Kulturstaat Deutschland: Plädoyer für eine aktivierende Kulturpolitik [1. Aufl.] 9783839404003

Dieses Buch markiert ein neues und zeitgemäßes Verständnis von Kulturpolitik. Der Enquetebericht des Deutschen Bundestag

170 56 2MB

German Pages 310 Year 2015

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Teil 1: Kontext
I Kulturgesellschaft
1. Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik
1.1 Kultur als Wirkungsfeld
1.2 Kultur als Handlungsfeld
1.3 Kultur als Politikfeld
2. Gesellschaftlicher Wandel
2.1 Ökonomisierung
2.2 Globalisierung
2.3 Medialisierung
2.4 Individualisierung
2.5 Pluralisierung
3. Kultur für alle und von allen
3.1 Kultur für wechselnde Minder- und Mehrheiten
3.2 Kulturakteure in Staat, Markt und Zivilgesellschaft
3.3 Kulturpolitik für eine aktivierte Kulturgesellschaft
II. Kulturbürger
1. Bürgerrecht Kultur
1.1 Das Individuum als Bezugspunkt des Kulturstaates
1.2 Vom Bildungsbürger zum Kulturbürger
1.3 Kulturkompetenz als kulturpolitische Zielsetzung
2. Aktive Kulturbürger
2.1 Publikum
2.2 Förderer
2.3 Ausführende
3. Das Individuum als kulturpolitischer Akteur
3.1 Ästhetische Vorprägung
3.2 Autonome Wahrnehmung und kollektive Werthaltungen
3.3 Intersubjektive Verständigung
III. Kulturstaat
1. Kulturstaat als Leitbild
1.1 Kultur als Staatsziel
1.2 Kulturstaatliche Leitbegriff e als Handlungsmaximen
1.3 Kulturpolitik, -arbeit, -verwaltung, -management
1.4 Grundmodell für eine aktivierende Kulturpolitik
2. Kulturpolitische Ebenen
2.1 Föderalismus als Prinzip
2.2 Kommunale Kulturpolitik
2.3 Landeskulturpolitik
2.4 Bundeskulturpolitik
2.5 Europäische Kulturpolitik
3. Aktivierender Kulturstaat
3.1 Politische Dilemmata
3.2 Neue Rolle
3.3 Neue Steuerung
3.4 Neues Leitbild
Teil 2: Kontent
IV. Künste
1. Künstlerische Wertschöpfung
1.1 Wertschöpfungskette
1.2 Künstlerische Genres
1.3 Staat, Markt, Gesellschaft
2. Künstlerische Produktion
2.1 Schutz
2.2 Förderung
2.3 Aktivierung kreativer Milieus
3. Künstlerische Rezeption
3.1 Refl exion
3.2 Zugang
3.3 Vermittlung
V. Geschichtskultur
1. Gestaltung und Wahrnehmung
1.1 Geschichte und Ästhetik
1.2 Instrumente und Inszenierungen
1.3 Exemplarische Themen
2. Infrastruktur der Geschichtskultur
2.1 Historische Museen
2.2 Gedenkstätten
2.3 Archive
2.4 Historische Vereine und Geschichtswerkstätten
3. Identitätsstiftende Aktivierung
3.1 Die identitätsstiftende Wirkung von Geschichtskultur
3.2 Leitlinien für eine aktivierende Geschichtskulturpolitik
VI. Kulturelle Bildung
1. Kraftfeld Individualität
1.1 Selbstwirksamkeit
1.2 Selbstbeteiligung
1.3 Selbstverständnis
2. Infrastruktur der Kulturellen Bildung
2.1 Elementarbereich
2.2 Schulwesen
2.3 Jugendbildung
2.4 Kultureinrichtungen
2.5 Spezifi sche Einrichtungen Kultureller Bildung
3. Ausbau und Aktivierung
3.1 Kulturelle Grundversorgung
3.2 Gesetzliche Regelungen
3.3 Leitlinien für eine aktivierende Politik
Teil 3: Konsens
VII. Kulturelle Öff entlichkeit
1. Konsensfi ndung durch Zielvereinbarung
1.1 Kulturpolitische Ziele
1.2 Kulturpolitische Leitlinien
1.3 Zielperspektiven, Reichweiten und Verantwortlichkeiten
2. Kooperation in der Vielfalt der Akteure
3. Koordination mit Position
VIII. Kreative Allianzen
1. Allianzen mit anderen Politikfeldern
2. Allianzen mit der Bürgergesellschaft
3. Allianzen mit der Wirtschaft
IX. Kulturelle Infrastruktur
Literatur
Recommend Papers

Kulturstaat Deutschland: Plädoyer für eine aktivierende Kulturpolitik [1. Aufl.]
 9783839404003

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Oliver Scheytt Kulturstaat Deutschland

2008-09-02 10-49-17 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 027f188247521232|(S.

1

) T00_01 schmutztitel - 400.p 188247521240

Oliver Scheytt (Prof. Dr.), Jurist und Musiker, ist Kulturdezernent der Stadt Essen, Geschäftsführer der RUHR.2010 GmbH, Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft und war Sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« des Deutschen Bundestages. Als Professor für Kulturpolitik an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg und Autor zahlreicher Publikationen zu Kulturpolitik und -management, Kulturrecht und Kulturelle Bildung ist er ein profunder Kenner der Kulturpolitik in Theorie und Praxis.

2008-09-02 10-49-17 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 027f188247521232|(S.

2

) T00_02 seite 2 - 400.p 188247521256

Oliver Scheytt

Kulturstaat Deutschland Plädoyer für eine aktivierende Kulturpolitik

X T E X T E

2008-09-02 10-49-17 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 027f188247521232|(S.

3

) T00_03 titel - 400.p 188247521304

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: peter087: Reichstag, © Photocase Lektorat: Kai Reinhardt, Bielefeld Korrektorat: Birte Kassenbrock, Bielefeld Satz: Alexander Masch, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-400-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2008-09-02 10-49-17 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 027f188247521232|(S.

4

) T00_04 impressum - 400.p 188247521312

Inhalt Vorwort ................................................................................................. 9

Teil 1: Kontext .................................................................................. 13 I Kulturgesellschaft ............................................................................ 15 1. Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik ............................................... 16 1.1 Kultur als Wirkungsfeld ............................................................ 20 Kultur als Mittel zum Zweck | Kultur und Zivilisation | Kunst und Kultur | Hoch- und Massenkultur | Kulturbegriff der UNESCO

1.2 Kultur als Handlungsfeld .......................................................... 24 Raum | Zeit | Öffentlichkeit

1.3 Kultur als Politikfeld ................................................................. 29 Policy | Polity | Politics

2. Gesellschaftlicher Wandel .............................................................. 32 2.1 Ökonomisierung ........................................................................ 38 »Ökonomie der Aufmerksamkeit« | Kultur- und Kreativwirtschaft | Kulturbetrieb

2.2 Globalisierung .......................................................................... 47 2.3 Medialisierung ........................................................................... 51 2.4 Individualisierung .................................................................... 52 2.5 Pluralisierung ........................................................................... 54 3. Kultur für alle und von allen ........................................................... 55 3.1 Kultur für wechselnde Minder- und Mehrheiten ........................ 56 3.2 Kulturakteure in Staat, Markt und Zivilgesellschaft .................. 58 3.3 Kulturpolitik für eine aktivierte Kulturgesellschaft ................... 62

II. Kulturbürger ................................................................................... 67 1. Bürgerrecht Kultur ........................................................................ 68 1.1 Das Individuum als Bezugspunkt des Kulturstaates .................. 69 1.2 Vom Bildungsbürger zum Kulturbürger ................................... 70 1.3 Kulturkompetenz als kulturpolitische Zielsetzung ..................... 73 2. Aktive Kulturbürger ........................................................................ 77 2.1 Publikum .................................................................................. 78 Anspruch | Wirklichkeit | Trends

2.2 Förderer ................................................................................... 84 2.3 Ausführende ............................................................................ 86 3. Das Individuum als kulturpolitischer Akteur .................................. 87 3.1 Ästhetische Vorprägung ............................................................. 87 3.2 Autonome Wahrnehmung und kollektive Werthaltungen ........ 90 3.3 Intersubjektive Verständigung ................................................... 91 III. Kulturstaat ..................................................................................... 93 1. Kulturstaat als Leitbild ................................................................... 94 1.1 Kultur als Staatsziel ................................................................... 99 1.2 Kulturstaatliche Leitbegriffe als Handlungsmaximen .............. 102 Pluralität und Individualität | Qualität und Identität | Eigengesetzlichkeit und Autonomie | Neutralität und Toleranz | Teilhabe und Solidarität | Offenheit und Transparenz

1.3 Kulturpolitik, -arbeit, -verwaltung, -management ...................... 110 Kulturarbeit | Kulturverwaltung | Kulturmanagement | Ressourcen und Recht

1.4 Grundmodell für eine aktivierende Kulturpolitik ..................... 114 Öffentlicher Auftrag | Programmatik | Verantwortungspartnerschaften | Ausgestaltung

2. Kulturpolitische Ebenen ................................................................ 116 2.1 Föderalismus als Prinzip .......................................................... 116 2.2 Kommunale Kulturpolitik ....................................................... 120 Auftrag zur kommunalen Grundversorgung | Gesetzliche Verpflichtungen | Ermessensbindungen

2.3 Landeskulturpolitik ................................................................. 124 Regionale Kulturarbeit | Kulturelle Bildung | Öffentlich-rechtlicher Rundfunk

2.4 Bundeskulturpolitik ................................................................ 130 Veränderte Verfassungswirklichkeit | »Kulturhoheit« als politischer Refl ex | Bürokratische Exekution

2.5 Europäische Kulturpolitik ........................................................ 138 3. Aktivierender Kulturstaat ............................................................. 142 3.1 Politische Dilemmata ................................................................ 143 Bedeutungsdilemma | Kompetenzdilemma | Gestaltungsdilemma

3.2 Neue Rolle ............................................................................... 146 3.3 Neue Steuerung ....................................................................... 147 3.4 Neues Leitbild ......................................................................... 149

Teil 2: Kontent ................................................................................ 151 IV. Künste ........................................................................................... 153 1. Künstlerische Wertschöpfung ........................................................ 155 1.1 Wertschöpfungskette ................................................................. 156 1.2 Künstlerische Genres ................................................................ 158 1.3 Staat, Markt, Gesellschaft ......................................................... 164 2. Künstlerische Produktion ............................................................. 167 2.1 Schutz ..................................................................................... 167 2.2 Förderung ............................................................................... 168 2.3 Aktivierung kreativer Milieus ................................................... 171 3. Künstlerische Rezeption ................................................................ 174 3.1 Reflexion ................................................................................... 175 3.2 Zugang .................................................................................... 177 3.3 Vermittlung ............................................................................. 179 V. Geschichtskultur ............................................................................. 183 1. Gestaltung und Wahrnehmung .................................................... 186 1.1 Geschichte und Ästhetik ........................................................... 186 1.2 Instrumente und Inszenierungen ............................................ 190 1.3 Exemplarische Themen ............................................................. 191 Gedenktage und Jubiläen | Migrationsgeschichte | Baukultur und Industriekultur

2. Infrastruktur der Geschichtskultur .............................................. 196 2.1 Historische Museen ................................................................. 196 Landesmuseen und Städtische Museen | Heimatmuseen und Freilichtmuseen | Spezialmuseen | Neue Historische Museen

2.2 Gedenkstätten ......................................................................... 199 2.3 Archive .................................................................................... 203 2.4 Historische Vereine und Geschichtswerkstätten ..................... 205 3. Identitätsstiftende Aktivierung .................................................... 207 3.1 Die identitätsstiftende Wirkung von Geschichtskultur ............ 208 3.2 Leitlinien für eine aktivierende Geschichtskulturpolitik ......... 210 VI. Kulturelle Bildung ......................................................................... 213 1. Kraftfeld Individualität ................................................................. 216 1.1 Selbstwirksamkeit ..................................................................... 217 1.2 Selbstbeteiligung ..................................................................... 219 1.3 Selbstverständnis .................................................................... 220

2. Infrastruktur der Kulturellen Bildung .......................................... 222 2.1 Elementarbereich .................................................................... 224 2.2 Schulwesen ............................................................................. 225 PISA-Studie | Schulfächer | Schulen ans kulturelle Netz | Ganztagsschule | Künstler an Schulen

2.3 Jugendbildung ......................................................................... 234 2.4 Kultureinrichtungen ............................................................... 235 2.5 Spezifische Einrichtungen Kultureller Bildung ....................... 236 Bibliothek | Musikschule | Jugendkunstschule | Kulturelle Erwachsenenbildung

3. Ausbau und Aktivierung ............................................................... 241 3.1 Kulturelle Grundversorgung .................................................... 241 Öffentlicher Auftrag | Qualitätsanspruch | Verantwortungspartnerschaften | Ausgestaltung

3.2 Gesetzliche Regelungen ......................................................... 244 3.3 Leitlinien für eine aktivierende Politik ..................................... 247

Teil 3: Konsens .............................................................................. 249 VII. Kulturelle Öffentlichkeit .............................................................. 253 1. Konsensfindung durch Zielvereinbarung ...................................... 255 1.1 Kulturpolitische Ziele ............................................................... 257 1.2 Kulturpolitische Leitlinien ....................................................... 259 1.3 Zielperspektiven, Reichweiten und Verantwortlichkeiten ........ 260 2. Kooperation in der Vielfalt der Akteure ......................................... 263 Verbände | Beiräte | Dialogstrukturen | Netzwerke

3. Koordination mit Position ............................................................ 267 VIII. Kreative Allianzen ..................................................................... 269 1. Allianzen mit anderen Politikfeldern ........................................... 270 2. Allianzen mit der Bürgergesellschaft ............................................ 272 3. Allianzen mit der Wirtschaft ....................................................... 276 IX. Kulturelle Infrastruktur ................................................................ 281 Öffentlicher Auftrag | Programmatik | Verantwortungspartnerschaften | Ausgestaltung

Literatur ............................................................................................ 289

Vorwort Kulturpolitik und Kulturmanagement haben Konjunktur. Immer mehr Einzelaspekte werden in der in den letzten Jahren immens angewachsenen Literatur zu diesen Themen immer intensiver ausgeleuchtet. Ziel des Plädoyers in diesem Buch ist indes die Entwicklung eines Gesamtsystems, einer »großen Linie« für kulturpolitisches Handeln auf allen Ebenen des Kulturstaates Deutschland. Dieses Modell für kulturpolitische Führung und Steuerung soll Antwort auf die kurze, aber komplexe Frage geben: Wie lässt sich Kulturpolitik begründen und gestalten? Damit verbunden ist allerdings der anspruchsvolle Versuch, die Rolle des Staates und der Kulturpolitik in Deutschland neu zu bestimmen: in der Reflexion des Kontextes von Gesellschaft, Individuum und Staat, in Bezug auf den Kontent in Form der Gestaltungsfelder Künste, Geschichtskultur und Kulturelle Bildung sowie im Bemühen um einen politischen Konsens der Akteure in Öffentlichkeit und Allianzen über die Ausgestaltung der kulturellen Infrastruktur. Die Kultur in Deutschland wird von drei großen Akteursgruppen gestaltet: Staat, Markt und Dritter Sektor. Weder ist der Staat einziger Akteur in der Kulturpolitik, noch kann die Bürgergesellschaft die Verantwortung für Kulturpolitik allein übernehmen – und wenn Kultur den ökonomischen Marktmechanismen überlassen bliebe, würden bestimmte Angebote nicht mehr vorhanden sein. Folglich wird das Leitbild einer »aktivierenden Kulturpolitik« entwickelt, die die am kulturellen Leben beteiligten Akteure motiviert und einbezieht. Der aktivierende Kulturstaat garantiert nicht nur Freiheiten, sondern schaff t auch optimale Rahmenbedingungen für kulturelle Eigentätigkeit. Kultur ist einem permanenten Wandel unterworfen. Daher muss Kulturpolitik immer wieder neu begründet werden. Das Plädoyer liefert Elemente für einen Theorie-Praxis-Diskurs, mit dem aus dem jeweiligen Begründungszusammenhang heraus Gestaltungsoptionen sowie geeignete Instrumente einer qualifizierten, zeitgemäßen Kulturpolitik herausgearbeitet werden. Dabei wird zum einen das »Was« der Kulturpolitik

10 | Kulturstaat Deutschland beleuchtet – es ist als sich fortlaufend änderndes Moment immer exemplarisch präsent –, sowie zum anderen und vor allem das »Wie«. Dessen Kontinuum ist, dass sich Kulturpolitik im Rahmen staatlicher Verfassung entfaltet. Daher ist der (Kultur-)Staat ihr entscheidender Handlungsrahmen: mit den in Bund, Ländern und Kommunen jeweils unterschiedlich ausdifferenzierten finanziellen, rechtlichen und administrativen Gestaltungsmöglichkeiten. In den Institutionen des Kulturstaates wird über Kulturpolitik entschieden, mit seinen Instrumenten wird Kulturpolitik umgesetzt. Kulturpolitik wird durch Begründungsmuster fundiert, die im Laufe der Zeit verschieden variiert oder akzentuiert wurden. Mit deren Aufgreifen ist in diesem Buch immer auch ein Blick in die Geschichte von Kulturpolitik verbunden, wobei es hier nicht möglich war, die Entwicklung in der DDR nachzuzeichnen. Im Fokus steht das zurückliegende Jahrzehnt der »Berliner Republik«, in dem es eine zunehmend wachsende Aufmerksamkeit für die Bundeskulturpolitik gegeben hat, die deutlich wahrnehmbar hinzugetreten ist zu der großen Tradition der kommunalen Kulturpolitik in den fast sechs Jahrzehnten kulturpolitischer Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland. Die Kulturpolitik der Länder ist merkwürdigerweise – von einzelnen Schlaglichtern abgesehen – eher im Schatten des kulturpolitischen Diskurses geblieben. Dieses Buch verfolgt daher einen integralen Ansatz, der alle Ebenen des Staates, die gesellschaftlichen Entwicklungen und Akteure sowie die Handlungsfelder der Kulturpolitik in einem jeweils auf den »kulturpolitischen Ernst- und Einzelfall« bezogenen Begründungsprozess zusammenführt: Es geht mir also um die Konstituierung einer gedanklichen Abfolge für kulturpolitischen Kontext, Kontent und Konsens mit dem Ziel, einer strategisch ausgerichteten und inhaltlich qualitätsvollen Kulturpolitik den Weg zu ebnen. Dieses Buch unternimmt den Versuch, den kulturpolitischen und -praktischen Diskurs wissenschaftlich zu fundieren. Ich habe, soweit möglich, die wichtigsten Werke zu Kulturpolitik, Kulturmanagement und Kulturwissenschaft aus den letzten zwei Jahrzehnten herangezogen. So wird ein Baukasten für eine strukturierte, konzeptgestützte kulturpolitische Steuerung entwickelt – in vollem Bewusstsein für die »Mühen der Ebene«, muss sich doch kulturpolitisches Denken letztlich in praktischem Handeln bewähren und auszahlen. Die praktische Reflexion ist in diesem Plädoyer nicht frei von Subjektivität, zumal ich selbst Akteur kulturpolitischer Debatten und Entwicklungen bin. Diese für mein Denken und Handeln prägenden Erfahrungen und Begegnungen seien daher kurz benannt: das Großprojekt des Kultursekretariates Nordrhein-Westfalen »Kultur 90« mit den Inspiratoren Karl Richter und Richard Erny, meine Zusammenarbeit beim Deutschen Städtetag mit Ernst Pappermann und Dieter Sauerzweig, die Mitarbeit im Vorstand des Verbandes deutscher Musikschulen und im Kuratorium des

Vorwort | 11 Fonds Darstellende Künste, im Kulturausschuss des Deutschen Städtetages und im Vorstand des Kulturforums der Sozialdemokratie. Zahlreiche wertvolle Anstöße verdanke ich dem kontinuierlichen Gedankenaustausch in der Kulturpolitischen Gesellschaft vor allem mit Hermann Glaser, Hilmar Hoffmann, Norbert Lammert, Peter Rose, Olaf Schwencke, Norbert Sievers, Wolfgang Thierse, Bernd Wagner und mit allen Vorstandsmitgliedern. Meine eigene Musikausbildung und -ausübung hat mich ebenso geprägt wie die unzähligen Begegnungen mit Künstlern, Kollegen aus anderen Städten, Kulturpolitikern, Institutsdirektoren in der tagtäglichen Arbeit als Kulturdezernent.1 In einer besonderen Wechselwirkung mit dem Schreiben an diesem Buch steht die vierjährige Mitarbeit als Sachverständiges Mitglied in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages »Kultur in Deutschland«. So konnte ich immer wieder Ideen und Gedanken aus der Arbeit am Manuskript in der Enquete-Kommission zur Diskussion stellen und umgekehrt haben mich die Anhörungen, Gutachten und Beratungen der Enquete-Kommission stets neu inspiriert. Besonders danken möchte ich den Personen, die mich bei der Abfassung des Textes unmittelbar unterstützt haben. Für den Austausch in der Anfangsphase und bei der Konzeption des Buches bin ich meinem leider viel zu früh verstorbenen Mitarbeiter Dr. Michael Zimmermann zutiefst dankbar. Wertvolle Anregungen verdanke ich dem exzellenten Lektorat des gesamten Inhalts durch Dr. Nikolaj Beier. Heinrich Theodor Grütter, Nils Kreipe, Siegfried Scheytt und Uwe Theisen haben zu einzelnen Kapiteln wichtige Anmerkungen gemacht. Bei der Literaturbeschaff ung hat mir Jörg Jedlitschka stetig und findig geholfen. An der Herstellung des Manuskripts haben Ines Kockro und Janssy Pulicottil umsichtig mitgewirkt. Ganz besonders dankbar bin ich schließlich Susanne Hüsken für die beständige, äußerst zuverlässige und qualifizierte Betreuung des Gesamtmanuskripts. Dieses Buch hat eine besondere Entstehungsgeschichte, ist es doch aus der Praxis heraus und in permanenter Reflexion und im Dialog mit Künstlern, Wissenschaftlern sowie Kulturpolitikern entstanden. Was mich betriff t, so habe ich beim Schreiben die Bedingungen entdeckt, unter denen man stolz sein kann, Kulturpolitiker genannt zu werden. Essen, im Juli 2008

1 | Um die Lesbarkeit nicht zu erschweren, verwendet diese Publikation vorwiegend die männliche Sprachform. Bei allen männlichen Funktionsbezeichnungen sind – sofern nicht anders gekennzeichnet – stets die weiblichen mitgemeint.

Teil 1: Kontext

Kulturpolitik hat drei wesentliche Bezugspunkte, von deren Zusammenspiel ihr Kontext geprägt ist: •





Kulturpolitik steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Veränderung und Gestaltung von Gesellschaft, entfaltet Wirkungen in ihr und für sie. Kulturpolitik bezieht sich auf das Individuum, auf den einzelnen Bürger und die einzelne Bürgerin, die an Kulturangeboten teilhaben und diese mitgestalten. Jeder Einzelne kann sich auch an kulturpolitischen Prozessen beteiligen, nicht nur als Mitglied von Parteien und Parlamenten, sondern auch in Vereinigungen und Initiativen, die sich in die Kulturpolitik einbringen. Kulturpolitik ist schließlich eingebunden in die Konstituierung und Ausformung des Staates selbst, ohne den Kulturpolitik ihrer Basis beraubt wäre. Denn Politik ist auf die Steuerung des Gemeinwesens ausgerichtet und wird ganz wesentlich in staatlichen Institutionen und durch staatlich konstituierte Gremien gestaltet. Kulturpolitiker bewegen sich in diesen Strukturen auf den verschiedenen staatlichen Ebenen von Bund, Ländern und Kommunen.

Diese drei Bezugspunkte – Kulturgesellschaft, Kulturbürger und Kulturstaat – machen den Kontext von Kulturpolitik aus, der bei jeder kulturpolitischen Strategie und bei jeder kulturpolitischen Entscheidung zu reflektieren ist. Aktivierende Kulturpolitik denkt diesen Kontext immer mit, sucht ihre Begründung aus diesem Kontext heraus und richtet sich letztlich an ihm und auf ihn aus. Durch eine Analyse und Zusammenschau dieses Kontextes mit den entsprechenden Kapiteln »Kulturgesellschaft« (Kap. I), »Kulturbürger« (Kap. II) und »Kulturstaat« (Kap. III) wird in Teil 1 dieses Buches ein Leitfaden für integrale kulturpolitische Begründungen entwickelt. Mit den kulturpolitischen Zusammenhängen und Zielsetzungen werden Akteurskonstellationen und typische Begründungsmuster reflektiert: Wer betreibt warum und wozu Kulturpolitik? Das Was (Teil 2) und das Wie (Teil 3) folgen später.

I. Kulturgesellschaft

»Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik.« Auf der gedanklichen Basis dieses kurzen, bündigen Satzes haben Anfang der 1970er Jahre Kulturpolitiker die »Neue Kulturpolitik« begründet. Die Beziehung zwischen Kultur und Gesellschaft ist nach diesem Satz von substanzieller Bedeutung für Kulturpolitik. Dabei unterliegt die Gesellschaft einem ständigen Wandel. Ein offensichtliches Phänomen dieser Wandlung ist, dass der Begriff der Kultur eine Omnipräsenz in historisch zuvor nicht feststellbarer Dimension erlangt hat.1 Augenscheinlich hat sich unsere Industriegesellschaft nicht nur zu einer Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft gewandelt, sondern vor allem auch zu einer Kulturgesellschaft.2 Das Kulturelle prägt unsere Gesellschaft, ist ihr Bindeglied. Die Ausrichtung der Kulturpolitik auf die Gesellschaft bedarf der Klärung des Kontextes der jeweiligen kulturpolitischen Begründungen und Zielsetzungen. Zum Kontext gehören nicht nur die realen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, sondern auch die verwendeten Begrifflichkeiten und die Grundvorstellungen bei der Gestaltung von Kulturpolitik. Letztere haben zwar eine entscheidende Prägung durch die »Neue Kulturpolitik« in den 1970er Jahren erfahren. Doch der Leitsatz »Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik« bedarf aufgrund aktueller Entwicklungen der neuerlichen Reflexion. Drei Aspekte möchte ich dazu im Folgenden ansprechen: Der weite Kulturbegriff, der einer Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik zugrunde liegt, darf nicht zu dem Missverständnis führen, dass Kultur ein Allheilmittel zur Lösung jedweder gesellschaftlicher Probleme ist. Allerdings läuft Kulturpolitik ohne Analyse der gesellschaftlichen Entwick1 | S. dazu etwa Eagleton, Terry, Was ist Kultur?, 2. Aufl., München 2001. 2 | Grundlegend dazu Goehler, Adrienne, Verflüssigungen. Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft, Frankfurt a.M. 2006, insbes. S. 59ff.

16 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext lungen ins Leere. Wissen und Information sind daher Basisressourcen für qualitätsvolle Kulturpolitik. Deren Instrumente sind im Wesentlichen die Entscheidung über die Bereitstellung von (öffentlichen) Ressourcen, die rechtliche Regelung von Rahmenbedingungen kultureller, künstlerischer sowie kulturwirtschaftlicher Entfaltung und die Aktivierung gesellschaftlicher Kräfte. Kulturpolitische Ziele sind mit Blick auf gesellschaftliche Wirkungen und bezogen auf die jeweiligen Kraft- und Gestaltungsfelder zu entwickeln: So haben die Künste, die Geschichtskultur und die Kulturelle Bildung für unsere individuelle und die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung eine besondere Bedeutung (Kap. I/1). Kulturpolitische Begründungen sollten auf der Basis einer Reflexion des Verhältnisses von Kultur und Gesellschaft entwickelt werden. Kulturpolitik erhält in der und für die Kulturgesellschaft ihre Begründung und ihre Ansätze. Im Wechselspiel mit der Kulturgesellschaft und im Interesse der Kulturbürger findet der Kulturstaat als ein »aktivierender Kulturstaat« seinen Auftrag (I/2). Im kulturpolitischen Zielsystem geht es nicht nur um »Kultur für alle«, sondern auch um »Kultur von allen«. Die kulturelle Vielfalt ist ein schützenswertes Gut. Der Kulturstaat lebt von einer Vielfalt der Akteure und Kulturträger. Öffentlich verantwortete Kulturangebote haben demnach keineswegs eine Monopolstellung. Und auch Kulturpolitik ist eine gesellschaftliche Aufgabe (I/3).

1. K ULTURPOLITIK

IST

G ESELL SCHAFTSPOLITIK

Das folgende Zitat aus dem ersten Grundsatzpapier der Kulturpolitischen Gesellschaft ist für das Verständnis von »Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik« instruktiv: »Zunehmend wird auch erkannt, dass Kultur nicht reiner Überbau ist, bloße Verzierung des Alltags, ideologische Idealisierung von Lebenszusammenhängen durch die Beschwörung des Guten, Wahren und Schönen, vielmehr selbst ein produktives Element gesellschaftlicher Zustände sein kann. […] Vom Deutschen Städtetag ist in Dortmund 1973 ›Kultur für alle‹ […] mit Recht als kommunale Gemeinschaftsaufgabe proklamiert worden: ›Kulturarbeit muss der Entfaltung und Entwicklung der sozialen, kommunikativen und ästhetischen Möglichkeiten und Bedürfnisse aller Bürger dienen‹.«3

3 | Dieses haben die mehr als 160 Gründungsmitglieder im Jahr 1976 unterzeichnet, vgl. Sievers, Norbert, »Neue Kulturpolitik«. Programmatik und Verbandseinfluss am Beispiel der Kulturpolitischen Gesellschaft, Hagen 1988, S. 92. »Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik« ist damit auch Leitmotiv der Kulturpolitischen

I. Kulturgesellschaft | 17 Die drei wesentlichen Elemente der »Neuen Kulturpolitik« kommen in diesem Text zum Ausdruck: •





Das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft ist konstitutiv für die Begründung und Umsetzung von Kulturpolitik. Kulturpolitik wird als eine Politik definiert, mit der auf gesellschaftliche Zustände eingewirkt werden kann und sollte. Kultur ist für alle da. Alle Bürger sollen angesprochen und mit den Kulturangeboten erreicht werden. Kultur soll nichts Elitäres mehr anhaften. Auf die kulturellen Bedürfnisse der Bürger soll eingegangen werden, denn es ist ein »Bürgerrecht Kultur« zu konstatieren. Es gibt also berechtigte Forderungen der Gesellschaft und der sie tragenden Bürgerschaft gegenüber dem Staat, Kunst und Kultur zu schützen und zu fördern.

Die »Neue Kulturpolitik« hatte Wirkung. »Kultur für alle« ist zu einem Erfolgsmotto geworden, auf dessen Basis sich in den vergangenen drei Jahrzehnten ein Verständnis von Kulturpolitik durchgesetzt hat, das von den Grundbegriffen »Partizipation« und »Offenheit« geprägt ist. Althergebrachte Frontstellungen der verschiedenen Kultursektoren sind in Frage gestellt und zum Teil überwunden worden, auch wenn es immer noch ein Spannungsverhältnis zwischen öffentlicher und freier Kultur, zwischen avantgardistischer und kommerzieller Kultur sowie zwischen Basis- und Hochkultur gibt. So ließen sich viele wichtige Ziele der »Neuen Kulturpolitik« verwirklichen:4 • •

• •

»Bürgerrecht Kultur« und »Kultur für alle« sind zu weitgehend anerkannten Leitzielen des kulturpolitischen Handelns geworden. Die traditionellen Kultureinrichtungen wie etwa Theater und Museen haben zeitgemäße Vermittlungsformen entwickelt und neue Bevölkerungsgruppen für sich erschlossen.5 Die Notwendigkeit und die Bedeutung der Kulturellen Bildung werden inzwischen weitgehend anerkannt. Frei-gemeinnützige Kultureinrichtungen und privatwirtschaftliche

Gesellschaft, die bis heute eine der wichtigsten Vereinigungen für die diskursive Fortentwicklung der Kulturpolitik in der Bundesrepublik Deutschland ist.

4 | S. dazu auch das im November 1998 neugefasste Programm der Kulturpolitischen Gesellschaft, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 83 (IV/1998), S. 24ff.

5 | Die öffentlichen Kulturangebote werden immerhin (oder auch: nur) von jedem zweiten Bundesbürger wahrgenommen.

18 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext Kulturangebote bilden mit den staatlich und kommunal getragenen Kulturinstituten eine neue vielgestaltige Kulturlandschaft.6 Ob und wie Kulturpolitik gesellschaftliche Wirkung entfaltet, ist mit Blick auf die spezifische Substanz des jeweiligen Gestaltungsfeldes (Künste, Geschichtskultur oder Kulturelle Bildung) zu analysieren.7 Die Definition von Kulturpolitik ist daher mit ihrer Wirkungsweise verknüpft. Aus diesem Kontext heraus ist zu bestimmen, was Kulturpolitik überhaupt ist und erreichen soll. Ohne jegliche Abgrenzung des Kulturpolitikbegriffs bestünde die Gefahr der Beliebigkeit dieses Politikfeldes, zumal der Begriff »Kultur« meist umfassend verstanden wird und je nach Bedeutungszusammenhang sehr variiert. Zwar ist keine allgemeinverbindliche Definition des Kulturbegriffs erforderlich oder auch überhaupt möglich. Doch ohne den Begriff »Kultur« in den Blick zu nehmen, lässt sich letztlich auch der Kulturpolitikbegriff nicht fassen.8 In kulturpolitischen Programmen und im kulturpolitischen Schrifttum findet sich nur selten ein präziser Ansatz zur Abgrenzung des Kulturbegriffs und des daraus folgenden Kulturpolitikbegriffs. Erstaunlich ist indes, dass es gleichwohl in dieser Hinsicht – so hat es zunächst den Anschein – nur wenige Missverständnisse gibt. Offenbar besteht doch immer wieder Konsens darüber, was kulturpolitisch zu tun ist. Dabei ist das Verständnis des Begriffs »Kultur« auch vom Zeitgeist geprägt. Kulturakteure beschreiben und setzen auf alle möglichen Wirkungen ihres Tuns, um ihre Idee oder ihr Projekt kulturpolitisch durchzusetzen. Diese Wirkungen sollen sich im Wechselverhältnis von Kultur, Gesellschaft und Politik einstellen, die jeweils sehr große, von Menschen gestaltete und durch menschliches Zusammenwirken gekennzeichnete Bereiche umfassen. Untersucht man jedoch die Begründungszusammenhänge und -stränge näher,9 so wird deutlich, dass der vermeintliche Konsens oft nicht hinreichend fundiert ist. Auch die Leitvokabeln der Kulturpolitik – wie »Bürgerrecht Kultur«, »Kultur für alle« oder »Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik« – bergen die Gefahr der Beliebigkeit in sich, wenn sie nicht in einen Kontext eingeordnet werden. Beliebige Begründungen, mitunter angereichert durch Plattitüden, sind aber 6 | Zu den durch die Neue Kulturpolitik ausgelösten Wandlungen in der Kulturadministration vgl. Pohlmann, Markus, Kulturpolitik in Deutschland, München 1994.

7 | Näher dazu in Teil 2. 8 | Fuchs, Max, Kulturpolitik, Wiesbaden 2007, S. 10ff. sowie Klein, Armin, Kulturpolitik. Eine Einführung, 2. Aufl., Wiesbaden 2005, S. 31ff. geben einen guten Überblick zu den verschiedenen Begriffen von »Kultur«, die in der Kulturpolitik Verwendung finden.

9 | Einen umfassenden aktuellen Einblick in den Diskurs Kulturpolitik gibt das vom Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft herausgegebene Jahrbuch für Kulturpolitik 2006, Essen 2006.

I. Kulturgesellschaft | 19 angreifbar – und werden der speziellen gesellschaftlichen Situation, in der Kulturpolitik operiert, nicht gerecht.10 So sieht sich Kulturpolitik permanent der Frage ausgesetzt, welche Effekte Kulturförderung im Streit der politischen, gesellschaftlichen und finanziellen Interessen hat. Für die Begründungsanalyse von Kulturpolitik ist eine Abgrenzung des Kulturbegriffs anhand folgender Leitfragen sinnvoll: • •

In welchem Kontext entfaltet Kulturpolitik mit welchen Zielen ihre (beabsichtigte) Wirkung? Welches Handlungsfeld hat Kulturpolitik, und mit welchen Mitteln operiert sie bei der Gestaltung?

Der Kulturbegriff soll daher in folgenden drei miteinander verschränkten Bedeutungszusammenhängen von Kultur, Gesellschaft und Politik interpretiert werden: •





Kultur als Wirkungsfeld: Bei dem Begriff der Kultur als Wirkungsfeld geht es um Kultur (schlechthin), die eine Gesellschaft ausmacht und die ein Bedingungs- und Wirkungsfeld menschlichen Handelns ist. Gesellschaft hat, fordert, beeinflusst Kultur. Kultur ist daher als sozialer Faktor für die Gesellschaft anzusehen, der bei der Entwicklung einer kulturpolitischen Programmatik im Kontext von Gesellschaft, Individuum und Staat zu reflektieren ist (Kap. I/1.1). Kultur als Handlungsfeld: Kultur ist ein Feld der Gestaltung durch Kulturarbeit und Kulturangebote unterschiedlichster Akteure, sie ist Handlungsfeld kulturellen Schaffens. Kulturpolitik hat im Handlungsfeld Kultur eine breite Palette von inhaltlichen Gestaltungsoptionen (Kontent), derer sie sich bewusst sein sollte. Kulturarbeit ist daher als Handlungsfeld in der Gesellschaft zu erörtern. Gesellschaftliche Wirkungen oder sogar Veränderungen können Ziel und Folge von Kulturarbeit sein, sind es aber nicht a priori (I/1.2). Kultur als Politikfeld: Kulturpolitik entscheidet über die öffentliche Förderung von Kultur(-arbeit) und über die Rahmenbedingungen der kulturellen Gestaltung durch die vielfältigen öffentlichen, privaten und gemeinnützigen Akteure der Kulturgesellschaft. Wenn von Kultur als Politikfeld die Rede ist, sind die politischen Instrumente zu behandeln, die im besten Falle auch einen Konsens der kulturpolitischen Akteure bewirken. Kulturpolitik sollte auch danach fragen, durch welche Formen der Kulturarbeit oder -förderung und in welchen Bereichen Kultur als Faktor gesellschaftlicher Veränderung wirken kann. Die Antwort 10 | Zu den Begründungsweisen von Kulturpolitik vgl. Fuchs, Max, Kulturpo-

litik als gesellschaftliche Aufgabe, Wiesbaden 1998, S. 189ff., der dort eine Typologie von sechs Begründungstypen entwickelt.

20 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext darauf setzt aber Erkenntnisse von Ziel- und Wirkungsanalysen und das dafür erforderliche Instrumentarium voraus (I/1.3). 1.1 Kultur als Wirkungsfeld

Um behauptete, reale oder intendierte Wirkungen auf die Gesellschaft als Ganzes geht es bei näherer Analyse der »Kultur als Wirkungsfeld«.11 Dem kann ein enger Kulturbegriff nicht gerecht werden, der Kultur lediglich als Faktor einzelner Gestaltungsfelder (a), als Gegenbegriff zur Zivilisation (b), als ästhetisches Subsystem der Gesellschaft (c) oder nur als Kombinationsbegriff für einzelne »Kultursegmente« (d) versteht: (a) Kultur als Mittel zum Zweck: Aufgrund ihres gesellschaftlichen Kontextes und ihrer gesellschaftlichen Wirkung wurde Kultur in der Bundesrepublik Deutschland vor allem seit den 1980er Jahren allzu einseitig als Mittel zum Zweck angesehen: Kultur als Kreativitätsfaktor, Kultur als Standortfaktor, Kultur als Imagefaktor, Kultur als Lebens- und Überlebensmittel. Anders gesagt: Manchmal ging es mehr um »Kultur für alles« als um »Kultur für alle«. Solche inhaltlichen Defizite waren in gewisser Weise »im Projekt einer primär sozial motivierten neuen Kulturpolitik angelegt«.12 (b) Kultur und Zivilisation: In früheren Zeiten wurde in dem »engen Kulturbegriff«13 der Gegenbegriff zu »Natur« oder zu »Zivilisation« gesehen. Der so verstandene Kulturbegriff greift aus dem menschlichen Dasein einen Ausschnitt heraus, mit dem die geistig-schöpferische Betätigung des Menschen in Form von Wissenschaft, Bildung und Kunst assoziiert wird. Wenn der Begriff »Kultur« im Kulturpolitischen Diskurs so oft unausgesprochen und unreflektiert in diesem engeren Sinne verwendet wird, dass damit »das Schöne, Wahre, Gute« – in Abgrenzung zur »Zivilisation«14 – angesprochen werden soll, dann liegt dem eine inhaltliche, thematische 11 | Mit diesen Wirkungen in, durch und auf Kultur beschäftigt sich die Jahrhunderte währende »Kulturkritik«. Siehe dazu die aktuelle, instruktive historische Gesamtdarstellung von Bollenbeck, Georg, Eine Geschichte der Kulturkritik, München 2007.

12 | Nida-Rümelin, Julian, Perspektive 2000 – Herausforderungen an die Kulturpolitik, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 89 (II/2000), S. 24-28, S. 24.

13 | Vgl. dazu und zum Folgenden die Analyse der gebräuchlichen Kulturbegriffe in der Arbeitsunterlage der Enquete-Kommission 15/034 v. 22. Juni 2004 von Hilmar Sack; zur Verwendung im österreichischen Kontext s. Wagner, Manfred, Stoppt das Kulturgeschwätz! Eine zeitgemäße Differenzierung von Kunst und/oder Kultur, Wien 2000.

14 | Di Fabio, Udo, Die Kultur der Freiheit, München 2005, S. 21 weist zu Recht darauf hin, dass »die Begriffe Kultur und Zivilisation […] nicht in einem Ver-

I. Kulturgesellschaft | 21 Sicht zugrunde. Die gesellschaftliche Relevanz von Kultur und Kulturpolitik bleibt dabei eher ausgeblendet. Eine solche Abgrenzung engt die Perspektive einer »Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik« allzu sehr ein. (c) Kunst und Kultur: Mit dem sehr gebräuchlichen Begriffspaar »Kunst« und »Kultur« werden dann im Allgemeinen noch weiter einschränkend Bildung, Wissenschaft und Religion ausgeklammert. Der so verengte Kulturbegriff bezieht sich auf ein ästhetisches Subsystem einer Gesellschaft und die Ergebnisse seiner künstlerischen Produktion, während mit dem weiten Kulturbegriff auch die Normen, Werte und Sichtweisen einer Gemeinschaft erfasst werden sollen. (d) Hoch- und Massenkultur: In der kulturpolitischen Begründungspraxis wird »Kultur« oft noch weiter eingeschränkt mit »Kunst« und »Hochkultur« plus einem Appendix von »Soziokultur« in Zentren gleichen Namens verstanden oder ohne nähere Reflexion mit den Zielen »ästhetischer Genuss«, »Bildung« und »Erziehung« gleichgesetzt. »Kunst« und »Hochkultur« müssten sich dabei, so eine gängige Argumentation, gegen die moderne »Massenkultur« behaupten, deren Wirkung sich im Wesentlichen auf flache »Unterhaltung« reduziere. Diese Abgrenzung ist brüchig geworden und reicht zur Begründung von Kulturpolitik bei Weitem nicht mehr hin: Selbstverständlich sollte sich Kulturpolitik mit der Massenkultur kritisch-reflexiv auseinandersetzen, doch dies gilt in gleicher Weise für die »Hochkultur«. Die Übergänge zwischen den verschiedenen Kulturformen sind aber letztlich so fl ießend geworden, dass Kulturpolitik allein mit der Betonung von Gegensätzen der Kulturformen und -bereiche nicht auskommt. Die Entgegensetzung von »Hoch-« und »Massenkultur« war schon historisch umstritten und ist heute in dieser Einfachheit schwer zu halten. Denn es lassen sich kaum mehr richtige Antworten auf die Frage finden, nach welchen Kriterien sich die Grenzen zwischen »Hochkultur« und »Massenkultur« ziehen lassen. Wolfgang Thierse spricht in diesem Zusammenhang richtigerweise von einer vielgestaltigen, sich ständig wandelnden »demokratischen Kultur«, die »immer der Raum einer menschenverträglichen Ungleichzeitigkeit« sei. »Kultur meint in diesem Sinne das jeweils geistig und ästhetisch Herausfordernde, die phantasievolle Kritik, das Neue jenseits der abgegriffenen Normalität und nicht zuletzt auch die kluge und anregende Unterhaltung.«15 »Massenkultur« ist keineswegs a priori mit Niveaulosigkeit gleichzusetzen; umgekehrt gibt es »Hochkultur« von bisweilen jämmerlicher Qualität und Kreativität. hältnis der Gegnerschaft« stehen, sondern in »einer wechselseitigen Ergänzung der Blickrichtung«.

15 | Thierse, Wolfgang, Kulturpolitik im Vakuum?, in: Kulturforum der Sozialdemokratie (Hg.), Kulturnotizen 5 (2001), S. 5-18.

22 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext Diese exemplarisch skizzierten vier Verwendungstypen des Begriffs »Kultur« verengen diesen und haben jeweils unterschiedliche Begründungsweisen von Kulturpolitik zur Folge, denen hier nicht weiter nachzugehen ist.16 Eine zeitgemäße Kulturpolitik sollte von einem Begriffsverständnis der Kultur im weiteren Sinne geprägt sein, das von Kultur als einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen und von gesellschaftlichen Wirkungen kultureller Gestaltung ausgeht.17 Soziokultur – als etwa vor drei Jahrzehnten erkannter und grundlegend entwickelter Begriff und Aufgabenbereich von Kulturpolitik – nimmt in besonderer Weise Bezug auf den gesellschaftlichen Kontext und die sozialen Wirkungen quer zu den Bereichen Kunst, Geschichtskultur und Kulturelle Bildung. Soziokultur reflektiert auch den Alltag der Menschen (»Alltagskultur«) und hat den weiten Kulturbegriff als durchgängiges Prinzip von Kulturpolitik wesentlich mitbefördert. Die Kulturgesellschaft insgesamt ist daher in die Reflexion, Begründung und Evaluation einzubeziehen. Das Gegeneinanderstellen von Hoch-, Breitenoder Massenkultur oder die Verengung des Kulturbegriffs auf das »Wahre, Schöne, Gute« wird den realen Wechselwirkungen zwischen Kultur, Gesellschaft und Politik nicht gerecht und kann daher letztlich auch keine tragfähige Begründungsfolie für Kulturpolitik liefern. Zivilisation oder Massenkultur sind gesellschaftliche Felder, die bei einer Politik des Kulturellen zu reflektieren und nicht als entgegengesetzte Bereiche anzusehen sind. Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik heißt daher, mit den Mitteln und Medien der Kultur zu arbeiten, sich einzumischen oder mitzumischen. Kulturarbeit 18 findet im gesellschaftlichen Kontext statt. Kulturpolitik hat diesen Kontext einer ausdifferenzierten und vielfältigen Kulturgesellschaft zu beachten und sollte die gesellschaftlichen Wirkungen von Kulturarbeit – immer auch bezogen auf das jeweilige Gestaltungsfeld – evaluieren. Analyseziel ist, kulturpolitische Begründungen mit Blick auf bereits vorhandene und zukünftige Wirkungen tragfähig und nachvollziehbar zu machen. Ausgangspunkt für die Betrachtung von Kultur als Wirkungsfeld der Kulturpolitik sollte danach die gesellschaftliche Funktion von Kultur im weiten Sinne sein. Um Kulturpolitik zu erfassen, muss demzufolge der 16 | Vgl. dazu auch Fuchs, 1998, S. 189ff. 17 | Einen guten Überblick über die unterschiedlichen Verständnisse des Begriffs »Kultur« gibt Uhle, Arnd, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, Tübingen 2004, S. 10ff.

18 | Der Begriff »Kulturarbeit« hat sich in den 1970er Jahren verbreitet als Reflex auf den vorher üblichen Begriff der »Kulturpflege«. Darin schwingt die soziale, auf die Gesellschaft insgesamt ausgerichtete Wirkung öffentlicher Kulturförderung als Zielsetzung von Kulturpolitik mit. Nicht von ungefähr ist »Kulturbetrieb« ein Leitbegriff der stärker ökonomische Perspektiven aufgreifenden Kulturpolitik der 1980er und 1990er Jahre.

I. Kulturgesellschaft | 23 Deutungsgehalt des Begriffs »Kultur« im gesellschaftlichen Kontext herausgearbeitet werden. Bei den Wirkungen geht es um Einflüsse auf die Kultur, die eine Gesellschaft oder auch das einzelne Individuum ausmachen, ja prägen. Es geht um die Kultur, die eine Gesellschaft oder eine Person »hat« – und zunächst nicht um die Kultur, die unmittelbar »gestaltet« wird, welche ich »Kultur als Handlungsfeld« nenne.19 Kulturbegriff der UNESCO: Diese Differenzierung wird auch in der nach wie vor gültigen und schlüssigen Abgrenzung des weiten Kulturbegriffs evident, den die Erklärung der UNESCO von Mexico City über Kulturpolitik aus dem Jahre 1982 vorgenommen hat: »Deshalb stimmt die Konferenz im Vertrauen auf die letztendliche Übereinstimmung der kulturellen und geistigen Ziele der Menschen darin überein: •

dass die Kultur in ihrem weitesten Sinne als die Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte angesehen werden kann, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Dies schließt nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen;



dass der Mensch durch die Kultur befähigt wird, über sich selbst nachzudenken. Erst durch die Kultur werden wir zu menschlichen, rational handelnden Wesen, die über ein kritisches Urteilsvermögen und ein Gefühl der moralischen Verpfl ichtung verfügen. Erst durch die Kultur erkennen wir Werte und treffen die Wahl. Erst durch die Kultur drückt sich der Mensch aus, wird sich seiner selbst bewusst, erkennt seine Unvollkommenheit, stellt seine eigenen Errungenschaften in Frage, sucht unermüdlich nach neuen Sinngehalten und schaff t Werke, durch die er seine Begrenztheit überschreitet.«20

Dieser UNESCO-Text beschreibt einen weiten Kulturbegriff, indem er menschliches Leben und gesellschaftliches Zusammenleben derart in Beziehung setzt, dass Kultur einerseits die eine Gesellschaft charakterisierenden Besonderheiten umfasst, andererseits die Entfaltungsmöglichkeiten des einzelnen Individuums21 anspricht. Wie der Mensch lebt und 19 | S. dazu 1.2. 20 | Wiedergegeben nach Röbke, Thomas, Zwanzig Jahre Neue Kulturpolitik. Erklärungen und Dokumente 1972-1992, Essen 1992, S. 55.

21 | Die UNESCO-Erklärung verwendet wohl mit Bedacht den Terminus »Mensch« und nicht den hier und im Folgenden sehr oft verwendeten Begriff »Individuum«. In den Kontexten anderer Kulturen wird der Mensch weniger als einzelnes Individuum gesehen, sondern auch als Glied einer Familie, einer Religionsgemeinschaft, eines Staates etc. Nach unserem Verständnis sind die Menschenrechte vor allem Individualrechte, die den Einzelnen in besonderer Weise

24 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext arbeitet, die Lebensweise – darum geht es bei der Kultur in diesem weiteren gesellschaftlich verstandenen Sinne. Die Auseinandersetzung mit der Lebensweise sensibilisiert nachhaltig für die Wahrnehmung des »Wie«.22 Kultur hat danach sowohl eine gesellschaftliche als auch eine individuelle Komponente. Sie ist ein Bedingungs- und Wirkungsfeld menschlichen Handelns und gesellschaftlicher Entwicklungen: Sie lebt von deren kontinuierlichen Wechselwirkungen. Seit der Auf klärung induziert die Auseinandersetzung mit der »Kultur« als einer »Totalkonstruktion«, welche die »Gesamtheit gesellschaftsbestimmender Verhaltensweisen« umfasst, immer auch einen Glauben an oder das Ringen um »Fortschritt«, worum sich insbesondere die »Kulturkritik« bemüht.23 Individualität und Kollektivität sind Bezugsdimensionen dieses Kulturbegriffs: Kunst gilt dem Subjekt, hält aber nicht nur dem Einzelnen, sondern auch der Gesellschaft den Spiegel vor. Kulturelle Bildung wendet sich an das Individuum, eröffnet Chancen und entfaltet über die Verstärkung der Kulturkompetenz der einzelnen Persönlichkeiten erhebliche gesellschaftliche und damit kollektive Wirkungen.24 Die Pflege und Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe stärken das individuelle Gedächtnis und prägen das (historische) Bewusstsein des Einzelnen in Gemeinschaft und Gesellschaft; in der Beschäftigung mit der Herkunft und dem kollektiven Gedächtnis liegt die gesellschaftliche Chance, mit Gegenwart und Zukunft kundiger umzugehen. Kulturpolitik entfaltet demnach Wirkung sowohl auf Individuen als auch auf Gemeinschaft und Gesellschaft und hat letztlich auch Rückwirkungen auf den Staat, der in und durch seine eigene Kulturpolitik zur Identität als Kulturstaat findet. 1.2 Kultur als Handlungsfeld

Für Begründung und Praxis der Kulturpolitik birgt ein erweiterter Kulturbegriff indes auch Gefahren: Die ohnehin in ihren Inhalten, Abläufen, Kompetenzen etc. komplexe Kulturpolitik wird in eine noch komplexere gesellschaftliche Situation gestellt. Zudem wird der Begriff »Kultur« heute oftmals wie ein beliebig verwendbares lexikalisches Versatzstück gebraucht, das alle Formen menschlicher Tätigkeit überwölbt: Unternehschützen, gerade auch in seiner (freien) Religionsausübung und gegenüber dem Staat.

22 | Näher dazu unter Kap. I/2. 23 | S. dazu Bollenbeck, 2007, S. 23. 24 | Vgl. dazu auch Krüger, Thomas, Kunst als Katalysator und Kommunikationsmittel. Zur Rolle der Kulturpolitik und der kulturellen politischen Bildung heute, in: Hoff mann, Hilmar/Schneider, Wolfgang (Hg.), Kulturpolitik in der Berliner Republik, Köln 2002, S. 128ff., 139ff.

I. Kulturgesellschaft | 25 menskultur, Streitkultur, TV-Kultur, Fußballkultur oder Lauf kultur eines BMW. Kultur ist mithin zum multifunktionalen Modewort der Alltagssprache geworden. Auch aus diesem Grund ist der jeweilige Handlungs- und damit Begründungskontext für die Herausarbeitung kulturpolitischer Aufgaben und Ziele von entscheidender Bedeutung. Denn das Handlungsfeld, in dem sich Kulturpolitik bewegt, wird erst bei präziser Analyse »politisch fassbar«: So sind die drei wesentlichen Gestaltungsfelder des Handlungsfeldes Kultur – die Künste, die Geschichtskultur und die Kulturelle Bildung – durch sehr unterschiedliche Spezifi ka geprägt. Die Ein- und Abgrenzung des jeweiligen Gestaltungsfeldes kontextbezogen vorzunehmen, ist somit eine Grundvoraussetzung dafür, Kulturpolitik konzise begründen und aufgabenbezogen ausrichten zu können. Das »Handlungsfeld Kultur« ist enger umgrenzt als das »Wirkungsfeld Kultur«. Die Erkenntnis des dialektischen Bezuges von Kultur als Handlungsfeld zur Kultur als Wirkungsfeld, zur gesellschaftlichen Entwicklung und zu den behaupteten und tatsächlichen Wirkungen von Kulturpolitik hat Mitte der 1980er Jahre (ausgehend von einem soziokulturellen Ansatz) zu einer intensiven Reflexion des Kulturbegriffs in den Gestaltungsfeldern der kommunalen Praxis geführt. Das kommunale Gemeinschaftsprojekt »Kultur 90 – Forderungen der Gesellschaft an die kommunale Kulturarbeit« des Sekretariats für gemeinsame Kulturarbeit in NRW hat das Wechselverhältnis von Kultur und Gesellschaft und den weiten Kulturbegriff intensiv untersucht und damit einen kulturpolitischen Meilenstein gesetzt. Im Rahmen eines Theorie/Praxis-Diskurses wurden über 30 Städte motiviert, jeweils ein Thema aus dem weiten Handlungsfeld Kultur mit Blick auf die jeweiligen gesellschaftlichen Wirkungen zu bearbeiten. Kultur wurde jeweils in Bezug zu einem anderen wichtigen Gestaltungsfeld oder Teilsegment des Handlungsfeldes Kultur gesetzt: Kultur und Schule, Kultur und Medien, Kultur und Wirtschaft, Kultur und Kunst usw.25 Projektideen und Themen wurden in der Praxis erörtert und in einem dreijährigen Diskurs von 1985 bis 1988 zusammengefasst.26 Wesentliches Ergebnis war, dass Kultur als Querschnittsaufgabe aller Dezernate und Ämter in der Stadtverwaltung und der unterschiedlichen Politikfelder anzusehen ist: Kultur entfaltet nicht nur vielfältige gesellschaftliche Wirkungen, sondern wird auch als Handlungsfeld von den 25 | Beim Essener Hearing im Jahr 1985, das den Projektauftakt darstellte, wurden Wissenschaftler der unterschiedlichsten Disziplinen, vom Psychiater bis zum Wirtschaftswissenschaftler, zu den Forderungen der Gesellschaft an die kommunale Kulturarbeit befragt, s. Kulturamt der Stadt Essen, Kultur 90 – Essener Hearing, Köln 1985.

26 | Vgl. Erny, Richard/Godde, Wilhelm/Richter, Karl, Handbuch Kultur 90, Köln 1988.

26 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext unterschiedlichsten Akteuren (mit-)gestaltet. Damit war bewiesen, dass der weite Kulturbegriff die Reflexionsbasis für eine umfassend angelegte kommunale Kulturarbeit darstellen kann, die gesellschaftspolitisch wirkt. Aufgrund dieser Erkenntnisse ist die Komplexität des Handlungsfeldes Kultur verstärkt in das allgemeine politische Bewusstsein gekommen: Kulturpolitik behauptete, in alle möglichen Bereiche gesellschaftlichen Lebens hineinzuwirken (umfassendes »Wirkungsfeld Kultur«). Sie stellte die Frage: »Wie lebt und arbeitet der Mensch?« In dem Projekt »Kultur 90« wurde nachgewiesen, dass Kulturpolitik in einem komplexen Netzwerk mit Stadtentwicklungs-, Bildungs-, Jugend-, Sozial- und Wirtschaftspolitik erhebliche Gestaltungskräfte und Wirkungen für ein umfassendes Bewusstsein vom urbanen Leben entfalten kann. Gleichzeitig wurde deutlich, dass die endlose Kombination von Kultur mit vielen einzelnen gesellschaftlichen Gestaltungsfeldern (Kultur und …) dann zu einer Überforderung der (kommunalen) Kulturarbeit führen kann, wenn von Kultur jeweils ein konkret wirkender Beitrag zur Lösung sämtlicher möglichen gesellschaftlichen Probleme erwartet wird. Daher wird in Teil 2 dieses Buches eine Aufgliederung des Handlungsfeldes Kultur in drei praxisorientierte inhaltliche Gestaltungsfelder vorgenommen: Künste, Geschichtskultur und Kulturelle Bildung. In diesen Gestaltungsfeldern enthalten sind auch Architektur, Design und Medien, die Volks- und Laienkunst, die bildungs-, wissenschafts- und kunstverwandten Sparten wie Archiv-, Museums- und Bibliothekswesen sowie die Denkmal-, Landschafts-, Brauchtums-, Heimat- und Kulturgutpflege. Jeder dieser Bereiche ist zum einen Gestaltungsfeld der Kulturpolitik mittels der von ihr eingesetzten Ressourcen oder gesetzten rechtlichen Rahmenbedingungen, wobei auch zahlreiche nicht-staatliche Akteure in dem jeweiligen Gestaltungsfeld aktiv sind. Zum anderen sind diese Bereiche jeweils ein eigenes Kraftfeld für gesellschaftliche und individuelle Wirkung. So ist die staatliche/kommunale Künstlerförderung etwa ein kulturpolitisches Gestaltungsfeld, da Kulturpolitik über die Konzepte und Ziele, die Ressourcen, Rahmenbedingungen und Auswahlstrukturen entscheidet und deren Ausgestaltung festlegt. Die Kunst dieser (geförderten) Künstler ist ein Kraftfeld mit individueller – und möglicherweise auch gesellschaftlicher – Wirkung. Die künstlerische Gestaltung löst Kräfte aus, die die Kulturgesellschaft beeinflussen oder verändern können. Indem Künste, Geschichtskultur und Kulturelle Bildung zum Allgemeingut von Gemeinschaften, der Gesellschaft oder des Staates geworden sind, prägen sie dieses Kollektiv (mit). Adrienne Goehler sieht das von Kunst und Wissenschaft geprägte »herstellende Handeln« als entscheidendes Moment einer Kulturgesellschaft: »Die Kulturgesellschaft […] hat ihren Ausgangspunkt in der Tätigkeit, im herstellenden Handeln, einer durch Kultur aktiv getragenen Gesellschaft, die sich ihre

I. Kulturgesellschaft | 27 Gemeinschaft auf der Grundlage politisch motivierter normativer Entscheidungen kreativ erarbeitet. Ausgangspunkt auch deshalb, weil die beständige Veränderung von Lebensformen und -grundlagen einen kulturell veränderten und verändernden Umgang mit ihnen fordert. Kulturgesellschaft meint diesen riesigen Freiraum der zivilen Gemeinschaft, der nicht durch eine staatliche Kulturdoktrin erfüllt wird.«27 »Herstellendes Handeln meint die Einbindung von künstlerischer, wissenschaftlicher Produktion in den gesellschaftlichen, politischen und sozialen Prozess, stellt die Interaktion der beiden Bereiche heraus und befördert dadurch notwendige gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen.«28

Das Handlungsfeld Kultur wird zudem bestimmt und jeweils konkretisiert von der Trias »Raum, Zeit und Öffentlichkeit«:29 (a) Raum ist für den Menschen und den Kulturbürger nicht nur als eine rein geografische, natürliche oder physikalische Größe zu begreifen, sondern hat auch eine historische, religiöse, geistige, also psychologisch und emotional erlebbare (eigen, fremd, »Heimat«) und damit kulturelle Dimension.30 Auch in den kombinierten Begriffen »Kulturraum« oder »Kulturlandschaft« kommt der Raumbezug, die räumliche Dimension des Handlungsfeldes Kultur zum Ausdruck. Der regionale, städtische, dörfliche Raum ist damit ein Bestimmungsfaktor des Handlungsfeldes Kultur – und wird so Bezugspunkt von Kulturpolitik. Das Kulturelle kann regionale Räume zu Einheiten verbinden, die sogar Grenzen von Nationalstaaten überschreiten. Auch darin kommt die Kraft der Kultur zum Ausdruck. Die »Örtlichkeit« entfaltet Wirkung für das Handlungsfeld kommunaler Kulturpolitik: Sie hat ihren Auftrag zum einen aus der Örtlichkeit heraus zu entwickeln, stützt sich auf örtliche Traditionen und Initiativen. Zum anderen hat sie das Handlungsfeld im Blick auf die jeweilige Örtlichkeit hin zu erfassen. Schließlich entscheidet die örtliche Gemeinschaft31 über ihre kulturellen Belange. Auch das Handlungsfeld von Ländern und Bund hat Raumbezug. Der europäische Raum, in den der Kulturstaat Deutschland eingebettet ist, erweitert das Handlungsfeld Kultur in eine Dimension, die längst noch nicht hinreichend durch eine europäisch orientierte Kulturpolitik erfasst ist. Die im Zuge der Föderalismusreform als übliche Praxis festgeschriebene Vertretung der Bundesrepublik Deutschland auf EU27 | Goehler, 2006, S. 132. 28 | Ebd., S. 241. 29 | S. dazu und zum Folgenden Häberle, Peter, Kulturpolitik in der Stadt – ein Verfassungsauftrag, Heidelberg u.a. 1979, S. 46ff., 55ff.

30 | Häberle, 1979, S. 47. 31 | Art. 28 Abs. 2 GG bezieht die kommunale Selbstverwaltungsgarantie auf die »Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft«.

28 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext Ebene durch wechselnde Bundesländer wird dieser Dimension auch deshalb nicht gerecht, weil Landeskulturpolitik in ihrem Raumbezug mit der europäischen Kulturpolitik nicht kompatibel ist. Der regionale Raum hat zwar die Kraft, staatliche Grenzen – im Zusammenhang mit der jeweiligen Kulturregion – zu durchbrechen.32 Doch die von regionalen Bezugsgrößen gekennzeichnete Landeskulturpolitik ist eine viel zu enge Basis für eine auf den europäischen Raum bezogene Gestaltung des Handlungsfeldes Kultur im Sinne oder in Vertretung des Kulturstaates Deutschland. (b) Zeit: Nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit ist ein wesentlicher Bestimmungsfaktor des Handlungsfeldes Kultur. Es hat retrospektive und prospektive Dimensionen.33 Kultur ist von Traditionen geprägt und einem permanenten Wandel unterworfen, der in die Zukunft weist. Dabei ist die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die geronnene Zeit – ob in Form eines literarischen Werkes, eines Theaterstücks, einer Oper, eines Bauwerks, einer Skulptur oder eines Bildes – in den Künsten ein durchgängiges Prinzip. Kulturelle Vielfalt erwächst auch aus dieser Zeitperspektive: Kunst und Kultur verschiedener Epochen verbinden sich oder stehen nebeneinander. Kulturpolitik sollte die Zeitdimension des Handlungsfeldes Kultur permanent beachten und reflektieren. (c) Öffentlichkeit: Schließlich ist das Handlungsfeld Kultur geprägt von der Dimension einer jeweils spezifischen Öffentlichkeit. Kunst und Kultur lassen sich in unterschiedlichsten öffentlichen Räumen erleben. Jedes Kulturangebot hat oder findet seine eigene Öffentlichkeit, sein (interessiertes) Publikum. Die Medien vermitteln kulturelle Ereignisse und Prozesse an die allgemeine oder auch interessengeleitete Öffentlichkeit. So sind Bücher und Medien, Kulturbauten und Kunsträume, Kunstszene und Kulturereignisse wesentliche Elemente einer Infrastruktur der Öffentlichkeit, die in deren permanenten Strukturwandel eingebettet sind, diesen aber auch selbst mit bewirken. Und Kulturpolitik findet in öffentlich verfassten Strukturen, in den durch den Staat vorgegebenen öffentlichen Institutionen (Parlamenten, Parteien etc.) statt, wird aber auch von nicht-staatlichen Assoziationen wie Kulturvereinen, Bürgerforen und -inititiativen, Kultur- und Berufsverbänden mit beeinflusst. Dabei kommt es gerade auch in der Kulturpolitik zu einer »Vergesellschaftung des Staates« und zu einer »Verstaatlichung der Gesellschaft« durch wechselseitige Verschränkungen von Staat, Markt und Zivilgesellschaft.34 Das Handlungsfeld Kultur prägt so seinerseits die Öffentlichkeit mit, in der sich Kulturpolitik bewegt und konstituiert. 32 | Häberle, 1979, S. 54. 33 | Ebd., S. 55. 34 | Vgl. dazu auch Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a.M. 1990, S. 22f. sowie VIII.

I. Kulturgesellschaft | 29 Das Handlungsfeld Kultur setzt sich also aus verschiedenen inhaltlichen und strukturellen Elementen zusammen. Kulturpolitik hat insoweit jeweils sehr unterschiedliche Instrumente, das Handlungsfeld zu gestalten, je nach inhaltlichem Gestaltungsfeld (Künste, Geschichtskultur, Kulturelle Bildung), nach Handlungsformen (insbesondere Errichtung und Unterhaltung von Kultureinrichtungen, Durchführung von Veranstaltungen, finanzielle Förderung Dritter), nach Raum-, Zeit- und Öffentlichkeitsbezug und vor allem im Hinblick auf die Beteiligung, Aktivierung und Unterstützung von Akteuren in Wirtschaft und Gesellschaft (Verantwortungsteilung, »Public Private Partnership«, Ausgestaltung rechtlicher Rahmenbedingungen etc.). Kultur als Feld der Kulturpolitik ist daher weiter einzugrenzen und auszudifferenzieren. 1.3 Kultur als Politikfeld

Kulturpolitik ist als öffentliche Gestaltungsaufgabe zu verstehen. Das griechische Stammwort »polis« (Stadt, Bürgerschaft, Staat) deutet auf den Sinngehalt der Führung, Erhaltung und Ordnung eines Gemeinwesens hin, also sowohl einer Gemeinschaft als auch eines Staates. Im Mittelpunkt von Kulturpolitik steht in unserer Demokratie dementsprechend die Willensbildung, die Gestaltung von Willensbildungsprozessen unter Beteiligung verschiedener Akteure. Diese können nicht die gesamte Gesellschaft oder Kultur schlechthin (i.S. des Wirkungsfeldes) umfassen, da sonst der Begriff der Kulturpolitik allumfassend wäre. Kulturpolitik erstreckt sich vielmehr auf einen Ausschnitt des Handlungsfeldes Kultur. Zu diesem gehören die öffentlich getragenen Kulturinstitutionen, die öffentlich verantwortete Kulturförderung, die öffentlich initiierten Kulturveranstaltungen und das vom Staat für den Kulturbereich gesetzte Recht und die von ihnen (mit-)gestalteten Rahmenbedingungen für die Kulturwirtschaft. Kulturpolitik gestaltet das Handlungsfeld Kultur wesentlich mit und erzielt so auch Wirkungen in der (Kultur-)Gesellschaft. Kulturpolitik zielt damit auch auf die Aktivierung der Gesellschaft und der Bürger. Kulturpolitische Willensbildung vollzieht sich in der »kulturellen Öffentlichkeit« und im Wechselverhältnis mit gesellschaftlichen Gruppen. Sie ist kein »Closed Shop«, lebt vielmehr vom Diskurs und der Teilhabe zahlreicher Akteure aus der kulturellen Szene und der Bürgerschaft. Kulturpolitik kommt daher in mehrfacher Hinsicht eine Vermittlerrolle zu: Sie vermittelt zwischen gesellschaftlicher Situation/Entwicklung als Wirkungsfeld einerseits und staatlichem/kommunalem Handeln im Hinblick darauf andererseits. Programmatik und kulturpolitische Aufgaben sollten daher nicht »ex cathedra« festgelegt, sondern im gesellschaftlichen Diskurs herausgearbeitet werden. Dabei ist die Partizipation der Nutzer und Besucher von Kultureinrichtungen ebenso bedeutsam wie die Beteili-

30 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext gung von kulturellen Vereinigungen, freien Gruppen, Künstlern und Kulturschaffenden. Kulturpolitik sorgt also auch für die Vermittlung zwischen diesen am Kulturprozess beteiligten Akteuren. Sie ist ein »Gegenüber« für die Künste und kann sie als Kraftfeld in ihrer Wirkung unterstützen. Die Kulturgesellschaft wiederum kann von den Künsten das »Denken in Übergängen, Provisorien, Modellen und Projekten« lernen.35 Kulturpolitik hat zudem eine Vermittlerrolle im Hinblick auf die Beschaff ung von Mehrheiten und konsensualen Entscheidungen zugunsten des Ressourceneinsatzes in der politischen Führung, den Parlamenten und deren Gremien sowie bei privaten Förderern von Kultur. Dabei kommt es entscheidend auf die Überzeugungskraft von Konzepten an. Diese sollten die kulturpolitischen Aufgabenstellungen bewusst machen, konkretisieren und präzisieren, um letztlich für das jeweilige Vorhaben Unterstützung zu erlangen. Bei näherer Analyse der Kultur als Politikfeld schälen sich drei verschiedene Aufgaben- und Gestaltungsdimensionen der Kulturpolitik36 heraus, in denen sie ihrer Vermittlerrolle nachzukommen hat: (a) Policy: Kulturpolitik hat zunächst eine inhaltliche Dimension,37 die in der Programmatik, in inhaltlichen Aufgabenbeschreibungen von Kultureinrichtungen, in Konzepten, Zielen und Leitlinien zum Ausdruck kommt. (b) Polity: Kulturpolitik hat zum zweiten eine strukturelle/institutionelle Dimension:38 Sie entscheidet über die Strukturen, mit denen ihre Ziele umgesetzt werden (Kultureinrichtungen, Förderfonds etc.) und innerhalb derer die politische Willensbildung erfolgt. Die vorhandenen Strukturen, die im Kulturstaat Deutschland durch den kulturellen Trägerpluralismus und den Föderalismus vorgeprägt sind, können ihrerseits auch durch (kultur-)politische Entscheidungen verändert werden, etwa durch neue Kompetenzzuordnungen, durch die Konstituierung von Gremien, Jurys etc. Die strukturelle Dimension ist auch angesprochen, wenn es darum geht, Verantwortungspartnerschaften zu begründen, also Dritte zu aktivieren, Verantwortung im Handlungsfeld Kultur zu übernehmen (»aktivierender Kulturstaat«).

35 | Goehler, 2006, S. 243. 36 | Vgl. Klein, 2005, S. 30 sowie Benz, Arthur, Einleitung: Governance – Modebegriff oder nützliches sozialwissenschaftliches Konzept? in: ders. (Hg.), Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen, Wiesbaden 2004, S. 11ff., 19.

37 | Diese ist Schwerpunkt des Buchteils 2 – »Kontent«. 38 | Diese wird in Kap. III grundlegend erörtert, durchzieht jedoch sämtliche Kapitel dieses Buches.

I. Kulturgesellschaft | 31 (c) Politics: Kulturpolitik hat schließlich eine prozessuale Dimension,39 indem sie die Aufgabe hat, Verfahren zu gestalten, innerhalb derer die durch die verfassungsrechtliche Ordnung (Grundgesetz, Länderverfassung, Kommunalverfassung) vorgegebenen Organe im politischen Willensbildungsprozess (wie Parlamente, Stadträte, Kreistage, Kulturausschüsse, Ministerien, Kulturdezernenten etc.) sowie die politischen Akteure, die gesellschaftlichen Gruppen und Verbände zusammenwirken. In diesen Verfahren werden allgemeinverbindliche, aber auch auf den Einzelfall bezogene Entscheidungen und Vereinbarungen getroffen. Dazu gehören sowohl programmatische Entscheidungen als auch Beschlüsse über die Ressourcenverteilung, die rechtlichen Rahmenbedingungen und die Ausgestaltung von Partnerschaften. Von großer Relevanz ist, dass Kultur als Politikfeld ebenso wie als Wirkungs- und Handlungsfeld eine individuelle und eine kollektive Dimension hat. Die individuellen und kollektiven Wirkungen von Kulturarbeit und -angeboten sind ebenso zu reflektieren wie die ästhetische Dimension kulturpolitischer Entscheidungen. 40 In der Politik geht es im Kern darum, die Motive von Individuen und Kollektiven wahrzunehmen, ihr Verhalten in der Ziel- und Willensbildung zu beeinflussen, die jeweils anderen von (den eigenen?) Zielen zu überzeugen, um letztlich eine möglichst große Übereinstimmung zu erzielen. 41 Die Medien haben in diesem Zusammenhang eine entscheidende Vermittlerrolle, da sie den Prozess der kulturpolitischen Willensbildung nicht nur wiedergeben, sondern auch aktiv begleiten und anregen. Eine kulturpolitische Aufgabe besteht demzufolge darin, Tageszeitungen, Funk und Fernsehen in den kulturpolitischen Diskurs aktiv einzubeziehen, aber auch deren Rolle und Arbeit insoweit kritisch zu reflektieren. 42 Kulturpolitik hat zwar ein immenses Wirkungsfeld und komplexe Gestaltungsfelder, doch ihre eigentlichen Instrumente sind relativ begrenzt: Sie präpariert und triff t Entscheidungen. Dementsprechend sind die Instrumente der Aufgabenwahrnehmung in der Kulturpolitik im Wesentlichen: 39 | Diese Dimension wird im vorliegenden Buch vor allem in Teil 3 behandelt.

40 | Vgl. Naumann, Michael, Was ist Kultur? Über gesellschaftliche Selbstvergewisserung in Zeiten der Moderne, in: ders., Die schönste Form der Freiheit, Berlin 2001, S. 33ff.

41 | S. dazu auch Kap. VII/1. 42 | Der »puk-Journalistenpreis«, der von der Zeitung »politik und kultur« des Deutschen Kulturrates jährlich für allgemeinverständliche Vermittlung kulturpolitischer Themen vergeben wird, macht verdienstvoll auf diese sehr wesentliche »öffentliche Dimension« kulturpolitischer Berichterstattung in den Medien aufmerksam.

32 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext die gesellschaftlichen Entwicklungen und die sich daraus ergebenden kulturpolitischen Aufgaben zu reflektieren, zu diskutieren, zu definieren und zu evaluieren. Der kulturpolitische Willensbildungsprozess ist darauf auszurichten, Zielsetzungen herauszuarbeiten und im Konsens oder aufgrund von Mehrheitsentscheidungen festzulegen und (auch mit Partnern) zu vereinbaren. Kulturpolitik gestaltet Entscheidungen im Hinblick auf öffentliche Kultureinrichtungen und -veranstaltungen, die Kulturförderung, die kulturelle Ordnungspolitik (Rechtsetzung) und die Kulturstrukturpolitik (Kompetenzverteilung, Kulturwirtschaftsförderung etc.). Schließlich ist ein Instrument der Aufgabenwahrnehmung, dass Programme und Maßnahmenkataloge beschlossen und mit entsprechenden Ressourcen für die Umsetzung ausgestattet werden. Kulturpolitik kann ihre ureigenen Gestaltungsfelder indes erweitern, indem sie mit anderen Politikfeldern Allianzen eingeht. Besonders wirkungsvoll sind Allianzen mit den Bereichen Jugend, Schule und Stadtentwicklung. Von solchen kreativen Allianzen kann eine erhebliche Mobilisierungswirkung ausgehen. 43 Um die Aufgaben der Kulturpolitik in diesem umfassenden Zusammenhang verantwortungsvoll wahrzunehmen, kommt es – wie es Hermann Glaser so treffend formuliert hat 44 – sowohl auf Standfestigkeit als auch auf Denkfähigkeit an: Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik verlangt von den kulturpolitischen Akteuren, Position zu beziehen. Und da Kultur Sinn macht, müssen wir über sie und darüber, wie wir ihn stiften, immer wieder neu nachdenken und dazu immer wieder von Neuem die gesellschaftlichen Entwicklungen und Herausforderungen reflektieren.

2. G ESELL SCHAFTLICHER WANDEL Kulturpolitik wird nur dann vor den aktuellen und künftigen Herausforderungen bestehen und Sinn stiften, wenn wir sie als Gesellschaftspolitik begründen und gestalten. Kulturpolitik erhält ihre Begründung und ihre Ansätze in der Perspektive auf die Kulturgesellschaft und aus ihr heraus. 45 Die Reflexion des Verhältnisses von Kultur und Gesellschaft 43 | S. dazu Kap. VIII. 44 | S. Glaser, Hermann, »Bürgerrecht Kultur« – eine geistesgeschichtliche Vignette, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2006, S. 127ff., 133.

45 | Einen instruktiven Einblick in die kulturpolitischen Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte der »alten« Bundesrepublik Deutschland unter dem Rubrum einer »Kulturgesellschaft« geben Fohrbeck, Karla/Wiesand, Andreas Johannes, Von der Industriegesellschaft zur Kulturgesellschaft? Kulturpolitische Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland, München 1989, S. 10ff.

I. Kulturgesellschaft | 33 ist daher der Ausgangspunkt für die Entwicklung kulturpolitischer Begründungen. Dabei reicht es nicht, wenn nur einzelne Kulturpolitiker die kulturgesellschaftlichen Herausforderungen reflektieren, denn letztlich müssen die Analysen und Begründungen auch von anderen Akteuren im kulturpolitischen Prozess nach- und mitvollzogen werden, um Konsens oder zumindest Mehrheiten zu erzielen. Demzufolge ist ein diskursiver Prozess kulturpolitischer Begründung zu initiieren, der als ein offener gestaltet werden sollte. Dieser spielt sich in einem komplexen kulturgesellschaftlichen Kontext ab, den Adrienne Goehler wie folgt umschreibt: »Die Kulturgesellschaft ist ein Entwurf ins Offene, der auf die Gestaltung einer gesellschaftlichen Wirklichkeit zielt, in der die Vielfalt von Suchbewegungen, die überall beispielhaft zu fi nden sind, integriert werden, der also gerade nicht auf die Reduktion von Komplexität und Differenz gerichtet ist. Offene Denk- und Handlungsräume brauchen Umgangsformen, die das Plurale sozialer und ethnischer Zugehörigkeit, die Heterogenität von Generationen und das Erschließen verschiedener gesellschaftlich und ökonomisch wirksamer Arbeitsfelder ermöglichen, die nicht nach dem Muster üblicher politischer Großlösungen erstellt werden können. […] Eine Kulturgesellschaft begibt sich auf eine Vielfalt von Wegen, wägt ab und sucht den Austausch, erfi ndet und verwirft.« 46

Ein praktisches kulturpolitisches Exempel für diese Denk- und Handlungsansätze ist die Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 mit ihrem Motto »Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel«. Der Strukturwandel einer Region, die von Kohle- und Stahlproduktion geprägt war, in eine neue gesellschaftliche und damit kulturelle Zukunft ist zentrales Thema ihrer Programmatik für das Jahr 2010. Die These lautet: Gesellschaftlicher Wandel hat unmittelbare Auswirkungen auf die Kultur, und der kulturelle Wandel, der Wandel von Einstellungen und Lebensweisen hat Auswirkungen auf gesellschaftliche Entwicklungen. Diese Wechselwirkungen zwischen Kultur und Gesellschaft sind auch zentrale Themen von Philosophie, Sozial- und Politikwissenschaft. Folgerichtig ist es daher, dass eine Kulturpolitik, die sich als Gesellschaftspolitik versteht, in ihrer Begründung und Reflexion auch Erkenntnisse dieser Wissenschaftsdisziplinen aufgreift. Die Theoretiker und Wissenschaftler der Kulturpolitik setzen sich demzufolge in ihren Begründungsanalysen immer wieder mit sozialwissenschaftlichen Theorien, politikwissenschaftlichen Analysen und philosophischen Diskursen auseinander. Damit gerät kulturpolitische Erörterung aber in ein sehr weites Feld, zumal sie den Anspruch erhebt, »am Puls der Zeit« zu sein, also die jeweils aktuelle Debatte aufgreifen zu wollen. 46 | Goehler, 2006, S. 233.

34 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für praktische Kulturpolitik ziehen, die in dem Anspruch, (sämtliche) gesellschaftstheoretischen und -politischen Diskurse überblicken und reflektieren zu wollen, hoffnungslos überfordert wäre? Es gibt letztlich nur zwei Alternativen: Kulturpolitik kapituliert angesichts dieser Ausgangs- und Auftragslage und zieht sich auf die Gestaltung des »Schönen, Wahren und Guten« in Museen, Theatern und Orchestern zurück, gestaltet diesen Ausschnitt des Handlungs- und Wirkungsfeldes Kultur und verlässt sich darauf, dass diese Einrichtungen nicht an gesellschaftlichen Entwicklungen vorbei agieren. Damit würde aber der Ansatz einer Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik weitgehend aufgegeben und fast schon in der reinen Behauptung ihre Erfüllung finden. Die andere Option ist, dass Kulturpolitik eine Arbeitsweise entwickelt, der ihrem Anspruch gerecht wird, den gesellschaftlichen Wandel mit zu erfassen und alle gesellschaftlichen Kräfte zu aktivieren, ohne sich in theoretischen Diskursen zu verlieren. Dieser zweite Ansatz wird in diesem Buch verfolgt. Die kulturpolitische Reflexion bedarf dafür eines Instrumentariums, in und mit dem das Handlungsfeld und das Wirkungsfeld Kultur im oben beschriebenen Sinne erfasst werden können. Insoweit ist indes festzustellen, dass die Kulturpolitikforschung noch theoretische Defizite aufweist, die auch damit zu tun haben, dass es wenige Institutionen in Deutschland gibt, die grundständig Kulturpolitikforschung betreiben. 47 Vor diesem Hintergrund erschöpft sich die hier konzipierte Kulturpolitik nicht in der Erfüllung eines abstrakt formulierten gesellschaftspolitischen und sozialen Auftrags einer »Kultur für alle«, sondern verfolgt einen zweifachen Anspruch, der sich wie folgt formulieren lässt: Aktivierende Kulturpolitik hat einen intellektuellen Anspruch, den Anschluss an einen gesellschaftstheoretischen Diskurs zu halten, und einen praktischen Anspruch, alle vorhandenen gesellschaftlichen Kräfte für das kulturelle Leben zu aktivieren. Um die Komplexität der Realität als Wirkungsfeld zu erfassen, bedarf es daher eines Theorie-Praxis-Austausches mit dem Ziel der Reflexion der eigenen Ziele und ihrer Umsetzung. 47 | Pionier seit 1970 ist das Zentrum für Kulturforschung, s. dazu Wyrwoll, Regina (Hg.), Kulturforschung als Kulturschaffen. Festschrift zum 60. Geburtstag von Andreas Wiesand, Bonn 2005, S. 83ff. Der permanente Theorie-PraxisDiskurs, der etwa in der Kulturpolitischen Gesellschaft mit deren Institut für Kulturpolitik, den Tagungen und Kongressen, den Kulturpolitischen Mitteilungen und zahlreichen Veranstaltungen stattfi ndet, leistet inzwischen einen wesentlichen Beitrag der Vermittlung zwischen Kulturtheorie, Kulturwissenschaft und kulturpolitischer Praxis. Auch in verschiedenen Studiengängen zu Kulturwissenschaft und Kulturmanagement wird verstärkt die Thematik »Kulturpolitik« aufgegriffen.

I. Kulturgesellschaft | 35 Wie aber lässt sich das Rüstzeug für einen solchen kulturpolitischen Diskurs zu Beginn des 21. Jahrhunderts gewinnen? In jedem Fall ist es notwendig, sich mit gesellschaftspolitischen Grundlagen und Fragestellungen von Kulturpolitik auseinanderzusetzen – und zunächst mit dem Begriff von »Gesellschaft«. Dieser hat eine ähnlich inflationäre Wirkung und Entfaltung gefunden wie der Begriff »Kultur«. In den 1990er Jahren wurden die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen mit dem Etikett »Postmoderne« versehen, um zu verdeutlichen, dass nach der Moderne des Industriezeitalters eine neue Zeit angebrochen ist, in der andere Aspekte als industrielle Produktion die Gesellschaft prägen. In der Folge haben Soziologen den Begriff Gesellschaft in mannigfachen Wortkombinationen verwendet, die jeweils unterschiedliche gesellschaftsprägende Schwerpunkte fokussieren:48 • • • • • • •

die Weltgesellschaft (Martin Albrow); die Bürgergesellschaft (Ralf Dahrendorf); die Multioptionsgesellschaft (Peter Gross); die Informationsgesellschaft (Scott Lash); die Mediengesellschaft (Neil Postman); die Wissensgesellschaft (Helmut Willke und Karin Knorr-Cetina); die Verantwortungsgesellschaft (Amitai Etzioni).

Die ausgreifendsten Theorien sind die von Ulrich Beck zur »Zweiten Moderne« 49 und von Gerhard Schulze zur »Erlebnisgesellschaft« und vom Ende der »Steigerung durch Können« und »Ankunft im Sein«.50 Keine dieser Charakterisierungen unserer gesellschaftlichen Situation kann Allgemeingültigkeit besitzen und damit allein konstitutiv für kulturpolitische Begründungen und Analysen sein. Wenn auch die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Aspekte nebeneinander Gültigkeit haben, so gilt es doch, gesellschaftliche Trends auszumachen. Dafür können die wissenschaftlichen Analysen und Diskurse entscheidende Hinweise geben und als »Rüstzeug« für einen kulturpolitischen Diskurs zu Beginn des 21. Jahrhunderts dienen. Dabei ist zunächst die Pluralität der Gesellschaftsbegriffe zur Kenntnis zu nehmen. Im Zentrum eines weiten Kulturbegriffs und all der eben genannten gesellschaftlichen Charakterisierungen steht die Lebensweise. Das »Wie« ist 48 | S. Romeiß-Stracke, Felizitas, Abschied von der Spaßgesellschaft, Amberg 2003, S. 36.

49 | Vgl. Beck, Ulrich, Schöne neue Arbeitswelt, Frankfurt a.M./New York 1999.

50 | Schulze, Gerhard, Die beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert, München/Wien, 2003.

36 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext heute viel mehr bestimmender Faktor als in früheren Zeiten. Die permanente und ubiquitäre Verfügbarkeit von Informationen und Produkten in den globalisierten Informationsnetzwerken und Produktionsprozessen stellt uns immer weniger vor die Frage, »was« wir brauchen, als vor die Frage, »wie« wir mit den Dingen umgehen. Wie gestalten wir unsere Städte? Wie gestalten wir unsere Umwelt? Wie soll unser Alltagsleben gestaltet werden? Wie sieht unser Auto, unsere Kleidung aus? Wie gehen wir mit der Umwelt um? Wie gestalten wir Freizeit und Arbeit? Die Lebensweise wird damit zum bestimmenden Thema. Die Entwicklungen in unserer Arbeits- und Lebenswelt sind dabei von einer eminenten kulturpolitischen Bedeutung. Technischer Fortschritt und steigende Produktivität werden von einer Wirtschaftspolitik der Deregulierung und Flexibilisierung begleitet. Dies führt zu einem nachhaltigen Strukturwandel und einer insgesamt unsicher werdenden Arbeitsplatzsituation. Eine wachsende Langzeitarbeitslosigkeit und neue Armut können als Folgen davon zu einer weiteren Zunahme der sozialen Spaltung unserer Gesellschaft führen. »Das Verschwinden der Arbeit« lautete ein Buchtitel von Hermann Glaser Ende der 1980er Jahre, der deutlich machen sollte, dass die Arbeit verloren geht und die Freizeit (vermeintlich ins Unermessliche) wächst. Diese Prognosen sind indes so nicht eingetroffen; Kultur ist weder Ersatz noch Ersatzdroge. Im Wechselspiel von Arbeit und Freizeit ist kulturelle Betätigung und Rezeption nicht mehr nur als Faktor für die »Rekreation« des Menschen als Arbeitskraft zu sehen. Vielmehr ist kulturelle Aktivität heute ein entscheidender Entwicklungsfaktor für die Schlüsselkompetenz »Kreativität«, die auf dem Arbeitsmarkt von größter Bedeutung ist. Kunst und Kultur erhalten zunehmend ökonomische Bedeutung, werden zentral für die Entwicklung der Volkswirtschaft. Die Kreativwirtschaft rückt immer stärker vor: Die kreativen Klassen entscheiden mit ihren Innovationen über den wirtschaftlichen Erfolg in der nachindustriellen Gesellschaft. Eine Kernkompetenz für wirtschaftlichen Erfolg und Dynamik ist daher, mit den Kreativen als Produktivkräften der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung qualifiziert umgehen zu können. Uns ist allerdings immer mehr bewusst geworden, dass die Arbeit nicht alleiniger Ort der Selbstverwirklichung und der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ist. Im Kulturbereich sind interessante Beispiele für alle möglichen Formen sinnstiftender Tätigkeiten im fließenden Übergang von Erwerbsarbeit, sozialgemeinnützigem Engagement und aktiver Freizeitgestaltung anzutreffen, die sich auch wechselseitig ergänzen. Gerade im Kreativsektor gibt es Arbeits- und Beschäftigungsformen, die sich aus mehreren dieser Felder sowie unterschiedlichen Genres zusammensetzen. Der Kulturbereich kann daher auch in die Gesamtentwicklung der Arbeitswelt Erfahrungen mit schöpferischen Prozessen, kultureller Selbsttätigkeit, aber auch mit der Erschließung von freier Zeit als »Zeit der Muße« einbringen. Die Kultur-

I. Kulturgesellschaft | 37 gesellschaft lebt nicht nur von der durch Arbeit hergestellten Produktivität, sondern auch von Tätigkeitsformen, die sinnbildend sind: gesellschaftlich, ökonomisch, sozial.51 Kulturpolitik ist die Politik, die an gesellschaftlicher Orientierung und Sinnsuche intensiv beteiligt ist. Sinnsuche und Orientierung sind zentrale Ressourcen, die auf das Engste mit kulturellen Fragestellungen verknüpft sind.52 Die Kulturpolitik wird so verstanden zu einem zentralen Feld, da sie sich dann nicht nur auf die Kultureinrichtungen im engeren Sinne bezieht, sondern als Querschnittsfunktion in der Politik gestaltet werden kann.53 Angesichts der gesellschaftlichen Pluralität und der Pluralität der Gesellschaftsbegriffe der Postmoderne (»anything goes«) ist eine neue Zeit der Orientierung angebrochen. Kulturpolitik verlässt ihre Defensive, die auf den Erhalt des Bestehenden ausgerichtet ist, und kann selbstbewusst auftrumpfen: Sie ist im Zentrum der Politik angekommen. Sie ist nicht mehr nur eine Politik für die Kultur im engeren Sinne, für das Schöne, Wahre und Gute, die Theater, Oper, Orchester und Museen. Vielmehr reflektiert sie heute mehr denn je die gesellschaftliche Realität und bezieht sich auf die großen Bereiche, von denen wir Orientierung erwarten (dürfen): Religion, Wissenschaft und Kunst. Letztlich stiftet Kultur Sinn für die, • • • •

die Arbeit haben; die noch nicht arbeiten (Kinder und Jugendliche); die nicht mehr arbeiten (Senioren) und die nicht arbeiten dürfen oder können (Arbeitslose).

Sinnstiftung und Orientierung gehören zum Wichtigsten, was Kulturpolitik und kulturelles Handeln im Wirkungsfeld Kultur auslösen können. Ich sehe vor allem fünf ebenso weitreichende wie langfristige gesellschaftliche Wandlungen, die als Herausforderungen für diskursive Suchbewegungen in einer »offenen Kulturgesellschaft« bezeichnet werden können und als Wirkungsfelder kulturpolitischen Handelns exemplarisch analysiert werden sollen:

51 | Goehler, 2006, S. 243. 52 | S. dazu Di Fabio, 2005, S. 22: »Menschliche Gesellschaften gründen auf einem gemeinsam geteilten Sinnhorizont.«

53 | Dies ist einer der Hintergründe dafür, dass Kulturpolitik ins Zentrum der Macht kommt, auch organisatorisch im Bundeskanzleramt (Staatsminister für Kultur), bei den Ministerpräsidenten in Nordrhein-Westfalen oder Schleswig-Holstein oder bei den Regierenden Bürgermeistern in Berlin und Bremen.

38 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext • • • • •

Ökonomisierung; Globalisierung; Medialisierung; Individualisierung; Pluralisierung.

Die Reflexion dieser gesellschaftlichen Herausforderungen erfolgt immer mit dem Bezugspunkt des Individuums, das an diesen Entwicklungen teilhat oder auch davon betroffen ist. Die Komplexität, mit der »Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik« es in ihrer Offenheit für den kulturellen und gesellschaftlichen Wandel zu tun hat, ist eine große Herausforderung, die der permanenten Konkretion und Reduktion auf das Wesentliche bedarf. Die gesellschaftlichen Entwicklungen können hier nur paradigmatisch und exemplarisch angerissen werden. In der kulturpolitischen Praxis sind die spezifischen (kultur-)gesellschaftlichen Konstellationen des jeweiligen Begründungskontextes im Einzelnen zu reflektieren und unter den beteiligten Akteuren zu diskutieren. Für diese politische Aufgabe bedarf es vor allem der Ressource »Zeit« sowie (geschützter) Denk- und Diskursforen. 2.1 Ökonomisierung

Kulturpolitische Betrachtungen haben immer wieder zwei spannungsvolle Verhältnisse in den Blickpunkt gerückt: Während die Beziehung zwischen Kultur und Verwaltung als eine notorisch angespannte, da widersprüchliche angesehen wurde,54 wurde die Beziehung zwischen Kultur und Wirtschaft bis zum Ende der 1970er Jahre zunächst totgeschwiegen oder ausgeblendet (Kultur darf nicht ökonomisch betrachtet werden), wurde dann entdeckt, indem die wirtschaftliche Bedeutung von Kultur ins Bewusstsein kam, um sogleich wieder als mögliche feindlich-freundliche Übernahme der Kultur durch die Ökonomie charakterisiert zu werden (»Die neuen Freunde der Kultur«). Heute wissen wir: Der Wert der Kultur lässt sich nicht allein mit ökonomischen Faktoren beschreiben. Vielmehr lautet ein Bonmot: Der Wert der Kultur besteht in ihrer Unbezahlbarkeit. Kultur lässt sich in ihren Wirkungen eben nicht nur ökonomisch erfassen. Wenn die ökonomische Betrachtung auch nicht hinreicht, um die Wirkung kultureller Kräfte insgesamt zu erfassen, so haben ökonomische Faktoren doch erhebliche kulturpolitische Relevanz: Ökonomischer Erfolg einer Volkswirtschaft entscheidet letztlich darüber, ob hinreichend Mittel für kulturelle Aufgaben zur Verfügung gestellt werden können. Der ökonomische Erfolg von Wirtschaftsunternehmen und Privatpersonen ist auch Basis für private 54 | Nach wie vor lesenswert dazu ist Adorno, Theodor W., Kultur und Verwaltung, in: Merkur 1960 (144), S. 101ff.

I. Kulturgesellschaft | 39 Kulturförderung, und der ökonomische Erfolg von Kultureinrichtungen sichert Ressourcen für deren Arbeit im Sinne ihrer kulturpolitischen Zielsetzungen. Insoweit ist die ökonomische Erfassung der kulturellen Handlungs- und Wirkprozesse durchaus eine sinnvolle Betrachtungsweise, die auch für kulturpolitische Analysen und Zielsetzungen wichtige Erkenntnisse liefert. Im gesellschaftlichen Wandel haben drei ökonomische Trends zunehmende Bedeutung erlangt, die für eine Reflexion kulturgesellschaftlicher Entwicklungen exemplarisch skizziert werden sollen: • •



Das Handlungsfeld Kultur ist ein wesentliches Medium in der »Ökonomie der Aufmerksamkeit« (a). Wirtschaft und Kultur sind in vielfältiger Weise aufeinander bezogen und miteinander verwoben. Die Kultur- und Kreativwirtschaft ist eine Wachstumsbranche (b). Die Professionalisierung des Kulturmanagements basiert auch auf der zunehmenden Nutzung ökonomischer Erkenntnisse im Politik- und Handlungsfeld Kultur, weshalb Kultureinrichtungen zunehmend als »Kulturbetriebe« auch an ökonomischen Zielsetzungen ausgerichtet werden (c).

(a) »Ökonomie der Aufmerksamkeit«: Kulturpolitik handelt in und mit der Ökonomie der Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit ist eine entscheidende Währung von Politik in der Öffentlichkeit. Prestige, Reputation, Prominenz und Ruhm sind heute Formen genuinen Kapitals.55 Prominente Politiker sind die Klasse von Personen, von denen allgemein bekannt ist, wer sie sind. Sie gehen ins öffentliche Bewusstsein ein und können das öffentliche Bewusstsein prägen. Durch ihren öffentlichen Status bedingt sind prominente Politiker »Bezieher massenhaft gespendeter Aufmerksamkeit«.56 Politische Reputation ist daher der Reichtum an Beachtung, die von ihrerseits beachteten Personen gewährt wird. Prestige hat, wer im Wissen oder in der Annahme beachtet wird, dass viele andere Menschen auf ihn achten. Politik will Aufmerksamkeit wecken, Prestige, Reputation und Prominenz erlangen oder gar Ruhm, »die höchste Form des rentierlichen Reichtums an Beachtung«.57 Kultur bietet die Währung der Aufmerksamkeit in besonderem Maße: Sie stellt Plattformen und Drehscheiben für Kontakte und Kommunikation bereit, zumal Kultur und Kulturelle Bildung in der allgemeinen Öffentlichkeit in aller Regel positiv besetzt 55 | S. Franck, Georg, Ökonomie der Aufmerksamkeit, München/Wien 1998, S. 120.

56 | Ebd., S. 119. 57 | Ebd., S. 118: Berühmt ist nur, wer so bekannt ist, dass die Bekanntheit für sich genommen schon hinreicht, um für fortdauernde Beachtung zu sorgen.

40 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext sind. Der Imagetransfer zwischen prominenten Künstlern oder gar Stars und Politikern verspricht erhöhte Kurswerte der Beachtlichkeit oder gar Achtung. Aber auch ein Bild eines Politikers mit musizierenden Kindern ist einnehmend, hat eine optimistische Ausstrahlung. Wenn sich Politik mit Kultur verbindet, kann dies positive Kommunikation bewirken. Diese Erkenntnisse der Ökonomie der Aufmerksamkeit sollte sich Kulturpolitik zunutze machen: Sie sollte nicht als Bittsteller auftreten, wenn es um finanzielle Zuwendungen geht. Auch Kulturschaffende sollten sich ihres Aufmerksamkeitswertes bewusst sein und eine Kommunikation »auf Augenhöhe« mit Politikern pflegen. Um politischen Konsens zu erzielen, ist daher neben der Zieldimension – eine Übereinstimmung von Kultureinrichtungen mit politischen Zielen – die Aufmerksamkeitsdimension von großer Bedeutung: Eine Kultureinrichtung kann sich als eine positiv besetzte Kommunikationsplattform für Politiker mit der Währung »Aufmerksamkeit« im »politischen Geschäft« erfolgreich positionieren. Die Möglichkeiten für einen gemeinsamen öffentlichen Auftritt sind vielfältig: Veranstaltungen, Ausstellungseröffnungen, Pressekonferenzen, Grußworte in Publikationen, Begegnungen zwischen Politik und Wirtschaft, Hintergrundgespräche, Freundeskreissitzungen etc. Kulturelle Institutionen haben Politikern also etwas Bedeutendes zu bieten: positiv besetzte Ziele und eine wertvolle, emotionale Wirkung in der (kulturellen) Öffentlichkeit. Sie sollten daher im Verhältnis zur Politik eine selbstbewusste und viel aktivere Rolle einnehmen. Kultureinrichtungen haben große Chancen, sich nicht nur bei Publikum und Nutzern, sondern auch bei Politikern »gut zu verkaufen«. Umgekehrt sollten die Kulturverantwortlichen im Bewusstsein handeln, dass sie letztlich von Politikern zunächst auch selbst Aufmerksamkeit, ja »Zuwendung« im nicht finanziellen Sinne erwarten oder – besser gesagt – sich um diese bemühen sollten. Aus verständnisvoller Zuwendung der Politiker kann dann finanzielle Zuwendung erwachsen. Die meist schlechtere und nicht so nachhaltige Alternative ist die »erpresste« finanzielle Förderung. Diese wird in der Politik dann entweder durch den Druck der Öffentlichkeit oder das politikinterne Tauschgeschäft bewirkt (Beispiel: »Nur wenn Ihr unsere Musikschule fördert, helfe ich Euch bei Eurem Sportplatz«). Solchen Druck zu erzeugen kann kraftraubend sein und ist naturgemäß auch mit dem nicht zu unterschätzenden Risiko der Ablehnung verbunden (»Wir lassen uns doch von diesen wenigen Kulturenthusiasten nicht erpressen«). Doch auch dieser Weg ist eine Variante eines Polit-Marketing, die als Ultima Ratio im Einzelfall einschlägig sein kann. Ein Polit-Marketing, das von der Erkenntnis der Ökonomie der Aufmerksamkeit gespeist ist, befolgt folgende Schritte:

I. Kulturgesellschaft | 41 •







Zunächst ist die Position der jeweiligen Kulturinstitution in der Politik zu analysieren: Welche Rolle spielt die Kultureinrichtung im Bewusstsein der Politiker, welche Transfereffekte in der Ökonomie der Aufmerksamkeit kann die Institution bieten? Die Kampagnenfähigkeit der Kultureinrichtung gehört zu den ökonomischen Basiselementen: Es bedarf einer Analyse des politischen Geschäfts, um zu klären, wo Strategien zu einer Positionierung der Kulturinstitution anknüpfen sollten. Die Kulturinstitution kann im politischen Prozess so neu positioniert werden, dass sie auf der Basis eines politischen Konsenses über die Ziele für ihre Arbeit in ihrer Ressourcenausstattung gesichert wird: Konsens durch Zielvereinbarung und Identifi kation der Politik mit den kulturpolitischen Zielen (positive Wirkung in der Öffentlichkeit). Es sollten alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, bei und gemeinsam mit Politikern Aufmerksamkeit zu erzielen: bei Presseauftritten, öffentlichen Veranstaltungen, PR-Aktionen, Kulturereignissen, auch im Zusammenspiel mit anderen Prominenten aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.58

Letztlich sind Inhalte, Argumente und Konzepte der kulturellen Institutionen immer wieder in das Bewusstsein der politischen Akteure zu rufen, um die Möglichkeiten, Prominenz, Prestige und Reputation zu gewinnen, den Politikern und ihren Partnern bewusst werden zu lassen.59 Kulturpolitik kann ihrerseits die Ökonomie der Aufmerksamkeit gezielt einsetzen, um andere für ihre Ziele zu gewinnen. (b) Kultur- und Kreativwirtschaft: Zwischen Wirtschaft und Kultur gibt es fließende Übergänge, sie sind in mannigfacher Weise aufeinander bezogen und miteinander verflochten. Dies zeigt schon ein kurzer Überblick über die Themen, die in der Kulturpolitik im Wechselverhältnis von Wirtschaft und Kultur in den letzten drei Jahrzehnten Karriere gemacht haben: • Traditionell hat die Wirtschaft die Kultur als Mäzen oder Förderer unterstützt, in den 1980er Jahren ist das echte Sponsoring neu entdeckt worden: Es geht um Leistung und Gegenleistung, um den Imagetransfer zwischen Kultur und Wirtschaft.60 • Ebenfalls in den 1980er Jahren wurde die volkswirtschaftliche Bedeu58 | S. dazu Scheytt, Oliver, Polit-Marketing für Kultureinrichtungen, in: Loock, Friedrich/Scheytt, Oliver, Kulturmanagement und Kulturpolitik, Loseblatt, Berlin 2007 (B 1.4).

59 | Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, ist etwa einer der Politiker, der seine Prominenz durch kulturelle Gestaltung und kulturpolitische Aktivitäten wesentlich gesteigert hat.

60 | Zahlreiche Buchtitel haben dieses Thema aufgegriffen: Vgl. nur Braun,

42 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext







tung von Kunst und Kultur im Sinne der Umwegrentabilität öffentlicher Kulturausgaben verstärkt in das kulturpolitische Bewusstsein gerückt. Es ging um den »Sekundärnutzen« öffentlicher Kulturförderung nach dem vereinfachten Motto: Wer Kulturveranstaltungen besucht oder Kulturreisen unternimmt, gibt dabei auch für Gastronomie und Einkaufen Geld aus. Theater und Museen induzieren ihrerseits Nachfrage bei Zulieferern etc.61 Die Kulturszene einer Stadt ist auch ein weicher – oder zunehmend sogar harter – Standortfaktor: Wirtschaftsunternehmen siedeln sich lieber dort an, wo es ein kreatives Milieu gibt, das Kunden und Mitarbeitern den Eindruck vermittelt, dass das Unternehmen an einem attraktiven Standort seinen Sitz hat. Gerade für die Gewinnung von Arbeitskräften der »Kreativen Klasse« sind Talent, Toleranz und Technologie entscheidende Faktoren.62 Seit Anfang der 90er Jahre ist die Kultur- und Kreativwirtschaft zunehmend ins Blickfeld gerückt – ausgelöst durch den ersten Kulturwirtschaftsbericht Europas, der für Nordrhein-Westfalen erstellt wurde. Kulturpolitik steht damit in unmittelbarem Bezug zur Wirtschaftsund Strukturpolitik von Bund, Ländern und Kommunen. Immer stärker finden betriebswirtschaftliche Erkenntnisse Eingang in die Betrachtung kultureller und künstlerischer Produktionsprozesse, wodurch sich die Karriere des Begriffs »Kulturbetrieb« erklären lässt: Der »Kunstbetrieb« wird eben nicht nur von Museen, sondern auch von Galerien, Kunstberatern, Auktionshäusern etc. bestimmt, in dem die Museen ihrerseits einzelne Kulturbetriebe (s. dazu unter [c]) in einem größeren betriebswirtschaftlichen und volkswirtschaftlichen Zusammenhang sind.63

Günther E./Gallus, Thomas/Scheytt, Oliver, Kultur-Sponsoring für die Kommunale Kulturarbeit, Köln 1996 mit vielen weiterführenden Hinweisen.

61 | Hierzu grundlegend die Studie von Hummel, Marlies/Berger, Manfred, Die volkswirtschaftliche Bedeutung von Kunst und Kultur, Gutachten im Auftrag des Bundesministers des Inneren, Berlin/München 1988.

62 | Schon seit den 1980er Jahren wird dieser zunächst als Sekundärnutzen betrachtete Effekt immer wieder in politischen Argumentationen benutzt. Seit der Diskussion der Thesen Richard Floridas zur Kreativen Klasse ist diese Thematik nunmehr als ein harter Standortfaktor einzustufen, denn für eine kreative Ökonomie sind die kreativen Kräfte und eine von Kunst und Kultur aufgeladene städtische und regionale Szene entscheidend. S. Florida, Richard, The Rise of the Creative Class. And How It’s Transforming Work, New York 2004.

63 | Siehe zu all dem Heinrichs, Werner, Der Kulturbetrieb. Bildende Kunst – Musik – Literatur – Theater – Film, Bielefeld 2006 sowie die Ausführungen in Kap. III zur kulturellen Wertschöpfungskette.

I. Kulturgesellschaft | 43 All diese ökonomischen Entwicklungen und Reflexionen auf der Basis volkswirtschaftlicher und betriebswirtschaftlicher Erkenntnisse der Gesellschaft sind für die Kulturpolitik von größter Relevanz. Entscheidend dabei ist, welchen Eingang ökonomische Ziele in das Zielsystem von Kulturpolitik finden. Ökonomische Entwicklungen, Analysen und Betrachtungen haben ganz erhebliche, zum Teil radikale Konsequenzen für die Reflexion von Kulturpolitik. Während die »Neue Kulturpolitik« ökonomische Aspekte noch weitgehend vernachlässigt hat, ihre Begründungspraxis sogar auf einer Abgrenzung von und Dialektik zu ökonomischen Aspekten basierte, würde Kulturpolitik im Kulturstaat Deutschland heute an der gesellschaftlichen Realität vorbeigehen, wenn sie nicht ökonomische Belange intensiv reflektieren und auf diese eingehen würde: Unsere Kulturgesellschaft ist von ökonomischen Prozessen geprägt. Kunstproduktion, -vermarktung und -vertrieb folgen auch ökonomischen Gesetzmäßigkeiten. Zwischen öffentlich geförderter Kunst und Gewinne erzeugendem Kultur-Kommerz gibt es fließende Übergänge. Kulturelle Güter und Dienstleistungen sind nicht nur Träger von Ideen und Wertvorstellungen, sondern werden auch auf Märkten gehandelt. Wenn allerdings wirtschaftliche Aspekte in den Vordergrund treten, könnte die Folge sein, dass die kulturpolitischen Motive vernachlässigt werden, deretwegen Kunst und Kultur als öffentliche Güter gefördert werden. Wenn aber ein allein an künstlerischen Werten bzw. ästhetischen Maßstäben orientiertes Kulturverständnis vorliegt, können ökonomische Aspekte aus dem Blick geraten. Dieses Paradigma hat in Deutschland eine »lange Geschichte«.64 Nachdem zunächst Nordrhein-Westfalen im Jahre 1992 den ersten Kulturwirtschaftsbericht vorgelegt hat, haben inzwischen neun weitere deutsche Länder Kulturwirtschaftsberichte erstellt. Darin werden die Bedeutungen der Kulturwirtschaft als Wirtschaftsfaktoren und die zunehmende Wertschöpfung seitens der politisch administrativen Institutionen dokumentiert.65 Festzuhalten ist, dass die Kulturwirtschaft den Vergleich mit anderen Branchen nicht zu scheuen braucht. Sie hat nach aktuellen Berechnungen im Jahr 2004 einen Beitrag zur Bruttowertschöpfung von insgesamt 36 Mrd. Euro geleistet, was einem Anteil von 1,6 % entspricht. Damit liegt die Kulturwirtschaft zwischen der chemischen Industrie (46 64 | S. Enquete-Schlussbericht, S. 333ff. – Deutscher Bundestag (Hg.), Schlussbericht der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland«, Bundestags-Drucksache 16/7000, auch als Nachdruck beim ConBrio Verlag, Regensburg 2008 erhältlich (zit.: Enquete-Schlussbericht, Seitenangabe gemäß BTagsDrs.).

65 | Auch einzelne Städte haben bereits Kulturwirtschaftsberichte erarbeitet, z.B. Aachen oder Köln. Vgl. dazu Enquete-Schlussbericht, S. 336.

44 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext Mrd. Euro und 2,1 %-Anteil am BIP) und der Energiewirtschaft (33 Mrd. Euro und 1,5 %-Anteil am BIP).66 Zählt man zur Kulturwirtschaft auch die Kreativwirtschaft hinzu, also auch Werbung, Software und Games, wird ein Umsatz von insgesamt 58 Mrd. Euro erreicht. Diese Daten verdeutlicht die Grafi k (Abb. 1) aus dem Enquete-Schlussbericht. Abbildung 1: Bruttowertschöpfung der Kulturwirtschaft und der Creative Industries 2004 (Kulturwirtschaft zzgl. Werbung, Software und Games) Bruttowertschöpfung in Mrd. Euro 80 70 60 50

70

64

= 2,6 % des dt. BIP

58 22

40

36 33

30 20

= 1,6 % des dt. BIP

46

24

36

10 0 Kredit- Automobil- Creative Chemiegewerbe industrie Industries industrie

KulturEnergie wirtschaft*

Landwirtschaft

*ohne öffentlichen Kulturbetrieb (= 6 Mrd. Euro)

Quelle: Enquete-Schlussbericht, S. 336

Die Gesamtzahl der Erwerbstätigen im Kultursektor in Deutschland betrug im Jahr 2003 rund 800.000 Personen. Weitere 150.000 Beschäftigte arbeiteten in Kulturberufen in sonstigen Produktions-, Handels-, Dienstleistungs- und öffentlichen Bereichen. Der Anteil der Erwerbstätigen im Kultursektor liegt damit bei 2,7 % der erwerbstätigen Bevölkerung. Diese Zahl entspricht etwa jener der bundesweit im Kreditgewerbe Beschäftigten.67 Rund ein Drittel der im Kultursektor insgesamt Erwerbstätigen ist selbständig im Vergleich zu zehn % in der Gesamtwirtschaft. In der erwerbswirtschaftlichen Kultur- und Kreativwirtschaft agieren unterschiedliche Akteurstypen, die sich nach Betriebsgröße und Rechtsform unterscheiden und zuordnen lassen: • • •

selbständige Künstler und Kleinstunternehmen (z.B. Einzelunternehmen, GbR); kleine und mittelständische Unternehmen (z.B. GmbH); Großunternehmen (z.B. Aktiengesellschaften).

66 | Näher dazu ebd. 67 | Ebd., S. 338 mit weiteren Daten.

I. Kulturgesellschaft | 45 Der überwiegende Teil der Kultur- und Kreativwirtschaft mit knapp 80 % ist allerdings sehr kleinteilig organisiert. Ursache ist der große Anteil von Selbständigen, die in der überwiegenden Anzahl auch keine Arbeitnehmer beschäftigen. Die Zahl der Unternehmen in der Kultur- und Kreativwirtschaft stieg allein in 2004 von ca. 191.000 auf 200.000. Die Kultur- und Kreativwirtschaft hat insgesamt eine wachsende Bedeutung in unserer Kulturgesellschaft. Neue kulturelle Praktiken und Produkte entwickeln sich heute auch im Zusammenspiel von originär künstlerisch-kreativ Tätigen mit kulturvermittelnden Akteuren. Künstler, Vermittler und Publikum bilden ein aufeinander bezogenes System. Kulturpolitik muss daher die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Akteuren beachten. Das neue Selbstverständnis von Kulturpolitik sollte davon geprägt sein, auch eine enge Abstimmung mit der Wirtschaftspolitik und der Stadtentwicklungspolitik vorzunehmen: Sie muss daher in den Dialog mit allen Kulturakteuren eintreten, auch mit solchen, die Kultur aus der erwerbswirtschaftlichen Perspektive schaffen und vermitteln.68 (c) Kulturbetrieb: Die ökonomische Betrachtung des Kultursektors hat zu einer Karriere des Begriffs »Kulturbetrieb« geführt, mit dem zum einen jede einzelne Institution wie beispielsweise ein Museum, ein Theater oder Orchester bezeichnet werden kann. Der Kulturbetrieb wird dann als eine organisatorische Einheit gesehen, in der etwas produziert oder zur Schau gestellt wird.69 Mit »Kulturbetrieb« bezeichnet man zum anderen auch die Gesamtheit aller solcher Einzelbetriebe. Dann handelt es sich um einen Gattungsbegriff, der die Summe aller institutionellen Erscheinungsformen von Kultur umfasst (z.B. »Kunstbetrieb«, »Musikbetrieb«). Eine entscheidende Erkenntnis ist dabei: Kulturpolitik darf sich nicht in der Kunstproduktionsförderung erschöpfen, sondern erstreckt sich auf die gesamte »Wertschöpfungskette«. Diese hat sowohl für den öffentlichen Kulturbetrieb als auch für den privaten und kommerziellen Kulturbetrieb in gleicher Weise Bedeutung. Das professionelle Kulturmanagement greift auf Erkenntnisse der Betriebswirtschaft zurück, Methoden des Marketing, des Controlling, der Führung und Organisation etc. Ziel ist es dabei, einen »exzellenten Kulturbetrieb« zu generieren, der sicherstellt, dass die eingesetzten Mittel optimal verwendet werden.70 Immer deutlicher wird, dass es einer integralen Sicht von Kulturpolitik und Kulturbetrieb bedarf, um die Gesamtheit der Steuerung und Leitung von Kultureinrichtungen abzubilden.71 68 | Ebd., S. 340. 69 | Heinrichs, 2006, S. 13. 70 | Siehe dazu das Standardwerk von Klein, Armin, Der exzellente Kulturbetrieb, Wiesbaden 2007.

71 | Das als Loseblattwerk erscheinende Werk von Friedrich Loock und Oliver

46 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext Kulturpolitik profitiert von einer Professionalisierung des Kulturmanagements, indem die von den Ressourcengebern eingesetzten Mittel aufgrund modernster Erkenntnisse effektiver eingesetzt werden können und werden.72 So begrüßenswert diese Entwicklung ist, so genau sollte allerdings beachtet werden, dass ökonomische Zielsetzungen nicht die Überhand über kulturpolitische Interessen gewinnen. Ein nur an ökonomischen Zielsetzungen orientiertes Denken und Handeln würde die Erkenntnis missachten, dass Kulturpolitik auf Gesellschaft und Bürger ausgerichtet ist, wie kaum ein anderes Politikfeld den Menschen »als Ganzes« zum Thema hat. Die katastrophale ökonomische Situation führt zu radikalen Sparvorgaben für die öffentlichen Haushalte. Das betrifft in der Regel besonders die Kulturausgaben.73 Hintergrund dafür ist die Grundsatzproblematik der Verteilung von Kapital in unserer Gesellschaft und der Finanzverteilung zwischen den staatlichen Ebenen (Verteilungskampf). Aus der Notwendigkeit zu sparen einerseits und dem Verteilungskampf andererseits resultieren für Kulturpolitik und Kulturmanagement zwei Fragestellungen: Wo und wie wird konkret gespart? Und: Wie positioniert sich die Kultur im Verteilungskampf? Dabei besteht die Gefahr, dass »Sparen als Politikersatz« Einzug hält, dass finanzielle und ökonomische Zielvorgaben die inhaltlichen Zielsetzungen von Kulturpolitik verdrängen. So findet das ökonomische Zielsystem, ein am »Gewinn« orientiertes Handeln, gesteuert oder schleichend Eingang in das Zielsystem der Kulturpolitik. Angesichts knapper öffentlicher Kassen ist effektives Bewirtschaften der Ressourcen sicher anzustreben, müssen öffentlich geförderte Kulturinstitutionen, gerade auch die angebotsorientierten Kultureinrichtungen wie Theater oder Museen, ökonomische Ziele beachten und die Mittel mit höchster Effektivität einsetzen. Doch zu reflektieren ist, auf welche Ziele diese Effektivität bezogen wird. Problematisch wird es zudem, wenn kommunale oder regionale Kulturangebote nur noch als Mittel zum Zweck »wirtschaftlicher Standortförderung« gesehen werden. Kultur und Kulturpolitik werden dann in eine dienende Rolle gegenüber der Ökonomie gedrängt. Kulturpolitik bedarf aber einer klaren Standortbestimmung, die folgenden Ausgangspunkt haben sollte: Kultur muss ihren eigenen Sinn und Eigenwert sowie ihre gesellschaftskritische Rolle behaupten; sie hat daher ganz eigene ZielsysScheytt, Kulturmanagement und Kulturpolitik, Berlin 2006, verfolgt diese integrale Sicht und wird durch vier bis fünf Ergänzungslieferungen pro Jahr fortlaufend aktualisiert.

72 | Sehr instruktiv zu dieser Thematik auch Heinrichs, Werner, Kulturpolitik und Kulturfinanzierung. Strategien und Modelle für eine politische Neuorientierung der Kulturfinanzierung, München 1997.

73 | Ausnahmen – wie die Verdoppelung des Kulturförderetats des Landes NRW in der Legislaturperiode von 2005-2010 – bestätigen die Regel.

I. Kulturgesellschaft | 47 teme jenseits ökonomischer Zweckrationalität. Kulturförderung darf somit nicht allein am ökonomischen »Gewinn« orientiert werden. Nicht aus ökonomischen Zielen heraus leitet sich der öffentliche Auftrag der Kulturarbeit ab, sondern aus der gesellschaftlichen Rolle, die der Kultur zukommt (»Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik«).74 Kulturpolitik leistet einen erheblichen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration. Zudem verpflichten Verfassungsnormen Staat und Kommunen, Kunst und Kultur zu fördern.75 Hauptziel von Kulturpolitik ist nicht, Geld zu sparen, zusätzliche Finanzmittel bei der Wirtschaft zu akquirieren oder Managementprozesse zu optimieren. Hauptziel von Kulturpolitik ist vielmehr, die kulturellen Belange der Bürger im Kulturstaat Deutschland und seinen Städten zu beachten und zu fördern. Dabei geht es zum einen um entsprechende Angebote für die freie kreative und kulturelle Betätigung. Dazu gehört zum anderen aber auch die Lobby- und Bewusstseinsarbeit bei Politik und Wirtschaft, dass unser Handeln kulturell auszurichten ist.76 2.2 Globalisierung

Eine der wichtigsten gesellschaftlichen Entwicklungen ist die Globalisierung und Internationalisierung. Natürlich ist es nicht neu, dass Waren und Dienstleistungen weltweit gehandelt werden, doch kein anderer Zweig der Weltwirtschaft hat so hohe Wachstumsraten und weist so starke Asymmetrien auf wie der Bereich der kulturellen Dienstleistungen, insbesondere im audiovisuellen Bereich. Zwischen 1994 und 2002 hat sich das jährliche weltweite Handelsvolumen mit Druckerzeugnissen, Literatur, Musik, Bildender Kunst, Kino, Fotografie, Radio, Fernsehen, Spiel- und Sportartikeln fast verdoppelt: von 39,3 auf 59,2 Mrd. US-Dollar.77 Seit 2002 ist nunmehr China hinter Großbritannien (Exportwert 7,1 Mrd. Euro) und 74 | Ganz anders Göschel, Albrecht, Kultur in der Stadt – Kulturpolitik in der Stadt, in: Göschel, Albrecht/Kirchberg, Volker (Hg.), Kultur in der Stadt, Opladen 1998, S. 229ff., der eine »Legitimationslücke« der Kulturpolitik ausmacht, da die »Idee des Kulturstaats hinfällig« sei und Kulturpolitik sich einerseits in Sozialstaatlichkeit auflöse oder einen Reflex auf »vorpolitische Kulturen« darstelle, »denen sie Anerkennung vermittelt«.

75 | S. dazu Kap. III sowie Scheytt, Oliver, Kommunales Kulturrecht. Kultureinrichtungen, Kulturförderung und Kulturveranstaltungen, München 2005, Rn 49ff., 67.

76 | Vgl. dazu Kap. VIII. 77 | Siehe dazu mit weiteren Nachweisen Merkel, Christine M., Das UNESCOÜbereinkommen zur Kulturellen Vielfalt., Die erste völkerrechtlich verbindliche Magna Charta zur internationalen Kulturpolitik, in: Loock, Friedrich/Scheytt, Oliver, Handbuch Kulturmanagement und Kulturpolitik, Loseblatt, Berlin 2007, B 2.3, S. 13.

48 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext den USA (6,3 Mrd. Euro) der weltweit drittgrößte Exporteur von Kulturgütern (4,3 Mrd. Euro). Wenn man allerdings die EU als Ländergruppe zusammenfasst, dann war sie 2002 der größte Kulturexporteur mit einem Anteil von 51,8 %.78 Die Globalisierungsprozesse ermöglichen mit einer beschleunigten und weitgehend unbegrenzten Kommunikation einen ungeahnten Zuwachs an Austausch zwischen den Kulturen und einen weitgehend grenzenlosen Zugang zu kultureller Vielfalt. Andererseits tragen sie auch das Risiko der Vereinheitlichung von Kultur und der Verarmung künstlerischer Ausdrucksweisen, »als deren problematischer Fluchtpunkt eine globale Monokultur erscheint«.79 Vor diesem Hintergrund ist die Sicherung der kulturellen Vielfalt eine vordringliche Aufgabe der Kulturpolitik auf allen Ebenen.80 Vielfalt und Dichte der Kulturlandschaft dürfen durch eine Liberalisierung der Märkte nicht gefährdet werden. Die Globalisierung geht einher mit einer Konzentration auf wenige »Global Player«: Der Musikmarkt wird von fünf multinationalen Konzernen mit 75 % Weltmarktanteil dominiert, die vor allem aus Europa und den USA stammen. Die 44 größten amerikanischen Rundfunksender gehören heute fünf Firmen, die zusammen über 70 % der Zuschaueranteile in der Prime Time des Amerikanischen Fernsehens auf sich vereinen.81 Vor diesem Hintergrund ist die »Magna Charta« der internationalen Kulturpolitik, das UNESCO-Übereinkommen zum Schutz der kulturellen Vielfalt, von größter politischer Bedeutung. Diese völkerrechtlich verbindlichen Normen, die auch in Deutschland seit März 2007 gelten, sind ein Beitrag dazu, die Spielregeln der Globalisierung (neu) zu definieren.82 Im Kern geht es beim UNESCO-Übereinkommen um das Verhältnis zwischen Markt und Staat sowie um das Verhältnis zwischen Kulturindustrie und Kulturpolitik. Das neue Übereinkommen legitimiert nationale Kulturpolitik, Maßnahmen zu ergreifen, die trotz der weitgehenden Liberalisierung globalen Handels nicht als handelspolitisch unerwünschte Diskriminierung eingestuft werden dürfen. Darunter fallen etwa steuerliche 78 | Die Angabe bezieht sich auf die EU der 15 Mitgliedsländer von 2002, s. Merkel, 2007, S. 14.

79 | Enquete-Schlussbericht, S. 44. 80 | S. dazu Fuchs, Max, Kulturpolitik im Zeichen der Globalisierung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 12/2003, S. 15ff.

81 | Merkel, 2007, S. 14. 82 | So hat es UNESCO-Generaldirektor Koichiro Matsuura formuliert, siehe von Schorlemer, Sabine, Kulturpolitik im Völkerrecht verankert. Das neue UNESCO-Übereinkommen zum Schutz der Kulturellen Vielfalt, in: Deutsche UNESCO-Kommission, Übereinkommen über den Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen, Bonn 2006. Im März 2007 ratifizierte die Bundesrepublik Deutschland das Übereinkommen, das am 18. März in Kraft getreten ist. Insgesamt hatten zu diesem Zeitpunkt 52 Staaten das Abkommen ratifiziert.

I. Kulturgesellschaft | 49 Maßnahmen, Quotenregelungen bei Film, Fernsehen und Radio, öffentliche Trägerschaft von Kultureinrichtungen, Zuschüsse für Theater, Filmförderung, Musikschulen, Museen etc.83 Problematisch ist die asymmetrische Handelsbilanz zwischen EU und USA. US-Firmen erwirtschaften in der Europäischen Gemeinschaft pro Jahr zehnmal soviel wie Europäische Unternehmen in den USA. Das Handelsbilanzdefizit der EU stieg damit von rund 2,5 Mrd. Euro (1990) auf rund 8,2 Mrd. Euro im Jahr 2000.84 Bei noch weitergehender Liberalisierung hätten europäische Produktionen vermutlich kaum noch eine Marktchance. Die Globalisierungserfahrungen der letzten Jahre haben daher zu der Erkenntnis geführt, dass wegen der Besonderheiten der Kultur- und Medienmärkte Schieflagen entstehen, die nicht nur das kulturelle Gemeinwohlinteresse, sondern auch das Interesse der Verbraucher gefährden. Mit dem UNESCO-Übereinkommen ist nunmehr die Basis gelegt für eine neue Cultural Governance: Im Zusammenwirken zwischen Staat und Markt darf der Staat im Sinne kultureller Vielfalt aktiv tätig werden. Linguistische Vielfalt und Mehrsprachigkeit, qualitative Vielfalt in audiovisuellen Medien, die Fortentwicklung von Filmförderungssystemen sowie die Kooperation im Fernsehsektor werden dabei eine herausragende Rolle spielen. Um das UNESCO-Übereinkommen mit Leben zu füllen, ist nicht nur der Staat, sondern auch die Zivilgesellschaft gefordert. Verschiedenste auch zivilgesellschaftliche Akteure haben sich an der Erarbeitung der Konvention beteiligt und sich auch in Deutschland zu einer Allianz zusammengefunden, um die Wirkungen und möglichen Schlussfolgerungen der Konvention zu erörtern und ihre Umsetzung zu begleiten. Gerade auf diesem Feld zeichnen sich die Umrisse einer aktivierenden Kulturpolitik ab, die vom Zusammenspiel der Akteure in Staat, Markt und Zivilgesellschaft lebt. Auch im Zeichen der GATS-Verhandlungen (General Agreement und Trade in Services) der Welthandelsorganisation (World Trade Organisation – WTO), die darauf abzielen, den internationalen Handel mit Waren zu fördern und den Abbau von Handelshemmnissen im Sinne einer weiteren Liberalisierung voranzutragen und vor allen Dingen auch auf den Handel mit Dienstleistungen auszudehnen, wird mit dem UNESCO-Schutzabkommen einer grenzenlosen Liberalisierung Einhalt geboten. Allerdings fehlt es noch für den Fall eines neuen Konflikts zwischen dem UNESCOÜbereinkommen und einem anderen völkerrechtlichen Vertrag wie dem GATS-Abkommen an einer Kollisionsregel.85 Immerhin ist es gelungen, einen Referenzrahmen für ein international verbindliches Kulturrecht und die Anerkennung der Legitimität von die Kulturelle Vielfalt schützender 83 | S. von Schorlemer, 2006, S. 41ff. 84 | S. Merkel, 2007, S. 15. 85 | Vgl. dazu Enquete-Schlussbericht, S. 431.

50 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext Kulturpolitik zu schaffen.86 Eines aber wird angesichts dieser globalen, für die Kultur bedeutsamen gesellschaftlichen Entwicklung deutlich: Die Globalisierung bedarf der Orientierung durch universelle Werte, durch Menschenrechte und demokratische Grundrechte, durch eine (neue) Verbindung von Kultur und Nachhaltigkeit87 und auch durch eine wohlverstandene Geschichtskultur, welche die Fragen »Woher kommen wir? Wo stehen wir? Wohin gehen wir?« ebenso orts- wie weltverbunden thematisiert. Im »Kampf der Kulturen« um Sinn, Orientierung, Bildung, Know-how, die globale Kulturindustrie etc. geht es um mehr als nur geistige Flexibilität und Kreativität. Es geht auch um Macht, um Kulturgestaltungsmacht und Kulturdefinitionsmacht. Das ist nicht als Plädoyer für eine wie auch immer definierte »Leitkultur«88 misszuverstehen. Vielmehr geht es um die Erkenntnis, dass bei der Gestaltung einer offenen globalisierten Gesellschaft nicht nur ökonomische Werte, sondern vor allem kulturelle Werte zu beachten sind.89 Es ist ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Kulturgestaltung die Ressource für gesellschaftliche Entwicklung ist. Ein so verstandener Kulturgestaltungsauftrag betriff t alle Ebenen des Staates, ist nicht allein der »Kulturhoheit der Länder« oder der kommunalen Selbstverwaltung zu überlassen. Es wäre naiv anzunehmen, Kulturpolitik könne im völlig freien Spiel der Kräfte auf kommunaler Ebene (auch noch als »freiwillige Leistung«) und im föderalen Gutdünken so gestaltet werden, dass die Bundesrepublik Deutschland als Kulturstaat in der internationalen Kulturauseinandersetzung eine wirklich bedeutende Rolle spielen kann. So wichtig der kulturelle Trägerpluralismus in Deutschland durch die föderale Struktur und die große Stärke der Kommunen im Kulturbereich ist, so wenig hilft diese dezentrale Aufteilung im globalen Kulturmarkt. Um hier bestehen zu können, braucht nicht nur Deutschland, sondern braucht die EU eine starke Kulturpolitik, die auch als Kulturwirtschaftspolitik ausgestaltet werden muss. Darauf zielt ein wichtiges aktuelles Dokument der Europäischen Kommission: die »Mitteilung über eine europäische Kulturagenda im Zeichen der Globalisierung«. Eine Rückgewinnung 86 | Ebd. 87 | Vgl. Griefahn, Monika: Nachhaltigkeitspolitik und Kulturpolitik – eine Verbindung mit Zukunft? in: Kurt, Hildegard/Wagner, Bernd: Kultur – Kunst – Nachhaltigkeit, Bonn 2002, S. 59ff.

88 | Es handelt sich dabei um einen sehr missverständlichen Begriff, der in diesem Buch kaum Verwendung findet, s. Kap. III/1.2.

89 | Zahlreiche – auch ganz praktische – Ansätze dazu enthält das Buch von Hanika, Karin/Wagner, Bernd (Hg.), Kulturelle Globalisierung und regionale Identität. Beiträge zum kulturpolitischen Diskurs, Bonn 2004; besonders lesenswert ist der Beitrag von Bernd Wagner, S. 179ff.

I. Kulturgesellschaft | 51 der politischen Verantwortung über die Prozesse der Globalisierung ist nur als ein regulatives Konzept aussichtsreich, das auf mehreren Ebenen und in mehreren Bereichen schrittweise einen Ausbau transnationaler politischer Zusammenarbeit verfolgt. Gerade der Kultursektor kann hier durch den gelebten internationalen Kulturaustausch eine Vorreiterrolle einnehmen. Die Global Governance ist daher durch eine Cultural Governance90 zu ergänzen: Kultur kann einen wesentlichen Beitrag leisten zu einer transnationalen Kooperation und einer transnationalen Vernetzung zivilgesellschaftlicher Politik.91 Eine solche internationale Kulturpolitik wird in vielen Bereichen informeller Art sein, in selbstorganisierten, zeitlich begrenzten Formen auftreten, je nach Problemlage, Betroffenheit und Erfolgsaussichten. Hierin liegt ein Desiderat für die Entwicklung einer aktivierenden europäischen und internationalen Kulturpolitik im Zeichen der Globalisierung. 2.3 Medialisierung

Die Prozesse der Medialisierung sind mit der Globalisierung eng verbunden. Die fortschreitende Digitalisierung der Informationsverarbeitung und der Siegeszug des Internets verknüpfen beide Entwicklungen miteinander. Das hat für die Produktion, Präsentation und Rezeption von Kunst und Kultur tiefgreifende Folgen, verändert sich doch das Verhältnis von Nähe und Ferne grundlegend. Raum, Zeit und Öffentlichkeit als Dimensionen jeder Kultur und Kulturpolitik werden neu definiert als virtuelle Erscheinungen. Unabhängig vom Standort des Nutzers ermöglichen Netzwerke und Datenbanken einen weitgehend unbegrenzten Zugriff auf unzählige Systeme und Symbolwelten zu jeder Tages- und Nachtzeit. Unsere Wirklichkeitssicht ist ebenso davon betroffen wie der künstlerische Werkbegriff und unsere Vorstellungen von künstlerischer Kreativität.92 Der Computer steht paradigmatisch für eine Form der Teilnahme an Kommunikation, die undurchschaubar und unumgehbar zugleich ist. Das Verbreitungsmedium Computer entwickelt eine Eigendynamik, die die Gesellschaft zwingt, sich nicht nur auf einen Überschuss an Informationen, sondern auch an Kontrolle und Sinn einzustellen.93 Jeder Einzelne kann heute seine persönlichsten Angelegenheiten »im Netz« offerieren. So fi nden sich etwa im Studienverzeichnis oder Schülerverzeichnis alle möglichen, auch intimste Informationen. Obwohl dadurch zur Schau gestellt, löst sich Individualität im kollektiven virtuellen Raum 90 91 92 93 S. 169.

| | | |

S. dazu auch Kap. I/3 sowie Kap. III. Vgl. dazu Meyer, Thomas, Was ist Politik? Wiesbaden 2006, S. 253. Vgl. Enquete-Schlussbericht, S. 44. Baecker, Dirk, Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2007,

52 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext auf. Die neue Ökonomie ist »informationell«, insofern die Produktivität und die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, Regionen oder Staaten in entscheidender Weise von ihrer Kapazität abhängen, wissensbasierte Informationen effizient zu generieren, zu verarbeiten und anzuwenden.94 Sie ist aber auch global, weil ihre zentralen Aktivitäten (Produktion, Konsumtion, Kapital, Arbeit, Rohstoffe) auf globaler Ebene organisiert sind. In dieser neuen wirtschaftlichen Ordnung verändert sich auch die Rolle von Staaten und Regierungen, weshalb dies erhebliche Auswirkungen auf die Kulturpolitik nach sich zieht. Mit der Errichtung des neuen Kommunikationssystems geht die Transformation der Kultur einher. Sie defi niert sich nicht mehr nur über Raum und Zeit, vielmehr wird Kultur durch Kommunikation vermittelt, sie basiert auf Kommunikationsprozessen, die sich multimedial abspielen. Die Beziehungen der Menschen untereinander und zu sich selbst wandeln sich durch neue Wahrnehmungs- und Denkformen. Diese »Netzwerkgesellschaft«95 stellt eine neue Herausforderung für kulturelle Prozesse und Kulturpolitik dar. Zum einen reagieren Künstler und Kulturschaffende auf die Veränderungen der Zeit- und Raumerfahrungen. Zum anderen ist die Vermittlung von Medienkompetenz sowie die Förderung des kreativen Umgangs mit den neuen Medien als virtuellen Handlungs- und Erfahrungsräumen von zentraler Bedeutung. Der medialen Überflutung sollte die Phantasie und Kraft der Künste entgegengestellt werden. Heute sind nicht mehr nur Arbeit und Kapital fremdbestimmt, sondern die Wahrnehmung ist fremdbestimmt.96 Die Künste ermöglichen eine selbstbestimmte Wahrnehmung in und außerhalb der virtuellen Realität.97 2.4 Individualisierung

Die Vision des Individuums, wie wir sie heute kennen, ist in der Renaissance entstanden, einer städtischen, auf Handel und Mäzenatentum basierenden Welt des 14. und 15. Jahrhunderts. Die Menschen traten plötzlich plastisch aus den Bildern hervor, verließen das zweidimensionale, religiöse Panoptikum und wurden als für sich selbst stehende, einzelne Individuen 94 | S. Steinbicker, Jochen, Zur Theorie der Informationsgesellschaft, Opladen 2001, S. 85ff. mit einer Analyse von Manuel Castells Publikationen zur informationellen Gesellschaft.

95 | Ebd., S. 100f. 96 | S. dazu Grosse-Brockhoff, Hans-Heinrich, »Was bleibt« ist, dass nichts bleibt – und das ist gut so!, in: Scheytt, Oliver/Zimmermann, Michael (Hg.), Was bleibt? Kulturpolitik in persönlicher Bilanz, Essen 2001, S. 274ff., 279.

97 | Wenn sich die Künste die virtuelle Realität zu eigen machen, wird Cyberspace selbst zu Kunst bzw. zu deren Medium.

I. Kulturgesellschaft | 53 erkennbar.98 Nachdem der bürgerliche Roman des 19. Jahrhunderts diesen Weg fortgesetzt hatte, wurde die Selbstfindung in den 1960er und 1970er Jahren des letzten Jahrhunderts zur universellen sozialen Bewegung. »Die Rebellion der vielen Ich’s führte zu einem anderen Konstrukt von Gesellschaft.«99 Inzwischen bewegen fast alle Bürger Fragen nach dem Selbst: »Wer bin ich? Wo will ich hin?« Die Freisetzung aus selbstverständlichen sozialen Zusammenhängen wie Familie, Klasse, Kirche, Unternehmen etc. beschleunigt sich immer stärker.100 Immer mehr Lebensstile prägen sich aus, die Selbstinszenierung durch Kleidung und Körpersprache, sportliche und kulturelle Aktivitäten, Erotik und Kommunikationsformen ist allenthalben zu erleben.101 Da gibt es nicht nur Yuppies und Singles, sondern auch Punks und Skins, Gothics und EMOs, Hedonisten und Performer, Materialisten und Postmoderne etc. Einerseits wird ein Werteverfall beklagt, andererseits ist von Wertewandel die Rede und von einer Rückbesinnung auf Fragen nach dem Sinn des Lebens und den verbindenden Werten, die Gemeinschaften und Gruppen zusammenhalten. Nach wie vor haben Werte wie Kontakt und Vertrauen, Sicherheit, Harmonie und Ästhetik, Verantwortung und Pflichterfüllung große Bedeutung. Und nach wie vor richten viele Menschen ihr Leben nach festen Grundsätzen und Überzeugungen aus,102 trotz aller Angebote in der »Spaßgesellschaft«. So sehr sich Individualisierung auch in einer Vielfalt der Lebensstile und Kulturen ausdrückt, so wichtig ist die produktive Auseinandersetzung zwischen und mit diesen Kulturen. Und umso wichtiger ist es, das Verbindende und das Verbindliche für die Gemeinschaft der Kulturen und die Gesellschaft der Individuen herauszuarbeiten. Künste, Geschichtskultur und Kulturelle Bildung können dazu einen konstitutiven Beitrag leisten. Wenn also die Modernisierungsschübe der Globalisierung auch zu einer Pluralisierung der Lebensentwürfe führen und tradierte gesellschaftliche Wertorientierungen dadurch in Frage gestellt werden, bedarf es umso mehr der identitätsstiftenden Wirkung von Kunst und Kultur. Künste, Geschichtskultur und Kulturelle Bildung bieten Einsichten und Orientierungen, die für die Entwicklung der Persönlichkeit sozialisierende Kraftfelder sind. Die Fähigkeiten, zu sehen und zu hören, wahrzunehmen und andere Perspektiven einzunehmen, sind dafür elementar. In der Familie beginnt die Entwicklung dieser Fähigkeiten. Wesentliche Impulse erfahren sie durch die Teilhabe an Bildungseinrichtungen und Kulturangeboten. 98 | Horx, Matthias, Wie wir leben werden. Unsere Zukunft beginnt jetzt, Frankfurt a.M. 2005, S. 39.

99 | Ebd., S. 40. 100 | Romeiß-Stracke, 2003, S. 48. 101 | Lesenswert dazu Siemons, Mark, Schöne neue Gegenwelt. Über Kultur, Moral und andere Marketingstrategien, Frankfurt a.M. u.a. 1993.

102 | Romeiß-Stracke, 2003, S. 52f.

54 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext

2.5 Pluralisierung

Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die Vervielfältigung von Optionen und die damit einhergehende Wahlfreiheit führen in der postmodernen Gesellschaft zu einer immer radikaleren Pluralität.103 Durch diese Pluralisierung wächst die Gefahr des Relativismus und der Beliebigkeit, denn das »Wahre, Schöne und Gute, das die idealistische Philosophie postulierte« ist zerbrochen, »wenn vieles gleich-wahr, gleich-schön oder gleichgut ist«.104 Auch dadurch bildet sich ein permanenter Orientierungs- und Entscheidungsdruck, sich in der »Erlebnisgesellschaft« zurechtzufinden. Bernd Meyer hat für den entsprechenden gesellschaftlichen Zusammenhang in unseren Städten folgende Beschreibung gefunden: »Wenn Kennzeichen von Stadt und Kultur die Pluralität ist, so bedeutet dies Chance und Risiko zugleich. Die Pluralität von Lebensweisen und kultureller Praxis sichert die Vielfalt, welche die Stadt für ihre Bewohnerinnen und Bewohner interessant und attraktiv macht […]. Das Risiko liegt auf dem Weg in die Unverbindlichkeit, an dessen Ende die Beziehungslosigkeit, gewissermaßen die Atomisierung der Gemeinschaft stehen kann: Die Stadt als Ort der reinen Bedürfnisbefriedigung, wobei vom Grad dieser Bedürfnisbefriedigung der Grad der (scheinbaren) Identifi kation des Einzelnen oder verschiedener Gruppen mit ihrer Stadt abhängt […]. Was schon seit den 70er Jahren unter dem Motto ›Kultur für Alle‹ Gefahr lief, als universelle Anspruchs- und Bedürfnisbefriedigung missverstanden zu werden, darf jetzt nicht unter verstärkt ökonomischen Gesichtspunkten zum kulturellen Supermarkt verkommen, der alles für jeden zu jeder Zeit bereithält.« 105

Das Bemühen um kulturelle Integration fußt heute auf der Anerkennung multikultureller und auch sonst ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Sektoren.106 Doch entscheidend ist, jedes einzelne Individuum zunächst grundsätzlich mit seinen spezifischen kulturellen Prägungen und Eigenheiten und seiner selbst gewählten Lebensform zu respektieren.107 Künst103 | Lissek-Schütz, Ellen, Kulturpolitik in Deutschland seit der Wiedervereinigung, in: Loock, Friedrich/Scheytt, Oliver, Handbuch Kulturmanagement und Kulturpolitik, Loseblatt, Berlin 2006, B 1.2, S. 17ff.

104 | Klein, 2005, S. 199. 105 | Meyer, Bernd, Kultur in der Stadt – Kultur von der Stadt?, in: Deutscher Städtetag (Hg.), Die Stadt als Chance – neue Wege in die Zukunft, 28. ordentliche Hauptversammlung des DST 1995, Stuttgart u.a., S. 235ff., 240.

106 | S. dazu mit vielen instruktiven Beiträgen Jerman, Tina (Hg.), Kunst verbindet Menschen. Interkulturelle Konzepte für eine Gesellschaft im Wandel, Bielefeld 2007.

107 | Ausführlicher dazu Nida-Rümelin, Julian, Integration als kulturpolitische Leitidee in der sozialen Demokratie, in: Hoff mann, Hilmar (Hg.), Kultur

I. Kulturgesellschaft | 55 liche Homogenisierung und einheitliche Identität können also nicht das Ziel sein. Es geht vielmehr um das Angebot zu neuen Verbindungen, um kreative Kontakte, um gegenseitige Beeinflussung, wechselseitiges Lernen und Sensibilisierung für (fremde) Denk- und Handlungsformen – kurz: um kulturelle Netzwerke und kulturelle Vielfalt, die auch in einer Vielzahl von »kollektiven Identitäten« ihren Ausdruck findet. Abzuzielen ist dabei auf ein Verständnis von Kultur, das über den nationalstaatlichen Rahmen hinausreicht. Dieser Blick ist global. Das ist auch insofern erforderlich, als man der Ökonomie das Feld der Globalisierung und einer Nutzung der pluralen Aufteilung der Gesellschaft in Lebensstilgruppen durch ein gezieltes Marketing nicht allein überlassen sollte.108 Angesichts der demografischen Entwicklung in Deutschland ist die Zukunft der Kulturpolitik interkulturell.109 Der Dialog zwischen den Kulturen und Religionen ist für das gegenseitige Verständnis unverzichtbar.

3. K ULTUR

FÜR ALLE UND VON ALLEN

Kultur in Deutschland ist durch eine unübersehbare Vielfalt von Akteuren und Kulturträgern geprägt. Öffentlich verantwortete Kultureinrichtungen und -angebote und zivilgesellschaftliche Vereinigungen und Akteursgruppen gestalten das Handlungsfeld Kultur. Diese komplexe Akteursstruktur ist eine kulturpolitische Herausforderung, denn das Verhältnis von Angebot und Nachfrage, das Wechselspiel zwischen Bedarf/Bedürfnis und deren Befriedigung oder auch Initiation bedeutet für Kulturpolitik die Notwendigkeit zu reflektieren, welche Angebote für wen gemacht werden (sollen), wer erreicht wird und wer nicht, was angeboten wird im und jenseits vom kommerziellen Markt. Die kulturpolitische Leitidee unter dem Schlagwort »Kultur für alle« ging davon aus, dass (jede) Kultur für alle da sein soll, doch in der Praxis wird daraus oft ein Handeln nach dem Motto »Meine Kultur für alle«. Als weitere Leitidee hat sich zur »Kultur für alle« die »Kultur von allen« hinzugesellt: Jeder Mensch ist ein Künstler, jeder Mensch kann sich mit seinen kulturellen Fähigkeiten einbringen und somit selbst zum Kulturgestalter werden. Diese aus den Akteurskonstellationen abgeleiteten Überlegungen haben zu je eigenen Begründungsmotiven und Wirtschaft. Knappe Kassen – Neue Allianzen, Köln 2001, S. 244ff. sowie Kap. III/1.2.

108 | S. dazu Wagner, Bernd, Ökologische Nachhaltigkeit und Entwicklungszusammenarbeit, in: Jerman, Tina (Hg.): ZukunftsFormen: Kultur und Agenda 21, Essen 2001, S. 43ff., insbes. S. 49ff.

109 | Einen umfassenden Überblick gibt das vom Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft herausgegebene Jahrbuch für Kulturpolitik 2002/3. Thema: Interkultur, Essen 2003.

56 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext für Kulturpolitik geführt, die alle heute noch in Argumentationsfolgen in der Praxis und kulturpolitischen Texten anzutreffen sind: Das »Hochkulturmotiv« begründet Kulturpolitik damit, Kultur zur Herausbildung ästhetisch kompetenter Individuen (Bildungsbürger) zu fördern. Das »Demokratisierungsmotiv« zielt darauf ab, »für jeden etwas« zu bieten. Das »Soziokulturmotiv« begründet Kulturförderung damit, dass jeder sich in und durch Kultur selbst verwirklichen kann.110 3.1 Kultur für wechselnde Minder- und Mehrheiten

All diese Leitbilder und Begründungsmotive bleiben jedoch in mancher Hinsicht Fiktion: Angesichts der Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft kann sich kein Kulturangebot vornehmen, für alle da und interessant zu sein.111 Und umgekehrt geht der Anspruch an der Realität vorbei, dass jeder ein Künstler sein soll. Doch in beiden Fiktionen steckt richtigerweise die Herausforderung, alles dafür zu tun, dass Kulturangebote allgemein zugänglich sind und von jedem wahrgenommen werden können, und andererseits jeder Mensch in seiner Persönlichkeitsgestaltung so gefördert werden soll, dass er sich selbst auch in Kunst und Kultur (kompetent) ausdrücken kann. Aus dieser Grunderkenntnis wird deutlich, dass die eigentliche kulturelle Macht nicht im System oder in der Ökonomie zu suchen ist, sondern in der individuellen Kraft des Einzelnen mit seinen Bedürfnissen und seinen Fähigkeiten. Kulturpolitik darf daher im Kern nicht von einem reinen systemischen Denken geprägt sein, sondern bedarf eines systemisch-individuellen Ansatzes. Erst im Zusammendenken von Kulturgesellschaft und Kulturbürger, von System und Individuum findet der Kulturstaat seine richtige Rolle. Und die Macht der Kultur und ihre gesellschaftliche Wirkungskraft liegen letztlich in der Wirkung auf und für das Individuum. Angesichts der ubiquitären Macht von Fernsehen und Internet ist Kulturpolitik nicht ohnmächtig, sondern kann auf die Wirkungskraft von Kunst und Kultur bei jedem einzelnen Individuum setzen: Die Steigerung der Ausdrucksfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, Wahrnehmungsfähigkeit, Sensibilität, Kreativität etc.112 Eine »Romantik der Marginalität« wird angesichts dieser starken kul110 | Schulze gibt noch das Ökonomiemotiv an, das aus dieser Begründungsfolge allerdings herausfällt, denn es hat keinen Bezug zur einzelnen Person. S. dazu Schulze, Gerhard, Die Erlebnisgesellschaft, 4. Aufl., Frankfurt a.M./New York 1993, S. 499f.

111 | Kulturpolitische Erfahrungen mit dem Anspruch »Kultur für alle« finden sich in fast allen Beiträgen des Buches von Scheytt/Zimmermann 2001, vgl. etwa nur den Beitrag von Jüchter, Heinz Theodor, Und die Kultur zog lächelnd an uns vorbei – Eine erste Bilanz einer nachhaltigen Kulturpolitik, daselbst, S. 50ff.

112 | S. dazu auch Thierse, Wolfgang, Kultur macht Sinn! Eine zentrale

I. Kulturgesellschaft | 57 turellen Wirkungen, die über die individuellen Fähigkeiten erzielt werden können, der gegenwärtigen Situation nicht gerecht.113 Doch darf die Selektivität der Nachfrage und der Angebote nicht ausgeklammert werden, sonst droht eine Abkoppelung der Kulturpolitik von Teilen der Gesellschaft.114 Die Formel »Kultur für alle« kann letztlich nur als Anspruch gelten,115 darf aber bei der kulturpolitischen Reflexion nicht davon ablenken, dass jedes Kulturangebot ein Angebot für eine Minderheit ist. Diese Minderheiten wechseln je nach Kulturangebot. Statistisch gesehen werden indes auch erhebliche »Mehrheiten« erreicht: Weit über 100 Mio. Besucher von Museen und Ausstellungshäusern jährlich,116 22 Mio. Zuschauer in Theatern und Opernhäusern, 117 1 Mio. Schüler an öffentlichen Musikschulen,118 in über 48.000 weltlichen und kirchlichen Chören wirken fast 2,4 Mio. Mitglieder mit.119 Zählt man sämtliche Angebote im Handlungsfeld Kultur hinzu, also auch die medialen Kulturangebote, Angebote der Kultur- und Kreativwirtschaft, so wird insgesamt die Mehrheit der Bevölkerung angesprochen. Die Wirkung von Kultur und Kulturpolitik zu (er-)messen ist angesichts des Anspruchs und der Behauptung, individuelle und gesellschaftliche Wirkungen zu erzielen, eine wesentliche Legitimationsquelle. In aller Regel werden dafür Besucher- und Nutzerzahlen ins Feld geführt, wie sie gerade exemplarisch benannt wurden. Doch letztlich ist damit zunächst nur ausgesagt, dass viele Kulturbürger der angestrebten oder behaupteten Gesamtheit (»Kultur für alle«) erreicht werden. Ob damit tatsächlich eine gesellschaftliche Wirkung erlangt wurde, lässt sich allein durch den Nachweis der Publikumswirksamkeit eben nicht beweisen.120 Aufgabe in einer demokratischen Gesellschaft, in: Hoffmann, Hilmar/Schneider, Wolfgang (Hg.), Kulturpolitik in der Berliner Republik, Köln 2002, S. 13ff.

113 | Schulze, 1993, S. 513. 114 | Ebd., S. 515: Die »Abkoppelung der Alt-Progressiven, die sich beim Veteranentreffen gegenseitig auf die Schulter klopfen« korrespondiert mit dem »konditionierten Reflex der Empörung gegen das kulturelle Establishment«, mit dem Intellektuelle ihr schlechtes Gewissen beruhigen, dass sie selbst dazu gehören (S. 521).

115 116 117 118 119 120

| | | | | |

S. dazu Kap. II/2.1. S. mit weiteren Daten und Nachweisen Enquete-Schlussbericht, S. 119. S. ebd., S. 106 mit weiteren Fakten. S. ebd., S. 388. Vgl. ebd., S. 192. Allgemeine Daten und Belege können die Materialien aus der kultur-

politischen Forschung liefern (vgl. etwa die zahlreichen Publikationen des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft oder des Zentrums für Kulturforschung) und die diversen Kulturstatistiken, die noch einer stärkeren Vereinheitlichung bedürfen, s. dazu Enquete-Schlussbericht, S. 433ff.

58 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext Gesellschaftlichen Entwicklungen und Veränderungen liegen komplexe Ursache-Wirkungsketten zugrunde. Allenfalls im unmittelbaren sozialräumlichen Zusammenhang lassen sich kulturpolitische Wirkungen noch einigermaßen valide nachweisen. So können etwa sozialräumliche Entwicklungen in einer Stadt durch Kulturinvestitionen angestoßen werden, indem neue Kulturbauten errichtet oder brachliegende Gebäude zu Kulturstätten umgenutzt werden, was dann eine Veränderung des Lebens im Stadtteil und seiner soziodemografischen Zusammensetzung bewirken kann. Doch meist spielen auch dann mehrere weitere Faktoren eine Rolle. Im Gesamtzusammenhang der Kulturgesellschaft lässt sich ein durch die Kulturpolitik bewirkter »Fortschritt« indes schwerlich belegen.121 Schon aus diesem Grunde müssen Wirkungsanalysen zuallererst beim Individuum ansetzen: In der Befragung und Beobachtung des Einzelnen. Auf ihn zielt Kulturpolitik im Kern ab, auch im Zeichen einer »Gesellschaftspolitik«. Das Individuum steht im Zentrum des kulturpolitischen Handelns. Auf das Individuum sind die kulturpolitischen Ziele letztlich auszurichten, denn die Persönlichkeitsentwicklung und -entfaltung möglichst vieler Bürger ist der entscheidende Multiplikator der Veränderung. So muss Kulturpolitik ein Interesse daran haben und auch Ressourcen dafür einsetzen, die tiefer gehenden Wirkungen ihres Einsatzes beim einzelnen Kulturbürger zu analysieren und zu evaluieren, um diese sichtbar und nachvollziehbar werden zu lassen.122 Damit rückt die Kulturkompetenz des einzelnen Kulturbürgers in den Fokus einer weiteren Betrachtung (s. dazu Kap. II). 3.2 Kulturakteure in Staat, Markt und Zivilgesellschaft

Kulturpolitik wurde und wird in kulturpolitischen Verständigungs- und Entscheidungsprozessen meist schwerpunktmäßig nur aus einer der drei Perspektiven von Staat, Markt oder Zivilgesellschaft heraus mit den folgenden drei typischen Begründungsmustern betrachtet:123 •

Traditionell wird Kulturpolitik »von der öffentlichen Hand her« begründet: Kultureinrichtungen sind auch bei knapper werdenden Mit121 | Der weite, auf klärerische Kulturbegriff (Rousseau, Schiller), der die

individuelle und gesellschaftliche Tätigkeit, die Ökonomie und die Gesamtheit gesellschaftsbestimmter Verhaltensweisen mit umfasst, enthielt in seinem Bezug auf den »Fortschritt« schon eine wertende Komponente. Europa galt als Zentrum des Fortschritts! Vgl. dazu Bollenbeck, 2007, S. 23.

122 | Eine erste und einfache Form dafür sind Umfragen bei Publikum und Nutzern von Kulturangeboten und -veranstaltungen.

123 | Vgl. die instruktiven Analysen dazu von Kramer, Dieter, Handlungsfeld Kultur: Zwanzig Jahre Nachdenken über Kulturpolitik, Essen 1996, insbesondere S. 13ff. und 32ff.

I. Kulturgesellschaft | 59





teln zu erhalten. Es geht um die »Aufrechterhaltung des Kulturbetriebs«, wobei nicht selten die Wahrung berufsständischer Interessen oder hergebrachte fachliche Positionen im Vordergrund des Bemühens stehen. Mitunter werden dann nur noch »Überlebensstrategien« verfolgt statt gesellschaftliche Entwicklungen zu reflektieren und darauf einzugehen.124 Zum Zweiten wird Kulturpolitik »von den Bürgern her« fundiert. Freiwilligenarbeit, bürgerschaftliches und ehrenamtliches Engagement 125 können und sollen danach die öffentliche Förderung ergänzen, wenn nicht gar ersetzen. Doch auch diese Sichtweise ist eher traditionell. Es geht dort zwar um das Aufgreifen bürgerschaftlicher Initiative, doch diese soll im Wesentlichen auf die Stützung öffentlicher Kultureinrichtungen im Rahmen bisheriger Programmatik ausgerichtet werden. Kulturpolitik wird schließlich drittens »von der Ökonomie her« gedacht.126 Dieses Argumentationsmuster setzt auf Kultur als Standortfaktor, auf die volkswirtschaftliche Bedeutung von Kunst und Kultur, auf Arbeitsplätze und das effektive Wirtschaften mit öffentlichen Geldern im Rahmen der Kulturbetriebe.

Solche und andere Begründungsmuster bergen die Gefahr der Eindimensionalität.127 Doch einseitige Perspektiven reichen für die Begründung und Gestaltung von Kulturpolitik eben nicht aus. Vielmehr muss Kulturpolitik in Zukunft ganz sicher mehr Gestaltungskraft für das Zusammenspiel von Staat, Markt und Zivilgesellschaft entfalten. Kulturpolitik bedarf einer Gesamtsicht aller drei Sektoren. Die dem Enquete-Schlussbericht entnommene Grafi k verdeutlicht das »Drei-Sektoren-Modell« (Abb. 2), das Basis für eine solche umfassende kulturpolitische Perspektive ist. 124 | Vgl. dazu Schulze, 1993, S. 504f.: Die »Korporationen« setzen auf ihre Legitimität und ihre institutionelle Verfestigung, spielen informale Beziehungen zu wichtigen Politikern aus oder verweisen auf wirtschaftliche Erfolge sowie Publikumswirksamkeit.

125 | Umfassenden Überblick geben zu diesem kulturpolitischen Handlungsfeld die Dokumentationen der Kulturpolitischen Gesellschaft Nr. 55 und 59: Wagner, Bernd (Hg.): Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftliches Engagement in der Kultur, Bonn 2000, sowie Wagner, Bernd/Witt, Kirsten, Engagiert für Kultur. Beispiele ehrenamtlicher Arbeit im Kulturbereich, Bonn 2003.

126 | Siehe dazu aus der Fülle der Veröffentlichungen zu diesem Thema den Sammelband von Hilmar Hoff mann (Hg.), Kultur und Wirtschaft. Knappe Kassen – Neue Allianzen, Köln 2001.

127 | Deshalb werden die verschiedenen Varianten dieser Begründungsweisen hier auch nicht im Einzelnen zusammengestellt und abstrakt erläutert. Näher dazu Fuchs, 1998, S. 189ff., der dort eine Typologie mit sechs Begründungsweisen von Kulturpolitik entwickelt hat.

60 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext Abbildung 2: Das Drei-Sektoren Modell des 1. Schweizer Kulturwirtschaftsberichts

STAAT

WIRTSCHAFT

Öffentlicher Sektor Öffentlicher Kulturbetrieb Oper Theater Museen ...

Privater Sektor InformationsKulturKulturwirtschaft im wirtschaft im u. Kommunikationssektor weiteren Sinne engeren Sinne

Intermediärer

Künstler Kulturproduktion Musikwirtschaft Kultur- und MedienwissenBuch- und Literaturmarkt schaft Kunstmarkt Filmwirtschaft Sektor Darstellende Kunst

Gemeinnützige Organisationen, Dritter Sektor Vereine Stiftungen ...

ZIVILGESELLSCHAFT Quelle: Enquete-Schlussbericht, S. 344

Nicht die Abgrenzungs-, sondern die Allianzfähigkeit ist gefragt. Eine integrale Sichtweise und Ausgestaltung ist zukunftsweisend, die eine neue Positionierung von Kulturpolitik zur Folge haben muss. Von dieser Sichtweise einer Kulturpolitik, die alle drei Sektoren gleichzeitig in den Blick nimmt, war auch die Arbeit der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« geprägt. Zunächst ist klar geworden, dass der Kulturstaat Deutschland selbst nur für einen Ausschnitt des Handlungsfeldes Kultur unmittelbar verantwortlich ist. Schon angesichts der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Ressourcen, Institutionen und Mittel können Bund, Länder und Kommunen das kulturelle Leben auch nur partiell mitgestalten. Sie tragen zwar eine Fülle von Kultureinrichtungen, fördern und veranstalten Kultur und haben insoweit auch direkte Steuerungs- und Einflussmöglichkeiten: sei es durch Aufgabenzuweisungen an Kultureinrichtungen, durch programmatische Vorgaben, durch die Vereinbarung von Zielen und Leitlinien oder auch durch die Auswahl von Führungspersonal. Eines der prägenden Elemente ist dabei die föderalistische Ordnung, die auch innerhalb des Staates zu einer pluralistischen Akteursstruktur führt,128 in der sechzehn Länder und Stadtstaaten sowie tausende von Kommunen 128 | S. Kap. III/2.

I. Kulturgesellschaft | 61 ihre »Kulturgestaltungsmacht«129 wahrnehmen. Doch Kulturgestaltung ist nicht nur Handlungsfeld des Kulturstaates selbst, sondern zahlreicher weiterer Akteure, die von der Kulturpolitik zu beachten sind, diese auch jenseits staatlicher und kommunaler Institution selbst mitgestalten. So wird das kulturelle Leben in Deutschland von einer unübersehbaren Vielzahl von freien Künstlern und Kulturträgern, von kommerziellen Kulturbetrieben und gemeinnützigen Kulturförderern wesentlich mitgeprägt. Für Kulturproduktion und -entwicklung im Handlungsfeld Kultur ist zudem die Kulturwirtschaft von großer Bedeutung.130 Das private Engagement für Kulturförderung – sei es von Unternehmen, Privatpersonen oder entsprechenden Assoziationen in Vereinen, Stiftungen – steht ebenfalls im Wechselspiel mit dem staatlichen und kommunalen Kulturengagement. Schließlich ist in diesem Zusammenhang auch auf kirchliche Kulturangebote131 und die »Kulturproduktion« durch öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten hinzuweisen.132 Aus der Vielfalt seien folgende Akteure (in) der Kulturlandschaft Deutschland exemplarisch aufgezählt: •

• • • • • • • • • •

der Kulturstaat mit Kommunen, Ländern, Bund, mit den politisch verantwortlichen Gremien und den Kultur(Förder-)Institutionen sowie den dort Verantwortlichen Direktoren etc.; freie Kulturträger/Vereine; Einzelpersonen (Sammler, Förderer, Spender); Verbände; Gewerkschaften; öffentliche und private Stiftungen; kirchliche Kulturträger; Rundfunk und Fernsehen; Medienkonzerne und Verlage; Musiklabels; Musicalbetriebe; 129 | Diesen Begriff hat schon E.R. Huber 1956 geprägt, s. Häberle, Peter

(Hg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, Darmstadt 1982, S. 130.

130 | Zu den Wechselwirkungen seien insbesondere die Kulturwirtschaftsberichte des Landes NRW mit detaillierten Analysen benannt, aus denen sich ergibt, dass eine entsprechende öffentliche Förderung auch die Kulturwirtschaftsentwicklung vorangetrieben hat. Zahlreiche praktische Beispiele fi nden sich in den Kulturpolitischen Mitteilungen Nr. 119 (IV/2007, KULTURwirtschaft – KulturPOLITIK).

131 | S. Zimmermann, Olaf/Geißler, Theo (Hg.), Die Kirchen, die unbekannte kulturpolitische Macht, Berlin 2007; Enquete-Schlussbericht, S. 143ff.

132 | S. dazu eine Studie schon älteren Datums: Fohrbeck, Karla/Wiesand, Andreas Johannes, Der WDR als Kultur- und Wirtschaftsfaktor, Köln u.a. 1989.

62 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext • •

Galerien; EU, UNESCO.

All diese Akteure wirken in der Kulturgesellschaft mit und auf das Individuum – den Kulturbürger – ein. Aus den Wechselbezügen zwischen Gesellschaft, Wirtschaft, Individuen und Staat ergeben sich die unterschiedlichsten Akteurskonstellationen im realen kulturellen Leben der Bundesrepublik Deutschland. Umso deutlicher wird die weitreichende Bedeutung des Satzes »Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik«: Bei der Gestaltung von Kulturpolitik geht es eben nicht um die einseitige Verwertung der Kultur für Zwecke einzelner Gruppen, Initiativen, Gemeinschaften, Wirtschaft oder Staat. Kulturpolitik findet ihre Begründung in der Gesamtheit der Kulturgesellschaft sowohl inhaltlich als auch im kulturpolitischen Prozess, dem Prozess der Willensbildung. Diese Überlegung hat Adrienne Goehler in folgende Sätze gefasst: »Die Unterwerfung der Kultur unter die Verwertbarkeit ist die Entwertung dessen, was nicht verwertbar ist. Eine Kulturgesellschaft denkt über den Selbstwert des Kulturellen nach und über Konstellationen, die das Erkunden neuer Lösungen als gesamtgesellschaftliche Herausforderung begreifen, das nicht allein in der Sphäre professionalisierter Politik verhandelt werden kann. Eine Kulturgesellschaft müsste die geronnenen Formen, in denen die hierarischen Ordnungsbeziehungen von Rechts-, Sozial- und Kulturstaat erstarrt sind, verflüssigen.« 133

Kulturpolitik sollte also das Ziel verfolgen, die »hierarchischen Ordnungsbeziehungen« zu überwinden, indem sie die zahlreichen Akteure in der Kulturgesellschaft aktiviert und die Kulturbürger als Publikum, als Ehrenamtliche, als Förderer zur Übernahme von Verantwortung motiviert sowie an den politischen Willensbildungsprozessen beteiligt. Kulturpolitik fi ndet damit im Wechselverhältnis von Kulturbürger und Kulturgesellschaft ihre Begründung. Kulturpolitik zielt auf eine aktivierte Kulturgesellschaft.134 3.3 Kulturpolitik für eine aktivierte Kulturgesellschaft

Kulturpolitik hat in mehrfacher Hinsicht eine Vermittlerrolle: Sie vermittelt zwischen dem »Wirkungsfeld Kultur« und dem »Handlungsfeld Kultur«, zwischen den gesellschaftlichen Herausforderungen und dem staatlichen oder kommunalen Handeln. Sie entwickelt ihre Programmatik in diesem Wechselspiel. Dabei vermittelt sie auch zwischen den verschiedenen an den kulturpolitischen Entscheidungsprozessen beteiligten 133 | Goehler, 2006, S. 62. 134 | Das Leitbild einer so verstandenen Kulturpolitik ist der aktivierende Kulturstaat, s. dazu Kap. III.

I. Kulturgesellschaft | 63 Akteuren (Parlament, Administration, Verbände, freie Träger etc.) und den von kulturpolitischen Entscheidungen Betroffenen (Künstlern, Kulturbetrieben etc.). Die Vermittlerrolle der Kulturpolitik sollte so angelegt sein, dass durch eine aktive und transparente Gestaltung der Willensbildung die unterschiedlichsten Akteure einbezogen werden; die Prozesse sind also offen zu gestalten.135 Kulturpolitik darf somit kein »Closed Shop« der öffentlich verantworteten und getragenen Institutionen sein, sondern lebt vom Diskurs und der Teilhabe zahlreicher Akteure aus der kulturellen Szene und der Bürgerschaft. Bei dieser Vermittlungsarbeit spielen die Medien eine entscheidende Rolle. Mitunter treten sie aus ihrer Vermittlerrolle heraus und werden selbst zum Akteur. Dies gilt insbesondere dann, wenn die jeweiligen Redakteure – wie so oft – wenig Verständnis für kulturpolitische Prozesse und deren Einbindung in einen größeren politischen und administrativen Zusammenhang mitbringen und sich in Auseinandersetzungen mit ihrer Kritik an der (Kultur-)Politik auf die Gegenseite der Kulturpolitiker schlagen.136 Der in den letzten Jahren immer stärker in den Politik- und Sozialwissenschaften, aber auch in der Verwaltungslehre verwendete Begriff »Governance« erfasst sehr gut die eben skizzierten vielfältigen Formen und Möglichkeiten des kulturpolitischen Handelns in und mit der Kulturgesellschaft und der damit einhergehenden kulturpolitischen Netzwerkarbeit.137 Governance wird zum einen als Oberbegriff aller Formen sozialer Handlungskoordination und zum anderen als Gegenbegriff zu hierarchischer Steuerung verwendet. Governance umfasst danach die Gesamtheit »aller nebeneinander bestehenden Formen der kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte: von der institutionalisierten zivilgesellschaftlichen Selbstregelung über verschiedene Formen des Zusammenwirkens staatlicher und privater Akteure bis hin zu hoheitlichem Handeln staatlicher Akteure«.138 Das Governance-Konzept rückt kooperative Handlungsformen und die Rolle des Staates als Initiator, Moderator 135 | S. auch Enquete-Schlussbericht S. 51f. 136 | Die Medien »kämpfen« meist auf Seite der Intendanten und Direktoren »gegen« die Kulturpolitiker, die ihrerseits in ihren Fraktionen oder als Dezernenten oder Minister in ihren Verwaltungen und Regierungen nicht immer einen leichten Stand haben. Journalisten differenzieren oft nicht hinreichend zwischen den Kulturpolitikern, die ja in der Regel (mehr) Kultur ermöglichen möchten, und anderen Politikern. Dabei müssten bei einer wirklichen Lobbyarbeit für die Kultur gerade auch die kulturpolitischen Fürsprecher in den größeren Systemen mediale Unterstützung erfahren, um die Belange der Kultur und der Künste durchsetzen zu können.

137 | S. Enquete-Schlussbericht, S. 91ff. 138 | Mayntz, Renate, Governance im modernen Staat, in: Benz, Arthur (Hg.), Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen, Wiesbaden 2004, S. 65ff.

64 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext und Förderer von Netzwerken zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren in den Mittelpunkt des Interesses. Dieses Politikverständnis ist vor dem Hintergrund des Wandels der gesellschaftlichen Realitäten und einer neuen Interpretation dieser Realitäten entwickelt worden. Die Veränderungen von Politik, Staat und Gesellschaft sind ihrerseits nicht allesamt neu, werden aber in dieser Form neu »auf den Begriff gebracht«.139 Im Kulturbereich können diese komplexen Änderungen stichwortartig wie folgt skizziert werden: Es lassen sich zunehmend Grenzüberschreitungen in kulturpolitischen Prozessen beobachten, sowohl hinsichtlich territorialer (internationale Kulturarbeit), funktionaler (Verflechtung der Kulturförderung zwischen verschiedenen staatlichen Ebenen, aber auch zwischen Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft) und sektoraler Grenzen (E- und U-Kultur, Medienkunst). Folgende Beispiele für solche Grenzüberschreitungen seien konkret benannt: Kommunale Kulturarbeit ist vielfach eingebettet in regionale Zusammenhänge (z.B. Sächsisches Kulturraumgesetz, Kulturentwicklungsplan Brandenburg, Kulturhauptstadt RUHR.2010).140 Starke Interdependenzen bestehen zwischen Bildungs- und Kulturpolitik: So setzen die Länder zur Verbesserung der Kulturellen Bildung immer stärker auf das Zusammenwirken von Kultureinrichtungen und Schulen. Bundeskulturpolitik äußert sich auch in der Zusammenarbeit mit Verbänden (Kulturpolitische Gesellschaft, Deutscher Kulturrat) und Stiftungen (Bundeskulturstiftung, Kulturstiftung der Länder, Stiftung Weimarer Klassik). Auswärtige Kulturpolitik ist auf das Zusammenspiel mit immer weiter ausdifferenzierten globalen Kulturnetzwerken angewiesen. Die Entwicklung der Kulturwirtschaft ist davon abhängig, wie das Urheberrecht gestaltet wird und welche Funktionen die Verwertungsgesellschaften haben. Bei der Steuerung dieser komplexen Zusammenhänge geht es nicht nur um staatliche Rechtsetzung, vielmehr erfolgt Steuerung ganz entscheidend auch über die Verteilung von Finanzmitteln und die Aushandlung von Vereinbarungen zwischen den beteiligten Akteuren aus Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Dies sollte in dem Bewusstsein geschehen, dass der Staat keinesfalls immer nur alleine steuert, sondern mannigfache Abhängigkeiten untereinander bestehen.141 Eine Schlussfolgerung für das kulturpolitische Leitbild ist, dass die Lösung gesellschaftlicher Probleme und Herausforderungen nicht allein vom Staat verantwortet und bewirkt werden kann. Vielmehr gilt es, die »Problemlösungskapazitäten« von Wirtschaft und Zivilgesellschaft zu nutzen und das dort vorhandene »Sozialkapital« für die Fortentwicklung 139 | Benz, 2004, S. 13. 140 | S. dazu auch Enquete-Schlussbericht, S. 92ff. 141 | Vgl. dazu auch Ebert, Ralf/Gnad, Friedrich, Integrierte Kultur-Wirtschaft-Politik, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 119 (IV/2007), S. 37ff.

I. Kulturgesellschaft | 65 der Kulturgesellschaft und eine Optimierung des Kulturangebotes zu aktivieren.142 In diesem Sinne zielt der »aktivierende Kulturstaat« auf eine programmatische Neubestimmung des Verhältnisses von Staat, Markt und Zivilgesellschaft.143 Zum Kontext von Kulturpolitik gehört die gesamte Kulturgesellschaft, die in ihrem Wandel kontinuierlich zu analysieren ist, um die konkrete Herausforderung und Auftragslage herauszuarbeiten, aus denen heraus die kulturpolitischen Ziele abzuleiten sind. Schon diese erste Skizze macht deutlich, dass der Kulturstaat und seine Institutionen über komplexe Gestaltungsoptionen im Politikfeld Kultur verfügt,144 um im Handlungsfeld Kultur mit den anderen Akteuren im Sinne einer »Cultural Governance«145 zusammenzuwirken, und um letztlich in und durch Kultur Wirkungen in der Kulturgesellschaft und bei den Kulturbürgern zu entfalten.

142 | Jann, Werner/Wegrich, Kai, Governance und Verwaltungspolitik, in: Benz, Arthur (Hg.), Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen, Wiesbaden 2004, S. 193ff., 199.

143 | Dieser Gedanke durchzieht auch den Enquete-Schlussbericht, vgl. etwa S. 46, 51f., 86, 91ff., 195ff., 340ff.

144 | S. dazu die Beispiele im Text zuvor, insbesondere aber in Teil 3 dieses Buches.

145 | S. dazu auch Stüdemann, Jörg, Für eine Kulturpolitik der Zweiten Moderne, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2006, Essen 2006, S. 25

II. Kulturbürger

Kulturpolitik hat nicht nur einen gesellschaftlichen Kontext, sondern auch das Individuum als wesentlichen Bezugspunkt. Jede Person ist entscheidend (vor-)geprägt durch kulturelle Herkunft und Kulturelle Bildung. Verhalten und Wahrnehmungsweise jedes Einzelnen sind durch Kultur bestimmt. Die UNESCO hat diesen individuellen Kontext von Kultur und Kulturpolitik – wie schon einmal zitiert – mit folgenden Sätzen ausformuliert: »Deshalb stimmt die Konferenz im Vertrauen auf die letztendliche Übereinstimmung der kulturellen und geistigen Ziele der Menschen darin überein: […] - dass der Mensch durch die Kultur befähigt wird, über sich selbst nachzudenken. Erst durch die Kultur werden wir zu menschlichen, rational handelnden Wesen, die über ein kritisches Urteilsvermögen und ein Gefühl der moralischen Verpfl ichtung verfügen. Erst durch die Kultur erkennen wir Werte und treffen die Wahl. Erst durch die Kultur drückt sich der Mensch aus, wird sich seiner selbst bewusst, erkennt seine Unvollkommenheit, stellt seine eigenen Errungenschaften in Frage, sucht unermüdlich nach neuen Sinngehalten und schaff t Werke, durch die er seine Begrenztheit überschreitet.« 1

Dieser Text bringt eindeutig zum Ausdruck, dass das Individuum in seinem Denken und Handeln, in seinem Urteilsvermögen, der Wertorientierung und der Sinnsuche ganz entscheidend von der und durch die Kultur geprägt wird, in der und durch die es sich aber auch ausdrückt und sich so seiner selbst bewusst wird. Der Prozess der kulturellen Persönlichkeitsbildung ist in der heuti1 | Erklärung der UNESCO-Weltkonferenz über Kulturpolitik in Mexiko-City 1982, s. Kap I/1.1.

68 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext gen globalisierten und medialisierten Gesellschaft längst nicht mehr nur durch einen »bildungsbürgerlichen Kanon« zu erfassen und zu bestimmen. Dieser kann allein die erforderliche universelle Orientierung nicht mehr gewährleisten. Werte zu erkennen und eine (richtige) Wahl in der unerschöpflichen Vielfalt medialer, kultureller Einwirkungen und Angebote zu treffen, stellt äußerst vielfältige Herausforderungen an die Wahrnehmungs- und Reflexionsfähigkeit der Bürger, die einer umfassenden »Kulturkompetenz« bedürfen. Diese Kulturkompetenz des Bürgers zu wecken und zu stärken, ist vorrangig eine kulturpolitische Aufgabe. Ein fortschrittliches Verständnis des »Bürgerrechts Kultur« sieht daher in einer Aktivierung der Kulturkompetenz einen wesentlichen kulturpolitischen Auftrag (Kap. II/1). Dabei ist der Bürger in seinen verschiedenen Rollen als Konsument, Förderer und Aktiver wahrzunehmen, der die Wahl triff t, nach Sinngehalten sucht und selbst schöpferisch tätig sein kann (II/2). Kulturpolitische Entscheidungen haben nicht nur gesellschaftliche Hintergründe, sondern auch individuelle Faktoren: Sie werden von Individuen in unterschiedlich zusammengesetzten Kollektiven getroffen. Das Individuum kann daher in den verschiedensten Zusammenhängen, welche oft auch eine zivilgesellschaftliche Komponente aufweisen, als kulturpolitischer Akteur tätig werden (II/3). Kulturpolitik zielt potenziell auf jegliches Individuum und kann auch von jeglichem Individuum mitbestimmt werden. Um dies deutlich werden zu lassen, wird für das Individuum als Bezugspunkt von Kulturpolitik in diesem Kapitel der Begriff »Kulturbürger« eingeführt. Die Kulturgesellschaft besteht im Kulturstaat Deutschland also aus mehr als 80 Mio. Kulturbürgern, die ein »Bürgerrecht auf Kultur« haben und im Laufe ihres Lebens Kulturpolitik grundsätzlich auch selbst aktiv mitgestalten können.

1. B ÜRGERRECHT K ULTUR Der Kulturstaat schützt und fördert Kunst und Kultur. Kunst und Kultur sind indes keine rein abstrakten Phänomene, sondern werden von Gesellschaft und Individuum getragen und gestaltet. In den künstlerischen und kulturellen Wirkprozessen haben die Künstler eine zentrale Bedeutung. Sie bringen Werke hervor, die in der Geschichte überdauern, die Gegenwart gestalten und Zukunft vorwegnehmen. Künstlerische Arbeit ist meist höchst individuell. Eine besondere Aufgabe des Kulturstaates ist es daher, Künstler als Individuen zu achten und zu fördern. Die damit einhergehenden Fragen werden allerdings erst in Teil 2 behandelt, während es hier um einen jeden »Kulturbürger« geht.

II. Kulturbürger | 69 1.1 Das Individuum als Bezugspunkt des Kulturstaates

Nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hat der Staat eine Reihe von Grundrechten des Einzelnen zu beachten, die auf die individuelle Freiheit abzielen. Diese Schutzfunktion des Staates korrespondiert mit einer Gewährleistungsfunktion, die auch so weit gehen kann, dass aktives staatliches Handeln erforderlich ist, um die Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen, insbesondere Chancengleichheit und Teilhabegerechtigkeit, zu sichern. Grundnorm für diese auf den Einzelnen bezogenen staatlichen Schutz- und Handlungsaufträge ist Artikel 1 Abs. 1 GG: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Die Menschenwürde ist der oberste Grundwert unserer Verfassung. Mit der Menschenwürde ist der soziale Wert- und Achtungsanspruch gemeint, der dem Menschen wegen seines Menschseins zukommt.2 Der Mensch wird als Subjekt gesehen, dessen menschliche Identität und Personalstruktur zu schützen sind. Trotz aller tatsächlichen Unterschiede schließt die Menschenwürde die prinzipielle Gleichheit aller Menschen ein. Die beiden folgenden Grundgesetzartikel konkretisieren die Gewährleistung der Menschenwürde: »Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit« (Art. 2 Abs. 1), »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich« (Art. 3 Abs. 1). Die daran anschließenden Grundrechte der Artikel 4 und 5 zur Glaubens- und Gewissensfreiheit, zur Meinungs- und Pressefreiheit und insbesondere zur Kunst- und Wissenschaftsfreiheit fächern als »kulturelle Grundrechte« den Schutz und die staatlichen Garantiefunktionen für die Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums weiter auf. Jeder Einzelne hat somit freie kulturelle Entfaltungsmöglichkeiten; der Staat hat diese zu garantieren und zu schützen. Ein »Bürgerrecht Kultur« ist allerdings nicht ausdrücklich normiert. Das »Bürgerrecht Kultur«3 ist vielmehr ein kulturpolitischer Leitbegriff, der unter Rückgriff auf diese verfassungsrechtliche Basis es als ein Recht der (Kultur-)Bürger erscheinen lassen soll, dass ihnen der Staat kulturelle Angebote macht. Dieses Grundverständnis prägte die in den 1970er Jahren begründete »Neue Kulturpolitik«: Die öffentlichen Kulturträger und -einrichtungen sollten sich verstärkt allen Bürgern öffnen, auf ihre Bedürfnisse eingehen (»Kultur für alle«). Da das Grundgesetz bisher keine Staatszielbestimmung Kultur enthält, sondern nur kulturelle Grundrechte, die als Freiheitsrechte formuliert sind, lässt sich nach jetziger Verfassungslage lediglich aus der Interpretation der Grundrechte als objektiv-rechtliche Wertentscheidungen der 2 | BVerfGE 87, S. 209, 288. 3 | So auch der Titel eines der kulturpolitischen Grundwerke von Hermann Glaser aus dem Jahr 1983 (zusammen mit Karl-Heinz Stahl).

70 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext Verfassung 4 ein kultureller Auftrag ableiten. Die Wertentscheidungsgehalte zielen darauf ab, den Grundrechten über die Abwehrfunktion hinaus auch Leistungs- und Schutzgehalte zu entnehmen. Auch in der Kunstfreiheitsgarantie des Artikel 5 Abs. 3 GG sieht das Bundesverfassungsgericht eine wertentscheidende Grundsatznorm, die den Staat zur Pflege und Förderung der Kunst verpflichtet. Doch ist daraus nicht ohne Weiteres ein Anspruch des einzelnen Bürgers auf die Gewährung von Förderung und das Vorhalten entsprechender Angebote zu folgern. Mit der generellen Verpflichtung des Staates, im Sinne der objektiven Wertentscheidung des Artikels 5 Abs. 3 GG Kunst zu schützen und zu fördern und dabei entsprechende Angebote allgemein zugänglich zu machen, korrespondiert ein »allgemeines« Recht des Bürgers auf kulturelle Teilhabe. Das Individuum ist mithin nach den an der Spitze unserer Verfassung stehenden Grundrechten maßgeblicher Bezugspunkt des Kulturstaates. Auch die Kulturpolitik ist vom Individuum ausgehend zu begründen und auf das Individuum als einem wesentlichen Bezugspunkt auszurichten. Denn letztlich soll kulturpolitisches Handeln nicht nur gesellschaftliche Wirkung erzeugen, sondern vor allem auch dem einzelnen Bürger zugute kommen. Dabei geht es nicht nur um Chancengleichheit, sondern auch um die Aktivierung der Potenziale einer jeden Persönlichkeit. Ihre Entfaltungsmöglichkeiten, ihr Urteilsvermögen, ihre Orientierung sind Bestimmungsfaktoren für die Kulturpolitik. Daraus ergibt sich allerdings die Frage, welches Leitbild der Kulturpolitik im Hinblick auf das Individuum zugrunde gelegt werden sollte. 1.2 Vom Bildungsbürger zum Kulturbürger

Traditionell ist das Leitbild der Kulturpolitik in Deutschland das des »Bildungsbürgers«. Dem Ideal des Rechts- und Kulturstaates des 19. Jahrhunderts entsprach die Forderung, dass der Staat »mit den Bildungswerten des kulturbewahrenden Humanismus oder des freiheitlichen Kulturfortschritts« zu durchdringen sei, wie es Ernst Rudolf Huber 1957 in seiner Antrittsvorlesung »Zur Problematik des Kulturstaats« formuliert hat. Zweifellos ist es für die Kulturpolitik erforderlich, verbindende Werte und Traditionen herauszuarbeiten, die als normative Grundlagen in die kulturpolitische Programmatik einfließen. Und selbstverständlich basiert das Grundgesetz als für den Kulturstaat verbindliche verfassungsrechtliche Basis auf humanistischen Idealen und den allgemeinen Menschenrechten. Das Menschenbild des Grundgesetzes und damit das Leitbild für Kulturpolitik im Kulturstaat Deutschland ist jedoch nicht darauf fokussiert, alle Bürger (nur) unter bildungsbürgerlichen Idealen zu betrachten und staat-

4 | Vgl. BverfGE 49, S. 89, 141ff; 73, S. 261, 269; 96, S. 56, 64.

II. Kulturbürger | 71 liches Handeln allein darauf auszurichten, Bürger als »Bildungsbürger« kompetent zu machen. Die Person unterscheidet sich von anderen zwar auch durch Bildung, vor allem aber durch Kultur. Kultur beeinflusst das Leben der Menschen. Deren Alltag wird erkennbar geprägt durch Symbolbildungen, humane Werte und soziale Standards, in denen sich die Kultur einer Gemeinschaft manifestiert.5 In der Kultur findet jeder Mensch vielfältige Identifi kationsmöglichkeiten: Die Zugehörigkeit zu einer Kultur ermöglicht Lebensqualität und Sinnorientierung. Jeder Mensch will sein Leben schön und gut gestalten, wozu Kunst und Kultur, die Teilnahme am kulturellen und sozialen Leben Erfahrungen und Erlebnisse vermitteln, die wesentlich sind für die Gestaltung des Lebens und der Person. Jeder Bürger ist Kultur-Nachfrager, »spendet« aber auch Zeit und Geld durch eigenes Engagement und seine Steuern, trägt je individuell zu einer florierenden Kulturlandschaft bei. Entscheidend ist es daher, dass den Bürgern im Kulturstaat Deutschland Gelegenheit gegeben wird, ihre eigenen kulturellen Interessen zu verfolgen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und am kulturellen Leben teilzunehmen. Der Begriff des »Kulturbürgers« erscheint geeigneter, solche Entfaltungsmöglichkeiten anzusprechen, als der des »Bildungsbürgers«.6 Denn letztlich ist eine Kulturpolitik erforderlich, die den Prozess der »Kulturellen Partizipation« vorantreibt mit dem Ziel der kulturellen Teilhabe und der Befähigung zur besseren Bewältigung der Herausforderungen der Zukunft. Kulturpolitik soll »die in der Individualisierung angelegten Möglichkeiten persönlicher Freiheit im Sinne von Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung unterstützen. Notwendig ist dafür eine plurale Kulturpolitik, die sich darum bemüht, das soziale und kulturelle Kapital aller Menschen zu stärken und ihm Anerkennung zu verschaffen«.7 In diesem Zusammenhang kommt den Künsten eine besondere Bedeutung zu, wie dies auch die Kultur-Enquete eindeutig formuliert hat: »Denn wenn irgendwer die Freiheit und Würde des Einzelnen diskutiert, einfordert, in aller Widersprüchlichkeit darstellt, die symbolischen Formen bereitstellt, in denen sie überhaupt gedacht und erlebt werden können, dann geschieht dies vor

5 | Enquete-Schlussbericht, S. 47ff. 6 | Zur Klarstellung: Der Begriff Kulturbürger sollte nicht mit der Konnotation verbunden sein, dieser habe nur Interesse an einem bestimmten Typus von bürgerlicher Kultur. Tenbruck, Friedrich H., Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft, 2. Aufl., Opladen 1989, S. 251ff. zeigt in einer lesenswerten Analyse auf, wie sich der Begriff »bürgerliche Kultur« entwickelt hat und wie schwierig es ist, diese in der Realität zu erfassen, da sie letztlich »weder im sozialen Ursprung noch im ideellen Anspruch eine Standeskultur war, weil sie sich an alle richtete und sie früher oder später, direkt oder indirekt, erreichte« (S. 266).

7 | Programm der Kulturpolitischen Gesellschaft 1998 (www.kupoge.de).

72 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext

allem im Medium der Künste. Durch die Künste werden Individualität und soziale Gebundenheit thematisiert.«8

Die Künste sind damit im Höchstmaß Ausdruck der Individualität einer Person. Sie sind Ausdrucksformen, in denen menschliche Lebenssituationen und Empfindungen zur Sprache gebracht werden. In den Künsten schaffen Menschen Werke, durch die sie ihre Begrenztheit überschreiten.9 Bei aller – gerade sich in künstlerischen Aktivitäten entfaltenden – Individualität und Pluralität der Kulturbürger ist es von besonderer Bedeutung, das Verbindende in Gemeinschaft und Gesellschaft herauszuarbeiten. Damit sind kulturelle Aspekte angesprochen, die auch traditionelle bildungsbürgerliche Elemente umfassen. Eine wichtige Frage, die sich daraus ergibt, lautet, ob es neben verbindenden Werten auch Verbindlichkeiten für das (kulturelle) Zusammenleben gibt. Ein Beispiel für eine wesentliche allgemeinverbindliche Grundlage für Kultur und Bildung ist die (gemeinsame) Sprache. Deutschland hat den Vorteil, dass die deutsche Sprache in allen Ländern und Regionen die (verbindliche) Sprache ist, während andere europäische Länder vielfach auch als aufgeklärte Staaten große Probleme damit haben, wenn mehrere Sprachen innerhalb des Staates (amtlich) als verbindlich gelten. Eine entscheidende Wirkung Kultureller Bildung ist, dass Kinder und Jugendliche jenseits von Sprache im verbindenden Erleben Verbindliches entdecken: Das gemeinsame Tanzen, Theaterspielen oder Musizieren folgt jeweils eigenen Regeln, die zu beachten sind, um sich gemeinsam künstlerisch und kulturell auszudrücken. Der Einzelne wird als Individuum in der Gemeinschaft angesprochen und die Gemeinschaft setzt auf die kreativen Fähigkeiten des Einzelnen. Dabei entsprechen die kulturellen Ausdrucksformen gerade auch der jüngeren Generation allerdings bei Weitem nicht mehr bildungsbürgerlichen Idealen – man denke nur an die verschiedensten Ausdrucksformen im Tanz (z.B. Hip-Hop), in der Weltmusik, in der Medienkunst etc. Vielfalt und Reichhaltigkeit der Kreationsformen und -möglichkeiten haben den klassischen Bildungskanon längst gesprengt. Die gesellschaftlichen Veränderungen sind letztlich an einem verbreiterten Angebot kultureller Betätigung ablesbar. Damit kein Missverständnis entsteht: Selbstverständlich sollten kulturelle Bildungsangebote auch Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln, die auf unserem kulturellen Erbe basieren. Doch die jüngere Generation wächst nicht als »klassisches Bildungsbürgertum« nach. Auch bei den älteren Generationen tritt heute an die Stelle des Bildungsbürgertums zunehmend ein »Kulturbürgertum«. Ihr Rezeptions8 | Enquete-Schlussbericht, S. 50. 9 | S. dazu den oben zu Beginn des Kapitels auf S. 67 zitierten UNESCOText.

II. Kulturbürger | 73 verhalten und ihre Interessen haben sich durch Fernsehen und vor allem Internet gegenüber früheren Generationen radikal verändert. Der Kulturbürger wählt sehr bewusst aus unterschiedlichen Optionen von Kulturangeboten. Die Ausprägung verschiedener Lebensstile mit unterschiedlichen kulturellen Faktoren kennzeichnet Individuen und Gesellschaft. Der kurzfristige Entschluss für den »Kulturgenuss« steht auf der Agenda. So sinkt zwar nicht die Gesamtzahl der Theaterbesucher, aber die Zahl der Abonnenten. Während der Bildungsbürger noch gesagt hat: »Ich weiß, wie es geht. Was ich denke und wie ich handle, ist durch Wissen und Erkenntnis fundiert. Mir ist wichtig, dass die Kulturpflege als Traditionspflege funktioniert«, äußert der Kulturbürger heute: »Und ich will wissen, wie es gehen könnte. Was ich denke oder was ich tue, überlege und entscheide ich im Einzelfall. Wichtig ist mir, dass dafür viele Möglichkeiten zur Wahl stehen. Der Kulturbetrieb sollte daher möglichst viele Angebote und Events für mich bereithalten.« Das Verlässliche und Verführerische an den neuesten Kulturentwicklungen ist, dass es eine Kontinuität der Paradigmenwechsel gibt, einen permanenten Horizont von Veränderungen. Der Kulturbürger freut sich über diese Wandlungen, denn sie sind aufregend und anregend. Dabei ergeben sich unterschiedliche Optionen: Der Kulturbürger kann als »Kulturflaneur« (Andreas J. Wiesand) mittels beiläufigem Kulturkonsum seinen wechselnden Präferenzen nachgehen und so alle Potenziale einer »Spaßgesellschaft« auskosten.10 Oder er sucht und findet in und durch Kultur Orientierung in einer »Sinngesellschaft«, die von den Trends Intimität (Rückzug ins Vertrauen), Introversion (was mir gut tut), Integration (die Dinge auf die Reihe bringen) und Intensität (weniger ist mehr) geprägt ist.11 Es zeichnet sich ab, welches Leitbild einer zeitgemäßen Kulturpolitik zugrunde zu legen ist: Kulturpolitik zielt auf den freien, mündigen und vor allem kompetenten Kulturbürger, der in der Lage ist, »mit Kultur umzugehen«. Der kompetente Kulturbürger ist nicht nur als Nutzer und Besucher ansprechbar, sondern auch als Kulturförderer, als Aktiver in eigenen künstlerischen und kulturellen Betätigungsfeldern und als Akteur in kulturpolitischen Prozessen. Kulturkompetenz wird damit zu einem wichtigen generellen kulturpolitischen Ziel. 1.3 Kulturkompetenz als kulturpolitische Zielsetzung

Das Bürgerrecht Kultur erschöpft sich nicht in einer reinen »Farbigkeitsbedarfsdeckung«.12 Es wird nicht »irgendwie« erfüllt, sondern zielt auf die 10 | Lissek-Schütz, 2006, S. 19. 11 | Romeiß-Stracke, 2003, S. 120ff. 12 | Hermann Glaser, 2002, S. 328 unter Berufung auf Odo Marquardt.

74 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext Kompetenz des Einzelnen, die sich nicht im Wissen erschöpft, sondern auch von Teilhabe, kultureller Empfehlung und Urteilsfähigkeit mitgeprägt ist. Diese Kulturkompetenz ist angesprochen in den medialen und globalen Prozessen, dem »weißen Rauschen« permanenter Informationsüberflutung, die durch alle Kanäle menschlicher Wahrnehmungsmöglichkeiten dringt: Musik- und TV-Kanäle, MP3-Player und Mailboxen, E-Mails und Musikberieselung in öffentlichen Räumen, DVD und Pay-TV, Klingeltöne und SMS, digitale Bilderrahmen und ICQ, um nur einige wenige der realen und virtuellen Wahrnehmungsmöglichkeiten zu nennen. Was und wie nehmen wir uns und andere, Informationen und kulturelle Codes denn wahr? Unsere Wahrnehmungsfähigkeit, unsere Kompetenz, das Richtige und Wichtige aus der Flut auszuwählen und zu verarbeiten, ist zur wichtigsten Schlüsselkompetenz geworden. Der grenzenlos mögliche Konsum von Botschaften und Informationen aller Art führt dann zu Unfreiheit, wenn wir nicht mehr das Richtige und Wichtige wahrnehmen können. Folge davon ist, dass Wahrnehmung nicht mehr selbstbestimmt, sondern fremdbestimmt ist. Das Prinzip der Bürgerrechte aber ist, Menschen aus ungefragten Bedingungen zu lösen und zu eigener Entscheidung zu befreien und zu befähigen.13 Um in diesem Prozess zu bestehen, ist eine umfassende Kulturkompetenz konstitutiv. Die Wahrnehmungsfähigkeit ist die schönste Form der Freiheit in einer globalisierten und medialisierten Gesellschaft. Kulturkompetenz ist nicht nur als eine Kompetenz des Wissens zu verstehen, lässt sich daher nicht nur durch Wissensvermittlung wecken, sondern vor allem als eine Kompetenz zu einer Erkenntnis, die sich aus ästhetischer Sensibilität und Erfahrung speist. Kulturkompetenz umfasst also die Fähigkeit, ästhetische Prozesse, Produkte, Phänomene zu verstehen, um mit ihnen selbständig umzugehen. Dazu gehört auch die Sensibilität für das Andere, der die Bestimmung einer eigenen Position in der »offenen Gesellschaft« entspricht. Wie aber spielt sich Wahrnehmung ab? Was heißt in diesem Zusammenhang »Ästhetik«? Ästhetik kann vorwiegend auf die Künste und das Schöne oder aber auch auf Wahrnehmungen im umfassenden Sinne bezogen werden. Zunächst war Ästhetik – seit 1750 – der Titel einer philosophischen Disziplin, die ein Wissen vom Sinnenhaften anstrebte und daher von ihrem Gründungsvater Baumgarten als Episteme-Aesthetike – kurz »Ästhetik« – bezeichnet wurde. Später ist es zu einer Verengung vorwiegend auf die Kunst oder gar nur auf das »Schöne« gekommen. Ästhetik wird danach verstanden als Philosophie des Schönen und der Kunst. Dieser Einengung möchte ich nicht folgen, vielmehr verstehe ich Ästhetik generell als Thematisierung von Wahrnehmungen aller Art, »sinnenhaften ebenso wie 13 | S. dazu Dahrendorf, Ralf, Aktive Bildungspolitik ist ein Gebot der Bürgerrechte, in: Häberle, Peter (Hg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, Darmstadt 1982, S. 217ff., 232, 234.

II. Kulturbürger | 75 geistigen, alltäglichen, visuellen, lebensweltlichen wie künstlerischen«.14 Wahrnehmung ist danach ein subjektiver Prozess, der durch subjektive Setzungen ausgelöst wird. Der subjektive Ausdruck kann uns durch eine direkte Begegnung mit einem anderen Subjekt erreichen, vor allem bei den Zeitkünsten, also mit den jeweiligen Künstlerpersönlichkeiten, dem Schauspieler, Musiker oder Tänzer. Die Wahrnehmung kann aber auch durch ein Objekt, ein Kunstwerk, durch einen designten Gegenstand, ein Bühnenbild etc. ausgelöst werden. So kann ein Museum »Augenlust« entzünden, die sich im Verstand fortsetzt. Ästhetik bezieht sich sowohl auf das »Produkt« als auch auf den kulturellen und künstlerischen »Prozess«. Es gibt »nicht nur eine ästhetische Qualität des Produkts, sondern auch des Prozesses. […] Natürlich erfüllt »Laienkultur« häufig nicht die Qualitätsmerkmale professioneller Kunst, doch liegt im Tun dann der eigentliche Wert, in der Ausübung und Erfahrung von Kreativität.«15 In der ästhetischen Diskussion werden Kunst und Kultur als Gegenpole oder auch als Elemente eines Kontinuums gesehen. Wolfgang Rihm hat dies in folgenden Worten ausgedrückt: »Kunst und Kultur sind Gegensätze, allerdings in ihrer effektivsten Verbindung. Der Autor kann sein Werk nur individuell begründen, er trägt stets das volle Risiko. Kultur aber kann nur aus ihrer Gültigkeit für möglichst viele Beteiligte begründet werden.« 16 In diesen drei Sätzen ist das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv angesprochen. Kunst ist ein höchst individueller und subjektiver Vorgang, während mit Kultur das Verbindende in Gemeinschaft und Gesellschaft angesprochen wird: Werte, Traditionen, Gemeinschaftliches. Darin liegt das Besondere ästhetischer Erfahrung: Sie ist zunächst ein individueller Prozess, doch hat dieser eine darüber hinaus weisende Dimension. Genau darum ging es Friedrich Schiller in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen: Ästhetik erhält ihren »Mehrwert« vor allem dadurch, dass sie auf ein anderes (Ethik, Moral, Humanisierung) transzendiert. Schiller spricht in diesem Kontext von der Schaubühne als einer moralischen Anstalt. »Der im Deutschen Idealismus entwickelten Ästhetik liegt die Hoff nung zugrunde, dass der sublimierende Formtrieb die hohe Stofflichkeit zu überwinden vermag, dass der in der Sinnlichkeit der

14 | Welsch, Wolfgang, Anästhetik – Fokus einer erweiterten Ästhetik, in: Zacharias, Wolfgang (Hg.), Schöne Aussichten, Ästhetische Bildung in einer technisch-medialen Welt, Essen, 1991, S. 79ff.

15 | Glaser, Hermann, Die Wiedergewinnung des Ästhetischen unter gegenwärtigen Bedingungen, in: Zacharias, Wolfgang (Hg.), Sinnenreich. Vom Sinn einer Bildung der Sinne als kulturell-ästhetisches Projekt, Essen 1994, S. 341ff.

16 | Rihm, Wolfgang, Nur das Schöpferische zählt wirklich, in: FAZ v. 11.9.1998.

76 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext Kunst zutage tretende Vorschein der Idee den Menschen zur Schöngutheit zu erziehen vermag.« 17 Wolfgang Zacharias hat auf die Wechselbeziehung von Erkenntnis und Ästhetik mit dem Satz hingewiesen: »Du siehst etwas, was ich nicht weiß, und Du weißt etwas, was ich nicht seh«.18 Ästhetische Erfahrung leistet einen Beitrag zur Offenheit für das Fremde, das Rätselhafte, das Unbekannte und Kritische. In der Sorge um dieses Andere leistet ästhetische Erfahrung auch einen Beitrag zu einer Ethik der menschlichen Existenz. Die Ethik der Ästhetik liegt nicht in der moralischen Kontrolle von Kunst, Literatur, Theater etc., sondern in der Möglichkeit des Ästhetischen, für die Rätselhaftigkeit der Welt und das Andere zu sensibilisieren. Das Eintreten der Kunst für das Unsagbare und Undurchschaubare ist also Ausdruck einer genuinen Ethik der Ästhetik.19 Wenn auch bei dem Ziel, die Wahrnehmungsfähigkeit und Kulturkompetenz des Einzelnen zu stärken, ethische Gesichtspunkte eine Rolle spielen, so ist das Bild von einer edlen Gemeinschaft ästhetisch kompetenter »Gutmenschen« letztlich realitätsfern, klammert zudem das sinnliche Moment aus. Friedrich Schiller geht es um die »Erziehung des Menschengeschlechts«. Er zieht mit seiner Sichtweise der ästhetischen Erziehung ausdrücklich eine Verbindung zur Ethik. Ästhetik ist für ihn nicht Selbstzweck, sondern Mittel der Ethik und Aufklärung. Doch merkwürdigerweise ist die Ausmerzung des Primärsinnlichen im Sinne Schillers eine Grundaufgabe der ästhetischen Erziehung. Welsch bezeichnet dies als »absolutistische Auslegung des ästhetischen Imperativs«.20 Das Erweiterungs- und Entfaltungsunternehmen Ästhetik sollte aber gerade nicht antisinnlich eingestellt sein. Es geht bei dem Wahrnehmungsprozess keineswegs um eine »Domestizierung der Sinnlichkeit«, sondern um einen Prozess der Verständigung zwischen den beteiligten Subjekten. Diese Verständigung hat in jedem Fall auch sinnliche Aspekte, wäre doch Kunst ohne Sinnlichkeit kaum vorstellbar.21 Kunst spricht unsere Sinne an und ermöglicht damit individuellen Ausdruck und Empfindung. In der Kunst geht es um die Möglichkeit individueller Entfaltung und individueller Wahrnehmung, nicht um das Produzieren von Gleichförmig17 | Glaser, 1994, S. 336. 18 | Zacharias, 1991, S. 13. 19 | Wulf, Christoph/Kamper, Dietmar/Gumbrecht, Hans Ulrich (Hg.), Ethik der Ästhetik, Berlin 1994, Vorwort, S. XI.

20 | Welsch, Wolfgang, Ästhetik. Ethische Implikationen und Konsequenzen der Ästhetik, in: Wulf, Christoph/Kamper, Dietmar/Gumbrecht, Hans Ulrich (Hg.), Ethik der Ästhetik, Berlin 1994, S. 3ff., 10ff.

21 | Dazu Koppe, Franz, Grundbegriffe der Ästhetik, Frankfurt a.M. 1983, S. 166ff.: Kunst ruft als »das Leben im ganzen betreffender Bedürfnisausdruck nicht von ungefähr die Partizipation aller Sinnessprachen« herbei.

II. Kulturbürger | 77 keit. Durch Kunst, Literatur, Film, Tanz, Musik werden wir uns unserer eigenen kulturellen Identität und unserer Individualität bewusst. Die Verständigung zwischen uns Menschen als Individuen ist aber letztlich nur möglich, wenn unsere Wahrnehmungsfähigkeit ausgeprägt ist, die Sensibilität für das, was den anderen als Individuum mit seinen kulturellen Eigenheiten ausmacht. Insofern ist Kulturkompetenz notwendige Voraussetzung dafür, Verantwortung in der Gesellschaft und Gemeinschaft zu übernehmen. Kulturkompetenz stärkt diese Bereitschaft. Und wer sie hat, versteht andere und wird von anderen verstanden. Künstlerische Erfahrung und Reflexion führen daher nicht nur zu einer ästhetischen Sensibilisierung jedes Einzelnen, sondern tragen entscheidend dazu bei, die eigene Situation und Rolle in Gemeinschaft und Gesellschaft zu überdenken und wahrzunehmen (im doppelten Sinne des Wortes). Diese kollektive Komponente ästhetischer Fähigkeiten ist von größter Bedeutung für Zusammenleben und Zusammenhalt. Damit wird die Relevanz folgender Sentenz deutlich: »Kunst ist die Substanz von Kultur und Kultur ist die Substanz von Politik«.22 Der politische Prozess und die ethischen Grundlagen unseres Handelns erfordern eine Verständigung zwischen den beteiligten Subjekten. Diese Verständigung wird dadurch möglich und gestärkt, dass das einzelne Subjekt über eine ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit, also Kulturkompetenz verfügt. Bezogen auf das Individuum bekommt das Leitbild der Kulturpolitik im Kulturstaat Deutschland also mit dem »kompetenten Kulturbürger« Kontur, der – als ästhetisch erfahrenes Individuum – Kunst- und Kulturangebote besucht und nutzt, als Kulturförderer oder selbst als künstlerisch Aktiver in Erscheinung tritt oder als Akteur in kulturpolitischen Entscheidungsprozessen Position bezieht. Wie diese Kulturkompetenz inhaltlich in künstlerischer Hinsicht, durch Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe und durch ein qualifiziertes kulturelles Bildungsangebot ausgefüllt wird, findet sich in Teil 2 näher beleuchtet.

2. A K TIVE K ULTURBÜRGER Der einzelne Kulturbürger ist Teil eines größeren Publikums, das etwa bei »Blockbuster-Ausstellungen« mehrere hunderttausend Menschen ausmachen kann. Kulturvermittlung und Kulturmarketing sind Leitvokabeln in den entsprechenden Gestaltungs- und Kommunikationsprozessen (Kap. II/2.1). Kulturpolitik in der »Bürgergesellschaft« setzt auf das Engagement 22 | So ähnlich hat es immer wieder Richard Erny ausgedrückt, z.B. bei der Abschlussveranstaltung von Kultur 90, s. Erny, Richard/Godde, Wilhelm/Richter, Karl, Kultur 90. Zentralveranstaltung in Essen, Essen 1989, S. 10.

78 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext von Förderern, freiwilligen und ehrenamtlichen Helfern. Die Freiwilligenarbeit ist ein entscheidender Beitrag der Zivilgesellschaft im Kulturstaat Deutschland (II/2.2). Millionen Deutsche sind in ihrer Freizeit als Ausführende selbst künstlerisch aktiv: etwa in Chören, Orchestern, Kunstvereinen, Tanzensembles, Theatergruppen. Vielfalt und Reichhaltigkeit des Kulturlebens werden davon entscheidend mitgeprägt (II/2.3). 2.1 Publikum

Publikum ist der Inbegriff für eine Gesamtheit von Besuchern oder Nutzern eines Kulturangebotes. Der Begriff Publikum hat sich im 18. Jahrhundert von Berlin ausgehend in Deutschland eingebürgert.23 Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der deutschen Sprache, dass dieses Wort als Neutrum und nur im Singular verwendet werden kann. Kulturangebote orientieren sich auf ein Publikum, doch es ist vielfach ein unbekanntes Wesen, selbst wenn es als Stammpublikum einen vertrauten Anschein macht. So muss sich Kulturpolitik mit Anspruch (a) und Wirklichkeit (b), mit Trends und Bedürfnissen (c) auseinandersetzen, wenn sie sich als Sachwalter der Kulturbürgerschaft versteht. (a) Anspruch: Der Anspruch an das Publikum ist ein Element, das in einem vielfältigen Spannungsverhältnis von Kunst und ihren Adressaten, Künstlern und Publikum, Kulturpolitik und Kulturschaffenden steht, dessen Reflexion ein historisches Kontinuum der Kulturpolitik ist. Dies kann hier nur mit wenigen Stichworten angerissen werden: In der zweiten Hälfte des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts setzte sich das Kulturpublikum weitgehend aus dem Bürgertum zusammen. Der Begriff »Publikum« signalisierte die Zugehörigkeit zu solchen Kreisen: Lesepublikum, Theaterpublikum etc.24 Mitte des 19. Jahrhunderts wandelte sich das Publikum vom kulturräsonierenden (Salons) zum kulturkonsumierenden Publikum. Kulturorte wurden als Orte gesellschaftlicher Kommunikation, als Orte ästhetischer Erziehung mit einer ab der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden »Kanonisierung der Klassiker« verstanden. Die »Neue Kulturpolitik« der 1970er Jahre hatte die Demokratisierung von, die Partizipation an und die Emanzipation durch Kultur zum Ziel.25 Künstlerisch-kulturelle Selbsttätigkeit, die Kultur von allen wurde zu einem neuen Aufgabenfeld der Kulturpolitik, verbunden mit Worten wie »Werkstatt«, »Zentrum«, »Forum«. Die Folge war die Addition neuer Einrichtungen insbesondere 23 | Habermas, 1990, S. 84 unter Verweis auf das Grimm’sche Wörterbuch. 24 | Vgl. Tenbruck, 1989, S. 255ff. 25 | S. dazu Wagner, Bernd, Kulturpolitik und Publikum, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2005, Essen 2005, S. 9ff., 18.

II. Kulturbürger | 79 der Soziokultur zu dem Vorhandenen und einige Versuche, dort die Demokratisierung und Partizipation zu verstärken und auf Straßen und Plätzen Präsenz zu zeigen (Straßenfeste, Fabrikhallenkonzerte, öffentliche Kunstaktionen, Spiel- und Klangstraßen etc.). Die kulturellen Institutionen wollten zudem in den 1970er Jahren im Zeichen der »Frankfurter Schule« eine Öffnung herbeiführen, weg von der affirmativen Ausrichtung hin zu einer kritischen Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse. Doch oft war damit ein elitäres Denken und Handeln verbunden. Die behauptete gesellschaftliche Relevanz korrelierte bei Weitem nicht immer mit einer Breitenwirkung beim Publikum und in der Kulturgesellschaft. Und wenn in der kulturpolitischen Programmatik von »sozialer Akzeptanz« die Rede war, wurden die eine solche verfolgenden Kulturpolitiker als bornierte kunstferne Bürokraten oder der Kulturindustrie nachlaufende Kunstweichspüler in die Ecke gestellt. Der Anspruch alleine, Kultur für alle zu produzieren, reicht nicht. Chancengleichheit ist nur das eine Element des kulturpolitischen Anspruchs, das andere ist Qualität, denn nur sie kann letztlich dem Ziel gerecht werden, die Wahrnehmungsfähigkeit der Kulturbürger zu stärken und so ihre Kulturkompetenz zu steigern. Doch vordergründig wird jedes Kulturangebot zunächst an der »Publikumswirksamkeit« gemessen, ob in der Kulturpolitik, bei Sponsoren oder in den Medien. Da es kaum Wirkungsanalysen gibt und auch wenig Bereitschaft oder auch Möglichkeiten, auf diesen Feldern intensiver zu forschen und nachzuforschen, bleibt als kleinster gemeinsamer Nenner des Wirkungsbeweises und des Erfolges einer »auf alle« ausgerichteten Kulturpolitik die Publikumswirksamkeit. Sobald etwas als publikumswirksam erscheint, hat es offensichtlich dann quasi ohne Weiteres die Legitimation zur Förderung, zur öffentlichen Aufmerksamkeit und Unterstützung.26 In der heutigen Gier nach dem Erlebnis »frisst« dieses auch das Widerborstige und Provozierende, das Anstößige und Nachdenkliche vielfach auf. Sobald etwas Aufregendes gezeigt wird, wird es vom Publikum einfach als »entleerte Erlebnisdroge«27 vereinnahmt. Aber immer wieder gibt es auch solche Momente der Entschleunigung, der Sinnlichkeit, der Nachdenklichkeit, des Betroffenseins, des Gemeinschaftserlebnisses, das im Einzelnen als Teil des Publikums »etwas auslöst«. Diese Wirkung spielt sich in Köpfen und Herzen ab und entzieht sich damit einer wie auch immer gearteten unmittelbaren Evaluation. (b) Wirklichkeit: Die Publikumswirksamkeit ist nicht zu verwechseln mit der Publikumswirklichkeit. Trotz aller Publikumserfolge ist festzustellen, dass Kulturangebote und -einrichtungen statistisch nur die Hälfte der Bürger in Deutschland erreichen. Zwei Drittel sind erreichbar, der Prozent26 | Vgl. dazu auch Schulze, 1993, S. 512. 27 | Ebd., S. 516ff.

80 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext satz der Intensivnutzer an der Gesamtbevölkerung beträgt fünf bis zehn Prozent. Dies sind eindrucksvolle Fakten, doch längst nicht beruhigende. Der Anspruch auf Teilhabe ist beileibe nicht vollständig eingelöst. Dass sich viele Kultureinrichtungen immer noch zurücklehnen und nach dem Selbstverständnis handeln: »Wir hier – die da«, zu wenig Kenntnis vom Publikum und vor allem vom Nichtpublikum haben, ist eine zentrale kulturpolitische Herausforderung. Ein Beispiel aus der Sphäre des Theaters, das auf lange Sicht vielleicht am stärksten vom Strukturwandel der Öffentlichkeit betroffen ist, soll illustrieren, welche Vorprägungen sich aus Tradition und Haltung der Kulturinstitutionen und ihrer Verantwortlichen ergeben: Das vormoderne Theater betrachtete den Zuschauerraum noch als einen kommunikativen Ort, der gleichberechtigt neben der Bühne stand und deshalb während der Auff ührung erleuchtet blieb. Im späten 19. Jahrhundert änderte sich das. Während der Auff ührungen wurde fortan, in bewusster Abgrenzung zum Varieté und zum Volkstheater, das Licht im Zuschauerbereich gelöscht, um die Aufmerksamkeit ganz auf das nun mit elektrischen Mitteln erleuchtete Bühnengeschehen zu richten. Dieses neue Verhältnis von Hell und Dunkel, mit dem das laute Gespräch und der Blickkontakt innerhalb des Publikums niedergehalten werden sollte, bedurfte der autoritären Absicherung. Polizeiverordnungen bedrohten unbotmäßiges Verhalten der Theaterbesucher mit Ordnungsstrafen. So hieß es in einer Polizeiverordnung der Stadt Essen von 1892: »Jeder Lärm im Theater und in den Gängen ist verboten, namentlich aber jedes laute Rufen, Pfeifen, Zischen, Poltern et cetera und überhaupt alles, wodurch die Vorstellung unterbrochen oder die Aufmerksamkeit der Zuhörer gestört werden könnte, ist untersagt.«28 Von größter Bedeutung ist es, den demografischen Wandel als kulturpolitische Auftragslage zu erkennen und zu analysieren:29 Die Zusammensetzung der Bevölkerung im Hinblick auf den kulturellen Hintergrund und die Altersverteilung ändert sich zum Teil dramatisch. So werden im Ruhrgebiet 2010 fünfzig Prozent der Kinder an Grundschulen einen Migrationshintergrund haben. Der Altersdurchschnitt der Bevölkerung nimmt immer mehr zu, aktiv sein im Alter ist Realität und Kultur im Alter eigentlich eine Selbstverständlichkeit.30 Die Kultureinrichtungen und die 28 | S. dazu Scheytt, Oliver/Zimmermann, Michael, Publikum Macht Kultur? in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2005, Essen 2005, S. 35ff., 40.

29 | Vgl. die entsprechenden Themenschwerpunkte in den Kulturpolitischen Mitteilungen der Hefte Nr. 116 (I/2007, Kultur und Alter) und Nr. 117 (II/2007, Kulturpolitik & Demographie).

30 | S. dazu Hippe, Wolfgang/Sievers, Norbert, Kultur und Alter. Kulturangebote im demografischen Wandel, Essen 2006, NRW-KULTURsekretariat (Hg.), Kultur und Alter. Eine Tagungsdokumentation, Essen 2007 sowie Esch, Christian,

II. Kulturbürger | 81 Kulturpolitik haben sich auf die daraus folgenden gewandelten Bedürfnisse »des Publikums« noch nicht hinreichend eingestellt – trotz aller Zielgruppenanalysen und Sinusstudien.31 Erforderlich ist ein systematischer Ansatz, mit dem gewandelte Bedürfnisse erfasst werden, und der Kulturangebote sowie Einrichtungen dazu motiviert, sich auf diese einzulassen. Dabei sollten sich die Kulturverantwortlichen dessen bewusst sein, dass das Publikum auch deshalb eine strategische Position auf dem Erlebnismarkt hat, weil es letztlich keinen Unterschied macht zwischen öffentlichen und privat produzierten Erlebnisangeboten und von seinen Wahlmöglichkeiten auch angesichts eines zunehmenden Erlebnisangebots jederzeit Gebrauch machen kann. Alle denken an das Publikum, die Kulturpolitik, die Kultureinrichtungen und die Künstler – aber das Publikum selbst auch.32 (c) Trends: Es gibt erhebliche Verschiebungen in Angebot und Nachfrage.33 Folgende Trends von besonderer Bedeutung seien exemplarisch benannt: • •





Neuere Einrichtungen wie Zentren, Festivals, neue Museen, lange Nächte etc. haben auch ein neues Publikum gewonnen. Der Alltagsbetrieb einer Kultureinrichtung (z.B. Dauerausstellungen) hat es oft schwerer, wahrgenommen zu werden, als einzelne »Events« (z.B. Wechselausstellungen in Museen). Die gesellschaftlichen Veränderungen, insbesondere die neuen Medien und Kommunikationstechnologien, haben zu einer Vervielfachung des Freizeitangebotes geführt, insbesondere in Form des Home Entertainments. Aus Anspruch, Wirklichkeit und Trends sind neue Handlungsoptionen abzuleiten, die sich auf Programm, Vermittlung und Marketing beziehen.

Es geht nicht um die »Forderung nach Mehr« für das vorhandene Kultursystem, sondern um eine systematische Auseinandersetzung mit vorhanKultur und Alter in der kommunalen Kulturpolitik, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 116 (I/2007), S. 32f.

31 | Ganz aktuell und sehr instruktiv dazu Cerci, Meral, Daten, Fakten, Lebenswelten – Annäherung an eine (noch) unbekannte Zielgruppe. Datenforschungsprojekt Interkultur, in: Jerman, Tina (Hg.), Kunst verbindet Menschen. Interkulturelle Konzepte für eine Gesellschaft im Wandel, Bielefeld 2007, S. 50ff.

32 | S. Schulze, 1993, S. 510. 33 | Vgl. dazu Wiesand, Andreas Joh., Was zählt: Angebot oder Nachfrage? Fünf Fragen an die empirische Kulturforschung und erste Antworten, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2005, Essen 2005, S. 441ff.

82 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext denen Programmen. Dabei bedarf es nicht nur der Zielgruppenanalyse, also der Beantwortung danach, in welchem Umfeld ein öffentlich finanziertes Angebot sich in Markt und Gesellschaft bewegt. Kulturpolitik sollte auch den Mut haben, mit Intendanten und Direktoren über das Programm, die Programmatik, die Ausrichtung und die Ziele der inhaltlichen Arbeit ins Gespräch zu kommen. Kulturpolitik sollte dafür sorgen, dass Ressourcen in die Vermittlung gesteckt werden und Mitarbeiter von Kultureinrichtungen ihre Verantwortung erkennen und wahrnehmen (Beispiel: AudienceDevelopment-Aufträge in Großbritannien). Schon bei der Auswahl des Führungspersonals von Kultureinrichtungen ist also über dessen »Publikumsorientierung« zu sprechen. Führungskräfte sollten bereit sein, sich mit dem »unbekannten Publikum« intensiver auseinanderzusetzen.34 Bei der Vermittlung geht es sowohl um das Publikum als auch das »Nichtpublikum«.35 Der Anspruch qualifizierter Vermittlung zielt darauf, dass diejenigen, die kommen, verstehen lernen, was sie erleben, sehen, hören; auch wenn sich die Künste dadurch auszeichnen, verschlüsselt zu sein, uns immer wieder neue Fragen zu stellen, die sich oft nicht sogleich beantworten lassen. Qualifizierte Vermittlung heißt auch, dass das Publikum empfangen, begrüßt, betreut und auch nach dem Besuch »gepflegt« wird. Dies setzt Kenntnisse über das reale Publikum voraus. Die Verantwortlichen haben sich daher etwa folgende Fragen zu stellen: »Wer ist unser Publikum? Warum kommt es? Welche Interessen hat das Publikum?« Im Hinblick auf das »Nichtpublikum« stellen sich die Fragen zum Teil ganz anders: »Warum kommen bestimmte Bevölkerungskreise nicht? Liegt es an Unwissenheit, mangelnder Kenntnis oder Hemmnissen, die möglicherweise abgebaut werden können? Wie ist die Eintrittspreisgestaltung auch im Blick auf Familien? Was wird getan, um die Nichtbesucher zu gewinnen?« Um es in den Worten von Hilmar Hoff mann auszudrücken: »Um kulturelle Teilhabe dauerhaft zu ermöglichen, muss der Zugang durch pädagogische Hilfen für diejenigen erleichtert werden, die ohne Vermittlung so klug blieben wie zuvor; nur durch motivierende attraktive Darbietungsformen, wie Museumsdidaktik, neue Formen der Ausstellungspraxis oder solche des spielerischen Umgangs mit Künsten, kann ein weitergehendes Interesse geweckt werden. Wer solche Vermittlungsversuche als Pädagogisierung verteufelt, verkennt, dass die tra-

34 | S. dazu Kaufmann, Michael, Strategien der Besucherorientierung der Philharmonie Essen, in: Kulturpolitische Gesellschaft (Hg.), publikum.macht.kultur. Kulturpolitik zwischen Angebots- und Nachfrageorientierung, Essen 2006, S. 88ff.

35 | Vgl. dazu und zum Folgenden Scheytt, Oliver, Kultur für alle und von allen – ein Erfolgs- oder Auslaufmodell?, in: Mandel, Birgit (Hg.), Kulturvermittlung zwischen kultureller Bildung und Kulturmarketing, Bielefeld 2005, S. 25ff.

II. Kulturbürger | 83 ditionellen Eliten in Schule und Familie ja auch diverse Hilfen erhielten, bevor sie zu ›Kennern‹ wurden. Es ist falsch, das unmittelbare voraussetzungslose Erlebnis mit der Kunst, das es ohnehin nur in sehr engen Grenzen gibt, zum alleinigen Maßstab hochzustilisieren.«36

Jedem ist klar, dass Kulturangebote »leerlaufen«, wenn sie nicht wahrgenommen werden. Wahrnehmung wiederum zielt aber nicht nur auf »physische Anwesenheit«, vielmehr geht es um Verständnis, um Verstehen wollen, Verstehen lernen und tatsächliches Verstehen. Nur so kann das Versprechen von gleicher Teilhabe eingelöst werden. Kulturvermittlung ist somit eine der wesentlichen Auftragsdimensionen jeden öffentlichen Kulturangebots, ob in Einrichtungen oder bei Events. Der öffentliche Kulturauftrag sollte dabei nicht beliebig erfüllt werden, sondern durch eine zu beschreibende Qualität des Angebots und der Kulturvermittlung. Auftrag und Qualität werden eingelöst durch Aktionsprogramme, die auch alle möglichen Formen der Vermittlung umfassen. Bei der Erfüllung dieses öffentlichen Auftrags können private Anbieter, Mäzene, Spender und Sponsoren, Zivilgesellschaft und Kulturwirtschaft mitwirken. So verstandene Kulturpolitik stellt sich vor allem als ein Angebot der öffentlichen Hand an den Einzelnen dar, als »Cultural Empowerment«. Sie schaff t die Grundlage kultureller Teilhabe und Teilnahme. Öffentliche Kultureinrichtungen sollten sich daher in einen verstärkten Dialog mit dem Publikum begeben. Dialog ist nicht gleichzusetzen mit Anpassung oder Anbiederung oder gar einer Unterwerfung der Kunst. Es ist keineswegs niveaulos, wenn viele Menschen zu einem Kulturangebot kommen, ob zu Museumsausstellungen oder Popkultur. Auch Kulturmarketing zielt nicht auf die Anpassung von Kunst an den breiten Publikumsgeschmack, sondern bedeutet »systematische Bemühungen um die avisierten Nutzer zur Realisierung der Ziele einer Kultureinrichtung. Im Kulturmarketing geht es nicht darum, die Kultur marktfähig zu machen, sondern den Markt kulturfähig.«37 Kulturpolitik sollte dafür sorgen, dass Mittel eingestellt werden für Marketing: Professionelles Kulturmarketing ist unverzichtbar angesichts der Konkurrenz der Angebote. Anderenfalls werden die Ressourcen für die »Kulturproduktion« falsch eingesetzt. Öffentliche Kultureinrichtungen können hier von kommerziellen Kulturbetrieben lernen, insbesondere in der Kommunikationspolitik, die einen permanenten Dialog mit den einzelnen Künstlern/Besuchern ebenso mit einschließt wie einen professionellen individuellen Service im Ticketing, Call Center etc. Für das Aufspüren von Trends ist es unverzichtbar, moderne Metho36 | Hoffmann, Hilmar, Kultur als Lebensraum, Frankfurt a.M. 1990, S. 63. 37 | Mandel, Birgit, Vorwort, in: dies. (Hg.), Kulturvermittlung zwischen kultureller Bildung und Kulturmarketing, Bielefeld 2005, S. 9ff., 17.

84 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext den der Marktforschung anzuwenden. Die empirische Erforschung der Nichtteilnahme am Kulturprozess ist dabei dringend erforderlich. Denn es gilt mehr darüber zu wissen, warum große Gruppen der Personen, die potenziell zu gewinnen wären, tatsächlich nicht erreicht werden. Dazu sind Dialoge zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen Praxis und Empirie erforderlich.38 Systematische Befragungen, Nichtnutzeranalysen, aber auch Experimente mit ungewöhnlichen und neuen Angebotsformen können helfen, Barrieren auf allen Seiten zu durchbrechen. Die von der öffentlichen Hand getragenen Kulturinstitutionen sollten allerdings ihren öffentlichen Auftrag nicht durch »schlechte Kopien kommerzieller Angebote gefährden«,39 sondern ein eigenes künstlerisches Profi l bilden und dieses aktiv an das vielgestaltige Publikum vermitteln. Das vorhandene und potenzielle Publikum gut zu kennen gehört zum Auftrag einer aktivierenden Kulturpolitik. 2.2 Förderer

Ein Eckpfeiler der Kultur in Deutschland ist das bürgerschaftliche Engagement. Historisch ist dieses eng mit der Emanzipation des Bürgertums, dem Bildungsanspruch der Arbeiterbewegung und der Verbindung von Kirche und Kultur verbunden. In manchen, insbesondere den ländlichen Regionen sind die Aktivitäten der Bürgerschaft der bedeutendste Faktor für die kulturelle Infrastruktur. Dabei wird sowohl das Leistungsspektrum kultureller Einrichtungen gesichert oder erweitert, werden Angebote bürgernah organisiert, sorgen Bürger für die Identifi kation mit den Kultureinrichtungen und dem Kulturprofil der jeweiligen Kommune, auch indem sich Bürger dafür einsetzen, dass anderen Menschen der Zugang zum kulturellen Leben ermöglicht wird. Im Gesamtzusammenhang des bürgerschaftlichen Engagements gehören Kultur und Musik nach wie vor zu den am dritthäufigsten genannten Aktivitätsbereichen nach Sport und Bewegung (2004 40 %) und Freizeit/Geselligkeit (2004 25,5 %) – mit insgesamt 18 % (2004). Dabei sind die Aktivitätsfelder Kirche und Religion sowie Jugendarbeit/Bildungsarbeit für Erwachsene, die oftmals ebenfalls von kulturellem Engagement geprägt sind, nicht hinzugerechnet. 40 Im Enquete-Schlussbericht sind aus verschiedenen Sparten beispielhaft Handlungsfelder aufgeführt: In der Literatur sind Autorenvereinigungen und Literarische Gesellschaften wichtige von Bürgerengagement getragene Zusammenschlüsse. Auch werden viele Bibliotheken durch Fördervereine unterstützt sowie durch ehrenamtliche Kräfte verstärkt, die nicht nur in der Medienausleihe (insbesondere in den katholischen Büchereien), 38 | S. dazu Wiesand, 2005, S. 441ff. 39 | So Wiesand, ebd., S. 449. 40 | Vgl. dazu Enquete-Schlussbericht, S. 161ff.

II. Kulturbürger | 85 sondern auch in der »aufsuchenden Bibliotheksarbeit« tätig werden, wie etwa als Vorlesepaten. In der Bildenden Kunst spielen Kunstvereine und Fördervereine von Museen eine ganz entscheidende Rolle. Es gibt allein 400 Kunstvereine in Deutschland, zum Teil mit mehreren tausend Mitgliedern. Zum bürgerschaftlichen Engagement gehört auch, wenn Sammler ihre Sammlungen oder einzelne Arbeiten an ein Museum ausleihen. Zahlreiche Geschichts- und Heimatmuseen sind von bürgerschaftlichem Engagement getragen. Auch in der Sparte Darstellende Kunst, bei Theatern, Orchestern etc. leisten Fördervereine einen wichtigen Beitrag. Besonders stark ist das bürgerschaftliche Engagement in der Sparte Musik ausgeprägt. Fördervereine von Konzert- und Opernhäusern, Musikschulen, Blasmusikvereinen, Chören oder Kirchenkonzerten sind hier zu nennen. Die Sparte Soziokultur ist in besonderer Weise vom bürgerschaftlichen Engagement geprägt, sind doch soziokulturelle Zentren überwiegend aufgrund des Engagements von Bürgern ins Leben gerufen wurden. Gleiches gilt für Jugendkunstschulen und viele kulturpädagogische Einrichtungen. Bürgerschaftliches Engagement wird dann auf lange Zeit ausgerichtet, wenn einzelne Personen oder Personengruppen Stiftungen gründen oder zu bestehenden Stiftungen hinzustiften, so dass langfristig Förderzwecke im Kulturbereich verfolgt werden können. Von den vom Bundesverband Deutscher Stiftungen erfassten rund 14.000 Stiftungen des Bürgerlichen Rechts (allein im Jahr 2006 gab es 899 Neuerrichtungen) widmen sich 14,4 % der Kunst und Kultur. Je nach Größe werden hier erhebliche Finanzmittel für Kulturangebote, -institutionen und -projekte investiert. Eine aktivierende Kulturpolitik setzt auf das Engagement von freiwilligen und ehrenamtlichen Akteuren, Helfern und Förderern. Eine wesentliche Aufgabe des Kulturstaates Deutschland ist es daher, optimale Rahmenbedingungen für das bürgerschaftliche Engagement zu schaffen. 41 Dies gilt insbesondere mit Blick auf Haftungsrisiken und das Steuerrecht. 42 Das bürgerschaftliche Engagement kann die öffentliche Finanzierung von Kultureinrichtungen nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Freiwilligenarbeit ist daher keine Garantie dafür, dass öffentliche Kultureinrichtungen wie Theater, Museen, Bibliotheken, Musikschulen und Volkshochschulen dauerhaft unterhalten werden, auch wenn wesentliche Beiträge aus der Bürgerschaft dazukommen. Freiwilligenarbeit kann auch nicht überall die erforderliche Fachlichkeit ersetzen, für deren Sicherstellung weiterhin professionell ausgebildete und hauptamtlich tätige Kräfte nötig sind. Dies darf allerdings nicht zu einer Kulturpolitik »mit Armschonern 41 | Vgl. Zimmermann, Olaf, Was hindert und wie fördert man bürgerschaftliches Engagement in Vereinen und Verbänden des Kulturbereiches, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2000, Essen 2001, S. 157ff.

42 | Vgl. dazu im Einzelnen Enquete-Schlussbericht, S. 168ff., 171f.

86 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext und Scheuklappen« führen, vielmehr sollten Kulturakteure in den öffentlich getragenen Einrichtungen offen sein für bürgerschaftliches Engagement und hierfür optimale Strukturen schaffen. Bürgerschaftliches Engagement bedarf der professionellen Betreuung, die sich an den Prinzipien der Motivation und Anerkennung orientiert. 43 2.3 Ausführende

Eine besonders starke Form der Aktivität ist die eigene kulturelle Betätigung der Kulturbürger. Beeindruckend ausgeprägt ist dieses eigene Kultur-Engagement im Musikbereich, was folgende Zahlen belegen mögen: Den 29.500 Ensembles der instrumentalen Laienmusik gehören rund 740.000 Bürger an. Davon sind 455.200 (also über 60 %) unter 25 Jahre alt. Die weltliche instrumentale Laienmusik teilt sich in 18.300 Blasorchester und Spielmannszüge, 3.500 Akkordeonorchester, 750 Zupforchester und Zittermusikgruppen, 750 Sinfonie- und Streichorchester sowie 6.200 Posaunenchöre. Im Bereich der vokalen Laienmusik sind 48.500 Chöre aktiv, die sich in 22.300 weltliche und 26.200 kirchliche Chöre aufteilen. Insgesamt sind 1.353.100 Chormitglieder erfasst, von denen mehr als 20 % unter 25 Jahre alt sind. Der Musik-Almanach weist zudem 50.000 Rock-, Pop-, Jazz- und Folkloregruppen aus, in denen sich 500.000 Bürger aktiv betätigen. 44 Auch im Bereich der Bildenden Kunst gibt es eine enorme Zahl ausübender Künstler, die sich in Gruppen zusammengeschlossen haben, Ausstellungen organisieren und mitunter ihre Bilder verkaufen, auch wenn sie sich selbst als »Hobbymaler« sehen. In einer Fülle von Amateurtheatergruppen und Tanzgruppen betätigen sich Bürger in ihrer Freizeit. Unzählige Kulturbürger gehen in Volkshochschulen und Weiterbildungseinrichtungen ihren kulturellen Neigungen aktiv nach. Kulturpolitik hat in all diesen Individuen wichtige Akteure, ob als Geförderte in ihren jeweiligen Vereinen und Gruppierungen oder als das Kulturleben in Deutschland mittragende Bevölkerungskreise. Menschen, die selbst aktiv sind, werden auch zu einem aktiven Publikum. 45

43 | S. mit zahlreichen Beiträgen dazu Wagner, Bernd, Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftliches Engagement in der Kultur. Dokumentation eines Forschungsprojektes, Essen/Bonn 2000 sowie Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2000. Thema: Bürgerschaftliches Engagement, Essen 2001.

44 | S. dazu Reiners, Astrid, Laienmusizieren, in: Deutscher Musikrat (Hg.), Musik-Almanach 2007/2008, Regensburg 2006, S. 38ff. sowie Enquete-Schlussbericht, S. 163.

45 | Vgl. Mandel, 2005, S. 13.

II. Kulturbürger | 87

3. D A S I NDIVIDUUM

AL S KULTURPOLITISCHER

A K TEUR

Kulturpolitische Prozesse werden von Individuen gestaltet, die allerdings erst dann Macht entfalten, wenn sie Mehrheiten für ihre Position fi nden. 46 Daher werden kulturpolitische Entscheidungen letztlich von Kollektiven gefällt. Diese zielen ihrerseits wiederum auf subjektive Prozesse. Denn die Künste und die Kulturelle Bildung, aber auch die Erinnerung an das kulturelle Erbe sind von Subjektivität geprägt. Die kulturellen Angebote sind auf den einzelnen Kulturbürger ausgerichtet, auch wenn sie kollektive Wirkung (kollektives Gedächtnis, massenmediale Ereignisse) entfalten können. Die kulturpolitischen Kollektive sind etwa Kulturausschüsse, Aufsichtsräte, Beiräte, Jurys, Vereins- oder Stiftungsvorstände und -kuratorien. Die darin wirkenden Individuen können haupt- oder ehrenamtliche Politiker, Künstler und Kulturschaffende (Jurys), engagierte Bürger aus Fördervereinen, in Stiftungen etc. sein. Es gibt viele Möglichkeiten für den einzelnen Bürger, seinerseits auch politische Verantwortung oder Verpflichtungen zu übernehmen. Er wirkt dann an Kulturpolitik als gesellschaftlicher Aufgabe aktiv mit. 3.1 Ästhetische Vorprägung

Kulturpolitische Akteure sind wie jeder Kulturbürger ästhetisch vorgeprägt. Schon die Vielfalt der Rezipientenrollen ist frappierend: Wir gehören zu ständig wechselnden Minderheiten – manchmal, wenn wir das Fernsehen einschalten, auch zur Mehrheit –, die ihre eigenen Vorlieben haben und pflegen. Mancher macht auch selbst Kunst – heimlich, laut oder leise, sei es als Amateur oder als semiprofessioneller ausübender Künstler. Daher ist die Frage zu stellen, welche Unterschiede der Kulturpraxis und -wahrnehmung es in den unterschiedlichen, jetzt lebenden Generationen gibt. Teilt man die Gesellschaft in Generationengruppen, gibt es sehr interessante Spezifi ka in den kulturellen Einstellungen. Der Wandel des Kulturverständnisses von Generation zu Generation, das die jeweiligen kulturpolitischen Akteure prägt, ist daher von großer Bedeutung für kulturpolitische Akteure und politische Gremien, ebenso wie die Prägung durch Ausbildung und landsmannschaftlicher Herkunft, wie insbesondere die Studien von Albrecht Göschel 47 und Patrick Glogner48 nachgewiesen haben. 46 | Zu den Erfahrungen von Kulturdezernenten damit s. die zahlreichen Beiträge in Scheytt/Zimmermann, 2001.

47 | Göschel, Albrecht, Die Ungleichzeitigkeit in der Kultur, Stuttgart u.a. 1991.

48 | Glogner, Patrick, Kulturelle Einstellungen leitender Mitarbeiter kommu-

88 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext Beide Studien basieren auf qualitativen Interviews mit ausgewählten Personengruppen. Die Ergebnisse sind für unseren Zusammenhang von hoher Signifikanz und sollen daher kurz skizziert werden: Die 1930er Generation49 begreift Kunst und Kultur als zeitlose, der Subjektivität entzogene Werte. Kulturleistungen stellen ein Reich des Schönen dar, das den Gegenpol zu Alltag und Politik bildet. Dieser Auratisierung und Sakralisierung des Kulturellen habe die 1940er Generation eine eher rationale, aufklärerische Vorstellung von Kunst und Kultur entgegengesetzt. Diese Generation betont – so Göschel – den informativen Gehalt kultureller Leistungen und steht den Gefühlswelten, die Kunst ja auch eröffnet, skeptisch gegenüber. Die zentralen kulturellen Interessen dieser Generation liegen deshalb in den »Wort-Künsten«, in Literatur und Theater. Die 1950er Generation habe im Gegensatz dazu eine ausgeprägt gefühls- und moralbestimmte Position entwickelt. Die zentralen Werte seien Gemeinsamkeit, Nähe und Anteilnahme, Lebenswelt, Innerlichkeit und Selbsterfahrung. Am deutlichsten komme dieser Kulturbegriff in den verschiedenen Spielarten der Stadtteil- und Sozialkultur zum Ausdruck. Nicht das Ideal des »theoretischen«, sondern dasjenige des »sozialen Menschen« gebe danach am besten die Einstellungen der 1950er Generation wieder. In der 1960er Generation sieht Göschel vor allem selbstbewusste Konsumenten von Kultur. Die 1960er Generation lehne Innerlichkeit ab und setze dagegen die Betonung der Oberfläche, des Design und der kulturellen Montage. Nicht ewiger Wert, Auf klärung oder Moral, sondern Ereignis, Erlebnis und Leistung seien nun gefordert. Der neue Kulturteilnehmer der 1960er Generation erwarte, so fasst Göschel zusammen, als »ästhetischer Mensch« ein kulturelles Dienstleistungsangebot, aus dem er selbstbewusst auswählt. Und er ist sich dabei im Klaren, dass er mit seiner Wahl die Zugehörigkeit zu einem Lebensstil bekundet. Bei den um 1940 geborenen Kulturexperten löse dieser Habitus angesichts seiner Entintellektualisierung und Genussbezogenheit düstere Skepsis aus. Dazu wird etwa ein Experte aus dem Kultursektor Oper zitiert. Er meint über die jüngeren Besucher: »[D]ie quatschen eben auch dazwischen. Das war früher nicht. Das merkt man auch an den Beschwerden, die man so hat. Früher war man ganz ruhig, man unterhält sich jetzt bei Musik, wie beim Fernsehen, da holt man sich sein Mineralwasser, seine Pulle Bier.« Glogner hat nicht Akteure aus dem Publikum und klassischen Bildungsbürgertum, sondern leitende Mitarbeiter von kommunalen Kultureinrichtungen nach ihren Einstellungen befragt. Dabei ist aufgefallen, naler Kulturverwaltungen. Empirisch-kultursoziologische Untersuchungen, Wiesbaden 2006.

49 | Göschel, 1991, S. 21ff.

II. Kulturbürger | 89 dass die Jahrgangsgruppe der 1960 bis 1977 Geborenen den Faktoren »Nischenkultur« und »Neue Kulturpolitik: sozialer Schwerpunkt« vergleichsweise weniger Bedeutsamkeit zuspricht als die älteren Jahrgangsgruppen. Diese Jahrgangsgruppe hat eher Zweifel an der Umsetzbarkeit des Konzepts einer »Kultur für alle« und weist eine größere Offenheit gegenüber der Idee einer »Kultur als Image- und Stadtortfaktor« auf.50 Ein weiteres instruktives Ergebnis ist, dass die Akteure je nach Studien-/Ausbildungsschwerpunkt (Kultur/Geist/Soziales; Verwaltung/Wirtschaft/Recht; Kulturmanagement) unterschiedliche Präferenzen im Hinblick auf einzelne Kultursparten und unterschiedliche Tendenzen zu ihrer »persönlichen Kulturfunktionalisierung« angeben. So stellt die Gruppe »Kultur/Geist/ Soziales« ihre persönliche Kulturfunktionalisierung eher in soziale, kulturelle, politische und selbstreflexive Kontexte. Ihre ästhetische Distinktion artikuliert diese Gruppe verstärkt gegenüber publikumswirksamen und kommerziellen Formen von Kultur und signalisiert gegenüber dem Kulturnutzungsmotiv des »Sozialprestiges« eine sozialästhetische Distinktion. Dem entspricht, dass diese Gruppe sich auch eher ablehnend dazu äußert, kommerzielle sowie Spaß- und Event-orientierte Angebote als wesentlichen Bestandteil des kommunalen Kulturauftrages zu sehen.51 Demgegenüber neigt die Gruppe »Verwaltung/Wirtschaft/Recht« stärker zum Faktor »Unterhaltung und Stadtmarketing« und die Gruppe »Kulturmanagement« vertritt eine ausgeprägtere kulturpolitisch-eigeninitiative Haltung.52 Auch die Herkunft aus jeweils unterschiedlichen Bundesländern führt zu unterschiedlichen kulturpolitischen Einstellungen, so lassen sich Unterschiede im Hinblick auf Förderkriterien wie »Kulturpflege & Identifi kation« oder »Regionalspezifi k« oder die Zustimmung zu der Aussage »Bestimmte Künstler und kulturelle Werke sollte einfach jeder kennen« feststellen.53 Welche Folgerungen sollten aus diesen Erkenntnissen zu unterschiedlichen Einstellungen und Vorprägungen der handelnden Akteure für die kulturpolitische Arbeit gezogen werden? Dazu folgende Thesen: • •

Kulturpolitiker sollten sich mit ihrer generationenspezifischen Programmierung auseinandersetzen (Selbstreflexion). Sie sollten sich auch mit der Prägung der Partner/Nutzer/Kunden beschäftigen (Zielgruppenanalyse).

Konsequenz daraus sollte es sein, Selbstbefragungen und Nutzerbefragungen durchzuführen. Dieses Thema sollte aktiv aufgegriffen werden, um 50 51 52 53

| | | |

Glogner, 2006, S. 192. Ebd., S. 193. Ebd., S. 192f. Ebd., S. 194f.

90 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext die jeweiligen Rollen politisch zu hinterfragen und einzuordnen. Wichtig ist es, dabei die verschiedenen personalen Ebenen zu unterscheiden: die Programmmacher, die Kulturverwalter, die Kulturpolitiker, die Künstler sowie schließlich das Publikum. 3.2 Autonome Wahrnehmung und kollektive Werthaltungen

Neben der Vorprägung kultureller Einstellungen durch Erfahrungen im Wechsel der Generationen gibt es ein tiefgründiges Dilemma, das im Spannungsverhältnis zwischen der einzelnen Person und den für (kultur-) politische Durchsetzungsmacht erforderlichen Mehrheiten in politischen Gremien und Parlamenten liegt. Wolfgang Rihm hat für dieses Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen Kunst und Kultur eindrucksvolle Sätze formuliert: »Kunst ist immer individuelle Setzung, Kultur dagegen: kollektive Spannung. […] Der Adressat von Kunst ist immer das Individuum. […] Kultur kann dagegen nur aus ihrer mittelwertig gleichen Gültigkeit für möglichst viele Beteiligte begründet werden. […] Kunst gilt immer einem Du. Kultur artikuliert ein Wir […] Kultur definiert. Kunst entgrenzt. […] Sowenig Kunst gleich Kultur ist, sowenig ist Kultur gleich Staat.«54

Zur subjektiven Wahrnehmung tritt als weiteres Element also die kollektive Ebene: Wir bewegen uns in den unterschiedlichsten Kollektiven, wenn wir Kultur wahrnehmen oder gar »über sie« kulturpolitische Entscheidungen treffen. Wir bewegen uns dabei im Wechselspiel von Ästhetik und Ethik, die sich bei kulturpolitischen Entscheidungen im Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Kollektiv treffen: Was ist richtigerweise zu tun, um der Subjektivität des Einzelnen größtmögliche ästhetische Entfaltungsmöglichkeiten zu geben? Ethik und Ästhetik sind an sich Teildisziplinen der Philosophie. Beide haben in den letzten Jahren neuen Aufschwung genommen; das Verhältnis der beiden Disziplinen zueinander ist Wandlungen unterworfen. Früher wurden sie als entgegengesetzte Bereiche angesehen. Noch in der Neuzeit stand im christlichen Abendland die »Ästhetik unter der Knute der Ethik«.55 Die Moderne indes konstruierte das Wechselverhältnis der beiden Disziplinen anders: Danach umfassen sie gleichgewichtige Sphären, die durch Trennung auf Distanz zu halten sind. »Autonomie« ist damit zu einem Leitwort der Ästhetik geworden, das 54 | Rihm, 1998; ein ausführliches Zitat dieses Textes findet sich zu Beginn von Kap. IV.

55 | Welsch, 1994, S. 3.

II. Kulturbürger | 91 ursprünglich die Freihaltung des Ästhetischen von moralischen Vorgaben meinte. Umgekehrt sollten ästhetische Implikationen für die moderne Ethik seit Kant keine Rolle mehr spielen.56 Inzwischen sind uns die Verflechtungen des Ethischen mit dem Ästhetischen im Kunstwerk und in der Kunsterfahrung längst bewusst. Das Wechselverhältnis zwischen (eher subjektiver) Wahrnehmung und den (eher kollektiven) Werthaltungen sowie normativen Vorgaben hat einen tiefer greifenden gedanklichen Hintergrund, auf den Bezug genommen werden kann: Wahrnehmung und Beobachtung und die daraus folgende Erkenntnis sind Elemente einer immateriellen sozialen Kommunikation. Damit ist der Mensch – sein Körper und Geist – in Beziehung gesetzt zu einem Anderen. Darin wird deutlich, dass im Anspruch der Ästhetik, das Andere und den Anderen wahrzunehmen, der sich an der Grenze zwischen Körper und Welt, zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem festmacht, auch ethische Dimensionen angesprochen sind, nämlich die Frage danach, wie ich mich zu Anderen verhalte oder verhalten soll: Toleranz und wirkliche Begegnung laufen also ohne Sensibilität für das Andere leer.57 Gerade bei kulturpolitischen Entscheidungen bedarf es daher einer (auch ästhetisch) sensiblen intersubjektiven Verständigung zwischen den verschiedenen beteiligten Individuen, die ihre Werthaltungen offenlegen und reflektieren sollten. 3.3 Intersubjektive Verständigung

Die folgenden Erkenntnisse sind für die Entscheidungs- und Konsensfi ndung somit von großem Belang: Die Neutralität des Kulturstaates schützt nicht davor, letztlich auch zu urteilen und zu beurteilen. Jedes Urteil steht in der Spannung zwischen Ethik und Ästhetik, zwischen Individuum und Kollektiv. Nicht nur die Subjektivität ästhetischer Urteile, auch die Trägerund Anbietervielfalt und die Vielfalt der kulturellen Erscheinungsformen erfordern angesichts jeweils unterschiedlicher ästhetischer Produkte und Prozesse eine Verständigung über das Programm, das verfolgt werden soll: durch intersubjektive Verfahren. Dies ist dann eine Verständigung im Kollektiv zwischen verschiedenen Individuen: den kulturpolitischen Akteuren. Eine Selbstreflexion ist in diesen Prozessen ebenso unbedingt erforderlich wie eine Klärung von Verantwortlichkeiten und Zielsetzungen. Aktivierende Kulturpolitik mit aktiven Kulturbürgern als Konsumenten – vor allem aber als Akteure im kulturpolitischen Prozess – bedarf der Reflexion und Transparenz und der klugen Ausgestaltung von (Partizipations-)Verfahren. Mehrheiten müssen Akzeptanz finden, umfassender Kon56 | Ebd., S. 3. 57 | Ebd., S. 21f.

92 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext sens ist dabei ein Ideal, um das es zu ringen gilt. Wie diese intersubjektive Verständigung erreicht wird, welche Konfliktlagen und Gestaltungsformen sich daraus ergeben, wird in Teil 3 näher erörtert.

III. Kulturstaat

Der unmittelbarste Kontext von Kulturpolitik ist der Staat. Kulturpolitik findet auf den unterschiedlichsten staatlichen Ebenen (Bund, Länder, Kommunen) und im Zusammenspiel verschiedenster Akteure statt (staatliche Organe und Institutionen, Verbände und Vereinigungen, Non-Government-Organisationen des sogenannten Dritten Sektors etc.).1 Der Politik geht es um die Steuerung des Gemeinwesens durch Gesetze, Verordnungen und Regelungen, finanzielle Leistungen und öffentliche Handlungsprogramme, die in den öffentlich-rechtlich konstituierten Institutionen festgelegt werden. Die Politik bedarf der Macht als Medium, denn nur kraft Macht können in den komplexen Konstellationen politische Ziele durchgesetzt und umgesetzt werden. Die Macht erwächst in der Demokratie aus Mehrheiten bei Wahlen, in Parlamenten, Gemeinderäten, Kreistagen, Ausschüssen etc. Kulturpolitik muss sich darum Mehrheiten verschaffen, muss sich mit ihren eigenen Zielen in der Gesamtkonstellation von Staat und Politik durchsetzen. Grundvoraussetzung dafür ist, dass Kulturpolitik selbst eine (starke) Position entwickelt, die Konsens oder zumindest Mehrheiten findet (vgl. dazu näher Teil 3). Die Bundesrepublik Deutschland wird im Wesentlichen durch die Verfassung des Grundgesetzes konstituiert und konfiguriert. Diese geschriebene Verfassung ist zur Bestimmung des Kontextes von Kulturpolitik in Deutschland heranzuziehen und auszulegen. Mit der geschriebenen Verfassung korreliert eine in der Praxis gelebte Verfassung und eine über die Jahrzehnte entwickelte Struktur politischen Handelns, die sich in rechtlichen Regelungen, Institutionen sowie Finanzentscheidungen und Handlungsprogrammen niederschlägt. Diese daraus ablesbare und nachvoll1 | S. dazu auch Klein, Armin, Kulturpolitik (in Deutschland), in: ders. (Hg.), Kompendium Kulturmanagement, Handbuch für Studium und Praxis, München 2008, S. 106f.

94 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext ziehbare Verfassungswirklichkeit ist ebenfalls als Kontext von Kulturpolitik zu berücksichtigen. Die Bundesrepublik Deutschland ist somit geprägt von fast sechs Jahrzehnten geschriebener und gelebter Verfassung des Grundgesetzes, welche die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen und Ressourcen von Kulturpolitik wesentlich bestimmen. Vor diesem Hintergrund soll zunächst der verfassungsrechtliche und öffentliche Kulturauftrag erörtert werden, der als kulturstaatliches Leitbild Basis für kulturpolitisches Handeln ist (Kap. III/1). Sodann werden die dem Föderalismusprinzip folgenden, auf die unterschiedlichen Ebenen verteilten Kulturkompetenzen und deren Wahrnehmung näher beleuchtet (III/2). Schließlich wird der »aktivierende Kulturstaat« als neues Leitbild für die Kulturpolitik in Deutschland mit einer Neubestimmung der Rolle des Staates und der ihm zur Verfügung stehenden Steuerungs- und Handlungsmechanismen in politischer, institutioneller und infrastruktureller Hinsicht beschrieben (III/3).

1. K ULTUR STA AT

AL S

L EITBILD

Kulturpolitik zielt in Deutschland weniger auf die »Kultur des Staates« (Staatskultur, Leitkultur) als vielmehr auf die »Kultur im Staat«. Staatskultur ist die Antwort auf die Frage: Wie gibt sich der Staat? Symbolik nach innen und außen spielt dabei eine entscheidende Rolle. Besondere Beispiele für Staatskultur sind die nationale Hymne, die Flagge sowie der Tag der Deutschen Einheit. Ein herausragendes Beispiel für eine Verwandlung eines Staatssymbols ist das Reichstagsgebäude: Die Verpackung durch Christo ist Beleg dafür, wie eine Kunstaktion ein architektonisches Symbol unseres Staates in eine andere, dauerhaft neuartige Form der öffentlichen Wahrnehmung gebracht hat.2 Die gläserne Kuppel von Norman Foster hat dann auch den architektonischen Ausdruck hinzugefügt, aufgrund dessen wir uns heute mit dem Reichstag als Sinnbild der neuen Berliner Republik identifizieren. Diese Kuppel ist auch ein Symbol dafür, dass sich die Bundesrepublik Deutschland als ein demokratischer und pluraler (Kultur-) Staat versteht – mit Offenheit, Sensibilität, Toleranz.3 Das Verhältnis zwischen Staat und Kultur, zwischen Kultur und Staat, 2 | Lesenswert ist der Kommentar des früheren Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichtes zu dieser Aktion, s. Sendler, Horst, Der verhüllte Reichstag und die Smendsche Integrationslehre, in: NJW 1995, S. 2602f.: »Just so hat sich der Integrationsvorgang anläßlich der Verhüllungsaktion vollzogen: den einzelnen ›nicht bewußt‹, aber diesen erfassend und aktivierend ›vermöge einer nicht intendierten Gesetzlichkeit‹ und gleichsam und ungewollt und unbeabsichtigt ›in einen Prozeß der Erneuerung und des Neuerlebtwerdens‹.«

3 | Näher dazu Scheytt, Oliver, Kulturstaat − Staatskultur, in: Hill, Hermann

III. Kulturstaat | 95 das mit dem Wort »Kulturstaat« angesprochen wird, hat eine historische, eine rechtliche und eine politische Dimension, wobei sich alle drei Dimensionen wechselseitig beeinflussen. Immer geht es dabei um die Frage, welche Rolle, welches Selbstverständnis der Staat im Verhältnis zur Kultur hat, wie also Kultur durch den Staat (mit-)gestaltet wird, was mit Begriffen wie Schutz, Pflege, Förderung, Indienstnahme, Neutralität, Identität, Integration, Kulturhoheit oder kulturelle Autonomie ausgedrückt wird. Der Begriff Kulturstaat ist dabei historisch und rechtlich vielfältigen Wandlungen und Interpretationen unterzogen worden. Daher ist er ein »schillernder Terminus«, der jedoch in der heutigen kulturpolitischen Diskussion zunehmend an »Festigkeit« gewonnen hat und allmählich in den allgemeinen kulturpolitischen Sprachgebrauch – nicht immer reflektiert – Eingang gefunden hat. 4 Dieser Begriff findet zum einen Kritik im Hinblick darauf, dass er aufgrund seiner geistesgeschichtlichen Tradition – etwa verbunden mit Johann Gottlieb Fichte, einem der Hauptvertreter des Kulturstaatsbegriffs im 19. Jahrhundert – dafür steht, dass der Staat »alle Kräfte des Individuums für die eigene Kultur in Anspruch nehmen dürfe«. Dies war zwar nicht ganz so totalitär gemeint, wie es formuliert ist5 – doch entspricht eine solche Interpretation nicht unserem heutigen Verständnis des Verhältnisses von Kultur und Staat.6 Probleme ergeben sich auch aus der Vielfalt und daraus resultierenden Unschärfe der unterschiedlichen Kulturbegriffe, so dass Zweifel darüber entstehen können, welche »Kultur« im Verhältnis Kultur und Staat mit dem Wort »Kulturstaat« angesprochen ist.7 Diese

(Hg.), Staatskultur im Wandel, Berlin 2002, S. 27ff. sowie Pabel, Katharina, Grundfragen der Kompetenzordnung im Bereich der Kunst, Berlin 2003, S. 28ff., 124ff.

4 | Das Buch von Jung, Otmar, Zum Kulturstaatsbegriff, Meisenheim am Glan 1976, ist die umfassendste Studie zur Geschichte dieses Begriffs.

5 | S. dazu Jung, 1976, S. 21. Beim »späten« Fichte hat das Staatsverständnis allerdings dann doch illiberale Züge angenommen, wenn er etwa den Staat als moralische Erziehungsanstalt und »Zwingherr zur Deutschheit« ansieht (Fichte, Johann Gottlieb, Reden an die deutsche Nation, in: Sämmtliche Werke, 1834ff., Nachdr. 1971, Bd. VII, S. 359ff., 396ff.).

6 | Auch schon für Wilhelm v. Humboldt hat sich der Staat aber gerade dadurch als Kulturstaat erwiesen, dass er die Autonomie der Kultur achtet, ausführlicher dazu Volkmann, Uwe, Kultur im Verfassungsstaat, in: DVBl 2005, S. 1061ff., bes. 1065f.

7 | So stellt für Geis, Max-Emanuel, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, Baden-Baden 1990, S. 260 der Kulturstaatsbegriff »eine irisierende Leerformel dar, die jederzeit mit entsprechenden Prämissen angereichert werden kann, um dann – als Auslegungskriterium herangezogen – eine Basis für einen argumentativen Zirkel abzugeben«.

96 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext beiden Argumente sind ausschlaggebend dafür, dass schon vorgeschlagen wurde, den Begriff Kulturstaat »der Rechtsgeschichte zu überlassen«.8 Mit vielfältigen (rechts-)historischen Belegen hat insbesondere der Verfassungsrechtler Peter Häberle die Kulturstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland herausgearbeitet und damit schon Anfang der 1980er Jahre eine breite Debatte über Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht in der Staatsrechtslehre ausgelöst.9 Die Staatsrechtslehre ist sich allerdings nach wie vor nicht einig, ob der Begriff »Kulturstaat« als fundierter (Verfassungs-)Rechtsbegriff Verwendung finden sollte, wenn auch eine überwiegende Zahl an Autoren sich grundsätzlich zu diesem Begriff bekennt. Bemerkenswert ist, dass der Staatsrechtslehrer und Bundesverfassungsrichter Udo Steiner sogar von einer Formulierung seines eigenen Gerichts Mitte der 1970er Jahre abrückt, die den Kulturstaatsbegriff verwendet und zu den am meisten zitierten Passagen in der kulturrechtlichen Literatur gehört. In dieser grundlegenden Entscheidung zu Artikel 5 Abs. 3 GG heißt es: Diese Norm stellt als »objektive Wertentscheidung für die Freiheit der Kunst […] dem modernen Staat, der sich im Sinne einer Staatszielbestimmung als Kulturstaat versteht, zugleich die Aufgabe, ein freiheitliches Kunstleben zu erhalten und zu fördern«.10 Nach wie vor hat die Verfassungsrechtslehre zwei wesentliche Vorbehalte im Umgang mit dem Sachbereich Kultur: Zum einen besteht die Befürchtung, etwas so Unfassbares wie Kultur könne mit juristischen Mitteln nicht erfasst werden, und wenn, dann drohe eine der Kultur abträgliche Verrechtlichung und Bürokratisierung. Zum anderen gibt es den Reflex, dass verfassungsrechtliche Festschreibungen auf Bundesebene dem Föde8 | Bauer, Martin, Kultur und Sport im Bundesverfassungsrecht, Frankfurt a.M. u.a. 1999, S. 194; Geis, Max-Emanuel, Ergänzung des Grundgesetzes um eine »Kulturklausel«?, in: ZG 7/1992, S. 38ff.

9 | Grundlegend dazu sein Werk »Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht«, Darmstadt 1982, mit einem größeren eigenen Originalbeitrag (S. 1ff.) und zahlreichen Texten beginnend mit Gustav Radbruch aus dem Jahre 1927 über Ernst Rudolf Huber (1958), Adolf Arndt (1960), Helmut Schelsky (1963), Georg Picht (1964), Ralf Dahrendorf (1965) bis hin zu Hans Maier (1972) und Adolf Muschg (1977).

10 | BVerfGE 36, 321 (331), dazu Udo Steiner »Diese gleichermaßen förderliche wie (verfassungsdogmatisch) fahrlässige Formulierung des Bundesverfassungsgerichts haben Kulturpolitiker, Festredner und Fachliteratur längst dankbar aufgegriffen und als höchstrichterliche Bestätigung eines kulturstaatlichen Verfassungsauftrags des Grundgesetzes bewertet.« Steiner, Udo, Kulturpflege, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band IV, 3. Aufl., Heidelberg 2006, Rn 3 sowie Rn 28 mit Ironie: »Wer dem Bundesverfassungsgericht glauben will, hat im Grundgesetz ohnehin, was er sich verfassungsrechtlich wünscht.«

III. Kulturstaat | 97 ralismusprinzip zuwiderlaufen könnten.11 Dieser Reflex ist vor allem auch deshalb fragwürdig, weil nicht nur die gelebte Verfassungswirklichkeit, sondern vor allem auch die geschriebenen Verfassungstexte in Deutschland eindeutig Schutz und Pflege der Kultur als staatliche Aufgabe festschreiben, was insbesondere in den Länderverfassungen, aber auch in den Kommunalverfassungen zum Ausdruck kommt.12 Bayern hat sogar darüber hinausgehend eine eigene Kulturstaatsklausel: So heißt es in Artikel 3 Abs. 1 Verfassung Bayern: »Bayern ist ein Rechts-, Kultur- und Sozialstaat. Er dient dem Gemeinwohl.« 13 Historisch bedeutsam ist und von der Verfassungsrechtslehre nicht immer hinreichend gewürdigt wird, dass eine Bestimmung mit Verfassungsrang auf Bundesebene seit 1990 existiert, die zwar nicht im Grundgesetz, aber im Einigungsvertrag enthalten ist. Dort heißt es in Artikel 35 Abs. 1: »Stellung und Ansehen eines vereinten Deutschlands in der Welt hängen außer von seinem politischen Gewicht und seiner wirtschaftlichen Leistungskraft ebenso von seiner Bedeutung als Kulturstaat ab.« Und weiter in Abs. 3: »Die Erfüllung der kulturellen Aufgaben einschließlich ihrer Finanzierung ist zu sichern, wobei Schutz und Förderung von Kultur und Kunst den neuen Ländern und Kommunen entsprechend der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes obliegen.« 14 Mit diesem Text des Einigungsvertrages wird das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als Kulturstaat konstituiert.15 Die Bestimmungen des Einigungsvertrages 11 | Vgl. zu dem ersten Gedanken nur Bauer, 1999, S. 183, 194f. und zum zweiten Argument Kloepfer, Michael, Staatsziel Kultur, in: Grupp, Klaus/Hufelt, Ulrich (Hg.), Recht – Kultur – Finanzen, Festschrift für Reinhard Mußgnug, Heidelberg 2005, S. 16ff.

12 | S. dazu im Einzelnen Scheytt, Oliver, Kulturverfassungsrecht − Kulturverwaltungsrecht, in: Klein, Armin (Hg.), Kompendium Kulturmanagement, München 2008, S. 183ff.

13 | Vgl. zu alldem auch Häberle, Peter, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, Wien 1980.

14 | Der Einigungsvertrag ist als höchstrangiges Recht auch von Staatsrechtslehrern zu beachten; gleichwohl wird der Kulturstaatsgedanke bis heute immer wieder in Zweifel gezogen, s. dazu auch die Diskussionen um die kulturelle Staatszielbestimmung bei den Anhörungen der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages in der 15. Legislaturperiode, zusammenfassend dargestellt im Zwischenbericht der Enquete-Kommission, Bundestagsdrucksache 15/5560.

15 | Dazu Norbert Lammert: »Das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als Kulturstaat hat im Einigungsvertrag, also im Kontext der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, erstmals ausdrücklich seinen verfassungsrelevanten Ausdruck gefunden.« Lammert, Norbert, Kulturstaat und Bürgergesellschaft, in: ders. (Hg.), Alles nur Theater? Beiträge zur Debatte über Kulturstaat und Bürgergesellschaft, Köln 2004, S. 14ff., 14.

98 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext gelten auch als Verfassungsrecht, haben daher den höchstmöglichen Rang in der Rechtsquellenhierarchie. Nicht von ungefähr wird auf die kulturellen Wurzeln und Traditionen in dem Moment zurückgegriffen, als sich die Bundesrepublik Deutschland mit der Wiedervereinigung als wieder zusammengewachsener, größerer und einheitlicher Staat neu konstituiert. Auf diese besondere historische Entwicklung, die in der Verwendung des Ausdrucks »Kulturstaat« im Einigungsvertrag kulminiert, nimmt auch Werner Maihofer in seiner Interpretation des Kulturstaatsbegriffs Bezug. Unter Rekurs auf den offenen Kulturbegriff der Epoche der Moderne und unter Hinweis auf die auf Kant zurückgehende Traditionslinie einer Autonomie und Universalität der Kultur sowie einer Kultur der Humanität folgert er: »Das aber heißt nichts weiter und nichts mehr, als dass sich in einem solchen Begriff von Kultur und einem solchen Verständnis von Staat die universale und humane Komponente der Kultur mit der liberalen und demokratischen Komponente des Staates zu dem verbinden, was wir einen freiheitlichen Kulturstaat nennen, der nicht nur seinen Ursprung, sondern auch seinen Auftrag in jenen geistigen Voraussetzungen und Zielsetzungen hat, die aus den demokratischen Revolutionen unserer Epoche der Moderne hervorgehen, von denen sie als noch unerfülltes Erbe ausgehen, und auf die sie als noch offener Fortschritt hinausgehen.« 16

Dieses Erbe ist einerseits durch die historisch weit vor dem Deutschen Reich gewachsene kulturelle Vielfalt geprägt und andererseits durch einheitliche Traditionen und Werte, die sich etwa über Sprache, Musik und Kunst vermitteln. Der Begriff »Kulturstaat« ist insofern weit entfernt von dem Begriff des »Nationalstaats«, der nicht nur im Hinblick auf das Dritte Reich mit unheilvollen Konnotationen verbunden ist.17 Wenn also in diesem Buch der Terminus »Kulturstaat« verwendet wird, so wird damit insbesondere das Selbstverständnis, das Leitbild in der und für die Bundesrepublik Deutschland auch in einem europäischen und internationalen Zusammenhang angesprochen: Unser staatliches Gemeinwesen hat einen Kulturauftrag, der als Kulturgestaltungsauftrag zu verstehen ist. Die Bundesrepublik Deutschland ist politisch und ver16 | Maihofer, Werner, Kulturelle Aufgaben des modernen Staates, in: Benda, Ernst/Maihofer, Werner/Vogel, Hans-Jochen (Hg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Teil 2, 2. Aufl., Berlin/New York 1995, S. 1201ff., Rn 27.

17 | Auch der Begriff »Kulturnation« wird von mir keineswegs synonym mit dem Begriff »Kulturstaat« verwendet, denn bei ersterem schwingt mit, dass Kultur als (machtvolles?) Mittel zur Abgrenzung oder gar Herrschaft zwischen Staaten verstanden wird. Vgl. dazu auch Lepenies, Wolf, Kultur und Politik. Deutsche Geschichten, München/Wien 2006, S. 62ff.

III. Kulturstaat | 99 fassungsrechtlich nicht nur als Rechtsstaat und Sozialstaat, sondern eben auch als Kulturstaat zu verstehen. Aus einem solchen Verständnis erwachsen noch keine subjektiven Rechte des Einzelnen. Angesprochen ist damit, dass sich die Bundesrepublik Deutschland, der Bund, die Länder und die Kommunen insgesamt kulturellen Aufgaben widmen (müssen). Eine kulturelle Staatszielbestimmung im Grundgesetz würde dieses Bewusstsein und Selbstverständnis (föderalismusneutral) stärken (Kap. III/1.1). Verfassungsrechtslehre und Rechtsprechung haben für die staatliche Aufgabenwahrnehmung im Kulturbereich eine Reihe von Handlungsmaximen abgeleitet, die als kulturstaatliche Leitbegriffe erläutert werden (III/1.2). Kulturpolitik richtet das Handeln des Kulturstaates mit ihren Vorgaben aus, insbesondere im Blick auf die rechtliche Gestaltung und die Bereitstellung von Ressourcen (III/1.3). 1.1 Kultur als Staatsziel

Die Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« hat dem Deutschen Bundestag einstimmig empfohlen, Kultur als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern und das Grundgesetz um einen Artikel 20 b mit folgender Formulierung zu ergänzen: »Der Staat schützt und fördert die Kultur.« Zwar hat das Bundesverfassungsgericht schon aus der Kunstfreiheitsgarantie des Artikels 5 Abs. 3 GG eine »objektive Wertentscheidung für die Freiheit der Kunst« abgeleitet: Diese stellt dem »modernen Staat, der sich im Sinne einer Staatszielbestimmung als Kulturstaat versteht, zugleich die Aufgabe, ein freiheitliches Kunstleben zu erhalten und zu fördern«.18 Gleichwohl würde eine kulturelle Staatszielbestimmung in der geschriebenen Verfassung Klarheit schaffen. Denn Staatszielbestimmungen sind Verfassungsnormen mit rechtlich bindender Wirkung, die der Staatstätigkeit die fortdauernde Beachtung oder Erfüllung bestimmter Aufgaben vorschreiben. Damit wird ein bestimmtes Programm der Staatstätigkeit umrissen, das als Direktive für staatliches Handeln auch bei der Auslegung von Gesetzen und sonstigen Rechtsvorschriften Wirkung entfalten kann.19 Zu betonen ist, dass eine solche kulturelle Staatszielbestimmung föderalismusneutral ist, also keine Kompetenzverschiebungen von den Ländern zum Bund bewirken würde.20 Mit einer Staatszielbestimmung 18 | BVerfGE 36, 321 (331). 19 | S. Enquete-Schlussbericht, S. 69. 20 | So auch Sommermann, Karl Peter, Kultur im Verfassungsstaat, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Bd. 65, Berlin 2006, S. 7ff., bes. S. 41. Gleichwohl wird das auch von Staatsrechtslehrern immer wieder behauptet, vgl. etwa Steiner, 2006, Rn 28; Kloepfer, 2005, S. 16. Selbst bei Peter Häberle fanden sich 1999 noch Zweifel, vgl. ders., Kulturhoheit im Bundesstaat – Entwicklungen und Perspektiven, in: Archiv des Öffentlichen Rechts 1999,

100 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext ist daher weder eine Verstärkung der Bundeskompetenz noch ein Eingriff in die kulturelle Selbstgestaltungskompetenz der Länder und Kommunen verbunden. Eine Staatszielbestimmung im Grundgesetz führt auch noch nicht dazu, dass Kultur Pfl ichtaufgabe wird, da dadurch lediglich eine allgemeine grundlegende Verpflichtung zur Kulturförderung normiert wird. Wörtlich heißt es dazu im Schlussbericht der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« des Deutschen Bundestages: »Allerdings lässt sich daraus ein Kulturgestaltungsauftrag ableiten, der auch Bund, Länder und Kommunen – ebenso wie bereits die in den meisten Landesverfassungen enthaltenen Kulturstaatsklauseln – generell in die Pfl icht nimmt. Aus der kulturellen Staatszielbestimmung und den entsprechenden Vorschriften in den Landesverfassungen kann die Sicherung einer ›kulturellen Grundversorgung‹ hergeleitet werden, deren Ausprägung unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse konkretisiert werden muss. Schon aus Art. 28 Abs. 2 GG ergibt sich in Verbindung mit den einschlägigen Vorschriften der Gemeindeordnungen zur Berücksichtigung des kulturellen Wohls der Einwohner bei der Ausgestaltung des Systems an öffentlichen Einrichtungen (z.B. § 10 Abs. 2 Satz 1 GO Baden-Württemberg, § 8 Abs. 1 GO NRW, § 2 Abs. 1 Satz GO Sachsen-Anhalt) ein entsprechender ›Infrastrukturauftrag‹,21 der auch von den Gegnern einer kulturellen Staatszielbestimmung im Grundgesetz […] anerkannt worden ist. Freiwilligkeit kann nicht als Beliebigkeit verstanden werden.«22

Im Verhältnis zum europäischen Recht wäre eine Staatszielbestimmung durchaus ein Brückenschlag: Zum einen enthält Artikel 151 des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft einen Kulturartikel; zum anderen ist eine solche Klausel gemeinsame Verfassungstradition der Mitgliedstaaten sowie Bestandteil vieler neuer Verfassungen der Länder der EU. Zudem befinden sich in zahlreichen Verfassungen der Bundesländer kulturrelevante Verfassungsbestimmungen. Der staatliche Kulturauftrag hat in diesen Texten meist zwei wesentliche Ausprägungen: den Schutz und die Förderung von Kultur. Insbesondere in den Länderverfassungen tritt zu S. 549ff., 576, zu einer Kulturstaatsklausel, die eine »zentralistische Sogwirkung« erzeugen könnte. Doch in der Anhörung der Enquete-Kommission hat sich auch Peter Häberle klar für eine kulturelle Staatszielbestimmung ausgesprochen, da richtigerweise erkannt wurde, dass Kulturgestaltung je nach Kulturbereich Aufgabe der zuständigen Gesetzgeber bleibt. S. Enquete-Schlussbericht S. 78 mit weiteren Nachweisen.

21 | Vgl. Scheytt, Kulturrecht, 2005, Rn 127ff. 22 | Enquete-Schlussbericht, S. 79. Damit hat die Enquete-Kommission deutlich gemacht, dass die Gewährleistung einer »kulturellen Grundversorgung« als konkrete Ausprägung der Wirkung einer Kulturstaatsklausel angesehen werden kann, vgl. dazu auch Scheytt, Kulturrecht, 2005, Rn 127ff.

III. Kulturstaat | 101 den auf Kunst und Kultur bezogenen »Freiheitszusagen« ein ausdrückliches »Förderversprechen« hinzu.23 Der verfassungsrechtliche Rahmen konstituiert die Kulturverantwortung von Bund, Ländern und Kommunen zwar bereits nach der jetzigen Verfassungsrechtslage als kulturpolitisch zu konkretisierende Gestaltungsaufgabe.24 Letztlich steht es dem Kulturstaat Deutschland aber gut an, kulturelle Aufgaben des Staates als gleichgewichtig mit den sozialen und umweltbezogenen ausdrücklich im Grundgesetz zu konstituieren. Dem Grundgesetz wurde sein »Verhältnis« zur Kultur noch unter dem Eindruck des Dritten Reiches mitgegeben: Die Freiheit der Kultur, der Kunst und der Wissenschaft von staatlicher Einflussnahme einerseits und die föderalistische Struktur andererseits sollten Garanten dafür sein, jegliche »Gleichschaltung« zu verhindern. Darin liegt die Zurückhaltung begründet, weitergehende kulturelle Aufgaben festzuschreiben, obgleich schon die Weimarer Reichsverfassung eine kulturelle Staatszielbestimmung enthielt.25 Doch die heutige Realität ist eine andere als nach dem Zweiten Weltkrieg: Kulturförderung ist eine staatliche Aufgabe. Die Verfassungswirklichkeit hat das Verfassungsrecht insoweit eingeholt. Längst hat sich ein freiheitliches Kulturleben entfaltet, gerade durch staatliches und kommunales Handeln. Letztlich hängt die Kulturstaatlichkeit Deutschlands nicht von einem ausformulierten Grundgesetzartikel ab, denn die Menschen und die Politik leben sie. Doch eine ausdrückliche Grundgesetzbestimmung hätte eine große Signalwirkung: Kultur würde als öffentliches Gut und als Aufgabenfeld der Politik gestärkt. Das Grundgesetz würde die herausragende Bedeutung von Kunst und Kultur für das Zusammenleben der Menschen und die Entwicklung jedes Individuums ausdrücklich ansprechen. Die Bundesrepublik Deutschland würde sich durch die Aufnahme von Kultur als Staatsziel im Grundgesetz zu ihrer Verantwortung bekennen, das kulturelle Erbe zu bewahren sowie Kunst und Kultur zu fördern. Daher sollte die kulturelle Staatszielbestimmung so gefasst sein, dass sie die Vagheit und Unverbindlichkeit eines bloßen Programmsatzes vermeidet. Mit der von der Enquete-Kommission vorgeschlagenen Formulierung 23 | Steiner, 2006, Rn 3. 24 | Ebd., Rn 11. 25 | Art. 142 WRV knüpft unmittelbar an die Statuierung der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit in Satz 1 die kulturstaatliche Feststellung des Satzes 2: »Der Staat gewährt ihnen (scil.: Kunst und Wissenschaft) Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil.« S. dazu Knies, Wolfgang, Freiheit der Kunst und Kulturstaat, in: Häberle, Peter, Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, Darmstadt 1982, S. 235ff., 245f.: Art. 142 WRV stellt fest, »daß Kulturvorsorge und eine positive, aktive Kunstpolitik auch verfassungsrechtlich legitime Betätigungen des modernen Staates sind«.

102 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext »Der Staat schützt und fördert die Kultur« würde eine solche Bestimmung in erster Linie einen Handlungsauftrag an den Staat enthalten. Dieser würde eine mehrfache Wirkung entfalten: als Zielbestimmung für das politische Ermessen des Gesetzgebers ebenso wie als eine normative Richtlinie für verwaltungsrechtliche Ermessens- und gerichtliche Abwägungsentscheidungen. Kulturpolitik hätte damit auf allen Ebenen des Kulturstaates Deutschland eine Norm, auf die sie sich bei der Vorbereitung und Durchführung von politischen Entscheidungen berufen könnte. Es ist dringend zu wünschen, dass der Deutsche Bundestag mit der erforderlichen Mehrheit eine entsprechende Verfassungsänderung beschließt.26 1.2 Kulturstaatliche Leitbegriffe als Handlungsmaximen

Der Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen wird nicht »irgendwie« erfüllt. In Verfassungsrecht und -praxis haben sich in den letzten Jahrzehnten eine Reihe wesentlicher Prinzipien etabliert, die im Verhältnis von Staat und Kultur zu beachten, Schutz und Förderung zuträglich sind und daher auch für die kulturpolitische Steuerung Relevanz haben. Hier betrachtet werden sollen drei kulturimmanente und -adäquate Maximen, die als Bedingungen der zu schützenden Freiheit und der Förderung von Kultur angesehen werden können: Pluralität und Individualität (a), Qualität und Identität (b) sowie Eigengesetzlichkeit und Autonomie (c). Für den staatlichen Umgang mit Kultur werden ebenfalls drei kulturpolitische und kulturstaatliche Handlungsmaximen vorgestellt: Neutralität und Toleranz (d), Teilhabe und Solidarität (e) sowie Transparenz und Offenheit (f). Die ersten drei Komplexe sprechen stärker die Dimension des »Was«, die weiteren drei das »Wie« von Schutz und Förderung der Kultur durch den Kulturstaat an. (a) Pluralität und Individualität haben nunmehr in der Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt der UNESCO einen völkerrechtlich gesicherten Schutz erfahren. Kulturelle Vielfalt zu schützen und zu fördern ist Ausdruck des Grundwertes der Freiheit:27 Voraussetzung für die Entfaltungsfreiheit des Einzelnen und unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen ist die Bereitschaft zur Anerkennung von Vielfalt. Diese Handlungsmaxime lässt sich ethisch und rechtlich herleiten und ist inzwischen durch die UNESCO-Konvention ein verbindlicher Bestandteil der Konzep26 | Die SPD hat sich bei ihrem Hamburger Parteitag im Oktober 2007 für die Aufnahme einer kulturellen Staatszielbestimmung ausgesprochen, doch die CDU konnte sich noch nicht mit entsprechender Verbindlichkeit in ihren Parteigremien zu einem entsprechenden Beschluss durchringen.

27 | S. dazu auch Losch, Bernhard, Kulturfaktor Recht. Grundwerte – Leitbilder – Normen, Köln 2006, S. 146ff. sowie Volkmann, 2005.

III. Kulturstaat | 103 tion eines freiheitlichen Kulturstaates und einer aktivierenden Kulturpolitik. Gegenbeispiele zu dieser Maxime finden sich in Abschottung und Ignoranz, Fundamentalismus und Fanatismus, Missbrauch und Zerstörung, Herabwürdigung und Anfeindung.28 Wenn etwa muslimische Fanatiker eine künstlerische Auseinandersetzung mit religiösen Anschauungen angreifen, ist diese Handlungsmaxime in mehrerlei Richtung angesprochen: Es geht um den Schutz freiheitlicher Kunstausübung ebenso wie um den Schutz vor Fundamentalismus sowie die Anerkennung anderer Kulturen und Religionen. Unser Verständnis von Kultur im freiheitlichen Kulturstaat ist ein offenes: Überall wo sich im Prozess der Kultur über Tradition hinaus Innovation ereignet, ist das »Individuelle« das eigentlich »Produktive«. Wenn das Individuelle dann auch ein »Allgemeines« hervorbringt, es eben nicht nur individuelles Produkt bleibt, sondern auch für »andere Sinn und Bedeutung hat, zu denken gibt, Anschauungen vermittelt, Gewissheit verschaff t, als Wahrheit einleuchtet«,29 entsteht Gültiges und Bleibendes. Davon lebt Kultur, hierin besteht ihre Kraft. Insoweit sind Individualität und Pluralität als treibende Kräfte der Kultur anzusehen, zu fördern und zu schützen. (b) Qualität und Identität: Kunst und Kultur leisten einen entscheidenden Beitrag zur Identität des Einzelnen, der Gemeinschaft, der Gesellschaft und des Staates. Mit Identität ist in diesem Sinne das »Eigenbild« der Person oder der Personengemeinschaft gemeint, die Summe der Faktoren, die dieses Bild inhaltlich festlegen.30 Dabei erfasst die Identität bei den Kollektiven das »Selbstverständnis« dieser die Gemeinschaft prägenden Gemeinsamkeiten und die Unterschiede, die gegenüber dem Selbstbild anderer menschlicher Gemeinschaften bestehen.31 So ist der Begriff der Identität sowohl ein Begriff der Abgrenzung als auch der integrierenden Standortbestimmung.32 Identität kann in einer Nation hinsichtlich ihrer jeweiligen politischen, sozialen, religiösen und kulturellen Besonderheiten entwickelt sein. Identität fungiert in einem weiteren Sinne als Inbegriff der typischen Lebensformen, Wert- und Verhaltenseinstellungen innerhalb der Gesellschaft.33 Damit hat die Handlungsmaxime der Identität engen Bezug zum 28 | Losch, 2006, S. 149. 29 | Maihofer, Rn 39. 30 | Zur Konstruktion nationaler Identität s. näher Knapp, Marion, Österreichische Kulturpolitik und das Bild der Kulturnation, Frankfurt a.M. u.a. 2005, S. 31ff.

31 | Zur Identität von Regionen, Kulturlandschaften, Städten etc. vgl. die zahlreichen Beiträge in: Dornheim, Andreas/Greiffenhagen, Sylvia, Identität und politische Kultur, Stuttgart 2003.

32 | Uhle, 2004. 33 | Vgl. ebd., S. 12.

104 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext Kulturbegriff der UNESCO.34 Die Identität des Kulturstaates Deutschland ist von erheblicher Relevanz für den freiheitlichen Verfassungsstaat, denn die vorherrschenden Werthaltungen und Verhaltensweisen prägen das Zusammenleben der Menschen. Die Aufrechterhaltung des Grundkonsenses innerhalb der Gesellschaft ist wesentlich von der gelebten und erlebten kulturellen Identität abhängig. Genau darin liegt die Brisanz, aber auch die Notwendigkeit der Diskussion über Verbindliches und Verbindendes, das sich in Kultur ausdrückt, aber nicht mit dem missverständlichen Begriff der »Leitkultur« erfasst werden sollte. Mit dem Begriff der Identität korreliert die Handlungsmaxime der Qualität. Qualität entsteht vor allem dann, wenn die einzelne Person, Personengemeinschaft, eine Kommune oder auch ein ganzes Land in ihrer Eigenheit angesprochen wird. Diese macht die »Einzigartigkeit« eines Kunstwerks aus, das besondere »originelle« Wirkungen erzielt. Die Künste stellen uns mit ihrer Eigensinnigkeit und Einzigartigkeit Fragen, auf die wir je individuell Antworten finden (müssen). Und die besondere Identität und die spezifische kulturelle und künstlerische Qualität einer Stadt und ihrer künstlerischen Traditionen sowie kulturellen Institutionen sind es, die das kulturelle Profil der Stadt prägen, ihr Einzigartigkeit und damit Ausstrahlung sowie Attraktion verleihen. Identität und Qualität einer Kommune werden maßgeblich von der Baukultur bestimmt, die sich meist in den Kulturbauten einer Kommune verdichtet (Museen, Theaterbauten, Konzerthäuser, aber auch Bibliotheken, Musikschulen und Volkshochschulen).35 Qualität ist damit nicht nur eine Maxime für den Schutz der Freiheit, sondern vor allem auch für die Förderung der Kultur. (c) Eigengesetzlichkeit und Autonomie: Pluralität und Individualität machen es oft schwer, die Qualität kultureller Leistungen »richtig« einzuschätzen und die staatliche Förderung »richtig« auszurichten, denn ein die Künste prägendes Element ist ihre »Eigengesetzlichkeit«. Kulturpolitische Entscheidungen, die notwendigerweise einer kollektiven Grundlage bedürfen – jegliche Kulturförderung braucht im Grundsatz eine (parlamentarische) Mehrheitsentscheidung –, haben es angesichts dieser Eigengesetzlichkeit schwer, ist doch Förderung, sollte sie sich nicht in gleichmacherischer »Gießkannenförderung« erschöpfen, auf Beurteilung angewiesen, ob vorher oder nachher. Stefan Huster hat eindrucksvoll nachgewiesen, dass die 34 | Vgl. das UNESCO-Zitat auf S. 23. 35 | Aus der Fülle der Beispiele seien nur das Kulturforum und die Museumsinsel in Berlin, die Elb-Philharmonie in Hamburg, das Aalto-Theater und die Zeche Zollverein in Essen, die Neue Pinakothek in München, das Museumsufer in Frankfurt a.M. oder auch die Bibliotheken in Ulm oder Dortmund, das WallrafRichartz-Museum in Köln, die Kunstsammlung NRW in Düsseldorf, die SemperOper in Dresden genannt.

III. Kulturstaat | 105 Eigengesetzlichkeit der Kunst als Handlungsmaxime nicht insoweit missverstanden werden darf, dass staatliche Kunstförderung als Qualitätsförderung auf ein ästhetisches Marktversagen reagiere: »Artikel 5 Abs. 3 GG enthält eine Entscheidung für die individuelle Freiheit; dass der Staat verpfl ichtet ist, den Prozess der Kunst gegenüber den Einflüssen des Marktes zu beschützen, ergibt sich daraus keinesfalls. Dies lässt sich nur bestreiten, wenn man unterstellt, dass jede Entscheidung eines Künstlers, sich nicht mehr an ästhetischen Maßstäben, sondern an den Markterfordernissen zu orientieren, alternativlos und in dem Sinne ›unfrei‹ ist, dass wirtschaftliche Zwänge ihn dazu nötigen.«36

Letztlich ist öffentliche Kunstförderung damit nicht allein eine Reaktion auf den »Markt«, sondern hat ihren tieferen Grund darin, dass ein öffentliches Gut, nämlich qualitätsvolle Kunst, gefördert wird.37 Kulturgesellschaft und Kulturbürger profitieren von qualitätsvoller Kunst. Würde diese vollständig dem Markt überlassen, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit angesichts der Eigengesetzlichkeiten von Kunst dies dazu führen, dass ohne eine öffentliche Förderung qualitätsvolle Kunst nicht immer die Chance der Realisierung und Vermittlung hätte.38 Öffentliche Kulturförderung wirkt also auf ein lediglich potenzielles »Marktversagen« kompensierend, regelt auf politischer Basis die Erhaltung der Kunst als ein vor allem öffentliches Gut und beteiligt auch die Bürger an der Finanzierung.39 Gleichwohl bleibt es ein Problem für Entscheidungen, dass Kunst- und Kulturproduktion nach ganz eigenen, immanenten Kriterien verläuft. 40 Demgemäß hat das Bundesverfassungsgericht formuliert: Der Lebensbereich »Kunst« ist durch die von ihrem Wesen geprägten, ihr allein eigenen Strukturmerkmale zu bestimmen. Wie weit danach die Kunstfreiheitsgarantie der Verfassung reicht und was sie im Einzelnen bedeutet, lässt sich nicht durch einen für alle Äußerungsformen künstlerischer Betätigung und für alle Kunstgattungen gleichermaßen gültigen allgemeinen Begriff umschrei-

36 | Huster, Stefan, Die ethische Neutralität des Staates, Tübingen 2002, S. 454f.

37 | Vgl. Huster, Stefan, Kultur im Verfassungsstaat, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Bd. 65, Berlin 2006, S. 53ff., 62ff.

38 | S. dazu auch Geyer, Hardy, Kulturbezug des Kulturmarketing, in: Geyer, Hardy/Manschwetus, Uwe (Hg.), Kulturmarketing, München 2008, S. 3ff., bes. S. 8.

39 | S. Huster, 2002, S. 470. 40 | Scheytt, Kulturverfassungsrecht – Kulturverwaltungsrecht, 2008, S. 188f.

106 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext ben. 41 Nicht zuletzt aus geschichtlicher Erfahrung haben wir in Deutschland die Einsicht gewonnen, dass der Schutz von Kunst und Kultur der unbedingten Achtung ihrer Autonomie bedarf, die auch bei der Förderung zu beachten ist. Gleichwohl sollten das Verhältnis zur Kultur und das Selbstverständnis des Staates auch von der Solidarität des Staates mit der Kultur gekennzeichnet sein. Denn der »bloße« Schutz allein reicht nicht. Es geht um zwei Seiten einer Medaille: den Schutz vor dem Staat in Anerkennung der Autonomie der Kultur und den Schutz durch den Staat, der durch Recht und Ressourcen das öffentliche Gut Kultur in der Entfaltung von kulturimmanenten Eigengesetzlichkeiten unterstützt, gerade auch jenseits ökonomischer Zweckrationalität und der Nutzung von Kulturgütern als Waren im globalen Handel. Kultur als Innovation kann sich nur ereignen und überdauern, wenn das Verhältnis des Staates zur Kultur von Anteilnahme und Wohlwollen geprägt ist. Seine Offenheit gegenüber dem faszinierenden wie irritierenden Aspekt der Kultur als Innovation, seine »Kulturfreundlichkeit« in Gesetzgebung und Förderentscheidungen drückt sich in Anerkennung der Autonomie bei gleichzeitigem Interesse am Prozess von Kunst und Kultur aus. Nach aller geschichtlichen Erfahrung bedarf Innovation des schöpferischen Einzelnen, auch wenn seine Kreationen durch die Verhältnisse der Gesellschaft mitbedingt werden. 42 In der Freiheit des Einzelnen, in seinen künstlerischen Entfaltungsmöglichkeiten, in seiner Autonomie und seinem schöpferischen Freiraum besteht das Kraftfeld für künstlerischen und kulturellen Fortschritt. (d) Neutralität und Toleranz: Den der Kunst immanenten Bedingungen der Eigengesetzlichkeit und Autonomie, die für deren freiheitliche Entfaltung konstitutiv sind, wird mit der für den Kulturstaat geltenden Handlungsmaxime des Neutralitätsgebotes Rechnung getragen. Dieses ist im »Eingriffsbereich« sicher unbestritten, doch problematisch ist seine Anwendung im Bereich der staatlichen Förderung von Kunst: Wenn nicht alles und jeder gefördert werden sollen, sind Auswahlentscheidungen und damit auch entsprechende ästhetische Bewertungen unvermeidlich. Damit stellt sich die Frage, an welchen Kriterien sich solche Entscheidungen zu orientieren haben und welche Personen diese Entscheidungen letztlich treffen. Damit ist auch das Thema angesprochen, dass es bei dem Schutz und der Förderung von Kunst und Kultur nicht nur um die Freiheit vom Staat, sondern auch um die Freiheit durch den Staat geht. 43 Auch das Bundesverfassungsgericht hat Artikel 5 Abs. 3 GG dahin41 | BverfGE 30, S. 183f., weitergeführt in Band 68, S. 213ff. 42 | Vgl. zu alldem Maihofer, 1995, Rn 36f. 43 | Instruktiv unter Einbeziehung der kulturpolitischen Diskussion der letzten Jahre vor dem Hintergrund der Deutschen Geistestradition (Hegel, Kant etc.): Heinrichs, 1997, S. 44ff.

III. Kulturstaat | 107 gehend ausgelegt, dass der Kulturstaat Deutschland Kunst nicht nur in ihrer Freiheit vor Eingriffen zu schützen hat, sondern auch selbst fördernd tätig werden soll. Die Förderung von Kunst und Kultur zielt letztlich auf eine Verbesserung der kulturellen Struktur des Gemeinwesens, trägt zum Erhalt des öffentlichen Gutes Kunst und Kultur bei. Kunstförderung ist damit »ein auswählender, Markt korrigierender und insoweit lenkender Charakter immanent« 44 – trotz aller Neutralität, die der Staat zu beachten hat. Aus der »vorausgesetzten Autonomie der Kultur und der durch sie geforderten Neutralität des Staates« ergibt sich die »äußere Toleranz des Staates gegenüber der in Individualität und Pluralität sich äußernden und entfaltenden ›Spontaneität‹« der Kultur. 45 Daraus folgt, dass der Staat kein »kulturpolitisches Diktat« für sich in Anspruch nehmen darf. Ein inhaltlich bestimmender Dirigismus (»Kunstrichtertum«) ist ihm verschlossen. Er muss selbst Kunst und Kultur vor Privilegierung oder Diskriminierung schützen, er darf etwa Kunst nicht danach einteilen, ob sie ihm mehr oder weniger »genehm« oder »unangenehm« ist. 46 Andererseits ist klar, dass eine »orientierungslose« oder »beliebige« Förderung dem öffentlichen Gut Kunst und Kultur ebenfalls nicht gerecht wird. Eine völlige Zurückhaltung in der Auswahl und eine daraus folgende »Gießkannenförderung« würden dazu führen, dass alles und jedes und damit nichts mehr spürbar gefördert werden könnte. Auswahlentscheidungen sind daher zwingend notwendig. Diese müssen sich vor allem auch an der Qualität orientieren, wie auch immer diese im Einzelfall zu definieren ist. 47 Die Beteiligung von Sachverständigen in künstlerischen und kulturellen Entscheidungsprozessen hat daher nicht nur eine auf individuellen Freiheitsschutz abzielende Dimension, sondern auch das Ziel, spezifischen Sachverstand zu mobilisieren, um möglichst qualifizierte und nachvollziehbare Entscheidungen treffen und begründen zu können. 48 (e) Teilhabe und Solidarität: Der Kulturstaat hat nicht zuletzt auch aufgrund des in die Kulturstaatlichkeit hinein wirkenden Sozialstaatsprinzips des Grundgesetzes eine »partizipatorische Komponente« 49: Dem Ruf »Kultur für alle!« liegt der Satz zugrunde: »die Kultur ist für alle da!« In

44 | Huster, 2002, S. 487. 45 | Maihofer, 1995, Rn 87. 46 | S. dazu ebd. und mit Beispielen aus dem Kunstbereich Oppermann, Thomas, Kulturverwaltungsrecht, Tübingen 1969, S. 438f.

47 | S. dazu auch Scheytt, Kulturrecht, 2005, Rn 61; Huster, 2006, S. 63ff., 80 sowie näher Kap. IV.

48 | Vgl. Huster, 2002, S. 484. 49 | So Maihofer, 1995, Rn 88.

108 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext einem freiheitlichen und damit auch »partizipatorischen Kulturstaat«50 ist die kulturelle Teilhabe aller Bürger nicht nur eine Frage der Teilhabe an öffentlichen Kulturangeboten, sondern kann noch tiefgreifender als Angebot zur Identifi kation des Bürgers mit seinem Gemeinwesen insgesamt gesehen werden. Darin liegt eine Chance »kultureller Demokratie«.51 Damit ist die Organisation des gleichrangigen »Zugleich von Freiheit und Teilhabe, von Abwehr und Leistung […] die ›Gretchenfrage‹ für den Ausbau einer gelebten Kulturverfassung«.52 Teilhabe ist allerdings nur die eine Seite eines partizipatorischen Kulturstaates. Eine weitere ist die der Solidarität und Integration im Sinne einer »Kultur der Anerkennung«.53 Zum einen gibt es eine eindeutige Verpflichtung des Staates zur Solidarität mit der Kultur und mit den sie Schaffenden, vor allem den Künstlern.54 Diese Solidarität kann von dem an kommerziellen Zielen ausgerichteten Markt nicht erwartet werden und wird auch von zivilgesellschaftlichem Engagement nicht immer eingelöst, denn dem Kommunitarismus fehlen mitunter die erforderlichen Ressourcen, und es gibt insoweit auch keine verbindliche Auftragslage. Das zu »fördern, was es schwer hat«, ist ein kulturstaatlicher Auftrag, den die öffentliche Kulturpolitik als Handlungsmaxime unbedingt zu beachten hat. Solidarität ist in einem weiteren Sinne Grundlage für Integration: »Die Integration bedarf der Unterstützung und Absicherung durch ein normatives Fundament organisierter Solidarität.«55 Für die Kulturgesellschaft ist Integration ein unverzichtbares Element – gerade heute, unter den Bedingungen der Pluralisierung, der Individualisierung, der verstärkten Mobilität und einer Ausdifferenzierung kultureller und religiöser Lebensformen.56 Gesellschaftliche Integration und Interaktion setzen einen gemeinsamen Grundbestand an akzeptierten und befolgten Regeln voraus, die sich nicht auf Regeln der sprachlichen Verständigung reduzieren lassen. Verständigungen gibt es gerade auch außerhalb der sprachlichen Kommunikation (man denke nur an das Kopftuch). Und sie ist nur möglich, »wenn die Akteure sich wechselseitig ein gewisses Maß an Rationalität zuschreiben« und das Verhalten einer Person in einen intentionalen und kulturellen Kontext einbetten können. Das Verständnis und 50 | So Maihofer, ebd., Rn 88. 51 | So Häberle, Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, in: ders. (Hg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, Darmstadt 1982, S. 1ff., 38 sowie Maihofer, 1995, Rn 89f.

52 53 54 55 56

| | | | |

So Häberle, ebd., S. 40. S. Leitantrag der SPD zum Hamburger Parteitag 2007. Maihofer, 1995, Rn 47. Nida-Rümelin, 2001, S. 254. Einen immer noch aktuellen umfassenden Überblick zum gesamten The-

menfeld der Interkultur gibt das vom Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft herausgegebene Jahrbuch für Kulturpolitik 2002/3, Essen 2003.

III. Kulturstaat | 109 der Dialog zwischen den Kulturen, die Wahrnehmung und Anerkennung unterschiedlicher »kultureller Identitäten« sind grundlegende Elemente von Partizipation und Voraussetzungen jeder Solidarität.57 Eine Kultur der Anerkennung und Solidarität sieht kulturelle Differenz als Herausforderung einer »transkulturellen Verständigung«. Kulturpolitik hat den hohen Wert kultureller Identität bewusst zu machen. Sie kann gleichzeitig ressortübergreifend zur Verständigung und interkulturellen Konfliktlösung beitragen. Kulturpolitik kann einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dass der Einzelne seine eigenen kulturellen Bezüge »relativiert«, andere Identitäten wahrnimmt und anerkennt und damit Restriktionen als Voraussetzung der Kooperationen akzeptiert.58 »Das Medium der Kunst, der Literatur, des Films, des Tanzes, der Musik ist wie kaum ein anderes geeignet, das Transzendierende der eigenen kulturellen Identität zu befördern und erst dadurch sich des Eigenen bewusst zu werden.«59 Damit wird deutlich, dass der Staat für eine »Kultur der Anerkennung« selbst vorbildhaft sein kann, um auch in der Gesellschaft eine solche Handlungsmaxime zu verfolgen, die Integration bewirkt und neue Formen der Solidarität befördert. Ein solches Modell der Integration durch Solidarität und Anerkennung darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass das Verbindende und Verbindliche in einer Gesellschaft als »Minimalkonsens« keine Bedeutung hat. Ganz im Gegenteil muss das Verbindliche herausgearbeitet werden. Die »Leitkulturdebatte« hat hier ihren richtigen Kern. Der unglückliche Begriff »Leitkultur« führt indes schnell zu dem gefährlichen Missverständnis, dass es notwendig sei, die eine Kultur (der Mehrheitsgesellschaft) gegen die anderen (der Minderheitsgesellschaften) auszuspielen. Doch in einem freiheitlichen Kulturstaat geht es zunächst nicht um einseitige Ausübung kultureller Macht oder gar »Führerschaft«. Vielmehr bedarf es der Solidarität und Partizipation, ohne dass kulturelle Traditionen Deutschlands − dazu zählt zuallererst die deutsche Sprache60 − in irgendeiner Form vernachlässigt werden dürfen. Sich in der eigenen Sprache verständigen zu können, ist essentielle Voraussetzung für die Wahrnehmung der kulturellen Grundrechte und für die individuelle und kollektive Teilhabe der gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklungen. In der Gemeinsamkeit der Sprache findet der Kulturstaat Deutschland eine wesentliche Grundlage für Einheit und Zusammenhalt. Sie ist das prägende Element der deutschen Identität und ist für das kulturelle Leben in Deutschland konstitutiv. Die Enquete-Kommission hat daher eine Reihe 57 | Vgl. Nida-Rümelin, 2001, S. 251. 58 | Nida-Rümelin, ebd., S. 256, spricht insoweit von einem »humanistischen Individualismus«.

59 | Ebd., S. 256. 60 | S. dazu Enquete-Schlussbericht, S. 407ff.

110 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext von Empfehlungen formuliert, um die Bedeutung der deutschen Sprache im öffentlichen Bewusstsein zu heben.61 (f) Offenheit und Transparenz sind wesentliche Handlungsmaximen für den Umgang des Staates mit Kunst und Kultur. Nur wenn der Staat offen ist für neuere künstlerische und kulturelle Entwicklungen, ist er fähig, Innovation nicht nur zuzulassen, sondern auch zu fördern. Die freiheitsgewährenden Grundrechte verpflichten den Staat auf ein pluralistisches und offenes Verständnis von Kultur. Daher hat das Bundesverfassungsgericht den »offenen Kunstbegriff« geprägt, der auch die Grundlage eines offenen Kulturverständnisses bildet. Auftrag des Staates ist es, Freiheit, Individualität und auch Personalität aktiv zu gewährleisten. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in seiner ersten grundlegenden Entscheidung zur Kunstfreiheit einen weiten Kunstbegriff festgeschrieben, so bedeutet die Kunstfreiheit »das Verbot, auf Inhalte, Methoden und Tendenzen der künstlerischen Tätigkeit einzuwirken […] oder allgemein verbindliche Regeln für diesen Schaffensprozess vorzuschreiben«.62 Gleichwohl ist eine ästhetische Neutralität letztlich nicht durchzuhalten.63 In jedem Fall aber ist es möglich, Entscheidungen transparent zu machen: durch die Veröffentlichung von Förderrichtlinien, die Begründungen von Juryentscheidungen und deren Bekanntgabe, die Angabe von Gründen insbesondere bei Ablehnung von Anträgen zur Finanzierung von Kulturprojekten aus inhaltlichen oder konzeptionellen Überlegungen und durch die Offenlegung von Fördersystemen und -volumen in Förderberichten u.Ä. Hier liegt in Deutschland noch vieles im Argen, werden doch Entscheidungen oft nach wie vor von einzelnen bürokratischen Instanzen ohne weitere Begründung gefällt. Dies gilt vor allem für die einzelnen Bundesländer, deren Handeln vielfach durch unzureichende Transparenz der Mittelvergabe und der Förderkriterien gekennzeichnet ist. Demgegenüber sind etwa in Österreich durch Kulturfördergesetze, die in sämtlichen Bundesländern existieren, entsprechend transparente Verfahren festgelegt, ist eine regelmäßige Berichterstattung über die Kulturförderung durch diese Gesetze verbindlich vorgeschrieben. 1.3 Kulturpolitik, -arbeit, -verwaltung, -management

Nachdem das Verhältnis von Kultur und Staat und die wesentlichen, sich aus Verfassungsrecht und -wirklichkeit ergebenden Handlungsmaximen als Kontext von Kulturpolitik in Deutschland erörtert worden sind, geht es nunmehr darum, die Handlungsweisen und -optionen des Kulturstaates 61 | S. Enquete-Schlussbericht, S. 407ff., 410. 62 | BVerfGE 30, 173, 190, S. dazu auch Huster, 2002, S. 438. 63 | S. dazu Kap. IV.

III. Kulturstaat | 111 zu skizzieren mit Blick auf die Kontexte von Politik, Kulturverwaltung und -management sowie auf die inhaltliche Gestaltung der Handlungsfelder in der Kulturarbeit. Im allgemeinen Sprachgebrauch und selbst in Fachdebatten werden Kulturpolitik, Kulturarbeit, Kulturverwaltung und Kulturmanagement häufig nicht hinreichend voneinander unterschieden. Der Begriff »Kulturpolitik« wird oft unreflektiert als Oberbegriff auch für »Kulturverwaltung« oder »Kulturarbeit«64 verwendet und auch nicht klar von »Kulturmanagement« geschieden. Kulturpolitik, -arbeit, -verwaltung und -management sind zwar aus den verschiedensten Gründen in vielfacher Weise miteinander verzahnt und aufeinander angewiesen. Doch sollte klar sein, dass Kulturpolitik65 den politischen und strategischen Rahmen für die Kulturarbeit, die Kulturverwaltung und das Kulturmanagement in all ihren Erscheinungsformen setzt. Der Kulturpolitik kommt dabei die Definitionskompetenz zu. Sie legt die Aufgaben fest, die als Kulturarbeit (a) wahrzunehmen sind, und erarbeitet Forderungen und Vorgaben für die Kulturverwaltung (b) und das Kulturmanagement (c). Ihre wesentlichen Handlungsformen sind die Gestaltung von Ressourcen und Recht (d), die durch (kultur-)politische Entscheidungen konstituiert werden. (a) Kulturarbeit steht für die Inhalte, die durch Kulturverwaltung und Kulturmanagement konzipiert, betreut und gefördert werden, insbesondere in Kultureinrichtungen, durch Kulturförderung und Kulturveranstaltungen auf den Feldern Künste, Geschichtskultur und Kulturelle Bildung. (b) Kulturverwaltung umfasst diejenigen Organisationseinheiten der Administration, die kulturelle Angelegenheiten wahrnehmen. In der Kulturverwaltung sind die sächlichen und personellen Ressourcen für die Kulturarbeit der Kommune zusammengefasst. (c) Kulturmanagement hat in den letzten beiden Jahrzehnten Konjunktur erlangt, einhergehend mit einer Vielzahl von neu begründeten Studiengängen unter diesem Rubrum. Der Boom der Verwendung des Begriffes »Kulturmanagement« ist vor allem durch ein verstärktes Bewusstsein dafür ausgelöst worden, dass Kulturpolitik, Kulturverwaltung und Kul64 | Dieser ist seit den 1970er Jahren an die Stelle des Begriffs »Kulturpflege« getreten. Damit sollte deutlich gemacht werden, dass es nicht nur um »Pflege«, sondern auch um »aktives Tun« geht.

65 | Aus älterer Literatur hierzu grundlegend und instruktiv Glaser/Stahl, 1983, S. 15ff. und S. 28ff. zum Konzept einer »aktiven« Kulturpolitik, »die der Phantasie zum Durchbruch verhelfen will«. Im »Spielraum« vollzieht sich die offene Förderung der Vielzahl kultureller Kräfte und Tendenzen (S. 29).

112 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext turarbeit gerade angesichts knapper werdender Mittel von erfolgreichem Kulturmanagement und einem effektiven Ressourceneinsatz profitieren. Offensichtlich wurde auch, dass in der Führung von Kulturinstitutionen ein Bedarf an entsprechend qualifizierten Kräften besteht, die über Methoden und Techniken des Managements verfügen.66 Kulturmanagement ist auf die Steuerung von arbeitsteiligen Prozessen und Systemen zur Ermöglichung und Sicherung kultureller Leistungen gerichtet.67 Dabei geht es um die aktive Gestaltung von Arbeitsprozessen und Institutionen unter den Gesichtspunkten von Zielen, Planung, Organisation, Führung und Controlling.68 Mit Kulturmanagement ist nicht die künstlerische oder kulturelle Leistung selbst gemeint. Vielmehr gestaltet Kulturmanagement die organisatorischen, prozessualen und finanziellen Rahmenbedingungen, um Kunst und Kultur zu ermöglichen, dient also deren Entfaltung. Das Kulturmanagement ist seinerseits eingebunden in die Strukturen von Bund, Ländern und Kommunen mit deren jeweiligen politischen und administrativen Komponenten. (d) Ressourcen und Recht: Kulturpolitik setzt die Ziele und politischen Vorgaben für Kulturverwaltung und Kulturmanagement auf den verschiedenen institutionellen Ebenen in Bund, Ländern und Kommunen. Diese beziehen sich im Kern auf zwei wesentliche Aktionsformen, mit denen die inhaltliche Kulturarbeit auf den Feldern Künste, Geschichtskultur und Kulturelle Bildung ausgestaltet wird: Der Kulturstaat setzt oder gestaltet Recht, und er stellt Ressourcen zur Verfügung. Die kulturpolitischen Beschlüsse sind konstitutiv für die Ausrichtung dieser Handlungsformen und damit auch für Kulturverwaltung und -management, die auf der Basis des Rechts und der bereitgestellten personellen und vor allem fi nanziellen Ressourcen agieren (können). Das »Kulturrecht« enthält die verbindliche Ordnung für den empirisch erfassten Sachbereich der Kulturaufgaben, die von Bund, Ländern und Kommunen auf der Basis kulturpolitischer Entscheidungen durch Verwaltungshandeln sowie Kulturmanagement gestaltet werden, im Wesentlichen in Form von Kultureinrichtungen, Kulturförderprogrammen sowie Kulturveranstaltungen.69 Die Diskussion um rechtliche Rahmenbedin66 | Aus diesen Gründen sind mittlerweile bundesweit zahlreiche Ausbildungs- und Qualifizierungsangebote sowie Kulturmanagement-Studiengänge geschaffen worden, s. dazu Klein, Armin (Hg.), Kompendium Kulturmanagement. Handbuch für Studium und Praxis, 2. Aufl., München 2008, S. 2ff.

67 | Heinrichs, Werner, Kommunales Kulturmanagement, Baden-Baden 1999, Rn 44.

68 | Dazu etwa Heinrichs, Werner, Einführung in das Kulturmanagement, Darmstadt 1993, S. 141ff.

69 | S. dazu Scheytt, Kulturrecht, 2005, Rn 30, 37ff.

III. Kulturstaat | 113 gungen wird bei Weitem nicht mit solcher Intensität geführt, wie die über inhaltliche oder finanzielle Fragen der Kulturpolitik. Dabei hat das Kulturrecht konstitutive Bedeutung für Kultur- und Kunstentfaltung in zweierlei Varianten: Es setzt den Rahmen, es ist aber auch Gestaltungsinstrument für die beteiligten Akteure. Kulturverfassungs- und Kulturverwaltungsrecht, Förder-, Veranstaltungs- und Vertragsrecht, Urheber- und Steuerrecht enthalten zum einen Vorgaben für das Kulturmanagement und entfalten eine Fülle unterschiedlicher Bindungswirkungen. Das rechtliche Instrumentarium bietet zum anderen zahlreiche Möglichkeiten, Kultureinrichtungen, Kulturförderung und Partnerschaften mit Dritten auf eine juristisch fundierte und damit verbindliche Basis zu stellen. So hat die rechtliche Ausgestaltung von Partnerschaften mit Dritten vor allem dann konstitutive Wirkung, wenn Private oder Unternehmen sich an der Trägerschaft von Kultureinrichtungen im Rahmen sogenannter »Public Private Partnership« (PPP) beteiligen.70 Während kommunale Kulturpolitik etwaige vorhandene gesetzliche Regelungen (z.B. Kommunalverfassungen, spezielle kulturrechtliche Bestimmungen) anzuwenden und auszuführen hat, ist für die Kulturpolitik auf Bundes- und Landesebene auch die Gestaltung und Modifi kation von Gesetzesrecht ein wesentliches Handlungsfeld. Dabei geht es zum einen um die Frage, inwieweit Gesetze zu ändern oder (neu) zu erlassen sind, die kulturspezifische Belange regeln (kulturelle Ordnungspolitik). Zu diesen Rechtsgebieten zählen vor allem Urheberrecht, Verwertungsrecht, Künstlersozialversicherungsrecht, aber auch Vorschriften im allgemeinen Steuerrecht. Kulturpolitik hat zum anderen zu reflektieren, ob bei Erlass neuer Gesetze oder Gesetzesreformen kulturelle Belange hinreichend Berücksichtigung finden (Kulturverträglichkeit). Die »kulturelle Ordnungspolitik« und die Überprüfung von Gesetzesvorhaben unter dem Gesichtspunkt der »Kulturverträglichkeit« haben insbesondere seit der Bestellung eines Staatsministers für Kultur im Bundeskanzleramt große Aufmerksamkeit und Stimme bekommen. Seither wird in viel stärkerem Maße auch öffentlich diskutiert, ob die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Kulturentwicklung optimal gestaltet sind, welche Verbesserungen anzuregen sind und dass bei Gesetzesänderungen Kulturinteressen zu beachten sind. Rechtsgestaltung ist somit eine wesentliche Aufgabe von Kulturpolitik im Kulturstaat Deutschland.

70 | So wird etwa das Düsseldorfer museum kunst palast von einer Stiftung getragen, die von einem Großunternehmen zusammen mit der Stadt Düsseldorf ins Leben gerufen worden ist. Vgl. dazu auch Loock, Friedrich, Public Private Partnership – zwischen Patenschaft und Partnerschaft, in: Litzel, Susanne/Loock, Friedrich/Brackert, Susanne (Hg.), Wirtschaft und Kultur, Formen und Fakten unternehmerischer Kulturförderung, Heidelberg 2003, S. 144ff.

114 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext

1.4 Grundmodell für eine aktivierende Kulturpolitik

Für eine Systematisierung des kulturpolitischen Handelns – ob mit Blick auf Gestaltung von Recht oder Bereitstellung von Ressourcen – bietet sich das folgende »kulturpolitische Grundmodell« 71 an: Ausgangspunkt ist die Analyse des jeweiligen »Kulturauftrages«, der sich im Einzelfall nicht nur aus Rechtsnormen – wie Verfassungsbestimmungen oder spezialgesetzlichen Regelungen –, sondern auch aus politischen und inhaltlichen Vorgaben ergeben kann (a). Dieser Auftrag ist durch eine kulturpolitische Programmatik in Form von Zielen und Qualitätsstandards für die Kulturarbeit auszufüllen (b), die in öffentlich verantworteten Handlungsprogrammen auch auf der Basis von Verantwortungspartnerschaften umgesetzt werden (c). Kulturpolitik macht dabei auch Vorgaben für die Ausgestaltung von Ressourcen und Recht durch Regierungen, Verwaltungen und Kulturmanagement (d). (a) Öffentlicher Auftrag: Kulturpolitik hat zunächst immer danach zu fragen, wie sich der »öffentliche Auftrag« als Grundlage kulturpolitischen Denkens und Handelns definiert, der für jedes Gestaltungsfeld, ob Künste, Geschichtskultur oder Kulturelle Bildung, spezifisch herauszuarbeiten ist. Meist lässt sich schon aus den verfassungsrechtlichen Bestimmungen – bezogen auf das jeweilige Gestaltungsfeld – ein Auftrag zur Kulturförderung folgern. Die oben72 entwickelten kulturstaatlichen Handlungsmaximen sind dafür eine wesentliche Richtschnur. Zudem ist von Bedeutung, welche Kompetenz Bund, Länder oder Kommunen jeweils haben und welche Vorgaben sich hierfür aus den unterschiedlichsten Rechtsquellen (Verfassung, Gesetze usw.) ergeben.73 Auch die inhaltlich-sachlich allgemein gültigen »Auftragslagen« der Kultureinrichtungen geben Hinweise auf den kulturpolitisch im Einzelnen auszufüllenden Kulturauftrag: So dient ein Museum dem Forschen, Sammeln, Bewahren und Präsentieren erhaltenswerten Kulturgutes, eine Bibliothek der Stärkung der Medienkompetenz, eine Musikschule der musikalisch-ästhetischen Bildung usw. Diese Aufträge können auf die jeweiligen regionalen oder örtlichen Verhältnisse bezogen näher konkretisiert werden. Der öffentliche Kulturauftrag sollte letztlich durch eine kulturpolitische Diskussion mit konkreten Vorgaben für die Aufgabenwahrnehmung bestimmt werden.

71 | Vgl. dazu bereits Scheytt, Kulturrecht, 2005, Rn 41ff. Dieses hat in leicht modifizierter Form auch Eingang in den Enquete-Schlussbericht gefunden (S. 86f.).

72 | In Kap. III/1.2. 73 | Dazu sogleich mehr unter Kap. III/2.

III. Kulturstaat | 115 (b) Programmatik: Der öffentliche Auftrag konturiert eine Programmatik, die für den Zuständigkeitsbereich des jeweiligen öffentlichen Trägers angibt, wie eine Einrichtung, ein Förderkomplex oder eine Veranstaltungsreihe auszurichten ist, welche Leitlinien und Ziele im Einzelnen verfolgt werden sollen, welche Qualitätsstandards oder Förderkriterien zu berücksichtigen sind. Der öffentliche Auftrag wird also durch die Programmatik ausgefüllt,74 die der Kulturstaat durch sein Handeln verwirklicht. Die Programmatik findet sich dann etwa in gesetzlichen Regelungen zur Buchpreisbindung oder zum Musikschulwesen wieder, in Satzungsbestimmungen mit einzelnen Zielsetzungen einer Einrichtung (z.B. »Die Volkshochschule beteiligt sich auch an Aktivitäten der Stadtteilkulturarbeit«), in Kriterienkatalogen von Förderrichtlinien (z.B. »Kooperationsveranstaltungen mehrerer Kulturträger im Stadtteil werden besonders gefördert«) oder auch in Entscheidungen über fachliche und finanzielle Standards zur Sicherung bestimmter Qualitäten von Infrastrukturleistungen. (c) Verantwortungspartnerschaften: Bei der Wahrnehmung der Aufgabe können Verantwortungspartnerschaften begründet werden, durch die sich weitere Akteure und Beteiligte in die Aufgabenwahrnehmung integrieren lassen. Dies können Privatpersonen, Vereine, Stiftungen, aber auch andere öffentliche Träger sein, die nicht nur an der Finanzierung, sondern sogar an der Trägerschaft von Einrichtungen und Veranstaltungen beteiligt werden können. Auch die Nutzer einer Einrichtung werden meist durch Gebühren oder Entgelte einbezogen. (d) Ausgestaltung: Bei der Ausgestaltung der öffentlichen Kulturaufgabe geht es sodann um die Bereitstellung von Ressourcen und Fördermitteln sowie um Rechtsetzung oder rechtliche Vereinbarungen zur Regelung von Handlungsgrundlagen und Relationen. Unter Berücksichtigung von Autonomie und Eigengesetzlichkeit von Kunst und Kultur kann so Verbindlichkeit geschaffen werden. Dieses kulturpolitische Grundmodell lässt sich auf allen Ebenen und in allen kulturpolitischen Zusammenhängen des Kulturstaates Deutschland anwenden und durchzieht auch alle folgenden Kapitel dieses Buches.

74 | Göschel, 1991 hat auf die oft unbewusst vorhandenen Prägungen der verschiedenen Generationen mit Blick auf die zu verfolgende Programmatik hingewiesen, vgl. S. 11ff. und das Resümee S. 177ff. Die Akteure in der Kommune sollten sich solcher Vorprägungen bei programmatischen Reflexionen bewusst sein, s. dazu näher Kap. V/3.1.

116 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext

2. K ULTURPOLITISCHE E BENEN Das Grundgesetz ist im Ganzen eine »Verfassung des Pluralismus«. Das Bundesstaatsprinzip ist eines der tragenden Prinzipien für die Kulturverfassung der Bundesrepublik Deutschland, denn es stützt Vielfalt durch »Gewaltenteilung« unter den verschiedenen staatlichen Ebenen, doch auch in einem nichtstaatlichen Sinne, insofern viele verschiedene Träger kultureller Förderung in ihrer Freiheit und ihrem Tun geschützt und bestärkt werden. Der Begriff »kultureller Trägerpluralismus« bringt dies als in der Verfassungsrechtslehre einschlägiger Begriff 75 treffend zum Ausdruck: Eine Vielzahl von Kulturträgern wie Staat, Kommunen, Rundfunkanstalten, Kirchen, Gewerkschaften, Verbänden, Parteien etc. bringt sich mit je eigener Gestaltungsmacht und Verantwortlichkeit in die Gemeinschaftsaufgabe »Kultur« ein. Das nunmehr auch durch die UNESCO-Konvention zum Schutz kultureller Vielfalt völkerrechtlich geschützte Pluralitätsprinzip76 genießt im Kulturstaat Deutschland so bereits durch die vom Grundgesetz vorgesehene Trägervielfalt eine grundlegende verfassungsrechtliche Stütze. In den folgenden Abschnitten geht es im Wesentlichen um den Trägerpluralismus innerhalb des Staatsauf baus: Unsere gelebte Kulturverfassung ist entscheidend davon geprägt, dass die verschiedenen Ebenen des Kulturstaates, also Bund, Länder und Kommunen, ihre je eigenen Gestaltungskräfte ausspielen. Eine aktivierende Kulturpolitik sollte sich von folgendem Grundsatz leiten lassen: Sie beschränkt sich nicht auf die jeweils eigene Ebene, sondern setzt auch auf vertikale Bezüge, auf die Gestaltung der Relationen zwischen den staatlichen, regionalen und kommunalen Akteuren. Dabei geht es ihr um die Begründung von Verantwortungspartnerschaften und nicht um das Auseinanderdividieren kultureller Kompetenzen und Potenzen. 2.1 Föderalismus als Prinzip

Kulturstaatlichkeit und Bundesstaatlichkeit gehören in der Bundesrepublik Deutschland untrennbar zusammen. Der Föderalismus ist das prägende Prinzip der Kulturstaatlichkeit. In Politik und Staatsrechtslehre lassen sich zwei unterschiedliche Vorverständnisse des Bundesstaatsprinzips ausmachen:77 Das klassische Föderalismusverständnis geht von einem »kooperativen Föderalismus« aus, der sowohl von einer Kooperation der 75 | Grundlegend dazu Häberle, Vom Kulturstaat …, 1982, S. 46ff. 76 | S. Deutsche UNESCO-Kommission (Hg.), Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen. Magna Charta der Internationalen Kulturpolitik, Bonn 2006 sowie Merkel, 2007.

77 | S. dazu Häberle, Peter, Kulturhoheit im Bundesstaat – Entwicklungen

III. Kulturstaat | 117 Länder untereinander als auch der Länder mit dem Bund geprägt ist. Die Personal-, Sach- und großen Finanzhilfen von Seiten des Bundes und der »alten« Länder beim Auf bau der neuen Länder waren eine spezifische Form der Solidarität und eine ungewöhnlich intensive Bewährungsprobe für den kooperativen Föderalismus. Davon hat der kulturelle Sektor in den neuen Bundesländern stark profitiert. Ein anderes Vorverständnis deklariert die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes auf die Länder als einen »Wettbewerbs-« oder »Konkurrenzföderalismus«. Hinter diesem kompetitiven Föderalismusverständnis steht das Marktmodell mit folgender These: Der Wettbewerb unter den Ländern führt zu einer höheren Qualität staatlichen Handelns. Dazu passt, dass vor allem die südlichen Länder Bayern und Baden-Württemberg immer wieder auf ihre besonderen kulturellen Traditionen und Leistungen verweisen.78 Die föderalistische und damit pluralistische Kulturstaatlichkeit des Bundesstaates Deutschland kann so nicht nur als eine Garantie der »Freiheit der Kultur« angesehen werden, sondern auch als ein Feld für die Ausprägung kultureller Identitäten und Qualitäten. Die Vielfalt der Kulturzentren in Deutschland mit den kulturellen Stärken der Metropolen und Regionen von München bis Hamburg, von Berlin bis zur Metropole Ruhr, vom Rheinland über Frankfurt a.M. bis nach Stuttgart und Nürnberg, von Bayreuth bis Leipzig und Dresden sowie die Vielfalt der regionalen kulturellen Identitäten und Initiativen haben eine weit vor Begründung der Bundesrepublik Deutschland zurückreichende Tradition; sie werden aber auch durch die vom Grundgesetz konstituierte föderative Struktur des Staates anerkannt und als Prinzip konstituiert. Dezentralität und Pluralität sind schon seit Jahrhunderten vorhanden und weiter gewachsen. Der Kulturstaat Deutschland lebt von den kulturellen Potenzialen der Länder, der Städte und Regionen. Seine strukturelle Ausdifferenzierung gewährt kulturelle Offenheit und Freiheit. Damit gibt es keine an einer Stelle konzentrierte »Definitionsmacht« für die Inhalte und Ausrichtung der durch das Grundgesetz in ihrer Freiheit geschützten kulturellen Lebenssachverhalte. Vielmehr werden Kultur und Kulturpolitik in der föderativen Kompetenzordnung des Kulturstaates Deutschland von den unterschiedlichsten Institutionen, Ebenen und Akteuren verantwortet und mitgestaltet.79 Zur Realität von Kulturpolitik und Kulturverwaltung gehören daher Informations-, Entscheidungs- und Finanzierungsvorgänge, die manche und Perspektiven, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft, Jahrbuch für Kulturpolitik 2001, Essen 2002, S. 115ff.

78 | Vgl. dazu ebd., S. 119. 79 | Vgl. zu all dem Hufen, Friedhelm, Gegenwartsfragen des Kulturföderalismus, in: Bayerische Verwaltungsblätter 1985, S. 1ff.

118 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext Kritiker mit »Wildwuchs« bezeichnen und Verwaltungswissenschaftler etwas distanzierter mit »Politikverflechtung« umschreiben.80 Im Verlauf der Föderalismusreform der letzten Jahre wurde daher die »Entfl echtung« von Kompetenzen als eines der Ziele ausgegeben, die zu klareren Strukturen und Verantwortlichkeiten führen sollen. Die Länder haben dabei gerade im Kultursektor darauf gedrungen, ihre Kompetenzen zu stärken und sind gegen weitere Festschreibungen von Bundeskulturkompetenzen zu Felde gezogen.81 Doch insbesondere seit der deutschen Einheit, der Verlagerung der Hauptstadtfunktionen von Bonn nach Berlin, der Konstituierung der Funktion eines Kulturstaatsministers im Bundeskanzleramt, der Wiedereinrichtung eines Kulturausschusses im Deutschen Bundestag im Jahre 1998 sowie der Errichtung der Bundeskulturstiftung ist der Bedeutungszuwachs des Bundes im kulturellen Kompetenzgefüge des Kulturstaates Deutschland unverkennbar. Unbestritten ist, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen für Kunst und Kultur in Form des Urheberrechts, des Sozialversicherungsrechts, des Vereinsrechts, des Stiftungsrechts, des Arbeitsrechts in erster Linie vom Bund gestaltet werden, er also »ordnungspolitisch tätig« ist und dort seine Zuständigkeiten hat und wahrnimmt.82 Das kulturpolitische Handeln in den Ländern basiert auf dem Grundsatz des Artikels 30 GG, nach dem die Ausübung staatlicher Befugnisse und die Erfüllung staatlicher Aufgaben Sache der Länder ist, soweit das Grundgesetz keine andere Regelung triff t oder zulässt. Da für kulturelle Angelegenheiten eine ausdrückliche breite Kompetenzzuweisung an den Bund fehlt, haben die Länder eine umfassende Zuständigkeit für Kultur und Bildung, die vom Bundesverfassungsgericht als »Kulturhoheit der Länder« bezeichnet worden ist. Sie stellt das Kernstück der Eigenstaatlichkeit der Länder dar, weshalb das Bundesverfassungsgericht gerade im Kulturbereich von einem strengen Maßstab hinsichtlich der Annahme von ungeschriebenen Bundeszuständigkeiten ausgeht. Das Grundgesetz habe eine Grundentscheidung für die Zuständigkeit der Länder in kulturellen Angelegenheiten getroffen. Daher verbiete sich gerade in diesem Bereich, ohne eine hinreichend deutliche grundgesetzliche Ausnahmeregelung Zuständigkeiten des Bundes anzunehmen.83 Der Einstieg in eine Entflechtung der Aufgaben von Bund und 80 | So Hufen, ebd., S. 3. 81 | Näher dazu Magdowski, Iris/Scheytt, Oliver, Ein Schritt vor, zwei zurück? Föderalismusreform und die Folgen für die Kultur, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 112 (I/2006), S. 4ff. sowie Wanka, Johanna, Die Kulturpolitik der Länder nach der Föderalismusreform, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 115 (IV/2006), S. 6ff.

82 | Vgl. Enquete-Schlussbericht, S. 55 sowie zu den verschiedenen Rechtsgebieten S. 59ff.

83 | BVerfGE 12, S. 229, ausführlicher dazu Rübsaamen, Dieter, Verfassungs-

III. Kulturstaat | 119 Ländern mit der im Jahre 2006 abgeschlossenen Föderalismusreform I betriff t die Mischfinanzierung der Artikel 91 a und 91 b GG und die Finanzhilfen des Bundes nach Artikel 104 a und 104 b GG. Nach der Reform ist das Tätigwerden des Bundes im Bereich der Kulturellen Bildung an die Zustimmung aller Länder geknüpft. Aus dem neuen Artikel 104 b GG folgt, dass der Bund unter bestimmten konkreten Voraussetzungen Finanzhilfen für besonders bedeutsame Investitionen in den Ländern gewähren kann, doch nicht mehr dort, wo die Länder die alleinige Zuständigkeit innehaben. Als Folge dieser Entflechtung besteht die Gefahr, dass der Bund neue Förderungen kaum mehr aufnehmen kann. Der Bundeskulturpolitik drohen hier Restriktionen.84 Durch die im Zuge der Föderalismusreform erfolgte Neuformulierung des Artikels 23 Abs. 6 GG gibt es eine weitere Verschiebung von Kulturkompetenzen: Wenn im Schwerpunkt ausschließlich Gesetzgebungsbefugnisse der Länder auf den Gebieten der Schulbildung, der Kultur oder des Rundfunks betroffen sind, wird die Wahrnehmung der Rechte, die der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union zustehen, vom Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen. Da der Grundgesetzartikel nunmehr eine »Mussvorschrift« enthält, ist die Koordinierung unter den 16 Ländern zwingend notwendig. Es besteht die Gefahr, dass künftig die Position Deutschlands zu entsprechenden EU-Vorlagen nur noch aus einer »Enthaltung« besteht, da Stellungnahmen aller Länder nicht rechtzeitig eingeholt werden können.85 Da im zunehmenden Maße die Rahmenbedingungen für Kunst und Kultur auf der europäischen und internationalen Ebene mitbestimmt werden, ist eine reibungslose Koordinierung zwischen Bund und Ländern von höchster kulturpolitischer Bedeutung geworden. An diesem Beispiel wird deutlich, dass die durch die Föderalismusreform beabsichtigte Entflechtung von Kulturkompetenzen nicht zwangsläufig eine Reduktion der Komplexität zur Folge hat. Da die Bundesstaatlichkeit die Kulturstaatlichkeit in Deutschland prägt, ist die These, dass Entflechtung zu einer Optimierung kulturpolitischer Aufgabenwahrnehmung führt, leicht zu widerlegen: Schon aufgrund der kulturellen Traditionen in Deutschland und der vielfachen horizontalen und vertikalen Verwobenheit der Kulturstrukturen und -einrichtungen ist eine Kongruenz rechtliche Aspekte des Kulturföderalismus, in: Institut für Kulturpolitik der kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2001, Essen 2002, S. 153ff. sowie Scheytt, Kulturverfassungsrecht – Kulturverwaltungsrecht, 2008, S. 192.

84 | S. dazu näher Enquete-Schlussbericht, S. 55: Diese Befürchtung wird auch durch das Gutachten des Bundesrechnungshofes zur Föderalismusreform II bestärkt, der darin eine strikte Entflechtung der Kulturfinanzierung fordert.

85 | So auch Enquete-Schlussbericht, S. 55.

120 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext zwischen Entflechtung und Stärkung kultureller Potenzen in der kulturpolitischen Praxis allenfalls in Ausnahmefällen nachweisbar. Politische Steuerung muss im kulturellen Sektor mit der Verflechtung kultureller Kompetenzen umgehen können, will sie erfolgreich sein. Das Leitbild ist daher das eines »kooperativen Kulturföderalismus«. Die aktivierende Kulturpolitik lebt nicht von Entflechtung, sondern setzt auf reflektierte und bewusste Verfl echtung von Verantwortlichkeiten, die eine Bündelung kultureller Kompetenzen und ein Zusammenwirken der unterschiedlichen kulturellen Kräfte bewirken kann. Ausgehend von diesem Leitbild eines kooperativen Kulturföderalismus sollte die Kulturpolitik auf den verschiedenen Ebenen des Kulturstaates Deutschland allerdings ihre je spezifische Ausprägung erfahren: •







Kommunale Kulturpolitik gestaltet die Basis des Kulturstaates Deutschland. Vor Ort werden die verschiedensten kulturellen Träger aus Staat, Wirtschaft und Gesellschaft aktiviert. Die Kommunen haben aufgrund der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie einen eigenen Kulturgestaltungsauftrag (Kap. III/2.2). Die Länder sollten ihre Kulturhoheit nicht nur im Verhältnis zum Bund behaupten, sondern vor allem mit Blick auf Kommunen, Regionen und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk aktiv gestalten: Kulturregionen sind als Scharnier zwischen Kommunen und Ländern zu stärken. Die Länder sollten ihre Zurückhaltung im Erlass von Kulturfachgesetzen insbesondere im Bereich der Kulturellen Bildung (Musikschulen, Bibliotheken) aufgeben, um die kulturelle Infrastruktur in diesen Bereichen aus dem Bereich der »freiwilligen Leistungen« herauszuführen. Und schließlich sollten die Länder den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in viel stärkerem Maße als bisher an seinen Kulturauftrag erinnern (III/2.3). Der Bund hat seine Gesetzgebung auf ihre »Kulturverträglichkeit« hin permanent zu überprüfen. Bundeskulturpolitik sollte sich nicht in Bundeshauptstadtförderung erschöpfen, sondern sich den national und international bedeutsamen kulturellen Herausforderungen auf der Basis der Aufgabenverteilung des Grundgesetzes stellen (III/2.4). Die wachsende Bedeutung der Europäischen Union für kulturelle Belange erfordert eine intensive Reflexion europäischer und internationaler Kulturpolitik in Deutschland (III/2.5).

2.2 Kommunale Kulturpolitik

Die kommunale Selbstverwaltung ist in Deutschland eine der Garantien für die Dezentralität und Pluralität kultureller und kulturpolitischer Gestaltung. Das Grundgesetz, die Landes- und Kommunalverfassungen enthalten die rechtlichen Grundlagen für die Kompetenz der Kommunen zur

III. Kulturstaat | 121 Kulturarbeit auf der Basis der kommunalen Selbstverwaltungsgarantien. Nach Artikel 28 Abs. 2 Satz 1 GG wird den Gemeinden das Recht gewährleistet, »alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln«. Den Gemeindeverbänden und den Kreisen wird durch Artikel 28 Abs. 2 Satz 2 GG ebenfalls das Recht der Selbstverwaltung zugesprochen. Diese kommunalen Selbstverwaltungsgarantien, die sich auch in einschlägigen Bestimmungen der Landesverfassungen wiederfinden, umfassen auch eine »Garantie örtlicher Kulturkompetenzen« und damit kommunaler Kulturpolitik.86 Aus den verfassungsrechtlichen Bestimmungen lässt sich eine Ermächtigung der Kommunen zur Selbstdefinition ihres Kulturauftrages ableiten.87 Bei dem zentralen Begriff des Artikels 28 Abs. 2 GG »örtliche Gemeinschaft« schwingen kulturelle Aspekte mit: Eine Gemeinschaft entsteht durch kulturelle Traditionen. Die örtliche Gemeinschaft wird von einer kulturellen Öffentlichkeit geprägt, die einen Interessenzusammenhang beschreibt, der trotz der Vielfalt und Widersprüchlichkeiten der Lebensformen eine gemeinsame Identitätsfindung fördert. Kommunale Kulturarbeit trägt zur »Aktivierung der Beteiligten für ihre eigenen Angelegenheiten« bei und auch zu dem Ziel, »die geschichtliche und heimatliche Eigenart zu wahren«.88 Das Erscheinungsbild einer Kommune wird von ihrer kulturellen Ausstrahlungskraft weitgehend bestimmt. Kulturarbeit ist Motor der Stadtentwicklung. In und durch Kultur wird aber nicht nur der städtische Raum gestaltet, sondern auch die eigene Geschichte gepflegt. Kommunale Selbstverwaltung und die örtliche Gemeinschaft haben ihre Wurzeln in kulturellen Traditionen.89 Aus all dem folgt, dass die Kommunen eine originäre Kulturgestaltungskompetenz besitzen, die durch kommunale Kulturpolitik wahrgenommen wird. Die Gestaltungsmacht und -freiheit, die sich aus der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie für die kommunale Kulturpolitik und -arbeit ergeben, stößt in der Praxis angesichts der Knappheit öffentlicher Haushalte an eine entscheidende kommunalrechtliche und -politische Grenze: die verbreitete Einordnung der Aufgabe Kultur als »freiwillig«. Einer der Gründe dafür ist die mangelnde Bereitschaft der Länder, auf diesem Feld durch gesetzliche Regelungen Klarheit zu schaffen, weshalb oft bürokratische Mechanismen bei der Exekution von Kommunalaufsicht und Haushaltsrecht kulturpolitischen Schaden anrichten. In allen Ländern werden bei defizitärer kommunaler Haushaltslage nach den 86 | Häberle, 1979, S. 23. 87 | Steiner, Udo, Der gemeindliche Kulturauftrag, in: der städtetag 1986, S. 512ff.

88 | Vgl. BVerfGE 11, S. 275f. 89 | S. dazu auch Enquete-Schlussbericht, S. 56 sowie Scheytt, Kulturrecht, 2005, Rn 99ff.

122 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext kommunalverfassungsrechtlichen Vorschriften zunächst die »freiwilligen Leistungen« der Kommune auf den Prüfstand gestellt, denn die »Pfl ichtaufgaben« sind als gesetzlich festgeschriebene Aufgaben in jedem Falle zu erfüllen. Die Praxis der kommunalen Kulturpolitik wird daher allerorten vom Kampf um die Durchsetzung und Erhaltung der »freiwilligen Aufgabe Kultur« bestimmt. Dies hat dazu geführt, dass der Charakter der kommunalen Kulturarbeit als »pflichtige« oder »freiwillige« Aufgabe auch eines der zentralen Themen der kulturrechtlichen Literatur in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten war.90 Bei einer genaueren kulturjuristischen Analyse wird jedoch offenbar, dass eine allgemeine rechtliche Bewertung von Kulturaufgaben als »freiwillig« in Folge ihrer unzureichenden Differenzierung nicht tragfähig ist: Schon im allgemeinen Kommunalrecht finden sich Anknüpfungspunkte für die Herleitung einer Pflichtenlage, nach der die Kommunen auch für die kulturelle Grundversorgung und Daseinsvorsorge Verantwortung tragen (a). Sodann gibt es für die unterschiedlichen Gestaltungsfelder in den Künsten, der Geschichtskultur und der Kulturellen Bildung zum Teil spezifische verfassungsrechtliche und gesetzliche Bindungen, wie etwa spezialgesetzliche Regelungen zu den Musikschulen oder Volkshochschulen (b). Und schließlich haben die Kommunen bei der Ausübung ihrer kulturellen Gestaltungsmacht Ermessensbindungen mit kulturpolitischer Relevanz zu beachten (c). (a) Auftrag zur kommunalen Grundversorgung: Die der kommunalen Kulturpolitik regelmäßig entgegenschlagende Argumentation, Kulturaufgaben hätten »freiwilligen Charakter«, lässt sich schon durch Berufung auf landesverfassungsrechtliche Regelungen und grundgesetzliche Vorgaben widerlegen: Aus einer Vielzahl allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen ergeben sich mehr oder minder konkrete Bindungswirkungen für die Kulturarbeit. Gemeindeordnungen sehen vor, dass die Kommunen öffentliche Einrichtungen auch für das »kulturelle Wohl«, die »kulturellen Belange« der Einwohnerschaft unterhalten.91 Jede Kommune muss also auch Angebote zur kulturellen Betreuung ihrer Einwohner vorhalten, Kulturarbeit ist bei den Selbstverwaltungsentscheidungen in jedem Fall zu berücksichtigen. Den gewährten kulturpolitischen Handlungsspielraum erfüllt die Kommune durch Konkretisierung des grundsätzlichen kommunalrechtlichen Auftrags, ein Kulturangebot vorzuhalten, indem in und durch Kulturpolitik Programme für die Kultureinrichtungen, die Kulturförderung und die

90 | Ein Gesamtüberblick dazu findet sich bei Scheytt, Kulturrecht, 2005, Rn 114ff.

91 | Vgl. etwa § 8 Abs. 1 GONW; § 10 Abs. 2 Satz 1 GO Baden-Württemberg; § 19 Abs. 1 GO Hessen; § 2 Abs. 1 Satz 2 GO Niedersachsen; § 17 Abs. 1 GO SchleswigHolstein; § 2 Abs. 1 GO Sachsen; § 2 Abs. 1 Satz 2 GO Sachsen-Anhalt.

III. Kulturstaat | 123 Kulturveranstaltungen verabschiedet und finanzielle Verpflichtungen eingegangen werden.92 (b) Gesetzliche Verpflichtungen: Entgegen weit verbreiteter Auffassung gibt es in den Bundesländern zu einer Reihe von Kulturaufgaben auch spezialgesetzliche Regelungen, wenn auch Kulturfachgesetze Seltenheitswert haben. Immerhin gibt es ein Bundesland, in dem kommunale Kulturarbeit als Pflichtaufgabe festgeschrieben ist: »Im Freistaate Sachsen ist die Kulturpflege eine Pflichtaufgabe der Gemeinden und Landkreise«, heißt es in § 2 Abs. 1 des Sächsischen Kulturraumgesetzes. Durch dieses Gesetz sind die Landkreise und kreisfreien Städte zu acht ländlichen und drei urbanen Kulturräumen als Zweckverbände zusammengeschlossen worden, die die Gemeinden bei der Wahrnehmung der Kulturaufgaben unterstützen. In Sachsen gibt es daher eine allumfassende klare Festschreibung des Aufgabencharakters der Kulturpflege. Fachgesetzliche Regelungen gibt es in allen Bundesländern zur (kulturellen) Weiterbildung, zum Denkmalschutz, zum Archivwesen – während es zu den Bibliotheken nur in Baden-Württemberg gesetzliche Regelungen gibt93 und zu den Musikschulen immerhin in sechs Bundesländern spezielle gesetzliche Regelungen existieren (Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen und Sachsen-Anhalt). Der Schutz, die Pflege bzw. die Förderung von Kunst und Kultur sind eine staatliche Aufgabe von Verfassungsrang. Die Formulierungen in Landesverfassungen variieren von sehr knappen und allgemeinen Umschreibungen (exemplarisch sei Art. 20 Abs. 2 Verfassung Berlin genannt: »Das Land schützt und fördert das kulturelle Leben.«) bis hin zur konkreten Benennung einzelner Kulturinstitutionen und -bereiche (so wird die Unterhaltung von Theatern als staatliche Aufgabe in Art. 11 Abs. 2 der Verfassung des Freistaates Sachsen und in Art. 36 Abs. 3 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt benannt). Adressaten dieser landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen sind nicht nur die Länder, sondern meist ausdrücklich auch die Kommunen. Kommunale Kulturpolitik hat daher auch aufgrund landes- und kommunalverfassungsrechtlicher Bestimmungen sowie durch eine Reihe von speziellen Kulturfachgesetzen eine verbindliche rechtliche Basis, ist also nicht einfach der beliebigen kommunalen Willensbildung anheim gestellt. (c) Ermessensbindungen: Das »Ob« kommunaler Kulturarbeit hat nach den Ausführungen in den beiden vorangegangenen Abschnitten pfl ichti92 | So auch Enquete-Schlussbericht, S. 88 sowie Scheytt, Kulturrecht, 2005, Rn 119ff. mit weiteren Nachweisen aus der einschlägigen juristischen Literatur.

93 | Gesetz zur Förderung der Weiterbildung und des Bibliothekswesens vom 11. Dezember 1975 i. d. F. vom 20. März 1980.

124 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext gen Charakter und auch das »Wie« ist nicht von jeder Rechtspflicht befreit. Denn die Vorschriften der Gemeinde- und Kreisordnungen zu den öffentlichen Einrichtungen stellen für die Entscheidung, welche Einrichtungen zu unterhalten sind, auf die Belange und das kulturelle Wohl der Einwohnerschaft ab. Bei der Ausgestaltung des Systems an öffentlichen Einrichtungen kommt folglich den Bedürfnissen der Einwohner und deren Ermittlung eine besondere Bedeutung zu. Die Einwohnerinteressen sind ein entscheidender Maßstab bei den Ermessensentscheidungen der örtlichen Gemeinschaft,94 etwa hinsichtlich der Programme und der Ausrichtung kommunaler Kulturinstitutionen. Auch der sich aus Artikel 28 Abs. 2 GG in Verbindung mit den Gemeindeordnungen ergebende Infrastrukturauftrag verpflichtet die Kommunen, kulturelle Aufgaben wahrzunehmen. Insoweit kann von einer »Garantie der kulturellen Grundversorgung« gesprochen werden.95 Es wäre mit dem Kommunalverfassungsrecht nicht vereinbar, wenn die kulturelle Versorgung der Einwohnerschaft allein privater oder unternehmerischer Initiative überlassen bliebe. Welcher »Standard« letztlich garantiert wird, ist im Einzelfall anhand des spartenspezifischen Kulturauftrages unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse zu prüfen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der kommunale Kulturauftrag ein kulturpolitisch zu konkretisierender Kulturgestaltungsauftrag ist.96 Kulturarbeit ist eine generelle pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe, die der kulturpolitischen Prioritätensetzung unter Einbeziehung der Bürger und der kulturellen Öffentlichkeit bedarf. 2.3 Landeskulturpolitik

Die Kulturhoheit der Länder wird als integraler Bestandteil der föderalen Staatsordnung und zugleich als rechtliche Basis für die Vielfalt des Kulturstaates Deutschland angesehen. Sie wird oft als die »Seele des deutschen Föderalismus« bezeichnet.97 Der Begriff der »Kulturhoheit« suggeriert »hoheitliches Handeln«.98 Diese Bedeutung entspricht nicht der Verfassungswirklichkeit. Insbesondere ist die Verabschiedung von Landesgesetzen als stärkste Form hoheitlichen Handelns im Kulturbereich kaum 94 | Vgl. § 10 Abs. 2 Satz 1 GO Baden-Württemberg; § 8 Abs. 1 GO NRW; § 19 Abs. 1 GO Hessen; § 17 Abs. 1 GO Schleswig-Holstein; § 2 Abs. 1 Satz 2 GO Niedersachsen; § 2 Abs. 1 GO Sachsen.

95 96 97 98

| | | |

Scheytt, Kulturrecht, 2005, Rn. 130. So auch Steiner, 2006, S. 209. Vgl. Häberle, 2002, S. 130. Ähnlich Geis, Max-Emanuel, Die »Kulturhoheit der Länder«, in: DöV

1992, S. 522ff.

III. Kulturstaat | 125 anzutreffen. Die Kulturgestaltungsmacht der Länder findet ihren Niederschlag vor allem in der Trägerschaft (eigener) größerer Kultureinrichtungen – wie Museen und Theater – und in der Förderung und Finanzierung von Kultureinrichtungen, -initiativen und -veranstaltungen von anderen Kulturträgern, insbesondere den Kommunen. Schon aus dieser Skizze der praktischen Landeskulturpolitik wird deutlich, dass der Begriff der »Kulturhoheit«, der eigentlich eine Befugnis zum Eingriff in Rechte der Bürger zur Wahrnehmung einer staatlichen Aufgabe unterstellt, wenig angemessen ist.99 Treffender wäre es, die dienende Funktion des Staates für das Individuum und die Gemeinschaft durch die Verwendung des Begriffes »Kulturauftrag der Länder« deutlich zu machen.100 In welcher Form und mit welchen Mitteln die Länder ihren öffentlichen Kulturauftrag für jeden einzelnen Bereich wahrnehmen, ist letztlich durch kulturpolitische Diskussionen, Verhandlungen und Entscheidungen zu konkretisieren. Die Ausgangsfrage für einen solchen kulturpolitischen Diskurs lautet: Worin besteht der öffentliche Auftrag des Landes zur Kulturförderung in den verschiedenen Bereichen? Die Verantwortung des Landes würde leerlaufen, wenn sie nicht auch eine bestimmte Mindestqualität des Kulturangebotes umfassen würde. Um diese zu garantieren, gibt es verschiedene mögliche Handlungsweisen, die je nach Kultursparte differieren. Dabei geht es nicht nur um den Erlass gesetzlicher Regelungen, sondern auch um die Ausgestaltung von Förderstrukturen und Bedingungen sowie die Festlegung von Qualitätsstandards. Anhand von drei wesentlichen Aufgabenfeldern der Landeskulturpolitik, die allerdings von den Ländern teilweise nicht mit hinreichender Stärke wahrgenommen werden, soll dies exemplarisch erörtert werden: regionale Kulturarbeit (a), Rechtsetzung insbesondere im Bereich der Kulturellen Bildung (b), Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (c): (a) Regionale Kulturarbeit: Fast alle Länder betreiben eine sogenannte »regionale Strukturpolitik«, die eine spezifische Form der Wirtschaftsförder99 | Lammert, Norbert, In bester Verfassung? Oder: Der Kulturstaat als Kompetenzproblem, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2001, Essen 2002, S. 75ff., 76, kommentiert den Begriff wörtlich so: »Ein Staat, der der Kultur mit hoheitlicher Gebärde begegnet, ist sicher kein Kulturstaat.«

100 | Als der damalige Staatsminister Michael Naumann den Begriff »Kulturhoheit« als »Verfassungsfolklore« bezeichnete, wollte er genau dies ins Bewusstsein rufen (Die Zeit, Nr. 45/2000). Vgl. dazu auch Geis, Max-Emanuel, Kulturföderalismus und Eigengesetzlichkeit: Eine juristische Symbiose, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2001, Essen 2002, S. 139ff.; sowie Rübsaamen, 2002, S. 156.

126 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext politik darstellt. Dabei geht es darum, vorhandene strukturelle Schwächen auszugleichen und/oder besondere Stärken der Ballungsräume und Regionen zu nutzen und auszubauen. Landeskulturpolitik könnte in viel stärkerem Maße als bisher die Landespolitik auf die kulturellen Stärken der Regionen aufmerksam machen und Strukturpolitik an kulturellen Werten orientieren.101 Durch eine solche kulturbasierte Strukturpolitik und kulturbezogene Infrastrukturpolitik 102 für die Lebensqualität in der Region würden damit qualitative Aspekte politische Handlungsziele. Diese bezögen sich auf eine regionale Kulturlandschaft, in der Wohnen und Freizeit, Leben und Arbeit, Bildung und Kultur zusammengedacht werden, bewegen sich doch die Menschen meist nicht nur in einer einzelnen Kommune, sondern in Ballungsräumen und Regionen. Eine Region ist die größte Gebietseinheit eines Landes. Sie ist gekennzeichnet durch eine geschichtliche oder kulturelle, geografische oder wirtschaftliche Homogenität.103 Auf regionaler Ebene hat sich in den Ländern eine Vielzahl unterschiedlichster regionaler Zusammenschlüsse und Netzwerke gebildet. Je nach Bundesland gibt es Kulturbüros, Kultursekretariate, Kulturräume und -regionen, die Mittlerinstanzen einer aktivierenden regionalen Landeskulturpolitik sind.104 Fünf Elemente lassen sich benennen, die je nach Form der Durchsetzung von Landeskulturpolitik auf regionaler Ebene unterschiedlich stark ausgeprägt sind:

101 | Zum Ansatz in NRW s. näher Sievers, Norbert, »Aktivierende Kulturpolitik in Nordrhein-Westfalen«. Aufstieg und Fall einer landeskulturpolitischen Konzeption, in: Behrens, Fritz/Heinze, Rolf G./Hilbert, Josef/Stübe-Blossey, Sybille (Hg.), Ausblicke auf den aktivierenden Staat. Von der Idee zur Strategie, Berlin 2005, S. 337ff.

102 | Dazu Kramer, Dieter, Metropolen und Umland: Kulturanalyse und Kulturpolitik. Von der »kulturellen Mitversorgung« der Region zur »kulturbasierten Infrastrukturpolitik«, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2006, Essen 2006, S. 255ff., 262f.

103 | Vgl. dazu Schneider, Wolfgang, Von Kulturräumen, Netzwerken und Zweckverbänden. Kommunalpolitische Strategien einer Entwicklungsplanung für Kultur, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2006, Essen 2006, S. 335ff.

104 | Einen ersten umfassenden Überblick geben Groß, Torsten/Röbke, Thomas, Modelle regionaler Kulturarbeit (Materialien des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft, Heft 4), Bonn 1998 sowie Röbke, Thomas/Wagner, Bernd, Regionale Kulturpolitik. Kommentierte Auswahlbibliographie (Materialien des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft, Heft 2), Bonn 1997. Zur Kulturregion Stuttgart s. den in Hanika/Wagner, 2004 dokumentierten Kongress.

III. Kulturstaat | 127 • • • • •

eigene Ressourcen; eigene kulturpolitische Kompetenzen; eigene demokratisch legitimierte Entscheidungsinstitutionen; selbständige Institutionalisierung oder kooperative, auf vorhandenen Institutionen aufsetzende Strukturen; Addition bestehender Kultureinrichtungen, -programme und -projekte oder zusätzliche eigenständige Angebote.105

Ein Paradebeispiel für eine nunmehr schon langjährig funktionierende intensive regionale Landeskulturpolitik ist in Sachsen zu studieren: Das Sächsische Kulturraumgesetz dient zum einen dem Erhalt der kulturellen Substanz und der kulturellen Infrastruktur und ermöglicht gleichzeitig die Partizipation vieler Akteure aus Land, Regionen und Kommunen. Neben dem Kulturkonvent mit den Bürgermeistern und Landräten gibt es den Kulturbeirat mit Experten der förderfähigen Sparten sowie Facharbeitsgruppen, der eine Vielzahl interessierter Personen in die kulturpolitische und -praktische Arbeit einbindet. Jedem der acht Kulturräume werden aus Landesmitteln besondere Zuwendungen zur Verfügung gestellt. Das Gesetz eröff net so Möglichkeiten für einen kulturpolitischen Diskurs, der sowohl Kreativität freisetzt, als auch im Sinne des Solidaritätsprinzips darauf abzielt, dass sich Partner stärkerer Finanzkraft mit Schwächeren einigen müssen, wie die Mittel verteilt werden. Es ist offensichtlich, dass solche Prozesse der Identitätsfindung durch Identifi kation dienen und das Gefühl der Zugehörigkeit zur Region stärken.106 Ähnliche Ziele und Prozesse ergeben sich bei der Einführung von Kulturentwicklungsplänen auf Landesebene oder der Entwicklung von Kulturkonzeptionen.107 Bemerkenswert ist, dass auf diesem Feld die neuen Bundesländer in den letzten Jahren eine führende Rolle einnehmen. Während etwa das Sächsische Kulturraumgesetz regionale Landeskulturpolitik gesetzlich fundiert und Landeskulturentwicklungspläne wie in Brandenburg einen Gesamtanspruch verfolgen, setzt die regionale Kulturpolitik in Nordrhein-Westfalen auf einen dezentralen Ansatz ohne durchgehende Formalisierung. Die Kulturregionen haben in NRW ihre eigenen Gremien entwickelt; Beiräte arbeiten auf freiwilliger Basis; die Ziele werden in den Regionen formuliert und projektbezogen umgesetzt; die insgesamt zehn 105 | Ähnlich Schneider, 2006, S. 337. 106 | S. dazu Kramer, 2006, S. 261; sowie Knoblich, Tobias J., Ballungsraum versus Kulturraum, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 110 (III/2005), S. 11ff.

107 | Bahnbrechend war die Kunstkonzeption Baden-Württemberg. Einen ersten Kulturentwicklungsplan hat das Land Brandenburg eingeführt. In SachsenAnhalt existiert ein Landeskulturkonzept, ähnliche Bestrebungen gibt es auch in Mecklenburg-Vorpommern, während die Regierung in Thüringen 2005 ein Kulturkonzept vorgestellt hat. Vgl. dazu Enquete-Schlussbericht S. 93.

128 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext Kulturregionen sind nicht abschließend voneinander abgegrenzt. Insofern setzt dieser Ansatz sehr auf die endogenen Kräfte – ohne eine durchgängige Strukturierung seitens des Landes. Diese Beispiele lassen erkennen, dass »Regional Governance« in der Kulturpolitik in den nächsten Jahren voraussichtlich zunehmende Bedeutung erlangen wird. Landeskulturpolitik hat sich mit diesen Ansätzen im Sinne einer aktivierenden Kulturpolitik erneuert: Sie setzt ebenso auf eigenverantwortliches Handeln der einzelnen Akteure wie auf eine gemeinsame Verantwortung von Politik, Verwaltung und Kultureinrichtungen. Entscheidend ist dabei, eine Balance zwischen Eingriff und Autonomie zu finden und die kulturpolitischen Ziele in gemeinsamer Verantwortung festzulegen, auch um die Ressourcen für Kultur in Abstimmung mit allen Beteiligten, den freien Trägern, den Kommunen, den regionalen Organisationen und dem Land optimal einzusetzen. Dabei geht es weniger um eine Trennung der Aufgaben, als vielmehr um eine Bündelung von Ressourcen und die Entwicklung transparenter Förderstrukturen, die eine aufgabenbezogene oder auch projektscharfe Kooperation der Beteiligten ermöglichen. Eine solche aktivierende regionale Kulturpolitik folgt den Prinzipien von Effektivität, ökonomischer Effizienz und Kohärenz.108 (b) Kulturelle Bildung: Die Länder lassen eine starke Zurückhaltung beim Erlassen von Kulturfachgesetzen erkennen. Dem liegt auch das Verständnis zugrunde, dass die Angelegenheit »Kultur« nicht gesetzlich zu regeln sei, dass die kommunale Selbstverwaltung eingeschränkt oder gar bedroht würde, wenn Landesgesetze zum Kulturbereich erlassen werden. Diese Auffassung ist mit Blick auf solche Kulturbereiche verständlich, in denen eine gesetzliche Normierung und die daraus folgende »Gleichmacherei« dem Charakter des jeweiligen Bereiches widerspräche: So ist das von künstlerischer Individualität geprägte Theaterwesen kein Feld für gesetzliche Regelungen. Demgegenüber zeigen aber auch die Erfahrungen in anderen europäischen Ländern, dass Bibliotheken und Musikschulen durch gesetzliche Regelungen durchaus eine Stärkung und Sicherung erfahren können. Aus diesem Grunde hat die Enquete-Kommission den Ländern empfohlen, Bibliotheks-109 und Musikschulgesetze110 zu sichern. Da es erst ein Bundesland mit gesetzlichen Regelungen zum Bibliothekswesen (Baden-Württemberg) und sechs Bundesländer mit gesetzlichen Regelungen zum Musikschulwesen gibt, liegt hierin eine weitreichende Aufgabe für die Landeskulturpolitik in den nächsten Jahren (näher dazu in Kap. VI).

108 | Ebd., S. 93. 109 | Ebd., S. 132f. 110 | Ebd., S. 399.

III. Kulturstaat | 129 (c) Öffentlich-rechtlicher Rundfunk: Eine ganz besondere Ausprägung hat die Kulturhoheit der Länder in der Verantwortlichkeit für den öffentlichrechtlichen Rundfunk und dessen Kulturauftrag. Der Rundfunkstaatsvertrag enthält in § 11 Abs. 2 Satz 4 eine besondere Verpflichtung gegenüber der Kultur. So soll der öffentlich-rechtliche Rundfunk »Beiträge insbesondere zur Kultur« anbieten. Dabei soll die gesamte Bandbreite des gesellschaftlichen Lebens und die kulturelle Vielfalt widergespiegelt werden. Diese Bestimmungen des Rundfunkstaatsvertrages werden auch als Verpflichtung angesehen, dass der öffentliche Rundfunk kulturelle Ereignisse, Werke bzw. Erlebnisse selbst schafft, etwa durch die Pflege der rundfunkeigenen Klangkörper, die Produktion von Hörspielen etc. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird damit selbst zum »Kulturträger« und leistet einen Beitrag zum kulturellen Trägerpluralismus im Kulturstaat Deutschland.111 Die Rundfunkanstalten haben sich in ihren Selbstverpflichtungsleitlinien zu ihrem kulturellen Auftrag bekannt. So heißt es zum Beispiel bei der ARD, sie sei »in allen Bereichen der Kultur und des kulturellen Lebens in Deutschland« als »Faktor und Medium zugleich« tätig; die Kultur sei eine »Kernaufgabe des öffentlich-rechtlichen Fernsehens«. Auch beim ZDF wird die Kultur übergreifend als »Leit- und Querschnittsprinzip« in seinen »gesamten programmlichen Leistungen« definiert. Dies geschehe im »Bewusstsein, dass Kultur einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung eines demokratischen, zivilisierten und pluralistischen Gemeinwesens leistet«.112 Allerdings fehlt es an einer klaren Defi nition des Kulturbegriffs. Diese ist für eine Präzisierung des Kulturauftrages unbedingt erforderlich. Landeskulturpolitik sollte durch entsprechende Einwirkung auf die Rundfunkanstalten dafür Sorge tragen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk seine Verantwortung für die Kultur aktiv wahrnimmt. Nach der Enquete-Kommission gehören zum Kulturauftrag folgende Elemente: • • • •



die Kulturberichterstattung als eine seiner Kernaufgaben zu betrachten; die klassische und die zeitgenössische Kultur gleichermaßen zu fördern; kulturelle Sendungen für unterschiedliche Zielgruppen auszustrahlen; die deutsche und europäische Kultur zu pflegen, über Weltkulturen und deren Entwicklung zu informieren und den interkulturellen Austausch zu fördern; Impulse für die Qualitätsentwicklung und die unterschiedlichen Genres zu geben, darunter auch solche der Pop- und Jugendkultur, so111 | Vgl. dazu ebd., S. 150. 112 | Zitiert nach ebd., S. 151.

130 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext

• •

wie für neue Formen der Mediennutzung unter den Bedingungen der »digitalen Welt«; durch eigene Klangkörper und als Veranstalter bzw. Veranstaltungsförderer selbst als Kulturträger zu fungieren und zur Kulturellen Bildung einen wichtigen Beitrag zu leisten.113

Die Länder sollten daher den Kulturauftrag in diesem Sinne in den Rundfunkstaatsverträgen präzisieren. Dessen Erfüllung sollte regelmäßig evaluiert werden, möglichst durch eine unabhängige externe Institution.114 Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sollten den in den Rundfunkstaatsverträgen fi xierten Kulturauftrag in Form von Leitlinien und Selbstverpflichtungen konkret ausgestalten und dabei stärker quantifizierbare Festlegungen bezüglich Sendezeit, Anteile, Erstausstrahlungen, Genrevielfalt etc. vornehmen. Besonders wichtig ist es, dass Beiträge zur Kultur auch in den Hauptprogrammen größeren Raum einnehmen, um kulturelle Themen auch an eine breitere Öffentlichkeit zu vermitteln. Dazu zählt auch, dass die öffentlichen Rundfunkanstalten sich im Wege der Selbstverpflichtung darauf einlassen, die Kulturberichterstattung als festen Bestandteil ihrer Hauptnachrichtensendungen zu verankern. Die Klangkörper sind bedeutende Instrumente des Kulturauftrags, der auch durch rundfunkspezifische Kunstformen wie Hörspiel und Fernsehspiel erfüllt wird. Landeskulturpolitik sollte nicht nur die »Kulturhoheit« wie eine Monstranz vor sich hertragen, sondern insbesondere auf den drei eben skizzierten Feldern eine aktivere Rolle einnehmen. Eine Aktivierung der regionalen und kommunalen Akteure, der Träger Kultureller Bildung sowie der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten ist nicht allein von der Bereitstellung zusätzlicher Ressourcen abhängig, sondern bedarf vielmehr der Gestaltung von Relationen und einer klug austarierten Rechtsetzung. 2.4 Bundeskulturpolitik

Bundeskulturpolitik hat in den letzten zehn Jahren eine gesteigerte Aufmerksamkeit und Bedeutung erfahren. Dazu hat eine Reihe von Faktoren beigetragen. Mit dem Amtsantritt von Gerhard Schröder als Bundeskanzler wurde erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik das Amt eines Staatsministers für Kultur und Medien eingerichtet.115 Auch in der Großen 113 | S. ebd., S. 153. 114 | So die Handlungsempfehlung der Enquete-Kommission im Schlussbericht, S. 157.

115 | S. dazu Schmidt, Thomas E., Schneisen durch den föderalen Dschungel, Rückblick auf die Kulturpolitik der Regierung Schröder, in: Hoff mann, Hil-

III. Kulturstaat | 131 Koalition ab 2005 unter Führung von Angela Merkel ist diese Funktion erhalten geblieben und hat mit Bernd Neumann inzwischen den vierten Amtsinhaber. Ebenfalls seit dem Regierungswechsel 1998 hat der Deutsche Bundestag einen eigenständigen Kulturausschuss konstituiert, so dass auch auf Seiten des Parlaments eine intensivere fachpolitische Begleitung kultureller Aufgabenwahrnehmung auf Bundesebene stattfindet. Die Bundestagspräsidenten bzw. Vizepräsidenten, die sich wechselseitig im Amt abgelöst haben, Norbert Lammert und Wolfgang Thierse, sind ausgewiesene Kulturpolitiker. Seit 1998 gibt es eine verstärkte kulturpolitische Reflexion und Begleitung auf Bundesebene durch die Kulturpolitische Gesellschaft, insbesondere durch die seit 2001 alle zwei Jahre stattfindenden kulturpolitischen Bundeskongresse und die seit 2001 erscheinenden Jahrbücher für Kulturpolitik 116 sowie durch den Deutschen Kulturrat.117 Der Bund hat sich nicht nur durch seine Gesetzgebung zu kulturrelevanten Themen (Urheberrecht, Stiftungsrecht, Steuerrecht), sondern auch durch eine kontinuierlich angehobene fi nanzielle Förderung für kulturelle Aufgaben kulturpolitisch verstärkt engagiert. Besonders hervorzuheben ist die Neugründung der Kulturstiftung des Bundes im Jahr 2002, die Förderung kultureller Aufgaben in den neuen Bundesländern, die Hauptstadtkulturförderung und neue Initiativen im Bereich der Film- und Musikwirtschaft. All diese Aktivitäten wurden in der Arbeit der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« des Deutschen Bundestages gebündelt reflektiert und begleitet. Die Enquete-Kommission hat Ende 2007 das umfassendste Dokument zur Kulturpolitik in Deutschland seit Begründung der Bundesrepublik vorgelegt. Aus all dem wird deutlich, dass weder die Kommunen noch gar die Länder aufgrund ihrer Kulturhoheit allein die Deutungshoheit in der Kulturpolitik für sich beanspruchen können.118 Wenn noch in den 1970er und 1980er Jahren der Kulturausschuss des deutschen Städtetages und die Tagungen der Kulturpolitischen Gesellschaft die beiden entscheidenden Diskursplattformen für Kulturpolitik in Deutschland darstellten, ist inzwischen eine ganze Reihe neuer kulturpolitischer Foren und Arenen entstanmar/Schneider, Wolfgang (Hg.), Kulturpolitik in der Berliner Republik, Köln 2002, S. 29ff.

116 | Auch die Kulturpolitischen Mitteilungen, das Fachorgan der Kulturpolitischen Gesellschaft, thematisieren permanent Bundeskulturpolitik.

117 | Vor allem durch seine aktive Öffentlichkeitsarbeit und die alle zwei Monate erscheinende Zeitung Politik und Kultur.

118 | Lammert, Norbert, Zwischenrufe. Politische Reden über Geschichte und Kultur, Demokratie und Religion, Berlin 2008, S. 171: Es »wird niemand vernünftigerweise den Kulturstaat Deutschland im allgemeinen bekräftigen und gleichzeitig die Mitverantwortung des Bundes für den Kulturstaat bestreiten wollen.«

132 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext den, insbesondere in Berlin durch die Verlagerung der Hauptstadtfunktion von Bonn nach Berlin. Die neue Aufmerksamkeit und die sich in der Praxis wandelnde Rolle des Bundes in der deutschen Kulturpolitik wurden allerdings in den letzten zehn Jahren durch eine permanente Debatte über die Kompetenzen des Bundes im Kulturbereich begleitet.119 Dabei waren für Beobachter der Szenerie insbesondere zu Beginn der Einrichtung des Amtes eines Staatsministers für Kultur reflexhafte Reaktionen der Länder auszumachen, die einerseits auf das Geld des Bundes für die ihnen wichtig erscheinenden Angelegenheiten nicht verzichten wollen, aber andererseits – ihre Kulturhoheit vehement verteidigend – Aktivitäten des Bundes im kulturellen Sektor rasch mit dem Etikett der Verfassungswidrigkeit brandmarken. Besonders instruktiv ist der Rückblick auf den Stand der aktuellen Debatte in den Jahren 2001 und 2002, der sich etwa in den mehreren hundert Seiten des Jahrbuchs für Kulturpolitik 2001 des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft niedergeschlagen hat. Damals war die »Entflechtungsdebatte« bereits auf einem ihrer Höhepunkte angelangt. Staatsminister Julian Nida-Rümelin hatte Ende 2001 den Chef der Staatskanzleien der Länder seine Positionsbestimmung für die Bund-LänderEntflechtungsgespräche übermittelt 120 und einen pragmatischen Weg für einen neuen Konsens des Zusammenspiels zwischen Bund und Ländern vorgeschlagen. Die verfassungsrechtlichen und kulturpolitischen Details der sich daran anschließenden Debatten und Auseinandersetzungen erschließen sich nicht einmal dem Fachmann.121 Die Föderalismusreform von 2006 hat zweifelsohne zu keinen Verbesserungen der kulturpolitischen Aufgabenwahrnehmung auf Länderebene geführt, obwohl es bei den Kulturkompetenzen eine Stärkung der Länder gegeben hat.122 Sucht 119 | Köhler, Gerhard, Der Bund – Partner für Kulturförderung. Das Gerangel um die »Kulturhoheit« der Länder verliert an Elan, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 120 (I/2008), S. 73ff. sieht allerdings schon eine Entspannung der heftigen Debatte nach der Föderalismusreform.

120 | S. Nida-Rümelin, Julian, Perspektiven des Kulturföderalismus in Deutschland, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2001, Essen 2002, S. 63ff., 67.

121 | Die vorzügliche Analyse von Dieter Rübsaamen, der Leitungsfunktionen im Sekretariat der Kultusministerkonferenz innehatte, gibt einen Einblick in diese Details mit zahlreichen Hinweisen darauf, dass es trotz der komplizierten verfassungsrechtlichen Lage eine Fülle von Möglichkeiten zum Konsens über eine abgestimmte Verantwortlichkeit auf der einen oder eine gemeinsame Aufgabenwahrnehmung auf der anderen Seite gibt. S. Rübsaamen, 2002.

122 | S. dazu Enquete-Schlussbericht S. 54f.: Der Einstieg in eine Entflechtung der Aufgaben von Bund und Ländern betriff t die Mischfinanzierung der Art. 91a und 91b GG. Auch die Finanzhilfe des Art. 104a und 104b GG wurde geändert.

III. Kulturstaat | 133 man nach den tieferen Gründen der Auseinandersetzungen und des Scheiterns von Versuchen einer verstärkten Kooperation etwa im Zusammenlegen der Kulturstiftung des Bundes und der Kulturstiftung der Länder, das auf Widerstand einzelner Ministerpräsidenten gestoßen ist, lassen sich drei wesentliche tiefgründige Faktoren ausmachen: (a) Veränderte Verfassungswirklichkeit: Das Grundgesetz konstituiert jenseits der Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes mit kultureller Relevanz (wie zum Beispiel Steuerrecht, Urheberrecht, Künstlersozialversicherungsrecht, Stiftungsrecht, Buchpreisbindung) kaum eine gesicherte Basis für das neben der Rechtsetzung zweite wesentliche kulturpolitische Handlungsinstrumentarium: die Bereitstellung von Ressourcen. Die Verfassungswirklichkeit hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert – schon durch die Fortentwicklung der Kulturfördertraditionen des Bundes, die deutsche Einheit, eine Neuausrichtung der internationalen Kulturarbeit, die Eingebundenheit in die Europäische Union, die Globalisierung und die verstärkte Bedeutung der Kulturwirtschaft etc. Auch die Verfassungsrechtslage und die Verfassungsrechtslehre sind noch weitgehend auf dem Stand zu Zeiten der Entstehung des Grundgesetzes und der Bundesrepublik Deutschland. Zudem hat die jüngere Rechtsliteratur – von einigen Ausnahmen abgesehen – diese gesellschaftlichen Entwicklungen kaum aufgegriffen.123 (b) »Kulturhoheit« als politischer Reflex: Die verfassungsrechtlich »reine Lehre« von der Kulturhoheit der Länder, die als Seele des Föderalismus angesehen wird, führt bei jeglicher interner und öffentlicher Debatte zum politischen Reflex der Föderalisten, die ihre eifrigsten Kulturhoheitsverfechter in den jeweiligen Ministerpräsidenten der Bundesländer haben. Danach kann der Bund unter bestimmten konkreten Voraussetzungen Finanzhilfen für besonders bedeutsame Investitionen in den Ländern gewähren, aber nicht mehr dort, wo die Länder die alleinige Zuständigkeit innehaben. Zudem wurde durch die Neuformulierung des Art. 23 Abs. 6 GG die Wahrnehmung der Rechte der Bundesrepublik Deutschland in der EU auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen.

123 | Instruktiv ist dazu etwa die Debatte über die Einführung einer kulturellen Staatszielbestimmung, vgl. dazu Enquete-Schlussbericht, S. 69ff. sowie die dort wiedergegebenen Protokolle zu den Anhörungen mit Staatsrechtslehrern. Aus der juristischen Literatur sei als Beispiel benannt Pabel, 2003, die in keiner Weise auf aktuelle tatsächliche Entwicklungen eingeht. Anders aber Weck, Bernhard, Verfassungsrechtliche Legitimationsprobleme öffentlicher Kunstförderung aus wirklichkeitswissenschaftlicher Perspektive, Berlin 2001. Ohne verfassungspolitische Konsequenzen einer an der Wirklichkeit orientieren Analyse bleibt Steiner, 2006, S. 712ff., 716f.

134 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext Diese wiederum haben in den letzten Jahren verstärkt Kultur zur »Chefsache« erklärt, indem sie dem Modell auf Bundesebene folgend Staatssekretäre in ihren Staats- und Senatskanzleien statt eigenständige Minister und Senatoren zu den obersten Sachverwaltern kultureller Angelegenheiten gemacht haben (so in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Berlin, Bremen). (c) Bürokratische Exekution: In diesem Gemisch von nicht hinreichend geklärter Verfassungsrechtslage und hochpolitischer Aufladung bekommt die Exekution der kulturpolitisch bedeutsamen Kompetenzfrage durch die Ministerialbürokratie unter Begleitung der in Kulturfragen notorisch zurückhaltenden Kultusministerkonferenz ein besonderes Gewicht. Diese Gesamtsituation hat dazu geführt, dass die Bemühungen um eine Systematisierung der Kulturförderung von Bund und Ländern, die in verschiedene Arbeitspapiere eingeflossen sind,124 bisher noch nicht zu einer Einigung von Bund und Ländern geführt haben. Die entsprechenden Arbeitspapiere ordnen die vom Bund in Anspruch genommenen Zuständigkeiten nach verfassungsrechtlich unstreitigen (sogenannter Korb 1) und verfassungsrechtlich streitigen (sogenannter Korb 2).125 Für neue, kompetenziell ungesicherte Förderungsmaßnahmen des Bundes ist ein sogenanntes Konsultationsverfahren vorgesehen. Dieses soll sicherstellen, dass das aus dem Bundesstaatsprinzip und dem allgemeinen Gleichheitssatz folgende, sogenannte föderale Gleichbehandlungsgebot im Verhältnis zu den Ländern zur Geltung kommt. Bisher ist es jedoch nicht zu einer Einigung gekommen. Gründe dafür liegen auch darin, dass nach diesem Konsultationsverfahren jedes einzelne Land ein Vetorecht haben sollte. Darüber hinaus verlangten die Länder die Vereinbarung von Finanzierungsgrundsätzen, die »fast zu Automatismen in den Förderentscheidungen geführt hätten: Wenn Du, lieber Bund, im Lande X förderst, musst Du ein ›Gleiches‹ auch in den anderen Ländern fördern. Das klingt zwar wie Gleichbehandlung und Fördergerechtigkeit, aber es hätte den ja immer auch kulturpolitischen Entscheidungsspielraum in Regierung und Parlament des Bundes quasi auf Null reduziert.«126 Insgesamt wird immer öfter betont, dass der gewachsene Kulturföderalismus derart vielgestaltig ist, dass an ihm alle reinen Entflechtungskonzepte scheitern müssen. Zu Recht stellt Norbert Lammert daher die Frage, ob 124 | Vgl. dazu Nida-Rümelin, 2002, S. 69; Nevermann, Knut, Bund und Länder in der Kulturpolitik. Anmerkungen zur Entflechtung und Systematisierung, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2006, Essen 2006, S. 245ff.

125 | S. dazu im Einzelnen Nevermann, 2006, S. 250ff. 126 | Nevermann, 2006, S. 247.

III. Kulturstaat | 135 der Kulturstaat Deutschland als Kompetenzproblem in bester Verfassung anzusehen sei.127 Die Verantwortung von Ländern und Kommunen in der Kulturförderung werde durch ein stärkeres kulturpolitisches Engagement des Bundes nicht nur nicht beeinträchtigt, sondern im Ergebnis gestärkt.128 Doch die Erfahrungen mit den Verhandlungen in der Entflechtungsdebatte bringen ihn zu dem Schluss: »Der deutsche Kulturföderalismus ist als Prinzip ebenso unbestritten wie er in seiner Praxis schwierig ist. Allen für die Kulturpolitik Verantwortlichen in Bund und Ländern sollte bewusst sein, dass die Kultur in Deutschland nicht eine sterile Kompetenzdebatte, sondern ihr gemeinsames Engagement verdient.«129 Vor diesem Hintergrund gibt es nur zwei kulturpolitische Wege: • •

eine Änderung der verfassungsrechtlichen Lage; ein politisch pragmatisches Handeln jenseits politischer Reflexe und ministerialbürokratischer Rationalität.

Da auf absehbare Zeit kaum eine tragfähige politische Mehrheit für die erste Option besteht, bleibt letztlich ein politischer Pragmatismus. Dabei zeigt eine Analyse der realen Verhältnisse, dass der Bund aufgrund seiner unstreitigen Gesetzgebungskompetenzen einerseits und der tatsächlichen Fördervolumina andererseits – immerhin enthält der Bundeshaushalt ein Volumen von über 1 Mrd. Euro für Kulturförderung – erhebliches kulturpolitisches Potenzial besitzt. Der Bund ist entscheidend mitverantwortlich für die gesetzlichen Rahmenbedingungen der Kultur in Deutschland. Davon profitieren auch Länder und Kommunen.130 Fragt man danach, was den Kulturstaat Deutschland ausmacht, so hat der Kulturföderalismus unzweifelhaft Vorteile für die Vielfalt in der Förderung und die Offenheit für die Entwicklungen vor Ort. Doch Deutschland ist seit Jahrhunderten immer zugleich national und regional orientiert. »Bach ist kein Thüringer Komponist, Goethe kein hessischer Dichter, Beuys kein rheinischer Künstler, wenn auch jeweils regionale Bezüge in ihrem Werk wirksam geworden sind.«131 Was diese Künstler geschaffen haben, ist kulturelles Erbe der ganzen Nation und nicht nur der Thüringer, Hessen oder Rheinländer. Dies gilt auch für zeitgenössische

127 128 129 130

| | | |

S. Lammert, 2002, S. 75ff. Ebd., S. 76. Ebd., 2002, S. 80. Ein Überblick zu den gesetzlichen Regelungen gibt der Enquete-

Schlussbericht, S. 56ff. (Wettbewerbs- und Vergaberecht, Zuwendungsrecht, Steuerrecht, Gemeinnützigkeitsrecht, Urheberrecht, Sozial- und Arbeitsrecht, Kinderund Jugendhilferecht, Medienrecht, Rundfunkrecht, Presserecht).

131 | Nida-Rümelin, 2002, S. 64.

136 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext Künstler, für den Erhalt des Geschichtsbewusstseins in den Institutionen der Geschichtskultur und die Vermittlung durch Kulturelle Bildung. Zudem gibt es ein über Jahrzehnte gewachsenes und im Grundsatz kooperatives Miteinander in der Kulturförderung, dessen radikale Infragestellung dem Kulturstaat Deutschland irreversible Schäden zufügen würde. Das schließt eine Bemühung um eine Systematisierung der Verantwortlichkeiten nicht aus.132 Verantwortungspartnerschaften leben davon, dass sich jeder Partner bewusst ist, welchen Beitrag er im Einzelnen zu dieser Partnerschaft leistet und welche Möglichkeiten der Mitwirkung an den Entscheidungen er jeweils hat. Eine klare Aufgaben- und Verantwortungsteilung ist daher sachgerecht und förderlich. Daher sollte eine pragmatische Lösung angestrebt werden, wie im Papier »Eckpunkte für die Systematisierung der Kulturförderung des Bundes und der Länder« vom 26. Juni 2003 vorgeschlagen.133 Unstreitige Fördergegenstände des Bundes sind danach die Auswärtige Kulturpolitik, die Repräsentation des Gesamtstaates, die Repräsentation in der Hauptstadt, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Weltkulturerbestätten und Kulturhauptstadt, Gedenkstätten, Sicherung von Kulturgut und Geschichte ehemals deutscher Kulturlandschaften im östlichen Europa, die Förderung kultureller Minderheiten, die Kulturgutsicherung, die Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter, herausragende Kultureinrichtungen in den neuen Ländern, Filmförderung und Sozialversicherung. Insgesamt ist festzuhalten, dass es angesichts der vielschichtigen Finanzverflechtungen zwischen Bund und Ländern eine weitreichende Entflechtung der Kulturförderung nicht geben kann. Der Bund muss letztlich eine nationale Verantwortung für die Kulturentwicklung in Deutschland wahrnehmen können. Dies ist auch bei einer kulturpolitischen Gesamtbetrachtung der Kultur in Deutschland förderlich und nicht abträglich. Der Bund ist insbesondere in Angelegenheiten gesamtstaatlicher Repräsentation und bei der Förderung von bundesrechtlichen Auslandsbeziehungen sowie in der Förderung zentraler Einrichtungen und Veranstaltungen nichtstaatlicher Organisationen angesprochen, die ihrer Art nach nicht nur durch ein Land allein wirksam gefördert werden können.134 Zu diesen Angelegenheiten gesamtstaatlicher Repräsentationen gehört unzweifelhaft die Auswärtige Kulturpolitik, die schon durch Artikel 32, 73 Nr. 1 und 87 Abs. 1 GG 132 | S. dazu Nevermann, 2006, S. 245ff. 133 | S. dazu ebd., S. 274ff. (Das Papier ist auch als Ausschussdrucksache des Ausschusses für Kultur und Medien des Deutschen Bundestages, Nummer 15 (21) 59 vom 26.6.2003 verfügbar.)

134 | Diese Aufgaben hat schon im Jahr 1971 der Entwurf einer »Verwaltungsvereinbarung über die Finanzierung öffentlicher Aufgaben von Bund und Ländern« enthalten, die in der Praxis als »Flurbereinigungsabkommen« bezeichnet wird. Vgl. dazu Nida-Rümelin, 2002, S. 68.

III. Kulturstaat | 137 unstreitige Bundeskompetenz ist.135 Doch auch die Hauptstadt-Kulturförderung gehört zu diesen unstreitigen Arbeitsfeldern. Als außerordentlich wichtig hat sich auch die sogenannte »Leuchtturmförderung« in den neuen Bundesländern erwiesen, die zudem durch Artikel 35 des Einigungsvertrages gedeckt ist. Beispiele aus der Arbeit der Bundeskulturstiftung belegen, dass Bundesförderung eine starke innovative Kraft entfalten kann: Der durch die Bundeskulturstiftung geförderte »Tanzplan« führt zu einer intensiveren Aufmerksamkeit für eine der innovativsten Sparten der Darstellenden Kunst, die zugleich unter notorischer Unterfinanzierung leidet, obwohl sie für die internationalen künstlerischen Netzwerke aufgrund einer besonderen deutschen Tradition eine bedeutende Rolle spielt. Das von der Bundeskulturstiftung anlässlich der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 ins Leben gerufene Projekt »Jedem Kind ein Instrument«, das – über mehrere Jahre angelegt – jedem Grundschulkind im Ruhrgebiet grundsätzlich die Möglichkeit geben soll, ein Instrument zu erlernen, greift massiv in die bestehenden Strukturen Kultureller Bildung ein, zumal mehrere andere Bundesländer dieses Modellprojekt übernehmen wollen. Und das »Netzwerk Neue Musik« hilft in einem Kultursektor, dessen Förderung angesichts der Finanzknappheit bei Ländern und Kommunen zunehmend vernachlässigt worden ist. Alle drei Beispiele zeigen, dass die Bundeskulturstiftung durch ihre Förderpolitik Potenziale vor Ort aktiviert – mit offenem Ausgang. Abwehrreaktionen »beleidigter Kulturhoheiten« würden diesen mutigen Innovationsaktivitäten nur schaden und nicht helfen. Allerdings bedarf aktivierende Kulturpolitik der gemeinschaftlichen Auswertung und einer permanenten Reflexion, um letztlich nicht immer nur wesentlich mehr, sondern mehr Wesentliches zu fördern.136 Eine Neuordnung des Kulturföderalismus durch entsprechende kompetenzrechtliche Vereinbarungen – und möglicherweise auch grundgesetzliche Regelungen137 – sollte insgesamt drei kulturpolitische Grundprinzipien berücksichtigen:

135 | Zur Auswärtigen Kulturpolitik neuerdings mit zahlreichen Beiträgen, die einen umfassenden Überblick geben: Schneider, Wolfgang (Hg.), Auswärtige Kulturpolitik. Dialog als Auftrag – Partnerschaft als Prinzip, Essen 2008.

136 | Ähnlich Lammert, 2002, S. 80. 137 | Kloepfer, 2005, S. 17 führt dazu aus: »In welcher Weise und in welcher Höhe dann eine möglicherweise kompetenzrechtlich abgesicherte Kulturförderung des Bundes vorgenommen werden sollte, ist dann eine politische Frage und sollte auch politisch entschieden werden. Für die Geldempfänger ist eben auch kompetenzwidrig gezahltes Geld verlockend […]. In Zeiten notorisch unterfinanzierter Kultureinrichtungen scheint der Satz zu gelten: ›Not kennt kein Verfassungsgebot.‹

138 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext •





Es bedarf einer ehrlichen Bestandsaufnahme dessen, was an gemeinsamen Verantwortlichkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen gegeben ist, wobei der jeweilige öffentliche Auftrag zu reflektieren ist. Es bedarf einer systematischen Aufarbeitung der jeweiligen Verantwortlichkeiten ohne fundamentalistische Abwehrreaktionen gegenüber denjenigen, die sich in der Kultur engagieren wollen; insbesondere sollten bestehende Förderungen, wenn sie denn sinnvoll sind, keinen Schaden nehmen. Im Sinne einer aktivierenden Kulturpolitik sollten vorhandene und neue Allianzen der Kunst- und Kulturförderung offen sein für neue Mitspieler nicht nur im Sinne eines kooperativen, sondern auch im Sinne eines kompetitiven Föderalismus.138 Alle Ebenen unseres Staates haben ein nachhaltiges Interesse an einer erfolgreichen aktivierenden Kulturpolitik des Bundes, denn nur ein kluges Zusammenspiel weckt alle Kräfte im Kulturstaat Deutschland.

2.5 Europäische Kulturpolitik

Kultur ist mit dem Vertrag von Maastricht aus dem Jahr 1992 zum rechtlich verankerten Handlungsfeld der Europäischen Union geworden. Auf europäischer Ebene haben sich die Bestrebungen verstärkt, aus der Wirtschaftsgemeinschaft auch eine politische Union und eine Wertegemeinschaft zu entwickeln.139 An dieser Politik kann und sollte sich Deutschland aktiv beteiligen, zum einen durch Beiträge zur Fortentwicklung der europäischen Kulturpolitik und zum anderen durch die Ausgestaltung der kommunalen, regionalen, Landes- und Bundeskulturpolitik, auch unter Berücksichtigung europäischer Themen und europakulturpolitischer Zielsetzungen.140 Der Kulturstaat Deutschland kann einen wesentlichen Beitrag zur Förderung des europäischen Integrationsprozesses und zur Stärkung der europäischen Identität leisten.141 Mit der »Mitteilung über Aus Sicht der Betroffenen mag dieser Satz wegen Geldmangels verständlich sein. Nur: Verfassungskultur demonstriert er gerade nicht.«

138 | Vgl. auch Röbke, Thomas/Wagner, Bernd, Aufgaben eines undogmatischen Kulturföderalismus, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitische Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2001, Essen 2002, S. 13ff., 32f.

139 | Sehr lesenswert dazu Muschg, Adolf, Was ist europäisch? Reden für einen gastlichen Erdteil, München 2005.

140 | Einen aktuellen und umfassenden Überblick zur Europäischen Kulturpolitik aus Perspektive des Kulturstaates Deutschland bietet das vom Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft herausgegebene Jahrbuch für Kulturpolitik 2007, Essen 2007.

141 | Vgl. dazu auch Sommermann, 2006, S. 22ff.; Di Fabio, 2005, S. 193f. nimmt eine traditionelle, wenn nicht gar reaktionär klingende Haltung dazu ein,

III. Kulturstaat | 139 eine europäische Kulturagenda im Zeichen der Globalisierung« von Mai 2007 hat die europäische Kommission dafür auch ein Verfahren vorgeschlagen und kulturpolitische Ziele formuliert, die mittelfristig als Basis für entsprechende Aktivitäten dienen können. Bezugspunkte dieser Mitteilung sind das gemeinsame kulturelle Erbe Europas sowie seine sprachliche und kulturelle Vielfalt, aber auch die Erkenntnis, dass mittels Kultur die wirtschaftliche Entwicklung belebt und Arbeitsplätze gewonnen werden können. Kreativität, Innovation, interkulturelle Kompetenzen und die stetige Entwicklung der Wertegrundlagen in der Europäischen Union sowie die europäische Integration hängen letztlich vom Grad der Qualität gemeinsamen kulturellen Engagements der Mitgliedsstaaten ab. Mit dem Vertrag von Maastricht hat sich die Europäische Union als Verbund von selbständigen Staaten situiert, die auf den europäischen Gemeinschaften auf bauen.142 Artikel 3 dieses Vertrages legt grundsätzlich fest, dass die Gemeinschaft zur Entfaltung des Kulturlebens in den Mitgliedstaaten beitragen soll. Seit 1992 ist damit der Kulturbereich in die Zuständigkeit der Europäischen Union aufgenommen.143 In Artikel 128 des Maastrichter Vertrages, der 1997 im Vertrag von Amsterdam durch Artikel 151 wortgleich ersetzt worden ist, werden die Handlungsgrenzen und Möglichkeiten der Europäischen Union festgelegt. Diese Bestimmung stellt die rechtliche Grundlage für die europäische Kulturpolitik dar: »1. Die Gemeinschaft leistet einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedsstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes. 2. Die Gemeinschaft fördert durch ihre Tätigkeit die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten und unterstützt und ergänzt erforderlichenfalls deren Tätigkeit in den folgenden Bereichen: Verbesserung der Kenntnisse und Verbreitung der wenn er aus einer Relativierung der Nationalstaaten folgert: »Wenn Staaten es nicht mehr vermögen, die kulturellen Rahmenbedingungen nach einem diskursiv herbeigeführten nationalen Konsens zu garantieren, verliert das grundlegende Zeichensystem der Menschen an Eindeutigkeit, entsteht Raum für Zweifel, können Fehler im kulturellen Grundlagensystem nicht mehr ohne Weiteres korrigiert werden.« Und er stellt dann gar die verquaste Frage: »Aber lohnt es sich überhaupt noch dafür zu werben, eine deutsche Nationalkultur als Kultur der Freiheit wiederzubeleben?« (S. 227). Die Möglichkeiten und Chancen einer auch von Deutschland mit geprägten europäischen Kulturpolitik werden von ihm merkwürdigerweise nicht erörtert, da er das Individuum vor allem in einer Gemeinschaft der (verlorenen oder gelebten) Werte betrachtet, etwa in Religion, Familie, Beruf.

142 | S. dazu auch Scheytt, Kulturrecht, 2005, Rn 69. 143 | Vgl. dazu Schwencke, Olaf, Das Europa der Kulturen – Kulturpolitik in Europa, 2. Aufl., Bonn/Essen 2006, S. 261ff.; sowie zur »werdenden Kulturverfassung« Häberle, Vom Kulturstaat …, 1982, S. 53ff.

140 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext

Kultur und Geschichte der europäischen Völker, Erhaltung und Schutz des kulturellen Erbes von europäischer Bedeutung, Nichtkommerzieller Kulturaustausch, künstlerisches und literarisches Schaffen, einschließlich im audio-visuellen Bereich. 3. […] 4. Die Gemeinschaft trägt bei ihrer Tätigkeit aufgrund anderer Bestimmungen dieses Vertrages den kulturellen Aspekten Rechnung, insbesondere zur Wahrung und Förderung der Vielfalt der Kulturen.«

Die sogenannte »Kulturverträglichkeitsklausel« des Absatzes 4 ist eine kulturpolitisch und rechtssystematisch außerordentlich wichtige Bestimmung: Sie enthält die ausdrückliche Verpflichtung, kulturellen Aspekten in allen Tätigkeitsbereichen Rechnung zu tragen und verschaff t diesen damit ein starkes Gewicht. Festzustellen ist, dass die Europäische Gemeinschaft inzwischen Kultur nicht nur als »Handelsware«, sondern als öffentliches Gut behandelt. Kultur gilt als besonderer Wert, der nicht durch Geldwert ersetzbar ist und daher nicht den Gesetzen des freien Marktes unterworfen werden soll.144 So werden für Kultur Ausnahmeregelungen geschaffen, die im Sinne der französischen »exception culturelle« wie auch im UNESCO-Übereinkommen zum Schutz und zur Förderung der kulturellen Vielfalt gesichert werden. Der freie Warenverkehr kann somit eingeschränkt werden, um die Vielfalt der Kulturen zu schützen. Dieser Grundgedanke hat etwa auch bei der Anerkennung der Buchpreisbindung im deutschsprachigen Raum eine entscheidende Rolle gespielt. Nach Artikel 87 Abs. 3 d EGV besteht die Möglichkeit, dass Beihilfen zur Förderung der Kultur und Erhaltung des kulturellen Erbes ausnahmsweise durch die Europäische Kommission genehmigt werden, obwohl der Tatbestand des Beihilfenverbots nach Artikel 87 Abs. 1 EGV erfüllt ist. Nach Auffassung der Kommission umfasst der Kulturbegriff in diesen Bestimmungen denjenigen Bereich, der »nach allgemeiner Auffassung der Kultur zugeordnet wird«.145 Entscheidend ist, dass die Beihilfen eine klare kulturelle Zwecksetzung haben und die Wirtschaftsförderung nicht im Vordergrund steht. Mit diesen Bestimmungen und der ihr folgenden kulturpolitischen Praxis der Europäischen Union wird das in Artikel 151 Abs. 1 EGV enthaltene »Subsidiaritätsprinzip« mit Leben gefüllt, indem die Gemeinschaft kulturpolitisch »unter Wahrung« der »nationalen und regionalen Vielfalt« der Mitgliedsstaaten aktiv wird. Die gewachsene Bedeutung der Kultur kommt auch im Verfassungsent144 | Vgl. dazu auch den Enquete-Schlussbericht, S. 416. 145 | Näher dazu ebd., S. 416 unter Verweis auf die Entscheidung der Kommission vom 24.02.1999, staatliche Beihilfen, NN 70/98 Tz 6.2.-Deutschland (Kinderkanal und Phönix).

III. Kulturstaat | 141 wurf für Europa zum Ausdruck, da Kultur sowohl in den Kompetenz-Zuweisungen als auch in der Präambel eine wichtige Rolle spielt. So heißt es im Vertrag über eine Verfassung für Europa: »Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben, […] in der Überzeugung, […] dass es ein Kontinent bleiben will, der offen ist für Kultur, Wissen und sozialen Fortschritt«.146

Von erheblicher kulturpolitischer Relevanz ist der Einfluss der europäischen Rechtsetzung auf die Kultur in Deutschland. Dies gilt nicht nur für die bereits oben erwähnte Regelung zur öffentlichen Förderung von Kultur unter dem Gesichtspunkt des Beihilferechts, sondern auch für viele weitere Rechtsgebiete, etwa das Urheberrecht, das Steuerrecht oder das Rundfunkrecht. Mit der Enquete-Kommission147 und aufgrund des umfassenden Diskurses beim Vierten kulturpolitischen Bundeskongress der Kulturpolitischen Gesellschaft 148 können für eine europäische Kulturpolitik in Deutschland folgende Empfehlungen ausgesprochen werden: •







Die Kulturverträglichkeitsklausel des Amsterdamer Vertrages sollte mit Leben gefüllt werden, die deutschen Vertreter sollten demnach die gesamte Arbeit der Europäischen Union auch unter kulturellen Gesichtspunkten beobachten. Die Information über europäische Entscheidungsprozesse innerhalb Deutschlands sollte verstärkt werden, insbesondere auch für einen Dialog mit den in der Zivilgesellschaft verankerten Organisationen. Die Kommunikation in und mit der Zivilgesellschaft ist besser zu gestalten. Die Gesellschaft und ihre Organisationen sollten in die Lage versetzt werden, die europäische Kulturpolitik sparten- und bereichsübergreifend zu begleiten und nationale Diskussionsprozesse zu europäischen Diskussionen zu intensivieren. Geschichts- und Erinnerungskultur sollte stärker als bisher Teil einer Kulturpolitik für Europa werden, die nicht allein von nationalen Mythen und Geschichtsbildern bestimmt sein sollte, sondern die Ungleichzeitigkeiten der gesellschaftlichen und nationalstaatlichen Entwicklungen aufnimmt. 146 | S. dazu im Einzelnen Schwencke, 2006, S. 381ff. 147 | Enquete-Schlussbericht, S. 412ff. 148 | Kulturpolitische Gesellschaft (Hg.), kultur.macht.europa, Dokumenta-

tion des vierten Kulturpolitischen Bundeskongresses, Bonn 2008.

142 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext •







Die Fördermittel für Kultur der EU sind zu erhöhen, denn die Bedeutung von Kultur, Kunst und Kreativität spiegelt sich nicht in dem äußerst gering ausgestatteten Kulturetat der EU wider.149 Bund und Länder sollten im Rahmen des neu gefassten Artikels 23 Abs. 6 GG ihr Vorgehen eng koordinieren und eine gegenseitige Information und Abstimmung herbeiführen. Deutschland braucht einen Ansprechpartner mit hinreichender Verhandlungsvollmacht auf EUEbene, um eine gemeinsame starke Vertretung sicherzustellen. Besondere Aufmerksamkeit verdient die europäische Filmförderung, die durch eine konzertierte Aktion der Mitgliedstaaten der Europäischen Kommission verstärkt werden sollte, gerade auch mit Blick auf die globalen Kulturindustrien. Kultur ist als Komponente der Außenpolitik auch der EU weiterzuentwickeln, den der »europäische Mehrwert«, den kulturelle Projekte für die Auenpolitik schaffen, kann nicht hoch genug angesetzt werden.150

Besonders wichtig erscheint, dass der Kulturstaat Deutschland mit Blick auf die europäische Ebene seine in der geschriebenen und gelebten Kulturfassung über Jahrzehnte entwickelte Grundsatzposition dauerhaft behält, dass Kultur ein öffentliches Gut und nicht nur eine Handelsware ist. Auch im Falle von Handelszugeständnissen in anderen Dienstleistungsbereichen darf es keine Zugeständnisse bei Kultur- und Mediendienstleitungen geben, die zu einer Liberalisierung für den Kultur- und Medienbereich führen. Insofern kommt auch dem UNESCO-Übereinkommen zum Schutz der kulturellen Vielfalt eine entscheidende Bedeutung zu, als dieses einen Referenzrahmen für ein international verbindliches Kulturrecht schafft und die Legitimität einer Kulturpolitik anerkennt, die die kulturelle Vielfalt schützt.151

3. A K TIVIERENDER K ULTUR STA AT Regieren, Lenken, Steuern und Koordinieren triff t heute auf eine veränderte, sehr komplexe Situation, auf die ein klassisch hierarchisches staatliches Handeln nicht die richtige Antwort darstellt.152 Die für politische Gestal149 | Die übliche Forderung der Kulturverbände lautet: 70 Cent je Einwohner pro Bürger und Jahr. Derzeit wird etwa nur ein Zehntel davon veranschlagt, so dass die Kulturausgaben unter ein Prozent des Gesamtetats betragen. S. dazu auch Hippe, Wolfgang/Sievers, Norbert, Kulturpolitik für Europa, in: Kulturpolitische Gesellschaft (Hg.), kultur.macht.europa, Dokumentation des vierten Kulturpolitischen Bundeskongresses, Bonn 2008, S. 11ff., 22.

150 | Vgl. Hippe/Sievers, 2008, S. 23f. 151 | Dazu näher auch Enquete-Schlussbericht, S. 429ff. 152 | Sehr instruktiv dazu Sievers, 2005, S. 337ff.

III. Kulturstaat | 143 tung notwendige Reduktion von Komplexität kann und darf aber auch nicht dadurch geschehen, diese Komplexität mit »Scheuklappen« zu betrachten. Denn dann würden auch die kulturpolitischen Grundsätze und Leitsätze außer Acht gelassen, die oben entwickelt worden sind: So enthält der Satz »Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik« im Kern die Botschaft, dass Gesellschaft und Kultur von der Vielfalt leben. Und das Kulturstaatsverständnis des Grundgesetzes ist von Freiheit und Offenheit geprägt. Konsequenz dieser Erkenntnis ist, dass die Reduktion von Komplexität mit Blick auf den Staat selbst erfolgen muss. Seine Position ist zu bestimmen; aus ihr heraus und von ihr ausgehend sollten die kulturpolitischen Ziele reflektiert und die kulturpolitischen Konzepte in Aktionen umgesetzt werden. 3.1 Politische Dilemmata

Bei einer Positionsbestimmung des Kulturstaates sind drei wesentliche Aktionsfelder zu beachten, welche alle inhaltlichen Gestaltungsbereiche durchziehen: das politische (a), das institutionelle (b) und das infrastrukturelle Feld (c). In jedem dieser Bezugssysteme gibt es spezifische kulturpolitische Dilemmata: (a) Bedeutungsdilemma: Im politischen Aktionsfeld geht es um die Herstellung und Sicherstellung von Mehrheiten für kulturpolitische Ziele. Wie oben bereits ausgeführt 153 ist Grundvoraussetzung für eine starke kulturpolitische Position, dass sich Kulturpolitik selbst formiert, um bei Wahlen und Abstimmungen in Parlamenten, Gemeinderäten, Kreistagen und Parteien etc. Mehrheiten zu gewinnen. Das größte derzeitige Dilemma ist (noch?), dass kulturpolitische Themen in der allgemeinen politischen Debatte eher geringere Aufmerksamkeit erhalten, obwohl kulturelle Fragen von größter Bedeutung für den Zusammenhalt der Gesellschaft und die Entwicklung jedes einzelnen Individuums sind (Bedeutungsdilemma). Mitunter wird aber deutlich, dass Kulturpolitik einen Bedeutungsgewinn erfährt. Beispiele dafür lassen sich nicht nur in der Hauptstadt Berlin, sondern auch in Hamburg (Entwicklung als Modellregion Kultureller Bildung, Elbphilharmonie als neues Wahrzeichen) oder auch in der Metropole Ruhr (Kulturhauptstadt RUHR.2010) finden. Gleichwohl bedarf es eines selbstbewussteren und offensiveren Auftretens der Kulturpolitik und eines Einmischens in allgemeine politische und gesellschaftliche Fragen nicht nur unter dem Rubrum einer »Wiedergewinnung des Ästhetischen«. Da es bei der Kultur um die grundlegenden Werte und Orientierungen, um die Sinnsuche schlechthin geht, zielt eine aktivierende Kulturpolitik auf die Grundsatzfragen im Kulturstaat Deutschland.

153 | S. dazu zu Beginn des Kapitels III.

144 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext (b) Kompetenzdilemma: In institutioneller Hinsicht wird in Deutschland immer wieder die Frage danach gestellt, wer die Zuständigkeit für kulturelle Aufgaben für sich in Anspruch nehmen darf (Kompetenzdilemma). Dabei wachen die Länder mit Argusaugen auf ihre Kulturhoheit und entrüsten sich oft bereits schon, wenn lediglich die Augen des Bundesadlers auf die von ihnen wohlbehüteten Kulturkompetenzen fallen. Unbestreitbar steuern die Kommunen traditionell den entscheidenden Anteil zur Reichhaltigkeit des Kulturlebens in Deutschland bei. Der Satz »Kulturpolitik ist Kommunalpolitik« ist jedoch in seiner apodiktischen Aussage insoweit zu relativieren, als in einem nationalen, europäischen und internationalen Zusammenhang die Kultur in Deutschland nicht nur die Kraft der Kommunen braucht, sondern neben der Kraft des Marktes und des Dritten Sektors154 auch eine überregionale und bundesweit starke Kulturpolitik, die jenseits allen Kompetenzstreites dafür sorgt, dass Deutschland auch als »Kulturnation« seinen Stellenwert behält und ausbaut.155 Grob skizziert haben die Kommunen eine »Allzuständigkeit« und damit eine Fülle von Aktionsfeldern in der Förderung der Künste, der Errichtung von Einrichtungen der Kultur, der Geschichtskultur und der Kulturellen Bildung, in der Durchführung von Veranstaltungen etc. Sie tragen auch den Großteil der finanziellen Verantwortung in den öffentlichen Haushalten, d.h. etwa 43 % des Aufwandes der öffentlichen Hand.156 Die Länder haben ihren Schwerpunkt im Bereich der Förderung der Kulturellen Bildung und der Geschichtskultur, tragen aber auch große künstlerische Einrichtungen (insbesondere Theater) selbst. In der Rechtsetzung halten sie sich im Kulturbereich weitgehend zurück. Demgegenüber liegt die Kulturgestaltungskraft des Bundes vor allen Dingen in der Rechtsetzung, während er am Finanzaufkommen der öffentlichen Hand nur zu rund einem Zehntel beteiligt ist. (c) Gestaltungsdilemma: Die verschiedenen institutionellen Ebenen in Bund, Ländern und Kommunen haben jeweils zwei wesentliche Aktionsformen: Sie stellen Ressourcen zur Verfügung und setzen oder gestalten Recht. Rechtsetzung und Rechtsgestaltung durch den Abschluss von Verträgen kann ebenso wie die Finanzierung als ein Beitrag zur kulturellen 154 | Einen umfassenden Überblick gibt dazu Strachwitz, Rupert Graf von (Hg.), Dritter Sektor – Dritte Kraft, Stuttgart 1998.

155 | Vgl. dazu oben unter 2. Zur Bedeutung der Kultur für Image und Identität der »Kulturnation Österreich« s. sehr instruktiv Knapp, 2005, insbes. S. 31ff., 68ff.

156 | S. dazu Söndermann, Michael, Öffentliche Kulturfinanzierung in Deutschland 2005. Ergebnisse aus der Kulturstatistik, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2006, Essen 2006, S. 395ff.

III. Kulturstaat | 145 Infrastruktur im Kulturstaat Deutschland angesehen werden. In modernen Ansätzen der Verwaltungslehre wird Recht »als kooperationsfördernde Infrastruktur« bezeichnet. Denn wenn der Staat in seine Verantwortung private Partner aus dem Markt oder aus der Zivilgesellschaft hinein nimmt und für die Pflege und Fortentwicklung der Infrastruktur dauerhafte (rechtliche) Vereinbarungen schließt, wird die Infrastrukturverantwortung durch rechtliche Gestaltung geteilt.157 Beide Aktionsformen erfahren je eigene Beschränkungen: Die Not der öffentlichen Haushalte führt zu einem Ressourcenproblem und die Furcht vor einer »Verrechtlichung der Kultur« erschwert die gesetzliche Sicherung der kulturellen Infrastruktur. Eine aktivierende Kulturpolitik 158 setzt auf das Zusammenspiel der Kräfte, um allen drei skizzierten Dilemmata zu begegnen: Wenn die Relationen zu den Akteuren in der Gesellschaft, in den kulturellen und politischen Netzwerken tragfähig und wirkungsvoll gestaltet werden, relativieren sich Bedeutungs-, Kompetenz- und Gestaltungsdilemma. Dies gilt auch für das Zusammenwirken der verschiedenen staatlichen Ebenen in der föderalistischen Struktur der Bundesrepublik Deutschland. Da Bund, Länder und Kommunen im kooperativen Kulturföderalismus Deutschlands in ihrer Kulturpolitik mannigfach aufeinander bauen und angewiesen sind, gewinnen sie kulturpolitische Bedeutung, starke Kompetenzen und freie Gestaltungsmöglichkeiten vor allem dann, wenn sie die anderen Ebenen aktiv anerkennen und anspielen. Auch bei der Ausgestaltung der kulturellen Infrastruktur kommt es auf die Aktivierung von Relationen an, denn die Infrastruktur wird nicht nur vom Staat, sondern auch von Wirtschaft und Gesellschaft (mit-)getragen. Aktivierende Kulturpolitik operiert daher nicht nur mit Blick auf die Bereitstellung von Ressourcen und die Gestaltung von Recht, sondern setzt dafür vor allem auf die Gestaltung von

157 | S. dazu Folke Schuppert, Gunnar (Hg.), Governance im Spiegel der Wissenschaftsdisziplinen, in: ders., Governance-Forschung. Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, 2. Aufl., Baden-Baden 2006, S. 371ff., S. 386.

158 | Norbert Sievers hat diesen Begriff schon vor einigen Jahren verwendet in Übernahme der Konzeption für einen »aktivierenden Staat«, die »einen Modernisierungskompromiss auf den Begriff bringt, der alte (ideologische) Blockaden aufzubrechen und einen neuen »dritten Weg« (A. Giddens) zu ebnen verspricht[,] […] als Kombination von öffentlicher Regulierung, marktvermittelter Produktion und gesellschaftlichem Engagement« und als »Mittelweg zwischen sozialstaatlichem Versorgungsdenken und neoliberalem Politikverzicht«, s. Sievers, Norbert, »Fördern, ohne zu fordern«. Begründungen aktivierender Kulturpolitik, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2000, Essen 2001, S. 131ff.

146 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext Relationen und das Zusammenspiel aller Kulturakteure, das sich als die wichtigste Zukunftsressource im Kulturstaat Deutschland erweist. Das Fazit in diesem letzten Abschnitt des ersten Teils »Kontext« soll demzufolge in der Form gezogen werden, dass auf der Basis der vorausgegangenen kontextuellen Analyse ein Leitbild für den Kulturstaat Deutschland entwickelt wird, das den genannten Dilemmata begegnet, indem alle vorhandenen Kräfte mobilisiert und aktiviert werden. Dies geschieht durch die Gestaltung von Relationen in vorhandenen und neuen Netzwerken, indes immer mit dem Bezug auf das Individuum. Denn der Kulturbürger hat sich letztlich im Blick auf die Wirkungen von Kulturpolitik und im Kontext von Gesellschaft und Staat als der wesentliche Bezugspunkt erwiesen. Auch in inhaltlicher Sicht auf die Künste, die Geschichtskultur und die Kulturelle Bildung (Teil 2) werden sich die individuellen Wirkungen als entscheidend herauskristallisieren. Urgrund von Kulturpolitik ist die Relation zwischen Staat und Kulturbürger. Und ihre Kernaufgabe ist es, zwischen den verschiedenen Akteuren der »Kultur für alle« und der »Kultur von allen« zu vermitteln. Aus dieser Grunderkenntnis heraus lässt sich die Rolle des Staates neu bestimmen (Kap. III/3.2), lassen sich Steuerungsmechanismen zur Gestaltung dieser Relationen benennen (III/3.3) und kann schließlich das Leitbild für einen »aktivierenden Kulturstaat« entwickelt werden (III/3.4). 3.2 Neue Rolle

Die Neubestimmung der Rolle des Staates in der Kultur in Deutschland muss sowohl aus einer Gesamtsicht von Staat, Markt und Zivilgesellschaft als auch im Bezug auf den Kulturbürger als zentralem Bezugspunkt aller Relationen erfolgen. Wie aus den vorangegangenen Abschnitten deutlich geworden ist, würde ein Kulturstaats- und Kulturpolitikverständnis, das den Staat als den alleinigen Hauptakteur sieht, der Realität nicht entsprechen. Das Kulturverfassungsrecht und die Kulturverfassung der Bundesrepublik Deutschland gehen von einem Trägerpluralismus aus; und die gelebte Kulturverfassung belegt, dass dieser ein Kernelement für die Qualität und die Reichhaltigkeit des Kulturlebens in Deutschland ist. Allerdings sehe ich den Kulturstaat nicht in einer subsidiären Rolle – vielmehr hat er originäre Aufgaben: Die Gestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen steht allein dem Staat zu. Unverzichtbare Eckpfeiler der kulturellen Infrastruktur sind die von Bund, Ländern und Kommunen getragenen Kultureinrichtungen, so etwa die durch die öffentliche Hand finanzierten Angebote Kultureller Bildung. Die öffentliche Verantwortung und Finanzierung lassen sich durch gesellschaftliches und privates Engagement zwar ergänzen, aber keinesfalls ersetzen. Der Kulturstaat Deutschland hat daher eine ureigene, nicht disponible Verantwortlichkeit, in die er allerdings auch andere Kräfte hineinnehmen kann.

III. Kulturstaat | 147 Die Rolle des Kulturstaates ist insbesondere in seiner Relation zum Individuum neu zu bestimmen. Kulturpolitik wird nicht vorrangig zum Selbsterhalt der Kulturinstitutionen, zur Selbstverwirklichung von Künstlern und Kulturmanagern oder zur Selbstbedienung in kulturellen Netzwerken betrieben. Vielmehr steht im Zentrum aller Kulturpolitik das Individuum. Die einfache Frage »Wofür und für wen machen wir das hier eigentlich?«, in kulturpolitischen Beratungen gestellt, kann zu einer verblüffenden Entkleidung vordergründiger Interessen führen. Wenn etwa Akteure der Kulturellen Bildung eine junge Persönlichkeit je nach Sichtweise als »Schulkind« oder als »Jugendhilfeklient« oder als »zukünftiger Nutzer« oder als »Freizeitflaneur« auf computergesteuerten Abwegen ansehen, so geht es doch immer um ein und dieselbe Person. Auf diese ist kulturpolitisches Denken und Handeln auszurichten – und erst die Relativierung der jeweiligen speziellen Beziehungen in einer Gesamtsicht öffnet die Augen für die Erfassung der ganzen Persönlichkeit. Das Leitbild muss die Rolle des Kulturstaates daher aus einer zweifachen Gesamtsicht entwickeln: Aus der Gesamtsicht von Staat, Gesellschaft und Markt und aus der Gesamtsicht auf den Kulturbürger mit all seinen individuellen Ausprägungen.159 3.3 Neue Steuerung

Der Kulturauftrag ist für jedes einzelne Handlungsfeld diskursiv herauszuarbeiten. Die daraus abgeleitete Programmatik enthält die Vorgaben für die politische Steuerung im Kulturstaat Deutschland, die sich vor allem in der Gestaltung von Relationen innerhalb von Netzwerken abspielt. Kulturpolitische Steuerung ist daher eher kontextuell als regulativ, eher im Diskurs als im Diktat und eher reflexiv als repräsentativ auszurichten. Zentraler Bezugspunkt der kulturpolitischen Steuerung bleibt der Einzelne mit künstlerischen Entfaltungsmöglichkeiten. Die Reflexion der eigenen Herkunft, die kulturellen Kompetenzen eines jeden Kulturbürgers bilden den Kern des öffentlichen Auftrags für die kulturpolitische Positionierung und Steuerung. Angesichts der gesellschaftlichen Komplexität und der Fülle kultureller Akteure realisiert sich Kulturpolitik in der Gestaltung und Steuerung von Netzwerken. Diese Netzwerke richtig zu knüpfen, in Bewegung zu bringen und auf gemeinsame Zielsetzungen auszurichten, bedarf eines neuen Verständnisses kulturpolitischer Steuerung: Der Kulturstaat agiert nicht nur für sich selbst und aus sich selbst heraus, sondern aktiviert weitere Akteure in der Gesellschaft. Dabei ist es völlig unmöglich, jede einzelne Relation in den Blick zu nehmen. Um größtmögliche kulturpolitische 159 | Ähnlich Sievers, 2001, S. 132.

148 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext Wirkung zu entfalten, hat Kulturpolitik die wesentlichen, machtvollen Akteure auszumachen, die an den »Verknüpfungspunkten« der kulturellen und politischen Netzwerke agieren. Diese machtvollen Akteure und Akteursgruppen, ihre Kompetenzen und Potenziale sind mit den dafür konstituierten Institutionen und Verfahren zu aktivieren. Die intensivste Form einer dauerhaften Beziehung ist die einer Verantwortungspartnerschaft. In solchen Partnerschaften kann das gemeinsame Agieren langfristig mit Blick auf eine (gemeinsame) Aufgabe vereinbart und ausgerichtet werden. Weitere Formen für die Gestaltung von Relationen bestehen darin, generellen Konsens über Ziele, Konzepte und Projekte zu stiften (s. dazu Teil 3). Ein wesentliches Element der Steuerung und Aktivierung besteht daher in der Bereitstellung von Arenen und Foren für den politischen Diskurs, in dem sich die Akteure auf einen tragfähigen kulturpolitischen Konsens verständigen können, um kulturelle Aktivitäten sodann abgestimmt anzugehen. Je stärker, tragfähiger und langfristiger der kulturpolitische Konsens ist, der sich in und aus diesen Foren und Arenen ergibt, umso machtvoller wird sich das Netzwerk Kulturpolitik auch in der Politik insgesamt durchsetzen und präsentieren. Aktivierende Kulturpolitik weiß um die Begrenztheit staatlicher und hierarchischer Steuerung und setzt daher auch auf verschiedene Formen der gesellschaftlichen Selbststeuerung 160 und -koordination. Diese sind allerdings keine Garantie für einen optimalen Ressourceneinsatz und effektive Abstimmungsprozesse. Grundsätzlich wird Kulturpolitik durch starke Verbände nicht behindert, sondern eher gestärkt, doch wenn diese ihrerseits den Bezugspunkt – insbesondere das einzelne Individuum – aus den Augen verlieren, droht die Gefahr einer falschen Orientierung, kann Verbandspolitik zum Selbstzweck werden. Die Reflexion des Kontextes und die Relation zum Kulturbürger sind daher von konstitutiver Bedeutung für eine gelungene kulturpolitische Steuerung und Selbststeuerung in Netzwerken. Ein Zuviel an Kulturstaat entspricht dem Grundgesetz ebenso wenig wie ein Zuviel an gesellschaftlicher Kulturgestaltungsmacht.161 Steuerung im Sinne einer aktivierenden Kulturpolitik heißt daher nicht nur moderieren, sondern mit eigener Position motivieren und anstoßen. Netzwerksteuerung bedeutet daher nicht einfach »laufen lassen« und keinesfalls »abkuppeln« – manchmal zwar »auskuppeln«, aber auch immer wieder »einkuppeln« und »ankuppeln« an die Verantwortung für die kulturelle Infrastruktur und für die optimalen Rahmenbedingungen der Kulturentwicklung.162 Eine aktivierende Kulturpolitik wird dann erfolgreich steuern, wenn Bündnisse und Programme tatsächlich kooperative Träger und Part160 | S. dazu Blanke, Bernhard/Bandemer, Stephan von, Der »aktivierende« Staat, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 1999, S. 321ff., S. 324.

161 | Häberle, Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, 1982, S. 47. 162 | Vgl. Pankoke, Eckart/Rohe, Karl, Der Deutsche Kulturstaat, in: Ellwein,

III. Kulturstaat | 149 ner finden, statt lediglich Mitnehmer und Abnehmer.163 Netzwerke sind daher beteiligungsfreundlich zu gestalten, um Partner als Kooperationsund Verhandlungspartner zu akzeptieren und einzubinden. Und in diesen Netzwerken geht es nicht nur um Mitbestimmung, sondern vor allem um die Dimension der Mitverantwortung.164 Die auch in der alltäglichen kulturpolitischen Praxis heute üblichen Formen der Interaktion und Kooperation, der Moderation und Verhandlung, der Konsensstiftung und Vereinbarung sind Regelungsformen einer »Cultural Governance«. Es handelt sich dabei um die Gesamtheit der vielfältigen Wege, auf denen Individuen sowie öffentliche und private Kulturinstitutionen in einem kontinuierlichen Prozess ihre gemeinsamen Angelegenheiten regeln, ihre unterschiedlichen Interessen ausgleichen und kooperatives Handeln initiieren. Dabei werden auch formelle Institutionen und mit Durchsetzungsmacht versehene Herrschaftssysteme mit eingeschlossen.165 So erfasst Governance das Zusammenwirken von Staat und Zivilgesellschaft bei der Regelung kollektiver Sachverhalte im gemeinschaftlichen Interesse, wobei dieses Zusammenwirken aus einem Neben- und Miteinander von rein staatlichen (Gesetzgebung zum Stiftungsrecht) bis hin zu rein zivilgesellschaftlichen Regelungsformen (Gründung einer privaten Kulturstiftung) bestehen kann.166 3.4 Neues Leitbild

Aus allen vorangegangenen Abschnitten ergibt sich zusammengefasst, dass der Terminus Kulturstaat hier zunächst als ein verfassungsrechtlicher Begriff entwickelt worden ist, da Verfassungsrecht und -wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland diesen nicht nur als Rechts- und Sozialstaat, sondern auch als Kulturstaat 167 ausweisen, zumal es gerade auch im Landesverfassungsrecht dazu entsprechende Bestimmungen gibt. Der Charakter Deutschlands als Kulturstaat sollte durch eine kulturelle Staatszielbestimmung im Grundgesetz eindeutig zum Ausdruck kommen, um dieses Leitbild auch dort ausdrücklich zu verankern.168 »Kulturstaat« wird hier aber vor allem auch als ein kulturpolitischer BeThomas/Holtmann, Everhard (Hg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 168ff., 175f.

163 | So Evers, Adalbert/Leggewie, Claus, Der ermunternde Staat. Vom aktiven Staat zur aktivierenden Politik, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 1999, S. 331ff., 338.

164 165 166 167 168

| | | | |

Evers/Leggewie, 1999, S. 337; Sievers, 2001, S. 133, 141f. Benz, 2004, S. 17. Mayntz, 2004, S. 68. S. dazu im Einzelnen Jung, 1976, S. 159. S. dazu näher oben Kap. III/1.1.

150 | Kulturstaat Deutschland, Teil 1: Kontext griff verwendet, um deutlich werden zu lassen, dass Staat und Kultur, Kultur und Staat aufeinander bezogen sind.169 In diesem Bezugssystem spielt das Individuum die zentrale Rolle. Dies gibt uns auch das Grundgesetz auf: Seine Würde und Entfaltungsmöglichkeiten, seine kulturellen Freiheiten und Teilhabechancen sind maßgeblich. Daher wird das Leitbild auf den Bezugspunkt »Individuum« in dreierlei Hinsicht fokussiert: Der aktivierende Kulturstaat hat den souveränen, den engagierten und den kompetenten Bürger im Fokus: •





Der aktivierende Kulturstaat setzt auf die Partizipation des Bürgers als Souverän in politischen Netzwerken. Der Bürger kann mit seinen Rechten und Funktionen auch innerhalb von Institutionen und Zusammenschlüssen Kulturpolitik aktiv mitgestalten. Der aktivierende Kulturstaat setzt auf Bürgerengagement, auf den Bürger als Ko-Produzenten, der sich für das Gemeinwohl, für das öffentliche Gut Kultur einsetzt. Der Bürger bringt sich mit seinen finanziellen Möglichkeiten und persönlichen Fähigkeiten in kooperative Arrangements ein. Auch Unternehmen und Wirtschaft übernehmen (Mit-)Verantwortung im kulturellen Leben und für die kulturelle Infrastruktur in Deutschland. Der aktivierende Kulturstaat zielt auf die Förderung der Kulturkompetenz eines jeden Bürgers. Auf der Basis der Reflexion des gesellschaftlichen Wandels und im Blick auf aktuelle und zukünftige gesellschaftliche Herausforderungen setzt er auf die Entwicklung der individuellen kulturellen Fähigkeiten jedes Einzelnen. Er sorgt für Teilhabe, Zugang und Vermittlung.

Aktivierende Kulturpolitik funktioniert dabei als »Cultural Governance«: Sie nutzt die Gesamtheit der vielfältigen Wege, auf denen Individuen sowie öffentliche und private Kulturinstitutionen in einem kontinuierlichen Prozess ihre gemeinsamen Angelegenheiten regeln, ihre unterschiedlichen Interessen ausgleichen und kooperatives Handeln initiieren. Der Kulturstaat aktiviert als Initiator und Moderator von Netzwerken staatliche und nicht-staatliche Akteure. Wesentliche Elemente der aktivierenden Kulturpolitik sind daher Kommunikation, Koordination, Kooperation und Konsens.170 169 | Im Godesberger Programm der SPD wurde dieser Begriff als eine »Steigerungsform« von Staatsgebilden und als Synthese von Demokratie, Sozialstaatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit angesehen, s. dazu Hermand, Jost, Die Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1965-85, München 1988, S. 52ff., 56. Alle anderen Parteien verwenden in ihren Programmtexten meist nur den Begriff »Kulturnation«, s. dazu Zimmermann/Geißler, 2008.

170 | Vgl. dazu im Einzelnen Teil 3.

Teil 2: Kontent

Kulturpolitik richtet sich auf inhaltliche Gestaltung. In der Praxis und in der Literatur zu Kulturpolitik und Kulturmanagement werden diese meist nach einzelnen Sparten und Einrichtungen eingeteilt: Bildende Kunst mit Museen, Galerien, Künstlerförderung, Jugendkunstschulen; Darstellende Kunst mit Musik, Theater, Oper, Musical, Musikschulen etc. Für das Konzept einer aktivierenden Kulturpolitik, die den Gesamtkontext kulturpolitischen Handelns, umfassendere inhaltliche Gestaltungsfelder und die Prinzipien eines politischen Konsenses in den Blick nimmt, erweist es sich als sinnvoller, drei wesentliche große Gestaltungsfelder zu unterscheiden, die jeweils besondere Bezüge, Eigengesetzlichkeiten und Akteursstrukturen aufweisen: die Künste, die Geschichtskultur und die Kulturelle Bildung. Die Verantwortlichkeiten von Bund, Ländern und Kommunen, die rechtlichen Grundlagen, die Arbeitsweise und die Beteiligung von Wirtschaft und Gesellschaft sind in diesen drei großen Feldern verschiedenartig, weisen aber innerhalb der größeren Bereiche jeweils Ähnlichkeiten auf: So ist Kulturelle Bildung eben nicht nur Aufgabe der Kommunen, sondern vor allem auch der Länder, ist Geschichtskultur in vielerlei Hinsicht für den Bund von größter Bedeutung, während für ihn etwa die Trägerschaft von Theatern so gut wie überhaupt keine Rolle spielt. Die Wirtschaft ist an Geschichtskultur wenig beteiligt, während dieses Feld durch großes Bürgerengagement geprägt ist. Kulturelle Bildung ist öffentliche Aufgabe, setzt aber auf eine starke Selbstbeteiligung der Bürger. Die Kunstproduktion erfolgt in einer Wertschöpfungskette, die erheblich vom Markt mitgeprägt wird, aber auch von der kulturellen Ordnungspolitik des Bundes in Form der rechtlichen Rahmenbedingungen. Einem jeden dieser Gestaltungsfelder Künste, Geschichtskultur und Kulturelle Bildung ist daher im Folgenden ein Kapitel gewidmet. Das hier entwickelte Konzept verfolgt also eine Gesamtschau, in der die Handlungsund Gestaltungsprinzipien für jeden dieser Bereiche im Mittelpunkt der Betrachtung stehen und daher die einzelnen ausdifferenzierten Genres (z.B. Theater, Gedenkstätten, Musikschulen) jeweils exemplarisch behandelt werden.

IV. Künste

Kunst schaff t eine eigene Welt. Sie ist jene Domäne, in der die für das Meistern aller gesellschaftlichen Aufgaben unabdingbare Differenz zwischen den realen und den möglichen Wirklichkeiten bearbeitet wird. Kunst setzt der Realität eine Doppelung entgegen, die es in ihrer völligen Andersheit – und nur in dieser Andersheit – ermöglicht, die »wirkliche« Welt genauer in den Blick zu nehmen. Kunst steht nicht nur in einem Spannungsverhältnis zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, sondern ist als Kern der Kultur auf die individuelle menschliche Existenz bezogen, was in folgendem Text von Wolfgang Rihm in besonders anschaulicher Weise zum Ausdruck kommt: »Kunst und Kultur sind Gegensätze, allerdings in ihrer effektivsten Verbindung. Kunst ist immer individuelle Setzung, Kultur dagegen: kollektive Spannung. Es entsteht aber keine Kunst ohne eine ihr förderliche Kultur, und keine Kultur überlebt ohne Künste, die sie herausfordern. Der Adressat von Kunst ist immer das Individuum. Selbst dann, wenn noch so viele Menschen von einer Kunst berührt werden, geschieht dies nur, weil diese Kunst das individuelle Empfinden jedes einzelnen anzurühren versteht. Kunst gibt jedem etwas anderes. Kultur kann dagegen nur aus ihrer mittel- wertig gleichen Gültigkeit für möglichst viele Beteiligte begründet werden. […] Kunst gilt immer einem Du. Kultur artikuliert ein Wir. […] Kultur defi niert. Kunst entgrenzt. […] Sowenig Kunst gleich Kultur ist, sowenig ist Kultur gleich Staat.« 1

Das derart spannungsreiche Verhältnis von Kunst und Kultur lässt sich auf eine ganz knappe Formel bringen: Kunst ist das Herz, der Motor, ja das Zentrum der Kultur. Und Kultur ist die Substanz von Politik. Der Umgang

1 | Rihm, 1998.

154 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent mit den Künsten macht daher nicht nur Kulturpolitik aus, sondern kennzeichnet die Haltung von Politik schlechthin. Kunst verdichtet symbolisch Strömungen und Tendenzen unserer kulturellen Entwicklung und macht sie damit reflektierbar. Umgekehrt schöpft Kunst aus dem Reservoir der Kultur und unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit ihren Rohstoff. Und Kulturpolitik hält dieses Austauschverhältnis in Bewegung. Die Künste bringen uns immer wieder neue Kräfte, die wir für die Orientierung bei der Bewältigung der gesellschaftlichen Herausforderungen so dringend benötigen. Eine Politik für die Künste sichert uns Durchsicht, Zusammensicht und Voraussicht. Während Kultur als Wirkungsfeld alle Lebensbereiche durchdringt, ist Kunst nur ein Sektor der Gesamtheit aller Lebensäußerungen. Dieser unterscheidet sich aber durch die spezifische Verarbeitung und Vermittlung von Wirklichkeit deutlich von anderen Lebensbereichen.2 Beispielhaft seien folgende Besonderheiten genannt: •





Kunst verarbeitet die Realität nicht in Eindeutigkeit, sondern in Vieldeutigkeit, etwa im Sprachlichen und Musikalischen oder im gestalteten Bild. Kunst hat die Funktion, Spannungen und Widersprüche der Zeit offenzulegen und zu zeigen, dass es Formen der Lebensäußerungen gibt, die sich unmittelbaren Verwertungsinteressen entziehen. Kunst reflektiert den Alltag, macht Phänomene und Zusammenhänge bewusst und animiert zur Auseinandersetzung mit veränderter Wahrnehmung.

Künste leben vom Wagnis und entfalten Visionen. Innovationen anzustoßen, Unvorhergesehenes, Unbequemes und Unbekanntes zu ermöglichen, heißt, dem Experimentellen Raum zu geben. Karl Kraus hat gesagt: »Kunst ist das, was Welt wird, nicht was Welt ist.«3 Darin kommt eine die Künstler und die Kulturpolitiker verbindende Aufgabe zum Ausdruck: Kunst macht Politik, indem sie über ihre Ausformungen Anlass bietet zur Auseinandersetzung mit dem, was uns umgibt und ausmacht. Im Nachvollzug dieser »weltbildenden Akte« entsteht kulturelle Öffentlichkeit und ein künstlerisch-kulturelles Klima, das bereichernd wirken kann. Die Produktions-, Vermittlungs- und Vermarktungsbedingungen der Künste haben sich allerdings gewandelt. Kunst löst sich immer wieder:

2 | S. auch zu den Spezifi ka der unterschiedlichen künstlerischen Genres wie Film, Literatur, Musik, Bildende Kunst etc. Weiss, Christina, Stadt ist Bühne. Kulturpolitik heute, Hamburg 1999, S. 105ff.

3 | Kraus, Karl, Pro Domo et Mundo, München 1912, Kap. VII.

IV. Künste | 155 • • • • •

von ihrer materiellen Basis durch Virtualisierung; von der Trennung in Kunstobjekt und Gebrauchsgegenstand; von Kunst als fertigem Produkt durch work in progress; vom Autor und von der Einheit von Autor und Werk, z.B. in der interaktiven Kunst, in der das Publikum die Kunst mitkonstituiert; von ihren herkömmlichen Orten wie Theater, Museen, Galerien oder Konzertsälen.

Kunst entsteht auch jenseits staatlicher und städtischer Kulturinstitutionen. Die Übergänge zwischen den Künsten und der Lebenswelt, zwischen öffentlich geförderter Kunst und Mode/Design/Werbung, zwischen staatlich getragenen Kulturinstitutionen und der Kulturwirtschaft sind viel fließender geworden. Mit alldem ändern sich auch Rezeption und Rezeptionsgewohnheiten. Die Auseinandersetzung mit Wahrnehmungsprozessen, die Kunstvermittlung und der Zugang der Kulturbürger zur Kunst sind von entscheidender kulturpolitischer Relevanz. Kulturpolitik sollte somit im Gestaltungsfeld Künste auf diese spezifischen Wertschöpfungsprozesse eingehen (Kap. IV/1), die Künstler mit ihren Produktionen schützen und fördern (IV/2) sowie auf Zugang und Vermittlung achten, um Rezeption zu ermöglichen (IV/3).

1. K ÜNSTLERISCHE W ERTSCHÖPFUNG Die Künste sind ein zentrales Gestaltungsfeld der Kultur. Eine umfassende Kulturpolitik für die Künste hat eine Fülle von Aufgabenfeldern für den Einsatz der dem Kulturstaat zur Verfügung stehenden Instrumentarien: die Gestaltung öffentlich-rechtlicher Rahmenbedingungen und die Bereitstellung von Ressourcen. In einem ersten Reflex wird Kulturpolitik oft auf die Förderung von Künstlern und kulturellen Einrichtungen reduziert, doch diese Sichtweise greift zu kurz. Denn die künstlerischen Werk- und Wirkprozesse durchlaufen sehr unterschiedliche Stadien, an ihnen sind die unterschiedlichsten Akteure und Institutionen beteiligt. Je nach künstlerischem Genre (vgl. dazu Kap. IV/1.2) gibt es sehr spezifische Ausprägungen. Kunstproduktion und -rezeption werden zudem von allen drei Sektoren (Markt, Staat und Dritter Sektor) mitgeprägt (s. dazu IV/1.3). Um konkreter zu verdeutlichen, welche Aufgabenfelder Kulturpolitik im Gestaltungsfeld Künste hat, ist es hilfreich, die einzelnen Schritte des künstlerischen Wertschöpfungsprozesses vom schöpferischen Akt des Künstlers bis hin zum Wahrnehmungsakt durch den Rezipienten in seinen einzelnen Schritten näher zu beleuchten (IV/1.1).

156 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent

1.1 Wertschöpfungskette

Das Konzept der »kulturellen Wertschöpfungsketten« gewinnt in der internationalen Diskussion zunehmend an Bedeutung. Dabei geht es darum, die Wertschöpfung kultureller Aktivitäten vom kreativen Akt bis zur Aufnahme durch Publikum und Kritik nachzuzeichnen. 4 Die Wertschöpfungskette ermöglicht eine Zuordnung von Tätigkeiten und Berufen, die in allen Stufen der Wertschöpfungskette auf den kulturellen Inhalt des in Herstellung befindlichen Produkts bezogen ist. Das Wertschöpfungsmodell ermöglicht eine tiefer gehende Betrachtung der Art und Weise, wie unterschiedliche Personen und/oder Unternehmen in die Entstehung eines kulturellen Gutes einbezogen werden. So lassen sich detaillierte Erkenntnisse über den gesamten Entstehungs- und Verwertungsprozess von kulturellen Gütern und über die einzelnen Schritte dieses Prozesses gewinnen. Dieses ursprünglich für die erwerbswirtschaftlich ausgerichtete Kulturwirtschaft entwickelte Modell lässt sich ohne Weiteres auch auf die nichtkommerziellen Wertschöpfungsprozesse anwenden. Die nachfolgend dargestellte Prozesskette ist in ihrer Abfolge immer gleich – unabhängig davon, ob die künstlerische Produktion letztlich auf kommerziellen Gewinn ausgerichtet ist oder aufgrund öffentlicher oder gemeinnütziger Finanzierung an nichtkommerziellen Zielen orientiert ist. Die Wertschöpfungskette stellt sich wie folgt dar (s. auch Abb. 3): • • • • •

Schöpferischer Akt; Produktion; Weiterverarbeitung; Vertrieb und Vermittlung; Wahrnehmungsakt.

Diese lineare Darstellung geht davon aus, dass zu Beginn der künstlerischen Wertschöpfungskette ein schöpferischer Akt des Künstlers steht,5 der sodann über die verschiedenen Stufen der Produktion und Weiterverarbeitung an den Rezipienten vermittelt wird, der als Kulturbürger das entsprechende Kunstwerk wahrnimmt. Am Anfang und am Ende dieser Kette steht jeweils ein Individuum.

4 | S. Enquete-Schlussbericht, S. 347. 5 | Wagner, Kulturgeschwätz, 2000, S. 33ff. unterscheidet fünf Phasen und Dimensionen kreativer Entwicklung: die expressive, die produktive, die inventive, die innovative und die emergentive (als Höchstentwicklung des schöpferischen Potenzials).

IV. Künste | 157 Abbildung 3: Die kulturelle Wertschöpfungskette

Schöpferischer Akt

Produktion

Weiterver-

Kulturgüter Vertrieb

arbeitung

und -dienstleistungen

Unterstützende Dienstleistungen

Quelle: Enquete-Schlussbericht, S. 347

Es wird sehr schnell deutlich, dass Kulturpolitik sich nicht darauf beschränkt, »schöpferische Akte« zu fördern, sondern Aufgaben auf jeder Stufe der Wertschöpfungskette hat. Durch die Bereitstellung von Ressourcen in Form von Auftragswerken, Stipendien, Studios, Ateliers etc. werden schöpferische Akte ermöglicht und unterstützt. Die Produktion in Form von Auff ührungen, Konzerten, Kunstwerken, Tanz- und Theaterstücken bedarf wiederum anderer Förderinstrumentarien wie die Verfügung über Räume, Auff ührungstechnik, Präsentationsmöglichkeiten, Eintrittsgelder. Der Weiterverarbeitung dienen Kataloge, Auff ührungsreihen, Dokumentationen, Vervielfältigungen etc. Der Vertrieb und die Vermarktung, die Vermittlung von Kunst an das Publikum und die Konsumenten erfordert wiederum ein anderes Instrumentarium, etwa Öffentlichkeitsarbeit, Medieneinsatz, Internetangebote, Ticketing, Einführungsveranstaltungen. Auf jeder Stufe dieser Wertschöpfungskette können Akteure mit anderen Professionen und Produktionsmitteln hinzutreten. Für das Ende der Kette ist entscheidend, dass es letztlich viele »kompetente Kulturbürger« gibt, die Interesse an den jeweiligen künstlerischen Produktionen haben. Es sollte bewusst sein, dass die Wertschöpfung nicht nur »linear« entlang dieser Kette verläuft, sondern dass Künstlerproduktion sich auch in Netzwerken abspielt, die genre- und branchenübergreifend sind. Die entsprechenden Wechselwirkungen können beachtlich sein. Gleichwohl bietet der Ansatz der Wertschöpfungskette ein grundlegendes Modell für die Identifi kation und Darstellung der Interventionspunkte für eine aktivierende Kulturpolitik.6 Ob in der Musik, im Theater und Tanz, in der Literatur, in der Bildenden Kunst und Medienkunst oder im Design – in jedem Genre gibt es spezifische Produktionsbedingungen, künstlerische Milieus, ausdifferenzierte Förder- und Marktstrukturen, unterschiedliche Absatzkanäle und 6 | S. dazu auch Enquete-Schlussbericht, S. 348.

158 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent Vermittlungsinstitutionen, verschiedenartige Verbreitungsmedien und diverse Publikums- und Käuferschichten. Der Einsatz der kulturpolitischen Instrumente bedarf daher einer vorausgehenden Analyse der jeweils spezifischen Rahmenbedingungen für die künstlerische Wertschöpfung, um Ressourceneinsatz und Rechtsetzung zielgenau einsetzen zu können. In den folgenden Abschnitten werden die Prinzipien dieser Prozesse und ihrer kulturpolitischen Implikationen dargestellt, wobei Genrespezifika jeweils nur exemplarisch aufgegriffen werden. 1.2 Künstlerische Genres

Geht man von den drei wichtigsten menschlichen Kommunikationsformen aus, so entspricht dem Sprechen die Literatur, dem Sehen die Bildende Kunst und dem Hören die Musik. Der Film und das Theater sind letztlich Mischformen der drei Grundformen.7 Wort, Bild und Ton sind nicht schon aus sich heraus Kunst, sondern werden es erst durch einen besonderen schöpferischen Akt. Dabei gibt es kein für alle Zeiten gültiges Verständnis von dem, was Kunst ist und was nicht. Der Begriff von Kunst ist immer auch abhängig von einem durch geistige und soziale Strömungen geprägten Kontext einer jeden Epoche. Kunst wurde in den Zeiten der Begründung der »Neuen Kulturpolitik« vor allem als ein Medium der Demokratisierung und Emanzipation der Gesellschaft angesehen.8 In den heutigen Zeiten des »Kulturbetriebs« verbreitet sich eine funktionalere Betrachtung: Es wird deutlich, dass Kunst vielfach mitbestimmt wird (oder sogar abhängig ist) von ökonomischen Prozessen, was auch in Bezeichnungen wie »Buchmarkt«, »Literaturmarkt«, »Musikmarkt« oder »Kunstmarkt« zum Ausdruck kommt. Dabei können auch die Kategorien von »E-Kultur« und »U-Kultur« bei der Abgrenzung zwischen kommerzieller und öffentlich zu fördernder Produktion nicht weiterhelfen: So ist die »E-Kultur« von Anna Netrebko zwar nicht von vornherein kommerziell ausgerichtet, wird aber durch die entsprechende Vermarktung kommerzialisiert, was dann möglicherweise auch auf Produktion, Werkauswahl etc. zurückwirkt. Eine der »U-Kultur« zugehörige Weltmusikgruppe kann höchst förderbedürftig sein, da sie (noch) so innovativ ist, dass sie noch nicht auskömmliche (kommerzielle) Einnahmen erwirtschaftet. Eine aktivierende Kulturpolitik beschränkt sich in ihrer Ausrichtung aber nicht allein auf die von der öffentlichen Hand finanzierte und ermöglichte Kunstproduktion im »öffentlichen Kulturbetrieb«, sondern schließt 7 | S. Heinrichs, 2006, S. 14. 8 | So lauten Kapitelüberschriften von Hilmar Hoff manns Buch »Kultur für alle«: »Theater und Emanzipation« und »Das demokratische Museum«. Hoff mann, Hilmar, Kultur für alle, Frankfurt a.M. 1979. Vgl. dazu auch Heinrichs, 2006, S. 16f.

IV. Künste | 159 Kunstproduktion in der privatrechtlich gemeinnützigen Kulturpolitik ebenso ein wie in den privatrechtlich kommerziellen Kulturbetrieben, die eindeutig auf Gewinnerzielung ausgerichtet sind. Welche unterschiedlichen kulturpolitischen Aufgabenstellungen es in den verschiedenen Stufen der Wertschöpfungskette unabhängig von ihrer jeweiligen kommerziellen und nicht-kommerziellen Ausrichtung gibt, soll am Beispiel der Literatur deutlich gemacht werden: Die Förderung von Autoren kann durch den Staat, den Dritten Sektor und auch durch den Markt erfolgen. Alle drei Sektoren können dazu beitragen, dass es den schöpferischen Akt, letztlich den Buchtext gibt, der weiter verarbeitet, produziert und verbreitet wird. Eine durch die Kulturpolitik bewirkte rechtliche Rahmenbedingung für den Buchmarkt, die Buchpreisbindung, hat entscheidende Wirkung auf die Verfügbarkeit von Literatur vor Ort in auch kleineren Buchhandlungen. Leseförderung beginnt schon im Kindergarten, kann sich in der Schule fortsetzen, wird hier vor allem auch vom Staat verantwortet, aber vielfach durch ehrenamtliches Engagement (Lesepaten) unterstützt. Und literarische Veranstaltungen werden ebenso von Verlagen wie von Stiftungen, Bibliotheken, Buchhandlungen und Kommunen durchgeführt. Alle Sektoren und Akteure greifen somit im Zuge der für Literaturproduktion und -vermittlung typischen künstlerischen Wertschöpfungskette ineinander. Schon in diesem Beispiel wird deutlich, dass in dem Wertschöpfungsprozess die »Mittler«, also die Verleger und Buchhändler, eine ganz entscheidende Position innehaben, denn sie sind die »ökonomischen Scharniere«. Auch in den anderen Genres ist diese mittlere Position insbesondere unter ökonomischen Gesichtspunkten entscheidend: Interpreten und Musikvermarkter, Kunsthändler und Galeristen, Filmproduzenten und Filmverleiher, sie alle haben meist eine den Autoren, Komponisten, Malern und Bildhauern gegenüber dominierende Rolle, die nur dann relativiert wird, wenn der Künstler selbst ein »Star« ist.9 Besonders stark ist diese Entwicklung im Musikbereich, in dem zeitgenössische Komponisten nur wenig Beachtung finden. In der Bildenden Kunst sind demgegenüber die Künstler aufgrund des unmittelbaren Bezugs zwischen Autor und Kunstwerk, das ohne Einschaltung eines Interpreten rezipiert wird, wiederum stärker im Fokus. Die künstlerischen Genres weisen darüber hinaus eine unterschiedliche Institutionalisierung etwa in Form von Theatern, Konzertsälen, Museen, Atelierhäusern, Kulturzentren etc. auf. Beim Einsatz von Ressourcen und Recht als Instrumentarium der Kulturpolitik sind diese jeweiligen Unterschiede der Genres zu beachten. In jedem Fall sollten die Künstler als diejenigen, die Innovatives hervorbringen und ohne die der »Kunstbetrieb« nicht funktionieren könnte, in das Zentrum kulturpolitischer Aufmerksamkeit gestellt werden. 9 | So auch Heinrichs, ebd., S. 279.

160 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent Die größten und teuersten Kunstproduktions-Institutionen sind die Theater.10 Theater ist die älteste Form, in der die drei Hauptsparten der Künste zusammengebracht werden. Theater sind stehende große Betriebe. Die öffentliche Kulturfinanzierung fließt zum großen Teil (insgesamt werden jährlich ca. 2,5 Mrd. Euro aus Mitteln der öffentlichen Hand für Theater ausgegeben)11 in diese Strukturen, weshalb deren Besonderheiten hier exemplarisch skizziert werden sollen. Theater nimmt gesellschaftliche Realität auf, setzt sich mit ihr auseinander, hält uns den Spiegel vor und zeigt uns Wege in die Zukunft. Dies ist eine sehr kurz gefasste inhaltliche Begründung für die öffentliche Förderung der Theaterkunst, die uns sofort einleuchtet. Indes gibt es drei argumentative Herausforderungen oder auch Legitimationsprobleme, die für die künstlerische Wertschöpfung von Oper, Tanz und Schauspiel spezifisch und nicht jedem Politiker von vornherein geläufig sind:12 Ein erstes Legitimationsproblem der Bühnenkunst im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit eines Kunstwerkes liegt in ihrer befristeten Präsenz. Bühnenkunst ist Live-Erlebnis. Bühnenkunst ist zudem stets das Ergebnis eines Manufaktur- oder Handwerksbetriebes. Daher ist sie in ihren Strukturen ökonomisch nur sehr begrenzt der Normung, Rationalisierung oder gar Virtualisierung zugänglich. Diese notwendigerweise antiquierten Spezifi ka der Bühnenkunst führen zu den unvermeidlich hohen Aufwendungen für dieses Genre. Ein zweites Legitimationsproblem liegt darin, dass jede Förderung zeitgenössischer Kunst in gewisser Weise mit ihrer eigenen Überforderung fertig werden muss. Es gelingt nur selten, in der Gegenwart bereits das zu erkennen, was in der Zukunft als herausragend eingeschätzt werden wird. Dazu ein Satz von Walter Benjamin: »Es ist von je her eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist.«13 Darin spiegelt sich der in der künstlerischen Produktion immanente Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Verantwortung einerseits sowie Autonomie und Experimentierfreude der Kunst andererseits wider (auch zwischen nicht-wirtschaftlichen 10 | Einen umfassenden Überblick zur Theaterpolitik gibt das vom Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft herausgegebene Jahrbuch für Kulturpolitik 2004. Thema: Theaterdebatte, Essen 2004.

11 | Vgl. Enquete-Schlussbericht, S. 106; Söndermann, 2006, S. 406. 12 | Vgl. dazu auch die zahlreichen instruktiven Texte von Theaterakteuren in: Deutscher Bühnenverein (Hg.), Muss Theater sein? Fragen – Antworten – Anstöße, Köln 2003 sowie Iden, Peter (Hg.), Warum wir das Theater brauchen, Frankfurt a.M. 1995.

13 | Benjamin, Walter, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 1966, S. 36.

IV. Künste | 161 und wirtschaftlichen Entscheidungskalkülen). Im »Fördern, was es schwer hat« liegt aber ein entscheidender Grund für die öffentliche Förderung des Theaters. Diese Rolle dürfen wir keineswegs vernachlässigen. Zeitgenössische Autoren, Komponisten und Choreografen gehören als bedeutsame Akteursgruppen in diesen Zusammenhang. Sie sind letztlich in ihren »schöpferischen Akten« davon abhängig, dass der Theaterbetrieb ihnen einen Auftrag erteilt oder eines ihrer Stücke zur (Ur-)Aufführung bringt. Die dritte Herausforderung der Bühnenkunst in Deutschland basiert auf der besonderen Geschichte von Oper und Theater in diesem Land. Die deutsche Bühnenlandschaft ist seit dem 18. und 19. Jahrhundert durch ihre besondere Vielzahl und Vielfalt gekennzeichnet: Jeder Hof, jede Reichsstadt und jedes Territorium, das auf sich hielt, war bemüht, eine repräsentative Bühne in seinen Mauern zu haben. Dieses Spezifikum bundesdeutscher Kultur ist ein »Weltkulturerbe«. Wir sollten es erhalten, auch wenn dies im Wortsinne seinen Preis hat, der übrigens pro Bundesbürger nur ein Sechstel der Rundfunk- und Fernsehgebühren beträgt. Gerade in diesem Reichtum öffentlich getragener Theater besteht ein einmaliges Potenzial für künstlerische Wertschöpfung, das unbedingt und immer wieder für das »Zeitgenössische« aktiviert werden sollte. Gerade auf diesem Feld finden Theater ihre öffentliche Legitimation, die in kulturpolitische Begründungen und Zielsetzungen einfließen sollte. Es ist ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die drei genannten Herausforderungen nur durch intensive Anstrengungen der öffentlichen Hand bewältigt werden können und die Kommunen angesichts ihrer Finanzschwäche damit nicht allein gelassen werden dürfen. Es gibt aber auch keinen Freibrief für Kulturpolitiker oder Theatermacher nach dem Motto: »Mein Theater gehört mir, bezahl es, Banause!« Mit Strukturreformen, einem qualifizierten Management und Marketing mit dem Ziel, Finanzmittel höchst effektiv einzusetzen, können Kulturpolitiker und Theatermacher gemeinsam ihre »Hausarbeiten« erledigen, um Finanzpolitiker und die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass das Geld im Theater richtig angelegt ist, da effiziente Strukturen für die künstlerische Wertschöpfung vorhanden sind. Theater mit künstlerischer und kaufmännischer Geschäftsführung sowie mit Aufsichtsräten besetzt, die politische und wirtschaftliche Kompetenz haben, bieten alle Chancen dafür. Finanzen und Strukturen sind nur Mittel. Zweck ist gutes Theater. Die Macht und die Kräfte der Beteiligten sind dabei immer wieder neu auszubalancieren.14 Kontinuität in Theaterarbeit und -politik, aber auch in finanzieller 14 | Die Theater in Essen sind auch deshalb in die bundesdeutsche Spitzengruppe aufgerückt, weil sie solche Strukturen aufweisen: eine Theater GmbH mit klar defi nierten künstlerischen Budgets für die Intendanten; Aufsichtsrat und Geschäftsführer, die auf die Einhaltung der Budgets achten und alles dafür tun, dass Technik und Marketing funktionieren.

162 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent Hinsicht (etwa die Zusicherung, dass Tarifsteigerungen jeweils aufgefangen werden) ist eine entscheidende Basis für die Tragfähigkeit der Produktionsstrukturen. Das kulturpolitische Bewusstsein ist in Deutschland indes außerordentlich stark davon geprägt, dass künstlerische Wertschöpfung im Theaterbereich in und durch Theater in öffentlicher Trägerschaft geleistet wird. Leitbild ist dabei das städtische oder staatliche »Drei-Spartenhaus«.15 Dabei wird oft ausgeblendet, dass es dazu eine Fülle von Alternativen gibt, wie der Blick ins europäische Ausland und in die gesamte freie Theaterszene in Deutschland lehrt. Inzwischen gibt es in der Bundesrepublik Deutschland rund 1000 Freie Theater; die Zahl der Privattheater ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen.16 Auch das Theaterangebot durch Tourneetheater und die wachsende Zahl von Klein- und Mittelstädten, die sich etwa in der Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen (Inthega) zusammengeschlossen haben, zeigen, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, dem Publikum ein qualifiziertes Theaterangebot zu machen. Angesichts fortlaufend steigender Kosten der öffentlich getragenen Theater bei gleichzeitig anwachsendem Defizit in den kommunalen Haushalten wird der Druck auf die traditionellen Produktionsformen der Theater immer größer. Denn trotz der Reformmaßnahmen lassen sich innerhalb der bestehenden Theaterstrukturen und -institutionen kaum nennenswerte zusätzliche Einsparungen erzielen. Die Handlungsoptionen für Kulturpolitik verringern sich: Die Schließung weiterer Sparten und Theater über den bisher bekannten Umfang hinaus ist eine Handlungsoption; eine andere ist, die Theaterlandschaft als Ganzes strukturell weitergehend zu reformieren.17 Es stellt sich zunehmend die Frage, ob gute Theaterkunst zwingend mit den bestehenden traditionellen Theaterstrukturen verbunden ist. Dies gilt umso mehr, als die Zahl der Theaterbesuche in den klassischen Betrieben langsam, aber kontinuierlich abnimmt; zwischen 1970 (bzw. 1972) und 2001 mussten die beiden Kernsparten des öffentlich getragenen Theaters, das Schauspiel und die Oper 2,2 bzw. 1,2 Mio. Besucher weniger verzeichnen.18 Doch nach wie vor ist die Gesamtzahl von rund 33 Mio. Besucher von deutschen Theater-, Orchester- und Festspielunter15 | Im Deutschen Bühnenverein sind 150 im Wesentlichen von der öffentlichen Hand getragene Theater und Opernhäuser sowie 48 Kulturorchester organisiert.

16 | S. Enquete-Schlussbericht, S. 106. 17 | Vgl. dazu die zahlreichen Beiträge in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft, 2004, darin insbesondere den Überblick von Bernd Wagner, S. 11ff.

18 | Vgl. dazu detaillierter Bartella, Raimund, Stadttheater in Deutschland – Ein »öffentliches Gut«, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2004, Essen 2004, S. 60ff.

IV. Künste | 163 nehmen, von denen ca. 19 Mio. auf die öffentlich getragenen Theater, rund 10 Mio. auf die Privattheater, rund 2,6 Mio. auf die selbständigen Kulturorchester und rund 1,6 Mio. auf die Festspielhäuser entfallen, außerordentlich eindrucksvoll.19 Kulturpolitik sollte sich indes nicht daran festhalten, nur die bestehenden Verhältnisse festzuschreiben. Die Theaterförderung muss von der ästhetischen Ausrichtung auf der einen und dem Publikum auf der anderen Seite konzeptionell neu gedacht werden. Dabei sollte öffentliche Theaterförderung die verschiedensten Erscheinungsformen Darstellender Kunst und auch neuere Entwicklungen würdigen.20 Eine der tragenden Säulen der Theaterlandschaft in Deutschland ist das Freie Theater, das allerdings ökonomisch bei Weitem schlechter ausgestattet ist als die öffentlichen Theaterinstitutionen, obwohl gerade auch vom Freien Theater viele künstlerisch-ästhetische Innovationen ausgehen. Dies lässt sich insbesondere im Bereich des Tanztheaters im Verhältnis zum klassischen Ballett veranschaulichen. Manche Innovation im Stadtund Staatstheater ist dadurch zustande gekommen, dass diese ästhetische Entwicklungen des Freien Theaters aufgegriffen haben oder Verantwortliche aus der Off-Szene in die öffentlichen Theater gewechselt sind. Umso wichtiger ist es, dass Kulturpolitik Vertreter des Freien Theaters in die Gestaltung einer künftigen Theaterlandschaft aktiv einbindet. Dabei geht es nicht um ein »Entweder/Oder«, um Stadttheater oder Freies Theater, sondern um ein sinnvolles Neben- und Miteinander.21 Ein »Alternativmodell« für Theaterproduktionen ist das des Theaterhauses oder des Tanzhauses.22 »Ein Theaterhaus ist •

der Ort für Produktion und Präsentation, Identifi kation und Interaktion,



das Netzwerk des künstlerischen Austausches, mit anderen Künsten und anderen Kulturen,



die Agentur für Kulturmanagement, für Gastspiele, Festival, Kunstvermittlung, für die konzertierte Akquise von Fördermitteln, Sponsoring, Fundraising, Public Relations und andere Marketingmaßnahmen.«23

19 | S. Deutscher Bühnenverein (Hg.), Theaterstatistik 2004/2005, Köln 2006.

20 | Vgl. Schneider, Wolfgang, Von Projekt zu Projekt – Am Katzentisch der Kulturpolitik? in: Fonds Darstellende Künste (Hg.), Freies Theater in Deutschland. Förderstrukturen und Perspektiven, Essen 2007, S. 82ff.

21 | Vgl. ebd., S. 85. 22 | S. ebd., S. 86. 23 | Ebd., S. 90.

164 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent In der Kulturpolitik ist eine grundlegende Strukturreform auch deshalb problematisch, weil die Abkehr vom Theaterbetrieb traditioneller Prägung mit stehendem Ensemble etc. zwar eine höhere Flexibilität bringen kann, dies aber gleichzeitig die Gefahr in sich birgt, dass eine »Abwicklung« eines solchen flexiblen Theaterhauses oder Theaterbetriebes erleichtert wird. Gleichwohl bedarf es einer kulturpolitischen Reflexion, denn letztlich bieten Theater ein einzigartiges unmittelbares künstlerisches Erlebnis im Zusammenspiel von Bild, Sprache und Musik. Am Beispiel des »Theaterbetriebes« wird deutlich, dass Kulturpolitik die jeweiligen Spezifi ka der einzelnen Genres zu berücksichtigen hat, wenn sie ihr Instrumentarium im Gestaltungsfeld Künste ziel- und passgerecht einsetzen will. Literatur, Musik, Bildende Kunst, Theater oder Film haben jeweils eigene Produktionsweisen, die einer spartenspezifischen rechtlichen und einer ausdifferenzierten strukturellen Ausgestaltung der Kultureinrichtungen und der einzelnen Stufen der Wertschöpfungskette bedürfen. 1.3 Staat, Markt, Gesellschaft

Wirkungsvolle kulturpolitische Entscheidungen kommen nicht ohne Reduktion aus: Diese beginnt mit der Reflexion des Verbindenden zwischen den beteiligten Akteuren, schaff t Bewusstsein für Verbindliches und führt zur Festlegung und Aufteilung von Verantwortlichkeiten bei Staat, Kommunen und Verantwortungspartnern, den gesellschaftlichen Akteuren in Bürgerschaft, Wirtschaft etc. Kulturpolitik muss die Handlungslogiken der Beteiligten berücksichtigen, aber auch entschieden Verantwortung begründen. Herkömmlichen kulturpolitischen Begründungen und Handlungsweisen liegt gerade mit Blick auf die Kunstproduktion und -förderung oft eine starke Trennung zwischen Staat, Markt und Gesellschaft zugrunde. Die Wechselwirkungen und -bezüge sind jedoch von konstitutiver Bedeutung, um das Kunst- und Kulturleben in Deutschland zu erfassen. Die Übergänge zwischen öffentlichen und privat geführten Kultureinrichtungen, öffentlich geförderter und kommerziell erfolgreicher Kunstproduktion sind in den letzten Jahrzehnten vielfach fließender geworden. Die Zweiteilung der ästhetischen Kultur in eine die gesellschaftliche Repression befördernde Kulturindustrie und in eine Sphäre der sich der repressiven Vergesellschaftung entziehenden Kunstwerke, wie vor allem Adorno sie entwickelt hat, ist für unsere jetzige und die zukünftige gesellschaftliche Situation allzu idealtypisch. Diese Dichotomie allein reicht nicht, die Phänomene zu erfassen, die sich aus neueren Kultur- und Kunstentwicklungen sowie angesichts der fließenden Übergänge von Kunst und Kommerz, von Kultur und Wirtschaft ergeben. Für kulturpolitische Analysen ist die idealtypische Zweiteilung allerdings als Grunderkenntnis wichtig: Die Unterschiede von Kulturindustrie oder Kulturbetrieb einerseits und

IV. Künste | 165 individueller künstlerischer Setzung jenseits der Verwertbarkeit und Vermarktung andererseits sollten immer wieder bewusst gemacht werden. Denn eine nur noch auf Verwertung, Event und Vergesellschaftung individueller künstlerischer Prozesse ausgerichtete Kulturpolitik würde sich einerseits ihres kritischen Moments berauben und andererseits die höchst subjektiven Prozesse ästhetischer Erfahrungen ausklammern. Nicht aus dem ökonomischen Zielsystem heraus leitet sich der öffentliche Auftrag der Kulturarbeit ab, sondern unter anderem aus Verfassungsnormen (z.B. Art. 18 LVerf NRW: »Kultur, Kunst und Wissenschaft sind durch Land und Gemeinden zu fördern.«) sowie aus der gesellschaftlichen Rolle, die Kunst und Kultur zukommen (»Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik«). Kunst provoziert den Einzelnen, zwingt uns immer wieder von Neuem, unseren eigenen Standort zu bestimmen. »Eine Kultur, die das Vorhandene nur verbraucht, hinterlässt als Spur lediglich Müll.«24 Das (angenommene) Wechselspiel zwischen »Kulturindustrie« und »Kunst« hat in zweierlei Hinsicht individuelle Komponenten und Konsequenzen: zum einen bezogen auf den Kulturbürger als »Kulturkonsument« und zum anderen bezogen auf den einzelnen Künstler als »Produzent«: Der Kulturbürger hat eine permanente Auswahl zwischen den vom Markt bestimmten und den durch den Staat geförderten Kulturangeboten.25 Bei seiner Auswahl ist dieses Faktum indes bei Weitem nicht das allein entscheidende. Die wohl bedeutendsten Entscheidungsfaktoren sind: reales oder durch Medien, Moden, Mitstreiter vermitteltes Interesse, Verfügbarkeit, Preis (kann allerdings durch den Staat vermindert sein). Der einzelne Künstler seinerseits ist real selten unabhängig vom Markt, produziert meist auch für ihn, hat indes aufgrund der Kulturindustrie und der Potenziale des Marktes meist mehrere Handlungsoptionen und unterschiedliche Spielräume – sei es als Akteur darin oder jenseits davon. Dass das nicht immer mit wirtschaftlicher Unabhängigkeit einhergeht, steht auf einem anderen Blatt. Künstler sind meist – und oftmals gleichzeitig – in mehreren Bereichen des Kulturschaffens tätig: •



im staatlichen Sektor als abhängig Beschäftigte, z.B. als Stipendiaten der öffentlichen Hand, als Bildende Künstler, die Skulpturen im öffentlichen Auftrag erstellen oder deren Kunstwerke öffentlich angekauft werden; auf den verschiedenen Märkten als Buchautoren, Musiker, (Star-)Interpreten, als Künstler, die durch Galerien positioniert und vermarktet werden; 24 | Rihm, 1998. 25 | Selbstverständlich gibt es auch eine Fülle dazwischenliegender Misch-

formen von Trägerschaften und Angeboten.

166 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent •

im sogenannten Dritten Sektor, wenn sie von soziokulturellen Zentren, Kunstvereinen, Orchestervereinigungen, Stiftungen oder Mäzenen engagiert oder gefördert werden.

Bildende Künstler können sowohl von »Non-Profit-Vermittlern« wie Kulturämtern, Kirchen, Krankenhäusern, Kulturfördervereinen, Banken und Sparkassen profitieren. Hier gibt es einen florierenden Ausstellungsbetrieb, dem sich mittlerweile auch Agenturen widmen, die für die potenziellen Aussteller und die Künstler alle notwendigen vermittelnden und organisatorischen Arbeiten übernehmen. Der Kunstmarkt ist aber auch ein »knallhartes Geschäft«, was der Kunsthandel, der Auktionshandel und die Kunstmessen belegen.26 Auf diesem Markt werden viele 100 Mio. pro Jahr umgesetzt. Sammler und Art Consultants investieren oder verfügen über erhebliche Summen. Die Museen spielen für diesen Markt aber auch eine entscheidende Rolle sowohl im Hinblick auf Wertsteigerungen von Kunstwerken, die in Museen platziert werden, als auch als potenzielle Leihnehmer nicht nur einzelner Bilder, sondern kompletter Sammlungen. Dabei können umfangreiche Sammlungsangebote die öffentliche Hand auch dazu veranlassen, neue Museen oder Erweiterungsbauten aus öffentlichen Geldern zu finanzieren – mit allen sich daraus ergebenden Wechselwirkungen und Komplikationen. Ohne Kenntnis dieser wechselseitigen Abhängigkeiten kann Kulturpolitik ihren öffentlichen Auftrag nicht hinreichend bestimmen. Damit wird klar: Ob sie es will oder nicht, die öffentliche Hand ist Akteur in den kommerziellen Prozessen der Kulturwirtschaft. Umso wichtiger ist es, dass Kulturpolitik einerseits den öffentlichen Kulturauftrag reflektiert und Position bezieht und andererseits die Wechselbezüge zu privaten Partnern aktiv gestaltet und so ökonomische Potenziale aktiviert. Eine Kulturpolitik, die sich als Konkurrenzveranstaltung zur Kulturindustrie verstünde und sich daher vorrangig auf ökonomische Zuwächse ausrichtete, würde allerdings dazu neigen, das längst Anerkannte zu Lasten des Experimentellen zu bevorzugen. Das schaff t gerade nicht das Klima, in dem Innovation und Emanzipation, Engagement und Autonomie wachsen. Kulturpolitik sollte deshalb Möglichkeiten dafür schaffen, dass sich Unbekanntes, Unvorhersehbares und eben auch Unbequemes entfalten kann. Das macht die Anstrengung erforderlich, Räume für künstlerische Wagnisse bereitzuhalten und sie zugleich als Frei-Räume unbeaufsichtigt zu lassen. Kulturpolitik hat hierin eine ureigene Aufgabe, die sie nicht einfach delegieren kann. Doch gibt es auch in der Gesellschaft private Mäzene, Stiftungen oder Vereinigungen (etwa Kunstvereine), die sich dieser Aufgabe stellen. Eine aktivierende Kulturpolitik sollte Spürsinn dafür entwickeln, Allianzpartner zu finden und zu motivieren, die sich auf solch innovative 26 | Vgl. dazu Heinrichs, 2006, S. 75ff.

IV. Künste | 167 Prozesse einlassen und diese mit ihren jeweiligen Mitteln fördern. Denn die Mittel für das Zeitgenössische in der Kunst sind in den öffentlichen Haushalten bedauerlicherweise nicht nur aufgrund der grassierenden Finanzknappheit, sondern oft auch aufgrund fehlenden Mutes allzu gering. Da Kunst Zumutung ist, braucht sie den Mut der Kulturgesellschaft.

2. K ÜNSTLERISCHE P RODUK TION Sinn und Aufgabe der Kunstfreiheitsgarantie des Artikels 5 Abs. 3 GG »ist es vor allem, die auf der Eigengesetzlichkeit der Kunst beruhenden, von ästhetischen Rücksichten bestimmten Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen von jeglicher Ingerenz öffentlicher Gewalt freizuhalten«.27 Doch die Kunstfreiheitsgarantie hat nicht nur eine Schutzfunktion, sondern dieses Grundrecht enthält auch eine wertentscheidende Grundsatznorm, die den Staat zur Pflege und Förderung der Kunst verpflichtet.28 Der Schutz und die Förderung der Kunst sind mithin durch höchstrangiges Recht im Kulturstaat Deutschland gesichert. Wie Schutz und Förderung der Kunst im Einzelnen gestaltet werden, gehört damit zu den bedeutendsten Aufgabenstellungen der Kulturpolitik. 2.1 Schutz

Die Kunstfreiheitsgarantie des Grundgesetzes schützt neben der eigentlichen künstlerischen Tätigkeit, dem vom Verfassungsgericht so genannten »Werkbereich«, auch die Vermittlung des Kunstwerks an Dritte, den so genannten »Wirkbereich«.29 Damit ist der Träger des Grundrechts nicht nur derjenige, der das Kunstwerk herstellt, sondern auch Personen, die das Kunstwerk der Öffentlichkeit zugänglich machen, etwa Verleger, Filmund CD-Produzenten etc. Träger können auch juristische Personen und Personenvereinigungen sein, etwa Kunst- und Musikhochschulen. Auch die in staatlichen Kunsteinrichtungen künstlerisch tätigen Personen werden von der Kunstfreiheitsgarantie in ihrer Ausübung geschützt. Dieser Schutz bedeutet für die Kulturpolitik zugleich eine Begrenzung: Kulturpolitische Entscheidungen dürfen nicht dazu führen, dass die von ihr betroffenen Künstler in der Ausübung ihrer Kunstfreiheit beschränkt werden. Umgekehrt kann das natürlich nicht bedeuten, dass der durch die Kulturpolitik gesteckte Rahmen, etwa in finanzieller Hinsicht, nicht von den Künstlern zu beachten wäre. Eine der wichtigsten Regelungen zum Schutz künstlerischer Tätigkeit 27 | BVerfGE 30, S. 173, 190; 31, S. 229, 238f. 28 | S. dazu nur BVerfGE 81, S. 108, 116. 29 | BVerfGE 30, S. 173, 189.

168 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent ist das Urheberrecht. Es schützt literarische, wissenschaftliche oder künstlerische Werke vor unberechtigter Nutzung. Damit wird der Wert kreativer Leistungen hervorgehoben und den Schöpfern und Leistungsschutzberechtigten ermöglicht, aus dem Wert ihrer kreativen Leistungen ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die schöpferischen Leistungen, die sich in Büchern, Noten, Bildern, Filmen usw. als Kulturgüter niederschlagen, werden in ihrem Doppelcharakter geschützt: sowohl als ideelle Werte, denn die Kulturgüter sind Vergegenständlichungen von Ideen, als auch in ihrem Warencharakter, denn sie können als Kulturgüter gehandelt werden. Da aus Kunst im Laufe der Geschichte immer mehr eine handelbare Ware geworden ist, sind Kulturmärkte entstanden. Die Entwicklung der Märkte wurde auch gefördert durch die Verbesserung und Verfeinerung der Techniken zur Vervielfältigung künstlerischer Arbeiten. Urheberschaft und Autorschaft sind zu wesentlichen Kategorien bei der Verwertung künstlerischer Werke geworden.30 Da die Künste und die künstlerische Wertschöpfung im Kern von den individuellen geistigen Leistungen der Künstler leben, ist die Ausgestaltung des Urheberrechts von höchster kulturpolitischer Relevanz. Besonderes Augenmerk ist darauf zu legen, dass das Verhältnis zwischen schöpferischer und künstlerischer Leistung einerseits und deren Verwertung andererseits so gestaltet wird, dass die Künstler von den nachfolgenden Verwertungsprozessen hinreichenden finanziellen Nutzen ziehen. Die Verwertungsgesellschaften, deren Rolle insbesondere im Urheberrechtswahrnehmungsgesetz geregelt ist, sind dafür von entscheidender Bedeutung. Das System der kollektiven Rechtewahrnehmung der Verwertungsgesellschaften ist als ein wichtiges Element auch zur Sicherung der kulturellen Vielfalt aufrechtzuerhalten und ebenso in einem europäischen Zusammenhang zu verteidigen. Die Enquete-Kommission hat hierzu eine umfangreiche Bestandsaufnahme vorgenommen und entsprechende Handlungsempfehlungen erarbeitet.31 2.2 Förderung

Die Förderung der Künstler erfolgt nicht nur durch direkte fi nanzielle Zuwendungen und die Unterhaltung von Institutionen, sondern wird auch entscheidend durch steuerrechtliche, tarifrechtliche und sozialversicherungsrechtliche Bestimmungen bewirkt. Kulturpolitik im Kulturstaat Deutschland hat diese »kulturelle Ordnungspolitik« insbesondere auf Bundesebene wahrzunehmen und auszugestalten. Die Enquete-Kommission hat zu diesen Rechtsgebieten eine umfassende Analyse der Gesamtsituation vorgenommen und entsprechende Handlungsempfehlungen

30 | Vgl. dazu auch Enquete-Schlussbericht, S. 259. 31 | S. dazu ebd., S. 267-285.

IV. Künste | 169 zusammengestellt.32 Die Gestaltung rechtlicher Rahmenbedingungen ist eine Form der Kunstförderung durch kulturpolitisches Handeln. Die zweite Form ist die unmittelbare Bereitstellung von finanziellen und sachlichen Ressourcen – auch durch die Unterhaltung von Institutionen, die der Kunstproduktion dienen (etwa Theater, Konzerthäuser, Atelierhäuser). Kunstproduktion, Kunstvermittlung, Kunstvermarktung und die kulturelle Öffentlichkeit haben indes eine Komplexität erreicht, die Kulturpolitik vor große Schwierigkeiten bei der Definition der öffentlichen, kulturpolitischen Aufgabe »Kunstförderung« stellt. Um welche Interessen, welche Ziele, Werte und Kriterien geht es bei der Kunstförderung? Wie lassen sich kulturpolitische Entscheidungen im Bereich der Kunst begründen? Dazu seien beispielhaft nur drei konkrete Fragen gestellt: •





Wie sollen wir über Anträge zur Kunstförderung entscheiden, die immer nicht nur eine Entscheidung zugunsten eines Projektes oder einer Kunstform sind, sondern jeweils auch zuungunsten anderer? Warum fördern wir ein Konzert mit zeitgenössischer Musik, zu dem nur 30 Zuhörer kommen, das Konzert eines Männergesangsvereins mit 70 Mitwirkenden und 500 Zuhörern aber nicht? Warum schließen wir Stadtteilbibliotheken und Musikschulen, zahlen aber Millionen für Tarifsteigerungen von Spitzenorchestern, Opernensembles und Theatertechnikern?

Zur Beantwortung dieser Fragen bedarf es vor Ort einer immer wieder neuen Reflexion und Begründung. Eine fundamentale Begründung des öffentlichen Auftrages zur Kunstförderung ist darin zu sehen, dass Kunst die Chance bietet, die richtigen Fragen nach den Idealen, den Werten und der Wahrheit zu stellen und auch geistige, wenn nicht moralische Orientierung zu geben. Kulturpolitik kommt auch im Hinblick auf die Kunstförderung nicht ohne ethische und normative Begründung aus. In der Kulturpolitik werden dementsprechend werthafte Begriffe verwendet: Im Terminus »Kulturelles Erbe« schwingt die Aufforderung mit, es kennen, achten und pflegen zu sollen. In der Auseinandersetzung mit dem »Neuen« geht es um Aufgeschlossenheit, um Mut zum Experiment, darum, das zu fördern, was es schwer hat – also um Innovation und Kräftigung der Avantgarde. In der Auseinandersetzung mit dem »Anderen« geht es um Toleranz, um friedliches Zusammenleben, um Identität in europäischen und globalen Zusammenhängen. Kunst gibt Offenheit und Sensitivität für das Erleben, das Erkennen und das Erfahren dieser Werte. Wenn Kulturpolitiker den Mut haben, ethische und ästhetische Wertvorstellungen zu vertreten, wird Kulturpolitik nicht in Beliebigkeit verfal32 | S. ebd., S. 244-258 zu den tarif- und steuerrechtlichen Vorstellungen sowie S. 297-311 zur Künstlersozialversicherung und Alterssicherung.

170 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent len. Die den Entscheidungen zugrunde liegenden Kriterien sollten indes offengelegt und nachvollziehbar gemacht werden. Dafür müssen diese • • •

erstens gut begründet sein, zweitens muss die Bereitschaft zu einem Diskurs bestehen, dessen Ausgang offen ist, und drittens müssen Kulturpolitiker auch andere Wertdiskurse verstehen lernen.

Für tragfähige Entscheidungen zugunsten der Künste und zur Sicherung der kulturellen Grundlagen hat Kulturpolitik daher kontroverse Diskussionen und Konsensbildung in demokratischen Verfahren sowie die Entwicklung von Leitlinien, Kriterien und Maßstäben zu gewährleisten, um damit Transparenz und Nachvollzug zu ermöglichen. Klare Verfahren für die Verständigung untereinander sind erforderlich, möglicherweise auch neu zu entwickeln. Schon die Gestaltung von Verfahren hat Bedeutung für die Gewinnung und die Umsetzung von Zielvorstellungen. Auch die Verfahren der kulturpolitischen Entscheidungsprozesse innerhalb von Kulturinstitutionen sind nach Maximen zu prüfen und zu gestalten, die etwa eine freie Entfaltung von Kunst und Kultur ermöglichen und Qualität fördern. Folgende Erkenntnis ist wichtig: In der Kulturpolitik wird Qualität nicht ausschließlich kunstimmanent beurteilt. Vielmehr sind die Maßstäbe für die Qualität kultureller Prozesse und künstlerischer Produktionen ziel- und kontextbezogen zu bestimmen und transparent zu machen. Qualitätsurteile erstrecken sich sowohl auf die ästhetischen, formal-gestalterischen, aber auch auf die sozialen, urbanen, gesellschaftlichen sowie vermittelnden Dimensionen. Durch diese (hinzutretenden) Dimensionen ist das Ideal des autonomen Kunstwerkes relativiert. In die (Qualitäts-)Entscheidungen fl ießen meist auch diese anderen Dimensionen mit ein. Je mehr eine Entscheidung aber der eigentlichen künstlerisch-ästhetischen Bewertung nahe kommt, desto weniger sollten Politiker, Verwalter, Manager von ihrer eigenen Entscheidungskompetenz Gebrauch machen, sondern auf das fachliche Urteil der Künstler sowie von Kunstexperten setzen. Es bietet sich daher an, nach zwei wesentlichen Stufen zu differenzieren: Auf einer ersten Stufe geht es um Grundsätze der Kunstförderung, etwa um die Grundelemente eines Spielplans, den Standort und den Preis eines Kunstwerkes usw. Hier liegt die Entscheidung bei Politik und Verwaltung. Auf einer zweiten Stufe geht es um die eigentliche ästhetische Bewertung, etwa die konkrete Auswahl eines Stückes, die Entscheidung für einen von mehreren »Kunst am Bau«-Entwürfen usw. Auf dieser Stufe ist dem künstlerischen Sachverstand ein bestimmender Einfluss einzuräumen. Diese Entscheidung sollten Politik und

IV. Künste | 171 Verwaltung nicht allein fällen, sondern durch eine entsprechende Ausgestaltung des Entscheidungsprozesses, etwa durch Einschaltung nichtkommunaler Instanzen in das Verfahren, der ästhetischen Kompetenz Vorrang geben.33 Drei wesentliche kulturpolitische Herausforderungen für die Förderung der Künste seien abschließend benannt: •





Wenn wir Kulturpolitik stärker von den Künsten her definieren und gestalten wollen, sollten wir uns darum bemühen, mehr über deren (zukünftige) Produktionsweisen in Erfahrung zu bringen, um unsererseits zeitgemäße und zukunftsweisende Produktionsbedingungen schaffen zu helfen. Wir brauchen Produktionsbedingungen in Form von Ressourcen, Räumen und Rahmenbedingungen für die freie Entfaltung der Künste ohne die traditionellen Vorprägungen, etwa Theaterräume ohne Ensemble- oder Repertoireverpflichtungen, Spielorte ohne räumliche Verbindlichkeiten, Ereignisfolgen ohne langfristige Programmfi xierung. Wir brauchen Förderstrukturen, die den zeitgemäßen Produktionsformen entsprechen. Die übliche bipolare Formation – Projektförderung einerseits, institutionelle Förderung andererseits – reicht nicht. Erforderlich sind Systeme der Anschubfinanzierung: Innovation benötigt zu Beginn höhere (finanzielle) Investitionen. Risikofinanzierung, revolvierender Fonds, Überschussbeteiligung sind Stichworte für solch neue Formen. Wir benötigen Wachsamkeit für neue Formen der Künste, sollten sie aufspüren und ihnen Entfaltungsmöglichkeiten geben. Dies gilt etwa für die Kunst der Migranten, die Medienkunst, die Clubkultur oder auch den zeitgenössischen Tanz.

2.3 Aktivierung kreativer Milieus

Freischaffende Künstler sind immer auch »Kulturunternehmer«.34 Der Künstler muss seit seiner Emanzipation von der höfischen Welt zwangs33 | Scheytt, Kulturrecht, 2005, Rn 62ff.; ders., Kulturverfassungsrecht – Kulturverwaltungsrecht, 2008, S. 188ff.

34 | Vgl. dazu aus der neuesten Literatur Mandel, Birgit, Die neuen Kulturunternehmer. Ihre Motive, Visionen und Strategien, Bielefeld 2007; Lange, Bastian, Die Räume der Kreativszenen. Culturepreneurs und ihre Orte in Berlin, Bielefeld 2007; Konrad, Elmar D. (Hg.), Unternehmertum und Führungsverhalten im Kulturbereich, Münster u.a. 2006 sowie die vom Kulturfonds der Sozialdemokratie initiierten Publikationen von Röbke, Thomas (Hg.), Kunst und Arbeit. Künstler zwischen Autonomie und sozialer Unsicherheit, Essen 2002 und Binas, Susanne, Erfolgreiche Künstlerinnen. Arbeiten zwischen Eigensinn und Kulturbetrieb, Es-

172 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent läufig mit dem »Markt« kooperieren, um zu überleben. Das macht ihn im Erfolgsfall zu einem gewieften Praktiker, der sich – von Lenbach bis Wagner, von Goethe bis Warhol – auf Umwegen doch noch bürgerliche Wohlanständigkeit und Renommee erschleicht.35 Das Tätigkeitsfeld und das Berufsbild von Künstlern haben sich im Verlauf der vergangenen 30 Jahre verändert. Künstlerische Arbeit, Produktion, Distribution, Verwertung und Rezeption sind in erheblichem Maße von der Erweiterung und Verdichtung wirtschaftlicher, kommunikativer und technischer Netzwerke durchdrungen. Die weltweite Zirkulation von Waren, Symbolen, Kapital und Informationen aller Art haben die Künste und die Künstler verändert, neue Berufsfelder sind entstanden. Das Berufsbild hat sich gewandelt, insbesondere haben sich die künstlerischen Sparten fortschreitend ausdifferenziert. So lassen sich etwa in der Bildenden Kunst fünf Kunstfelder unterscheiden: • • • • •

Privatisierung klassischer Formen künstlerischer Produktion (internationale Kunstsammler); Medialisierung und Popularisierung von Kunstereignissen (z.B. MoMA in Berlin); korporative Kunstpraxis (künstlerisch geprägte Unternehmenskultur); emanzipatorisch, gesellschaftlich orientierte Kunstpraxis (z.B. Kunstprojekte im Palast der Republik in Berlin); künstlerische Interessen und Arbeitsmethoden in der wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft (Kreativökonomien).36

Leitvokabeln für die Umschreibung der ineinandergreifenden Netzwerke sind die Begriffe »Szene« und »Milieu«. Sie werden weniger durch die öffentliche Hand als vielmehr durch private Auftraggeber und zivilgesellschaftliche Initiativen geprägt und leben vom Ineinandergreifen der unterschiedlichen Genres (etwa Komposition von Musik, künstlerische Mediengestaltung) und vom Wechselspiel unterschiedlicher künstlerischer und kultureller Vorprägungen (z.B. Weltmusik, Jazz, Hip-Hop). Eine aktivierende Kulturpolitik wirkt angesichts dieser gesellschaftlichen und künstlerischen Entwicklungen weniger durch Einzelförderung als durch die Stimulierung von Strukturen dieser Szenen und Milieus. Dies gilt umso mehr, als die Künstler sich auch in ihrer Selbst- und Fremdeinschätzung weniger als »Subventionsempfänger« sehen, sondern viel-

sen 2003 sowie den eindrucksvollen Text von Heinz-Rudolf Kunze im EnqueteSchlussbericht, S. 230ff.

35 | Kunze in Enquete-Schlussbericht, S. 232. 36 | S. dazu etwa Kulturnotizen 10 – Kulturforum der Sozialdemokratie, S. 8f. oder auch Enquete-Schlussbericht, S. 237.

IV. Künste | 173 mehr als Akteure der sogenannten »Creative class«.37 Szenen und Milieus entstehen vor allem in größeren Städten und Regionen, da dort auch die entsprechenden Unternehmen aus der Buch-, Film- und Musikwirtschaft sowie größere private und öffentliche Auftraggeber existieren. Förderlich ist auch ein großes Potenzial an jüngeren hochgebildeten Menschen. Als entscheidendes Merkmal für kreative Standorte wird das Vorhandensein von Technologie, Talent und Toleranz benannt.38 Bei dieser Betrachtung stellen Kunst und Ökonomie keinen Widerspruch dar. So bestehen etwa in den musikzentrierten Szenen sowohl Inspirationsquellen als auch Erwerbschancen. Ein Musiker kann als Lehrer an einer Musikschule seinen Basisverdienst sicherstellen, durch Auftritte in Clubs sich in seiner künstlerischen Arbeit verwirklichen, durch Produktionen in vorhandenen Musikstudios und deren Vertrieb durch vor Ort ansässige Labels seine Bekanntheit steigern und zusätzliches Einkommen erwirtschaften. Hinter den Begriffen wie Bürogemeinschaft, Plattform, Kollektiv, Assoziation und Projekt verbergen sich »proaktive Formen der Selbstregulation«.39 Die kreativen Milieus ermöglichen in besonderer Weise kreatives Tun, das von folgenden Aspekten geprägt ist: Offenheit (Neugierde, ästhetische Ansprüche, breites Interesse), Leistungsmotivation (Ehrgeiz, Ausdauer, Konzentration, Antrieb), Non-Konformität (Originalität, Autonomiestreben, Eigenwilligkeit), Selbstvertrauen (kreatives Selbstbild, Risikobereitschaft), Erfahrung (Werthaltungen, durch Erkenntnis gestützte Fertigkeiten). 40 Aktivierende Kulturpolitik sollte daher nicht nur eine Infrastruktur für traditionelle künstlerische Professionen erhalten, sondern auch Milieus und Szenen anregend fördern, die experimentellen Kunstpraktiken Raum geben und die Entfaltung von Kulturunternehmertum stützen. Ein konstitutives Verhältnis besteht zwischen den Akteuren und den Räumen. Der flexible Charakter von »Szeneorten« ist »als atmosphärischer Testraum für Symbolprodukte anzusprechen, übernimmt dabei die Funktion eines intermediären Tauschortes und ist Ausdruck der Ökonomisierung der Szene«. 41 Dabei stellt das Leben und Arbeiten in einer Kreativszene nicht nur eine Alternative zum fehlenden Zugang zu einem formalen Arbeitsmarkt dar, sondern geradezu einen sinnstiftenden sozialräumlichen Rahmen, »in dem Prozesse der Wiedereinbettung in soziale

37 | Diesen Begriff hat insbesondere Richard Florida geprägt mit seinem Buch »The Rise of the Creative Class«, 2004.

38 39 40 41

| | | |

Ebd. S. Enquete-Schlussbericht, S. 238. Ebd. Lange, 2007, S. 315.

174 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent Beziehungen und Arbeitszusammenhänge weitestgehend informell verhandelt werden«. 42 Das performative und regelrecht wilde Agieren in den Szenen und Milieus braucht geradezu örtliche Provisorien, um diese neu oder anders zu definieren. Insofern sollte Stadtplanung eben nicht alles festlegen und im Voraus entwerfen, sondern auf improvisiertes Handeln setzen, um den Künstlern und kulturellen Unternehmern die nötigen Freiräume für eine Gestaltung des eigenen Umfeldes und der in ihrer Ausrichtung noch nicht definierten Orte zu lassen. In solchen »Kreativquartieren« entsteht ein Nährboden für Kultur jenseits festgefügter Strukturen und Vorgaben, denn die »krisenerprobten Akteure« haben gelernt, mit kreativen Improvisationen auch kritische Situationen zu überstehen. Aktivierende Kulturpolitik bewegt sich hier in besonderer Weise in einem Wechselverhältnis: Politik lernt von den Szenen und Milieus, um daraus eigene, urbane Perspektiven und neue planungs- und kulturpolitische Verfahren zu entwickeln. 43 Insofern werden die in Markt und Szenen erfolgreichen Künstler zu entscheidenden Akteuren im gesellschaftlichen Wandel und in der Neugestaltung urbaner Räume. Aktivierende Kulturpolitik muss dafür neue Formen des Handelns und der Gestaltung entwickeln, Cluster bilden, mit Stadtplanung Allianzen eingehen, eher reflexiv sowie kommunikativ als direktiv arbeiten.

3. K ÜNSTLERISCHE R EZEPTION Kunst ist geprägt von Subjektivität. Oder mit Marcel Duchamps: »Kunst ist die einzige Tätigkeitsform, durch die der Mensch sich als wahres Individuum manifestiert.«44 Erleben und ästhetische Reflexion tragen subjektiven Charakter. Wir produzieren in Kunst und Kultur und als Kulturverantwortliche keine Gleichförmigkeit, es geht vielmehr um die Möglichkeit individueller Entfaltung und individueller Wahrnehmung. »Das Medium der Kunst, der Literatur, des Films, des Tanzes, der Musik ist wie kaum ein anderes geeignet, das Transzendieren der eigenen kulturellen Identität zu befördern und erst dadurch sich des Eigenen bewusst zu werden.« 45 Künstler beziehen Position: zum (eigenen) Dasein, zur Gesellschaft, zur Person. Kunst zielt auf das Individuum, auf das »Ganze« des menschlichen Individuums, seiner persönlichen Lebensumstände, seiner Wahrnehmungen und Erfahrungen. Kunsterfahrung ist zuallererst Erschütterung und Ver42 | Ebd. 43 | Ähnlich ebd., S. 317. 44 | Zit. n. Mäckler, Andreas (Hg.), Was ist Kunst…? 1080 Zitate geben 1080 Antworten, 2. Aufl., Köln 1989, S. 102.

45 | Nida-Rümelin, 2001, S. 256.

IV. Künste | 175 unsicherung. Kunst gibt uns keine eindeutigen Antworten, sie stellt Fragen. Bilder, Theater- und Opernauff ührungen, Kompositionen, Tanzperformances, Texte, Filme oder Fotografien stellen uns, unsere Erfahrungen und Voreingenommenheiten infrage. Wir werden von Bildenden Künstlern und Autoren, Regisseuren und Schauspielern, den Musikern und Tänzern dazu gebracht, einen eigenen Standpunkt zu suchen zu dem, was wir hören, sehen, lesen, erleben und erfahren. So bewegen wir uns aus der Verunsicherung durch die Künste zu einer eigenen Haltung: zu »Eigen-Sinn« (Oskar Negt). Eigene Sinne entfalten, sich wehren gegen die Ent-Eignung der Sinne, beharren auf eigener Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit – das ist Eigen-Sinn. In dieser Ich-Stärkung, in dieser Förderung des EigenSinns liegt die Orientierungsmacht der Künste. Diese beherbergt auch die Chance jedes Einzelnen, mit seiner Interpretation und Rezeption – mit seinen Sinnen – inmitten der Gesellschaft seinen eigenen Sinn aus künstlerischer Welt- und Lebenserfahrung zu finden. Die Künste leisten so in der Betonung und Selbstreflexion des Subjekts einen wesentlichen Beitrag zur Kunst des Lebens. All dies hat einen ganz entscheidenden kulturpolitischen Ausgangsund Bezugspunkt: Die Herausforderung, für Verständnis und Vermittlung der Künste zu sorgen und damit Zugang (für alle) zu ermöglichen. Konstitutiv für die Kulturpolitik ist es daher, auch die (allgemeine) Bildung auf ästhetische Erfahrung auszurichten. 3.1 Reflexion

Kunst hat Kraft. Kunst entgrenzt. Ja: Kunst hat Macht. Es gibt unzählige Anlässe und wunderbare Möglichkeiten, Kunst zu erleben, Kunst zu erfahren. Kunst regt an und auf. Das kann mit größtem technischen, finanziellen, kollektiven Aufwand geschehen – etwa im Gesamtkunstwerk Oper oder in multimedialen Performances –, doch auch in der ganz unmittelbaren und einfachen Ansprache von Individuum zu Individuum. Kunst ist nicht ein Bereich jenseits unserer Erfahrungen, sondern eine besonders »geglückte« Erfahrung. Kunst vereinigt eben jene Beziehung von aktivem Tun und passivem Erleben, von abgegebener und aufgenommener Energie, die eine Erfahrung zur Erfahrung macht. In einer Welt, die durch Abstumpfung und Alltagstrott gekennzeichnet ist, die uns auf bloßes Funktionieren reduzieren und uns im Status von Arbeitskraft und Konsument einfrieden möchte, geben die Künste der Utopie die Möglichkeit, »vor-zu-scheinen, das Mögliche für das Wirkliche wirksam werden zu lassen«. 46 Damit ist der Dreiklang künstlerischer Kraft entfaltet: Erleben, Erfahren und Erkennen. Kunst entfernt sich in ihrer ästhetisch-utopischen 46 | Glaser/Stahl, 1983, S. 207.

176 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent Entgrenzung aber nicht vom Leben. Kunst bleibt auf die Kultur, in der sie geschaffen wird, spannungsreich bezogen. Sie reflektiert unser Leben und das, was uns umgibt. Es bereichert uns und unsere Kultur auf wundervolle Weise, dass es mit der Kunst ein »Leben jenseits des Ernstfalls« gibt, das dieses zugleich infrage stellt. Indes kennen wir alle die beiden damit verbundenen Gefahren: jene der Affirmation, in der Kunst zur abgeschlossenen »Seelenbadeanstalt« einer kulturellen Elite wird. Und die zweite Gefahr, dass Kunst nur noch auf Animation, auf die Bedürfnisse der »Farbigkeitsbedarfsdeckung« der Spaß- und Erlebnisgesellschaft ausgerichtet ist, also auf Bedürfnisbefriedigung, die die Massen (kurzfristig) ruhig stellt. Robert Musil hat die Reflexion unserer Wirklichkeit im Medium der Künste im »Mann ohne Eigenschaften« wie folgt formuliert: »Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfi ndet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihn von irgend etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun könnte es wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit defi nieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.« 47

Den Eigensinn der Kunst und den durch sie geschärften »Möglichkeitssinn« brauchen wir heute mehr denn je. Wir sollten dabei die Befürchtungen beherzigen, die Max Weber schon um 1900 gehegt hat. Er war durchaus kein Kulturpessimist, registrierte vielmehr mit Respekt die epochemachenden Leistungen der gesellschaftlichen Rationalisierung, der enormen materiellen und organisatorischen Errungenschaften der kapitalistischen Marktwirtschaft sowie des modernen Wohlfahrtsstaates – und nicht zuletzt den Erkenntnisfortschritt, den die Wissenschaft mit sich brachte. Er notierte jedoch auch den Preis für diesen Fortschritt und sprach die Befürchtung aus, wir seien gezwungen, »Berufsmensch« zu sein und – einem Wort Nietzsches folgend – in der Gefahr, zu »Fachmenschen ohne Geist« und »Genussmenschen ohne Herz« zu werden. 48 Max Webers Befürchtungen sind ernst zu nehmen. Wenn uns aber etwas helfen kann, nicht zum »Fachmenschen ohne Geist« und »Genussmenschen ohne Herz« zu verkümmern, dann ist es die Kunst. Deshalb ist es wichtig, ihr gegenüber nicht »Ent-Haltung« einzuüben, sondern 47 | Musil, Robert, Der Mann ohne Eigenschaften (Erstes Buch der RowohltAusgabe), Hamburg 1987, S. 16.

48 | Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 8. Aufl., Tübingen 1986, S. 203f.

IV. Künste | 177 Sensibilität, Aufmerksamkeit und Auseinandersetzung. Und deshalb ist es auch wichtig, für Vermittlung, für Verständnis und für Zugang zu sorgen. Grundlegend für die Auseinandersetzung mit den Künsten – und auf die Anfänge kommt es an – ist, dass sich Kinder und Jugendliche aktiv in künstlerischen Formen ausdrücken. Das ist eine Fähigkeit, die wir frühzeitig fördern und der wir Raum geben sollten, anstatt sie infolge mangelnder Angebote im Bildungswesen verkümmern zu lassen. 3.2 Zugang

Die kulturelle Teilhabe der Bürger ist eines der wichtigsten Anliegen einer aktivierenden Kulturpolitik; sie ist aufgrund der partizipatorischen Komponente, die das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes dem Kulturstaat Deutschland einschreibt, sogar verfassungsrechtlicher Auftrag. 49 Teilhabe sicherstellen heißt Zugang erleichtern und ermöglichen. Dies hat zum einen eine inhaltliche Komponente, die mit Verstehen und Vermittlungsarbeit einhergeht (s. dazu sogleich unter Kap. IV/3.3), und zum anderen geht es dabei um die äußeren Rahmenbedingungen des Kunsterlebnisses, den Schwellenabbau in finanzieller, baulicher und organisatorischer Hinsicht. Nicht ohne Grund wird manches Gebäude als »Kunsttempel« bezeichnet, haftet Kulturbauten etwas Weihevolles, besonders Würdiges an. Dies gilt insbesondere für ältere Museumskomplexe und Theatergebäude. Wie das Entree dieser Bauten gestaltet ist, wie das Publikum dort empfangen und betreut wird, welchen Charakter die Gastronomie oder der Museumsshop hat, all dies entscheidet schon darüber, ob der Kunstbesuch einladend beginnt oder zunächst durch die Überwindung von Schwellen geprägt ist.50 Alle Komponenten der Außendarstellung von künstlerischen Einrichtungen und Veranstaltungen setzen sich bei den Besuchern zu einem Gesamtbild zusammen, das vom Charakter geprägt sein sollte, den Zugang zu erleichtern und publikumsfreundlich auszurichten. Ein ganz wesentliches Element ist die Gestaltung der Eintrittspreise. Die »untere Grenze« der Preisstaffeln ist für eine aktivierende Kulturpolitik, die auf Zugangsmöglichkeiten für alle setzt, der entscheidende Maßstab. Wenn Eintrittspreise einer Kultureinrichtung, die durch erhebliche öffentliche Mittel gefördert wird, eine prohibitive Wirkung entfalten, wird der kulturstaatlichen Handlungsmaxime zuwidergehandelt, kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. Andererseits heißt dies nicht, dass öffentliche Kultureinrichtungen nicht auch alle Versuche unternehmen sollten, eine größtmögliche Eigenwirtschaftlichkeit zu erreichen. In jedem Fall ist sicherzustellen, dass Kulturbürger aus sozial schwachen Verhältnissen Zu49 | S. dazu Kap. III/1.2. 50 | Ausführlicher dazu Lüddemann, Stefan, Mit Kunst kommunizieren. Theorien, Strategien, Fallbeispiele, Wiesbaden 2007, S. 54ff.

178 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent gang zu künstlerischen Einrichtungen und Ereignissen bekommen. Insoweit sollten klare kulturpolitische Vorgaben für die Einrichtungen und ihre verantwortlichen Direktoren, Intendanten etc. gemacht werden. Gestaltungsmöglichkeiten gibt es nicht nur im Hinblick auf die (üblichen) Ermäßigungen für Schüler, Studenten, Arbeitslose etc., sondern auch durch Last-Minute-Angebote, Gruppenermäßigungen für Betriebsangehörige, Familienkarten. Die Eintrittsfreiheit von Museen, generell51 oder auch nur an bestimmten Tagen oder zu ausgewählten Ausstellungen, hat erhebliche Publikumseffekte und bedarf intensiverer kulturpolitischer Überlegungen, gerade auch aufgrund positiver Erfahrungen in anderen europäischen Staaten.52 Grundsätzlich ist nach den vorliegenden Studien zum (potenziellen) Kulturpublikum davon auszugehen, dass knapp zwei Drittel der Bevölkerung für kulturelle Angebote erreichbar sind und diese zumindest punktuell nutzen.53 Theater- und Opernauff ührungen, Besuch von Konzerten unterschiedlicher Musikgenres und der Besuch von Kunstausstellungen sind dabei die beliebtesten Angebote. Das andere Drittel in der Bevölkerung ist offenbar weniger leicht zu motivieren, wobei dies meist auch für andere Freizeitaktivitäten gilt. Bemerkenswert ist, dass die junge Bevölkerung in den »klassischen« künstlerischen Angeboten kontinuierlich abnimmt, weshalb ein verstärktes Werben um die jüngere Generation eine wichtige Aufgabe darstellt.54 Die kulturpolitische Auftragslage, die auf eine Partizipation aller Kulturbürger abzielt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es gerade im Hinblick auf die Interessen an den verschiedenen Kunstformen und -angeboten »feine Unterschiede« gibt: Spätestens seit den grundlegenden empirischen Studien Pierre Bourdieus55 ist deutlich geworden, dass Kunst nicht jeden mit jedem verbindet, sondern die Gesellschaft in recht stabile »Geschmacksgemeinschaften« zerlegt ist. Es gibt daher einen Mechanismus einer jeweils gruppenspezifischen Kunstrezeption. Kunst ist insofern auch ein Mittel der Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit.56 51 | Generell freien Eintritt gewähren etwa ein Drittel aller Museen in Deutschland. Laut Museumsstatistik des Instituts für Museumsforschung (2006), waren es 2005 exakt 35,6 % aller Museen.

52 | S. näher dazu Enquete-Schlussbericht, S. 127. 53 | Vgl. dazu Keuchel, Susanne, Das Kulturpublikum zwischen Kontinuität und Wandel – empirische Perspektiven, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2005, Essen 2005, S. 111ff.

54 | Vgl. ebd., S. 117. 55 | Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1987.

56 | S. dazu Fuchs, Max, Kulturvermittlung und kulturelle Teilhabe – ein Menschenrecht, in: Mandel, Birgit (Hg.), Kulturvermittlung zwischen kultureller Bildung und Kulturmarketing, Bielefeld 2005, S. 31ff.

IV. Künste | 179 Eine reine Angebotsorientierung führt im Kunstbereich daher dazu, dass »immer dieselben« kommen. Dieser Mechanismus lässt sich nicht allein durch Zugangserleichterungen durchbrechen, sondern bedarf einer sensiblen Vermittlung und letztlich auch einer Überprüfung, ob das Angebot selbst hinreichend ausdifferenziert und vielfältig ist. Nicht jedes Kulturangebot wird von jedem wahrgenommen. Es bleibt daher eine an der gesellschaftlichen Realität orientierte Erkenntnis zu beachten: Die Idee einer »Kultur für alle« ist gerade im Bereich der Künste dahingehend zu interpretieren, dass der Zugang zu den Künsten jeweils für wechselnde Minderheiten ermöglicht wird. 3.3 Vermittlung

Kunstproduktion läuft leer, wenn das Angebot kaum – oder gar: überhaupt nicht – wahrgenommen wird. Das Versprechen von gleicher Teilhabe kann vor allem dadurch eingelöst werden, dass das Verständnis gestärkt wird. Es geht um Verstehen-Wollen, Verstehen-Lernen und tatsächliches Verstehen. Der öffentliche Kulturauftrag wird also nicht allein durch Kunstproduktion erfüllt, sondern bedarf neben einer zu beschreibenden Qualität des Angebots auch einer qualitätsvollen Vermittlung, wenn auch jeweils lediglich für wechselnde Minderheiten in der Zweidrittel-Mehrheit der potenziell kulturinteressierten Bevölkerung.57 Auftrag und Qualität werden eingelöst durch Aktionsprogramme, die alle möglichen Formen der Vermittlung mit umfassen, ob durch öffentliche Träger, private Anbieter, Mäzene, Spender und Sponsoren, Zivilgesellschaft und Kulturwirtschaft.58 Vielerorts ist festzustellen, dass Kultureinrichtungen sich nicht hinreichend ernsthaft mit den Erwartungen des Publikums auseinandersetzen. Wer geht in die Philharmonie, in das Kulturzentrum, in das Stadtmuseum oder ins Theater? Welche Interessen hat das Publikum? Wie erreichen wir neue Publikumsschichten? Diese essentiellen Fragen werden allzu häufig vernachlässigt oder mit Floskeln beantwortet. Wenn die Verantwortlichen nicht bereit sind, solche Fragen zu stellen, sich auf sie einzulassen und nach Antworten zu suchen, werden sie erleben, dass ihrer Haltung zu den Künsten »Enthaltung« gegenübersteht. Enthaltung entsteht dann, wenn sich Menschen nicht einlassen auf die Künste. Daher ist es wichtig, für Vermittlung zu sorgen, Zugänge zu schaffen, schon in frühzeitiger aktiver Auseinandersetzung in Schulen, Kindergärten, Musik- und Jugendkunstschulen. Dort sollte das Einlassen auf die Künste praktiziert und erfahrbar gemacht werden. Warum wird etwa das Kindertheater ganz überwiegend freien Theatergruppen überlassen, die ihrerseits dringend einer nachhaltigen Förderung bedürfen? Sollten sich nicht Stadttheater viel stärker mit 57 | Vgl. Weiss, 1999, S. 64ff., 105ff. 58 | S. Scheytt, Kultur für alle …, 2005, S. 27.

180 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent eigenen Produktionen für Kinder auch um ihre eigene Zukunft bemühen? Kulturpolitik und Kulturschaffende haben gemeinsam große Verantwortung, dafür zu sorgen, dass mehr und neues Publikum kommt. Einer der wesentlichen Allianzpartner für die Vermittlungsarbeit ist der gesamte Bildungsbereich. Im doppelten Sinn des Wortes geht es darum, Publikum zu bilden. Hierzu bedarf es weitergehender Initiativen, wird doch die Kulturelle Bildung in der täglichen Praxis eher geschwächt denn gestärkt.59 Kulturpolitisch und -praktisch lassen sich in diesem Bereich drei größere, vielfach miteinander verwobene Gestaltungsfelder unterscheiden, die oft ganz allgemein unter dem Terminus »Kulturelle Bildung« zusammengefasst werden: •





die Kulturelle Bildung (im engeren Sinne) durch Institutionen und Systeme, die auf Bildung generell (Schule) oder auf Kulturelle Bildung speziell (Musikschulen, Kunstschulen, Volkshochschulen, Bibliotheken, soziokulturelle Zentren) ausgerichtet sind; die Arbeit von Künstlern mit Kulturbürgern als »Ausführenden«, bei der das Individuum selbst mit seinen eigenen künstlerischen Fähigkeiten zum Akteur wird (z.B. Künstler an Schulen, »Rhythm is it« von Simon Rattle, Theaterprojekte mit Senioren als Darstellern etc.) und bei der »Vermittlung« zu eigenem künstlerischen Tun wird; die Vermittlung (im engeren Sinne) von künstlerischen Institutionen und Initiativen insbesondere durch »Kulturpädagogen«, Dramaturgen etc., deren Medien gesonderte Veranstaltungen (Einführungen, Ausstellungsführungen, Workshops), aber auch Drucksachen (Kataloge, Programmhefte etc.) oder mediale Inszenierungen (Internet, Medienterminals etc.) sein können.

Das Grundproblem der Vermittlungsarbeit im engeren Sinne liegt nicht so sehr im Verhältnis zwischen dem bereits existierenden Publikum und den Institutionen, sondern zwischen den Institutionen und der großen Gruppe der Personen, die gewonnen werden soll, faktisch aber (noch) nicht erreicht wurde (im Marketingdeutsch: Nichtnutzer).60 Die Kultureinrichtungen müssen dabei mit ihrer Vermittlung auch auf die Veränderung von Zielgruppen reagieren. Sie sollten nicht nur darauf warten, dass Menschen zu ihnen kommen, sondern auch auf die zugehen, die bisher nicht präsent sind – durch einen neuen interkulturellen Dialog. Die Interessen des nachwachsenden Publikumspotenzials sind angesichts des demografischen Wandels zunehmend von einem Migrationshintergrund geprägt. Inzwischen handelt es sich dabei meist um Migranten der 59 | S. dazu Kap. VI. 60 | S. dazu bereits oben, Kap. II/2.1.

IV. Künste | 181 zweiten (und dritten) Generation, die in und mit ihren ureigenen kulturellen Interessen und Erfahrungen anzusprechen sind. Kommunikationsplattformen sind zu schaffen auch mit Hilfe von neuen Medien und dem Internet. In diesen Prozessen haben die Medien eine nicht zu unterschätzende Funktion.61 Aus dem Kernbündnis von Kulturpolitikern und Kunstschaffenden heraus, das auf das Publikum unter Einbeziehung des Bildungsbereiches abzielt, sind auch die Medien als Bündnispartner zu gewinnen, die wesentliche mittelbare Vermittlungsarbeit leisten. Unmittelbare Vermittlungsarbeit wird von den Kunsteinrichtungen selbst geleistet. Inzwischen gibt es an fast allen Theatern und Museen kulturpädagogische Abteilungen, die für das »Verstehenlernen der Künste« grundlegende Arbeit leisten. Nicht umsonst haben sozialdemokratische Kulturdezernenten in Nordrhein-Westfalen aus dem Ruf von »Schulen ans Netz« die kulturpolitische Aufforderung »Schulen ans kulturelle Netz!« entwickelt.62 Gerade im Wechselspiel zwischen den Schulen und den Kultureinrichtungen entwickelt sich eine grundlegende Vermittlungsarbeit. Denn je früher der Einzelne mit den Künsten in Berührung kommt, desto eher wird er sie verstehen lernen. Aber auch hier ist vor »Gleichmacherei« zu warnen. Nicht jeder und jede interessieren sich für alles. Erfreulich ist, dass die Notwendigkeit einer »Vermittlung der Vermittlung«63 allgemein anerkannt ist und sich seit den 1970er Jahren eine Fülle von Studiengängen etabliert hat, deren Absolventen für die Übernahme einer professionellen Aufgabe in der Kunstvermittlung vorbereitet werden. Längst also gibt es die Möglichkeit, dass bei einer entsprechenden kulturpolitischen Auftragslage die Kunstinstitutionen qualifiziertes Personal dafür einstellen und gewinnen können. Dies setzt allerdings voraus, dass die Kulturpolitik bei der Ressourcenbereitstellung und -verteilung die »Vermittlung« als ein zu beachtendes und zu bearbeitendes Aufgabenfeld vorgibt. Zusammenfassend lassen sich folgende zentrale Funktionen von Kunst61 | S. dazu auch Scheytt, Oliver, Wo bleiben die Ideale? Ästhetik und Ethik in Kunst und Kulturpolitik, in: Heinrichs/Klein, Deutsches Jahrbuch für Kulturmanagement 2001, Baden-Baden 2001, S. 11ff., 25f.

62 | Diese Formulierung (im Einzelnen dazu Kap. VI/2.2) stammt von den »Trotzköpfen« – einem informellen Kreis sozialdemokratischer Kulturdezernenten, der vor allem in den 1990er Jahren eine Reihe von wegweisenden Papieren mit folgenden Titeln erarbeitet hat: »Mit Kultur der Krise trotzen«, »Kultur schaff t Arbeit«, »Schulen ans kulturelle Netz«. Vgl. auch Nordhoff, Bernhard, 30 Jahre Kulturpolitik in vier Städten, in: Scheytt, Oliver/Zimmermann, Michael (Hg.), Was bleibt? Kulturpolitik in persönlicher Bilanz, Essen 2001, S. 103ff., 111f.

63 | So Wagner, Bernd, Die Vermittlung der Vermittlung, in: Mandel, Birgit (Hg.), Kulturvermittlung zwischen kultureller Bildung und Kulturmarketing, Bielefeld 2005, S. 134ff.

182 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent vermittlung benennen:64 Kunstvermittlung stärkt die kulturelle Kompetenz im Sinne von Deutungskompetenz und der Fähigkeit zu kreativem Querdenken. Kunstvermittlung leistet einen Beitrag zur »Übersetzung« von Kunst, die dem Einzelnen das Verstehen lernen erleichtert. Kunstvermittlung leistet einen Beitrag zur Kommunikation zwischen Produzenten und Rezipienten. Kunstvermittlung stärkt die Sensibilität für neue Kunstformen und bezieht auch andere Kulturen sowie Menschen aus anderen Kulturen aktiv mit ein. Daher ist Vermittlung ein Gestaltungsfeld der aktivierenden Kulturpolitik, das größte Aufmerksamkeit verdient.

64 | Mandel, 2005, S. 13.

V. Geschichtskultur

»Geschichtskultur« ist als Leitbegriff noch nicht so lange in der Kulturpolitik angekommen, obwohl sie ein großes Handlungsfeld darstellt.1 Sie bezieht sich auf das Gesamtspektrum von historischem Empfinden, Denken und Handeln in seinen emotionalen, kognitiven, religiösen, weltanschaulichen, politischen und ästhetischen Dimensionen. Der in den 1990er Jahren entstandene Begriff2 folgt einem allgemeinen Trendwechsel in den Kultur- und Sozialwissenschaften im Blick auf den Menschen und seine Welt von der Gesellschaft zur Kultur, wie er sich auch in Begriffen wie »politische Kultur« oder »Wissenschaftskultur« zeigt, die zur gleichen Zeit Konjunktur bekamen. Er integriert als Sammelbegriff die unterschiedlichen Bereiche und Formen der historischen Erinnerung, darunter die verschiedenen Institutionen und Agenturen wie Universität, Schule, Archive, Museen, Gedenkstätten, Denkmalpflege und Geschichtsvereine sowie ihre Medien und Darstellungen wie Kunst, Fotografie, Ausstellung, Denkmal, Literatur, Publizistik, politische Debatte, audiovisuelle und digitale Medien. 1 | Jörn Rüsen, den man als Begründer der Kategorie »Geschichtskultur« ansehen darf, versteht diesen Begriff als »praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewusstsein im Leben einer Gesellschaft«. S. Rüsen, Jörn, Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art über Geschichte nachzudenken, in: Füßmann, Klaus/Grütter, Heinrich-Theodor/Rüsen, Jörn (Hg.), Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln 1994, S. 3ff.

2 | Vgl. die Bücher von Fröhlich, Klaus/Grütter, Heinrich Theodor/Rüsen, Jörn (Hg.), Geschichtskultur, Jahrbuch für Geschichtsdidaktik 3, 1991/92, Pfaffenweiler 1992; Füßmann, Klaus/Grütter, Heinrich Theodor/Rüsen, Jörn (Hg.), Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln 1994 sowie Mütter, Bernd/ Schönemann, Bernd/Uffelmann, Uwe (Hg.), Geschichtskultur. Theorie – Empirie – Pragmatik, Weinheim 2000.

184 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent Die Kategorie Geschichtskultur geht aber über die Beschreibung der Gesamtheit der Phänomene, in denen Geschichtswissen in einer Gesellschaft präsent ist, hinaus und definiert nach Jörn Rüsen Geschichte als fundamentale kulturelle Tätigkeit, als die »durch das Geschichtsbewusstsein geleistete historische Erinnerung, die eine zeitliche Orientierung der Lebenspraxis in der Form von Richtungsbestimmungen des Handelns und des Selbstverständnisses seiner Subjekte erfüllt«.3 Auch für das Handlungsfeld Geschichtskultur ist die Unterscheidung zwischen Individuum und Kollektiv konstitutiv, was in den Begriffen »Individuelles Gedächtnis« und »Kollektives Gedächtnis« zum Ausdruck kommt. Aleida Assmann hat diese Bezüge mit folgenden Worten skizziert: »Menschen sind als Individuen zwar ›unteilbar‹, aber keineswegs selbstgenügsame Einheiten. Sie sind immer schon Teil größerer Zusammenhänge, in die sie eingebettet sind und ohne die sie nicht existieren könnten. Jedes ›Ich‹ ist verknüpft mit einem ›Wir‹, von dem es wichtige Grundlagen seiner eigenen Identität bezieht. Auch dieses ›Wir‹ ist wiederum keine Einheitsgröße, sondern vielfach gestuft und markiert zum Teil ineinander greifende, zum Teil disparate und nebeneinander stehende Bezugshorizonte.« 4

Die mit dem »Wir« umschriebene Gemeinschaft oder Gesellschaft, insbesondere eine Stadt, eine Region, ein Land oder auch die Bundesrepublik Deutschland haben nicht einfach ein »kollektives Gedächtnis«. Vielmehr gestalten sie (sich) dieses mit Hilfe von Zeichen, Symbolen und geben sich damit auch eine Identität.5 Damit hat der Begriff des »kollektiven Gedächtnisses« eine soziale und politische Dimension, da darin mitschwingt, dass es eine »starke vereinheitlichende Wir-Identität hervorbringt«.6 Das individuelle Gedächtnis basiert auf der Erinnerungsfähigkeit des Menschen und speist sich aus Erfahrungen und Wahrnehmungen.7 Schon daraus ergibt sich, dass individuelles und kollektives Gedächtnis in Wechselwirkung und -bezug zueinander stehen. Durch die Gestaltung von kollektiver Erinnerung in und durch Geschichts- und Erinnerungskultur wird die individuelle Wahrnehmung beeinflusst. Eine für die Kulturpolitik wesentliche Gedächtnisformation ist das »kulturelle Gedächtnis«, das sich aus Erinnerungen, Leistungen, Errungenschaften speist, die über Generationen hinweg überliefert werden. Diese Gedächtnisformation lässt bewusst 3 | Rüsen, 1994, S. 11. 4 | Assmann, Aleida, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 21.

5 | Ebd., S. 35f. 6 | Ebd., S. 36. 7 | Assmann, ebd., S. 25 definiert das individuelle Gedächtnis als »das dynamische Medium subjektiver Erfahrungsverarbeitung«.

V. Geschichtskultur | 185 werden, dass auch die kulturellen Prozesse solche des Vergessens und Erinnerns sind. Tagtäglich verschwinden mit dem sozialen und kulturellen Wandel Bilder und Texte, aber auch Kunstwerke und sogar Bauwerke. Es wird eben nicht alles, was in Kunst und Kultur entsteht, auch »kulturelles Erbe«. In dem permanenten Prozess, in der Dynamik von Produktion und Gebrauch, Schöpfung und Bewahrung, Erinnern und Vergessen gibt es indes immer wieder den Akt, die Entscheidung einzelner oder mehrerer Personen, etwas »für die Nachwelt zu sichern«, auch über das Leben des Schöpfers oder Nutzers hinaus. Die Bildung des kulturellen Erbes ist aber kein naturwüchsiger oder unschuldiger Vorgang, sondern ein komplexer und vielschichtiger, ein dynamischer und ergebnisoffener Selektionsprozess, in dem Auswahlkriterien und öffentliche Bewertungen eine Rolle spielen und der häufig mit politischen Interessen, restriktiven Gesetzen und Kodierungen von Vergangenheit und Zukunft verbunden ist. Hierin liegt ein Gestaltungsakt, der (kultur-)politisch von großer Bedeutung sein kann, etwa wenn es um den Erhalt von historisch bedeutsamen Gebäuden, aber auch um den Nachlass eines Bildes oder Fotos geht. So kann auch das individuelle Gedächtnis als Stütze der sozialen Kommunikation über symbolische Medien mit unterschiedlichsten Trägern der Erinnerung (das kann auch ein alltäglicher Gegenstand wie etwa ein Koffer sein) Eingang in das kulturelle Gedächtnis finden, das den Einzelnen »überdauert«, sei es im Museum oder im Archiv. Solche Speicher für das »kulturelle Gedächtnis« bilden mithin eine wesentliche Infrastruktur für die Geschichtskultur im Kulturstaat Deutschland. Geschichte und Gedächtnis sind kategorial voneinander zu unterscheidende Begriffe und werden häufig in einen Gegensatz gebracht. Während mit dem Gedächtnis letztlich ein aktuelles Phänomen umschrieben wird, nämlich das, was zum jeweiligen Zeitpunkt (von einem oder mehreren) erinnert wird, ist Geschichte die Repräsentation der Vergangenheit, die durch Aufzeichnung und wissenschaftliche Aufarbeitung überliefert wird. Auf der anderen Seite stehen sie aber in enger Verbindung und wechselseitiger Beziehung zueinander, da die Geschichte auf lebendiger historischer Erinnerung basiert und das Gedächtnis einer historischen Darstellung bedarf, um kollektive Bedeutung zu erlangen. Auch hier ist eine aktivierende Kulturpolitik gefragt, die das Ziel hat, dass die verschiedenen Institutionen und Formen der Geschichtskultur ihren Bezug zum lebensweltlich verankerten kulturellen Gedächtnis nicht verlieren und auf der anderen Seite sinnvolle und kohärente Geschichtsbilder vermitteln, die den wissenschaftlichen Kriterien und Objektivitätsansprüchen gerecht werden. Geschichtskultur ist ein dynamisches Feld, in dem sich die unterschiedlichsten Akteure bewegen. Sie ist geprägt von der Gestaltung durch einzelne Personen, Personenvereinigungen und Institutionen in Bund, Ländern und Kommunen. Kulturpolitik hat ebenso wie im Handlungsfeld Künste auch im Handlungsfeld Geschichtskultur das Spannungsverhältnis zwi-

186 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent schen Individuum und Kollektiv zu reflektieren und zwischen Gesellschaft und Kulturbürger, zwischen Institutionen und Individuen zu vermitteln. Daher wird zunächst auf die individuellen Wahrnehmungsprozesse in der Geschichtskultur eingegangen (Kap. V/1). Sodann wird die Infrastruktur der Geschichtskultur dargestellt (V/2), um schließlich die identitätsstiftende und profi lbildende Wirkung einer aktivierenden Kulturpolitik in diesem Handlungsfeld zu skizzieren (V/3).

1. G ESTALTUNG

UND

WAHRNEHMUNG

Die Gestaltung von Geschichtskultur durch Staat und Gesellschaft ist Handlungsfeld der Kulturpolitik, die ihren Auftrag mit Blick auf den Kulturbürger als wahrnehmenden Rezipienten zu reflektieren hat (Kap. V/1.1). Sodann sind Gestaltungsprozesse näher zu beleuchten, die die Geschichtskultur prägen: Instrumente und Inszenierungen (V/1.2) sowie die Themenfindung und -setzung (V/1.3). 1.1 Geschichte und Ästhetik

Die Gestaltung von Geschichtskultur spielt sich im weitesten Sinne im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Ästhetik ab.8 Der Wissenschaftsbezug spielt für die Kulturpolitik sicherlich die kleinste Rolle. Er stellt vor allem die methodischen Regeln der Wahrnehmungs-, Deutungs- und Orientierungsleistung des Geschichtsbewusstseins und die inhaltliche Kohärenz der historischen Erfahrung, vereinfacht gesagt ihre Wahrhaftigkeit sicher. Dabei werden die kognitiven Prozesse durch die Forschungsergebnisse der historischen Wissenschaften bestimmt. Eine aktive Kulturpolitik sollte aber die Inhalte dieser historischen Forschung genau beobachten und zur Grundlage ihrer Entscheidungen machen, um nicht ideologischen Instrumentalisierungen anheimzufallen. Denn nur im Rekurs auf die Ergebnisse der historischen Forschung können die inhaltlichen Entscheidungen für Gedenkstätten und Museen, für Ausstellungsthemen und historische Jubiläen und Gedenkfeiern gefüllt werden. Anders verhält es sich bei der politischen Dimension der Geschichtskultur. Zwar stellt diese zunächst einmal die historische Legitimität von Herrschaft sicher, die einer Zustimmung der Betroffenen bedarf, in der ihre historische Erinnerung eine wichtige Rolle spielt. Jörn Rüsen skizziert diese politische Legitimationsfunktion der Geschichte wie folgt: »Politische Herrschaft präsentiert sich immer in geschichtsträchtigen Symbolen. Sie bedarf der Geschichte, um ihr organisiertes Machtverhält8 | Darauf hat wiederholt und eindrücklich Jörn Rüsen hingewiesen, vgl. Rüsen, 1994, S. 11-17.

V. Geschichtskultur | 187 nis im Innern der von ihm betroffenen Subjekte zu verwurzeln und abzusichern.«9 Genau hier stößt die Geschichtskultur aber in den Bereich der historischen Identitätsbildung vor, und eine aktivierende Kulturpolitik muss immer wieder überprüfen und ausloten, welche Machtinteressen bei ihren Entscheidungen im Spiel sind und welche politische Funktion eine geschichtskulturelle Veranstaltung oder Institution erfüllt, um diese zu unterstützen oder sich dieser Politisierung im Zweifelsfall auch zu widersetzen. Die engste Verbindung besteht im Verhältnis von Geschichtskultur und Kulturpolitik sicherlich im Bereich der Ästhetik. Ästhetik und Geschichte treffen unter dem Banner der Geschichtskultur nicht zum ersten Mal aufeinander – ihre Verbindung zeichnete sich schon in der Spätaufklärung ab. Damals emanzipierte sich die Geschichte aus ihrer untergeordneten Stellung als theologische und juristische Hilfswissenschaft und wurde zur selbständigen Disziplin. Etwa zeitgleich wurde sie in das Subsystem der Wissenschaft und dasjenige des Schulunterrichts geschieden 10 – eine der führenden historischen Zeitschriften in Deutschland trägt nicht zufällig noch heute den programmatischen Namen »Geschichte in Wissenschaft und Unterricht«. Die Einrichtung der Geschichtswissenschaft als eigenständiges Universitätsfach und die sich abzeichnende Schichtung des historischen Berufsfeldes bildeten aber nur eine Seite des Geschichtsverständnisses, das sich in der Spätaufklärung durchsetzte. Ein anderer, nicht minder wichtiger Aspekt lag in der Entstehung des modernen Geschichtsbegriffs.11 Erst jetzt wurden der vergangene Sachverhalt, seine historiografische Darstellung und seine wissenschaftliche Durchdringung zum Kollektivsingular »Geschichte« zusammengeführt, während vorher durchweg von »historiae« und Geschichten in der Mehrzahl die Rede war. Es waren drei Elemente, die diesen modernen Geschichtsbegriff konstituierten: Die ästhetische Refl exion verlangte der Historie eine größere Darstellungskunst ab; das Schreiben von Geschichten sollte sich nämlich nicht mehr auf chronikali9 | Rüsen, Jörn, Geschichtskultur, in: Bergmann, Klaus/Fröhlich, Klaus/ Kuhn, Annette/Rüsen, Jörn/Schneider, Gerhard (Hg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, 5. Aufl., Seelze-Velber 1997, S. 38ff., S. 59.

10 | S. Blanke, Horst Walter, Historiker als Beruf. Die Herausbildung des Karrieremusters »Geschichtswissenschaftler« an den deutschen Universitäten von der Auf klärung bis zum klassischen Historismus, in: Jeismann, Karl-Ernst (Hg.), Bildung, Staat, Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Mobilisierung und Disziplinierung, Wiesbaden 1989, S. 343ff.

11 | Koselleck, Reinhart, Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs, in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 2, Stuttgart 1975, S. 647ff.

188 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent sche und katechetische Formen beschränken, sondern in erzählender Weise dem vermeintlich planlosen Geschehen der Vergangenheit einen Sinn abgewinnen. War das zufällig Erscheinende auf diese Weise in ästhetisch ansprechender Form in ein »System« der Geschichte überführt, mochten durch die Erkenntnis dieses Systems auch die Aussichten wachsen, die Geschichte tatsächlich den gewünschten Normen zu unterwerfen, diese Normen der Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen und durch deren Einsicht die erhoff te historisch-moralische Bewegung in der Zukunft zu beschleunigen. Mit zunehmender Akzeptanz der auf klärerischen Idee vom Menschheitsfortschritt trat am Ende sogar »die Geschichte selbst« als moralische Instanz auf den Plan, die »Weltgeschichte« warf sich – mit Friedrich Schiller – zum »Weltgericht« auf. Diese Moralisierung der Geschichten durch die Geschichte wurde in einem dritten Schritt um eine Konzeption ergänzt, welche die ältere, auf Gott verweisende theologische Geschichtsdeutung aufgab und sie durch eine säkulare, auf die Vernunft rekurrierende Geschichte ersetzte. Hatte die Spätaufklärung die Ästhetik damit in die Geschichtsschreibung eingebracht, so gestattet es der Begriff der Geschichtskultur nun, Ästhetik und Geschichte in der Gesamtheit ihrer Verknüpfungen zu sehen, die ja unzweifelhaft über das ästhetisch ansprechende Schreiben von Historie hinausreichen.12 Die Verbindung von Historie und Ästhetik ist deshalb vielleicht derjenige Aspekt der Geschichtskultur, der mehr noch als der wissenschaftliche und politische Aspekt der Historie und vielleicht sogar stärker als die historische Bildung von Bedeutung für die Kulturpolitik ist. Denn Kulturpolitik hat sich insbesondere mit der Frage der Gestaltung der Präsentation von und Auseinandersetzung mit Geschichte zu befassen (in Museen, Ausstellungen, Archiven, durch Denkmale, Gedenkstätten etc.). In den von der Kulturpolitik mitgestalteten Substanzen der Geschichtskultur geht es daher wesentlich um Fragen der Ästhetik – um die Verschränkung von Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn, von Gestaltung und Erleben, von Wissen und Wahrnehmung. Geschichte kann dabei in allen möglichen Formen wahrgenommen werden, in alltäglicher und lebensweltlicher Form ebenso wie in sinnenhafter, geistiger, sublimer oder künstlerischer.13 Was diese Verschränkung von Wahrnehmung und Wissen in der Ge12 | Dass auch diese Verschränkung von Ästhetik und Historie einer (vorausgehenden und begleitenden) fundierten wissenschaftlichen Forschung bedarf, versteht sich von selbst. S. dazu den Beitrag von Rüsen, Jörn, Geschichtskultur als Forschungsproblem, in: Fröhlich, Klaus/Grütter, Heinrich Theodor/Rüsen, Jörn (Hg.), Geschichtskultur. Jahrbuch für Geschichtsdidaktik 1991/92, S. 39ff., der den Begriff »Geschichtskultur« als Leitvokabel für Historiker, Museumspraxis und Kulturpolitik mit begründet hat.

13 | Welsch, 1991.

V. Geschichtskultur | 189 schichtskultur meint, sei am Beispiel der historischen Ausstellung erläutert. Die historische Ausstellung lebt von der sinnlichen Anschauung der dort präsentierten Gegenstände, Bilder und Fotografien. Diese Exponate, die – im Wortsinne – »aus-gestellt« werden, sind in der Tat keine eindeutigen, sondern mehrdeutige Symbolkomplexe, die Raum für vielfältige Interpretationen bieten. Jedes Exponat ist eine Synthese aus jener Intention, die sich in ihm selbst manifestiert, und der Intention des Betrachters.14 Der Blick eines Ausstellungsbesuchers stellt darüber hinaus Beziehungen zwischen verschiedenen Bildern und Exponaten her, die damit einen Raum der wechselseitigen Bedeutung konstituieren. Dies lässt sich zugespitzt als »Welt der Magie« charakterisieren. Diese magische Welt unterscheidet sich grundlegend von der »historischen Linearität«, in der sich nichts wiederholt und in der man die Ereignisse in einem Fluss von Ursache und Wirkung sieht.15 Das Bildgedächtnis folgt nicht durchweg historisch-linearem Denken. Es vermag Räume und Zeiten zu überspringen und Elemente zu verknüpfen, deren Verbindung sich argumentativ nicht immer begründen lässt. Wünsche und Ängste, die bei sprachlicher Ausformulierung vielfach rational kontrolliert werden oder unter Tabus fallen, können sich in Bildern oder als Exponatenreihe Bahn brechen. Darin gleichen die Bilder den Träumen, die in Freuds Psychoanalyse als »verhüllte Erfüllungen von verdrängten Wünschen«16 gedeutet werden. In Bezug auf die Geschichtskultur könnte man von diesen Bildern, die ja im Kopf, in unserer Vorstellungskraft entstehen, von historischer Imagination sprechen. Die meist nur knapp kommentierten Bilder und gegenständlichen Exponate einer Ausstellung sind Symbolkomplexe, die paradoxerweise gerade infolge ihrer interpretativen Offenheit verhüllender sind als der entfaltete sprachliche Diskurs. Denn während im europäischen Mittelalter, in dem die meisten Menschen ja Analphabeten waren, Sehen und Hören Vorrang vor der Schrift hatten,17 existiert heute in modernen westlichen Gesellschaften umgekehrt 14 | Auf eine solche doppelte Bedeutung eines Fotos hat der Sprachphilosoph Vilém Flusser in seinem Essay »Für eine Philosophie der Photographie« aufmerksam gemacht, Flusser, Vilém, Für eine Philosophie der Photographie, Göttingen 1992.

15 | Flusser illustriert diese Differenz an einem pointierten Beispiel: »In der geschichtlichen Welt ist der Sonnenaufgang Ursache für das Krähen des Hahns, in der magischen bedeutet der Sonnenaufgang das Krähen und das Krähen den Sonnenaufgang.« (Ebd., S. 8f.)

16 | Freud, Sigmund, Über Träume und Traumdeutungen, Frankfurt a.M. 1971, S. 42.

17 | Wenzel, Horst, Imaginatio und Memoria. Medien der Erinnerung im höfischen Mittelalter, in: Assmann, Aleida/Harth, Dietrich (Hg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a.M. 1991, S. 57ff.

190 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent kein konsensfähiger Schlüssel zur Interpretation bildlicher Darstellungen oder gegenständlicher Bedeutungsträger.18 Texte stellen dagegen schon als solche Zusammenhänge zwischen Handlungen, Orten und Personen her. Sie bilden für Historiker daher das zentrale Material und Medium ihrer Geschichte(n). Von einem darstellenden und argumentierenden Text unterscheidet sich die aus dreidimensionalen Objekten, aus Bildern, Inszenierungen, Raum- und Lichtwirkungen und am Rande auch aus Dokumenten komponierte historische Ausstellung also durch Mehrdeutigkeit und größere interpretative Offenheit. Es ist den Ausstellungsbesuchern anheim gestellt, das Zerstörte oder das Übriggebliebene, die Vergangenheit oder die Gegenwart, das ihnen Innerliche oder Äußerliche zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen und Überlegungen zu nehmen. Exakt diese Erlebnisqualität ist es übrigens auch, die empirischen Untersuchungen zufolge von Museumsbesuchern besonders geschätzt wird.19 Eine historische Ausstellung verzaubert – und bietet zugleich durch tief gestaffelte Begleitinformationen, die über Lesepulte und Touchscreens bis zum Ausstellungskatalog und zur museumspädagogischen Führung reichen, Schlüssel zur Entzauberung an.20 Aus alldem wird deutlich: Die Verschränkung von Geschichte und Ästhetik, wie sie in historischen Ausstellungen zum Ausdruck kommt, bildet ein entscheidendes Band zwischen Kulturpolitik und Geschichtskultur. Dies gilt in ähnlicher Form auch für die weiteren Gestaltungsinstrumente und Inszenierungen in der Geschichtskultur. 1.2 Instrumente und Inszenierungen

Die Musealisierung von Historie ist inzwischen zu einem Trend geworden, der »die Institution, nach der er benannt ist, hinter sich gelassen hat«.21 Ge18 | Krzystof Pomian spricht deshalb mit Blick auf Sammlungen und Exponate von Semiophoren (Zeichenträgern), die etwas von einem Geheimnis in sich tragen, s. Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1986.

19 | S. Noschka-Roos, Annette (Hg.), Besucherforschung in Museen. Instrumentarien zur Verbesserung der Ausstellungskommunikation, München 2003 sowie darin den Beitrag von Hermann Schäfer »Anlocken – fesseln – vermitteln. Was Besucherforschung uns lehrt(e), ein Plädoyer für die Grundrechte der Besucher«, S. 83ff.

20 | Borsdorf, Ulrich/Grütter, Heinrich Theodor/Rüsen, Jörn, Einleitung, in: dies. (Hg.), Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte, Bielefeld 2004, S. 7ff.; Korff, Gottfried, Vom Verlangen, Bedeutungen zu sehen, in: Borsdorf, Ulrich/Grütter, Heinrich Theodor/Rüsen, Jörn (Hg.), Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte, Bielefeld 2004, S. 81ff.

21 | Korff, Gottfried, Aporien der Musealisierung. Notizen zu einem Trend,

V. Geschichtskultur | 191 schichte wird eben nicht nur in Museen und Museumsausstellungen präsentiert und inszeniert. Eine aktivierende Kulturpolitik hat sich mit einer Vielzahl weiterer Gestaltungsinstrumente, Inszenierungen und Symbole zu befassen, die der Präsenz von Geschichte und dem Erhalt des kulturellen Erbes dienen. Deren wichtigste sind neben den schon charakterisierten historischen Ausstellungen (auch außerhalb von Museen) Denkmäler, historische Führungen, die Gestaltung von Geschichtsrouten oder -pfaden, Gedenktafeln und Publikationen. Bei diesen Elementen geschichtskultureller Arbeit gibt es große Potenziale für eine aktivierende Geschichtskulturpolitik. Allerorten besteht meist eine vielgestaltige Bereitschaft von einzelnen Bürgern, Initiativen und gemeinnützigen Organisationen, an der Realisierung solcher »leibhaftigen« Objekte und Projekte mitzuwirken, sich mit tatkräftiger Unterstützung oder finanziellem Engagement einzubringen. Viele Themen und Orte werden von den Akteuren der Geschichtskultur selbst entdeckt und erforscht. Auch die Kommunen sollten jene historischen Spuren nicht außer Acht lassen, die archäologisch zu entdecken und zu entschlüsseln sind. In einer Reihe von Städten gibt es deshalb Stadtarchäologen, die gemeinsam mit den Einrichtungen zu Bodendenkmalpflege und Archäologie auf der Landesebene die baulichen und gegenständlichen Spuren der Geschichte sichern. Die dauerhafte Inszenierung, Veranschaulichung und Aufarbeitung historischer Ereignisse und Entwicklungen, etwa durch Geschichtspfade und Gedenktafeln, dient sowohl der Erklärung von Vorhandenem und Sichtbarem als auch der Erinnerung an Unsichtbares und Verlorenes, das so dem Vergessen entrissen wird. Die gebauten Zeugnisse der Geschichte bieten dabei besonders vielfältige Möglichkeiten der historischen Auf bereitung. Dabei geht es nicht nur um die Erschließung und Erläuterung von allseits bekannten Sehenswürdigkeiten (Schlösser, Burgen, Kirchen etc.). Vielmehr kann die Auseinandersetzung mit Baukultur schlechthin ein neues Verständnis von Geschichte wecken und zudem Sinn für die Qualität von Gestaltung unserer gebauten Umwelt entfalten. Das Bewusstsein dafür zu stärken, ist nicht nur für Stadtplaner und Architekten von großer Relevanz, sondern für jeden Kulturbürger. 1.3 Exemplarische Themen

Beispielhaft soll an drei Themenfeldern (Jubiläen, Migrationsgeschichte und Baukultur) deutlich gemacht werden, wie Kulturpolitik durch das Aufgreifen und Bearbeiten von Themen das Handlungsfeld Geschichtskultur in seinen unterschiedlichen Dimensionen gestalten kann. der die Institution, nach der er benannt ist, hinter sich gelassen hat, in: Zacharias, Wolfgang (Hg.), Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung, Essen 1990, S. 57ff.

192 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent (a) Gedenktage und Jubiläen: Besucht man die Internetseite des Deutschen Städtetages,22 so spielt dort das Stichwort »Stadtjubiläen« eine prominente Rolle. Allein 2008 begehen 28 Städte ihr (50- bis 1300-jähriges) Bestehen. Das weist auf eine erstaunliche Arbeitsteilung bei den Jahrestagen in Deutschland hin. Sieht man nämlich vom 3. Oktober als dem – neuen – Nationalfeiertag ab, bei dem es sich um ein Datum ohne weitere Vergangenheitsreferenz handelt, sind die übrigen in wiederkehrendem Turnus auf nationaler Ebene begangenen Jahrestage Gedenktage. Als solche erinnern sie an Ereignisse, die mit der Verfolgung der Juden und den Weltkriegen in Verbindung stehen. Es geht um den 9. November 1938 und den 27. Januar 1945, um den 8. Mai 1945 und den Volkstrauertag – um Merkpunkte des »negativen Gedächtnisses« also, das für den selbstreflexiven Umgang mit der eigenen Geschichte in Deutschland unverzichtbar ist.23 Stadtjubiläen zeigen, wie andere historische Feste und Jubiläen auch,24 eine gegenläufige Tendenz an. In ihren Festprogrammen drücken sich eher Gemeinschaft als Gesellschaft, eher Harmonie als Konfl ikt, eher Zustimmung als Kritik aus, wenngleich auch solche Veranstaltungen wichtige Anstöße zur Reflexion geben können. Kommunale Jubiläen bieten vor allem aber Anlässe für Interaktion, Partizipation und Wir-Inszenierungen.25 Man könnte die historische Orientierungssuche, die sich in solchen Jubiläen ausdrückt, auch im Sinne jener Zeitdiagnose verstehen, die Lutz Niethammer formuliert hat: »Der Aufstieg der Identitätssemantik in der politischen und medialen Öffentlichkeit erscheint wie in kommunizierenden Röhren mit Zeitdiagnosen sozialer Zersplitterung, biographischer Inkohärenz, zunehmender Unübersichtlichkeit und abnehmender traditionaler Selbstverständlichkeiten verbunden. Je weniger Identität konkret feststellbar ist, desto mehr wird sie in abstracto zur Norm erhoben.«26

22 | S. www.staedtetag.de 23 | Koselleck, Reinhart, Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses, in: Knigge, Volkhard/Frei, Norbert (Hg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S. 21ff.

24 | Vgl. Münch, Paul (Hg.), Jubiläum, Jubiläum … Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung, Essen 2005, S. 29ff., sowie Müller, Winfried/Flügel, Wolfram/Loosen, Iris/Rosseaux, Ulrich (Hg.), Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus (Geschichte, Forschung und Wissenschaft 3), Münster 2003.

25 | Assmann, Aleida, Jahrestage – Denkmäler in der Zeit, in: Münch, Paul (Hg.), Jubiläum, Jubiläum … Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung, Essen 2005, S. 305ff.

26 | Niethammer, Lutz, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek 2000, S. 38f.

V. Geschichtskultur | 193 Diese Deutung – Korrespondenz von Identitätssemantik und gesellschaftlicher Zersplitterung – hat manches für sich. Dennoch greift sie mit Blick auf kommunale Jubiläen insofern zu kurz, als sie nicht das Element der Integration zu fassen vermag, das diesen Veranstaltungen ebenfalls innewohnt. Es sind nämlich gerade die unterschiedlichen, bisweilen sogar gegensätzlichen Entwürfe des geschichtlichen Rückblicks, die in ihrem Facettenreichtum die Chance für ein plurales Selbstverständnis bieten. Ein solches plurales Selbstverständnis bezieht seine Kraft aus der konfliktreichen gegenseitigen Beeinflussung und Vernetzung verschiedenster gesellschaftlicher Strömungen, Vergangenheitsdeutungen und Zukunftsvorstellungen. (b) Migrationsgeschichte: Die deutschen Städte werden in Zukunft stärker noch, als sie es schon heute sind, ethnisch vielfältige Städte sein. Die Arbeitsimmigration und das globale Nord-Süd-Gefälle haben Deutschland zu einem Einwanderungsland gemacht. Die Einwanderer dürfen nicht ohne das Angebot zum Gespräch bleiben. Gerade in der Kultur geht es dabei um Begegnung, Austausch und gegenseitiges Kennenlernen, ja um eine »Kultur der Anerkennung«.27 Angesprochen werden damit die universale und europäische Ebene ebenso wie die Stadt und der Stadtteil, Musik und Tanz ebenso wie Museen und Theater. Die Geschichte spielt auf all diesen Feldern eine wichtige Rolle. Migrationsgeschichte ist integraler Teil der Menschheitsgeschichte. »Den ›Homo migrans‹ gibt es, seit es den ›Homo sapiens‹ gibt; Wanderungen gehören zur Conditio humana wie Geburt, Fortpflanzung, Krankheit und Tod.«28 Deutschland selbst war lange Zeit kein Einwanderungs-, sondern ein Auswanderungsland, dessen Emigranten vor allem in der Neuen Welt eine Heimat fanden. In Bremerhaven wurde 2005 ein »Deutsches Auswandererhaus« eröff net, das sich diesem Thema widmet. Die Geschichte der Migration, die Erfahrungen der Migranten wie auch die Reaktionsweisen von Politik und Gesellschaft auf Migration und Migranten sollten in der Geschichtskultur stärker zur Geltung kommen.29 Dabei ist zu beachten, dass sowohl die Einwanderer als auch die ansässige Bevölkerung Personengruppen von großer innerer Vielfalt sind, die sich nicht »über einen Kamm scheren« lassen. Die wachsende Zahl wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Publikationen in diesem The27 | Diese Begrifflichkeit findet sich in dem beim SPD-Parteitag im Oktober 2007 in Hamburg verabschiedeten Leitantrag zur Kultur.

28 | Bade, Klaus J., Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2002, S. 11.

29 | S. Magdowski, Iris, Museen als interkulturelle Lern- und Erlebnisorte, in: Loock, Friedrich/Scheytt, Oliver, Handbuch Kulturmanagement und Kulturpolitik, Loseblatt, Berlin 2007, J 1.3.

194 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent menfeld, die Diskussion um ein nationales Migrationsmuseum30 und die vielfältigen Überlegungen zu regionalen Migrationsmuseen zeigen, dass hier vieles in Bewegung gekommen ist, das die Kulturpolitik in der nächsten Zeit weiterhin intensiv beschäftigen wird. (c) Baukultur und Industriekultur: In der europäischen Stadt lässt sich Geschichte anhand der gebauten Kultur nachvollziehen. Ihre Strukturen sind Kristallisationspunkte für biografische Erinnerungen ebenso wie für das kollektive Gedächtnis.31 Architektur ist ein bedeutender »Erinnerungsträger«, wie gerade auch an den Diskursen und baukulturellen Entscheidungen in der Bundeshauptstadt deutlich wird.32 Die Diskussion um die Wiedererrichtung des Stadtschlosses anstelle des Palasts der Republik sei exemplarisch benannt. Eine Stadt bindet mit ihren Gebäuden, Plätzen, Straßen in der Tat individuelle und gemeinsame Erinnerungen, sie bieten die räumlichen Koordinaten für Ich-Identität und Wir-Gefühle. Nicht zuletzt deshalb bedürfen Geschichte und Zukunft der Baukultur höchster Sensibilität. Die Städte und Gemeinden brauchen einen verantwortungsvollen und nachhaltigen Umgang mit erhaltenswerten Bauwerken und Ensembles. Die Kulturpolitik hat dies in engem Austausch mit den Einrichtungen des Denkmalschutzes und der Denkmalpflege auf Landesebene und im kommunalen Bereich zu gewährleisten. Sie kann dabei, zum Glück, auf die juristischen und finanziellen Mittel des Denkmalschutzes zurückgreifen, der den Raubbau mit den Städten zwar nicht immer völlig zu verhindern, aber oft doch entscheidend zu behindern vermag. Die Denkmäler der vormodernen und modernen Stadtkultur und des dörflichen Lebens finden inzwischen ihre Ergänzung in den Denkmälern der Industriekultur. Industriegeschichte und Industrielandschaft werden bewusst in den öffentlichen Raum der Gemeinden integriert. Der Leitbegriff, mit dem dies geschieht, lautet »Industriekultur«. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte eine Gruppe von Künstlern und Intellektuellen kritisch die Diskrepanz zwischen moderner industrieller Produktion und dekorativer Gestaltung thematisiert. Aus dieser Bewegung ging 1907 der Deutsche Werkbund und mit ihm jene Konzeption des industriellen Designs hervor, die eine Einheit von ästhetischem und ökonomischem Denken anstrebte. Vor allem der Architekt Peter Behrens begriff »Industriekultur« als »Unternehmenskultur und künstlerisch sublimierte 30 | S. www.migrationsmuseum.de sowie Motte, Jan/Ohliger, Rainer (Hg.), Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderergesellschaft. Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinnerungspolitik, Essen 2004.

31 | Siebel, Walter, Einleitung, Die europäische Stadt, in: ders. (Hg.), Die europäische Stadt, Frankfurt a.M. 2004, S. 11ff.

32 | S. dazu nur Assmann, Aleida, Geschichte im Gedächtnis, München 2007, S. 97ff., 111ff.

V. Geschichtskultur | 195 industrielle Form«.33 Der Begriff Industriekultur selbst wurde aber nicht vom Werkbund entwickelt, sondern deutlich später von dem Kunsthistoriker Tilmann Buddensieg. Er edierte 1979 ein Werk über Peter Behrens’ Zusammenarbeit mit der AEG, das den Titel »Industriekultur« trug.34 Diese Kategorie war zwar auf die »schöne Form« bezogen, sie sollte zugleich aber einen Mehr-Wert jenseits des schieren Ästhetizismus verdeutlichen. Hermann Glaser, damals Kulturdezernent in Nürnberg, griff diesen Terminus auf und erweiterte ihn um den Aspekt der historischen Lebenswelt der industriellen Gesellschaft.35 »Industriekultur« bezeichnete für ihn den Versuch, mit Blick auf das 19. und 20. Jahrhundert »Geschichte von unten« zu betreiben und Alltagsgeschichte mit Strukturgeschichte zu verknüpfen – möglichst vom eigenen Ort ausgehend. So wurde Industriekultur zu einem historisch-plastischen Leitbegriff für das Industriezeitalter. Die baulichen Relikte des Industriezeitalters haben mit der De-Industrialisierung eine neue Bedeutung gewonnen. Heute leben sie von der Spannung zwischen den Relikten, welche die Geschichten von der Macht der Großindustrie, von Ausbeutung, Maloche und Widerständigkeit vergegenwärtigen, und von den neuen Nutzern, die dieser Geschichte nicht mehr unterworfen sind und den Industrie-Raum als Spiel-Raum für eine andere Zukunft verstehen. Die denkmalgeschützten Räume früherer Schwerstarbeit bleiben nicht brachliegende Rudimente, sondern werden durch die neue Nutzung wieder in Wert gesetzt. Ein besonders weitreichendes und umfassendes Beispiel für den Umgang mit Industriekultur stellt die Internationale Bauausstellung Emscherpark in den Jahren 1989 bis 1999 im Ruhrgebiet dar, die in beispielloser Tiefe und Breite im drittgrößten europäischen Ballungsraum die Industriedenkmäler erhalten und zu neuen Kulturorten umgewandelt hat, ohne deren industrielle Vergangenheit zu unterschlagen. Denn eine Reihe dieser Industriedenkmäler sind Bestandteil des dezentralen Rheinischen und Westfälischen Industriemuseums und werden verbunden durch die »Route der Industriekultur«, des dichtesten Netzes von Industriedenkmalen in Europa.36 33 | Kierdorf, Alexander/Hassler, Ute, Denkmale des Industriezeitalters, Von der Geschichte des Umgangs mit Industriekultur, Tübingen/Berlin 2000, S. 73f., 161.

34 | S. Buddensieg, Tilmann unter Mitarbeit von Gabriele Heidecker und Sabine Bohle (Hg.), Industriekultur, Peter Behrens und die AEG. 1907-1914, Berlin 1979.

35 | Glaser, Hermann, Maschinenwelt und Alltagsleben, Industriekultur in Deutschland vom Biedermeier bis zur Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1981; ders. (Hg.), Industriekultur deutscher Städte und Regionen, München 1984.

36 | Vgl. dazu Grütter, Heinrich Theodor, Bausteine der Geschichte. Die Rou-

196 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent Im Jahr 2001 wurde die Zeche Zollverein in Essen, die ehemals förderstärkste Tief bauzeche der Welt, zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt. Als Symbol des Strukturwandels im Ruhrgebiet entsteht hier ein internationales Zentrum für Kunst, Design und Kulturwirtschaft, zugleich erläutert die Zeche Zollverein als Industriedenkmal aber auch die Technik und die Arbeit im Steinkohlebergbau und beherbergt seit 2008 das Ruhr Museum als neues Regionalmuseum für die Natur- und Kulturgeschichte des Ruhrgebietes. An diese umfangreichen Bemühungen um eine sinnvolle Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft knüpft nunmehr die Europäische Kulturhauptstadt RUHR.2010 mit ihrem Motto »Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel« an: Die industriekulturellen Orte sind mittlerweile nicht nur Veranstaltungszentren der RuhrTriennale, sondern werden im Jahr 2010 als die wesentlichen Attraktionspunkte umfassender Erlebnisareale für den Auf bau eines neuen kulturtouristischen Profi ls der Metropole Ruhr genutzt und weiterentwickelt. Bildeten früher Arbeit, Kohle und Stahl den Identitätskern − den »Mythos des Ruhrgebiets« −, so wird jetzt die Kultur das einigende Band und der identitätsstiftende Faktor der neuen Europäischen Metropole Ruhr. Künstler und Kreative besetzen die vom Mythos Ruhrgebiet geprägten industriekulturellen Orte einer vergangenen Epoche und lassen ein inspirierendes Spannungsverhältnis zwischen alter Arbeit und neuen Künsten, zwischen Geschichte und Zukunft, zwischen Mythos und Moderne entstehen, das der Metropole Ruhr ein ganz eigenes Profil verleiht.

2. I NFR A STRUK TUR

DER

G ESCHICHTSKULTUR

Die Geschichtskultur wird ganz wesentlich durch Museen, Archive, Gedenkstätten sowie Geschichtsvereine und -werkstätten geprägt. Diese sind zugleich wesentliche Elemente der kulturellen Infrastruktur in Deutschland. 2.1 Historische Museen

Geschichtskultur hat eine neue Form der Aufmerksamkeit insbesondere im Blick auf die Errichtung und Ausrichtung historischer Museen gefunden. Als grundlegend gilt Hermann Lübbes These, dem Museum komme angesichts beschleunigter Modernisierung und »Gegenwartsschrumpfung« die stabilitätsfördernde Aufgabe der »Vergangenheitsvergegenwärtigung« zu. »Das Maß der kulturellen Selbstverständlichkeiten nimmt in te der Industriekultur. Industriegeschichte und kulturelles Erbe, in: Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur 1/2004, S. 11ff.

V. Geschichtskultur | 197 einer dynamischen Zivilisation ab, und damit nimmt der Zwang zur kompensatorischen Beschaff ung benötigter Orientierungen zu.«37 Andere Autoren diagnostizieren den rasanten Zerfall traditioneller Lebenswelten und Werte, sie deuten die um sich greifende Musealisierung jedoch nicht als sinnvolle Kompensation, sondern als einen Faktor, der diesen Zerfall vorantreibe und das politische Handeln lähme. Die Museen seien, Friedhöfen gleich, Orte der »gefahrlosen Präsenz« beunruhigender Phänomene38 und Ausdruck einer »steinernen Unbeweglichkeit des kulturellen Codes«.39 Welcher dieser Deutungen man auch zustimmen mag, letztlich bieten sie nur einzelne Facetten einer Erklärung für die fortschreitende Musealisierung aller möglichen realen Erscheinungen und Entwicklungen. Eine wichtige Rolle für das neue Geschichtsbewusstsein in der alten Bundesrepublik spielte sicher auch die Museumsdebatte, die im Gefolge der Studentenbewegung aufkam. Sie trug das Motto »Lernort contra Musentempel«. Analog zur Forderung »Kultur für alle« wurde die Öff nung des Museums für neue Themen und für jene sozialen Schichten verlangt, die nicht dem Bürgertum angehörten. Und die seit den 1970er Jahren zahlreich gegründeten Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus waren vor allem wohl das Ergebnis der antiautoritären Revolte der damals Jungen gegen die Generation ihrer Eltern, der man ein Schweigen über die Jahre 1933 bis 1945 vorhielt. Geschichtsmuseen werden fünf grundlegende Aufgaben zugewiesen: • • • • •

das Sammeln von Gegenständen; ihre Bewahrung und dauerhafte Sicherung; die Ordnung, Erschließung und Erforschung des Gesammelten; die öffentliche Präsentation ausgewählter Exponate der Sammlung in Gestalt von Ausstellungen und schließlich die Vermittlung dieser Ausstellungsinhalte in Form von Führungen, Katalogen, pädagogischen und anderen Veranstaltungen.

37 | Lübbe, Hermann, Zeit-Verhältnisse. Über die veränderte Gegenwart von Zukunft und Vergangenheit, in: Zacharias, Wolfgang (Hg.), Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung, Essen 1990, S. 40ff., 46.

38 | So Pazzini, Karl-Josef, Tod im Museum. Über eine gewisse Nähe von Pädagogik, Museum und Tod, in: Zacharias, Wolfgang (Hg.), Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung, Essen 1990, S. 83ff.

39 | Jeudy, Henri Pierre, Die Welt als Museum, Berlin 1987, S. 83; mit neuen Interpretationen Korff, 2004 sowie Bollenbeck, Georg, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a.M. 1996, S. 310f. als Kritik an der Kompensationstheorie.

198 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent Sammlungen und Ausstellungen sind die zentralen Kennzeichen des Musealen in den historischen Museen. Die fragmentarisch und meist zufällig oder privilegiert tradierten Objekte werden hier – anders als in einer Kunstausstellung – nicht als für sich stehende Artefakte präsentiert, sondern rekontextualisiert und in historische Zusammenhänge gerückt. Damit werden historische Museen zu Orten, in denen im Wortsinne Geschichte veranschaulicht und Geschichtsbilder geformt werden. Als eigenständiger Museumstyp entstanden die Historischen Museen im 19. Jahrhundert. Der Rückgriff auf die Vergangenheit, der sich in diesen Gründungen äußerte, reagierte auf die radikale Veränderung der Gesellschaft durch Industrialisierung und Urbanisierung mit dem Wunsch, das Hergebrachte zu bewahren. Darüber hinaus spielten die Historischen Museen keine geringe Rolle bei der Konstituierung von Nationalbewegungen und Nationalstaaten. Jene bedurften zu ihrer ideologischen Unterfütterung historischer Gründungsmythen, die auch als »Invention of Tradition« 40 und als »Imagined Communities« 41 charakterisiert wurden. So ist es kein Zufall, dass das bedeutendste kulturgeschichtliche Museumsprojekt im Deutschland des 19. Jahrhunderts das – bis heute bestehende – Germanische Nationalmuseum in Nürnberg war. 42 Heute existiert in Deutschland eine fast unübersehbare Vielfalt von Historischen Museen, die sich auf vier Grundtypen zurückführen lassen: (a) Landesmuseen und Städtische Museen: Erstere gehen auf frühneuzeitliche fürstliche Sammlungen zurück und beinhalten neben historischen und naturhistorischen meist auch kunstgeschichtliche, volkskundliche, archäologische und ethnologische Objekte. Die seit dem späten 19. Jahrhundert entstandenen Städtischen Museen sammeln vorwiegend kommunales Erbe. Hierzu gehören auch die Regionalmuseen, die gleichsam auf der Zwischenebene zwischen den Kommunen und den jeweiligen politischen Landesgrenzen entstanden sind und denen im Zuge eines neuen Regionalismus eine starke identitätsbildende Funktion zukommt. (b) Heimatmuseen und Freilichtmuseen: Heimatmuseen wurden schon im Wilhelminischen Kaiserreich, in ihrer Mehrheit jedoch in der Weimarer Republik und unter nationalsozialistischer Herrschaft errichtet. Von ihrem meist völkischen Gründungskonzept inzwischen weit entfernt, liegt ihnen bis heute meist ein integrales Verständnis von Ort oder Region zu40 | Hobsbawm, Eric/Ranger, Terence (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983.

41 | Anderson, Benedict, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983.

42 | Gerchow, Jan, Museen, in: Maurer, Michael (Hg.), Aufriss der Historischen Wissenschaften. Band 6: Institutionen, Stuttgart 2002, S. 316ff.

V. Geschichtskultur | 199 grunde, das neben der Politik- und Sozialgeschichte auch die Alltags- und Mentalitätsgeschichte sowie Aspekte der lokalen Topografie und Naturgeschichte berücksichtigt. Unter dem Vorzeichen einer »kritischen Heimatgeschichte« oder einer »Geschichte von unten« entstanden seit den späten 1970er Jahren in Großstädten wie Berlin und Hamburg außerdem Stadtteilmuseen, die den Gedanken der schwedischen »Grabe, wo du stehst«Initiativen 43 aufgriffen. Während solche Stadtteilmuseen wie die Heimatmuseen im urbanen Raum situiert sind, finden sich Freilichtmuseen primär in ländlichen Regionen. Sie nehmen in ihren Ausstellungen meist die ethnografische Tradition der Haus- und Brauchtumskunde auf. (c) Spezialmuseen: Sie nehmen sich solcher Themen an, die in den klassischen Historischen Museen ein Schattendasein führen oder gar nicht berücksichtigt werden. Ihr Themenspektrum ist breit gefächert und reicht vom Schul- zum Hundemuseum und vom Film- zum Foltermuseum. Von besonderem Gewicht sind die zahlreichen teils technikhistorisch, teils sozialgeschichtlich orientierten Industriemuseen, deren Vorläufer die älteren deutschen Post- und Eisenbahnmuseen und deren maßgebliche Vorbilder die englischen Industriemuseen sind. Sie sind im Unterschied zu fast allen anderen Museumstypen an authentischen ehemaligen Produktionsstätten untergebracht und bilden den Kern der postindustriellen Museumslandschaft. (d) Neue Historische Museen: Hier handelt es sich um Gründungen seit den 1980er Jahren, die sich – wie das Deutsche Historische Museum in Berlin und das Haus der Geschichte der Bundesrepublik in Bonn – gezielt als Vermittlungsinstitutionen von deutscher Geschichte verstehen. In ihrer Entstehungsphase lösten diese Neugründungen heftige Kontroversen über Risiken und Gefahren historischer Nationalmuseen aus. 44 Vielleicht könnte man hier noch die neuen kommunalen Häuser der Geschichte subsumieren, die in den letzen Jahren aus den Stadtarchiven entstanden sind und sich im Verbund mit anderen Initiativen mit der jeweiligen lokalen Geschichte auseinandersetzen. Sie sind aber ebenso gut unter der modernen Spielart der Stadtarchive zu rubrizieren (s.u., Kap. V/2.3). 2.2 Gedenkstätten

Gedenkstätten bilden eine Sonderform des Musealen. So existieren in Deutschland Gedenkstätten für Politiker von August Bebel über Walther 43 | Lindquist, Sven, »Grabe wo Du stehst«. Handbuch zur Erforschung der eigenen Geschichte. Aus dem Schwedischen übersetzt und hg. von Manfred Dammeyer, Bonn 1989.

44 | Gerchow, 2002, S. 380ff.

200 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent Rathenau bis Ernst Thälmann, für Schriftsteller und Künstler von Karl May über Goethe bis Käthe Kollwitz, für Wissenschaftler und Forscher von Karl Marx über Heinrich Schliemann bis Alfred Brehm. Ihr Charakteristikum ist, dass sie sich an authentischen Orten befinden, die mit der zu erinnernden Person oder dem zu erinnernden Ereignis in Verbindung stehen. Insofern bilden diese Erinnerungsorte eine Mischform zwischen Museum und Denkmal und vermitteln durch die Aura des Ortes zwischen der zeitlichen Absenz und der örtlichen Präsenz des zu Erinnernden. Die meisten Gedenkstätten sind indes den Opfern des Nationalsozialismus gewidmet oder – im Osten Deutschlands – den in der DDR oder von der sowjetischen Besatzungsmacht Verfolgten. Solche Orte für Opfer und Verfolgte sind zeithistorische Museen, die zu erkennen geben, dass sie »zugleich auch Tat- und Leidensorte sowie symbolisch und tatsächlich Friedhöfe sind«. Sie lassen sich als »Arbeitseinrichtungen mit einem gewissen Andachtscharakter« umschreiben. 45 Opfergedenkstätten können nach vielerlei Gesichtspunkten typisiert werden, wobei die historische Funktion des jeweiligen Terrains oder Gebäudes selbst von zentraler Bedeutung ist: • • • •





• •

Stätten der Planung der nationalsozialistischen Verbrechen und des Gestapo- und Justizterrors zwischen 1933 und 1945; Orte des politischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus; Konzentrationslager, die vor allem der Internierung politischer Regimegegner während der ersten Jahre der NS-Herrschaft dienten; Konzentrationslager und KZ-Außenlager, die von 1938 an als »Erziehungs- und Produktionsstätten« der SS fungierten und in denen Zehntausende Häftlinge aus verschiedenen Ländern festgehalten wurden und starben, sowie markante Orte für die Todesmärsche von KZ-Häftlingen bei Kriegsende 1945; Kriegsgefangenenlager und Friedhöfe, in denen zwischen 1941 und 1945 mehrere Zehntausend sowjetische Kriegsgefangene in Massengräbern verscharrt wurden; »Arbeitserziehungslager« und »Jugendschutzlager«, die während des Zweiten Weltkrieges der terroristischen Disziplinierung von Arbeitern und Jugendlicher dienten; Stätten der »Euthanasie«-Morde und der NS-Psychiatrie; Orte der Verfolgung durch die sowjetische Besatzungsmacht nach

45 | Knigge, Volkhard, Statt eines Nachworts, Abschied der Erinnerung. Anmerkungen zum notwendigen Wandel der Gedenkkultur in Deutschland, in: Knigge, Volkhard/Frei, Norbert (Hg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S. 423ff., 430.

V. Geschichtskultur | 201



194546 – Orte, an denen die Staatssicherheit der DDR ihre Vorgehen plante und politische Gefangene festhielt; Orte des Widerstandes gegen die Diktatur in der DDR.

Die nationalsozialistischen Verbrechen, die in den Gedenkstätten dokumentiert werden, sind Ausdruck eines elementaren »Zivilisationsbruchs« (Dan Diner). Ihre Erinnerung ist nicht nur von historischer Bedeutung, sondern auch von Gewicht für die Zukunft. Ideologisch motivierte Gewaltexzesse, Genozide und kriegerische Auseinandersetzungen weltweit zeigen dies ebenso wie die Gefahr eines Rechtspopulismus gegen die europäische Einigung oder die Diskussionen um Gentechnik, die Würde und das Prinzip der Gleichwertigkeit menschlichen Lebens. Anders als für die Generation der in den 1950er Jahren Geborenen ist die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Erfahrung für die Jüngeren nicht mit einer antiautoritären Wende gegen das Elternhaus verknüpft. Außerdem ist die Zahl der noch lebenden Zeitzeugen des Nationalsozialismus sehr klein geworden. Deshalb kann »Erinnerung« hier kaum mehr das reflexive »Sich-Erinnern« meinen, sondern fast nur noch dessen mediale Reproduktion oder das transitive Erinnern Dritter. All das verweist auf eine zunehmende Ferne des Nationalsozialismus im Sinne lebensweltlichen Abstandes. An Folgerungen, die sich aus diesen Entwicklungen für die künftige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in den Gedenkstätten ergeben, möchte ich – im Sinne eines heuristischen Angebotes – sechs hervorheben: •



Professionalisierung der Gedenkstättenarbeit, da das Beklagen des Leides der Verfolgten der historischen Kontextualisierung bedarf, wenn demokratisch-zivilgesellschaftliche Lernprozesse initiiert werden sollen. Erinnerungskultur zehrt nicht allein von bürgerschaftlichem Engagement, sie benötigt – nicht nur in den großen Gedenkstätten von internationaler Bedeutung wie Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück – der Professionalität, wenn sie ihre Wirkung auf Dauer stellen will. Multiperspektivische Argumentation, da in Gedenkstättenausstellungen nicht lediglich ein Narrativ – etwa das des Widerstandes oder das der Verfolgungsopfer – dargestellt werden sollte. Denn die Jahre 1933 bis 1945 lassen sich nicht auf die Pole »Verfolgung« und »Widerstand«, gleichsam auf Schwarz und Weiß reduzieren. Die vielfältigen Konsenselemente zwischen nationalsozialistischem Staat und Bevölkerung dürfen aus der kritischen Analyse ebenso wenig ausgespart werden wie Mentalität und Verhalten der Führungsgruppen in Bürokratie, Politik und Wirtschaft. 46 | Wie etwa die »Speziallager« in Bautzen, Buchenwald, Sachsenhausen

und Torgau.

202 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent •







Kritische Historisierung der Jahre 1933 bis 1945 im Sinne der diachronen Einordnung der nationalsozialistischen Verbrechen in die deutsche, europäische und Menschheitsgeschichte. Der Auschwitz-Überlebende Primo Levi hat dies so angesprochen: »Es ist geschehen, und folglich kann es weiterhin geschehen; darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.« 47 Darstellung von Biografien in der Weise, dass Verhaltensweisen von Individuen – von der NS-Täterschaft über die Anpassung, das Fasziniert-Werden und das Hin- und Hergerissensein bis zum Widerstand und zur Lage der Verfolgungsopfer – gezeigt sowie lebensgeschichtliche Weichenstellungen und Entscheidungssituationen anschaulich werden. Denn gerade die biografische Individualisierung/die Hervorhebung von Einzelschicksalen kann demokratische Lernprozesse anstoßen helfen. Anschauliche ortsspezifische Bezugnahme, da dies lebensweltliche Anknüpfungspunkte bietet, die nicht an biografische Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus gebunden sind. Typisierung und Verdichtung im Sinne einer Akzentuierung wesentlicher Merkmale des Nationalsozialismus. Dies sind die Forcierung der Gewalt; die Diktatur als Herrschaftsform bei weitgehendem, aber durchaus nicht umfassendem »volksgemeinschaftlichem« Konsens; der Angriffskrieg; Rassismus als durchgehendes Grundprinzip der Gesellschaftspolitik sowie Genozid und Massenvernichtung in kaum vorstellbarem Ausmaß.

Die Betonung solcher für den Vergleich offener Merkmale des Nationalsozialismus bietet eine zweifache Chance. Sie trägt erstens dem Umstand Rechnung, dass die heutige deutsche Gesellschaft keineswegs monokulturell ist und dass deshalb das fragile Zusammenleben von Mehrheit und Minderheiten in unserem Geschichtsbild einen höheren Stellenwert bekommen sollte. 48 Zweitens eröffnet sie die Chance zu einer Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Erfahrung, in welcher deren Spezifi k ebenso bedacht wird wie die allgemeine Gefahr genozidaler Politik. Als besondere Orte haben schließlich frühere Synagogen zu gelten. Sie unterscheiden sich insofern von den NS-Gedenkstätten, als es sich hier um Zentren jüdischen Lebens handelte, nicht um Stätten der nationalsozialistischen Verfolgung im engeren Sinne. Die Zuordnung ehemaliger Synagogen zu den Gedenkstätten ist vor allem auf die Erinnerung an die »Reichs47 | Levi, Primo, Die Untergegangenen und die Geretteten, München 1995, S. 211.

48 | Borries, Bodo von, Jugend und Geschichte. Ein europäischer Kulturvergleich aus deutscher Sicht, Opladen 1999 und Georgi, Viola B., Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland, Hamburg 2003.

V. Geschichtskultur | 203 pogromnacht« von 1938 zurückzuführen. Insgesamt überschneidet sich dieser Typus von Gedenkstätte mit dem Typus des Jüdischen Museums. Insofern war es die geschichtskulturell richtige Entscheidung, auch angesichts der beträchtlich wachsenden jüdischen Communities, z.B. die Alte Synagoge in Essen als Ort der jüdischen Kultur und nicht wie bisher auch als Gedenkstätte für die Opfer und den Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu nutzen. 2.3 Archive

Die Bundesrepublik Deutschland ist reich an Archiven. Wir haben staatliche Archive auf der Bundes- und der Landesebene, Stadt-, Kreis- und Gemeindearchive, kirchliche Archive, Herrschafts-, Haus- und Familienarchive, Wirtschaftsarchive, Parlamentsarchive, Archive der politischen Parteien, Medienarchive, Archive für Wissenschaft und Kunst sowie Hochschul-, Akademie- und Literaturarchive – von den unzähligen nicht professionell geführten Archiven in der Hand von Privatpersonen, Historischen Vereinen und Geschichtswerkstätten ganz abgesehen. 49 Unter dem Ancien Régime fungierten Archive ausschließlich als Instrument der Staatsgewalt. Sie waren der Öffentlichkeit nicht zugänglich und dienten der internen Beweissicherung obrigkeitlicher Entscheidungen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts öffneten sich die Archive sowohl für die wissenschaftliche Forschung und Publikationstätigkeit als auch für den einzelnen Bürger. Sie wurden in zunehmend demokratischer Weise zu Bastionen der historischen Erinnerung. Heute stellen sie Informationen bereit, die interessierte Laien und Wissenschaftler gleichermaßen auswerten können. Ohne Archive gäbe es keine ernsthafte historische Forschung. Und diese archivalisch gestützte Forschung stellt sich nicht wie einst affirmativ zu Herrschaft und Gesellschaft: Die Ideale, an denen sie sich messen lassen muss, lauten Autonomie und Kritik. Archive sorgen für Verwaltungskontinuität und tragen zur Transparenz des Verwaltungshandelns bei. Sie sind unersetzlich für die demokratische Kontrolle bürokratischer Entscheidungen. Außerdem dienen sie der Rechtssicherheit. So hatten die noch lebenden Zwangsarbeiter nach dem im Jahre 2000 verabschiedeten »Gesetz zur Errichtung einer Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«50 den Nachweis über ihren Aufenthalt in Deutschland zu erbringen. Oftmals war es allein der Kreativität von Archivaren beim Aufspüren von Quellen zu verdanken, dass diesen Opfern des Nationalsozialismus ein spätes Stück Gerechtigkeit widerfuhr. Archive bewahren Informationen in ihrem Entstehungszusammen49 | Franz, Eckhart G., Archive, in: Maurer, Michael (Hg.), Aufriss der Historischen Wissenschaften. Band 6: Institutionen, Stuttgart 2002, S. 166ff.

50 | Bundesgesetzblatt 2000 I, S. 1263.

204 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent hang auf. Damit bilden sie eine unverzichtbare Korrekturinstanz gegen Geschichtsklitterung und historische Mythen. Sie dienen in demokratisch verfassten Staaten als Bürgen der geschichtlichen Wahrheitsfindung. Dem entspricht die Verpflichtung, welche die Archivare im Paragraf 1 des »Kodex ethischer Grundsätze für Archivare« eingegangen sind, der 1996 auf der Generalversammlung des Internationalen Archivrates in Peking verabschiedet wurde. Dort heißt es: »Archivare haben die Integrität von Archivgut zu schützen und zu gewährleisten, dass es ein zuverlässiger Beweis der Vergangenheit bleibt. […] Sie müssen jedem Druck widerstehen, Beweismaterial zur Verschleierung oder Verdrehung von Tatsachen zu manipulieren.« In diesem Sinne haben Archive Wissensspeicher zu sein. Zugleich sind sie unvermeidlich »Vergessens-Maschinen«. Gerade angesichts der rapiden Zunahme von Archivgut, die aus der Expansion des Verwaltungshandelns und der Modernisierung der Bürotechnik resultiert, wird der überwiegende Teil der Registraturen im Reißwolf oder in der Müllverbrennungsanlage vernichtet. Da solche Entscheidungen irreversibel sind, tragen Archivare hier große Verantwortung. Auch diese Auswahl ist wie die des gesamten kulturellen Erbes von Interessen bestimmt und bedarf der kulturpolitischen Debatte und aktiven Unterstützung und Steuerung. Es gilt, die räumlichen, konservatorischen und sicherheitstechnischen Voraussetzungen zu schaffen, um die wachsenden Archivbestände sachgemäß zu bewahren; es gilt, die personellen Ressourcen bereitzustellen, um diese zugriffsfähig zu machen; es gilt vor allem aber, bei den politischen Akteuren ebenso wie in der breiten Öffentlichkeit die notwendige Akzeptanz für die Gestaltung der Hinterlassenschaften der Vergangenheit und damit auch ihrer eigenen Geschichte zu schaffen. In den Kommunen ist es inzwischen gängige Praxis, die Archive als integralen Teil der Kulturpolitik zu betrachten und sie den kommunalen Kulturreferaten oder -dezernaten zuzuordnen. Auch hier besteht ein Zusammenhang zur Geschichtskultur. Viele Kommunalarchive führen heute lokalgeschichtliche Untersuchungen durch, präsentieren Ausstellungen, intensivieren die historische Bildungsarbeit und suchen die Zusammenarbeit mit den Schulen. Kommunale Archive verstehen sich zunehmend als Träger des kollektiven Gedächtnisses der Gemeinde.51 Dieses neue Selbstverständnis hat zur Folge, dass sie ihre Sammlungsaktivitäten nicht mehr nur auf die städtische Überlieferung im engen Sinne richten, sondern ihre Aufmerksamkeit zunehmend dem Gesamtspektrum des politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens in der Gemeinde zuwenden. Gesammelt werden persönliche Nachlässe, die Akten von Parteien und Verbänden, die Unterlagen von Vereinen und Bürgerinitiativen sowie Zeitungen, Flugblätter und Plakate. Außerdem wird 51 | Scheytt, Oliver, Die Archive in der Kulturpolitik der Städte, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 99 (IV/2002), S. 62ff.

V. Geschichtskultur | 205 es wichtig, die vielfältigen nichtschriftlichen Quellen – Fotografien, Filmmaterial und Tondokumente – zu erschließen. Sie können nicht nur zur Anschaulichkeit, sondern auch zur Analyse lokaler Geschichte Erhebliches beitragen. Gemeindearchive können so zu Häusern der lokalen Geschichte und zu Zentren der kommunalen Geschichtskultur werden. Als Häuser der Geschichte bündeln sie die Aufgaben einer zentralen Dokumentationsstelle zur Ortsgeschichte, einer lokalhistorischen Forschungsstätte, eines Ortes der historischen Informationsvermittlung und Bildung und der multimedialen Vermittlung von Lokalgeschichte. Dies ist im Ruhrgebiet, dem größten urbanen Ballungsraum Deutschlands mit zahlreichen eigenständigen Städten und Gemeinden, in beispielhafter Weise gelungen. In Bochum, Essen, Hagen und Recklinghausen, um nur einige Beispiele zu nennen, existieren oder entstehen gerade Historische Zentren oder Häuser der Geschichte, die all diese Anforderungen erfüllen. Trotz dieser so wichtigen Funktionen der Archive spielen diese im allgemeinen (kultur-)politischen Bewusstsein immer noch eine nachrangige Rolle. Es bedarf daher einer intensiven Kommunikation unter Beteiligung der verschiedensten Partner der Archive, um ihre Rolle als »moderne Dienstleister« für die Auf bereitung von historisch wichtigen Dokumenten, als Wissensspeicher, Korrektur- und Orientierungsinstanzen bewusst zu machen. Die Archive sind allerdings noch weit entfernt von solchen »Polit-Marketingkampagnen« zum Ausbau ihrer politischen Position. In Allianzen mit Geschichtsinitiativen von Bürgern, durch eine nachhaltige Öffentlichkeitsarbeit, die an dem allgemein wachsenden Geschichtsinteresse anknüpft, und im Dialog mit den verantwortlichen politischen Akteuren über die Ziele der Archivarbeit kann das kulturpolitische Interesse an der Arbeit der Archive geweckt und gestärkt werden.52 2.4 Historische Vereine und Geschichtswerkstätten

Die Beschäftigung mit der Geschichte des eigenen Ortes oder der eigenen Region beschränkt sich nicht auf die Archive, Museen und Gedenkstätten allein. Sie wird auch von Historischen Vereinen, Geschichtswerkstätten, freien Geschichtsgruppen und Einzelpersonen mit ausgeprägt heimatgeschichtlichen Interessen betrieben. Für sie sind historische Sachverhalte deshalb von Bedeutung, weil sie sich in der unmittelbaren Umgebung ihres Wohnortes oder Arbeitsplatzes ereignet haben. Dieser um den Ort zentrierte Ansatz findet seine ebenso spannende wie spannungsvolle Ergänzung in einem themenzentrierten, die überörtlichen Zusammenhänge nicht außer Acht lassenden Zugriff auf die Lokal- und Regionalgeschichte. 52 | Scheytt, Oliver, Erwartungen der Politik an die Archive, in: Verband deutscher Archivarinnen und Archivare (Hg.), Archive und Öffentlichkeit, 76. Deutscher Archivtag 2006, Bielefeld 2007, S. 25ff.

206 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent Die Utopie einer »Synthese von Identität und Universalität, von Ort und Welt, Partikularem und Ganzem«53 sollte auch die Geschichtskultur prägen. Die Angebote historisch engagierter Bürger an ihre Mitbürger sind variantenreich. Sie umfassen die Sammlung einschlägiger Zeitzeugnisse, die Auf klärung über historische Strukturen und Ereignisse, die Bewahrung und Sicherung historisch relevanter Orte sowie die Präsentation von Ortsund Regionalgeschichte im gesamten Spektrum von Ästhetik, historischer Bildung, politischem Interesse und spielerischer Aneignung. Wenn Geschichte möglichst viele, unterschiedlich interessierte und unterschiedlich vorgebildete Bürger neugierig machen und erreichen soll, kommen eben zahlreiche Mittel und Ansätze ins Spiel – Grabungen etwa, Führungen durch stillgelegte Industriebetriebe und Demonstrationsvorführungen vorindustrieller Maschinen, historische Rundfahrten und Rundgänge, Dia- und Filmveranstaltungen, selbstproduzierte Filme, Gedenktafeln zu nationalsozialistischer Verfolgung und zum Widerstand, Exkursionen, Vortragsreihen und Tagungen und manches mehr. Neue, vielleicht noch nicht genügend beachtete Chancen liegen zudem in der Kooperation mit Kultureinrichtungen außerhalb des engeren historischen Sektors wie den Theatern, den Volkshochschulen oder den Bibliotheken. Vom Bildungsbürgertum getragen, wurden die Historischen Vereine in Deutschland in drei Hauptphasen gegründet. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts waren es patriotische Gesellschaften, die historische Erkenntnisse im Sinne der Aufklärung nutzbringend in die Gestaltung der Gegenwart einbringen wollten. Die nächste Gründungsperiode lag im Vormärz. Sie war auf die Sammlung und Bewahrung »deutscher Altertümer« orientiert, hatte also eine nationalromantische Genese. Eine weitere Gruppe von Neukonstituierungen datiert aus den Jahren zwischen 1850 und 1914. Diese Vereine standen bereits unter dem Einfluss der Geschichtswissenschaft und drangen auf wissenschaftliche Standards bei der Sicherung historischen Materials. Außerdem beeinflussten Urbanisierung und Industrialisierung diese Vereinsgründungen. Das Ziel war hier, die Desintegrationserfahrung der Moderne historisch zu kompensieren. Letztlich konvergierten die deutschen Historischen Vereine im Betreiben einer »vaterländischen Geschichte«, deren Gravitationszentrum die Reichsgründung von 1871 wurde.54 Eine vierte Gründungsphase setzte in der Bundesrepublik Deutschland der 1970er und 1980er Jahre mit den Geschichtswerkstätten ein. Ge53 | Göschel, Albrecht, Lokale und regionale Identitätspolitik, in: Siebel, Walter (Hg.), Die europäische Stadt, Frankfurt a.M. 2004, S. 158ff.

54 | Thomas-Morus-Akademie Bensberg (Hg.), Geschichtsvereine. Entwicklungslinien und -perspektiven lokaler und regionaler Geschichtsarbeit, Bergisch Gladbach 1990.

V. Geschichtskultur | 207 schichtswerkstätten haben mit den Historischen Vereinen in der Tat vieles gemeinsam: ein Interesse an Geschichte, das auf den lokalen Raum fokussiert ist; eine vereinsartige Struktur; eine eher bildungsbürgerliche Trägerschaft – soweit dieser Begriff heute noch anwendbar ist. Es lassen sich aber auch Unterschiede aufweisen. Mit Leitbegriffen wie »Alltagsgeschichte«, »Geschichte von unten« und »demokratische Geschichte« sollte die Historie nach Ansicht der Geschichtswerkstätten vor allem jene in den Blick nehmen, die von der »historischen Zunft« vernachlässigt worden waren, »kleine Leute«, Frauen, Minderheiten, Diskriminierte und Verfolgte − Menschen, die kaum eigene Zeugnisse hinterlassen hatten. Und es ging um »Erfahrungsgeschichte«, deren Erforschung solcher Materialien bedurfte wie Briefe, Tagebücher und Zeitzeugenbefragungen. Damit haben die Geschichtswerkstätten den Historischen Vereinen und auch der Geschichtswissenschaft Impulse gegeben, die heute kaum mehr wegzudenken sind.55 In Gestalt der Historischen Vereine und Geschichtswerkstätten ist das bürgerschaftliche und frei-gemeinnützige Engagement auch in der Geschichtskultur zum tragenden Pfeiler geworden. Die Kulturpolitik ist hier Kooperationspartner und nimmt im Sinne des Netzwerkmanagements motivierende und moderierende Aufgaben wahr. Aktivierende Kulturpolitik zielt somit auf eine bürgerorientierte Geschichtskultur und kann diese durch finanzielle und organisatorische Unterstützung von Foren und Zusammenschlüssen, von Publikationen und Periodika fördern, wie es – wieder am Beispiel des Ruhrgebietes – beim Forum Geschichtskultur an Ruhr und Emscher, dem größten mir bekannten Zusammenschluss von Geschichtsinitiativen und -interessierten, durch das Land Nordrhein-Westfalen geschieht.

3. I DENTITÄTSSTIFTENDE A K TIVIERUNG Das Verständnis der eigenen Geschichte prägt die Identität einer jeden Gemeinschaft, aber auch eines jeden Einzelnen. Für Deutschland, die Länder und die Kommunen gilt es gerade angesichts der verbrecherischen Herrschaft des Nationalsozialismus und der totalitären Vergangenheit in Ostdeutschland, Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Doch sollte Geschichtskultur nicht nur »mit erhobenem Zeigefinger« betrieben werden. Die Erinnerung an die Herkunft, an kulturelle Traditionen und historische Ereignisse kann – je nach Thema – auch viele anregende positive Emotionen 55 | Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg/Galerie Morgenland/ Geschichtswerkstatt Eimsbüttel (Hg.), Geschichtswerkstätten gestern – heute – morgen. Bewegung! Stillstand. Auf bruch?, Hamburger Zeitspuren 2, Hamburg 2004.

208 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent und Effekte auslösen. Immer werden damit die Fragen angesprochen: Wo kommen wir her? Was macht uns aus? Wer sind wir? Diese Fragen nach der historischen Identität stellen sich auch in der Auseinandersetzung mit der Geschichte von Gesellschaften und Gemeinschaften anderer Herkunft. Sie äußern sich in der Faszination, die von anderen Kulturen und ihrer Geschichte ausgehen und der wir im Urlaub, in Kultur- und Fernreisen mit großem Interesse nachspüren. Schon aus diesen nur kurz angerissenen Punkten ergibt sich die eminente Bedeutung, die Geschichtskultur für das (kollektive) Gedächtnis und die Herausbildung einer (kollektiven) Identität des Kulturstaates Deutschland, seiner Länder, Regionen und Kommunen hat. Kulturpolitik sollte diese Bedeutung auf den unterschiedlichen Identitätsebenen, die noch durch weitere Kategorien wie Geschlecht, soziale Schicht oder ethnische Zugehörigkeit vermehrt werden könnte, nicht nur reflektieren, sondern alle vorhandenen Kräfte für eine intensive Arbeit in und mit der Geschichtskultur aktivieren. Dafür finden sich nicht nur in den öffentlichen Institutionen, sondern auch in Gesellschaft und Bürgerschaft mannigfache Anknüpfungspunkte und Partnerschaften. Die identitätsstiftende Wirkung der Geschichtskultur wird zunächst anhand von Gestaltungsoptionen in der kommunalen Kulturpolitik exemplarisch illustriert (Kap. V/3.1). Sodann werden kurz gefasste Leitlinien für eine aktivierende Geschichtskulturpolitik formuliert (V/3.2). 3.1 Die identitätsstiftende Wirkung von Geschichtskultur

Identifi kation mit der Kommune, in der man lebt, kann erst dann entstehen, wenn die Kommune ein spezifisches Profi l bietet. Die Arbeit an einem kulturgeprägten Stadtprofil ist damit eine besondere Aufgabe für die Kommunalpolitik, zu der Kulturarbeit und insbesondere Geschichtskultur einen entscheidenden Beitrag leisten können. Kommunen haben meist ein eigenes kulturelles Profi l und arbeiten an dessen Stärkung. Seine Ausstrahlung soll über die jeweilige Gemeinde hinausreichen – in die Region, in das ganze Land, in die internationale Öffentlichkeit. Dieses Profi l kann in markanten Kunstsammlungen, in einem Historischen oder Ethnologischen Museum, im Theater, in einer altehrwürdigen Sehenswürdigkeit wie einem Schloss oder einem Weltkulturerbe – und in größeren Städten in der Kombination mehrerer solcher Elemente – liegen. Doch die Möglichkeiten zur kulturellen Profilierung bieten sich nicht nur für die jeweilige Stadt selbst. An diesem Profi l können und sollen auch die Individuen, Vereinigungen und Unternehmen in der Stadt teilhaben, dieses sogar mitgestalten. Wenn Stadt und Stadtgesellschaft an gemeinsamen Zielen arbeiten, wenn es auch gelingt, einen nachhaltigen Transfer von Ideen, von Wissen, von Kreativität, von Image anzuregen, dann gibt es nicht nur die dafür not-

V. Geschichtskultur | 209 wendigen Finanzmittel, sondern es kann die Identifi kation mit gemeinsamen konstitutiven Anliegen in einem kulturfreundlichen Klima wachsen. Geschichtskultur kann Motor einer solchen profilbildenden und identitätsstiftenden Stadtentwicklung sein. Doch dies gelingt nur, wenn die Projekte sich auf eine gemeinsame gesellschaftliche Vision beziehen und wenn Kulturpolitik die Partner der Kultur- und Stadtentwicklung, insbesondere Bürgerschaft und Wirtschaft sowie einschlägige Stiftungen, damit motivieren kann. Kulturpolitik sollte sich im Zusammenwirken mit gesellschaftlichen Partnern in die Stadtplanung einbringen und einmischen, um das kulturelle Stadtprofi l zu stärken, die Stadträume geschichtlich zu durchdringen und die historisch bedeutsamen Orte bewusst zu machen. Daran können die Individuen, die gesellschaftlichen Vereinigungen und die Unternehmen vor Ort teilhaben und die entsprechenden Prozesse mitgestalten. Wenn es gelingt, die Stadtgesellschaft in diesem Sinne zu aktivieren, können geschichtskulturelle Allianzen mit intensiver und langfristiger Wirkung entstehen. In diesem Zusammenhang spielen der Denkmalschutz und ein nachhaltiger Umgang mit Baukultur eine bedeutsame Rolle. Sie vermögen auf sinnfällige Weise Gegengewichte gegen die »Beschleunigungskrise« und die folgenblinden Modernisierungsprozesse der »Risikogesellschaft« zu setzen. Es geht dabei nicht um ein schlichtes Lob der Langsamkeit, sondern vielmehr um das Wechselspiel von Beschleunigung und Entschleunigung. Hermann Lübbe hat darauf hingewiesen, dass, wenn sich die Bausubstanz unserer Städte in einer Größenordnung von mehr als zwei bis drei Prozent pro Jahr ändert, diese die für das Lebensgefühl ihrer Bewohner so elementar wichtige Anmutung der Qualität von Vertrautheit verlieren.56 In allen gesellschaftlichen Bereichen bedarf es jener Spiel-Räume, in denen man Fakten und Gedanken verschieden kombinieren und simulieren und die Ergebnisse in Ruhe vergleichend prüfen kann. Die Städte als Zentren der Beschleunigung müssen ihren Bürgern auch Orte der Entschleunigung anbieten, die Muße, Reflexion, Kritik und ästhetischen Genuss ermöglichen.57 Historische Orte sind dafür besonders geeignet, da sie eine den Einzelnen überdauernde Aura haben und »Zeit atmen«. Geschichtskultur bietet angesichts eines schwierigen gesellschaftlichen Wandels Chancen, den Zusammenhalt und die Solidarität einer gefährlich auseinanderdriftenden Gesellschaft zu bewahren. Das Bemühen um kulturelle Integration fußt heute auf der Anerkennung kulturell ganz 56 | S. Lübbe, Hermann, Der Fortschritt von gestern. Über Musealisierung als Modernisierung, in: Borsdorf, Ulrich/Grütter, Heinrich Theodor/Rüsen, Jörn (Hg.), Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte, Bielefeld 2004, S. 13ff., 23f.

57 | S. Glaser, Hermann, www. Neugier und Vernetzung. Ein kulturgeschichtlicher Essay, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 41/1999, S. 3ff.

210 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent unterschiedlicher Milieus und gesellschaftlicher Sektoren, die in jeder Kommune ihre spezifische Historie aufweisen. Künstliche Homogenisierung und einheitliche Identität können dabei nicht das Ziel sein. Es geht vielmehr um das Angebot zu neuen Verbindungen, um anregende Kontakte, um gegenseitige Beeinflussung und wechselseitiges Lernen, kurz: um kulturelle Netzwerke, die gerade auch das »Woher« reflektieren. Stadtkultur betreibt dann die Dethematisierung gesellschaftlicher Probleme, wenn sie ein Stadt-Bild fördert, das es jenen auf der Sonnenseite der Stadt leicht macht, deren Schattenseiten nicht zur Kenntnis zu nehmen. Die Kulturpolitik sollte dagegen im Zusammenwirken mit den Unternehmen und privaten Vereinigungen Orte für einen auch historisch fundierten Diskurs über die Stadt bereithalten, der den (selbst-)kritischen Blick fördert, der die Stadt als Gesamtheit im Auge hat. Dabei geht es um Problemlösungen, deren Leitpunkte die Herkunft des Einzelnen und seiner Gemeinschaft, gesellschaftliche Integration sowie soziale Gerechtigkeit sein sollten. Angesichts der zunehmenden Globalisierung, Pluralisierung und Individualisierung besteht ein fundamentales Interesse an integrativ wirkenden kulturellen Netzwerken, welche die neue und die alte »Heimat« beleuchten und ihr neue Beachtung schenken. Geschichtskultur leistet dazu einen unverzichtbaren Beitrag. All dies sind Möglichkeiten für eine aktivierende Kulturpolitik, die keineswegs immer finanzielle Mittel erfordern. Kulturpolitik kann vielmehr auf Partnerschaften mit der Wirtschaft und Bürgerschaft setzen – ja: sie wird ohne sie letztlich vielleicht gar nicht erfolgreich sein. 3.2 Leitlinien für eine aktivierende Geschichtskulturpolitik

Angesichts der enormen Vielfalt der Geschichtskultur wäre es vermessen, detaillierte Handlungsanweisungen entwickeln zu wollen. Es seien hier lediglich einige Aspekte genannt, die den Charakter regulativer Ideen in Form von kurz gefassten Leitlinien tragen mögen. Aktivitäten der Geschichtskultur in Deutschland • •

• •

folgen dem Erkenntnisstand der historischen Forschung und Wissenschaft; reflektieren ihre Funktion in der demokratischen Gesellschaft und die Möglichkeiten ihrer politischen Instrumentalisierung und Vereinnahmung; berücksichtigen die gesamte Menschheitsgeschichte und wenden sich nicht nur der deutschen und europäischen Geschichte zu; bedenken im Rahmen der deutschen Geschichte die Facetten der lokalen, regionalen und nationalen Geschichte in ihrer ganzen thematischen Vielfalt;

V. Geschichtskultur | 211 • • • • • • • •

betten die Historie von Gemeinde, Region und Nation in die europäische und Universalgeschichte ein; messen nicht nur der Geschichte von Männern, sondern gleichermaßen derjenigen von Frauen und Kindern Gewicht zu; widmen sich der Geschichte von Minderheiten, Marginalisierten und Verfolgten; setzen sich mit der nationalsozialistischen Herrschaft als der furchtbarsten Phase der neueren deutschen Geschichte auseinander; vernachlässigen in der Zeitgeschichte der alten Bundesrepublik nicht die ehemalige DDR; beachten die historische Dimension der Migration und der Interkulturalität des Zusammenlebens in Deutschland; berücksichtigen Ökologie, Naturverständnis und Naturgeschichte, da Natur historisch gestaltet und in diesem Sinne Kultur-Landschaft ist; bieten Raum für historisch Originelles, Abseitiges und Schräges.

VI. Kulturelle Bildung

Kulturelle Bildung ist ein wesentliches Kraftfeld kulturpolitischer Offensiven geworden, ja sie scheint zum »Megathema« der Kulturpolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu avancieren. Den Sonntagsreden folgt vielerorts endlich Alltagshandeln, indem überraschenderweise zusätzliche Finanzmittel in erheblichem Umfang zur Verfügung gestellt werden. Doch die Gesamtlage hat Norbert Lammert noch vor kurzem mit folgenden treffenden Worten skizziert: »Der nach meiner persönlichen Einschätzung besorgniserregendste Teil der kulturellen Verfassung der Bundesrepublik Deutschland betriff t den Zustand der kulturellen Bildung in unserem Land. Er ist an einigermaßen anspruchsvollen Maßstäben gemessen mit lausig eher zu freundlich beschrieben. Die Vermittlung von Grundlagen und Interessen an bildender Kunst und Musik, wenn eben möglich auch die Motivation zur eigenen künstlerischen Betätigung ist an den deutschen Schulen längst notleidend geworden.« 1

Ist es nicht merkwürdig, dass die Systeme »Kultur« und »Bildung« in den letzten Jahrzehnten so stark auseinanderdividiert wurden, dass die Kulturelle Bildung lediglich als Angelegenheit des einzelnen Kulturbürgers und der einzelnen Kommune eingeordnet wird? Ist es nicht merkwürdig, dass sich immer wieder die Gefahr realisiert, dass sich Kulturelle Bildung nur begüterte Bürger und finanzstarke Kommunen erlauben können, da hierfür kaum staatliche Bildungsressourcen zur Verfügung stehen? Ist es nicht merkwürdig, dass wir von Kulturarbeit als »freiwilliger Aufgabe« sprechen und darunter auch Bibliotheken, Musikschulen, Kunstschulen 1 | Lammert, 2008, S. 174 (aus einer Rede am 4.6.2007 in Frankfurt a.M. bei einer Tagung der Kulturstiftung der Länder und des Deutschen Museumsbundes).

214 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent oder Volkshochschulen subsumieren, die doch Bildungseinrichtungen und als solche für eine ganzheitliche Bildung unverzichtbar sind? Die Ausgangslage lässt sich somit wie folgt umschreiben: Kulturelle Bildung hat im Kulturstaat Deutschland über Jahrzehnte hinweg nicht die ihrer Bedeutung angemessene politische Aufmerksamkeit erfahren. Längst haben andere europäische Länder Deutschland zum Teil mit großem Abstand überholt. Die kulturelle Kompetenz und ihre positiven Wirkungen sind in der Bildungsdebatte der letzten Jahrzehnte in Deutschland sträflich vernachlässigt worden. Vor allem die Länder, die immer auf ihre »Kulturhoheit« pochen, müssten die Aufgaben in der Kulturellen Bildung als ihr ureigenstes Betätigungsfeld wahrnehmen, haben diese jedoch weitgehend dem freien Spiel kommunaler Finanzknappheit überlassen. Ja, die Länder bezeichnen in Erlassen und Richtlinien der Kommunalaufsicht die Arbeit von Bibliotheken, Musikschulen, Jugendkunstschulen und Volkshochschulen als »freiwillige Leistungen«, die die Kommunen angesichts ihrer Finanznöte gefälligst einschränken sollen. Nach den Vorgaben der Landesregierungen und der von Innen- und Finanzministerien in Konsolidierungsangelegenheiten instruierten Aufsichtsbehörden wird also Kulturelle Bildung ab- statt ausgebaut. Die dieser Ausgangslage und diesen Geboten zugrunde liegende Haltung hat in Deutschland tiefere Ursachen, was ein Blick in die Praxis und eine Reflexion des Selbstverständnisses der beteiligten Akteure zeigt (s. dazu sogleich unter Kap. VI/1.3). Umso bedeutsamer ist es, dass die Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« nach einem intensiven Vergleich des deutschen Systems Kultureller Bildung mit anderen europäischen Systemen sowie einer vertieften Analyse der derzeitigen Lage in Deutschland zu Absicherung und Ausbau aller Bereiche der Kulturellen Bildung gesetzliche Regelungen empfohlen hat, insbesondere für Bibliotheken, Musik- und Kunstschulen.2 Damit soll die Kulturelle Bildung als vom Staat zu garantierende kulturelle Grundversorgung aus dem Reich der Freiwilligkeit herausgeführt werden. Die Enquete-Kommission hat die Notwendigkeit einer systemischen und rechtlichen Sicherung Kultureller Bildung umfassend begründet.3 Damit existiert nunmehr eine umfassende und hochrangige politische »Berufungsgrundlage«, die von den Akteuren in der Politik und bei den Kulturverbänden genutzt werden kann, um vielleicht endlich auch den geschilderten althergebrachten Widerstand bei den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden überwinden zu helfen. Gemeinsames Ziel sollte ein finanziell und strukturell wesentlich stärker greifendes und gesichertes System Kultureller Bildung in Deutschland sein. Im Folgenden wird dementsprechend herausgearbeitet, dass die Behandlung der Kulturellen Bil2 | S. Enquete-Schlussbericht, S. 132 (Bibliotheken), S. 399 (Musik- und Kunstschulen).

3 | S. ebd., S. 377ff.

VI. Kulturelle Bildung | 215 dung als »freiwillige Aufgabe« ein Irrweg ist, der leider immer noch auch von Bildungs- und sogar von Kulturpolitikern beschritten wird. Inzwischen gibt es immerhin in der Praxis eine Reihe positiver Beispiele: Zu nennen sind hier etwa die Aktivitäten in Nordrhein-Westfalen zu Künstlern an Schulen oder das groß angelegte Programm »Jedem Kind ein Instrument«, das von der Bundeskulturstiftung zusammen mit dem Land NRW im Ruhrgebiet anlässlich der Europäischen Kulturhauptstadt RUHR.2010 initiiert wurde – und für das auf einen Schlag 20 Mio. Euro aus öffentlichen Mitteln bereitstanden –, oder die vielfältigen Aktivitäten in der Hansestadt Hamburg, die sich als »Modellregion für Kulturelle Bildung« präsentiert. Die jüngsten Erfahrungen mit diesen neuen Programmen machen umso deutlicher, wie wichtig es ist, das derzeitige System Kultureller Bildung insgesamt strukturell und systematisch zu überprüfen und für den notwendigen integralen Ansatz Ziele und Vorgaben zu entwickeln. Die Kulturelle Bildung muss endlich aus dem Stadium der Modellversuche und Experimente4 in ein funktionierendes Gesamtsystem des Kulturstaates Deutschland überführt werden – mit allen Spezifi ka, deren die Kulturelle Bildung bedarf. Zur Analyse des Systems Kultureller Bildung ist die Unterscheidung folgender drei wesentlicher Aktionsfelder wichtig, die oft nicht hinreichend unterschieden werden – vielleicht auch deshalb, weil sie vielfach miteinander vernetzt sind:5 •





Kulturelle Bildung (im engeren Sinne) wird vorrangig durch Bildungsinstitutionen geleistet, von solchen mit genereller Ausrichtung wie Schulen, Kindergärten oder Jugendhilfeeinrichtungen oder von denen mit speziellen Aufgabenstellungen Kultureller Bildung wie Musikschulen, Kunstschulen, Volkshochschulen, Bibliotheken. Einen intensiven Zugang zu den Künsten bewirkt die Arbeit von Künstlern mit Kulturbürgern als »Ausführenden«, bei der das Individuum selbst mit seinen eigenen künstlerischen Fähigkeiten zum Akteur wird (z.B. Künstler an Schulen, Schreibwerkstätten, Chor- oder Orchesterarbeit mit Laien etc.), bei der Kulturelle Bildung also in eigene künstlerische Arbeit mündet. Kulturelle Bildung mit eher »kognitivem Einschlag« leistet die Vermittlungsarbeit von Kulturinstitutionen und -initiativen (auch als »Audience Development« bezeichnet), etwa durch Museumspädagogen, Theaterpädagogen, Konzertpädagogen in Form von gesonderten Veranstaltungen (Einführungen, Ausstellungsführungen, Workshops), durch 4 | Instruktiv ist die Darstellung von 85 beispielhaften Projekten in: Welck,

Karin v./Schweizer, Margarete (Hg.), Kinder zum Olymp! Wege zur Kultur für Kinder und Jugendliche, Köln 2004, S. 84ff.

5 | Vgl. dazu bereits oben, Kap. IV/3.3.

216 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent Publikationen (Kataloge, Programmhefte etc.) oder auch mediale Inszenierungen (Internet). Angesichts der Materialfülle6 konzentrieren sich die folgenden Ausführungen zur näheren Begründung des Plädoyers für eine aktivierende Kulturpolitik auf drei wesentliche Aspekte, die die drei gerade skizzierten Aktionsfelder durchziehen: •





Kulturelle Bildung ist als ein individuelles Kraftfeld in besonderer Weise von Personen geprägt und auf die einzelne Person ausgerichtet (Kap. VI/1). Kulturelle Bildung sollte nicht nur dem freien Spiel der Kräfte überlassen werden, sondern bedarf einer Infrastruktur, welche sich aus Institutionen des allgemeinen Bildungswesens, der Kultur und der außerschulischen Kulturellen Bildung sowie der Jugendbildung zusammensetzt (VI/2). Kulturelle Bildung bedarf einer Kulturpolitik, die zwischen den unterschiedlichen Institutionen und deren Selbstverständnissen vermittelt, die dieses Gestaltungsfeld als zentrales Element der kulturellen Grundversorgung versteht, langfristig – auch durch gesetzliche Regelungen – ausbaut und die verschiedenen Partner aktiviert (VI/3).

1. K R AFTFELD I NDIVIDUALITÄT Wie kaum in einem anderen Feld der Kulturpolitik taucht in der Kulturellen Bildung das Präfi x »selbst« auf: Selbstvertrauen, Selbstverwirklichung, Selbstwirksamkeit, Selbstbildung, Selbstfindung, Selbstbeteiligung, Selbstverständnis, Selbstbewusstsein, Selbstvergewisserung, Selbstreflexion, Selbsterkenntnis sind nur einige dieser typischen Worte. Dies hat seinen Urgrund darin, dass Kulturelle Bildung ganz auf die Person, auf ihre ureigenen individuellen Fähigkeiten abzielt und diese aktivieren will. Wer schöpferisch tätig ist, malt, musiziert, tanzt, kreiert, bringt sich darin selbst zum Ausdruck, lässt seine eigene Person durchscheinen7 in dem, was er gestaltet. Diese Ausgangssituation erschwert es im Bewusstsein vieler Verantwortlicher, sich einen »systemischen Ansatz« vorzustellen, da in ihm die Gefahr gesehen wird, individuelle Ausdrucksmöglichkeiten »einzueb6 | Nach der grundlegenden Arbeit zum Musikschulrecht (Scheytt, 1989) habe ich in den letzten beiden Jahrzehnten an zahlreichen Initiativen zur Stärkung der Kulturellen Bildung selbst intensiv mitgewirkt und verweise insoweit auf die im Literaturverzeichnis dazu aufgeführten Publikationen sowie insbesondere auf den Enquete-Schlussbericht.

7 | »Personare« heißt ja wörtlich übersetzt »durchklingen«.

VI. Kulturelle Bildung | 217 nen«. In der Tat muss ein System so angelegt sein, dass die individuellen Prozesse durch das System gestärkt und nicht verdrängt werden. Daran leidet auch unser Schulsystem, doch kann dies nicht der Grund dafür sein, auf einen systemischen Ansatz für die Kulturelle Bildung zu verzichten. Bevor eine Systematik entwickelt wird, soll die individuelle Ausprägung Kultureller Bildung beleuchtet werden hinsichtlich der Wirkung auf die und durch die Person (Kap. VI/1.1), der Notwendigkeit eigenen Engagements in Form der Selbstbeteiligung (VI/1.2) sowie des Selbstverständnisses der beteiligten Akteure (VI/1.3). 1.1 Selbstwirksamkeit

Die Wirkung Kultureller Bildung ist zunächst eine höchst individuelle. Jeder Einzelne erfährt in und durch Kulturelle Bildung, wie sehr die eigene Individualität das Singen, Musizieren, Komponieren, Tanzen, Choreografieren, Malen, Fotografieren, Gestalten, Texte schreiben, Theater spielen prägt und ausmacht. Wirkung und Wirksamkeit dieses Tuns leben von der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit. Es geht daher zuerst und vor allem um Selbstwirksamkeit. Wer sich die Möglichkeiten eigenen künstlerischen Tuns oder auch intensiver Rezeption von Kunst erschließt, bereichert sich und erfährt sich selbst im Bezug auf Anderes und Andere: Kulturelle Bildung zielt auf Vermittlung von und Zugang zu ästhetischer Erfahrung. Ästhetische Erfahrung führt zu Sinn und Sinnlichkeit, stärkt Eigensinn und so die eigene Wahrnehmungs- und Kritikfähigkeit.8 Das ist das Besondere an Kultureller Bildung: Es geht um ureigene individuelle Erlebnisse, Erfahrungen, Begabungen und Fertigkeiten. Kulturelle Bildung ist wie kaum ein anderer Bereich der Bildung mit der Person und dem, was sie ausmacht, verbunden. Zahlreiche wissenschaftliche Forschungen der Neurobiologie, der Psychologie und der Pädagogik der letzten Jahrzehnte haben nachgewiesen, dass die passive wie aktive Beschäftigung mit Musik, Bildender Kunst und Tanz zu einer höheren Strukturierung des Gehirns und damit zu einer wesentlich differenzierteren Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen führt. Durch die hohe Komplexität von Kunst wird das Gehirn stark beansprucht, wird die Neuroplastizität stimuliert, was für eine höhere Kreativität ausschlaggebend ist.9 Es geht dabei keineswegs vorrangig um Fähigkeiten für das Berufsle-

8 | Grundlegend und ausführlich dazu Zacharias, Wolfgang, Kultur und Bildung – Kunst und Leben zwischen Sinn und Sinnlichkeit, Essen 2001, insbesondere S. 85ff. Die Texte in diesem Buch aus dreißig Jahren reflektierter Praxis geben auch einen Abriss der Geschichte Kultureller Bildung.

9 | Vgl. zu alldem auch Enquete-Schlussbericht, S. 379.

218 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent ben oder »Sekundärtugenden«.10 Die durch Kulturelle Bildung vermittelte Kulturkompetenz ist vielmehr für alle Domänen des Lebens relevant.11 Erst das »Wohlgefallen ohne alles Interesse«, wie Kant es nennt, das jenseits von Funktionalität und Brauchbarkeit steht, macht den Menschen zum Menschen. Kulturelle Bildung leistet einen entscheidenden Beitrag dazu, dass sich jeder Einzelne als »Subjekt seines Lebens« und nicht bloß als »Unternehmer der eigenen Arbeitskraft« entwickeln und empfinden kann.12 Kulturkompetenz ist somit eine »Schlüsselkompetenz für die Kunst des Lebens«.13 Dabei hat ästhetisches Denken und Verstehen durchaus auch eine ethische Dimension: Ästhetisches Erleben und Erfahren fördert die ebenso spielerische wie kritische Auseinandersetzung mit Fremdbild und Selbstbild. Kulturelle Bildung hat zu tun mit analytischen Fähigkeiten und Fantasie, mit Einfühlungsvermögen und mit der Fähigkeit, sich neue Welten zu erschließen. Sie setzt auf die Kraft der Individuen, auf eine Verständigung in der Vielfalt der Kulturen. Das Verbindende und Verbindliche für die Gemeinschaft wird in Kultureller Bildung zum Erlebnis. Durch gemeinsames Musizieren, Tanzen, Gestalten wird Verbindendes und Differentes sichtbar, verstehbar und nachvollziehbar. Kulturelle Bildung legt die Basis für eine »Kultur der Anerkennung«.14 Sie macht Mut zur Übernahme von Verantwortung. So vermittelt Kulturelle Bildung auch ethische Werte. Sie stärkt in umfassendem Sinne die Orientierung in einer Welt, die uns mit immer neuen und immer mehr Einfällen, Eindrücken und Einsichten überhäuft.15 Kulturelle Bildung vermittelt uns einen inneren Kompass für die Orientierung in unserer virtuellen globalisierten Welt. Nur wer stark genug ist, alle möglichen Veränderungen auszuhalten, ohne sich selbst aufzugeben, wird sich letztlich auf Dauer zurechtfinden, auch in und mit 10 | Zum Begriff der »Tugend« im Zusammenhang mit Kultureller Bildung s. auch Nida-Rümelin, Julian, Humanismus als Leitkultur. Ein Perspektivenwechsel, München 2006, S. 46ff.

11 | Für die Musik ist inzwischen durch Langzeitstudien nachgewiesen, dass sie auch die Intelligenz fördert. S. Bastian, Hans Günther, Kinder optimal fördern – mit Musik, Mainz 2000, der dort die Ergebnisse einer Langzeitstudie an Berliner Grundschulen zusammenfasst.

12 | Fuchs, Max, Kulturpädagogik und Schule im gesellschaftlichen Wandel – Alte und neue Herausforderungen für die Theorie und Praxis von Bildung und Erziehung, in: Deutscher Kulturrat (Hg.), Kulturelle Bildung in der Bildungsreformdiskussion, Konzeption Kulturelle Bildung III, Berlin 2005, S. 155ff., 262.

13 | S. Bockhorst, Hildegard, Schlüsselkompetenzen für die Kunst des Lebens, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 94 (III/2001), S. 47ff.

14 | S. dazu Kap. III/1.2. 15 | Ähnlich Johannes Rau in seiner Rede auf dem 1. Kongress des Forums Bildung am 14. Juli 2000 in Berlin, Bulletin der Bundesregierung, 49-1, 14. Juli 2000, Bl. 6 u. 9.

VI. Kulturelle Bildung | 219 fremden Kulturen. Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein sind Basis für den respektvollen Umgang mit Anderen, gerade wenn sie aus einer anderen Kultur kommen oder andere Überzeugungen haben.16 Wenn wir uns in der Kulturellen Bildung von den Künsten orientieren lassen, werden wir den Gewinn, der sich einstellt, in Geld nicht ausdrücken können. Er wird unbezahlbar sein. 1.2 Selbstbeteiligung

Kulturelle Bildung bedarf einer Selbstbeteiligung der Kulturbürger, in jedem Fall im eigenen Tun und fast immer auch in finanzieller Hinsicht. Kulturelle Bildung gelingt nur, wenn der Einzelne bereit ist, sich aktiv einzubringen, mitzumachen, zu üben etc. Je früher dieses eigene Mitwirken und -gestalten eingeübt wird, desto eher wird sich der Einzelne auch im späteren Leben aufgrund seiner – hoffentlich positiven – Erfahrungen immer wieder Kunst und Kultur widmen.17 Im allgemeinen Schulwesen18 gibt es noch allzu wenige Angebote Kultureller Bildung; auch hier ist Selbstinitiative gefordert, da etwa Theaterspiel oder Musizieren nicht zum »üblichen Stundenplan« gehören. Je mehr solche Angebote in den Schulunterricht integriert werden, wozu insbesondere der Ausbau der Ganztagsschule genutzt werden kann, umso »leichter« fällt die Selbstbeteiligung des Einzelnen, diese Möglichkeiten Kultureller Bildung wahrzunehmen. Eine kulturpolitische Herausforderung von größter Relevanz ist die Frage, in welchem Umfang eine finanzielle Selbstbeteiligung bei Angeboten der Kulturellen Bildung vom Einzelnen erwartet wird. Von Angebot zu Angebot, von Einrichtung zu Einrichtung gibt es hier einerseits traditionelle Gestaltungsmuster, aber auch die unterschiedlichsten Gestaltungsvarianten. Während etwa für die Nutzung von Bibliotheken in Deutschland allenfalls geringe Gebühren erhoben werden, ist der Musikschulunterricht mit erheblichem finanziellem Aufwand verbunden, nicht nur für Musikschulgebühren, auch für die Beschaff ung von Instrumenten, Noten etc. Die Vermittlungsarbeit von Kultureinrichtungen wie Museen oder Theatern wird demgegenüber als »Audience Development« oft ganz kostenlos angeboten. Eine aktivierende Kulturpolitik hat darauf hinzuwirken, dass durch angemessene Gebührenstaffelungen, durch Sozial- und Familienermäßigungen die finanzielle Selbstbeteiligung so ausgestaltet wird, dass diese keine prohibitive Wirkung entfaltet. Es sollte in jedem Fall vermieden werden,

16 | Nida-Rümelin, 2006, S. 44. 17 | Keuchel, 2005 sowie Keuchel, Susanne/Wienand, Andreas Johannes/ Zentrum für Kulturforschung (Hg.), Das 1. Jugend-Kultur-Barometer – Zwischen Eminem und Picasso…, Bonn 2006, S. 75ff.

18 | S. sogleich unter 2.

220 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent dass etwaige an Kultureller Bildung interessierte Kulturbürger sich diese aus finanziellen Gründen »nicht erlauben« können. 1.3 Selbstverständnis

Kulturelle Bildung wird vom »magischen Dreieck« der Systeme von Schule, Jugend und Kultur bestimmt. Die Magie besteht indes darin, dass die Gemeinschaftsaufgabe Kulturelle Bildung in der ungeklärten Kompetenzlage angesichts fehlender Verantwortlichkeiten und Finanzierung mitunter einfach verschwindet, ja trotz ihrer Evidenz nicht (richtig) wahrgenommen wird. Ein tiefer liegender Grund für diese Systemlogik sind die Differenzen im Selbstverständnis der jeweils handelnden Akteure, der Pädagogen, Planer und Politiker. Alle Beteiligten haben unterschiedliche Vorstellungen von Pädagogik, von Prozesssteuerung sowie von staatlicher Regulierung und Kontrolle. Im System Schule wurden die sogenannten »musischen Fächer« in den letzten Jahrzehnten meist vernachlässigt, galten offensichtlich in den Bildungsreformen der 1970er Jahre für die meisten Verantwortlichen in der Bildungspolitik und bei den Kultusministerien nicht als bedeutsam für die Bildung junger Menschen. Kulturelle Bildung wurde und wird auch heute noch vielfach als eine höchst individuelle Angelegenheit angesehen, der das allgemeinbildende Schulsystem nicht gerecht werden kann, da es in Klassenverbänden unter einheitlich-gleichen Bedingungen operiert und auf allgemein-verbindliche Bildungsziele ausgerichtet ist. Verantwortliche in Kunst und Kultur haben ihrerseits das Schulwesen nicht als geeignetes System angesehen, individuelle künstlerische Fähigkeiten des Einzelnen zu fördern. Die sogenannten »außerschulischen Kulturellen Bildungseinrichtungen« wie Musikschulen und Jugendkunstschulen, aber auch kulturpädagogische Dienste wurden bewusst außerhalb des Schulwesens gesetzt und eigenständig positioniert, um eine »Gegenwelt« zum Schulsystem zu schaffen. Dies geschah vor allem in der Überzeugung, das Schulwesen könne die individuellen künstlerischen Begabungen nicht hinreichend fördern. Umgekehrt haben die pädagogischen Kräfte außerschulischer Einrichtungen in der Kulturellen Bildung oft die »Attitüde eines Künstlers« an den Tag gelegt, der sich nicht einlassen möchte auf eine didaktische Reflexion wie etwa neue Unterrichtsmethoden des musikalischen Gruppenunterrichts oder auf systemische Herangehensweisen wie die Kombination von Ganztagsschule und Angeboten Kultureller Bildungseinrichtungen. Die Akteure der Jugendhilfe wiederum sehen in Kultureller Bildung eine spezifische Möglichkeit der »Sozialarbeit«; so wird etwa die Umrüstung von Bunkern für rockende Jugendliche als eine Aktion angesehen, die diese »von der Straße holt« und in soziale Beschäftigung bringt, was von Akteuren des Schulsystems und der außerschulischen Kulturellen

VI. Kulturelle Bildung | 221 Bildung als durchaus sinnvoller sozialer Akt angesehen wird, aber nicht dem in diesen Systemen traditionell verfolgten Idealbild des klassischen Bildungsbürgertums entspricht. Diese jeweilige Vorprägung und Haltung hat Einzug in das systemische Denken und die rechtliche Ausgestaltung gefunden. Das Schulwesen ist ein festgefügtes, durch Gesetze geregeltes System, während die einzige übergreifende gesetzliche Regelung zur Kulturellen Bildung sich im Jugendhilfegesetz findet mit seinen spezifischen Ausprägungen in den entsprechenden Landesgesetzen zur Kinder- und Jugendhilfe. Zu den Einrichtungen der sogenannten »außerschulischen Bildung« an Musikschulen, Jugendkunstschulen etc. existieren nur vereinzelt gesetzliche Grundlagen. In Deutschland sind also die Systeme Schule, Jugendhilfe und außerschulische Kulturelle Bildung zum Teil streng voneinander getrennt – dabei geht es doch immer um denselben jungen Menschen, wie es auch in folgenden Sätzen des Deutschen Städtetages zum Ausdruck kommt: »Das Anforderungsprofi l, das zukünftig an die Menschen gestellt werden wird, ist komplex und umfasst: Wissen, Fachkompetenz, Bildung, kreative Kompetenz, soziale, kommunikative und mediale Kompetenz sowie die Fähigkeit, mit einer Vielzahl an Informationen, Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten umzugehen. Eine zukunftsfähige Bildungspolitik muss auf der Grundlage eines ganzheitlichen Bildungsbegriffs gestaltet werden – Kulturelle Bildung ist hierfür unverzichtbar.« 19

Die Kultusministerkonferenz beschäftigt sich – der geschilderten Haltung gegenseitiger Abgrenzung entsprechend – so gut wie überhaupt nicht mit außerschulischer kultureller Jugendbildung, da dies vermeintlich allein das Feld der freien Träger und der Kommunen ist. Folglich spielt Kulturelle Bildung in der Wahrnehmung von Ministern sowie der für das Schulwesen verantwortlichen Ministerialbeamten meist keine wesentliche Rolle. Sie sehen sich nicht als zuständig an. Und die Frage nach der Zuständigkeit ist in deutschen Verwaltungen entsprechend dem streng geschulten juristischen Denken die erste, die gestellt wird. So ist das Schulwesen eben zuständig für Musikerziehung und Kunsterziehung (diese Begrifflichkeit wird nur von dem Terminus »Leibesübungen« übertroffen). Schon darin kommt ein Grundverständnis zum Ausdruck, das dem Leitbild von der Aktivierung individueller persönlicher Fähigkeiten, auf die es bei der Kunst- und Musikausübung ankommt, zuwider läuft. Im auf Chancengleichheit und gleichartige »musische Erziehung« angelegten Schulwesen ist die Anwendung allgemein verbindlicher Curricula und die Festlegung

19 | Kulturpolitik in der Stadt der Zukunft – Positionspapier des Deutschen Städtetages vom 18.2.2003.

222 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent von Bildungszielen und -formen durch Gesetze, Erlasse und Richtlinien gang und gäbe. Für die meisten Verantwortlichen in den Länderministerien und auch bei kommunalen Spitzenverbänden ist demgegenüber die Vorstellung, die kulturelle Infrastruktur für die Kulturelle Bildung durch gesetzliche Regelungen dauerhaft zu sichern und auszugestalten, Ziele Kultureller Bildung und Garantien einer chancengleichen Teilhabe staatlich festzulegen, mit Abwehrreaktionen verbunden. Die Gegenargumentation lautet meist: Eine »Verrechtlichung« würde dem Gegenstand schaden, ja eine unangemessene »Gleichmacherei« eines so von »Individualität« und »kommunalem Profi l« geprägten Bereiches wäre die Folge.20 Dabei könnten die Kommunen – so die verbreitete und stets ohne hinreichende Realitätsanalyse wiederholte Auffassung – gerade auf diesem Feld ihre kommunale Selbstverwaltung durch freiheitliche Gestaltung mit Leben füllen. Zwar glänzen viele Städte, Kreise und Gemeinden tatsächlich in der Kulturellen Bildung mit besonderem Einsatz. Doch die Erfahrungen gerade in den von Haushaltsnöten geplagten Kommunen belegen eindrucksvoll und vielfach, dass in »kommunaler Selbstverwaltung« Musikschulen und Bibliotheken geschlossen werden, dass Kurse Kultureller Bildung an Volkshochschulen gestrichen werden und die Förderung freier Träger Kultureller Bildung – wie etwa von Jugendkunstschulen – mitunter radikal gekürzt wird. Von »freier« kommunaler Selbstverwaltung kann nicht die Rede sein, wenn Haushaltsnöte Einschnitte in kommunalen Haushalten erfordern und die Kommunalaufsichtsbehörden dies zusätzlich seitens der Länder verlangen. Aus alldem wird deutlich, dass eine vertiefte Reflexion und Änderung des Selbstverständnisses der beteiligten Akteure im skizzierten Sinne langfristig zu einer Neuausrichtung der Systeme Kultureller Bildung im Kulturstaat Deutschland führen könnte.

2. I NFR A STRUK TUR

DER

K ULTURELLEN B ILDUNG

Kulturelle Bildung bedarf eines integralen Ansatzes zwischen kommunalen Kultureinrichtungen, örtlichen Bildungseinrichtungen und -trägern sowie den Schulen. Dafür ist ein »neues Denken« der Kultur-, Schul- und 20 | Solche und viele ähnliche Argumente schlagen mir in den seit vielen Jahren geführten Debatten in allen möglichen Gremien und auf öffentlichen Podien immer wieder entgegen. Zu den wenigen veröffentlichten Positionen dieser Art gehört Meyer, Bernd, Rettungsanker Kulturgesetze?, in: Zeitschrift für Gesetzgebung 1996, S. 343ff. Verwiesen sei auch auf die Hefte Nr. 106 und 107 der Kulturpolitischen Mitteilungen mit zahlreichen Beiträgen zur kulturpolitischen Figur der »Grundversorgung«, die zwar nicht auf einhellige Zustimmung gestoßen war, mittlerweile aber zum allgemein-politischen Sprachgebrauch avanciert ist.

VI. Kulturelle Bildung | 223 Jugendpolitiker erforderlich. Dies sollte von dem Bewusstsein geprägt sein, dass Kunst und Kultur erst als Bestandteil allgemeiner Bildung zu konstitutiven Elementen unserer Gesellschaft werden.21 Für die Zusammenarbeit der Institutionen in Schule, Jugend und Kultur gibt es kein durchgängiges, von den Ländern gesetzlich geregeltes System. Liegt das am Fehlen von Konzepten oder mangelnder Bereitschaft zu systematischer Zusammenarbeit von Schulen, Jugend- und Kultureinrichtungen? So einfach lässt sich diese Frage nicht beantworten. Die Konstellationen sind äußerst komplex und stichwortartig wie folgt zu charakterisieren: In der Kooperation von Schule, Jugend und Kultur gibt es ein vielfältiges Bild, es ist kaum überschaubar; vieles läuft wunderbar, doch es gibt riesige Defizite. Jedes der Teilsysteme Kultureller Bildung hat unterschiedlich starke Relationen zu den jeweils anderen, die von Land zu Land, von Kommune zu Kommune, von Einrichtung zu Einrichtung differieren. Es gibt etwa kein durchgängiges System in Deutschland zur Kooperation von Schulen und Bibliotheken. Musikschulen werden in manchen Ländern systematisch zu Angeboten im Ganztag allgemeinbildender Schulen herangezogen, in anderen ist dies dem Impetus der Schulleiter in der jeweiligen Stadt überlassen. Eine These ergibt sich aus einer Beobachtung der Praxis (s. oben unter Kap. VI/1): Da Kulturelle Bildung subjektorientiert ist, ist sie von der einzelnen Persönlichkeit und der einzelnen Institution geprägt. Daher ist das Bild so vielgestaltig, weist aber auch so große Defizite auf. Doch gerade weil die Ausgangslage so ist, müssen die zugrunde liegenden Strukturen und Ursachen analysiert werden und systemische Ansätze entwickelt werden, um die Kulturelle Bildung zum durchgängigen Prinzip unseres Bildungswesens zu machen. Dazu gibt es eine Reihe von wichtigen Ausarbeitungen vor allem vom Deutschen Kulturrat,22 von der Bundesvereinigung Kultureller Jugendbildung,23 vom Verband deutscher Musikschulen, von der Bundesvereinigung Jugendkunstschulen und kulturpädagogischen Einrichtungen und vom Deutschen Städtetag.24 All diese Dokumente sind letztlich auch für den Enquete-Schlussbericht ausgewertet worden und dort eingeflossen. Im Folgenden wird jeder wesentliche institutionelle Bereich der öffent21 | Vgl. Lammert, Norbert, Kulturelle Bildung und Modernisierung der Gesellschaft, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 50 (III/1990), S. 31f.

22 | Die Konzeptionen zur Kulturellen Bildung des Deutschen Kulturrates von 1988 und in überarbeiteter Fassung von 1993 sowie von 2005.

23 | Aus der umfangreichen Schriftenreihe sei exemplarisch benannt: Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (Hg.), Kultur Jugend Bildung, Kulturpädagogische Schlüsseltexte 1970-2000, Remscheid 2001.

24 | Vgl. nur das Positionspapier des Deutschen Städtetages »Kulturpolitik in der Stadt der Zukunft« vom 18.2.2003.

224 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent lichen Infrastruktur Kultureller Bildung kurz charakterisiert: Elementarbereich (Kap. VI/2.1), Schulwesen (VI/2.2), Jugendbildung (VI/2.3), Kultureinrichtungen (VI/2.4) und spezifische Einrichtungen Kultureller Bildung wie Musik- und Kunstschulen, Bibliotheken, Volkshochschulen (VI/2.5). 2.1 Elementarbereich

In den letzten Jahren ist die Bedeutung der frühkindlichen Kulturellen Bildung verstärkt bewusst geworden. Ausgangspunkt aller Selbst- und Welterfahrung sind gerade auch ästhetische Erfahrungen, die spielerische Schulung der Sinne und eine künstlerisch-kreative Praxis. Wie die moderne Hirnforschung bestätigt hat, werden zwischen dem vierten und achten Lebensjahr entscheidende Grundlagen für die Strukturierung des Gehirns gelegt. So ist etwa die Sprachentwicklung bereits im Alter von acht bis neun Jahren neurophysiologisch abgeschlossen: 80 % der Lese-, Sprach- und verwandter Kompetenzen werden außerhalb der Schule erworben. Je früher Kinder mit Kunst und Kultur in Berührung kommen, desto positiver wirkt sich dies auf ihre späteren kulturellen Interessen aus.25 Zwar ist frühkindliche Kulturelle Bildung vor allem auch eine Aufgabe der Familien, doch nicht zuletzt aufgrund der sozialen Differenzen in den unterschiedlichen familiären Situationen hat die Kulturelle Bildung in Kindertageseinrichtungen eine außerordentlich hohe Bedeutung. Im Strukturplan für das Bildungswesen aus dem Jahre 1970 wird der Kindergarten erstmals als Elementarbereich des Bildungswesens definiert. Ihm wird damit die erste Stufe im Bildungssystem zugewiesen, da er ebenso wie die anderen Bildungseinrichtungen durch geplante Lernprozesse die Persönlichkeitsentwicklung des einzelnen Kindes fördert. In § 22 Abs. 2 des KJHG (Kinder- und Jugendhilfegesetz) wird die Aufgabe der Tageseinrichtungen für Kinder wie folgt beschrieben: Die Aufgabe umfasst die Betreuung, Bildung und Erziehung des Kindes. Das Leistungsangebot soll sich pädagogisch und organisatorisch an den Bedürfnissen der Kinder und ihrer Familien orientieren. Konkretisiert wird diese Rahmenvorgabe durch Landesgesetze.26 Der Kindergarten hat seinen Erziehungs- und Bildungsauftrag im ständigen Kontakt mit der Familie und anderen Erziehungsberechtigten durchzuführen und insbesondere die schöpferischen Kräfte des Kindes unter Berücksichtigung seiner individuellen Neigungen und Begabungen zu fördern. Aufgabe der Kindertageseinrichtung ist es somit, den schöpferischen Kräften jedes Kindes zur vielseitigen Entfaltung zu verhelfen und dem Kind vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten zu eröff nen. Geeignete Materialien zur Entwicklung der schöpferischen Fähigkeiten 25 | S. auch Enquete-Schlussbericht, S. 382. 26 | Beispielhaft sei das Kinderbildungsgesetz Nordrhein-Westfalen genannt, vgl. dort vor allem den § 2.

VI. Kulturelle Bildung | 225 im Spiel, im bildnerischen Gestalten durch Musik und Bewegung müssen in angemessener Umgebung bereitgestellt werden. Darüber hinaus macht der Staat von seiner Regelungskompetenz in diesem Bereich insoweit Gebrauch, als er in den Rahmenstundentafeln der Berufsfachschulen und Fachschulen des Sozial- und Gesundheitswesens explizit die Bereiche Musik, Erziehung und Rhythmik als verpfl ichtende Fächer ausweist. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass das in den Tageseinrichtungen eingesetzte pädagogische Personal auch über die notwendigen Qualifikationen in Kultureller Bildung verfügt. In der Realität ist allerdings festzustellen, dass der Unterricht in diesen Fächern vielfach mangelhaft ist, fachfremd erteilt wird oder gänzlich ausfällt. Da schon die Erzieher während der eigenen Schulbildung oft nicht hinreichend sensibilisiert worden sind, setzt sich der systematische Mangel hier fort. Es fehlt somit in der Breite an entsprechend qualifizierten Fachkräften, da die Mitarbeiter in den Kindertagesstätten nicht ausreichend für die kulturelle Vermittlungsarbeit ausgebildet sind.27 Schon in der ersten Stufe des Systems, im Elementarbereich, haben wir es daher in Deutschland mit einer weit verbreiteten systemimmanenten Defizitsituation in der Kulturellen Bildung zu tun.28 Notwendig und hilfreich sind Fort- und Weiterbildung und eine systematische Zusammenarbeit zwischen den Einrichtungen des Elementarbereichs mit Musikschulen, Jugendkunstschulen etc., um zumindest die bereits vorhandenen Potenziale zu aktivieren. 2.2 Schulwesen

Anders als im Elementarbereich ist im Schulwesen die bestehende Normierung durch gesetzliche Vorgaben wesentlich tiefgreifender. Der Staat regelt hier nicht nur die Verpflichtung zum Besuch der Schule, sondern greift auch regelnd in die Inhalte ein. Es wird festgelegt, welches Fach mit wie vielen Unterrichtsstunden und welchen Inhalten in welcher Schulform durch welches Personal unterrichtet wird. Die Länder haben von diesen Regelungsmöglichkeiten umfänglich Gebrauch gemacht. Sie haben die volle Verantwortung für alle inneren Schulangelegenheiten, also auch für die vorhandenen Angebote und vor allem auch die Defizite in der Kulturellen Bildung. Verblüffend ist, wie aktuell der Ergänzungsplan »Musisch-Kulturelle Bildung« der Bund-Länder-Kommission zum Bildungsgesamtplan von 1977 immer noch ist, in dem es heißt:

27 | S. auch Enquete-Schlussbericht, S. 383. 28 | In meiner langjährigen Praxis auch als Schul- und Jugenddezernent bin ich permanent mit entsprechenden Situationen konfrontiert worden, gerade auch an den Berufskollegs für Erzieherinnen.

226 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent

»Die Einrichtungen des Schulbereichs haben unter anderem den Auftrag, durch ein allgemein verbindliches Angebot in grundlegende Inhalte und Formen der musisch-kulturellen Bildung einzuführen, und zwar vor allem im Musik-, Kunstund Literaturunterricht. […] Den Schulen obliegt damit eine entscheidende Rolle bei der Förderung der Schüler auf den gesamten musisch-kulturellen Bereich hin. Die schulischen Angebote der musisch-kulturellen Bildung sind deswegen von besonderer Bedeutung, weil zunächst im Primar- und Sekundarbereich I wegen der allgemeinen Schulpfl icht alle Kinder eines Altersjahrganges angesprochen werden können. Je nachhaltiger die Anregungen in der Schule sind, desto größer wird auch die Bereitschaft und Neigung zu musisch-kultureller Betätigung sein. Darüber hinaus sind Defizite an musisch-kultureller Bildung während der Schulzeit später nur noch schwer auszugleichen.«29

Bereits in diesem älteren Text wird auch eindringlich auf die Defizite des Schulwesens bei der Erfüllung dieses Auftrages hingewiesen: »Obwohl die musisch-kulturelle Bildung in ihrer Bedeutung anerkannt ist, entspricht ihr nicht überall der Umfang des schulischen Angebotes; es ergeben sich Begrenzungen aus dem möglichen Umfang der Pfl ichtstundenzahl und den Anforderungen der übrigen Fächer. […] Ein Teil des vorgesehenen Unterrichts in den musischen Fächern fällt – zumindest noch gegenwärtig […] – wegen Mangels an fachlich ausgebildeten Lehrern aus.«30

Die Aktualität des mehr als zwei Jahrzehnte alten Textes gibt besonderen Anlass zur Besorgnis. Denn diese Situation ist offenbar ein Dauerzustand von ausgeprägter Nachhaltigkeit: Schulen aller Schulformen und Stufen haben sich immer mehr von ganzheitlichen Bildungszielen verabschiedet, die eine musisch-kulturelle Förderung einschließen. Die Verantwortung dafür haben indes weniger die einzelnen Schulen als vielmehr die verantwortlichen Bildungspolitiker, die Landesregierungen und die Schulaufsichtsbehörden. Nach Schulstufen gegliedert lässt sich die reale Lage stichwortartig und exemplarisch (anhand von Nordrhein-Westfalen) wie folgt skizzieren: In den Stundentafeln der Primarstufe werden Kunst und Musik als ein Lernbereich ausgewiesen. In diesem Lernbereich sind wöchentlich zwischen drei und vier Unterrichtsstunden zu erteilen. Entsprechende Richtlinien und Lehrpläne liegen vor. Die Ausbildung des Lehrpersonals ist durch das Lehrerausbildungsgesetz in den Bestimmungen über das Lehramt an der Primarstufe und durch die Konkretisierung in den Studienordnungen der einzelnen Hochschulen geregelt. 29 | Musisch-Kulturelle Bildung. Ergänzungsplan zum Bildungsgesamtplan, Bd. 1, 1977, S. 11.

30 | Ebd.

VI. Kulturelle Bildung | 227 Den Schulformen Hauptschule und Realschule der Sekundarstufe I ist gemeinsam, dass Kunst, Musik und Textilgestaltung als ein Lernbereich verstanden werden. In den Schulformen Gymnasium und Gesamtschule erstreckt sich der Lernbereich auf Kunst und Musik, wobei in der Gesamtschule Kunst und Musik als integrierter Lernbereich oder getrennt nach Fächern unterrichtet werden können. Die Rahmenstundentafel legt fest, dass die einzelnen Fächer gleichgewichtig zu berücksichtigen sind. Die Anzahl der wöchentlich zu erteilenden Unterrichtsstunden schwankt zwischen zwei und vier für diesen Lernbereich. Die Schulen haben das Recht und die Möglichkeit, individuelle Profi le auszuprägen. Zu berücksichtigen hierbei ist die jeweils vorhandene Sach- und Personalausstattung. Auch für die sonderpädagogisch zu fördernden Schüler gelten grundsätzlich die Stundentafeln der allgemeinen Schulen. In den studienqualifizierenden Bildungsgängen der Sekundarstufe II ist für die Jahrgangsstufe 11 festgelegt, dass eines der Fächer Kunst oder Musik im Pflichtbereich als Grundkurs zu belegen ist. In der Jahrgangsstufe 12 und 13 sind mindestens zwei aufeinanderfolgende Grundkurse in Kunst oder Musik zu belegen. Anstelle eines künstlerischen Faches können auch zwei instrumentalpraktische oder zwei vokalpraktische Grundkurse belegt werden. Bei der Abiturprüfung jedoch kann das sprachlichliterarisch-künstlerische Aufgabenfeld aber auch durch Deutsch oder eine Fremdsprache abgedeckt werden, obwohl auch Kunst und Musik diesem Aufgabenfeld zugeordnet sind. In den Bildungsgängen von Kolleg und Abendgymnasium als Schulen des zweiten Bildungsweges wird das Fach Musik genannt, jedoch ohne Festlegung eines Mindestunterrichtsstundenvolumens oder gar Verpfl ichtung zum Besuch des Unterrichts in diesem Fach. Die Ausbildung der Lehrkräfte ist durch das Lehrerausbildungsgesetz sowie die Studienordnung der einzelnen Hochschulen konkretisiert. Darüber hinaus können auch Lehrkräfte eingesetzt werden, die nicht über eine Lehrbefähigung im Sinne des Lehrerausbildungsgesetzes verfügen, sie müssen jedoch mindestens über die künstlerische Abschlussprüfung an einer Musikhochschule oder Musikakademie nach maximal acht Semestern verfügen oder die Prüfung zum Musikschullehrer abgelegt haben. Als besonders problematisch ist anzusehen, dass musisch-kulturelle Aktivitäten aufgrund der Lehrerknappheit in diesen Fächern und ihrer Personenabhängigkeit oft »ungerecht« auf die Schulen verteilt sind.31 31 | So hat sich etwa bei einer Stadtteilkonferenz in Essen herausgestellt, dass in einem nördlichen Bezirk der Stadt, in dem eine eher sozial benachteiligte Bevölkerung lebt, an einer Hauptschule kein einziger Musiklehrer, an einer benachbarten Gesamtschule sieben Musiklehrer, an einem Gymnasium drei Musiklehrer und an einem weiteren zwei Musiklehrer unterrichten und dass auch an den Grundschulen des Stadtbezirks Lehrkräfte mit sehr unterschiedlichen Fach-

228 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent Die aktuellen Entwicklungen im Schulwesen sind von der Auseinandersetzung mit den PISA-Ergebnissen geprägt (a). Dies führt jedoch gerade nicht dazu, dass Fächer der Kulturellen Bildung gestärkt wurden oder Defizite im Fächerkanon abgebaut worden sind (b). Immerhin gibt es neue Anstrengungen, die Schulen ans kulturelle Netz anzukoppeln (c) und beim Ausbau von Ganztagsangeboten verstärkt der Kulturellen Bildung Raum und Zeit zu geben (d) sowie Programme zu initiieren, die darauf abzielen, Künstler an Schulen zum Einsatz zu bringen (e). (a) PISA-Studie: Die aktuelle Diskussion nach der PISA-Studie birgt die Gefahr einer Verengung des schulischen Auftrages auf »Literacy« im Sinne zwar außerordentlich wichtiger, beileibe aber nicht allumfassender Kompetenzen wie Lesefähigkeit, Mathematik und Naturwissenschaften. Sie wurden in der PISA-Studie gemäß standardisierten Messverfahren vergleichend untersucht – eben ein Programme for International Student Assessment. Bei genauerer Betrachtung zeigt die Auswertung der PISA-Studie allerdings sehr differenzierte pädagogische, soziale und schulstrukturelle Zusammenhänge. Im föderalen Bildungssystem in Deutschland sind Antworten nötig, die ganz unterschiedlichen Einzelproblemen gerecht werden müssen und deshalb einer vertieften Analyse der tatsächlichen Defizite bedürfen. Die »Konzeption Kulturelle Bildung«, die der Deutsche Kulturrat von 1988, 1993 und 2005 in jeweils unterschiedlicher Ausprägung vorgelegt hat, gibt für derartige Analysen umfassende Anregungen, zumal auch die älteren Texte bis heute an Aktualität kaum verloren haben.32 Ausgehend von einem ganzheitlichen Bildungsbegriff, sind kreative Angebote in die gesamte Stundentafel aufzunehmen. Darauf ist insbesondere deshalb Wert zu legen, weil im Gefolge der Diskussion über die PISA-Studie eine neuerliche Verengung des schulischen Auftrages auf Kompetenzen wie Lesefähigkeit, Mathematik und Naturwissenschaften droht. Ausgehend vom Leitbegriff »literacy«, der ja nicht mit dem humanistischen Bildungsbegriff identisch ist, hat die PISA-Studie exakt diese Fächer in den Fokus der Betrachtung gestellt, den musisch-kreativen Bereich hingegen ausgeklammert. Von einem universellen, persönlichkeits- und gesellschaftsbezogenen Bildungsanspruch findet sich im von der Reaktion auf PISA bestimmten Aktionismus der Bundesländer und der Kultusministerkonferenz nur wequalifi kationen anzutreffen sind. Das zeigt Disparitäten, die keinen Grund in der Bedarfslage haben.

32 | Deutscher Kulturrat (Hg.), Konzeption Kulturelle Bildung. Positionen und Empfehlungen, Bonn 1988; ders. (Hg.), Konzeption Kulturelle Bildung, Essen 1994; ders. (Hg.), Kulturelle Bildung in der Bildungsreformdiskussion, Konzeption Kulturelle Bildung III, Berlin 2005.

VI. Kulturelle Bildung | 229 nig wieder. Die Optimierung der »schulischen Leistungen« im engeren Sinne steht im Mittelpunkt. So kommt die Befürchtung nicht von ungefähr, dass der seit Jahrzehnten anhaltende Rückzug der Schule von den musischen Fächern sich eher noch verstärken wird. Kunst, Kultur und Ästhetik laufen in der hektischen und etwas oberflächlichen bundesdeutschen PISA-Auswertung durch die Politik in der Tat Gefahr, als Ziele, Inhalte und Prozesse von Bildung ganz an den Rand gedrängt zu werden. Dabei sollte uns der Blick in die laut PISA-Studie führenden skandinavischen Länder sowie Österreich eines Besseren belehren. Dort gehören die kreativen Fächer und das Zusammenwirken von Schule und Kultureinrichtungen zum Standard und genießen einen hohen Stellenwert. Die verantwortlichen Kultur- und Bildungspolitiker sollten sich also des Postulats der umfassenden Kulturellen Bildung erinnern und der kurzsichtigen Tendenz entgegensteuern, den ganzheitlichen Bildungsbegriff und die musischen Fächer zu vernachlässigen. (b) Schulfächer: In den Publikationen mit dem Titel »Konzeption Kulturelle Bildung« des Deutschen Kulturrates33 wird Sparte für Sparte aufgearbeitet, welche Schulfächer mit Angeboten der Kulturellen Bildung verbunden sind und welche Angebote die Schulen außerhalb des üblichen Fächerkanons unterbreiten. Daraus seien nur einige Schlaglichter wiedergegeben: Als Stiefkinder in den schulischen Stundentafeln werden die Fächer »Kunst« und »Darstellendes Spiel« bezeichnet. Letzteres Fach gibt es nur in wenigen Bundesländern. Theaterspiel wird meist nur in freiwilligen Arbeitsgemeinschaften gepflegt. Wenig ausgeprägt ist bisher auch das Zusammenwirken zwischen Schulen und Bibliotheken, um Medienkompetenz gemeinsam zu vermitteln. Zum Film gibt es ebenso wenig Angebote wie zu Architektur und Design. Auch Internet- und Medienkunst finden sich in der Kulturellen Bildung an Schulen kaum wieder. Insbesondere in der Mittelstufe ist das Fach »Bildende Kunst« von Kürzungen betroffen. Musik wird meist nicht entsprechend den fi xierten Standards erteilt; Schüler erhalten infolgedessen nicht ausreichend Gelegenheit, sich mit dem Fach vertraut zu machen. Als bedauerlich wird die Tendenz eingeschätzt, an den Schulen einen »kleinen Pflichtfächerkanon« festzulegen, der – sieht man von der Literatur ab – die Hauptsparten der Kultur, also Musik, Bildende und Darstellende Künste, nicht mit umfasst. Zudem komme es zu Konkurrenzverhältnissen zwischen Musik- und Kunstunterricht, da diese Fächer im Stundenplan »gegeneinander gestellt« würden.34 Beklagt wurde bereits 1993, dass im Schulmanagement kaum einmal Vertreter der musisch-kulturellen Fächer zu finden seien, so dass von dieser Seite dem 33 | S. Literaturhinweise in der vorherigen Fußnote. 34 | So haben Schüler die Wahl, sich im Jahresrhythmus abwechselnd blind oder taub zu stellen.

230 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent schleichenden Substanzverlust jener Unterrichtsfächer nicht entgegengesteuert werden könne. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es immer noch gravierende inhaltliche Defi zite in der Kulturellen Bildung gibt, vor allem weil eine Reihe von Genres kaum oder sogar überhaupt nicht als Feld Kultureller Bildung bearbeitet wird. Idealerweise sollten Kinder schon im Kindergarten und jedenfalls in der obligatorischen Schulzeit alle Facetten Kultureller Bildung kennen lernen, sowohl durch Rezeption als auch durch eine aktive Beschäftigung mit den Künsten. Dabei sollten nicht nur Singen, Musizieren und Bildende Kunst angeboten werden, sondern auch Darstellendes Spiel sowie Tanz. Auch andere künstlerische Ausdrucksformen wie Film, Architektur, Design oder Neue Medien sollten unbedingt berücksichtigt werden. Aus diesem Grund hat die Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« eine permanente Diskussion über die Fortentwicklung der verbindlichen Elemente Kultureller Bildung an den Schulen gefordert, gerade auch mit Blick auf die Auseinandersetzung mit immer wieder neuen Formen Zeitgenössischer Kunst. Es geht also weniger um die Festlegung eines verbindlichen Bildungskanons der Kulturellen Bildung, als vielmehr darum, dass ein breites und gleichzeitig qualifiziertes Angebot Kultureller Bildung in allen Schulformen von entsprechend qualifizierten Lehrkräften sichergestellt wird.35 (c) Schulen ans kulturelle Netz: In Folge des Kampfrufes »Schulen ans Netz!« konnte man vor einigen Jahren fast den Eindruck gewinnen, dass Verantwortliche auf allen politischen Ebenen glaubten, am Computerwesen würde die Bildung in Deutschland genesen. Immerhin hat dies enorme Investitionen in die Computerausstattung und Vernetzung unserer Schulen ausgelöst.36 Dieses Beispiel zeigt, dass bei entsprechendem politischen Willen und einem – hier sicherlich vorhandenen – sanfteren oder festeren Druck der Wirtschaft große Geldsummen zusätzlich (!) bereitgestellt werden können, um in der Schul- und Bildungslandschaft neue Ziele zu erreichen. Das Motto »Schulen ans kulturelle Netz« steht für die Aufgabe, für die Kulturelle Bildung ein neues Denken und Handeln einzufordern.37 Da35 | S. Enquete-Schlussbericht, S. 384f. 36 | Ich möchte diese Anstrengung keineswegs verteufeln, auch in der Stadt Essen haben wir uns daran intensiv und mit großem Erfolg beteiligt, doch bei genauerer Betrachtung gibt es schon den ein oder anderen Zweifel, ob die Ausstattung eines jeden Grundschulraumes mit einem Internet-Anschluss in einem angemessenen Kosten-Nutzen-Verhältnis steht und die angestrebte pädagogische Wirkung erzielt hat.

37 | S. die gleichlautende Dokumentation zum 47. Loccumer Kulturpolitischen Kolloquium: Burmeister, Hans-Peter (Hg.), Schulen ans kulturelle Netz!

VI. Kulturelle Bildung | 231 bei geht es nicht um ein virtuelles Netz, sondern um das real vorhandene Netz der Bildungsangebote von Kultureinrichtungen der Städte, von freien Kulturträgern und Einzelinitiativen. Das Praxisfeld Kultureller Bildung ist dabei außerordentlich vielfältig: Es gibt unterschiedliche Lernorte, die verschiedensten Zielgruppen, ausdifferenzierte Ziele, variantenreiche Konzepte.38 Außerdem finden wir hier in Bund, Ländern und Kommunen ein komplexes Spektrum politischer und administrativer Zuständigkeiten für die Felder Kultur, Bildung, Soziales, Jugend und Arbeit sowie eine Pluralität von Trägern Kultureller Bildung aus dem staatlichen, konfessionellen und freien Bereich im Sinne des kooperativen Kulturföderalismus. Wenn wir die Schulen ans kulturelle Netz bringen wollen, haben wir diese Vielfalt und die gewachsenen Strukturen sicherlich zu beachten; andererseits aber sollte die Schule zu dem Ort werden, an dem die Kulturelle Bildung zuallererst ihren Platz findet. (d) Ganztagsschule: In nahezu allen Bundesländern ist die Ganztagsschule in allen Stufen und Formen auf dem Vormarsch. Dadurch werden die Betreuungsmöglichkeiten für die Schüler zunehmend zeitlich und inhaltlich ausgeweitet.39 Die Kommunen stehen als Träger von Einrichtungen der Kultur und der Kulturellen Bildung insoweit in einer problematischen Entscheidungssituation: Sollen sie die Notwendigkeit erweiterter ganztägiger schulischer Angebote in der Hoffnung nutzen, auch die engere Kooperation von Schule und Kultur bzw. Kultureller Bildung flächendeckend zu realisieren? Oder laufen sie angesichts der Finanzkrise der öffentlichen Hände Gefahr, den Ländern schulische Verantwortung abzunehmen und es diesen zu erlauben, sich auch bei den Ganztagsangeboten von einem ganzheitlichen Bildungsauftrag zu verabschieden? Die Länder setzen angesichts der schwierigen Finanzsituation bei der Umsetzung der Ganztagsschule auf die Verantwortung, welche die Kommunen für Betreuungsangebote im Rahmen der Jugendhilfe haben, bzw. auf eine Kooperation mit Trägern außerschulischer Kultureller Bildung, des Sports oder mit anderen Partnern. Inzwischen ist eine Vielzahl unterschiedlicher Betreuungsformen entstanden, deren inhaltliche Ausrichtung und Förderung durch die Länder sehr unübersichtlich oder – positiver ausgedrückt – sehr ausdifferenziert ist. 40 Das führt allerdings dazu, dass die Kooperationen zwischen kultureller Weiterbildung und Ganztagsschule, RehbergLoccum 2004.

38 | Vgl. etwa die Best-Practice-Beispiele in: Kultursekretariat NordrheinWestfalen (Hg.), Schule, ganz offen für Kultur, Essen 2003.

39 | Exemplarisch sei auf die in Kultursekretariat Nordrhein-Westfalen, 2003, S. 129ff. dargestellte Entwicklung im größten Bundesland Deutschlands verwiesen.

40 | Einen umfassenden Überblick gibt die neue Studie von Keuchel, Susan-

232 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent ursprüngliche Aufgabenteilung zwischen Ländern und Kommunen in »innere« und »äußere« Schulangelegenheiten 41 verwischt wird. Auch bei dem Großprojekt »Jedem Kind ein Instrument« 42 wird diese Aufgabenteilung durchbrochen, da das Lehrpersonal kommunaler Musikschulen in den regulären Schulunterricht integriert wird – mit zahlreichen sich daraus ergebenden Problemen etwa des Tarif-, Arbeitszeit- und Versicherungsrechts. Letztlich sollte die Chance, im Bereich der Ganztagsangebote der Kulturellen Bildung einen hohen Stellenwert zu geben, von allen Beteiligten genutzt werden. Die Ganztagsschule kann mit ihren Angeboten Kultureller Bildung wie kaum ein anderes Bildungsangebot das Ungleichgewicht in der Förderung der Kulturkompetenz junger Menschen je nach familiärer und sozialer Situation ausgleichen, indem sie im außerunterrichtlichen Programm Kulturelle Bildung auf den verschiedenen Ebenen für alle Schüler ermöglicht. Beim Ausbau der Schulen zu Ganztagsschulen geht es nicht darum, den Vormittagsunterricht einfach auf den Nachmittag auszudehnen. Vielmehr bedarf es integraler Ansätze. In die Ganztagsbetreuung können nicht nur städtische Kultureinrichtungen, sondern auch freie Kulturträger eingebunden werden. Es bedarf gezielter Kooperation mit und Unterstützung von geeigneten Akteuren der außerschulischen Kulturellen Bildung und der Öffnung der Schule für eine neue Lehr- und Lernkultur. 43 An der Zuständigkeit und dem Verfassungsauftrag für die Schule seitens der Länder darf das aber nichts ändern. Im Gegenteil: Die Länder sollten sich dieses Bereiches verantwortlich annehmen, entsprechende Rahmenregelungen erlassen und Fördertöpfe zur Verfügung stellen. In der Bildungspolitik der Länder ist die Sensibilität und Verantwortlichkeit für die damit verbundenen Aufgaben, Ziele und Arbeitsweisen (noch) nicht hinreichend ausgeprägt. Es fehlt meist noch an gemeinsam abgestimmten Bildungskonzepten und Austauschmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Professionen und Partnern. Fachlehrer und Eltern sind in der Ganztagsschule oftmals die treibenden Akteure, die weitere nichtschulische Partner für ein kulturelles Bildungsangebot aktivieren. Doch wegen des Mangels an Fachlehrern im Primarbereich gibt es dort vergleichsweise erheblich gravieren-

ne, Kulturelle Bildung in der Ganztagsschule. Eine empirische Bestandsaufnahme, Bonn 2007.

41 | Der Merksatz unter Juristen dafür lautet: »Die Kommune baut das Haus und drinnen waltet der Staat.«

42 | Im Zuge der Kulturhauptstadt RUHR.2010 hat die Bundeskulturstiftung gemeinsam mit dem Land NRW ein Projekt initiiert, dass allen rund 200.000 Grundschülern im Ruhrgebiet die Chance eröff nen soll, durch (Gruppen-)Unterrichts-Angebote der (kommunalen) Musikschulen im Grundschulkontext ein Instrument zu erlernen.

43 | Näher dazu Keuchel, 2007, S. 237.

VI. Kulturelle Bildung | 233 dere Defizite in den Angeboten. 44 Zudem fehlt es an den Grundschulen meist an einer geeigneten räumlichen Infrastruktur (Fachräume für Musik, Gestalten, Tanz) und den notwendigen Sachmitteln (Instrumente, Werkstattmaterialien, Medien). Die Bildungspolitik sollte sich diesem Komplex unbedingt intensiver widmen und die Kulturelle Bildung an Ganztagsschulen nicht Einzelakteuren und -aktionen überlassen. Und die Kulturpolitik sollte die Bildungspolitik insgesamt auf diesem Feld stärker aktivieren. (e) Künstler an Schulen: Die Ganztagsschule hat dazu geführt, dass Künstler an Schulen zu einer der wichtigsten Expertengruppen bei der Gestaltung des Unterrichtsangebotes – zumeist am Nachmittag – geworden sind. Die Ergebnisse der zahlreichen Kongresse und Tagungen in den letzten Jahren haben einen bunten »Markt der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten« auf diesem Gebiet aufgezeigt. Es ist ein mehr oder minder zufriedenstellendes Nebeneinander von Künsten und schulischem Unterricht entstanden, da die Arbeit mit Künstlern in der Regel nur im Randbereich des Schulalltags zugelassen wird. Ästhetische Bildung und künstlerische Ausdrucksformen sind aber als Säulen einer umfassenden Kulturellen Bildung anzusehen und können nur dann erschlossen werden, wenn Künstler auch den Kernbereich von Schule mitgestalten dürfen und wenn künstlerische Techniken und Denkweisen als gesellschaftlich relevante basale Haltung und Methode im Unterricht selbst verortet werden. Als eines der bekanntesten Beispiele gilt die in dem Film »Rhythm is it!« dokumentierte Arbeit von Sir Simon Rattle und dem Choreografen Royston Maldoom an einer Berliner Schule. In diesem Film ist deutlich geworden, welch suggestive und emotionale Kraft die von Künstlern in den schulischen Alltag eingebrachte Arbeit haben kann. In der Zukunft müssen sich verantwortliche Bildungs- und Kulturpolitiker, Akteure des Schulwesens sowie die an dieser Arbeit beteiligten Künstler noch intensiver folgenden Fragen widmen: Welchen Bedarf haben Schulen im Allgemeinen und jede Schule im Speziellen? Wie können Künstler und Lehrer vom Nebeneinander zum Miteinander gelangen? Welche gemeinsame Sprache müssen sie finden? Wo liegen die Risiken des Engagements von Künstlern in Schulen? Was bedeutet kulturelles Lernen für die Entwicklung von Schule? Wie ändern sich Haltung und Anspruch von Künstlern im schulischen Umfeld? Wie müssen sich der Auftrag und die Fachinhalte der Hochschulen der Künste ändern, wenn sie Verantwortung für die Vermittlung der Künste an Schulen übernehmen wollen? Schule hat kein originäres Fach, in dem Intuition, Umgang mit Emotionen, Problemen oder Konflikten gelernt wird. Das Fremde und Unbekannte, das Scheitern und Irren, die Intuition und die Kreativität sind seit jeher 44 | S. auch ebd., S. 247.

234 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent die Domäne der Künste, welche daher für Schulen, für Pädagogen und Schüler von so eminenter Bedeutung ist. Die Künste haben derzeit eine historische Chance, in der Schule eine zentrale Rolle zu spielen – aufgrund der immens gestiegenen Aufmerksamkeit und ihr Engagement im Rahmen der Kulturellen Bildung. Es ist dringend erforderlich, eine Sprache zu finden, an der beide Akteursgruppen, die Künstler und die Pädagogen, sich verstehen und auf die sie sich einigen können. Schule steht für Curriculum und Kunst für das Unwägbare. Ein »Curriculum des Unwägbaren« ist zu entwickeln. 45 Ein solches Curriculum ist als Querschnittsaufgabe von Schule für alle Fächer relevant. Es kann das herkömmliche kognitive Lernen emotional grundlegend ergänzen. Es kann auch beschreiben, welche Bedingungen Künste in Schulen benötigen, um nachhaltig wirken zu können, und wie die Künste sich – ohne sich zu verbiegen – anpassen, um in Schule zu passen. Dies kann nur gelingen, wenn alle Beteiligten die Grundbedingung akzeptieren, dass die neu zu generierende Qualität eine überwiegend künstlerische ist. 2.3 Jugendbildung

Eine grundlegende gesetzliche Bestimmung im Kinder- und Jugendhilferecht ist § 11 Abs. 1 KJHG, mit dem festgelegt wird, dass die Kulturelle Bildung als Bestandteil der außerschulischen Jugendbildung anzusehen und zu fördern ist. Entsprechende Regelungen finden sich auch auf Länderebene. Im Übrigen ist jedoch das gesamte Feld der freien Gestaltung der Träger von Kinder- und Jugendhilfe überlassen. Die Jugendeinrichtungen der Kommunen, der Kirchen, der freien Wohlfahrtsträger leisten mit ihren Angeboten einen sehr offenen Beitrag in der Kulturellen Bildung, gehören doch Musizieren, Theaterspiel, Gestalten, vor allem aber auch die Medienbildung mit all ihren jeweiligen Facetten zum üblichen Angebot. Ein besonderer Akzent liegt in der Vermittlung von Medienkompetenz. Kinder und Jugendliche lernen eher außerhalb der Schule auf informellem Wege den Umgang mit dem Computer. Außerschulische Institutionen haben oft bereits jahrzehntelange Erfahrungen in der Vermittlung von Medienkompetenz gesammelt und sind auch näher an den medialen Erlebniswelten von Kindern und Jugendlichen als die Schule. 46 Ein wichtiger Bestandteil kultureller Medienbildung ist der Umgang mit Film als Kunstform, kulturelles Bildungsgut, Kommunikationsmedium oder auch Unterhaltungsware. Denn der Film hat maßgeblichen Einfluss auf die Wahrnehmung 45 | Die Yehudi Menuhin Stiftung Deutschland hat eine langjährige, besonders qualifizierte Erfahrung mit dem Einsatz von Künstlern an Schulen und hat ihre zwei Essener Kongresse in 2006 und 2007 dem »Curriculum des Unwägbaren« gewidmet, s. www.ymsd.de.

46 | S. Enquete-Schlussbericht, S. 397.

VI. Kulturelle Bildung | 235 der Realität und das kulturelle Verständnis gerade von Jugendlichen. Die Filmbildung vermittelt Kenntnisse über die Bildsprache sowie über die Bedingungen und Wirkungen von Filmen und befähigt zur kritischen Auseinandersetzung mit anderen medialen Formen. Das Schulwesen sollte sich diese weitreichenden Erfahrungen außerschulischer Jugendbildung zunutze machen und gerade auf diesem Feld noch stärker mit außerschulischen Partnern kooperieren. Eine in der Praxis erprobte Möglichkeit besteht darin, in den Kommunen Medienzentren aufzubauen, die als Vernetzungsinstanzen zwischen Bibliotheken, außerschulischen Jugendeinrichtungen und Schulen fungieren können. 47 2.4 Kultureinrichtungen

Die Kommunen haben seit den 1960er und 1970er Jahren ein nahezu flächendeckendes System von Kultureinrichtungen etabliert. Im Ergebnis führte das zu einem umfassenden Ausbau des Angebots an Kultureller Bildung (dazu Kap. VI/2.5) und zu einer inzwischen recht hohen Zahl pädagogischer Kräfte in kommunalen Kultureinrichtungen, die für die »Vermittlung« vor allem auch an junges und jugendliches Publikum sorgen. Der »Neuen Kulturpolitik« und der mit ihr verknüpften Forderung »Kultur für alle« entsprach die Erkenntnis, dass es solcher Vermittlungsinstanzen bedarf, um den selbst formulierten Ansprüchen gerecht zu werden. Die Praxis zeigt jedoch, dass diese zusätzlichen Stellen oft auf Arbeitsbeschaff ungsmaßnahmen basierten, die in den letzten Jahren zunehmend weggebrochen sind. Immerhin konnte manche von diesen Stellen in einen Dauerarbeitsplatz umgewandelt werden. Der Arbeitsansatz blieb insgesamt erhalten und die Aufgabe wurde kontinuierlich weiter wahrgenommen, zum Teil sogar ausgebaut. Gleichwohl bleibt die Lage prekär, wie die »Konzeptionen Kulturelle Bildung« des Deutschen Kulturrates im Einzelnen ausgeführt haben. 48 Darüber hinaus ist festzustellen, dass die Existenz kulturpädagogischer und -vermittelnder Angebote keine Garantie für eine nachhaltige und systematische Kooperation zwischen Kulturinstitutionen und Schulen ist, da diese beiden Systeme kaum einmal kompatible »Schnittstellen« besitzen. Schule hat sich zunehmend auf die Vermittlung kognitiven Wissens und auf die Bewältigung der elementaren Probleme des Schulalltags zurückgezogen. Kulturelle Einrichtungen lassen keineswegs flächendeckend einen pädagogischen Auftrag zur Zusammenarbeit mit den Schulen erkennen. Innerhalb der Kultureinrichtungen kommt eine weitere Problematik hinzu: Künstler, Kuratoren, Direktoren etc. sehen die dort als »Kollegen« tätigen Kulturpädagogen oft nicht als wesentliche und wichtige Partner an. 47 | Ein Beispiel hierfür ist das Alfried Krupp Medienzentrum in Essen. 48 | Zuletzt Deutscher Kulturrat, 2005.

236 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent Provokant formuliert: Ein Theaterintendant kämpft oft mehr für die Erhaltung zweier Chorsängerstellen als für die Einrichtung oder Beibehaltung der Stelle eines Theaterpädagogen. Exemplarisch seien anhand der Museen die zahlreichen Chancen von Kultureller Bildung durch vorhandene Kultureinrichtungen aufgezeigt: Museen leisten einen entscheidenden Beitrag zu einer »Schule des Sehens«. In der Begegnung mit dem originalen Objekt, mit Bildern, Skulpturen, Kunstwerken, historisch bedeutsamen Gegenständen etc. werden interaktive Prozesse ausgelöst, die Impulse für die individuellen Erfahrungshorizonte und Fähigkeiten der Betrachter geben. Das Museum ist in besonderer Weise geeignet, prozessorientiertes Lernen zu ermöglichen. Es kann Kindern und Jugendlichen Anstöße zur Kommunikation geben, etwa indem diese sich über ihre Erlebnisse und Erfahrungen mit anderen austauschen. Daher sind Vermittlungsangebote notwendig, um auch solche Gruppen anzusprechen, die eher museumsfernen gesellschaftlichen Schichten angehören. Aufgabe einer aktivierenden Kulturpolitik ist es daher, für eine konzeptionelle Einbindung der Museumspädagogik in die Strukturen der Museumsarbeit zu sorgen. Jeder wissenschaftliche Mitarbeiter sollte die Pädagogik und Didaktik mitdenken. Die Fachkräfte der Museumspädagogik sind von Anfang an in die Ausstellungsplanung und -entwicklung einzubeziehen. 49 Die kulturellen Einrichtungen sollten ihr Augenmerk insgesamt viel stärker auf Vermittlung richten. Anteile von unter einem Prozent des jeweiligen Gesamtbudgets sind für diese Aufgaben die Regel. Kein Wirtschaftsunternehmen könnte sich erlauben, so wenig Ressourcen dafür einzusetzen, dass seine »Produkte« einen Abnehmer finden. Kulturpolitik sollte hierzu entsprechende Vorgaben machen. 2.5 Spezifische Einrichtungen Kultureller Bildung

Angesichts der Defizite im Schulwesen wurde schon vor Jahren bedauert, dass den zahlreichen Vorschlägen und Wünschen zur kulturellen Kooperation zwischen Schule und außerschulischen Einrichtungen nicht systematisch Folge geleistet wurde. Erfolgreiche Modellversuche in diesem Feld vermochten keine flächendeckende Wirkung zu erzielen. Die Einrichtungen Kultureller Bildung leisten unabhängig von Kooperationen mit Schule aber auch einen ganz eigenen Beitrag zur Kulturellen Bildung. Die sind vor allem die Bibliotheken (a), die Musikschulen (b), die Jugendkunstschulen (c) und die Einrichtungen kultureller Erwachsenenbildung (d): (a) Bibliothek: Bund, Länder und Kommunen unterhalten mehr als 20.000 Bibliotheken. Sie sind zentrale Kulturelle Bildungseinrichtungen, denn im 49 | So auch Enquete-Schlussbericht, S. 391.

VI. Kulturelle Bildung | 237 Zentrum ihrer Arbeit steht die Vermittlung von Medien- und damit Kulturkompetenz. Der Umgang und die Auswahl von Informationen gehören zu den Schlüsselkompetenzen in allen Lebenslagen, ob in Beruf und Weiterbildung, im privaten Umfeld oder im World Wide Web. Bibliotheken sind aber auch Orte des Genießens, des schöpferischen Denkens und der Welterkenntnis insgesamt.50 Umso merkwürdiger ist, dass Bibliotheksarbeit immer noch als »freiwillige Leistung« der Kommunen behandelt wird, ob in der juristischen Literatur oder durch Verfügungen von Aufsichtsbehörden. In der überwiegenden Zahl der europäischen Länder gibt es Bibliotheksgesetze, die Bibliotheksarbeit als reguläre staatliche Bildungsaufgabe konstituieren, die von der öffentlichen Hand zu finanzieren ist.51 Auch Schulbibliotheken sind in anderen europäischen Ländern gang und gäbe, werden im Kulturstaat Deutschland jedoch vielfach der Privatinitiative von Lehrer-, Schülerund Elternschaft überlassen. Indes gibt es kaum einen wichtigeren Ort als die Schule, an dem die Techniken der Informationsbeschaff ung und der kritische Umgang mit Informationen von allen eingeübt werden kann, wenn es denn entsprechende Schulbibliotheken gibt. Letztlich sind Bibliotheken als Institutionen der Kulturellen Bildung anzusehen und in ein bildungs- und kulturpolitisches Gesamtkonzept einzubinden. Ein Erfolgsfaktor in den im Bibliothekswesen gut ausgebauten EU-Staaten ist es, gesamtstaatliche Standards für eine flächendeckende Qualitätssicherung festzulegen und so eine landesweite Informationsversorgung sicherzustellen. In der Bundesrepublik Deutschland existiert jedoch keine nationale rechtliche Normierung, lediglich in den Verfassungen von Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt wird die Förderung von Bibliotheken als Staatsziel betont, in Baden-Württemberg werden Bibliotheken im Weiterbildungsgesetz erwähnt und Hessen beschreibt die Wahrung des kulturellen Erbes im hessischen Hochschulgesetz; immerhin existiert in Bayern eine Bibliotheksverordnung.52 Eine Reform des Bibliothekswesens in Deutschland bedarf einer rechtlichen Aufwertung der Bibliotheken durch den Erlass von Bibliotheksgesetzen. Dies hat auch die Enquete-Kommission nach intensiver Aus50 | S. auch ebd., S. 392. 51 | In zwei Drittel der EU-Staaten sind die Aufgaben der öffentlichen Bibliothek durch ein Bibliotheksgesetz rechtlich normiert und in langfristige Entwicklungspläne eingebunden. S. Enquete-Schlussbericht, S. 131.

52 | Vgl. Art. 9 Abs. 3 Verfassung von Schleswig-Holstein; Art. 36 Abs. 3 Verfassung von Sachsen-Anhalt; Gesetz zur Förderung der Weiterbildung und des Bibliothekswesens Baden-Württemberg; § 6 Hessisches Hochschulgesetz vom 20.12.2004 sowie die Verordnung über die Gliederung der staatlichen Bibliotheksverwaltung vom 16.06.1999 in Bayern und schließlich den Enquete-Schlussbericht S. 131.

238 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent wertung des Bibliothekswesens in Deutschland und in der Europäischen Union einstimmig empfohlen.53 Öffentliche Bibliotheken können so in den rechtlichen Status einer Pflichtaufgabe überführt werden. Sinnvoll ist auch, einen länderübergreifenden Bibliotheksentwicklungsplan zu erstellen, in dem die Zielsetzungen für die bibliothekarischen Bildungsangebote sowie Qualitätsstandards enthalten sind. Eine Bibliotheksentwicklungsagentur, wie sie auch von den Bibliotheksverbänden vorgeschlagen worden ist, könnte dazu beitragen, strategische, innovative und qualitätssichernde Zielsetzungen länderübergreifend abzustimmen und umzusetzen.54 Zudem sollten die Länder sicherstellen, dass Bibliotheken in der Kooperation mit Schulen, Vorschulen, Kindergärten und anderen Bildungs- und Kultureinrichtungen ihre Kulturelle Bildungsarbeit ausweiten und Schulbibliotheken zum festen Bestandteil des öffentlichen Schulwesens werden. All diese Maßnahmen würden der zentralen Stellung der Bibliotheken in der Kulturellen Bildung Rechnung tragen. (b) Musikschule: Eine fast flächendeckende kulturelle Infrastruktur bietet das Musikschulwesen für die musikalische Bildung. Die Hauptverantwortung haben dabei die Kommunen übernommen, sind doch von den fast 1.000 Musikschulen, die im Verband deutscher Musikschulen organisiert sind, rund zwei Drittel kommunal getragen und ein Drittel durch eingetragene Vereine, die meist maßgeblich von den Kommunen finanziert und mitgestaltet werden. An diesen Musikschulen werden inzwischen eine Million Schüler unterrichtet, wovon rund zehn Prozent Erwachsene sind. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl privater Musiklehrer sowie privater Musikschulen, deren Angebotsbreite und Qualität variiert. Gegenüber den allgemeinbildenden Schulen haben die Musikschulen eine eigenständige Aufgabe in der Kulturellen Bildung. Über eine Grundausbildung sowie durch einen qualifizierten und breitgefächerten Instrumental- bzw. Gesangsunterricht werden die Grundlagen für ein lebenslanges Musizieren gelegt. Durch vielfältige Angebote des Ensemblespiels sowie die Kooperation mit allgemeinbildenden Schulen, Kindergärten, Vereinen und Musikgruppen wird der Fachunterricht ergänzt. Dem Musikschulwesen in Deutschland liegt ein umfassendes, abgestimmtes Konzept zugrunde, das im Strukturplan des Verbandes deutscher Musikschulen und in den Rahmenlehrplänen für die Unterrichtsfächer durch diesen Verband festgelegt worden ist. Dadurch werden Kontinuität und Qualität der Ausbildung an Musikschulen gesichert.55 In der Bundesrepublik Deutschland gibt es allerdings keine einheit53 | S. Enquete-Schlussbericht, S. 131f. Inzwischen gibt es im Anschluss daran in Thüringen und Nordrhein-Westfalen ernsthafte und konkrete Diskussionen in den Landtagen, ein Bibliotheksgesetz zu verabschieden.

54 | S. ebd., S. 132. 55 | S. ebd., S. 388f.

VI. Kulturelle Bildung | 239 lichen gesetzlichen Regelungen zu den Musikschulen.56 Lediglich in sechs Ländern existiert einschlägiges Gesetzesrecht: in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen und Sachsen-Anhalt. In den anderen Ländern werden die Musikschulen aufgrund von Richtlinien, Erlassen oder Verordnungen gefördert. Auch gibt es keine einheitlichen Zuordnungen der Musikschule zu den Bereichen Schule oder Jugendbildung: Während es in Brandenburg ein eigenes Musikschulgesetz gibt, werden in Baden-Württemberg die Aufgaben und Ziele im Jugendbildungsgesetz geregelt und in Bayern, Berlin und Sachsen-Anhalt in den allgemeinen Schulgesetzen. Letztlich sind die Musikschulen als Bildungseinrichtungen eigener Art einzuordnen, die Elemente des Schulwesens, der Jugendbildung und der außerschulischen Kulturellen Bildung vereinen. Hauptziel der Kulturpolitik sollte es in Zukunft sein, das Musikschulwesen aus dem rechtlichen Status der »freiwilligen Leistung« herauszuführen unter Beachtung der Gestaltungsfreiheit der Kommunen als Element gesetzlicher Regelungen. Dabei können die gesetzlichen Regelungen auch das Zusammenwirken der Musikschulen mit den allgemeinbildenden Schulen auf eine gesicherte Basis stellen.57 Gerade bei knappen Kassen sollten die Kommunen ihrer Verantwortung für die Kulturelle Bildung als pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe nachkommen. Die Länder sollten sich an der Finanzierung des Musikschulwesens stärker beteiligen, denn es handelt sich dabei eindeutig um eine öffentliche Bildungsaufgabe, bei der der Staat in der Verantwortung steht. (c) Jugendkunstschule: Die überwiegend kommunal getragenen und oft auch in die Musikschulen integrierten öffentlichen Jugendkunstschulen ermöglichen in ihren sowohl spartenbezogenen als auch spartenübergreifenden Angeboten die unterschiedlichsten Formen eigener künstlerischer Tätigkeit. Kunstschulen sind durch ihren inhaltlichen Kern inspirierende öffentliche Einrichtungen, die unterschiedlichste Zugänge zu Bildender Kunst erlauben: betrachtend, reflektierend und vor allem selbsttätig handelnd. Ebenso wie die Musikschulen sind auch die Kunstschulen Elemente der Jugend-, Bildungs- und Kulturarbeit. Dabei zeichnet Jugendkunstschulen meist aus, dass sie die spezifischen Interessenlagen von Kindern und Jugendlichen in ihren symbolischen, sinnlichen und medialen Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen aufnehmen und als Brücke zu einer kreativen Auseinandersetzung mit allen Formen zeitgenössischer Kunst nutzen.58 56 | S. im Einzelnen Scheytt, 1989. 57 | Eine solche Regelung fehlt noch bei dem Projekt Jedem Kind ein Instrument, so dass hier nach Haushaltslage der beteiligten Kommunen unterschiedliche Ausgestaltungen anzutreffen sind bis hin zu der Tatsache, dass sich einzelne Städte aufgrund Finanzknappheit an dem so wichtigen Projekt erst gar nicht beteiligen.

58 | S. Enquete-Schlussbericht S. 398f.

240 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent Als grundlegende gesetzliche Regelung kann § 11 Abs. 3 des KJHG angesehen werden, der Kulturelle Bildung als Element der Kinder- und Jugendhilfe konstituiert. Daher fi nden sich auch in den Ländern Regelungen etwa in Jugendfördergesetzen, Landesjugendplänen oder auch in den Weiterbildungsgesetzen. Doch sollten auch die Kunstschulen wie die Musikschulen durch spezifische gesetzliche Regelungen als Institutionen der Kulturellen Bildung rechtlich auf eine fundierte Basis gestellt werden. Der Deutsche Städtetag hat festgestellt, dass das spartenübergreifende Konzept der Jugendkunstschulen und kulturpädagogischen Einrichtungen in besonderer Weise geeignet ist, dem aktuellen und künftig noch zunehmenden Bedarf nach Kooperation und Vernetzung von Angeboten der kulturellen Kinder- und Jugendbildung in den Stätten zusätzliche Substanz, Kontur und Dynamik zu verleihen. Die Interdisziplinarität des Angebotes nach dem Motto »alle Künste unter einem Dach«, die Vielfalt der Vermittlungsmethoden und Lernmilieus (Kurse, Projekte, offene Angebote) sowie die Gleichrangigkeit der Vermittlung kultureller, künstlerischer und sozialer Kompetenz sind besondere Kennzeichen des Jugendkunstschulwesens.59 (d) Kulturelle Erwachsenenbildung: Gerade angesichts der demografischen Entwicklung gewinnt die Kulturelle Erwachsenenbildung zunehmend Relevanz. Sie fördert Schlüsselkompetenzen wie Kreativität, Flexibilität, Kommunikations- und Innovationsfähigkeit, also Fähigkeiten, die lebenslang von Bedeutung sind. Diese Schlüsselkompetenzen dürfen keineswegs ausschließlich unter der Perspektive der »Beschäftigungsfähigkeit« betrachtet werden, sondern sind wesentlich als Voraussetzung für die »Gesellschaftsfähigkeit« anzusehen.60 In Deutschland ist eine flächendeckende Infrastruktur allgemeiner Weiterbildung gegeben. Als Bestandteil hat die Kulturelle Erwachsenenbildung die unterschiedlichsten institutionellen Kontexte. Zu den klassischen Weiterbildungseinrichtungen, in denen kulturelle Weiterbildung einen festen Stellenwert besitzt, zählen die Volkshochschulen, gewerkschaftliche, freie und kirchliche Bildungseinrichtungen sowie die Landes- und Bundesakademien. Doch leider haben sich verglichen mit dem Angebot vor zwei Jahrzehnten die Anteile am Gesamtangebot der Volkshochschulen inzwischen deutlich zu Ungunsten der Kulturellen Bildung entwickelt.61 Dieser Tendenz ist gegenzusteuern. Gerade angesichts der wachsenden Anzahl älterer Menschen wächst der Bedarf an Kultureller Erwachsenenbildung. Weiterbildung sollte in der 59 | S. dazu auch Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen (Hg.), Jugendkunstschule. Das Handbuch. Konzepte. Strukturen. Organisation, Unna 2003 sowie Scheytt, Kulturrecht, 2005, Rn. 591ff.

60 | S. Enquete-Schlussbericht, S. 400. 61 | S. ebd., S. 403.

VI. Kulturelle Bildung | 241 allgemeinen Bildungspolitik nicht auf einen verengten Begriff beruflicher Weiterbildung reduziert werden. Kulturelle Erwachsenenbildung muss gleichwertig mit arbeitsmarkt- und berufsbezogener Weiterbildung sowie der Kulturellen Bildung von Kindern und Jugendlichen von den Ländern gefördert werden – dies sollte sich in entsprechenden gesetzlichen Regelungen und den zugehörigen Verordnungen der Länder ausdrücken. Kulturelle Erwachsenenbildung ist durch eine institutionelle Sockelfinanzierung abzusichern. Auch die Kultureinrichtungen können in der Kooperation mit Weiterbildungseinrichtungen einen Beitrag zur Kulturellen Erwachsenenbildung leisten. Ebenso wie für die Kulturelle Bildung von Kindern und Jugendlichen ist auch bei der Kulturellen Erwachsenenbildung auf die interkulturellen Kompetenzen verstärkt Wert zu legen. Der interkulturelle Austausch wird immer wichtiger. Die interkulturelle Bildung stärkt die Kommunikationsund Dialogfähigkeit sowie die Bereitschaft, sowohl kulturelle Gemeinsamkeiten als auch kulturelle Unterschiede zu erkennen und zu akzeptieren. Damit werden die eigenen Werte und Standards nicht verleugnet. Vielmehr ermöglicht interkulturelle Bildung, sich der eigenen Identität immer wieder neu bewusst zu werden und gleichzeitig einen ergebnisoffenen Austausch über die Frage zu führen, wie das Zusammenleben in Zukunft gestaltet werden kann.62

3. A USBAU

UND

A K TIVIERUNG

Die Kulturelle Bildung ist das entscheidende Feld der kulturellen Grundversorgung im Kulturstaat Deutschland (Kap. VI/3.1), das dringend landesgesetzlicher Regelungen bedarf, um diesen unverzichtbaren Aufgabenbereich aus dem Status der »freiwilligen Leistung« herauszuführen (VI/3.2). Durch und mit Kultureller Bildung kann die Kulturkompetenz eines jeden Kulturbürgers aktiviert werden. Ziel einer aktivierenden Kulturpolitik ist es daher, die Vielzahl der unterschiedlichen (potenziellen) Akteure und Institutionen Kultureller Bildung durch eine strukturpolitische Offensive in ihrem Engagement andauernd zu motivieren (VI/3.3). 3.1 Kulturelle Grundversorgung

In der Gewährleistung der kulturellen Infrastruktur ist eine wesentliche Aufgabe von Staat und Kommunen zu sehen.63 Dies gilt in besonderer Weise für die Infrastruktur der Kulturellen Bildung, die eines aktiven staatlichen und kommunalen Handelns bedarf. Kulturelle Bildung liegt 62 | S. ebd., S. 406f. 63 | S. dazu Kap. IX.

242 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent im besonderen öffentlichen Interesse. Dabei unterhalten Staat und Kommunen nicht nur selbst Einrichtungen Kultureller Bildung, sondern befinden sich in einem Wechselspiel mit anderen Trägern wie Kirchen, privaten Vereinen, freien Trägern der Jugendhilfe oder auch Förderern der Kulturellen Bildung. Sämtliche Aufgaben in der Kulturellen Bildung sind auf Langfristigkeit angelegt − auch dann, wenn freie Träger und Partner der öffentlichen Hand Verantwortung übernehmen. Auf der Basis einer Analyse der vorhandenen Infrastruktur Kultureller Bildung vor Ort lässt sich das Angebot im Sinne einer flächendeckenden kulturellen Grundversorgung auf bauen und sichern. Mittels des kulturpolitischen Grundmodells, das oben64 entwickelt worden ist, kann in den folgenden vier Schritten die Grundversorgung mit Kultureller Bildung reflektiert und defi niert werden: Aus dem öffentlichen Auftrag (a) erwächst ein Qualitätsanspruch (b), der durch staatliches Handeln zu garantieren ist. Diese Verantwortung kann auch in Partnerschaft (c) mit Bürgern, Wirtschaft und anderen Trägern eingelöst werden und erfordert eine entsprechend (langfristig) gesicherte Ausgestaltung (d) durch ein allgemein zugängliches und qualitätsvolles Angebot Kultureller Bildung. (a) Öffentlicher Auftrag: Da Kulturelle Bildung in sehr vielfältiger Form angeboten werden kann, bedarf es zunächst einer politisch verantworteten Definition des öffentlichen Auftrags als Grundlage des kulturpolitischen Handelns. Angesichts finanzieller Engpässe und einer nicht immer hinreichend differenzierten kulturpolitischen Diskussion gerät dieser Auftrag bisweilen aus dem Blickfeld: Immer noch wird Kulturelle Bildung von kommunalen Aufsichtsbehörden, Kämmerern, Innenministern, Juristen etc. als eine »freiwillige Leistung« apostrophiert, die bei knappen (kommunalen) Finanzen abzubauen sei. Der notwendige Schritt, zunächst den öffentlichen Auftrag zu diskutieren und festzulegen, spielt dann kaum mehr eine Rolle, da die kategorische Einordnung der Aufgabe als »freiwillig« eine vertiefte Diskussion und Herausarbeitung der Auftragslage von vornherein als überflüssig oder nicht notwendig erscheinen lässt. Doch schon die oben skizzierten aktuellen Entwicklungen im Schulwesen (»Ganztagsschule«, »Jedem Kind ein Instrument«, »Schulen ans kulturelle Netz« etc.) lassen deutlich werden, dass Kulturelle Bildung offensichtlich doch eine unerlässliche Aufgabe des öffentlichen Bildungswesens ist und daher die Kategorisierung als »freiwillig« verfehlt ist. Deshalb ist immer wieder – von Land zu Land, von Kommune zu Kommune – der öffentliche Auftrag, der mit den Angeboten Kultureller Bildung erfüllt werden soll, vorab diskursiv herauszuarbeiten, um dann ein fundiertes Gesamtsystem für das

64 | Kap. III/1.4.

VI. Kulturelle Bildung | 243 jeweilige Bundesland und die jeweilige Kommune auf der Basis der jeweils bereits vorhandenen Infrastrukturelemente zu entwickeln. (b) Qualitätsanspruch: Aus dem öffentlichen Auftrag erwächst ein Qualitätsanspruch zur Ausgestaltung des Systems und der Angebote der kulturellen Grundversorgung in der Kulturellen Bildung. Denn der öffentliche Auftrag kann nicht »irgendwie« erfüllt werden, sondern bedarf der Diskussion und Festlegung von Standards, die mit dem jeweiligen System erfüllt werden sollten.65 Dabei geht es nicht nur um inhaltliche Angebotskataloge, sondern auch um Ausstattungsstandards, Anforderungen an Räumlichkeiten und vor allem um personelle Ressourcen und Qualifikationen. Diese Anforderungen gilt es für die einzelnen Felder der Kulturellen Bildung zu spezifizieren, so gibt es etwa für das Musikschulwesen den Strukturplan des Verbandes deutscher Musikschulen, der grundsätzliche Vorgaben für die Ausgestaltung von Musikschulen, ihre Grundstruktur, ihr Fächer- und Unterrichtsangebot, die Qualifikation des Leitungs- und Lehrpersonals etc. enthält. Gerade auch mit Blick auf die Unterschiede von Bundesland zu Bundesland in den Strukturen und Rahmenbedingungen sowie die unterschiedlichen Erfahrungen mit Kultureller Bildung nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa, hat die Enquete-Kommission die Einrichtung einer Bundeszentrale für Kulturelle Bildung empfohlen, die zu einem Erfahrungsaustausch und zu einer bundesweiten Qualitätsdebatte auch auf der Basis einer fundierten Forschung zu den Wirkungen und Methoden Kultureller Bildung einen entscheidenden Beitrag leisten könnte, zumal die Kultusministerkonferenz in diesem Bereich fast auf ganzer Linie versagt.66 Die öffentlich verantworteten Angebote und Einrichtungen der Kulturellen Bildung müssen letztlich mit präzisen inhaltlichen Zielprojektionen versehen werden, die auf ein qualitätsvolles und umfassendes Angebot abzielen unter Einbeziehung der von Fall zu Fall in das staatlich verantwortete System integrierten privaten Anbieter und Akteure. (c) Verantwortungspartnerschaften: Zur Erfüllung des öffentlichen Auftrages können Verantwortungspartnerschaften mit Dritten eingegangen werden. Schon bei der Selbstbeteiligung der Nutzer der Einrichtungen – etwa in Form von Unterrichtsgebühren an Musikschulen oder Jugendkunstschulen – entsteht eine Partnerschaft. Kulturelle Bildung wird aber nicht funktionieren, wenn sie allein der Privatinitiative von Eltern, der freiwilligen Initiative von Kommunen oder einzelnen Schulen und Lehrkräften überlassen bleibt. Wie oben dargestellt existieren bisher im gesamten Bildungssystem und auf zahlreichen Feldern Kultureller Bildung noch zu wenig kontinuierliche und umfassende Programme und Angebote. Diese in allen Institutionen und in 65 | So auch Enquete-Schlussbericht, S. 85. 66 | S. ebd., S. 398.

244 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent allen Genres der Kulturellen Bildung vorhandenen Defizite lassen sich nur mittels einer groß angelegten strukturpolitischen Offensive der Länder im Zusammenwirken mit den Kommunen abbauen. Dabei gibt es vielfältige Möglichkeiten, Akteure aus der Gesellschaft, kirchliche Träger und Institutionen aus dem Dritten Sektor in (dauerhafte) Partnerschaften zu integrieren. (d) Ausgestaltung: Die erforderliche strukturpolitische Offensive muss alle möglichen Felder der Ausgestaltung der Infrastruktur für die Kulturelle Bildung erfassen. Wesentlich sind zunächst eindeutige gesetzliche Regelungen, die die Angebote der Kulturellen Bildung aus dem Status der »freiwilligen Leistung« herausführen. Dies gilt insbesondere für das Musikund Jugendkunstschulwesen (s. dazu sogleich unter Kap. VI/3.2). Die Kulturelle Bildung bedarf der Investition der Länder, da diese nach der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung im Kulturstaat Deutschland die Hauptverantwortlichen für das Bildungswesen sind. Obwohl die Länder immer wieder ihre Kulturhoheit gerade im Blick auf den Bildungssektor betonen, haben sie die Kulturelle Bildung schon innerhalb des Schulwesens sträflich vernachlässigt, aber auch kaum dafür gesorgt, dass außerhalb des Schulwesens eine umfassende und tragfähige Infrastruktur entstanden ist. Dies haben sie den zunehmend von Finanzknappheit geplagten Kommunen überlassen und stufen sodann durch ihre Innenministerien die entsprechenden Leistungen der Kommunen als »freiwillig« und damit bei finanziellen Kürzungszwängen als disponibel ein. Die dringend erforderlichen (zusätzlichen) Budgets sollten im Bildungsetat der Länder veranschlagt werden, nicht im wesentlich kleineren Kulturetat, denn Kulturelle Bildung ist integraler Bestandteil von Bildung und eine Querschnittsaufgabe verschiedener Politikfelder; Entsprechendes sollte auch auf kommunaler Ebene geprüft und erprobt werden. Eine verstärkte Qualifizierung des Personals ist bei allen beteiligten Akteuren und Institutionen eine der vordringlichsten Aufgaben – etwa in Kindertageseinrichtungen und an Grundschulen, im Hinblick auf den Gruppenunterricht an Musikschulen oder im Bereich der Medienpädagogik an Schulen. 3.2 Gesetzliche Regelungen

Im Bereich Bildung und Erziehung ist der staatlichen Gemeinschaft ein hohes Maß an Regelungskompetenz zugewiesen, von der sie in unterschiedlicher Art und Weise in den verschiedenen Bildungssektoren Gebrauch macht. Grundsätzlich regelt der Staat durch Spezialgesetze, Rechtsverordnungen und – auf örtlicher Ebene – Satzungen, welche Institutionen mit welchen Aufgaben und mit welchem Personal vorgehalten werden.

VI. Kulturelle Bildung | 245 Die kommunale Kulturpolitik ist allein nicht in der Lage, die Aufgabe »Kulturelle Bildung« vollständig zu bewältigen. Für alle Bundesländer sind daher entsprechende Förderungs- und Qualifizierungsprogramme, Curricula und vor allem klare gesetzliche (Rahmen-)Regelungen einzufordern. Kulturelle Bildung muss grundsätzlich als Pflichtaufgabe gesetzlich normiert werden, um diesen Bereich aus der Kategorie der Freiwilligkeit herauszulösen. Die Länder könnten so endlich mit ihrer vielbeschworenen »Kulturhoheit« ernst machen, Schwüren Taten folgen lassen. Landesgesetze zur Kulturellen Bildung sind auch deshalb unverzichtbar, weil so unterschiedliche Bereiche wie Schule, außerschulische Bildungsangebote, Kultureinrichtungen und offene Jugendarbeit an dieser Aufgabe beteiligt werden. Anknüpfungspunkte finden sich in Schulgesetzen, in (neueren) Musikschulgesetzen (z.B. Brandenburg) oder Jugendbildungsgesetzen (z.B. Baden-Württemberg). Ein Weg besteht darin, für die einzelnen Einrichtungen je spezifische Bestimmungen zu erlassen, wofür es, wie oben (Kap. VI/2.5) dargestellt, bereits eine Reihe von Beispielen in den Ländern gibt. Eine bisher jedoch noch in keinem Bundesland praktizierte und sehr weitreichende zukunftsorientierte Lösung bestünde darin, ein alle Bereiche Kultureller Bildung erfassendes Gesetz zu verabschieden. Gesetzliche Regelungen zur Kulturellen Bildung sind so zu gestalten, dass die Privatinitiative und das städtische Engagement eingebracht werden können. Die fachpolitische und -praktische Sichtweise der Bereiche Schule, Jugendhilfe und Kultur ist zugunsten integraler Ansätze zu überwinden. Kulturelle Bildung muss auf alle Sparten der Kultur ausgedehnt werden. Im Mittelpunkt aller Anstrengungen müssen die Kinder und Jugendlichen stehen. Auch um die Zusammenarbeit von Ländern und Kommunen auf eine fundierte Basis zu stellen, sollten gesetzliche Regelungen zur Kulturellen Bildung erlassen werden. Diese Regeln sollten Klarheit über die Verantwortlichkeit im Blick auf die Finanzierung im Wechselverhältnis von Schule, Land und freien Trägern schaffen. Erforderlich ist dabei eine präzise Aufgabenabgrenzung mit entsprechenden Finanzierungsregelungen. Für die Kommunen sollte die gesetzliche Regelung deklaratorischen Charakter haben. Es kann hier nicht darum gehen, neue fi nanzielle Pflichten ohne Erstattung durch die Länder zu begründen. Vielmehr muss Kulturelle Bildung für Land und Kommune insgesamt zur Pflichtaufgabe gemacht werden. Deshalb sollte Folgendes gesetzlich geregelt werden: •



Kulturelle Bildung wird als öffentliche Aufgabe anerkannt. Sie wird erfüllt durch die Kooperation von Kindergärten und Schulen mit anderen Trägern Kultureller Bildung. Ein vielfältiges Angebot soll so verlässlich für Kinder und Jugendliche bis in den Nachmittag hinein gewährleistet werden. Zur Finanzierung der Kulturellen Bildung muss vom jeweiligen Land

246 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent













aus den Mitteln für das Ganztagsangebot ein besonderes Budget bereitgestellt werden. Musikschulen und Bibliotheken werden, vor allem soweit sie das Angebot von Kindergärten und Schulen qualifizieren und ergänzen, Pflichtaufgaben der Gemeinden. Ihre Aufgaben, wie auch die der (Jugend-) Kunstschulen, werden gesetzlich definiert und auch in das Ganztagsangebot der Schulen einbezogen. Durch die Kooperation von Kindergärten und Schulen mit der Musikschule soll jedem Kind und Jugendlichen eine musikalische Grundausbildung und das Spielen eines Musikinstruments ermöglicht werden. Das gilt vor allem auch für Kinder einkommensschwacher Eltern. Die Zusammenarbeit mit Bibliotheken soll das Interesse von Kindern und Jugendlichen an Büchern und anderen Medien fördern, um damit die Lesekompetenz zu verbessern. Ebenso ist die Arbeit von Schul- und städtischen Bibliotheken stärker zu verzahnen. Jugendkunstschulen bzw. die Musikpädagogik erhalten im Alltag von Kindertageseinrichtungen und Schulen einen festen Platz. Über den Rahmen von Klassenfahrten und Projektwochen hinaus soll eine enge Kooperation nachhaltig Wahrnehmungsfähigkeit und Ausdrucksmöglichkeit von Kindern und Jugendlichen verbessern. Das kreative Potenzial von freien Trägern, Künstlern, Musikern ist für die Kulturelle Bildung in Kindergärten und Schulen zu nutzen. Künstlerische Arbeit wird so für Kinder und Jugendliche konkret erfahrbar. Sie sorgt für mehr Lebendigkeit und fördert das praktische Tun. Zum Zwecke der Kooperation können die einzelnen Kindergärten und Schulen mit anderen Trägern Kultureller Bildung, aber auch mit einzelnen fachlich qualifizierten und/oder pädagogisch geeigneten Personen (Kunst, Musik, Tanz, Theater usw.) Verträge über gemeinsame Aktivitäten abschließen. Wenn entsprechend pädagogisch qualifiziertes Fachpersonal bei den Trägern Kultureller Bildung vorhanden ist, sollte es grundsätzlich in Unterricht und Betreuung einbezogen werden. Soweit die Kooperation von Kindergärten und Schulen mit den Trägern Kultureller Bildung zu einer Erweiterung des Angebots am Nachmittag führt, kann – in Anlehnung an die Regelung für Horte – von den Eltern ein geringes, nach Einkommen gestaffeltes Entgelt erhoben werden.

Auf Basis der Landesgesetze und -programme können Kommunen und ihre Kultureinrichtungen dafür verantwortlich gemacht werden, ausreichende Ressourcen und Räume für Kulturelle Bildung und die Vermittlungsarbeit zur Verfügung zu stellen. So lässt sich die notwendige strukturpolitische Offensive für die Kulturelle Bildung bewirken. Die aktuelle Erweiterung der Ganztagsangebote, die finanziellen Mittel, die dafür bereitgestellt wur-

VI. Kulturelle Bildung | 247 den67 und werden, bedeuten einmalige Chancen, das Element »Kulturelle Bildung« nachhaltig zu stärken. Um diese Chancen zu nutzen, müssen aber auch die Allianzpartner der Kulturpolitik in der Bildungs-, Schul- und Jugendpolitik ein Bewusstsein für die Bedeutung Kultureller Bildung haben. 3.3 Leitlinien für eine aktivierende Politik

Mein Plädoyer lässt sich wie folgt zuspitzen: Eine aktivierende Kulturpolitik braucht gerade in der Kulturellen Bildung Mut: Mut zur Individualität, um Strukturen auf die individuellen Prozesse Kultureller Bildung auszurichten; Mut zum Konflikt, um Qualität durchzusetzen; Mut zur rechtlichen Regelung, um Kulturelle Bildung langfristig systemisch zu sichern. Die finanziellen, rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen sind politische Gestaltungsfaktoren und reale Qualitätsbedingungen für die Kulturelle Bildung. Aktivierende Kulturpolitik sollte diese Rahmenbedingungen auf der Basis eines integralen Ansatzes im Wechselspiel von Kultur, Schule und Jugendbildung so in den Blick und in Angriff nehmen, dass eine Infrastruktur entsteht, die dem Individuum alle Möglichkeiten künstlerischer und kreativer Entfaltung in den verschiedenen Lebenslagen eröffnet. So kann Kulturelle Bildung als ein Schlüssel zur Chancengleichheit einen entscheidenden Beitrag zur Teilhabegerechtigkeit leisten.68 Als Leitlinie hat »Kultur für alle« im Sinne eines möglichst chancengleichen Zugangs zur Kulturellen Bildung und den (vorhandenen) kulturellen Einrichtungen Bestand, doch darf gerade unter den heutigen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen dieser Grundsatz keinesfalls im Sinne von »Meine Kultur für alle« interpretiert oder ausgeübt werden. Erforderlich ist ein sensibler Umgang mit den spezifischen Fähigkeiten und Bedürfnissen der Individuen, gerade der nachwachsenden Generation und angesichts der in der Gesellschaft vorhandenen kulturellen Vielfalt. Kulturelle Bildung muss das Dauerstadium von Modellversuchen und Modellprojekten endlich hinter sich lassen. Statt Versuchen brauchen wir Institutionen, statt Einzelengagement brauchen wir umfassend qualifiziertes und motiviertes pädagogisches Personal, statt Modellen brauchen wir Kontinuität. Die Modelle müssen in Serie gehen. Das Schulwesen ist grundsätzlich der umfassendste Träger Kultureller Bildung, wird jedoch seiner Aufgaben in diesem Feld nur unzureichend gerecht. Eine aktivierende Kulturpolitik spielt die verschiedenen Träger intensiv aufeinander ein – mit allen Genres Kultureller Bildung: Musik, 67 | In der 15. Legislaturperiode waren das allein 4 Mrd. Euro aus Bundesmitteln.

68 | S. Thierse, Wolfgang, Vielfalt, Teilhabe und öffentliche Verantwortung, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 113 (II/2006), S. 39ff.

248 | Kulturstaat Deutschland, Teil 2: Kontent Kunst, Theater, Tanz, Film und Video, Literatur, Geschichte, Architektur und Design. Die Schulen können dabei die Chancen, die in der Ausweitung des Ganztagsangebotes liegen und zusätzliche Ressourcen bieten, aktiv nutzen. Dazu gehört auch der Einsatz von Künstlern an Schulen, die den Schülern neue Chancen zu eigener künstlerischer und schöpferischer Arbeit eröffnet. Durch die Verknüpfung der Schulen mit den kommunalen Kultureinrichtungen im Sinne von »Schulen ans kulturelle Netz« können vor Ort – durch Bundes- und Landesförderung flankiert – zahlreiche bisher noch nicht genutzte Potenziale ausgeschöpft werden. Kultureinrichtungen können schulische Angebote im musisch-kulturellen Bereich nicht (komplett) ersetzen, aber wesentlich ergänzen. Kultureinrichtungen wie Museen, Theater, Opernhäuser, Konzerthäuser, Orchester sind ihrerseits in viel stärkerem Maße durch kulturpolitische Aufträge und Zielsetzungen zu verpflichten, Vermittlungsarbeit ernst zu nehmen und dafür hinreichende sachliche und personelle Ressourcen einzusetzen. Als angemessene Richtgröße erscheint ein Etatanteil von fünf Prozent, der bisher in Deutschland allerdings selten erreicht wird. Den Kultur-, Bildungs- und Jugendpolitikern ist ein neues Denken abzufordern. Alle sollten sich in ihren jeweiligen Feldern für einen integralen Ansatz Kultureller Bildung engagieren. Sie sollten • • • •

• • •

• • •

positive Beispiele Kultureller Bildung an den Schulen herausarbeiten; Kulturelle Jugendbildungsangebote in das Gesamtprogramm aktiv einbeziehen; Bauinvestitionen so ausrichten, dass auch Räume für kulturelle Aktivitäten geschaffen werden; Schulkultur-Büros einrichten, um die Arbeit zu verstetigen und die Schulen sowie alle weiteren Partner bei der Realisierung der Kulturellen Bildung zu unterstützen; Schulkulturarbeit zu einer ständigen Aufgabe der Lehrerfortbildung entwickeln; Veranstaltungsreihen wie beispielsweise Schultheaterfestivals organisieren; Preise zur Schulkultur, zur Kinder- und Jugendkultur stiften und herausragende Leistungen von Kindern und Jugendlichen in den Fächern der Kulturellen Bildung prämieren; Publikationen zur Schulkultur (Schulkultur-Jahrbuch, SchulkulturZeitschrift) initiieren; den Ausbau des Ganztagsangebotes an den Schulen nutzen, um das musisch-kulturelle Bildungsangebot zu stärken; Angebote gerade auch für ältere Menschen als wesentlichen Bestandteil der Infrastruktur Kultureller Bildung generieren.

Teil 3: Konsens

Wir müssen uns im Rückblick und im Ausblick fragen: Haben wir überhaupt einen Standpunkt, wenn sich Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik schlichtweg auf alles erstreckt und bezieht? Sehen wir nicht mitunter Kulturpolitik gar als »Heilslehre« aller Politiken, als das Zentrum der Politik schlechthin? Haben wir uns nicht in unserer »Allkulturlehre« bisweilen überschätzt oder übernommen? Wie können wir uns in der Vielfalt und Allgegenwärtigkeit von Kultur kulturpolitisch orientieren und Pluralität unterstützen, ohne schlichtweg alles zu fördern? Wie kommen wir zu (Mehrheits-)Entscheidungen über anspruchsvolle kulturpolitische Programme? Wie lässt sich in der Entgrenzung von Kunst und Kultur überhaupt eine Position finden, von der aus wir den öffentlichen Gestaltungsauftrag, der Kulturpolitik innewohnt, definieren? Vielfalt und Vervielfältigung führen nicht selten zu einer Beliebigkeit des Kulturbetriebes,1 der kaum mehr widerborstig ist oder provoziert, dem das Avantgardistische, Aufregende und Anregende abhanden gekommen zu sein scheint. Der »Stillstand der Kultur bei forciertem Betrieb«2 ist vielerorts ebenso kennzeichnend wie die Hatz nach dem Event und eine zunehmende Festivalisierung der Städte. Umso wichtiger erscheint es, das Zielsystem öffentlicher Kulturpolitik zu reflektieren. Aus Verfassungs- und Gesetzestexten lässt sich nur eine grundsätzliche Verpflichtung von Staat und Kommunen zur Kulturförderung ableiten. Das »Ob« öffentlicher Kulturförderung ist damit (weitgehend) geklärt, doch das »Wie« ist (zum Glück?!) nicht gesetzlich normiert, sondern der Entscheidung unterschiedlichster Akteure überlassen: Parlamenten und Gemeindevertretungen, Kulturbeauftragten und -dezernen1 | Peter Rose hat dies so ausgedrückt: »Das Politische an der Kulturpolitik scheint allmählich in einem großen kommerzialisierten und medial vermittelten Beliebigkeitsbrei von Kunst und Kultur zu verdampfen«, Rose, Peter, Alte, neue und ganz neue Kulturpolitik, in: Scheytt, Oliver/Zimmermann, Michael (Hg.). Was bleibt? Kulturpolitik in persönlicher Bilanz, Essen 2001, S. 75ff., 78.

2 | Diese Sentenz stammt von Hajo Cornel, Stillstellung der Kultur bei forciertem Betrieb – von der »Kultur-für-alle« zur »Kultur-für-alles«, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 41 (II/1988), S. 36f.

Teil 3: Konsens | 251 ten,3 Jurys und Institutsdirektoren etc. Diese Entscheidungen bedürfen einer Mehrheit, sind idealerweise vom einmütigen Konsens getragen. Die Beschlüsse über Ressourcen, Recht und Personal, Strukturen, Prozesse und Programmatik sind die »Stellschrauben« öffentlicher Kulturpolitik. Ganz entscheidend sind daher die »demokratischen Prozesse«, die mit dem Verstellen dieser Schrauben verbunden sind. Der intersubjektive Konsens über Kunst und Kultur, der dabei herzustellen ist, birgt nicht nur Chancen, sondern auch erhebliche Gefahren für deren Entfaltung. Denn Kunst und Kultur sind wie kaum ein anderer Gegenstand von Politik auf Subjektivität angewiesen. Kunst ist immer individuelle Setzung, und Kultur zielt auf Entfaltung des Individuums. Politik aber ist immer kollektive Vereinbarung und zielt auf Verwirklichung von Mehrheiten. Kulturpolitik kommt – so wie Kunst – nicht ohne Position aus. Doch für ihren Standpunkt muss Kulturpolitik Mehrheiten schaffen, um sich durchzusetzen. Für Kulturpolitik ist die Mehrheit konstitutiv, für die Kunst indes nicht. Kulturpolitik basiert auf Gemeinsinn, denn sie sucht und braucht den (kollektiven) Konsens in Politik und Öffentlichkeit. Kreative Kräfte und Milieus sind Grundlage für die Entwicklung von Kunst und Kultur. Sie alleine reichen aber nicht. Nur die mutige Zuspitzung, der Mut zur Subjektivität und zu Eigensinn bringt uns Innovation und Inspiration, die im Ringen um Identität und Qualität als entscheidende Zielsetzungen der Kunst- und Kulturentwicklung unverzichtbar sind. Eigensinn ist aber die Voraussetzung für Gemeinsinn, denn Gemeinsinn setzt Urteilsfähigkeit bei den Bürgern voraus. Wenn viele »eigensinnige Individuen« gemeinsam einen kulturpolitischen Standpunkt teilen, entsteht Macht, gibt es die notwendige Mehrheit, die wir immer wieder für Entscheidungen zur Kulturförderung oder zur Einrichtung und Unterhaltung von Kulturhäusern, Theatern, Museen, Orchestern, Musikschulen, Jugendkunstschulen oder Bibliotheken brauchen. Die Kardinalfrage von Kulturpolitik lautet daher: Wie erlange ich einen möglichst weitreichenden tragfähigen intersubjektiven Konsens über die Programmatik und ausreichende Ressourcen sowie gleichzeitig über einen möglichst großen Spielraum für subjektiven Ausdruck und die Entfaltung des Individuums? Die Kulturelle Öffentlichkeit ist ein wesentliches Gestaltungsfeld einer Kulturpolitik im aktivierenden Kulturstaat (dazu Kap. VII). Kulturpolitische Transparenz und nachprüf bare Maßstäbe sind entscheidende Effekte der in kultureller Öffentlichkeit geführten Zieldiskussion. Diese mündet in kulturpolitische Programme und »Kulturpolitische Leitlinien«, die letztlich auch Ergebnis gelungener kulturpolitischer Konsensbildung 3 | Zur Denk- und Arbeitsweise von Kulturdezernenten s. das Buch von Scheytt/Zimmermann, 2001, das mehr als 30 persönliche Erfahrungsberichte über mehrere Jahrzehnte kommunaler Kulturpolitik in Deutschland enthält.

252 | Kulturstaat Deutschland sind. 4 Auf dieser Basis lassen sich Kreative Allianzen stiften, die indes nur dann Bestand haben, wenn die Verantwortlichkeiten geklärt sind (s. dazu Kap. VIII). Ein kulturpolitischer Konsens ist wesentliche Grundlage dafür, dass Ressourcen umfassend mobilisiert und Partner nachhaltig motiviert werden können, um letztlich die kulturelle Grundversorgung und die kulturelle Infrastruktur zu gewährleisten (s. Kap. IX).

4 | Dafür ist ein ebenso demokratischer wie langwieriger Weg zu empfehlen: In Essen hat der Stadtrat nach fast zweijähriger intensiver Diskussion 1997 Kulturpolitische Leitlinien beschlossen, die in der Politik das Bewusstsein für eine qualitätsvolle Kunst, Kultur und Kulturpolitik gestärkt haben und ein wesentlicher Faktor der kulturellen Entwicklung Essens bis hin zur erfolgreichen Kulturhauptstadtbewerbung waren.

VII. Kulturelle Öffentlichkeit

Wenn »Kultur als Politikfeld« betrachtet wird,1 geht es im Kern darum, wie mit dem kleinen Etat des Kulturhaushaltes möglichst viel bewirkt werden kann, wobei dieser – so ist die Faktenlage – zur Hälfte in Theater, Orchester und Oper fließt. Umso wichtiger ist es, sich mit gesellschaftlichen Fragestellungen auseinanderzusetzen, aber auch immer danach zu fragen, wie jenseits dieser gebundenen Finanzmittel neue Herausforderungen mit den Mitteln von Kunst und Kultur bewältigt werden können. Die Frage »Tun wir das Richtige?« kann nur im Dialog und Diskurs mit den gesellschaftlichen Kräften und den Individuen beantwortet werden. Dabei hat Kulturpolitik immer wieder die Bezugspunkte von Raum, Zeit und Öffentlichkeit zu beachten: Kulturpolitik bezieht sich auf einen bestimmten Raum (ein Land, eine Region, einen Landkreis, eine Gemeinde), in dem sich die Menschen bewegen und ihre Lebensweise von kulturellen Faktoren bestimmt wird. Diese sind entscheidend vorgeprägt durch geschichtliche Eigenarten der jeweiligen Gebietskörperschaft – etwa kirchliche, ökonomische und gesellschaftliche Traditionen – und die über Jahrzehnte gewachsene und gewandelte Wirtschaftsstruktur. Jede Kulturpolitik agiert im Wechselspiel mit den Öffentlichkeiten, die in Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik bestehen oder neu geschaffen werden (Vereine und Verbände, Foren, Universitäten etc.).2 Kulturpolitik ist also kein »Closed Shop« der öffentlich verantworteten 1 | S. Kap. I. 2 | Nach wie vor lesenswert zur Analyse der verschiedenen Formen der Öffentlichkeit mit der daraus folgenden Erkenntnis, dass es die eine Öffentlichkeit nicht gibt, dieser Begriff mitunter sogar eine »Kampfvokabel« in der Auseinandersetzung verschiedener gesellschaftlicher Schichten und Kreise ist: Negt, Oskar/Kluge, Alexander, Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt a.M. 1972, insbes. S. 17ff., 29ff.

254 | Kulturstaat Deutschland, Teil 3: Konsens und getragenen Institutionen; sie lebt vielmehr vom Diskurs und der Teilhabe zahlreicher Akteure aus der kulturellen Szene und der Bürgerschaft. Für die Gestaltung und die Aktivierung der kulturellen Öffentlichkeit ist daher ein Politikverständnis konstitutiv, in dem Moderation und Vermittlung als Elemente eines »Netzwerkmanagements« und einer »Cultural Governance« eine größere Rolle spielen als bisher. Leitelemente eines in diesem Sinne »aktivierenden Kulturstaates« sind: Kommunikation, Konsensfindung, Kooperation und Koordination.3 Mit diesen vier »K« einer aktivierenden Kulturpolitik sind neue Steuerungsoptionen verbunden, die im Folgenden näher umrissen werden. Kommunikation ist das entscheidende Medium der kulturellen Öffentlichkeit. Es durchzieht das gesamte Konzept der »aktivierenden Kulturpolitik«. Denn nur durch und in Kommunikation kann Kulturpolitik moderieren und vermitteln. Kulturelle Öffentlichkeit entsteht durch und in Kommunikation. Nicht nur die Kulturakteure werden durch Kommunikation angesprochen und motiviert. Auch die Kulturbürger werden mittels Kommunikation dazu bewegt, sich mit Kultur auseinanderzusetzen, Veranstaltungen zu besuchen etc. Kommunikation ist auch grundlegende Voraussetzung für die Gewinnung von Mehrheiten bei politischen Entscheidungsträgern. Auf die Partner im kulturellen Feld ist kommunikativ einzugehen. Kommunikative Fähigkeiten sind unverzichtbar, um im Netzwerk Kulturpolitik zu interagieren, sich darzustellen und bekannt zu machen. Für die meisten Kulturinstitutionen und -administrationen ist das heute selbstverständlich. Dennoch gibt es weiterhin etliche kulturpolitische Akteure, für die Transparenz und Präsenz vor Ort Fremdworte sind. Behördenmentalität (»Wo kommen wir denn dahin?«) und die nachgerade sprichwörtliche »Ein-Weg-Kommunikation« müssen zwingend überwunden werden. Dafür zu sorgen, darauf zu achten, ist eine zentrale kulturpolitische Aufgabe. Durch eine qualifizierte und professionelle Kommunikation entsteht Transparenz und Nachvollzug bei allen am Kulturprozess sowie dessen Förderung und Sicherung Beteiligten. In diesem Diskurs nehmen die Medien eine entscheidende Rolle ein, denn durch Tageszeitungen, Funk und Fernsehen wird der kulturpolitische Diskurs in Bund, Ländern und Kommunen aktiv begleitet und angeregt. Den Medien ist daher besondere Beachtung zu schenken. Besondere Anforderungen sind an die Kommunikation mit Künstlern zu stellen. Kunst ist geprägt von der Eröffnung völlig neuer Kommunikationsmöglichkeiten und -weisen. 4 Die Eigengesetzlichkeiten künstleri3 | Meine Argumentation folgt hier Sievers, Norbert, Netzwerk Kulturpolitik. Begründungen und Praxisbeispiele, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 90 (III/2000), S. 31ff.

4 | Grundlegend dazu Lüddemann, 2007.

VII. Kulturelle Öffentlichkeit | 255 scher Kommunikation und ihre Vielgestaltigkeit bedürfen eines besonders behutsamen und sensiblen Umganges seitens der Kulturpolitik und -verwaltung.5 Kommunikation aktiv zu gestalten, ist mithin durchgängige Aufgabe auch bei den drei weiteren Leitelementen einer aktivierenden Kulturpolitik: • • •

der Konsensfindung durch Zieldiskussion und -vereinbarung (Kap. VII/1); der Kooperation mit und unter den vielfältigen Akteuren des kulturellen Lebens (VII/2); der Koordination und Aktivierung von Netzwerken auf Basis einer eigenen kulturpolitischen Position (VII/3).

1. K ONSENSFINDUNG

DURCH

Z IELVEREINBARUNG

Konsens ist immer weniger ein Gut, das sich allein über einen politischen Wahlakt oder die Formulierung und Kommunikation kulturpolitischer Programme herstellen ließe. Konsens setzt vielmehr einen dauerhaften sachbezogenen Dialog der Beteiligten voraus. Konsensfindung hat allerdings mit der Einsicht zu tun, dass es umso schwieriger ist, Kulturpolitik als Gesamtprojekt zu formulieren, je mehr Akteure sich an ihr beteiligen. Die Akteur-Netzwerk-Strukturen sind von hoher Komplexität und Unübersichtlichkeit, was Bruno Latour, einer der prominentesten Vordenker der »Akteur-Netzwerk-Theorie«, in der Charakterisierung des Begriffs »Akteur« wie folgt beschreibt: »Nicht zufällig stammt dieser Ausdruck, wie auch der der ›Person‹, aus der Bühnenwelt. Weit davon entfernt, einen reinen und unproblematischen Handlungsursprung anzuzeigen, führen beide zu Rätseln, die so alt sind, wie die Institution des Theater selbst […]. Das Wort ›Akteur‹ zu verwenden bedeutet, daß nie klar ist, wer und was handelt, wenn wir handeln, denn kein Akteur auf der Bühne handelt allein. Das Schauspiel versetzt uns sofort in ein dichtes Imbroglio, wo die Frage, wer die Handlung durchführt, unergründlich wird. Sobald das Spiel beginnt, ist […] nichts sicher: Ist es wirklich? Ist es vorgetäuscht? Zählt die Reaktion des Publikums? Wie steht es mit der Beleuchtung? Was machen die Mitarbeiter in den Kulissen? Wird die Aussage des Stücks getreu wiedergegeben oder hoff nungslos verhunzt? Wird die Rolle gut wiedergegeben? Und wenn, wodurch? Was tun die Partner? Wo ist der Soufleur? […] Handeln wird entlehnt, verteilt, suggeriert, beeinflusst, dominiert, verraten, übersetzt. Wenn es von einem Akteur heißt, er sei ein Akteur-Netzwerk, unterstreicht dies vor allem, dass er die Hauptquelle der Unbestimmtheit über den

5 | S. ausführlich dazu Weiss, 1999, S. 105ff.

256 | Kulturstaat Deutschland, Teil 3: Konsens

Ursprung der Handlung darstellt. […] Wie Jesus am Kreuz sollte man von Akteuren stets sagen: ›Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.« 6

Die Gruppe der Kulturakteure und »Kulturarbeiter« besteht nicht nur aus denen, die diesem »Geschäft« in staatlichen und kommunalen Kultureinrichtungen nachgehen. Auch jenseits der Institutionen findet Kultur statt. Kultur ist kein Monopol staatlicher Instanzen, sondern lebt von der Vielfalt der Anbieter auch im freien und kommerziellen Bereich und in der Kulturwirtschaft.7 Öffentliches und privates Engagement gehen ineinander über, können sich auch wechselseitig befruchten. Die Rolle der öffentlichen Hand hat sich daher nachhaltig verändert, sie hat nicht per se die »Leitfunktion«.8 Gemäß dem Leitbild eines »aktivierenden Kulturstaates« ist es eine wichtige kulturpolitische Aufgabe, die Prozesse der Willensbildung offen zu gestalten. Kulturpolitik kommt in mehrfacher Hinsicht eine Vermittlerrolle zu: Sie vermittelt zwischen dem »Wirkungsfeld« und dem »Handlungsfeld« Kultur, also zwischen gesellschaftlicher Situation/ Entwicklung einerseits und staatlichem/kommunalem Handeln im Blick darauf andererseits. Programmatik und Aufgaben sollten daher nicht einseitig festgelegt, sondern im gesellschaftlichen Diskurs herausgearbeitet werden. Die Vermittlerrolle der Kulturpolitik erstreckt sich zunächst darauf, bei der Willensbildung durch eine transparente Gestaltung öffentlicher Diskussionen die zivilgesellschaftlichen Akteure mit einzubeziehen. Dabei kann Kulturpolitik für die Vermittlung zwischen den verschiedenen am Kulturprozess beteiligten Akteuren (Künstlern, Kulturschaffenden, freien Trägern) ebenso sorgen,9 wie sie freie Institutionen, Künstlerorganisationen, Verbände, Bürgerschaften etc. aktiv beteiligen kann. Diese Akteure bringen sich je nach den vorhandenen Möglichkeiten in die kulturpolitische Willensbildung ein. Da im »Handlungsfeld Kultur« zahlreiche nicht-staatliche Akteure mitwirken, sollten Staat und Kommunen für eine Partizipation entsprechende Möglichkeiten schaffen. Allerdings können die im Handlungsfeld Kultur von der öffentlichen Hand selbst verantworteten Einrichtungen, die Förderprogramme und die Veranstaltungen auch Wirkungen entfalten, die über den eigenen Verant6 | Latour, Bruno, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2007, S. 81f.

7 | S. dazu oben, Kap. III/1. 8 | Heinrichs, 2006, S. 284 sieht gravierende Veränderungen für die öffentliche Hand: »Sie hat die über Jahrzehnte bestehende Meinungsführerschaft und Leitfunktion im Kulturbetrieb verloren oder ist zumindest auf dem besten Wege, sie zu verlieren. Kultur und Kulturpolitik haben kaum noch eine gesellschaftspolitische Funktion.«

9 | Weiss, 1999, S. 64ff. sieht Vermittlung als eine Hauptaufgabe von Kulturpolitik.

VII. Kulturelle Öffentlichkeit | 257 wortungsbereich weit hinaus gehen. Besonders weitreichende Wirkungen hat vor allem die Gestaltung von Rahmenbedingungen und Strukturen, die für die freien Kulturschaffenden, die Kulturwirtschaft und die gemeinnützigen Kulturakteure relevant sind. Doch nicht nur für die Vermittlerrolle der Kulturpolitik, sondern vor allem auch für ihre inhaltliche Ausrichtung ist die gesellschaftliche Reflexion konstitutiv. Wie lassen sich programmatische Sätze wie »Kultur für alle«, »Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik« oder auch Handlungsmaximen wie »Kulturelle Vielfalt« und »Autonomie der Kunst« in inhaltliche Programme umsetzen? Damit dies gelingt, müssen individuelle und kollektive Wirkungen von Kultur im jeweiligen Kontext des kulturpolitischen Handelns herausgearbeitet werden. Die in der öffentlichen Kulturpolitik Verantwortlichen sollten gemeinsam mit den Akteuren in der Kulturgesellschaft nicht nur die Wirkungen von Kultur reflektieren, sondern die intendierten Wirkungen auch evaluieren. Die so gestalteten Prozesse kulturpolitischer Willensbildung, die von Reflexion und Evaluation gestützt und begleitet werden, zielen letztlich auf nachvollziehbare Entscheidungen über die Ausrichtung von Einrichtungen, die Kulturförderung und die Durchführung von Veranstaltungen, über die kulturelle Ordnungspolitik und die Kultur-Strukturpolitik. Eines ist deutlich geworden: Akzeptanz ist nicht ex cathedra zu erzielen, sondern bedarf demokratischer Entscheidungsstrukturen und diskursiver Beteiligungsverfahren.10 Für die Kulturpolitik ist es wichtig, einen in diesem Sinne qualifizierenden Weg für die Entwicklung und verbindliche Verabschiedung oder Vereinbarung von Zielen und Strategien zu fi nden. 1.1 Kulturpolitische Ziele

Kulturpolitik sollte mit Konzepten, Strategien und Zielen verbunden sein. Ohne Programmatik werden Kulturverwaltung und Kulturmanagement zur reinen Betriebsamkeit. Kulturpolitische Ziele sind grundlegend für die inhaltliche Ausrichtung sowie die räumliche und zeitliche Orientierung. Ziele sind damit Basis für alle Leitungs- und Steuerungsaufgaben im Kulturmanagement – von der Planung über die Organisation und die Führung des Personals bis hin zur Finanzierung von kulturellen Einrichtungen. Gleichwohl sind die Reflexion von Zielbildungsprozessen und eine systematische Entwicklung von Zielsystemen in Theorie und Praxis von Kulturpolitik und Kulturmanagement noch nicht hinreichend ausgeprägt: Eine Umfrage bei allen Städten mit mehr als 30.000 Einwohnern zur Verwaltungsreform hat ergeben, dass nur 18 % der Städte an einer Leitbild10 | Vgl. dazu Nida-Rümelin, Julian, Demokratie als Kooperation, Frankfurt a.M. 1999, S. 191ff.

258 | Kulturstaat Deutschland, Teil 3: Konsens entwicklung arbeiten.11 Die umfangreichsten Zielkataloge finden sich in Kulturentwicklungsplänen, die sich vor allem seit den 1980er Jahren als Instrumente der Planung und Zielfindung etabliert und als »Kür« der kulturpolitischen Entscheidungen in den jeweiligen Städten gegolten haben. Allerdings ist die Erstellung und Aktualisierung solcher Pläne mit hohem Aufwand verbunden. Zudem haben Kulturentwicklungspläne mitunter einen Umfang und eine Detailtiefe, die den Umgang damit insbesondere in der kulturpolitischen Alltagsarbeit erschweren können. Die Scheu der Kulturakteure und auch der Kulturpolitiker vor diesen Instrumenten ist durchaus verständlich. Doch sollten sich die Beteiligten grundsätzlich auf die Entwicklung und Vereinbarung von Zielen einlassen. Für die Führung von Verwaltungseinheiten und Institutionen im Kulturbereich sind Zielvereinbarungen zwischen den verschiedenen Hierarchiestufen einerseits sowie zwischen Politik und Verwaltung andererseits zu treffen. Die verschiedenen Zielkataloge lassen sich anhand folgender Einteilung ausdifferenzieren:12 •





Die langfristigen Rahmenvorgaben für die einzelnen Kultureinrichtungen sind meist dargestellt in ihren Aufgabenbeschreibungen, die oftmals Grundlage für die Errichtung der Einrichtung waren. Solche Aufgabenbeschreibungen finden sich auch in den Satzungen von Kultureinrichtungen wieder. Sie enthalten kulturpolitische Zielkataloge mit Langfristperspektive, die auch für ein Mission Statement (Wer sind wir? Was tun wir? Wem nützen wir? Wo wirken wir?) konstitutiv sind.13 Kulturpolitische Leitlinien können die Funktion der Orientierung und Vereinbarung über das kulturelle Handeln in einer mittelfristigen Perspektive übernehmen (s. dazu Kap. VII/1.2). Bei den Leitlinien geht es um einen Grundkonsens zwischen den Akteuren und die kulturpolitische Ausrichtung der Arbeit in größeren Handlungsfeldern, also um Zielsetzungen mit meist strategischem Charakter. Die Leitlinien sollten nicht nur einrichtungsbezogen, sondern auch themenorientiert ausgerichtet werden, etwa an größeren Komplexen wie Künste, Geschichtskultur, Bildung und Kommunikation, Kulturwirtschaft etc. Daraus abgeleitet ergeben sich strategische und operative Ziele für das Handeln der Kultureinrichtung(en) in einer eher kurzfristigen Betrach11 | Vgl. dazu Oertel, Martina/Roebke, Thomas, Reform kommunaler Kultur-

verwaltungen. Ergebnisse einer Umfrage von Städten über 30.000 Einwohnern, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 85 (II/1999), S. 42ff.

12 | Vgl. auch Tröndle, Martin, Entscheiden im Kulturbetrieb. Integriertes Kunst- und Kulturmanagement, Bern 2006, S. 226ff.

13 | Heinrichs, Werner/Klein, Armin, Kulturmanagement von A-Z, 2. Aufl., München 2001, S. 278.

VII. Kulturelle Öffentlichkeit | 259 tungsweise (dazu VII/1.3). Sie sind so gesetzt, dass sich ihre Erreichung in der Regel in zeitlicher, quantitativer und ggf. sogar qualitativer Hinsicht überprüfen lässt. Ein kulturpolitisches Steuerungssystem sollte demnach wie folgt aufgebaut werden:14 •





Auf der Grundlage eines Leitbildes für die Entwicklung eines Landes, einer Region, einer Kommune oder Kulturinstitution werden für die einzelnen Handlungsfelder Leitlinien entwickelt. Die kulturpolitischen Leitlinien entsprechen übergeordneten strategischen Zielen für ein Handlungsfeld und werden von dem höchstrangigen kulturpolitischen Gremium verabschiedet (z.B. Rat der Stadt). Aus diesen Leitlinien lassen sich schließlich auch die (jährlichen) Ziele für einzelne Organisationseinheiten und Produkte ableiten.

1.2 Kulturpolitische Leitlinien

Die Vielfalt der Kultur, der Träger und Akteure erfordert angesichts jeweils unterschiedlicher ästhetischer Produkte und gesellschaftlicher Prozesse eine Verständigung über das Programm, das verfolgt werden soll, durch intersubjektive Verfahren. Idealtypisch ist eine in der Öffentlichkeit stattfindende und reflektierte diskursive Auseinandersetzung mit dem Ziel der Verabschiedung von kulturpolitischen Leitlinien, die dann von möglichst vielen Akteuren in der Kulturpolitik (mit-)getragen werden. So lassen sich »streitbare Stimmen« aus den kulturpolitischen »Arenen« zusammenführen.15 Für die kommunale Kulturpolitik sei das folgende Modell exemplarisch beschrieben: Im Rahmen eines öffentlichen Diskurses wird das Leitbild für die zukünftige Entwicklung der Stadt ermittelt. Dieses basiert auf einer gesamtstädtischen Sicht, einer Zusammenschau von so unterschiedlichen Feldern wie Stadtentwicklung, Soziales, Jugend, Bildung, Sport und Kultur. Die Reflexion der »Identität« ist dabei von zentraler Bedeutung. Nur der, der nach der Identität einer Stadt, einer Einrichtung, einer gesellschaftlichen Gruppe usw. fragt und diese zum Orientierungspunkt nimmt, wird den notwendigen umfassenden Ansatz für die Entwicklung tragfähiger kultur14 | Scheytt, Oliver/Kersten, Rüdiger, Steuerung durch kulturpolitische Leitlinien und Ziele, in: Raabe Verlag (Hg.), Handbuch Kultur-Mangagement, Loseblatt, Stuttgart/Berlin 2000.

15 | Pankoke, Eckart, Konzentrieren und Konzertieren. Neue Kulturpolitik zwischen Steuerung und Selbststeuerung, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2006, Essen 2006, S. 321ff., 325.

260 | Kulturstaat Deutschland, Teil 3: Konsens politischer Zielsetzungen finden. Ausgehend von diesem Leitbild werden Leitlinien für die einzelnen kommunalen Handlungsfelder entwickelt. Leitlinien haben Steuerungsfunktionen für die (Jahres-)Ziele, die Programme und Maßnahmen. Für Verwaltung und Politik besteht die Hauptfunktion von Leitlinien darin, Orientierung zu geben, ein gemeinsames Verständnis von den kulturpolitischen Aufgabenstellungen zu entwickeln und schließlich die strategischen Ziele zu klären und zu vereinbaren. Leitlinien bilden auf hohem Abstraktionsniveau somit den Rahmen kulturpolitischen Handelns. Unterhalb der Leitlinien werden in den Kommunen auf der Ebene der Ämter und Institute meist sodann Produktziele beschrieben. Sicherzustellen ist, dass zwischen den Leitlinien und den Zielen der Produkte der Kulturinstitute eine weitgehende Überstimmung oder zumindest eine weitgehende Widerspruchsfreiheit besteht. Entscheidend ist auch der Weg zu den Leitlinien: Der Diskurs über den Leitlinientext innerhalb der kulturellen Öffentlichkeit kann ein neues Bewusstsein für die Bedeutung der Kultur und der kulturellen Entwicklung bei allen Akteuren in Politik, Verwaltung, freier Szene, in der Bürgerschaft und bei den Medien schaffen. Auf dieser Basis kann sodann ein tragfähiger kulturpolitischer Konsens gestiftet werden. 1.3 Zielperspektiven, Reichweiten und Verantwortlichkeiten

Viele Städte suchen ihren Weg in der Veränderung von Betriebsformen für Kultureinrichtungen, deren Spannweite vom Eigenbetrieb bis zur GmbH reicht. Andere ringen tapfer mit dem kommunalen Haushaltsrecht und haben die Budgetierung eingeführt. Solchen unter dem Begriff der »Verwaltungsmodernisierung« zusammengefassten Veränderungen ist die Anstrengung gemeinsam, auf andere Art zu steuern: Nicht nur über den Input (die Ressourcen) wird entschieden, sondern auch der Output (das durch Ziele und Vereinbarungen avisierte Ergebnis) ist Steuerungselement. Dieser Reformprozess mit dem Ziel einer »Neuen Steuerung« hat auch Auswirkungen auf die Einwirkungsmöglichkeiten der Kulturpolitik, die sich insbesondere an folgenden wesentlichen Elementen festmachen lassen: • • • •

ein neues Verhältnis von Politik und Verwaltung; ein neues Verhältnis zwischen Zentralverwaltung und dezentralen Einrichtungen; weitgehende Delegation von Verantwortung sowie Bürgerorientierung und Mitarbeiterorientierung.

Diese Elemente werden im Rahmen eines ganzheitlichen »Neuen Steuerungsmodells« umgesetzt, das in vielen Städten entsprechende Konsequenzen für Kulturpolitik und Kulturverwaltung hat. In einer Kombination traditioneller Elemente der Kulturentwicklungsplanung und der Entwicklung

VII. Kulturelle Öffentlichkeit | 261 von Kulturkonzepten mit wesentlichen Bestandteilen des Neuen Steuerungsmodells lässt sich so die Umsetzung kulturpolitischer Ziele in konkretes Handeln systematisch, konkret und aktiv begleiten und gestalten. Richtig angewandt birgt das Neue Steuerungsmodell reale Chancen für die Optimierung kulturpolitischer Steuerung. Es ermöglicht eine nachvollziehbare Reduktion der Komplexität der vielfältigen kulturgesellschaftlichen Herausforderungen auch unter Beachtung und Beteiligung der kulturellen Öffentlichkeit und der mannigfaltigen Kulturakteure. Wesentlich für ein ganzheitliches Zielsystem ist zunächst, dass nicht nur die finanzielle Entwicklung einer Organisationseinheit reflektiert wird, wie bei den Steuerungssystemen der Vergangenheit, sondern daneben auch weitere steuerungsrelevante Faktoren, wie z.B. Kunden-/Bürgerzufriedenheit, Mitarbeiterinteressen, interne Prozesse und Innovationen in den Zielbildungsprozess einbezogen werden. Es handelt sich dabei um Einflussfaktoren, die den Erfolg einer Organisationseinheit bestimmen.16 Ohne die »hard facts«, wie z.B. die Kosten- und Leistungsrechnung oder die Produktbeschreibungen, für die mittlerweile elaborierte und mit den Kulturverbänden abgestimmte Vorschläge der KGSt existieren, 17 funktioniert Neue Steuerung indes nicht. Für den Auf bau eines durchgängigen Zielsystems ist es erforderlich, sich auf einen einheitlichen Zielbildungs- und Zielvereinbarungsprozess zu verständigen. Bei der Zielbildung und Zielvereinbarung können folgende Grundsätze und Kriterien berücksichtigt werden: •



• • • •

Zeitliche Dimensionen: Wie lange gilt das Ziel? Ist ein nur vorübergehendes Problem gegeben? Handelt es sich um Jahresziele/mittelfristige/langfristige Zielsetzungen? Räumliche Dimensionen: Gilt das Ziel nur für einen Stadtteil, für die Gesamtstadt oder hat es sogar regionale/überregionale Dimension? Ist es ein gesamtstädtisches Ziel? Zielverantwortliche, z.B. Kulturdezernentin, Amtsleiterin. Zielverursacher, z.B. Ratsbeschluss, gesetzliche Änderung. Externe Wirkung: Verbesserung des Angebotes oder Interne Wirkung, z.B. Personaleinsparung.

All diese Sortierkriterien helfen bei der Zielbildung im Einzelnen, aber 16 | Diese Faktoren werden im Rahmen eines ganzheitlichen Zielsystems zu folgenden vier Dimensionen der sogenannten »Balanced-Score-Card« zusammengefasst und vereinheitlicht: 1. Kunde/Bürger, 2. Finanzen, 3. Personal und Geschäftsbetrieb, 4. Innovationen und Entwicklung.

17 | S. dazu Kommunale Gemeinschaftsstelle (KGSt), Von der Kulturverwaltung zum Kulturmanagement im Neuen Steuerungsmodell, Aufgaben und Produkte für den Bereich Kultur, Bericht Nr. 3/1997, Köln 1997.

262 | Kulturstaat Deutschland, Teil 3: Konsens auch bei der Entwicklung eines systematischen und damit für alle Beteiligten nachvollziehbaren und transparenten Zielsystems. Für den Zielbildungsprozess ergeben sich dabei folgende Aspekte: Die strategischen Ziele sollten zunächst in einem systematischen Prozess durch alle Führungskräfte der jeweiligen Organisationseinheit erarbeitet werden. Die Formulierung der gemeinsam getragenen Ziele ist wesentliche Voraussetzung für die durchgängige Identifikation mit den Zielen sowie die gemeinsame Verantwortung zu deren Erreichung. Kriterien für die Bildung von Zielen müssen strategische Bedeutung haben, vorhandene übergeordnete Ziele berücksichtigen bzw. ihnen nicht widersprechen, nach einem günstigen Aufwand/Nutzen-Verhältnis ausgewählt werden und konsistent ausgerichtet, steuerungsrelevant, eindeutig in ihrer Definition, fordernd, aber realistisch sowie messbar sein. Um Zielformulierungen handelt es sich dann, wenn zeitliche Begrenzungen und qualitative und/oder quantitative Endpunkte gesetzt werden können. Wenn dem Charakter nach Daueraufgaben, Qualitätsstandards oder Leitsätze gemeint sind, handelt es sich daher auch nicht um die Formulierung von Zielen. Zudem ist eine Unterscheidung der (Entwicklungs-)Ziele von Rahmenbedingungen notwendig. Die erarbeiteten Ziele stehen in Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu anderen. Daraus ergibt sich, dass Zielkonflikte transparent gemacht bzw. aufgelöst werden oder beim Festlegen der Zielwerte Berücksichtigung finden. Bei aller »Technik« dieser Zielsysteme und ihrer Unterstützung durch ein qualifiziertes Kulturmanagement, das alle modernen Instrumente der Planung und Steuerung, des Controlling und der Evaluation beherrscht und anwendet, sollte die eigentliche Zielsetzung von Kulturpolitik und -management nicht aus dem Blick geraten: Das »Controlling« und damit das Zielsystem von Kulturbetrieben ist letztlich auf die menschliche Existenz mit all ihren Facetten auszurichten: Liebe und Tod, Freude und Trauer, Unterhaltung und kritische Reflexion, Vergnügen und Schock – all dies gehört zu dieser Existenz, an der wir unser Handeln als Kulturverantwortliche auszurichten haben. Dort liegt das Zentrum kulturpolitischer Arbeit, nicht in der Erstellung von Reformplänen für die Verwaltung. Kundenorientierung in diesem Sinne bedeutet Orientierung auf das menschliche Leben schlechthin. Kulturpolitik und Kulturmanagement werden indes leerlaufen, wenn ihre Ziele nicht definiert und reflektiert werden. Ohne Konzepte, Leitlinien und Ziele gibt es keine Orientierung. Da sich die Kulturgesellschaft in einem permanenten Wandel befindet – sich etwa Anforderungen an die Medienkompetenz durch die multimedialen Entwicklungen verändern –, ist diese Orientierung immer wieder neu zu finden.

VII. Kulturelle Öffentlichkeit | 263

2. K OOPER ATION

IN DER

V IELFALT

DER

A K TEURE

Die Begründung von Konsens für kulturpolitische Ziele und kulturpolitisches Handeln gelingt vor allem dann, wenn in der Vielfalt und Komplexität der Akteure und Strukturen die Relationen untereinander kooperativ und partizipativ gestaltet werden. Der gemeinsame Dialog darf keine Alibifunktion für demokratische Politik haben, sondern sollte auf Verbindlichkeit des verhandelten Ergebnisses ausgerichtet sein.18 Kooperative Kulturpolitik hat folgende Ausprägungen: •



• •



Kooperation zwischen verschiedenen Akteuren in der praktischen Kulturarbeit (Zusammenwirken von Musikschule und Philharmonie, gemeinsame Plattform der Freien Theater einer Stadt etc.);19 kooperativer Kulturföderalismus (Zusammenwirken der verschiedenen Ebenen von Bund, Ländern, Städten und Regionen im Kulturstaat Deutschland);20 Allianzen zwischen verschiedenen Politikfeldern (Kultur und Stadtentwicklung, Kultur und Jugend, Kultur und Soziales etc.);21 Allianzen zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft (Verantwortungspartnerschaften, gemeinsame Trägerschaft von Kultureinrichtungen);22 kooperative Arrangements der Kulturakteure, um Politik (mit-)zugestalten (darum geht es im Folgenden).

Diese Formen kooperativer Kulturpolitik gehen zum Teil ineinander über; so gibt es etwa Kooperationen zwischen freien Theatergruppen (Freier Träger in der Zivilgesellschaft) und kommunalen Jugendeinrichtungen (Jugendsektor der öffentlichen Hand). Kulturpolitik bedarf vor allem dann einer partizipatorischen Ausrichtung, wenn sie auf die Begründung von Verantwortungspartnerschaften abzielt.23 Wenn Unternehmen, Privatpersonen, freie Träger, Stiftungen etc. in die Finanzierung oder Mitträgerschaft von Einrichtungen eingebunden werden sollen, bedarf es verlässlicher Absprachen und Prozesse, um die anstehenden kulturpolitischen Entscheidungen über die Programmatik, das Personal und die Ressourcen

18 | Vgl. Wostrak, Annette, Kooperative Kulturpolitik. Strategien für ein Netzwerk zwischen Kultur und Politik in Berlin, Frankfurt a.M. 2008, S. 269.

19 | Diese Form der Kooperation gehört zum Praxisfeld, nicht zum Politikfeld Kultur, wenn auch Politik dafür entsprechende Ziele setzen kann.

20 21 22 23

| | | |

S. dazu Kap. III/2. S. dazu sogleich Kap. VIII. S. ebd. Näher dazu unter Kap. VIII/2.

264 | Kulturstaat Deutschland, Teil 3: Konsens nachvollziehbar und tragfähig zu machen.24 Nur in solchen Strukturen lassen sich (dauerhafte) Partnerschaften stiften. Kooperation kann nicht nur durch eine überzeugende Programmatik, sondern auch durch funktionierende Anreizsysteme, etwa matching funds, motiviert werden. Als Versuch, Ressourcen zusammenzuführen, hat Kooperation einerseits mit Vertrauen, andererseits aber auch mit Ökonomie und der ihr zugrunde liegenden Tauschlogik zu tun. Kooperation wird häufig als Gegenpol zum Wettbewerb (cooperation versus competition) dargestellt. In der ökonomischen Realität liegt jedoch häufig eine Mischung aus beiden vor: Im Einverständnis – kooperativ – werden die Grundregeln abgesteckt, innerhalb derer sich der Wettbewerb abspielt. Kooperationen sind vor allem dann tragfähig, wenn sie auf der Basis eines politisch längerfristig fundierten Konsenses stattfinden. Eine aktivierende Kulturpolitik kann darauf hinwirken, dass es für die Konsensfindung entsprechende Arenen und kooperative Arrangements gibt, innerhalb derer sich die Akteure verständigen und vereinbaren können.25 Aktivierende Kulturpolitik muss sich daher mit den Strukturen und Instrumentarien für ein kooperatives Management auseinandersetzen und kann diese dann gezielt einsetzen.26 Die vier wesentlichen Formen solcher kooperativer Arrangements für verschiedene Träger und Akteure sind: Verbände (a), Beiräte (b), Dialogstrukturen (c) und Netzwerke (d), die in der Praxis in einer Fülle unterschiedlicher Varianten anzutreffen sind: (a) Verbände: Am meisten ausdifferenziert ist das Verbandswesen, an dessen Spitze der Deutsche Kulturrat als Zusammenschluss aller Kulturverbände Deutschlands und die Kulturpolitische Gesellschaft als Vereinigung von rund 1.400 kulturpolitischen Akteuren aus allen Bereichen der kulturellen Öffentlichkeit in Deutschland stehen.27 Die Komplexität der Verbandslandschaft lässt sich schon an der Struk24 | Enquete-Schlussbericht, S. 52. 25 | Den Wandel des Verständnisses in den ostdeutschen Ländern und Kommunen von einem »indoktrinierten Vormundsstaat mit Kommandowirtschaft zur Bürgergesellschaft«, deren Element Kooperation und Netzwerkarbeit ist, beschreiben anschaulich Großmann, Ulf, Retrospektive: Zehn Jahre Umbau einer städtischen Kulturlandschaft sowie Koch, Rüdiger, Wo stehen wir? Anmerkungen aus dem Alltag der kommunalen Kulturpolitik Magdeburgs, in: Scheytt, Oliver/Zimmermann, Michael (Hg.), Was bleibt? Kulturpolitik in persönlicher Bilanz, Essen 2001, S. 188ff. bzw. S. 199ff.

26 | S. dazu Wostrak, 2008, S. 268ff. 27 | Zu den Wirkungsweisen dieses Netzwerkes s. Sievers, Norbert, Verbandsarbeit im Netzwerk der Kulturpolitik, in: Scheytt, Oliver/Zimmermann, Michael (Hg.), Was bleibt? Essen 2001, S. 151ff.

VII. Kulturelle Öffentlichkeit | 265 tur des Deutschen Kulturrates mit seinen acht Sektionen ablesen: Deutscher Musikrat, Rat für Darstellende Künste, Deutsche Literaturkonferenz, Kunstrat, Rat für Baukultur, Sektion Design, Sektion Film und Medien, Rat für Soziokultur und Kulturelle Bildung. All diese Sektionen enthalten ihrerseits jeweils zwischen 7 und über 100 Mitgliedsorganisationen und Verbände, so dass über 200 Verbände im Deutschen Kulturrat zusammengeführt werden. (b) Beiräte: In allen Bereichen und Ebenen des Kulturstaates Deutschland sind Beiräte anzutreffen, wie etwa eine Konferenz aller freien Theater in einer Stadt oder auch generelle »Kulturbeiräte«,28 in denen Vertreter der Freien Szene, der Kulturpolitik und der öffentlichen Kultureinrichtungen zusammenarbeiten. Besonders bedeutsam sind Kuratorien von Kulturinstitutionen, Förderprogrammen, Stiftungen, die mitunter auch eigene Entscheidungsmacht haben. (c) Dialogstrukturen: Als temporäre kooperative Arrangements sind Prozesse anzusehen, in denen für Austausch und Kooperation der Akteure eine Dialogstruktur geschaffen wird. Ein wesentliches Beispiel dafür sind die Arenen zur Entwicklung und Verabredung von Kulturentwicklungsplänen. Die Kulturentwicklungsplanung ist vor allem als Teil der kulturpolitischen Reformen in den 1970er Jahren auf kommunaler Ebene entstanden (Vorreiter waren etwa Osnabrück und Bremen), hat aber inzwischen auch Bedeutung für Regionen und Bundesländer (exemplarisch sei die Kulturentwicklungsplanung für Brandenburg benannt).29 Sie sind Elemente eines strategischen Kulturmanagements, die die verschiedenen Akteure aus öffentlicher Hand, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft zusammenführen. (d) Netzwerke sind ein flexibles, mitunter nicht fest umrissenes Arrangement kooperativer Kulturpolitik. Der Begriff »Politiknetzwerk« dient als »Oberbegriff zur Zusammenfassung aller nicht hierarchischen Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft, in denen mehrere interaktiv verbundene Akteure seitens des politisch-administrativen Systems und der gesellschaftlichen Selbstorganisation mit jeweils eigenen Handlungs-

28 | Die Praxis solcher Beiräte erläutert Vermeulen, Peter, Neuausrichtung kommunaler Kulturförderung, in: Loock, Friedrich/Scheytt, Oliver (Hg.), Handbuch Kulturmanagement & Kulturpolitik, Loseblatt, Berlin 2006ff., B 1.5, S. 12ff.

29 | Einen guten Überblick gibt Wagner, Bernd, Kulturentwicklungsplanung – Kulturelle Planung, in: Klein, Armin (Hg.), Kompendium Kulturmanagement, Handbuch für Studium und Praxis, München 2008, S. 163ff.; vgl. auch EnqueteSchlussbericht, S. 93, der die Kulturentwicklungsplanung als Beispiel einer »Governance in der Kulturpolitik« bezeichnet.

266 | Kulturstaat Deutschland, Teil 3: Konsens orientierungen und Handlungsressourcen beteiligt sind«.30 Netzwerke sind aufgrund ihres Charakters als relativ dauerhafte, aber nicht formal organisierte Systeme eine flexible Grundlage für Kooperationen, können verschiedene Akteure durch praktische Zusammenarbeit, durch Informations- und Erfahrungsaustausch oder auch politische Abstimmungen und Willensbildung integrieren. Im Vordergrund steht dabei die Bereitschaft, sich gegenseitig zu unterstützen. Netzwerke haben allerdings das Manko, dass diejenigen, die bereits Akteure in dem Netzwerk sind, über neu zu gewinnende oder aufzunehmende Mitglieder entscheiden. Gleichwohl bieten sie eine Arena, in der Vertreter verschiedener Interessengruppen auch mit Vertretern der Kulturpolitik und des Kulturstaates zusammenkommen und verhandeln können. Netzwerke bieten die Möglichkeit, neben den organisierten Interessengruppen ggf. auch Einzelakteure in den Prozess der Konsensbildung einzubeziehen, um so etwa deren Sachverstand zur Entwicklung kulturpolitischer Strategien und Ziele zu aktivieren. Den Vorteilen einer Aktivierung von Netzwerken stehen allerdings politische Legitimationsverluste gegenüber, die in der Selektivität von Netzwerk-Entscheidungen, in einer möglichen Verletzung des demokratischen Gleichheitsgebots, in mangelnder Transparenz sowie nicht zuletzt im Verwischen von Entscheidungskompetenzen und Verantwortlichkeiten begründet sind. Folgende Fragen werden bei der Einschaltung von Verbänden, Beiräten und Netzwerken meist in der Sorge gestellt, dass Kulturpolitik nicht zu einer politischen Restgröße verkommen soll: Wie kann Kulturpolitik in Zukunft ihrem demokratisch zu legitimierenden Auftrag nachkommen, wenn sie die Medien und Ressourcen für dessen Ausführung aus der Hand gibt? Würde dies Staat und Kommunen nicht die Aufgabe erschweren, eine am Gemeinwohl orientierte, langfristige Kulturpolitik als Gesamtprojekt zu formulieren und zu praktizieren? Ist damit gerade auf kommunaler Ebene nicht die Erosion der gemeindlichen Selbstverwaltungskompetenz als bürgerschaftliche Politikaufgabe vorprogrammiert? Ist Kooperation in und mit solchen Akteursgruppen nicht lediglich die »Koordination von Mittelmäßigkeit«?31 Letztlich bieten kooperative Arrangements einen konzeptionellen Integrationsrahmen auch für nebeneinander stehende Ansätze. Sie sind dazu geeignet, Interaktionen und Interdependenzen zu erfassen, einen Kommunikationsprozess zu gestalten, der genügend Raum für die aktive Gestaltung von Relationen bietet.32 Oft ist es im Interesse der Kulturpolitik, dass etwa Akteure der Zivilgesellschaft durch Einbezug in solche Arrange30 | Wostrak, 2008, S. 289. 31 | Vgl. Sievers, »Fördern, ohne zu fordern«, 2001, S. 152. 32 | S. dazu auch Wostrak, 2008, S. 319.

VII. Kulturelle Öffentlichkeit | 267 ments »politikfähig« gemacht werden, um sie in ihren Partizipationsmöglichkeiten zu stärken. Aktivierende Kulturpolitik in kooperativen Arrangements hat indes auch mit Spannungsfeldern unter den Akteuren zu tun, die gerade als Kunst- und Kulturschaffende großen Wert auf ihre Autonomie legen, oft aber auch voneinander abhängig sind. Politische Machtverhältnisse werden angesichts der heterogenen Zusammensetzung von Netzwerken, innerhalb derer die Macht selten paritätisch verteilt ist, nicht außer Kraft gesetzt.33 Der Kulturstaat steht somit vor der Aufgabe, seine Rolle mit Blick auf eine aktivierende Kulturpolitik neu zu reflektieren. Ziel ist es, seine Position und Funktion in diesen kooperativen Arrangements und den mit ihnen verbundenen Partnerschaften präzise und verantwortungsbewusst zu umreißen.

3. K OORDINATION

MIT

P OSITION

Koordination meint den Versuch, die differenten Auffassungen und Programme der kulturpolitischen Akteure sowohl in inhaltlicher als auch in finanzieller Hinsicht aufeinander zu beziehen. In einem weiteren Sinne geht es auch darum, die spezifischen »Handlungslogiken« und »Rationalitätsmuster« der Sektoren Markt (Preis/Wettbewerb), Verwaltung (Anordnung/Loyalität), Politik (Konsens/Dissens; Rechts/Links) und Kulturszene (Kreativität/Wunsch nach Unterstützung) aufeinander abzustimmen. Bestehende und berechtigte Konkurrenzen können durch Koordination in sinnvolle Bahnen gelenkt und austariert werden. Für die Koordination bedarf es der Herausarbeitung einer klaren Position des Kulturstaates und der kulturpolitisch Verantwortlichen innerhalb der verschiedenen Netzwerke und im Verhältnis zu den anderen Akteuren. Dies gilt gerade auch für die auswärtige Kulturpolitik, deren Wirkung sich von der Koordination über die Kooperation zur Koproduktion verstärken kann und dabei etwa der Klärung bedarf, mit welchen »Kernbotschaften« sich der Kulturstaat Deutschland im Ausland präsentieren will.34 Auf kommunaler Ebene liegt es nahe, dass die Koordination durch das Kulturdezernat wahrgenommen wird. Für die Aktivierung der kulturellen Öffentlichkeit bieten sich hier – wie eben aufgeführt – verschiedene Arrangements an: Kulturbeiräte, Kulturentwicklungsplanung, Kuratorien bei einzelnen Kultureinrichtungen, Freundeskreise von Theatern, Museen, Bürgerstiftungen etc. Eine aktivierende Kulturpolitik reflektiert auf das jeweilige 33 | Ebd., S. 321. 34 | S. dazu Schneider, Wolfgang, Vom Export zum Netzwerk, vom Event zur Intervention, in: ders. (Hg.), Auswärtige Kulturpolitik. Dialog als Auftrag – Partnerschaft als Prinzip, Essen 2008, S. 23ff., 27f.

268 | Kulturstaat Deutschland, Teil 3: Konsens Handlungs- und Gestaltungsfeld bezogen, welche dieser Arenen und Instrumentarien am besten geeignet sind, um immer wieder neu kulturpolitischen Konsens zu stiften. Wenn Experten aus dem Kunst- und Kulturbereich in die Kulturförderentscheidungen mit einbezogen werden, ist dies auch eine Form der Selbstorganisation von Kulturförderung, die durch die aktivierenden Arrangements in Form von Beiräten und Netzwerken gestützt wird. Letztlich geht es bei den Verhandlungsprozessen zwischen den verschiedenen Akteuren darum, welche Schwerpunkte in der Programmatik und in der Ausgestaltung von Ressourcen und Recht durch Kulturpolitik gesetzt werden sollen. In der kulturellen Öffentlichkeit werden dabei Zielsetzungen angezweifelt, alternative Zielsetzungen entwickelt und es wird die Adäquatheit der kulturpolitischen Praktiken überprüft. Wenn auch die kulturpolitisch Verantwortlichen mit einer eigenen Position in solche Zusammenhänge »hineingehen«, so ist es doch von wesentlicher Bedeutung für eine demokratische und partizipative Gestaltung, diese Position auch zu reflektieren und ggf. unter dem Eindruck des Diskurses zu verändern. Der Mut einer aktivierenden Kulturpolitik, die eigenen Ziele und die eigene Position zur Diskussion zu stellen, ist ein entscheidender Schritt, um Kulturpolitik zu qualifizieren, aber auch zu legitimieren.35 Darin liegt die Chance einer politischen Kultur, die Selbststeuerung als ein intermediäres Feld politischer Öffentlichkeit versteht, das sich auch an den Bedürfnissen und Potenzialen kultureller Kräfte orientiert, sich auf diese aktiv und aktivierend einlässt.36 Aktivierende Kulturpolitik lebt folglich von der Reflexivität; gleichzeitig wird sie nur dann erfolgreich sein, wenn sie Differenz und die Anerkennung von Differenzen als wesentliches Element des kulturpolitischen Diskurses versteht, ja den Streit um Differenz und Anerkennung fördert.37 Das schließt den »Mut zur Subjektivität eigener Entscheidung, zur interessierten und dennoch immer skeptischen Wahrnehmung von Experten wie Publikumsresonanz« mit ein.38 Das Gegenbild wäre, dass Positionen, Ziele und Identitäten starr festgeschrieben würden. Dies widerspräche aber dem Leitbild des Kulturstaates Deutschland und einer aktivierenden Kulturpolitik, die von Pluralität und Individualität, Teilhabe und Solidarität, Transparenz und Offenheit geprägt ist.39

35 | S. dazu auch Mokre, Monika, Kann und soll ein demokratischer Staat Kultur fördern? in: Zembylas, Tasos/Tschmuck, Peter (Hg.), Der Staat als kulturfördernde Instanz, Innsbruck 2005, S. 81ff., 97.

36 | Ähnlich Pankoke, 2006, S. 325. 37 | Mokre, 2005, S. 92f. 38 | Rossmeissl, Dieter, Kultur in der arachnoiden Gesellschaft, in: Scheytt, Oliver/Zimmermann, Michael (Hg.), Was bleibt? Kulturpolitik in persönlicher Bilanz, Essen 2001, S. 124ff., 134.

39 | S. dazu Kap. III/1.2.

VIII. Kreative Allianzen

Kulturpolitik besitzt vielfältige Verbindungslinien und Schnittstellen zu ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräften – und bewegt sich daher in komplexen Verflechtungsstrukturen. Der Partizipationsgedanke der 1970er Jahre kann durch eine stärkere Einbindung der Bürger in die Verantwortung für die Kulturförderung, durch das Engagement ehrenamtlicher Kräfte in Kultureinrichtungen, durch nachhaltige Verabredungen mit der Wirtschaft und durch sonstige Modelle aktiver Mitwirkung der verschiedenen Kulturakteure ganz neues Leben gewinnen. Der aktivierende Kulturstaat handelt nicht nur für sich, sondern setzt auf die Potenziale der Zivilgesellschaft und der an kommerziellen Zielen orientierten Wirtschaft. Eine Aktivierung all dieser Kräfte kann den notwendigen Konsens darüber befördern helfen, dass eine Förderung des kulturellen Lebens in Deutschland unverzichtbar für die Zukunft unserer Gesellschaft ist. Wenn Kulturpolitik im Sinne synergetischer Effekte und eines optimalen Ressourceneinsatzes alle Kräfte aktivieren will, hat sie es daher nicht nur mit der Bereitstellung von Mitteln zu tun, sondern vor allem mit der Gestaltung von Relationen. Darin liegt letztlich die politische Macht einer aktivierenden Kulturpolitik. Das hat eminente Folgen für deren Selbstverständnis. Denn diese Relationen sind eingebettet in Netzwerke, und ein Netzwerk ist eine Struktur, die kein »Oben« und kein »Unten« kennt. Politiknetzwerke sind offenbar konventionellen Systemen der Interessenvermittlung partiell überlegen.1 Eine hoheitlich-etatistische Handlungsweise wird in diesen Zusammenhängen kaum erfolgreich sein. Allianzen basieren vielmehr auf Partnerschaften in Augenhöhe. Das kreative Zusammenspiel aller Akteure des kulturellen Lebens ist das Kapital der aktivierenden Kulturpolitik. Und deren Können zeigt sich

1 | S. dazu auch oben unter Kap. VII/2.

270 | Kulturstaat Deutschland, Teil 3: Konsens darin, die Kreativität, die diese Akteure auszeichnet, auch für tragfähige Allianzen untereinander zu wecken: • • •

für die Künste, die das kreative Leben ausmachen; für die Geschichtskultur, die eine kreative Selbstvergewisserung fördert; für die Kulturelle Bildung, die kreatives Lernen ermöglicht.

Kreative Allianzen sind mithin die entscheidenden Faktoren einer aktivierenden Kulturpolitik. Solche Relationen können vor allem mit anderen Feldern der Politik (Kap. VIII/1), mit der Bürgergesellschaft (VIII/2) und der Wirtschaft (VIII/3) gestaltet werden.

1. A LLIANZEN

MIT ANDEREN

P OLITIKFELDERN

Die strategischen Optionen, die sich mit einer systematischen Kooperation zwischen Kulturpolitik und anderen Politikfeldern verbinden, sind immens. Gleichwohl gibt es bisher in Lehre und Forschung zur Kulturpolitik nur vereinzelte Ansätze zur Analyse solcher kreativer Allianzen – mit Ausnahme der großen Kooperationsfelder Kulturwirtschaft2 und Kulturelle Bildung.3 Kulturpolitik kann vor allem im Zusammenwirken mit der Stadtentwicklungspolitik nachhaltige Effekte erzielen. Dies ist schon in der grundlegenden kulturpolitischen Erklärung von Anfang der 1970er Jahre »Kultur als Element der Stadtentwicklung« des Deutschen Städtetages zum Ausdruck gekommen und hat in der Folgezeit das Denken und Handeln von Kulturpolitikern nachhaltig beeinflusst. 4 Kultur hat insoweit vor allem die Funktion, das »Humanum« in die Stadtentwicklung einzubringen: Sie stellt die Frage danach, ob die Stadtentwicklung hinreichend Möglichkeiten zur sozialen, geistigen und kulturellen Entfaltung des Menschen ermöglicht. Dem liegt die These zugrunde, dass eine Verbindung von ökonomischen und kulturellen Zielen sich nur erreichen lässt, wenn Bildung und Kultur zu einem unverzichtbaren Element der Stadtentwicklung werden.5 Diese kreativen Allianzen zwischen Kultur, Politik und anderen Politikfeldern lassen sich insbesondere in solchen Zusammenhängen stiften,

2 | S. dazu oben Kap. I/2.1 sowie IV/1.3 und 2.3. 3 | S. dazu insb. Kap. VI. 4 | Siehe dazu Meyer, Bernd, Abschied von Illusionen? Zur Kulturpolitischen Programmatik des Deutschen Städtetages, in: Sievers, Norbert/Wagner, Bernd (Hg.) Blick zurück nach vorn. 20 Jahre Neue Kulturpolitik, Essen 1994, S. 75ff.

5 | Ebd., S. 89.

VIII. Kreative Allianzen | 271 in denen es um Profi l und Identität einer Stadt geht, um ihre historischen Traditionen und zukünftigen Eigenarten. Das Erscheinungsbild einer Stadt ist meist maßgeblich von den öffentlichen Kulturbauten geprägt. Museen, Theater, Opernhäuser, Konzerthäuser, Bibliotheken, Volkshochschulen und Musikschulen können zu bestimmenden Bauten für ganze Stadtquartiere werden. Wenn Stadtentwicklung und Stadtplanung diese öffentlichen Kulturbauten zu Kernelementen der Quartiersentwicklung nehmen, kann dies für Jahrzehnte Attraktivität und Ausstrahlung einer Stadt bestimmen. Überall im Kulturstaat Deutschland gibt es gelungene Beispiele, ob sie in den jeweiligen Städten und Regionen als Museumsinsel, Theaterviertel, Kulturpfad, Kulturmeile, Opernplatz oder wie auch immer bezeichnet sein mögen. Entscheidend für die zugrunde liegenden Allianzen zwischen Kultur, Planen und Bauen ist, dass die Verantwortlichen für die jeweiligen Politikfelder in Politik und Verwaltung eng zusammenarbeiten und gemeinsam Zukunftsvisionen entwickeln. Wenn die Stadtführung (Oberbürgermeister, Landrat, kommunale Vertretungskörperschaft etc.) solche Ansätze unterstützt oder gar einfordert, kann dies bedeutsame Effekte haben. Hinzu kommt, dass durch kreativen Allianzen erhebliche zusätzliche Mittel für die Kultur bewegt werden können. Eines der größten und gelungensten Beispiele ist die Internationale Bauausstellung Emscherpark, die von 1989 bis 1999 im Ruhrgebiet alte Industrie- und Zechenareale zu neuen Kulturorten umgewandelt hat und damit auch Basis für die erfolgreiche Bewerbung »Essen für das Ruhrgebiet« um den Titel der Kulturhauptstadt Europas 2010 wurde. Die Allianz zwischen Kultur und Stadtentwicklung hat in der Metropole Ruhr mehrere 100 Mio. Euro aus EU-Strukturfondmitteln in Kulturinvestitionen fließen lassen. Die Allianz zwischen Kultur und Wirtschaft in Form der Kultur- und Kreativwirtschaft ist zu einem der wichtigsten kulturpolitischen Felder geworden. Kulturpolitik verwandelt sich insoweit in »Kulturstrukturpolitik«, weil es hier nicht nur um die finanzielle Förderung einzelner Projekte geht, sondern um die Entwicklung ganzer »Cluster« oder »Branchen« in einer Kombination von Quartiersentwicklung, Wirtschaftsförderung, Arbeitsmarktpolitik etc.6 Von ganz grundlegender Bedeutung ist die Allianz zwischen Kultur und Bildung sowie Jugend, der oben ein gesamtes Kapitel gewidmet ist.7 Diese Allianz kann in Kombination mit den Allianzen zwischen Kultur und Stadtentwicklung sowie Kultur und Wirtschaft/Arbeitsmarktpolitik zusätzliche Stützung und Inspiration gewinnen. Die Entwicklung von Zentren Kultureller Bildung, in die Schulen, Musik- und Kunstschulen, Qualifizierungswerkstätten, Kulturzentren und soziokulturelle Einrichtungen 6 | S. Kap. I/2.1 sowie IV/2.3. 7 | S. Kap. VI.

272 | Kulturstaat Deutschland, Teil 3: Konsens integriert werden, haben sowohl für die Stadtentwicklung als auch für die Arbeitsmarktpolitik erhebliche Effekte. Auch hierfür gibt es viele gelungene Beispiele, gerade auch in kleineren und mittleren Städten.8 Weitere kreative Allianzen können zwischen Kultur und Sozialarbeit entwickelt werden. Seniorenarbeit oder interkulturelle Arbeit ist heute kaum ohne Kulturarbeit mehr denkbar und machbar. Allzu oft werden diese Felder allein unter »sozialen Gesichtspunkten« betrieben und gestaltet. Die Potenziale, die durch ein Zusammenwirken »auf Augenhöhe« genutzt werden können, sind noch nicht immer hinreichend ausgeschöpft. Aus diesen Skizzen kreativer Allianzen zwischen Kultur und anderen Politikfeldern wird deutlich, dass vielerorts bereits Partnerschaften vorhanden sind, die von der Politik zusätzlich angeregt und angestachelt werden können. In all diesen Allianzen ist darauf Wert zu legen, dass Substanz und Eigenwert der Kultur geachtet und gepflegt werden. Auszugehen ist jeweils von einer Bestandsaufnahme der vorhandenen Zusammenarbeit, der bisher eingesetzten Budgets, der funktionierenden Akteur-NetzwerkStrukturen und der personellen Ressourcen, um zielgerichtet Anreize für eine verstärkte Kooperation bieten zu können. Gemeinsame politische Initiativen und gemeinsam verabredete Handlungsprogramme sind letztlich die Qualitätsfaktoren für gelungene kreative Allianzen.

2. A LLIANZEN

MIT DER

B ÜRGERGESELL SCHAFT

Die Debatten zum bürgerschaftlichen Engagement und zum »Dritten Sektor« haben sich in den 1990er Jahren gerade auch im Hinblick auf den Kulturbereich durch eine gewisse Euphorie und durch Enthusiasmus ausgezeichnet.9 Bewegungen zur Veränderung der Gesellschaft starten in der Regel mit einem Überschwang an utopischen Vorstellungen und münden dann in Kompromisse. Bei der »Neuen Kulturpolitik« der 1970er Jahre war das nicht anders. Umso mehr ist es geboten, schon frühzeitig darüber nachzudenken, wo die Fallstricke und Risiken liegen könnten, damit es zu letztlich vernünftigen Kompromissen kommt.10 Ein Legitimationsproblem einer aktivierenden Kulturpolitik, die auf die Kraft privater und kommerzieller Akteure setzt, liegt in der durch weit 8 | So hat Unna im engen räumlichen Zusammenhang mit dem Zentrum für Lichtkunst ein entsprechendes kulturelles Bildungszentrum etabliert, das nicht nur für ein Stadtquartier, sondern auch für die Stadt insgesamt hohe Ausstrahlungswirkung entfaltet.

9 | S. dazu insbesondere das vom Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft herausgegebene Jahrbuch für Kulturpolitik 2000, Essen 2001, das einen Gesamtüberblick gibt.

10 | Vgl. dazu auch den Enquete-Schlussbericht, S. 161ff.

VIII. Kreative Allianzen | 273 verbreitete Vorurteile und Vorbehalte gestützten Unterstellung, dass Allianzen mit Akteuren aus der Kulturgesellschaft einer Privatisierung der öffentlichen Kulturangebote gleichkommen würden. Eine solche Privatisierung wird meist schon in den Fällen angenommen und als problematisch angesehen, wenn öffentliche Kultureinrichtungen von GmbHs oder Vereinen getragen oder in solche überführt werden, obwohl ein Rechtsformwechsel durchaus Vorteile für den Betrieb einer öffentlichen Kulturinstitution haben kann.11 Doch die Aktivierung von kulturellen Netzwerken und Kulturakteuren in Gesellschaft und Wirtschaft muss nicht zur Konsequenz haben, dass Staat und Kommunen sich ihres öffentlichen Kulturauftrages »entledigen«: Zum einen ist in den vorangegangen Kapiteln deutlich geworden, dass der Kulturstaat Deutschland beileibe nicht nur durch die von der öffentlichen Hand getragenen Institutionen, durch die Kulturförderung oder die Kulturveranstaltungen von Bund, Ländern und Kommunen geprägt wird. Vielmehr ist die kulturelle Infrastruktur in Deutschland durch einen kulturellen Trägerpluralismus gekennzeichnet, an dem auch Kulturgesellschaft und Kulturwirtschaft entscheidenden Anteil haben. Zum anderen kann der Kulturstaat Andere in seine Verantwortung für die kulturelle Infrastruktur »hineinnehmen«, tragfähige und langfristig wirkende Verantwortungspartnerschaften12 begründen. Bündnisse für die Kultur, Allianzen mit Akteuren in der Kulturgesellschaft sind unter diesem Leitbegriff immer wieder neu mit Leben zu füllen. Verantwortungspartnerschaften sollten den gesamten »Dritten Sektor« und all dessen Handlungsformen – Vereine, Stiftungen, Bürgerbündnisse, Initiativen, Verbände und Gewerkschaften – einbeziehen. Eine entscheidende Aufgabe der Kulturpolitik ist daher zu klären, ob und wie Verantwortungspartnerschaften begründet werden können. Diese können einen wesentlichen Beitrag zum Zustandekommen oder zur Förderung des jeweiligen Kulturangebotes erbringen. Denn nur vermittels breiter Bündnisse und – auch politischer – Allianzen wird es gelingen, die kulturellen Grundlagen nachhaltig zu sichern und damit alle Entwicklungschancen für Kunst und Kultur zu nutzen. Die von der öffentlichen Hand zu garantierende kulturelle Grundversorgung und Infrastruktur schließt private Partner nicht aus, sondern dezidiert mit ein. Dabei ist nicht nur an Partnerschaften in Form von finanzieller Förderung durch Dritte zu denken, sondern ebenso 11 | Dabei handelt es sich oft lediglich um eine »formale Privatisierung«, jedenfalls dann, wenn die öffentliche Hand bestimmenden Einfluss behält, etwa bei einer Theater-GmbH, an der eine Stadt sämtliche Gesellschaftsanteile hält.

12 | Diesen Begriff verwende ich bereits seit Mitte der 1990er Jahre, um deutlich zu machen, dass der Staat im Zusammenwirken mit Privaten öffentliche Kulturaufgaben erfüllt, sich dabei aber keineswegs einfach der Verantwortung »entledigen« kann. Der Begriff gehört mittlerweile zum »Standardvokabular« der Kulturpolitik.

274 | Kulturstaat Deutschland, Teil 3: Konsens an bürgerschaftliches Engagement im Sinne von Eigenleistung, Freiwilligenarbeit und Ehrenamt als Lebenselixieren der »Bürgergesellschaft«. Hohe kulturpolitische Wirkung können Allianzen zwischen der Kulturpolitik von Staat und Kommunen mit Organisationen und Zusammenschlüssen in der Bürgergesellschaft entfalten. Im vorangegangenen Kapitel13 sind die verschiedenen Organisationsformen der politischen Partizipation beschrieben worden: Verbände und Vereinigungen, Beiräte und Netzwerke. Eine aktivierende Kulturpolitik sollte zum einen eine Befähigungsstrategie verfolgen, um die Akteure und deren Zusammenschlüsse in die Lage zu versetzen, ihre kulturellen Interessen zu artikulieren, an kulturpolitischen Prozessen zu partizipieren und so Kulturpolitik vor Ort mit zu gestalten. Sie sollte zum anderen eine Partnerschaftsstrategie entwickeln, die auf längerfristige Wirkung ausgerichtet sein sollte und nicht nur auf die derzeit handelnden Akteure. Solche Allianzen gehen über politische Mitwirkung hinaus: Es geht um die kontinuierliche Übernahme von Verantwortung für Kulturförderung und -einrichtungen. Dies ist natürlich keine »neue Erfindung«, vielmehr gibt es für auf Dauer angelegte Verantwortungspartnerschaften allerorts Beispiele, die schon jahrzehntelang funktionieren. So werden Musikschulen von Vereinen getragen, die ihre Gründung bürgerschaftlichem Engagement verdanken. Museen werden auf Basis von Vereinbarungen zwischen Kommunen und Privatsammlern oder Vereinen betrieben. Angesichts der Fülle solcher grundlegender Partnerschaften zwischen Kulturstaat und Bürgergesellschaft setzt die Partnerschaftsstrategie der aktivierenden Kulturpolitik nicht nur auf Pflege und Ausbau vorhandener Verantwortungspartnerschaften, sondern auch auf die Begründung und Gestaltung neuer und langfristiger kreativer Allianzen. Basis dafür ist die Bereitschaft gesellschaftlicher Gruppen und auch einzelner Bürger, sich mit persönlichem und finanziellem Engagement in solche Allianzen einzubringen. Da beileibe nicht jeder Kulturbürger in der Lage ist, sich mit eigenen finanziellen und zeitlichen Ressourcen zu engagieren, sollte sich Kulturpolitik keineswegs allein auf die von bürgerschaftlichem Engagement (mit-)getragenen Kulturangebote und -einrichtungen ausrichten.14 Sonst würde sich die bestehende Gefahr der Verallgemeinerung kultureller Ansprüche allein der zum Engagement fähigen gesellschaftlichen Gruppen und damit nur eines Ausschnittes der Kulturgesellschaft realisieren. Die stillste und zugleich effektivste Weise, Herrschaft zu sichern, besteht nämlich darin, unliebsame Themen aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit 13 | S. unter Kap. VII/2. 14 | Mit Negt/Kluge, 1972, S. 22ff. ist darauf hinzuweisen, dass eine »bürgerliche Öffentlichkeit« ganz andere Zusammenhänge und Potenziale hat als eine »proletarische Öffentlichkeit«, sich also Öffentlichkeit und Erfahrung je nach gesellschaftlichem Hintergrund sehr unterschiedlich ausprägen.

VIII. Kreative Allianzen | 275 auszuschließen. Affi rmative Kultur betreibt dann die Dethematisierung gesellschaftspolitischer Probleme, wenn sie ein Bild fördert, das es jenen auf der Sonnenseite leicht macht, deren Schattenseiten nicht zur Kenntnis zu nehmen. Kulturpolitik sollte dagegen einen Diskurs sicherstellen, der den (selbst-)kritischen Blick fördert und Problemlösungen im Auge behält, deren Leitpunkte gesellschaftliche Integration, soziale Gerechtigkeit und kreative Phantasie sind. Eine Ausgrenzung von gesellschaftlichen Kreisen, die − aus welchen Gründen auch immer − nicht in der Lage sind, sich in Bürgerengagements einzubringen, würde einer umfassend angelegten aktivierenden Kulturpolitik zuwiderlaufen. Immer häufiger werden mit Blick auf eine langfristige Konstituierung der Übernahme von Verantwortung Modelle des Bürgerengagements in Form von Stiftungen ins Auge gefasst. Das Stiftungswesen erlebt eine Renaissance. Der Stiftungsboom hat 2005 mit 880 Neugründungen rechtsfähiger Stiftungen des bürgerlichen Rechts einen vorläufigen Höhepunkt erreicht.15 Bis 2010 ist in Deutschland mit einem Erbschaftspotenzial von zwei Billionen Euro zu rechnen. Einen Teil dieses Vermögens als freiwillige Leistung für das Gemeinwohl zur Verfügung zu stellen und gleichzeitig zu Lebzeiten und über den eigenen Tod hinaus seinen eigenen Namen als Stifter unvergessen zu machen, stellt für immer mehr Bürger eine sinnvolle und verantwortungsvolle Alternative dar. Stiftungen haben einen eigenständigen Zweck, meist eine eigene Rechtspersönlichkeit. Stiftungen sind auf Dauer angelegt, das gebundene Stiftungsvermögen soll »ewig lange« der (Kultur-)Finanzierung dienen. Zudem bieten Stiftungen bei entsprechender Ausgestaltung die Möglichkeit, die Funktion der Trägerschaft einer Kultureinrichtung zu übernehmen. Stiftungen sind mithin die nachhaltigsten Formen der Verantwortungspartnerschaft oder auch gänzlich eigenständiger Verantwortungsübernahme in der Kulturförderung. Die Zahl der Stiftungen, die kulturellen Zwecken dienen, steigt stetig: Als Stiftungszweck rangieren Kunst und Kultur an zweiter Stelle bei Neuerrichtungen; rund ein Fünftel der bekannten Stiftungen in Deutschland sind reine Kunst- und Kulturstiftungen.16 Eine aktivierende Kulturpolitik hat insoweit mehrere Aufgaben: • • •

Schaff ung eines stiftungsfreundlichen Klimas in Land, Region oder Stadt, um potenzielle Stifter zu motivieren; weitere Optimierung der rechtlichen, insbesondere steuerrechtlichen Rahmenbedingungen für das Stiftungswesen;17 Zusammenarbeit mit vorhandenen Stiftungen, wechselseitige Infor15 | S. Enquete-Schlussbericht, S. 172. 16 | Näher dazu ebd., S. 172f. 17 | Das am 1.1.2007 in Kraft getretene »Gesetz zur weiteren Förderung des

bürgerschaftlichen Engagements« hat schon erhebliche Verbesserungen bewirkt,

276 | Kulturstaat Deutschland, Teil 3: Konsens





mation und Erfahrungsaustausch, auch um die Wahrnehmung gemeinsamer Aufgaben zu qualifizieren; Gründung von Bürgerstiftungen, die »als Motor der Zivilgesellschaft auf lokaler Ebene das Stiftungswesen demokratisieren« und breiten Kreisen der Bevölkerung die Möglichkeit geben, sich mäzenatisch – auch mit kleineren Summen – zu engagieren;18 Beratung der Kulturschaffenden und -einrichtungen hinsichtlich der Fördermöglichkeiten durch Stiftungen.

Das Stiftungswesen ist mithin eines der größten Entwicklungsfelder für partnerschaftliche Kulturpolitik und -finanzierung in der Zukunft.

3. A LLIANZEN

MIT DER

W IRTSCHAFT

Das Engagement der Wirtschaft sollte sich nicht in der Förderung von Kulturprojekten im Wege des Sponsoring erschöpfen, das der ökonomischen Logik folgt: Kulturengagement als ein Austausch von Leistung und Gegenleistung. Ein nur an ökonomischen Zielsetzungen orientiertes Denken und Handeln führt in die Irre. Hauptziel von Kulturpolitik ist nicht, ökonomische Prozesse zu optimieren, Geld zu sparen, zusätzliche Finanzmittel bei der Wirtschaft zu akquirieren oder Managementprozesse zu gestalten. Hauptziel ist vielmehr, die kulturellen Belange der Menschen zu beachten und zu fördern, vor allem durch entsprechende Angebote für die freie kreative und kulturelle Betätigung. Demzufolge gilt es, wirtschaftliches Handeln insgesamt stärker an kulturellen Zielen zu orientieren: Kultur ist Wirtschaftsfaktor und die Wirtschaft ist ein Kulturfaktor,19 ist selbst Akteur der Kulturgesellschaft. Die Wirtschaft sollte sich im Klaren darüber sein, dass sie selbst ein eminenter Kulturfaktor ist: Ihre Produkte und ihre Produktionsweise prägen entscheidend die Freiräume für kulturelle Betätigung innerhalb und außerhalb des Berufslebens. Besonders evident ist dies bei allen Produkten der Tele-, Elektronik- und Medienindustrie. Der gesamtgesellschaftliche und soziale Nutzen von Kultur, die Rolle von Kulturangeboten für den Einzelnen (Kreativität, Kritikfähigkeit, Reflexionsfähigkeit und Sozialverhalten etc.), sind nicht nur in das Bewusstsein von Öffentlichkeit und Politik, sondern auch der Wirtschaft zu bringen. Das wirtschaftliche Handeln ist kulturell zu durchdringen: Es muss in seiner Verantwortung für Mensch und Umwelt immer wieder neu reflektiert vgl. dazu Enquete-Schlussbericht, S. 174f. sowie S. 177 mit weiterreichenden Handlungsempfehlungen.

18 | Vgl. ebd., S. 173. 19 | Diese Sentenz hat Karl Richter bereits 1985 im Projekt Kultur 90 geprägt, s. Erny, Richard/Godde, Wilhelm/Richter, Karl, Handbuch Kultur 90, Köln 1988.

VIII. Kreative Allianzen | 277 und definiert werden. Insoweit hat der weite Kulturbegriff, verstanden als »wie der Mensch lebt und arbeitet«, zentrale Bedeutung. Wie kaum ein anderes Politikfeld hat Kulturpolitik den Menschen als Ganzes zum Thema. Das einseitig auf Ökonomie ausgerichtete Denken und Handeln vernachlässigt ökologische und kulturelle Notwendigkeiten. Verantwortliches wirtschaftliches Handeln umfasst die Einsicht, dass dieses auch kulturell auszurichten ist, wenn es human sein soll.20 Eine aktivierende Kulturpolitik macht den Akteuren in Wirtschaft und Gesellschaft die Rolle der Kultur als sinnstiftendes Lebenselement bewusst. In kreativen Allianzen mit der Wirtschaft findet die gemeinsame Verantwortlichkeit für das kulturelle Leben ihren sichtbaren und wirksamen Ausdruck. Der Gedanke an einen dem »Contrat Social« für die Gesellschaft insgesamt entsprechenden »Contrat Culturel«21 als Basis für das Zusammenspiel aller öffentlichen und gesellschaftlichen Kräfte im Kulturbereich zielt darauf ab, dass Unternehmen und Wirtschaft Mit-Verantwortung für das kulturelle Leben übernehmen.22 Das bedeutet aber nicht, dass der Staat sich zurückzieht und allen anderen Akteuren das Feld überlässt. Zumal per se keine Verpflichtung der Wirtschaft zu kulturellem Engagement besteht. Die Verantwortung für das »öffentliche Gut« Kultur hat zunächst allein der Staat. Der Staat kann und darf sich daher aus seiner Verpflichtung zur Kulturförderung nicht unter Hinweis auf Sponsoren oder Mäzene lösen, kann und sollte aber durchaus die Wirtschaft an der Kulturförderung beteiligen und Verantwortungspartnerschaften begründen. Die realen »ökonomischen Verhältnisse« der Kulturförderung sind allerdings eindeutig: Die Leistung privater Geldgeber für das öffentliche Kulturleben beläuft sich in Deutschland je nach Schätzung lediglich auf vier bis sechs Prozent der öffentlichen Kulturausgaben. Die Verpflichtung von Staat und Gemeinden zur Kulturförderung wird durch privates Engagement somit allenfalls ergänzt, nicht ersetzt. Allerdings lassen sich Unternehmen nicht im Wortsinne in einen öffentlichen Auftrag »einbinden«, da sie ja freiwillig und eigeninitiativ handeln. Wenn gemeinsame Projekte im Sinne einer »Public Private Partnership«23 anstehen, kann und muss die Kompatibilität dieser Vorhaben mit 20 | S. dazu auch Küppers, Hans-Georg, Das Prinzip Hoffnung, in: Scheytt, Oliver/Zimmermann, Michael (Hg.), Was bleibt? Kulturpolitik in persönlicher Bilanz, Essen 2001, S. 117ff.

21 | So Jean Christoph Ammann (Hg.), Kulturfinanzierung, Dokumentation des Symposions zur Art Frankfurt 95, Regensburg 1995, S. 21 und Loeffelholz, Bernhard Freiherr von, Von der Gewinnorientierung zur Sinnorientierung, in: Hoff mann, Hilmar (Hg.), Kultur und Wirtschaft, Köln 2001, S. 65ff., 77.

22 | Vgl. dazu Kulturkreis der deutschen Wirtschaft im BDI (Hg.), Blaubuch des Aktionskreises Kultur, Bonn 1997, S. 25ff.

23 | Vgl. dazu mit zahlreichen Fallbeispielen Späth, Lothar/Michels, Günter/

278 | Kulturstaat Deutschland, Teil 3: Konsens dem öffentlich definierten Auftrag der Kulturpolitik geklärt werden. Das kann bedeuten, dass die öffentliche Hand gegebenenfalls auch einmal ein Engagement ablehnt und »Nein« sagen muss. »Sponsoring« hat als Schlagwort für die Begründung finanzieller Partnerschaften mit der Wirtschaft nach wie vor Konjunktur. Aus dem Lateinischen abgeleitet bedeutet »spondere«: sich verpflichten, sich verbürgen. Schon die Begriffsbestimmung impliziert die Kernidee einer Sponsorbeziehung: ein partnerschaftliches Verhältnis zweier Parteien. Sponsoring ist die vertragliche Vereinbarung von Leistung und Gegenleistung, ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Noch in den 1980er Jahren mitunter als anrüchig abgetan,24 zählt Sponsoring heute zum willkommenen Finanzierungselement fast einer jeden öffentlichen Kulturinstitution. Und bei Unternehmen zählt Kultursponsoring zum üblichen Instrumentarium im »Marketingmix«, das die klassische Werbung und Verkaufsförderung ergänzt. Mittlerweile setzen zwei Drittel der deutschen Unternehmen Sponsoring als Kommunikationsinstrument ein, wobei das Kultursponsoring direkt hinter dem Sportsponsoring auf Platz zwei rangiert.25 Für Kulturbetriebe und die Kulturarbeit der öffentlichen Hand bietet sich mittels Sponsoring die Chance, mit der Wirtschaft ganz konkrete Verantwortungspartnerschaften einzugehen. Doch sind diese vornehmlich auf einzelne Projekte bezogen. Aufgrund der finanziellen Unterstützung der Kultur wollen die Unternehmen dabei vom Image des Kulturereignisses oder der Kultureinrichtung profitieren und sich durch das Sponsoringengagement bei bestimmten (gemeinsamen) Zielgruppen bekannt machen.26 Sponsoring ist nur ein Element umfassenderer Fundraisingaktivitäten, die darauf abzielen, zusätzliche Ressourcen zu beschaffen, auch ohne dass die akquirierende Organisation immer unbedingt eine Gegenleistung erbringen muss. Fundraisinginstrumente sind neben dem Sponsoring etwa die Akquisition von (Firmen-)Spenden, Stiftungsgeldern und Legatspenden. Durch die Bildung von Freundes- und Förderkreisen können langfristige Effekte erzielt werden, auch im Hinblick auf Allianzen mit Unternehmen. Ausgehend von der Tatsache, dass es für Fundraising, genau wie für Schily, Konrad (Hg.), Das PPP-Prinzip. Die Privatwirtschaft als Sponsor öffentlicher Interessen, München 1998.

24 | 1988 lehnte Jürgen Flimm in einer allerdings auch unglücklich zustande gekommenen Konstellation das Angebot einer Geldspende des Luftfahrtkonzerns Messerschmitt-Bölkow-Blohm mit der Begründung ab, MBB verdiene sein Geld vornehmlich in der Rüstungsindustrie, s. dazu Scheytt, Oliver, Kultursponsoring – Gefahr oder Geldsegen?, in: Demokratische Gemeinde 5/91, S. 12ff.

25 | Vgl. Braun/Gallus/Scheytt, 1996, S. 32. 26 | Vgl. dazu die zahlreichen Beiträge in: Strachwitz, Rupert Graf/Toepler, Stefan (Hg.), Kultur-Förderung: mehr als Sponsoring, Wiesbaden 1993.

VIII. Kreative Allianzen | 279 jedes andere Produkt, einen »Markt« gibt mit besonderen Angeboten und Nachfragen, beruht der Erfolg von Fundraising auf der systematischen Erschließung von Finanzierungsquellen unter Beachtung der Leitfragen: »Von wem wollen wir welche Werte?« und »Welche Gegenwerte bietet die Organisation?« Insofern spielen Angebot und Profi l der Kultureinrichtung eine gewisse Rolle, auch wenn diese zur Erbringung einer Gegenleistung nicht verpflichtet ist. Kreative Allianzen mit der Wirtschaft sollten von der Kulturpolitik ebenso mitgetragen werden, wie von der Philosophie und der Vision der Organisation sowie deren Mitgliedern. Eine systematische Drittmittelakquisition benötigt eine Strategie und Ressourcen. Häufig unterschätzt wird – auch von kulturpolitisch Verantwortlichen –, dass Fundraising- und Sponsoringaktivitäten viel Zeit und personelle Kapazitäten erfordern. Oft wird »eben mal« ein Beschluss in der Politik gefasst, durch Sponsoring und Fundraising die fehlenden Mittel zu akquirieren. Doch schon in der Auf bauphase kann von der Grundsatzentscheidung bis zum Beginn der Maßnahmen ein halbes oder ein Jahr vergehen, bis sich erste Effekte einstellen. Echter wirtschaftlicher Erfolg ist oft erst nach einem weiteren Jahr zu verbuchen.27 Bei allen Chancen, die Fundraising und Sponsorpartnerschaften bieten, ist zu bedenken, dass der Staat sich deshalb nicht aus seiner Verantwortung für die Kulturförderung zurückziehen kann. Manche Hoffnung auf durch Sponsorengelder finanziell gesicherte Großprojekte ist schon geplatzt. Manche Befürchtung, Kulturförderung durch die Unternehmerschaft werde einseitig solche Sparten begünstigen, die einem traditionellen und affirmativen Kulturverständnis entsprechen, ist berechtigt. Die Partnerschaft zwischen Kultur und Wirtschaft sollte sich nicht in finanziellen Vereinbarungen erschöpfen. Ziel sollte es vielmehr sein, tiefergreifende Allianzen zwischen Kultur und Wirtschaft, zwischen Stadt und Unternehmen zu stiften, die umfassender ausgerichtet sind als allein auf den Finanztransfer.28 Wenn Kulturstaat und Wirtschaft an gemeinsamen Zielen arbeiten, wenn es auch gelingt, einen nachhaltigen Transfer von Ideen, von Wissen, von Kreativität, von Image anzuregen, dann gibt es nicht nur die dafür notwendigen Finanzmittel, sondern es kann die Identifi kation mit gemeinsamen konstitutiven Anliegen in einem kulturfreundlichen Klima wachsen. Kulturpolitik kann gerade in den Städten in Allianz mit der Wirtschaft zu einem Motor der Entwicklung des öffentlichen Gemeinwesens werden. Dies hat etwa die erfolgreiche Bewerbung »Essen für das Ruhrgebiet« um 27 | In den USA wird regelmäßig davon ausgegangen, dass auch erfolgreiche Künstler mehr als die Hälfte ihrer Arbeitszeit für das Geldeintreiben einsetzen müssen.

28 | S. dazu auch Weiss, 1999, S. 152ff.

280 | Kulturstaat Deutschland, Teil 3: Konsens die Kulturhauptstadt Europas 2010 gezeigt, in der sich eine ganze Region mit einem auf nachhaltige Wirkung (»Das Ruhrgebiet wird Europas neue Metropole«) ausgerichteten, kulturell durchwirkten Projekt verbündet hat. Dieses Bündnis wäre ohne das intensive Engagement der Wirtschaft nicht so erfolgreich gewesen. Solche Allianzen gelingen vor allem dann, wenn deren Projekte auf eine gesellschaftliche Vision bezogen sind und wenn Kulturpolitik die Partner der Kultur- und Stadtentwicklung damit motivieren kann. Aktivierende Kulturpolitik sollte sich daher auch im Blick auf kreative Allianzen mit der Wirtschaft von der Frage leiten lassen: Wie kann ein identifi kationsfähiges Leitbild für eine kulturgeprägte Landes-, Stadtoder Regionalentwicklung konstituiert werden?

IX. Kulturelle Infrastruktur

Kulturpolitik entfaltet ihre nachhaltigsten Wirkungen mit Blick auf die kulturelle Infrastruktur. Sie ist die Basis – das Fundament – für die Kultur in Deutschland1 und wird von allen staatlichen Ebenen sowie von Markt und Zivilgesellschaft mitgetragen. Ein kulturpolitischer Konsens über die Errichtung und den Erhalt, den Ausbau und die Ausrichtung der kulturellen Infrastruktur hat daher weitreichende Effekte. In der kulturpolitischen Diskussion der letzten Jahre, insbesondere im Rahmen der Arbeit der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland«, wurde der Begriff der »kulturellen Infrastruktur« in Folge einer intensiven Auseinandersetzung mit den Termini »kulturelle Grundversorgung«2 sowie »kulturelle Daseinsvorsorge« als ein zentraler Leitbegriff herausgearbeitet. »Kulturelle Grundversorgung« ist entlehnt aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur »medialen Grundversorgung«, die die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu gewährleisten haben.3 Im europäischen Kontext findet sich eine Reihe von ähnlichen Begriffen in der Verwaltungslehre: Dem englischen Begriff »General Interest Services« entsprechen im Französischen »Les services d’intérét général«, im Italienischen »Servizi d’interesse generale« und im Niederländischen »Diensten van algemeen belang«. 4 In der Grundannahme, dass Kultur ein »öffent1 | Ganz wörtlich übersetzt bedeutet Infrastruktur: Unterbau. 2 | Den Begriff der »Grundversorgung« habe ich Mitte der 1990er Jahre insbesondere mit Blick auf die öffentliche Verantwortung in der Kulturellen Bildung in die kulturpolitische Debatte eingebracht.

3 | Vgl. etwa BVerfGE 73, S. 118ff., 157; näher dazu Jarass, Hans D./Pieroth, Bodo, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 9. Aufl., München 2007, Art. 5 Rn 45 mit weiteren Nachweisen.

4 | Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat 2003 zu diesem Thema ausgeführt: »The concept of services of general interest is understood diffe-

282 | Kulturstaat Deutschland, Teil 3: Konsens liches Gut«5 ist, für das Staat und Kommunen öffentliche Verantwortung wahrzunehmen haben, in die indes auch Partner aus Wirtschaft und Gesellschaft einbezogen werden können, hat der Terminus »kulturelle Grundversorgung« Signalwirkung: Er markiert die Verantwortlichkeit des Staates für die Kultur in Perspektive auf den Bürger. Er ist Adressat der »Grundversorgung« und der »Daseinsvorsorge«. Doch haben in den letzten Jahren die Begriffselemente der »Vorsorge« und »Versorgung« einige Kritik ausgelöst, insbesondere mit Blick auf die Verwendung dieser Begriffl ichkeiten im Zusammenhang mit den Künsten und der Kunstförderung, die nicht der »Versorgung« dienten. Kritiker haben vor einer Verrechtlichung des Kulturbereichs gewarnt, da die kulturelle Grundversorgung nur durch die Gewährleistung von Standards umgesetzt werden könne. Diese Wortwahl habe zu sehr einen Stich ins Fürsorglich-Paternalistische. Kreativität, Innovation, künstlerische und kulturelle Experimente seien auf diese Weise nur schwer zu fassen. Allerdings hat der Begriff der »kulturellen Grundversorgung« insbesondere im Bereich der Kulturellen Bildung (Musikschulen, Jugendkunstschulen, Volkshochschulen etc.) große Akzeptanz und sogar Eingang in gesetzliche Regelungen gefunden (vgl. § 11 Weiterbildungsgesetz NRW).6 Im allgemeinen (kultur-)politischen Sprachgebrauch hat der Terminus der »kulturellen Grundversorgung« inzwischen eine weite Verbreitung gefunden und wird etwa auch in programmatischen Erklärungen der Parteien immer häufiger verwendet.7 Artikel 35 des Einigungsvertrages enthält mit der »kulturellen Substanz«, die durch die Wiedervereinigung keinen Schaden nehmen dürfe, eine verwandte Begrifflichkeit.8 Die Umgestaltung der kulturellen Infrastruktur war in den neuen Bundesländern tatsächlich eine herausragende Aufgabe von gesamtstaatlicher Bedeutung, die auch neue Formen der Kooperation zwischen Bund und (neuen) Ländern hervorgebracht hat.9 rently across the European Union […]. There are, however, some quite similar ideas and closely corresponding situations, reflecting values shared by all European countries« (Opinion of the European Economic and Social Commitee on the »Green Paper of General Interest«), vgl. Enquete-Schlussbericht, S. 84.

5 | Vgl. dazu oben Kap. III/1.2 und III/2.5. 6 | S. zu alldem Heft Nr. 106 (III/2004) der Kulturpolitischen Mitteilungen mit zahlreichen Beiträgen zu diesem Thema sowie Enquete-Schlussbericht, S. 84 und Kap. V des vorliegenden Buches.

7 | Zuletzt in dem im Oktober 2007 beim Parteitag der SPD verabschiedeten Leitantrag zur Kultur.

8 | S. dazu Knoblich, Tobias J., Kulturelle Substanz. Einigungsvertrag und gegenwärtige Kulturpolitik, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 99 (IV/2002), S. 35ff.; ders., Soziokultur in Ostdeutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B12/2003, S. 28ff.

9 | S. Strittmatter, Thomas, Zur Umgestaltung der kulturellen Infrastruktur

IX. Kulturelle Infrastruktur | 283 Der Begriff der »kulturellen Infrastruktur«10 ist als Leitbegriff für eine aktivierende Kulturpolitik indes noch besser geeignet als der Begriff »kulturelle Grundversorgung«, weil er der in diesem Buch verfolgten Gesamtsicht auf das Zusammenwirken von Staat, Markt und Gesellschaft und die verschiedenen Rollen des Bürgers als Souverän, Engagierter und Nutzer voll und ganz entspricht. Er hat sich auch im Verlauf der Arbeit der EnqueteKommission als geeigneter und konsensfähiger Terminus für ein kulturpolitisches Grundmodell herausgeschält, anhand dessen sich die Rolle des Kulturstaates reflektieren, entwickeln und definieren lässt.11 Letztlich geht es um die in diesem Buch immer wieder aufgegriffene Relation zwischen dem aktivierenden Kulturstaat und dem Kulturbürger: die Perspektive auf das Individuum und die Ausrichtung der Infrastruktur auf die einzelne Person, deren Fähigkeiten und Bedürfnisse. Die Bezüge zwischen der kulturellen Infrastruktur – einschließlich der diese Infrastruktur prägenden Akteure in Kulturstaat sowie Kulturgesellschaft – zu den Kulturbürgern sind für die Kulturpolitik von entscheidender Relevanz. Die kulturelle Infrastruktur umfasst nach diesem Verständnis die Angebote aller Kulturakteure – nicht nur die des Staates selbst – an den Einzelnen. Diese Angebote zielen auf etwas, das sich im Englischen vielleicht besser ausdrücken lässt als im Deutschen: auf »Cultural Empowerment«. Das ist schwerlich mit der neoliberalen Konzeption vom »minimalen« oder »schlanken« Staat in Einklang zu bringen. Denn dort werden die gesellschaftlichen Markt- und Selbstregelungskräfte verabsolutiert; die Leitvorstellungen der gesellschaftlichen Inklusion und der Partizipation sozial Benachteiligter treten dagegen völlig in den Hintergrund. Unsere Vorstellung von der Ausrichtung der kulturellen Infrastruktur sollte sich aber auf die Inklusion aller Kulturbürger richten. Dies bedeutet ein Mehr als die Summe der um Verteilungsgewinne konkurrierenden Partikularinteressen. Während ein »schlanker Staat« auf ein Verständnis von kultureller Grundversorgung abzielt, nach dem lediglich elementarste Leistungen durch die öffentlichen Hände vorgehalten werden sollen, geht es in einem wohlverstandenen Konzept des »aktivierenden Staates« um eine kulturelle Infrastruktur, die ein qualifiziertes, rechtlich wie finanziell planvoll gesichertes Angebot an den Einzelnen unter Einbeziehung von Akteuren aus Wirtschaft und Gesellschaft macht. Die Garantie der kulturellen Grundversorgung und der kulturellen Infrastruktur ist also nicht im Sinne eines »schlanken Staates« auszudeuten, sondern sollte von der regulativen Idee getragen sein, die Teilhabe aller und gerade auch der sozial Benachteiligten sicherzustellen. Eine aktivierende in den neuen Bundesländern, in: Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung Nr. 29 (Nov. 1991), S. 62ff.; Enquete-Schlussbericht, S. 200ff.

10 | Dieser Begriff ist in der Kulturpolitik schon länger geläufig, vgl. nur Fohrbeck/Wiesand, Von der Industriegesellschaft zur Kulturgesellschaft?, 1989, S. 32.

11 | S. Enquete-Schlussbericht, insbesondere S. 84ff.

284 | Kulturstaat Deutschland, Teil 3: Konsens Kulturpolitik steht vor der Aufgabe, auch denen die kulturelle Teilhabe zu ermöglichen, die im Hinblick auf Einkommen, soziale Anerkennung und Selbstwertgefühl zu den Schwächeren gehören. Der aktivierende Kulturstaat hat auch dafür einzustehen, dass kulturelle Leistungen und Einrichtungen gerade in schwierigen Zeiten als Infrastruktur gesichert werden. Für diese Garantiefunktion mit dem Ziel einer »Cultural Empowerment« ist entscheidend, dass sich die politisch Verantwortlichen zum einen des öffentlichen Kulturauftrags sowie der sich daraus ergebenden Notwendigkeiten und Verpflichtungen bewusst bleiben und diesen zum anderen in Hinsicht auf die gesellschaftlichen Entwicklungen fortwährend reflektieren. Der öffentliche Kulturauftrag mündet also in einen Kulturgestaltungsauftrag, der aktives staatliches und kommunales Handeln erfordert. Dabei kann der Kulturstaat seine Verantwortung mit Akteuren aus Wirtschaft und Gesellschaft teilen und Verantwortungspartnerschaften begründen, die immer wieder neu mit Leben zu füllen sind. In Anwendung des oben entwickelten kulturpolitischen Grundmodells12 lässt sich der Konsens zur Sicherung der kulturellen Infrastruktur damit in folgenden vier Schritten konstituieren: (a) Öffentlicher Auftrag: Zunächst ist der öffentliche Kulturauftrag unter Berücksichtigung der Spezifi ka des jeweiligen Gestaltungsfeldes der Kulturpolitik (Künste, Kulturelle Bildung, Geschichtskultur) herauszuarbeiten, da er die Basis für den politischen Konsens bilden sollte. Der Infrastrukturauftrag lässt sich mit Blick auf die einzelnen Gestaltungsfelder stichwortartig mit folgenden zentralen kulturpolitischen Auftragsgrößen skizzieren: •





Die kulturelle Infrastruktur sollte im Hinblick auf die Künste dem Experiment Raum geben und den Eigensinn der Individuen stärken. Sie sollte künstlerische und kulturelle Produktion in Offenheit und Vielfalt gewährleisten sowie die Förderung von Innovativem, Irritierendem und Kreativem. Die kulturelle Infrastruktur sollte mit der Förderung der Geschichtskultur die gesamte Spannbreite der Inszenierung von Historie im Spektrum von Aufklärung und Bildung, Wissenschaft und politischer Verantwortung, Ästhetik und spielerischer Aneigung umfassen. Sie sollte auf ein umfassendes Geschichtsbewusstsein abzielen, damit jeder Einzelne Vergangenheit und Gegenwart begreifen und zukunftsorientiert reflektieren kann. Die kulturelle Infrastruktur sollte im Hinblick auf die Kulturelle Bildung so ausgestaltet sein, dass die Kulturkompetenz jedes Einzelnen nach 12 | S. dazu Kap. III/1.4.

IX. Kulturelle Infrastruktur | 285 seinen eigenen individuellen Fähigkeiten optimal gefördert wird. Sie sollte Einrichtungen, Leistungen und Angebote umfassen, die jedem Bürger die Möglichkeit geben, seine individuellen künstlerischen und kulturellen Fähigkeiten frei zu entfalten. Unbedingt sollte die kulturelle Infrastruktur einen offenen und möglichst chancengleichen Zugang zur Kulturellen Bildung mit ihren schöpferischen und künstlerischen Impulsen gewährleisten. (b) Programmatik: Aus diesem Infrastrukturauftrag lässt sich im kulturpolitischen Diskurs eine Programmatik in Form von Zielen und Standards zur Sicherung bestimmter Qualitäten der Infrastrukturleistungen ableiten und festlegen. Ein Element dieser Programmatik sollte in jedem Fall sein, sie an der regulativen Idee der gesellschaftlichen Inklusion zu orientieren im Sinne einer Neuformulierung der Forderung nach »Kultur für alle«: Die Infrastruktur ist einerseits integral, andererseits spezifisch auf das jeweilige Handlungsfeld und die wechselnden Minderheiten der angesprochenen und beteiligten Kulturbürger sowie deren Bedürfnisse auszurichten. (c) Verantwortungspartnerschaften: Im dritten Schritt geht es sodann um die Vereinbarung und Gestaltung von Verantwortungspartnerschaften mit Akteuren aus Wirtschaft und Gesellschaft mit wechselseitiger Bindungswirkung für die öffentlichen Kulturträger und ihre Partner. Zum einen wird der öffentliche Auftrag zum Erhalt der kulturellen Infrastruktur durch die öffentliche Hand selbst wahrgenommen, vor allem in Form der Bereitstellung von Ressourcen und der Ausgestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen. Zum anderen wird der Auftrag dadurch erfüllt, dass die öffentliche Hand ihre grundsätzliche Verantwortung mit anderen Partnern in Gesellschaft und Wirtschaft teilt oder die von privaten und kirchlichen Trägern und Akteuren wahrgenommene Verantwortung unterstützt. Dem Staat wird durch das Zusammenwirken mit anderen seine Gewährleistungspflicht nicht (und schon gar nicht komplett) »abgenommen«; er bleibt in der Grundverantwortlichkeit für die Sicherung der kulturellen Infrastruktur, doch aktiviert er die anderen Partner und Beteiligten zur Übernahme von Verantwortung und zu eigenständigen Beiträgen für den Erhalt und den Auf bau der kulturellen Infrastruktur.13 Gerade durch die aktive Ansprache und Hereinnahme von Bürgern, Stiftungen und Unternehmen in diese Verantwortlichkeit stiftet der Kulturstaat kulturpolitischen Konsens. (d) Ausgestaltung: Schließlich geht es um die Ausgestaltung der kulturellen Infrastruktur im Einzelnen für die unterschiedlichsten Instrumente, die den Beteiligten zur Verfügung stehen, wie die Bereitstellung von Res13 | So auch Enquete-Schlussbericht, S. 85f.

286 | Kulturstaat Deutschland, Teil 3: Konsens sourcen, Fördermitteln, Personal oder auch die Gestaltung der rechtlichen Grundlagen und Rahmenbedingungen. Wenn sich sodann das Leitbild des aktivierenden Kulturstaates und das Konsensziel einer nachhaltig gesicherten flexiblen kulturellen Infrastruktur in einer partnerschaftlichen und flexiblen Ausgestaltung niederschlagen, lösen sich auch Interessenkonflikte zwischen »Obrigkeitsstaat« und »aktiver Bürgergesellschaft« auf. Mit diesem kulturpolitischen Viererschritt wird auch der Sinn für Prioritätensetzung, Rollenklärung und potenzielle Konfliktlinien geschärft – jenseits der kulturtechnologischen Planungseuphorie der 1970er und frühen 1980er Jahre, deren Schematismus einer »Kulturentwicklungsplanung« zweifellos mitunter Elemente des Phantasiefeindlichen und Nervtötenden in sich barg. Eine so konzipierte und in diesen vier Schritten sich zielbewusst neu definierende und entwickelnde aktivierende Kulturpolitik für die kulturelle Infrastruktur hat keinen strukturkonservativen Charakter. Vielmehr ist sie in der Lage, das je spezifische kulturelle Profil des Bundes, des Landes oder der Kommune zu berücksichtigen und zu stärken, mobilen Angeboten, temporären Programmen und kleinräumigen oder zielgruppenorientierten Einrichtungen Rechnung zu tragen sowie Experimentelles und Unvorhergesehenes zu fördern. Die Garantie der kulturellen Infrastruktur gewährleistet letztlich strukturelle und finanzielle Freiräume für die Künste, die Geschichtskultur und die Kulturelle Bildung. Gleichzeitig bietet diese Handlungsweise die Chance, bürgerschaftliche Eigenaktivität produktiv zu machen und die zugleich damit verbundenen Risiken zu begrenzen, liegt doch ein zentrales Problem des Kommunitarismus darin, dass aktive und einflussreiche gesellschaftliche Gruppen einseitig bevorzugt werden. Für den aktivierenden Kulturstaat ist eine steuernde – und das heißt bisweilen auch: gegensteuernde – Funktion demokratisch legitimierter Instanzen konstitutiv. Der Staat bleibt in der grundsätzlichen Verantwortung für die kulturelle Infrastruktur als wesentlicher (Mit-)Gestalter des kulturellen Lebens, vor allem durch Ressourcen und Recht. Die kulturpolitische Debatte in Parlamenten, Gemeinde- und Kreisräten, Kulturausschüssen und -beiräten bleibt dabei das entscheidende Element der kulturellen Öffentlichkeit, der politischen Wahrnehmung und programmatischen Erfüllung dieser Verantwortung. Der öffentliche Diskurs sollte zu einer unentwegten Reflexion der gesellschaftlichen Entwicklungen beitragen, um die kulturelle Infrastruktur immer wieder neu auf die Bedürfnisse der Akteure und der Kulturbürger auch unter Berücksichtigung demografischer Entwicklungen14 auszurichten und kontinuierlich effektive kreative Allianzen zu begründen. Durch eine solche beharrliche aktivierende Kulturpolitik mit einer permanenten Stimulierung der kulturellen 14 | S. dazu nur Sievers, Norbert, Der demografische Faktor und die Kulturpolitik, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 116 (I/2006), S. 32f.

IX. Kulturelle Infrastruktur | 287 Öffentlichkeit lassen sich alle gesellschaftlichen Kräfte motivieren, um die Infrastruktur für die Kultur in Deutschland substanziell zu gestalten und lebendig zu halten.

Literatur

Adorno, Theodor W.: Kultur und Verwaltung, in: Merkur 1960 (144), S. 101ff. Ammann, Jean Christoph (Hg.): Kulturfinanzierung, Dokumentation des Symposions zur Art Frankfurt 95, Regensburg 1995. Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983. Assmann, Aleida: Jahrestage – Denkmäler in der Zeit, in: Münch, Paul (Hg.), Jubiläum, Jubiläum… Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung, Essen 2005, S. 305ff. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006. Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis, München 2007. Bade, Klaus J.: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2002. Baecker, Dirk: Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2007. Bartella, Raimund: Stadttheater in Deutschland – Ein »öffentliches Gut«, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2004, Essen 2004, S. 60ff. Bastian, Hans Günther: Kinder optimal fördern – mit Musik, Mainz 2000. Bauer, Martin: Kultur und Sport im Bundesverfassungsrecht, Frankfurt a.M. u.a., 1999. Beck, Ulrich: Schöne neue Arbeitswelt, Frankfurt a.M./New York 1999. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 1966. Benz, Arthur: Einleitung: Governance – Modebegriff oder nützliches sozialwissenschaftliches Konzept? in: ders. (Hg.), Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen, Wiesbaden 2004, S. 11ff.

290 | Kulturstaat Deutschland Binas, Susanne: Erfolgreiche Künstlerinnen. Arbeiten zwischen Eigensinn und Kulturbetrieb, Essen 2003. Blanke, Bernhard/Bandemer, Stephan von: Der »aktivierende« Staat, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 1999, S. 321ff. Blanke, Horst Walter: Historiker als Beruf. Die Herausbildung des Karrieremusters »Geschichtswissenschaftler« an den deutschen Universitäten von der Auf klärung bis zum klassischen Historismus, in: Jeismann, Karl-Ernst (Hg.), Bildung, Staat, Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Mobilisierung und Disziplinierung, Wiesbaden 1989, S. 343ff. Bockhorst, Hildegard: Schlüsselkompetenzen für die Kunst des Lebens, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 94 (III/2001), S. 47ff. Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a.M. 1996. Bollenbeck, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik, München 2007. Borries, Bodo von: Jugend und Geschichte. Ein europäischer Kulturvergleich aus deutscher Sicht, Opladen 1999. Borsdorf, Ulrich/Grütter, Heinrich Theodor/Rüsen, Jörn: Einleitung, in: dies. (Hg.), Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte, Bielefeld 2004, S. 7ff. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1987. Braun, Günther E./Gallus, Thomas/Scheytt, Oliver: Kultur-Sponsoring für die Kommunale Kulturarbeit, Köln 1996. Buddensieg, Tilmann unter Mitarbeit von Gabriele Heidecker und Sabine Bohle (Hg.): Industriekultur, Peter Behrens und die AEG. 1907-1914, Berlin 1979. Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen (Hg.): Jugendkunstschule. Das Handbuch. Konzepte. Struk turen. Organisation, Unna 2003. Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (Hg.): Kultur Jugend Bildung, Kulturpädagogische Schlüsseltexte 1970-2000, Remscheid 2001. Burmeister, Hans-Peter (Hg.): Schulen ans kulturelle Netz! Kooperationen zwischen kultureller Weiterbildung und Ganztagsschule, Rehberg-Loccum 2004. Cerci, Meral: Daten, Fakten, Lebenswelten – Annäherung an eine (noch) unbekannte Zielgruppe. Datenforschungsprojekt Interkultur, in: Jerman, Tina (Hg.), Kunst verbindet Menschen. Interkulturelle Konzepte für eine Gesellschaft im Wandel, Bielefeld 2007, S. 50ff. Cornel, Hajo: Stillstellung der Kultur bei forciertem Betrieb – von der »Kultur-für-alle« zur »Kultur-für-alles«, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 41 (II/1988), S. 36f.

Literatur | 291 Dahrendorf, Ralf: Aktive Bildungspolitik ist ein Gebot der Bürgerrechte, in: Häberle, Peter (Hg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, Darmstadt 1982, S. 217ff. Deutsche UNESCO-Kommission (Hg.): Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen. Magna Charta der Internationalen Kulturpolitik, Bonn 2006. Deutscher Bühnenverein (Hg.): Muss Theater sein? Fragen – Antworten – Anstöße, Köln 2003. Deutscher Bühnenverein (Hg.): Theaterstatistik 2004/2005, Köln 2006. Deutscher Bundestag (Hg.): Schlussbericht der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland«, Bundestags-Drucksache 16/7000, auch als Nachdruck beim ConBrio Verlag, Regensburg 2008 erhältlich (zit.: EnqueteSchlussbericht, Seitenangabe gemäß BTagsDrs.). Deutscher Kulturrat (Hg.): Konzeption Kulturelle Bildung. Positionen und Empfehlungen, Bonn 1988. Deutscher Kulturrat (Hg.): Konzeption Kulturelle Bildung, Essen 1994. Deutscher Kulturrat (Hg.): Kulturelle Bildung in der Bildungsreformdiskussion, Konzeption Kulturelle Bildung III, Berlin 2005. Deutscher Städtetag: Kulturpolitik in der Stadt der Zukunft – Positionspapier des Deutschen Städtetages vom 18.2.2003. Di Fabio, Udo: Die Kultur der Freiheit, München 2005. Dornheim, Andreas/Greiffenhagen, Sylvia: Identität und politische Kultur, Stuttgart 2003. Eagleton, Terry: Was ist Kultur?, 2. Aufl., München 2001. Ebert, Ralf/Gnad, Friedrich: Integrierte Kultur-Wirtschaft-Politik, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr.119 (IV/2007), S. 37ff. Erny, Richard/Godde, Wilhelm/Richter, Karl: Handbuch Kultur 90, Köln 1988. Erny, Richard/Godde, Wilhelm/Richter, Karl: Kultur 90. Zentralveranstaltung in Essen, Essen 1989. Esch, Christian: Kultur und Alter in der kommunalen Kulturpolitik, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 116 (I/2007), S. 32f. Evers, Adalbert/Leggewie, Claus: Der ermunternde Staat. Vom aktiven Staat zur aktivierenden Politik, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 1999, S. 31ff. Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation, in: ders., Sämmtliche Werke, 1834ff., Nachdr. 1971, Bd. VII, S. 359ff., 396ff. Florida, Richard: The Rise Of The Creative Class: And How It’s Transforming Work, New York 2004. Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Photographie, Göttingen 1992. Fohrbeck, Karla/Wiesand, Andreas Johannes: Der WDR als Kultur- und Wirtschaftsfaktor, Köln u.a. 1989.

292 | Kulturstaat Deutschland Fohrbeck, Karla/Wiesand, Andreas Johannes: Von der Industriegesellschaft zur Kulturgesellschaft? Kulturpolitische Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland, München 1989. Folke Schuppert, Gunnar (Hg.): Governance im Spiegel der Wissenschaftsdisziplinen, in: ders., Governance-Forschung. Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, 2. Aufl., Baden-Baden 2006, S. 371ff. Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg/Galerie Morgenland/ Geschichtswerkstatt Eimsbüttel (Hg.): Geschichtswerkstätten gestern – heute – morgen. Bewegung! Stillstand. Auf bruch? Hamburger Zeitspuren 2, Hamburg 2004. Franck, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit, München/Wien 1998. Franz, Eckhart G.: Archive, in: Maurer, Michael (Hg.), Aufriss der Historischen Wissenschaften. Band 6: Institutionen, Stuttgart 2002, S. 166ff. Freud, Sigmund: Über Träume und Traumdeutungen, Frankfurt a.M. 1971. Fröhlich, Klaus/Grütter, Heinrich Theodor/Rüsen, Jörn (Hg.): Geschichtskultur, Jahrbuch für Geschichtsdidaktik 3, 1991/92, Pfaffenweiler 1992. Fuchs, Max: Kulturpolitik als gesellschaftliche Aufgabe, Wiesbaden 1998. Fuchs, Max: Kulturpolitik im Zeichen der Globalisierung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 12/2003, S. 15ff. Fuchs, Max: Kulturpädagogik und Schule im gesellschaftlichen Wandel – Alte und neue Herausforderungen für die Theorie und Praxis von Bildung und Erziehung, in: Deutscher Kulturrat (Hg.), Kulturelle Bildung in der Bildungsreformdiskussion, Konzeption Kulturelle Bildung III, Berlin 2005, S. 155ff. Fuchs, Max: Kulturvermittlung und kulturelle Teilhabe – ein Menschenrecht, in: Mandel, Birgit, (Hg.), Kulturvermittlung zwischen kultureller Bildung und Kulturmarketing, Bielefeld 2005, S. 31ff. Fuchs, Max: Kulturpolitik, Wiesbaden 2007. Füßmann, Klaus/Grütter, Heinrich Theodor/Rüsen, Jörn (Hg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln 1994. Geis, Max-Emanuel: Kulturstaat und kulturelle Freiheit, Baden-Baden 1990. Geis, Max-Emanuel: Die »Kulturhoheit der Länder«, in: DöV 1992, S. 522ff. Geis, Max-Emanuel: Ergänzung des Grundgesetzes um eine »Kulturklausel«?, in: ZG 7/1992, S. 38ff. Geis, Max-Emanuel: Kulturföderalismus und Eigengesetzlichkeit: Eine juristische Symbiose, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2001, Essen 2002, S. 139ff. Georgi, Viola B.: Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland, Hamburg 2003.

Literatur | 293 Gerchow, Jan: Museen, in: Maurer, Michael (Hg.), Aufriss der Historischen Wissenschaften. Band 6: Institutionen, Stuttgart 2002, S. 316ff. Geyer, Hardy: Kulturbezug des Kulturmarketing, in: Geyer, Hardy/Manschwetus, Uwe (Hg.), Kulturmarketing, München 2008, S. 3ff. Glaser, Hermann: Maschinenwelt und Alltagsleben, Industriekultur in Deutschland vom Biedermeier bis zur Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1981. Glaser, Hermann (Hg.): Industriekultur deutscher Städte und Regionen, München 1984. Glaser, Hermann: Das Verschwinden der Arbeit. Die Chancen der neuen Tätigkeitsgesellschaft, Düsseldorf u.a. 1988. Glaser, Hermann: Die Wiedergewinnung des Ästhetischen unter gegenwärtigen Bedingungen, in: Zacharias, Wolfgang (Hg.), Sinnenreich. Vom Sinn einer Bildung der Sinne als kulturell-ästhetisches Projekt, Essen 1994, S. 341ff. Glaser, Hermann: www. Neugier und Vernetzung. Ein kulturgeschichtlicher Essay, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B41/1999, S. 3ff. Glaser, Hermann: Kleine Kulturgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2002. Glaser, Hermann: »Bürgerrecht Kultur« – eine geistesgeschichtliche Vignette, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2006, S. 127ff. Glaser, Hermann/Stahl, Karl Heinz: Bürgerrecht Kultur, Frankfurt a.M./ Berlin 1983. Glogner, Patrick: Kulturelle Einstellungen leitender Mitarbeiter kommunaler Kulturverwaltungen. Empirisch-kultursoziologische Untersuchungen, Wiesbaden 2006. Goehler, Adrienne: Verflüssigungen. Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft, Frankfurt a.M. 2006. Göschel, Albrecht: Die Ungleichzeitigkeit in der Kultur, Stuttgart u.a. 1991. Göschel, Albrecht: Kultur in der Stadt – Kulturpolitik in der Stadt, in: Göschel, Albrecht/Kirchberg, Volker (Hg.), Kultur in der Stadt, Opladen 1998, S. 229ff. Göschel, Albrecht: Lokale und regionale Identitätspolitik, in: Siebel, Walter (Hg.), Die europäische Stadt, Frankfurt a.M. 2004, S. 158ff. Griefahn, Monika: Nachhaltigkeitspolitik und Kulturpolitik – eine Verbindung mit Zukunft? in: Kurt, Hildegard/Wagner, Bernd: Kultur – Kunst – Nachhaltigkeit, Bonn 2002, S. 59ff. Groß, Torsten/Röbke, Thomas: Modelle regionaler Kulturarbeit (Materialien des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft, 4), Bonn 1998.

294 | Kulturstaat Deutschland Grosse-Brockhoff, Hans-Heinrich: »Was bleibt« ist, dass nichts bleibt – und das ist gut so! in: Scheytt, Oliver/Zimmermann, Michael (Hg.), Was bleibt? Kulturpolitik in persönlicher Bilanz, Essen 2001, S. 274ff. Großmann, Ulf, Retrospektive: Zehn Jahre Umbau einer städtischen Kulturlandschaft, in: Scheytt, Oliver/Zimmermann, Michael (Hg.), Was bleibt? Kulturpolitik in persönlicher Bilanz, Essen 2001, S. 188ff. Grütter, Heinrich Theodor: Bausteine der Geschichte. Die Route der Industriekultur. Industriegeschichte und kulturelles Erbe, in: Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur 1/2004, S. 11ff. Häberle, Peter: Kulturpolitik in der Stadt – Ein Verfassungsauftrag, Heidelberg u.a. 1979. Häberle, Peter: Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, Wien 1980. Häberle, Peter (Hg.): Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, Darmstadt 1982. Häberle, Peter: Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, in: ders. (Hg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, Darmstadt 1982, S. 1ff. Häberle, Peter: Kulturhoheit im Bundesstaat – Entwicklungen und Perspektiven, in: Archiv des Öffentlichen Rechts 1999, S. 549ff. Häberle, Peter: Kulturhoheit im Bundesstaat – Entwicklungen und Perspektiven, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft, Jahrbuch für Kulturpolitik 2001, Essen 2002, S. 115ff. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a.M. 1990. Hanika, Karin/Wagner, Bernd (Hg.): Kulturelle Globalisierung und regionale Identität. Beiträge zum kulturpolitischen Diskurs, Bonn 2004. Heinrichs, Werner: Einführung in das Kulturmanagement, Darmstadt 1993. Heinrichs, Werner: Kulturpolitik und Kulturfinanzierung. Strategien und Modelle für eine politische Neuorientierung der Kulturfinanzierung, München 1997. Heinrichs, Werner: Kommunales Kulturmanagement, Baden-Baden 1999. Heinrichs, Werner: Der Kulturbetrieb. Bildende Kunst – Musik – Literatur – Theater – Film, Bielefeld 2006. Heinrichs, Werner/Klein, Armin: Kulturmanagement von A-Z, 2. Aufl., München 2001. Hermand, Jost: Die Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1965-85, München 1988. Hippe, Wolfgang/Sievers, Norbert: Kultur und Alter. Kulturangebote im demografischen Wandel, Essen 2006. Hippe, Wolfgang/Sievers, Norbert: Kulturpolitik für Europa, in: Kulturpolitische Gesellschaft (Hg.), kultur.macht.europa, Dokumentation des vierten Kulturpolitischen Bundeskongresses, Bonn 2008, S. 11ff.

Literatur | 295 Hobsbawm, Eric/Ranger, Terence (Hg.): The Invention of Tradition, Cambridge 1983. Hoffmann, Hilmar (Hg.): Kultur und Wirtschaft. Knappe Kassen – Neue Allianzen, Köln 2001. Hoffmann, Hilmar: Kultur als Lebensraum, Frankfurt a.M. 1990. Hoffmann, Hilmar: Kultur für alle, Frankfurt a.M. 1979. Hoffmann, Hilmar/Schneider, Wolfgang (Hg.): Kulturpolitik in der Berliner Republik, Köln 2002. Horx, Matthias: Wie wir leben werden. Unsere Zukunft beginnt jetzt, Frankfurt a.M. 2005. Huber, Ernst Rudolf: Zur Problematik des Kulturstaats (1958), abgedr. in: Häberle, Peter (Hg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, Darmstadt 1982, S. 122ff. Hufen, Friedhelm: Gegenwartsfragen des Kulturföderalismus, in: Bayerische Verwaltungsblätter 1985, S. 1ff. Hummel, Marlies/Berger, Manfred: Die volkswirtschaftliche Bedeutung von Kunst und Kultur, Gutachten im Auftrag des Bundesministers des Inneren, Berlin/München 1988. Huster, Stefan: Die ethische Neutralität des Staates, Tübingen 2002. Huster, Stefan: Kultur im Verfassungsstaat, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Bd. 65, Berlin 2006, S. 53ff. Iden, Peter (Hg.): Warum wir das Theater brauchen, Frankfurt a.M. 1995. Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2000. Thema: Bürgerschaftliches Engagement, Essen 2001. Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2001. Thema: Kulturföderalismus, Essen 2002. Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2002/3. Thema: Interkultur, Essen 2003. Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2004. Thema: Theaterdebatte, Essen 2004. Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2005. Thema: Kulturpublikum, Essen 2005. Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2006. Thema: Diskus Kulturpolitik, Essen 2006. Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2007. Thema: Europäische Kulturpolitik, Essen 2007. Institut für Museumsforschung (Hg.): Statistische Gesamterhebung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2005, in: URL: www.museum.zib.de/ifm/mat60.pdf, 2006.

296 | Kulturstaat Deutschland Jann, Werner/Wegrich, Kai: Governance und Verwaltungspolitik, in: Benz, Arthur (Hg.), Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen, Wiesbaden 2004, S. 193ff. Jarass, Hans D./Pieroth, Bodo: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 9. Aufl., München 2007. Jerman, Tina (Hg.): Kunst verbindet Menschen. Interkulturelle Konzepte für eine Gesellschaft im Wandel, Bielefeld 2007. Jeudy, Henri Pierre: Die Welt als Museum, Berlin 1987. Jüchter, Heinz Theodor: Und die Kultur zog lächelnd an uns vorbei – Eine erste Bilanz einer nachhaltigen Kulturpolitik, in: Scheytt, Oliver/Zimmermann, Michael (Hg.), Was bleibt? Kulturpolitik in persönlicher Bilanz, Essen 2001, S. 50ff. Jung, Ottmar: Zum Kulturstaatsbegriff, Meisenheim am Glan 1976. Kaufmann, Michael: Strategien der Besucherorientierung der Philharmonie Essen, in: Kulturpolitische Gesellschaft (Hg.), publikum.macht. kultur. Kulturpolitik zwischen Angebots- und Nachfrageorientierung, Essen 2006, S. 88ff. Keuchel, Susanne: Das Kulturpublikum zwischen Kontinuität und Wandel – Empirische Perspektiven, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2005, Essen 2005, S. 111ff. Keuchel, Susanne: Kulturelle Bildung in der Ganztagsschule. Eine empirische Bestandsaufnahme, Bonn 2007. Keuchel, Susanne/Wienand, Andreas Johannes/Zentrum für Kulturforschung (Hg.): Das 1. Jugend-Kultur-Barometer – Zwischen Eminem und Picasso…, Bonn 2006. Kierdorf, Alexander/Hassler, Ute: Denkmale des Industriezeitalters, Von der Geschichte des Umgangs mit Industriekultur, Tübingen/Berlin 2000. Klein, Armin: Kulturpolitik. Eine Einführung. 2. Aufl., Wiesbaden 2005. Klein, Armin: Der exzellente Kulturbetrieb, Wiesbaden 2007. Klein, Armin (Hg.): Kompendium Kulturmanagement. Handbuch für Studium und Praxis, 2. Aufl., München 2008. Klein, Armin: Kulturpolitik (in Deutschland), in: ders. (Hg.), Kompendium Kulturmanagement, Handbuch für Studium und Praxis, München 2008, S. 100ff. Kloepfer, Michael: Staatsziel Kultur, in: Grupp, Klaus/Hufelt, Ulrich (Hg.), Recht – Kultur – Finanzen, Festschrift für Reinhard Mußgnug, Heidelberg 2005, S. 16ff. Knapp, Marion: Österreichische Kulturpolitik und das Bild der Kulturnation. Kontinuität und Diskontinuität in der Kulturpolitik des Bundes seit 1945, Frankfurt a.M. u.a. 2005. Knigge, Volkhard: Statt eines Nachworts, Abschied der Erinnerung. Anmerkungen zum notwendigen Wandel der Gedenkkultur in Deutsch-

Literatur | 297 land, in: Knigge, Volkhard/Frei, Norbert (Hg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S. 423ff. Knoblich, Tobias J.: Ballungsraum versus Kulturraum, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 110 (III/2005), S. 11ff. Knoblich, Tobias J.: Kulturelle Substanz. Einigungsvertrag und gegenwärtige Kulturpolitik, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 99 (IV/2002), S. 35ff. Knoblich, Tobias J.: Soziokultur in Ostdeutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B12/2003, S. 28ff. Koch, Rüdiger: Wo stehen wir? Anmerkungen aus dem Alltag der kommunalen Kulturpolitik Magdeburgs, in: Scheytt, Oliver/Zimmermann, Michael (Hg.), Was bleibt? Kulturpolitik in persönlicher Bilanz, Essen 2001, S. 199ff. Köhler, Gerhard: Der Bund – Partner für Kulturförderung. Das Gerangel um die »Kulturhoheit« der Länder verliert an Elan, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 120 (I/2008), S. 35ff. Kommunale Gemeinschaftsstelle (KGSt): Von der Kulturverwaltung zum Kulturmanagement im Neuen Steuerungsmodell, Aufgaben und Produkte für den Bereich Kultur, Bericht Nr. 3/1997, Köln 1997. Konrad, Elmar D. (Hg.): Unternehmertum und Führungsverhalten im Kulturbereich, Münster u.a. 2006. Koppe, Franz: Grundbegriffe der Ästhetik, Frankfurt 1983. Korff, Gottfried: Aporien der Musealisierung. Notizen zu einem Trend, der die Institution, nach der er benannt ist, hinter sich gelassen hat, in: Zacharias, Wolfgang (Hg.), Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung, Essen 1990, S. 57ff. Korff, Gottfried: Vom Verlangen, Bedeutungen zu sehen, in: Borsdorf, Ulrich/Grütter, Heinrich Theodor/Rüsen, Jörn (Hg.), Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte, Bielefeld 2004, S. 81ff. Koselleck, Reinhart: Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs, in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 2, Stuttgart 1975, S. 647ff. Koselleck, Reinhart: Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses, in: Knigge, Volkhard/Frei, Norbert (Hg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S. 21ff. Kramer, Dieter: Handlungsfeld Kultur: Zwanzig Jahre Nachdenken über Kulturpolitik, Essen 1996. Kramer, Dieter: Metropolen und Umland: Kulturanalyse und Kulturpolitik. Von der »kulturellen Mitversorgung« der Region zur »kulturba-

298 | Kulturstaat Deutschland sierten Infrastrukturpolitik«, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2006, Essen 2006, S. 255ff. Kraus, Karl: Pro Domo et Mundo, München 1912. Krüger, Thomas: Kunst als Katalysator und Kommunikationsmittel. Zur Rolle der Kulturpolitik und der kulturellen politischen Bildung heute, in: Hoffmann, Hilmar/Schneider, Wolfgang (Hg.), Kulturpolitik in der Berliner Republik, Köln 2002, S. 128ff. Kulturamt der Stadt Essen (Hg.): Kultur 90 – Essener Hearing, Köln 1985. Kulturkreis der deutschen Wirtschaft im BDI (Hg.): Blaubuch des Aktionskreises Kultur, Bonn 1997. Kulturpolitische Gesellschaft: Programm, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 83 (IV/1998). Kulturpolitische Gesellschaft (Hg.): publikum.macht.kultur. Kulturpolitik zwischen Angebots- und Nachfrageorientierung, Essen 2006. Kulturpolitische Gesellschaft (Hg.): kultur.macht.europa, Dokumentation des vierten Kulturpolitischen Bundeskongresses, Bonn 2008. Kultursekretariat Nordrhein-Westfalen (Hg.): Schule, ganz offen für Kultur, Essen 2003. Küppers, Hans-Georg: Das Prinzip Hoffnung, in: Scheytt, Oliver/Zimmermann, Michael (Hg.), Was bleibt? Kulturpolitik in persönlicher Bilanz, Essen 2001, S. 117ff. Kurt, Hildegard/Wagner, Bernd: Kultur – Kunst – Nachhaltigkeit, Bonn 2002. Lammert, Norbert: Kulturelle Bildung und Modernisierung der Gesellschaft, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 50 (III/1990), S. 31ff. Lammert, Norbert: In bester Verfassung? Oder: Der Kulturstaat als Kompetenzproblem, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2001, Essen 2002, S. 75ff. Lammert, Norbert: Kulturstaat und Bürgergesellschaft, in: ders. (Hg.), Alles nur Theater? Beiträge zur Debatte über Kulturstaat und Bürgergesellschaft, Köln 2004, S. 14ff. Lammert, Norbert: Zwischenrufe. Politische Reden über Geschichte und Kultur, Demokratie und Religion, Berlin 2008. Lange, Bastian: Die Räume der Kreativszenen. Culturepreneurs und ihre Orte in Berlin, Bielefeld 2007. Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2007. Lepenies, Wolf: Kultur und Politik. Deutsche Geschichten, München/ Wien 2006. Levi, Primo: Die Untergegangenen und die Geretteten, München 1995. Lewinski-Reuter, Verena/Lüddemann, Stefan (Hg.): Kulturmanagement der Zukunft. Perspektiven aus Theorie und Praxis, Wiesbaden 2008.

Literatur | 299 Lindquist, Sven: »Grabe wo Du stehst«. Handbuch zur Erforschung der eigenen Geschichte. Aus dem Schwedischen übersetzt und hg. von Manfred Dammeyer, Bonn 1989. Lissek-Schütz, Ellen: Kulturpolitik in Deutschland seit der Wiedervereinigung, in: Loock, Friedrich/Scheytt, Oliver, Handbuch Kulturmanagement und Kulturpolitik, Loseblatt, Berlin 2006, B 1.2. Litzel, Susanne/Loock, Friedrich/Brackert, Susanne (Hg.): Wirtschaft und Kultur, Formen und Fakten unternehmerischer Kulturförderung, Heidelberg 2003. Loeffelholz, Bernhard Freiherr von: Von der Gewinnorientierung zur Sinnorientierung, in: Hoff mann, Hilmar (Hg.), Kultur und Wirtschaft, Köln 2001, S. 65ff. Loock, Friedrich: Public Private Partnership – zwischen Patenschaft und Partnerschaft, in: Litzel, Susanne/Loock, Friedrich/Brackert, Susanne (Hg.), Wirtschaft und Kultur, Formen und Fakten unternehmerischer Kulturförderung, Heidelberg 2003, S. 144ff. Loock, Friedrich/Scheytt, Oliver (Hg.): Handbuch Kulturmanagement und Kulturpolitik, Loseblatt, Berlin 2006ff. Losch, Bernhard: Kulturfaktor Recht. Grundwerte – Leitbilder – Normen, Köln 2006. Lübbe, Hermann: Zeit-Verhältnisse. Über die veränderte Gegenwart von Zukunft und Vergangenheit, in: Zacharias, Wolfgang (Hg.), Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung, Essen 1990, S. 40ff. Lübbe, Hermann: Der Fortschritt von gestern. Über Musealisierung als Modernisierung, in: Borsdorf, Ulrich/Grütter, Heinrich Theodor/Rüsen, Jörn (Hg.), Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte, Bielefeld 2004, S. 13ff. Lüddemann, Stefan: Mit Kunst kommunizieren. Theorien, Strategien, Fallbeispiele, Wiesbaden 2007. Mäckler, Andreas (Hg.): Was ist Kunst…? 1080 Zitate geben 1080 Antworten, 2. Aufl., Köln 1989. Magdowski, Iris: Museen als interkulturelle Lern- und Erlebnisorte, in: Loock, Friedrich/Scheytt, Oliver, Handbuch Kulturmanagement und Kulturpolitik, Loseblatt, Berlin 2007, J 1.3. Magdowski, Iris/Scheytt, Oliver: Ein Schritt vor, zwei zurück? Föderalismusreform und die Folgen für die Kultur, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 112 (I/2006), S. 4ff. Maihofer, Werner: Kulturelle Aufgaben des modernen Staates, in: Benda, Ernst/Maihofer, Werner/Vogel, Hans-Jochen (Hg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Teil 2, 2. Aufl., Berlin/New York 1995, S. 1201ff. Mandel, Birgit: Vorwort, in: dies. (Hg.), Kulturvermittlung zwischen kultureller Bildung und Kulturmarketing, Bielefeld 2005, S. 9ff.

300 | Kulturstaat Deutschland Mandel, Birgit: Die neuen Kulturunternehmer. Ihre Motive, Visionen und Strategien, Bielefeld 2007. Mayntz, Renate: Governance im modernen Staat, in: Benz, Arthur (Hg.), Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen, Wiesbaden 2004, S. 65ff. Merkel, Christine M.: Das UNESCO-Übereinkommen zur Kulturellen Vielfalt., Die erste völkerrechtlich verbindliche Magna Charta zur internationalen Kulturpolitik, in: Loock, Friedrich/Scheytt, Oliver, Handbuch Kulturmanagement und Kulturpolitik, Loseblatt, Berlin 2007, B 2.3. Meyer, Bernd: Abschied von Illusionen? Zur Kulturpolitischen Programmatik des Deutschen Städtetages, in: Sievers, Norbert/Wagner, Bernd (Hg.), Blick zurück nach vorn. Zwanzig Jahre Neue Kulturpolitik, Essen 1994, S. 75ff. Meyer, Bernd: Kultur in der Stadt – Kultur von der Stadt? in: Deutscher Städtetag (Hg.), Die Stadt als Chance – neue Wege in die Zukunft, 28. ordentliche Hauptversammlung des DST 1995, Stuttgart u.a., S. 235ff. Meyer, Bernd: Rettungsanker Kulturgesetze?, in: Zeitschrift für Gesetzgebung 1996, S. 343ff. Meyer, Thomas: Was ist Politik? Wiesbaden 2006. Mokre, Monika: Kann und soll ein demokratischer Staat Kultur fördern? in: Zembylas, Tasos/Tschmuck, Peter (Hg.), Der Staat als kulturfördernde Instanz, Innsbruck 2005, S. 81ff. Motte, Jan/Ohliger, Rainer (Hg.): Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderergesellschaft. Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinnerungspolitik, Essen 2004. Müller, Winfried/Flügel, Wolfram/Loosen, Iris/Rosseaux, Ulrich (Hg.): Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus (Geschichte, Forschung und Wissenschaft 3), Münster 2003. Münch, Paul (Hg.): Jubiläum, Jubiläum… Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung, Essen 2005. Muschg, Adolf: Was ist europäisch? Reden für einen gastlichen Erdteil, München 2005. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften (Erstes Buch der RowohltAusgabe), Hamburg 1987. Mütter, Bernd/Schönemann, Bernd/Uffelmann, Uwe (Hg.): Geschichtskultur. Theorie – Empirie – Pragmatik, Weinheim 2000. Naumann, Michael: Was ist Kultur? Über gesellschaftliche Selbstvergewisserung in Zeiten der Moderne, in: ders., Die schönste Form der Freiheit, Berlin 2001, S. 33ff. Negt, Oskar/Kluge, Alexander: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt a.M. 1972.

Literatur | 301 Nevermann, Knut: Bund und Länder in der Kulturpolitik. Anmerkungen zur Entflechtung und Systematisierung, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2006, Essen 2006, S. 245ff. Nida-Rümelin, Julian: Demokratie als Kooperation, Frankfurt a.M. 1999. Nida-Rümelin, Julian: Perspektive 2000 – Herausforderungen an die Kulturpolitik, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 89 (II/2000), S. 24ff. Nida-Rümelin, Julian: Integration als kulturpolitische Leitidee in der sozialen Demokratie, in: Hoffmann, Hilmar (Hg.), Kultur und Wirtschaft. Knappe Kassen – Neue Allianzen, Köln 2001, S. 244ff. Nida-Rümelin, Julian: Perspektiven des Kulturföderalismus in Deutschland, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2001, Essen 2002, S. 63ff. Nida-Rümelin, Julian: Humanismus als Leitkultur. Ein Perspektivenwechsel, München 2006. Niethammer, Lutz: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek 2000. Nordhoff, Bernhard: 30 Jahre Kulturpolitik in vier Städten, in: Scheytt, Oliver/Zimmermann, Michael (Hg.), Was bleibt? Kulturpolitik in persönlicher Bilanz, Essen 2001, S. 103ff. Noschka-Roos, Annette (Hg.): Besucherforschung in Museen. Instrumentarien zur Verbesserung der Ausstellungskommunikation, München 2003. NRW-KULTURsekretariat (Hg.): Kultur und Alter. Eine Tagungsdokumentation, Essen 2007. Oertel, Martina/Roebke, Thomas: Reform kommunaler Kulturverwaltungen. Ergebnisse einer Umfrage von Städten über 30.000 Einwohnern, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 85 (II/1999), S. 42ff. Oppermann, Thomas: Kulturverwaltungsrecht, Tübingen 1969. Pabel, Katharina, Grundfragen der Kompetenzordnung im Bereich der Kunst, Berlin 2003. Pankoke, Eckart: Konzentrieren und Konzertieren. Neue Kulturpolitik zwischen Steuerung und Selbststeuerung, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2006, Essen 2006, S. 321ff. Pankoke, Eckart/Rohe, Karl: Der Deutsche Kulturstaat, in: Ellwein, Thomas/Holtmann, Everhard (Hg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Rahmenbedingungen – Entwicklungen – Perspektiven, Opladen/ Wiesbaden 1999, S. 168ff. Pazzini, Karl-Josef: Tod im Museum. Über eine gewisse Nähe von Pädagogik, Museum und Tod, in: Zacharias, Wolfgang (Hg.), Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung, Essen 1990, S. 83ff. Pohlmann, Markus: Kulturpolitik in Deutschland, München 1994.

302 | Kulturstaat Deutschland Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1986. Rau, Johannes: Rede auf dem 1. Kongress des Forums Bildung am 14. Juli 2000 in Berlin, Bulletin der Bundesregierung, 49-1, 14. Juli 2000, Bl. 6 u. 9. Reiners, Astrid: Laienmusizieren, in: Deutscher Musikrat (Hg.), Musik-Almanach 2007/2008, Regensburg 2006, S. 38ff. Rihm, Wolfgang: Nur das Schöpferische zählt wirklich, in: FAZ v. 11.9. 1998. Röbke, Thomas: Zwanzig Jahre Neue Kulturpolitik. Erklärungen und Dokumente 1972-1992, Essen 1992. Röbke, Thomas (Hg.): Kunst und Arbeit. Künstler zwischen Autonomie und sozialer Unsicherheit, Essen 2002. Röbke, Thomas/Wagner, Bernd: Regionale Kulturpolitik. Kommentierte Auswahlbibliographie (Materialien des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft, Heft 2), Bonn 1997. Röbke, Thomas/Wagner, Bernd: Aufgaben eines undogmatischen Kulturföderalismus, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitische Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2001, Essen 2002, S. 13ff. Romeiß-Stracke, Felizitas: Abschied von der Spaßgesellschaft, Amberg 2003. Rose, Peter: Alte, neue und ganz neue Kulturpolitik, in: Scheytt, Oliver/ Zimmermann, Michael (Hg.), Was bleibt? Kulturpolitik in persönlicher Bilanz, Essen 2001, S. 75ff. Rossmeissl, Dieter: Kultur in der arachnoiden Gesellschaft, in: Scheytt, Oliver/Zimmermann, Michael (Hg.), Was bleibt? Kulturpolitik in persönlicher Bilanz, Essen 2001, S. 124ff. Rübsaamen, Dieter: Verfassungsrechtliche Aspekte des Kulturföderalismus, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2001, Essen 2002, S. 153ff. Rüsen, Jörn: Geschichtskultur als Forschungsproblem, in: Fröhlich, Klaus/ Grütter, Heinrich Theodor/Rüsen, Jörn (Hg.), Geschichtskultur. Jahrbuch für Geschichtsdidaktik 1991/92, S. 39ff. Rüsen, Jörn: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art über Geschichte nachzudenken, in: Füßmann, Klaus/Grütter, Heinrich Theodor/Rüsen, Jörn (Hg.), Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln 1994, S. 3ff. Rüsen, Jörn: Geschichtskultur, in: Bergmann, Klaus/Fröhlich, Klaus/ Kuhn, Annette/Rüsen, Jörn/Schneider, Gerhard (Hg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, 5. Aufl., Seelze-Velber 1997, S. 38ff. Schäfer, Hermann: Anlocken – fesseln – vermitteln. Was Besucherforschung uns lehrt(e), ein Plädoyer für die Grundrechte der Besucher, in: Noschka-Roos, Annette (Hg.), Besucherforschung in Museen. Instru-

Literatur | 303 mentarien zur Verbesserung der Ausstellungskommunikation, München 2003, S. 83ff. Scheytt, Oliver: Die Musikschule. Ein Beitrag zum kommunalen Kulturverwaltungsrecht, Köln u.a. 1989. Scheytt, Oliver: Kultursponsoring – Gefahr oder Geldsegen?, in: Demokratische Gemeinde 5/1991, S. 12ff. Scheytt, Oliver: Wo bleiben die Ideale? Ästhetik und Ethik in Kunst und Kulturpolitik, in: Heinrichs, Werner/Klein, Armin (Hg.), Deutsches Jahrbuch für Kulturmanagement 2001, Baden-Baden 2001, S. 11ff. Scheytt, Oliver: Die Archive in der Kulturpolitik der Städte, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 99 (IV/2002), S. 62ff. Scheytt, Oliver: Kulturstaat – Staatskultur, in: Hill, Hermann (Hg.), Staatskultur im Wandel, Berlin 2002, S. 27ff. Scheytt, Oliver: Schulen ans kulturelle Netz. Herausforderung für die Bildungs- und Kulturpolitik, in: Burmeister, Hans-Peter (Hg.), Schulen ans kulturelle Netz! Kooperationen zwischen kultureller Weiterbildung und Ganztagsschule, Rehberg-Loccum 2004, S. 45ff. Scheytt, Oliver: Kommunales Kulturrecht. Kultureinrichtungen, Kulturförderung und Kulturveranstaltungen, München 2005. Scheytt, Oliver: Kultur für alle und von allen – ein Erfolgs- oder Auslaufmodell? in: Mandel, Birgit (Hg.), Kulturvermittlung zwischen kultureller Bildung und Kulturmarketing, Bielefeld 2005, S. 25ff. Scheytt, Oliver: Erwartungen der Politik an die Archive, in: Verband deutscher Archivarinnen und Archivare (Hg.), Archive und Öffentlichkeit, 76. Deutscher Archivtag 2006, Bielefeld 2007, S. 25ff. Scheytt, Oliver: Polit-Marketing für Kultureinrichtungen, in: Loock, Friedrich/Scheytt, Oliver (Hg.), Kulturmanagement und Kulturpolitik, Loseblatt, Berlin 2007 (B 1.4). Scheytt, Oliver: Aktivierendes Kulturmanagement, in: Lewinski-Reuter, Verena/Lüddemann, Stefan (Hg.), Kulturmanagement der Zukunft. Perspektiven aus Theorie und Praxis, Wiesbaden 2008, S. 121ff. Scheytt, Oliver: Kulturverfassungsrecht – Kulturverwaltungsrecht, in: Klein, Armin (Hg.), Kompendium Kulturmanagement, München 2008, S. 183ff. Scheytt, Oliver/Kersten, Rüdiger: Steuerung durch kulturpolitische Leitlinien und Ziele, in: Raabe Verlag (Hg.), Handbuch Kultur-Management, Loseblatt, Stuttgart/Berlin 2000. Scheytt, Oliver/Zimmermann, Michael (Hg.): Was bleibt? Kulturpolitik in persönlicher Bilanz, Essen 2001. Scheytt, Oliver/Zimmermann, Michael: Publikum Macht Kultur? in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2005, Essen 2005, S. 35ff. Schmidt, Thomas E.: Schneisen durch den föderalen Dschungel, Rückblick auf die Kulturpolitik der Regierung Schröder, in: Hoffmann, Hil-

304 | Kulturstaat Deutschland mar/Schneider, Wolfgang (Hg.), Kulturpolitik in der Berliner Republik, Köln 2002, S. 29ff. Schneider, Wolfgang: Von Kulturräumen, Netzwerken und Zweckverbänden. Kommunalpolitische Strategien einer Entwicklungsplanung für Kultur, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2006, Essen 2006, S. 335ff. Schneider, Wolfgang: Von Projekt zu Projekt – Am Katzentisch der Kulturpolitik? in: Fonds Darstellende Künste (Hg.), Freies Theater in Deutschland. Förderstrukturen und Perspektiven, Essen 2007, S. 82ff. Schneider, Wolfgang (Hg.): Auswärtige Kulturpolitik. Dialog als Auftrag – Partnerschaft als Prinzip, Essen 2008. Schneider, Wolfgang: Vom Export zum Netzwerk, vom Event zur Intervention, in: ders. (Hg.), Auswärtige Kulturpolitik. Dialog als Auftrag – Partnerschaft als Prinzip, Essen 2008, S. 23ff. Schorlemer, Sabine von: Kulturpolitik im Völkerrecht verankert. Das neue UNESCO-Übereinkommen zum Schutz der Kulturellen Vielfalt, in: Deutsche UNESCO-Kommission, Übereinkommen über den Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen, Bonn 2006. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft, 4. Aufl., Frankfurt a.M./New York 1993. Schulze, Gerhard: Die beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert, München/Wien 2003. Schwencke, Olaf: Das Europa der Kulturen – Kulturpolitik in Europa, 2. Aufl., Bonn/Essen 2006. Sendler, Horst: Der verhüllte Reichstag und die Smendsche Integrationslehre, in: NJW 1995, S. 2602f. Siebel, Walter: Einleitung, Die europäische Stadt, in: ders. (Hg.), Die europäische Stadt, Frankfurt a.M. 2004, S. 11ff. Siemons, Mark: Schöne neue Gegenwelt. Über Kultur, Moral und andere Marketingstrategien, Frankfurt a.M. u.a. 1993. Sievers, Norbert: »Neue Kulturpolitik«. Programmatik und Verbandseinfluß am Beispiel der Kulturpolitischen Gesellschaft, Hagen 1988. Sievers, Norbert: Netzwerk Kulturpolitik. Begründungen und Praxisbeispiele, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 90 (III/2000), S. 31ff. Sievers, Norbert: »Fördern, ohne zu fordern«. Begründungen aktivierender Kulturpolitik, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2000, Essen 2001, S. 131ff. Sievers, Norbert: Verbandsarbeit im Netzwerk der Kulturpolitik, in: Scheytt, Oliver/Zimmermann, Michael, Was bleibt? Essen 2001, S. 151ff. Sievers, Norbert: »Aktivierende Kulturpolitik in Nordrhein-Westfalen«. Aufstieg und Fall einer landeskulturpolitischen Konzeption, in: Behrens, Fritz/Heinze, Rolf G./Hilbert, Josef/Stübe-Blossey, Sybille (Hg.),

Literatur | 305 Ausblicke auf den aktivierenden Staat. Von der Idee zur Strategie, Berlin 2005, S. 337ff. Sievers, Norbert: Der demografische Faktor und die Kulturpolitik, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 116 (I/2006), S. 32f. Sievers, Norbert/Wagner, Bernd (Hg.): Blick zurück nach vorn. Zwanzig Jahre Neue Kulturpolitik, Essen 1994. Sommermann, Karl Peter: Kultur im Verfassungsstaat, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 65, Berlin 2006, S. 7ff. Söndermann, Michael: Öffentliche Kulturfinanzierung in Deutschland 2005. Ergebnisse aus der Kulturstatistik, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2006, Essen 2006, S. 395ff. Späth, Lothar/Michels, Günter/Schily, Konrad (Hg.): Das PPP-Prinzip. Die Privatwirtschaft als Sponsor öffentlicher Interessen, München 1998. Steinbicker, Jochen: Zur Theorie der Informationsgesellschaft, Opladen 2001. Steiner, Udo: Der gemeindliche Kulturauftrag, in: der städtetag 1986, S. 512ff. Steiner, Udo: Kulturpflege, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band IV, 3. Aufl., Heidelberg 2006. Strachwitz, Rupert Graf (Hg.): Dritter Sektor – Dritte Kraft, Stuttgart 1998. Strachwitz, Rupert Graf/Toepler, Stefan (Hg.): Kultur-Förderung: mehr als Sponsoring, Wiesbaden 1993. Strittmatter, Thomas: Zur Umgestaltung der kulturellen Infrastruktur in den neuen Bundesländern, in: Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung Nr. 29 (Nov. 1991), S. 62ff. Stüdemann, Jörg: Für eine Kulturpolitik der Zweiten Moderne, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2006, Essen 2006, S. 17ff. Tenbruck, Friedrich H.: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft, 2. Aufl., Opladen 1989. Thierse, Wolfgang: Kulturpolitik im Vakuum? in: Kulturforum der Sozialdemokratie (Hg.), Kulturnotizen 5 (2001), S. 5ff. Thierse, Wolfgang: Kultur macht Sinn! Eine zentrale Aufgabe in einer demokratischen Gesellschaft, in: Hoff mann, Hilmar/Schneider, Wolfgang (Hg.), Kulturpolitik in der Berliner Republik, Köln 2002, S. 13ff. Thierse, Wolfgang: Vielfalt, Teilhabe und öffentliche Verantwortung, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 113 (II/2006), S. 39ff. Thomas-Morus-Akademie Bensberg (Hg.): Geschichtsvereine. Entwicklungslinien und -perspektiven lokaler und regionaler Geschichtsarbeit, Bergisch Gladbach 1990.

306 | Kulturstaat Deutschland Tröndle, Martin: Entscheiden im Kulturbetrieb. Integriertes Kunst- und Kulturmanagement, Bern 2006, S. 226ff. Uhle, Arnd: Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, Tübingen 2004. Vermeulen, Peter: Neuausrichtung kommunaler Kulturförderung. Strategien für eine systematische Kulturentwicklung, in: Loock, Friedrich/ Scheytt, Oliver (Hg.), Handbuch Kulturmanagement & Kulturpolitik, Loseblatt, Berlin 2006ff. (B 1.5). Volkmann, Uwe: Kultur im Verfassungsstaat, in: DVBl 2005, S. 1061ff. Wagner, Bernd (Hg.): Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftliches Engagement in der Kultur, Bonn 2000. Wagner, Bernd: Ökologische Nachhaltigkeit und Entwicklungszusammenarbeit, in: Jerman, Tina (Hg.), ZukunftsFormen: Kultur und Agenda 21, Essen 2001, S. 43ff. Wagner, Bernd: Globalisierung und Kultur – globale Kultur, in: Hanika, Karin/Wagner, Bernd (Hg.), Kulturelle Globalisierung und regionale Identität. Beiträge zum kulturpolitischen Diskurs, Bonn 2004, S. 179ff. Wagner, Bernd: Die Vermittlung der Vermittlung, in: Mandel, Birgit (Hg.), Kulturvermittlung zwischen kultureller Bildung und Kulturmarketing, Bielefeld 2005, S. 134ff. Wagner, Bernd: Kulturpolitik und Publikum, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2005, Essen 2005, S. 9ff. Wagner, Bernd: Kulturentwicklungsplanung – Kulturelle Planung, in: Klein, Armin (Hg.), Kompendium Kulturmanagement, Handbuch für Studium und Praxis, München 2008, S. 163ff. Wagner, Bernd/Witt, Kirsten: Engagiert für Kultur. Beispiele ehrenamtlicher Arbeit im Kulturbereich, Bonn 2003. Wagner, Manfred: Stoppt das Kulturgeschwätz! Eine zeitgemäße Differenzierung von Kunst und/oder Kultur, Wien 2000. Wanka, Johanna: Die Kulturpolitik der Länder nach der Föderalismusreform, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 115 (IV/2006), S. 6ff. Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 8. Aufl., Tübingen 1986. Weck, Bernhard: Verfassungsrechtliche Legitimationsprobleme öffentlicher Kunstförderung aus wirklichkeitswissenschaftlicher Perspektive, Berlin 2001. Weiss, Christina: Stadt ist Bühne. Kulturpolitik heute, Hamburg 1999. Welck, Karin v./Schweizer, Margarete (Hg.): Kinder zum Olymp! Wege zur Kultur für Kinder und Jugendliche, Köln 2004. Welsch, Wolfgang: Anästhetik – Fokus einer erweiterten Ästhetik, in: Zacharias, Wolfgang (Hg.), Schöne Aussichten. Ästhetische Bildung in einer technisch-medialen Welt, Essen 1991, S. 79ff.

Literatur | 307 Welsch, Wolfgang: Ästhetik. Ethische Implikationen und Konsequenzen der Ästhetik, in: Wulf, Christoph/Kamper, Dietmar/Gumbrecht, Hans Ulrich (Hg.), Ethik der Ästhetik, Berlin 1994, S. 3ff. Wenzel, Horst: Imaginatio und Memoria. Medien der Erinnerung im höfischen Mittelalter, in: Assmann, Aleida/Harth, Dietrich (Hg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a.M. 1991, S. 57ff. Wiesand, Andreas Joh.: Was zählt: Angebot oder Nachfrage? Fünf Fragen an die empirische Kulturforschung und erste Antworten, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2005, Essen 2005, S. 441ff. Wostrak, Annette: Kooperative Kulturpolitik. Strategien für ein Netzwerk zwischen Kultur und Politik in Berlin, Frankfurt a.M. 2008. Wulf, Christoph/Kamper, Dietmar/Gumbrecht, Hans Ulrich (Hg.): Ethik der Ästhetik, Berlin 1994. Wyrwoll, Regina (Hg.): Kulturforschung als Kulturschaffen. Festschrift zum 60. Geburtstag von Andreas Wiesand, Bonn 2005. Zacharias, Wolfgang (Hg.): Schöne Aussichten, Ästhetische Bildung in einer technisch-medialen Welt, Essen 1991. Zacharias, Wolfgang: Kultur und Bildung – Kunst und Leben zwischen Sinn und Sinnlichkeit, Essen 2001. Zimmermann, Olaf: Was hindert und wie fördert man bürgerschaftliches Engagement in Vereinen und Verbänden des Kulturbereiches, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2000, Essen 2001, S. 157ff. Zimmermann, Olaf/Geißler, Theo (Hg.): Die Kirchen, die unbekannte kulturpolitische Macht, Berlin 2007. Zimmermann, Olaf/Geißler, Theo (Hg.): Kulturpolitik der Parteien: Visionen, Programmatik, Geschichte und Differenzen, Berlin 2008.

X-Texte Oliver Scheytt Kulturstaat Deutschland Plädoyer für eine aktivierende Kulturpolitik

Thomas Hecken 1968 Von Texten und Theorien aus einer Zeit euphorischer Kritik

September 2008, 310 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-400-3

Januar 2008, 182 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-741-7

Werner Schiffauer Parallelgesellschaften Wie viel Wertekonsens braucht unsere Gesellschaft? Für eine kluge Politik der Differenz

Peter Gross Jenseits der Erlösung Die Wiederkehr der Religion und die Zukunft des Christentums (2. Auflage)

August 2008, 152 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-643-4

Stephan Lessenich Die Neuerfindung des Sozialen Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus Juni 2008, 172 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-746-2

Werner Rügemer »Heuschrecken« im öffentlichen Raum Public Private Partnership – Anatomie eines globalen Finanzinstruments Mai 2008, 172 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-851-3

Natan Sznaider Gedächtnisraum Europa Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus. Eine jüdische Perspektive April 2008, 156 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-692-2

Januar 2008, 198 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-902-2

Michael Opielka Kultur versus Religion? Soziologische Analysen zu modernen Wertkonflikten 2007, 190 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-393-8

Thomas Etzemüller Ein ewigwährender Untergang Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert 2007, 218 Seiten, kart., zahlr. Abb., 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-397-6

Heiner Bielefeldt Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus 2007, 216 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-720-2

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

X-Texte Detlef Horster Jürgen Habermas und der Papst Glauben und Vernunft, Gerechtigkeit und Nächstenliebe im säkularen Staat 2006, 128 Seiten, kart., 13,80 €, ISBN: 978-3-89942-411-9

Karl-Heinrich Bette, Uwe Schimank Die Dopingfalle Soziologische Betrachtungen 2006, 276 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-537-6

Thomas Hecken Avantgarde und Terrorismus Rhetorik der Intensität und Programme der Revolte von den Futuristen bis zur RAF 2006, 162 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-500-0

Werner Rügemer (Hg.) Die Berater Ihr Wirken in Staat und Gesellschaft 2004, 246 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 978-3-89942-259-7

Volker Heins, Jens Warburg Kampf der Zivilisten Militär und Gesellschaft im Wandel 2004, 164 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-245-0

Peter Fuchs Das System »Terror« Versuch über eine kommunikative Eskalation der Moderne 2004, 120 Seiten, kart., 13,80 €, ISBN: 978-3-89942-247-4

Gunter Gebauer, Thomas Alkemeyer, Bernhard Boschert, Uwe Flick, Robert Schmidt Treue zum Stil Die aufgeführte Gesellschaft 2004, 148 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN: 978-3-89942-205-4

Thomas Lemke Veranlagung und Verantwortung Genetische Diagnostik zwischen Selbstbestimmung und Schicksal 2004, 140 Seiten, kart., mit Glossar, 14,80 €, ISBN: 978-3-89942-202-3

Karl-Heinrich Bette X-treme Zur Soziologie des Abenteuerund Risikosports 2004, 158 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN: 978-3-89942-204-7

Volkhard Krech Götterdämmerung Auf der Suche nach Religion 2003, 112 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN: 978-3-89942-100-2

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

2008-05-27 12-26-20 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a8179786122216|(S.

2

) T00_02 seite 2 - 746.p 179786122240