (1990), 121-136. Zum Folgenden vgl. Ulfried Geuter, Nationalsozialistische Ideologie und Psychologie, in Ash und Geuter, Geschichte der deutschen Psychologie, 172-200, insbesondere S. 179 ff. Vgl. Ulrich Sieg, Psycho-
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Auch Jaensch hatte wie Kretschmer und viele andere in den 20er Jahren eine Typologie entworfen, die auf eine Korrelation von Wahrnehmungs- und Denkstile mit Persönlichkeitsmerkmalen zielte. Von den Phänomenen der so genannten eidetischen Wahrnehmungsbilder – subjektive Anschauungsbilder, die die Qualität von Empfindungen haben – ausgehend, entwickelten Jaensch und seine Schüler eine polare Typologie. Wer subjektive Anschauungsbilder als Ich-zugehörig erlebte und dessen psychische Funktionen stärker integriert waren, wurde dem Integrationstypus zugeordnet; demgegenüber stand der Typ des Synästhetikers mit labilen psychischen Funktionen. Vor 1933 aber fand in diesem Ansatz keine Zuordnung der Typen zu sozialen Gebilden statt; vielmehr könnten, wie in der Konstitutionstypologie Kretschmers, alle Typen in verschiedenen Gruppen und Kulturen vorkommen. Nach 1933 ordnete Jaensch den „labilen“ S2-Typus ausdrücklich den Juden zu, sprach dabei von einem „Gegentypus“ zur deutschen völkischen Bewegung und verwandelte seine Typologie auf dieser Weise zum Instrument einer „psychologischen Anthropologie“ – so der neue Name des von Jaensch geleiteten Instituts in Marburg.66 Die vielfachen Verweise auf die Konstitutionstypologie seines Bruders Walter Jaensch verlieh dem Ganzen ein scheinbar biologisch gesichertes Fundament. Hinsichtlich des tatsächlichen Einflusses von Jaensch sollte allerdings angemerkt werden, dass seine Schriften aus der NS-Zeit selbst in der Zeitschrift für Psychologie von Autoren außerhalb seines eigenen Schülerkreises weit weniger häufig zitiert wurden, als die vor 1933 erschienenen Arbeiten.67 Dies hinderte aber niemand daran, eben diese früheren Arbeiten als Grundlage der praktischen Arbeit zu verwenden. Auch in diesem Fall blieb das Angebot an das Regime keinesfalls auf der ideologischen Ebene begrenzt. So boten Jaensch und sein Schüler Fritz Althoff beispielsweise in der gemeinsam veröffentlichten Monographie Mathematisches Denken und Seelenform die eben skizzierte Typologie als implizite Grundlage des Mathematikunterrichts an.68 Obwohl Althoff die der Schrift zugrunde liegenden Untersuchungen bereits 1931 abgeschlossen hatte, unterschieden sie in der veröffentlichten Version unter direkter Bezugnahme auf Ludwig Bieberbachs berüchtigter Schrift „Stilarten mathematischen Schaffens“69 einen „deutschen“ Denkstil, der angeblich vom Konkreten allmählich zu abstrakten Klarheit gelange, von einem „subjektiv-idealistsichen“ Denkstil, welche der Phantasie freien Lauf lasse und keine notwendige Verbindung der mathematischen Theorie zur Wirklichkeit des Zählens kenne. Die Verbindung zur „arteigenen Mathematik“ kam nicht von ungefähr, denn Bieberbach hatte sich seinerseits auch auf Jaensch bezogen.70 Im Hinblick darauf, worin der praktische Nutzen dieser Unterscheidung denn bestehen sollte, wird das Bild al-
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logie als ‚Wirklichkeitswissenschaft‘. Erich Jaenschs Auseinandersetzung mit der ‚Marburger Schule‘, in: Winfried Speitkamp (Hrsg.), Staat, Gesellschaft, Wissenschaft. Beiträge zur modernen hessischen Geschichte. Marburg 1994, 313-342; Alexandre Métraux, Diskursive Ressourcen und rhetorische Überschüsse in der Psychologie. Eine Fallstudie. In: Bollenbeck und Knoblauch (Hrsg.), Semantischer Umbau, 158-174. Erich R. Jaensch, Der Gegentypus der deutschen völkischen Bewegung. In: Bericht über den XIII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Jena 1934, 56-59; Ders., Der Gegentypus. Psychologisch-anthropologische Grundlagen deutscher Kulturphilosophie ausgehend von dem, was wir überwinden wollen. Leipzig 1938. Lange, Externe Einflüsse, S. 132-133. Erich R. Jaensch und Fritz Althoff, Mathematisches Denken und Seelenform. Vorfragen der Pädagogik und völkischen Gestaltung des mathematischen Unterrichts. Beihefte zur Zeitschrift für angewandte Psychologie und Charakterkunde, Bd. 81. Leipzig 1939. Ludwig Bieberbach, Stilarten mathematischen Schaffens. Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Math.-naturwiss. Kl., 1934, 351-360. Helmut Lindner, ‚Deutsche‘ und ‚gegentypische‘ Mathematik. Zur Begründung einer ‚arteigenen‘ Mathematik im ‚Dritten Reich‘ durch Ludwig Bieberbach. In: Herbert Mehrtens und Stefan Richter (Hrsg.), Naturwissenschaft, Technik und NS-Ideologie. Frankfurt a. M. 1980, 88-115; Herbert Mehrtens, Ludwig Bieberbach and ‚Deutsche Mathematik‘. In: Esther Phillips (Hrsg.), Studies in the History of Mathematics, Washington, D.C. 1987, 195-241.
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lerdings recht schillernd. In seinem Vorwort gibt Jaensch altbekannte Argumente für den Mathematik-Unterricht, z.B. den praktischen Wert der Mathematik in der Industrie sowie zur allgemeinen Disziplinierung des Denkens, zum Besten, und verbindet diese mit einer leidenschaftlichen Widerlegung des „verhängnisvollen Irrtums“, dass völkisches Denken notwendigerweise dem Irrationalismus das Wort reden müsse. Den Nachweis, dass nur eine „arteigene“ Mathematik den anvisierten Nutzen bringen könne, versucht er nicht einmal. Althoff empfiehlt am Ende seines Teils der Schrift nur eine Verschärfung des Blicks für die unterschiedlichen Denkstile als pädagogische Hilfe. Eine der erfolgreichsten Kombinationen von ideologischer Anbiederung und Pragmatik brachte der Psychologe und Pädagoge Oswald Kroh. In der 11-12. Auflage seines von Pädagogen viel benützten Buches zur Entwicklungspsychologie des Grundschulkindes, befürwortete er das Programm einer ‚völkischen Anthropologie‘ im Sinne des NS-Pädagogen Ernst Kriecks. Denn, wie er schrieb: „dem innersten Kern des Volkstums begegnet man allein in der Seele des Volkes. ... In der Selbsterhellung deutschen Seelentums erst klärt sich auch, was deutschem Wesen gemäß ist und was nicht. Darum ist die Psychologie des deutschen Menschen das natürliche Kerngebiet der völkischen Anthropologie. Und alle Forschungen, die das Seelenleben des deutschen Menschen zu erkennen gestatten, sind Dienst an der Verwirklichung echten deutschen Volkstums.“71 Unschwer erkennt man hier den Versuch eines ideologischen Angebots an das NS-Regime. Man merke allerdings auch, dass dieses Angebot durch eine Art psychologische Kolonisierung eines an sich breiter konzipierten Ansatzes zustande kam. Wichtiger in diesem Zusammenhang ist jedoch der Aufruf Krohs zur Herstellung einer „völkischen Menschenkunde“, die nach den Kriterien „völkische Leistung“ und „politische Eignung“ gerichtet sein sollte; dies geschah am 16. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie im Jahre 1938, dessen thematische Überschrift „Charakter und Erziehung“ lautete.72 Als Grundstock hierzu diente u. a. die Arbeit seines Studenten Paul Wächter, in der versucht wurde, „analytische“ bzw. „ganzheitliche“ Auffassungsformen in der Gestaltwahrnehmung mit den „introvertierten“ und „extravertierten“ Persönlichkeitstypen Ernst Kretschmers zu koordinieren.73 Ähnliche Versuche einer Korrelation von Kognitionsstile und Persönlichkeitstypen reichten bis zur Jahrhundertwende zurück; diese Arbeit setzte ein Forschungsprogramm fort, das Kroh in Tübingen, wo Kretschmer auch lehrte, schon in den 1920er Jahren begonnen hatte.74 Im Kontext der NS-Zeit stellte dieser Ansatz eine Mobilisierung von Methodiken aus der Experimentalpsychologie, vornehmlich die Bemessung des Umfangs und der Dauer der Aufmerksamkeit, als Ressource für eine – nun völkisch umgedeutete – Persönlichkeitsdiagnostik dar. Der gemeinsame Nenner dieser Angebote war also der offenkundige Versuch, bereits bestehende Theorien und Forschungsprogramme mit mehr oder minder radikalen Änderungen als NS-konform darzustellen. Leute wie Hans F. K. Günther und Ludwig Ferdinand Clauß mußten sich in dieser Hinsicht allerdings weit weniger anstrengen, da sie bereits vor 1933 ihre Sporen verdient hatten. Ab 1934 war Günther Professor in Berlin. Dort unterrichtete ab 1936 auch Clauß, dessen z.T. aus seiner Antrittsvorlesung hervorgegangene Schrift Rasse ist Gestalt auf ausdrücklicher Aufforderung des Reichsamtsleiters Hederich 71 72 73 74
Oswald Kroh, Entwicklungspychologie des Grundschulkindes, 11.-12. Aufl. Langensalza, 1935, 25. Oswald Kroh, Die Psychologie im Dienst der völkischen Erziehung. Bericht über den 16. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Leipzig 1939, 35-44, hier:: S. 43. Paul Wächter, Über den Zusammenhang der typischen Formen des Gestalterlebens mit den Temperamentskreisen Kretschmers. Archiv für die gesamte Psychologie, 104 (1939), 1-47. Für das ursprüngliche Forschungsprogramm siehe Oswald Kroh (Hrsg.), Experimentelle Beiträge zur Typenkunde, Bd. I, Leipzig, 1929; vgl. Ders., Zur Absicht und Methode unserer typenkundlichen Arbeiten. Zeitschrift für Psychologie, 143 (1938), 202-211.
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in der von der Reichskanzlei herausgegebenen Reihe „Schriften der Bewegung“ erschien. In einem „Nachwort“ der Schrift behauptete Clauß, dass seine Rassenseelenforschung eine wissenschaftliche und eine „politische Aufgabe“ habe; und „Politisch heißt hier nichts anderes als volksgestaltend“.75 Im letzten Abschnitt des Textes machte er aber deutlich, dass damit nichts weiter gemeint war, als die Sicherung des Eigenen in der Unterscheidung vom Anderen, die er bereits in den 20er Jahren gepredigt hatte. Alle Rassen sollten also in ihrer jeweiligen Wesensart geachtet werden; nur sind diese vom der nordischen zu trennen: „Wir können das Fremde achten und ehren wie irgendetwas, das gottgeschaffen ist so gut wie wir. Aber es kann nie unser werden: es ist fremd und soll fremd sein“.76 Diese merkwürdige Aussage, deren erster Teil fast tolerant hätte klingen können, konnte im Jahre 1936 nur als eine Befürwortung der Nürnberger Rassengesetze verstanden werden. Auf dieser Weise bot Clauß seine sehr eigene Methodik der Rassenzuordnung aber nicht nur als Beitrag zur Weltanschauung, sondern zugleich als implizite Praxis an. Allerdings zeigte er trotz der Verwendung anschaulicher Bilder – z.B. der charakteristischen ‚Linie‘ eines ‚nordischen‘ Bauerngesichts – an dieser Stelle nicht, wie genau eine solche Praxis systematisch auszuführen sein könnte. Bald danach geriet Clauß in Schwierigkeiten, die sich bis 1943 zum Parteiausschluß steigerten, u. a. deshalb, weil er sich schützend vor seiner als „Halbjüdin“ definierten Assistentin stellte; damit weigerte er sich, der von ihm selbst im zitierten Satz ausgesprochenen Forderung zur Rassentrennung Folge zu leisten.77 Allerdings spielte auch fachliche Konkurrenz – genauer die Verbindung derselben mit Rivalitäten innerhalb der NSDAP – eine Rolle in diesem Konflikt. Dies belegt vor allem ein anonym veröffentlichtes Gutachten, das der Leiter der „Erbpsychologischen Abteilung“ am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, Kurt Gottschaldt, im August 1941 im Auftrag des Leiters des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP, Walter Groß, in der Angelegenheit verfaßte. Darin lehnte Gottschaldt den Ansatz von Clauß vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus im Bausch und Bogen ab: „Die mimische Methode, die letzten Endes in der intuitiven Schau, in einem Vermögen des Mitlebenkönnens, die Rolle des Andere-Spielen-Könnens beruht, ist völlig subjektiv. Es fehlen ihr jegliche Möglichkeiten der objektiven Kontrolle, aber auch der Selbstkontrolle“.78 Somit kann dieses Gutachten durchaus als eine Stimme gegen die Wiederkehr der Psychologie als Kulturwissenschaft in der hier beschriebenen Form gedeutet werden. Nimmt man den Namen des Auftraggebers nochmals zur Kenntnis, so fragt es sich nun, wie ein parteiloser Wissenschaftler dazu kam, eine derartige Stellungnahme sogar im Rahmen eines Parteiausschlussverfahrens abgeben zu dürfen. Anscheinend war die inhaltliche Zielrichtung dieser Wissenschaft im Nationalsozialismus doch nicht so einheitlich vorgegeben, wie auf dem ersten Blick zu vermuten sein könnte. Die Ideologisierung von Forschungspraktiken am Beispiel der psychologischen Zwillingsforschung Interessant im Anbetracht einer Verschränkung von Ideologie und wissenschaftliche Praxis im Nationalsozialismus ist die explizite Ideologisierung von Forschungspraktiken, die zu75 76 77 78
Ludwig Ferdinand Clauß, Rasse ist Gestalt. Schriften der Bewegung, Heft 3. München 1937, S. 29. Clauß, Rasse ist Gestalt, S. 28. Vgl hierzu Peter Weingart, Doppel-Leben. Ludwig Ferdinand Clauß zwischen Rassenforschung und Widerstand. Frankfurt a. M. 1995. (Kurt Gottschaldt). Clauß, Ludwig Ferdinand. Informationsdienst Rassenpolitisches Amt der NSDAP – Reichsleitung, 20. August 1941 – Nr. 116, 4. Blatt. Anonym publiziert. Aufgrund mehrerer Indizien nennt Weingart Göttschaldt in Doppel-Leben zu Recht als den Autor dieser Schrift.
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weilen noch viel weiter ging, als in den eben besprochenen Beispielen angedeutet werden konnte. Dabei ging es oft weniger um eine Wahl zwischen gesinnungsorientierter oder rein instrumenteller Anpassung, als darum, ob und wie die Funktionalisierung von Grundlagenforschung zur Herstellung impliziter Instrumente für die Realisierung politischer Projekte des Nationalsozialismus ideologisch aufzuziehen sein sollte. Am Beispiel der psychologischen Zwillingsforschung konnte dieser Zusammenhang vom Autor dieses Beitrags herausgearbeitet werden.79 Im Folgenden seien die Ergebnisse kurz zusammengefasst. Im Kontrast zu den vorangegangenen Beispielen von Sander, Jaensch und Kroh sind die Arbeiten von Gerhard Pfahler und seinem Hauptmitarbeiter Christian Eckle an der Universität Gießen – wohin Pfahler 1933 berufen worden war – viel eher als „Nazipsychologie“ zu bezeichnen; sie weisen jedoch eine ähnliche strukturelle Verbindung von Grundlagenforschung auf typologischer Basis und impliziter Anwendungsorientierung auf. Ursprünglich ein Schüler Krohs, hat Pfahler, wie oben bereits erwähnt, schon vor 1933 eine eigene „Erbcharakterologie“ herausgearbeitet, die Grundkategorien und Standardmethodiken der Experimentalpsychologie mit einem typologischen Deutungsmuster verband, das Verbindungen zur Rassenpsychologie Hans F. K. Günthers aufwies. So ordnete er seinen Typus der „festen Gehalte“ – einem Typ mit enger, festgelegter Aufmerksamkeit und zäher Beharrungskraft – dem „nordischen“ Menschen und den Typus der „fließenden Gehalte“ – mit weit wandernder Aufmerksamkeit und geringer Beharrungskraft – dem „ostischen“ Menschen zu.80 In einer groß angelegten Studie wandte Eckle dieses Schema Ende der 30er Jahre auf die Zwillingsforschung an. Ein Hinweis auf die praktische Bedeutung der Arbeit kommt gleich auf der ersten Seite; es geht „um die Möglichkeiten und Grenzen einer Methode der Erbforschung, die unbedingt klargestellt sein müssen in einer Zeit, in der das Problem von Rasse und Vererbung existentielle Bedeutung für unser Volk besitzt“.81 In diesem Falle handelte es sich um 30 Paare, 18 eineiige (erbgleiche) und 12 zweieiige (erbungleiche), die zwischen 1936 und 1938 im Gießener Psychologischen Institut untersucht wurden. Neben Versuchsprotokolle der Reaktionen der Zwillingspartner auf bestimmte Reizworte und Texte ihrer freien Erzählungen über vorgegebenen Themen, basierte diese Charakterdiagnostik auf der intuitiven Beurteilung von Verhaltensstilen z.B. am Ringwurf oder am Modellieren von kleinen Gegenständen aus weichem Ton. Im Endergebnis war eine weitgehende Gleichheit im Verhaltensstil und demnach im charakterlichem Bild der eineiigen Zwillinge und eine ebenso deutliche Ungleichheit im Bild der Zweieiigen, jedoch auch gewisse Unterschiede auch bei den eineiigen Zwillingen nicht zu übersehen. Auffallend in diesem Zusammenhang war die Kritik Eckles an der von ihm sogenannten „biologischen“ Methode, die sich auf die Erstellung und statistische Bearbeitung von Vergleichsreihen einer großen Anzahl eineiiger und zweieiiger Zwillingspaare verließ. Diese Methode betonte nach Eckle zu sehr die Bemessung von Einzeleigenschaften bzw. von Einzelleistungen. Demgegenüber hob er die Vorteile einer eigenständigen „charakterologischen“ Vorgehensweise hervor, die sich auf einer intensiven qualitativen Behandlung von weniger Zwillingspaare begrenzte, dafür jedoch den ganzheitlichen „Kern der Charakter79 80
81
Vgl. ausführlicher hierzu Ash, Psychologie (zit. Anm. 1) und die dort zitierte Literatur. Gerhard Pfahler, Warum Erziehung trotz Vererbung?, 2. Aufl. Leipzig/Berlin, 1936, insbes. S. 56 ff.; Ders., Das Gespräch als Methode erbcharakterologischer Rassenforschung (mit Forschungsergebnissen). In: Otto Klemm (Hrsg.), Charakter und Erziehung. Bericht über den XVI. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie 1938. Leipzig 1939, 119-122. Vgl. Peter Chroust, Gleichschaltung der Psyche. Zur Faschisierung der deutschen Psychologie am Beispiel Gerhard Pfahlers. Psychologie und Gesellschaftskritik, 3 (1979), 29-40; Ders., Giessener Universität und Faschismus. Studenten und Hochschullehrer 1918-1945. Münster 1994, Band 1, S. 210f. Christian Eckle, Entwicklungscharakterologische Zwillingsuntersuchungen. Zeitschrift für angewandte Psychologie und Charakterkunde, Beiheft 82 (1939), S. 1.
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wirklichkeit“ zu erfassen vermochte.82 Damit wollte Eckle keine grundsätzliche Feindschaft gegenüber der biometrisch arbeitenden Eugenik ausdrucken. Gleichwohl könne man seiner Meinung nach die „Prinzipien echter Charakterologie“ nicht umgehen, denn „die Erforschung der Charaktereigenschaften ist aber immer nur möglich auf Grund ganzheitlicher Erforschung des Charakters.“ Und dies sei wiederum „nur möglich auf Grund individueller Charakteranalysen“.83 Damit wies Eckle implizit darauf hin, dass nicht allein im Hinblick auf die Zielsetzung, sondern auch in methodischer Hinsicht „die Ganzheitsgesinnung heutiger Forschung“84 gebührend zu berücksichtigen und somit Zielsetzung und Methodik gleichermaßen in Einklang mit einander sowie mit den vermeintlichen ideologischen Erfordernissen des Nationalsozialisten zu bringen seien. Im Falle der psychologischen Zwillingsforschung am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik ging es ebenfalls um einen Ansatz, der wenigstens programmatisch als Vorarbeit einer positiven eugenischen Praxis gedacht oder jedenfalls so dargestellt wurde. Doch darin wurde versucht, quantitative und ganzheitspsychologische Forschungsmethodiken und Gesichtspunkten miteinander zu verbinden.85 Institutsdirektor Eugen Fischer gründete die neue Abteilung für Erbpsychologie 1935. Nach seinen Angaben wurde die Gründung u. a. auch vom Reichsinnenministerium unterstützt.86 Niels Lösch deutet den Vorgang als Versuch Fischers, seinem Rivalen, dem Psychiater und Leiter der Genealogischen Abteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Psychiatrie in München, Ernst Rüdin, auf diesem Gebiet wie auf anderen Paroli zu bieten.87 Einiges spricht für diese Deutung, sie greift jedoch zu kurz, weil sie nicht hinreichend deutlich macht, dass Fischer selbst auf die Bedeutung psychologischer Forschungen für die Ausführung seines bereits Anfang der 1930er Jahre entwickelten Forschungsprogramms einer „Phänogenetik“ – d. h. der Entfaltung vererbter Eigenschaften im Verlauf der Entwicklung – betont hatte.88 Die praktische Rolle der neuen Abteilung scheint jedenfalls aus der Sicht Fischers klar gewesen zu sein. Schon 1933 hatte er geschrieben: „Für die positive Rassenhygiene und die Beeinflussung der biologischen Grundlagen der Kultur sind neue Kenntnisse über die Erblichkeit psychischer Eigenschaften wichtig“.89 Zum Leiter der neuen Abteilung bestellte Fischer den Psychologen Kurt Gottschaldt, ein Schüler der Gestaltpsychologen Wolfgang Köhler und Kurt Lewin, der sich mit einer Arbeit über den Aufbau kindlichen Handelns bei Erich Rothacker in Bonn habilitiert hatte.90 Nachdem er wegen angeblicher kommunistischer Tätigkeit 1933 denunziert wurde, 82 83 84 85
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Eckle, Entwicklungscharakterologische Zwillingsuntersuchungen, S. 21. Eckle, Entwicklungscharakterologische Zwillingsuntersuchungen, S. 20. Eckle, Entwicklungscharakterologische Zwillingsuntersuchungen, S. 16. Zum Folgenden vgl. ausführlicher Mitchell G. Ash, Die Erbpsychologische Abteilung des KaiserWilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1935-1945. In: Sprung, Lother und Schönpflug, Wolfgang (Hrsg.), Geschichte der Psychologie in Berlin, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2003, 401-428; Ders., Gestalt Psychology, Kap. 20; Ders., From 'Positive Eugenics' to Behavioral Genetics: Psychological Twin Research under Nazism and Since. Historia Pedagogica - International Journal of the History of Education, Supplementary Series, 3, 1998, 335-358. Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem. KWI-Anthropologie, Bd. 2406, Bl. 180. Niels C. Lösch, Rasse als Konstrukt. Leben und Werk Eugen Fischers. Frankfurt a.M. 1997, S. 322 ff. Eugen Fischer, Versuch einer Genanalyse des Menschen, Zeitschrift für induktive Abstammungslehre, 54 (1931), 128-234, insbes. S. 212 f. In einer neuen, umfassenden Studie zur Geschichte des Instituts wird die endgültige Umschwung zur „Phänogenetik“ irrtümlicherweise erst in den späten 1930er Jahren, also in der Zeit nach der Gründung der „Erbpsychologischen Abteilung“, verortet. Vgl. Hans Walter Schmuhl, Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927-1945. Göttingen 2005. Eugen Fischer, Tätigkeitsbericht, 15.6.1933. Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem. KWI Anthropologie, Bd. 2399. Vgl. Ders., Kaiser Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. In: M. Hartmann (Hrsg.), 25 Jahre Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Bd. 2. Berlin 1936. Kurt Gottschaldt, Der Aufbau des kindlichen Handelns. Zeitschrift für angewandte Psychologie, Beiheft 68. Leipzig 1933.
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vermochte Rothacker ihn nur noch ein Semester lang in Bonn zu halten; seine Karriere stand vor dem Aus, als der Kontakt zu Fischer mit Hilfe Rothackers zustande kam.91 Gottschaldt und seine Mitarbeiter stellten sich nun die Aufgabe, die von ihm in Bonn verwendeten Beobachtungsmethoden, vor allem die systematische Beobachtung von Handlungsstilen und die statistische Bearbeitung der Ergebnisse, für die psychologische Zwillingsforschung dienstbar zu machen. Mittel zu diesem Zweck waren so genannte „Zwillingslager“, die zur Beobachtung der Kinder in einer annähernd natürlichen Umgebung – zunächst auf Versuchsbasis in der Nähe von Berlin mit Unterstützung des Gauamtsleiters der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, Gau Berlin und danach in den Sommern 1936 und 1937 im Kinderheim „Seehospiz“ auf der Insel Norderney – eingerichtet wurden. Dass Gottschaldt Kontakte zum Rassenpolitischen Amt der NSDAP bereits zu diesem Zeitpunkt geknüpft und das Interesse des Amtsleiters Walter Groß an seiner Arbeit geweckt hatte ist durch die populäre Darstellung der Abteilungsarbeit in der Zeitschrift des Amtes, Neues Volk, im Jahre 1937 mit einiger Plausibilität belegt.92 Kurz zusammengefasst bestand die Vorgehensweise dieser Untersuchung in einer Verbindung von systematischer, von Gottschaldt so genannter „phänomenologischer Dauerbeobachtung“ der Einstellungen und Verhaltensstile der Kinder im Alltag mit experimentellen Studien über ihre Reaktionen auf Problemlösungs- und Konfliktsituationen, Erfolgsund Mißerfolgserlebnisse, Durchstehen von Rivalisierungssituationen und dergleichen mehr.93 Dabei versuchte man, die Daten nicht nur in Worten sondern auch möglichst quantitativ zu erfassen; so wurden die Mitarbeiterinnen der „Zwillingslager“ – meist geschulte Horterzieherinnen – dazu angewiesen, die Grundtemperamente der Kinder – ob sie sich der Umwelt zu- oder abgewandt bzw. stimmungsmäßig fröhlich oder eher griesgrämig aufgelegt zeigten – täglich entlang einer Zehnpunkteskala festzuhalten. Diese Daten sowie auch die quantitativen Ergebnisse der experimentellen Studien wurden nach der zu jener Zeit international gängigen Methodik der Konkordanz und Diskordanz statistisch bearbeitet. Demnach wurden die Unterschiede im Verhalten bzw. in den Meßdaten der zweieiigen, d. h. erbungleichen Zwillinge untereinander mit den Werten der eineiigen, d. h. erbgleichen Zwillinge verglichen; die Größe dieser Unterschiede bzw. den Grad der Ähnlichkeiten im Verhalten der Zwillingspaare untereinander stellte man dann als Maß der Erblichkeit des behandelten Merkmals bzw. des entsprechenden Verhaltensstils dar. Beachtenswert in diesem Zusammenhang ist die methodologische Stellungnahme Gottschaldts. Wie schon vor 1933 machte er auch in dieser Zeit geltend, dass Intelligenztests lediglich über gewisse Einzelfunktionen Aufschluß gäben, die für die Schule von Bedeutung seien, ohne das Augenmerk auf die Einbettung jener Funktionen in natürlichen, lebensnahen Handlungsganzheiten zu richten. Insofern wusste er sich mit vielen Anhängern der „ganzheitlichen Gesinnung heutiger Forschung“ einig. Doch kritisierte Gottschaldt auch typologische Verfahren wie die von Pfahler und seine Schüler, weil körperlichmorphologische Eigenschaften im Grunde statisch seien, während „der seelisch-geistige Erlebnis- und Wirkungszusammenhang immer ein Geschehensvorgang, immer prozeßhaft“ sei, „und entsprechend sind seelische Eigenschaften niemals fertig vorhanden sondern
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Zur Gründungsgeschichte vgl. ausführlicher Ash, Die Erbpsychologische Abteilung. Kurt Gottschaldt, Zwillingsforschung. Neues Volk, Februar 1937, 9-13. Kurt Gottschaldt, Über die Vererbung von Intelligenz und Charakter. Fortschritte der Erbpathologie und Rassenhygiene, 1 (1937), 1-21, hier: S. 6-7; vgl. Ders., Zur Methodik erbpsychologischer Untersuchungen in einem Zwillingslager, Zeitschrift für induktive Abstammungs- und Vererbungslehre, 73 (1937), 518-523, hier: S. 522 f.; Ders., Die Methodik der Persönlichkeitsforschung in der Erbpsychologie. Leipzig 1942, S. 94 ff.
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durch ihr Entstehungsmoment charakterisiert“.94 Demgegenüber ermögliche die im Zwillingslager verwendete Dauerbeobachtung die Verfolgung solcher prozeßhaften Momente und berechtigt zur Hoffnung, dass die im fließenden Geschehen zum Ausdruck kommenden, charakteristischen Handlungsstile, Temperamente usw., erfaßt werden könnten. Hier wie in den oben besprochenen Beispielen handelte es sich also nicht darum, ob sondern wie psychologische Grundlagenforschung im Sinne der Zielsetzungen der des NSRegimes zu funktionalisieren sein könnte. Die Vormachtstellung der von Gottschaldt kritisierten typologischen Methoden zu jener Zeit verdankten sie vor allem der Leichtigkeit, mit der sich Verbindungen zur NS-Rassenlehre verknüpfen ließen, sie wurden aber in den späten 1930er Jahren auch im Rahmen der Offiziersauslese der Wehrmacht erprobt (siehe unten). Für viele der damals führenden akademischen Psychologen wie Pfahler, Jaensch und Kroh waren typologische Methodiken dazu geeignet, das Vorhandensein verschiedener Persönlichkeitstypen nachzuweisen und diese bestimmten Nationen, gegebenenfalls auch bestimmten Rassen, zuzuordnen. Stattdessen versuchte Gottschaldt die Eignung der auf universell gültige Strukturgesetze des Verhaltens ausgerichteten Denkweise der Gestaltpsychologie für die entwicklungspsychologische Persönlichkeitsforschung und damit indirekt für die Forschungsaufgaben des neuen Staates – in diesem Fall eine „positive“ eugenische Auslese – zu begründen. Zu diesem Zeitpunkt waren weder Fischer noch seiner Abteilungsleiter Mitglieder der NSDAP; dies tat ihrer Bereitschaft, die Abteilungsarbeit als Beitrag zur Realisierung eines der zentralen politischen Projekte des Nationalsozialismus darzustellen, kein Abbruch. Es soll betont werden, dass die Zwillinge allesamt sogenannte „Arier“ waren – es sei an den Hinweis Fischers auf eine „positive Rassenhygiene“ erinnert. Sie kamen aus verschiedenen sozialen Schichten und regionalen Umgebungen; einige z.B. waren aus friesischen Bauernfamilien, andere aus Berlin. Diese Variabeln wurden neben Alter und Geschlecht in den Studien Gottschaldts sorgfältig kontrolliert. Ein damaliger Beobachter wertete dies als einen Hinweis auf „die Berücksichtigung rassenpsychologischer Unterschiede“, wies jedoch auch darauf hin, dass eine „Auslese nach bestimmten Rassetypen“ im Sinne Günthers nicht getroffen worden war.95 Im oben erwähnten populärwissenschaftlichen Artikel über seine Arbeit in der vom Rassenpolitischen Amt der NSDAP herausgegebenen Zeitschrift Neues Volk, beschrieb Gottschaldt selbst sein Forschungsvorhaben jedoch nicht auf dieser Weise. Später nannte er zwar die Erbpsychologie den „wichtigsten Zugang zur Rassenpsychologie“, fügte aber sogleich hinzu, dass „auch in der Rassenpsychologie gesicherte Erkenntnis wiederum nur auf statistisch-mathematischer Basis möglich“ sei.96 Offenkundig bestand hier eine gewisse Aufgabenteilung, denn Institutsdirektor Eugen Fischer und nicht sein Abteilungsleiter übernahm die Darstellung der Zielrichtung dieser
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Gottschaldt, Zur Methodik erbpsychologischer Untersuchungen, S. 520. Diese Auffassung des psychischen Geschehens verdankte Gottschaldt dem jüdischen Psychologen Kurt Lewin, den er allerdings nicht an dieser Stelle, sehr wohl aber in einem Handbuchartikel 1939 zitiert. Georg Suttinger, Zwillingslager Norderney. Rasse. Monatsschrift für den nordischen Gedanken, 6 (1939), 23-25. Benoit Massin, Rasse und Vererbung als Beruf, Die Hauptforschungsrichtungen am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. In: Hans-Walter Schmuhl (Hrsg.), Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933. Göttingen 1993, 190-245, hier: S. 230-236. Massin versucht die Arbeiten Gottschaldts als „Rassenpsychologie“ bzw. als Basis eines „rassenpsychologischen“ Forschungsprogramms von Fischer zu deuten, übersieht jedoch den einschränkenden Hinweis Suttingers, der gegen diese Deutung spricht. Leider zeugt seine völlig irreführende Beschreibung der Rassenkunde Günthers als „eine rassistische Version der Gestaltpsychologie“ (S. 232) von einem eklatanten Mangel an Sachkenntnis auf diesem Gebiet. Kurt Gottschaldt, Die Statistik in der Psychologie. In: Friedrich Burgdörder (Hrsg.), Die Statistik in Deutschland nach ihrem heutigen Stand, Bd. 1. Berlin 1940, 386-396, hier: S. 394. Von diesem Standpunkt heraus erklärt sich mühelos die Schärfe der ablehnenden Stellungnahme Gottschaldts im seinen oben (Anm. 77) bereits zitierten Gutachten gegen die Rassenseelenlehre von Clauß.
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Arbeiten gegenüber der Institutsverwaltung und in der Öffentlichkeit.97 Schon 1936 hatte Fischer dabei auch die Schwierigkeiten der Aufgabe betont und deutlich gemacht, dass man „schrittweise und vorsichtig“ vorgehen wolle.98 Durch diese methodologisch begründete Vorsicht war es möglich, die empirischen Forschungsergebnisse der Abteilung nicht zu sehr ausführlich darstellen zu müssen. Diese Ergebnisse bestätigten nämlich nicht ohne starke Qualifizierung die Behauptung, dass psychische Funktionen und Fähigkeiten insgesamt und im gleichen Ausmaß vererbt werden. Gottschaldt und seine Mitarbeiter fanden nämlich, dass das Verhältnis der errechneten Unterschiede der jeweiligen Durchschnittswerte für zweieiigen und eineiigen Zwillingspaaren – beim Problemlösungsverhalten im Bereich der praktischen und theoretischen Intelligenz 2:1 betrug; bei den Ratings der Grundtemperamente betrug das Verhältnis aber im Falle der „Ansprechbarkeit“ (d.h. der Auf- bzw. Abgeschlossenheit gegenüber der Umwelt) 4,7:1 und im Falle des so genannten „vitalen Antriebs“ sogar 6,3:1.99 Mithilfe der zu jener Zeit einschlägigen Schichtentheorie der Persönlichkeit von Philipp Lersch100 könnte Gottschaldt das Grundtemperament von der „höheren“ Ebene der geistigen Begabung trennen und behaupten, dass sowohl das Grundtemperament als auch die höhere geistige Funktionen erblich seien, nur in unterschiedlichem Ausmaß. Über die Implikationen eines solchen Befunds für die Praxis ließ er sich aber an den zitierten Stellen nicht aus. Nur wenig später führte Gottschaldt als erster neben Peter Hofstätter neue statistische Bearbeitungsmethodiken wie die Faktorenanalyse aus den USA in die deutschsprachige Psychologie ein. Auf dieser Grundlage betonten nun er und sein Assistent Kurt Wilde, dass Erbe und Umwelt ohnehin keine feste Größen, sondern Streuungsmaße seien, die z.T. erhebliche individuelle Unterschiede nur zusammenfassen; so betrachtet ist die Diagnose einer Person „nichts anderes als die Ortsbestimmung innerhalb der Verteilungsreihe einer Population“.101 Damit ließen diese Ergebnisse aber keine direkte Rückschlüsse auf das Verhältnis von Erbe und Umwelt bei einzelnen Individuen oder gar einzelne Zwillingspaare zu. Für eine Rassenpsychologie jedweder Prägung waren sie ebenso unbrauchbar geworden – es sei denn, man nahm psychologische Meßwerte innerhalb einer „Population“ ab, die man ohnehin nach anderen Kriterien bereits „rassenmäßig“ definiert hatte. Wie nun die potentielle Verwendbarkeit dieser Forschung für eine wie auch immer geartete rassenhygienische Auslese aussehen sollte, war kaum mehr etwas zu sagen. Durch dieses Beispiel wird immerhin deutlich, dass Jaensch, Pfahler, Kroh, Sander oder gar Günther als Alleinherrscher des Fachs kaum galten. Im Gegenteil: ihre Ansätze blieben nicht einmal im Bereich der praxisorientierten Grundlagenforschung unbestritten. Das Gleiche gilt erst recht für die Grundlagen der Berufspsychologie im Nationalsozialismus.
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Vgl. z.B. das Vorwort Fischers zu Gottschaldt, Die Methodik der Persönlichkeitsforschung. Eugen Fischer, Das Kaiser Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. In: Max Planck (Hrsg.), 25 Jahre Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Bd. 1. Berlin 1936, S. 355. Hervorhebung von MGA. 99 Kurt Gottschaldt, Erbpsychologie der Elementarfunktionen der Begabung. In: Günther Just (Hrsg.), Handbuch der Erbbiologie des Menschen. Erster Teil: Erbneurologie – Erbpsychologie Bd. V/1. Berlin 1939, 445-537: hier, S. 459; Ders., Phänogenetische Fragestellungen im Bereich der Erbpsychologie. Zeitschrift für induktive Abstammungs- und Verebungslehre, 76 (1939), 118-157: hier, S. 126. 100 Philipp Lersch, Der Aufbau des Charakters. Leipzig, 1938. 101 Gottschaldt, Die Statistik, S. 394, sowie Ders., Die Methodik der Persönlichkeitsforschung, insbes. S. 10 ff.
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Die Durchsetzung einer handlungshermeneutischen Berufspraxis in der Wehrmachtspsychologie Dass Gottschaldt bei der Interpretation seiner Forschungsergebnisse auf die von Philipp Lersch entwickelte Schichtentheorie der Persönlichkeit zurückgreift, ist kein Zufall. Aus dem praktischen Zusammenhang seiner Arbeit in der Offiziersauslese für die Reichswehr hatte Lersch bereits Anfang der 30er Jahre eine Persönlichkeitsdiagnostik entworfen, in der die geschulte Intuition nicht mehr als Alternative zur „Schulpsychologie“, wie bei Klages, sondern als methodologische Grundlage einer wissenschaftlich begründeten Berufsausbildung begriffen wurde. So analysierte er etwa anhand der Ausdruckslehre Darwins den anatomischen (das heißt den muskulösen) Unterbau der Ausdrucksbewegungen im von ihm so genannten „mimischen Gelände“ der oberen und unteren Gesichtsteile, um diese dann mittels Filmaufnahmen zu beobachten und zu klassifizieren. Körperbewegung und Ausdruck bilden dabei eine psychophysische Einheit, oder in seinen Worte einen „polar-koexistentialen Zusammenhang“, der sich anhand von „sinnlich-seelischen Spontanzeichen“ am deutlichsten äußert.102 Der Schritt von hier zur Rassenlehre scheint nicht weit zu sein, Lersch tat ihn jedoch nicht, sondern verblieb im Duktus einer allgemeinen, zwar physiognomischen aber nicht typologischen Ausdrucks- und Seelenlehre. Auf der Grundlage dieser charakterologischen Diagnostik und nicht der Rassenpsychologie Günthers, sollte die deutsche Psychologie im Nationalsozialismus vor allem im Rahmen der Offiziersauslese für die Wehrmacht professionalisiert werden.103 Wie eingangs bereits festgestellt, stellte das Militär den stärksten Wachstumssektor der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus dar. Infolge der deutschen Wiederaufrüstung und der damit zusammenhängenden Nachfrage nach Offizieren erfuhr die Heeres-, später die Wehrmachtpsychologie einen bis dahin nie da gewesenen Aufschwung. Schon 1935 arbeiteten mehr als 450 Psychologen allein im Heere, das sind mehr Psychologen, als es Mitglieder in der Deutschen Gesellschaft für Psychologie im Jahre 1931 gegeben hatte. Die Situation steht im starken Kontrast zur Situation in den USA im Ersten Weltkrieg. Zu jener Zeit war die primäre Zielsetzung dort die Klassifizierung einer großen Anzahl einfacher Soldaten in kurzer Zeit mittels Intelligenz- sowie anderer Papier- und Bleistifttests, während die Auswahl der Offiziere nach wie vor durch Selbstrekrutierung geschah.104 Demgegenüber bestand der Hauptzweck der Heerespsychologie in eben dieser Elitenauswahl, welche allerdings in Zusammenarbeit zwischen Psychologen und Offizieren geschehen sollte. Die Arbeitsweise der Heerespsychologie ist eher als Gemeinschaftswerk denn als die Schöpfungen Einzelner zu betrachten. Leonhard Renthe-Fink gibt zu, dass die Ausbildung der Prüfer nicht immer eine einheitliche war, so dass die jeweiligen Beurteilungen eher den jeweiligen Richtungen der Prüfer als irgendwelchen einheitlichen Standards entsprachen.105 Der gemeinsame Nenner war dennoch deutlich genug, nämlich die Verbindung von aus der Psychotechnik kommenden, quantitativen Methodiken mit qualitativen, geis102 Philipp Lersch, Gesicht und Seele. Grundlagen einer mimischen Diagnostik. München 1932, hier: S. 14. 103 Ulfried Geuter, Polemos panton pater - Militär und Psychologie im Deutschen Reich 1914-1945. In: Ash und Geuter (Hrsg.) Geschichte der deutschen Psychologie, 146-171; Ders. Die Professionalisierung, insbes. Kap. III. Für eine vergleichende Perspektive vgl. neuerdings Stefan J. Petri, Eignungsprüfung, Charakteranalyse, Soldatentum. Veränderung der Wissenschafts- und Methodenauffassung in der Militärpsychologie des Deutschen Reiches, Großbritanniens und der USA 1914 bis 1945. Dissertation Rijksuniversiteit Groningen, 2004. 104 John Carson, Army Alpha, Army Brass and the Search for Army Intelligence, Isis, 84 (1993), 278-309; Gundlach, Faktor Mensch im Krieg (Anm. 7). 105 Leonhard von Renthe-Finck, Von der Heerespsychologie zur Wehrmachtpsychologie. In: Peter Hofstätter u. a., Deutsche Wehrmachtpsychologie 1914-1945. München 1985, 3-183.
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tes- und ausdruckspsychologischen Prüfungstechniken als gemeinsame Grundlage einer „charakterologischen“ Diagnostik. Auf der Grundlage der detaillierten Berichte einiger Ehemaligen sowie einiger spärlichen Primärquellen kann man die Verbindung „charakterologischer“ bzw. Ausdruckspsychologischer und psychotechnischer Methoden in der Offiziersauslese der Wehrmacht nachvollziehen.106 In einem in seinen Grundstrukturen schon vor 1933 in der Reichswehrpsychologie entwickelten und tausendfach verwendeten Standardverfahren, der sich über mehrere Tage erstreckte, wurden Tests für intellektuelle Fähigkeiten, ausdruckskundliche Untersuchungen und Beobachtungen vom Verhalten der Offiziersanwärter in konstruierten Befehlssituationen herangezogen. Von der Erforschung von Spezialfähigkeiten abgesehen, bestand das Prozedere im Wesentlichen aus vier Analysen:107 1. Die Lebenslaufanalyse, die auf einem „Exploration“ genannten Gespräch des Kandidaten mit einem Prüfer auf der Grundlage eines handgeschriebenen Lebenslaufs basierte; 2. Die Ausdrucksanalyse, die auf der Beobachtung durch Einwegfenster der Gesichts- und Ganzkörperreaktionen der Kandidaten auf einfache Leistungsaufgaben, wie z.B. das Biegen eines Drahts, sowie auf Elektroschocks von steigernder Intensität, beruhte – beides wurden als Willensprüfungen verstanden; 3. Die Geistesanalyse auf der Grundlage von Papier- und Bleistift-Tests wie den so genannten Lückentest von Hermann Ebbinghaus, sowie Beobachtungen des Problemlöseverhaltens der Kandidaten; und 4. Die Handlungsanalyse auf der Grundlage einer Beobachtung der Kandidaten in einer Reihe simulierter Befehlssituationen, in denen die anderen Kandidaten und Prüfer die Rolle der „Truppe“ einnahmen. Ein Rundgespräch mit Kandidaten und Prüfern schloß das Ganze ab, aber im Grunde waren diese alle Aufgaben, die auf den Umgang der Prüflinge miteinander und mit den Prüfern angelegt waren. Nach dem Leiter des Forschungsinstituts der Wehrmachtpsychologie, Max Simoneit, sei auf allen dieser Stufen „die Aufweisung objektivierbarer Erscheinungen als Zeichen für seelische Merkmale möglich“.108 Psychotechnische Eignungsuntersuchungen wie Reaktionsprüfungen, Bemessungen der Aufmerksamkeitsspanne, sowie aus den USA übernommene, statistisch auszuwertende Tests der Berufsinteressen und Veranlagungen kamen dabei zur Verwendung. Allerdings wurden anfangs Worte wie „Psychotechnik“ oder „Intelligenz“ angeblich aus ideologischen Gründen peinlichst vermieden.109 Ohnehin wurde keine dieser Aufgaben als eine psychotechnische im herkömmlichen Sinne begriffen. In erster Linie ging es nämlich weniger um die Leistung selbst als um die Beobachtung der charakteristischen Handlungsstile der Probanden als Indikatoren von Persönlichkeitsmerkmale; die Prüfungen sollten nur das Material für eine Gesamtdeutung des Charakters abgeben. Obwohl Papier- und Bleistiftaufgaben durchaus vorkamen, bleiben diese also gegenüber der intuitiven Beobachtung der Verhaltensstile der Offiziersanwärter untergeordnet. Zu106 v. Renthe-Finck, Von der Heerespsychologie zur Wehrmachtspsychologie; Werner Fritscher, Die psychologische Auswahl des Offiziersnachwuchses während des Zweiten Weltkrieges in der Wehrmacht. In Hofstätter u. a., Deutsche Wehrmachtspsychologie, S. 423-475, sowie die dort zitierte Literatur. Siehe auch die weiteren Kapitel im selben Band von Wilhelm Mitze zur Marine- und Siegfried Gerathewohl zur Luftwaffenpsychologie, auf die hier aus Platzgründen nicht eingegangen wird. Der apologetische Charakter dieser wie der anderen Beiträge im Sammelband ist offenkundig, gleichwohl sind sie bei entsprechend kritischer Lektüre als Informationsquellen durchaus dienlich. 107 Siehe hierzu ausführlicher Fritscher, Die psychologische Auswahl, S. 430 ff., sowie Geuter, Die Professionalisiserung, a.a.O., Kap. III. 108 Max Simoneit, Das diagnostische Problem in der praktischen Psychologie. Zeitschrift für Psychologie, 143 (1938), S. 2. 109 So v. Renthe-Fink, Von der Heerespsychologie zur Wehrmachtspsychologie, S. 91.
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sammengefaßt ging es in erster Linie darum, Situationen herzustellen, in denen sich das Habitus – in der damaligen Sprache das innere Wesen bzw. der Charakter – der zu prüfenden Menschen wie von selbst offenbaren sollte. Insofern ist es durchaus berechtigt, in diesem Zusammenhang von einer Handlungshermeneutik zu sprechen. Eine solche Hermeneutik setzt offenkundig keine Opposition, sondern vielmehr eine Einheit von Leib und Seele voraus. Der Physiognomik der Weimarer Zeit entsprechend, unterstellt die wehrmachtpsychologische Charakterologie methodisch „einen integralen Menschen, dessen Leib Ausdruck seiner Seele und dessen Seele der ‚Sinn des Leibes‘ ist“.110 Sowohl die ganzheitliche als auch die geisteswissenschaftliche Orientierung dieses Verfahrens bringt die Heeresdienstverordnung Nr. 26 von 1939, welche die Richtlinien für die Psychologischen Prüfstellen der Wehrmacht und für das Psychologische Laboratorium des Reichskriegsministeriums enthält, wie folgt zum Ausdruck: „im Gegensatz zu der auf Isolierung einzelner Fähigkeiten und auf technisches Messen ihres Leistungsgrades gerichteten psychotechnischen Methode handelt es sich hier um ein auf verstehendes Erfassen der ganzen Persönlichkeit gerichtetes psychologisch-charakterologisches Untersuchungsverfahren.“111 Noch genauer erscheint der Terminus Handlungshermeneutik, wenn das theoretische Muster bedacht wird, mittels dessen das Material gedeutet werden sollte. Die am meisten verwendeten Ordnungskriterien kamen von der Schichtentheorie von Lersch und der Charakterologie von Klages. Im letzten Fall sprach man z.B. von einer charakterlichen „Dominante“, die in Handschriften wie in anderen Ausdrucksbewegungen sowie in der mimischen Gestik eines Menschen unmittelbar äußern sollte. Trotz dieser für heutige Ohren altertümlich klingenden Formulierungen ist der Offiziersauslese in der Wehrmacht das Attribut „Modernität“ keineswegs abzusprechen. Immerhin reichten diese Methoden aus, um eine Expertise zu begründen, welche die Einführung einer Diplomprüfungsordnung für Psychologie als eigenständiges Fach im Jahre 1941 – der erste Diplomabschluß in einer Geisteswissenschaft überhaupt – als gerechtfertigt erscheinen ließ. Dies geschah u.a. deshalb, weil der Abschluß, den die meisten Psychologen hatten, nämlich die Promotion der Philosophie, eine für die Laufbahnbestimmungen des Militärwesens keine hinreichende Spezifik für die Tätigkeit des Wehrmachtspsychologen aufwies. Auch in inhaltlicher Hinsicht kann von Modernität gesprochen werden, denn die in der neuen Prüfungsordnung spezifizierten Stoffgebiete blieben mit Ausnahme der Themen Weltanschauung und Rassenlehre bis in die 60er Jahre und z.T. auch noch später gültig. Viele Aspekte des Verfahrens kommen heute noch, wenngleich häufig mit veränderten Namen und in anderen Kontexten und Zusammensetzungen, zur Verwendung. So kommt beispielsweise eine Prozedere, die der Befehlsreihe sehr ähnelt, heute unter dem Namen Rollenspiel in der Managerauslese vor. Auch zu jener Zeit verfolgte man der Entwicklung dieses Ausleseverfahrens in den USA mit großer Aufmerksamkeit, wie Geuter mehrfach betont hat; nach dem Kriege wurden deutsche Militärpsychologen von amerikanischen Besatzungsoffizieren intensiv zu ihrer Arbeit befragt.112 NS-spezifische Aspekte des Verfahrens sind jedoch ebenso wenig zu leugnen. So gab es auch Versuche von Erich Zillian u.a., die rassenpsychologische Typologie H. F. K. Gün-
110 Eva Horn, Der totale Soldat. Zur anthropologischen Konstruktion des Kriegers zwischen 1914 und 1939, Berliner Debatte Initial, 10 (1999), 90-101, hier: S. 99. 111 Oberstleutnant Hans von Voß, Einleitung zu den ‚Richtlinien für die Psychologischen Prüfstellen der Wehrmacht und für das Psychologische Laboratorium des Reichskriegsministeriums. In: Rudolf von Tschudi, Überblick über die Geschichte des Personalwesens des Heeres (1943), repr. in Werner Fritscher (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Wehrmachtpsychologie 1914-1945. München 1990, S. 101. Vgl. v. Renthe-Fink, Von der Heerespsychologie zur Wehrmachtspsychologie, S. 92. 112 Geuter, Polemos panton pater und Die Professionalisierung; vgl. Heinz Ansbacher, German Military Psychology, Psychological Bulletin, 38 (1941), 370-392.
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thers in der Offiziersauslese anzuwenden.113 Im Jahre 1938 wurde das von Simoneit und Oberstleutnant Hans von Voß geleitete Psychologisches Laboratorium des Reichskriegsministeriums für kurze Zeit auch in „Hauptstelle der Wehrmacht für Psychologie und Rassenkunde“ umbenannt.114 Möglicherweise stand diese Namensänderung u.a. im Zusammenhang mit der Zusammenarbeit mit dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie und dem Rassenpolitischen Amt, die zur selben Zeit stattfand.115 Allerdings wurde oben bereits festgehalten, dass die rassenpsychologische Methodik nach Günther am eben genannten Kaiser-Wilhelm-Institut nicht favorisiert wurde, und sie setze sich in der Wehrmachtspsychologie offenbar auch nicht durch, denn man konnte keinen Zusammenhang zwischen den Rassetypen Günthers und den erforderlichen militärisch wichtigen Funktionen nachweisen, für die eine Auslese vorgenommen werden sollte. Gesucht wurde also der ganze Mensch – aber welcher Mensch? Die kurze Antwort lautet: der Typ des preußischen Offiziers in einer modernisierten Gestalt.116 Ein Autor stellt folgende Liste der „besonders zu begrüßenden Anlagen“ bereits in der ersten Nummer der Zeitschrift Soldatentum, dem offiziellen Organ des Psychologischen Laboratoriums im Reichskriegsministerium, im Jahre 1934 auf: „auf der Seite des Willens: Willensstärke, Charakterfestigkeit, Selbsterkenntnis, Zielstrebigkeit und Zielsicherheit; auf der Seite des Intellekts: logisches Denken, lebensnahe, praktische Intelligenz, Orientierungssinn, Ansätze zu einer Weltanschauung. Auf der Seite des Gefühls: Gefühlswärme, Taktgefühl, Offenheit, soziales Verständnis, Hingabebereitschaft und Begeisterungsfähigkeit für ideale Werte wie Führer, Volk und Vaterland“.117 Neuen Jahre später stellt Ludwig Eckstein die Verbindung zum traditionellen Ideal direkt her: „Nicht umsonst erleben wir in dem Ideal des preußischen Leutnants die selbstverständliche Vereinigung ungebrochener und lebendiger Natürlichkeit einerseits mit straffer Zucht und Diszipliniertheit andererseits“.118 Eine OKW-Richtlinie faßt sich kürzer, nennt das Wort „Weltanschauung“ aber verzichtet auf „ideale Werte“ und nennt Merkmale wie „Kontaktgewinnung, Anregungs- Durchsetzungs und Einordnungsfähigkeit“, die vom Leitungspersonal im zivilen Leben damals wie heute ebenso gefragt wurden; Eva Horn nennt sie zutreffend „basale Kompetenzen modernen sozialen Lebens“.119 So viel zum Idealbild. Was die Auswahlpraxis betrifft, so mußten bundesdeutsche Militärpsychologen der Nachkriegszeit, die z.T. selbst von der Heerespsychologie her kamen, zugeben, dass die Beibehaltung des Kooptationsprinzips, d.h. die Tatsache, dass die endgültige Auswahl nicht von den Psychologen, sondern von Offizieren, getroffen wurde, zur schleichenden Übernahme der bereits tradierten eher traditionellen Kriterien führte und sich damit „systembewahrend“ auswirkte.120 Ohnehin saßen Offiziere neben Psychologen und Sanitätsof113 Erich Zillian, Charakterologische Psychologie der Menschenauslese. Ergebnisse einer psychologischen Untersuchung an erbgleichen und erbungleichen Zwillingen (Ein Beitrag zur psychologischen Anthropologie). In: Abhandlungen zur Wehrpsychologie. 2. Folge. Vorträge aus einem Fortbildungskurs beim Psychologischen Laboratorium des Reichskriegsministeriums, Berlin 1937 (= Zeitschrift für angewandte Psychologie und Charakterkunde, Beiheft 79). Leipzig, 1938, S. 42-49; Ders., Angewandte Rassenseelenlehre in Ausleseuntersuchungen der Wehrmacht, Rasse. Monatsschrift für den Nordischen Gedanken, 6 (1939), 1-13. 114 v. Renthe-Fink, Von der Heerespsychologie zur Wehrmachtspsychologie, S. 100 ff. Ab Herbst 1939 hieß die Forschungsstelle ‚Inspektions für Eignungsuntersuchungen‘. 115 Von der Forschungsstelle der Wehrmachtpsychologie bezog Kurt Gottschaldt einige der Probanden für seine ersten, explorativen Arbeiten. 116 Vgl. hierzu ausführlicher Geuter, Die Professionalisierung, S. 180 ff., sowie Horn, Der totale Soldat, S. 98 ff. 117 Oberst a.D. Schimrigk, Die psychologische Beurteilung von Jugendlichen in Hinsicht auf die militärische Erziehung, Soldatentum, 1 (1934), S. 142, zit. n. Horn, Der totale Soldat, S. 99. 118 Ludwig Eckstein, Die Sprache der menschlichen Leibeserscheinungen (= Zeitschrift für angewandte Psychologie, Beiheft 92). Leipzig 1943, S. 318. 119 OKW, Anw., E 3, zit. n. Geuter, Die Professionalisierung, S. 198; vgl. Horn, Der totale Soldat, S. 99. 120 Fritscher, Die psychologische Auswahl, S. 448.
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fizieren, d.h. Psychiatern, bereits im Prüfungsausschuß zusammen, also gab es selbst in diesem Stadium keine grundsätzliche Selbständigkeit für die Psychologen. Man half sich meistens damit, dass sich die Psychologen vor der letzten Auswertungsrunde miteinander trafen, um das Gutachten vorzuformulieren. So wurde die Herstellung des Empfehlungsschreibens an die entscheidenden Offiziere zur rhetorischen Aufgabe, die zwischen zwei Berufskulturen vermitteln sollte. Gleichwohl, oder vielleicht gerade deshalb, soll die Übereinstimmung der Beurteilungen der Prüfstellen und denen der späteren Befehlshaber im Durchschnitt 85 Prozent gewesen sein.121 Inwiefern das alles für die Kriegsführung tatsächlich effizient gewesen ist, bleibt heute noch umstritten. Für die Professionalisierung der Psychologie in Deutschland war die Tätigkeit der Wehrmachtpsychologie entscheidend; dementsprechend wurde die Verkündung der Diplomprüfungsordnung am 1. April 1941 seinerzeit im feierlichen Ton als Durchbruch für das Fach gepriesen.122 In der Folge wurden, wie oben berichtet, Neuberufungen an mehreren Universitäten, die Besetzung bislang vakant gebliebener Lehrstühle, z.B. in Münster, Freiburg und Berlin mit ordentlichen und in Hamburg und Wien mit ao. Prof.Stellen vorgenommen. Das alles hatte nachhaltige Auswirkung sowohl auf die Stärke als auch auf die inhaltliche Ausrichtung des Fachs, und zwar weit über 1945 hinaus (siehe unten). Trotzdem wurde die Offiziersauslese, aber nicht Eignungsprüfungen für Spezialisten, in der Heeres- und die Luftwaffenpsychologie im Jahre 1942 abgeschafft, während die psychologische Arbeit in der Kriegsmarine weiterging. In der Literatur gibt es hierfür mehrere Erklärungsversuche.123 Überzeugend wirkt die These v. Renthe-Finks, dass das umständliche Verfahren der Belastung im Kriege nicht gewachsen war; ohnehin gab es, wie RentheFink und auch Geuter bemerkt haben, nach den ersten Niederlagen an der Ostfront einen Mangel statt eines Überflusses an Offiziersanwärter und eine Wandlung zum „Durchhalteoffizier“ und damit der Bewährungskriterien zugunsten der Bewährung im Felde.124 Darüber hinaus hat es aber auch schon seit längerer Zeit Gegner eines psychologischen Ausleseverfahrens in der NSDAP und im Heere gegeben. Während die einen wechselweise den zersetzenden Einfluß der Psychoanalyse oder eine Mechanisierungsgefahr durch die Psychotechnik mutmaßten, wehrten sich die anderen gegen jede Einmischung von zivilen Experten. In der veränderten Situation im Kriege konnte man deren teilweise weltanschaulich und teilweise durch Konkurrenz begründeten Einwänden wenig entgegensetzen. In der Folge gab es mehrere Versuchen, das Fach auf andere Tätigkeitsfelder hin, insbesondere im Rahmen der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) und der Arbeitspsychologie, umzuorientieren.125 Worin diese Arbeit unter anderem auch bestehen konnte, zeigt der 121 Fritscher, Die psychologische Auswahl, S. 454, zitiert diese Ziffer aus einer Arbeit Simoneits aus dem Jahre 1954, fügt aber hinzu, dass die tatsächliche Übereinstimmung kaum über 78 Prozent gewesen sein durfte. Interessanterweise fiel ausgerechnet der Bewährungsgrad der Willensprüfungen von den anderen deutlich ab. 122 Geuter, Die Professionalisierung, Kap.VI; Oswald Kroh, Ein bedeutsamer Fortschritt in der deutschen Psychologie. Werden und Absicht der neuen Prüfungsordnung. Zeitschrift für Psychologie, 151 (1941), 1-32. 123 Für einen kritischen Überblick siehe Geuter, Die Professionalisiserung, S. 390 ff.; vgl. v. Renthe-Fink, Von der Heerespsychologie zur Wehrmachtspsychologie, S. 124 ff. 124 Geuter, Die Professionalisiserung, S. 401. 125 Siehe Geuter, Die Professionalisierung, Kap. IV, sowie Ders., Psychologie in der Zeit des Nationalsozialismus. In: Helmut Lück u. a. Sozialgeschichte der Psychologie. Eine Einführung. Opladen 1987, 61140 (mit Dokumenten). Philipp Lersch, Die praktischen Einsatzgebiete der Psychologie, Deutschlands Erneuerung, 27 (1943), 54-67, nennt vier solche Aufgaben (auf S. 65): „Erziehung, Berufslenkung, Arbeitsgestaltung und Menschenführung“. Letztere schloss die Tätigkeit in der NSV mit ein. In der Schrift, Die sozialpolitischen Aufgaben der deutschen Psychologie. Wirtschafts- und Sozialberichte, Hrsg. vom Arbeitswissenschaftlichen Instituts der DAF, Nr. 1/2. Berlin, 1942, 180-194, heißt es (auf S. 194): “Die Psychologie hat künftig ihren Platz im Dienste der Sozialpolitik“. Kursiv im Original.
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Befund, dass die Untersuchung und Auslese von deportierten osteuropäischen Arbeitskräften und Kriegsgefangenen für Aufgaben der Zwangsarbeit und die Eignungsbegutachtung von Frauen Schwerpunkte der Arbeit am Institut für Arbeitspsychologie und Arbeitspädagogik der Deutschen Arbeitsfront – der ersten staatlich finanzierten Forschungsstätte für Betriebspychologie in Deutschland – im Krieg war.126 Auf die Arbeit von Psychologinnen bei der NSV wird weiter unten einzugehen sein. Handlungshermeneutik und ‚Umvolkung‘ Über ein weiteres Praxisfeld geisteswissenschaftlicher Persönlichkeitsdiagnostik im Kriege sei hier kurz berichtet. Es handelt sich um Arbeiten von Rudolf Hippius an der Reichsuniversität Posen sowie um die Tätigkeit von Hildegard Hetzer und anderen für die NSV in der Wartegau. Obwohl diese Arbeiten in unterschiedlichen Kontexten entstanden sind, stellen sie auf der jeweils eigenen Weise Beispiele dafür dar, wie Geisteswissen als Selektionsinstanz im Rahmen der NS-Besatzungs- und ‚Umvolkungs‘politik im besetzten Polen mobilisiert werden konnte. Im Falle der Arbeit von Hippius handelte es sich um Versuche an Posener deutschpolnischen „Mischlingen“ und Polen, die unter Anregung und mit Unterstützung der Reichsstiftung für deutsche Ostforschung im Sommer 1942 durchgeführt wurden.127 Konkret ging es dabei darum, sozial-, oder wie man damals schrieb, völkerpsychologische Methoden für die Siedlungspolitik in der Warthegau dienstbar zu machen. An den Untersuchungen nahmen u.a. auch der damals als Professor in Königsberg tätige Tierpsychologe und Verhaltensforscher Konrad Lorenz ehrenamtlich teil; im selben Jahre schrieb er seine Monographie „Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung“, in der er u.a. eine „bewußte, wissenschaftlich unterbaute Rassenpolitik“ forderte.128 Politischer Kontext dieser Arbeit war das praktische Problem der Entwicklung eines Auswahlverfahrens für die Eindeutschung ‚polnisch versippter‘ bzw. ‚rassisch wertvoller Polen‘. In diesem Rahmen wurden neben den bereits bestehenden Volkslisten 1 (Bekenntnisdeutsche) und 2 (Deutschstämmige) 1940-1941 die Volkslisten 3 („im Polentum aufgegangene, wiedereindeutschungsfähige Deutschstämmige“) und 4 („wiedereindeutschungsfähige volksdeutsche Renegaten“) geschaffen. Die Versuchspersonen der Untersuchung von Hippius gehörten den beiden zuletzt genannten Listen an. Die praktische Ausrichtung der Arbeit wurde u.a. durch die Tatsache deutlich gemacht, dass der Forschungsbericht dem Präsidenten der Reichsstiftung für Deutsche Ostforschung, dem Gauleiter und Reichsstatthalter im Wartheland Arthur Greiser zugeeignet wurde.129 Außerdem wurde dem wissenschaftlichen Teil ein „knappes Gutachten“ für den Praktiker vorangestellt. Auch im wissenschaftlichen Teil des Textes heißt es beschwörend: „Die völkischen Grundcharaktere sind keine ‚ideologischen‘ Fragen, sondern Schicksalsmächte, an denen kein Gestalter von Lebensraum vorbeikommt“.130 126 Geuter, Die Professionalisierung, insbes. S. 297 ff.; Ders., Das Institut für Arbeitspsychologie und Arbeitspädagogik der Deutschen Arbeitsfront. Eine Forschungsnotiz. 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, (1987), Heft 1, 87-95. Zur Arbeitswissenschaft im Allgemeinen siehe Irene Raehlmann, Arbeitswissenschaft im Nationalsozialismus. Eine wissenschaftssoziologische Untersuchung. Wiesbaden 2005. 127 Rudolf Hippius, Volkstum, Gesinnung und Charakter. Völkische Prägung seelischen Seins. Stuttgart u. Prag 1943. 128 Hippius, Volkstum, S. 12. Zum Kontext siehe Ute Deichmann, Biologen unter Hitler. Vertreibung, Karrieren, Forschung. Frankfurt a. M. 1992, S. 261-264, hier: S. 263. 129 Zur Reichsstiftung siehe Michael Burleigh, Germany turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich. Cambridge 1988, S. 294-296. 130 Hippius, Volkstum, S. 114.
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Solche „Charaktere“ stellte Hippius als Gefüge dar, deren Teile sich gliedhaft zu einem Ganzen fügen. Seine völkerpsychologische Charakterologie sollte jedoch keine Typologie sein, obwohl die Typenkunde von Jaensch, Kroh und Pfahler zur Informationsgrundlage der Prüfer gehörten. In der Praxis weist diese Diagnostik Parallele zu jener der Wehrmachtpsychologie auf. In beiden Fällen handelt es sich um ein komplexes Ineinandergreifen psychotechnischer und „charakterologischer“ Methodiken, und in beiden Fällen gab es Gruppenversuche. Allerdings sind auch Ähnlichkeiten zur amerikanischen Persönlichkeitsdiagnostik derselben Zeit feststellbar; so wurden in beiden Orten projektive Tests verwendet.131 Wie in der Wehrmachtpsychologie ging es hier aber im Gegensatz zur US-amerikanischen Persönlichkeitsdiagnostik nicht um die quantitative Bemessung von Leistungen oder persönlichen Interessen, sondern um die Herstellung von Situationen, die sich für die Feststellung und Beobachtung ‚charakteristischer‘ Verhaltensstile zu eignen schien. Dabei wurden in einer ersten Phase Verhaltensprotokolle geführt, welches das Material für das zweite, deutende Verfahren abgeben sollte. Nach Hippius wurde die Bewertung nach den folgenden Kriterien vorgenommen: Vitalitätsstufe, Steuerungsart (d.h. emotional/energisch versus kontrollierter Verhaltensstil), individuelle Thematik, sozialer Bezug (Ansprechbarkeit, sozial- versus personenzentrierte Bindungen und Einordnungsbereitschaft), Intelligenzstufe, Konstitution, sowie Intensität, Tiefe, Öffnungsgrad, Konstanz und Konsistenz der Gefühle. Die Ergebnisse wurden nebst einer typologischen Diagnostik und den Daten zu den „völkischen Blutsanteilen“ auf einer Personalkarte notiert. Es folgte darauf eine „Lebenstüchtigkeitsprognose“. Im „knappen Gutachten“ für Praktiker ging es dann ganz unverblümt um das Kriterium der Einordnungs- und Leistungsbereitschaft, sowie um die „Voraussetzungen der Verwendung der vorhandenen seelischen Kräfte“ zu „einer geordneten Leistung“.132 Es überrascht wohl kaum, dass Hippius befand, dass sowohl die Polen als auch die als überwiegend „polnisch“ eingestufte Mitglieder der „gemischten“ Gruppe spontaner, eher gruppen- statt personenzentriert und weniger leistungsorientiert waren. Als Ergebnis hielt er deutliche Unterschiede der völkischen „Grundstrukturen“ fest, die in einer schematischen Zusammenfassung mit den sonst üblichen Vorurteilen über Polen und Deutsche fast gleich lauteten.133 Interessanter ist der Befund, dass bei so genannten Mischlingen ersten Grades ein Wandel der seelischen Grundstruktur, eine „Verlagerung der zentralen Lebenswerte“ konstatiert wurde.134 Der Vorgang der Assimilation führte also diesem Urteil nach zur „Aufweichung“ des Grundcharakters und vor allem der Leistungsbereitschaft. Vom heutigen Standpunkt aus müßte das alles wie eine banale, fast lächerlich wirkende Wiedergabe gängiger antislawischer Vorurteile im pseudowissenschaftlichen Gewand erscheinen. Beachtet man die von Hippius selbst explizit genannte Zielsetzung, nämlich die Entwicklung eines Instruments zur Selektion einer vom „deutschen“ Standpunkt aus geeigneten Bevölkerung für die besetzten Gebiete, so verdüstert sich das Bild zusehends. Ulfried Geuter und Ute Deichmann haben die potentiellen Folgen einer solchen Selektionsmethodik angedeutet. Bei Geuter heißt es noch vorsichtig, dass es sich um eine „empirisch vorgehende und methodisch eher durchgefeilte Rassenpsychologie“ gehandelt habe, „die ein sozialtechnologisches Instrument nationalsozialistischer Bevölkerungsplanung werden sollte“.135 Problematisch an dieser Deutung ist, dass Hippius von Völkerpsychologie statt Rassenpsychologie spricht und von Rassenpsychologie auch nicht ohne weiteres sprechen 131 132 133 134 135
Für eine Liste der verwendeten Verfahren siehe Hippius, Volkstum, S. 14. Hippius, Volkstum, S. 20, 22. Hippius, Volkstum, S. 64. Hippius, Volkstum, S. 18. Geuter, Die Professionalisierung, S.422 ff.
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konnte, da es sich bei beiden der zu vergleichenden Gruppierungen um so genannten „Mischvölkern“ handelte. Deichmann wird noch deutlicher mit ihrem Hinweis darauf, dass die als „asozial“ oder „erbbiologisch minderwertig“ eingestuften Mitglieder der Liste 4 ins Konzentrationslager überführt werden sollten; Juden und viele als „nicht assimilierbar“ geltende Polen wurden deportiert. Wer nach dieser Methodik für nicht „deutsch“ genug befunden würde, müßte also zumindest der zwangsweisen Umsiedlung und vielleicht sogar dem Tode geweiht sein.136 Allerdings ist ein direkter Zusammenhang dieser Forschungen mit den Tötungsaktionen in der Provinz Posen oder in den besetzten polnischen Gebieten bislang noch nicht nachgewiesen worden. Hippius selbst wirkte bereits ab Dezember 1942 als Professor in Prag.137 Ob sein Projekt deshalb oder aus anderen Gründen „im Stadium der Planung“ blieb, wie Geuter meint,138 bleibt ebenso unklar. Gerade der zweite der oben beschriebenen Befunde von Hippius dürfte aber neben der enormen Aufwand des Prüfverfahrens der praktischen Verwendbarkeit des Ganzen ohnehin im Wege gestanden haben. Die Feststellung ernst zu nehmen, dass bei so genannten Mischlingen eine „Aufweichung“ des deutschen „Grundcharakters“ stattfinde, hätte bedeutet, diese Gruppe hinsichtlich ihrer Brauchbarkeit für die Siedlungspolitik als von fast ebenso fraglichem „Wert“ wie die Polen einzustufen. Die zweideutige Implikationen dieses Ansatzes für die konkrete Besatzungspolitik in den Ostgebieten sind also kaum zu übersehen: denn auf der Grundlage dieser Überlegung wären weder eine vollständige Rassentrennung noch eine Auslese unter den Mischlingen nach noch nicht spezifizierten Kriterien vorstellbar gewesen. Dass der SD ohnehin weitaus brachialere Methoden parat hatte und auch anwendete, ist bekannt. Auch die NSV war in der Warthegau tätig. Nach einer Schätzung waren „sicher mehr als vierzig“ Psychologinnen und Psychologen für die NSV tätig;139 wie viele davon in der Warthegau arbeiteten, ist noch nicht geklärt. Besondere Aufmerksamkeit hat sich auf die Arbeit Hildegard Hetzers wegen ihrer Prominenz nach 1945 gerichtet.140 Wie oben berichtet, hatte Hetzer in Wien in den 1920er Jahren durch mit Charlotte Bühler erarbeiteten, so genannten „Kleinkindertests“ zur Festlegung von psychischen Entwicklungsnormen einen Namen gemacht. 1931 wurde sie nach Deutschland als Professorin an der Pädagogischen Akademie in Elbing berufen; bereits 1933 wurde sie jedoch infolge des NS-Berufsbeamtengesetzes aus nicht näher spezifizierten politischen Gründen entlassen. Daraufhin arbeitete sie zunächst beim Berliner „Verein zum Schutze der Kinder vor Ausnutzung und Misshandlungen“, bis dieser kurz nach Kriegsbeginn aufgelöst wurde. Die Mitarbeiterinnen wurden von der NSV übernommen, und Hetzer wurde ihrer Autobiographie zufolge „zur Jugendhilfe in der Gauamtsleitung des Wartegaues in Posen versetzt“; dort sollte sie, so heißt es weiter, „Vorschläge für die Kinder machen, die ohne Familienanschluss waren und von der NSV versorgt werden sollten“.141 Erich Kuby schreibt hingegen, dass Hetzer an Selektionen an Kindern aus der polnischen Bevölkerung, die als „eindeutschungsfähig“
136 Deichmann, Biologen unter Hitler, S. 263. 137 Vgl. Hierzu neuerdings Alena Mísková, Die Deutsche (Karls-) Universität vom Münchener Abkommen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Prag 2007. 138 Ulfried Geuter, Psychologie im nationalsozialistischen Deutschland. In: Karl Fallend, Bernhard Handlbauer und Werner Kienreich (Hrsg.), Der Einmarsch in die Psyche. Psychoanalyse, Psychologie und Psychiatrie im Nationalsozialismus und die Folgen. Wien 1989, 125-146, hier: S. 143. 139 Geuter, Psychologie in der Zeit des Nationalsozialismus, S. 132. 140 Zum Folgenden vgl. Geuter, Die Professionalisierung, S. 411-412; Benetka, „Im Gefolge der Katastrophe…“, insbes. S. 60-62 und die dort zitierte Literatur; Klaus Weber, Weiße Flecken. Psychologische Blicke auf Faschismus und Rassismus. Berlin 2003, Kap. 4. 141 Hildegard Hetzer, Eine Psychologie, die den Menschen nützt Mein Weg von Wien nach Gießen. Göttingen 1988, S. 59. Über den Zeitpunkt der Versetzung gibt es verschiedene Angaben; so schreibt Geuter 1940, Hetzer 1942.
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gehalten wurden, beteiligt war, beispielsweise im Gaukinderheim Brockau.142 Auch Hetzer erwähnt diese Tätigkeit, schreibt jedoch dazu, man habe sie im Glauben gelassen, dass sie Untersuchungen an deutschen Kindern durchführen sollte. Bald sei ihr aber Zweifel gekommen, ob es sich „nicht vielmehr um polnische Kinder, die eingedeutscht werden sollten“ gehandelt habe. Aufgrund ihrer „Bedenken“ sei sie daraufhin zur NSV-Gauleitung nach Posen zurückgeschickt worden.143 Selbst wenn diese Angaben so stimmen, bleibt offen, was Hetzer vor oder nach dieser Episode im besetzten Polen getan hat und ob sie in Brockau durch andere Psychologinnen ersetzt wurde. Immerhin hält Hetzer selbst fest, dass sie in Umsiedlungslagern tätig war, in welche Menschen aus Ostpolen gebracht worden waren, um anstelle der aus dem Warthegau ausgesiedelten Polen zu treten, und fügt hinzu: „Das war eine der Maßnahmen zur ‚Festigung des deutschen Volkstums‘, die in den Händen der SS lag“.144 Somit ist klar, dass Hetzer wusste, in welchem Zusammenhang ihre Tätigkeit gestanden hat. Geuter hält dazu in aller Klarheit fest: „Die Untersuchung konnte um Leben oder Tod gehen; bei einer Auswahl nach ‚rassischen und psychologischen Methoden’ unter 2000 unehelichen polnischen Kindern im Juni 1944 wurden 400, wie es in einem Dokument heißt, ‚ausgemerzt‘ – ermordet.“145 Allerdings zitiert Geuter an derselben Stelle auch eine Auskunft aus dem Stadtarchiv Posen, nach der Hetzer sich wegen „Arbeitsüberlastung“ an der Selektion nicht mitgewirkt haben soll. Also auch hier, wie im Falle von Hippius, harren hier wesentliche Fragen noch der genaueren Klärung. Einen Aspekt des Standpunktes, von dem aus eine solche Tätigkeit trotzdem folgerichtig erscheint, umschrieb Hetzer 1940 wie folgt: „Als angemessen bezeichnen wir einen Lebensraum, in dem ein Kind die günstigsten Entwicklungsbedingungen findet, so dass es später zu dem besten Einsatze für die Volksgemeinschaft kommt … Angemessen nennen wir aber weiterhin nur den Lebensraum, der dem Werte eines Kindes für die Volksgemeinschaft entspricht.“146 In einem ausführlichen Ratgeber für die Erziehungsberatung aus demselben Jahre heißt es weiter: „Gesunde, lebenstüchtige und für die Volksgemeinschaft wertvolle Kinder wachsen nur dort auf, wo sie das Leben einer Gemeinschaft teilen, deren eigene Lebensführung eine gesunde ist und die selbst gesund ist.“147 Der oben zitierte Aufruf Oswald Krohs zur Herstellung einer „völkischen Menschenkunde“, die nach den Kriterien „völkische Leistung“ und „politische Eignung“ gerichtet sein sollte, klingt hier mit an. Und der ebenfalls in Posen wirkende Hippius gab auch an, „Lebenstüchtigkeitsdiagnose“ in diesem Sinne zu betreiben. Dass positiv gedachte Wertbeurteilungen eine Umkehrseite haben könnten, und dass dies den Beteiligten wohl bewusst gewesen ist, wird in einem anderen Zusammenhang deutlich. Im Rahmen einer Diskussion über die Verwendung der von ihr mit entwickelten „Kleinkindertests“ als Hilfsmittel für Erbgesundheitsdiagnosen – sprich: als Entscheidungshilfe für oder gegen Zwangssterilisierungen – attestierte Hetzer 1941, dass sie aufgrund „eigener Erfahrungen“ bestätigen könne, dass die Tests „ein wertvolles Hilfsmittel zur Durchführung des Erbgesundheitsgesetzes vorstellen“, sprach sich aber dagegen aus, die Tests durch Laien wie z.B. Hortnerinnen ausführen zu lassen.148 An der oben bereits 142 143 144 145 146
Erich Kuby, Als Polen deutsch war. Rastatt 1986, 107. Hetzer, Eine Psychologie, S. 60. Hetzer, Eine Psychologie, S. 59. Geuter, Die Professionalisierung, S. 411. Hildegard Hezter, Die Erziehungsberatung als Mittel der NSV-Jugendhilfe, Deutsche Jugendhilfe, Juni/Juli 1940, 33, zit. n. Weber, Weiße Flecken, S. 56. Kursivsetzung MGA. 147 Dies., Seelische Hygiene und lebenstüchtige Kinder. Richtlinien für die Erziehung im Kleinkindalter. Lindau 1940, S. 14, zit. n. Weber, Weiße Flecken, S. 59. Kursivsetzung MGA. 148 Hildegard Hetzer, Über die Anwendung von Kleinkindertests durch den psychologischen Laien, Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, 43 (14) (1941), S. 3, zit. n. Benetka, „Im Gefolge der Katastrophe…“, S. 64. Dort erfolgt eine ausführlichere Besprechung dieses Falles.
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zitierten Stelle über ihre Arbeit in der Warthegau erinnert sich Hetzer weiter: „Allerdings entsetzte mich hier wie andernorts die Leichtfertigkeit, mit der Menschen im Hinblick auf ihre Erbgesundheit und andere über ihr weiteres Schicksal entscheidende Eigenschaften beurteilt wurden.“149 Offen bleibt hier, was eigentlich gemeint ist – ob z.B. bei einer weniger „leichtfertigen“ Diagnose etwas anderes mit den Kindern geschehen wäre. Jedenfalls scheint der zitierte Text zu besagen, dass Hetzer weniger gegen eine derartige Selektionstätigkeit an sich als gegen die Art und Weise ihrer Ausführung Vorbehalte hatte. Widerstand und Verfolgung: Heinrich Düker, Kurt Huber und Otto Selz An widerständischen Aktivitäten gegen das NS-Regime nahmen nach bisherigen Erkenntnissen nur sehr wenige Menschen aus der Psychologie Teil. Die beiden prominentesten Fälle, Heinrich Düker und Kurt Huber, sollen hier wenigstens kurz Erwähnung finden, auch wenn eine angemessene Besprechung aus Platzgründen nicht möglich ist. Heinrich Düker, damals habilitierter Dozent am Göttinger psychologischen Institut, wurde wegen seiner Mitgliedschaft im Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) und im Freidenkerbund vor 1933 denunziert; eine Hausdurchsuchung geschah bereits am 20.3.1933.150 Der Verhaftung entging er damals durch seine eigene Erklärung, er hänge dem idealistischen „Sozialismus“ des Pädagogen Leonard Nelson und nicht der Sozialdemokratie an; dies bestätigte Parteimitglied und Kollege Heinrich Schole, der Düker als „anständig“ attestierte. Danach blieb Düker im Untergrund weiterhin tätig und wurde mit anderen Mitgliedern der Göttinger und Hannover-Münchener Gruppe des ISK im Januar 1936 verhaftet. Die Strafe von drei Jahren Zuchthaus wurde wegen einer Beinverletzung im Ersten Weltkrieg in drei Jahre Gefängnis umgeändert, die Venia legendi wurde aberkannt. Nach seiner Entlassung gelang es Düker, Arbeitsräume im Berliner Psychologischen Institut als eine pharmakologische Forschungsstelle für Untersuchungen in Zusammenarbeit mit der Firma Schering zuerkannt zu bekommen. Ende 1944 wurde er jedoch erneut verhaftet und zum KZ Sachsenhausen verbracht. Nach der Befreiung 1945 wurde er zum außerplanmäßigen Professor in Göttingen ernannt und im folgenden Jahr zum ersten frei gewählten Bürgermeister der Stadt gewählt. Das Amt trat er jedoch wegen eines Rufes auf eine Professur in Marburg nicht an. Die prominente Rolle Kurt Hubers als Mitglied der Münchener Widerstandgruppe „Weiße Rose“ ist weithin bekannt. Weniger bekannt mag sein, dass er am Psychologischen Institut in München als Assistent tätig war und u. a. Ton- und Musikpsychologie unterrichtete.151 Zunächst hat er sich selbst keinesfalls als Gegner, sondern eher als Befürworter des Nationalsozialismus, allerdings von einem antikommunistischen und völkisch-christlichen Standpunkt aus begriffen. Noch 1937 glaubte er, seine Volksliedforschung dem Regime dienstbar machen zu können, weshalb er eine Berufung als Leiter einer Abteilung für Volksmusik am neuen Institut für Deutsche Musikforschung in Berlin mit Lehrauftrag an der Universität annahm, welche allerdings wg. Druckes vom Amt Rosenberg durchkreuzt wurde.152 In seiner Verteidigungsrede vor dem Volksgerichtshof beschrieb er „die Rückkehr zu einem rechtmäßigen Führerstaat“ als Ziel der „Weißen Rose“ und formulierte die Gründe seines Bruchs mit dem Regime im Duktus der Bewegung u. a. wie folgt: „Die 149 150 151 152
Hetzer, Eine Psychologie, S. 59. Zum Folgenden siehe Paul, Psychologie unter den Bedingungen der „Kulturwende“, S. 508-512. Zum Folgenden siehe ausführlicher Weber, Weiße Flecken, Kap. 3. Erst danach wird Huber vom Sicherheitsdienst (SD) als „politisch unzuverlässig“ eingestuft. Vgl. zur Dokumentation George Leaman und Gerd Simon, SD über Philosophie-Professoren. http://homepages.uni-tübingen.de/gerd.simon/philosophendossiers.pdf. Download 15.12.2007.
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grundlegende Forderung wahrer Volksgemeinschaft ist durch die systematische Untergrabung des Vertrauens von Mensch zu Mensch zunichte gemacht“.153 Klaus Weber vertritt die durchaus umstrittene Meinung, dass Huber erst infolge der Schmach um Stalingrad zum Gegner des SS-Regimes – und keinesfalls der Wehrmacht – geworden ist, betont jedoch, dass dies die Anerkennung seiner Bereitschaft, sich für seine Überzeugung mit dem Leben einzusetzen, keinesfalls schmälern soll. Ebenfalls an dieser Stelle sei der erschütternde Weg des großen Denkpsychologen Otto Selz in Erinnerung gerufen.154 Wie oben berichtet, wurde Selz infolge des Berufsbeamtengesetzes 1933 von seiner Professur an der Handelshochschule Mannheim zwangspensioniert. Er entschied sich jedoch zu diesem Zeitpunkt gegen die Emigration. Im Jahre 1938 wurde er nach Dachau fünf Wochen lang verschleppt, woraufhin er 1939 nach Amsterdam emigrierte und dort an verschiedenen Einrichtungen lehrte und forschte; seine Ausbürgerung erfolgte 1941. Seine Versuche, ab 1940 mithilfe Max Wertheimers im Rahmen einer Hilfsaktion an der New School for Social Research nach den USA zu gelangen, sind in bewegenden Briefen dokumentiert.155 Nach dem deutschen Einfall in den Niederlanden überlebte er zunächst im Untergrund, doch wurde er im Juli 1943 verhaftet und zum Sammellager Westerborck gebracht. Von dort wurde er am 24. August nach Auschwitz deportiert und am 27.8. in der Umgebung von Auschwitz ermordet. Bemerkungen zur Frage der Kontinuität nach 1945156 Im Hinblick auf personelle Kontinuität nach 1945 formuliert Peter Mattes eine scheinbar deutliche Aussage: Von den 15 Ordinarien der Psychologie an den Universitäten der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1955 hatten 12 ihre Karriere in der Hochschulpsychologie unter der Herrschaft des Nationalsozialismus oder in der Wehrmachtpsychologie begründet – „nur zwei von fünfzehn hatten im Opposition zum damaligen System gestanden, einem weiteren bleibt aus Altergründen ein Stigma erspart“.157 Abgesehen davon, dass Mattes darauf verzichtet, die Namen der Gemeinten zu nennen und die Technischen Hochschulen aus der Betrachtung ausspart, ist diese Aussage aus zwei Gründen problematisch: Sie verschleiert deutliche Diskontinuitäten der Lehrstuhlbesetzungen und somit der Vertretung des Faches an spezifischen Orten (wie z.B. der Übergang von den Nationalsozialisten Jaensch und Fischer zum Widerstandskämpfer Heinrich Düker in Marburg), und sie thematisiert die teilweise recht verschlungenen Wege zur Herstellung der vermeintlichen Kontinuitäten in den späten 1940er Jahren nicht. Eine umfassende vergleichende Studie der Ent153 Weber, Weiße Flecken, S. 47. 154 Zum Folgenden siehe Alexandre Métraux und Theo Herrmann, Zur Biographie und Werkgeschichte von Otto Selz. In: Dies. (Hrsg.). Otto Selz. Wahrnehmungsaufbau und Denkprozeß. Bern/Stuttgart/Toronto 1991, 1-22. 155 Zitate aus den Briefen in: Mitchell G. Ash, Aid to Emigré Psychologists in the United States 19331943. A Research Note. Revista de Historia de la Psicología, 5 (1-2) (1984), 51-61. 156 Für Analysen der akademischen Psychologie nach 1945 siehe u. v. a. Lück u. a., Sozialgeschichte der Psychologie, Kap. 3 (mit Dokumenten); Peter Mattes, Die Charakterologen. Westdeutsche Psychologie nach 1945 ( S. 125-135) und Lothar Sprung und Helga Sprung, Kontinuität und Diskontinuität. Psychologie in Ostdeutschland nach 1945 (S. 136-148), beides in: Walter Pehle und Peter Sillem (Hrsg.), Wissenschaft im geteilten Deutschland. Frankfurt a. M. 1992; Helmut E. Lück, Die Wiederbegründung der Deutschen Gesellschaft für Psychologie nach dem Zweiten Weltkrieg. Psychologische Rundschau, 55 (S1) (2004), 33-41; Mitchell G. Ash, Kurt Gottschaldt und die psychologische Forschung vom Nationalsozialismus zur DDR – konstruiertie Kontinuitäten. In: Dieter Hoffmann und Kristie Macrakis (Hrsg.), Naturwissenschaft und Technik in der DDR. Berlin 1997, 337-359; Kitty Dumont, Die Sozialpsychologie in der DDR. Eine wissenschaftshistorische Untersuchung (Beiträge zur Geschichte der Psychologie, Bd. 17). Frankfurt a. M. 1999; Stefan Busse, Psychologie in der DDR. Die Verteidigung der Wissenschaft und die Formierung der Subjekte. Weinheim/Basel 2004. 157 Mattes, Die Charakterologen, S. 125.
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nazifizierungsvorgänge und der Karriereverläufe sowie der richtunggebenden Entscheidungen in diesem Fach während der frühen Nachkriegszeit fehlt bis heute. Eine erste differenziertere Betrachtung der personellen Situation ergibt mehrere Gruppenbildungen: (1) Kontinuität im Wortsinne ist nicht einmal für die Mehrheit der Lehrstühle gegeben. So amtieren Wolfgang Metzger (Münster), Philipp Lersch (München), Robert Heiß (Freiburg) und Johannes Allesch (Göttingen) weiter, die allesamt Anfang der 1940er Jahre Ordinarien am jeweils demselben Ort waren, wenngleich Lersch infolge eines Spruchkammerverfahrens 1948 als „Mitläufer“ und erst Anfang der 1950er Jahre als „entlastet“ eingestuft wurde.158 Bedingt zu dieser Gruppe mag Erwin Rausch gezählt werden, der in Frankfurt promoviert und gearbeitet hatte, ab 1945 als Assistent wieder tätig war und 1954 dort selbst zum Professor berufen wurde. (2) Konstruierte, d. h. erarbeitete Kontinuitäten sind ebenso häufig festzustellen, und zwar vor allem auf dem Weg der Migration von der sowjetischen zu den westlichen Besatzungszonen bzw. von der DDR zur Bundesrepublik. So gelang Friedrich Sander nach seiner Entlassung in Jena über eine Stelle an einer Verwaltungshochschule in Potsdam zu einer ordentlichen Professur in Bonn erst 1954. Nach erfolglosen Versuchen, an seiner früheren Stelle Fuß zu fassen, ging Oswald Kroh zur Freien Universität Berlin nach ihrer Gründung 1948, konnte jedoch erst nach Abschluss eines Spruchkammerverfahrens ab 1950 als Professor dort wirken; Johannes Rudert, 1945 noch ao. Prof. in Leipzig, wurde dort entlassen und gelang erst 1951 zu einer ordentlichen Professur in Heidelberg. Glatter verlief der Weg Albert Welleks, der ab 1946 Professor in Mainz wirkte. (3) Zu den wenigen „Oppositionellen“ zählen der Widerstandskämpfer Heinrich Düker (seit 1947 Professor in Marburg), der im Verborgenen wirkende Gustav Kafka (seit 1934 in Dresden auf eigenem Wunsch emeritiert, ab 1947 Ordinarius in Würzburg), und der einzige Emigrant, der noch im Dienstalter zurück kam, Curt Bondy (seit 1949 Gastprofessor, seit 1950 Professor in Hamburg). Zwei andere Remigranten, Richard Goldschmidt und Wilhelm Peters, kehrten erst im Pensionsalter nach Deutschland wieder. (4) Demgegenüber stehen diejenigen, ebenso wenigen, die entlassen wurden und es auch blieben: Georg Anschütz, Gert Heinz Fischer und Gerhard Pfahler, wobei Letzterer ab 1952 in Tübingen (ohne Amt) wieder unterrichten durfte.159 Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass die vielen Karrierefortsetzungen – wie kontinuierlich oder nicht kontinuierlich sie auch immer zustande kamen – eine weitgehende Fortsetzung der Ansätzen in Wissenschaft und Praxis begünstigte, die sich in der NS-Zeit und teils davor etabliert hatten. Diese Feststellung gilt insbesondere für den charakterologischen und ausdruckspsychologischen Ansatz in der Persönlichkeitsforschung und –diagnostik, der bis in die 1960er Jahre vorherrschend blieb. Die wissenschaftsgeschichtlichen Folgen dieser personellen Kontinuität sind am Beispiel der Gestaltpsychologie sowie am Beispiel der Karriere Philipp Lerschs in München bereits eingehend bearbeitet worden.160 Die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität anderer Forschungsrichtungen ist bislang unzureichend erforscht. Sozusagen als Begleitmusik dazu erschienen einige Hauptwerke der Ordinarien aus der NS-Zeit, wie Lerschs Aufbau der Person (1938) und Wolfgang Metzgers Psychologie (1941), Ende der 1940er bzw. Anfang der 1950er Jahre in neuen Auflagen, die „semantische Umbauten“ – sprich: Weglassungen oder Neuformulierungen von möglicherweise inkriminierenden Passagen – im unterschiedlichen Ausmaß aufwei-
158 Weber, Vom Aufbau des Herrenmenschen, S. 66-67. 159 Zu Wien vgl. Gerhard Benetka, Entnazifizierung und verhinderte Rückkehr. Zur personellen Situation der akademischen Psychologie in Österreich. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 9 (1998), 188-217. 160 Ash, Gestalt Psychology, 1995, Kap. 23; Weber, Vom Aufbau des Herrenmenschen.
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sen. Eine vergleichende Analyse solcher Texte ist ein Desiderat der Forschung.161 Dies gilt ebenfalls für den Text der Diplomprüfungsordnung von 1941, von der behauptet wird, dass sie abgesehen von der Entfernung der „Weltanschauungsfächer“ wie Rassenpsychologie mit geringfügigen inhaltlichen Änderungen für die Ausbildung von Psychologen in beiden deutschen Staaten bis in die 1960er Jahre hinein verbindlich blieb. Ein erstes Anzeichen einer Veränderung dieser Lage war die leidenschaftliche Debatte über die Verwendung statistischer Methodiken in der Persönlichkeitsdiagnostik, die Mitte der 1950er Jahre unter dem Überbegriff „Amerikanisierung“ geführt wurde.162 Ein zweites war die erste „Tagung experimentell arbeitender Psychologen“, zu der Heinrich Düker nach Marburg 1959 einlud.163 Beide Entwicklungen werden zu Recht als Beginn einer grundlegenden Wandlung der Arbeitsweise der Disziplin gedeutet, die sich allerdings erst infolge des Generationswechsels in den 1960er Jahren voll durchsetzte. Ein drittes Zeichen des Wandels war die Auseinandersetzung um die nationalsozialistische Vergangenheit der Psychologie, die bereits sehr früh begann, um dann jäh unterbrochen zu werden.164 Als die schweizerische Psychologin Franziska Baumgarten Ende der 1940er Jahre auf eine offene Diskussion der oben besprochenen Kollaborationsverhältnisse und ihrer Implikationen für die gesellschaftliche Bedeutung der Psychologie im Engagement für eine humanere Welt pochte, antwortete der erste Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Johannes von Allesch, bezeichnenderweise in einer amerikanischen und keiner deutschsprachigen Fachzeitschrift, sinngemäß, dass eine solche Diskussion einer gedeihlichen Zusammenarbeit im Fach nicht dienlich sei und dass Einmischungen von Außen fehl am Platze seien. Diese Haltung rächte sich genau zehn Jahre später. Im Vorfeld des Internationalen Kongresses für Psychologie, der 1960 in der bundesdeutschen Hauptstadt Bonn ausgerichtet werden sollte, kamen durch Publikationen im Westen wie im Osten die oben bereits zitierten Äußerungen Friedrich Sanders aus dem Jahre 1937 ans Licht, in denen z.B. von einem „parasitär wuchernden Judentum“ die Rede war. Der Bonner Ordinarius Sander, der damals als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychologie amtierte und als Ehrenpräsidenten des Kongresses vorgesehen war, musste mühsam zum Rücktritt gebracht werden. Der Eklat begünstigte den späteren Generationswechsel. Die Entwicklung der akademischen Psychologie in der sowjetischen Besatzungszone und der frühen DDR verlief zunächst ebenfalls im Zeichen einer konstruierten Kontinuität. So war der ehemalige Leiter der „Erbpsychologischen Abteilung“ des Kaiser-WilhelmInstituts für Anthropologie, Kurt Gottschaldt, der seit Ende der 1930er Jahre auch an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin unterrichtete, als Nicht-NSDAP-Mitglied unter den wenigen Habilitierten im Lehrkörper der Berliner Universität, die nach der ersten scharfen Entlassungswelle in der Sowjetzone Berlins übrig blieben. Ab 1946 war er bereits Professor, ab 1948 Professor mit Lehrauftrag (Ordinarius). Er setzte die Verankerung des Fachs als solches an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät durch und war Mitte der 1950er Jahre vier Jahre lang Dekan dieser Fakultät; ab 1954 war er auch Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Der 161 Zu Lersch vgl. Weber, Vom Aufbau des Herrenmenschen; zu Metzger vgl. Ash, Gestalt Psychology. Zum Gegenstand einer vergleichenden Textanalyse müsste die Wiederauflage der „Erbcharakterologie“ Pfahlers ebenfalls gehören: Gerhard Pfahler, Der Mensch und sein Lebenswerkzeug. Erbcharakterologie. Stuttgart 1954. 162 Alexandre Métraux, Der Methodenstreit und die Amerikanisierung der Psychologie in der Bundesrepublik 1950-1970. In: Ash und Geuter (Hrsg.), Geschichte der deutschen Psychologie, 225-251. 163 Werner Traxel, Die erste Tagung experimentell arbeitender Psychologen in Marburg 1959. Ein Ereignis mit Signalwirkung und seine Weiterungen. In: Ders., Geschichte für die Gegenwart, Passau 1991, 105116. 164 Siehe hierzu nach wie vor Ulfried Geuter, Institutionelle und professionelle Schranken der Nachkriegsauseinandersetzung über die Psychologie im Nationalsozialismus. Psychologie und Gesellschaftskritik, 4 (1980), 5-39.
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naturwissenschaftliche Charakter des Faches wurde also in den ersten Nachkriegsjahren weitaus stärker im Osten als im Westen betont. Neben Gottschaldt amtierten als Professoren Werner Fischel (Leipzig), Werner Straub (TH Dresden) und zeitweise Margarete Jucknat (Jena). Eine Folge der Karrierefortsetzung in Berlin war, wie im Westen, eine Fortsetzung früherer Forschungsansätze. In diesem Fall konnte Gottschaldt beispielsweise seine Zwillingsforschung aus der NS-Zeit als Längschnittstudie fortsetzen, und zwar mit Unterstützung von Förderungsinstanzen beider deutscher Staaten. Was die Ausbildung betrifft, so erinnern sich zwei Psychologen, die damals in Berlin studierten, wie folgt: „Rückblickend können wir heute sagen, dass wir damals nach einem Studienplan studierten, den man als eine ‚entnazifizierte Fassung’ der Studienordnung des Jahre 1941 bezeichnen könnte. … selbst Fächer, denen man ihre Herkunft aus der braunen Zeit (sic!) unschwer ansehen konnte, gehörten dazu. Statt ‚Rassenkunde’ hieß das Lehrgebiet nun beispielsweise ‚Konstitutionsbiologie’…Eine andere Vorlesung hieß nicht mehr ‚Rassenpsychologie und Erbpsychologie’, sondern nunmehr ‚ErbeUmwelt-Psychologie‘“.165 Auch hier wie im Westen zeichnete sich Ende der 1950er Jahre eine grundlegende Veränderung ab. Mit Unterstützung der Abteilung Wissenschaft des Zentralkomitees der SED begannen erste Versuche zur Entwicklung einer marxistisch-leninistischen Psychologie DDR-Prägung. Die Träger dieser Initiative lehrten vornehmlich in Leipzig, doch auch in Berlin spitze sich die Lage infolge politisch gefärbter generationeller und fachlicher Konflikte zu. Kurz vor dem Mauerbau erhielt Gottschaldt einen Ruf nach Göttingen, wohin er 1962 ging. Somit wurde der Weg für einen Generationswechsel und die Gründung einer eigenen Gesellschaft für Psychologie in der DDR frei. Als Fazit kann vorläufig festgehalten werden, dass in beiden deutschen Staaten nach einigen Jahren Fortentwicklung früherer Ansätze eine tendenzielle Rücknahme der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung des Faches bzw. der handlungshermeneutischen Berufspraxis geschehen ist. Allerdings geschah dies weitaus früher in der DDR als in der Bundesrepublik.166 Schluß Die Erforschung dieses Themas kann keinesfalls als abgeschlossen gelten. Über die vielfältigen weiteren Anwendungen psychologischer Kenntnisse im Nationalsozialismus außerhalb der Wehrmacht gibt es bislang nur punktuelle Untersuchungen. Über eine direkte oder indirekte Beteiligung von Psychologen an den Mordaktionen gegen körperlich Behinderte und Geisteskranke ist noch weniger bekannt.167 Trotz dieser bedeutenden Forschungslü165 Sprung und Sprung, Kontinuität und Diskontinuität, S. 141, 142. 166 Für neuere Literatur zur Entwicklung der Psychologie als Beruf nach 1945 siehe u. v. a. Lück, Die Wiederbegründung der Deutschen Gesellschaft für Psychologie; Johannes Platz, Lutz Raphael, Ruth Rosenberger, Anwendungsorientierte Betriebspsychologie und Eignungsdiagnostik: Kontinuitäten und Neurorientierungen 1930-1960. In: Rüdiger vom Bruch und Brigitte Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Interaktionen, Kontinuitäten und Bruchzonen vom späten Kaiserreich bis zur frühen Bundesrepublik/DDR. Stuttgart 2002, 291-309; David Meskill, Arbeitersteuerung, Klientenberatung. Angewandte Psychologie in der deutschen Arbeitsverwaltung, 1914-1973. Zeitschrift für Psychologie, 212(4) (2004). 167 Die diagnostische Tätigkeit von Psychologen an der Wiener psychiatrischen Anstalt ‚Am Spiegelgrund‘, u. a. auch im Hinblick auf eine Verbindung mit dem Mord an den Behinderten und Geisteskranken, wird derzeit von Eveline List (Wien) erforscht. Die führende Rolle des Mediziners Robert Ritter, der immerhin auch als Pädagoge mit einer Arbeit zur Sexualpsychologie promovierte, in der anthropologischen Untersuchung von Sinti und Roma – mit tödlichen Folgen - ist weitaus besser bekannt. Vgl. Schreiber, Psychologie im Nationalsozialismus, S. 415 ff. und die dort zitierte Literatur.
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cken dürfte nach der vorangegangenen Diskussion die große Vielfalt und Spannbreite der Selbstfunktionalisierungen psychologischer Theoriebildung und Praxis im Nationalsozialismus klar geworden sein. Ebenso deutlich dürfte die Berechtigung der eingangs aufgestellten These geworden sein. Gerade im Nationalsozialismus wird eine bereits vor 1933 begonnene Wiederkehr der Psychologie als Kulturwissenschaft auf Kosten naturwissenschaftlicher Ansätze durchgesetzt, wenngleich in sehr merkwürdiger Gestalt: als Fortsetzungen bzw. als Neukonstruktionen früherer Ansätze entlang der Ideologeme „Rasse“, „Wille“, „Ganzheit“ und „Gestalt“ einerseits; und in Form einer wenigstens in der Praxis der Wehrmacht durchaus brauchbaren, durch geschulte Intuition begründeten Handlungshermeneutik andererseits. Ebenso klar dürfte sein, dass diese Wandlung keinesfalls auf direktes Betreiben irgendeiner Partei- oder staatlicher Instanz geschehen ist. NS-Wissenschaftspolitik, insofern davon die Rede sein kann, beschränkte sich vielmehr in diesem Fall zunächst weitgehend auf die Entlassung und Vertreibung der als „Juden“ identifizierten Wissenschaftler. Dabei halfen opportunistischen Denunziationen vor Ort nach, wie in anderen Fächern auch, aber die Denunzianten selbst kamen selten zum Zuge. Vielmehr konnten sich mehrere vor 1933 aufgestiegenen, aber international weniger prominent gewordenen Psychologen durch Allianzen mit einzelnen Verbündeten in verschiedenen Instanzen des NS-Staates oder der NSDAP im neuen System erfolgreich positionieren. Ebenso deutlich ist es, dass es entschieden zu kurz greift, die merkwürdige Wiederkehr der Psychologie als Kulturwissenschaft bzw. die Durchsetzung einer handlungshermeneutischen Berufspraxis im Nationalsozialismus allein als Korruption oder „Missbrauch“ einer an sich „wertneutralen“ Wissenschaft zu deuten. Obwohl es zahlreiche Versuche gab, die Psychologie zu einer Weltanschauungswissenschaft umzugestalten, haben diese weder auf der Weltanschauungs- noch auf der Praxisebene viel auszurichten vermocht. Schließlich hatten die politischen Herrscher solche Hilfestellungen eigentlich nicht nötig. Solche Ideologisierungsversuche, falls sie überhaupt beachtet wurden, hatten eine eher fachinterne Bedeutung. Wohl interessanter sind die ebenso zahlreiche Versuche, die Forschungs- und vor allem auch die Berufspraxis der Psychologie im Nationalsozialismus ideologiekonform zu gestalten. Dabei kam es einerseits zu einer Bereitstellung impliziter Instrumente zur Verwirklichung der Kernprojekte des NS-Regimes, andererseits zu einer Technisierung der Grundlagenforschung mit demselben Zweck. Obwohl eine bewußte Zusammenführung von Wissenschaft und Praxis in der Psychologie von einigen führenden Fachvertretern in der NS-Zeit öffentlich gefordert und ideologisch begründet wurde, verlangte diese arbeitsteilige Praxis anscheinend nicht von allen Beteiligten eine offene Stellungnahme zur Partei oder eine Befürwortung ihrer Zielsetzungen. Im Sinne einer durchaus modernen Teilung von Mittel und Zweck funktionierte sie manchmal sogar effektiver auch ohne auftrumpfende ideologische Stellungnahmen. Nur wenige Psychologen – wie der bereits genannte Heinrich Düker - sagten oder taten etwas gegen den Einsatz der Seelenwissenschaft im Nationalsozialismus, während viele sich beeilten, mitzutun. Mit Opportunismus und übertriebenem Ehrgeiz, also mit Charakterschwäche allein wird dies kaum zu erklären sein. Dem Kern der Sache näher kommen die Interviews, die von Ulfried Geuter mit damals praktisch tätigen Wehrmachtpsychologen geführt hat.168 Diese legen von einer weit gehenden Unfähigkeit, die eigene Tätigkeit und damit die Binnenmoral des Berufsstandes in Frage zu stellen, beredtes Zeugnis ab. Auch die fast gleichzeitig veröffentlichten Darstellungen bundesdeutscher Militärpsychologen zum selben Thema zeigen eine ähnliche Tendenz, in dem sie die damalige Arbeit fast ausschließlich vom Standpunkt der Qualitätssicherung beurteilen und das Fehlen „ob168 Geuter, Die Professionalisiserung, Kap. IX.
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jektiver“ Validierungskriterien bemängeln bzw. für das Scheitern oder die Auflösung der Wehrmachtpsychologie mitverantwortlich machen.169 Der Gedanke, dass die Psychologie als (vermeintliche) Reflexionswissenschaft von der allgemeinen Tendenz der moderne Expertengesellschaft zur unkritischen Selbstinstrumentalisierung und der damit einher gehenden Tendenz, allgemein menschliche Gesichtspunkte durch die Binnenmoral des fachlichen Könnens zu ersetzen, immun sein könnte, erweist sich also als naiver Wunschtraum. Eine ebenso ernüchternde Feststellung dürfte auch für andere Geistes- und Kulturwissenschaften zutreffend sein. Auswahlbibliographie Ash, M. G. Gestalt Psychology in German Culture 1890-1967: Holism and the Quest for Objectivity. Cambridge 1995. Ash, M. G. Psychologie. In: Frank-Rutger Hausmann (Hrsg.), Die Rolle der Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. München 2002, S. 229-264. Ash, M. G. und Geuter, U. (Hrsg.), Geschichte der deutschen Psychologie im 20. Jahrhundert. Ein Überblick. Opladen 1985. Cocks, G. Psychotherapy in the Third Reich: The Göring Institute, 2. Aufl. New York 1999. Benetka, G., „Im Gefolge der Katastrophe…“ Psychologie im Nationalsozialismus. In: Mecheril, P. und Teo, T. (Hrsg.), Psychologie und Rassismus. Reinbek b. Hamburg 1997, S. 42-72. Ebisch, S. Über den Fakultätenwechsel des Psychologischen Instituts der Universität Berlin 1935-1947. Diplomarbeit, Institut für Psychologie der Humboldt Universität zu Berlin, 2006. Fallend, K./Handlbauer, B./Kienreich, W. (Hrsg.), Der Einmarsch in die Psyche. Psychoanalyse, Psychologie und Psychiatrie im Nationalsozialismus und die Folgen. Wien 1989. Fitzek, H. & Wittmann, S., Die Psychologische Anstalt im Nationalsozialismus unter Friedrich Sander. In: Georg Eckart (Hrsg.), Psychologie vor Ort – ein Rückblick auf vier Jahrhunderte. Die Entwicklung der Psychologie in Jena vom 16. bis 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2003, S. 337-401. Geuter, U. ‚Gleichschaltung‘ von oben? Universitätspolitische Strategien und Verhaltensweisen in der Psychologie während des Nationalsozialismus. Psychologische Rundschau, 35 (1984), 198-213. Geuter, U. Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus, überarb. Aufl. Frankfurt a. M. 1988. Erstmals erschienen 1984. Graumann, C.-F. (Hrsg.), Psychologie im Nationalsozialismus. Berlin / Heidelberg 1985. Harrington, A. Die Suche nach Ganzheit: die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren vom Kaiserreich bis zur New-Age-Bewegung. Reinbek bei Hamburg, 2002. Hofstätter, P. u. a., Deutsche Wehrmachtpsychologie 1914-1945. München 1985. Lockot, R. Erinnern und Durcharbeiten: Zur Geschichte der Psychoanalyse und Psychotherapie im Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 1985. Lück, H. E./Grünwald, H./Geuter, U./Miller, R./Rechtien, W., Sozialgeschichte der Psychologie. Eine Einführung. Opladen 1987. Lukas, J. und Schneider, W. (Hrsg.), Geschichte der Psychologie. Psychologische Rundschau, 55 (Supplementum 1) (2004). Moser, H. Zur Entwicklung der akademischen Psychologie in Hamburg bis 1945. Eine Kontrast-Skizze als Würdigung des vergessenen Erbes von William Stern. In: Krause, E./Huber L./Fischer, H. (Hrsg.), Hochschulalltag im „Dritten Reich“. Die Hamburger Universität 1933-1945. Berlin/Hamburg 1991, S. 483-518.
169 Siehe Hofstätter u.a., Deutsche Wehrmachtpsychologie.
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THEATERWISSENSCHAFT ANDREAS ENGLHART 1. Die Theaterwissenschaft zwischen Positivismus und Geistesgeschichte Die Literarisierung des deutschen Theaters seit der Aufklärung hatte zur Folge, dass Ende des 19. Jahrhunderts das Theater als unterstützende Kunst betrachtet wurde, insbesondere das Schauspiel durfte nur reproduzierende Tätigkeit sein, wie es der einflussreichste Philosoph des 19. Jahrhunderts Hegel forderte. Die Treue zum Werk war wichtig, den Theatermachern sollte eine im Drama festgelegte implizite Inszenierung als ideale Richtschnur der Theaterarbeit dienen. In den frühen wissenschaftlichen Untersuchungen des Theaters wurde die Transformation von Drama in Theater zum Objekt, es wurde auf der Folie des herrschenden Positivismus der Geschichtswissenschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Material zusammengetragen, das die verschieden Inszenierungen des Dramas auflistete und bewertbar machte.1 Erste theaterhistorische Sammlungen waren das materielle Fundament der theaterwissenschaftlichen Forschungen, die Primärquellen waren der dominierende Bezugspunkt. Max Herrmann gilt vor allem deshalb als methodischer Pionier der Theaterwissenschaft,2 weil er in seinen „Forschungen zur Deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance“ 1914 das Theater vom Drama emanzipierte und mit Hilfe der überlieferten Quellen rekonstruierte: „Das Drama als dichterische Schöpfung geht uns [...] in der Theatergeschichte nichts oder nur insoweit etwas an, als der Dramatiker bei der Abfassung seines Werkes auch auf die Verhältnisse der Bühne Rücksicht nimmt, und insofern also das Drama uns einen unbeabsichtigten Abdruck vergangener Theaterverhältnisse liefert.“3 Somit hatte der Theaterwissenschaftler, quasi wie ein Archäologe, „durch kritische Würdigung des gesammelten Materials, durch eine die Lücken der Überlieferung kombinatorisch ergänzenden Rekonstruktion die theatralische Einzelleistung der Vergangenheit, die wirkliche Gesamtvorstellung mit allen ihren Teilen wieder lebendig werden zu lassen.“4 Der Geist des Historismus war noch wirksam, er sollte erst einige Jahre später problematisiert werden. Theater wurde in diesem Sinne als ästhetisches Werk vorgestellt, das sich rekonstruieren und dann wie in der Kunstgeschichte untersuchen ließ. Innerhalb der Kulturwissenschaften dieser Zeit wollte Herrmann die Theaterwissenschaft besonders hervorgehoben wissen, denn unter „den verschiedenen Zweigen der allgemeinen Kulturgeschichte nimmt die Geschichte der Theaterspiele eine besonders wichtige Stelle ein, weil die Betätigung und Entwicklung der Völkerseelen hier besonders scharfe und unmittelbare Spiegelbilder liefern.“5 Die Herderschen Differenzierungen in Herrmanns Text wurden später – grausame Ironie der Geschichte – radikalisiert, anders gedeutet und nun gegen den Theaterwissenschaftler verwendet, indem sie ihm 1933 als Ausgrenzungskriterium widerfuhren. Die Theaterwissenschaft profitierte als Fach zwar von der Hochschätzung des Dramas im 19. Jahrhundert, distanzierte sich jedoch nach der Jahrhundertwende programmatisch – nicht immer in der Realität! – von ihm, um sich als eigenständiges Fach mit ei1 2 3 4 5
Vgl. Stefan Corssen: Max Herrmann und die Anfänge der Theaterwissenschaft, Tübingen 1998. Ebd. Max Herrmann: Forschungen zur Deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Berlin 1914, S. 3f. Ebd., S. 5. Ebd., S. 3.
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genem Forschungsgebiet zu legitimieren. Mit seinem Rekonstruktionsansatz begründete Herrmann in den 20er Jahren die Berliner Schule der Theaterwissenschaft, die „methodisches Leitbild im In- und Ausland“6 wurde. Im Rekonstruktionsansatz Herrmanns wurde ein methodisches Verfahren notwendig, das nicht mehr der strengen Orientierung an den Primärquellen subsumiert werden konnte. Es bezeichnet den Bereich, der durch den transitorischen Charakter des Theaters eröffnet wird. Denn zur peniblen Erforschung der Quellen musste die Einfühlung des Forschers in die historischen Theaterereignisse hinzukommen, um diese zu verstehen. Herrmann hatte in seiner Studienzeit die Vorlesungen von Wilhelm Dilthey gehört und dessen geisteswissenschaftlicher Ansatz bildete den Hintergrund, vor dem die Ereignishaftigkeit des Theaters mit dem Erleben und Verstehen des Wesens des Kunstwerks in Eins gesetzt wurde. Natürlich war Diltheys geistesgeschichtliche Methode per se als Reaktion gegen den Positivismus zu verstehen, in Herrmanns Ansatz gingen beide Methoden jedoch eine eigentümliche, aber ausgewogene Verbindung ein. Nachdem Herrmanns theaterwissenschaftliche Schule weltanschaulich nicht mehr opportun war, glaubte man in der Folge des sich ausbreitenden Irrationalismus und der Verabschiedung des Positivismus, der Performanz des Untersuchungsobjektes Theater in der wissenschaftlichen Rezeption mit einer „intuitiven Wesenschau“ begegnen zu können. Diese diente als Grundlage einer „lebenswissenschaftlichen“ Umdeutung in Richtung einer völkischen und rassistischen Theaterwissenschaft. So hat etwa Heinz Kindermann als Germanist die geistesgeschichtliche Methode zur völkischen Literaturwissenschaft entwickelt und diesen Ansatz Anfang der 40er Jahre auf die Theaterwissenschaft übertragen. 2. Der Begründer der Theaterwissenschaft Max Herrmann und seine Zwangsemeritierung 1933 Man kann 1900, wie es Knudsen 1955 – bezeichnenderweise in der Erstausgabe der von Kindermann initiierten Fachzeitung „Maske und Kothurn“ – getan hat, die Theaterwissenschaft mit dem Jahr 1900 beginnen lassen, in dem Herrmann zum ersten Mal über ein Theaterthema, die „Geschichte des Theaters in Deutschland“, gelesen hat7, um ein Jahr darauf die ersten theatergeschichtlichen Übungen abzuhalten. Freilich ist die „Theaterwissenschaft“ erst seit 1920 im Vorlesungsverzeichnis der Friedrich-Wilhelms-Universität zu finden. In der Zwischenzeit hat der 1865 in Berlin geborene, am 8. Sept. 1942 deportierte und am 16. Nov. 1942 in Theresienstadt im Alter von 77 Jahren gestorbene Max Herrmann außergewöhnlich lang auf die jeweils höheren Besoldungsstufen warten müssen. Er wurde 1891 zum Privatdozenten ernannt und normalerweise wäre er schon nach wenigen Jahren zum a. o. und dann zum o. Prof. befördert worden. Zwar durfte er seit 1903 den Titel Professor führen, er bekam aber keine Planstelle, so dass er weiterhin von seinem Hörergeld leben musste. Erst im April 1919 im Alter von 54 Jahren wurde er a. o. Professor mit der Verpflichtung, seine „Vorlesungen und Übungen der Darstellung des Zeitalters des Humanismus und der Renaissance zu widmen, sowie das Fach der Theatergeschichte zu vertreten.“8 Herrmann befand sich daher 28 Jahre im Wartestatus eines Privatdozenten, der allein dem Umstand seiner jüdischen Herkunft geschuldet war. Im Januar 1919 machte er eine Eingabe an das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 6 7 8
Corssen: Max Herrmann, a.a.O., S. 111. Hans Knudsen: Das Porträt: Max Herrmann, in: Maske und Kothurn. Vierteljahrsschrift für Theaterwissenschaft, 1. Jg. 1955, S. 167-170, hier S. 167. Max Herrmann und die Anfänge der deutschsprachigen Theaterwissenschaft. Ausstellungsführer der Universitätsbibliothek der Freien Universität, hg. v. Stefan Corssen u.a., Berlin 1992 S. 10.
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die Pläne eines eigenständigen theaterwissenschaftlichen Instituts betreffend.9 Dieses konnte im November 1923 eingerichtet werden, doch das Misstrauen der Philosophischen Fakultät gegenüber dem neuen, ungefestigten und zu nahe an der Praxis operierenden Fach10 führte dazu, dass Herrmann sich die Leitung des ersten selbständigen Instituts für Theaterwissenschaft11 mit seinem ehemaligen Schüler Julius Petersen, der schon in Frankfurt eine theatergeschichtliche Abteilung gegründet hatte und 1920/1921 als o. Prof. nach Berlin berufen worden war, teilen musste. Beide hatten überdies Lehrverpflichtungen in der Germanistik, sie wechselten sich bis 1933 mit der Leitung des theaterwissenschaftlichen Institutes jährlich ab, wobei Herrmann in der Lehre und in der Forschung mehr in die Theaterwissenschaft involviert war als Petersen, der u.a. als Kodirektor des Germanischen Seminars durch weitere Aufgaben gebunden war. Zudem war die Theaterwissenschaft noch kein Examensprüfungsfach, eine theaterwissenschaftliche Dissertation konnten die Studenten hingegen schon einreichen. Eine persönliche Anerkennung erfuhr Herrmann 1930, als er mit 65 Jahren endlich zum o. Prof. ernannt wurde, freilich ohne entsprechende Planstelle und Bezüge. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde die Berliner Schule der Theaterwissenschaft abrupt und gewaltsam beendet. Im Zuge der „revolutionären“ Umtriebe der Studentenschaft an den Universitäten, gipfelnd in der Bücherverbrennung, wandte sich Herrmann am 1. Mai 1933 brieflich an den Preußischen Kulturminister mit der Bitte, ihn solange zu beurlauben, „wie in der Universität die von der deutschen Studentenschaft erlassene Erklärung ‚Wider den undeutschen Geist‘ aushängt.“12 Auf der Grundlage des am 7. April 1933 von der Regierung verabschiedeten „Gesetzes zu Widerherstellung des Berufsbeamtentums“ wurde Herrmann im Sept. 1933 unfreiwillig in den Ruhestand geschickt, zudem wurden ihm die Emeritenbezüge zum Jahresende genommen,13 so dass er die nächsten Jahre von einem gekürzten Ruhegeld leben musste.14 Julius Petersen führte ab dieser Zeit das Institut alleine weiter, er erweiterte deutlich sein theaterwissenschaftliches Lehrangebot, von größeren Protesten oder Äußerungen des Unmutes über das Schicksal Herrmanns seitens der Kollegen ist nichts bekannt. Es blieb ganz im Gegenteil nicht bei dem ministeriell verfügten Ausschluss Herrmanns aus der Universität, ihm folgte im April 1934 der erzwungene Rücktritt vom Posten des Ersten Vorsitzenden der „Gesellschaft für Theatergeschichte“, den er seit 1919 inne hatte. Dieser wurde nicht allein durch sich um die Kasse sorgende Mitglieder durchgesetzt, sondern auch von Herrmanns ehemaligem Assistenten am Institut für Theaterwissenschaft Hans Knudsen.15 Der Rücktritt Herrmanns war die Bedingung für den angestrebten Beitritt in die im September 1933 von den Nationalsozialisten ins Leben gerufene Reichskulturkammer. Als Instrument des Nationalsozialismus, deren Aufgabe es war, die relevanten Kulturbetriebe in eine berufsständische Organisation einzugliedern, betrieb die Reichskulturkammer und in dieser die Reichstheaterkammer nationalsozialistische Kultur- und Theaterpolitik. Somit änderte sich 1933 für die Theaterwissenschaft die Lage nicht nur an den Universitäten, die ab diesem Zeitpunkt dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (RWEV) unterstanden,16 sondern auch – aufgrund der Doppelnatur der Theaterwissenschaft als wissenschaftliche und zugleich der Theaterpraxis verpflichtete Disziplin – in den 9 10 11 12 13 14 15 16
Vgl. Knudsen: Das Porträt: Max Herrmann, a.a.O., S. 168. Vgl. Corssen: Max Herrmann, a.a.O., S. 87f. Zu dieser Zeit gab es bereits theaterwissenschaftliche Abteilungen und Seminare in Köln, Kiel und Frankfurt. GStA PK 1 HA, in: Corssen: Max Herrmann, a.a.O., S. 80f. HUA UK-Personalia H 258, in: Corssen: Max Herrmann, a.a.O., S. 81. HUA UK-Personalia H 258, in: Corssen: Max Herrmann, a.a.O., S. 81. Vgl. Corssen: Max Herrmann, a.a.O., S. 81f. Bezeichnenderweise wurde Herrmanns Stelle erst vertretungsweise von Gerhard Fricke und dann endgültig, nun als Ordinariat, von Franz Koch besetzt.
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Institutionen, die als kulturpolitisch relevant angesehen wurden. Damit erhärtet sich die These, dass nationalsozialistische Theaterwissenschaftspolitik schon von Beginn an zum großen Teil eine Angelegenheit der nationalsozialistischen Kulturpolitik war, denn die Reichskulturkammer war dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP) unterstellt. Zugleich war den Theaterwissenschaftlern spätestens im April 1934 klar, dass es mit der formalen Selbstintegration in die Reichkulturkammer, wenn auch aus rein finanziellen Gründen, nicht getan war, es galt zudem, sich ideologisch einzugliedern und das bedeutete, dass es nicht mehr um eine demokratisch-individualistische Kultur ging, sondern dass man Teil eines völkisch-einheitlichen Kulturlebens unter staatlicher Lenkung geworden war – Theaterkultur hatte nun den „Volkswillen“ innerhalb einer „Volksgemeinschaft“ zu repräsentieren. Immerhin stellte sich die Entscheidung zur frühzeitigen Einordnung in die Reichskulturkammer langfristig als Überlebensgarantie heraus, denn 1942 war die „Gesellschaft für Theatergeschichte“ die einzige noch existierende theaterwissenschaftliche Gesellschaft. Herrmann blieben die Betätigung in der „Gesellschaft für Deutsche Literatur“17 und dem „Verband Nationaldeutscher Juden“, einer nationalliberalen, antizionistischen Vereinigung, die sich für die Gleichberechtigung und Integration der deutschen Juden einsetzte und zu deren Gründungsmitgliedern Herrmann gehört hatte. Diese Gesellschaften wurden jedoch 1938 von Staats wegen zwangsweise aufgelöst. Da sich Herrmann in den 20er Jahren selbstverständlich immer als national gesinnt verstanden hatte, lehnte er es ab, frühzeitig zu emigrieren. Er konnte sich ein wissenschaftliches Leben außerhalb der deutschen Sprache und Kultur nicht vorstellen.18 3. Das Berliner Institut unter der Leitung des Germanisten Julius Petersen Während Herrmann lange Jahre Privatdozent blieb und erst kurz vor seiner Zwangsemeritierung ein „persönliches“ Ordinariat bekam, machte sein 1878 geborener Schüler Julius Petersen schnell eine Karriere, die ihn nach dem Studium in Lausanne, München, Leipzig und Berlin über eine Privatdozentur und die erste a. o. Professur in München für ein Jahr 1912 nach Yale, für ein weiteres Jahr nun als o. Professor an die Universität Basel und 1914 an die Universität Frankfurt führte. 1920 ereilte ihn der Ruf nach Berlin, wo er das Ordinariat des 1913 gestorbenen Erich Schmidt erhielt. 1923 wurde er Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften und 1926 Senatsmitglied der Preußischen Akademie der Künste. Im Gegensatz zu Herrmann war er demnach niemals in einer Außenseiterposition und es ist anzunehmen, dass er eine solche überdies keinesfalls riskieren wollte, indem er sich schwerpunktmäßig zu sehr mit der Theaterwissenschaft beschäftigt hätte. Gleichwohl engagierte er sich nach Herrmanns Zwangsemeritierung tatkräftig in der Lehre des Theaterwissenschaftlichen Instituts. Unterstützt wurde er erst durch den Herrmannschüler und ehemaligen Theaterleiter Carl Hagemann, der bis 1938 die praktischen Regieübungen übernahm, und anschließend bis 1942 durch Hanns Niedecken-Gebhard.19 Diese Ablösung aus Altersgründen brachte auch eine ideologische Neuausrichtung der Theaterpraxis am 17 18
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Auch in dieser seit 1888 bestehenden Gesellschaft war Herrmann seit 1916 der Erste Vorsitzende, unter den Mitgliedern waren Otto Brahm, Ernst Cassirer, Wilhelm Dilthey, Hans Knudsen, Julius Petersen, Ernst Schmidt, etc. Die Absurditäten des Lebens eines jüdischen Gelehrten, der trotz aller zunehmenden Schikanen mit allen seinen Kräften versuchte, seiner wissenschaftlichen Arbeit nachzugehen, beschreibt eindrücklich Ruth Mövius in ihrem Nachruf, in: Max Herrmanns: Entstehung der berufsmässigen Schauspielkunst im Altertum und in der Neuzeit, Berlin 1962, S. 291-297. Als Assistent, der vermutlich einige von Petersen angekündigten Lehrveranstaltungen auch alleine und selbständig hielt, arbeitete Rolf Badenhausen, seit 1936 Mitarbeiter und ab 1939 Leiter des Museums der Preußischen Staatstheater. Er wurde 1960 der Nachfolger Niessens in Köln.
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Institut mit sich, immerhin setzte Niedecken-Gebhard im November 1933 die erste theatralische Erprobung des NS-Massentheaters Thingspiel in den Kölner Messehallen in Szene.20 Eine starke ideologische Annäherung an das NS-Regime in der Theatertheorie verkörperte der von 1934 bis 1937 am Institut lehrende habilitierte Literaturhistoriker Robert Stumpfl, der die dramaturgischen Übungen betreute und als Schüler von Heinz Kindermann eine Theaterwissenschaft aus dem „Mimus“ und davon abgeleitet aus den „germanischen Kultspielen“ begründen wollte.21 Obwohl Petersen selbst wenig theaterwissenschaftliche Forschung betrieben hatte, veröffentlichte er 1935 eine programmatische Abhandlung zur „Stellung der Theaterwissenschaft“ ausgerechnet in der Festgabe der „Gesellschaft für Deutsche Literatur“ zum 70. Geburtstag ihres Vorsitzenden Max Herrmann. Petersens theatergeschichtliche Publikationen vor 1933 ließen zwar durchaus eine Affinität zum Nationalistischen und Deutsch-Völkischen erkennen.22 Trotzdem waren anscheinend einige Anpassungsleistungen an die Ideologie der neuen Machthaber nötig, die Herrmann sicher wenig amüsiert haben. Da Petersen bis dahin weder durch parteinahe oder -dienliche theaterwissenschaftliche Veranstaltungen besonders aufgefallen war und auch keinen „nationalen Verbänden“ angehörte,23 mag der Grund für seine ns-konforme Schrift der Glaube gewesen sein, die Theaterwissenschaft innerhalb der universitären Institution zusätzlich ideologisch absichern zu müssen, vielleicht waren auch Befürchtungen um die eigene Person und Stellung mit im Spiel.24 Auffällig sind die thematischen und methodischen Ähnlichkeiten zwischen Petersens Text und Stumpfls Forschungsarbeiten. Anzunehmen ist, dass Petersen sich mehr von seinem aufstrebenden Mitarbeiter beeinflussen ließ als umgekehrt.25 In Petersens Schrift ist das „Theater [...] die älteste aller menschlichen Künste. Der mimische Körperausdruck und die rhythmische Bewegung des Tanzes gingen der plastischen Nach20
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Bezeichnenderweise führte sich Niedecken-Gebhard im Institut mit Regieübungen unter besonderer Berücksichtigung der Aufgaben und Probleme des „Freilichttheaters“ ein. Vgl. auch: Theater im „Dritten Reich“. Theaterpolitik, Spielplanstruktur und NS-Dramatik, hg. v. Henning Rischbieter, Seelze-Velber 2000, S. 36. Robert Stumpfl: Kultspiele der Germanen als Ursprung des mittelalterlichen Dramas, Berlin 1936. Seine veröffentlichten Vorlesungen thematisierten nicht nur seine „Mimus“-Theorie, sondern propagierten den „Kampf um ein deutsches Nationaltheater“, in dem es u.a. um das „Nordische Theater“, den „Festspielgedanken und das Thingspiel“ geht: Unser Kampf um ein deutsches Nationaltheater, Berlin 1935. Vgl. Julius Petersen: Geschichte des deutschen Theaters, o. O. 1919, S. 98: „Auf Bestellung läßt sich das nationale Festspiel nicht schaffen; sein Dichter muß durch die innere Stimme gerufen werden; der Stoff muß an ihn herangetragen werden aus der Tiefe des Volksbewußtseins.“ Vgl. BA R 4901 PA P 147: Personalakte Petersen RWEV, keine Eintragung in die Spalte „Mitgliedschaft in nationalen Verbänden.“ Immerhin gab Petersen in einem Fragebogen Anfang 1935 bezüglich der „arischen Abstammung des Beamten Berlin 1936“ zu der Frage, welchen politischen Parteien er bisher angehört habe, an: „vorübergehend der volkskonservativen Vereinigung“. Laut „Politischem Führungszeugnis“ des Gau-Personalamts Politische Beurteilung Aktz. 1871/36 ist zu dieser Zeit über Petersen „hier in politischer Hinsicht nichts Nachteiliges bekannt.“ (HUA Phil.-Fak., Personalakte Petersen I-III, Sonderband Auslandsreisen) Auffällig in Petersens Verhältnis zum NSSystem ist seine Unauffälligkeit. Es scheint so, dass er sich genauso weit anpasste, wie er es für nötig hielt, ein gläubiger Propagandist der nationalsozialistischen Ideologie war er wohl nicht. Er war jedoch „aktiver“ Beiträger des „Gemeinschaftswerks“, also der „Aktion Ritterbusch.“ So beteiligte er sich am germanistischen Sammelwerk Von deutscher Art in Sprache und Dichtung (hg. im Namen der germanistischen Fachgruppe von Gerhard Fricke, Franz Koch und Klemens Lugowski, Stuttgart und Berlin 1941, 5 Bde.) mit einem Beitrag Grimmelshausens Simplicissimus als deutscher Charakter in Band III, Abteilung Bildungsdichtung und ihr Gegenspiel, geleitet von Benno von Wiese. Stumpfl verunglückte 1937 tödlich. Seine ideologisch „einwandfreien“ theaterwissenschaftlichen Veröffentlichungen hätten ihm, soweit man so etwas vorhersagen darf, wahrscheinlich eine führende Rolle in der Theaterwissenschaft oder Germanistik spielen lassen. In dem „Entwurf einer Stellungnahme zu dem Brief des Prof. Niessen v. 8.6.43“ (BA DS 8200, B 33, 2594) verteidigte sich Kindermann gegenüber Niessens Vorwurf, er hätte nie theaterwissenschaftlich geforscht, mit einem Argument, welches den früh herausragenden Ruf Stumpfls indirekt bezeugt: „Der hervorragende, leider zu früh verstorbene Theaterforscher Prof. Stumpfl (zuletzt Univ. Heidelberg), dem die Theaterwissenschaft eine kopernikanische Wendung in der Erforschung des Ursprungs des germanischen Theaters verdankt, hat bei Prof. Kindermann schon 1926 mit einer Arbeit über das 16. Jahrhundert promoviert.“ (BA DS 8200, B 33, 2596)
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bildung, der musikalischen Begleitung, dem dichterischen Wort in der Menschheitsentwicklung und in der Geschichte der Künste voraus.“26 Wenn Theaterwissenschaft nur Theatergeschichte sei, solle man sie nur als einen „Zweig der Kulturgeschichte“ auffassen, wenn sie jedoch eigenständig agieren wolle, dann müsse das „Wesen und die Lebensform“27 des Theaters erkannt werden, und das sei die „Gegenwart“. Die Gemeinschaftsarbeit am Ereignis des Theaters wäre im Gegensatz zur mechanischen Buchherstellung „organisch,“28 Theater sei dabei aber nicht nur „Gemeinschaftsarbeit“, sondern ebenso „Gemeinschaftsempfang.“29 Theater biete sich, obwohl oder gerade weil es keine Artefakte produziere, als „bildende Kraft“ an, die „ihre Prägung“ hinterließe „in den Tausenden, die sie erlebt haben.“ Diese „Wirkungskraft“ übertrage sich sogar „auf die Menschen“, mit denen der Zuschauer „zu tun hat“, sie wirke fort „in seinen Nachkommen,“ insgesamt „in einem ganzen Volke. Wenn wir von Volksseele sprechen dürfen, so ist ihre Einheit ausgeprägt als ein Gemeinschaftserleben, das eben im Theater seinen stärksten zusammenfassenden Ausdruck findet. Volkstum und Theater stehen in einer unauflöslichen Wechselwirkung. [...] Man könnte somit die Erforschung des Theaters überhaupt zum Wissenschaftsgebiet der Volkskunde rechnen.“30 Nach dieser Herleitung der Wirkungskraft erörterte Petersen neben der „Vergänglichkeit“ des Theaters die komplementäre „Ewigkeit“ der im „Urtrieb“ des Menschen verankerten „Lebensform“ Theater: „Weil der Spieltrieb des Menschen gesellig und gemeinschaftsbildend ist, gibt die Gemeinschaft diesem Trieb ihre eigene Prägung, die zur Tradition wird. Weil das Theater ein Volk sammelt, bleibt das Volk sein Träger. Jedes Volk hat sein eigenes Theater, wie es seine eigene Sprache hat.“31 Das eigene Theater ist durchaus rassisch determiniert, so breche „im Theater Nordamerikas [...] der Rassenanteil des Negers durch. Auch das europäische Theater ist in so viele Formen zerspalten, als es Nationen gibt.“32 Diese Formen gelte es in der Theaterwissenschaft zu ermitteln, eine „Stilkunde des Theaters wird das, was die Gegensätze aller Nationaltheater im Bodenständigen, Volkhaften und Raumbedingten bedeutet, von dem, was als ihre Gleichheit im Wandelbaren, Übertragbaren und Zeitgemäßen erscheint, zu scheiden haben.“ Zu guter Letzt offerierte Petersen das Theater der Politik: „Sie kann sich des Theaters bemächtigen als des stärksten Bindungs- und Erziehungsmittels und kann seine Wirkungen, die stetigen sowohl als auch die einmaligen, in ihren Dienst stellen. Indem der Staat das Theater an sich nimmt, führt er sein bedeutungsvolles Wirken in die politische Geschichte ein.“33 Petersens Diskussion der „Stellung der Theaterwissenschaft“ ist eine Kompilation der Herrmannschen Methode, seinen eigenen früheren Ansätzen zur Stilgeschichte des Theaters und den typischen methodischen Ansätzen einer ns-nahen „Wissenschaftlichkeit.“ Der methodischen Annäherung folgte die institutionelle, Anfang 1937 26 27 28 29 30 31 32 33
Julius Petersen: Festgabe der Gesellschaft für Deutsche Literatur zum 70. Geburtstag ihres Vorsitzenden Max Herrmann, Langensalza 1935, S. 33-39, hier S. 33. Ebd., S. 34. Ebd., S. 35. Ebd., S. 36. Ebd., S. 37f. Ebd., S. 38. Ebd. Ebd., S. 39. Petersen argumentierte auch antisemitisch, so in einem Gutachten über seinen ehemaligen Kollegen Herrmann am 31.8.38: „Ich selbst habe einige Jahre später als Berliner Student die gleichen Eindrücke erlebt auch in den von Herrmann geleiteten literarhistorischen Übungen, deren Methode den Anfänger mit grossem pädagogischem Geschick entgegenkam. Max Herrmann unterschied sich darin von den beiden anderen jüdischen Kollegen Ludwig Geiger und Richard M. Meyer, die uns durch ihre Oberflächlichkeit abstiessen, daß in seiner strengen Sachlichkeit und philologischer Gründlichkeit der jüdische Geist wenig in Erscheinung trat.“ (HUA Phil.-Fak. Personalakte Petersen III) Zudem verantwortete Petersen 1940 die Dissertation von Elisabeth Frenzel über „Judengestalten auf der deutschen Bühne“, deren dominierende Vorstellungswelt ein rassischer Antisemitismus ist.
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stellte Petersen einen Antrag an das RWEV „auf Genehmigung, dass das Theaterwissenschaftliche Institut der Universität Berlin als korporatives Mitglied in die Reichstheaterkammer aufgenommen wird.“34 Seine letzten Jahre konzentrierte sich Petersen auf germanistische Forschungen. Zunehmend gesundheitlich beeinträchtigt, zog er sich von seinen Lehraufgaben immer mehr zurück, so dass in der Theaterwissenschaft vermehrt die Assistenten und die Lehrbeauftragten den Lehrbetrieb aufrecht erhielten. Nachdem Petersen zum wiederholten Male von seinen Lehrverpflichtungen entbunden werden wollte, stellte sich der Rektor quer, dem nicht der theaterwissenschaftliche, sondern „der germanistische Lehrbetrieb im Vordergrund“35 stand, auch der Dekan konnte „als Führer der Fakultät“ die Gesuche um Beurlaubung „nicht so befürworten, wie Herr Petersen es wünscht“, denn „eigentlich hat niemand das Recht, jetzt die Front der Lehrenden zu verlassen.“36 Vermisst wurde allein die germanistische Lehrleistung Petersens, und so wundert es nicht wenig, dass der unmittelbare Nachfolger Petersens, der 1941 starb, nicht ein theaterwissenschaftlich versierter Bewerber war. Koch favorisierte zwar Willi Flemming, die Fakultätsmehrheit votierte jedoch für den auffallend jungen Germanisten Hans Pyritz, einen ehemaligen SA-Angehörigen und ehrenamtlichen Lektor im Amt Rosenberg. Pyritz kümmerte sich nur wenig um das theaterwissenschaftliche Institut, hielt in zwei Semestern je einen theatergeschichtlichen Kurs über den jungen Schiller und das deutsche Drama im 18. Jahrhundert. Währenddessen wurde die Theaterwissenschaft hauptsächlich durch den Lehrbeauftragten und ehemaligen Assistenten Hermanns, Hans Knudsen, vertreten. Bei ihm konnten die Studenten in jedem Semester doppelt so viele Seminare und Übungen besuchen wie bei Pyritz, u.a. zur Theaterkritik, zur Methode der Theaterwissenschaft, zum dramatischen Schaffen der Gegenwart und zur Dramaturgie. 1943 wurde Hans Knudsen dann aufgrund seiner kulturpolitischen Verdienste gegen den Widerstand der Universität von der Reichsdramaturgie und mithilfe des preußischen Finanzministers als a. o. Professor und Leiter des Instituts durchgesetzt. 4. Der erste Extraordinarius für Theaterwissenschaft Carl Niessen und die Kölner Theatersammlung Der 1890 in Köln geborene Carl Niessen war, wie er selbst gerne hervorhub, der einzige Professor für Theaterwissenschaft, „der von einer darstellerischen, regielichen und bühnenleitenden Praxis herkommt“37, und er war ein „besessener“38 Sammler. Folglich forderte er praktische Erfahrungen und Zugang zu möglichst umfangreichen theaterwissenschaftlichen Sammlungen als Ausgangsbasis für jede theaterwissenschaftliche Forschung. Ihm gelang die erste Habilitation,39 welche neben der obligatorischen deutschen Literaturgeschichte die Theatergeschichte als Forschungs- und Lehrgebiet einschloss, außerdem war er der erste Inhaber eines planmäßigen Extraordinariats für Theaterwissenschaft. Nach dem Studium der Literaturgeschichte, Kunstgeschichte und Philosophie in Heidelberg, Bonn, Berlin, München und Rostock und der Promotion 1913 war Niessen Schauspieler und von 1915
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Am 4. Jan. 1937. (HUA Phil.-Fak. Personalakte Petersen I-III) Am 25. Okt. 1940. (HUA Phil.-Fak. Personalakte Petersen I-III) Am 11. Dez. 1940 (HUA Phil.-Fak. Personalakte Petersen I-III) Niessen am 8. Juni 1943 an den Rektor der Universität Wien. (BA DS 8000, A 48, 2602) Hans Knudsen charakterisiert so seinen Kollegen 1950 in: Theaterwissenschaft. Werden und Wertung einer Universitätsdisziplin, Berlin 1950, S. 75. Das Habilitationsthema war „Studien zur Geschichte des Jesuitendramas in Köln.“
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bis 1918 Kriegsteilnehmer.40 Im Anschluss an die Habilitation im Frühjahr 1919 engagierte sich Niessen an der Universität Köln für den Aufbau einer Theatersammlung und einer Abteilung für Theatergeschichte des Deutschen Seminars, die er die nächsten Jahre sukzessive zu einem funktionsfähigen Institut für Theaterwissenschaft samt beachtlicher Bibliothek ausbaute. 1922 wurde er beauftragt, vom Wintersemester 1922/23 an in der philosophischen Fakultät die Theatergeschichte in Vorlesungen und Übungen zu vertreten. Seit 1923 planmäßiger Lektor für Theaterwissenschaft, wurde Niessen Ende 1929 zum nichtbeamteten a. o. Professor ernannt. Nachdem die philosophische Fakultät Ende 1936 einen Antrag auf Beförderung Niessens an das RWEV gestellt hatte, der mit der Begründung abgelehnt wurde, es gäbe keine „planmäßige Professur im Haushaltsplan“ und man solle diese als Extraordinariat erst einmal beantragen,41 konnte Niessen nach erfolgreicher Einrichtung desselben ab Oktober 1938 den außerordentlichen Lehrstuhl für Theaterwissenschaft vertretungsweise wahrnehmen.42 Bevor ihm die Planstelle mit der Wirkung zum 1. Dez. 1938 verliehen wurde,43 musste er sich jedoch der Frage des Reichsministeriums schriftlich stellen, wieso er bis Mai 1934 dem Stahlhelm angehört hätte, dann zur S.A. gewechselt wäre, um jedoch kurz danach wieder auszutreten.44 Niessens Rechtfertigung lautete folgendermaßen: „Auf die Rückfrage nach den Gründen des Austrittes aus der S.-A. teile ich folgendes mit: ich bin bald nach der nationalen Erhebung dem Stahlhelm beigetreten, weil ich der Erhebung zur Verfügung stehen wollte. Es war schon Jahre vorher meine Absicht, als ehem. Frontkämpfer dem Stahlhelm beizutreten, kam aber wegen beruflicher Überlastung nicht dazu. Laut Pass wurde ich am 6. Juni 33 verpflichtet und tat bald Dienst als stellv. Kompanie-Führer. (Ortsgruppe Köln-Süd). Nach den Zahlungsvermerken im Stahlhelm-Pass bin ich wohl im Mai 34 in die S.A. Res. 2 übergetreten. Ich war einer der ersten Stahlhelmführer, der das tat, war bei der ersten Führerbesprechung im Sturm-Geschäftsz. in der Hardefust-Str. und forderte durch eine Rede bei dem für mich letzten Appell die Stahlhelm-Kameraden zum Übertritt in die S.A. auf. Ich tat dann auch mit Freude Dienst. Aber im Herbst zeigte es sich, dass meine ausgedehnte Vortragstätigkeit und die Notwendigkeit, allwöchentlich mit den Studierenden Theaterbesuche zu unternehmen, Abendproben für die StudioAufführungen zu leiten u.a. eine einigermassen regelmässige Teilnahme am Dienst nicht ermöglichte. Ich bat deshalb den Sturmführer, mich wegen beruflicher Überlas-
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Niessen in einem „Fragebogen zur Feststellung der Auswirkungen des Beamtengesetzes vom 7. April 1933 (RGBl. S. 175), 18. April 1933: „Als Kriegsfreiwilliger in den ersten Mobilmachungstagen gemeldet.“ (BA DS 8000, A 48, 2512) RWEV an Phil. Fak. Uni Köln. am 16. 1. 1937: Bez. Antrag der philosophischen Fakultät vom 15. Dez. 1936: Der Ernennung des nichtbeamteten a. o. Prof. Niessen zum planmäßigen a. o. Prof. kann, solange „eine planmäßige Professur für Theaterwissenschaft im Haushaltsplan nicht vorgesehen ist, nicht nähergetreten werden. Ich stelle anheim, die Errichtung eines Extraordinariats für Theaterwissenschaft durch den Haushaltsplan für 1938 zu beantragen und nach Genehmigung den Antrag zu wiederholen.“ (BA DS 8000, A 48, 2516) Am 26. Okt. 38: Beauftragung von Niessen mit der „Wahrnehmung des Lehrstuhls für Theaterwissenschaft an der Universität Köln ab dem Wintersemester.“ (BA DS 8000, A 48, 2518) RMEV am 3. Febr. 1939: mit Wirkung vom 1. Dez. 1938 Verleihung der „freie Planstelle eines außerordentlichen Professors mit der Verpflichtung, die Theaterwissenschaft in Vorlesungen und Übungen zu vertreten. Gleichzeitig ernenne ich Sie zum Direktor des Theaterwissenschaftlichen Instituts der Universität Köln.“ (BA DS 8000, A 48, 2540) RWEV am 9. Nov. 1938 an Niessen: wg. „vertretungsweise[r] Wahrnehmung des außerordentlichen Lehrstuhls für Theaterwissenschaft an der dortigen Universität mit Wirkung vom 1. Okt 1938. [...] Aus ihren Personalpapieren ersehe ich, daß Sie bis Mai 1934 dem Stahlhelm und dann der SA-Reserve angehört haben. Ich ersuche um Äußerung aus welchen Gründen Sie aus der S.A. ausgetreten sind; der etwa hierüber geführte Schriftwechsel ist beizufügen.“ (BA DS 8000, A 48, 2522)
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tung zu verabschieden. Dass ich das Vertrauen des Sturms genoss, geht wohl daraus hervor, dass ich Truppführer-Dienst tat, ohne dazu ausdrücklich befördert zu sein.“45 Natürlich waren schon vorher von den üblichen Stellen wie dem NSD-Dozentenbund die obligatorischen Gutachten für den Bewerber angefordert worden.46 Der Reichsamtleiter des Dozentenbundes wies erst auf Niessens Kriegsteilnahme hin, bevor er Niessen in seinem Fachgebiet als „schätzenswerten Gelehrte[n]“ bezeichnete, der „auf dem Gebiet der Theaterwissenschaft und Volksbildung im allgemeinen eine nationale Haltung eingenommen [hat], wenn auch gewisse katholische Bindungen nicht zu übersehen sind. Niessen wurde vom Reichsminister Dr. Goebbels 1933 in den Ausschuss für Freilicht- und Volksschauspiele berufen.“47 In diesem Gutachten deutete sich an, wieso Niessen das Extraordinariat für sich und die Theaterwissenschaft erlangen konnte. Sowohl aufgrund seiner persönlichen politisch-weltanschaulichen Orientierung schon als junger Dozent, als auch aufgrund seiner außeruniversitären Aktivitäten insbesondere nach 1933 galt er als weitgehend linientreu.48 Aktenkundig waren, wie Niessen selbst angab, antisemitische „Umtriebe“ in seinen frühen Vorlesungen um 1920, er brüstete sich noch 1942 damit: „ich war seit meiner Antrittsvorlesung bei den Kölner Juden berüchtigt, weil ich den Mut hatte, Antisemit zu sein, ehe es ungefährlich wurde.“49 In der Tat war die Fakultät nicht einverstanden mit Niessens Äußerungen, gleichwohl musste sie von einem Redakteur der Rheinischen Zeitung erst eindringlich auf diese hingewiesen werden. Dieser leitete eine schriftliche Beschwerde „über das Anwachsen des Antisemitismus an der Universität“ an die Fakultät weiter, der Rektor kommentierte diese mit der Bemerkung, dass es sicher sei, „dass der Antisemitismus unter der studierenden Jugend in Deutschland stark zunimmt.“50 Einen Monat später kam es in einer Sitzung des Senats zur Diskussion über die „Beschwerde über einen Privatdozenten“, die Fakultät sah sich gezwungen, zu handeln: „In Rücksicht auf wiederholte Beschwerden über verletzende Äußerungen – antisemitischer Natur – des Privatdozenten Dr. Niessen in seiner öffentlichen Vorlesung beauftragt der Senat Herrn Prof. Dr. Schröer auf Herrn Niessen durch entsprechenden Hinweis und Rat einzuwirken.“51 Der Redakteur wurde in einem Brief des Rektors beruhigt: „Der Senat der Uni hat sich mit Ihren freundlichen Mitteilungen vom 12. und 29. Januar befasst. Wenn auch die akademische Lehrfreiheit unter allen Umständen ge45 46
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Niessens Antwort am 18. Nov. 1938 an das RMEV wg. Anfrage nach Austritt. (BA DS 8000, A 48, 2532) RWEV am 18. Mai 1938 an „den Reichsamtsleiter des NSD-Dozentenbundes Herrn Ministerialdirektor Professor Dr. Schultze, [...] Lieber Pg. Schultze. Ich beabsichtige, entsprechend der Vorschlagsliste der philosophischen Fakultät in Köln, die Berufung des n. b. a. o. Professors Carl Niessen - Köln für den neugeschaffenen Lehrstuhl für Theaterwissenschaft an der Universität Köln dem Herrn Reichsminister in Vorschlag zu bringen. Für Ihre Stellungsnahme hierzu innerhalb von drei Wochen wäre ich Ihnen dankbar.“ (BA DS 8000, A 48, 2524) Der Reichsamtsleiter des NSD-Dozentenbundes am 5. Juli 1938 an das RWEV. (BA 8000, A 48, 2526) Niessens Einstellung wird auch deutlich durch seine Mitgliedschaften im „Volksbund für das Deutschtum im Ausland“ und in der „NS-Volkswohlfahrt.“ Niessen am 7. Jan. 1942 an den Dekan der Phil. Fak. der Univ. Köln: „1. Fall: Mitglied des Kuratorium Beyer. Dieser Jude musste vor dem Schiedsmann und in seiner eigenen „Rheinischen Zeitung“ zurücknehmen, dass ich ‚wegen antisemitischer Umtriebe gemaßregelt’ worden sei. Die „Umtriebe“ stimmten schon, denn ich war seit meiner Antrittsvorlesung bei den Kölner Juden berüchtigt, weil ich den Mut hatte, Antisemit zu sein, ehe es ungefährlich wurde.“ (UAK 44/137) Antwort des Rektors der Univ. Köln an die Redaktion der Rheinischen Zeitung auf deren Brief vom 12. Jan. 1920, in dem u.a. steht: „Sehr geehrter Herr Geheimrat! Heute geht mir aus unserm Leserkreis der beiliegende Aufsatz zu. Ich habe es vorgezogen, ihn nicht zu veröffentlichen, weil es dem Ansehen der Kölner Universität schädlich sein könnte. Da uns jedoch in jüngster Zeit wiederholt schriftliche Beschwerden über das Anwachsen des Antisemitismus an der Universität zugegangen sind, wäre ich Ihnen für eine kurze private Erklärung dankbar, damit ich den Verfasser dieses Aufsatzes und andere Beschwerdeführer beruhigen kann.“ (UAK 571/227) Sitzung des Senats am 11. Febr. 1920. (UAK 571/227)
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wahrt und verteidigt werden muss, ist der Senat einhellig der Ansicht gewesen, dass jede vorgetragene Meinung in einer Weise zum Ausdruck zu bringen ist, dass auch Andersdenkende sich nicht verletzt fühlen. Da Herr Dr. Niessen den nach dieser Richtung gebotenen Takt anscheinend nicht gewahrt hat, ist Herr Prof. Dr. Schröer [...] vom Senat gebeten worden, Herrn Dr. Niessen die nötigen Vorhaltungen in der Angelegenheit zu machen.“52 Obwohl sich die Beschwerde mindestens einmal wiederholte,53 schadete der Vorfall Niessens Karriere wohl nicht wirklich. Das breite nationalistische Milieu der 20er Jahre54 bildete einen Hintergrund, vor dem sich Niessens Antisemitismus nicht so scharf abhob, dass er als akademischer Außenseiter gebrandmarkt worden wäre. Ganz im Gegenteil darf vermutet werden, dass dieser bemerkenswerte und dokumentierte Vorgang insbesondere nach 1933 nicht zum Nachteil Niessens ausgelegt wurde. Auch Niessens methodische Überlegungen zum Fach Theaterwissenschaft standen der nationalsozialistischen Ideologie zumindest nicht entgegen. Zur Legitimation des Faches setzte Niessen wie Stumpfl und Artur Kutscher in München gegen die Orientierung am Text die Orientierung am Mimus55 als ästhetischen, insbesondere mimischen Urtrieb, welcher der Erscheinungsfülle aller theatraler Formen zugrunde liegt. Dabei sollte der Forschungsansatz ein „ganzheitlicher“, der Theaterforscher ein „totaler“ sein: „Grundsätzlich muß es der Theatergeschichte gleichgültig sein, ob sie sich mit primitiven Äußerungen des mimischen Darstellungstriebes bei Kindern oder Völkern auf niedere Kulturstufe, mit der kultischen Tragödie der Antike, dem frivol-robusten Mimus, dramatischen Elementen in den Festen der Renaissance und des Barocks, einer Tabarin- und Quacksalberkomödie oder den `klassischen´ Dramen der deutschen Nationalliteratur befaßt.“56 Die Reihung des Satzes ist nicht zufällig; obwohl oder gerade weil der Ansatz sich mit volks- und völkerkundlicher Forschung verbinden lässt, ist über den Mimus ein vergleichender Terminus eingeführt. Wenn sich dieser mit dem Entwicklungsgedanken verbindet, ist eine Hierarchie zwischen Kulturen die Folge, die sich in wertendem Bezug zum „germanischen Mimus“ setzen lassen muss. Dabei ist natürlich von vorneherein klar, dass es „nicht erst des weckenden Beispiels der römischen Kolonisatoren [bedurfte], um bei den Germanen mimischen Trieb zu wecken. Sie besaßen die Naturkraft zu einem eigenen Mimus, der zweifellos im Kult, aus den Altersklassen und Männerbünden in Fülle ent-
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Brief des Rektors vom 14. Febr. 1920 an Redakteur Beyer. (UAK 571/227) Ein weiterer Beschwerdebrief ging an die Redaktion, den diese am 7. Juni 1920 an die Univ. Köln weiterleitete. In einer Vorlesung über Kleist „scheint [Niessen] jedenfalls für den Antisemitismus Propaganda treiben zu wollen. Er scheint sogar nicht davor zurückzuschrecken, dieses in einer Vorlesung zu tun.“ (UAK 571/227) Im Zuge der kulturpolitischen Profilierung einerseits und vor dem Hintergrund eines allgemeinen Ansehensverlust der Intellektuellen in der nationalsozialistischen Gesellschaft andererseits fand auch in der Kölner Theaterwissenschaft eine Verschiebung der „Legitimationsstrategien“ von einem „theoretisch-wissenschaftlichen Fach“ zu einer „berufsausbildenden Disziplin“ statt, wie Kathrin Hangen in ihrer M.A.-Arbeit Theaterwissenschaft und Nationalsozialismus. Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik bei Carl Niessen, Universität Köln, 2003, nachweist. Das Argument der Ausbildung des Bühnennachwuchses war aus der Sicht des RMVP nicht nur in Köln, sondern bezüglichen allen theaterwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen zentral bei der Bewertung der Eignung der Lehrenden. Stumpfl, Niessen und Kutscher bezogen sich auf Hermann Reich: Der Mimus, ein literaturentwicklungsgeschichtlicher Versuch, I. Berlin 1903. Sogar Herrmann ließ sich von dem „großen, leider unvollendet gebliebenen Werk über den Mimus“ anregen, freilich nicht restlos überzeugen. Vgl. Ders.: Die Entstehung der berufsmässigen Schauspielkunst, a.a.O., S. 160f. Carl Niessen, zitiert in Hans Knudsen: Theaterwissenschaft. Werden und Wertung einer Universitätsdisziplin, Stuttgart 1950, S. 76.
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stand;“57 Niessen sah die Theatergeschichte wie Stumpfl durch eine völkisch verzerrende Brille. Wichtig wurde, „wie sich im Volke der mimische Urtrieb immer wieder zur Gestaltung drängt“,58 zumal dieser teilweise verschüttet wurde durch die „seelische Verlagerung, die sich mit dem ernüchternden Anschluß an die Großstadtzivilisation ergab.“59 Die Vorliebe Niessens für Puppenspiel und Volksschauspiel gründete auf der Nähe dieser Theaterformen zu den „Wesen von ursprünglichen Naturen“. Von denen empfängt das „Volksschauspiel seine Gesetze.“60 Dabei hat etwa das Puppenspiel „große Bedeutung [...] für die Erkenntnis des Volksgeschmacks und seiner formenden Kräfte,“ die Texte versprechen „Aufschlüsse über untergegangene Stücke.“61 Da es Aufgabe für die Theaterwissenschaft sein sollte, den „mystischen Körper“ des organisch verstandenen Theaters zu ergründen,62 ging es also insgesamt um ein „Wesen“ des ästhetischen Objektes Theater, das sich vorrangig als deutsches „Wesen“ in den Theaterformen ausdrückte. Der „Kampf um das deutsche Nationaltheater“ betraf jeden, dem es „eine zum Fanatismus verpflichtende Mission ist“, das deutsche Nationaltheater vor dem „Dogma seiner Erfüllung“ zu bewahren, „das nur zur vorzeitigen Entspannung der Kraft und zum Einlullen durch Selbstlob führt.“63 Die sozialdarwinistischen Idee des Kampfes ums Dasein bildete den Hintergrund, es ging „immer um das Gleiche: um das ewige Deutschland, auf dessen Vorposten wir stehen.“64 Die Aufgabe war daher: „Soll dem Theater der innere Auf-Schwung allein fehlen, nachdem ihm der erneuerte Staat den sozialen und wirtschaftlichen beschert hat? Den neuen Glauben gilt es auch in die Kunst des Theaters zu tragen! Nicht nur mit Dramenstoffen! Dann wird es dem Herzen des Volkes wieder ganz nahe sein!“65 Die Konversion zu einer kriegsunterstützenden Theaterwissenschaft könnte Niessen in den 40er Jahren nicht allzu schwer gefallen sein, denn der Freiwillige des ersten Weltkrieges interessierte sich bereits in den 20er Jahren für ein eher abseitiges Spezialgebiet, das Kriegstheater,66 was insbesondere für ein ehemaliges Mitglied des „Stahlhelms“ auf eine gewisse persönliche Affinität zum Thema schließen läßt. 1925 wird eine „Neue Abteilung“67 in der Kölner Theatersammlung eingerichtet, das „Zentralarchiv für Kriegstheater“, welches sich um die Erhaltung von Materialien über Front- und Kriegsgefangenentheater bemühte. Die Grundlagen für die späteren kulturpolitischen Aktivitäten im Dienste des NSSystems hatte Niessen früh geschaffen. Er gründete 1924 die „Rheinischen Gesellschaft für Theaterwissenschaft und Theaterkultur (Vereinigung der Freunde des Instituts für Thea57
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Carl Niessen: Das Volksschauspiel und das Puppenspiel, in: Handbuch der Deutschen Volkskunde, hg. v. Wilhelm Peßler, II. Band, Potsdam 1938, S. 429-487, hier S. 430. Die Nähe von Niessens Argumentation zu Stumpfls 1936 erschienenem Werk Kultspiele der Germanen war so evident, dass sich Niessen in seiner Bibliographie mit einer Bemerkung, angefügt an das zitierte Werk von Stumpfl, extra distanzieren musste: „Reiches Material, aber allzu kühne Folgerungen!“ (S. 484). Zuvor setzte er Stumpfl in ein verdächtiges Licht, indem er seine Arbeit als „von Höfler (2. Bd. im Manuskript) stark angeregt“ diskriminierte. (S. 484) Ebd., S. 438. Ebd., S. 429. Ebd., S. 459. Ebd., S. 463. Carl Niessen: Aufgaben der Theaterwissenschaft, in: Die Scene, 17. Jg. Berlin 1927, S. 44-49, hier S. 44. Carl Niessen: Deutsches Theater und Immermanns Vermächtnis. Neue Papierfenster eines Eremiten, Emsdetten 1940, S. III. Ebd., S. V. Ebd., S. 45. Vgl. Carl Niessen: Theater im Kriege (Zentralarchiv für Kriegstheater), Emsdetten 1940. Bereits vor 1927 „hatte das Institut durch einen öffentlichen Aufruf zahlreiche Materialhinweise zur Geschichte des deutschen Kriegstheaters an der Front und im Gefangenenlager vereinigt. In unermüdlicher Arbeit brachte Hermann Pörzgen als Vorbereitung für seine Dissertation einen erstaunlichen Reichtum von Original-Dokumenten zusammen. Dadurch reifte der Plan eines `Zentralarchivs für Kriegstheater´, das sich unter Pörzgens Leitung außerordentlich entwickelt hat.“, (in: Institut für Theaterwissenschaft an der Universität Köln, Tätigkeitsbericht 1927-28, Köln o. J., S. 6.)
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terwissenschaft)“, deren primärer Zweck die Unterstützung des Kölner Instituts für Theaterwissenschaft war. Und er entfaltete eine bis heute unübertroffene Sammeltätigkeit und baute eine umfangreiche Theatersammlung auf, deren private und universitäre Anteile kaum voneinander zu trennen waren. Diese Sammlung diente nicht nur der universitären Lehre und Forschung, sondern war die geeignete Materialbasis für eine Vielzahl an Ausstellungen. Darüber hinaus erarbeitete sich Niessen ein Portfolio an theaterwissenschaftlichen Vorträgen,68 aus dem er eine Auswahlliste in der „Annahme daß [seine] ausgedehnte Vortragstätigkeit im In- und Auslande bezw. die Veranstaltung von vielen Morgenfeiern an deutschen Bühnen nicht unbekannt geblieben ist“ anbot: „Das Lichtbildmaterial dürfte auf dem Gebiet der Theatergeschichte und Bühnenbildnerei im Augenblick wohl das beste sein, da ich über 4000, zum Teil farbige Diapositive nach eigenen Aufnahmen aus allen wichtigen Sammlungen Europas verfüge.“69 Dass sich für diese Art von Öffentlichkeitsarbeit, von der auch die Stadt Köln profitierte, das RMVP interessierte, ist nicht verwunderlich. Und Niessen öffnete sich bereitwillig der kulturpolitischen Verwertung seiner wissenschaftlichen Arbeit. So konnte Niessen Anfang 1934 dem Rektor anzeigen, dass das Institut für Theaterwissenschaft und das Theatermuseum als korporatives Mitglied in die Reichstheaterkammer und damit in die Reichskulturkammer eingereiht worden war.70 Die Ausstellungsarbeit, gelegentlich verbunden mit Vorträgen des Institutsleiters, wurde mit veränderter ideologischer Ausrichtung über die Zeit des „Umbruchs“ 1933 hinaus fortgesetzt. Höhepunkte waren für Niessen sicher 1936 und 1937 die Aufträge, die deutsche Theaterabteilung der Londoner Theaterausstellung und die Abteilung der Reichstheaterkammer auf der Mailänder Trienale71 auszustatten. Dass der fachlich versierte Wissenschaftler 1934 ausgerechnet von der nationalsozialistischen Politik in seine Schranken gewiesen werden musste, war Niessens Übereifer geschuldet: er wollte belegen, dass der Verdienst der Erfindung des Films72 nicht den Brüdern Lumière, denen ein jüdischer Hintergrund zugeschrieben wurde, sondern allein dem Deutschen Max Skladanowsky zukomme. Mehr Erfolg hatte Niessen mit seiner maßgeblichen Beteiligung an der „Thing-Bewegung“. Das „Thingspiel“ sollte als ein „deutsches Volkstheater“ eigener Art in zum großen Teil noch zu schaffenden Freilichtheatern aufgeführt werden. An antik-griechischer Theaterarchitektur erinnernd sollten diese „Thingsstätten“ heißen. In nichtillusionistischen, chorischen Massenschauspielen sollte der Zuschauer soweit zum Mitakteur werden, dass im theatralen Akt eine „Volksgemeinschaft“ entsteht. Das Wort „Thing“, angeblich herzuleiten vom „Thingplatz“ als germanischen Volksversammlungsplatz, war eine Erfindung Niessens auf einer Bahnfahrt „zu einer FreilichtAufführung.“ Dort „kam“ Niessen „für die auf einer Kölner Sitzung erörterten Pläne der Name ‚thing‘. Was [er sich] dabei gedacht [hat], sagt der alte Begriff der rechtlichpolitischen Versammlung in Steinring.“73 Die erste Modellaufführung des Thingspiels fand in Köln in den Messehallen durch die „Rheinische Spielgemeinschaft für nationale Festgestaltung“ statt. Diese war die erste ihrer Art, die administrative Führung hatte die Lan68 69 70
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Das Themenspektrum war theatergeschichtlich und -systematisch breit gestreut. Es reichte von „Faust auf der Bühne“ bis zum „orientalischen Schattenspiel“. Das gedruckte Werbeblatt liegt im Tätigkeitsbericht des Instituts für Theaterwissenschaft der Universität Köln 1927-28, zu finden in der Bibliothek des ITW München, Sign. THW 390/1. Niessen berichtete am 26. März 1934 an den Rektor der Univ. Köln, dass aufgrund der Verfügung vom 20. März 1934 das Institut für Theaterwissenschaft verbunden mit dem Theatermuseum als korporatives Mitglied in die Reichstheaterkammer und damit in die Reichskulturkammer eingereiht worden ist. (UAK 44/137) In Mailand wurden die Ausstellungsteile, die Niessen zu verantworten hatte, und er selbst mit Medaillen ausgezeichnet. Carl Niessen: Der Film. Eine unabhängige deutsche Erfindung, Emsdetten 1934. Brief von Niessen an Dultz, 28.4.65, in: Rainer Sommer: Die inszenierte Volksgemeinschaft. Die „Thing-Bewegung“ im Dritten Reich, Marburg 1985, S. 35.
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despropagandaleitung, die Künstlerische Oberleitung der spätere Dozent für Regiepraxis am Berliner theaterwissenschaftlichen Institut, Hanns Niedecken-Gebhard. Das Kölner Institut für Theaterwissenschaft sollte als „Laboratorium“ für die Erprobung des Thingmodells dienen, Niessen sollte Vorschläge für die Ausstattung und die Requisiten machen. Da der klassisch ausgebildete Schauspieler für ein chorisches Theater der projektierten Art weniger ausgebildet war, sollte das Institut für Theaterwissenschaft für speziell geschulten Nachwuchs sorgen, indem es diesen aussuchte und in Einführungskursen ausbildete. Niessens Institut hätte das „Ausbildungszentrum für das chorische Theater“ werden sollen.74 Währenddessen warb Niessen in Ausstellungen, Publikationen75 und Vorträgen für dieses Freilichttheater. So beteiligte er sich etwa an der Ausstellung „Deutsche Freilichtbühnen“ im Juli 1933 in Köln.76 Über einen seiner Vorträge berichtete eine Zeitungsmeldung von 1934: „Das Institut für Theaterwissenschaft schreibt uns: Am Do, dem 5. Juli, spricht Prof. Dr. Carl Niessen um 20.15 Uhr in der alten Universität über ‚Thingplätze als Spielstätten der Nation‘. Wie aus der Rede, die der Führer der deutschen Schauspieler vor einigen Minuten im Landtag hielt, hervorging, hat sich Prof. Niessen um die Thingplatz-Idee besondere Verdienste erworben. Unter anderem gab er den Thingplätzen ihren Namen, der sich schlagartig allenthalben durchgesetzt hat. Vor kurzer Zeit sprach er auf Einladung des Kampfbundes für deutsche Kultur mit großem Erfolg in Hamburg und Mainz über das für den kulturellen Aufbau des neuen Deutschland so wichtige Thema. In zahlreichen Lichtbildern werden architektonische Freilichttheaterlösungen von der Antike bis zu den jüngsten Thingplatzentwürfen gezeigt. Der Veranstalter ist die Rheinische Gesellschaft für Theaterwissenschaft und Theaterkultur (Vereinigung der Freunde des Instituts für Theaterwissenschaft an der Universität Köln).“77 Das RMVP hielt die „Thing-Bewegung“ kulturpolitisch unter Kontrolle, indem sie den schon vor 1933 existierenden „Reichsbund der deutschen Freilicht- und Volksschauspiele e.V.“ übernahm: unter der Schirmherrschaft von Goebbels wurde er von Ministerialrat Otto Laubinger, dem Leiter der Theaterabteilung im RMVP und Präsidenten der Reichstheaterkammer geführt, seinem Verwaltungsrat gehörten u.a. Hans Hinkel, Hanns Johst, der Reichsdramaturg Rainer Schlösser, Winifred Wagner und Baldur von Schirach an; in den „Bundesausschuss(Gruppe 1)“ wurde u.a. Niessen und Hans Knudsen berufen. Nachdem sich Goebbels Ende 1935 von der Thingbewegung auf dem Reichsparteitag 1935 vor den Propagandaleitern distanzierte und die Spielgemeinschaften systematisch aufgelöst worden waren, gab es eine neue Sprachregelung: „mit dem heutigen Tag [dürfen] keinerlei Begriffe wie Thing oder Thingstätte in Verbindung mit Partei, parteipolitischen Veranstaltungen oder staatlichen Unternehmungen verwandt werden [...] Die bekannten Thingstätten sind als Freilichtbühne zu bezeichnen.“78 Das Experiment Thingspiel sollte eingestellt werden, da es schon aus Mangel an geeigneten Stücken und praktischem Unterhaltungswert, aufgrund von Schwierigkeiten in der Organisation, der kostendeckenden Finanzierung, der Inszenierung des Chores und aufgrund parteiinterner Konkurrenz zwischen Goebbels und Rosenberg nicht mehr tragbar schien.79 Eine wichtige Profilierungsmöglich74 75 76 77 78 79
Ebd., S. 40. Carl Niessen: Thing-Plätze als Spielstätten der Nation, in : Blätter der Staatsoper, Dresden 1933/34, S. 97-104; Ders.: 400 Thing-Plätze, in: Kölnische Illustrierte Zeitung, Nr. 9, 1934 v. 3.3.1934, S. 204f. und 211. Ebd., S. 27. Kleine Meldung des ST. A. vom 26.Juni 1934. (UAK 571/227) Wolfgang Kloss: Die nationalsozialistischen Thingspiele, Diss. Wien 1981. S. 75; vgl. Stommer: Die inszenierte Volksgemeinschaft, a.a.O., S. 122. Stommer, Die inszenierte Volksgemeinschaft, a.a.O., S. 118ff.
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keit Niessens und des Kölner Instituts für Theaterwissenschaft war weggebrochen. Und obwohl Freilichttheater durchaus weiterhin opportun war, gerieten einige Jahre später Niessen und der Reichsdramaturg Schlösser und damit das RMVP heftig über ein solches in Streit. Niessen beschwerte sich Ende 1940 bitter bei Schlösser, dass die Reichsdramaturgie das von ihm bearbeitete und im Druck herausgegebene „Alte Kölner Spiel von Jedermann“ Jaspar v. Genneps80 für eine Kölner Freilichtaufführung ohne Angabe von Gründen abgesetzt hatte, ohne dass dem Bearbeiter Niessen dies zuvor mitgeteilt worden war. Dieser doppelte Affront entzürnte Niessen so, dass er in durchaus beleidigender Form („Um unnötigen Schriftverkehr zu vermeiden, erlaube ich mir mitzuteilen, daß der Autor seit längerer Zeit nicht mehr lebt und deshalb nicht benachrichtigt werden kann.“81) nicht nur die Reichsdramaturgie und den Reichsdramaturgen persönlich („Bei einer Besprechung [...] hatte es sich gezeigt, daß Herr Reichsdramaturg mit schätzenswerter Offenheit zugab, er kenne den Antichrist von Tegernsee nicht.“82) für unfähig erklärte, sondern auch mehrfach eine Begründung für das faktische Verbot einforderte. Das RMVP weigerte sich, eine inhaltliche Begründung zu geben und benachrichtigte das RWEV mit der Bitte, Niessens „Verhalten [...] zu überprüfen“, da er nicht „gesonnen ist, für die selbstverständlichen Belange der politischen Theaterführung Verständnis aufzubringen.“83 Niessen, der schon aufgrund seines katholischen Glaubens politisch verdächtig war,84 vermutete als Grund für die Absetzung, dass dessen religiöser Inhalt als brisant eingestuft wurde. Dabei hätte er doch „den konfessionellen Anteil des Originals radikal beseitigt.“85 Endgültigen Bescheid bekam Niessen vom RWEV, das auf die „Notwendigkeiten der Kriegspropaganda“ hinwies, keinesfalls aber die „Form der von“ Niessen „an den Massnahmen des Reichsdramaturgen geübten Kritik“ billigte.86 Der Vorfall hatte natürlich Folgen, Schlösser äußerte sich 1942 abfällig über Niessen,87 die neuen, „verlässlichen“ und massiv vom RMVP geförderten Theaterwissenschaftler waren nun Knudsen und Kindermann. Nachdem Bombeneinwirkungen einen Teil der Kölner Universität und der Theatersammlung zerstört hatten und der Mangel an geeigneten Räumlichkeiten für das Institut und die Sammlung Niessen fast verzweifeln ließen, musste er mit ansehen, dass Kindermann in Wien trotz Kriegssituation ein vergleichsweise üppig dotiertes „Zentralinstitut für Theaterwissenschaft“ aufbauen konnte. Niessen, der seine eigenen Pläne für ein zentrales „Reichsinstitut“ hatte88, fühlte sich sowohl von der Kölner Universität, die ihm keine geeigneten Räumlichkeiten zuweisen wollte, wie auch vom RWEV eklatant benachteiligt. Er initiierte 1943 eine für die Beteiligten nicht immer durchschaubare Aktion, die ihn an die Universität München bringen sollte. Zwischen den Universitäten München, Köln und Wien, dem RWEV und dem bayerischen Kultusministerium entspann sich mehrere Monate lang ein umfangreicher Schriftverkehr. Niessens glaubte, in München einen besseren und sichereren Platz für seine Sammlung und sein Institut zu erhalten. Zudem neidete er Kindermann seine Stellung, die üppigen finanziellen Zuwendungen und vor allem das „Zentralinstitut“, das nach dem
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Jaspar von Gennep: Das alte Kölner Spiel von Jedermann, bearbeitet von Carl Niessen, hg. von dems. in der Reihe Entstaubte Dramenschätze, Berlin o. J. Niessen am 11. Nov. 1940 an Reichsdramaturg Schlösser. (BA DS 8000, 2824) Niessen am 12. Febr. 1941 an Reichsdramaturg Schlösser. (BA DS 8000, 2826) RMVP am 4. März 1941 an RWEV. (BA DS 8000, 2825) Beurteilung des Reichsamtsleiters des NSD-Dozentenbundes am 5. Juli 1938 an das RWEV. (BA 8000, A 48, 2526) Niessen am 12. Febr. 1941 an Reichsdramaturg Schlösser. (BA DS 8000, A 48, 2828) RWEV am 21. Juli 1941 an Niessen (BA DS 8000, A 48, 2832f.) Reichsdramaturg Schlösser am 7. Jan. 1942 an das RWEV, in: Joseph Wulf: Theater und Film im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Gütersloh 1964, S. 211f. Carl Niessen: Ein Reichsinstitut für Theaterforschung verbunden mit dem Reichstheaterarchiv und Reichstheatermuseum, [Hektograph.] 1942.
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Krieg „Reichsinstitut“ werden sollte.89 An der Universität München und im Bayerischen Kultusministerium hoffte man auf einen günstigen Ersatz des nach Königsberg berufenen Borcherdt, indem man Niessen zum „Honorarprofessor“ ernennen wollte.90 In „Zusammenhang mir der geplanten Gründung eines Reichsinstituts für Theaterforschung in München“ sollte Niessens „umfangreiche theaterwissenschaftliche Sammlung von der Stadt München angekauft werden.“91 Zuvor sollte sich Niessen in Köln in den Ruhestand versetzen lassen, „so dass im Falle der vollzogenen Pensionierung Herr Niessen finanziell gesichert ist.“92 Die Kölner Fakultät beschwerte sich beim RWEV, dass Niessen den Dekan von seinen Verhandlungen mit München nicht informiert hätte. Niessens selbst wollte nach München beurlaubt werden, die Kölner Fakultät plädierte jedoch für eine Versetzung.93 Währenddessen konnte Niessen nicht umhin, sich schriftlich beim RWEV über die Wiener Berufung Kindermanns zu beklagen, nachdem er bei der Universität Wien „über das neugegründete Zentralinstitut Erkundigungen“94 eingeholt hatte, in denen es um die Frage nach einem zukünftigen „Reichsinstitut für Theaterforschung“, das es nach dem Krieg werden sollte, und dem damit eventuell verbundenen „Totalitätsanspruch für die deutsche Theaterwissenschaft“ ging. Die Führungsrolle in der deutschen Theaterwissenschaft reklamierte Niessen für sich und seinem neuen Wirkungsort München. In der „Hauptstadt der Bewegung“ und nicht im randständigen Wien sollte, wie es „der Führer angeordnet hat, auf der Grundlage“ des Münchner Theatermuseums „das Reichstheatermuseum“ errichtet werden. „Ohne weiteres klar dürfte es sein, dass ein solches Museum den Unterbau eines Forschungsinstituts haben muss.“95 Niessen wollte seine von den Kriegszerstörungen „gerettete Privatsammlung“ mit den „großen Archivbeständen des Münchener Theatermuseums“ vereinen, dann hätte „München zweifellos die größte Theatersammlung überhaupt“96 gehabt. Überhaupt wäre der neue Ordinarius in Wien kein Theaterwissenschaftler, vielmehr ein Literaturhistoriker. Und dieser hätte „die Aufgabe, Oberlehrer vorzubilden, die Vorbildung des Bühnennachwuchses hat ganz andere Voraussetzungen.“97 Niessen kritisierte die unzureichende Anzahl an Bänden in Wien und er ereiferte sich darüber, dass Wien vom RWEV die Finanzierung einer theaterwissenschaftlichen Zeitschrift zugesagt wurde, während die von ihm herausgegebene „Theater und Welt“ nicht mehr erscheinen könnte. Am Ende überwarf sich Niessen mit allen Beteiligten, sogar die Universität München distanzierte sich von ihm. Deren Rektor berichtete an das RWEV, dass sich Niessen im Vorfeld der avisierten Berufung als „schwierig“ erwiesen hätte, so hätte er sich als „Direktor des Theaterwissenschaftlichen Instituts München“ anschreiben lassen und ohne Befugnis auf einer Versteigerung 40.000 RM ausgegeben, die Rechnung aber dem „zuständigen Kulturreferenten der Stadt München zur Bezahlung zugehen lassen.“98 Außerdem wäre, seitdem klar sei, dass das Reichstheatermuseum doch nicht in absehbarer Zeit gegründet werde, „auch das Interesse der Fakultät“ an Niessen „erloschen“.99 Somit erlebte Niessen das Kriegsende in Köln, er wurde im Entnazifizierungsverfahren in die Kategorie IIIb1eingereiht, galt als belastet, die Folge war Berufsverbot. 1949 hatte ein Berufungsverfahren mit der Begründung, Niessen wäre verfolgt gewesen, Erfolg, so dass er ab 1950 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99
Universität Wien am 21. Mai 1943 an Niessen (Abschrift). (BA DS 8000, A 48, 2872) Bayer Staatsmin. für Unterricht und Kultus am 1. Juni 1943 an das RWEV. (BA DS 8000, A 48, 2849) Der Rektor der Univ. München am 5. Mai 1943 an das RWEV. (BA DS 8000, A 48, 2888) Ebd. Der Dekan der Phil. Fak. der Univ. Köln am 17. März 1943 an das RWEV. (BA DS 8000, A 48, 2846) Der Rektor der Univ. Wien am 21. Mai 1943 an das RWEV. (BA DS 8000, A 48, 2816) Niessen am 8. Juni 1943 an den Rektor der Univ. Wien. (BA DS 8000, A 48, 2600) Ebd. Ebd. (BA DS 8000, A 48, 2602) Vermerk in der Personalakte Niessen im RWEV. (BA DS 8000, A 48, 2624) Ebd. (BA DS 8000, A 48, 2625)
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wieder lehren durfte. Sein Nachfolger war der ehemalige Assistent Petersens, Rolf Badenhausen. 5. „Alles in allem: Keine eindeutige Persönlichkeit“ – Der Münchner „Theaterprofessor“ Artur Kutscher Wer den Begriff „Theaterwissenschaft“ wirklich erfunden hat, lässt sich nicht mehr eruieren, der 1878 geborene Artur Kutscher nahm die Urheberschaft für sich in Anspruch,100 obwohl sie eher Max Herrmann zuzuschreiben ist. 1907 in München zum Privatdozenten für neuere deutsche Literaturgeschichte und 1915 zum n. b. a. o. Professor ernannt, hielt Kutscher ab 1909 Vorlesungen mit dem Schwerpunkt Theater. Obwohl er mit Herrmann und Niessen zu den Gründerpersönlichkeiten der Theaterwissenschaft gehörte, entstand das 1926 an der Universität München gegründete „Institut für Theatergeschichte“ ohne sein Mitwirkung, es wurde vom Ordinarius für Neue Deutsche Literaturgeschichte Hans Heinrich Borcherdt geleitet.101 Kutscher selbst blieb sehr lange der Aufstieg innerhalb der Universität versagt. Über die Gründe in der Zeit bis 1933 kann nur gemutmaßt werden, zu bemerken ist ein auffälliger Charakter, der ihm schon in den 20er Jahren öfters Ärger mit der Universitätsleitung einbrachte. Kutscher suchte von Anfang an die unmittelbare Nähe zu den Künstlern und zum aktuellen Theater, bereits als Student war er einer der Gründer des bekannten Kabaretts „Elf Scharfrichter.“ In seiner Fakultätsakte häuften sich Anträge auf Exkursionen u.a. nach Frankreich, Russland, Sizilien und Griechenland mit bis zu 200 Teilnehmern pro Reise. Die Größe der Reisegruppen und das oft gerügte unbotmäßige, bohemienhafte Verhalten der Teilnehmer, die nicht immer Studenten der Universität München waren, führten zu anhaltender Kritik mancher Kollegen; zudem wären Kutschers Lehrveranstaltungen zwar immer sehr gut besucht gewesen, beschränkten sich aber nicht 100 Vgl. Artur Kutscher: Meine theaterwissenschaftlichen Bemühungen, in: Maske und Kothurn, 2. Jg. 1956, Heft 3/4, S. 343-350, hier S. 347. 101 Obgleich er 1922 bereits mit theaterwissenschaftlichen Vorlesungen begann und seit 1926 der Leiter des „Instituts für Theatergeschichte“ in München war und auch von offizieller Seite oft als der Münchner Vertreter der Theaterwissenschaft genannt wurde, steht der 1887 geborene, 1915 in München für Neuere Deutsche Literaturgeschichte habilitierte Hans Heinrich Borcherdt heute im Schatten von Artur Kutscher, denn er war in erster Linie Germanist und sozusagen nebenbei Theaterhistoriker, aber kein „Theaterwissenschaftler“ im engeren Sinne. Anfang der 40er Jahre ging er nach Königsberg, wo er 1943 o. Prof. und Direktor des Deutschen Seminars wurde, 1944 kehrte er nach München zurück. Wichtige Publikationen der 20er und 30er Jahre, die man explizit der Theatergeschichte zuordnen kann, sind Der Renaissancestil des Theaters (Halle 1926) und Das europäische Theater im Mittelalter und der Renaissance (Leipzig 1935). Borcherdt hatte nie den Ergeiz, die Theatergeschichte methodisch auf völlig eigene Füße zu stellen, er galt als Vertreter einer „Kunstgeschichte des Theaters.“ (Das europäische Theater im Mittelalter und in der Renaissance, Leipzig 1935, S. I.) Daher waren ihm die „stilgeschichtlich bedeutsamen Vorgänge“ wichtig, die sich ausformen in nationale Stiltypen. Über die Feststellung nationaler Eigenarten ging Borcherdt in der Theatergeschichte nicht hinaus, seine Argumentation hielt sich weitgehend in einem sachlichen Rahmen. Gleichwohl war er „aktiver“ Beiträger des „Gemeinschaftswerks“, d.h. der „Aktion Ritterbusch“, der es darum ging, den „Wesensgehalt des Deutschen“ aus deutscher Sprache und Dichtung herauszuarbeiten: Hans Heinrich Borcherdt: Der deutsche Bildungsroman, in: Von deutscher Art in Sprache und Dichtung (hg. im Namen der germanistischen Fachgruppe von Gerhard Fricke, Franz Koch und Klemens Lugowski, Stuttgart und Berlin 1941, 5 Bde.) Band V, Abteilung Dichtungsformen, geleitet von Franz Koch, S. 3-55. Kulturpolitisch hatte seine Beschäftigung mit dem Theater eigentlich keine Rolle gespielt. So verneinte auch der Reichsdramaturg Schlösser 1942, dass „Professor Borcherdt“ starke Bande „mit jenen Stellen verknüpfen, die seit 1933 für das Theaterleben verantwortlich sind.“ (Schlösser an RWEV, 7.11.1942, in: Wulf: Theater und Film im Dritten Reich, a.a.O., S. 211f.) Nach Kriegsende resultierten seine Schwierigkeiten mit der Spruchkammer nicht aus theatergeschichtlichen, sondern aus germanistischen Veröffentlichungen und Aktivitäten, etwa aus einem Text in der Bayerischen Hochschulzeitung Anfang 1934, der den Titel „Literaturwissenschaft als militante Wissenschaft“ trug und aus der Bewertung einer außergewöhnlichen Dozentur an der Adolf-Hitler-Schule Sonthofen. 1947 wurde er Ordinarius für Neuere Deutsche Literaturgeschichte in München und lehrte zugleich Theatergeschichte bis 1954.
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nur auf die eingeschriebenen Hörer. Außerdem veranstaltete Kutscher regelmäßige Autorenabende, an denen u.a. Thomas Mann, Eugen Roth, Joachim Ringelnatz teilnahmen. Es bildete sich um ihn eine Gruppe, die als „Kutscher-Kreis“ bekannt wurde. Diese Offenheit zur Praxis und sein für einen Theaterwissenschaftler in dieser Zeit unübliches Interesse für die Theateravantgarde waren vermutlich in Verbindung mit seinem Eintreten für eine autonome Theaterwissenschaft einer Karriere im Wissenschaftsbetrieb nicht gerade förderlich. Umso mehr war er in der Kunstszene beliebt und geachtet, wobei zu seinen Künstlerfreunden nicht nur Frank Wedekind, dessen Werke er herausgab, sondern auch der spätere Präsident der Reichsschrifttumskammer Hanns Johst gehörten. Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen, war daher der Zug für einen Aufstieg Kutschers und seiner theaterwissenschaftlichen Schule innerhalb der NS-Kulturpolitik keineswegs abgefahren. Immerhin war er der militärisch höchstdekorierteste Theaterwissenschaftler,102 er hatte seine Kriegserlebnisse in Buchform veröffentlicht103 und eine Sammlung von Kriegsliedern104 herausgegeben. Zudem war er Angehöriger des „Stahlhelm“ von 1929 bis „zu seinem Ende 1935“, „war sogar der Leiter seiner akademischen Abteilung gewesen.“105 Sein methodischer Ansatz, der sich wie Niessen als taktisches Mittel gegen die Vorherrschaft der Germanistik einsetzen ließ, wäre durchaus anschlussfähig gewesen für eine ideologische Vereinnahmung. „Der Kern der Philologie ist der Logos, der Kern der Theaterwissenschaft ist der Mimus,“106 so Kutscher, und am Anfang der Kulturentwicklung stehe der Tanz und die Pantomime. Dabei ist die „mimische Äußerung [...] eine Gabe der menschlichen Natur; sie liegt in jedem gesunden, künstlerisch veranlagten Menschen, gewissermaßen als Blüte eines rein entwickelten Körpers und Geistes. Mimische Äußerung ist immer und überall vorhanden, wenn auch mit großen graduellen Unterschieden, je nach Temperament, Rasse, Alter. Sicher haben auch zeitliche Verhältnisse Einwirkung auf die mimische Äußerungsart.“ Noch vor dem Siegeszug der Nationalsozialisten zeitigte Kutscher eine nationale und schwach völkische Einstellung: „Wir kennen kein Volk ohne mimische Spiele, aber diese entsprechen dem Charakter seiner Menschen. Es gibt mimisch arme Völker: Ägypter, Araber, Türken. Die mimischen Anlagen sind jedoch innerhalb eines Erdteils, ja selbst innerhalb eines Sprachstammes, innerhalb eines Landes verschieden.“107 Diese Differenzen erlaubten, kulturelle, hierarchisch geordnete Entwicklungsstufen zu deduzieren: „Vom Volks- und Nationaltanz haben wir zu unterscheiden den Kulturtanz und den Gesellschaftstanz. Beide sind nicht der Anfang von etwas Neuem, sondern nur ein anderes Entwicklungsstadium des Mimisch-Tänzerischen, eine Umbildung, teilweise Höherbildung, teilweise auch Rückbildung.“108 Immerhin hat Kutscher 1932 darauf verzichtet, die Theatergeschichte einem konstruierten Ursprung in einem „Germanischen Mimus“ nachzuordnen. 1939 jedoch manövrierte sich Kutscher in die bedenkliche Nähe Stumpfls, indem er postulierte, dass die Kirche manche weltlichen Bräuche, herrührend aus den „volkstümlich-dramatischen Spielen“ des „bayerischen-österreichischen Stamms“ „nur übernommen und leicht verändert, andere in Anpassung an den Geist des Volkes neu geschaffen“ hatte.109 Theaterwissenschaftliche Methode hat die „Bühnendichtung“ als „innere Einheit“ vorzustellen, „die als solche verstanden, gewürdigt und in einer sinngemäßen Aufführung 102 Eisernes Kreuz I. Klasse, II. Klasse, königl. Militärverdienstorden IV Klasse mit Schwertern, Verwundetenabzeichen für Heeresangehörige, Ehrenkreuz für Frontkämpfer. 103 Artur Kutscher: Kriegstagebuch, 2 Bände. München 1915. 104 Das richtige Soldatenlied, Verse und Singweisen, im Felde gesammelt, hg. v. Artur Kutscher, Berlin 1917. 105 Artur Kutscher: Der Theaterprofessor. Ein Leben für die Wissenschaft vom Theater, München 1960, S. 209. 106 Ebd., S. 102. 107 Artur Kutscher: Die Elemente des Theaters, Düsseldorf 1932, S. 8. 108 Ebd., S. 27. 109 Artur Kutscher: Vom Salzburger Barocktheater zu den Salzburger Festspielen, Düsseldorf 1939, S. 9ff.
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vollendet werden will. Diese Einheit in ihrem innersten Wesen und in der Fülle ihrer Erscheinungen zu erfassen, ist die eigentliche Aufgabe der Theaterwissenschaft.“110 Dass die innere Einheit des Theaters der inneren Einheit der Nation entsprach, wäre in diesem Kontext keine abwegige Folgerung gewesen. Immerhin hatte Kutscher in den 20er Jahren durchaus Sympathien für eine nationalistische Politik. So berichtete er über einen Besuch einer Rede Hitlers 1926 im „Kindl-Keller“: „Wertvoll an Hitlers Streben erschien mir in den zwanziger Jahren sein Kampf gegen die Selbstsucht wohlhabender Kreise, sein Appell an das Gemeinschaftsgefühl und denken, an die Opferbereitschaft für das Ganze, sein Bemühen, den Arbeiter marxistischen Bekenntnisses mit nationalem Geist zu erfüllen, der Gedanke der deutschen Einheit unter Einbeziehung Österreichs. Für erfreulich hielt ich die Gedanken der Wehrertüchtigung, der Arbeitsdienstpflicht, der sportlichen Betätigung. Freilich, zu übersehen waren nicht die negativen Seiten der Uniformierung des deutschen Lebens.“111 Obgleich Kutscher nationales Denken nicht fern lag, ließ er sich nichtsdestotrotz nicht gerne ein- und unterordnen; die Dichtung und die Kunst interessierte ihn in ihrer ganzen ästhetischen und weltanschaulichen Breite, da wollte er sich nicht einschränken lassen. Diese Starrköpfigkeit führte 1936 zu einer harten Auseinandersetzung mit der NS-Studentenschaft, die bis zum Ende des Krieges Kutschers Reputation bei den Nationalsozialisten endgültig schädigen und sein Weiterkommen verhindern sollte. Im Juli schrieb das Zentralorgan des NSD-Studentenbundes „Die Bewegung“: „Höchst fatal! Zum Fall Kutscher, München. Wir haben in mehreren Artikeln schonungslos eine Clique angegriffen, die noch nicht erfaßt hat, was Verantwortung ist. Wir betonen ausdrücklich, daß wir Herrn Professor Artur Kutscher von einem Mitverschulden an den Vorgängen in den ‚Übungen für literarische Kritik‘ keinesfalls freisprechen können. Wir hoffen, daß unsere Hiebe Raison in seine Bude bringen werden und daß die eindeutige Zurechtweisung von ‚höherer Stelle‘ in genügendem Maße gezeigt hat, woher der Wind pfeift. Falls in Zukunft nur im Entferntesten ähnliche Vorfälle uns zu Ohren kommen sollten, werden wir rücksichtslos auskehren. Dies möge unsere letzte, eindringliche Warnung sein! Der Öffentlichkeit geben wir hiermit bekannt, daß der Kutscher-Kreis aufgelöst ist.“112 Der Grund für diese Angriffe war Kutschers Gewohnheit, in seinen Übungen die Studenten anonym darüber abstimmen zu lassen, wer zu den bedeutendsten Dichtern der Gegenwart gehöre. Das Ergebnis ergab viel Zustimmung für Thomas Mann, für Carossa, Hauptmann, Rilke, Binding, George, Hofmannsthal sowie Wedekind und wenig für Schriftsteller, die der NS-Weltanschauung nahe standen. Kutscher tangierten die Vorwürfe der Studentenschaft sehr: „Vor 3 Wochen ist mir durch den Vertreter der Dozentenschaft, Herrn Kollegen Spindler, eine Besprechung meines Zwischenfalls mit dem N.S. Studentenbund in Aussicht gestellt worden. Ich bitte diese Besprechung bald ansetzen zu wollen, da ich mich infolge der Angriffe in der ‚Bewegung‘ und besonders auch ihres verächtlichen und gehässigen Tones unter einem heftigen Druck befinde, den ich endlich loswerden muss. Vorwürfe, die bis dahin gehen, ein Verderber der Jugend zu sein, treffen einen Mann hart, der Zeit seines Lebens mehr für seine Studenten und die ganze akademische Jugend getan hat, als für sich selbst, der vor allem ein leidenschaftlicher Pädagoge ist und von je mehr Lehrer war als Forscher.“113 Und sie hatten Konsequenzen für einen Wissenschaftler, der seit über 110 Artur Kutscher: Stilkunde des Theaters, Düsseldorf 1936, S. 195 111 Kutscher: Der Theaterprofessor, a.a.O., S. 207. 112 Abschrift aus dem Zentralorgan des NSD-Studentenbundes „Die Bewegung“ vom 1. Juli 1936, Nr. 27, S. 4. (UAM E-II-2183) 113 Kutscher am 6. Juli 1936 an den Rektor der Univ. München. (UAM E-II-2183)
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20 Jahren nicht befördert und vor allem nicht beamtet worden war. Immerhin war Kutscher zu dieser Zeit bereits fast 60 Jahre alt, er musste befürchten, im Alter wenig finanzielle Rückendeckung zu haben. Nach diesem Vorfall stellte Kutscher die Befragungen der Studenten ein, Erlaubnisse für Studienfahrten waren schwieriger zu erlangen,114 die Teilnehmer der Autorenabende waren „entmutigt, und 1937/38 waren [diese] Abende zunächst zu Ende.“115 Sein weiteres Verhalten gegenüber der Universität und den NS-Vertretern der Dozenten- und Studentenschaft war von zunehmender Angst und Sorge um seine finanzielle Zukunft geprägt. Er bemühte sich um eine angepasste Haltung, hielt bis 1945 Vorträge für die „K. d. F.“, den Studentenbund und die Hitlerjugend. Aber alle diese Anpassungsleistungen befreiten ihn nicht mehr von seinem Ruf bei der Studenten- und Dozentenschaft, ein zu eigenständiger und uneindeutiger Charakter zu sein. Man könnte diesen aus seinen Schriften herauslesen. So ist in der 1939 erschienenen Erweiterung seiner Arbeit „Salzburger Barocktheater“ von 1924, „Vom Salzburger Barocktheater zu den Salzburger Festspielen“ zwar von der Hoffnung die Rede, dass die „Salzburger Festspiele des nationalsozialistischen Reiches sich wieder anschließen an die gesunden Anfänge und ihren hohen völkischen Willen“; Max Reinhardt „hat die Aufmerksamkeit auf unser Theater gelenkt und ihm weit und breit begeisterte Anerkennung verschafft. Aber er dachte am wenigsten an das Theater als Ausdruck süddeutschen Wesens, deutsch-österreichischer Volkskultur, wie sein wenig gebundener Spielplan und seine Darstellung beweist. Reinhardt hat rassischen Nötigungen entsprechend sein Publikum betört und hypnotisiert und so das Wesen deutscher Kunst entstellt.“116 Trotz der Diffamierung Reinhardts fügte Kutscher der Arbeit jedoch eine akribisch erstellte Aufführungsliste der Festspiele bei, die jedem Leser deutlich machen musste, wie wichtig Max Reinhardt als Spielleiter für die Festspiele gewesen war.117 Im Sommersemester 1938 bewarb Kutscher sich, vielleicht motiviert durch den sich abzeichnenden Erfolg seines ihm freundschaftlich verbundenen Kollegen Niessen, um das freigewordenen Ordinariat von Walter Brecht. Dieser war 1937, nachdem bekannt geworden war, dass seine Frau eine Jüdin sei, infolge des „Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ gewaltsam in den Ruhestand versetzt worden.118 Kutscher versuchte, seine Reputation in weiten wissenschaftlichen und künstlerischen Kreisen durch eine anstehende Festschrift, die in der Tat mit einer ungewöhnliche Anzahl an Gratulanten aufwartete, gegenüber dem Dekan zu bezeugen: „Von dem Buche, das nächste Woche zu meinem 60. Geburtstage erscheint und Bekenntnisse enthält der gesamten Kreise, auf die ich innerhalb und außerhalb der Universität gewirkt habe, von Gerhart Hauptmann bis Hanns Johst, werde ich mir erlauben zu ihrer Orientierung nächster Tage die Korrekturbögen vorzulegen.“119 Doch seine Bewerbung hatte von vorneherein keine Chance. Die Studentenschaft urteilte über ihn in einem internen Gutachten: „Über die Stellung der Studentenschaft zu Prof. Kutscher kann ich Ihnen in aller Kürze folgendes mitteilen. Prof. Kutscher geniesst das Vertrauen der Studentenschaft nicht, wenngleich er sich auch bemüht, näher mit uns zusammenzuarbeiten. Diese Stellungnahme besteht seit dem Zeitpunkt als Prof. Kutscher die grosse Auseinandersetzung mit der Fachgruppe Kulturwissenschaft und der Studentenzeitung ‚Die 114 So heißt es von Seiten der Fakultät am 9. Okt. 1939 an Kutscher: Die beantragte Studienfahrt wird „unter den heutigen Umständen nicht mehr für angezeigt“ gehalten. (UAM E-II-2183) 115 Kutscher: Der Theaterprofessor, a.a.O., S. 215. 116 Artur Kutscher: Vom Salzburger Barocktheater zu den Salzburger Festspielen, München 1939, S. 144. 117 Kutscher: Vom Salzburger Barocktheater zu den Salzburger Festspielen, a.a.O., S. 178ff. 118 Bettina von Jagow: Bedeutungs- und Spannungsfelder der Germanistik an der LMU München 19201945, in: Kultur und Wissenschaft beim Übergang ins „Dritte Reich“, hg. v. Carsten Könneker u.a., Marburg 2000, S. 101-116, hier S. 105. 119 Kutscher am 19 Juni 1938 an den Dekan der Phil Fak. der Univ. München. (UAM E-II-2183)
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Bewegung‘ hatte. Sollten sie genauere Einzelheiten benötigen, bin ich bereit, Ihnen den Akt Kutscher zur Durchsicht zu überlassen.“120 Die Dozentenschaft121 und die Fakultät schloss sich dieser Bewertung an: „Massgebend für die Beurteilung der Fakultät ist, dass Prof. Kutscher als Forscher umstritten ist, dass ebenso die Bedeutung seiner Reisen umstritten ist, und schließlich, dass die Führung der Studentenschaft der Universität München gegenüber Prof. Kutscher eine klar ablehnende Haltung einnimmt. Ich verweise im letzten Zusammenhang nur auf die amtliche Zeitschrift des Studentenbundes ‚Die Bewegung‘ vom 1. Juli 1936 Nr. 27 Seite 4. Die Studentenbewegung betont in einem neuerlichen Briefe, dass ihre Stellung gegenüber Prof. Kutscher sich nicht geändert habe. Die Besuchszahlen der Kutscherschen Vorlesungen und Übungen sind gut, allein diese Tatsache kann es nicht rechtfertigen, Prof. Kutscher als Nachfolger des in den Ruhestand versetzten Geheimrats W. Brecht ernsthaft ins Auge zu fassen. Bei den Berufungsverhandlungen hat dann auch die Person Artur Kutschers keinerlei Rolle gespielt. Sich mit dem Vorschlage [...] näher zu befassen, wird auch dadurch wideraten, dass der von der philosophischen Fakultät an erster Stelle genannte o. Prof. Dr. Herbert Cysarz – Deutsche Universität Prag – bereits in offizielle Berufungsverhandlungen eingetreten ist.“122 Dieser hatte vermutlich in Ernst Gierarch einen durchsetzungsfähigen Fürsprecher, beide kannten sich aus der gemeinsamen Mitgliedschaft in der Sudetendeutschen Partei und der NSDAP.123 Immerhin gelang Kutscher, nachdem er 1939 „als nichtbeamteter ausserordentlicher Professor den Antrag auf Ernennung zum ausserplanmäßigen Professor“124 gestellt hatte, 1940 die Beförderung - wie das aufschlussreiche Gutachten des Dekans zeigt, jedoch nur als besserer „Gnadenakt“: „Kutscher ist seinem Wesen nach eine gewandte, freilich auch gewandelte, eigenwillige, aber auch eigensinnige Persönlichkeit. Er hat während des Weltkriegs als Leutnant und Kompanieführer vor dem Feinde gestanden und hierfür auch mehrere Auszeichnungen erhalten. Die erste seiner beiden Ehen ist mit seiner Schuld geschieden. Aus den beiden Ehen sind insgesamt 6 Kinder hervorgegangen, von denen 5 noch leben und 2 noch nicht versorgt sind. Zu dem von ihm vertretenen Fach ist Prof. Kutscher, wie o. Prof. Dr. Erich Gierach in einem am 4. August 1938 von mir weitergeleiteten Gutachten hervorgehoben hat, im wesentlichen nur in der Vorkriegszeit als Forscher hervorgetreten, zumal seine Dissertation wie seine Habilitationsschrift beide von der Forschung heute überholt sind und auch die gute Arbeit über Hebbel und Grabbe doch nur ein begrenztes Terrain behandelt. Eines seiner Werke, das seinerzeit am meisten Aufsehen erregt hat, die Lebensbeschreibung Wedekinds ist heute nicht mehr zugänglich, da sie der Verlag seit einigen Jahren zurückgezogen hat. Unter den von ihm verfaßten Aufsätzen befindet sich keiner, der eine größere Zeitspanne zusammenfassend unter neuen Gesichtspunkten behandelte. Seine Schriftstellerausgaben bestehen aus vorwiegend volkstümlichen Ausgaben ohne eigene Quellenarbeit. Das Schwergewicht seiner wissenschaftlichen Betätigung liegt heute [auf] Sondergebiete der Theatergeschichte, die er vor allem durch [seine] Arbeit über das Salzburger Barocktheater gefördert hat. Sein „Grundriss der Theaterwissenschaft“ ist stark 120 Stellungnahme der Studentenführung der Univ. München vom 20. Juni 38 an den Dekan der Phil. Fak. der Univ. München. (UAM E-II-2183) 121 Der Leiter der Dozentenschaft der Univ. München schreibt am 1. Aug. 1938, dass „Kutscher als Nachfolger Brechts nicht in Frage“ komme. (UAM E-II-2183) 122 Brief Nr. 1243 w/s des Dekans an den Rektor der Univ. München. (UAM E-II-2183) 123 So die These von Jagows: Bedeutungs- und Spannungsfelder der Germanistik an der LMU München 1920-1945, a.a.O., S. 105. 124 Kutscher stellt nach Weisung vom 18. April. 1939 den entsprechenden Antrag. (UAM E-II-2183)
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umstritten. Seine Lehrtätigkeit wird immer wieder von Fernerstehenden [als] anregend und lebendig gerühmt. Seine Vorlesungen und Übungen, die durchweg gut besucht sind, betreffen vorwiegend das moderne Schrifttum, die Theatergeschichte und die Stilistik. Nur alle 3-4 Jahre erscheinen Vorlesungen über Klassik und Romantik. Literarhistorische Übungen hat Kutscher nie gehalten, sondern immer nur kritische Übungen zur neuesten Literatur, wobei er [an-] scheinend manche moderne Strömung mitmachte, dies letztere sehr zum Missfallen der Studentenschaftsführung der Universität München. In der Beurteilung von Doktorarbeiten sind nicht selten zwischen dem Fakultäts-Ausschuss und Prof. Kutscher Meinungsverschiedenheiten zu verzeichnen gewesen. Ebenso hat man die manigfachsten Urteile hören können über die zahlreichen Reisefahrten, die bis nach Paris und Moskau ausgedehnt wurden und mit soviel Publikum belastet waren, dass eine wissenschaftliche Vertiefung unmöglich eintreten konnte. Politisch nimmt Prof. Kutscher für sich in Anspruch, dass er gelegentlich vor der HJ gesprochen hat, dass er an der studentischen Fachschaftsarbeit teilnimmt, dass er im Reichsender Frankfurt und Stuttgart mitarbeitet und gelegentlich auch von der Reichsamtsleitung zu Rate gezogen worden ist. Alles in allem: Keine eindeutige Persönlichkeit, die man aber aus sozialen Gründen in Anbetracht des vorgeschrittenen Alters wohl oder über dort belassen wird müssen, wo sie heute steht und wirkt. Vorstehender Bericht ist im Benehmen mit dem Beauftragten des Herrn Dozentenschaftsleiters, Dozentenschaftsvertreter o. Prof. Dr. R. Spindler abgefasst. Ich befürworte wenn auch unter Bedenken, die Ernennung des n. b. a. o. Prof. Dr. Artur Kutscher zum ausserplanmäßigen Professor.“125 Kutscher ist nun „nach § 30 Absatz 1 des deutschen Beamtengesetzes Beamter auf Widerruf geworden“, hatte damit aber „kein Recht und keine Anwartschaft auf Bewilligung von Diäten oder auf Berufung auf einen planmäßigen Lehrstuhl.“126 Um sich weiter abzusichern, beantragte Kutscher die Aufnahme in die NSDAP, glaubte 1940 aufgenommen worden zu sein, aber erst der Tod seines Sohnes im Russlandfeldzug im Oktober 1942 brachte es an den Tag, dass Kutscher zwar für seine Mitgliedschaft Beiträge gezahlt hatte, aber nur sein Sohn Mitglied war.127 1942 wird er dann endgültig aufgenommen. Nachdem Kutscher 1943 sein 65. Lebensjahr vollendet hatte und Borcherdt nach Königsberg berufen worden wurde, zudem Niessens Berufung nach München nicht zustande kam, befürwortete das Seminar Deutsche Philologie die Weiterverwendung Kutschers in der Lehre. Die Beurteilung Kutschers, der auf das Hörergeld angewiesen war, fiel wieder nicht positiv aus: „In Beantwortung Ihrer Anfrage, ob eine Verlängerung der Lehrtätigkeit von Professor A. Kutscher über sein 65. Lebensjahr hinaus im dienstlichen Interesse liege, möchte ich folgendes sagen: Es wird wohl von niemand bezweifelt, dass Kutschers geistige Wurzeln in den Kulturzuständen haften, die vor und nach dem ersten Weltkrieg in dem Geist sich repräsentiert sahen, für den Männer wie Frank Wedekind und wohl auch der Kreis um Thomas Mann symbolisch sind. In dieser geistigen Welt hat Kutscher sich wohl und zuhause gefühlt, hat für sie gekämpft und ist von ihr bejaht worden. Eine Abwendung von diesen Ideen und Idealen zu einer völkischen Haltung würde, wie gewiss Wedekind oder die Gebrüder Mann nachdrücklich bestätigt hätten, eine überaus tiefgreifende seelische Revolution bedeutet haben. Es ist mir nichts 125 Der Dekan der Phil. Fak. am 1. Juli 1939 an den Rektor der Univ. München. (UAM E-II-2183) 126 Ernennung von Kutscher am 3. April 1940 durch das RWEV. (UAM E-II-2183) 127 Kutscher am 1. Okt 1942 an den Rektor der Univ. München: „nachdem seit Anfang 1941 der Parteikassier meiner Ortgruppe mir regelmäßig Beiträge abverlangte mit der Behauptung, meine Bewerbung um Mitgliedschaft sei genehmigt, meldete ich mich bei Magnifizenz als Parteigenosse. Später stellte sich heraus, dass mit der genehmigten Mitgliedschaft mein schon früher angemeldeter Sohn gemeint war. Mit dem 1. Januar 1942 ist nun auch meine Mitgliedschaft genehmigt. Meinen Mitgliedskarte habe ich den Wünschen ihrer Magnifizenz entsprechend dem Sekretariat vorgelegt.“ (UAM E-II-2183)
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bekannt, was darauf hindeutet, dass Professor Kutscher im Lauf des vergangenen Jahrzehnts eine solche seelische Umwälzung durchgemacht habe. Was ich von ihm weiss und kenne, scheint mir nicht darauf zu weisen, dass er von den geschichtlich entscheidenden neuen geistigen Kräften unserer Zeit erfasst und geformt ist.“128 Der finanzielle Druck, dem sich Kutscher ausgesetzt sah, zwang ihn zu einer demütigenden Geste: „Am 11.5.1943 hatte Herr Kutscher Gelegenheit sich in Gegenwart des Herrn Rektors, des Syndikus und des Dekans zu äussern. Er legte hierbei ein leidenschaftliches Bekenntnis zum Nationalsozialismus ab und verlas zum Beweise dafür einen Brief, den er im Jahre 1919 an einen jüdischen Studierenden geschrieben hatte. Seitens der Philosophischen Fakultät besteht, besonders im Hinblick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Herrn Kutscher, der als Dozent sehr stark von den Hörgeldeinnahmen abhängig ist, keine Erinnerung, dass er bis auf weiteres nach Vollendung seines 65. Lebensjahres in der Lehrtätigkeit bleibt.“129 Obwohl Kutscher schon vor 1933 eine nationale, leicht völkische Haltung durchaus nicht verleugnet hätte, kann insgesamt nicht behauptet werden, dass er aktiv und enthusiastisch eine rassische und antisemitische Argumentation pflegte. 1946 plädierte die Spruchkammerurteil der Entnazifizierungskommission dann auch vergleichsweise schnell für „entlastet“130 und Kutscher konnte seine Arbeit wieder aufnehmen. Für ihn sprachen die nachweisbaren Schwierigkeiten mit der NS-Studentenschaft und vor allem das beispiellose, zahlreiche Eintreten von Künstlern und Intellektuellen, zu denen Emigranten wie Thomas Mann zählten, für den beliebten Münchner „Theaterprofessor.“ 6. Der Mitarbeiter der Reichsdramaturgie Hans Knudsen als neuer Leiter des Berliner Instituts Hans Knudsen, 1886 geboren, promovierte 1908 in Greifswald mit einer Arbeit über das Thema „Schiller und die Musik“, bestand 1909 das Staatsexamen für den höheren Schuldienst, wurde 1911 zum Studienrat ernannt, war nicht beim Militär und arbeitete forthin an der Auguste-Victoria-Schule Berlin. Während der 20er Jahre war er neben seiner Arbeit als Lehrer Assistent bei Herrmann am Institut für Theaterwissenschaft Berlin, saß in Theatergremien und schrieb Theaterkritiken. Von 1923 bis 1945 war Knudsen Generalsekretär der „Berliner Gesellschaft für Theatergeschichte“ und in dieser Funktion unterstützte er die zwangsweise Verabschiedung des zuvor schon aus der Universität entfernten Vorsitzenden Herrmann aus der Gesellschaft. Knudsens weiterer Berufsweg entfernte ihn nach 1933 von Universität und Gymnasium, bis 1938 arbeitete er hauptamtlich für die Organe der nationalsozialistischen Kulturpolitik. 1943 wurde er ohne jemals habilitiert zu haben auf Betreiben des RMVP außerordentlicher Professor für Theaterwissenschaft an der FriedrichWilhelms-Universität. Es ist durchaus berechtigt, diese Professur als Belohnung für Knudsens Arbeit für das RMVP anzusehen, Reichsdramaturg Schlösser sprach wörtlich von „ kulturpolitischen Verdiensten“131 Knudsens. Nachdem er von seiner Arbeit als Lehrer vom RMVP befreit worden war, arbeitete er in den verschiedensten Positionen an vorderster Front für die Propagierung und Durchsetzung, dem „Werden“ eines „ersehnten Deutschen Nationaltheaters“, das dem „ganzen Volk“ gehört, indem die „deutschen Bühnenschaffenden eine wahrhafte Gemeinschaft“ bilden, in dem „der Spielplan unsrer Bühne wieder sau128 Otto Höfler in einem Gutachten über Kutscher vom 19. März 1943. (UAM E-II-2183) 129 Der Dekan der Phil. Fak. am 12. Mai 1943 an den Rektor der Univ. München wg. der „Weiterverwendung“ von Kutscher. (UAM E-II-2183) 130 „Spruchkammerurteil vom 23. XII 1946, Ort Traunstein, Nr. A.Z.K 45I oder 7/46.“ (UAM E-II-2183) 131 Reichsdramaturg Schlösser am 7. Nov. 1942 an das RWEV, in: Wulf: Theater und Film im Dritten Reich, a.a.O., S. 211.
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ber und frei vom Ungeist vergangener Verfallszeit“ ist. Es ging um „die noch vor uns liegenden großen Aufgaben im deutschen Theaterleben“, an welche die „Reichskulturkammer in Kameradschaft mit den deutschen Bühnetätigen einsatzbereit“ herantritt, „um sie im Geiste des Führers und seines Treuhänders für deutsche Kunst, des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda und Präsidenten der Reichskulturkammer der Lösung zuzuführen.“132 Bevor Knudsen 1938 wieder als Lehrbeauftragter für Dramaturgie und Theaterkritik an die Universität zurückkehrte, arbeitete er als Hauptschriftleiter der Zeitschrift „Die Bühne“, die das kulturpolitische Leitmedium der unter dem RMVP und der Reichstheaterkammer gleichgeschalteten Theaterlandschaft war. Obwohl Knudsen als Theaterwissenschaftler aus der Herrmannschule gekommen war, in die er sich 1927 in einem Handbuch zum Studienfach Theaterwissenschaft noch selbstverständlich eingeordnet hatte,133 änderte er 1943 in seinem Lebenslauf für die Bewerbung auf eine Professur die Ausrichtung seines berufsqualifizierenden Weges, so hieß es dort: von „1919 an habe ich mich in die kulturpolitische Kampffront gegen die zersetzende Kräfte in Dichtung und Theater gestellt und für die kleine Gruppe nationaler Dichter nach Kräften einzutreten mich bemüht. Ich wurde 1918 in den Vorstand der ‚Vereinigung künstlerischer Bühnenvorstände‘ berufen, deren Zeitschrift ‚Die Scene‘ ich 1920-24 an der Seite des Vorsitzenden, Prof. Ferdinand Gregori, leitete, dann aber in einem Augenblick niederlegte, als Leopold Jessner als Vorsitzender die Dinge in die Hand bekam. (im Auftrag des damaligen Staatskommissars Hinkel habe ich dann die Vereinigung 1934 aufgelöst) I. J. 1923 berief mich die ‚Gesellschaft für Theatergeschichte‘ zu ihrem Generalsekretär. Ich bin in dieser Stellung unter dem Präsidenten Staatsminister Prof. Dr. Popitz auch jetzt noch tätig und leite deren Bibliothek und Sammlungen. Im gleichen Jahr 1923 wurde ich in den ‚Künstlerischen Ausschuss‘ der ‚Volksbühne‘ gewählt, aus dem ich 1927 ausgebootet wurde, da ich den Kampf gegen Piscator mit aller Schärfe durchführte. Piscator selbst hat mir dann sein Theater eine zeitlang verboten. I. J. 1924 haben mir die ‚Preussischen Jahrbücher‘ ein ständiges Theaterreferat übertragen, das ich bis zum Aufhören der Zeitschrift inne gehabt habe. Gleichzeitig war ich Theaterkritiker der ‚Deutschen Theaterzeitung‘. Schon seit dem Weltkrieg stand ich im engeren Mitarbeiter-Verhältnis bei der ‚Rheinisch-WestfälischenZeitung‘ in Essen, die mir ebenfalls die Plattform gab für einen scharfen Kampf gegen allen Kulturbolschewismus. Seit 1925 habe ich an den Kursen des ‚Deutschen Instituts für Ausländer an der Universität Berlin‘ Vorträge gehalten über Literatur und Theater und gehörte zum festen Dozentenkreis des Instituts bis zum Ausbruch des Krieges 1939 an. Am 6. Juli 1933 hat Herr Reichsminister Dr. Goebbels mich in den Bundesausschuss des von ihm errichteten ‚Reichsbund der deutschen Freilicht- und Volksschauspiele‘ berufen. Als i. J. 1935 mit der Auflösung der Berufs-Verbände im deutschen Theater auch deren FachZeitschriften aufhörten, wurde mir vom damaligen Präsidenten der Reichs-Theater-Kammer, Reichsdramaturgen Dr. Rainer Schlösser, die Schaffung einer neuen Theater-FachZeitschrift übertragen. Ich habe ‚Die Bühne‘ aufgebaut und die Hauptschriftleitung bis 1938 innegehabt. Bei meinem Ausscheiden ernannte mich die Reichstheaterkammer zu ihrem Fachberater für alle theaterwissenschaftlichen Fragen. Am 8. Mai erhielt ich vom Herrn Reichserziehungsminister einen Lehrauftrag für Dramaturgie und Theaterkritik an der Universität Berlin.“134 Wichtig war für Knudsen nicht nur die Leitung der „Bühne“, sondern ebenfalls die Berufung durch Goebbels in den Bundesausschuss des FreilichtspielReichsbundes. Er wurde so neben Niessen und Niedecken-Gebhard zum dritten theaterwissenschaftlichen Vertreter der Thingbewegung, zu deren Unterstützung er auch durch ent132 Die Reichskulturwalter (u.a. Hans Hinkel) 1936 in einem Entwurf für die von Knudsen geleitete „Bühne“. (BA RK 2200, H 84, 450) 133 Hans Knudsen: Das Studium der Theaterwissenschaft in Deutschland, Berlin 1927. 134 BA R 4901 13312.
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sprechende Publikationen beitrug.135 Zur Dietrich-Eckart-Bühne als „letzten Versuch“ der Thingbewegung 1936 anlässlich der Olympischen Spiele schrieb Knudsen: „Es gibt wieder eine Theaterstadt Berlin, sie besteht wieder in einem höheren und edlerem Sinne, mit großen Pflichten, großen Aufgaben, großen Erfolgen und Wirkungen. Sie durfte, nach drei Jahren ernster und vertiefter Arbeit und Anstrengungen, nun auch jenes neue und große Werk aufnehmen, das den Ausdruck, den Weg für eine neue Form theatralischer Möglichkeiten zeigt: die Dietrich-Eckart-Bühne.“136 Knudsen arbeitete gelegentlich auch als Überwacher im Auftrag des RMVP. So besuchte er im September 1936 im Auftrag des Reichskulturwalters Hans Hinkel eine Veranstaltung des Kulturbundes Deutscher Juden, und schrieb ein „kurzes Referat über die Aufführung im Jüdischen-Kulturbund-Theater“, das an verschiedene Zeitungen gehen sollte.137 Darin heißt es u.a.: „Jüdische Theateraufführung in Berlin. Nachdem Reichskulturverwalter Hans Hinkel im Sonderauftrag des Reichsministers Dr. Goebbels die Überwachung der geistig und kulturell tätigen Juden im deutschen Reichsgebiet übernommen und ihnen im Jüdischen Kulturbund die Möglichkeit gegeben hat, ihre arteigene Kunst zu pflegen, haben die Juden in Berlin ihr Theater für sich [...] Natürlich ist der gesamte Personenstand vom Regisseur bis zur Garderobenfrau jüdisch. Beifallsäußerungen gab es in der Vorstellung nicht. In ihrer Art hatte die Aufführung offenbar alle Möglichkeiten, die zur Verfügung standen, ausgenutzt.“138 Wissenschaftliche Arbeiten im eigentlichen Sinne sind in diesen Jahren von Knudsen nicht veröffentlicht worden. Kindermann hat sein Gefälligkeitsgutachten 1943 auf einen gedruckten Vortrag gestützt, mit dem Knudsen „sein eigenstes Gebiet“, also seine Abwendung von der Herrmannschule, fundiert hätte.139 Das 22 Seiten starke Werk mit einer einzigen Fußnote, die eine Arbeit von Reichsdramaturg Schlössers zitierte,140 thematisierte „nationalpolitischen Ansprüche[.] an die theaterkritische Tätigkeit, demnach das sichere Gefühl und das feste Wissen um das, was heute und in Zukunft Voraussetzung, Notwendigkeit, Wunsch, Ziel des nationalen Kulturwillens und der staatlichen Theaterpflege ist, damit das Theater zum Zentrum einer volkgebundenen Kultur überhaupt wird.“141 Knudsen wurde Anfang 1940 Mitglied der NSDAP,142 Ende 1940 plädierte Reichsdramaturg Schlösser in einem Brief an Julius Petersen für eine Honorarprofessur für den seit 1938 als Lehrbeauftragten am Institut arbeitenden Knudsen: „Inzwischen hat sich meine schon seit der Systemzeit herrührende Ansicht, daß Dr. Knudsen in dem Gebiete der dramaturgischen eine auch parteipolitisch zu bejahende Stellung einnimmt, nur verstärkt.“143 Nach Petersens Tod war das Ziel nicht mehr nur eine Honorarprofessur, Ende 1942 schrieb Schlösser an das RWEV: 135 Hans Knudsen: Erwartungen und Forderungen an das neue deutsche Drama, in: Deutsche KulturWacht, Berlin Nr. 2, 1933 (18), S. 9f.; Hans Knudsen: Praktische Handbücher für das Laienspiel, in: ZsD 49.1935, S. 78ff; Hans Knudsen: „Das Frankenburger Würfelspiel“ als nationalpolitisches Festspiel, in: Die Bühne Nr. 2, 1936, S. 472f; Hans Knudsen: Neue Erfahrungen auf neuer Bühne, in: Die Bühne Nr. 2, 1936, S. 516ff.; Hans Knudsen: Beobachtungen und Erkenntnisse bei der Probearbeit auf der Dietrich-Eckart-Bühne, in: Die Bühne, August 1936, S. 516-518. 136 Hans Knudsen: Die Theaterstadt Berlin, in: Die Bühne, August 1936, S. 484. 137 „Mein Bericht soll an die Rheinisch-Westfälische Zeitung, Essen, und deren Nebenblätter, sowie an die Braunschweigische Allgemeine Zeitung und die Ostdeutsche Morgenpost in Beuthen gehen.“ (BA RK 2200, H 84, 428) 138 Ebd. 139 Gutachten von Kindermann über Knudsen vom 17. 9. 1943. (BA R 4901 13312) 140 Rainer Schlösser: Das Volk und seine Bühne, Berlin 1935. 141 Hans Knudsen: Wesen und Grundlagen der Theaterkritik, Berlin 1935, S. 20. 142 Er war neben der NSDAP und dem Reichsbund für deutsche Freilicht- und Volksschauspiele auch Mitglied in der Union nationaler Schriftsteller und der NS-Volkswohlfahrt. (BA R 4901, 13268) 143 Reichdramaturg Schlösser am 6. Dez. 1940 an Petersen, in: Wulf: Theater und Film im Dritten Reich, a.a.O., S. 210.
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„Zugegeben, daß Sie nach Lesung dieser Zeilen vielleicht doch die etwas unwillige Frage aufwerfen, was Endesunterzeichneter eigentlich sich mit solcher Beharrlichkeit mit Dingen befasse, die nicht in seine Zuständigkeit gehören, möchte ich trotzdem nicht unterlassen haben, mich erneut für den, wie Sie wissen, von mir hochgeschätzten Dr. Knudsen zu verwenden. Denn wenn auch nicht zuständig, so bin ich bei Lichte besehen doch sehr interessiert an einer, die Theaterwissenschaft betreffenden und solcherweise sich auf die Theaterpraxis beziehenden personellen Entscheidung, wie sie in Berlin zur Debatte steht. Einmal als Reichsdramaturg, dem sehr viel daran gelegen sein muß, an der entscheidendsten Stelle, nämlich in der Reichshauptstadt, eine Persönlichkeit am Werke zusehen, die auch die Gegebenheiten des lebendigen und seienden Theaters von Grund auf kennt und, was noch entscheidender ist, nie anders als unter völkischen Gesichtspunkten öffentlich und nachweislich auch in den vergangenen Jahrzehnten bewertet hat, und andererseits als Chef des Hauptamtes III der Reichsjugendführung, der mit seinen Ratschlägen jüngeren Kameraden, die sich über das theaterwissenschaftliche Studium dem praktischen Theater zuwenden wollen, zur Verfügung zu stehen hat. Von beiden Standorten aus muß ich immer wieder versichern, das die nunmehr auch offizielle Einsetzung des de facto an der Berliner Universität ja schon tätigen Dr. Knudsen begrüßenswert wäre, weil ihn eben fachlich-sachliche, menschliche und politische Bande mit jenen Stellen verknüpfen, die seit 1933 für das Theaterleben verantwortlich sind. Aus Gründen, die mir persönlich nicht näher bekannt sind, kann ich das von anderen, auf dem theaterwissenschaftlichen Gebiet tätigen Herren, etwa Herrn Professor Niessen in Köln und Professor Borcherdt in München, nur sehr bedingt sagen, so daß mir umso mehr an einem Verbindungsmanne gleichsam zwischen hier und dort gelegen sein muß. Hinzu kommt noch der Gesichtspunkt, daß nachdem Professor Kindermann nach Wien gehen wird, um dort als ein Mann mit ähnlich glücklicher Fühlung nach der nationalsozialistischen Theaterpolitik hin sein theaterwissenschaftliches Institut aufzubauen, durch eine definitive Regelung in Berlin das Gleichgewicht zwischen den führenden Metropolen der dramatischen Kunst sichergestellt werden müßte.“144 Schlösser machte in seiner Argumentation deutlich, dass seine massive Unterstützung Knudsens eindeutig eine kulturpolitische, weniger eine wissenschaftsfördernde Entscheidung war. Wichtig war dem RMVP die vollständige Integration nicht nur der Theater, sondern auch des universitären Faches in ihren Machtbereich schon deshalb, weil die Theaterwissenschaft den intellektuellen Nachwuchs für die Theater ausbildete. Ein weiterer relevanter Faktor war die Wiederherstellung des kulturpolitischen Gleichgewichts mit Wien, nachdem abzusehen war, dass Kindermann dort eine dominierende Wirkung entfalten würde, was natürlich nicht anging, da das RMVP immer bemüht war, die Reichshauptstadt Berlin als kulturelles Zentrum erscheinen zu lassen. Die Berliner Universität war über Schlössers Wahl nicht besonders glücklich, immerhin hatte Knudsen viele journalistische und wenige wissenschaftliche Schriften vorzuweisen. Franz Koch stellte fest, „daß die wissenschaftlichen Leistungen Herrn Knudsens nicht hinreichen können, seinen Anspruch auf eine Professur zu rechtfertigen.“145 Der auswärtige Gutachter Willi Flemming schrieb: „Seine 1912 erschienene Dissertation über den Schauspieler Beck war leidliches Mittelmaß. Seitdem hat er keine wissenschaftliche Arbeit veröffentlicht. Er war lange Zeit Assistent am Theaterwissenschaftlichen Institut und als Oberlehrer nur halb beschäftigt, 144 Reichsdramaturg Schlösser am 7. Nov. 1942 an das RWEV, in: Wulf: Theater und Film im Dritten Reich, a.a.O., S. 211. 145 Aus einem Gutachten von Franz Koch vom 18.8.43, vgl. Wulf: Theater und Film im Dritten Reich, a.a.O., S. 212.
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ohne jedoch zu eigener wissenschaftlicher Forschung und Publikation zu gelangen. Dagegen hat er sich als Theaterrezensent beschäftigt. [...] Seine akademische Lehrtätigkeit machte nach Aussage der Studenten keinen wissenschaftlich fundierten und anregenden Eindruck.“ Nachdem Flemming dann ausgerechnet Knudsen als „freiwillige[n] Assistent[en] und unermüdliche[n] Herold“ des Juden Max Herrmann in ein ungünstiges Licht setzen wollte, bemerkte er abschließend: „Die Berliner Fakultät [hat] sich zweimal, zuletzt 1941/42, negativ zu seiner Anfrage betr. Herrn Knudsen verhalten. Durch sein Verhalten scheint Herr Dr. Knudsen den Anschein erweckt zu haben, als ob er, da der reguläre Weg ihm zu schwer ist, auch die Vermittlung anderer Stellen sucht.“146 Nun darf vermutet werden, dass sich Flemming vielleicht Hoffnung machte auf eine Berufung nach Berlin, dennoch kann man seinem Gutachten entnehmen, wie sich die Universität gegen die Einflussnahme des RMVP wehrte. Argumentiert wurde keinesfalls gegen den ideologisch zu stark Geprägten, sondern gegen den wissenschaftlich nicht ausreichend Qualifizierten. Man bemühte sogar die alte, künstliche Differenz zwischen „wissenschaftlicher“ Theatergeschichte und zu „theaterpraktischer“ Theaterwissenschaft. Das RWEV schlug sich jedoch auf die Seite des RMVP, es „könne die Auffassung der Berliner Philosophischen Fakultät, dass die beteiligten Herren einen Theatergeschichtler bevorzugen, nicht berücksichtigen. Mit Recht habe der Rektor der Universität Berlin diese Auffassung der Sachverständigen-Vertreter der Fakultät als zu eng abgelehnt. Er sei der Ansicht, daß ein Lehrstuhl für Theaterwissenschaft sich besonders mit den neuzeitlichen Problemen des Theaters zu befassen habe und daß der Inhaber hierbei nur insoweit eine gründliche Kenntnis der Geschichte benötige, als dies die Entwicklung der jetzigen Aufgaben aus der Geschichte und Art des Theaters erfordert. Ihm erscheine vor allem ein Wissenschaftler, der sich mehr um die praktische Seite des Theaters bemüht, auf diesem Lehrstuhl durchaus am Platze. Auch von dem Reichsdramaturgen im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda werde die Besetzung des Berliner Extraordinariats mit Dr. Knudsen auf das stärkste befürwortet. Dr. Knudsen habe zudem in seiner bisherigen Lehrtätigkeit die besten Beziehungen zu der Generalintendanz der Preußischen Staatstheater angeknüpft.“147 Es hat also durchaus einiger Anstrengungen seitens des RMVP bedurft, Knudsen durchzusetzen, Schlösser gab immerhin zu, dass ihm die Kulturpolitik wichtiger war als die Wissenschaft: „Wenn ich recht unterrichtet bin, hegt die Fakultät Knudsen gegenüber wohl einige Bedenken, weil er nicht genügend Bücher geschrieben habe. Abgesehen davon, daß ich einige Theaterwissenschaftler kenne, von denen ich persönlich wünschen würde, sie hätten weniger Bücher geschrieben, scheint mir das im Falle Knudsen doch ein etwas zu weitgehendes Vorbeisehen an den zweifellos kulturpolitischen Verdiensten zu sein, die sich der Genannte in den 1½ Jahrzehnten zwischen 1918 und 1933 erworben hat. In den wenigen Fällen, wo ich Zeuge eines solchen kulturpolitischen Bemühens sein durfte, ja durch solche Leistungen in die Lage versetzt wurde, selbst den nationalsozialistischen Kampf zu aktivieren und solcherweise zu den Aufgaben, die mir heute gestellt sind, vorzustoßen, bin ich, wie auch diese Zeilen verraten, von einer außerordentlichen Beharrlichkeit. [...] Könnte nun nicht doch, nachdem über die Sache schon so viel Zeit verstrichen ist, vom Ministerium aus, was ja ein durchaus legales und schon oft geübtes Verfahren ist, die Ernennung Dr. Knudsens erfol146 Willi Flemming in einem Gutachten über Knudsen vom 27. Juni 1943, in: Wulf: Theater und Film im Dritten Reich, a.a.O., S. 212 147 Die Partei-Kanzlei der NSDAP am 22. Dez. 1943 an den Beauftragten den Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP, in: Wulf: Theater und Film im Dritten Reich, a.a.O., S. 214.
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gen, auf dem die sachliche Arbeit bereits ruht und dem es an nachweislichen Lehrerfolgen nicht fehlt?“148 Wenig überraschend ist, dass das RMVP Schützenhilfe durch ein Gutachten von Kindermann bekam, der über Knudsen schrieb: er „hat sich schon früh mit theatergeschichtlichen Themen auseinandergesetzt. [...] Sein eigenstes Gebiet betrat Knudsen 1935 mit seiner Arbeit ‚Wesen und Grundlagen der Theaterkritik‘. Hier verlässt er bewusst des positivistischen Rahmen der blossen Sachaussage und gibt aus selbsterarbeiteter Geschichtskenntnis, aber auch aus selbst erprobter Schriftleiterpraxis neue Wesenseinsichten und in die Zukunft wirkende Jahrhundertzusammenhänge. Auch gelingt es ihm, das Dynamische der Wechselwirkung zwischen Bühne und Presse in völlig neuer Weise zu deuten. [...] Zusammen mit Petersen und Borcherdt begründete er die Schriftenreihe „Theater und Drama“, in der er seine Schüler und Weggefährten manches fruchtbare Thema anschneiden liess. [...] Im ganzen lässt sich von Knudsen´s theaterwissenschaftlicher Wirksamkeit sagen, dass er vieles von dem vorbereiten half, was heute zu reifen beginnt. Unter dem Einfluss von Herrmann und Petersen geriet er zunächst allzusehr in positivistische Zonen. Später aber entwickelte er sich aus eigener Kraft, besonders auf dem ihm an nächsten liegenden Gebiet: Geschichte der Theaterkritik in Vorlesungen und Arbeiten zu der geistesgeschichtlichen und volksgeschichtlich bedingten Linie, die wir nun brauchen. Dadurch, dass Knudsen auch starken Einblick in die Theatralische Praxis erhielt, bleibt seine Erkenntnis nicht im Theoretischen befangen. [...] Für eine geplante, ausserordentliche Professur an der Berliner Universität kann Knudsen auch auf Grund seiner reichen, bisherigen Lehrerfahrung, mit gutem Gewissen empfohlen werden.“149 Das Zusammenwirken von RMVP und dem von ihm geförderten Wissenschaftler Kindermann hatte Erfolg, seit dem Sommersemester 1943 war Knudsen mit der vertretungsweisen Wahrnehmung des neuen Lehrstuhls für Theaterwissenschaft an der Universität Berlin beauftragt, im September 1944 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt. Nach Kriegsende wurde Knudsen 1947 entnazifiziert und 1948 zum Ordinarius für Theaterwissenschaft an der neu gegründeten Freien Universität ernannt. 7. Die Theaterwissenschaft als völkisch-nationale und militärische Propaganda – Heinz Kindermann und das Wiener „Zentralinstitut“ In einem Schreiben an das RWEV über das Thema „Zentralinstitut für Theaterwissenschaft in Wien unter der Leitung Kindermanns“ machte Niessen darauf aufmerksam, „daß der Begriff ‚Zentralinstitut‘ nicht so aufzufassen ist, daß es sich um ein Reichsinstitut handelt, von dem aus die Theaterwissenschaft zentral gelenkt werden soll. [...] Das neuerrichtete Theaterwissenschaftliche Institut bei der Universität in Wien unter Leitung des Literaturhistorikers und nicht Theaterfachmannes Prof. Dr. Kindermann hat sich daher künftig auf die Wiener Theaterforschung zu beschränken. Das Wiener Theater ist eine so einmalige und in sich eigenartige Erscheinung, daß man ihm auch eine Sonderforschungsinstitut zubilligen kann.“150 Den vorgesehenen Ordinarius für Theaterwissenschaft, Heinz Kindermann, als Literaturhistoriker abzuqualifizieren, war nicht ganz falsch, da sich Kindermann bis zu seiner Berufung auf das neugeschaffene Wiener Ordinariat für Theaterwissenschaft nur einen Namen als Germanist gemacht hatte. So hatte er nicht wie Herrmann, Niessen oder Kutscher Überlegungen zur wissenschaftstheoretischen Fundierung des Faches ange148 Reichsdramaturg Schlösser am 7. Nov. 1942 an das RWEV, in: Wulf: Theater und Film im Dritten Reich, a.a.O., S. 211f. 149 Gutachten von Kindermann über Knudsen vom 17. 9. 1943. (BA R 4901 13312) 150 Niessen an das RWEV. (BA R 4901, 13288)
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stellt, auch nicht wie etwa Flemming relevante Forschungen zur Theatergeschichte betrieben. Wichtig für seinen weiteren Lebensweg war jedoch, dass der 1894 in Wien geborene, 1918 dort promovierte Kindermann seit 1919 im österreichischen Unterrichtsministerium als Ministerialreferent für Volksbücherwesen arbeitete, wo er 1924 obendrein für das Burgtheater zuständig war. Nach Kindermanns eigener Aussage soll ihm 1926 das Angebot gemacht worden sein, stellvertretender Burgtheaterdirektor zu werden.151 Nachdem er 1925 an der Universität Wien Privatdozent geworden war und 1926 bis 27 als a.o. Prof. an der Akademie der bildenden Kunst Wien gearbeitet hatte, wurde er 1927 o. Prof. an der Technischen Hochschule Danzig. Seit 1937 lehrte Kindermann an der Universität Münster deutsche Literaturgeschichte. Auffallend frühzeitig und stetig beförderte er seine organisatorischen und informellen Bindungen an das NS-Regime, so trat er bereits im Mai 1933 in die NSDAP ein, er war zudem Mitglied des Nationalsozialistischen Lehrerbundes (NSLB), der NS-Volkswohlfahrt, des Luftschutzbundes und förderndes Mitglied der SS. Zudem war er 1933 bis 36 Leiter der Abteilung Literatur der NS-Kulturgemeinde Danzig, von 1934 bis 36 Leiter der Deutschkunde Gesellschaft im NSLB Danzig und seit 1933 Lektor im Amt Rosenberg. Diese politischen Kontakte und die Vielzahl an völkischen Veröffentlichungen ließen ihn insbesondere von politischer Seite geeignet erscheinen, einen linientreuen Standpunkt zu vertreten. Kindermanns Berufung wurde mit ähnlicher Vehemenz gegen das Votum der zuständigen Fakultät vorangetrieben, wie Knudsens in Berlin. In Wien hatte sich jedoch nicht nur das RMVP bemüht, sondern vor allem der neue Reichsstatthalter und Gauleiter Wiens Baldur von Schirach, der zuvor Jugendführer des Deutschen Reichs und Reichsjugendführer der NSDAP gewesen war. Kindermann stellte den Vorgang so dar: „Mir war schon vor längerer Zeit seitens der Wiener Reichsstatthalterei [von dem Ordinariat in Wien] mit dem Bedeuten Mitteilung gemacht worden, daß man mich gerne auf diesem Lehrstuhl sähe. Dann wurde ich, weil ich mich damals in meinem Landhaus in Gloggnitz aufhielt, zur Kulturrede des Reichsleiters eingeladen. Und schließlich wurde mir vor Kurzem der Wunsch mitgeteilt, ich möge mich mit den dafür maßgeblichen Faktoren der Philosophischen Fakultät [...] in Verbindung setzen.“152 Der Grund für die Option Kindermann muss im kulturpolitischen Profilierungsstreben von Schirachs gesehen werden. Dieser wollte als Reichstatthalter die nicht immer überzeugten Wiener mit der Aufwertung ihrer Metropole als Theaterstadt und Kulturmittelpunkt für sich gewinnen.153 Von Schirach besaß, zumindest bis 1942, Sondervollmachten, diese erleichterten eine selbstständigere Kulturpolitik.154 Dabei wurde ein Lokalmythos forciert, der eine kulturelle Mission Wiens für das Deutsche Reich in den Mittelpunkt stellte. Die Unternehmung von Schirachs war aus der Sicht der Partei und der politischen Führung als durchaus ambivalent zu bewerten. Einerseits war bekannt, dass Hitler Wien immer als kulturelle Hauptstadt bewunderte, aber aus machtpolitischen Gründen sollte natürlich Berlin nicht in den Schatten Wiens treten. Insbesondere Goebbels machte seine zentrale Kulturpolitik als Berliner Kulturpolitik.155 Es kann daher mit gutem Recht angenommen werden, dass Knudsen seine Unterstützung für einen Berliner Lehrstuhl auch der Reaktion des 151 Heinz Kindermann, zit. nach Transkription Radiointerview 2.10.84, „Ö 1 extra“, „Heinz Kindermann und die österreichische Theaterwissenschaft. Ein Porträt zum 90. Geburtstag des Gelehrten“ von Volkmar Parschalk, in: Evelyn Deutsch-Schreiner: Theater im ‚Wiederaufbau’. Zur Kulturpolitik im österreichischen Parteien- und Verbändestaat, Wien 2001, S. 291. 152 Kindermann am 12. Mai 1941 an den Dekan der Univ. Wien, in: Edith Saurer: Institutsneugründungen 1938-1945, in: Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938-1945, hg. v. Gernot Heiß u.a., Wien 1989, S. 303-328, hier S. 316. 153 Evelyn Schreiner: Nationalsozialistische Kulturpolitik in Wien 1938-1945 unter spezieller Berücksichtigung der Wiener Theaterszene, Diss. Universität Wien 1980, S. 51 f. 154 Ebd., S. 75f. 155 Ebd., S. 83.
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RMVP auf die zu eigenständige Wiener Lokalpolitik von Schirachs zu verdanken hatte. Für die Kulturpolitik Schirachs war der Wiener Kindermann, der zugleich eine überzeugte nationaldeutsch-völkische Ideologie unterstützte, der Idealkandidat. Er besaß überdies nützliche Kontakte zur österreichischen Administration und der Wiener Theaterlandschaft. Man konnte dementsprechend mit seiner Hilfe die Theater besser kontrollieren und in die nationalsozialistische Kulturpolitik einbinden. In diesem Kontext wurde eine bessere Vernetzung mit den Ausbildungsstellen für die Theaterberufe angestrebt; wie in Köln und Berlin ging es um die Kontrolle der Ausbildung des Nachwuchses für die propagandarelevanten Medien. Dass zum Beispiel der Direktor der Schauspielschule des Burgtheaters Hans Niederführ 1927 bei Kindermann mit einer Arbeit über „Goldoni und das Wiener Theater“ dissertiert hatte,156 war sicher kein Hindernis für die stärkere Einbindung des Theaterwesens in die NS-Kulturpolitik. Die Fakultät hatte natürlich andere Interessen als die lokalpolitischen Machthaber, der Wiener Dekan und Dozentenführer Marchet urteilte über Kindermann im Vergleich zu Niessen: „Prof. NIESSEN wird von hiesigen Germanisten als Theaterwissenschaftler wissenschaftlich sehr geschätzt. Er kann auf mehr Arbeiten hinweisen als Prof. KINDERMANN. [...] Die Reichstatthalterei hat von Anfang an KINDERMANN bevorzugt.“157 Insbesondere der Literaturwissenschaftler Josef Nadler, dem aufgrund der fachlichen und weltanschaulichen Nähe zum Bewerber Konkurrenzängste unterstellt werden dürfen, lehnte als zuständiger Ordinarius Kindermann bereits 1941 ab, da dieser kein Theater-, sondern ein Literaturhistoriker gewesen sei,158 seine „theaterwissenschaftlichen“ Schriften wären „Gelegenheitsschriften“.159 In der Tat verarbeiteten Kindermanns Publikationen, die oft nur gedruckte Vorträge waren, noch bis Kriegsende oberflächlich theatergeschichtliches Wissen so, dass es sich in die gängige NS-Programmatik möglichst reibungslos einfügte. Die der geistesgeschichtlichen Methode der Literaturwissenschaft entsprechende Abkehr vom Positivismus und die Hinwendung zu einer „völkischen“ Wissenschaft, die Erörterungen von Ganzheiten, die mit „nationalen Wesenheiten“ gleichgesetzt wurden, bildeten den Hintergrund der theaterwissenschaftlichen Veröffentlichungen Kindermanns. Rasse, Raum, Volk, Deutschtum und Nation waren die Stichworte, die in seinen Texten den vorstellungsweltlichen Hintergrund in einem Ausmaß bildeten, welches allenfalls noch in den Schriften des verstorbenen Stumpfl auffällig ist.160 1938 trat Kindermann in seinem veröffentlichten Vortrag „Commedia dell´arte und das Deutsche Volkstheater“161 für ein gemeinschaftsstiftendes Volkstheaters ein, das aufgrund der „seit Humanismus und Renaissance entstandenen Kluft der Bildungsvoraussetzungen“, die sich „in der Geschichte des deutschen Dramas [...] immer wieder verheerend und sozial trennend“ auswirkten,162 als „dramatische Erlebnisform“ der „Sehnsucht weitester Volkskreise“ nach Gemeinschaft Rechnung trägt: „Allen volksfremden oder volksabgewandten Strömungen setzt es dabei die robuste Gesundheit der beharrenden Volkskräfte entgegen – auch auf die Gefahr hin,
156 BA DS 8000, A 48, 2594; Vgl. dazu auch: Deutsch-Schreiner: Theater im ‚Wiederaufbau’, a.a.O., S. 292. 157 Notiz/Abschrift von Dekan und Dozentenführer Marchet. (BA DS 8000, A 48, 2598) 158 So Nadler in einer Fakultätssitzung, in: Sebastian Meissl: Wiener Ostmark-Germanistik, in: Willfährige Wissenschaft, a.a.O., S. 133-154, hier S. 146 u. 154. 159 Saurer: Institutsneugründungen 1938-1945, a.a.O., S. 316 u. 327. 160 Vgl. hierzu: Markus Schraml: Kontinuität oder Brüche. Versuch einer wissenschaftsgeschichtlichen Positionsbestimmung anhand der Entwicklung Heinz Kindermanns von der Literatur- zur Theaterwissenschaft, Dipl.-Arbeit, Univ. Wien, 1995; Monika Meier, Peter Roessler und Gerhard Scheit: Theaterwissenschaft und Faschismus, Wien 1981, insbes. S. 59ff. 161 Heinz Kindermann: Die Commedia dell´arte und das deutsche Volkstheater, Leipzig 1938. 162 Ebd., S. 11f.
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derb und handgreiflich zu werden.“163 Da der Vortrag in der Abteilung für Kulturwissenschaft des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Kunst- und Kulturwissenschaft Bibliotheca Hertziana in Rom gehalten wurde,164 hatte der Text natürlich einen politischen und diplomatischen Auftrag zu erfüllen: „Wir wissen heute aus vielen neuen Forschungen von Steinbömer und unserem deutschen Reichsdramaturgen Dr. Rainer Schlösser, dass Drama und Staat, Drama und Volk, Drama und Politik in einem Wechselverhältnis der Entwicklungsmöglichkeiten stehen. Ich fühle mich deshalb zu dem Wunsche berechtigt, dass das enge politische Verstehen und Zusammengehen von Italien und Deutschland auch im Raum des Theaters, als der repräsentativen Volkskunst, von so schwerwiegenden Folgewirkungen und von so grossem Erfolg begleitet sein möge, wie uns das in diesen Tagen die beiden Nationen dank ihrer genialen Führer auf politischem Gebiet inmitten des europäischen Kräftespiels überzeugend dargetan haben.“165 Ein so wenig wissenschaftliches Auftragswerk als repräsentatives Beispiel lässt die These, dass die Berufung Kindermanns in vorderster Linie eine politische gewesen war, plausibel erscheinen. Der Implementierung einer kulturpolitisch nützlichen Theaterwissenschaft in Wien diente in diesem Kontext die programmatische Integration des berühmten österreichischen Nationaltheaters in den großdeutschen Kulturraum. Dazu eignete sich vorzüglich die Vereinnahmung des Zentrums der österreichischen Theaterkultur, des Burgtheaters. In dem schmalen Bändchen „Der Lebensraum des Burgtheaters“166 von 1939 heißt es: „Der Lebens- und Wirkungsraum des Burgtheaters erstreckt sich über das gesamte Deutschtum Südosteuropas.“167 Die Geschichte des Burgtheaters wurde nicht positivistisch aufgearbeitet, sondern radikal wertend ausgestellt. Gut sei es, wenn ein Theaterleiter aus der „Mitte des Volkes kam“ und wenn er „wollte, daß das Burgtheater in seinen künstlerischen Leistungen Volksbesitz werde“, wenn auch der „Vorstadt-Wiener [...] am theatralischen Erbe der Nation“ teilnehmen könne.168 Der Einheit des Volkes im Publikum hatte der im Volk verwurzelte Leiter auf der Bühne ein „organisches Zusammenspiel des [...] geschlossenen Burgtheater-Ensembles“ vorzusetzen, in dem zu individualistisch agierende SchauspielerInnen „ihres monologischen Wesens zu entkleiden“ und in das Ganze „einzufügen“ seien.169 Natürlich hatte sich selbst die Theaterkritik, die möglichst einem „Organ der Deutsch-Völkischen und Alldeutschen“ angehören sollte, dem völkischen Ganzen zu integrieren, die „Macht der jüdisch und freimaurerisch geleiteten Presse“, welche die „angemaßte Fremdherrschaft über deutsche Kunst und Kultur“170 aufrechterhalten wollte, musste zurückgedrängt werden. Auch die „Klerikalen“, die über „das Wörtchen germanisch“ stolperten, „schlossen [...] sich lieber mit den jüdischen Totengräbern an“, ehe „ sie eine Einigung mit dem Völkischen versuchten.“171 In der Zukunft gehe es um ein Burgtheater, aus dem „die bedeutendsten Kräfte[.] des ewigen Wiener Theaters“, die „gesamtdeutsche Zukunftsleistung des Burgtheaters als Beitrag zum gesamten großdeutschen Nationaltheater herkommen“ müsse.172 Immerhin sei das Burgtheater auf dem richtigen Weg: „Da die großen Burgtheaterschauspieler keineswegs alle aus der Ostmark kommen, sondern aus allen Teilen des deutschen Volksraumes, ausgewählt von Direktoren, 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172
Ebd., S. 12. Am 28. März 1938. Kindermann: Die Commedia dell´arte und das deutsche Volkstheater, a.a.O., S. 35. Heinz Kindermann: Der Lebensraum des Burgtheaters, in der Reihe Süd-Ost, hg. v. Walter Pollak, 1. Folge: Werdendes Volk, Wien/Leipzig 1939. Ebd., S. 5. Ebd., S. 42f. Ebd., S. 49. Ebd., S. 51. Ebd. Ebd., S. 66f.
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denen der harmonische Gesamtakkord dieser verschiedenartigen Töne vorschwebt, zusammenströmen, entsteht in dieser Gemeinschaft immer wieder eine Art gesamtdeutsches Theater.“173 In seinem theaterwissenschaftlichen Hauptwerk „Das Burgtheater“ formulierte Kindermann 1939 sein Programm noch deutlicher: „Da es aber zu den eigenständigen Erkenntnissen unserer neuen Epoche gehört, die Kunst nicht als Ding an sich, sondern als volkformende Kraft im politischen Werdeprozeß der Nation anzusehen, wurde hier – im Gegensatz zu früheren Darstellungen ähnlicher Art – erstmals der Versuch einer politisch und weltanschaulich begründeten Theatergeschichte unternommen, die von den Grundwerten: Rasse, Volk, Reich ausgeht und gleichzeitig die Sicht für künftige Aufgaben dieser Erlebnisräume ermöglicht. Wir wissen nun wieder, daß das Theater als Faktor der Volkserziehung und Kulturpolitik nicht leicht überschätzt werden kann. Es war daher wichtig, unter den Zukunftsaufgaben des Burgtheaters gerade auch seine kulturpolitischen Funktionen für das Deutschtum ganz Südeuropas scharf zu beleuchten.“174 Kindermann übertrug seine völkische literaturwissenschaftliche Methode auf das Theater: „Weil [...] die Vollendung des theatralischen Geschehens nur von der unlösbaren Dreiheit: Dichtung, Aufführung, Publikum und ihrem wechselseitig befruchtenden Gemeinschaftserlebnis zustande gebracht werden kann, durfte es nicht allein bei einer Zeichnung von Erbe und Sendung eines Hauses, seiner führenden Persönlichkeit und seiner künstlerischen Leistungen bleiben. Vielmehr wurde hier zum erstenmal unternommen, auch eine Geschichte des Publikums einzubeziehen in den theatralischen Werdeprozeß und in das Bild der weiteren Entwicklung des dauernden Wirkungskreislaufs: Bühne und Volk.“175 Der geistesgeschichtliche Ansatz, der hermeneutische Kreislauf wurde auf das ganze theatrale Ereignis ausgeweitet, die beiden monolithischen Akteure Bühne und Publikum sollten als harmonisches Ensemblespiel vor einem gemeinschaftlich empfindenden Volk verstanden werden. Geschichtlich wurde die Aufgabe des Burgtheaters hergeleitet, die zum erwünschten politischen Ergebnis führen sollte: „Das große künstlerische Ziel des Burgtheaters, wieder der ganzen Nation zu dienen, ist erst erreicht, wenn jeder Wiener Hitlerjunge, wenn jedes BDM-Mädel, woher immer sie sozial kommen mögen, das Bewußtsein hat: unser Burgtheater! Aber auch das genügt noch nicht: die Jugend der ganzen Ostmark muß dieses Bewußtsein der Teilhabe am Burgtheater als ein Großes und Leuchtendes, als ein Geschenk der Nation an jeden einzelnen von ihnen in sich tragen.“176 Die weiteren Veröffentlichungen bis 1945 lassen sich fast allesamt auch als kriegspropagandistische Schriften lesen, so hieß es etwa 1943: „Rings um uns tost das Chaos, eine neue Rangordnung der Werte muß bitter erkämpft werden gegen Gewalten des Untergangs. Der uns aber beisteht in diesem Ringen auf Tod und Leben, der uns mit seinem inneren Leuchten von urdeutscher Art gerade auch vom Theater her die neuen Wege weist, die größten Aufgaben stellt und eben damit den Trost des wahren Adels der Seele, der urdeutschen Heiligung des Vaterlands, der Treue, der Ehre und des Opfers vor Augen rückt, in einer Zeit, da jeder sein letztes geben muß, um das uns Kostbarste zu retten, das ist Hölderlin. Er hat das Theater der Gegenwart an einem seiner entscheidungsreichen Wendepunkte end173 Ebd., S. 67. 174 Heinz Kindermann: Das Burgtheater. Erbe und Sendung eines Nationaltheaters, Wien (1939) 1944, S. 6f. 175 Ebd. S. 6f. 176 Ebd., S. 267.
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gültig erobert und seinem neuen, monumental-heroischen Gepräge ein hohes Ziel gesteckt. [...] Das deutsche Theater wird, solange es seine volkhafte Sendung begreift, Hölderlin nie mehr völlig entbehren dürfen.“177 Nicht nur der ernstzunehmende, pathetisch gedeutete Hölderlin, sondern auch das erleichternd Komische wurde in den Dienst der nationalen Sache gestellt, Kindermann gab eine Sammlung von deutschen Schwänken unter dem bezeichnenden Titel „Wend Unmut“ heraus: „In jeder Epoche der deutschen Wiedergeburt wächst die Sehnsucht, aus dem ganzen Tausendjahr-Erbe unseres Volkes und seiner Kultur heraus zu leben und das Neue im bewußten Besitz des Überkommenen zu gestalten. [...] So ist es heute an der Zeit, auch alle die deutschen Volksschwänke zu sammeln, die seit vielen Jahrhunderten schon, immer wieder leise abgewandelt, sich lebendig erhalten.“178 Die Ausrichtung der Theaterwissenschaft und des Theaters auf national-völkische und zunehmend militärische Ziele hatte eine Zentrum, das für Kindermann in Wien lag mit der Doppelspitze des Burgtheaters und des Theaterwissenschaftlichen Instituts. Legitimiert wurde diese Vorrangstellung durch die Theatergeschichte: „Vor allem aber besaß Wien ja seit Kaiser Josefs II. Gründung das Burgtheater als jenes Nationaltheater der Deutschen, zu dem das gesamte Schauspielwesen der Nation hoffend und staunend hinsah, weil hier von ausgesprochen mimischen Elementen her zum erstenmal jene typisch deutsche Ensemblekunst entwickelt wurde, die seither in allen Hochzeiten der deutschen Theatergeschichte als das eigentliche Ideal theatralischen Zusammenspiels von deutscher Art galt. In ihr wird ja, gegenüber allen übertrieben individualistischen Zügen, eine unserem Wesen näherliegende Gemeinschaftsform des Darstellungsstils zur Wirklichkeit erhoben. [...] Anfangs hatte dieses Wiener Nationaltheater in Konkurrenz zu treten mit den anderen gleichartigen Versuchen in Hamburg und Gotha, in Mannheim, Weimar und Berlin. Aber seit der geniale Schreyvogel im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts es verstand, alle positiven Züge der bisherigen Nationaltheaterversuche am Burgtheater in ein Ganzes zu fügen; seit er verstand, die besten Schauspieler hier zu konzentrieren und so aufeinander abzustimmen, daß sie zu einem Akkord zusammenwuchsen, [...] war das Burgtheater unbestritten an die Spitze aller deutschen Theater gerückt.“179 Ein Jahr vor Kriegsende wies Kindermann dem deutschen Theater einen kulturellen Sendungsauftrag zu, es hatte den militärischen Eroberungsbewegungen zu folgen: „Wer beobachtet, wie in diesem neuen Weltkrieg knapp hinter unseren Heeren die Theater nachfolgen, wie in allen von uns besetzten Gebieten bald schon stehende deutsche Bühnen errichtet werden und wie unserer Heeresleitung sogar darauf dringt, daß auch die anderen Nationen so bald als möglich wieder ihre Theater erhalten, der ahnt, daß es da um sehr viel mehr geht, als um ‚Ablenkung‘. Wahrhaftig, in diesem Krieg hat sich das Theater als eine der mitbauenden Kräfte erwiesen und zwar mitbauend an der ewig erneuerungsbedürftigen, an der dauernd sich verjüngenden seelischen Substanz der Nation! Das Theater trat damit in die Reihe der Kulturfaktoren ein, die geeignet sind, die letzte Gestalt eines Volkes mitzuformen, die bestimmenden Züge im Antlitz dieses Volkes mitzuzeichnen und der sittlichen und seelischen Haltung der Nation die Wege zu weisen.“180 177 178 179 180
Heinz Kindermann: Hölderlin und das deutsche Theater, Wien 1943. Wend Unmut. Das Buch der deutschen Schwänke, hg. v. Heinz Kindermann, Wien 1943. Heinz Kindermann: Hebbel und das Wiener Theater seiner Zeit, Wien 1943, S. 9f. Heinz Kindermann: Die europäische Sendung des Deutschen Theaters, in der Reihe: Wiener wissenschaftliche Vorträge und Reden, hg. v. der Universität Wien, Wien 1944, S. 5. Druck eines Vortrages,
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In der Folge deduzierte Kindermann aus der europäischen Theatergeschichte, die sich um die deutsche Theatergeschichte gruppierte, einen speziellen Kulturauftrag: nach „Kriegsausbruch [...] wurde ganz bewußt die europäische Aufgabe des deutschen Theaters gerade inmitten des Völkerringens aufgenommen und heute ist es so weit, daß mit Ausnahme von England und Rußland das deutsche Theater mit allen Völkern Europas in regester Wechselwirkung steht. Zu ihnen allen trägt das deutsche Theater seine Botschaft vom deutschen Menschen. In ganz Europa steht heute dicht neben dem deutschen Soldaten der deutsche Schauspieler. Und er kommt nicht um zu überwältigen, oder um die Theater der übrigen Nationen zu überschatten, sondern um diesen anderen Völkern die Hand zu reichen, um ihnen dieses grundanständige, dieses leidgewohnte aber willensstarke und herzensklare Antlitz zu offenbaren. Er kommt, um ein großes Beispiel hinzustellen und um gebend zu empfangen und um empfangend zu geben.“ Dieser „Dialog“ gestaltete sich in der Praxis in einer Weise, dass man nicht umhin kann, die euphemistischen Darstellungen Kindermann als zynische zu bewerten: „Daß aber die anderen Nationen nicht allein passive Teilhaber dieses ganz Europa umfassenden Prozesses sind, weist allein schon der Blick in die Spielpläne der europäischen Theater von heute. Fast überall steht neben der einheimischen Dramatik heute das deutsche Drama an erster Stelle. Ob [...] im Belgrader Spielplan des serbischen Nationaltheaters Faust und Iphigenie, Kollege Crampton und „Rose Bernd“, Hermann Bahrs „Konzert“ und Minna von Barnhelm [,] ob [im] bulgarische[n] Nationaltheater zu Sofia „Jungfrau von Orleans“ und Nestroys „Lumpazivagabundus“ [,] ob [...] auf dem Spielplan der Finnen in Helsinki „Kabale und Liebe“ [,] ob [im] Madrider Theater [...] Faust [...] oder [im] Budapester Theater „Maria Stuart“ [etc. etc. zu finden ist] – „es ist überall der gleiche Eindruck: wie einst im Zeitalter der Klassik ist auch heute wieder das deutsche Theater daran, ganz Europa auf die friedlichste Weise der Welt von der tiefen Menschlichkeit des deutschen Weltbildes und von der hohen Sittlichkeit des deutschen Lebensideals zu überzeugen.“181 Wie alle bis 1945 publizierten theaterwissenschaftlichen Arbeiten Kindermanns zeigen, enttäuschte er die politischen und kulturpolitischen Machthaber nicht. Das war auch erwartet worden, daher musste die Universität in Wien wie in Berlin den Kürzeren ziehen, Kindermanns Berufung erfolgte Anfang 1943, obwohl er von der Universität nur an die 3. Stelle gesetzt worden war.182 Im Mai 1943 wurde das „Zentralinstitut“ feierlich eröffnet. Außergewöhnlich waren die immensen Zuschüsse und Vergünstigungen, die Kindermann für sein „Zentralinstitut“ mitten im Krieg erhielt. Die Statthalterei stellte ihm in der Wiener Hofburg 12 Räume zur Verfügung, die Bibliothek wurde aus Dauerleihgaben der Universität Münster (3000 Bände) und weiteren Anschaffungen primär aus Privatbesitz (12000 Bände) aufgebaut.183 Aus Münster brachte Kindermann zwei Hilfskräfte mit, darunter die spätere Nachfolgerin Kindermanns Margret Dietrich, die finanziert werden mussten. Das Zentralinstitut bekam Sondermittel der Universität Wien, der Reichsstatthalterei und des RWEV für die Einrichtung, die Publikationen und eine Fernsprechanlage, zudem Extramittel für bedeutende „Bühneleiter, Regisseure, Bühnenbilder“ etc., die pro Jahr 8 Vorträ-
der erstmalig über Einladung der „Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften am 26 Januar 1944 im Auditorium Maximum der Wiener Universität gehalten [wurde]. Er ist in diesem Druck vor allem meinen im Felde stehenden Studenten und Mitarbeitern [...] gewidmet.“ 181 Ebd., S. 53. 182 „Der Vorschlag für die Besetzung des Ordinariats für Theaterwissenschaft an der Universität Wien verzeichnet folgende Reihenfolge: 1. o. Prof. Flemming-Rostock; 2. a. o. Professor Niessen-Köln; 3. o. Prof. Kindermann-Münster. Berücksichtigt wurde Professor Kindermann.“ (BA DS 8000, A 48, 2560) 183 Saurer: Institutsneugründungen 1938-1945, a.a.O., S. 317.
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ge halten sollten.184 Diese Sondermittel wurden, wenn nötig, obendrein als kriegswichtig eingestuft: „Das Zentralinstitut für Theaterwissenschaft ist ein Teil des kriegswissenschaftlichen Betriebes Universität Wien. Sein Aufgabenbereich gehört somit zu den kriegswichtigen Aufgaben. Es handelt sich vor allem um Berufsausbildungen, die von der Reichsregierung gerade auch während des Krieges in erhöhtem Maße weiter tätigen Theatern zu dienen hat.“185 Das „Zentralinstitut“ sollte nach dem Krieg sogar „Reichsinstitut“ werden. Kindermanns Ehrgeiz waren wenig Grenzen gesetzt, in einem Schreiben an den Reichsminister Anfang 1943 formulierte er sein Vorhaben, dass er „versuchen will, von diesem Lehrstuhl aus und besonders auch von diesem Zentralinstitut in der traditionsreichen Theaterstadt Wien aus der noch jungen deutschen Theaterwissenschaft jenes endgültig gesicherte methodische Fundament zu schaffen, von dem her sie sich in gleichberechtigtem Wettbewerb sowohl mit den übrigen Geisteswissenschaften, als auch mit den theaterwissenschaftlichen Versuchen anderer Nationen zu einer ihr gebührenden Stellung und Verpflichtung zu entwickeln vermag. Gemäss der in vielen meiner Schriften bekundeten Einstellung (in der Sie selbst, verehrter Herr Reichsminister, gelegentlich eines längeren Gesprächs auf dem ihnen zu Ehren vom Deutschen Gesandten in Sofia veranstalteten Empfang mich sehr bestärkten) gedenke ich die dazu erforderlichen Arbeiten in gesamtdeutschem Sinn anzupacken. Denn die Auswirkung des deutschen Theaters auf den gesamten europäischen Raum ist in zahlreichen Epochen viel stärker als man gemeinhin annimmt. Von solcher Weite des Wirkungsraumes aber wird die binnendeutsche Leistung nur eine umso schärfere Belichtung erfahren. Zugleich werden die theatergeschichtlichen Brücken zu den anderen europäischen Kulturnationen im gegenseitigen Geben und Nehmen viele neue Zusammenhänge und gar manches bisher unbekannte Kräftespiel aufdecken. Sowohl die volksgeschichtlichdeutsche Bedeutung der Theaterwissenschaft, als auch ihre völkerverbindende Funktion wird dadurch gewinnen. Ich bin überzeugt, dass diese Bemühungen gerade von Wien aus bald schon einen größeren Kreis Mitstrebender anlocken werden, sodass das Wiener Zentralinstitut für Theaterwissenschaft im ganzen Reichsgebiet, vielleicht aber auch bei den übrigen befreundeten Nationen schulbildend wirken dürfte.“186 Nach 1945 dauerte es ungewöhnlich lange, bis Kindermann 1955 wieder das Institut leiten durfte. Dass es ihm gelang, „als einzigem der prominenten Nazi-Germanisten eine wirklich an äußerem Glanz reiche Karriere [auch] nach 1945“187 zu machen, war nicht nur seiner außergewöhnlichen Publikationsschnelligkeit und –wendigkeit und seiner großen Erfahrung mit politischen und administrativen Vorgängen geschuldet, sondern hing gleichfalls mit seiner Neuorientierung zur Theaterwissenschaft zusammen. 8. Die Theaterwissenschaft als Instrument der Kulturpolitik Im Vergleich zu anderen Kulturwissenschaften zeichnet sich die Theaterwissenschaft insbesondere durch zwei Eigenschaften aus, die nicht nur ihre schwierige Gründungsphase 184 Die Akten im BA dokumentieren eine anhaltende Serie von durchaus nicht unselbstbewussten und fordernden Anträgen auf immer weitere Zuschüsse und Sondermittel, die für das Zentralinstitut dringend nötig seien. Diese werden meist auch bewilligt, wie man den handschriftlichen Bemerkungen auf den Anträgen entnehmen kann. (BA R 4901, 13288) 185 Antrag auf Genehmigung einer Fernsprechnebenanlage vom 2. Dez. 1943. (BA R 4901, 13288) 186 Kindermann am 28. 1. 1943 an das RWEV. (BA R 4901, 13288) 187 Jens-Malte Fischer: „Zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald“. Germanisten im Dritten Reich, in: Wissenschaft und Nationalsozialismus. Eine Ringvorlesung an der Universität-GesamthochschuleSiegen, hg. v. Rainer Geißler und Wolfgang Popp, Essen 1988, S. 137-157, hier S. 148.
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und Etablierung innerhalb des Universitätssystems beeinflussten, sondern auch maßgeblich das Verhältnis zum Nationalsozialismus bestimmten: zum einen ist die Theaterwissenschaft eine sehr junge Wissenschaft, kaum älter als das 20. Jahrhundert dauerte. Damit entstand sie zeitgleich mit der Theaterreform und der Theateravantgarde, was gerne in den einschlägigen Geschichten des Faches betont wird, nichtsdestotrotz aber eine falsche Assoziation weckt, denn in der Regel hatten die Theaterwissenschaftler wenig bis gar keinen Kontakt zu den progressiven Theaterästhetiken und -künstlern, pflegten vielmehr konservative ästhetische Zugänge zur Theatergeschichte und zum Theater der Zeit. Auch das machte sie in ihrer Gründungsphase in den 20er Jahren anfällig für nationale, völkische und revisionistische Zeitströmungen und erleichterte in der Behauptungs- und Etablierungsphase der Theaterwissenschaft in den 30er und beginnenden 40er Jahren die personelle und institutionelle Annäherung an das NS-Regime. Zum anderen erschien die Theaterwissenschaft in den Augen der Öffentlichkeit, der Universitäten und der Theaterpraxis von Anfang an als eine Profession, deren Arbeiten und Resultate in einem Grenzbereich zwischen Wissenschaft und Kunst zu suchen waren und deren Bemühungen kein kohärentes Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Lehre und praktischer Ausbildung für das Theater bzw. die neueren Medien herstellen konnten. Ihre Bewegungen vor dem Hintergrund der anhaltenden Suche um Anerkennung fanden leider erst dann einen wirklich erfolgreichen Weg, als das Verhältnis zum Nationalsozialismus zu einem unwiderruflich kompromittierenden geworden war. Obwohl die Theaterwissenschaft auch heute noch ein Standbein in der Wissenschaft, ein anderes in der Kunst hat, waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Kontakte zur Theaterpraxis eher noch ausgeprägter und vertiefter. Die außeruniversitären Aktivitäten, die einerseits Ausweichpraktiken waren, wo die Universität keinen Raum bot, andererseits die in der Praxis und der Gesellschaft notwendige Legitimität für das junge Fach schaffen sollten, korrespondierten mit einer bis heute anhaltenden Unschlüssigkeit in der Zielsetzung des Studienganges: ging es um die Ausbildung für einen wissenschaftlich oder einen künstlerisch grundierten Beruf? Sollten Wissenschaftler, Journalisten und Dramaturgen, denen ein wissenschaftliches Studium eine sinnvolle Basis liefern kann, oder obendrein Regisseure und gar Schauspieler Theaterwissenschaft studieren? Herrmann bezeichnete es als oberste Aufgabe des projektierten Berliner Instituts, Dramaturgen, Regisseuren, Intendanten und Kritikern eine „wissenschaftliche Vorbildung“ zu ermöglichen: „Während aber die Universitätsinstitute, die der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Bild-, Ton- und Wortkunst dienen, der gegenwärtigen Art des Unterrichts auf diesen Gebieten entsprechend so gut wie ausschließlich historisch orientiert sind, würde ich vorschlagen, in einem neu zu begründenden theaterwissenschaftlichen Institut neben der Theatergeschichte auch die Theaterpraxis gebührend zu berücksichtigen.“188 Hier wurde von Herrmann begrifflich eine Differenz sichtbar gemacht, die er zwar dialektisch aufzulösen trachtete, die aber von Beginn an methodisch die Grenzscheidung zwischen universitärem Fachdünkel und theaterpraktischer Relevanz markierte: die Trennung zwischen Theatergeschichte und Theaterwissenschaft. Theatergeschichte war in den ersten Jahrzehnten der universitär halbwegs anerkannte Fachbegriff, in gleichem Atemzug genannt wie universitäre Lehre und Forschung, während Theaterwissenschaft bedeutete, dass man zur Theatergeschichte etwas addierte, was dem Niveau der universitären Methoden vielleicht nicht oder weniger gerecht werden würde: Theaterspiel und außeruniversitäre Fachveranstaltungen wie populäre Vorträge, Reisen und vor allem Ausstellungen.
188 BA R 4901, 1450, in: Corssen: Max Herrmann, a.a.O., S. 85 und 293.
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Nicht unwichtig war, dass die Gründerfiguren der Theaterwissenschaft von der Ausbildung her allesamt Germanisten waren, obwohl sich einige dezidiert von der Germanistik als Fach distanzieren wollten. Damit war die Germanistik, eingestandenermaßen oder nicht, die Geburtshelferin der Theaterwissenschaft. Der Standort der neuen, sich emanzipierenden Wissenschaft innerhalb der Kulturwissenschaften der 20er und 30er Jahre muss daher immer in Abhängigkeit von der Germanistik gesehen werden, und zwar sowohl methodisch und fachgeschichtlich als auch persönlich-biographisch. Hiermit ergaben sich bereits durch die germanistische Vorgeschichte des Faches in den 20er Jahren Prägungen, die begünstigten, dass analog zu Teilen der Germanistik vor dem Hintergrund der negativen Wahrnehmungen der Nachkriegsbedingungen und der damit verbundenen Reaktionsdiskussionen nicht nur die deutsche Sprache und Literatur, sondern auch das Theater als Teil der deutschen Kultur in den Vordergrund geschoben werden sollte. Dass neben der Germanistik die Volks- und Völkerkunde und die kunstgeschichtliche Stilkunde als Hilfswissenschaften galten, bestärkte diese Tendenz. Die Theaterwissenschaft war demnach von ihrem Beginn an als Kulturwissenschaft eine integrative nationale Wissenschaft wie andere auch. Diejenigen etablierten Germanisten, die Theatergeschichte nur nebenher betrieben, waren aufgrund der weitgehenden Beschränkung ihres Wirkungskreises auf die Universität nicht in der Lage und strebten es auch nicht wirklich an, die Theaterwissenschaft zu einem vollwertigen Lehr- und Prüfungsfach zu machen. Wirkliche Erfolge konnte das Fach erst verbuchen, als sich einige Theaterwissenschaftler nicht nur um eine inneruniversitäre, wissenschaftliche Reputation bemühten, sondern den außeruniversitären Wirkungsbereich, welcher der Theaterwissenschaft charakteristisch anhing, der Kulturpolitik der Nationalsozialisten dienstbar machten. Die neuen Machthaber interessierten sich nach 1933 für die neue Theaterwissenschaft, da diese einerseits die zukünftigen Beschäftigten in den für die Propaganda wichtigen Medienbereichen Theater, Journalismus, Film und Hörfunk ausbildete und sich andererseits als Instrument zur Kontrolle der Theaterlandschaft eignete. Dieser zweigleisige Weg und der ambivalente Fachcharakter, der beförderte und zugleich bremste, sorgten im Dritten Reich für den Aufstieg der Theaterwissenschaft als Universitätsdisziplin meist entgegen dem Willen der betroffenen Universitäten, aber mit massiver Unterstützung des RMVP und, im Fall Kindermann, der zuständigen Reichsstatthalterei. Die Förderung wurde sofort versagt, wenn sich Theaterwissenschaftler als charakterlich schwierig oder uneindeutig erwiesen. NS-Wissenschaftspolitik war im Fall der Theaterwissenschaft also in der Hauptsache NS-Kulturpolitik. Die Theaterwissenschaft war dabei nicht nur Opfer. Einige der Vertreter der Theaterwissenschaft nutzten innerhalb der NSKulturpolitik die Möglichkeiten der Anpassung und Selbstangleichung so schnell und bereitwillig, dass ihnen über diesen Weg auch die schwierige Anerkennung ihrer Person und ihres Faches in der Universität gelang.
AUTOREN Dr. Hans-Joachim Dahms, Berlin Dr. Horst Junginger, Universität Münster PD Dr. Edgar Weiß, Siegen Prof. Dr. Uta Halle, Universität Bremen PD Dr., Stefan Altekamp, HU Berlin Prof. Dr. Josef Wiesehöfer, Universität Kiel Dr. Joachim Lerchenmüller, Tübingen Dr. Horst Wallraff, Düren Dr. Hans-Christian Petersen, Universität Mainz Prof. Dr. Jan Kusber, Universität Mainz Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut W. Schaller, Gröbenzell Prof. em. Dr. Wolfgang Jacobeit, HU Berlin Dr. Leonore Scholze-Irrlitz, HU Berlin Prof. Dr. Hans Böhm (†), Universität Bonn Prof. Dr. Carsten Klingemann, Universität Osnabrück Prof. em. Dr. Wilhelm Bleek, Universität Bochum Prof. Dr. Johannes Renger, Institut für Altorientalistik, FU Berlin Dr. Ludmila Hanisch, Berlin PD Dr. Hartmut Walravens, FU Berlin Prof. Dr. Jörg Riecke, Universität Heidelberg Prof. Dr. Birgitta Almgren, Södertörns Högskola, Schweden Dr. Zeno Ackermann, FU Berlin Prof. Dr. Johannes Kramer, Universität Trier Prof. Dr. Julia Zernack, Universität Frankfurt
900 Prof. Dr. Jürgen Court, Universität Erfurt Prof. Dr. Mitchell G. Ash, Universität Wien PD Dr. Andreas Englhart, LMU München Herausgeber: Prof. Dr. Jürgen Elvert, Universität zu Köln Dr. Jürgen Nielsen-Sikora, Universität zu Köln
AUTOREN
PERSONENREGISTER Abendroth, Wolfgang 440, 465 Ach, Narziß 830, 832 Acton, John E. Lord 246 Adam, Leonhard 535 Adam, Wolfgang 626f. Adolf, Helene 598 Adorno, Theodor W. 25, 27, 399 Albright, William Foxwell 483f. Alexander d. Große 216 Al-Husaini, Amin 523 Allesch, Johannes von 833, 835, 857f. Almgren, Birgitta 622 Altheim, Franz 216 Althoff, Fritz 838f. Altrock, Hermann 790 Andrae, Walter 498f. Andreas, Willy 257 Andree, Julius 151f. Anhegger, Robert 515 Anrich, Ernst 36, 225, 227ff, 240, 284 Anschütz, Georg 835, 857 Apel, Karl-Otto 39 Apffelstaedt, Hans-Joachim 127, 130, 139, 146, 158 Arbusow, Leonid 755 Arendt, Hannah 24, 38 Ariovist 181 Arlt, Fritz 302 Arminius 216, 632 Arnaudov, Michail 718 Arndt, Paul 203 Arnold, Bettina 110 Assion, Peter 348, 350 Astel, Karl 80, 705 Aster, Ernst von 25 Atao, Breiz 770 Atatürk, Kemal 519 Aubin, Hermann 248, 253, 258, 262, 266f., 271f., 274ff, 283f., 286, 298, 300ff, 307, 720 Augustus 216 Babinger, Franz 492f., 511f. Bach, Adolf 619, 621ff Bachhofer, Ludwig 535 Bachofen, Johann Jakob 49, 94 Badenhausen, Rolf 878 Baesecke, Georg 607, 621 Baetke, Walter 68f., 85, 708 Baeumler, Alfred 19, 29, 36ff, 39f., 44ff, 75, 90, 92ff, 98, 100, 103, 213, 403ff, 411, 413ff, 788, 790, 808ff, 813ff, 818f. Bahr, Hermann 895 Bahrdt, Hans-Paul 433 Balázs, Etienne 535 Bang Kaup, Willy 508 Banse, Ewald 383ff
Baranov, P. A. 566 Barb, Alphons 153 Barbie, Klaus 443 Bargebuhr, Friedrich Paul 60, 515 Bargheer, Ernst 355 Barrelmeyer, Uwe 393 Bartels, Adolf 346 Barth, Karl 68, 75, 85, 349 Baruch, Willy 535 Basler, Otto 606, 621 Bastian, W. 119 Bauch, Bruno 23 Bauer, Hans 509 Bauer, Theo 473, 479 Bauersfeld, Helmut 769, 771ff Baumgarten, Eduard 42, 413f., 435 Baumgarten, Franziska 858 Bausch, Wolfgang 784 Bausinger, Hermann 339 Becker, Carl Heinrich 46, 55, 329, 505, 507, 509, 513, 729, 802 Becker, Philipp August 676 Beckerath, Erwin von 435ff Beckmann, Bernhard 606 Beer, Matthias 312, 330 Behaghel, Otto 590, 592, 613, 624 Behrendsohn, Walter A. 708 Behrens, Hermann 165 Behrmann, Walter 364, 377, 382 Behrsing, Siegfried 535 Beißner, Friedrich 620 Beninga, Eduard 152f. Benjamin, Walter 24, 37 Benz, Ernst 67 Benzing, Johannes 734 Beranek, Franz 612 Berber, Friedrich 447, 460, 465 Berger, Lothar 787 Bergmann, Ernst von 743 Bergson, Henri 43 Bergstraesser, Arnold 447, 449, 453f., 459, 464, 467 Bergsträsser, Gotthelf 510 Berneker, Erich 717, 733, 744, 746f., 750, 760 Bernet, Hajo 785, 788 Bernhardi, Anna 536 Bernsdorf, Wilhelm 436, 438 Bersu, Gerhard 117, 128f., 133ff, 157, 162, 206 Berthold, Luise 607 Bertram, Ernst 628, 634, 641f., 644 Berve, Helmut 212ff, 316 Best, Werner 69, 134, 428, 771, 775ff Betz, Werner 610 Beyer, Erich 787 Beyer, Hans J. 240, 245, 284, 314, 405, 424
902 Beyer, Kurt 316 Beyschlag, Siegfried 606 Bezzenberger, Adalbert 744ff, 750 Biallas, Franz-Xaver 536 Bianchi Bandinelli, Ranuccio 183ff Bichler, Reinhold 186 Bickermann, Elias 213 Bieber, Margarethe 203 Bieberbach, Ludwig 838 Bielefeld, Erwin 205 Bielenstein, Alfred 742 Bielfeld, Hans-Holm 606 Bier, August 794, 802 Binding, Rudolf G. 880 Biondo, Flavio 682 Birke, Ernst 243 Birkhan, Helmut 700, 710 Birnbaum, Salomon A. 595 Bismarck, Otto von 299, 318, 362 Blanckenhagen, Peter Heinrich von 204 Blättner, Fritz 93, 101, 103 Bleichsteiner, Robert 536 Bleyer, Jakob 328 Bloch, Ernst 24, 27 Blochmann, Elisabeth 99 Blomeyer, Fritz 536 Boas, Franz 568 Bode, Rudolf 785, 788 Boeckh, August 503 Boehm, Max Hildebert 404f., 414ff, 427ff, 432, 448f., 457 Boehme, Erich 717 Boehringer, Erich 173 Boerschmann, Ernst 537, 579, 582ff Bogeng, G. A. E. 788 Böhm, Willy 325 Bohner, Hermann 537 Bollmus, Reinhard 109f., 136, 138 Bollnow, Hermann 439 Bollnow, Otto Friedrich 99, 102f. Bondy, Curt 831, 857 Böök, Fredrik 644 Bopp, Franz 312 Borcherdt, Hans Heinrich 878, 883, 887, 889 Borchling, Conrad 642 Borger, R. 484 Boris III. 719 Bork, Hans 606 Bormann, Martin 76, 131, 137, 391, 408, 410, 415f. Born, Max 38 Bornhausen, Karl 53, 63f., 67, 75 Bosch, Clemens 204f. Bothner, Dietrich Felix von 205 Botzenhardt, Erich 242f., 245, 284 Bouda, Karl 734
PERSONENREGISTER Bracher, Karl Dietrich 449 Brachmann, Wilhelm 75f., 78 Brackmann, Albert 144, 282, 284, 298f., 301f., 328, 720, 723, 726, 755 Brake, Jürgen 99 Brandenstein, C. G. Freiherr von 494, 500 Brandl, Alois 653 Brands, Gunnar 208 Brandt, Conrad 537 Brandt, Otto 275 Brather, Sebastian 151 Braubach, Max 229 Braun, Friedrich 291, 296 Braun, Maximilian 726 Braune, Walter 520 Braune, Wilhelm 590 Brauner, Heinz 721 Braunias, Karl 334 Bräunlich, Erich 493, 511, 521 Breasted, James 488 Brecht, Bertolt 640 Brecht, Walter 881 Breloer, Heinrich 479 Bremer, Karl Heinz 687 Brendel, Otto Johannes 205, 238 Brentjes, Burchard 111 Brepohl, Wilhelm 433, 435 Bretschneider, Anneliese 617, 620f. Brettmann, Kai 329 Breuer, J. 157 Breysig, Kurt 270 Briedis, Albinas 752f. Briese, Georg 787 Briessen, Fritz van 573 Brinkmann, Carl 400, 419, 435, 437 Brinkmann, Henning 618 Broch, Olaf 730 Brock, Werner 38, 41 Brockelmann, Carl 507, 511, 521 Brückner, Alexander 714, 717, 745 Brügmann, Arnold 225, 229 Brüning, Heinrich 257 Brunner, Otto 248, 254, 263, 272, 282 Buber, Martin 56ff, 569 Buch, Walter 137 Buchheim, Hans 84 Buchner, Max 225f., 229 Büdel, Julius 369 Bühler, Charlotte 826f., 832, 853 Bühler, Karl 832 Bulling, Anneliese 538 Bülow, Friedrich 435f., 438 Bünger, Karl 537f. Burchard, Albrecht 365, 386 Bürckel, Josef 428 Burckhardt, Jacob 252, 270
PERSONENREGISTER Burdach, Konrad 616 Burghardt, O. 731 Burleigh, Michael 249 Bursch, F. C. 160 Buschor, Ernst 173, 183, 192 Buss, Wolfgang 786 Butschkow, H. 119 Buttler, Werner, 119f., 130, 132f., 135f., 143f., 151f., 154, 161 Buttmann, Rudolf Cabej, Eqren 314 Caesar, Gaius Julius 181, 216 Camphausen, Gabriele 295 Capidan, Theodor 314 Carlyle, Thomas 654 Carnap, Rudolf 37f. Carossa, Hans 880 Carstens, Peter Johannes 303f. Casement, Roger 765 Caskel, Werner 508, 521 Cassirer, Ernst 11, 23, 26, 33, 38, 44, 642f. Ch’ü Yüan 536 Chamberlain, Houston Stewart 212, 735 Chamberlain, Neville 298 Chartres, John 765 Chavannes, Edouard 536 Christ, Karl 210 Christaller, Walter 369 Christian, Viktor 484f., 495, 499, 502 Cid, Corneilles 679 Clauß, Ludwig Ferdinand 828, 839f. Clemen, Carl 54, 66, 68f., 77 Clissmann, Helmut 770 Coblitz, Wilhelm 302 Cohen, Hermann 33, 38 Cohn, Ernst Joseph 63 Cohn, Jonas 831 Cohn, William 538, 552 Cohn-Wiener, Ernst 538 Conrady, August 536 Consten, Hermann 539 Consten-Erdberg, Eleanor von 538 Contag, Victoria 539 Conze, Werner 229, 248, 254, 272, 282ff, 294, 299, 304, 307 Cordes, Gerhard 611 Ćorović, Vladimir 717 Court, Jürgen 784ff Crämer, Rudolf 229, 242, 284 Crämer, Ulrich 225 Credner, Carl Hermann 375 Crome, Bruno 606 Curtius, Ernst Robert 188, 397, 453, 674, 677, 681 Curtius, Ludwig 172, 206 Cysarz, Herbert 628, 634, 882
903 Dahlke, Paul 554 Dahn, Felix 118 Dahrendorf, Ralf 393 Dainat, Holger 626f. Daladier, Edouard 298 Dalman, Gustaf 505 Danneil, Johann Friedrich 149 Darré, Richard Walter 212, 216, 237, 354 Darwin, Charles 362, 846 David, Martin 473, 494, 513 De Groot, Johann Jakob Maria 547, 551f., 565 Debrunner, Albert 760 Dehio, Georg 743 Dehio, Ludwig 224 Dehn, Wolfgang 156, 158ff, 162 Deichmann, Ute 852f. Deindl, Anton 322 Delbrück, Hans 223 Delitzsch, Friedrich 472f., 477, 481f. Dellbrueck, Richard 173, 203 Denecke, Ludwig 606 Dessoir, Max 46 Deubner, Ludwig 66 Deuchler, Gustaf 95, 103, 833 Devaranne, Theodor 75 Dewey, John 27 Dibelius, Wilhelm 453, 456, 654f. Dickinson, Robert E. 359 Diels, Paul 314, 720, 733 Diem, Carl 785, 788, 790ff, 794f., 797, 799, 802f., 816ff, 822 Diepers, Peter 606 Dieterich, Albrecht 347 Dietrich, Margret 895 Dietzel, Karl Heinz 375, 377 Diez, Ernst 539 Diez, Friedrich 669 Dilthey, Wilhelm 11f., 97f., 590, 633f., 636, 644, 827, 864 Dirr, Adolf 493 Dittrich, Erich 316f. Dittrich, Marie-Luise 606 Dohnanyi, Hans von 450 Dolch, Josef 93, 103 Dolens, H. 153 Dölger, Franz 319f., 322f. Dollmayr, Viktor 606 Dombart, Theodor 193 Donka, Viktor 474 Döpp-Vorwald, Heinrich 96 Dorsch, Friedrich 787 Doubek, Franz 721 Dovifat, Emil 817 Dragendorff, Hans 195 Drechsel, J. 325 Dressler, Adolf 334
904 Drexler, Hans 215 Driesch, Hans 32 Drygalski, Erich von 364 Duda, Herbert W. 324, 518 Düker, Heinrich 855ff, 860 Duncker, Karl 832 Durkheim, Emil 406f. Ebbinghaus, Angelika 301 Ebbinghaus, Hermann 847 Ebbinghaus, Julius 486 Ebeling, Erich 473, 477ff, 486 Eberhard, Alide 540 Eberhard, Wolfram 539f., 545 Eberhardt, Walter 213 Ebert, Friedrich 792 Eckardt, Hans 540, 579 Ecke, Gustav 540f. Eckert, Christian 441f. Eckert, Rainer 745 Eckhardt, Karl August 63, 242 Eckle, Christian 841f. Edelmann, Moritz 225 Eder, Matthias 541 Ehelolf, Hans 473f., 477ff Ehrenberg, Hans 25 Ehrenberg, Victor 213 Ehrenkranz, Markus 474, 481 Ehrt, Adolf 295 Eichhorn, Werner 541 Eichmann, Adolf 465 Eickhoff, Martijn 160 Eickstedt, Eugen Freiherr von 735 Eilers, Wilhelm 473, 491f. Einstein, Albert 10, 34, 38 Eis, Gerd 608 Eisenberg, Christiane 782, 787, 795 Elias, Norbert 397 Elisséeff, Serge 551 Elwert, W. Th. 687 Emge, Carl August 39, 441f. Endzelins, Janis 745 Engel, Carl 755, 758 Engels, Friedrich 401 Epp, Franz Ritter von 368, 377 Epting, Karl 687 Erhardt, Sophie 756f. Erichsen, Nikolaus 25f. Erkes, Eduard 541, 552, 566 Erxleben, Wolfgang 412f. Erzberger, Matthias 763 Eschmann, Ernst Wilhelm 426 Ettinghausen, Richard 513 Euling, Karl 606 Fabricius, Ernst 195 Fahlbusch, Michael 386 Falkenhahn, Viktor 744
PERSONENREGISTER Falkenstein, Adam 473, 478, 480, 483, 486, 494f., 496ff, 500f., 518 Fang, Achilles 555 Fast, Werner 737 Faulhaber, Michael Kardinal 704 Faust, August 29 Feddersen, Martin 542 Feder, Gottfried 398 Fehr, Hubert 112 Feickert, Andreas 772 Feigl, Herbert 24 Feist, Sigmund 594, 621, 623f. Fett, Harry 156 Fichte, Johann Gottlieb 817 Fick, August 746 Figulla, Hans 494 Filchner, Wilhelm 569 Filov, Bogdan 324, 719 Finkenstaedt, Thomas 647f., 650, 657, 659f., 662 Fischel, Werner 859 Fischer, Aloys 98, 831 Fischer, August 493, 510f. Fischer, Eugen 842ff Fischer, Fritz 224, 465 Fischer, Gert Heinz 833, 857 Fischer, Helmut J. 407 Fischer, Otto 542 Fish-Harnack, Mildred 458 Flemming, Willi 869, 888, 890 Flex, Walter 227 Flitner, Wilhelm 21, 98, 101f. Flohr, Ernst F. 388 Fochler-Hauke, Gustav 320, 583, 585 Foerste, William 610 Foerster, Friedrich Wilhelm 90 Fohrmann, Jürgen 626 Forke, Alfred 542, 550 Forrer, Emil 500 Forsthoff, Ernst 770 Fraenger, Wilhelm 348 Fraenkel, Ernst 465, 730, 751, 759f., 762 Frank, Carl 485f. Frank, Hans 302, 370, 442 Frank, Karl Hermann 425 Frank, Walter 241f., 244 Frank, Walter 7, 248f., 260, 262, 284 Franke, Herbert 543 Franke, Otto 543f., 566, 568 Frankel, Hans Hermann 544 Franz, Günther 229, 243, 284 Franz, Leonhard 153 Frauendienst, Werner 245 Frauwallner, Erich 518 Freitag, Christian H. 648 Frenzel, Walter 155 Frey, Dagobert 734
PERSONENREGISTER Freyer, Hans 40, 59, 272, 279, 282, 394, 400, 405, 410, 412, 417f., 423, 435, 451f., 836 Frick, Heinrich 55, 76 Frick, Johannes 544 Frick, Wilhelm 828 Fricke, Gerhard 625, 634, 641 Fricks, Heinrich 68 Friedensburg, Ferdinand 466 Friedrich Barbarossa 636 Friedrich II. d. Große 632 Friedrich Wilhelm I. 753 Friedrich, Johannes 473, 476f., 483, 494, 500 Friesen, Karl 792 Frings, Theodor 267, 591, 596, 598, 607, 616, 618, 621, 726 Fuchs, Siegfried 178, 198, 202 Fuchs, Walter 544f. Fück, Johann 515f. Furtwängler, Adolf 189 Fustel de Coulanges, Numa Denis 273 Gabain, Annemarie von 521, 545 Galinsky, Hans 659, 665f. Gamillscheg, Ernst 323, 676f., 680, 682, 687 Ganter, Karl 571 Ganzer, Karl Richard 225, 242 Garbers, Karl 518 Gardt, Andreas 628, 631 Garscha, Friedrich 160 Gassert, Philipp 648, 664 Gaulhofer, Karl 785, 788 Gaus, Günter 463 Gay, Peter 825 Gehlen, Arnold 412, 435ff, 441f. Geiger, Moritz 26 Geiger, Theodor 393 Geisler, Walter 371 Geißler, Ewald 612, 620f. Geißler, Georg 99 Gelb, Adhemar 831 Gelb, Ignace 488 Genneps, Jaspar von 876 Genzmer, Felix 697 George, Stefan 172, 880 Gerhardt, Uta 437, 439, 441ff Gerkan, Armin von 198, 202 Gerullis, Georg 744, 747ff Gesemann, Gerhard 319, 324f., 334, 717, 719, 733 Geuter, Ulfried 823, 848, 850, 852, 854, 860 Gierach, Erich 619, 621, 701, 882 Gierach, Ernst 586, 594 Gierlichs, Willy 396 Giese, Friedrich 508 Giese, Gerhard 101 Giffens, Albert Egges van 157 Glaser, Curt (Kurt) 545, 678
905 Glässer, Eduard 681f., 688 Glatzer, Norbert 57f. Gobineau, Joseph Arthur Comte de 679 Goebbels, Joseph 39, 139, 158, 448ff, 459f., 625, 660, 871, 875, 885f., 891 Goerdeler, Carl Friedrich 102 Goethe, Johann Wolfgang 8, 186, 817 Goetz, Leopold Karl 291 Goetze, Albrecht 475f., 483, 485, 513 Göhring, Martin 245 Golczewski, Frank 441 Goldschmidt, Richard 831, 857 Goldstein, Emilie 67 Goldziher, Ignatz 505, 510 Golf, Arthur 314 Göring, Hermann 107, 380 Görke, Norbert 321 Görland, Albert 25f. Gothein, Eberhard 270 Götting, Ludwig 621f. Gottschaldt, Kurt 840, 842ff, 858f. Gottschalk, Hans L. 513 Gottschalk, Walter 515 Götze, Alfred 606f., 612ff, 621ff Grabbe, Christian Dietrich 636ff, 882 Grabert, Herbert 73 Grabowsky, Adolf 447, 449, 464 Granet, Marcel 568 Grapow, Hermann 478, 480 Grau, Wilhelm 242 Graul, Hans 370f. Gregori, Ferdinand 885 Greife, Hermann 295, 308 Greiser, Arthur 725, 851 Greiser, Benno 546, 579 Griewank, Karl 244 Grimm, Hans 98 Grimm, Jacob 342, 586, 589, 610, 632f., 740, 742 Grimm, Paul, 119 Grimm, Reinhold 546 Grimm, Tilemann 546 Grimm, Wilhelm 586 Grimme, Adolf 100, 729 Groethuysen, Bernhard 26 Gross, Hermann 320 Gross (Groß), Walter 48f., 404, 840, 843 Größing, Stefan 787 Grube, Wilhelm 536, 547 Gruehn, Werner 67 Grundmann, Walter 80 Grünwedel, Albert 508 Grüttner, Michael 702, 706 Gummel, Hans 119, 145 Gundert, Wilhelm 551 Gundolf, Friedrich 396 Günther, Hans F. K. 214, 253f., 384, 426, 614
906 Günther, Hans F. K. (Forts.) 735, 740, 770, 812, 828ff, 839, 841, 844ff, 848f. Gusti, Dimitrie 408 Gutenbrunner, Siegfried 610 Güterbock, Hans-Gustav 473, 477, 483, 491, 494, 497f., 515 Haacke, Wilmont 439 Haake, Heinz 130 Haas, Hans 54, 65, 68f., 73 Haase, Felix 739 Habermas, Jürgen 39, 436 Hadlich, Käthe 100 Haenicke, Gunta 647, 650 Haenisch, Erich 546f., 551, 579, 802 Haering, Theodor 29 Hahland, Walter 193 Hahne, Hans 116, 120 Haiding, Karl 352f. Halbach, Kurt Herbert 620 Hall, Harry 488 Haloun, Gustav 547, 551 Hamburger, Käte 643, 645 Hammen, Oscar J. 253, 273 Hammerstein, Notker 29 Hanfmann, George M. 205 Hanisch, Erdmann 291f., 296, 733 Hankammer, Paul 597 Hanson, Per Albin 639 Harder, Richard 76 Hardtwig, Wolfgang 271 Harmjanz, Heinrich 79, 354, 407f. Harnack, Adolf von 52ff, 85, 743 Harrassowitz, Otto 542 Harte, Erich 787 Hartl, Eduard 612, 621 Hartmann, Hans 779 Hartmann, Martin 505 Hartmann, Nicolai 29, 34 Hartmann, Richard 478, 513, 516, 519ff Hartung, Fritz 241 Hasebroek, Johannes 213 Hasenöhrl, F. X. 579 Hass, Ulrike 591 Hassinger, Hugo 315, 360, 375, 381 Hassmann, Henning 110, 150, 164 Haucke, Kurt 334 Hauer, Erich 547 Hauer, Jakob Wilhelm 55, 57, 62f., 67, 69, 71ff, 78ff, 84f. Haufe, Helmut 409, 423 Hauptmann, Gerhart 880f. Haupts, Leo 782 Haushofer, Albrecht 449f., 458, 461f. Haushofer, Hans 334 Haushofer, Karl 321, 359f., 367, 376, 450, 617 Häusler, Eugen 719
PERSONENREGISTER Hausmann, Frank-Rutger 29, 312, 647, 649f., 654, 659, 666ff, 674f., 685, 782 Hebbel, Friedrich 882 Hecht, Hans 651, 653, 656, 730 Hederich, Carl-Heinz 839 Hedin, Sven 373, 389, 557, 569, 644 Hée, P. Louis van SJ 548 Hefter, John 547 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 11, 19, 863 Hehlmann, Wilhelm 93, 95 Heiber, Helmut 248f., 414, 728f. Heichelheim, Fritz 213 Heidegger, Martin 32, 34, 36, 41ff, 50, 330, 413f., 634, 636ff, 643, 695 Heidenreich, Robert 193 Heiermeier, Anneliese 779 Heiler, Friedrich 55, 57, 70 Heimpel, Hermann 248, 307 Heine, Heinrich 731 Heinermann, Theodor 687 Heinrich, Fritz 66, 74 Heisenberg, Werner 9f., 475, 818, 821 Heiß, Robert 857 Heissig, Walther 548 Helbok, Adolf 271, 277, 279, 282 Heller, Hermann 446 Hempel, Carl-Gustav 24 Hempel-Küter, Christa 608 Hentig, Werner von 506 Hentze, Carl 548 Herbert, Ulrich 134 Herbig, Gustav 760 Herbig, Reinhard 173, 193 Herder, Johann Gottfried 8, 318, 406, 503, 632f. Hermann, Gottfried 503 Hermens, Aloys 465 Herre, Paul 275 Herrfahrdt, Heinrich 573 Herrmann, Albert 548 Herrmann, Max 863ff, 869, 878, 884, 888ff, 897 Herrmann, Ulrich 105 Hertz, Rudolf 769 Herzfeld, Ernst 472, 489f., 514 Herzfeld, Hans 258 Hesch, Michael 316 Heß, Rudolf 134, 139, 241, 353, 359, 391, 410, 415, 450, 461, 470 Hessen, Johannes 60 Hetzer, Hildegard 827, 851, 853ff Heuer, Hermann 666 Heusler, Andreas 694 Heuss, Theodor 446 Heyde, Ludwig 400 Heydrich, Reinhard 47, 72, 134, 426, 453f., 461, 771 Heydt, Eduard von der 549
PERSONENREGISTER Heyse, Hans 29, 36ff, 42ff, 49f., 414 Hildebrandt, Walter 418 Hill, Archibald Vivian 799 Hille, Peter 639 Himmler, Heinrich 63, 74, 77, 84, 119, 122f., 126ff, 130f., 132, 134ff, 139, 141, 143, 148, 151f., 197, 212, 216, 237, 239, 242, 260, 353ff, 407, 420, 423f., 463, 484f., 699ff, 704f., 776 Hindenburg, Paul von 39, 260 Hinkel, Hans 875, 885f. Hinz, Walther 480, 492f., 496, 500, 511 Hippius, Rudolf 734, 851ff Hirn, Albert 790, 807 Hirt, Hermann 760 Hirzel, Salomon 621 Hitler, Adolf 19, 38f., 47, 49, 59, 74, 82, 87, 89f., 94, 97, 100, 118f., 122, 131, 133f., 140, 161, 174, 198, 212f., 216, 227, 258ff, 262, 281, 284, 298, 302f., 307, 326, 330, 348f., 365, 386, 395, 398ff, 448, 460, 474, 490, 493, 583, 617, 619, 628, 632ff, 639, 656, 660, 699, 720, 728, 777, 804, 810, 832f., 836, 880 Hobsbawm, Eric 592 Hoerdt, Philipp 93 Hoernerbach, Wilhelm 518 Hoetzsch, Otto 291f., 295ff, 308ff, 447, 719 Hoffmann, Alfred 549, 573, 579 Hoffmann, Friedrich 306 Hoffmann, Kerstin 165 Hoffmann-Krayer, Eduard 347 Höfler, Otto 73f., 619, 643, 695, 697, 700ff Hofmannsthal, Hugo von 880 Hofmeister, Hermann 146 Höfner, Maria 521 Hofstätter, Peter 439, 845 Hohlfeld, Andreas 242 Höhn, Reinhard 242 Höhne, Rolf 127ff Holborn, Hajo 446 Hölderlin, Friedrich 186, 894 Holmberg, John 642f. Holmberg, Olle 642 Holst, Niels von 759 Holste, Friedrich 156, 161 Homann-Wedeking, Ernst 202 Honigsheim, Paul 25, 60, 90 Hönigswald, Richard 38, 43 Hoops, Rainald 659 Höpfner, Hans-Paul 39 Höpker, Wolfgang 334 Hoppe, Karl 607 Hoppe, Willy 225 Höppner, Wolfgang 626 Horák, J. 730 Hörbiger, Hanns 77
907 Horkheimer, Max 25, 27, 401, 436f. Horn, Eva 849 Hornbostel, Erich von Horovitz, Josef 505, 512 Huber, Ernst Rudolf 439 Huber, Kurt 855f. Hübner, Arthur 355, 606 Hübotter, Franz 549 Hucke, Karl 119 Hugenberg, Alfred 100 Hülle, Hermann 550 Hülle, Werner 152, 740 Humboldt, Alexander von 387 Humboldt, Wilhelm von 503, 616, 631f., 742 Hundhausen, Vincenz 550 Husserl, Edmund 34, 38, 41f., 636, 828 Huth, Otto 77f., 775 Hutten, Ulrich von 625 Hutton, Christopher M. 587 Iordan, Iorgo 682 Ipsen, Gunther 272, 282, 403, 407ff, 412, 423, 427, 435 Ittenbach, Max 608 Jäckh, Ernst 446, 448f., 464 Jacobeit, Wolfgang 339 Jacob-Friesen, Karl Hermann 116, 125f., 129f., 148 Jacobsen, Thorkild 488f. Jacobsthal, Paul 173, 203 Jaeger, Werner 213 Jaensch, Erich Rudolf 36, 38f., 95, 790, 810ff, 815, 833f., 836ff, 841, 844f., 852 Jaensch, Walter 790, 815, 838 Jäger, Fritz 544, 550f., 579 Jäger, Ludwig 626 Jagić, Vatroslav 714 Jahn, Friedrich Ludwig 792, 800, 813, 818 Jahn, Georg 435 Jahoda, Marie 832 Jakobson, Hermann 719 Jan, Eduard von 681 Jankuhn, Herbert 127, 136f., 141, 154ff, 157ff, 160ff, 165 Jansky, Herbert 522 Janssen, Jan-Peters 786f. Jantke, Carl 433, 435, 437 Jaspers, Karl 23, 827f. Jecht, Horst 437, 439 Jensen, Harro de Wet 666 Jensen, Peter 494 Jerusalem, Wilhelm 392, 407 Jessen, Peter 546 Jessinghaus, Karl 833 Jireček, Joseph Konstantin 290f. Joas, Hans 392 Joch, Winfried 788
908 Johansen, Paul 294, 756 Johst, Hanns 875, 879, 881 Joseph II. 720, 894 Jucknat, Margarete 859 Jünger, Ernst 42 Kafka, Gustav 832, 857 Kahane, Peter 205 Kahle, Paul 67, 487, 512f., 520 Kahle, Wilhelm 67 Kahlo, Gerhard 574 Kaindl, Raimund Friedrich 275 Kainz, Friedrich 620, 573 Kallen, Gerhard 280f. Kalmer, Joseph 551 Kamlah, Andreas 26 Kämper-Jensen, Heidrun 611f., 615 Kampffmeyer, Georg 510 Kant, Immanuel 8, 19, 33, 46, 93 Kappner, Hermann 645 Karg, Fritz 606 Karg-Gasterstädt, Elisabeth 621 Karl V. 676 Karo, Georg 206 Karsen, Fritz 90 Karsten, T. E. 755 Kaschnitz von Weinberg, Guido 178, 183, 185f. Käsler, Dirk 392, 396, 399, 444 Kassner, Carl 321 Kater, Michael 109f., 136, 834 Katharina II. 296 Katz, David 831ff, 837 Kees, Hermann 502 Kehr, Eckart 446 Kerschensteiner, Georg 105 Kersten, Walter 119, 154ff, 161 Ketteler, Wilhelm Freiherr von 463 Keyser, Erich 275, 283, 294, 300, 307 Kibat, Artur 551 Kibat, Otto 551 Kiekebusch, Albert 148 Kielpinski, Walter von 777 Kimmig, Wolfgang 156f., 160, 162 Kindermann, Heinz 630, 634, 639, 641, 864, 867, 876, 886f., 889ff, 898 King, Leonard 488 Kiparsky, Valentin 755f. Kirchberger, Margarete 389 Kirchhoff, Alfred 363 Kirfel, Willibald 66, 535 Kisch, Guido 480 Kittel, Gerhard 58, 79, 81f. Klages, Ludwig 78, 829f., 846, 848 Klagges, Dietrich 129, 147 Kleczkowsky, A. 721 Klein, Hedwig 514f. Klein, Johannes 644f.
PERSONENREGISTER Klemm, Otto 790, 812ff, 822, 833 Klemperer, Victor 357, 475, 688 Kleßmann, Christoph 289 Klibansky, Raymond 26 Klima, Josef 473 Klocke, Helmut 423f., 427 Klopstock, Friedrich Gottlieb 318 Kluckhohn, Paul 633f. Kluge, Friedrich 590, 592, 615 Klute, Fritz 382 Knieriem, Friedrich 385 Knilling, Eugen Ritter von 771 Knoblauch, Peter 205 Knobloch, Clemens 587, 594, 610 Knoll, Kurt 325 Knudsen, Hans 864f., 869, 876, 884ff Koch, Franz 869 Koch, Hans 296ff, 308, 310, 321, 323f., 489 Koch, Herbert 173 Kochs, Theodor 606 Koellreutter, Otto 448 Koepp, Wilhelm 67 Koethe, Harald 181, 195 Koettgen, Arnold 448 Kogon, Eugen 463, 465 Kohl, Helmut 463 Köhler, Wolfgang 832f., 842 Kolbenheyer, Moritz 315 Kommerell, Max 620 König, Christoph 626, 628 König, René 396, 399, 434, 436f., 439 Kopitar, Bartholomäus 740 Koppe, Wilhelm 720 Korbut, Gabriel 720 Korn, Karl 397 Korn, Adolf 606 Korošec, Viktor 473 Körting, Gustav 673 Koschaker, Paul 473, 477ff, 491, 494ff, 501f. Koschmieder, Erwin 733f., 744, 750 Koselleck, Reinhart 821 Kossack, Georg 110 Kossinna, Gustaf 113, 117, 119, 122f., 129, 149, 178 Kost, Klaus 379 Kötzschke, Rudolf 266, 271f., 274, 276f., 279, 283 Krader, Lawrence 551 Krader, Ruth 551 Kraft, G. 160 Krahe, Hans 193 Kralik, Dietrich von 607 Krallert, Wilfried 239f. Kranzmayer, Eberhard 610, 621, 735 Kraus, Carl von 586 Kraus, Fritz-Rudolf 473, 494, 513, 515
PERSONENREGISTER Kraus, Paul 474, 494, 513 Krause, Friedrich Ernst August 551f. Krause, Wolfgang 621, 695 Krencker, Daniel 203 Kretschmer, Ernst 787, 829f., 838f. Kretschmer, Paul 321 Kretzschmar, Hellmut 285 Krieck, Ernst 7f., 10, 12, 19, 24, 36ff, 45ff, 76, 90, 92ff, 213, 329, 413, 451f., 839 Krischen, Friedrich 202 Krogmann, Willy 606 Kroh, Oswald 93, 96f., 103, 836f., 839, 841, 844f., 852, 854, 857 Kroll, Frank-Lothar 119, 122 Krückmann, Oluf 474, 479, 500f. Krueger, Felix 812, 814, 830, 832, 836f. Krüger, Anna 606 Krüger, Arnd 784 Krüger, Fritz 688 Krüger, Gerhard 405f., 772 Krüger, Michael 784 Krumbacher, Karl 715 Krümmel, Carl (Karl) 781, 785, 788ff, 799, 805, 807f., 816, 820, 822 Kuby, Erich 853 Küchler, Walther 676, 678, 688, 822 Kuen, Heinrich 681 Kuhn, Ernst 493 Kuhn, Franz Walther 552f. Kuhn, Hans 695, 706f., 710 Kuhn, Hatto 553 Kühn, Herbert 133, 135 Kuhn, Hugo 608 Kuhn, Karl Georg 82f., 516 Kuhn, Thomas S. 792 Kühnel, Ernst 506 Kuhnen, Hans-Peter 124 Kühnert, Franz 573 Kujew, F. M. 325 Külpe, Oswald 93 Kümmel, Otto 489, 538, 552, 554, 567 Kummer, Bernhard 69, 73f., 699, 703ff, 708 Kunisch, Hermann 606 Kunstmann, Walther G. 473 Kunze, Emil 178, 195 Kunze, Walter 621f. Küppers, Gustav Adolf 332 Kuske, Bruno 272 Kutsch, Ferdinand 130f. Kutscher, Artur 872, 878ff, 890 Kuttner, Stephan 553 Kutzner, Oskar 95 Laakmann, Heinrich 756 Lacroix, Wilhelm 93 Lammers, Hans Heinrich 448f., 461, 475 Lämmert, Eberhard 627
909 Lamprecht, Karl 39, 54, 252f., 265f., 269f., 277, 279, 288, 291, 308 Landsberger, Benno 473ff, 482, 486, 491, 493ff, 497, 511, 515 Landshut, Siegfried 465 Landt, Erhard 495f. Langen, August 610 Langen, Wolfgang 619 Langlotz, Ernst 173, 189 Langosch, Karl 606 Langsdorff, A. 119, 127ff, 130, 132, 135, 142f., 150 Lapouge, Vacher de 679 Laqueur, Richard 213 Lasch, Agathe 592, 595, 598, 623, 643 Laubert, Manfred 740 Laude, Achim 784 Lauffer, Otto 340, 344 Laugstien, Thomas 24 Lautensach, Hermann 360 Lautner, Julius 473 Lauwers-Rech, Magda 628 Lazarsfeld, Paul 832 Lazarus, Moritz 342f. Le Coq, Albert von 508 Leaman, George 24f., 30, 39 Leberecht, Heinrich 493 Ledebur, Ruth 650 Leers, Johann von Leese, Kurt 60 Legge, James 561 Lehberger, Reiner 650 Lehmann, Friedrich Rudolf 68f. Lehmann, Gerhard 36, 44 Lehmann, Hartmut 650 Lehmann, Heinz 457 Lehmann-Hartleben, Karl 195, 203 Leibbrandt, Georg 301, 743 Leibniz, Gottfried Wilhelm 318 Leidinger, Georg 560 Lemberg, Eugen 430, 432 Lemke, Eberhard 412 Lenard, Philipp 9, 34 Lennartz, Karl 787 Lenz, Friedrich 440f. Lepsius, M. Rainer 394, 435f. Lepsius, Richard 321 Lerch, Eugen 675 Lersch, Philipp 833ff, 846, 848, 857 Leske, Monika 30, 32f. Leskien, August 745f. Lessing, Ferdinand Diederich 553, 568 Leube, Achim 155 Lévy-Bruhl, Lucien 347, 407 Lewin, Günther 574 Lewin, Kurt 831, 842
910 Lewy, Hildegard 475 Lewy, Julius 473ff, 483, 513 Leyden, Friedrich von der 389, 596f., 599, 621f., 698, 707f. Lichtenstädter, Ilse 513 Lidzbarski, Mark 510 Liebenthal, Walter 554 Lieber, Hans Joachim 435 Liechtenstein, Fürst Franz von und zu 291 Lienau, Walter 772 Lietz, Hermann 105 Liewehr, Ferdinand 735 Linde, Hans 418, 423, 435 Lindner, Erich 807 Lindqvist, Axel 643f. Lippe, Ernst Aschwin 554 Lippmann, Otto 833 Lippold, Georg 203 Lisch, G.-C. 149 Litt, Theodor 98, 102f. Littmann, Enno 60, 519 Lochner, Rudolf 93, 103 Loesch, Karl Christian von 293, 332, 416, 457 Loewe, Fritz 389 Loewe, Victor 275 Löffler, Hermann 237, 243 Löhr, Max 554 Lohse, Hinrich 759 Lommatzsch, Erhard 58 Longert, Wilhelm 407 Lorentz, Friedrich 205, 722ff Lorenz, Konrad 851 Lösch, Niels 842 Löwenthal, Rudolf 555 Löwith, Ernst 38 Lübbe, Hermann 49 Lück, H. E. 787 Luckwald, Erich von 334 Ludendorff, Erich 664 Lüdtke, Alf 338 Ludwig, Emil 204 Lundgreen, Peter 626 Lütgens, Rudolf 367 Luther, Martin 63f., 632 Lutz, Burkhart 433 Maas, Utz 587, 595f., 598, 626, 633 Machatschek, Friedrich 314, 321, 325, 327 Mackenroth, Gerhard 435f., 439 Mahnke, Horst 465 Mahr, Adolph 779 Maischberger, Martin 208 Majkowski, Aleksander 722 Mänchen-Helfen, Otto 555 Mandel, Hermann 71, 80 Mann, Thomas 49, 349, 351, 640ff, 879f., 883f. Mannheim, Karl 397
PERSONENREGISTER Manthei, Erich 621 Marbe, Karl 833 March, Otto 792 Marchand, Suzanne L. 171 Marchet, Arthur 891 Marck, Siegfried 25 Marcuse, Herbert 24, 27, 38 Markert, Werner 296, 308 Martin, Ilse 555 Martin, William J. 473 Martini, Fritz 636ff Martl, Josef 319, 321 Marx, Karl 401, 437 März, Josef 321 Maschke, Erich 229, 245, 283f., 299 Masnig, Gerhard 757 Massow, Wilhelm von 195 Matouš, Lubor 473, 494 Mattes, Peter 856 Matthes, W. 163 Mattiat, Eugen 61ff, 80 Matz, Friedrich 178, 183ff, 195, 204 Matz, Werner 606 Maull, Otto 360 Maurer, Friedrich 620, 623 Maurer, Leo 620 Maus, Heinz 338, 401 Mayer, Theodor 485 Mazon, Andre 730 Meckelein, Richard 717 Mecking, Ludwig 365 Meek, Th. J. 487 Mehl, Erwin 807 Meier, Franz-Joseph 555 Meier, Gerhard 474, 494 Meier, Harri 687 Meier, Paul 449 Meier-Böke, August, 140 Meinberg, Eckhard 786 Meinecke, Friedrich 223f., 730 Meinhold, Helmut 302 Meissner, Bruno 472f., 476ff, 481, 486, 491, 511 Meißner, Paul 663, 665 Meißner, Rudolf 606, 695 Meister, Peter Wilhelm 556 Mende, Gerhard von 762 Mendelssohn Bartholdy, Albrecht 460 Menges, Karl 515, 522 Menghin, Oswald 153, 321 Menghin, Wilfried 147 Mennicke, Carl 90 Mensching, Gustav 65ff, 71, 84f. Mentzel, Rudolf 136, 775 Menzel, Theodor 508 Mergenthaler, Christian 72 Merhart, Gero von 120f., 124, 130, 149, 152, 162
PERSONENREGISTER Meriggi, Piero 556 Merkel, Rudolf Franz 64f., 67 Messer, August Wilhelm 25 Messerschmidt, Franz 178, 193f. Metz, Friedrich 272, 365, 385 Metzger, Wolfgang 835, 857 Mevissen, Gustav 269 Meyer, Arnold Oskar 241, 275 Meyer, Eduard 472, 488, 763 Meyer, Karl Heinrich 718, 729, 732f., 740 Meyer, Konrad 420, 423 Meyer, Kuno 763ff Meyer-Erlach, Wolf 80 Meyerhof, Max 515 Meynen, Emil 360, 366, 369 Michael, Franz 556 Michael, Theodor-Andreas 417 Michels, Robert 392 Micko, Heinrich 606 Miklosich, Franz 745 Miltner, Franz 215 Milton, John 654 Mirtschuk, Ivan 741 Misch, Georg 26, 99 Mish, John 556 Mistral, Frédéric 673 Mittwoch, Eugen 513 Mitzka, Walther 618, 620f. Möbius, Hans 192 Möckelmann, Hans 807 Moede, Walter 830 Moeller van den Bruck, Arthur 75, 92, 447 Mogk, Eugen 73, 347 Mohr, Wolfgang 556 Moldenhauer, Gerhard 680 Mommsen, Hans 246 Mommsen, Theodor 211f., 218 Mommsen, Wolfgang J. 271 Mönch, Walter 687f. Morgen, Herbert 422f. Morris, Charles 27 Mortensen, Hans 383 Möser, Justus 269 Motyková, Karla 153 Moule, Arthur Christopher 547 Much, Rudolf 594 Muchow, Martha 826 Mueller, Herbert 557 Mühlen, Leo von zur 734 Mühlenbach, Karl 745 Mühlenweg, Fritz 557 Mühlhausen, Ludwig 767f., 770f., 773ff, 779 Mühlmann, Wilhelm Emil 332f., 402, 436f., 442 Mulert, Hermann 66 Mulertt, Werner 670 Müller, F. W. K. 544
911 Müller, Friedrich Max 52 Müller, G. E. 825 Müller, Josef 267 Müller, Karl Alexander von 256f., 279 Müller, Karl Friedrich 473, 494 Müller, Karl Valentin 204, 328, 332, 425f., 432, 436f. Müller, Lionel 552, 557 Müller-Armack, Alfred 435, 437 Münch, Rudolf 655f. Münster, Hans A. 313 Munsterberg, Hugo 557 Münzel, Karl 606 Murko, Matthias 715 Mutschmann, Martin 475 Nadler, Josef 628, 634, 639, 641, 891 Nakonetschna, Hanna 735 Narr, Kurt 110 Nash, Ernest 207 Nathan, Ernst 207 Natorp, Paul 33 Naumann, Friedrich 446, 708 Naumann, Hans 346ff, 355, 358, 607, 625, 695 Nave-Herz, Rosemarie 434 Neckel, Gustav 693, 695, 705, 708 Neef, Hans 571 Nehring, Alfons 594, 621 Nelson, Leonard 855 Nesselmann, Georg Heinrich Ferdinand 756 Nestroy, Johann 895 Netzer, Hans 99 Neubert, Fritz 676, 686 Neuendorff, Edmund 784, 787f., 795 Neuffer, E. 157 Neugebauer, Karl Anton 207 Neugebauer, Otto 475, 495 Neuloh, Otto 433 Neumann, Friedrich 42, 607, 667, 731f. Neumann, Hans 597, 606 Neumann, Sigmund 448 Neundörfer, Ludwig 419ff, 428ff, 437f. Neurath, Konstantin Freiherr von 460 Nickel, E. 155, 163 Niedecken-Gebhard, Hanns 866f., 875, 886 Niederführ, Hans 891 Niedermayer, Oskar Ritter von 369, 506 Niedlich, Joachim Kurd 346 Niekisch, Ernst 94 Niemöller, Martin 305 Niessen, Carl 869ff, 883, 886f., 889ff Nietzsche, Friedrich 8, 19, 32, 34, 38, 47, 94, 621, 711 Nipperdey, Thomas 337, 340 Nitsch, Kazimierz 721, 724 Nobel, Johannes 557 Nobel, Nehemia Anton 56
912 Noelle-Neumann, Elisabeth 434, 442 Nohl, Herman 21, 98f., 101f., 105, 801 Nolte, Ernst 21 Norden, Eduard 60 Nyberg, H. S. 518 Ó Conaire, Padraig 766 O´Connell, Charles Thomas 443 Ó Siochfhardha, Padraig 766 Oberkrome, Willi 249 Oberländer, Theodor 298, 300, 307, 443, 720 Obst, Erich 360, 367f. Oelmann, Franz 142f., 195 Oertel, Friedrich 66 Oertel, Hanns 78 Oexle, Otto Gerhard 249, 278, 650 Ognjanov, Ljubomir 327 Ohlendorf, Otto 404 Ohlmarks, Åke 81 Ohly, Friedrich 608, 610 Olbricht, Peter 558 Olesch, Reinhold 729 Olschki, Leonardo 558 Olt, Reinhard 611 Oncken, Hermann 241, 276 Opitz, Dietrich 474, 494 Oppenheim, Alfred 558 Oppenheim, Baron Max von 490, 510 Oppenheim, Leo 495 Oppenheimer, Franz 392, 397 Oppermann, Hans 215f. Ost, H.-G. 721 Österreich, Traugott Konstantin 831 Otte, Friedrich 574 Otten, Heinrich 500 Otto, Berthold 105 Otto, Rudolf 55, 57, 65 Otto, Walter F. 57 Pabst, Klaus 782 Paetzel, Walter 606 Palme, Anton 517 Panzer, Friedrich 594, 612f., 622 Papcke, Sven 391ff Pape, Wolfgang 121, 124, 129, 145 Papen, Franz von 100, 260 Papritz, Johannes 720 Paret, Rudi 521 Parsons, Talcott 442 Partsch, Joseph 370, 387 Passarge, Siegfried 365ff Paul, Hermann 586, 590 Paulsen, Friedrich 98, 715 Paulsen, Peter 155 Paulsen, Rudolf 194 Payr, Bernhard 412 Pearse, Padraig 766 Pelliot, Paul 568
PERSONENREGISTER Penck, Albrecht 275, 293, 363, 366, 388 Perikles 216 Pernitzsch, Max Gerhard 558, 579, 583ff Perzyński, Friedrich 559 Petermann, Bruno 96 Peters, Alfred 788 Peters, Wilhelm 826, 829, 831, 836f., 857 Petersen, Carl 423 Petersen, Ernst 132, 154f., 159, 161 Petersen, Julius 591, 606, 634, 865ff, 878, 886f., 889 Petersen, Peter 93, 95, 105 Petri, Franz 245, 248, 253, 256, 262, 272, 280f., 283 Petriconi, Hellmuth 681 Petschow, Herbert 473 Peuckert, Will-Erich 341 Pfahler, Gerhard 97, 831, 833f., 841, 843ff, 852, 857 Pfalz, Anton 607 Pfeffer, Karl Heinz 401ff, 405, 417, 422f., 436, 451f., 456, 458, 462, 464ff Pfeiffer, Lorenz 782, 786, 788f. Pfeiffer, Ludwig 649, 660, 666 Pfeil, Elisabeth 431f., 434, 436 Pfeilschifter, Georg 318 Pfenning, Andreas 402, 413 Pfister, Friedrich 79 Pfister, Max 684 Pfitzner, Josef 292 Pflaum, Renate 434 Philipp, Werner 308 Philippson, Ernst Alfred 389, 597 Piasek, Martin 574 Pinder, Wilhelm 330 Pines, Salomon 513 Pinsker, Bernhard 131 Piscator, Erwin 885 Pittioni, Richard 153 Plaßmann, Josef Otto 354, 704 Platon 34, 42, 44 Platzhoff, Walter 243 Plenge, Johann 392 Plessner, Helmuth 37, 44 Plessner, Martin 513, 515 Pleyer, Kleo 242 Plinius 756 Pohl, Anton 474 Pohl, Robert Wichard 483 Pokorny, Julius 764ff, 773f. Polenz, Peter von 615, 624 Pollock, Friedrich 27 Pongs, Hermann 628, 634 Popitz, Heinrich 433, 885 Poppe, Nicholas 442 Poppe, Nikolaus 559
PERSONENREGISTER Poppelreuter, Walter 830, 833f. Popper, Karl 24 Porada, Edith 495 Predöhl, Andreas 403 Pretzel, Ulrich 606, 609, 620ff Preyer, Johann 314 Pringle, Heather 109, 119 Pröbster, Edgar 506 Pyritz, Hans 606, 869 Rade, Martin 63 Radig, Werner 155, 302 Ramge, Hans 611, 615 Rammelmeyer, Alfred 741 Randow, Elgar von 559 Ranke, Friedrich 596, 598 Ranke, Kurt 606 Ranke, Leopold von 261, 290 Raphael, Lutz 651 Rassow, Peter 284 Ratchnevsky, Paul 536, 560 Ratzel, Friedrich 362f., 383, 387 Rauhut, Franz 681 Raumer, Kurt von 230, 243 Raupach, Hans 424, 439 Rausch, Erwin 857 Reche, Otto 723, 725 Recke, Walter 720 Rehm, Walther 620 Reichardt, Konstantin 596, 695, 708 Reichenbach, Hans 25, 37f. Reichenkron, Günter 323, 687f. Reichwein, Adolf 560 Reichwein, Georg 92, 104 Reifler, Erwin 560 Reigrotzki, Erich 436 Rein, Adolf 40 Rein, Johann Justus 362 Rein, Wilhelm 95 Reinerth, Hans 118, 120f., 124ff, 128ff, 131ff, 138, 141f., 145, 162ff, 180, 197, 772 Reinhardt, Max 881 Reismüller, Georg 493, 560 Reiswitz, Albrecht von 321 Renthe-Fink, Cécil von 850 Rescher, Oskar 515 Reusch, W. 160 Reuschel, Karl 346 Rheinfelder, Hans 681 Rhesa, Ludwig Gedimin 744 Rhode, Gotthold 310 Rice, D. C. 523 Richter, A. 745 Richter, Hans 672 Richter, Otto 574 Richthofen, Bolko von 120, 125, 132f., 135ff, 145, 163, 772
913 Richthofen, Ferdinand von 362 Rickert, Heinrich 12, 47 Riefenstahl, Leni 186 Rieffert, Johann Baptist 830, 832f. Riehl, Aloys 43 Riehl, Hermann 270 Riehl, Wilhelm Heinrich 252, 340 Riek, Gustav 119f., 142, 156, 162, 164 Rilke, Rainer Maria 880 Ringelnatz, Joachim 879 Ringer, Fritz 91 Risse, Heinz 787 Ritter, Carl 387 Ritter, Gerhard 249, 255 Ritter, Gerhard A. 254 Ritter, Hellmut 509 Ritterbusch, Paul 30, 243, 369, 374ff, 404, 420, 520, 630, 664f., 686 Rock, Josef Franz Karl 561 Rodenwaldt, Gerhardt 180, 194 Roethe, Gustav 634 Rohlfs, Gerhard 677, 680 Röhling, Horst 747 Rohracher, Hubert 835 Ronneberger, Franz 443, 465 Roosevelt, Theodore 764 Rooth, Erik 643 Rörig, Fritz 720 Roscher, Wilhelm 269 Rose, Fritz 644 Rösel, Gottfried 561 Rosenberg, Alfred 29, 36, 38, 47f., 62, 75f., 84, 89, 92, 94, 102, 107, 109f., 118ff, 120ff, 129ff, 132ff, 135ff, 138f., 145ff, 151f., 158, 163, 165, 183, 212, 216, 214f., 301, 353f., 391, 398, 403, 405, 407, 411f., 415, 442, 461, 515, 643, 704, 734f., 743 Rosenthal, E. I. J. 513 Rosenthal, Franz 513, 516 Rosenzweig, Franz 56f. Rossbach, Gerhard 770 Rößler, Otto 499 Rössner, Hans 777 Rosthorn, Arthur von 555, 561f. Roth, Eugen 879 Roth, Karl Heinz 301 Roth, Rudolf 55 Rothacker, Erich 36f., 39f., 45, 50, 66, 400, 842f. Rothert, Liebetraut 149 Rothfels, Hans 254, 275f., 282, 294, 298f., 307 Rottauscher, Anna 561 Roussell, Erwin 548, 562 Rübel, Heinrich 280 Rubensohn, Otto 207 Rückert, Friedrich 503 Rudelsberger, Hans 562
914 Rüdenberg, Werner 562 Rudert, Johannes 857 Rüdin, Ernst 842 Rudnyckyj, Jaroslav 735 Rudolph, Martin 148 Rühl, Alfred 389 Rumpf, Max 404 Russell, Bertrand 23 Rust, Bernhard 7f., 10, 12, 61f., 89, 92, 107, 131, 134, 138, 150, 324, 329, 377, 379, 459, 475, 610, 701, 719, 737, 804f. Sacke, Georg 291, 295ff, 306, 719 Sahner, Heinz 438 Salmoni, Alfred 563 Salomon, Richard 291, 294, 305 Samson, Otto William 563 San Nicolo, Marian 495 Sander, Friedrich 837, 841, 845, 857f. Sapper, Karl 360 Sarre, Friedrich 514 Sauckel, Fritz 391, 415f., 705 Sauer, August 634 Sauer, Wolfgang Werner 632 Sauerbruch, Ferdinand 330, 808 Sauermann, Heinz 435, 438 Saurbier, Bruno 784, 786, 807 Saussure, Ferdinand de 590, 592 Savigny, Friedrich Karl von 341 Schaade, Arthur 505 Schachermeyr, Fritz 213f. Schacht, Joseph 513 Schadewaldt, Hans 758 Schaeder, Hans Heinrich 67, 474, 513f., 516f., 519 Schaeder, Hildegard 297, 305f. Schaeffer, Philipp 563 Schäfer, Dietrich 270, 280 Schäfer, Ernst 372f., 520, 763 Schäfer, Martina 151 Schahname, Firdosis 519 Schalk, Fritz 677, 681 Scharff, Alexander 243f. Schaudinn, Heinrich 759 Schawe, Josef 474 Schede, Martin 198, 489 Schedel, Josef 563 Scheel, Fritz 720 Scheel, Helmuth 520 Schefold, Karl 206 Scheftelowitz, Bruno Benjamin 206 Scheftelowitz, Isidor 60, 205f., 507 Scheibe, Wolfgang 99 Scheler, Max 34, 392, 406 Schelsky, Helmut 403, 408, 412, 432f., 435ff, 439, 444, 465, 468 Schenke, Wolf 574
PERSONENREGISTER Scherer, Wilhelm 589 Schering, Walter Malmsten 833 Scherman, Lucian 564 Scheunemann, Ernst 606, 608f. Schick, Hans 243 Schieder, Theodor 229, 243, 246, 248, 282ff, 294, 299, 301, 307 Schiemann, Theodor 290f., 296, 310, 763 Schier, Bruno 317 Schierlitz, Ernst 564 Schiff, Alfred 787 Schiff, Jacob H. 510 Schiller, Friedrich 817, 869 Schimmel, Annemarie 521 Schindler, Bruno 564, 571 Schinkel, Karl Friedrich 446 Schirach, Baldur von 150, 227, 335, 875, 890f. Schirokauer, Conrad Max 564 Schlegel, Friedrich 503 Schlegelmilch, Dana 152, 162 Schleicher, August 742 Schleiermacher, Friedrich 406 Schleif, Hans 155, 200 Schlesinger, Walter 225 Schlick, Moritz 38 Schliebe, Georg 835ff Schliemann, Heinrich 176, 204 Schlobies, Hans 474 Schlögel, Karl 388 Schlösser, Rainer 875f., 884ff, 892 Schmaus, Alois 324, 334 Schmid, Heinrich Felix 716 Schmidt, Eduard 194 Schmidt, Erich 866 Schmidt, Gert 433 Schmidt, Martin 116, 147 Schmidt, Raymund 33f. Schmidt, Uwe 434 Schmidt, Wilhelm 60 Schmidt, Wolfgang 655, 662ff, 666 Schmidtke, Friedrich 473, 479 Schmidt-Ott, Friedrich 373, 379 Schmidt-Pretoria, Werner 457 Schmidt-Rohr, Georg 612, 618ff, 623 Schmieder, Oskar 373ff, 377ff Schmithüsen, Josef 385 Schmitt, Carl 455 Schmitt, Ludwig Erich 609, 621ff, 565 Schmitthenner, Heinrich 565 Schmitthenner, Paul 375, 378f. Schneider, Hans Ernst 78, 237f., 776ff (siehe Hans Schwerte) Schneider, Hermann 607, 693 Schober, Rita 688 Schoeps, Hans Joachim 60 Schöffler, Herbert 649, 659ff
PERSONENREGISTER Schole, Heinrich 855 Scholtz, Rudolf 474 Schomerus, Hilko Wiardo 68f. Schönbrunn, Walter 620f. Schönemann, Friedrich 663f., 667 Schönwälder, Karen 249 Schopenhauer, Arthur 32 Schott, Albert 478, 494, 497 Schöttler, Peter 305 Schramm, Percy Ernst 284 Schreiber, Georg 60, 353 Schrepfer, Hans 365, 385 Schreyvogel, Joseph 894 Schröder, Christel Matthias 68ff Schröder, Dominik 565 Schröder, Franz Rolf 607, 635, 678 Schröer, Arnold 872 Schröpfer, Johann 324 Schröter, Manfred 47, 49 Schubert, Johannes 561, 565 Schuchardt, Hugo 671 Schuchhardt, Carl 113, 116ff, 118, 180 Schücking, Levin L. 652 Schulenburg, Willibald von 737 Schulmeister, Otto 333 Schulte, Aloys 267 Schulte, Robert Werner 788 Schulten, Adolf 676 Schultz, Wolfgang 74 Schultze, Otto 95 Schultze, Walter 45, 89, 610 Schultz-Gora, Oskar 670 Schulze, Werner 620f. Schulze, Wilhelm 759 Schulze, Winfried 272 Schulze-Boysen, Harro 458 Schulze-Soelde, Walter 95 Schulz-Kampfhenkel, Otto 371 Schumann, Friedrich 837 Schüssler, Wilhelm 238, 241, 243 Schuster, Hans 336 Schuster, Hans-Siegfried 473, 494 Schütt, Julian 628 Schütt, Marie 666 Schwabacher, Willy 206 Schwalm, Hans 240 Schwantes, G., 119, 129ff, 141 Schwarz, Ernst 566 Schwarz, Henry G. 566 Schwarz, Hermann 23, 74 Schwarz, Michael 735 Schweitzer, Bernhard 183, 475 Schweizer, Bruno 148 Schwendtner, Ernst 606 Schwidetzky, Ilse 735 Schwietering, Julius 606
915 Scurla, Herbert 459, 465, 496 See, Klaus von 692, 710 Seeberg, Erich 61 Seefried-Gulgowski, Ernst 722 Seewann, Gerhard 312, 330 Seger, Hans 150 Seidmann, Moritz 474, 481 Seif, Miriam 477, 494 Seiler, Karl 418 Seip, Didrik Arup 706f., 730 Selz, Otto 831, 856 Seraphim, Hans-Rüdiger 333 Seraphim, Peter-Heinz 300, 304 Seuberlich, Wolfgang 566f. Seyß-Inquart, Arthur 157 Shakespeare, William 651, 654, 662 Siebert, Ludwig 331, 335 Siemsen, Anna 90, 104 Sievers, Kai Detlev 346 Sievers, Theodor 590 Sievers, Wolfram 136, 237, 771 Simeon II. 719 Simmel, Georg 11, 392f., 396 Simon, Ernest Julius Walter 567 Simon, Gerd 587, 626 Simon, Harry Felix 567 Simon, Werner 606 Simoneit, Max 849 Sippel, Hanns 788 Sivers, Erik von 435 Six, Franz Alfred 240, 440, 443, 454ff, 459, 461ff, 464ff, 518, 667 Skladanowsky, Max 874 Slavejkov, Penčo 718 Slotty, Friedrich 760 Sluga, Hans 30, 32f. Smal-Stockij, Roman 735 Smal-Stockij, Stefan 717 Smetánka, Emil 717 Snouck Hurgronje, Christiaan 505 Soden, Wolfram von 477f., 480ff, 484, 486, 490f., 494, 497, 500, 502 Söderblom, Nathan 54 Solms-Roedelheim, Max Ernst Graf zu 419, 435ff, 439f. Sombart, Werner 392, 400, 406 Sommer, Ferdinand 760 Sonne, Christian 429 Soyter, Gustav 314 Spahn, Martin 280 Spamer, Adolf 338, 340, 355ff Spann, Othmar 32, 398, 407 Speer, Albert 174, 448 Speier, Hermine 206 Speiser, Werner 567 Spengler, Oswald 40, 75, 703
916 Sperber, Hans 593, 596, 598, 623f., 708 Spiegelberg, Herbert 26 Spina, Franz 717, 733 Spindler, Robert 656, 659, 883 Spitzer, Giselher 788f., 822 Spitzer, Leo 599, 677f. Spranger, Eduard 21, 98, 100f., 103, 105, 785, 787, 827, 829f. Sprenger, Jakob 428 Springer, Otto 598 Sprockhoff, Ernst 126, 140 Spuler, Bertold 522 Srbik, Heinrich Ritter von 244, 276 Sruoga, Balys 747 Stadtmüller, Georg 319ff Staël-Holstein, Alexander von 571 Stählin, Karl 223, 291, 295 Stamm, Johann Jakob 473 Stammer, Otto 436, 438 Stammler, Wolfgang 611 Stampfuss, Rudolf 163 Stang, Christian 750 Stange, Carl 567, 579 Stange, Hans Otto Heinrich 567f. Stark, Johannes 9, 34 Steding, Christoph 7, 242 Stegmann von Pritzwald, Kurt 734, 743, 759f., 762 Stein, Ernst 213 Stein, Rolf Alfred 568 Steinacher, Hans 367 Steinacker, Harold 244 Steinbach, Franz 248, 268, 272, 274f., 278, 280f., 283ff Steinen, Diether von den 568 Steinhauser, Walter 607 Steininger, Hans 568 Steinitz, Wolfgang 338, 348 Steinthal, Heymann 324f. Steller, Walter 731 Stender-Petersen, Adolf 720 Stengel von Rutkowski, Lothar 80, 415 Stern, Erich 831 Stern, William 826, 831ff, 833, 836 Steuer, Heiko 159, 162, 165 Stiehler, Georg 95 Stoecker, Adolf 241 Stojićević, Anton 718 Stokar von Neuforn, Walter, 119, 135, 157f., 160ff, 163 Stoltenberg, Hans Lorenz 435 Stölting, Erhard 394f. Stone, Shepard Arthur 256 Strack, Adolf 343, 347 Straub, Werner 859 Streck, M. 473
PERSONENREGISTER Streicher, Margarete 788 Strewe, M. Th. 575 Strobel, Hans 75, 352f. Strobel, Michael 121 Stroh, Fritz 612, 615, 618, 622f. Strothmann, Rudolf 509 Stroux, Johannes 490, 719 Strzygowski, Josef 563, 572 Stübel, Hans 568 Stück, Fritz 140 Studentkowski, Werner 66 Studerus, Gottlieb 610 Stumme, Hans 510 Stumpfl, Robert 867, 872, 879, 891 Sturm, Karl Friedrich 93 Suffert, Oskar 146 Suhr, Otto 465 Sünderhauf, Esther 171 Sunkel, Reinhard 227 Süssheim, Karl 514f. Svensson, Sigfrid 356 Tacitus, Publius Cornelius 179, 632 Tackenberg, Kurt 119, 134, 145, 160, 162, 739 Taeschner, Franz 519f. Taeuber, Walter 435 Taeubler, Eugen 213 Tandberg, Marianne 156 Teich, Gerhard 422f. Teichler, Hans-Joachim 789 Tenorth, Heinz-Elmar 105 Termer, Franz 360 Teske, Hans 611 Teucher, Hermann 607 Teudt, Wilhelm 117, 134, 140, 693 Tevenar, Friedrich von 769 Tevenar, Gerhard von 769ff Thaeringen, Günter 155 Thiel, Josef 568f. Thierfelder, Franz 332f., 336 Thiersch, Hermann 204 Thomas, Helmuth 606 Thulstrup, Åke 645 Thurneysen, Rudolf 764, 766 Thurnwald, Richard 400, 435 Tietze, Andreas 515 Tilitzki, Christian 20f., 25, 29, 45 Tille-Hankammer, Edda 596 Tillich, Paul 25, 60, 64, 90 Tode, A. 146 Todt, Fritz 140 Tonn, Willy 569 Tönnies, Ferdinand 392, 399ff Totok, William 329 Trautmann, Reinhold 716, 718, 720, 722, 726f., 729, 733, 740f., 750 Treitschke, Heinrich von 392
PERSONENREGISTER Trier, Jost 592, 594, 598, 607 Trillhaas, Wolfgang 484 Trittel, Walter 569, 579f., 582f. Troeltsch, Ernst 23, 63, 76, 392, 401, 406 Troll, Carl 359f., 371, 375, 377, 379 Trott zu Solz, Adam von 440 Trübner, Karl 615 Tschammer, Hans von 804, 808, 817 Tschirch, Fritz 606 Tseng Yu-ho (Ecke, Betty) 540f. Tyrell, Albrecht 434 Ueberhorst, Horst 784 Uebersberger, Hans 225, 290f., 295ff, 310, 720 Uhlemann, Heinz 161 Uhlig, Carl 367 Umbras, A. 752 Unger, Eckhard 478, 483, 489ff Unger, Rudolf 634 Ungnad, Arthur 487, 497f. Unkrig, Wilhelm Alexander 569 Unverzagt, Wilhelm 117, 119, 144, 150f., 163 Urssen, Ernst 754 Uslar, Rafael von 143 Usov, Vladimir 566 Utikal, Gerhard 322 Vacano, Otto Wilhelm von 200 Vahlen, Theodor 719, 737 Vakarelski, Christo 717 Valjavec, Fritz 314, 325, 327f. Vaskovics, Lazlo A. 434 Vasmer, Max 714, 716f., 719, 721, 723, 728ff, 733f., 736f., 739ff, 756, 758 Vater, Johann Severin 744 Veit, Ilza 569 Vierkandt, Alfred 392 Virchow, Rudolf 343 Vittinghoff, Friedrich 216 Vladikin, L. 326 Vogel, Werner 570 Vogt, Joseph 213ff Vogt, Walter Heinrich 695 Vogt, Walther 607 Volkelt, Hans 96 Volkmann, Hans-Erich 330 Volz, Wilhelm 275, 388 Voretzsch, Karl 673, 676 Voß, Hans von 849 Voßkamp, Wilhelm 626, 698 Vossler, Karl 674, 676f., 681, 822 Vries, Jan de 708 Wach, Joachim 54f., 59, 69 Wache, Walter 225, 229f. Wachler, Max 621 Wächter, Paul 839 Wacker, Otto 136, 410 Wagner, Fritz 243
917 Wagner, Hans Otto 770 Wagner, Winfried 875 Wahle, Ernst 119 Waibel, Leo 389 Wais, Kurt 677 Waismann, Friedrich 24 Walker, Mark 9 Walther, Andreas 395, 398, 401f. Walz, Gustav Adolf 324 Walzel, Oskar 634 Walzer, Richard 513, 515 Warburg, Max 460 Warneken, Bernd Jürgen 343 Wartburg, Walther von 677, 682ff Waschow, Heinz 474, 494 Wasow, Iwan 325 Wauker, Marco 299 Weber, Alfred 392, 426, 447, 449 Weber, Carl August 663, 665, 667 Weber, Klaus 856 Weber, Margarete 580 Weber, Max 42, 392f., 401f., 406, 412ff, 435, 437, 446f. Weber, Thomas 39 Weber, Wilhelm 213f., 238 Weber-Kellermann, Ingeborg 434 Wechßler, Eduard 670ff Wedekind, Frank 880, 883 Wedemeyer, André 570, 579 Wegener, Georg 570 Wegener, Herbert 606 Wehler, Hans-Ulrich 358 Wehr, Hans 515 Weibull, Curt 644 Weickmann, Ludwig 59 Weigand, Edmund 321 Weigand, Gustav 312, 335, 718 Weil, Gotthold 515f. Weil, Hans 90, 99 Weinbender, Johannes 621f. Weingart, Peter 390 Weinhandl, Ferdinand 29 Weinhold, Karl 341ff Weinreich, Otto 79 Weinrich, Friedrich 68, 80 Weinstock, Heinrich 101, 103 Weippert, Georg 435 Weischer, Christoph 434 Weisgerber, Leo 593f., 611f., 618ff, 623, 631, 634, 768, 776ff Weiss, Ruth 570 Weissbach, Franz Heinrich 473, 476, 483, 489 Weisthor (Willigut), Karl-Maria 128f. Weitzmann, Kurt 205 Wellander, Erik 643 Welleks, Albert 857
918 Weller, Friedrich 536, 570 Weniger, Erich 101f. Wenke, Hans 101, 103, 468 Wentzcke, Paul 274 Wenzl, Aloys 25 Werner, Heinz 831 Werner, Joachim 157, 162, 195 Werner, Karl Ferdinand 249, 263 Werner, Walter 787 Wertheimer, Max 826, 831, 833, 856 Wesche, Heinrich 606, 609 Wesle, Carl 606 Westarp, Kuno Graf von 763 Wetzel, Heinz 790, 809, 811ff, 815 Whorf, Benjamin Lee 593 Wickert, Erwin 575 Wiegand, Theodor 126, 130f., 489 Wiegers, F. 119 Wiese, Benno von 632 Wiese, Leopold von 395f., 399f., 435, 437, 439, 444 Wiesner, Joseph 178 Wilde, Kurt 845 Wildhagen, Eduard 357f. Wildt, Klemens 787 Wildt, Michael 226 Wilhelm I. 753 Wilhelm II. 344, 722 Wilhelm, Hellmuth 571 Wilhelm, Richard 537 Wilhelm, Theodor 103, 105 Wilhelms, Richard 562 Will von Seder, K. 153, 159 Wille, Hermann 117, 140 Willimczik, Klaus 784 Willkomm, Dorothea 329 Winckelmann, Johann Joachim 171, 179, 183, 186 Windelband, Wilhelm 12 Windisch, Ernst 764, 768 Windisch, Karl Gottlob von 327 Winkelnkemper, Peter 441 Winkler, Emil 677 Winkler, Hans Alexander 55, 59f., 509, 513 Winkler, Martin 291, 296 Winter, Carl 745, 750, 760 Winter, Eduard 292, 309 Winterfeldt, S. R. von 539 Wirsing, Giselher 334 Wirth, Herman 69, 77f., 117, 134, 140, 693 Wirth, Paul 726, 731, 737, 740f.
PERSONENREGISTER Wirtz, Hans 571 Wirz, Franz 89 Wissmann, Wilhelm 606 Wist, Hans 563, 571 With, Karl 571 Witte, Johannes 62, 64, 75, 572, 705 Wittek, Paul 207 Wittfogel, Karl August 568, 572 Wittram, Reinhard 298, 300, 303f., 307f., 310, 734f., 755ff., 762 Wohl, Andrzej 787 Woitsch, Leopold 562 Wolf, Friedrich August 503 Wolf, Ursula 249 Wolff, Ernst 572 Wolff, Günter 377, 379 Wölfflin, Heinrich 542, 546, 633 Wolfgramm, Eberhard 307 Wolfram, Richard 354 Wolters, Gereon 50 Woltner, Margarete 731, 740 Worms, René 398 Wrede, Walter 198 Wundt, Wilhelm 95, 830 Wünsch, Walter 321 Wurche, Ernst 227f. Wurzbacher, Gerhard 433f., 436, 439 Wüst, Walther 17, 65, 77ff, 237, 240, 372, 520, 700f., 704, 775 Yeh Hsüan 570 Zandtke, Siegfried 325 Zechlin, Egmont 465 Zeiss, Hans, 119, 157, 161 Zenker, Ernst Viktor 573 Zepmeisel, Gustav 802 Zernack, Klaus 289 Ziegenfuß, Werner 436 Ziegler, Matthes 75, 349ff Ziegler, Wilhelm 455, 460, 610 Zielinsky, Tadeusz 719 Ziesemer, Walther 607 Zillian, Erich 848 Zilsel, Edgar 24 Zimmer, Heinrich 60, 763 Zimmerling, Max 574 Zimmermann, Arthur 763 Zimmern, Heinrich 483, 495 Zinn, Kurt 721 Zipfel, Ernst 225 Zotz, Lothar 150, 153f.
Hinweis: Namen in den Fußnoten, in Tabellen und in Literaturaufzählungen fanden keine Berücksichtigung im Register.
ORTSREGISTER Aachen 371, 538 Aligarh 505 Amsterdam 112, 798 Ankara 479f., 501, 540, 545 Ann Arbor 472 Antwerpen 548 Arnsberg 135 Ascona 549 Assur 472 Athen 190, 198, 205f., 316, 321, 523, 817 Auschwitz 67, 283, 856 Babylon 472 Bad Harzburg 465, 769 Bad Nauheim 364 Bagdad 501, 556 Baltimore 472, 570 Bamberg 564 Bangor 764 Banin 769 Basel 78, 205f., 542, 559, 596, 694, 866 Batavia 580, 582 Bayreuth 334 Belgrad 324, 608, 895 Bensberg 143 Berkeley 472, 540, 543, 555, 558 Berlin 25f., 29, 42f., 46f., 52, 54, 56, 62, 64, 67, 94, 99f., 103, 111ff, 116, 118, 140, 144f., 147ff, 152, 161, 163, 188, 192f., 195, 197, 203ff, 207, 217, 223, 225, 239ff, 244, 268, 280, 282, 290f., 294ff, 305, 308f., 313, 322, 324, 328, 333ff, 340ff, 355, 357, 366f., 369, 371, 373, 375, 377, 379, 389, 394, 396, 400, 403, 407f., 416, 418, 420ff, 424, 426, 436, 438, 440, 442, 446f., 449f., 453f., 456, 458ff, 466, 469, 471ff, 476ff, 483, 485ff, 489ff, 495ff, 500, 502, 504, 508, 511ff, 516, 520ff, 526, 529, 535ff, 540, 542ff, 554ff, 565ff, 572, 574, 579f., 582f., 595, 597, 625ff, 630, 642f., 648, 653, 663f., 670, 672, 674, 686f., 692, 694, 705, 707, 714f., 717, 719ff, 727, 729ff, 733ff, 740, 742, 745ff, 752, 754f., 757, 759, 763ff, 769, 771, 773f., 779, 789, 792, 794f., 803, 807f., 810, 812, 817, 819, 831ff, 839, 843f., 850, 853, 855, 857ff, 864ff, 869, 884ff, 891, 894f., 897 Bern 43f. Besançon 560 Bielefeld 135, 441 Biskupin 155 Bochum 103, 468, 529, 546, 549 Bonn 39f., 50, 54f., 65ff, 69, 77, 95, 102f., 114, 127, 131, 134, 142, 145f., 156, 160, 162, 195, 203, 225, 227ff, 253, 262, 266ff, 271f., 274, 277f., 280, 285, 291, 294, 349, 359, 375, 377, 379, 389, 464, 473, 487, 494, 497, 535, 540f.,
548, 557f., 565, 607, 625, 663, 669, 692, 695, 710, 715, 739, 759, 764, 766, 768, 778, 830, 833f., 842f., 857f., 869 Braunschweig 65, 129, 140, 146, 148, 164, 398, 607, 672 Bremen 43, 129ff, 149, 280 Breslau 25, 43, 56, 63f., 75, 114, 132, 150, 192, 195, 217, 243, 277, 282, 290ff, 296, 300, 306, 308, 312, 324, 452, 472f., 479, 487, 508, 511, 596, 599, 665, 686, 714f., 720ff, 733, 735f., 738ff, 744, 746, 786, 835 Brockau 854 Brüssel 62, 64, 160, 516, 560, 687, 769f., 776 Bryn Mawr 204 Buchenwald 99 Budapest 327, 412, 895 Buitenzorg 582 Bukarest 322, 408, 423, 687 Cádiz 60 Cambridge 246, 472, 547, 562, 595 Carnac 157 Celle 97, 103 Charlottenburg 792f., 830 Chicago 59, 110, 204, 472, 484, 515, 535, 570 Cincinnati 475 Danzig 275, 294, 300, 364, 720, 722f., 754, 890 Darkehnen 753 Darmstadt 149, 466 Davos 41 Den Haag 441 Detmold 128, 146, 148 Diepholz 140 Doorn 348 Dorpat 318, 596, 734, 745, 756, 761 Dortmund 46, 92, 100, 435, 442 Dresden 38, 46f., 92f., 147, 213, 313, 322, 332, 357f., 574, 688, 762, 793f., 801, 832, 835, 857, 859 Duisburg 163 Durham 205 Düsseldorf 127, 149 Eberswalde 116 Edinburgh 357, 563 Eisenach 61, 80f., 365 El Alamein 499 Elbing 853 Eltville 141 Erfurt 149 Erlangen 60, 114, 203, 205, 352, 418, 465, 538, 568, 612 Essen 140, 334, 885 Firnsburg 140 Fiume 315 Flensburg 103, 772 Florenz 558
920 Forlì 202 Frankfurt am Main 13, 25, 46f., 56, 58, 60, 64, 76, 92, 101, 103, 114, 191, 242f., 246, 248, 278ff, 306, 377, 394, 397, 400, 405, 407, 413, 419ff, 429, 433, 438, 442, 451, 453, 491, 509, 515f., 516, 548, 553, 556, 558, 562, 565, 569, 572, 598, 695, 760, 769f., 831, 833, 865f., 883 Freiburg i. Br. 41f., 95, 111, 162, 190, 195, 278, 414, 439, 464, 552, 589, 614, 636, 643, 710, 719, 736, 750, 785, 831, 850, 857 Galeata 202 Geilenkirchen 162 Genf 326, 592 Gent 548 Germersheim 687f. Gießen 25, 97, 192, 203, 277, 440, 473, 475, 513, 573, 589, 607, 611ff, 760, 764, 785, 801, 807f., 831, 834, 841 Glasgow 596 Gloggnitz 890 Goldap 753 Görlitz 125 Goslar 769 Göteborg 643f. Gotha 551, 894 Göttingen 28f., 42f., 45, 48, 62, 97ff, 102, 162, 195, 204, 279, 299, 306f., 322, 413f., 439, 472f., 483, 491, 494, 497, 499, 502, 515, 547f., 551, 558, 567, 597, 607, 625, 660, 698, 705, 710, 722, 730, 745f., 750, 759, 769, 785, 797, 830f., 832f., 835, 855, 857 Graz 308, 315, 319, 608, 772 Greenburg 597 Greifswald 23, 67f., 81, 95, 195, 205, 309, 487, 508, 521, 692, 721, 729, 731, 755, 785 Grunewald 795 Gumbinnen 753 Haithabu 127, 141, 163 Halle a. d. Saale 62, 69, 75f., 78, 95, 99, 114, 116, 205, 410, 424, 439, 506, 509, 516, 580, 607, 688, 738, 831 Halle-Wittenberg 309 Hallstatt 152 Hamburg 25, 60, 95, 97, 101, 103, 163, 191, 195, 204, 291, 294, 296, 308, 322, 340, 343, 345, 361, 367, 395, 398, 401f., 433, 439, 442, 460, 465, 504, 506, 508, 514, 526, 528, 535, 539, 542, 549ff, 556f., 559, 563, 571, 575, 579, 595f., 598, 642, 655, 672, 688, 708, 715, 730, 738, 760, 768f., 771ff, 785, 801, 826, 831, 833, 835f., 850, 857, 875 Hamm 149 Hang-Chou 556 Hankou 585 Hannover 116, 125, 140, 147ff, 160, 165, 542, 833
ORTSREGISTER Harbin 552, 566 Harvard 205, 557, 664 Heidelberg 7f., 10, 12, 25, 39, 46f., 60, 63, 92, 204, 227, 257, 278, 324, 393f., 396, 400, 402, 413, 419, 439, 447, 449, 453f., 461, 472f., 483, 497, 538, 551, 558, 563, 573, 596, 612, 625, 692, 745, 750f., 760, 785f., 857, 869 Helsinki 755, 895 Herford 535 Heydekrug 753 Hohmichele 142, 164 Honan 584f. Hong Kong 572 Innsbruck 271, 277 Insterburg 753 Istanbul 205, 207, 489, 500, 506, 508f., 514, 539, 597 Jena 68, 73, 80f., 95f., 98, 101, 193, 195, 309, 399, 404f., 410, 414f., 442, 457, 472f., 479, 536, 652, 692, 696, 698f., 705f., 736, 742, 760, 786, 826, 828, 831, 835ff, 859 Jever 70 Jogdauen 747 Kairo 505, 515 Kaiserlautern 278 Kalkutta 559 Kansu 544, 565 Karlsruhe 419 Karthago 215f. Kasan 569 Kassel 140, 322 Kaunas (Kowno) 608, 610, 752, 760f. Kiautschou 580 Kiel 29, 66, 71, 101, 103, 136f., 141, 148, 154, 243, 360, 374f., 388, 400, 403f., 439, 452, 508, 580, 607, 630, 664, 686, 692, 700f., 704, 710, 715, 720, 726, 730, 734, 743, 759f. Kiew 159, 741 Kleinenkneten 140 Knossos 178 Knoxville 597 Kobe 582 Köln 25, 60, 135, 143, 158, 180, 191, 195, 205, 225, 246, 280, 394ff, 399, 434, 439, 441, 507, 516, 537, 543, 545, 549, 563, 567, 571f., 593, 596f., 598f., 621, 660, 686, 698, 708, 786, 867, 869ff, 873ff, 887, 891 Königsberg 44f., 75, 95, 114, 136, 145, 192, 194f., 217, 229, 242f., 276, 282, 291, 294, 296, 298ff, 306, 312, 407, 410, 452, 454, 472, 506, 515, 589, 597, 607, 714, 719, 731, 733, 738, 741, 744ff, 750, 754f., 769, 851, 877, 883 Kopenhagen 608, 619, 700, 702 Krakau 155, 302, 370f., 721, 730 Kumamoto 580, 582 Kurume 580, 582
PERSONENREGISTER Kyoto 582 Kyrene 202 Labiau 753 Laibach (Ljubljana) 718, 730 Lauenburg 729 Lehr-Spławiński 730 Leiden 158, 708 Leipzig 54f., 59, 65, 68f., 85, 95f., 99, 102, 132, 145, 196, 240, 266, 269, 271f., 274f., 277ff, 282, 291f., 296ff, 308ff, 312ff, 319f., 322, 335f., 364, 366f., 375, 377, 394, 412, 417f., 423, 451f., 456, 472ff, 479f., 489, 491ff, 500, 507, 510ff, 515, 526, 540f., 547, 555, 560f., 564ff, 570f., 574, 579, 596, 607, 616, 674, 677, 692, 703, 708, 715, 718, 720, 722, 726, 733, 738f., 745, 746f., 760, 768, 790, 801, 807, 812, 814, 830, 835ff, 857, 859, 866 Leningrad 442, 559 Leptis Magna 202 Limburg 56 Lissabon 687 Litzmannstadt 159 London 207, 441, 451, 472, 494, 560, 562, 567, 595, 799, 874 Los Angeles 572 Lübeck 147, 729 Lund 642f., 831 Lüneburg 97, 103, 430 Lutomiersk 159 Lyon 443, 560 Madrid 674, 687, 895 Magdeburg 144, 163 Mahlsdorf 584f. Mailand 874 Mainz 103, 146, 180, 308, 441f., 539, 566, 687, 731, 857, 875 Mannheim 687f., 831, 856, 894 Marbach 627 Marburg 38, 41, 55, 63, 65, 67ff, 76, 95, 114, 120f., 154, 162, 194, 203f., 224, 229, 280, 306, 330, 464, 472f., 475, 481, 485f., 499, 549, 558, 565f., 574, 618, 644f., 662, 664, 719, 739, 748f., 755, 778, 786, 801, 807f., 810, 833f., 836ff, 855ff Marseille 427 Mauthausen 159 Meiningen 760 Melbourne 535, 567 Memel 753 Metz 160 Michelsberg 140 Midung 753 Minsk 761 Mödling 569 Mönchengladbach 597 Monschau 280
921 Moorsburg 92 Moravany 154 Moskau 305, 440, 667, 802, 883 Mukden 544, 566 München 25, 39, 45, 55, 64f., 76ff, 81, 93, 140, 146, 162, 192f., 205, 225, 227, 237, 239f., 242f., 279, 308, 312ff, 318ff, 325, 327f., 330f., 334, 340, 366, 372, 418, 420, 450, 465, 472f., 480, 492f., 495f., 501, 510f., 514, 535, 537, 542f., 545ff, 554, 560, 562, 564, 569, 580, 583, 586, 621, 627, 643, 674, 680, 686, 700f., 704, 707, 710, 714f., 733f., 738, 744ff, 759f., 771, 775, 831, 835, 839, 842, 857, 866, 869, 872, 876ff, 880, 882ff, 887 Münster 60, 114, 156, 162, 190, 195, 203, 243, 278, 465, 473, 479, 484, 607, 715, 729, 732f., 738, 831, 835, 850, 857, 890, 895 Mykene 176, 178 Nagasaki 582 Nagoya 565 Nanking 585 Nauen-Bärhorst 150 Neuengamme 296 Neustadt bei Friedland 46 Neustrelitz 808 New Haven 472 New York 59, 203, 205, 472, 495, 554, 556, 563f., 570 Newcastle upon Tyne 206 Norderney 843 Nöschenrode 580 Nürnberg 29f., 64, 146, 418, 442, 463f., 629, 667 Odessa 323f., 508, 687 Oerlinghausen 147, 164 Oldenburg 103, 330 Olympia 133, 188, 193, 197f. Osaka 537 Oschersleben 580 Oslo 156, 596, 706, 730 Osnabrück 269 Oxford 203, 472, 515, 538, 561 Paris 40, 43, 45, 409, 451, 472, 475, 535, 551, 560, 573, 674, 687, 730, 769f., 776, 883 Peking 536ff, 544, 547, 549f., 552, 554f., 557, 559, 561, 564f., 570f., 574f., 583 Pfullingen 149 Philadelphia 487, 538f. Posen (Poznań) 155, 240, 282, 303, 371, 608, 715, 734, 761f., 786, 851 Potsdam 203, 207, 260, 349, 536 Prag 153, 217, 230, 240, 292, 319, 375, 424, 426, 436, 608, 714, 717f., 730, 733ff, 746, 786, 807f., 853 Preßburg (Bratislava) 315f., 322, 608 Priene 188 Princeton 205
922 Providence 476 Quedlinburg 131 Radolfzell 147 Ragnit 753 Raknehaugen 156 Ramovš 730 Regensburg 330, 560 Reichenberg (Liberec) 767 Rennes 776 Reutlingen 542 Riga 65f., 300, 318, 595f., 735, 743, 745, 748, 752, 755f., 759ff Rochester 573 Rom 196, 198, 205ff, 212f., 215f., 305, 674, 687, 892 Rostock 97, 110, 137, 196, 309, 508, 607, 698, 801, 831, 869 Rügen 68 Sachsenburg 296 Sachsenhausen 302, 706 Salzburg 29, 881f. San Francisco 570 San Salvador 500 Santiniketan 554 Schneidemühl 369 Schwerin 726 Seattle 556, 559f., 571f. Semnowicz 730 Shanghai 537, 539f., 545, 559f., 562, 569f., 575, 583 Shansi 584f. Shantung 565 Sofia 323ff, 518, 817, 895f. Spandau 793, 795, 797 Sparta 200, 212, 216 Speyer 441f. St. Augustin 565 St. Petersburg 596, 714, 723 Stanford 451, 564 Stockholm 206, 643, 645, 749 Straßburg 78, 157, 160, 181, 192, 194f., 240, 243, 452, 472, 506, 608, 730, 772, 775, 786 Streitau 64 Stuttgart 131, 239, 306, 334, 366, 542, 883 Sydney 451, 491 Sylt 429 Tallinn (Reval) 752, 756 Teplitz (Teplice) 767 Theresienstadt 389, 864 Thessaloniki 321 Tientsin 548, 559, 572, 580 Tiflis 560 Tilsit 747, 753 Tirana 323f., 687 Tokio 536, 572, 582, 802 Tournai 160
ORTSREGISTER Trier 124, 133, 156, 181f., 195, 595 Triest 315 Troia 176, 178 Troppau (Opava) 767 Trundholm 148 Tscherkassy 161 Tsingtao 536f., 571, 580f. Tübingen 29, 55, 58f., 71ff, 78, 82, 95, 97, 103, 120, 126, 162, 196, 227, 251, 330, 339, 480f., 504, 516, 541f., 546, 554, 607, 627, 714f., 772, 786, 829, 831, 834, 836, 857 Unbegaun 730 Unteruhldingen 116, 150 Uppsala 54, 642f. Urbana 572, 597, 764 Uruk 495 Vatikan 206 Warschau 155, 162, 299, 363, 366, 556, 719, 802 Washington 441, 551, 553 Wasserburg 557 Weimar 29, 223f., 253f., 257f., 268, 271, 275, 531, 686, 771f., 783, 894 Weißenfels 81 Wellau 753 Wenden 760 Wernigerode 580 Westerborck 856 Wien (Vienna) 26, 60, 153, 224, 276, 290ff, 308, 315f., 322, 324f., 335, 375, 394, 398, 407, 412, 420, 424, 443, 463, 484f., 499, 531, 536, 542, 544, 546, 551, 555, 557, 561, 563, 566, 570, 572f., 593, 595f., 598, 607, 628, 647, 710, 745, 764f., 769, 786, 807, 826f., 832, 835, 850, 853, 876f., 887, 889ff, 893ff Wieselburg 315 Wilhelmshaven 156, 439f. Wilna 733, 761 Wittlich 182 Wolfenbüttel 164 Wriezen 536 Wunsdorf 789, 802 Wuppertal 549 Würzburg 73, 192f., 225, 380, 472, 492, 568, 595, 607, 833, 857 Xanten 182 Yad Vashem 306 Yale 564, 596, 866 Yenching 538 Yokohama 582 Zagreb 323f., 518 Zara 315 Žitomir 569 Zürich 308, 440, 549, 768 Hinweis: Orte in Fußnoten, Tabellen, Literaturangaben sowie feststehende Begriffe sind nicht im Register aufgeführt
Die nationalsozialistische Politik forderte die Unterwerfung des wissenschaftlichen Denkens und Handelns unter die NS-Ideologie, mithin die völlige Gleichschaltung der Wissenschaften und deren In-Dienst-Stellung in das System. Vor diesem Hintergrund beleuchtet der Band die Rolle kulturwissenschaftlicher Fächer im Nationalsozialismus, insbesondere deren Beteiligung an der „gesellschaftlichen Mobilisierung“, so wie sie von der „Aktion Ritterbusch“ angestrebt wurde. Dabei wird vor allem der Frage nach dem jeweiligen wissenschaftlichen
Selbstverständnis nachgegangen und geklärt, welchen Stellenwert die betreffende Disziplin im Spektrum der „Kulturwissenschaften“ zwischen 1933 und 1945 einnahm. Darüber hinaus untersuchen die Autoren, wie die Wissenschaftler selbst dem Nationalsozialismus begegneten und ob es hier erkennbare Unterschiede zwischen verschiedenen Wissenschaftsgruppen gab. So zeigt sich auch, welche nationalsozialistischen Instanzen „Wissenschaftspolitik“ betrieben – und zu welchem Zweck.
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ISBN 978-3-515-09282-1