Kulturkritik im Namen der Freiheit: Von Georg Simmel bis Hannah Arendt 9783839465288

Kapitalistische Betriebe, Bürokratie und populäre Heilslehren bringen freiheitliche Lebensarten in Gefahr. Diese Ansicht

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German Pages 208 Year 2022

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung. Zur liberalen Kulturkritik
Georg Simmel und die Freiheit
Wie ist Freiheit möglich? Max Weber als Kulturkritiker
Distanz als Freiheit. Ernst Cassirers Kritik der Kultur
»Der Mensch, das Leben – das ist klar – ist ein inneres Geschehen und nichts weiter.« Über Ortega
Norbert Elias als Kulturkritiker. Von der demokratischen Ironie – oder: Wie Kultur Zivilisation verrät
Zwischen Soziologie und Fortschrittsreligion. Albert Salomons Ideengeschichte der Freiheit
Offen und gleichgewichtslos. Die Gestaltung der Freiheit als unabschließbare Aufgabe bei Helmuth Plessner
Herbert Marcuse und die Freiheit
Karl Poppers offenes liberales Kulturkonzept
Hannah Arendts Analyse des Totalitarismus. Eine Kritik der politischen ›UnKultur‹ des 20. Jahrhunderts?
Anstelle eines Schlusswortes. Kulturkritik im Namen der Menschlichkeit. Siegfried Kracauer und das Feuilleton
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Kulturkritik im Namen der Freiheit: Von Georg Simmel bis Hannah Arendt
 9783839465288

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C hristian Marty, Hans-Peter Müller, Barbara Thériault (Hg.) Kulturkritik im Namen der Freiheit

Edition Kulturwissenschaft Band 252

Christian Marty (Dr.), geb. 1988, ist Historiker mit Schwerpunkt auf der Geschichte der Soziologie. Er wurde mit einer Arbeit über Max Weber promoviert und publizierte einerseits wissenschaftliche Beiträge über Klassiker der Soziologie, andererseits essayistische Texte über Debatten der Gegenwart. Hans-Peter Müller (Prof. Dr.), geb. 1951, ist emeritierter Professor für Allgemeine Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und gilt als einer der weltweit besten Kenner der europäischen Ideengeschichte. Er nahm mehrere Gastprofessuren (zum Beispiel in Berkeley) an und legte einschlägige Monographien (Simmel, Weber, Durkheim) vor. Barbara Thériault (Prof. Dr.), geb. 1972, ist Professorin für Soziologie an der Université Montréal und fokussiert sich unter anderem auf den Alltag in der gesellschaftlichen Mitte (so etwa in ihrem Buch über »Die Bodenständigen«). Sie veröffentlichte neben einem vielbeachteten soziologischen auch ein originelles feuilletonistisches Werk.

Christian Marty, Hans-Peter Müller, Barbara Thériault (Hg.)

Kulturkritik im Namen der Freiheit Von Georg Simmel bis Hannah Arendt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839465288 Print-ISBN 978-3-8376-6528-4 PDF-ISBN 978-3-8394-6528-8 Buchreihen-ISSN: 2702-8968 Buchreihen-eISSN: 2702-8976 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Einleitung Zur liberalen Kulturkritik Christian Marty, Hans-Peter Müller, Barbara Thériault .......................... 7

Georg Simmel und die Freiheit Hans-Peter Müller........................................................... 15

Wie ist Freiheit möglich? Max Weber als Kulturkritiker Christian Marty ............................................................ 33

Distanz als Freiheit Ernst Cassirers Kritik der Kultur Birgit Recki ............................................................... 45

»Der Mensch, das Leben – das ist klar – ist ein inneres Geschehen und nichts weiter.« Über Ortega Werner Oechslin ............................................................57

Norbert Elias als Kulturkritiker Von der demokratischen Ironie – oder: Wie Kultur Zivilisation verrät Marta Bucholc ............................................................. 73

Zwischen Soziologie und Fortschrittsreligion Albert Salomons Ideengeschichte der Freiheit Felix Steilen ............................................................... 89

Offen und gleichgewichtslos Die Gestaltung der Freiheit als unabschließbare Aufgabe bei Helmuth Plessner Sophia Heinzmann ......................................................... 109

Herbert Marcuse und die Freiheit Ingrid Gilcher-Holtey ....................................................... 131

Karl Poppers offenes liberales Kulturkonzept Daniel Brühlmeier .........................................................153

Hannah Arendts Analyse des Totalitarismus Eine Kritik der politischen ›UnKultur‹ des 20. Jahrhunderts? Josette Baer .............................................................. 175

Anstelle eines Schlusswortes Kulturkritik im Namen der Menschlichkeit. Siegfried Kracauer und das Feuilleton Barbara Thériault..........................................................193

Einleitung Zur liberalen Kulturkritik Christian Marty, Hans-Peter Müller, Barbara Thériault Kulturkritik kritisiert Kultur im Namen der Kultur, sagt der Philosoph Ralf Konersmann – und liefert damit eine präzise Bestimmung des vieldiskutierten Begriffs: Bei der Kulturkritik geht es grundsätzlich darum, dass Kulturformen im Namen eines Kulturideals kritisiert werden.1 Kulturkritische Denker beklagen die »Dekadenz« einer Gesellschaftsform, weil diese nicht dem je eigenen Gesellschaftsideal entspricht. Sie beanstanden die »Rückständigkeit« einer Lebensform, weil diese nicht zum je eigenen Lebensideal passt. Oder sie bemängeln – um auf eine der gängigsten, die Jahrhunderte durchziehende Art und Weise der Kulturkritik hinzuweisen – die »Sittenlosigkeit« einer Sexualform, weil diese nicht zum je eigenen Sexualideal gehört. Die Kritik der Kultur im Namen der Kultur ist äußerst vielgestaltig. Es wäre eine grobe Vereinfachung, anzunehmen, diese käme ausschließlich aus einer »linken« oder »rechten« oder »konservativen« oder »reaktionären« Szene. Kulturkritik hat viele Gesichter, wie Georg Bollenbeck zeigt – und dies hat sie gleich in mehrfacher Hinsicht: Sie speist sich nicht nur aus verschiedenen Bereichen der Kultur, sie richtet sich auch auf verschiedene Bereiche der Kultur.2 Sie kommt oftmals aus Philosophie, Kunst oder Kirche und zielt häufig auf Politik, Wirtschaft oder Religion. So gesehen kennt Kritik an Kultur im Namen der Kultur kaum Grenzen. Sie kann sich auf alles beziehen, sie kann sich auf alles stützen; es ist ihr möglich, sich aus jeder denkbaren Warte auf jede denkbare Sache zu stürzen. Die Forschung hat sich bisher insbesondere auf zwei Spielarten der Kulturkritik fokussiert. Experten wie Konersmann, Bollenbeck, 1

Konersmann: Kulturkritik, Frankfurt a.M. 2008.

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Bollenbeck: Die Geschichte der Kulturkritik, München 2007.

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Christian Marty, Hans-Peter Müller, Barbara Thériault

Stefan Breuer oder die Verfasser des unlängst erschienenen Sammelbandes über Formen der Kulturkritik konzentrieren sich zum einen auf jene Variante, deren Spitzen gegen die eigene Epoche unter der Flagge eines sozialen Ideals wie etwa der »Solidarität« stehen; zum anderen auf jene Fassung, deren Angriffe gegen die eigene Ära unter der Fahne eines ästhetischen Ideals wie beispielsweise der »Schönheit« laufen: In den Arbeiten Breuers zum Beispiel – einem ausgewiesenen Kenner dieses Themas – erhält sowohl der »moralische Fundamentalismus« der Neuen Linken als auch der »ästhetische Fundamentalismus« der NeoKonservativen viel Raum.3 Die Forschung zu Kulturkritik ist vielfach überaus erhellend sowie für das Verständnis der Ideengeschichte von Relevanz, lässt aber etwas vergessen, dass es neben den zwei genannten Spielarten von Kulturkritik noch andere Arten von Kulturkritik gibt, so auch jene Art von Kulturkritik, für die weder ein genuin soziales noch ein genuin ästhetisches als vielmehr ein freiheitliches Ideal von besonders starkem Gewicht ist. Insbesondere im 20. Jahrhundert gibt es eine Tradition der Kulturkritik, welche im Namen der Freiheit auftritt. Verdient dieser Typus der Kulturkritik nicht etwas mehr Beachtung? Die Verfasser des vorliegenden Bandes sind dieser Ansicht – und möchten einige der scharfsinnigsten Vertreter der liberalen Kulturkritik vorstellen.

Liberale Kulturkritik Im 20. Jahrhundert gab es eine Ausprägung der Kulturkritik, welche im Zeichen der Freiheit stand. Von Georg Simmel, Max Weber und Ernst Cassirer über José Ortega y Gasset, Siegfried Kracauer und Norbert Elias bis zu Albert Salomon, Herbert Marcuse, Karl Popper und Hannah Arendt – sie richteten ihre Kritik auf ihre Zeit, weil sie glaubten, dass diese nicht günstig war für eine freiheitliche Lebensführung: Sie kritisierten den Bürokratismus des Staatsapparates, weil sie darin eine freiheitsfeindliche Macht entdeckten; die Organisation der Großbetriebe, weil sie darin eine freiheitsungünstige Ordnung ausmachten; oder 3

Vgl. dazu Konersmann: Kulturkritik, Frankfurt a.M. 2008; Bollenbeck: Die Geschichte der Kulturkritik, München 2007; Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 2005; Breuer: Kritische Theorie, Tübingen 2016; Hornuff et al. (Hg.): Formen der Kulturkritik, Paderborn 2018.

Einleitung

die Hinwendung zum Konsumismus, weil sie dachten, dieser würde den Menschen die Energie nehmen, freiheitlich durch das Leben zu gehen. In Bezug auf diese Denker lässt sich von einer liberalen Kulturkritik sprechen, liegt deren zentrales Interesse doch bei keinem anderen Thema als beim Freiheitsthema. Weder ein primär soziales noch ein primär ästhetisches Ideal, weder »Solidarität« noch »Schönheit« steht im Kern der Kulturkritik dieser Intellektuellen – Freiheit ist es. Wie sei, unter diesen Bedingungen, überhaupt Freiheit »›möglich‹?«, fragt Max Weber an zentraler Stelle.4 Mit dieser Frage spricht Weber eine Sorge an, welche auch bei anderen Kulturkritikern überaus präsent ist: Von Simmel bis Arendt – liberale KulturkritikerInnen sorgen sich um die Freiheit des Menschen. Mit dieser Werthaltung setzen sich die besagten Kulturkritiker von populäreren Formen der Kulturkritik ab. Viele Kritiker der Kultur treten mit der Absicht auf, der Menschheit darzulegen, in welche Richtung sie gehen soll; vorzugsweise heißt es dann, es bräuchte mehr Gerechtigkeit oder mehr Gleichheit oder mehr Solidarität oder mehr Schönheit. Solche Anweisungen geben die liberalen Kulturkritiker nicht – zumindest geben sie diese nicht in einem strikten Sinn: Wiewohl die liberalen Kulturkritiker der Überzeugung sind, dass die Menschheit in Richtung Freiheit gehen soll, lassen sie offen, wie genau dies auszusehen hat. Just die genauen Richtungsvorgaben sind es, welche hierbei missbilligt werden! In diesem Sinne lautet die Direktive, welche von der freiheitlichen Kulturkritik veröffentlicht wird, so: Wählt euer eigenes Kulturideal! Lasst Euch weder von der Politik noch von der Wirtschaft oder von der Kirche oder von sonst jemandem etwas vorschreiben! Entscheidet selbst, in welche Richtung ihr gehen wollt! Gemeinsam ist den in Rede stehenden AutorInnen also, dass sie ihre Kulturkritik im Namen der Freiheit formulieren. Das sollte allerdings keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass es nicht auch vieles gibt, was diese trennt. Zunächst gibt es Unterschiede hinsichtlich des Verständnisses von Freiheit: Freiheit, das hat für José Ortega y Gasset viel mehr mit Transzendenz zu tun als für Norbert Elias. Daraufhin gibt es Differenzen hinsichtlich der Gegenstände der Kulturkritik: Während

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Weber: Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Russland, S. 64. In: J. Winckelmann (Hg.): Max Weber. Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 1988.

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Ernst Cassirer primär gegen unmittelbare Affekte anschreibt, polemisiert Albert Salomon vorrangig gegen schlichtes Nützlichkeitsdenken. Im Weiteren gibt es Abweichungen hinsichtlich der Formate der Kulturkritik: Wo Siegfried Kracauer seine Gedanken vielfach in geschliffenen Feuilletons publiziert, da veröffentlicht Karl Popper seine Ideen oft in umfangreichen Aufsätzen. Mit Sicht auf derartige Diskrepanzen überrascht es freilich nicht, dass auch die politischen Ideen, welche im Bereich der liberalen Kulturkritik vorgetragen werden, zuweilen sehr verschiedenen Charakter haben – politisch verortet sich Plessner an einem anderen Ort als Kracauer. Und schließlich gibt es auch eine fundamentale Scheidung bei der Frage, ob, wie, wann und wo individuelle Freiheit überhaupt möglich ist. Die erste Fraktion behauptet, erst wenn entweder die neue Gesellschaft (wie im Sozialismus/Kommunismus) oder der neue Mensch (wie der sexuell befreite Mensch) da ist, wird Freiheit möglich. Im Ancien Régime oder dem Kapitalismus, also in Tradition und Moderne, ist das nicht möglich. Die zweite Fraktion argumentiert, dass Freiheit und Freiräume für den Einzelnen in jeder Gesellschaft vorhanden sind, mal größer, mal kleiner. Auch im Ancien Régime oder im Kapitalismus gibt es demnach Chancen. Simmel hat dieses Verständnis epistemologisch und ontologisch begründet, indem er bekundet, dass der Mensch mit dem einen Bein in der Gesellschaft, mit dem anderen Bein außerhalb der Gesellschaft steht. Er ist eben immer noch »außerdem« etwas und nicht nur ein soziales Wesen. In Marcuses Augen ist dies anders, denn der Mensch ist seiner Auffassung nach immer schon vergesellschaftet. Abhängigkeiten sind so gesehen stets vorhanden. Für die zweite Fraktion, jener Simmels, ist entscheidend, dass die Gesellschaften eine liberale Verfassung (Menschenrechte als Bürgerrechte, Rechtsstaat und eben die zentrale »Freiheit von« der Familie, der Schule, der Klasse, dem Betrieb und dem Staat) erhält. Für die erste Fraktion, jener Marcuses, ist wünschenswert, dass sich baldmöglichst eine Revolution (typischerweise eine sozialistische) vollzieht.

Von Georg Simmel bis Hannah Arendt Ideenhistoriker haben wie alle Historiker eine Auswahl zu treffen. Diese fällt insbesondere dann, wenn das geplante Buch handlich werden soll, nicht leicht. Kulturkritiker mit einem Interesse an freiheitlichen

Einleitung

Gesellschaften gibt es zu verschiedenen Zeiten sowie an unterschiedlichen Orten: Man denke nur an den französischen Schriftsteller JeanJacques Rousseau (1712–1778), der sich im Ancien Régime für Freiheitsrechte engagierte, an den russischen Romancier Alexander Herzen (1812–1870), der sich im Zarenreich für Pressefreiheit einsetzte, oder an den indischen Essayisten Pankaj Mishra (1969), der in seinem Bestseller Das Zeitalter des Zorns unlängst kritisiert hat, dass freiheitliche Gesellschaften zunehmend von totalitären Systemen verdrängt würden. Ohne Zweifel gibt es einige liberale Kulturkritiker von Rang, trotzdem aber hat man sich auf eine spezifische Gruppe liberaler Kulturkritiker festgelegt, nämlich auf Denker aus dem 20. Jahrhundert einerseits, aus dem westlichen Kulturraum andererseits. Vornehmlich zwei Überlegungen liegen dieser Auswahl zu Grunde. Zunächst schien es passend, sich mit westlichen Intellektuellen des vergangenen Jahrhunderts zu beschäftigen. Diese thematisieren einen Zeitraum, welcher mit der gegenwärtigen Welt überaus viel gemein hat, man denke nur an die nach wie vor sehr prominente Vorstellung, der Fortschritt der Menschheit liege grundsätzlich in der Erhöhung des materiellen Wohlstands. Zudem schien es passend, sich mit unkonventionellen Intellektuellen auseinanderzusetzen. Wiewohl diese ihre Kritik an Kulturformen auf der Basis eines ähnlichen Kulturideals formulieren, liefern sie doch jeweils sehr eigene Perspektiven auf die Moderne, angesprochen seien nur die erheblichen Diskrepanzen, welche zwischen deren Sichtweisen auf den Kapitalismus bestehen. In der Hauptsache aufgrund dieser zwei Gedanken sind die im Folgenden behandelten Kulturkritiker der Rede wert: Sie liefern originelle Blicke auf eine Welt, welche zumindest in vielen Zügen auch die unsere ist. Bei der Auswahl keine Rolle gespielt hat, welcher wissenschaftlichen, literarischen oder sonstigen Disziplin jemand angehört. Dass die einen Soziologen, die anderen Philosophen sind und gewisse Verfasser feuilletonistischer Essays hinzukommen, besagt keineswegs, dass sich diese Kulturkritiker nicht miteinander betrachten, vergleichen oder zusammenbringen lassen. Es geht auf den nächsten Seiten nur zum Teil darum, wie in einem bestimmten Fach, in einem bestimmten Genre oder in sonst einem eng umrissenen Feld liberale Kulturkritik betrieben wird, eher geht es im Kern darum, die vielen Seiten der liberalen Kulturkritik sichtbar zu machen. Dieser Typus der Kulturkritik tritt wie andere Typen der Kulturkritik in verschiedensten Gewändern auf, weshalb im vorliegenden Band versucht wird, möglichst viele jener Gewänder zu berück-

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Christian Marty, Hans-Peter Müller, Barbara Thériault

sichtigen: Gleichermaßen thematisiert seien soziologische Abhandlungen, philosophische Schriften oder feuilletonistische Essays. Die ausgewählten Kulturkritiker werden chronologisch untersucht. Der »Älteste« wird also zuerst, die »Jüngste« zuletzt präsentiert. Vorgestellt wird Georg Simmel von Hans-Peter Müller, Max Weber von Christian Marty, Ernst Cassirer von Birgit Recki, José Ortega y Gasset von Werner Oechslin, Siegfried Kracauer von Barbara Thériault, Norbert Elias von Marta Bucholc, Albert Salomon von Felix Steilen, Herbert Marcuse von Ingrid Gilcher-Holtey, Karl Popper von Daniel Brühlmeier sowie Hannah Arendt von Josette Baer. Eine Vorbemerkung: Thériaults Beitrag über Kracauer wird anstelle eines Schlussworts publiziert. Der Beitrag von Thériault ist speziell: Sie publiziert ein Feuilleton von Kracauer – und liefert ihren Beitrag in längeren, ebenfalls feuilletonistischen Fußnoten. Überhaupt sind die versammelten Aufsätze eigen; sie haben stets einen persönlichen, sich vom wissenschaftlichen Jargon fernhaltenden Stil.

Zur Aktualität der Kulturkritik im Namen der Freiheit Einem gängigen Vorurteil zufolge ist die Kulturkritik mit dem Ende des Kalten Krieges ins Grab gesunken; mit dem vermeintlichen »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama) habe sich die liberal-demokratische Gesellschaftsordnung durchgesetzt – und das kulturkritische Gerede von möglichen Alternativen verabschiedet. Dies ist nicht zutreffend, denn die Kulturkritik ist so präsent wie auf ihrem angeblichen Höhepunkt in den Jahren um die 1968-Revolte: Es gibt unzählige, die im Namen der Gerechtigkeit gegen politische Diskriminierung kämpfen; es gibt viele, die im Namen der Gleichheit gegen ökonomische Ungleichheiten kämpfen; es gibt auch etliche, die im Namen einer »abendländischen Kultur« – ohne in den allermeisten Fällen zu präzisieren, was damit gemeint ist – gegen Formen der Globalisierung wettern. Das Ende der Kritik – wie die Kulturwissenschaftler Ulrich Schödlbauer und Joachim Vahland vor einigen Jahren meinten –: Lässt sich davon berechtigterweise sprechen?5 Das lässt sich nur insofern tun, als dass die Kulturkritik, welche im Namen der Freiheit auftritt, sich in der neueren Zeit mehr und mehr aus dem kulturkritischen Geschäft zurückgezogen hat. Im kulturkritischen 5

Vgl. Schödlbauer/Vahland: Das Ende der Kritik, München 2018.

Einleitung

Diskurs gibt es viele Einwürfe, wobei solche dominieren, welche soziale, ästhetische oder identitätstheoretische Aspekte anvisieren; eher am Rand finden sich Kommentare, welche auf das Freiheitsthema abzielen. In diesem Sinne ist die Hinwendung zu einer Form der Kulturkritik, welche gerade etwaige Freiheitsmomente in den Mittelpunkt des Denkens stellt, horizonterweiternd: Dadurch lässt sich eine jener Formen der Kulturkritik, welche sonst eher außerhalb des Blickfeldes bleibt, kennenlernen. Exakt dafür, um den intensiveren Kontakt mit der liberalen Form der Kulturkritik zu ermöglichen, ist dieser Band geschrieben worden. Die in diesem Band thematisierten Denker machen vor, was Kulturkritik auch sein kann. Im Zuge der Beschäftigung mit diesen Intellektuellen stößt man auf ungemein zentrale Fragen, welche die alltägliche Lebensführung direkt betreffen: Was bedeutet die Wirklichkeit des Lebens, in welches der Mensch hineingestellt ist, für dessen Freiheit? Wenn Demokratie in politischer Hinsicht, Kapitalismus in wirtschaftlicher Hinsicht sowie Individualismus in gesellschaftlicher Hinsicht seit rund 200 Jahren das »Programm« der westlichen Welt ausmachen, wie Beobachter immer wieder unterstreichen – was bedeutet dieses Programm dann für die Möglichkeit, das Leben selbstbestimmt zu führen?6 Ist es denn tatsächlich so, dass jenes Programm die Chance einer freiheitlichen Lebensführung erhöht? Fragen wie diese, von der liberalen Kulturkritik während dem vergangenen Säkulum ins Zentrum der Reflexion gestellt, haben kein Ablaufdatum – oder sind zumindest noch nicht abgelaufen: Wie damals, so lässt sich auch heute noch fragen, was die westliche Moderne für den Menschen bedeutet. Wie damals, so lässt sich auch heute noch fragen, wie sich die gerade herrschenden Ordnungen der Politik, der Wirtschaft, ja der Gesellschaft im Allgemeinen auf des Menschen Freiheit auswirken. Sind die Kulturformen der »freien« Welt so freiheitlich, wie deren Befürworter bekunden? Was für ein Typus von Lebensführung wird von diesen Kulturformen – mit Max Weber gesprochen – »prämiert«? Wird die selbstbestimmte Lebensweise mit einer »Prämie« versehen? Oder gibt es womöglich doch eine »Prämie« auf die »Anpassungsfähigkeit«, wie Weber mit Sicht auf (von ihm in Anführungszeichen gesetzte) »›liberale‹« Gesellschaften sagt?

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Vgl. u.a. Müller: Krise und Kritik. Klassiker der soziologischen Zeitdiagnose, Frankfurt a.M. 2021.

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Für Räsonnements wie diese können die liberalen Kulturkritiker Vorbilder, Anreger und Inspirationen sein. Diese Kulturkritiker sind Persönlichkeiten, welche zeigen, wie sich auf der Basis eines Freiheitsideals über etwaige Kulturformen nachdenken lässt: Auf dass in baldiger Zukunft vielleicht wieder mehr Personen zusammenfinden, um zu fragen, wie frei die »freie« Welt eigentlich ist.

Georg Simmel und die Freiheit Hans-Peter Müller

Einführung Freiheit benötigen vor allem die, die anders sind. Jede Gesellschaft diktiert eine Kultur- und Lebensform ihren Mitgliedern, der sie sich zu fügen haben. Je totalitärer oder je autoritärer dieses Diktat ausfällt, desto geringer werden die Spielräume für individuelle Freiheit. Traditionelle Gesellschaften vom Typus des Ancien Régime einerseits und dezidiert progressive Gesellschaften mit utopischem Perfektibilitätsanspruch andererseits gewähren ihren Leuten am wenigsten Freiheit. Die Tradition weiß und wusste schon immer, was für die Menschen gut ist. Staat und Kirche, Politik und Religion haben ein festes Korsett politischer und religiöser Herrschaft geschmiedet, aus dem es kaum ein Entrinnen gab. In gleicher Weise, wenn auch mit vermeintlich benevolentem Vorzeichen, verfährt der institutionalisierte Fortschritt in sozialistischen Gesellschaften. Da auch sie wissen, was den Menschen in der »guten Gesellschaft« frommt, wird eine vorbildliche und verbindliche Lebensform der Gleichheit oktroyiert, die keine Abweichung oder Anderssein tolerieren kann. Nur moderne liberale Gesellschaften des Westens auf der Basis von kapitalistischer Marktwirtschaft, parlamentarischer Demokratie und einer bürgerrechtlichen Kultur des Individualismus haben es geschafft, ihren Mitgliedern ein in der Menschheitsgeschichte bislang ungekanntes Maß an Freiheit zuzugestehen: die Freiheit zur selbstbestimmten Wahl ihrer eigenen Lebensführung im Rahmen von Recht und Gesetz einer offenen Gesellschaft. Um jeglichem Verdacht der Glorifizierung westlicher Gesellschaften gleich vorzubeugen, sollte mit Nachdruck betont werden, dass gerade liberale Gesellschaften mit ihrem Freiheitsversprechen alles andere als perfekt sind. Im Gegenteil: Gerade ihre Unvollkommenheit, ihre »Krummheit« entspricht dem, was Kant das »krumme Holz der

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Menschheit« genannt hat.1 Der unvollständigen menschlichen Natur, ihrer »ungeselligen Geselligkeit«, entspricht eine Gesellschafts- und Lebensform, die im permanenten Werden und konstantem Wandel ist, zwar auch nach Ameliorität strebt, aber um die Komplexität und Kontingenz gerade moderner Gesellschaften weiß. Freiheit und überhaupt, »frei zu sein«, ist anstrengend; viele Experimente zur eigenen, selbstbestimmten Lebensführung scheitern und – obwohl Bedingung der Möglichkeit für ein »gutes Leben« – können so in der Sackgasse gescheiterter Lebensstilexperimente landen. Freiheit kann zwar lapidar und einleuchtend lauten: »Die Freiheit, frei zu sein«2 , aber damit fangen die Probleme eigentlich erst an. Denn: Wie geht Freiheit? Wie lernt man, freiheitlich zu leben? Welche Gesellschaft eröffnet überhaupt die Spielräume für eine freiheitliche Lebensführung? Wie lässt sich Modernität mit Freiheit und Individualität verbinden? Diesem Fragenkomplex ist Georg Simmel sein Leben lang nachgegangen. In seine Schule muss gehen, wer sein »individuelles Gesetz« finden will. Jede selbstverantwortete Lebensführung benötigt eine Lebensphilosophie, die Lebenskunst, die Kultur der Geselligkeit und eine ästhetische Lebensgestaltung geschickt zu kombinieren erlaubt. Simmel verfolgt diesen Fragenkomplex im Rahmen einer Philosophie, Soziologie und Ästhetik moderner Gesellschaften, die Modernität mit Freiheit und Individualität verknüpfen.3 Obgleich eine liberale Kultur Freiheit wie die Luft zum Atmen braucht, hat Simmel kein eigenständiges Werk zu dieser Thematik geschrieben. Aber er hat sich zeit seines Lebens damit beschäftigt. Am wichtigsten sind seine Ausführungen zu Beginn, in der Mitte und zum Ende seines Lebens. Der zweite Band seiner Einleitung in die Moralwissenschaft enthält ein großes Kapitel über Freiheit. In der Philosophie des 1

Kant, Immanuel, »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« (1784), in: Werke, Bd. VI, hg. von W. Weischedel, Darmstadt 1983, S. 31–50.

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Arendt, Hannah, Die Freiheit, frei zu sein, München 2018. Vgl. dazu Lichtblau, Georg, Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland, Frankfurt a.M. 1996; Müller, Hans-Peter und Reitz, Tilman (Hg.), Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität, Berlin 2018; Martinelli, Monica, »Freiheit«, in: Simmel-Handbuch, Berlin 2018, S. 196–203; Martinelli, Monica, L’altra libertà. Saggio su Simmel, Mailand 2011; Völzke, Erhard, Das Freiheitsproblem bei Georg Simmel, Bielefeld 1986.

Georg Simmel und die Freiheit

Geldes beschäftigt sich Simmel mit »individueller Freiheit«. Ein kurz vor seinem Tod übergebenes und unvollendetes Manuskript bettet Freiheit in seine Überlegungen zur Lebensphilosophie ein. Zunächst diskutiert Simmel die philosophischen Bestimmungen von Freiheit, die er allesamt für so unbefriedigend hält, dass er an der empirischen Erfahrung von Freiheit ansetzen will. Das heißt, den gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit nachzuspüren: Soziale Differenzierung und eine entwickelte Geldwirtschaft schaffen günstige Bedingungen einer »Freiheit von« gesellschaftlichen Zumutungen und Verpflichtungen. Das ist sein erster Schritt. Sodann sucht er in seiner Kultursoziologie nach kulturellen Formen, die der freiheitlichen Gesellschaftsform auch eine Abstützung durch die »Freiheit zu« einer individuellen Lebensform eröffnen. Denn »Freisein« heißt, seine Individualität auszubilden. Das ist der zweite Schritt. Schließlich entwickelt er im Rahmen seiner Kultur-, Kunst- und Lebensphilosophie einen Vorstellungskomplex, wie moderne Menschen zu ihrem »individuellen Gesetz« finden können, das eine selbstbestimmte Lebensführung erlaubt. Diese drei Schritte, die im Folgenden zu entwickeln sind, werden mit der These verbunden, dass Simmel eine elaborierte Philosophie, Soziologie und Ästhetik des Lebens ausarbeitet und dass seine Trias von Modernität, Freiheit und Individualität eine besonders gelungene und auch heute noch aktuelle Konzeption von Freiheit unterbreitet.

1. Philosophie und die Gesellschaft der Freiheit Als junger und kühner Philosoph wütet Simmel wie ein Ikonoklast, als ein Bilderstürmer also, der alle liebgewordenen philosophischen Theorien und Ansätze zu dekonstruieren unternimmt. Nichts ist ihm heilig. Im 19. Jahrhundert gewannen gerade vor dem Hintergrund der großen Erkenntniserfolge der Naturwissenschaften Geschichtsphilosophien an Gewicht, die den »Fortschritt« in der Gesellschaft unzweideutig feststellen zu können glaubten. Es geht aufwärts und das immerzu. Simmels Probleme der Geschichtsphilosophie machen diesen Vorstellungen pace Nietzsche ein für alle Mal den Garaus. Der historische Prozess folgt weder »Gesetzen«, noch bedeutet das Geschehen »Fortschritt«. Das gilt auch und vor allem für ein Gebiet, in dem gerade die deutsche Philosophie mit Kant, Hegel, Fichte und Schelling für Furore gesorgt hatte, nämlich der Ethik. Simmel schreibt gleich zwei große Bände, die

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er zwar bescheiden Einleitung in die Moralwissenschaft nennt, die aber der abendländischen Philosophie das Phantasma austreiben, dass eine noch so vollendete Durchdringung aller ethischen Systeme dazu geeignet sein könnte, eine »neue Moral« zu verkünden. Nichts dergleichen ist möglich. Es gibt keinen Sprung vom »Sein« zum »Sollen«. Ethiken lassen sich auf ihre Grundsätze und Prinzipien hin beschreiben, aber nicht verkünden. Deskription ja, Präskription nein. Das trifft den kategorischen Imperativ gleichermaßen wie die Freiheit. Gerade in seinem fulminanten Kapitel über die Freiheit dekliniert er zwar alle wichtigen Unterscheidungen der Begrifflichkeit durch, verweigert aber eine eindeutige Definition ebenso wie eine »Theorie« der Freiheit. Freiheitlichkeit hat einfach viel zu viele Gesichter, um sie in einem Satz zu definieren und ihren vielfältigen Sinn eindeutig festzunageln. Simmel unterscheidet ethische von der empirischen Freiheit, Metaphysik von Erfahrung. Boden unter den Füßen bekommt man nur, wenn man ein Subjekt annimmt, das Träger der Freiheit wird. Es ist das »Ich« und sein Willen. Und es wird sehr schnell deutlich, dass Simmel aus dem Korsett der philosophischen Tradition ausbrechen will. Zwar hat sie begriffliche Leistungen erbracht, aber in ihrem analytischen Differenzierungs- und Auflösungsvermögen Dinge auch auseinandergerissen, die zusammengehören, in der Folge aber in Opposition zueinander gebracht wurden. Vernunft und Sinnlichkeit, Freiheit und Determiniertheit, Freiheit und Bindung, äußere und innere Freiheit, Freiheit und Verantwortlichkeit usw. usf. Simmel geht vom »ganzen Menschen« aus, setzt das Ich als Träger der Freiheit und beginnt den Komplex der empirischen Erfahrung von Freiheit und Verantwortung auf- und auszuarbeiten. Ein erstes Ergebnis ist in seiner Studie Über sociale Differenzierung zu besichtigen. Unter dem Stichwort »Der Kreuzung sozialer Kreise« bemerkt er, dass je mehr der einzelne Mensch verschiedene und zum Teil unvereinbare Rollen in verschiedenen Gruppen zu spielen hat, desto größer wächst der Spielraum in der Ausfüllung seiner einzelnen Verpflichtungen. Und es ist dieser Spielraum, der Freiheit zur Gestaltung verheißt. Kurzum: »die Freiheit des Individuums gewinnt mehr und mehr Gebiete für sich.«4 In der Philosophie des Geldes vertieft Simmel diese Einsicht. Die Arbeitsteilung und die entwickelte Geldwirtschaft haben zur Folge, dass persönliche Abhängigkeiten ab-, unpersönliche Beziehungen 4

GSG 2, S. 245.

Georg Simmel und die Freiheit

zunehmen und dass Sein und Haben einer Person immer weiter auseinandertreten. »Die moderne Arbeitsteilung läßt ebenso die Zahl der Abhängigkeiten wachsen, wie sie die Persönlichkeiten hinter ihren Funktionen zum Verschwinden bringt, weil sie eben nur eine Seite derselben wirken läßt, unter Zurücktreten aller anderen, deren Zusammen erst eine Persönlichkeit ergibt.«5 Das hängt eng mit der Rolle und Funktionsweise des Geldes zusammen. Es favorisiert abstrakte, sachliche und unpersönliche Beziehungen in Raum und Zeit und macht somit eine »Gesellschaft von Fremden« überhaupt erst möglich. Man muss sich nicht kennen, man muss sich nicht mögen, man muss sich nicht enger liieren, um Tausch und Handel über den Geldgebrauch abzuwickeln. Das fördert Freiheit, Freiwilligkeit und Freizügigkeit über den Horizont des Bekannten und Vertrauten hinaus. Die Scheidung von Haben und Sein durch die entwickelte Geldwirtschaft hat in Simmels Augen enorme Effekte auf und für die Freiheit. »Wenn die Moralphilosophie die sittliche Freiheit als die Unabhängigkeit der Vernunft von den sinnlich-egoistischen Impulsen zu definieren pflegt, so ist dies doch nur ein einseitiger Fall des ganz allgemeinen Ideals der Freiheit, das in der gesonderten Entfaltung, dem unabhängigen Sich-Ausleben einer Seelenenergie allen anderen gegenüber besteht; auch die Sinnlichkeit ist ›frei‹, wenn sie mit den Normen der Vernunft nicht mehr verbunden, also nicht mehr durch sie gebunden ist, das Denken ist frei, wenn es nur seinen eigenen, ihm innerlichen Motiven folgt und sich von den Verknüpfungen mit Gefühlen und Wollungen gelöst hat, die es auf einen Weg, der nicht sein eigener ist, mitziehen wollen. So kann man Freiheit in diesem Sinne als innere Arbeitsteilung definieren, als eine gegenseitige Lösung und Differenzierung der Triebe, Interessen, Fähigkeiten. Der Mensch ist als ganzer frei, innerhalb dessen jede einzelne Energie ausschließlich ihren eigenen Zwecken und Normen gemäß sich entwickelt und auslebt. Darin ist die Freiheit im gewöhnlichen Sinne, als Unabhängigkeit von äußeren Mächten, einbegriffen. […] Jener alte Satz, daß Freiheit bedeutet, der eigenen Natur gemäß zu leben, ist nur der zusammenfassende und abstrakte Ausdruck für das, was hier in konkreter Einzelheit gemeint ist; da der Mensch aus einer Anzahl von Qualitäten, Kräften und

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PDG, S. 313 bzw. GSG 6, S. 394.

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Impulsen besteht, so bedeutet Freiheit die Selbständigkeit und nur dem eigenen Lebensgesetz folgende Entfaltung jedes derselben.«6 Arbeitsteilung und Geldwirtschaft steigern die Lebenschancen für Freiheit und Individualität, allein es ist nur eine negative Freiheit »von« ohne eine positive Freiheit »zu« etwas wie auch eine potentielle Individualität ohne inneres eigenes Gesetz. Simmel untersucht daher in seinem berühmten sechsten Kapitel »Der Stil des Lebens« der Philosophie des Geldes, ob und, wenn ja, wie die moderne Kultur den Menschen Orientierung und Freiräume zugleich geben könnte, was er dann »Die Tragödie der modernen Kultur« nennen sollte. Tatsächlich tut sich nämlich eine Kluft auf zwischen der objektiven und der subjektiven Kultur, der Welt der Sachen und der Welt der Menschen. Die objektive Kultur wächst so viel schneller heran, dass die subjektive Kultur der Individuen da nicht mehr mitkommt. Moderne Kultur und Gesellschaft werden immer reicher, während die modernen Menschen im Vergleich dazu immer »ärmer«, ja »armseliger« aussehen. Niemand kann sich mehr das Wissen seiner Zeit aneignen; kaum jemand vermag sich die rasant anwachsenden Kulturgüter anzuverwandeln; unmöglich gelingt es noch einem Individuum, den Kosmos der modernen Welt in allen Einzelheiten zu verstehen. Nicht genug damit, präsentiert sich die Moderne in all ihrer Zerrissenheit und Beweglichkeit, Fragmentierung und Unübersichtlichkeit, so dass sie dem Einzelnen keine Orientierung mehr angedeihen lassen kann. Die »allgemeine Relativität der Welt«7 , Distanz, Rhythmus wie Symmetrie und das gesteigerte Tempo des Lebens charakterisieren ihre Modernität. Moderne heißt permanentes Werden statt ewigem Sein, Funktionen statt Substanz, Relativismus statt Absolutismus. Alles ist stets im Auf-, Um- und Neubau: Gesellschaft, Kultur und Individuum. Die unversöhnte Moderne scheint alles zu versprechen, bloß keine Erlösung. Es ist das »Stets weiter so«, ein Fortschreiten ohne Fortschritt, Evolution und Transformation statt Revolution und Neubeginn. Das Grundprogramm der Moderne setzt so die Zeichen auf Bewegung, Veränderung und Wandel. Der Weg ist das Ziel, denn ein Telos hat die Moderne nicht. Stattdessen verkörpert sie ein ewig uneingelöstes Versprechen auf Ankunft, Herkunft und

6

PDG, S. 333f. bzw. GSG 6, S. 418.

7

PDG, S. 584 bzw. GSG 6, S. 715.

Georg Simmel und die Freiheit

Zukunft, aber nur als Sehnsucht und nicht als Wirklichkeit. Die Moderne gibt das Heil als Schimäre. Wo und wann immer sie dagegen so etwas wie das Heil andeutungsweise konkret versprochen hat, ist die Moderne flugs zum Mythos geworden. Dieses Auseinanderdriften von Welt und Mensch, Gesellschaft und Individuum hat Simmel in seiner geldtheoretisch inspirierten Zeitdiagnose zum modernen Leben verdichtet: »Der Mangel an Definitivem im Zentrum der Seele treibt dazu, in immer neuen Anregungen, Sensationen, äußeren Aktivitäten eine momentane Befriedigung zu suchen; so verstrickt uns dieser erst seinerseits in die wirre Halt- und Ratlosigkeit, die sich bald als Tumult der Großstadt, bald als Reisemanie, bald als wilde Jagd der Konkurrenz, bald als die spezifisch moderne Treulosigkeit auf den Gebieten des Geschmacks, der Stile, der Gesinnungen der Beziehungen offenbart.«8 Und doch bleibt die Sehnsucht nach positiver Freiheit und erfüllter Individualität bestehen. Denn: »Das Individuum begehrt, ein geschlossenes Ganzes zu sein, eine Gestaltung mit eigenem Zentrum, von dem aus alle Elemente seines Seins und Tuns einen einheitlichen, aufeinander bezüglichen Sinn erhalten.«9 Simmel wird in der Folge in seiner Kultur-, Kunst- und Lebensphilosophie diesen Problemen nachgehen. Wie ist positive Freiheit möglich? Wie sieht eine Individualität mit eigenem »individuellen« Gesetz aus?

2. Kunst und die Kultur der Freiheit Sein Opus magnum, die Philosophie des Geldes, formuliert die Zeitdiagnose zur Struktur der modernen Gesellschaft in Gestalt von Arbeitsteilung und entwickelter Geldwirtschaft wie auch zur Kultur der Gesellschaft, die in der wachsenden Kluft zwischen objektiver und subjektiver Kultur zum Ausdruck kommt. Um die drängenden Probleme – positive Freiheit und Individualität – zu lösen, erweitert er seine Kultursoziologie zu einer Kulturphilosophie, beginnt an seiner Kunstphilosophie zu arbeiten und entdeckt über die Rezeption von Henri Bergson die Lebensphilosophie für sich. Sein Ausgangspunkt besteht darin, die Konturen des mo8

PDG, S. 551 bzw. GSG 6, S. 675.

9

PDG, S. 563 bzw. GSG 6, S. 690.

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Hans-Peter Müller

dernen Weltbildes nicht nur soziologisch, sondern auch philosophisch zu bestimmen. Es gilt also, »die Zahl der Grundmotive« aufzufinden, die »bei der allgemeinsten Betrachtung des Lebens fast überall in eine Zweiheit […] münden, als deren Kampf, Kompromiß, Kombination zu immer neuen Gestalten alles Leben erscheint«.10 »Grundtypus und Urform«11 solcher Dualismen variieren nach Zeit und Raum. In der griechischen Philosophie nennt Simmel den Gegensatz zwischen »Sein« (Parmenides) und »Werden« (Heraklit); das Christentum artikuliert den »Gegensatz des göttlichen und irdischen Prinzips«12 ; in der Neuzeit kommt es zum Gegensatz zwischen »Natur« und »Geschichte«, während die Gegenwart um den Gegensatz zwischen »Sozialismus« und »Individualismus« kreist. Jeder dieser Dualismen legt »die Form der Charakterbildung« fest, die »nicht weniger die Tiefen rein materieller Lebensinteressen als die Höhen der ästhetischen Weltanschauung«13 definiert. Vor diesem Hintergrund tritt Simmel in eine Auseinandersetzung mit Sozialismus und Individualismus ein, diskutiert ihre Spielarten wie auch ihre ethischen und ästhetischen Dimensionen und Dispositionen mit Bezug auf das Individuum, seine Freiheit und Individualität.14 Für Georg Simmel steht fest, dass Idee und Ideal der Individualität modernen Ursprungs sind. Um die Richtungen und Ausprägungen des Individualismus näher charakterisieren zu können, führt er die Unterscheidung von quantitativem und qualitativem Individualismus ein. Historisch gesehen, ist der quantitative Individualismus ein Kind der Aufklärung. Im Zentrum steht die Idee der Freiheit des Menschen, die gegen die traditionellen Mächte von Monarchie und Kirche erkämpft werden müsse. Das Ancien Régime bindet den Einzelnen an traditionelle Gewalten und deren Verpflichtungen, die aus moderner Sicht als Last und Zumutung empfunden werden. Das Licht der Freiheit scheint so hell, dass ihre Realisierung scheinbar alle gesellschaftlichen Probleme gleich mit zu lösen verspricht. Es geht vor allem um den Kampf gegen die Macht und die Freiheit von ihrer Gewalt. Die befreite Gesellschaft 10

GSG 5, S. 197.

11

Ebd.

12

Ebd., S. 198.

13

Ebd.

14

Vgl. Müller, Hans-Peter, »Wie ist Individualität möglich? Strukturelle und kulturelle Bedingungen eines modernen Kulturideals«, in: Zeitschrift für theoretische Soziologie 4 (1), 2015, S. 89–111.

Georg Simmel und die Freiheit

schafft offenkundig das autonome Individuum in Gestalt des Menschen als Menschen. In diesem Sinne, also nach heutigem Verständnis der Menschen- und Bürgerrechte, gehen die Werte von Freiheit und Gleichheit eng zusammen. Aber die naheliegenden Fragen: Was kommt nach der Freiheit? Wie sieht eine tragfähige Freiheit zu autonomer Lebensführung aus?, werden nicht aufgeworfen. Die Vorstellung von Individualität richtet sich auf den Menschen als eigenständiges Sinn-, Bedeutungs- und Moralzentrum, was sich und seine Lebensführung in sittlicher Autonomie zu verantworten hat. Für Simmel repräsentiert Kants kategorischer Imperativ die reinste Ausgestaltung dieses Begriffs von Individualität im 18. Jahrhundert: »die persönliche Freiheit, die die Gleichheit nicht aus-, sondern einschließt, weil die wahre ›Person‹ in jedem zufälligen Menschen eben die gleiche ist.«15 Die Folgeprobleme bleiben indes ausgespart. Die Menschen sind zwar als Personen gleichgestellt, aber als Menschen sind sie höchst unterschiedlich ausgestattet in ihren Talenten und Energien, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Das Bedürfnis nach Freiheit schafft in seiner Verwirklichung einen performativen »Selbstwiderspruch. Denn es ist offenbar nur dann dauernd zu realisieren, wenn die Gesellschaft aus lauter gleich starken und innerlich wie äußerlich genau gleich begünstigten Individuen besteht.«16 Ist das nicht der Fall, dann werden diese individuellen Unterschiede sofort soziale Ungleichheiten produzieren und die Freiheit der Starken wird die Unterdrückung der Schwachen bedeuten. »Aus diesem Grunde war die paradoxe Frage durchaus gerechtfertigt, ob nicht die Vergesellschaftung der Produktionsmittel die einzige Bedingung wäre, unter der – die freie Konkurrenz durchzuführen wäre! […] Die volle Freiheit eines jeden kann nur bei voller Gleichheit mit jedem anderen statthaben.«17 Im 19. Jahrhundert gehen diese beiden Ideale auseinander mit der Folge, dass »die Tendenz auf Gleichheit ohne Freiheit und auf Freiheit ohne Gleichheit«18 geht. Im Sozialismus ist der primäre Wert die Gleichheit, so

15

GSG 16, S. 137.

16

Ebd., S. 129.

17

Ebd., S. 130.

18

Ebd., S. 136.

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Hans-Peter Müller

dass existierende Ungleichheiten abgebaut und Nivellierungspolitik betrieben werden muss. Je nach Status und Stellung des Einzelnen in der sozialen Hierarchie der Gesellschaft wird die individuelle Freiheit davon unterschiedlich betroffen. Was für den Arbeiter ein Zugewinn an Freiheit bedeutet, kann für Unternehmer, Künstler und Gelehrte einen veritablen Freiheitsverlust implizieren. Zudem vermag auch der Sozialismus das Problem der Meritokratie nicht zu lösen, also die Gretchenfrage aller sozialen Ungleichheit: Wer bekommt was, wie und warum? Auch in der sozialistischen Gesellschaft wird es mehr Menschen geben, die zu Höherem befähigt wären – allein diese vielen höheren Stellungen gibt es nicht. »Diese Inkommensurabilität zwischen dem Quantum der Befähigungen zur Überordnung und dem ihrer möglichen Betätigung«19 gehört konstitutiv zur Ordnung jeder Gesellschaft. »Auch in der sozialen Struktur geht es nach dem Grundsatz: Viele sind berufen, aber wenige sind ausgewählt. Mit dieser Antinomie findet sich das ständische Prinzip und die jetzige Ordnung ab, indem sie Klassen pyramidenförmig mit immer geringerer Mitgliederzahl übereinanderbauen und dadurch die Zahl der zu leitenden Stellungen ›Qualifizierten‹ a priori einschränken. […] Ob eine sozialistische Ordnung schließlich ohne ein solches Apriori für Über- und Unterordnung auskommen würde, ist fraglich.«20 Für Simmel gehört dieses Apriori »zu den logischen Voraussetzungen der Gesellschaft«, so dass auch »eine sozialistische Verfassung« die angestrebte »Synthese von Freiheit und Gleichheit auf der Basis der Gerechtigkeit«21 wohl nicht wird leisten können. Obgleich sich gerade der junge Simmel mit der sozialen Frage kritisch auseinandergesetzt hat, hält er den Sozialismus letztlich für ungeeignet, das Problem von Freiheit und Individualität zu lösen. Der qualitative Individualismus des 19. Jahrhundert hält dagegen an der Freiheit fest, ersetzt aber Gleichheit durch Ungleichheit oder Differenz. Gerade nicht wie alle anderen Menschen zu sein, sondern Anderssein ist das Ideal. »Es geht durch die ganze Neuzeit: das Individuum sucht nach sich selber, als ob es sich noch nicht hätte, und ist doch sicher, an seinem Ich den einzig festen Punkt zu haben.« Diese Einzigartigkeit 19

Ebd., S. 141.

20

Ebd., S. 142.

21

Ebd., S. 143.

Georg Simmel und die Freiheit

und Unvergleichbarkeit der je eigenen Individualität ein Leben lang zu entwickeln, zu pflegen und zu verwirklichen, wird das wichtigste Anliegen eines jeden Menschen. Denn es gilt, »sein eigenes, nur ihm eigenes Urbild zu verwirklichen.«22 In Simmels Augen schließt sich da der Kreis zwischen der strukturellen Entwicklung der Gesellschaft in Gestalt der Arbeitsteilung einerseits, ihrer kulturellen Entfaltung in Gestalt des qualitativen Individualismus andererseits. »Mit dem Individualismus des Andersseins, der Vertiefung der Individualität bis zur Unvergleichlichkeit des Wesens ebenso wie der Leistung, zu der man berufen ist – war nun auch die Metaphysik der Arbeitsteilung gefunden.«23 Das Vorbild für diesen Individualismus des Andersseins, der Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit, kurz: der Unikalität, ist die Kunst. »Man wird behaupten dürfen, daß sich in der Kunst etwas ausspricht, was jenseits der – in Vollendung zu Gebote stehenden – Form der Kunst lebt. In jedem großen Künstler und jedem großen Kunstwerk ist ein Tieferes, Breiteres, aus verborgenen Quellen Fließendes enthalten, als die Kunst in ihrem rein artistischen Sinne hergibt, das aber von ihr aufgenommen und zu Darstellung und Merkbarkeit gebracht wird.«24 Beispiele hierfür gibt es zuhauf. »So das innere Schicksal, das Beethoven in den letzten Werken aussprechen will.« So »die Kunst van Goghs«, in der »dieses glühende, in seiner Unmittelbarkeit fühlbare Leben«25 zum Ausdruck kommt. Um dem Phänomen der Unikalität besser auf die Spur zu kommen, untersucht er genauer eine Reihe von Künstlerpersönlichkeiten und ihre Schaffensweisen. Michelangelo als Schöpfer und Raffael als Gestalter, Auguste Rodin und seine Plastiken, Stefan George und seine Dichtung. Zentral für seine Kunst- und Lebensphilosophie werden aber Rembrandt und seine Malerei sowie Goethe und sein Werk, denen er auch ganze Monographien widmet.

22

Ebd., S. 146.

23

Ebd., S. 148.

24

Ebd., S. 193.

25

Ebd., S. 194.

25

26

Hans-Peter Müller

3. Das Leben: Modernität, Freiheit und Individualität Simmel war stets ein guter Kantianer, aber die Ethik des kategorischen Imperativs hielt er nicht nur für hoffnungslos veraltet, sondern auch in seiner dualistischen Konstruktion ungeeignet mit seinen Dichotomien wie Subjekt – Objekt, das Individuelle – das Allgemeine, die Wirklichkeit – das Ideal, die Freiheit – das Gesetz, das Sein – das Sollen, die Subjektivität – die Objektivität. Statt solcher Dualismen wie Leben und Sollen optierte Simmel für ein »Drittes« – seine Lieblingslösung: die Triade von Wirklichkeit, Sollen und Leben. Das Leben umfasst nämlich stets beides: die Wirklichkeit und das Sollen. Die Ethik wird also nicht abgeschoben in eine eigene Sphäre, um dann wie ein »deus ex machina« exogen und von oben das Leben zu regeln. Vielmehr geht es Simmel um eine endogene, sich aus der Mitte des Lebens heraus entwickelnde Lösung. Es ist das Individuum selbst, das sich gleichsam »von innen her« in Einsamkeit und Freiheit ein ethisches Gesetz verleihen muss, das als Richtschnur für die individuelle Selbstverwirklichung dem einzelnen Leben sein »Telos« vorschreiben sollte. Man fühlt sich an dieser Stelle an Webers Diktum erinnert, dass jeder den Dämon in sich finden solle, der dann die Fäden des eigenen Lebens in den Händen halten würde. Aber Simmel hätte diese Redeweise sicherlich als irrationalistisch, willkürlich und schicksalhaft kritisiert. Hier handelt es sich um eine bewusste, freie und vernünftige Bestimmung eines ethischen Gesetzes, dem dann die Lebensführung der ganzen Existenz unterstellt wird. Es erwächst gleichsam ein objektives Sollen für das Individuum, »die aus seinem Leben heraus an sein Leben gestellte Forderung.«26 Das Leben des modernen Individuums, das seinem eigenen »individuellen Gesetz« konsequent über seinen Lebensverlauf hinweg im Rahmen seiner Biografie folgt, ähnelt der »methodischrationalen Lebensführung« der Puritaner in seiner Rigorosität, Folgerichtigkeit und Lebenslänglichkeit. Hier wie dort wird ein strenges moralisches Regime errichtet, das eine gelungene Seelen- und Lebensführung verspricht. Aber das moderne Individuum unterwirft sich seinem »individuellen Gesetz« nicht um Gottes Wohlgefallen halber oder um einen Platz im jenseitigen Paradies zu erheischen, sondern um die Sicherheit seines eigenen Seelenheils im Diesseits zu gewährleisten. Am Ende, so Simmels Überzeugung, nützt nur die Hilfe zur ethischen Selbsthilfe, wenn soziale Differenzierung und Komplexität der Gesellschaft zu groß 26

Ebd., S. 408.

Georg Simmel und die Freiheit

geworden sind und die Kultur in ihrer eklektizistischen Mannigfaltigkeit keine Stil- und Sinnorientierung mehr dem Einzelnen zu geben vermag. Der Mensch muss unter Zuhilfenahme des individuellen Gesetzes sein Leben zum ethischen Gesamtkunstwerk machen, wenn er der allgemeinen Kultur- und seiner eigenen Seelennot entkommen will. Angesichts der Optionsvielfalt und der Orientierungsunsicherheit muss er sich – wie Münchhausen – am eigenen Schopfe aus dem Sumpf ziehen. Freiheit und Individualität im ethischen Sinne heißt: Mache dir deinen eigenen Regelkanon und folge ihm konsequent. Das individuelle Gesetz, unerbittlich und rigoros in seinem ethischen Gehalt, verleiht die Sicherheit zur eigenständigen Lebensführung und vermag über die Zeit dem eigenen Lebenslauf und der eigenen Biografie Sinn und Bedeutung zu verleihen. Nur ein menschliches Leben, das sich dieses individuelle Gesetz schafft und ihm folgt, hat die Chance, als erfülltes Leben zu gelten. Das »individuelle Gesetz« in Reinform eingelöst hat für Simmel Johann Wolfgang von Goethe. Immer wieder hat er sich mit dem größten deutschen Dichter beschäftigt, und in fast allen Fragen von Kunst und Lebensphilosophie war Goethes Leben und Schaffen das Vorbild wie die Messlatte für alles Weitere. Warum Goethe? Es ist Goethe selbst, der fordert, dass der Mensch aus seinem Inneren heraus leben soll. Es ist Goethe, der die beiden Formen von Individualismus, die Simmel unterscheidet, in sich verkörpert und zu einer eigensinnigen, eben goetheanischen Symbiose – dem von Simmel stets gesuchten »Dritten« – führt. Es ist die ganze Lebensführung des Staatsmannes, Theaterdirektors, Dichters und Weltliteraten, die Simmel fasziniert. Goethe hat das individuelle Gesetz vorgelebt, das Simmel als sein geistigmoralisches Vermächtnis in seiner »Lebensanschauung« hinterlassen hat. Kein Zweifel, Goethe verkörpert für Simmel Ideal und Realität von Freiheit, erfüllter Individualität und gelungener Lebensführung, die »Mehr-Leben« und »Mehr-als-Leben« bedeutet. Schon im Vorwort zu seiner großen Studie macht er klar, dass es ihm nicht so sehr um Leben oder Werk geht, sondern »um das ›Urphänomen‹ Goethe« selbst. »Was ist der geistige Sinn der Goetheschen Existenz überhaupt?«27 – so lautet die ambitionierte Fragestellung. Aber wie findet man die »Idee Goethe«? Wie bestimmt man sein Wesen? Simmel sucht nach dem »Dritten« jenseits von Leben und Werk:

27

GSG 15, S. 9.

27

28

Hans-Peter Müller

»der reine Sinn, die Rhythmik und Bedeutsamkeit des Wesens, die sich einerseits an dem zeitlich gelebten persönlichen Leben, andererseits an den objektiven Leistungen ausformen, wie sich ein Begriff sowohl in der Seele realisiert, die ihn denkt, wie an dem Ding, dessen Inhalt er bestimmt. Wenn irgendwo, so muss bei ihm dieses Dritte, diese ›Idee Goethe‹ aufzufinden sein, weil ihre Darstellung in der subjektiven Seelenhaftigkeit und die in dem geleisteten Werke einander hier in ganz einziger Unmittelbarkeit und Vollständigkeit entsprechen. Ich kann meine Absicht auch damit ausdrücken, dass das Goethesche Leben, diese Rastlosigkeit von Selbstentwicklung und Produktivität, auf die Ebene des zeitlos bedeutsamen Gedankens projiziert werden soll.« Im Kern zielt seine Analyse auf die Persönlichkeit Goethes sowie Freiheit und Individualität seiner Lebensführung. »Wie bei jeder Darstellung einer geistigen Persönlichkeit, für die nicht erst Kenntnis, sondern Verständnis gesucht wird, d.h. nicht Einzelheiten, sondern ihr Zusammenhang, steht im Mittelpunkt eine gewisse Anschauung der Individualität; diese kann, als Anschauung, nicht unmittelbar ausgesprochen werden, sondern man kann nur zu ihrer Nachbildung durch eine Summe partieller Bilder auffordern, deren jeweilige Motive durch die großen geistesgeschichtlichen Begriffe unserer Welt- und Lebensdeutung bestimmt sind.«28 Wer mit dem Werk von Goethe vertraut ist, wird die prometheische Wucht dieser Aufgabe sofort einsehen. Simmel will Goethe geistig nachschaffen und auf diese Weise den Struktur- und Identitätseigentümlichkeiten seiner Biografie und seines Lebenslaufs auf die Spur kommen. Allein, einfach ist das nicht. Goethes Sein ist ständiges Werden. Es scheint fast, als habe Goethe in seiner Person alle möglichen Persönlichkeiten ausprobieren wollen, sei es in seiner eigenen Biografie oder in seinem Werk. Er selbst hat seine individuelle Existenz als kollektives Gesamtkunstwerk charakterisiert.29 Seine Methode des Schreibens

28 29

Ebd., S. 9f. Müller, Hans-Peter, »Goethe: The Ambivalence of Modernity and the Faustean Ethos of Personality«, in: C. Edling und J. Rydgren (Hg.), Sociological Insights of Great Thinkers. Sociology through Literature, Philosophy, and Science, Santa Barbara 2011, S. 169–175.

Georg Simmel und die Freiheit

und der Dichtung hat Goethe als System einander zugewandter Spiegel charakterisiert, deren Wechselwirkungen und Brechungen es ihm erlauben, alle möglichen Personen und Figuren wie auch Positionen und Weltanschauungen abzuspiegeln, ohne jemals als Autor Partei für irgendeine seiner Figuren oder Positionen zu ergreifen. Goethe als Enigma – denn der Klassifizierer unter allen Klassifizierern, der unter anderem die Klassik kodifiziert hat, arbeitet ständig daran, selbst nicht klassifiziert werden zu können. Kritik an seinem Werk aus deutscher Feder vermag ihn zwar maßlos zu ärgern; ernst genommen hat er sie freilich nicht, da er wusste, dass er »Weltliteratur«, so sein Begriff, schuf. Kurz: Das Individuum Goethe ist ein Hort multipler Identitäten und mehr »Möglichkeitsmensch« als »Wirklichkeitsmensch« im Musil’schen Sinne. In seinen beiden großen Werken, dem Faust und Wilhelm Meister, löst er nach dem konventionellen ersten Teil – die verkorkste Wissenschaftlerkarriere nebst magisch-mephistophelisch vermittelter Erkenntnis- und Liebeserfahrung wie bei Faust, der Bildungsroman von Wilhelm – die Einheit von Raum, Zeit und Handlung vollends auf. Was im jeweils zweiten Teil durchgespielt wird, sind Projekte der Modernität. Goethe, ganz utopischer Soziologe, probiert die Wechselwirkungen von Lebensformen und Gesellschaftsformen aus. Welcher Gesellschaftstyp erheischt welchen Individualitätstyp von Mensch, damit der »Fortschritt« sich durchsetzen kann? Goethe, ganz auf den Spuren von Saint-Simon, spielt den Gesellschaftsplaner und Menschenmacher. Simmel indes ist sich seiner gewaltigen Aufgabe bewusst und zeigt sich ihr gewachsen. Nach dem Durchgang durch alle Permutationen Goethe’schen Werdens stößt er am Ende auf die gesuchte Generalformel: »die Objektivierung des Subjekts. In einer kaum überschaubaren Arbeit hat er das vielleicht reichste, gedrängteste, bewegteste, subjektive Leben, das wir kennen, derart zu objektiver Geistigkeit gebildet, dass man den ganzen Umfang und die unzähligen Ausschlagspole dieses rastlosen innerlichen Werdens, dieser immer schwingenden, immer empfangenden und immer zeugenden Ichfunktion wie lückenlos an dem zeitlos ausgebreiteten Werk ablesen kann.«30

30

GSG 13, S. 230f.

29

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Hans-Peter Müller

Es nimmt daher nicht Wunder, wenn Goethe in seinem Leben die beiden Formen des Individualismus versöhnt; der junge Goethe strebt vehement dem qualitativen, der alte Goethe dem quantitativen Individualismus nach, um doch als »Genie der Normalität« in seiner Suche nach dem »Allgemein-Menschlichen« die Brücke zu einem »Dritten«, einer metaphysischen Individualität zu bauen. »Die metaphysische Auffassung der Individualität aber erreicht ihre ganze anschauliche Fülle und lebendige Ausgestaltung dann, wenn die Grundfärbung, die das Individuum in seiner Einzigkeit ausmacht, die Ganzheit des Daseins um das Individuum herum durchströmen und auf sich abstimmen kann. Das menschliche Wesen ist erst dann wirklich ganz Individuum, wenn es nicht nur ein Punkt in der Welt, sondern selbst eine Welt ist, und dass es sie ist, kann es nur damit beweisen, dass seine Qualität sich als Bestimmung eines möglichen Weltbildes zeigt, als der Kern eines geistigen Kosmos, von dessen individueller Totalität all seine einzelnen Äußerungen nur ganz partielle Verwirklichungen sind.«31

Schlussbemerkung Wie diese kleine Skizze zu zeigen versucht hat, ist Simmel ein eminenter Denker der Freiheit. Freiheit durchzieht sein Gesamtwerk und ist eingebettet in das Verhältnis von Modernität und Individualität. Erst die Moderne eröffnet in historisch ungekanntem Maße die Chancen zu Freiheit und Individualität. In erster Linie betrifft das die Freiheit »von« Tradition, Religion, Gesellschaft, Gruppe und Familie, erst in zweiter Linie gibt die Modernität einen Fingerzeig für die Freiheit »zu« Individualität und selbstbestimmter Lebensführung. Simmels Lösung dafür ist das »individuelle Gesetz«, was jedem modernen Menschen als Bestimmung aufgegeben ist. Das meint die »Freiheit, frei zu sein«.32 Ob das gelingt, ist kontingent. Es erst gar nicht zu versuchen, also zu verzagen, gilt als Versagen im modernen Zeitalter. Wer es nicht schafft, sein »individuelles Gesetz« zu machen, kann allgemeinen Gesetzen und Konventionen folgen, zu denen auch massengefertigte Individualitätsfiguren gehören,

31

Ebd., S. 169.

32

Arendt, Hannah, Die Freiheit, frei zu sein, München 2018.

Georg Simmel und die Freiheit

die leicht nachzuahmen sind. »Frei zu sein« ist schwierig, mühsam, aufwändig, anstrengend und riskant. Wie Simmel als Erzieher zeigt, bedarf es einer in diese Richtung erfolgende Bildung und Sozialisation, die Menschen überhaupt erst zu befähigen vermag, das Wagnis der Freiheit und anspruchsvoller Individualität einzugehen.33 Simmel selbst hat sein »individuelles Gesetz« gefunden, freilich um den Preis, dass ihm konventioneller gesellschaftlicher Erfolg und die damit einhergehenden »Glücksprämien« versagt blieben.34 Modernität ist Schicksal, ein ambivalentes, das es auszuhalten, aber eben auch ein günstiges, das es zu gestalten gilt. Wie das geht, kann man bei Simmel aus erster Hand lernen.

33

Müller, Hans-Peter, »Teaching Life. The Education of a Modern Personality«, in:

34

Köhnke, Klaus Christian, Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen

Simmel-Studies 23 (1) 2019, S. 25–42. Bewegungen, Frankfurt a.M. 1996.

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Wie ist Freiheit möglich? Max Weber als Kulturkritiker Christian Marty

Einführung Die bitterböse Kulturkritik Max Webers ist berühmt-berüchtigt. Trotzdem – oder gerade deshalb – wird der kulturkritische Teil des Weber’schen Werkes für gewöhnlich nur oberflächlich betrachtet: Es ist allseits bekannt, dass die moderne Gesellschaft in den Augen Webers »ein stahlhartes Gehäuse« darstellt – und so lässt man seine bissigen Ausführungen zu diesem Gehäuse für gewöhnlich außer Acht. Das ist ein Versäumnis, denn die vertiefte Auseinandersetzung mit der Weber’schen Kulturkritik hilft, die Gegenwart zu verstehen: Durch die Beschäftigung mit Max Webers Kritik an Kultur kommen einige jener Problematiken in den Blick, die auch im frühen 21. Jahrhundert für beträchtliche Schwierigkeiten sorgen – so nicht zuletzt die düsteren Seiten der kapitalistischen Wirtschaft, der bürokratischen Politik oder der wissenschaftlichen Rationalität.1 So unbestreitbar die Vorteile des Kapitalismus, der Bürokratie und der Wissenschaft für ihn sind, abermals erinnert er daran, dass Kapitalismus, Bürokratie und Wissenschaft auch Kehrseiten besäßen.

1. Die Grundlage der Kulturkritik Max Weber ist ein Liberaler – wenn auch ein Liberaler in einem untypischen Sinne: Während das Gros der Liberalen etwa an einen Fortschritt hin zu einer friedlichen Welt glaubt und dabei zuweilen unkritisch als Befürworter des »Fortschritts« agiert, so setzt Weber den Terminus 1

Vgl. Müller: Max Weber, Frankfurt a.M. 2020.

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Christian Marty

»›Fortschritt‹« stets in ironische Anführungszeichen und ermuntert diesbezüglich zu einer großen Portion Skepsis.2 Dass am »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama) alles gut sein soll, ist ihm nichts als ein Irrglaube; vielmehr befindet er, dass nolens volens erhebliche Probleme beständen. Einig ist Max Weber mit seinen liberalen Kollegen nur darin, dass in der Freiheit des Menschen das höchste Gut liegt. Marianne Weber betont in ihrem Buch über ihren Gatten auf mehreren Seiten ausgiebig, wie sehr sich ihr Gefährte für die Freiheit eingesetzt habe.3 Paul Honigsheim unterstreicht in seinen Erinnerungen an seinen Kollegen immer wieder, wie intensiv sich sein Freund mit der Freiheit beschäftigt habe.4 Und Erich Hula, ein Schüler Webers, schreibt gar: »Denn dem Liberalismus als politischem Ausdruck einer Weltanschauung, die als höchsten Wert die Entfaltung der autonomen Persönlichkeit setzt und diese Entfaltung der Individualität als zwar nicht einzigen, aber wichtigsten Zweck […] ansieht, ist Weber sein ganzes Leben hindurch treu geblieben.«5 Insofern ist es keine Überraschung, dass Freiheit die Grundlage der Weber’schen Kulturkritik bildet: Das ist das Ideal, an dem Max Weber Kultur misst, das ist das Ideal, von dem aus er Kultur kritisiert. Freiheit bildet also den Wertbezug – um seinen eigenen Begriff zu verwenden – der Weber’schen Kulturkritik. Fasst man jene Stellen ins Auge, bei denen der Gelehrte zu seiner Kritik an der Kultur ansetzt, so ist dies schnell zu erkennen: In essayistischen Aufsätzen wie in seinem Text über Die Produktivität der Volkswirtschaft, in journalistischen Schriften wie in seiner Abhandlung über Parlament und Demokratie im neugeordneten Deutschland oder in einer Vielzahl von soziologischen Werken wie den Werken über die Kulturbedeutung des Protestantismus steht die Sorge um die Möglichkeit von Freiheit unter den Bedingungen der Moderne im Zentrum. Die Frage, die sich angesichts der gegenwärtigen Gesellschaftsentwicklungen stelle, so Weber in einem kulturkritischen Exkurs, laute »1.: Wie 2

Vgl. Hennis: Max Webers Wissenschaft vom Menschen, Tübingen 1997.

3

Vgl. Weber, Marianne: Max Weber, Tübingen 1926.

4

Vgl. Honigsheim: Erinnerungen, in: René König/Johannes Winckelmann (Hg.): Max Weber zum Gedächtnis, Köln/Opladen 1963.

5

Vgl. Hula: Ein einsamer Kämpfer, in: René König/Johannes Winckelmann (Hg.): Max Weber zum Gedächtnis, Köln/Opladen 1963, S. 151.

Wie ist Freiheit möglich?

ist es […] überhaupt noch möglich, irgendwelche Reste einer in irgendeinem Sinn ›individualistischen‹ Bewegungsfreiheit zu retten?«6 Was verstand Max Weber unter »Freiheit«? Auch beim Verständnis dieses vieldeutigen Begriffs war Weber kein typischer Repräsentant des Liberalismus. Zielt die Mehrheit der Liberalen mit »Freiheit« je nachdem auf die Rede-, die Vertrags- oder die Handlungsfreiheit bei Angelegenheiten des alltäglichen Lebens, so zielt er mit dem Wort in einer allgemeinen Weise auf die Lebensführung. Freiheit, das ist nach dem Dafürhalten des Denkers derjenige Typus der Lebensführung, bei welchem man bewusst genau das tut, was man in einem letzten Sinne für wertvoll hält: In diesem Verständnis vollzieht sich Freiheit dort, wo der Mensch, ohne allgemeingültigen Wegweiser und ganz auf sich selbst gestellt, das Leben hellsichtig nach eigenem Prinzip führt.7 »[…] je ›freier‹ in dem hier in Rede stehenden Sinn das ›Handeln‹ ist […], desto mehr tritt damit endlich auch derjenige Begriff der ›Persönlichkeit‹ in Kraft, welcher ihr ›Wesen‹ in der Konstanz ihres inneren Verhältnisses zu bestimmten letzten ›Werten‹ und Lebens-›Bedeutungen‹ findet, die sich in ihrem Tun zu Zwecken ausmünzen und so in teleologisch-rationales Handeln umsetzen […].«8 In diesem Satz aus dem Aufsatz über Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie bringt Max Weber sein Freiheitsverständnis zwar etwas umständlich, aber doch präzise auf den Begriff. Gemäß Weber besteht Freiheit aus einer spezifischen Form der Lebensführung, aus einem Lebensstil, welcher in der Hauptsache durch zwei Eigenheiten charakterisiert ist, so zum einen dadurch, dass man in konstanter Art ein inneres Verhältnis zu einem letzten Wert besitzt, so zum anderen dadurch, dass man diesen letzten Wert in einer zweckrationalen Weise realisiert: Laut Weber besteht Freiheit, kurzum, aus der zweckrationalen Verwirklichung eines letzten Werts. Zu erfassen ist dieses Freiheitsverständnis auch in den Studien auf dem 6

Weber: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, Tübingen 1988, S. 333.

7

Marty: Freiheit, in: Hans-Peter Müller/Steffen Sigmund (Hg.): Max Weber-Handbuch, Stuttgart/Weimar 2020, S. 70–72.

8

Weber: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, in: Johannes Winckelmann (Hg.): Max Weber. Gesammelte Schriften zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 132.

35

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Christian Marty

Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, wo es heißt: Mit »dem höchsten Grad empirischen ›Freiheitsgefühls‹« verbände man gerade diejenige Lebensweise, bei welcher man einerseits »einen klar bewußten ›Zweck‹« bzw. eine selbstgewählte »Maxime« verfolge, andererseits »rational« resp. »unter Abwesenheit […] ›zufälliger‹ Trübungen der Klarheit des Urteils« vorgehe.9 Die Krux der Weber’schen Auffassung von »Freiheit« liegt in der paradoxen Verknüpfung eines freiheitlichen und eines deterministischen Moments. Man hat in dieser Auffassung die freie Wahl zwischen einer Vielzahl an letzten Werten – zu einer freiheitlichen Lebensführung gelangt man jedoch nur dann, wenn man sich jenem Wert hingibt, der für einen bestimmt ist: Will man sein Leben in Freiheit führen, so kann man sich nicht irgendeinem Wert, sondern muss sich dem je persönlichen Wert hingeben, derjenigen »Sache«, so formuliert Max Weber mehrfach in einer mal religiös, mal romantisch aufgeladenen Sprache, die »an dem Tag, an dem die Sonne dich verliehen«, vom »einwirkenden Gestirn« als »Gesetz« in die »Seele« gelegt worden ist.10 Hierbei gelte es, wie Weber mehrfach ausdrückt, den individuellen »Dämon« zu finden, den individuellen »Gott« zu wählen, die »rückhaltlose Hingabe an die Sache« zu leisten, »möge dies und die damit einhergehende ›Forderung des Tages‹ nun im Einzelfall aussehen, wie sie wolle.«11

2. Im Visier der Kulturkritik Ob eine freie, d.h. bewusst an einem letzten Wert orientierte Lebensführung möglich ist – diese Frage ist es, für welche Max Weber zeit seines Lebens ein besonders großes Interesse besitzt. Sieht er die Möglichkeit von Freiheit in Gefahr, so setzt Weber häufig zu kulturkritischen Ausführungen an, wobei er vornehmlich drei »Lebensordnungen« ins Visier

9

Weber: Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, in: Johannes Winckelmann (Hg.): Max Weber. Gesammelte Schriften zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 226f.

10

Vgl. dazu etwa Weber: Wissenschaft als Beruf, in: Johannes Winckelmann (Hg.): Max Weber. Gesammelte Schriften zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 609–613.

11

Vgl. ebd.

Wie ist Freiheit möglich?

nimmt: So erstens den Betriebskapitalismus, zweitens den Wohlfahrtsstaat und drittens jegliche Ideologien mit Totalitätsanspruch. Als Kulturkritiker wendet sich der Gelehrte demnach primär gegen Entwicklungen auf wirtschaftlichem, politischem und geistigem Gebiet. Der Gedankengang ist in dieser Hinsicht jeweils sehr ähnlich. Im Weber’schen Werk wird laufend eruiert, welche Art der »Lebensführung« von den gerade herrschenden »Lebensordnungen« befördert wird – wobei Max Weber dann, wenn seines Erachtens tendenziell unfreie Weisen der Lebensführung befördert werden, als Kulturkritiker einsetzt: Weber kritisiert daraufhin jene Ordnungen, welche seiner Ansicht nach für die Beförderung der Unfreiheit hauptverantwortlich sind. So kommt es, dass der Denker beispielsweise einerseits die kaiserliche Regierung, andererseits die preußischen Großgrundbesitzer kritisiert. Weber weiß, dass der freiheitlichen Lebensführung rein theoretisch nichts im Wege steht, sind doch »Sklaverei« und ähnliche Herrschaftsverhältnisse in Deutschland um 1900 schon längst abgeschafft – allein: Nach seinem Dafürhalten führte dieser Umstand keineswegs zu einem Zustand der Freiheit. Kapitalistische Großbetriebe, bürokratische Wohlfahrtsstaaten und Weltanschauungen mit Absolutheitsanspruch würden nämlich diejenigen, die sich ihnen anpassen, unter- und einordnen, sehr gut belohnen. Wer den Forderungen des Chefs, den Regeln des Beamten und den Lehren der herrschenden Glaubenslehre gehorche, werde je nachdem in ökonomischer Hinsicht mit einer Lohn-, in sozialer Hinsicht mit einer Rang- oder in symbolischer Hinsicht mit einer Prestigeerhöhung prämiert, was für gewöhnlich dazu führe, dass sich die große Mehrheit der Menschen weniger dem eigenen als vielmehr einem fremden Prinzip unterwerfe: Statt das eigene Leben bewusst an einer selbstgewählten Maxime zu orientieren – und frei zu sein –, richte man sich nach einer vorgegebenen Maxime – und sei unfrei. »Die Geschichte‹ gebiert […] unerbittlich ›Aristokratien‹ und ›Autoritäten‹ neu, an welche sich klammern kann, wer es […] für nö-

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Christian Marty

tig findet.«12 »Es ist […], als ob wir mit Wissen und Willen Menschen werden sollten, die Ordnung brauchen und nichts als Ordnung […].«13 Im Zentrum der Weber’schen Kulturkritik steht also die Auffassung, dass gewisse Ordnungen eine Vielzahl von Menschen dazu bringen, weniger sich selbst als vielmehr jemand anderem zu gehorchen. Vor allem bei seinen umfangreichen Studien zur Wirtschaftsgeschichte, zur Staatssoziologie oder zur Organisation verschiedener Gemeinschaften wie den Religionsgemeinschaften der Weltreligionen hat Max Weber die Entstehung mannigfacher Gehorsamsverhältnisse intensiv beobachtet. Obschon man im »formalen« Sinn frei war, so sieht Weber immer wieder, war man im »materialen« Sinn nicht frei, denn aus Angst vor Verlusten ökonomischer, sozialer oder anderer Art entschloss man sich, die Gebote der herrschenden Lebensordnungen zu erfüllen.14 Ein besonders illustratives Zeugnis dieser kritischen Sicht auf moderne Kulturformen ist ein zeitdiagnostischer Exkurs im Mammutwerk Wirtschaft und Gesellschaft, wo im Schlussteil des Kapitels über Recht untersucht wird, ob und inwiefern die »relative Zurückdrängung des durch Gebots- und Verbots-Normen angedrohten Zwangs« eine »Zunahme der individuellen Freiheit in der Bestimmung der Bedingungen der eigenen Lebensführung« darstellt.15 Sind die Menschen der sogenannt freien Welt – so lautet Max Webers Frage im Kern – wirklich frei? In Übereinstimmung mit einer Reihe anderer Kulturkritiker urteilt Weber dabei: »Eine formell noch so viele ›Freiheitsrechte‹ […] verbürgende und darbietende Rechtsordnung kann […] in ihrer faktischen Wirkung einer quantitativ und qualitativ sehr bedeutenden Steigerung nicht nur des

12

Weber: Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, in: Johannes Winckelmann (Hg.): Max Weber. Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 1988, S. 63.

13

Weber: Debattenreden auf der Tagung des Vereins für Sozialpolitik, in: Marianne Weber (Hg.): Max Weber. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen 1988, S. 413f.

14

Vgl. ebd.

15

Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Recht, hg. von Werner Gephart/Siegfried Hermes, Tübingen 2014, S. 82

Wie ist Freiheit möglich?

Zwanges überhaupt, sondern auch eigner Steigerung des autoritären Charakters der Zwangsgewalten dienen.«16 Es ist, wie im Verlauf des besagten Kapitels mehrfach hervorgehoben wird, nicht so sehr von etwaigen »Freiheitsrechten« als vielmehr von der »Besitzverteilung« abhängig, ob jemand in Unfreiheit gerät, denn wer kein Geld für Essen, Kleider und ein Dach über dem Kopf hat, sieht sich gezwungen, sich in einen Betrieb einzugliedern. »Die Gebundenheit des materiellen Schicksals der Masse an das stetige korrekte Funktionieren […] nimmt stets zu, und der Gedanke an die Möglichkeit ihrer Ausschaltung wird dadurch immer utopischer«.17 Auch in Anbetracht seiner Kulturkritik ist zu sehen: Max Weber ist ein Liberaler – allerdings ein Liberaler der außergewöhnlichen Sorte. Während das Weber’sche Kulturideal zweifelsohne in liberaler Tradition steht, so steht die Weber’sche Kulturkritik zum einen in marxistischer, zum anderen in nietzscheanischer Tradition und hat somit wenig gemein mit dem stillen Einverständnis, das zahlreiche Liberale gegenüber dem Status quo besitzen. Kaum Verständnis besitzt Weber deshalb für jene Apologeten des »Abendlandes«, welche denken, die Verbindung von Betriebskapitalismus und Wohlfahrtsstaat sei ein Garant für die Freiheit der Menschen. Im Gegenteil, sowohl der Betriebskapitalismus als auch der Wohlfahrtsstaat befördern nach Weber die Unfreiheit, weil sie Anpassungsleistung an die Normen des Marktes und ähnliche Anpassungsleistungen honorieren. Im fulminanten Finale des Werkes Zur Lage der bürgerlichen Demokratie wird Webers Sichtweise auf diesen Sachverhalt deutlich, wendet er sich darin doch mit Spott auch gegen seine »liberalen« Kollegen: »Es ist höchst lächerlich, dem heutigen Hochkapitalismus, wie er jetzt nach Rußland importiert wird und in Amerika besteht, – dieser ›Unvermeidlichkeit‹ unserer wirtschaftlichen Entwicklung, – Wahlverwandtschaft mit ›Demokratie‹ oder gar mit ›Freiheit‹ (in irgend einem Wortsinn) zuzuschreiben, während doch die Frage nur lauten kann: wie

16

Ebd., S. 83.

17

Ebd., S. 35.

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sind, unter seiner Herrschaft, alle diese Dinge überhaupt auf die Dauer ›möglich‹?«18 Und daraufhin fährt Weber fort: »[…] im amerikanischen ›benevolent feudalism‹, in den deutschen sogenannten ›Wohlfahrtseinrichtungen‹, in der russischen Fabrikverfassung, – überall ist das Gehäuse für die neue Hörigkeit fertig, es wartet nur darauf, daß die Verlangsamung im Tempo des technisch-ökonomischen ›Fortschritts‹ und der Sieg der ›Rente‹ über den ›Gewinn‹ in Verbindung mit der Erschöpfung des noch ›freien‹ Bodens und der noch ›freien‹ Märkte die Massen ›gefügig‹ macht, es endgültig zu beziehen.«19

3. Wie ist Freiheit möglich? Das Lesen von so düsteren Stellen des Weber’schen Werkes kann den Eindruck erwecken, dass Max Weber im Zuge seines kulturkritischen Räsonnements in einen Zustand der Resignation gerät. Doch dies ist nicht der Fall. Weber findet nämlich sehr wohl, dass auch unter den Bedingungen der Moderne Freiheit möglich ist – die rhetorische Frage: »Wie ist es […] überhaupt noch möglich, irgendwelche Reste einer in irgendeinem Sinn ›individualistischen‹ Bewegungsfreiheit zu retten?«, deutet diese Möglichkeit ja bereits an. Man nehme nur die berühmten Werke über Wissenschaft als Beruf, über Politik als Beruf oder über den Sinn der ›Wertfreiheit‹ zur Hand. Oftmals ist in diesen Werken zu beobachten, dass der Gelehrte bekundet, auch in der kapitalistischen, bürokratischen, entzauberten Welt sei eine freie Lebensführung realisierbar. Wie genau? Das erläutert der Denker auf etlichen Seiten. In dieser Hinsicht von Bedeutung sind insbesondere seine Ausführungen zur »Wertfreiheit«, ein Konzept, das nicht nur im Kontext der Überlegungen zur Methodologie der Sozialwissenschaften, sondern auch im Kontext der Reflexionen zur Möglichkeit von Freiheit äußerst relevant ist. 18

Weber: Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, in: Johannes Winckelmann (Hg.): Max Weber. Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 1988, S. 64.

19

Ebd.

Wie ist Freiheit möglich?

Mit Hilfe des wertfreien Nachdenkens über verschiedene Werte, so die entscheidende Pointe Max Webers, lässt sich erkennen, auf welchen Wert es einem ankommt: Durch die Auseinandersetzung mit verschiedenen »Werten« kommt es nicht nur zu einem »›Wissen‹ von möglichen ›Wertbeziehungen‹«, sondern auch zu einem »kontemplativen Moment«, bei dem zu erfahren ist, welches diejenige Wertbeziehung ist, die für einen »bestimmt« ist – und so die Möglichkeit von Freiheit verspricht.20 Die bewusste Hinwendung zum individuellen »Dämon«: Freiheit, ist verwirklichbar, »wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält.«21 Max Weber ist der Überzeugung, so geht unter anderem aus den gerade zitierten Schlusssätzen des Vortrages über Wissenschaft als Beruf hervor, dass die Chance auf eine freie, selbstgewählte, bewusst an einem letzten Wert orientierte Lebensführung selbst im »stahlharten Gehäuse« der modernen Welt vorhanden ist. Zwar gibt es seines Erachtens ungemein vieles, was den Menschen dazu drängt, die Freiheit aufzugeben: Wer sich weder in die weit geöffneten Arme eines Großbetriebes noch in die weit geöffneten Arme eines Wohlfahrtsstaates begeben will, muss damit rechnen, sein Einkommen, sein Glück und seinen Schlaf zu verlieren. Trotzdem aber hat es der Mensch in den eigenen Händen, über sein Leben zu bestimmen: Wer autonom handeln will, kann dies trotz aller Widerstrebungen tun. In der ihm eigenen, überaus metaphorischen Weise schreibt Weber: »Die aller menschlichen Bequemlichkeit unwillkommene, aber unvermeidliche Frucht vom Baum der Erkenntnis ist gar keine andere als eben die: […] daß jede einzelne wichtige Handlung und daß vollends das Leben als Ganzes, wenn es nicht wie ein Naturereignis dahingleiten, sondern bewußt geführt werden soll, eine Kette letzter Entschei-

20

Weber: Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, in: Johannes Winckelmann (Hg.): Max Weber. Gesammelte Schriften zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 245.

21

Weber: Wissenschaft als Beruf, in: Johannes Winckelmann (Hg.): Max Weber. Gesammelte Schriften zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 613.

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dungen bedeutet, durch welche die Seele, wie bei Platon, ihr eigenes Schicksal: – den Sinn ihres Tuns und Seins heißt das – wählt.«22 Und weiter ist zu lesen: »Allein wir haben eben überhaupt kein Schlaraffenland und keine gepflasterte Straße dahin zu versprechen, weder im Diesseits noch im Jenseits, weder im Denken noch im Handeln; und es ist das Stigma unserer Menschenwürde, daß der Friede unserer Seele nicht so groß sein kann als der Friede desjenigen, der von solchem Schlaraffenland träumt.«23 Der ungewöhnliche Liberalismus Max Webers wird nicht nur dort ersichtlich, wo er auf der Basis eines liberalen Kulturideals eine düstere Kulturkritik formuliert, sondern auch dort, wo er im Anschluss an die düstere Kulturkritik eine geradezu heroische Lebensweise hochhält.24 Dieses Lebensideal ist zu elitär, um mit den populären Ausprägungen der liberalen Weltanschauung kompatibel zu sein: Die Idee, dass man für die Realisierung der jeweils eigenen Werte auf Lohn, Rang, Ansehen und anderes mehr verzichten solle, scheint in erster Linie für jene ausgedacht, die sich eine solche Unabhängigkeit leisten können – zur Situation der breiten Bevölkerung passt sie jedenfalls kaum, weshalb man Weber im Laufe der Zeit auch immer wieder den Vorwurf gemacht hat, er schreibe, ähnlich wie Friedrich Nietzsche oder Georg Simmel, ausschließlich für eine Oberschicht. Dieser Vorwurf ist nicht unberechtigt – und dennoch: Nur schwer bestreiten lässt sich, dass es genau die von Max Weber hochgehaltene Art und Weise der Lebensführung ist, welche von »menschliche[r] Größe« zeugt.25 Einiges für sich hat die Vorstellung, dass der »Adel unse-

22

Weber: Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Johannes Winckelmann (Hg.): Max Weber. Gesammelte Schriften zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 507f.

23

Weber: Debattenreden auf der Tagung des Vereins für Sozialpolitik, in: Marianne Weber (Hg.): Max Weber. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen 1988, S. 420.

24

Vgl. Marty: Max Weber. Ein Denker der Freiheit, Weinheim 2019.

25

Weber: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, in: Johannes Winckelmann (Hg.): Max Weber. Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 1988, S. 13.

Wie ist Freiheit möglich?

rer Natur« in der Fähigkeit liegt, sich nicht zu verkaufen, zu verbiegen und zu unterwerfen, standhaft, aufrecht und frei zu bleiben auch unter schwierigen Bedingungen.26 So gesehen liefert Weber – trotz seines Elitismus – gerade im Kontext seiner Kulturkritik einige Ideen, welche für alle von Bedeutung sein können: Um die Bedeutung dieser Ideen erfassen zu können, muss man nur etwas Sinn und Geschmack für einen Typus der Lebensführung besitzen, der weniger im Dienste des persönlichen Wohlbefindens als vielmehr im Dienste der individuellen Freiheit steht.

Schlussbemerkung Die westliche Welt wird nach wie vor sehr häufig als freie Welt bezeichnet – wobei durch die Auseinandersetzung mit der Weber’schen Kulturkritik zu erkennen ist, dass nicht alles, was als »Freiheit« bezeichnet wird, auch »Freiheit« ist. Und nicht nur dies lässt sich durch die Beschäftigung mit der Weber’schen Kulturkritik erfahren. Während man bei den kulturkritischen Ausführungen Max Webers sieht, wie die Prämierung von Anpassung an irgendwelche Ordnungen der Tendenz nach zu einer unfreien Lebensart führt, erkennt man zugleich auch, dass die Prämierung von Nonkonformismus gegenüber etwaigen Ordnungen der Tendenz nach zu einer freien Lebensweise führen würde: Eine freie Welt ist eine solche, in welcher nicht Anpassung, sondern Nonkonformismus prämiert wird.

26

Ebd.

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Distanz als Freiheit Ernst Cassirers Kritik der Kultur Birgit Recki »Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.« (Francis Picabia)

Einleitung Auf keine andere Weise lässt sich so rasch und nachhaltig in Erfahrung bringen, was in der Kulturphilosophie des 19. und 20. Jahrhunderts unter »Kultur« verstanden wird, als mit Blick auf die Rede von der Kritik der Kultur bei ihrem wohl größten Protagonisten. Um den Befund vorwegzunehmen, der sich in der Frage nach Ernst Cassirers Begriff und Theorie der Kultur ergibt: Sein Verständnis, seine terminologischen Entscheidungen, und dabei sein methodischer Zugriff auf den Gegenstandsbereich, weichen deutlich vom dominierenden Sprachgebrauch und den durch ihn geprägten Erwartungen in Bezug auf »Kultur« ab. Dabei leistet er durchaus, wenn auch anders als erwartet, eine Kritik der Kultur. Aber auch die geläufigen Vorstellungen von Kulturkritik werden durch sie nicht bedient. Cassirers Beitrag zur Kultur als Ort der Freiheit erweist sich auf seine Weise als überraschend ergiebig. Auf der Ebene jener Grundlegung der Kultur, die er mit seinem philosophischen Hauptwerk zu leisten beansprucht, bekräftigt er explizit ebenden unhintergehbaren Konnex von Kultur und menschlicher Freiheit, auf dessen konkrete Realisierung sich auch unsere Erwartung an eine Kulturkritik im Interesse der Freiheit richtet.

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1. Der Begriff der Kultur – Kulturkritik oder Kritik der Kultur Im alltäglichen Sprachgebrauch verstehen wir unter Kultur intuitiv das, was seit Beginn der Pandemiekrise der vergangenen zwei Jahre die Kulturschaffenden in Erinnerung gebracht haben, indem sie die gleiche Systemrelevanz, wie die Schlüssel-Industrien, die Betriebe der kritischen Infrastruktur und die Gastronomie sie für sich beanspruchen, auch für die Theater, die Kinos, die Konzerthäuser, die Verlage und Buchmessen und überhaupt die Agenturen der Vermittlung von künstlerischer Sinnproduktion und Kreativität aller Art geltend machten. Gemeint ist all das, was wir im Begriff »Kulturbetrieb« zusammenfassen. Wer diese Intuition teilt, die uns Kultur als die Sphäre der anspruchsvollen intellektuellen Auseinandersetzung oder Unterhaltung unter dem Primat kreativer Gestaltung vorstellt, muss starke Irritation empfinden, wenn er bei Ernst Cassirer unvorbereitet auf die Formulierung stößt: »Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur«.1 Dieser Satz aus der Exposition der Philosophie der symbolischen Formen hat programmatische Bedeutung für den Ansatz, den Cassirer in seinem Hauptwerk auf den Weg bringt.2 Hat sich der Kritiker der Kultur, der sich offenbar von der Anspielung auf Kants epochales Projekt einer transzendentalen Kritik der Vernunft etwas für sein eigenes Unternehmen verspricht und damit die Kultur auf der gleichen wirklichkeitskonstitutiven Ebene ansiedelt wie die Vernunft, hier nicht in Status, Funktion und Wertigkeit der Begriffe vergriffen? Wir erinnern uns: Kant war es im Unternehmen einer Kritik der Vernunft gemäß dem Verständnis von Kritik (griech. krinein) als Unterscheidung, als Trennung und Erörterung des Positiven und Negativen an einer Sache um die Frage gegangen, was der Mensch als sinnlichvernünftiges Wesen grundsätzlich von sich selbst erwarten kann. Die Formel ist absichtsvoll doppeldeutig, gemeint ist gleichermaßen Kritik an der Vernunft (genitivus obiectivus) wie Kritik durch die Vernunft (genitivus subiectivus). Es geht also um die immer auch selbstreflexive Analyse der Fähigkeiten, die dem vernünftigen Lebewesen gegeben, und der Grenzen, die ihm gesetzt sind. In seiner kritischen Philosophie untersucht Kant das Potential der Rationalität, das dem Anspruch des Menschen auf Selbstständigkeit und Freiheit zugrunde liegt; in 1

Ernst Cassirer (1923), ECW 11, 9.

2

Ernst Cassirer (1923), ECW 11; (1925), ECW 12; (1929), ECW 13.

Distanz als Freiheit

der Analyse von gegenständlicher Erkenntnis, Urteil, Hervorbringung von Grundsätzen des Handelns und Ideen der Orientierung, und rein begrifflicher Spekulation entwickelt er derart das ganze Spektrum der rationalen Leistungen. Thematisch werden damit lauter elementare epistemische »Vermögen« – Kants übergeordneter Funktionsbegriff,3 in den die Ingredienzien von dynamis und potentia eingehen. Die Vernunft ist der Inbegriff der rationalen Vermögen, die das Subjekt in den Leistungen des Erkennens, des Denkens und des Erlebens einsetzt. In der Entfaltung des Spektrums zeigt sich: So viele auf das Weltverhältnis und Selbstverständnis gerichtete Bedürfnisse des sinnlich-vernünftigen Wesens – so viele Funktionen der Vernunft. Mit gleichem Grundlegungsanspruch geht Cassirer in seinem Programm einer Kritik der Kultur aufs Ganze. Die auf den ersten Blick unerfindliche Pointe der Transformationsanzeige »Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur« lässt sich allein durch den Hinweis erschließen, dass es Cassirer im Begriff der Kultur nicht (vordringlich) um den Kulturbetrieb, um die Künste geht: Wenn er von der Transformation der »Kritik der Vernunft« in »Kritik der Kultur« spricht, ist deshalb nicht die Ableitung von Kriterien der spezifisch auf die künstlerischen Spitzenprodukte bezogenen Kulturkritik aus reinen Vernunftgründen gemeint. Und auch eine andere terminologische Engführung geht an seinem Ansatz vorbei. Denn ebenso wenig wie er als Kritik der Kultur das gehobene Feuilleton versteht, wo Neuerscheinungen auf dem Buch- und Filmmarkt, aktuelle Debatten, Kunstausstellungen, Inszenierungen und städtebauliche Innovationen kritisch beurteilt werden, betreibt der Autor der Philosophie der symbolischen Formen Kulturkritik als kritische Auseinandersetzung mit den systemischen Defiziten, die als Konstruktionsfehler oder Kollateralschäden einer geopolitisch spezifizierten Kultursphäre, etwa der abendländischen oder westlichen Kultur zu begreifen, und der zufolge etwa Rassismus und Antisemitismus als kulturspezifische Fehlleistungen zu ahnden wären.4 Es empfiehlt 3

Siehe Ernst Cassirer (1910), ECW 6.

4

Die damit bezeichnete Fehlanzeige ist mit Unempfindlichkeit gegen die genannten Formen diskriminierenden Denkens nicht zu verwechseln. – Der Trend, den (vermeintlichen) Rassismus, Antisemitismus, Kolonialismus oder Sexismus von Autoren der philosophischen Tradition im Blick auf einzelne Texte oder gar isolierte Termini ohne deren Kontextualisierung im Gesamtwerk zu problematisieren, greift jüngst auch auf Cassirer über. Wer die Phänomenologie des mythi-

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Birgit Recki

sich daher, den sprachlichen Unterschied zwischen Kulturkritik und Kritik der Kultur zur Kennzeichnung dieser Differenz terminologisch ernstzunehmen. Denn es geht Cassirer, wie er es in den drei Monographien seines Hauptwerkes exemplarisch darstellt an der Sprache, dem mythischen (und religiösen) Denken und den Wissenschaften als Kulminationsmodus methodischer Erkenntnis, um das System der Kultur als Humanum: um Kultur als den Kollektivsingular, der insgesamt die vom Menschen produktiv gestaltete Wirklichkeit meint. »Kultur« bezeichnet uno actu den elementaren Gestaltungsmodus allen humanen Lebens und den Orientierungsraum, der durch die von Anfang an diversifizierte Hervorbringung von Wirklichkeit in Werken aller Art geschaffen wird. Der Werkbegriff, der nicht am Nimbus des exzeptionell Hochwertigen, sondern am Merkmal der auf Dauer gestellten Verobjektivierung hängt, ist somit nicht für die Werke der Kunst reserviert, sondern umfasst sämtliche artifizielle Artikulation – von den Sätzen der Sprache über die Narrative des mythischen Denkens bis zu den methodischen Erkenntnissen der Wissenschaft und den technischen Erfindungen. Man sieht indessen schon hier: Die Ablehnung der Identifikation von Kultur mit dem Kulturbetrieb als dem durch die Künste konstituierten Segment der Öffentlichkeit darf mit deren Ausschluss aus dem Umfang des Kulturbegriffs nicht verwechselt werden. Kultur geht zwar nicht auf in dem, was die Zeitun-

schen Denkens im Zweiten Teil der Philosophie der symbolischen Formen (1925, ECW 12) samt der dort entwickelten Argumentation ihres Autors für die Anerkenntnis des archaischen »Mythos« als einer genuinen Rationalität nicht kennt und im extrem selektiven Blick auf das Kapitel über Mythos und Religion in dem stark vereinfachenden Einführungsbuch An Essay on Man (1944) auch noch die Stellen übersieht, in denen Cassirer seinen Befund der Permanenz des mythischen Bewusstseins in der von wissenschaftlicher Rationalität strukturierten modernen Gesellschaft wiederholt, wird im Gebrauch des Terminus »primitiv« zur Beschreibung des mythischen Denkens leichter ein Indiz anthropologischen Exzeptionalismus bzw. kolonialistischen Denkens finden als der orientierte Leser, dem in besserer Textkenntnis günstigenfalls auch die Pointe der Analyse von The Myth of the State (1946) zu Gebote steht; siehe Marc Rölli: Die fragwürdigen Privilegien des anthropologischen Exzeptionalismus. Kritische Bemerkungen zu Ernst Cassirers Essay on Man, in Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Heft 47.2, 2022, 261–283.

Distanz als Freiheit

gen in ihrem Kulturteil behandeln, doch sie umfasst es als einen ihrer integralen Bereiche.5 Gemäß Cassirers tragender Intuition ist das, was derart in der kulturellen Produktivität hervorgebracht wird, allemal Bedeutung; und Bedeutung vollzieht sich in der offenen Pluralität ihrer Formen immer durch Symbolisierung als die stets konkrete Vermittlung von Sinn und Sinnlichkeit. Cassirer spricht vorzugsweise von Verkörperung6 und prägt den Ausdruck »symbolische Form« für deren typische Modi: für die durch je distinkte Einstellungen des Bewusstseins und Weisen der Gestaltung in ihrem Eigen-Sinn voneinander abgesetzten Sphären der Kultur. »Unter einer symbolischen Form verstehen wir jede Energie des Geistes, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.«7 Dem locus classicus zur Bestimmung des symboltheoretischen Grundbegriffs, in dem Cassirer die bedeutungstheoretische Fundierung seiner Philosophie der Kultur kennzeichnet, ist eine entscheidende terminologische Festlegung zu entnehmen: Nicht den einzelnen Akt und nicht den

5

Cassirer hatte im Rahmen seines Systementwurfs des menschlichen Lebens in der Kultur auch eine Monographie über die Kunst geplant, zu deren Durchführung er unter den veränderten Arbeitsbedingungen im Exil seit März 1933 nicht mehr gekommen ist. Deren Anlage ist aber einigen Texten zu entnehmen; siehe vor allem Ernst Cassirer (1944), ECW 24; deutsch: Ernst Cassirer (1990), Kap. IX. – Siehe Marion Lauschke: Ästhetik im Zeichen des Menschen. Die ästhetische Vorgeschichte der Symbolphilosophie Ernst Cassirers und die symbolische Form der Kunst, Hamburg 2007; Birgit Recki: Intensivierung von Wirklichkeit. Ernst Cassirers Begriff der Kunst, in: Kraft, Intensität, Energie. Zur Dynamik der Kunst, hg. von Frank Fehrenbach, Robert Felfe und Karin Leonhard, Berlin/Boston 2018, 343–353.

6

Siehe Birgit Recki: Symbolische Formung als »Verkörperung«? Ernst Cassirers Versuch einer Überwindung des Leib-Seele-Dualismus, in Bodies in Action and Symbolic Forms. Zwei Seiten der Verkörperungstheorie, hg. von Horst Bredekamp, Marion Lauschke und Alex Arteaga, Berlin 2012, 3–13.

7

Ernst Cassirer (1923a), ECW 16. – Siehe Birgit Recki: Symbolische Form, in Grundthemen der Literaturwissenschaft: Form, hg. von Robert Matthias Erdbeer, Florian Klaeger und Klaus Stierstorfer, Berlin/New York 2022, 505–515.

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Birgit Recki

einzelnen Gegenstand der Symbolisierung als Konkretisierung von Bedeutung, sondern die in solchen Instanzen regelmäßig wirkende Energie des Geistes bezeichnet Cassirer als symbolische Form. Der Hinweis auf den Plural der symbolischen Formen (»jede Energie des Geistes«) zeigt an: Der Gegenstand der Untersuchung ist das Universum der Bedeutung in der Pluralität seiner Formen, die Kultur als System. Die philosophische Frage richtet sich auf die Einheit der Kultur in der Vielheit ihrer – koextensiven und interdependenten – Formen der Hervorbringung von Bedeutung.8 Spätestens wenn Cassirer als Gastprofessor in Yale 1944 für sein amerikanisches Publikum statt einer Übersetzung der Philosophie der symbolischen Formen eine konzise Gesamtdarstellung seines Systementwurfs vorlegt: den Essay on Man, gibt er in Anlage und Exposition dieses späten Werkes zu erkennen, welchen Grundbestand an symbolischen Formen er für die menschliche Kultur als unabdingbar ansieht: Sprache, Mythos und Religion, Kunst, Wissenschaften und Geschichte (verstanden als Historie). Das Erkenntnisinteresse, das an den exemplarisch, gleichsam als ausbaufähiger Grundbestand untersuchten Formen des produktiven Geistes ersichtlich wird: Cassirer geht es um die Kultur als System der von Menschen gestalteten Wirklichkeit. Auch die Ergänzungen, die er in der Ausdifferenzierung seines kulturwissenschaftlich informierten philosophischen Grundlegungsprojektes anbringt,9 begünstigen dabei die Einsicht, dass hier Kultur und Gesellschaft als koextensiv begriffen werden. Während mit Blick auf das Ganze der menschlichen Wirklichkeit der Begriff der Gesellschaft auf den Charakter kommunikativer Praxis fokussiert, betont der Begriff der Kultur an dieser Praxis die Dimension der Poiesis: den Charakter der produktiven Hervorbringung, durch die 8

Ich halte mich hier an die in der Cassirer-Forschung verbreitete Übereinkunft, den Titel des dreiteiligen Hauptwerkes kursiv als Philosophie der symbolischen Formen (1923; 1925; 1929) zu geben, davon unterschieden den gesamten Systementwurf samt dem sachlich zugehörigen guten Dutzend kleinerer Abhandlungen zu ausgegliederten Grundlegungsfragen und Spezifizierungen recte als Philosophie der symbolischen Formen.

9

Cassirer begreift auch die Technik, das Recht und die Moral als Subsysteme der Kultur; siehe Ernst Cassirer (1930, 139–183), ECW 17; Ders. (1939), ECW 21, insbes. 53–105. – Zur impliziten Ethik Cassirers siehe Birgit Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004, Kap. C. I-IV, 129–209.

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sich die Menschen in ihrer auf sozialer Kommunikation beruhenden organisierten Arbeitsteilung eine dauerhaft verobjektivierte Sphäre der Bedeutung schaffen. Es ist die Perspektive auf die Totalität menschlicher Wirklichkeit als Sphäre der Bedeutung, die Cassirer in die Formel von der Kritik der Kultur fasst. Den Menschen begreift Cassirer in der Konsequenz explizit als das animal symbolicum und kennzeichnet seine Kulturphilosophie derart als eine Anthropologie, die jegliche Festlegung des Menschen auf einen Substanzbegriff hinter sich zu lassen beansprucht.10 Auch besagt der programmatische Satz Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur nicht: Wir lassen die Kritik der Vernunft als obsolet hinter uns und machen einen ganz neuen Anfang, indem wir stattdessen Kritik der Kultur treiben. Das »Werden zu« bezeichnet hier wie auch sonst nicht Abkehr oder Preisgabe einer alten Sache zugunsten einer neuen, sondern deren Überführung in eine neue Form: Transformation. »Der Begriff der Vernunft ist höchst ungeeignet, die Formen der Kultur in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit zu erfassen«, wird es im Versuch über den Menschen heißen.11 Die neue Formel vom animal symbolicum besagt im Kontext dieser Einsicht nicht die pauschale Zurückweisung der Bestimmung des animal rationale – sondern im nämlichen Sinne die Insistenz auf Erweiterung zu Fülle und Mannigfaltigkeit: Der Mensch geht nicht auf in seiner Vernunftbestimmung; auch was an ihm nicht Vernunft und doch produktiv ist, soll im Begriff des animal symbolicum fassbar werden: Der Mensch ist alles in allem das Wesen, das Bedeutung in die Welt bringt. Die methodische Änderung der Blickrichtung, die Cassirer im Ausgang von Kant vollzieht, meint derart den Übergang von einer universalen Bestimmung der Menschheit zu einer anderen.

2. Was ist Kritik der Kultur? Es ist die Konzeption der symbolischen Formen als Energien des Geistes, in der die Implikation der Kantischen Vernunftkritik in Cassirers Projekt

10

Cassirer (1990), 51. – Siehe Felix Schwarz: Kulturanthropologie in pragmatischer Hinsicht. Ernst Cassirers Philosophie des Menschen und die Naturfrage, Hamburg 2020.

11

Cassirer (1990), 51 (Hervorh. v. m., B.R.).

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Birgit Recki

prägnant wird. Denn gemeint ist der menschliche Geist als »das bildende Prinzip« im Subjekt,12 als die konstituierende Aktivität mithin, in der alle menschliche Wirklichkeit ihren Ursprung hat. Kant gründet seine Kritik der Vernunft methodisch auf eine Transzendentalphilosophie: Er fragt nach den ersten Prinzipien aller Erkenntnis und findet sie gemäß seiner Kopernikanischen Wende nicht in der Realität, sondern in den Subjekten der Erkenntnis: in den epistemischen Leistungen der »Vermögen«, die in deren Subjekten regelmäßig gleichsam am Werk sind. Diese Leistungen erkennt er als allgemeine und notwendige Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt.13 Nach diesem Methodenmodell der Konstitution von Wirklichkeit, das Kant in der Durchführung seiner Vernunftkritik nicht für Erkenntnis reserviert, sondern sukzessive auf alle anderen Leistungen des vernünftigen Subjekts anwendet,14 legt auch Cassirer seine Kulturphilosophie an. Dass er sie ausdrücklich als einen Idealismus begreift, ist nur konsequent – geht es darin doch um die geistige Spontaneität am Grunde aller Wirklichkeit: um die aktive (und produktive) Einstellung des Bewusstseins auf seine Eindrücke, durch die Wirklichkeit als kohärenter Prozess überhaupt gegenständlich wird.15 In der Rekonstruktion derjenigen intellektuellen und mentalen Bedingungen der Möglichkeit, die als Aktivität der symbolischen Konstitution und Produktion von Bedeutung in den Subjekten regelmäßig wirksam sein müssen, damit es zu kultureller Wirklichkeit kommt, entwickelt auch Cassirer eine Transzendentalphilosophie nach

12

In signifikanter Abwandlung der Kantischen Formulierung vom Geist als dem »belebende[n] Princip im Gemüthe« (Immanuel Kant (1790), 313) begreift Cassirer den Geist der Kultur als das »bildende Prinzip« im Subjekt (Ernst Cassirer (1957), ECW 5, 165). – Zur Affinität der Philosophie der symbolischen Formen zu Hegels Begriff des objektiven Geistes siehe Guido Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, Berlin 2010.

13

»Ich nenne alle Erkenntnis transscendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. Ein System solcher Begriffe würde Transscendental-Philosophie heißen.« (Immanuel Kant (1781/1787), 43/B 25).

14

Kritik der reinen Vernunft (1781); Kritik der praktischen Vernunft (1788); Kritik der Urteilskraft (1790).

15

Siehe Sebastian Ullrich: Symbolischer Idealismus. Selbstverständnis und Geltungsanspruch von Ernst Cassirers Metaphysik des Symbolischen, Hamburg 2010.

Distanz als Freiheit

Kantischem Modell. Es geht in dieser Kritik der Kultur um die Bedingtheit der menschlichen Kultur als System ihrer vielfältigen Formen durch die Energien des menschlichen Geistes.16 Das Kantische Modell ist in Cassirers Konzeption deutlich erkennbar. Wie Kant alle Erkenntnis als Bestimmung des Gegenstandes wesentlich als Erfolg einer Synthesis rekonstruiert: Verknüpfung von Sinnesdaten zu Anschauungen der Einbildungskraft unter Anleitung durch die Kategorien des Verstandes, so begreift auch Cassirer prima facie den Akt der Symbolisierung, die Verknüpfung von »geistigem Bedeutungsgehalt« und sinnlich Gegebenem als Synthesis. Es gehört indessen zu den originellen Ansätzen seiner Theorie, dass er den permanenten Ursprung aller Kultur, das »Wunder« der Repräsentation im Symbolgebrauch, »auf eine Reihe bestimmter Grundrelationen«, auf »eigentümliche und selbständige ›Weisen‹ der Verknüpfung« zurückzuführen sucht,17 die im Bewusstsein vor aller konkreten Symbolisierung geleistet werden. An den Weisen der Verknüpfung von Raum, Zeit, Substanz und Kausalität als Vollzugsformen des Bewusstseins macht Cassirer deutlich: »Es gehört zum Wesen des Bewußtseins selbst, daß in ihm kein Inhalt gesetzt werden kann, ohne daß schon, eben durch diesen einfachen Akt der Setzung, ein Gesamtkomplex anderer Inhalte mitgesetzt wird.«18 Für die Form des Raumes heißt das: mit jedem Hier ist bereits die Ko-Präsenz eines Da und eines Dort gegeben; für die Form der Zeit: jedes Jetzt ist nur präsent in der Begrenzung durch ein Früher und ein Später.19 Was Cassirer damit (bei variierender Dichte der Terminologie) der Sache nach beweisen will:20 Die transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Repräsentation als »Darstellung eines

16

Tatsächlich ist die auffällige Verschleifung der Differenz zwischen geistiger Konstitution und pragmatischer Produktion in dem Ansatz Cassirers wie auch schon Kants begründet, den ich als transzendentalen Aktivismus bezeichne: Wo bereits das Bewusstsein als ein Modus der Aktivität begriffen wird, der handlungstheoretische Kategorien auf sich zieht, wird die Grenze zum praktischen Handeln unscharf. Ich halte das für einen Fall von sachhaltiger Unschärfe.

17

Cassirer (1923), ECW 11, 25 (Hervorh. v. m., B.R.).

18

Cassirer (1923), ECW 11, 29.

19

Cassirer (1923), ECW 11, 34; vgl. 31.

20

Vgl. die Rede von »eine[r] Art erkenntniskritischer ›Deduktion‹«: Cassirer (1923), ECW 11, 39.

53

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Birgit Recki

Inhalts in einem anderen und durch einen anderen«21 , wie sie in jedem Symbolgebrauch geleistet wird, ist die »Urfunktion der Repräsentation«22 , als die der Vollzug des Bewusstseins begriffen werden muss. Denn durch Cassirers Rekonstruktion erweist sich das Bewusstsein als ein kontinuierlicher Verweisungszusammenhang: Die Funktionsweise des Bewusstseins ist Repräsentation. Deshalb bezeichnet er es unter Betonung seines ganzheitlichen Vollzuges als »›natürliche‹ Symbolik«.23

3. Von der Unmittelbarkeit zur Distanz: Kultur als Freiheit Synthesis ist damit verstanden als Urfunktion der Repräsentation, auf der Cassirers Konzeption zufolge jeder Akt der Symbolisierung beruht. Was in ihr geleistet wird, ist aber als Hervorbringung von Bedeutung noch nicht hinlänglich begriffen. Erst die teleologische Rede von der Bestimmung aller symbolischen Formen, »die passive Welt der bloßen Eindrücke, in denen der Geist zunächst befangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks umzubilden«24 , dramatisiert in der Metapher von der Lichtung des Chaos, gibt die systematische Pointe frei: »Und so [wie in der Sprache, B.R.] ist es überall die Freiheit des geistigen Tuns, durch die sich das Chaos der sinnlichen Eindrücke erst lichtet und durch die es für uns erst feste Gestalt anzunehmen beginnt. Nur indem wir dem fließenden Eindruck, in irgendeiner Richtung der Zeichengebung, bildend entgegentreten, gewinnt er für uns Form und Dauer.«25 Die Auszeichnung von »Form und Dauer« führt ins Zentrum von Cassirers Philosophie der Kultur: zum gleichermaßen epistemologisch wie

21

Cassirer (1923), ECW 11, 39.

22

Cassirer (1923), ECW 11, 32.

23

Cassirer (1923), ECW 11, 39. – Siehe zu diesem Abschnitt eingehender Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004, Kap. C. I-IV, 129–209.

24

Cassirer (1923), ECW 11, 10. – In solcher gelegentlich unterlaufenden Rede vom rein Geistigen konterkariert Cassirer seine programmatisch behauptete und stark dokumentierte Intention auf Überwindung des Körper-Geist-Dualismus.

25

Cassirer (1923), ECW 11, 41; vgl. 18.

Distanz als Freiheit

handlungstheoretisch fundierten Verständnis von »Freiheit des geistigen Tuns«. An der symbolischen Gestaltung, durch die sich Kultur in den ubiquitären Prozessen der Produktion und Rezeption, der Tradition, Innovation und Transformation von Bedeutung konstituiert, betont er immer wieder die Verobjektivierung – und mit ihr das Distanz-Apriori aller Symbolisierung.26 In der Verobjektivierung, zu der es bei jedem Akt der Symbolisierung kommt, gewinnt der Mensch Distanz zu seinen Eindrücken, zu den Verhältnissen, zu sich selbst; durch diesen Distanzgewinn ist symbolische Formung als Ursprung von Freiheit ausgezeichnet: In der mediatisierten Objektbeziehung kommt es komplementär zu einem distanzierten Selbstverhältnis,27 durch diese Relation der doppelten Abstandnahme wird Verfügung über die eigenen Eindrücke überhaupt erst möglich, es eröffnet sich ein Aktionsraum. Durch Symbolisierung gewinnt der Mensch demnach gleichursprünglich mit »Form und Dauer« der Verobjektivierung einen Spielraum der Verfügung, von dem er ausgeht – und fortschreitet. Mit der epistemischen Formung der andrängenden Eindrücke ist zugleich deren Distanzierung zur Verfügbarkeit das ultimative Thema dieser Philosophie der Medialität. Symbolisierung ist der Weg vom Eindruck zum Ausdruck, und er führt über die Distanz in die Freiheit. In diesem Sinne begreift Cassirer die Kultur als den Ort und den Prozess der Freiheit. Besonders anschaulich hat Cassirer die Pointe des Gedankens von Freiheit durch Distanz in seinem methodologisch grundlegenden Aufsatz »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt« von 1932 gemacht: Nicht allein bildet sich in der sprachlichen Benennung erst der dingliche Gegenstand so, dass wir im Sprechen über ihn verfügen können – auch für das Verhältnis zu den Affekten und anderen Gemütszuständen des sprechenden Menschen gilt, dass die sprachliche Artikulation mit der distanzierenden Verobjektivierung zum freien Umgang mit einem Problem verhilft. Wenn, so Cassirers Beispiel, ein kleines Kind es lernt, von 26

Siehe Birgit Recki: Cassirer [Grundwissen Philosophie], Stuttgart 2013.

27

Eng verknüpft mit dem Distanz-Apriori der symbolischen Formung ist das in der Forschung noch wenig erschlossene Theorem, dass jeder Form des symbolisch vermittelten Gegenstandsbewusstseins eine entsprechende Form des Selbstbewusstseins korrespondiere; vgl. Birgit Recki: Ernst Cassirer über Selbstbewusstsein, in: Subjektivität und Autonomie. Praktische Selbstverhältnisse in der klassischen deutschen Philosophie, hg. von Stefan Lang und Lars-Thade Ulrichs, Berlin/Boston 2013, 365–381.

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seiner Furcht vor fremden Menschen durch die rituelle Wiederholung der Formel »Keine Angst« Abstand zu gewinnen, dann ist darin ein exemplarischer Fall jener Befreiung zu sehen, die Cassirer als den Effekt jeder symbolischen Artikulation geltend macht.28 Im Essay on Man stellt er dieses Leitmotiv in den historischen Maßstab der Kulturentwicklung: Die gemeinsame Funktion jeder Symbolisierung – von den elementaren und unscheinbaren mentalen Leistungen bis zu den anspruchsvollsten Werken – ist Befreiung, Befreiung vom bloßen Eindruck zur selbsttätigen Artikulation im gestalteten Ausdruck. In diesem Sinne heißt es, die Kultur sei systematisch als Form der Freiheit und historisch als »Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen« zu verstehen.29 In der Vielfalt der symbolischen Formen: in Sprache, Mythos und Religion, Kunst, Wissenschaft, Technik, Recht und Moral, tritt dem Menschen, so Cassirer, seine eigene nach verschiedenen Gestaltungsmodi ausdifferenzierte geistige Selbsttätigkeit entgegen: In allen diesen Formen ist »das Grundphänomen« ausgeprägt, »daß unser Bewußtsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durchdringt.«30 Jeder elementare geistige Akt, jeder Akt der Symbolisierung ist nach diesem Verständnis gleichermaßen Akt der Befreiung wie Konstitution von Freiheitspotential. Und die Aufgabe dessen, was Cassirer »Kritik der Kultur« nennt, ist die Aufklärung der kulturellen Akteure über diese Funktion von Kultur, auf dass sie sich in der jederzeit möglichen Bedrohung ihres Bestandes auf die Notwendigkeit von deren Verteidigung gefasst machen.

28

Ernst Cassirer (1932): Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt, in: Ders.: Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen. Auf der Grundlage der Ausgabe Ernst Cassirer. Gesammelte Werke herausgegeben von Marion Lauschke, Hamburg 2009, 191–217.

29

VM, 345; siehe Birgit Recki: Freiheit und Werk. Über handlungstheoretische Kategorien der kulturphilosophischen Grundlegung bei Ernst Cassirer. In: PeterUlrich Merz-Benz/Ursula Renz (Hg.): Ethik oder Ästhetik? Zur Aktualität der neukantianischen Kulturphilosophie, Würzburg 2004, 115–134.

30

Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form (wie Anm. 23), 79 (meine Hervorhebung, B.R.).

»Der Mensch, das Leben – das ist klar – ist ein inneres Geschehen und nichts weiter.« Über Ortega Werner Oechslin

Einführung Es klingt wie ein Manifest aller ›Lebensphilosophie‹, die nichts außer den Menschen selbst und sein inneres Leben in Betracht ziehen will. José Ortega y Gasset stellte es an den Anfang seines Vortrages, den er am 5. August 1951 in der Stadthalle Darmstadt im Rahmen jener »Darmstädter Gespräche« hielt, die diesmal in Erinnerung der Anfänge der Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe 1901 ganz besonders dem Thema »Mensch und Raum« gewidmet waren.1 Und er setzte, worauf das kleine Einschiebsel »das ist klar« verweist, Einverständnis voraus. Ortega präzisiert: »Deshalb kann man nur von dem Menschen und von dem Leben sprechen, wenn man von drinnen aus spricht. Wenn man ernsthaft vom Menschen sprechen will, kann man es also nur von drinnen, vom eigenen Drinnen her, also man kann nur von sich selbst sprechen. Alles andere, was wir von den anderen Menschen, von dem anderen Leben oder vom Menschen im allgemeinen sagen können, muß man als sekundär abgeleitete und abstrakte Aussagen ansehen, also nicht evidente, auf Grund von Voraussetzungen und Annahmen konstruierte Aussagen.«

1

Cf. Ortega y Gasset, José (1952). »Der Mythus des Menschen hinter der Technik«, in: Mensch und Raum. Darmstädter Gespräch 1951, Bartning, Otto (Hg.). Darmstadt: Neue Darmstädter Verlagsanstalt, S. 111–117.

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Damit ist er bei der Unterscheidung vom innerem und äußerem Bild angelangt, was ihn bei seiner kulturkritischen Beurteilung des »Mythus des Menschen hinter der Technik« gemäß dem Titel seines Vortrages interessiert und leitet. Vorweg hatte er sich als Referent vorgestellt, dem das Wichtigste zu einem Gespräch fehle, die Sprache nämlich, was, so führte er gleich aus, »ziemlich heideggerisch klingt, denn ich will unserem großen Heidegger ähneln, der nicht wie die anderen Menschen nur Aufenthalt bei den Dingen, sondern noch dazu einen, besonders ihm ganz eigenen, Aufenthalt bei den Wörtern liebt.«2 Diese Bemerkung hat die Aufmerksamkeit des Publikums freilich befördert und ihn selber zu weiteren Überlegungen geführt.3 Furios hat er sich damit gleich abgegrenzt von seinem Vorredner, der an jenem Sonntagvormittag das Hochamt gehalten hatte, während Ortega jetzt das nachmittägliche Gespräch einleitete. Die Distanz zum heideggerischen Wortgottesdienst – und seine Sprachmängel – ist in eine captatio benevolentiae gekleidet! Schließlich würde er, Ortega, »zum eigentlichen Gespräch« in seinem ganz und gar nicht vorbereiteten Vortrag kaum gelangen: »…ich habe schrecklich gearbeitet« – mit Bezug auf die vorausgegangenen Münchner Vorträge – »und keine Minute gehabt, um diesen Vortrag richtig vorzubereiten. Die Hälfte davon muß ich improvisieren, was, wie Sie jetzt sehen werden, wirklich eine gewagte Sa-

2 3

Id., S. 111. Rukser, Udo (1971). Die Bibliografía de Ortega (Estudios Orteguianos 3). Madrid: Ediciones de la Revista de Occidente, S. 23 und S. 33) zitiert zwar den Beitrag Ortegas in den von Bartning herausgegebenen Akten des Darmstädter Gesprächs nicht, führt jedoch eine Besprechung und eine weitere Arbeit Ortegas auf: Ortega y Gasset, José (1952). »Martin Heidegger und die Sprache der Philosophen«, in: Universitas, 7, S. 897–903; »Gott braucht auch die ›Zerdenker‹. Heidegger und Ortega y Gasset beim Darmstädter Gespräch« (1951), in: Evangelische Welt, V, Bethel, S. 526–527. Das bekannte große Interesse Ortegas für Heidegger im Zusammenhang mit Ortegas Auffassung vom Leben findet sich – hier mit Bezug auf Sein und Zeit – in einer Fußnote dokumentiert, die sich in seiner für die Neue Rundschau verfassten und gleichzeitig in der Revista de Occidente 1932 publizierten Studie zu Goethe – »aus dem Innern!« – findet, dem er vorwirft, zu sehr an seinem eigenen Monument gearbeitet zu haben: Cf. Ortega y Gasset, José (1947). »Pidiendo un Goethe desde dentro«, in: Ders., Obras Completas. Madrid: Revista de Occidente, S. 395–419; hier: S. 403–404 Anm. 1.

»Der Mensch, das Leben – das ist klar – ist ein inneres Geschehen und nichts weiter.«

che ist.« Es bewirkte Lachen im Publikum, was in den Publikationen der »Darmstädter Gespräche«, wie auch bei anderen Gemütsbewegungen jeweils seitlich am Rand des Textes stets vermerkt wird.4 Lachen und Beifall begleiteten die kurz danach folgende Bemerkung: »Die Vorbereitung meines Vortrages ist jetzt zu Ende, und nun muß ich ganz frei schwimmen. Natürlich, Sie sind verantwortlich, wenn ich schiffbrüchig würde und ertrinken würde.«5 Der Redner hatte das Publikum auf seiner Seite. Ortega y Gasset hatte ja schon zuvor an den Gesprächen teilgenommen und sich am Vormittag nach Heideggers Vortrag durchaus erheiternd eingemischt. Und er stand jetzt ganz offensichtlich immer noch unter dem Eindruck des Heidegger’schen Vortrags »Bauen, Wohnen, Denken«.6 Dort ging es um Einlassungen zu »Bauen« und »buan«, von »Nachbar« und »Nahgebur« und »Nahgebauer« und dergleichen,7 wobei dann das altsächsische »wunon« und das gotische »wunian« zum »buan« zurückgeführt wurden und sich Wohnen und Bauen in dieselbe Vorstellung einfließen ließen.8 Vorstellungen! Otto Bartning, der Organisator der Veranstaltung und Gesprächsleiter, hatte Heideggers Vortrag die Bemerkung hinterhergeschickt, »wir könnten wohl fünf Tage brauchen, um diesen Vortrag zu bedenken. Wir können uns aber nur fünf Minuten Pause gönnen, um dann unser Gespräch zu beginnen. Ich bitte also, daß wir die Zeit einhalten, denn der Vormittag ist kurz.«9 Andere Redner drängten zum Wort und Bartning hatte sich und die Anwesenden einer schwierigen Diskussion entzogen; Heideggers Vortrag blieb gleichwohl allgegenwärtig und diente Bartning in seiner Überleitung zum Hauptanliegen des Gesprächs, die (heutige) Aufgabe des Baumeisters zu bestimmen, dazu von allen Sprechenden und an der Diskussion sich Beteiligenden die Nennung ihres Namens zu erbitten: »Es ist auch eine Heideggersche Wendung, wenn ich das so

4

Id., S. 112.

5

Id., S. 114.

6

Cf. Heidegger, Martin (1952). »Bauen, Wohnen, Denken«, in: Darmstädter Gespräch 1951, Bartning, Otto (Hg.), (1952, op. cit.), S. 72–84; nachfolgende Diskussion und weitere Beiträge hier in der Folge nur mit Seitenangabe.

7

Id., S. 72.

8

Id., S. 74.

9

Id., S. 84.

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ausdrücke.« Dissimulationen! Doch Heidegger hatte ja mit seinen Erläuterungen ›zum klassischen und gotischen Menschen‹ das Gespräch erst einmal »an die Schwelle unserer brennenden Frage gerückt«.10 Das wirkliche Thema bezog sich auf den »Lebensraum«, wozu das »Behaustsein« natürlich gehört, wie als erster Redner am Nachmittag Hans Schwippert betonte, der dies dann gleich – modern – mit dem Wohnen »als ein Helles, als ein Bewegliches, als eine leichte und offene Folge von Räumen« verband.11 Man blieb auch bei den Problemen der Sprache, Heideggers Vortrag, ohne ihn zu nennen, in der Erinnerung! Paul Bonatz leitete seinen Beitrag mit der Beobachtung ein, es gehe um zweierlei, um das Begriffliche und um das Schöpferische: »Um das Begriffliche lassen sich viele Worte machen – das Schöpferische entzieht sich dem Zugriff durch Worte, man kann es so wenig fassen wie den Stein der Weisen.« Er zitiert dazu Valérys Eupalinos und über ihn Platos Phaidros. Daraus sind ihm die Worte Sokrates’ besonders wichtig, wonach man sich beim Lachen ›verflüchtigt‹ und es eine geraume Weile daure, »bis wir uns wieder soweit zusammengefunden haben, dass wir sprechen können.«12 Und der weitere Gedanke: »Ja, da sah ich, Sokrates, ein, das kann ich nicht, denn ich muß weiter denken, und wenn ich weiter denke, dann zerdenke ich.«13 Bonatz bezog seine Einsichten auf den Sinn des Gespräches des Ab- und Eingrenzens und die damit verbundene Gefahr der »Einengung durch Parolen und die Überschätzung der Schlagworte«; und er meinte stets den konkreten Bezug auf die Dinge der Architektur. Das entscheidende Stichwort war gefallen: Zerdenken! Bonatz hatte es ganz konkret in eine Kritik an Scharouns Schulprojekt gehüllt, das am nächsten Tag der Präsentation und Diskussion zugedacht war: »Herr Scharoun, seien Sie mir nicht böse, wenn ich die Schule, die Sie gemacht haben, als ein Beispiel des Zerdenkens anführe – ich hoffe, wir dürfen uns mit Erlaubnis des Vorsitzenden ein wenig anpflaumen, es wäre langweilig für die Zuhörer, wenn wir uns nur Liebenswürdigkeiten sagten.«14

10

Id., S. 85.

11

Id., S. 87.

12

Id., S. 90.

13

Id., S. 91.

14

Ibidem.

»Der Mensch, das Leben – das ist klar – ist ein inneres Geschehen und nichts weiter.«

Der Vorsitzende Otto Bartning bat darauf »unsern großen spanischen Gast José Ortega y Gasset das Wort zu ergreifen«. Der hielt sich kurz und sagte von Beifall und dann von Lachen begleitet: »Es ist nur ein einziges Wort, das ich dem Herrn Bonatz sagen möchte, nämlich: daß der liebe Gott den Zerdenker brauchte, damit die anderen Tiere nicht fortwährend in Schlaf fielen.«15 Scharoun replizierte danach auf Bonatz und leitete mit kritischem Unterton mit dem Bezug auf Heideggers Vortrag ein. »Wir haben schöne begriffliche Dinge heute morgen gehört.« Scharoun war nun daran gelegen aufzuzeigen, dass man durch architektonisches Gliedern »etwas sichtbar machen« könne und dass dabei letztlich »verschiedene Bewußtseinsebenen« tätig seien und »zu einer Wirklichkeit« gebracht werden könnten.16 Das also wäre die Zielrichtung architektonischen ›Zerdenkens‹, die Überführung in die Wirklichkeit. Wie riskant derlei Gedanken sein konnten, wenn sie nicht aus der Kompetenz und Erfahrung des Architekten stammten, illustrierte anschließend Alfred Weber. Er geißelte gleich die Fixierung moderner Architekten auf das Wohnen und deren Gebrauch »polemischer Gebärden« und sah das missliche Resultat verpasster Orientierung an Inhalt und Funktion im UNO-Gebäude in New York, das er zur Entrüstung eines Teils der Zuhörer als »aufgereckte Zigarrenkiste« beschrieb, um dies dann teilweise nach der Intervention von Hermann Mäckler zurückzunehmen.17 Das ›Zerreden‹ wurde in allen Schattierungen vordemonstriert. Wilhelm Kreis fügte die Allerweltseinsicht hinzu: »Man muß denken lernen, das Denken ist ja doch die Grundlage! Das Denken schließt ja das Herz gar nicht aus. Nur ein kluges Herz ist imstande, so zu denken, wie es für das Bauen nötig ist.«18 Richard Riemerschmid bemühte Lessing. Und Sep Ruf begründete – trotz der vorausgegangenen Warnung Bartnings vor »Revolutionären aus dem Verstand« – das Bauen mit Stahl und Glas nicht durch formale Gründe, sondern »aus dem Darstellenmüssen eines ursprünglich[en] und unabdingbaren neuen Lebensgefühls«.19

15

Id., S. 93.

16

Id., S. 95.

17

Id., S. 97 und S. 99.

18

Id., S. 100.

19

Id., S. 105–106.

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1. Ortega und die kulturkritische Skepsis Da lag nun alles auf dem Tisch, was und wie dies die Architektur mit dem Leben verbinden könnte, was für die Darmstädter Gespräche durchaus exemplarisch war. Darauf zielte auch Ortega y Gasset, weshalb er nun in seinem nachmittäglichen Vortrag einleitend bemerkte, es fehle ihm die Sprache, was er »heideggerisch« verstand, um dann dessen »Aufenthalt bei den Wörtern« durch sein eigenes Anliegen, dem Bezug zum Leben zu ersetzen. Sein vorgegebenes Thema führte ihn zuerst weg zum Problem der Technik. Doch er blieb beim Menschen und widmete sich nun der »technischen Geschäftigkeit des Menschen« und dem, »was er mit den technischen Geräten macht«.20 Es war Dolf Sternberger, der dann den Faden zum ›Zerreden‹ und das Gespräch, bei dem »die Denker und die Gestalter einander ablösen« sollen, und auch den Bezug zu Heidegger wiederaufnahm. Dementsprechend müsste man neben den »Zerdenkern« auch von den »Zerstaltern« reden.21 Zwischenzeitlich war man abschweifend beim Thema Heimat und Heimatlosigkeit angelangt. Am Ende des Tages kam noch einmal Ortega y Gasset indirekt zu Wort; Bartning schloss die Sitzung: »Ich kann nur, um dem Meister Ortega zu folgen, aussagen über das, was in mir selber ist, das ist mir das einzig Verläßliche, und ich liebe das Freie, das Leichte, das Offene und möchte gern alle Menschen in das Freie, Leichte und nach dem Freien, nach dem Grünen und Offenen hineinversetzen, das ist meine Liebe. Und dieser Liebe muß ich von Vorurteilen frei nacheifern, und ich glaube, es gibt an sich nur diesen Weg.«22 So kam doch wieder die Lebensphilosophie und das aus dem Innern heraus gesprochene ganz persönliche Urteil zum Zuge. Die »vida humana« als »realidad radical«, wie Ortega im ersten Satz seiner »Historia como sistema« schreibt; in der deutschen Übersetzung von 1943: »Das menschliche Leben ist eine seltsame Realität, über die zuerst gesagt werden muß, daß sie die Grundrealität ist, und zwar insofern, als

20

Id., S. 113.

21

Id., S. 124.

22

Id., S. 143.

»Der Mensch, das Leben – das ist klar – ist ein inneres Geschehen und nichts weiter.«

wir alle übrigen Realitäten auf sie beziehen müssen, zumal da alle übrigen, wirkliche oder vermeintliche, auf die eine oder andere Art in ihr erscheinen.« Es muss sich auf das Tun auswirken, was mit der Existenz des Menschen zusammengeht, es sei das »trivialste und zugleich wichtigste Kennzeichen des menschlichen Lebens, daß der Mensch gar keine andere Wahl hat als immer etwas zu tun, um zu existieren.« »Das Leben ist Tätigkeit.« Ortega hat Fichte im Ohr und nimmt hier – in bester alter philosophischer Tradition – existenzialistische Bekenntnisse vorweg. Und präziser spanisch: »…es que el hombre no tiene otro remedio que estar haciendo algo para sostenerse en la existencia.«23 Es geht um – erlebte – Geschichte. Dem entspricht Ortegas kulturkritische Skepsis gegen einseitige Vernunftanwendung, gegen den »Hahnenschrei des Rationalismus« (»el canto de gallo del racionalismo«) und gegen jene Moderne, die von einigen längst in ihrer Agonie vermutet und als Schwanengesang erlebt wurde. »Esa Edad Moderna de la cual muchos piensan que hoy asistimos nada menos que a su agonía, a su canto de cisne.«24 Umgekehrt sieht er den Glauben an die Wissenschaft erschüttert und reklamiert für die Glaubensüberzeugungen den Wert der tiefsten Grundlage; er setzt es mit der »Architektonik unseres Lebens« gleich, »la arquitectura de nuestra vida«.25 Stets in direktester Weise auf den Menschen bezogen spricht er von der »historischen Vernunft«: »Kurz gesagt: der Mensch hat nicht…Natur, sondern er hat Geschichte.« Was die Natur den Dingen sei, sei dem Menschen die Geschichte, die er lateinisch als »res gestae«, das Geschehene und das Geschehen, schlicht als das TUN begreift.26 Geschichte ist das Leben!

23

Hier benützt: Ortega y Gasset, José (1942). Historia como Sistema y del Imperio Romano. Madrid: Revista de Occidente, S. 9; Id. (1943), Geschichte als System und über das Römische Imperium. Stuttgart/Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, S. 7.

24

Id., S. 14 und S. 15.

25

Id., S. 19 und S. 20.

26

Id., S.63 und S.68. Auch hier die bessere spanische Version: »En suma, que el hombre no tiene naturaleza, sino que tiene…historia. O, lo que es igual: lo que la naturaleza es a las cosas, es la historia – como res gestae – al hombre.«

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2. Ortega in der Architekturtheorie Es überrascht aus solchem Winkel betrachtet nicht, dass Ortega sich in besonderer Weise immer wieder auf Architektur bezogen hat und umgekehrt Architekten seine Gedanken als zum architektonischen Tun passend empfunden haben. Nicht nur Ortegas Kritik an, sondern auch sein Lob für gewisse Formen der Architektur werden hierbei berücksichtigt. Dass man bei Josep Lluís Sert, der, 1902 in Barcelona geboren, 1952 in dem von ihm eingeleiteten Band der Akten des CIAM (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne) mit dem Titel »The Heart of the City: towards the humanization of urban life« einen Verweis auf Ortega y Gasset findet, überrascht wohl kaum.27 In dem den »Centres of Community Life« gewidmeten Text hat der damalige Präsident der CIAM in auffälliger Weise ein langes Zitat aus dem Aufstand der Massen an den Anfang gesetzt, in dem Ortega y Gasset die Besonderheit des öffentlichen Raumes seit der griechischen polis, seit Agora und Forum, betont und dies mit der Bemerkung »a new kind of space, much more new than the space of Einstein« in provokativer Weise hervorhebt. Ortega y Gasset löst in diesem Textausschnitt den vermeintlichen Widerspruch eines offenen Raumes mit einem architektonisch geschlossenen Platz auf, indem er darin die Herauslösung eines spezifischen menschlichen Raums ›für seine Zwecke‹ betont: »an enclosure apart which is purely human, a civil space«.28 Die Lebensphilosophie »passt« zu den Phänomenen, die sie – ganz vom Menschen her gedacht – beschreibt, ohne Umstände, ohne Notwendigkeit ein ›anderes‹ System dieser Wirklichkeit zu überschreiben, oder auch – gemäß Husserls ›Hoffnung‹, wie er sie an das Ende seines berühmten Aufsatzes zur »Philosophie als strenge Wissenschaft« setzt – »ohne alle indirekt symbolisierenden und mathematisierenden Methoden, ohne den Apparat der Schlüsse und Beweise«, um dann »doch eine Fülle strengster und für alle weitere Philosophie entschei-

27

Cf. Sert, Josep Lluís (1952). »Centres of Community Life«, in: The Heart of the City: towards the humanization of urban life, Tyrwhitt, Jacqueline, Sert, Josep Lluís und Ernesto N. Rogers (Hg.). New York: Pellegrini and Cudahy, S. 3–16.

28

Id., S. 3; von Sert zitiert nach der amerikanischen Ausgabe: Ortega y Gasset, José (1932). The Revolt of the Masses. New York: W.W.Norton & Company Inc., S. 164–165.

»Der Mensch, das Leben – das ist klar – ist ein inneres Geschehen und nichts weiter.«

dender Erkenntnisse« zu erreichen.29 Die offensichtlich weitreichende ›Anwendung‹ von derlei Einsichten deckt sich mit dem, was Husserl in seinem Aufsatz »mit der im rechten Sinne philosophischen Intuition« und dem Blick auf »ein endloses Arbeitsfeld«, als »phänomenologische Wesenserfassung« zusammengefasst, beschreibt.30 Mittelbar wird die Nähe der Lebensphilosophie zur Phänomenologie deutlich sichtbar. Was Kritiker als Mangel an wissenschaftlicher Disziplin kritisieren mögen, was jedoch eher mit dem Verzicht auf jeglichen (philosophischen) Jargon – bis hin zum ›Zerreden‹ – gleichzusetzen ist, erweist sich als Vorzug unmittelbarer Nähe zum betrachteten Gegenstand. Die Lebenswirklichkeit steht im Zentrum, einerlei, ob man für oder gegen etwas spricht; der Vorteil zeigt sich in der so passenden Erschließung von architektonischen Phänomenen wie Platz und Raum, deren grundsätzliche Betrachtung gerade in jener Nachkriegszeit ein vordringliches Anliegen war. Wer hätte plausibler die besondere, menschliche, zivile Natur – in geradezu Herder’scher Weise – einer so lapidaren architektonischen Maßnahme wie der einer Platzbildung herausstellen können? Herder hatte sich in seinen Grundsätzen von der Art »Der Mensch ist zu feinern Sinnen, zur Kunst und zur Sprache organisiret« und »Der Mensch ist zu feinern Trieben, mithin zur Freiheit organisiret« der Frage von der dem Menschen eigenen – ihm allein eigenen! – menschlichen Natur zugewandt.31 CIAM 8 hatte sich damals mit dem »towards the humanisation of urban life« auseinandergesetzt; es war nach all den Krisen vergangener Zeit – wenigstens für eine kurze Weile, gleichzeitig zu den Darmstädter Gesprächen zu »Mensch und Raum« – das große Bedürfnis entstanden, sich der Menschlichkeit als Beweggrund architektonischen Handelns zu entsinnen. So wurde nun die Stadt nicht als Zivilisationsprodukt oder hypostasierte ›Metropolis‹ oder dergleichen aufgefasst, sondern organisch – und ›lebensphilosophisch‹ – vom Menschen hergedacht und mit einem ›Herz‹ ausgestattet begriffen: »The Heart of the City«. (»Das Denken schließt ja das Herz gar nicht aus. Nur ein kluges Herz ist imstande, so zu denken, wie es für das Bauen nötig ist«, hatte ja Wilhelm Kreis auch in Darmstadt 29

Cf. Husserl, Edmund (1910/11). »Philosophie als strenge Wissenschaft«, in: LOGOS, I. Tübingen: J.C.B. Mohr, S. 289–341; hier: S. 341.

30

Ibidem.

31

Cf. Herder, Johann Gottfried (1784). Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Riga/Leipzig: Johann Friedrich Hartknoch, S. 216 und S. 225.

65

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1951 eingeworfen!32 ) Das ist alles mit Blick auf Leon Battista Albertis »aedificia hominum esse causa constituta in promptu est«33 nicht neu, bedurfte jedoch neuerlicher Bestätigung, immer wieder; für Josep Lluís Sert war es Ortega y Gasset, der ihm diesen Zugang zur Betrachtung von Stadt und Raum als »purely human«, als »civic space« glaubhaft erschloss und so die Aufgabe des Architekten und Städtebauers als zutiefst menschliches Anliegen erinnert hat.

3. Ortega in der Rezeption Ein nicht weniger bemerkenswerter Bezug auf Ortega y Gasset im architektonischen Zusammenhang findet sich 1929 in der Zeitschrift »Die Form«, dem Organ des Deutschen Werkbundes.34 Der Deutsche Werkbund hatte sich nach etlichen Krisen und inneren Zerreißproben (!) auseinandergelebt und zeigte sich doch immer wieder aus der Gründungsidee der Veredelung von Produkten und der »Durchgeistigung der Arbeit« heraus um neue Impulse bemüht.35 Die »radikalen Künstler« hatten sich seit Bruno Tauts Rebellion in einer Vorstandssitzung 1919 einigermaßen selbständig gemacht und wandten sich in erster Linie der Architektur, dem Neuen Bauen zu, was in der Stuttgarter Ausstellung am Weissenhof 1927 kulminierte. Im inneren Kern, der Verbindung von Kunst und Wirtschaft nach wie vor verpflichtet, kümmerte sich der Generalsekretär Ernst Jäckh um den Fortbestand der Institution. Er stammte noch aus der um Friedrich Naumann gescharten Gruppe von Gründungsmitgliedern, deren Ziele mit der Kriegskatastrophe und schon mit dem Misserfolg der Kölner Ausstellung von 1914 und der daran geknüpften Disputation um Wesen und Aufgabe des Werkbundes zu

32 33

Vgl. oben; Bartning, Otto, (1952, op.cit.), S. 100. Cf. Alberti, Leon Battista (1452). De Re Aedificatoria (Anfang des vierten Buches zu den öffentlichen Bauten); cf. Leon Battista Alberti. L’Architettura ((1966)), Orlandi, Giovanni (Hg.). Milano: Il Polifilo, S. 265.

34

Cf. Jäckh, Ernst (1932). »Idee und Realisierung der internationalen WerkbundAusstellung«, Die Neue Zeit; Die Form, Zeitschrift für gestaltende Arbeit (1929) 4(15), S. 401–422.

35

Cf. Werner Oechslin, Werkbundzeit. Kunst, Politik und Kommerz im Widerstreit, München: Hanser, 2021, hier besonders S. 320 ff.: Die ,Neue Zeit‘: Debakel statt Apotheose.

»Der Mensch, das Leben – das ist klar – ist ein inneres Geschehen und nichts weiter.«

diesem Anlass arg in Krise geraten war. Doch 1925 begann man sich erneut für eine großangelegte Ausstellung wieder in Köln vorzubereiten, die dem Thema »Die neue Zeit« gewidmet sein sollte. Ortegas zum Buch gestaltete Vorlesung von 1921/22, die sich ganz besonders dem Generationenwechsel und entsprechend veränderten Sichtweisen unter dem Titel »El Tema de Nuestro Tiempo« widmete, kündigt sich ja wie eine passende Folie zu derlei Unternehmungen an. Das großangelegte Ausstellungsprojekt für Köln sollte das »Schaubare« und »Schauenswerte«, nahe an menschlicher Tätigkeit beobachtet, zur Darstellung bringen. Allein, das Scheitern des Projekts war in Anbetracht der damaligen Wirtschaftskrisen nicht aufzuhalten. Die Zeitschrift des Werkbundes »Die Form« widmete der mittlerweile weitgediehenen Idee jedoch 1929 das ganze Heft 15 zum 1. August 1929. Darin stellte Ernst Jäckh die Grundlagen seines Projektes in aller Breite vor. Es geht ihm um das »Ausdruckswollen unserer heutigen Zeit« in Abgrenzung gegen das Modische und gegen ›Modernität‹.36 Er stellt stattdessen alles in den Rahmen eines Werdens und mithin der Geschichte und beschreibt diesen Vorgang als »das organische Ergebnis einer Reihenfolge von Stufen und Schritten eines Jahrhunderts, das bewußte Erlebnis der Kontinuität des entschiedensten Jahrhunderts von Entdeckungen, Erfindungen und Gestaltwandlungen«, womit die technischen Erfindungen und die ihnen folgende »Allheit ihrer Wirkungen« gemeint sind, die zu »neuer Einheit« des »Lebens wie des Erlebnisgefühls« werden sollte.37 Insofern geht es um die vollkommene Integration der Technik als »zusammengehörigkeitsbewußter Teil eines Ganzen«.38 Mehr und mehr würde die »Einheit des historischen Geschehens« offenbar.39 Die Nähe zu den Vorstellungen und Thesen von José Ortega y Gasset scheint evident. Und so zitiert Jäckh Ortega y Gasset: »Ein Wechsel des kollektiven Weltgefühls wird zuerst an Kunst und reiner Wissenschaft sichtbar, weil diese die freiesten menschlichen Aktivitäten und am wenigsten eng mit den sozialen Bindungen einer Epoche verknüpft sind. Wenn der Mensch seine Grundeinstellung zum

36

Cf. Jäckh, Ernst (1929, op. cit.), S. 405–406.

37

Id., S. 406.

38

Ibidem.

39

Id., S. 407.

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Leben ändert, so verrät sich die neue Geisteshaltung zunächst in der künstlerischen und wissenschaftlichen Schöpfung.«40 Jäckh ergänzt: »Aber die Wandlung selbst ist universal!« Er will die ›neue Zeit‹ ohne Begrenzung begreifen. Er bezieht alle Lebensbereiche und die sichtbaren Vertreter dieser Lebensbereiche mit hinein, Friedrich Dessauer für die Technik, Alfred Weber mit »Kulturausdruck und Technik« und die Kunst in ihrer Entwicklung von Henry van de Velde bis László Moholy-Nagy sowie eine ganze Reihe von Philosophen, zu denen er auch Hans Prinzhorn und Hermann Graf Keyserling zählt. Ausführlich zitiert er Max Scheler, Alfred Weber und dann Ortega y Gasset; er bemüht ihn mit Aussagen zur neuen Kunst, die »verständlich und fast großartig« würden, wenn man sie als einen Versuch lese, »Kindlichkeit in unsere greise Welt zu bringen«.41 Ortega y Gasset steht für Jäckh als der, der derlei Prozesse zu ganzheitlichen Vorstellungen führt. Jäckh spricht von einem »neuen Zeitwerk«. »Die Neue Zeit« und »Lebenseinheit« schließen sich in seinem Schema zum Kreis, der sich aus sieben Anwendungsbereichen vom Weltbild zur Formung des Menschen bis zur Ordnung der Welt zusammensetzt.42 Jäckh sieht für Deutschland – und seine Ausstellung – die Rolle eines »Schulbeispiels«, eines »Laboratoriumsfalls«, als mitteleuropäisches Zentrum, »ohne militärische Rüstungsmöglichkeit, ohne politische Bündnisfähigkeit, ohne wirtschaftliche Selbständigkeit, ohne volkliche Geschlossenheit«, stattdessen mit Überlappungen aller Art. »Deutschland steht vor der Aufgabe, die innere Einheit Europas als Aufgabe natürlicher Arbeitsteilung sichtbar zu machen: das kann nur vom Organismusgedanken her geschehen.« Jäckh bleibt den alten Ansprüchen des Werkbundes treu, hat sich aber von den politischen und wirtschaftspolitischen Vorstellungen, die ja 1914–18 jämmerlich gescheitert waren, befreit. Es ist tragisch, dass Jäckh mit seinem Werben für den Werkbund bald einmal in gefährliche Nähe nationalsozialistischer Interessen und Kräfte geriet; 1934 geht er ins Exil.

40

Id., S.408.

41

Id., S.409.

42

Id., S.411.

»Der Mensch, das Leben – das ist klar – ist ein inneres Geschehen und nichts weiter.«

Schlussbemerkung Vieles lag damals in der Luft. Doch es ist erstaunlich, wieviel von dem, was hier beschworen wurde, in Ortegas Überlegungen entwickelt wird. Dazu gehören seine Beobachtungen zu Europa, zu Internationalismus und – davon klar und deutlich unterschieden und positiv abgehoben – Kosmopolitismus. Es ist Teil seiner geschichtlichen Betrachtung. Im Dezemberheft 1924 seiner Revista de Occidente publizierte Ortega einen Aufsatz zur »Unidad de Europa«, den ihm William S. Haas aus Köln zugesandt hatte, wo er bis 1923 als Privatdozent für Sozialwissenschaften lehrte.43 Dort steht über dem Titel der Untertitel »Los tipos de humanidad«. Es geht darum, wie sich Menschen ›aus guten Gründen‹, aus »convicciones decisivas«, zusammenfinden, was der Autor gegen die üblichen Nationenbildungen, den »error de la diferenciación habitual«, setzt. Haas sieht dabei die Probleme eines verschwindenden tieferen Verstehens der Zusammenhänge und der Bindung durch die Natürlichkeit der Dinge, mithin eines kulturellen Gemeinsinns; es sind Betrachtungsweisen der Lebensphilosophie. José Ortega y Gasset hat William Haas’ Beitrag einen eigenen kleineren, »Parerga« überschriebenen Text vorangestellt, der im Untertitel das für ihn entscheidende Wort »Cosmopolitismo« trägt.44 Es folgt gleich die Abgrenzung gegen den Internationalismus, den er mit der kurz zuvor gegründeten Organisation der ›Vereinten Nationen‹ verbindet, und dem er den »cosmopolitismo de ciertas minorías intelelectuales« entgegenstellt. Ortega klagt, das intellektuelle Leben Europas sei noch nie so auseinandergerissen gewesen wie gerade jetzt45 und er begründet dies und beschreibt die Folgen, angefangen beim Verschwinden der »curiosidad por el extraño« bis hin zur ›Nationalisierung‹ auch der Intellektuellen.46 Man hat Ortega bis in jüngste Zeit wegen seiner ›elitären‹ Einstellung kritisiert und als Aristokraten bezeichnet; man muss umgekehrt 43

Cf. Haas, Guillermo (1924). »La unidad de Europa«, Revista de Occidente, 2(18), S. 353–396.

44

Cf. Ortega y Gasset José (1924). »Parerga, Cosmopolitismo«, Revista de Occidente, 2(18), S. 343–352.

45

Id., S. 345: »Y, en efecto, durante los postreros cincuenta años de la última centuria se hallaba la vida intellectual europea más disociada que lo había estado nunca, desde su comienzos.«

46

Id., S. 345.

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betonen, dass er sich gegen Tendenzen gestellt hat, deren negative Folgen sich in der Krise der heutigen Intellektuellen weiterhin deutlich manifestieren und die übrigens gerade zur Zeit jenes Aufsatzes auch in der Architektur ihre Aufwartung machten. Den Internationalismus hat Walter Gropius schon 1925 in seinem ersten Bauhausbuch unter dem Titel »Internationale Architektur« propagiert und mit Forderungen wie einem »einheitlichen Weltbild« von »objektiver Geltung« versehen.47 Daraus entwickelte sich jener »International Style«, der eine ubiquitäre Architektur begünstigt hat, die sich in der Tat eintönig, monoton über die ganze Welt ausgebreitet hat. Es ist nur eines jener Phänomene, die sich als Gegenteil eines zutiefst kulturell begründeten Kosmopolitismus verbreitet haben, wie ihn Ortega y Gasset auf einem tieferen Geschichtsverständnis basierend vertreten hat, wobei für Ortega Geschichte eben nicht Vergangenes, sondern – wie bei Karl Jaspers »in eins Geschehen und Selbstbewusstsein dieses Geschehens, Geschichte und Wissen von Geschichte«48 – jenen untrennbaren Zusammenhang der Geschichte und der daraus gewonnenen Einsichten, das Bewusstsein von Geschichte meint. Man erfährt Ortegas Kritik an einem solchen, sich vom Individuellen lösenden, pauschalisierenden Internationalismus in einer seiner berühmtesten Studien, »La Deshumanización del Arte«, die mit der »impopolaridad del arte Nuevo«, genauer bei der Trennung eines verstehenden und eines vom Verstehen ausgeschlossenen Publikums ansetzt; und natürlich in seinem erfolgreichsten Werk »La Rebelión de las Masas« von 1930, in das er mit seinen Beobachtungen zum Problem der »Aglomeraciones« einführt, um gleich festzuhalten, dass das öffentliche Leben nicht nur ein politisches Phänomen sei, sondern alles das intellektuelle, moralische, ökonomische und religiöse Leben bis hin zu Kleidung und dem »modo de gozar« umfasst; Lebensphilosophie ist eine ganzheitliche, lebensbejahende, zu Individualität und Freiheit ermunternde und nicht – wie Ortega häufig unterstellt wird – elitäre Weltauffassung. José Ortega y Gasset haben sich dank der frühen Studien in Deutschland auch ganz besonders die philosophischen Denktraditionen

47

Cf. Gropius, Walter (1925). Internationale Architektur. München: Albert Langen, S. 7.

48

Cf. Jaspers, Karl (1949). Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. München: Piper, S. 290.

»Der Mensch, das Leben – das ist klar – ist ein inneres Geschehen und nichts weiter.«

Deutschlands erschlossen. Für ihn waren die kulturellen und intellektuellen Bindungen, die in Europa – nach seiner Einschätzung – früher sehr viel mehr wirksam waren, noch eine Selbstverständlichkeit. Trotz der bei ihm ansetzenden Klage über deren Verschwinden! Es hat ihn – ausgerechnet in modernen und internationalistischen und scheinbar wie nie zuvor weltoffenen Zeiten – gleichsam in jene Minderheit relegiert, die dann häufig als ›elitär‹ stigmatisiert worden ist. Er schließt sich in seinen Parerga mit seinem Appel zu vermehrtem Einfluss intellektueller Kräfte dem verzweifelten Ruf Mallarmés an : »la foule, quand elle aura, en tous les sens de la fureur, exaspéré sa médiocrité, sans jamais venir à autre chose qu’à du néant central, hurlera vers le poète, un appel«.49

49

Cf. Ortega y Gasset, José, »Parerga« (1924, op. cit.), S. 352.

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Norbert Elias als Kulturkritiker1 Von der demokratischen Ironie – oder: Wie Kultur Zivilisation verrät Marta Bucholc

Einführung Wenn man eins der – für einen Mann, der 93 Jahre gelebt hat – überraschend wenigen Bilder von Norbert Elias betrachtet, könnte man beinahe glauben, dass Hermann Hesse in seinem literarischen Bild des Steppenwolfes Elias gemeint hatte: »Trotz jenem Ausdruck von Fremdheit […], es war ein vielleicht etwas eigenartiges und auch trauriges Gesicht, aber ein waches, sehr gedankenvolles, durchgearbeitetes und vergeistigtes.«2 Ein Mensch, der einen so wachen Blick hat, muss wohl im Königreich des Geistes leben und mehr als hoi polloi sehen können.

1. Die Kultur nüchtern ansehen Ein wacher Blick kommt nicht umsonst: Der Preis, den der Steppenwolf für seine intellektuelle Illusionslosigkeit bekanntlich zahlte, war Leid und Hohn. »Der Blick war viel eher traurig als ironisch, er war sogar abgründig und hoffnungslos traurig; eine stille, gewissermaßen sichere, gewissermaßen schon Gewohnheit und Form gewordene Verzweiflung war der Inhalt dieses Blickes. Er durchleuchtete mit seiner verzweifelten

1

Diese Arbeit wurde gefördert vom Polnischen Nationalen Wissenschaftszentrum in Kraków (Projekt: The National Habitus Formation and the Process of Civilization in Poland after 1989: A Figurational Approach, 2019/34/E/HS6/00295).

2

Hesse, Hermann (2010 [1927]). Steppenwolf, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 10.

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Marta Bucholc

Helligkeit […], ironisierte und erledigte die Situation […], der Blick des Steppenwolfes durchdrang unsre ganze Zeit, das ganze betriebsame Getue, die ganze Streberei, die ganze Eitelkeit, das ganze oberflächliche Spiel einer eingebildeten, seichten Geistigkeit — ach, und leider ging der Blick noch tiefer, ging noch viel weiter als bloß auf Mängel und Hoffnungslosigkeiten unsrer Zeit, unsrer Geistigkeit, unsrer Kultur.«3 Eins der größten Geheimnisse Elias’ ist es, dass er trotz aller Helligkeit seiner Betrachtungsweise nie zur Verzweiflung neigte: Seine Ironie ist nie in Sarkasmus übergangen4 . Er hat die Mängel seiner Zeit, seiner Geistigkeit und seiner Kultur klar gesehen – und trotzdem blieb er der Hoffnungslosigkeit fern. Vielleicht weil er die Kultur zwar mit ganzem Herzen liebte, ihr aber nicht vertraut hat – oder auch nicht vertrauen konnte. Dies kann wohl ein Attribut des Judenseins im Deutschland der Zwischenkriegszeit sein: Die deutsche Kultur als etwas Persönliches zu empfinden, wie nur eine tiefste Enttäuschung persönlich sein kann. Das Verhältnis von Norbert Elias zur Kultur ist alles andere als einfach. Ulrich Beck schrieb 1990 in seinem Nachruf auf Elias: »Er hat Gedichte geschrieben, also Sprache zärtlich geliebt. Von welchem Soziologen läßt sich das schon sagen?«5 Soziologie ist eine sprachlich behinderte Disziplin. Elias liebte die Sprache – die deutsche Sprache, aber auch die Sprache an sich, wie es sich beispielsweise in seinen Erwägungen zur Rolle der Personalpronomina ausdrückt. Er hat sich lebenslang mit Kulturphänomenen beschäftigt, und zwar als Quelle des Wissens über die Gesellschaft, zuverlässiger (in seinen Augen) als Umfrageergebnisse oder öffentliche Statistiken. Elias glaubte daran, dass eine genaue Beobachtung der Kultur, wie sie sich in unzähligen Instanzen manifestiert, ein diagnostisches Instrument ist, mithilfe dessen der Gesellschaftszustand untersucht und die Entwicklungsrichtung bestimmt werden kann. Andererseits hatte er für die Kultur selbst wenig

3

Ibid., S. 14.

4

Vgl. Bucholc, Marta (2013). »Irony as Vocation: The Fate of a Social Scientist in the Writings of Max Weber and Norbert Elias«, in: Norbert Elias and Social Theory. From Classics to Contemporaries, Dépelteau, François und Tatiana Savoia Landini (Hg.). New York: Palgrave Macmillan, S. 143–160.

5

»U. Beck, Nachruf. Mit der Liebe des Käfers«, in: Der Spiegel, 06.08.1990 https:// www.spiegel.de/spiegel/print/d-13500066.html (letzter Zugriff, 1. Juni 2020).

Norbert Elias als Kulturkritiker

übrig, mindestens in seiner professionellen Persona. Die Kultur war kein selbstständiges Forschungsobjekt, hatte sozusagen keine eigene interne Logik: Sie war ein Zeichen für etwas anderes.

2. Die alternative philosophische Zivilisationstheorie Im Zentrum der Elias’schen Theorie steht der Begriff der Zivilisation, welche sich gegen die Unberechenbarkeit des irdischen Lebens richtet, die von Unkontrollierbarkeit der Affekte und Leidenschaften verursacht wird. Zivilisation bedeutet also Hemmung der Kräfte, die sonst nicht vorhersehbar und dadurch furchterregend sind. Sie schützt vor Gewalt, mit welcher der Mensch immer, sogar in den zivilisiertesten Gesellschaften, rechnen muss, weil die Zivilisierung immer vom Schatten der Entzivilisierung verfolgt wird6 . Diese Dialektik der Zivilisierung, die nicht nur, dem Motto zu seinem großen Buch vom 1939 folgend, »pas encore terminée« sei, ein nicht vollendbarer Prozess, sondern immer fragil und verletzlich bleibt, hat Elias am besten in seinen Studien über die Deutschen abgebildet7 . Die Elias’sche Analyse der deutschen Vergangenheit in diesem Buch ist eine Sammlung der empirischen Fallstudien eines konkreten historischen Zivilisierungsprozesses. Wenn wir seinen Zivilisationsbegriff bedenken, in dem die Affekte der Sozialstruktur entsprechend transformiert werden, dann ist die deutsche Geschichte voll von Paradoxien. Die Verinnerlichung der Kontrolle, die vom »Fremdzwang« zum »Selbstzwang« führt, hat in präzedenzloser Gewalt kulminiert, was jedoch für Elias kein guter Grund war, die Idee der Zivilisierung aufzugeben. Im Gegenteil: Er hat in den Studien über die Deutschen eine praktische Anwendung der kritischen Instrumente angeboten, die er schon 1939 im Prozessbuch zur Verfügung gestellt hatte, mit dem Ziel, den Zusammenbruch des deutschen Zivilisierungsprozesses zu erklären. Ironischerweise – und die ganze Lebensgeschichte von Elias ist von unerträglicher Ironie geprägt – entstand zur selben Zeit ein ande6

Mennell, Stephen (1990). »Decivilising Processes: Theoretical Significance and

7

Elias, Norbert (2005). Studien über die Deutschen. Gesammelte Schriften, Band 11,

Some Lines Of Research.« International Sociology, 5(2), S. 205–223. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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rer und viel prominenterer Versuch, den zivilisatorischen Niedergang Deutschlands zu erklären. Die beiden Ansätze haben ihre Wurzeln in derselben Stadt, Frankfurt a.M., wo Elias, der ab 1930 dem Lehrstuhl von Karl Mannheim als dessen Assistent und Habilitand angehörte, nicht weit entfernt vom Max Horkheimers Institut für Sozialforschung, arbeitete. Die Stellung Elias’ gegenüber der Frankfurter Schule war ungeduldig: Wie Artur Bogner 1987 in seinem ausschlaggebenden Essay dazu schrieb, hatte Elias nicht mal die »minimal empathy for and knowledge of Adorno’s theory required for a genuine dialogue.«8 Dialogisch war Elias als Denker übrigens überhaupt nicht9 . Es existiere aber, so Bogner, trotz der nicht mal minimalen Empathie eine gewisse Konvergenz zwischen den Ansichten von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer und derjenigen Elias’, weswegen die Theorie der Zivilisation in Über den Prozess der Zivilisation als eine alternative, aber der Dialektik der Aufklärung nah verwandte Denkweise zu betrachten wäre10 . Der Unterschied zwischen den beiden liegt genau beim Punkt Kritik: Elias meinte nie, so Bogner, eine politische oder philosophische Kritik zu betreiben11 . Sein expliziter Zweck war es, die wissenschaftliche Beschreibung der Realität darzubieten, die ohne ideologische Prämissen, ohne vorausgesetzte ideale Menschenbilder, ohne Illusionen und Selbsttäuschungen verfasst wäre. Elias war kein desillusionierter Mensch, er war aber stolz darauf, illusionsfrei zu sein.

8

Bogner, Artur (1987). »Elias and the Frankfurt School«. Theory, Culture & Society, 4(2-3), S. 249–285, hier S. 249.

9

Rehberg, Karl-Siegbert (1996, Hg.). »Einleitung«, in: Ders. Norbert Elias und die Menschenwissenschaften. Studien zur Entstehung und Wirkungsgeschichte seines Werkes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 4–16., hier S. 13.

10

Bogner, Artur. »Elias and the Frankfurt School«, S. 250.

11

Vgl. Ibid., S. 251.

Norbert Elias als Kulturkritiker

3. Kultur: Eine zivilisationsbefähigende Illusion Ich habe 2015, mit Martin Albrow sprechend, die Frage gestellt, die ich bis heute nicht zufriedenstellend beantwortet habe: »What makes civilisation civil?«12 Diese Frage nehme ich heute als Ausgangspunkt dafür, Elias doch als Kulturkritiker zu lesen. Die allgemeinen Merkmale der Zivilisation, also die Reduktion von Gewalt, die Pazifizierung der Menschen sowie die Stärkung der Selbstzwänge im Vergleich zu den Fremdzwängen, sind in unterschiedlichen Kulturen auf verschiedene Weise implementiert worden: Es gibt keinen Königsweg zur Zivilisation. Elias war vielleicht eurozentrisch13 , aber nur bis zu einem bestimmten Punkt: Er sah keine einzige Art und Weise, zivilisiert zu sein, keine »richtige« Zivilisation. Er hatte mehr von den institutionellen Mechanismen der Zivilisation zu sagen, die seiner Meinung nach doch immer dieselben sein mussten: Ohne politische Macht kann sich die Zivilisation kaum durchsetzen. Nur in einer politisch stabilen und relativ zentralisierten Umgebung besteht die Chance, dass sich der Habitus der Menschen dauerhaft ändert. Diese Überlegungen haben die Frage hervorgerufen, ob laut Elias eine Zivilisation außer einer staatsähnlichen organisatorischen Form überhaupt möglich sei: Eine negative Antwort schließe einen großen Teil der historischen Menschengesellschaften aus dem Anwendungsbereich des Zivilisationsbegriffes aus14 . Unabhängig davon aber, wie der Prozess der Zivilisation auf der institutionellen Ebene verläuft, hat er immer auch eine kulturelle Dimension. Diese kulturelle Mechanik des Zivilisationsprozesses, die Art und Weise, die institutionelle Logik in den Habitus zu übertragen, ist eine Domäne der Kontingenz. Was aber eine bestimmte Variante der Zivilisation konstituiert, ist also Kultur: Die Gesamtheit der Symbole, die durch Erinnerung aktiviert und in der intermenschlichen Kommunikation benutzt wird15 . Kul12

Bucholc, Marta (2015). A Global Community of Self-Defense. Norbert Elias on Normativity, Culture, and Involvement. Frankfurt a.M.: Klostermann, S. 17.

13

Vgl. Goody, Jack (2006). The Theft of History. Cambridge: Cambridge University Press, S. 154ff.

14

Vgl. Mennell, Stephen (1989). Norbert Elias. Civilization and the Human Self-Image. Oxford: Blackwell, S. 237.

15

Elias hat seine Symboltheorie in zwei Hauptwerken ausgelegt: Symboltheorie und Über die Zeit.

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tur entscheidet in diesem Sinne über die Richtung der Sozialprozesse, weil sie die Begründung und Deutung der Zwänge anbietet, die ein Teil des Habitus werden müssen, damit Zivilisation möglich ist. Das kulturell übertragene Wissen legitimiert die Habitusstrukturen. Dies hängt mit den zwei Eigenschaften des Wissens zusammen, die Elias in einem seiner verhältnismäßig weniger geschätzten Werke unter demselben Titel erklärt: Engagement und Distanzierung16 . Laut Elias sind die Symbole, die das Wissen ausmachen, zwar arbiträr, sie können aber nur dadurch entstehen und darin bestehen, dass sie von der kommunizierenden Gesellschaft aktiv aufrechterhalten werden. Ich habe deswegen einmal behauptet, dass Elias eigentlich die Kohärenz der Sprache und der Lebensform im Sinne Ludwig Wittgensteins postuliert: Die Sprache passt zu der Welt genauso so wie die Welt zu der Sprache passen muss, weil sich die beiden ständig aneinander dynamisch anpassen17 . Die Anpassungsfähigkeit hat aber ihre Grenzen, die laut Elias nicht nur vom kollektiven Kommunikationskonsens gesetzt werden, sondern auch von der Welt selbst, in der die Kommunikationsgemeinde überleben muss. Elias war also kein starker Konstruktivist: Die Welt wird zwar mit den Worten gemacht, manche Welten lassen sich aber nicht machen, nicht mal mit den Worten: »die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.«18 Eliassche Soziologie ist stark historisch orientiert: Das Gewicht der in der Ökologie der menschlichen Welt akkumulierten Vergangenheit hemmt die schöpferische Freiheit. Diese Ökologie ist von der Natur und von der Biologie des menschlichen Körpers teilweise verschrieben, teilweise ist sie aber auch frei gestaltet. Die Kultur ist sowohl ein Instrument der Bekämpfung der uns umgebenden Welt als auch ein Teil davon, was zu bekämpfen ist, weil sie zur Entstehung der menschlichen Ökologie beiträgt, die den menschlichen kulturellen Konstruktionen die Grenzen setzt. All dies könnte sehr gut auch ein Vermächtnis des Neukantianismus sein, in dem Elias als Philosoph sozialisiert worden war, und den er spä16

Elias, Norbert (2003). Engagement und Distanzierung. Gesammelte Schriften Band 8. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

17

Vgl. Bucholc, Marta. A Global Community of Self-Defense, S. 83ff.

18

Marx, Karl (1972). »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, in: Karl Marx/ Friedrich Engels – Werke, Band 8, Berlin: Dietz Verlag, S. 115–123, hier S. 115.

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ter kritisierte und ablehnte19 . Seine Wissenssoziologie hat sich von diesen Ursprüngen befreit. Der Ausgangspunkt davon ist, im Grunde genommen, das ewige Problem der Ignoranz: Da die Menschen die Welt nicht völlig kennen können (weder die Natur noch die Sozialwelt), entsteht eine Spaltung in der symbolischen Kommunikation. Teilweise ist sie immer realitätskongruent, also repräsentiert sie die Verhältnisse in der Welt ungefähr so, wie sie sind (oder wie sie zu einem Zeitpunkt erkennbar sind). Es besteht aber auch der Teil der Kommunikation, der keineswegs in der dagewesenen Realität verankert ist und keine oder fast keine Realitätskongruenz aufweist. Es existiert also ein völlig fantastisches Wissen, ohne jegliche Realitätskongruenz, weil die Menschen bereit sind, sich in sie zu engagieren. Und zwar desto stärker, je weniger realitätskongruentes Wissen sie zur Verfügung hätten, und je mehr Angst sie hätten, sich mit der Realität, wie sie ist, auseinanderzusetzen. Engagement ist für das nicht-realitätskongruente Wissen ein Überlebensfaktor von primärer Bedeutung: Diese Wissensform hat keine andere Legitimationsquelle, als dass sich die Menschen daran halten. Elias charakterisiert das Engagement als eine natürliche menschliche Einstellung, die darin besteht, die Realität immer nur subjektiv zu betrachten und zu bewerten. Die Menschen fragen also: »Was bedeutet dies für mich?«, und diese Beziehung zu sich selbst ist der Maßstab, mit dem sie die ganze Realität wahrnehmen20 . Michel Maffesoli bezeichnete eine analogisch charakterisierte Einstellung einmal als das »quant à moi populaire.«21 In der Tradition der Anthropologie wurde der Gegensatz zwischen der opportunistischen, ad hoc problemorientierten Vorgehensweise und dem systematischen und sachorientierten Denken mehrmals problematisiert, wie etwa bei Claude Lévi-Strauss, der auf ähnlichen Grundlagen zwischen Bricoleur und Ingenieur unterschied22 .

19

Vgl. Breuer, Stefan (1996). »Gesellschaft der Individuen, Gesellschaft der Organisationen. Norbert Elias und Max Weber im Vergleich«, in: Norbert Elias und die Menschenwissenschaften. Studien zur Entstehung und Wirkungsgeschichte seines Werkes, Rehberg, Karl-Siegbert (Hg.). Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 303.

20

Treibel, Annette (2008). Die Soziologie von Norbert Elias. Wiesbaden: Springer, S. 40.

21

Maffesoli, Michel (1988). Le temps des tribus : le déclin de l’individualisme dans les

22

Lévi-Strauss, Claude (2013). Das wilde Denken. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

sociétés de masse. Paris: Méridiens Klincksieck.

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Die Ingenieurin, die distanziert denkt, fragt eher: »Was ist der immanente Mechanismus dieses Ereignisses?«23 Die praktische Lösung, zu der das distanzierte und das engagierte Denken führen, kann genau dieselbe sein und für das Überleben ebenso viel wert. Der Entdeckungsweg ist aber der andere, und die Legitimationsquelle ist eine andere: An das distanzierte Wissen muss man, so Elias, nicht glauben, um es akzeptieren zu können – und man braucht es nicht zu akzeptieren, damit es funktioniert. Wir wollen jetzt diese Denkweise auf die Problematik der Kultur und Zivilisation anwenden, die in der Eliasschen Wissenssoziologie keine prominente Rolle spielt. Dass die Zivilisation für die Menschheit günstig ist, weil sie die durchschnittlichen Überlebenschancen aller Einzelnen erhöht, ist kaum zu bezweifeln. In der friedlicheren Welt leben die Menschen länger und leiden weniger, dafür hat vor ein paar Jahren Steven Pinker in Bezug auf Elias im atemberaubenden, wenn auch kontrovers zugeschnittenen historischen Vergleich plädiert24 . Wenn wir als Beispiel den von Elias veranschaulichten mittelalterlichen Ritter nehmen, der blutdürstig in den mörderischen Kampf stürmt, um die Feinde zu zerhacken, verstehen wir doch ganz intuitiv, dass dieser die Realität nur aufgrund der ganz konkret mit seiner Lage in einer historisch vorgegebenen Figuration so ansehen kann, wie es sich in seinem kriegerischen Habitus gehört, sodass diese Perzeption aber die Sache der friedlichen Koexistenz der Menschen nicht besonders fördert. Die im zweiten Band von Über den Prozess der Zivilisation geschilderte Verhöflichung der Krieger mit all den damit verbundenen Veränderungen der Gesellschaft sei ein Nettogewinn an Überlebenschancen für alle25 . Trotzdem zeigt uns Elias im Prozessbuch nicht, dass die Menschen einfach zum Schluss gekommen sind, es sei mehr realitätskongruent, das Blut nicht so lustvoll zu vergießen. Im Gegenteil: Sie mussten es erst schwierig verlernen, und zwar unter Staatsgewalt, die Kulturmuster als Mithilfe mobilisierte. Die Menschen wurden dazu manipuliert, dass sie nicht überall hinspucken und sich nicht immerfort die Nasen an der 23 24

Treibel, Annette. Die Soziologie, S. 40. Pinker, Steven (2011). The Better Angels of Our Nature: Why Violence Has Declined. New York: Viking.

25

Vgl. Elias, Norbert (1997). Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Gesammelte Schriften Band 3.2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Tischdecke putzen sollen, weil dies den gewünschten Nebeneffekt hatte, dass sie auch weniger gewalttätig und leichter kontrollierbar wurden. Elias selbst zeigt aber, dass gute Manieren an sich keineswegs per se überlebensbefähigender sind: Überlebensbefähigend ist die allgemeine Lebenseinstellung, die aus dem kulturellen Training hervorgeht und gute Manieren mithineinzieht. Um ihre Lebenschancen durch Zivilisierung zu verbessern, brauchen die Menschen nicht an die Idee des Zivilisationsprozesses zu glauben oder sie überhaupt anzuerkennen: Sie brauchen nur daran zu glauben, dass es lebenswichtig ist, höflich, sauber, gemäßigt und kultiviert zu sein. Sie müssen sich also für das kulturell konstruierte Menschenbild engagieren, dem an sich keine Realitätskongruenz zusteht, welches aber im Laufe der Sozialisierung einen Habitus produziert, der einen Überlebenswert in der menschlichen Ökologie hat. Die Kultur enthält die Voraussetzungen für die Zivilisation, und der Moment des Engagements in die Kultur ist die Bedingung dafür, überhaupt zivilisationsfähig zu sein. So angesehen erscheint die Kultur als Ganze eine Illusion zu sein, die die Menschen zur Zivilisation dadurch befähigt, dass sie ihre Überlebenschancen steigert: Es ist wohl eine Spur der Freud’schen Kulturphilosophie, die zu den wichtigsten Quellen der Elias’schen Theorie zählt26 . Elias ist des Unbehagens in der Kultur bewusst. Wenn er zum Beispiel die Qual Mozarts beschreibt, eines Menschen, der in den Rahmen seiner Kultur nicht reinpasst, weswegen er manchmal nicht nur unglücklich, sondern auch unzivilisiert wirkt, porträtiert Elias eine außergewöhnliche Figur der Übergangszeit, deren Schicksal doch die Kontingenz der habituellen Ausstattung der Menschen aller Zeiten veranschaulicht27 . Die Elias’sche Theorie ist also eine Kritik der Kultur in dem Sinne, dass sie die Kultur entblößt: sowohl ihre Bindung an die Machtstrukturen in der Figuration als auch ihre tiefe zivilisationsgebundene Funktionalität und ihr Manipulationspotential. Elias geht sogar weiter als Theodor Adorno. Kultur trägt in seinem Argument eigentlich kein Befreiungspotential: Kultur befreit die Menschen zwar indirekt durch Zivilisation von der Gewalt, aber letztendlich nur dadurch, dass sie ihnen die Fähigkeit 26

Lahire, Bernard (2013). »Elias, Freud, and the Human Science«, in: Norbert Elias and Social Theory, Dépelteau, François und Tatiana Landini (Hg.). Palgrave Macmillan: New York.

27

Elias, Norbert (2005). Zur Soziologie eines Genies, Gesammelte Schriften Band 12. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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nimmt, gewalttätig zu sein. Es ist eine Befreiung durch Dressur, und wie jede Dressur ist auch sie nur teilweise zuverlässig.

4. In die Distanzierung engagiert? Kultur als ein symbolisches und kommunikatives Pendant zu Zivilisation ist eine Art Zubehör, das die Zivilisation zwar braucht, aber nicht inhaltlich, sonders als Habituspolygon. Jede Kultur dient der Zivilisation – seitdem die Kultur existiert, also seitdem wir uns als eine biologische Gattung die symbolische Kommunikation angeeignet haben, befindet sich die Menschheit in dem Zivilisationsprozess28 . Wir wissen also, was die Zivilisation zivilisiert macht: Die Kultur. Was wir nicht wissen, ist Folgendes: Was könnte uns dazu verhelfen, unsere Kultur so zu gestalten, dass wir weniger Unbehagen erfahren und freier werden? Schauen wir uns noch mal den Steppenwolf an. Die Ursache seiner miserablen Kondition ist immerhin nicht ausschließlich sein Idealismus sowie seine Neigung dazu, der Kultur blindgläubig zu vertrauen: »Obgleich ich über das Leben des Steppenwolfes sehr wenig weiß, habe ich doch allen Grund zu vermuten, daß er von liebevollen, aber strengen und sehr frommen Eltern und Lehrern in jenem Sinne erzogen wurde, der das »Brechen des Willens« zur Grundlage der Erziehung macht. Dieses Vernichten der Persönlichkeit und Brechen des Willens nun war bei diesem Schüler nicht gelungen, dazu war er viel zu stark und hart, viel zu stolz und geistig. Statt seine Persönlichkeit zu vernichten, war es nur gelungen, ihn sich selbst hassen zu lehren. Gegen sich selber, gegen dies unschuldige und edle Objekt richtete er nun zeitlebens die ganze Genialität seiner Phantasie, die ganze Stärke seines Denkvermögens. […] So war sein ganzes Leben ein Beispiel dafür, daß ohne Liebe zu sich selbst auch die Nächstenliebe unmöglich

28

Elias konnte natürlich die Ergebnisse der Forschungen nicht kennen, die das Verhältnis zwischen der Größe der Menschengruppen und der Entwicklung der Sprache bestätigen und damit einen indirekten Beweis für seine Argumentation geben. Vgl. Dunbar, Robin I. (1996). Grooming, Gossip and the Evolution of Language. London: Faber and Faber.

Norbert Elias als Kulturkritiker

ist, daß der Selbsthaß genau dasselbe ist und am Ende genau dieselbe grausige Isoliertheit und Verzweiflung erzeugt wie der grelle Egoismus.«29 Diese Tendenz, aus sich selbst freiwillig einen Märtyrer zu machen, sich selbst im Käfig der Illusionen einzuschließen, ist genau das, was wir abwerfen sollen, um als Gattung noch einen Schritt weiter in Richtung Zivilisierung gehen zu können. In seinen Betrachtungen Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen […], einer der ersten thanatosoziologischen Arbeiten30 , postuliert Elias, dass die mit dem Tod verbundenen fantastischen Vorstellungen wie die Träume vom Paradies als auch die Alpträume von der Hölle verschwinden und durch ein nüchternes Bewusstsein ersetzt werden sollen.31 Menschen werden weder erlöst noch verdammt: Sie leben und sie sterben, und es ist eine unnötige Grausamkeit, die ganze Genialität der menschlichen Phantasie, die ganze Stärke des menschlichen Denkvermögens gegen die Menschheit zu richten. Elias war ein Mythenjäger32 . Er suchte die Mythen leidenschaftlich aus und zerlegte sie, Soziologie als Hammer benutzend, obgleich immer »mit der Liebe des Käfers«33 , im Namen der Reduktion des Leidens, seiner Freud’schen Inspiration immer treu. Eschatologische religiöse Mythologien, genauso wie die politischen Ideologien und die alltäglichen Vorurteile, hielt er für die Quelle des Unbehagens, ohne die Menschenleben besser, einfacher, sicherer wären. Was wäre aber eine Kultur, die dieses Ideal der Nüchternheit vollbrächte? Wie kann man den Willen zur Macht dann überhaupt zuverlässig kulturell binden, ohne den menschlichen Willen mit für die Seele katastrophalen Nachfolgen brechen zu müssen? Mit welchen Kräften würde die Kultur dann die Zivilisation unterstützen, die ohne Engagement zerbricht? Elias schrieb 1962 in einem Gedicht mit dem bescheidenen Titel »Marginal notes to an introductory lecture in sociology«:

29

Hesse, Hermann. Steppenwolf, S. 17–18.

30

Elias, Norbert (2002). Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen/Humana conditio, Gesammelte Schriften Band 6. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

31

Ibid., S. 9.

32

Vgl. Korte, Hermann (2013, Hg.), Der Mythenjäger. Texte von Norbert Elias. Wiesbaden: Springer.

33

Siehe Fußnote 5.

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»there are no mysteries only a lot I don’t know nothing unknowable only the novelty of the living and their infinite variety of surprises the journey – not the arrival not the survival – the struggle why do you want to save mankind from destruction if you are not going to make men’s lives richer?«34 Die Welt ohne Geheimnisse – eine völlig entzauberte Welt – wäre doch auch eine Welt, in der die Legitimität der institutionalisierten Sozialordnungen sehr schwach und instabil wäre. Es wäre sehr schwierig, in einer solchen Welt die Menschheit vor der Vernichtung zu schützen, noch schwieriger wäre es aber, das menschliche Leben zu bereichern. Die Elias’sche Kulturkritik scheint aus reiner Elimination zu bestehen, die nicht nur gegen die Gewohnheiten der Menschen geht, sondern auch gefährlich sein kann. Max Weber war sich dessen völlig bewusst, als er schrieb: »Eine nur aus zweckrationalen Motiven innegehaltene Ordnung ist im allgemeinen weit labiler als die lediglich kraft Sitte, infolge der Eingelebtheit eines Verhaltens, erfolgende Orientierung an dieser: die von allen häufigste Art der inneren Haltung.«35 Die Frage, ob man sich in Zweckrationalität einleben kann, muss mit einem eindeutigem »Nein« beantwortet werden.

5. Legitimation durch Verfahren als Übung in Ironie Postuliert Elias dann eine ironische Kultur? Richard Rorty hat einmal die Ironie, die er mit liberalem Geiste verband, als eine Einstellung charakterisiert, die volles Engagement bei den eigenen Überzeugungen mit vollem Bewusstsein von der kontingenten Natur dieser Überzeugungen

34

Vgl. Mennell, Stephen (2003). »A suppressed poem by Norbert Elias«, in: Figurations. Newsletter of the Norbert Elias Foundation, Dezember, S. 2–3.

35

Weber, Max (1988). Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 573–576.

Norbert Elias als Kulturkritiker

kombiniert36 . Es ist keine einfache Kombination, sowohl psychologisch als auch lebenspraktisch und – besonders – politisch. In der modernen Welt haben sich einige Sphären ausdifferenziert, die das Engagement in Distanzierung als höchstes normatives Prinzip erhöht haben, und die normativen Aporien dieser Sphären sind eine Demonstration davon, was passiert, wenn Ironie zum Rang des strukturellen Prinzips erhoben wird. Das paradigmatische Beispiel ist, selbstverständlich, die Wissenschaft, die auch für Elias das Model des distanzierten Wissens war. Eine Wissenschaftlerin von Beruf glaubt resigniert mit Weber, dass ihre eigene Arbeit »unvermeidlich höchst unvollkommen bleiben muß.«37 Trotzdem hat sie für ihre Arbeit auch die Leidenschaft, die außer jeglicher Proportion zu deren Wert ist. Die Leidenschaft richtet sich aber nicht nur an die Ergebnisse der Arbeit, wie spannend sie auch sein mögen, sondern an die Art und Weise, zu den Ergebnissen zu kommen, im Sinne der Objektivität, die von einer richtigen Methode garantiert wird. Genauso in der zweiten Sphäre, in der das Verfahren, so mindestens Niklas Luhmann, als die endgültige Legitimationsquelle gilt: In modernem Recht38 . Die Fähigkeit des Rechtes, als Stabilisator der normativen Erwartungen wirksam zu fungieren, beruht auf der systemischen Abtrennung des Rechts von den anderen Subsystemen der Gesellschaft, die es dem Recht als System ermöglicht, eigene Geltungskriterien autonom auszuarbeiten. Das Ergebnis ist die relative Abschaffung des Engagements in jeglichen nicht prozeduralen Geltungsvorstellungen, die aber vom Engagement in Verfahren kompensiert wird – in das anscheinend Neutralste, was es geben kann. Elias hat das Distanzierungsprinzip in Wissenschaft so weit geschoben, dass er sogar im Namen der Wissenschaft die Verantwortung dafür ablehnte, was mit den Ergebnissen ihrer Entdeckungen passiert. »Wer die Musik bezahlt, der darf auch bestimmen, was gespielt wird«39 , schrieb er, und näher an den Zynismus ist er wahrscheinlich nie gekommen. Die Regeln im Recht und in der Wissenschaft werden nicht 36

Rorty, Richard (1991). Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

37

Weber, Max (1919). »Wissenschaft als Beruf«, in: Geistige Arbeit als Beruf. Vier Vorträge vor dem Freistudentischen Bund. Erster Vortrag. München, S. 10. (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv [letzter Zugriff, 1. Juni 2020]).

38

Luhmann, Niklas (1983). Legitimation durch Verfahren. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

39

Elias, Norbert. Engagement und Distanzierung.

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deswegen so wichtig, weil die Einsätze so hoch sind, sondern weil der Einsatz im Spiel eigentlich die Existenz des ganzen auf den Regeln basierenden Systems ist. Diese Verbindung zwischen Kultur und Zivilisation, die Paradoxie des Engagements in Neutralität der Spielregeln, entdecken wir auch in einer anderen Sphäre: in der Politik. In 20. Jahrhundert ist eine Form der Politik entstanden, die laut Elias schlicht »ein Wunder« war: »Tatsächlich leben wir doch in einem wunderbaren Jahrhundert, denn dieses unglaubliche Ding, diese sehr fragile Pflanze, die wir Demokratie nennen, gedieh – was bedeutet, dass politische Gegner miteinander leben können und gemeinsame Standards haben.«40 Demokratie bedeutet das friedliche Zusammenleben der Gegner: Anstatt einander mit physischer Gewalt zu bedrohen oder anzugreifen, benutzen die Menschen in der parlamentarischen Demokratie das Wort als Instrument, um die Macht zu erobern und zu behalten41 . Die kulturellen Veränderungen, die die Demokratisierung mit sich bringt, haben einen direkten zivilisatorischen Effekt. Ein Nettogewinn für alle, so Elias: Demokratisierung ist noch ein Beispiel dafür, wie kulturelles Engagement der Zivilisierung dient. Gerade die neuesten Entwicklungen in vielen demokratischen Ländern zwingen uns aber, diese Vorstellung zum Verhältnis zwischen Kultur und Zivilisation weiter zu nuancieren. Demokratie ist nicht nur ein politisches System, sondern auch ein kultureller Kosmos, das wissen wir seit Alexis de Tocquevilles Reise nach Amerika, die für ihn, ein Kind des ancien régimes, zugleich eine Reise in die Zukunft war. Zivilisierung durch Demokratisierung benötigt ein Quantum an kulturellen Ressourcen, die in der dauerhaft funktionierenden demokratischen Staatsgesellschaft ständig reproduziert werden. Die demokratischen Spielregeln können unter Benutzung der kulturellen Ressourcen essentialisiert, petrifiziert und sakralisiert werden: Sie können zum Kern des Wir-Bildes einer Gesellschaft werden,

40

Peter Ludes, Adler, Frank und Paul Picone (2017 [1982].). »Norbert Elias im Interview: Das Janusgesicht der Staaten«, in: Jentges, Erik (Hg.). Das Staatsverständnis von Norbert Elias. Baden-Baden: Nomos, S. 20.

41

Siehe Elias, Norbert (2008), »Introduction«, in: Elias, Norbert and Eric Dunning. Quest for Excitement. Sport and Leisure in the Civilising Process. Dublin: Dublin University College Press, S. 3–43, hier S. 11.

Norbert Elias als Kulturkritiker

zur Plattform der Verständigung und der Koordination, zur Identitätsgrundlage. Dies kommt alles im Begriff des Verfassungspatriotismus zum symbolischen Ausdruck: Das Wort »Patriotismus« bezeichnet eine engagierte, kulturell untermauerte Beziehung zur Sammlung der Spielregeln. Wenn Demokratie und Kultur Hand in Hand gehen, nimmt man die Regeln ernst, und der zivilisierende Effekt der Demokratisierung wird von dem kulturell motivierten Engagement verstärkt. Ein idyllisches Bild der Kohärenz, welches übrigens im Hintergrund der vergleichenden Demokratisierungsforschung steht, wo man das Fungieren des demokratischen politischen Systems ständig mit den gesellschaftlichen Wertvorstellungen korreliert, um immer wieder festzustellen, dass Demokratie unter sehr bestimmten kulturellen Bedingungen gedeiht – oder zusammenbricht42 . Es ist kein Zufall, dass die Infragestellung der rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien in den meisten Fällen aus der Position der Identitätspolitik angetrieben wird und sich gegen die prozeduralen Regeln wendet43 . Im Grunde genommen ist democratic backsliding eine Erklärung der Nichtigkeit der Demokratie als Identitätsgrundlage, die Ablehnung des Engagements in die neutralen Spielregeln, weil man sie als Legitimationsquelle nicht oder nicht mehr ernst nimmt. Stattdessen kanalisieren die Befürworter der Identitätspolitik das Engagement in eine andere und – historisch genommen – viel naheliegendere Richtung. Kollektive Identität braucht keine prozedurale Vermittlung, um die politische Macht legitimieren zu können, und jede Form der Ironie, die kleinselig auf Prozeduren besteht, ist ihr verdächtig. Dadurch bleibt Demokratie als eine Regierungs- und Gesellschaftsform, die letztendlich in den Prozeduren begründet ist, ohne die kulturellen Schutzmechanismen peinlich nackt. Ihre Nacktheit entblößt ansonsten die Naivität der Phantasie, dass die Spielregeln ohne Engagement gelten können. Und wo sie nicht gelten, droht eine kulturell hochgekurbelte Entzivilisierung.

42

Vgl. G.L. Munck (2003). »Vergleichende Demokratieforschung«, in: Vergleichende Politikwissenschaft, Berg-Schlosser Dirk und Ferdinand Müller-Rommel (Hg.). Uni-Taschenbücher/Probleme der Politik, vol 1391. Wiesbaden: Springer.

43

Vgl. Fukuyama, Francis (2019). Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet. Hamburg: Hoffmann und Campe.

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6. Nach dem Verrat Als die Kultur die Sache der Zivilisierung verrät, steht die liberale Ironistin ratlos der Realität gegenüber. Der nüchterne Anblick der Kultur als Illusion zwingt sie jetzt, die gefährliche Seite der Kultur anzuschauen. Robert van Krieken hat einmal geschrieben: »in the body and substance of his analyses Elias presents humans as fitted for society by discipline rather than by nature, and portrays society as opposed to nature.«44 Aus dieser Sicht ist der Verrat der Kultur besonders schmerzhaft. Die Kultur diszipliniert die Menschen manchmal, wie ich am Beispiel der niedergehenden Demokratie geschildert habe, nicht dazu, zivilisierter zu sein, sondern dazu, die Zivilisation als einen unnötigen Ballast abzuwerfen. Leben wir in einem Zeitalter der Enttäuschung mit Distanzierung, oder wurde die Distanzierung einfach letztendlich entzaubert? Der Steppenwolf war eine paradigmatisch apolitische Figur. Er hat sich dem aktiven, öffentlichen Leben entzogen und tauchte privat in die Kultur ein. Er glaubte also an die Kultur, anscheinend jedoch nicht genug, um ihr auch die Zivilisierung des öffentlichen Lebens anzutrauen. »Schau, solche Affen sind wir!«, sagt er bitter, und bleibt dabei, die Affen zu lieben und sie zugleich zu verachten – den Versuch, das Affenleben zu ändern, wagt er nicht. Der Steppenwolf ist eine extreme Figur des Verräters: In ihm verrät die Kultur die Zivilisierung durch einen Überschuss an kulturell motivierter Distanzierung, demzufolge sie alles nur sub specie aeternitatis betrachtet und der Existenz hier und jetzt jede Bedeutung entzieht. Am Gegenpol dazu platziert sich die zweite Figur, die unsere Zeit prägt: der Fundamentalist. Er nimmt alles aus einer selbstzentrischen Perspektive wahr und lehnt jegliche kognitive Korrektur als Gefahr für die eigene Identität ab. Fundamentalismus ist ein Verrat der Zivilisierung durch den Überschuss an kulturell motiviertem Engagement.

44

Krieken, Robert van (2003). »The Organisation of the Soul: Elias and Foucault on Discipline and the Self«, in: Norbert Elias, Band 1, Dunning, Eric und Stephen Mennell (Hg.). London: Sage, S. 135–153, hier S. 138.

Zwischen Soziologie und Fortschrittsreligion Albert Salomons Ideengeschichte der Freiheit Felix Steilen

Einführung1 Albert Salomon geht es weniger um eine eigene substanzielle Definition dessen, was als Freiheit zu verstehen sei. Vielmehr beschäftigt ihn die verschlungene Geschichte einer Idee: Was ist der Ort der Freiheit im Zeitalter der Weltanschauungen und politischen Ideologien? Wie wird Freiheit von den Klassikern politischen Denkens gedacht? Das Spektrum seiner Beschäftigung reicht von Autoren wie Hugo Grotius und G.W.F. Hegel zu Alexis de Tocqueville, Henri de Saint-Simon und Max Weber. An dieser Stelle soll das Thema der Freiheit in Salomons besonderem ideenhistorischen und kulturkritischen Ansatz verfolgt werden. Schon in seinen früheren Arbeiten geht der Fokus auf den Zusammenhang von Kultur und freiheitlichem Lebensvollzug. Wie sehr sich die Evidenz dieses Themas aus der eigenen Erfahrung speist, zeigt ein kurzer Blick auf die Biographie des heute beinahe vergessenen Gelehrten. Mit dem Leben im amerikanischen Exil richtet sich Salomons Interesse vermehrt auch auf die dortige höhere Bildung, wo er Ansätze zu einem neuen Humanismus in Entstehung begriffen sieht. Er setzt sich kritisch mit dem europäischen Fortschrittsdenken auseinander und nimmt von dieser Kritik auch nicht die Geschichte seines Faches, der Soziologie, aus. In ihrer Eigenschaft als moderne Fortschrittsreligion sind Teile der modernen Sozialwissenschaft der Freiheit abträglich, so die These. Das führt Salomon zum allgemeineren Problem der Dialektik des modernen Freiheitsbegriffs, der die Bedingungen seiner Aushöhlung selbst hervorbringt.

1

Für Hinweise danke ich Laurin Schwarz und Christian Marty.

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1. Professor Salomon Arrives Salomons erste Arbeit zum Freiheitsthema ist seine 1921 in Heidelberg abgeschlossene Dissertation »Der Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts in Deutschland: Versuch zur Soziologie einer Lebensform« (1979). Später behandeln seine Bücher »Tyrannei des Fortschritts« (1955) und »Lob der Aufklärung« (1963) das Problem systematischer und ausführlicher. Beide versammeln frühere Aufsätze unter einem Leitmotiv, nämlich der Frage nach der Freiheit in der Moderne. Der Zusammenhang von politischen Ideen und freiheitlicher Lebensform drängt sich von der Biographie her auf, denn der junge Salomon ist jüdischer Professor in der Weimarer Republik. 1926 wird der gebürtige Berliner an die dortige Hochschule für Politik berufen, 1931 geht er an die neugegründete pädagogische Hochschule in Köln – am 1. April 1933 folgt die prompte Beurlaubung. Einer Einladung seines Lehrer Emil Lederers folgend, geht Salomon 1935 an die New Yorker University in Exile, bekannter unter dem späteren Namen New School for Social Research.2 Dort wirkt er neben anderen Vertretern der intellektuellen Emigration wie Alfred Schütz, Leo Strauss, Max Ascoli oder Arnold Brecht. Als Lehrer hat Salomon beträchtlichen Einfluss auf die erste Generation von Doktoranden der New School, zu der neben Georg Iggers auch Peter Berger und Thomas Luckmann gehören, die den Sozialkonstruktivismus prominent analytisch begründen.3 Salomon schreibt in einem Brief, dass nicht die Stigmatisierung der Juden, sondern eine »notwendige staatliche Rationalisierung« den Grund für seine Ausreise aus Deutschland gebe.4 Diese äußerst vorsichtige Einschätzung hinsichtlich des autoritären Charakters des

2

Die New School wurde 1919 von abtrünnigen liberalen Professoren der Columbia University gegründet. 1933 wurde die University in Exile als Anlaufpunkt für Verfolgte des Naziregimes geschaffen. Katznelson: Reflections on the New School’s Founding Moments, 1919 and 1933. In: Social Research 76/2, 2009, S. 395–410.

3

Iggers: The German Conception of History. Middletown 1968; Berger, Luckmann: The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge. New York 1966.

4

Briefe aus dem Salomon-Nachlass: 25.4.1933, 26.5.1933, Brief von Shils 15.10.1935. Leo Baeck Institute Archives, New York: Albert Salomon Collection (1926–1959).

Zwischen Soziologie und Fortschrittsreligion

Deutschen Reiches, das ihn immerhin zur Flucht zwingt, mag verblüffen. Warum spricht er im Exil nicht freier davon, was ihn bewegt? Ist Salomon derart obrigkeitshörig? Seine nachgelassenen Briefe zeigen an alltäglichen Fragen, dass der Freiheitsgewinn kein plötzlicher ist und die Auswanderung vielmehr einen langwierigen Prozess darstellt. Seine Vorsicht ist auch der Tatsache geschuldet, dass Familienmitglieder zurück- und Eigentumsfragen ungeklärt bleiben. Salomons jüngerer Bruder Richard, Rechtsanwalt in Köln, kümmert sich fortan um die Kommunikation mit deutschen Behörden und auch um einen promovierten deutschen Mieter, der mit fadenscheinigen Argumenten mietfreies Wohnen in Salomons Berliner Villa beansprucht. Die Schwester des Vaters der beiden war die bekannte Sozialreformerin Alice Salomon, die 1937 von der Gestapo aufgefordert wurde, Deutschland zu verlassen. Richard Salomon starb in Auschwitz. Zu seiner Entlassung im Jahre 1933 bittet Albert Salomon beim Reichswehrministerium um die Bestätigung seines Kriegsfreiwilligendienstes, lässt sich seine Tätigkeit im Freikorps in der Revolutionszeit bestätigen: »Ich bin aber am 6. oder 7. Januar 1919 eingetreten und kurz nach Niederwerfung des Kommunismus infolge einer Grippe ausgeschieden.« Auch wenn hier seine ideengeschichtlichen Arbeiten und nicht biographische Aspekte im Zentrum stehen sollen, gibt Salomons Korrespondenz doch ein Bild der Vorgeschichte der Vernichtung der Juden in Europa. Als Exilanten der 1930er Jahre erübrigt sich für Salomon eine Rede von »Freiheit« in Gemeinplätzen, wie sie sich bei denen findet, die nie gezwungen waren, ernsthaft die Bedingungen ihrer Existenz zu reflektieren. Aus Deutschland wird der Gelehrte verbannt, nachdem er dort seine Formung erhält – wenn man das französische formation einmal so übersetzen darf. Auch wenn sein wissenschaftliches Werk im Grunde erst in der Zeit im amerikanischen Exil entsteht, bleibt Salomon wie viele seiner Generation ein Vertreter deutschsprachiger gelehrter Kultur.

2. Vom Freundschaftskult zu Max Weber In seinen ideengeschichtlichen Studien nähert sich Salomon auf verschiedene Weise dem Freiheitsthema. Seine Qualifikationsschrift zum Freundschaftskult im 18. Jahrhundert geht zunächst von einer bestimmten »Freiheit der Lebensgestaltung« aus, die wiederum zum Pathos des

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Bürgertums als aufsteigendem Stand gehört.5 Der freiheitlich-bürgerliche Lebensstil setzt sich bewusst vom Adel ab und schafft einen neuen verbindenden »Geist«. Dazu zählen auch Rokoko und Aufklärung, welche schließlich durch eine Epoche der Humanität abgelöst werden. Die Rokoko-Zeit zeichnen Ruhe und Freiheit aus, eine »wahre Freiheit der Sinnerfülltheit«.6 Hier verfährt Salomon eher schematisch, wenn er eine Folge von allgemeiner Geselligkeit, Freundschaftsbünde jugendlicher Menschen und dann eine bedeutsame persönliche Freundschaft als Form seelischer Gemeinschaft annimmt, die wiederum erst »menschliche Totalität« ermöglicht. Etwas klischiert gilt ihm dann die »wahrhaft antike […] Männerfreundschaft« zwischen Goethe und Schiller als Ort »größter Wärme« in einer freiheitlich-autonomen Gemeinschaft, »die stets ins Überpersönliche des Dienstes am Schönen und Guten hinausweist«.7 Salomon sieht Freiheit dabei als ästhetische Kraft und als Formprinzip, wohingegen sie in seinen späteren Arbeiten zuerst eine Kategorie der Staats- und Gesellschaftslehre darstellt. Bei genauem Hinschauen findet sich bereits in der Dissertationsschrift eine Verbindung zwischen Freiheitsthema und Säkularisierungstheorie. Indem das Reich Gottes hier als Reich der Freiheit gedeutet wird, kommt es zu einer Verquickung christlicher und romantischer Liebe: »Die Gemeinschaft Liebender wirft sich in die Bresche als immer neu unternommener Versuch, den Bereich der Freiheit, die Civitas Dei, die Gemeinschaft intelligibler Wesen zu begründen.«8 Bei Salomon folgt eine längere Beschäftigung mit Max Weber, der ihm in erster Linie ein Denker der Freiheit ist. Weber interessiert sich demnach für eine qualitative Existenz historischer Individuen, die nie ohne Freiheit möglich ist.9 Im Freiheitsbegriff und seinen existenzphilosophischen Voraussetzungen erblickt Salomon das eigentliche Fundament der Soziologie Webers.10 Nachdem er 1926 in der sozialde5

Salomon: Der Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts in Deutschland: Versuch zur Soziologie einer Lebensform. In: Zeitschrift für Soziologie, 8/3, 1979, S. 279–308, S. 292.

6

Ebd., S. 297.

7

Ebd., S. 303.

8

Ebd., S. 288.

9

Salomon: Max Weber’s Methodology. In: Social Research, 1/2, 1934, S. 147–168, S. 152.

10

Siehe Marty: Max Weber. Ein Denker der Freiheit, Weinheim 2019.

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mokratischen Zeitschrift Die Gesellschaft einen Aufsatz über Max Weber unterbringt, erhält Salomon dort seine erste Anstellung.11 1934–1935 veröffentlicht er in der Zeitschrift Social Research, einem Organ der New School, eine dreiteilige Serie über Webers Methodologie, seine Soziologie und seine politischen Ideen. Seine Arbeiten der 20er und 30er Jahre kreisen um eine Auseinandersetzung mit Webers Freiheitsbegriff. Die Moderne konfrontiert das Ideal der Freiheit mit den realen Anforderungen einer kapitalistischen Gesellschaft – als Schlüssel zum Werk Webers sieht Salomon den Konflikt zwischen einem Reich der Freiheit und einem Reich der Notwendigkeit. Methodologische Fragen der Sozialwissenschaft lassen sich dann genauso auf das Problem der Freiheit in der modernen Welt zurückverfolgen: Ist nicht die Unvorhersehbarkeit persönlichen Verhaltens ein Ausdruck von Freiheit und Menschenwürde sowie Resultat einer Geschichte frei von Determiniertheit – entgegen der Kausalität und den Mechanismen der Naturprozesse? Gegenstand der Soziologie sind die menschlichen Handlungen: Je freier eine Handlung, umso mehr unterliegt sie eigener Reflexion anstelle äußeren Zwangs. Die Freiheit des Handelns steigt demnach mit der Abnahme äußerer Abhängigkeiten, umso mehr stellt sich die Selbstverwirklichung der Person über den Vergleich ihres Wesens mit bestimmten letzten Werten und Bedeutungen ein. Der Sozialismus schickt sich zwar an, ein Reich der Freiheit zu verwirklichen, wird dieses Ideal aber zwangsläufig als Realisierung einer homogenen Gemeinschaft mit dazugehörigen gierigen Institutionen durchsetzen. Dagegen begreift Salomon Wissenschaft im Rahmen modernen Selbstbewusstseins – als vernunftmäßige Steigerung menschlicher Handlungsfähigkeit und menschlichen Bewusstseins. Die antisozialistische Richtung ist offensichtlich, der eigene Liberalismus aber nur vergleichsweise vage angedeutet. Insgesamt vermag es die Wissenschaft, Entscheidungen aus der Niedrigkeit des Seins (gross levels of being) herauszuheben, um ganz andere Höhen zu erreichen (the plane where Jacob wrestles with the angel).12 In seinen klar geschriebenen und immer um Verständlichkeit bemühten Texten lässt Salomon zahlreiche

11

Salomon: Max Weber. In: Die Gesellschaft. Internationale Revue für Sozialismus und Politik, 3/1, 1926, S. 131–153.

12

Salomon: Max Weber’s Methodology. In: Social Research, 1/2, 1934, S. 147–168.

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religiöse Referenzen durchscheinen – was sich auch in seiner Lesart Max Webers niederschlägt.13 Salomon verortet Max Webers berühmte Studie über den Zusammenhang von protestantischer Innerweltlichkeit und kapitalistischer Erwerbstätigkeit als Kontrapunkt zu einer Epoche, die alles auf materielle Interessen zurückzuführen sucht.14 Weber geht es um die Idee der Freiheit und ihre Wirkung auf menschliches Handeln – gleichzeitig interessiert er sich für determinierende ideologische, politische, ökonomische, soziale und politische Faktoren. Auch der Idee der Freiheit kommt damit eine einschränkende und determinierende Funktion zu. Salomon deutet Webers wissenschaftliches Erklären und Verstehen als einen Akt der Interpretation: Was bedeutet es, wenn Menschen von sich denken, freiheitlich zu handeln und zu wirtschaften? Welche Formen religiöser Weltauslegung finden sich am Boden der Alltagspraxis? Webers Soziologie ist eine Universalgeschichte religiöser Weltanschauungen sowie eine Wissenschaft freien menschlichen Handelns, so zwei zentrale Thesen Salomons. Wie der Briefwechsel zwischen Salomon und dem Chicagoer Soziologen und Weber-Übersetzer Edward Shils zeigt, drängt Salomon darauf, zuerst die methodologischen Arbeiten Webers in Amerika herauszubringen. Shils setzt dagegen durch, dass konkrete soziologische Probleme den Anfang der Weberrenaissance im Englischen bereiten – wünscht sich aber ausdrücklich Salomon als Herausgeber. Weiter interessiert sich Salomon dafür, wie Weber die historische Judenverfolgung darstellt. Er thematisiert die Rolle der Juden im Exil als Ausgestoßene, die sich nach Verlust ihrer Heimat in Israel nicht von der Religion trennen wollen. Zeitgenössische Rückkopplungen zur verheerenden Situation in Europa werden zwar suggeriert, aber nicht ausgesprochen. Salomon umgeht in seinen Essays über Weber Aussagen zum NS, zur eigenen Exilerfahrung sowie zum zionistischen Projekt und zu wichtigen Fragen der Zeit. Stattdessen vergleicht Salomon Webers Analyse der Weltanschauungen mit Arbeiten Diltheys und Rankes oder er untersucht Webers Dissertationsschrift über altrömische Agrarverhältnisse. Gleichzeitig sieht er bei Weber einen Begriff von Freiheit im Sinne von Enthaltung und Neutralität. Die Freiheit der Wissenschaft ist zugleich Schicksal

13

Salomon: Max Weber’s Sociology. In: Social Research, 2/1, 1935, S. 60–73.

14

Ebd., S. 62.

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und Bestimmung, denn Sie nimmt ein jedwedes Gefühl, einen jedweden Drang, als bloßes Faktum hin – frei von Werturteilen. Webers Freiheit steht demnach nicht in der Tradition des politischen Liberalismus und der freien ökonomischen Konkurrenz. Noch weniger geht es ihm um einen starken Begriff von sozialer Freiheit, wie ihn der Sozialismus propagiert.15 Salomon spricht sich zwar für die Verbesserung proletarischer Lebensverhältnisse aus, eigentlich aber liegt es ihm an einem viel allgemeineren Drang nach Freiheit. Das beinhaltet zunächst eine ganze Reihe von negativen Bestimmungen: Freiheit, verstanden als Freiheit von der Allmacht der Bürokratie oder von der modernen Parzellierung der Seele, ist Bedingung dafür, dass der Mensch aus einer inneren Einheit heraus Entscheidungen trifft. Das Ringen um Freiheit wird somit zur ewigen Bestimmung des Menschen: Freiheit als Verwirklichung von Werten, als Realisierung weltanschaulicher Ideen – so lauten einige Schlagworte der Weberinterpretation Salomons. Im Mittelpunkt steht dabei das Bild eines heroischen Einzelnen, dessen Leben ein freiheitliches genannt werden kann, sobald es als Resultat innerer Entscheidungen erscheint. Diese Bestimmung liest sich politisch unentschieden sowie ideologisch vage, speist sie sich doch vielmehr aus dem Ideal bürgerlicher Bildung vergangener Tage.

3. Amerikanischer Humanismus Das liberale und illiberale alteuropäische Denken beschäftigt Salomon auch nach seiner Emigration. Dazu kommt nun die Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Denken, wobei sich Salomon hier nicht historischen, sondern zeitgenössischen Köpfen widmet. Was wäre die Rolle von Heroen in einer demokratischen Gesellschaft und worin besteht demokratische Freiheit? Sollten viele, möglicherweise alle Bürger, heroisch-freiheitliche Ideale verkörpern? 1938 verneint Salomon diese Frage in eindeutiger Form. Ebenso wie wir nicht alle Heroen seien können, kann die höhere Bildung (higher learning) nicht für alle zugänglich sein. Dennoch ist diese Bildung ein Hort des Humanismus und dennoch müssen Demokratien humanistische Eliten ausbilden. Als Beispiel nennt er die École Normale Supérieur, welche der Dritten Republik ihre politischen, 15

Salomon: Max Weber’s Political Ideas. In: Social Research, 2/3, 1935, S. 368–384, S. 377.

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akademischen und literarischen Eliten auswählt und allgemein umfassend ausbildet.16 Die faschistischen Länder modeln Universitäten damals zu Kaderschmieden um oder lassen in ihnen Spezialwissen vermitteln – dem steht hier das genuin soziale und demokratische Funktionsideal der amerikanischen Universität entgegen. Salomon beschäftigt sich mit diesem Thema in seiner Darstellung eines zeitgenössischen Kritikers des Bildungswesens, dem für die University of Chicago so wichtigen Henry E. Hutchins. Hutchins geht davon aus, dass die Probleme des Lesens und Interpretierens keine allein akademischen sind, sondern die Demokratie im Ganzen betreffen. Nur über seine freie Vernunfttätigkeit kann der Mensch sich als Teil einer allgemeinen Ordnung und eines geistigen Reiches erkennen, welches die empirische Realität per Definition transzendiert.17 Der herausgehobene Status der Klassiker europäischen Denkens steht bei Hutchins in einem engen Verhältnis mit den Eigenschaften eines freien Gemeinwesens. Das Studium der Sprachen wird ergänzt durch das der Geschichte, insbesondere das Studium der history of ideas. Salomon ergänzt Hutchins dahingehend, dass daneben gerade ein Studium der Metaphysik notwendig ist: Ohne Ausbildung in den wichtigen metaphysischen Fragen geht der Universität das integrierende Element verloren. Salomons Blick auf die amerikanische Wirklichkeit geht vielfach auf europäische Ideen zurück. Ob es darum geht, dass John Jay seinem Zeitgenossen Washington die Prinzipien Hugo Grotius’ beibringt oder in einer Debatte zwischen Whitehead, Hutchins und Parsons um die Zukunft der amerikanischen Universität neben der Rolle mittelalterlicher Professionen auch der deutsche Liberale Walther Rathenau zur Sprache kommt. Die These lautet, dass die Qualität der höheren Bildung unabdingliche Voraussetzung der amerikanischen Demokratie ist und die Qualität der Bildung wiederum aus humanistischen Prinzipien folgt.18 Worauf zielen die Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts? Sie zielen erstens auf eine tiefe und bewusste Wertschätzung der Sprache, gegen den Formalismus des Lateinischen sowie den Formalismus der akademischen Institutionen. Zweitens heben sie die Wichtigkeit des Studi16

Salomon: Higher Learning and Humanism. In: Social Research, 5/2, 1938, S. 206–226, S. 206.

17

Ebd., S. 209.

18

Ebd., S. 220–223; Salomon: Hugo Grotius and the Social Sciences. In: Political Science Quarterly, 62/1, 1947, S. 62–81, S. 78.

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ums der Quellen und Texte im Original hervor, denn nur so sind wirkliche Interpretation und wirkliches Verstehen möglich. Drittens verkünden sie eine Philosophie, die direkte Kenntnis einer objektiven Wirklichkeit erstrebt, anstatt nur Begriffe von der Wirklichkeit zu diskutieren. Schließlich verbinden sie die Kenntnis der Tradition mit der Kritik überlieferter Autoritäten. »These various approaches – ad verbum, ad fontes, ad res, ad interpretationem (a return to the word, to the sources, to the things themselves, to liberal interpretation) – reveal the philosophical implications of humanism.«19 Trotz Emphase auf den historischen Begriff des Humanismus stellt Salomon die prinzipielle amerikanische Unabhängigkeit gegenüber der Geschichte gelehrter Bildung heraus. Demnach kann es humanisms geben, die nicht der Vergangenheit angehören. In den amerikanischen Universitäten der 1930er sieht Salomon einen solchen neuen Humanismus in seiner Entstehung begriffen.20 In einem Diskussionsbeitrag in der Zeitschrift Social Research lässt sich Salomon zu der These hinreißen, den Beitrag der deutschsprachigen Emigranten zum entstehenden amerikanischen Humanismus mit dem Beitrag griechischer »Intellektueller« zum Imperium Romanum zu vergleichen: »What they gave the Romans in return was their own knowledge of the blessings of a conscious life which enables human beings to preserve freedom, dignity of judgment and personal decision.«21

19

Ebd.

20

Salomon: On Humanistic Writings. In: Social Research, 9/3, 1942, S. 405–410; siehe Claudius Härpfer: Humanismus als Lebensform. Albert Salomons Verklärung der Realität. Wiesbaden 2009.

21

Wirth, Salomon, Lerner: Discussions. In: Social Research, 4/3, 1937, S. 328–337, S. 334.

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4. Soziologie versus Freiheit In den 1930er-1950er Jahren befördern die Sozialwissenschaften geradewegs utopische Erwartungen an eine rationale Neuorganisation des gesellschaftlichen Lebens. Teil der vielerorts geschaffenen Studiengänge sind Überblicke zur Geschichte der Soziologie – die Auseinandersetzung mit einer überschaubaren Anzahl soziologischer Klassiker wird damit auf Dauer gestellt. Wiederholt setzt sich Salomon mit antiliberalen Tendenzen und Implikationen in der soziologischen Tradition auseinander. Entsprechend sieht er ein allgemeines Problem der modernen Geistesgeschichte, die den einzelnen Menschen und seine Existenz gegenüber größeren gesellschaftlichen und historischen Prozessen vernachlässigt, auch als Problem der Soziologie. Was haben Hegels Philosophie der Freiheit und Comtes Philosophie des Fortschritts gemeinsam? Beide beinhalten Annahmen über das autonome Wirken eines universalen Prinzips, welches den Zweck der Geschichte (the meaning of history) bestimmt.22 Aber nur Comte suggeriert die einfache Applikation philosophischer Inhalte. Menschen werden zu Werkzeugen der Verwirklichung allgemeiner Prinzipien, die dem gesellschaftlichen Prozess innewohnen. Wo menschliche Handlungen und Einstellungen als determiniert begriffen werden, wird ihnen eine über-individuelle, geschichtliche Bestimmung unterstellt. Damit wird eine menschliche Persönlichkeit negiert, die sich auszeichnet durch die Verwirklichung von Freiheit, Spontaneität und Verantwortung. Da auch die Ideengeschichte sich uns stets aus der Perspektive von Gewinnern darstellt, geraten andere historische Möglichkeiten ins Vergessen. Salomon kritisiert eine Tradition, die ein abstraktes Kollektiv vor den Einzelnen setzt. Pestalozzi, Humboldt, Kierkegaard, Lord Acton, Nietzsche, Burckhardt oder Tocqueville verstehen das Leben, entgegen soziologisch-deterministischer Sichtweisen, als Vollzug menschlicher Selbstverwirklichung. Die einzelne Persönlichkeit ist vielschichtig und lässt sich nicht in die Einzelteile eines kollektiven Ganzen auflösen. Es gibt eine Soziologie, die dieser basalen Tatsache Rechnung trägt und die konkreten menschlichen Beziehungen, konkrete Situationen und die Einzelwirklichkeit von Handlungen und Einstellungen untersucht, anstatt diese nur als Momente allgemeiner Prozesse aufzufassen. Salomons methodologische 22

Salomon: Tocqueville’s Philosophy of Freedom: A Trend Towards Concrete Sociology. In: The Review of Politics, 1/4, 1939, S. 400–431, S. 400.

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Erwägungen betreffen die Unteilbarkeit des Ganzen: Ein Bild, welches er wiederholt bemüht und welches eine metaphysische Grundannahme wiedergibt. Die Gesellschaft setzt sich nicht aus reaktionären und liberalen Teilen zusammen, beides sind schlicht politische Polarisierungen. Wer von der Überkommenheit alles Bestehenden ausgeht, der missachtet genauso die Einheit des Lebens wie jener, der blind die Prinzipien der Autorität, der Moral oder der Religion predigt. Wer Freiheit gegen Tradition setzt oder vice versa, der untergräbt die bestehenden Institutionen. Salomon interessiert sich für Tocquevilles Gesellschaftsanalyse und die große Frage, wie ein Allgemein-Menschliches sich in Zeit und Raum realisiert. Tocqueville geht es also darum, wie das Allgemeine mit seiner historisch-kontingenten Realisierung in Übereinstimmung zu bringen ist. »For the permanent changes in man’s self-realization in time and space bring about the philosophical question what makes up the unity and identity of human nature amidst the multivariety of its appearing patterns.«23 Der Fortbestand der Freiheit lässt sich in Demokratien nicht unbedingt einfacher sichern als in Aristokratien. In einem Brief an den Rassetheoretiker Gobineau schreibt Tocqueville, dass er nicht von der Verkommenheit oder Brillanz einer Spezies, sondern von der göttlichen Güte ausgeht. Auch die historische Entwicklung hin zu modernen Demokratien ist für ihn noch im Rahmen göttlicher Vorsehung zu denken, dafür brauchte es nicht erst eines abrupten Einschlags wie der Französischen Revolution. Salomon geht davon aus, dass der Glaube an die Vorsehung letztlich flexibler und offener beschaffen ist, als die Anschauung eines sich in der Geschichte verwirklichenden Prinzips (der Topos ›historische Notwendigkeit‹). Die Verwirklichung providenzieller Zwecke ist Sache des Menschen und die Vorsehung lässt genug Raum für menschliche Handlungsfreiheit. Die Demokratie lässt sich in ein Instrument der Freiheit verwandeln, aber eben auch in ein Instrument despotischer Gleichmacherei. Allgemeine Nivellierung (general leveling) ist der historische Preis, den eine Gesellschaft bezahlen muss, in der die Idee sozialer Gerechtigkeit und die Idee der Freiheit als Selbstverwirklichung zusammen

23

Ebd., S. 405.

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gelten sollen.24 Oft hat Alexis de Tocqueville aristokratische Freiheit im Widerspruch mit demokratischer Unabhängigkeit beschrieben. Dennoch bringt die demokratische Gesellschaft bei ihm eine eigene Idee der Freiheit hervor. Das Ancien Régime hat die christliche Lebensweise mit aristokratischen Regeln vermengt, am Ende sprengen soziales Privileg und ökonomische Bevorteilung das gesellschaftliche Gefüge. Dieses Bild der Gesellschaft transportiert Dekadenzvorstellungen, ohne einfach eine Neuauflage aristokratischer Freiheitsvorstellungen anzustreben. Tocqueville selbst denkt noch im Rahmen von Religion und Vorsehung, sieht aber zugleich, wie die Revolution in Frankreich eine neue Religion mit neuen Dogmen an die Stelle der alten Ordnung zu setzen vermag. Einen wichtigen Teil jener Religion, die Demokratie heißt, beansprucht auch der Sozialismus für sich. Tocqueville steht der sozialistischen Bewegung mit ihren Vertretern Considerant und Blanqui ablehnend gegenüber. Die Realisierung von Freiheit in der Idee der Gleichheit stellt ein Paradox dar, weil damit der Staat zum Unterdrücker und der Freiheitsgedanke zum Sklavenideal wird: Das Gleichheitsideal verkehrt sich in eine »Beschlagnahmung menschlicher Freiheit«.25 Salomon beschreibt Tocqueville nicht als Reaktionär, sondern als Vertreter einer christlichen Demokratie. In Perioden, wo extreme Verfallserscheinungen zu Tage treten, vermag sich der Freiheitsgedanke zuerst als Asketismus äußern. Gleichzeitig äußert er sich als Eskapismus, als Rückzug aus dem sozialen und politischen Leben und als Rückbesinnung des Einzelnen auf seine innere, geistige Einheit. Auch wenn Salomon das Migrantenschicksal nicht beim Namen nennt, drängt sich dieses Thema auf, wenn er Tocqueville deutet. Die Isolation des denkenden Menschen ist Folge der Konfrontation mit modernen Fortschrittsideen, wo das Streben zum Ganzen als moderne Chimäre erscheint. »Tocqueville was aware that social action and political progress presuppose the true philosophy of man in order to achieve the actual meaning of Providence. This knowledge cannot be reestablished with a system of philosophy. It can be presented in an interpretation of the growth, decline, victory, and defeat of the unending

24

Ebd., S. 411.

25

Ebd., S. 424.

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process of human self-actualization under the rule of Divine Providence and the personal God.«26 Salomon kritisiert die Nähe soziologischen Denkens zur modernen Verherrlichung des Fortschritts und hebt dagegen die Stellung des Menschen in der Geschichte hervor.27 Damit deutet sich bei ihm eine Zurückweisung bedeutender Teile der Tradition soziologischen Denkens an, die er einer modernen Fortschrittsreligion zurechnet.28 Er interpretiert Teile der Ursprünge soziologischen Denkens gar im Zusammenhang mit der modernen Idee des Totalitarismus. Im Deutschen sind diese Überlegungen unter dem Titel »Fortschritt als Schicksal und Verhängnis« 1957 erschienen. Die Soziologie ist eine Geburt des 19. Jahrhunderts, welche ihre Charakteristika – so auch den Fortschrittsglauben – der zeitgenössischen Philosophie entlehnt. Salomons Einsichten zur Stellung des Menschen in der Geschichte wird von der Stellung der Soziologie in der Geschichte philosophischen Denkens gespiegelt, denn stets wird auf Bestehendem aufgebaut. Unabhängig von zeitgenössischen Vorstellungen oder Ideen über radikalen Neuanfang baut der Mensch auf Bestehendem auf, so dieser konservative Grundgedanke. Das Argument Salomons, gerade die französischen Anfänge der Soziologie seien von reaktionärem Gedankengut gefärbt oder hätten vorbereitend auf solches gewirkt, steht aus heutiger Sicht im Kontext ähnlicher, sich mitunter überlagernder Stimmen der Nachkriegszeit. Salomons Schüler Iggers schreibt eine Dissertation zum Autoritätskult der Saint-Simonisten, den er als Teil der Geschichte des Totalitarismus bezeichnet.29 Auch Adornos Schüler Otwin Massing begreift die Anfänge der französischen Soziologie im Lichte der politischen Reaktion. Er untersucht Auguste Comte, den einstigen Privatsekretär

26

Ebd., S. 431.

27

Salomon: Crisis, History and the Image of Man, in: The Review of Politics, 2/4, 1940, S. 415–437, S. 416.

28

Salomon: Sociology and the Total State. In: CrossCurrents, 2/4, 1952, S. 32–42.

29

Iggers: The Cult of Authority. The Political Philosophy of the Saint-Simonians. A Chapter in the Intellectual History of Totalitarianism. Den Haag 1958 (Diss. 1951).

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Saint-Simons im Hinblick auf anti-aufklärerische Tendenzen.30 Dieses Manöver findet sich zuvor bereits bei Robert Nisbet, einem amerikanischen Konservativen, der die Fortdauer von Einsichten der katholischen Gegenrevolution in der frühen Soziologie annimmt. Wie leer dieses Argument läuft, wenn es blind auf spätere Soziologen gewendet wird, zeigt ein Versuch Adornos in diese Richtung.31 F.A. Hayeks mit heißer Nadel gestrickte ideengeschichtliche Polemiken sehen ebenfalls Elemente des Totalitarismus in der Frühsoziologie, allerdings auch überall sonst jenseits der Tradition des klassischen Liberalismus.32 Salomons Überlegungen zum Verhältnis von Soziologie und Fortschrittsreligion verbinden Totalitarismustheorie und Säkularisierungstheorem. Sie gründen, im Gegensatz zu Hayek, auf einem eingehenden Studium der Ideengeschichte. Ausgehend von einem Bonmot Saint-Simons wird das Erlösungsmoment im Frühsozialismus herausgestellt: »Die Religion kann nicht untergehen, sie kann nur umgeformt werden.«33 Zuvor hat die Aufklärungsphilosophie den Gottesstaat der christlichen Eschatologie auf Erden verlegt – dazu kommt nun die Idee, diesen in der Geschichte zu verwirklichen. Saint-Simon und sein Schüler Comte verkünden, Einsicht in die der Geschichte inhärenten Gesetze zu haben. Damit kombinieren sie zwei geschichtsphilosophische »Ereignisse« des 18. Jahrhunderts, nämlich die Idee des Fortschritts der Wissenschaften und den Kult der Vernunft. Aus der Verbindung beider erwächst ein eschatologischer Zug bzw. die Überzeugung »Wissenschaftler und Priester« zur gleichen Zeit sein zu können.

30

Nisbet: Conservatism and Sociology. In: American Journal of Sociology, 58/2, 1952.

31

Adorno: Einleitung zu Emile Durkheim, »Soziologie und Philosophie«, In: Soziologische Schriften I. Frankfurt 1990.

32

»During the war it was the task—happily accepted—of every schoolboy to trace the origins of Hitlerism to a series of German philosophers the schoolboy had never read.« Review, The Reporter, 19. Mai 1955; Friedrich A. v. Hayek: The Counter- Revolution of Science. Studies in the Abuse of Reason. New York 1964.

33

Salomon: The Tyranny of Progress. Reflections on the Origins of Sociology. New York: Noonday Press, 1955. Deutsch: Fortschritt als Schicksal und Verhängnis. Betrachtungen zum Ursprung der Soziologie. Stuttgart: Enke 1957, S. 18ff.

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»Es war, wie wir noch sehen werden, kein Zufall, dass diese Männer, die die Philosophie als das Ergebnis der Selbstinterpretation der Gesellschaft in der Geschichte auffassten, der Welt den ersten Geschmack einer totalitären Gesellschaftstheorie geben sollten.«34 Salomon steht neben Säkularisierungstheoretikern wie Karl Löwith, Leo Strauss oder Erich Voegelin, wenn er die Soziologie Comtes als säkularisierte christliche Soziallehre beschreibt: Löwith sieht in der Geschichtsphilosophie eine verweltlichte Form theologischer Endzeiterwartung, Voegelin spricht von modernen politischen Religionen und Salomon beschreibt Gesellschaftstheorie als eine Fortschrittsreligion neben anderen.35 Die Soziologie verortet den Fortschritt im Kollektiven, die Gesellschaft rückt sich damit selbst an die Stelle des Schöpfers. Laut Salomon schränkt diese Engführung auf soziale Kräfte die Freiheit des Einzelnen radikal ein, dieser wird zu einem geschichtslosen Unbekannten herabgestuft. Auf diese Weise kommt Salomon auf die Verschränkung von Säkularisierungs- und Totalitarismustheorie und die Hauptthese seines Buches: »Die Logik und die Tyrannei des Fortschritts gab der Welt den Fortschritt der totalen Tyrannei. Saint-Simon und Comte sollten zu einer Zeit, als die industrielle Welt noch in den Kinderschuhen steckte, den Totalitarismus um fast 150 Jahre vorwegnehmen.«36

5. Säkularisierung als Problem Salomons Geschichte sozialer und politischer Ideen setzt eine Art fortdauernde Selbst-Interpretation und Selbst-Auslegung in der geistigen Entwicklung Europas voraus. Diese Selbst-Auslegungen sind in theoretischen Postulaten anzutreffen. Theorien sind als Deutungen und zugleich als Auslegungen der Tradition zu verstehen: Auch Werturteilsfreiheit und Objektivität sind am Ende Produkte einer geschichtlichen 34

Ebd., S. 31.

35

Shahar/Steilen: Einleitung. Karl Löwith. Welt, Geschichte und Deutung. Tel Avi-

36

Salomon: The Tyranny of Progress. Reflections on the Origins of Sociology.

ver Jahrbuch für Deutsche Geschichte 47, Göttingen 2019, S. 7. New York: Noonday Press, 1955; Ders.: Fortschritt als Schicksal und Verhängnis. Betrachtungen zum Ursprung der Soziologie. Stuttgart: Enke 1957, S. 74.

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Entwicklung bzw. historische Ideen. Aus diesem Grund stellt auch »Säkularisierung« keine rein analytische Kategorie dar, sondern weist normative Bezüge auf. Das hat Konsequenzen für ein Verständnis menschlicher Freiheit. Der Begriff der Freiheit ist ein zentrales Element der modernen Fortschrittsreligionen, ob in sozialistischen oder liberalistischen Ausprägungen. Wichtig ist, dass Salomon sich in seinen Arbeiten dem auch unter Historikern so populären Genre der Zeitdiagnostik verschließt und stattdessen die Geschichte der sozialen und politischen Ideen untersucht. Seine Meinung in tagespolitischen Fragen ist diversen Briefwechseln zu entnehmen, weniger den wissenschaftlichen Arbeiten. Die genealogische Methode Salomons verschränkt dennoch auf ihre Weise Analyse und Kritik, das heißt seine Ideengeschichte der Freiheit ist zugleich Kulturkritik. Was aber folgt aus drastischen kulturpessimistischen Aussagen wie der folgenden: »Die Fortschrittsreligionen sind das Kennzeichen einer Welt, die ihr Gottesbild verspielt hat, um ihren Blick auf den geschichtlichen Fortschritt der Menschen zu beschränken.«37 Auffällig erscheint eine gewisse Nähe zwischen Nostalgie, Pessimismus und Annahmen zur Verweltlichung religiöser Ideen. Sollte die Heilung der modernen Krankheit darin bestehen, Säkularisierungstendenzen einfach zurückzudrehen? Mit politischen Aussagen oder Lösungsvorschlägen hält sich Salomon zurück. In seinen Problemdarstellungen sind gleichsam zahlreiche starke Wertungen enthalten. Salomon erblickt, wie sein Kollege an der University in Exile, einen Ausweg in der naturrechtlichen Tradition. Bei Salomon hat das Naturrecht ein explizit christliches Fundament, aus dem sich der Freiheitsbegriff ableitet: »The backbone of the political principles of the Constitution, is the spirit of the Christian Law of Nature; that means political freedom as the fullfilment of the rules of the Almighty. This unity between the three spheres: nature, man and God was discarded by the process of secularization.«38 Im Unterschied zu Leo Strauss wird das Argument für das Naturrecht bei Salomon nicht philosophisch fundiert und im Unterschied zu Karl 37 38

Ebd., S. 65. Salomon: Crisis, History and the Image of Man, in: The Review of Politics, 2/4, 1940, S. 415–437, S. 415.

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Löwith folgen aus dem Hinweis auf die christliche Traditionslinie keine christlichen Argumente. Es sei denn, man wollte bereits den Hinweis auf die Tradition als traditionalistisches Argument deuten. Anderswo vergleicht Salomon Denker wie Hegel, Marx und franziskanische Geistliche unter der Prämisse, dass die Idee des »Königreichs Gottes auf Erden« eben prinzipiell die Alternative weltlicher oder himmlischer Erlösung beinhaltet. Demnach würde es im Wesentlichen auf den eschatologischen Charakter einer Weltanschauung ankommen und auf ihr innerweltliches Heilsversprechen, ohne das von vornherein zwischen Religion und Nichtreligion getrennt werden muss. Für den Freiheitsbegriff folgt, dass er eine Funktion der allgemeinen Ordnung darstellt. Die Arroganz der Neuen besteht darin, den Freiheitsbegriff der Alten von vornherein abzulehnen, anstatt ihn als legitimes Produkt einer Zeit aufzufassen. Die Betonung des christlichen Charakters der Naturrechtskonzeption und die Kritik der Kategorie ›Säkularisierung‹ basieren auf Annahmen zum Verhältnis von Religion und Politik. Salomon selbst greift nicht wörtlich auf diese Kategorie zurück, aber im Grunde hat sich der Begriff »politische Theologie« durchgesetzt, um Annahmen über eine Fortdauer theologischer Momente in der modernen Politik zu beschreiben. Um zu klären, ob Säkularisierung bei Salomon pejorativ besetzt ist oder ein kulturpessimistisches Sentiment transportiert, gilt es sein Verständnis politischer Theologie zu erhellen. Moderne Revolutionen spielen sich laut Salomon weiter in einem religiösen Rahmen und nicht einfach in der Politik ab.39 Vormoderne Revolutionen zielen auf den Ausbruch aus Erniedrigung und Unterdrückung, das gilt vom attischen Staatsmann Solon bis zu den Bauerkriegen des 16. Jahrhunderts. Diese Art der Revolution verbleibt in einer ungefähr bestimmbaren rechtlichen und politischen Sphäre. Moderne Revolutionen hingegen zielen auf eine totale Entgrenzung dieser Sphären und auf die »religiöse« Umwälzung der bestehenden Gesellschaft. Salomon richtet sich polemisch gegen Auffassungen wie jener von der Geschichte als Folge von Klassenkämpfen, wenn er die Kraft der modernen Revolutionen nicht in ökonomischen Motiven, sondern in einem religiösen und messianischen Bezugsrahmen verortet. Säkularisierung meint für Salomon nicht das Ende theologischer Bezüge, vielmehr zeichnet sich die Welt nach der Französischen Revolution durch eine Religion des Fortschritts sowie politischen Messianismus aus. Das bedeutet die Forderungen der Freiheit haben den 39

Salomon: The Religion of Progress. In: Social Research, 13/4, 1946, S. 441–462.

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durch die modernen politischen Religionen geborenen Formen der extremen Unfreiheit erst den Weg bereitet. Während Carl Schmitt seine Ansichten zur politischen Theologie in erster Linie einigen Autoren der sogenannten Gegenaufklärung entlehnt (allen voran Bonald, Maistre und Donoso Cortés), bildet Salomon ein breiteres Spektrum der politischen Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts ab. Salomon begreift seinen Zeitgenossen Schmitt außerdem schon früh als einen Nazi-Philosophen. In einem 1942er Essay, der sich mit dem deutschen Militarismus beschäftigt, analysiert er das totalitäre Regime der Nazi military corporation: »Nazis would not object to calling their regime a retribalization of society. They apply what their philosopher Carl Schmitt has defined as the basic category of politics: the friend-enemy relationship. This theory is illuminating for the specific character of the regime.«40 Salomon zieht Friedrich Schlegel heran, um den Bruch der Fortschrittsreligion mit dem christlichen Denken zu beschreiben: »The revolutionary desire to realize the Kingdom of God is the flexible element of progressive learning and the beginning of modern history.«41 Frühsozialisten und Soziologen, Gegenaufklärer und Romantiker des 19. Jahrhunderts treffen sich in der Idee einer genuin historischen Wirklichkeit (the true reality of history). Geschichte wird dabei als Realisierung eines in Entstehung begriffenen Absoluten gefasst. Bakunin und Proudhon wissen um den Stellenwert theologischer Fragen für die moderne Politik. Losgelöst von der Intention Marxens verbindet sich in der russischen Version des Marxismus ein religiöser Glaube mit einer militanten Kirche. Salomon geht von einer bewussten Verbindung einzelner Bedeutungsgehalte der christlichen Heilslehre mit sozialkonstruktivistischen Vorstellungen aus. So beschreibt er den Begriff der Anarchie als Entsprechung von Ideen der Erbsünde und des Naturzustandes. Der zu vermeidenden Sünde der Anarchie setzen die Fortschrittsreligionen radikale Ordnungsentwürfe entgegen, wobei Abweichler als Häretiker eingestuft werden und der gesamte politische Raum in Gläubige und Ungläubige unterteilt wird. So wie der christliche Philosoph Satan als gefallenen Engel betrachtet, vermag der Soziologiestudent nun die moderne Idee 40

Salomon: The Spirit of the Soldier and Nazi Militarism. In: Social Research, 9/1, 1942, S. 82–103.

41

Salomon: Religion of Progress, S. 444.

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sozialen und historischen Fortschritts als Entsprechung der göttlichen Vorsehung begreifen.42 Eine rein fortschrittsfixierte Sozialwissenschaft wird als Dämonologie – als Lehre der bösen Geister – beschrieben, da ihr Bezugsrahmen über die eigentliche Menschennatur hinaus und auf abstrakte Kategorien zielt. Mit dem Katholizismus von einst teilt diese Lehre in formaler Hinsicht das absolute Wissen um die Existenz der Erlösung und dazu analogen Vorstellungen wie Sünde und Verderbtheit.

Schlussbemerkung Ein Streifzug durch Albert Salomons Ideengeschichte der Freiheit zeigt, dass ein umfassendes Thema wie dieses nicht auf einen Nenner gebracht werden kann. Da Salomons kritisch-genealogische Methode im Dienste der Geistesgeschichte steht, arbeitet er sich an mehr oder weniger »großen« Denkern ab. Aus Perspektive der jüngeren intellectual history, die längst die Geistes- und Ideengeschichte beerbt hat und die eher zu kontextualistischen Querschnittsperspektiven neigt, erscheint Salomons Methode als monumentalische Geschichtsschreibung: Ein Vergleich bedeutender Denker, eine historische Erzählung voller Autoritätsargumente (anstatt logischer Deduktionen und »analytischer« Herleitungen), eine Kommunikation zwischen Geistesgrößen, noch dazu ohne Berücksichtigung marginalisierter Stimmen. Damit einher gehen die üblicherweise an ein solches Vorgehen gerichteten Vorwürfe. Andererseits erscheint der historische Kontextualismus, betrachtet aus der Perspektive Salomons, bisweilen als antiquarische Geschichtsschreibung: Pedanterie, die das historische Material als reinen Selbstzweck studiert anstatt als eine Funktion des Lebens. Salomon ist sich bewusst, dass Freiheit kein rein modernes Phänomen darstellt. Dem gefährdeten modernen Freiheitsbegriff stellt er skizzenhaft die Freiheit der Alten und die christliche Freiheitsidee des Mittelalters zur Seite. Ohne in die Manier vieler seiner Zeitgenossen zu verfallen, die sich auf die Seite weltanschaulicher Lager schlagen oder in das Kostüm von cold warriors schlüpfen, sieht Salomon seine Aufgabe nüchterner als die eines Ideenhistorikers in einer liberalen Gesellschaft. Daher scheint es folgerichtig, dass er Max Weber als einen Denker der 42

Ebd., S. 460.

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Freiheit oder das humanistische Potenzial der höheren Bildung, wie er sie bei seiner Ankunft in Amerika vorfindet, interpretiert und auslegt. Das bringt ihn zur Rolle der modernen Sozialwissenschaften und speziell zum soziologischen Denken, dessen Geschichte er ausgehend vom nachrevolutionären Frankreich äußerst kritisch betrachtet. Hier knüpfen zeitgenössische Weltanschauungen und Ideologien an, die sich teils als radikale Interpretationen des Begriffs sozialer Freiheit gerieren oder mitunter radikal marktförmige Ausdeutungen eines Begriffs individueller Freiheit vertreten. Selbst wenn Salomon seine Thesen teilweise stark zuspitzt, bleibt es unter anderem sein Verdienst, die Sozialwissenschaft im Rahmen der großen Weltanschauungen des 19. Jahrhunderts verortet zu haben. Diese breitere Perspektive auf soziologisches Denken geht im Rahmen der Verwissenschaftlichung und akademischen Professionalisierung der Sozialwissenschaften verloren. Salomon betont freiheitsförderliche und abträgliche Ideen in der Geschichte einer Disziplin, die er als genuin moderne Denkform betrachtet und in deren Tradition er die Gegenwart noch verortet.

Offen und gleichgewichtslos Die Gestaltung der Freiheit als unabschließbare Aufgabe bei Helmuth Plessner Sophia Heinzmann

Einführung Helmuth Plessner (1892–1985) war ein vielseitiger Intellektueller: Als Zoologe, Philosoph und Soziologe beschäftigte er sich mit Fragen der philosophischen Anthropologie, der gesellschaftlichen Bedeutung der modernen Naturwissenschaften, mit der sozialen, politischen und ästhetischen Moderne und immer wieder kritisch mit seiner Gegenwart. Diese umfasste sehr verschiedene zeitgeschichtliche Kontexte: Plessner wuchs im Kaiserreich auf, lehrte in der Weimarer Republik ab 1926 Philosophie in Köln, musste nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten aufgrund seiner jüdischen Herkunft in die Niederlande emigrieren, wo er in Groningen Soziologie lehrte und schließlich die letzten Kriegsjahre im Untergrund verbrachte. Nach Kriegsende zunächst in Groningen bleibend, folgte er 1952 einem Ruf auf den neu gegründeten Göttinger Lehrstuhl für Soziologie, wo er bis zu seiner Emeritierung 1962 tätig war. Als Kulturkritiker hätte sich Plessner wohl nicht bezeichnet, und gegen eine Reihe klassischer kulturkritischer Befunde erhob er entschiedene Einwände – etwa gegen die viel beklagte Entfremdung und Verdinglichung in der Moderne, der er eine im Menschsein überhaupt verankerte Fähigkeit und Notwendigkeit zur Versachlichung gegenüberstellte, sowie gegen die sowohl von linken Autor*innen marxistischer Prägung als auch von konservativer Seite immer wieder vorgebrachte Abstraktionskritik. Demgegenüber hob Plessner die Gültigkeit eines abstrakten Selbst- und Weltbezugs neben dem konkret-pragmatischen hervor und betonte die neuen Möglichkeiten und Spielräume, die mit

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abstrakten Beziehungsformen im Sozialen, mit abstrakten Gestaltungsprinzipien im Ästhetischen und mit abstrakten Begriffen in der Wissenschaft entstehen. Es finden sich in seinem Werk jedoch verschiedene Kritiken an freiheitsabträglichen Aspekten und Tendenzen seiner jeweiligen kulturellen und politischen Gegenwart, die sich den drei zeitgeschichtlichen Kontexten zuordnen lassen, in denen sein Schaffen stand: In der Weimarer Republik wandte er sich mit der Streitschrift Grenzen der Gemeinschaft (1924) gegen die damals verbreitete Abwertung und Ablehnung gesellschaftlicher Sozialformen; mit der Studie zum Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche versuchte er sich und seinen Leser*innen 1935 die geistige Empfänglichkeit des deutschen Bürgertums für die nationalsozialistische Ideologie verständlich zu machen; und in der jungen Bundesrepublik kritisierte er die zunehmende Rationalisierung und Funktionalisierung, die die Freiheit der Individuen immer weiter einenge, hielt dabei aber an seiner Kritik der Entfremdungs- und Verdinglichungsbefunde samt ihres geschichtsphilosophischen Hintergrunds fest. Diese Beiträge Plessners zu den Debatten um die Gestaltung des sozialen, politischen und kulturellen Lebens stehen vor dem Hintergrund seiner philosophischen Anthropologie, die er 1928 in Die Stufen des Organischen und der Mensch darlegte und drei Jahre später in Macht und menschliche Natur um den politischen Aspekt erweiterte. Der Begriff von Freiheit, der sich in Plessners Werk zeigt, spannt sich stets in der Ambivalenz von Möglichkeitsoffenheit und Gestaltungschancen auf der einen und auf Stabilisierung drängender Gleichgewichts- und Haltlosigkeit auf der anderen Seite auf. Dabei ist es Plessner möglich, die Besonderheiten des modernen europäischen Blicks auf Mensch und Welt und ihre Konsequenzen für die Gestaltung der Freiheit herauszuarbeiten, da er die Geschichtlichkeit des Menschen und die Variabilität seiner Selbst- und Weltverhältnisse in seine philosophische Anthropologie explizit aufnimmt.

1. Die Freiheit der exzentrischen Position Plessners Entwurf einer philosophischen Anthropologie nimmt seinen Ausgang in dem Ansinnen, den cartesianischen Dualismus von Körper und Geist zu überwinden und den Menschen stattdessen aus einer beide umfassenden Perspektive zu denken. Dafür setzt Plessner am Leben

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an und versteht die Aufgabe der philosophischen Anthropologie, wie Joachim Fischer schreibt, als den Versuch, »Subjektivität oder Freiheit des Menschen aus seiner leiblichen Natur hervorgehen [zu] lassen«1 . Menschsein, das bestimmt Plessner über die Art und Weise, wie der Mensch in die Welt gestellt ist und führt dafür den Begriff der ›exzentrischen Positionalität‹ ein. Damit bezeichnet er die grundsätzliche Gebrochenheit und »volle Reflexivität«2 der menschlichen Position. Der Mensch zeichne sich dadurch aus, dass er gleichzeitig mit der Verortung im absoluten Hier-und-Jetzt der jeweiligen physischen und psychischen Position einen außerhalb seiner selbst liegenden Standpunkt einnimmt. So stelle sich dem Menschen seine Existenz stets im »Doppelaspekt«3 einer absoluten, unmittelbar erlebend-vollziehenden Position und dem diese absolute Position relativierenden Standort neben oder hinter sich dar. So werde der Körper nicht nur von innen erlebt, sondern auch von außen als einer unter anderen relativen Punkten in Raum und Zeit begriffen und das psychische Leben sei nicht nur unmittelbar als Gefühl, Gedanke, Trieb und Wunsch präsent, sondern auch in seiner Gewordenheit und seinem Vollzug beobachtbar. Die Exzentrizität der Position bedeutet einen fundamentalen und für Plessner unumgänglichen Bruch im Selbst- und Weltverhältnis, da keiner der beiden Standpunkte im anderen aufgehen oder aus ihm abgeleitet werden kann. Ein derart in sich gebrochenes Lebewesen gewinnt auch ein andersartiges Verhältnis zu seinem Umfeld: Es wird, in Plessners Diktion, zur Welt. Während das Umfeld der Tiere sich »als eine Ordnung von Sinnbeziehungen dar[stellt]«, in der alle Objekte in ihrer je aktuellen Relevanz für die Bedürfnisse des Lebewesens erfahren werden, also nur eine ganz durch die subjektive Befindlichkeit geprägte Bedeutung haben, müsse »Welt im Kontrast dazu sinnfrei heißen«4 . Denn der Mensch erfasse die Gegenstände der Außenwelt analog zu seiner eigenen Struktur »als die 1

Fischer, Joachim (2016 [1990]), Die exzentrische Nation, der entsicherte Mensch und das Ende der deutschen Weltstunde. In: Ders., Exzentrische Positionalität. Studien zu Helmuth Plessner, S. 37.

2

Plessner, Helmuth (1981 [1928]), Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. In: Ders., Gesammelte Schriften IV, S. 361.

3 4

Plessner (1981 [1928]), Stufen des Organischen, S. 365. Plessner, Helmuth (1983 [1961]), Die Frage nach der Conditio humana. In: Ders., Gesammelte Schriften VIII, S. 183.

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Erscheinung eines nicht ausschöpfbaren Seins«5 . Und, da er über einen »Sinn fürs Negative«6 verfüge, könne er die einzelnen Dinge aus der Umwelt herauslösen, ihre unabhängig von seiner Wahrnehmung bestehende Einheit und Konstanz erkennen und sie somit versachlichen. Den Bezug des Menschen zu den Dingen bezeichnet Plessner daher als »vermittelte Unmittelbarkeit«7 . Diese erschließe den Echtheits- oder Gegenständlichkeitscharakter der Dinge und eine Ebene der Abstraktion, die nur einem exzentrisch positionierten Lebewesen zugänglich sei, nämlich diejenige, in der abstrakte Aspekte nicht nur erkannt, sondern als »[d]as Generelle im begrifflichen Sinn«8 festgehalten werden können. Erst diese Fähigkeit zur Versachlichung und Abstraktion ermögliche den instrumentellen Umgang mit dem eigenen Körper und anderen Dingen und eine Sprache, die Bedeutung vermitteln und im eigentlichen Sinne etwas meinen kann.9 Im Kontakt mit anderen Menschen schließlich konstituiere sich die Mitwelt, die bei Plessner nicht das soziale Umfeld meint, sondern »die vom Menschen als Sphäre anderer Menschen erfaßte Form der eigenen Position«10 : Die exzentrische Positionalität, die den eigenen Selbst- und Weltbezug auszeichnet, und die dazugehörige Ort- und Zeitlosigkeit wird dem Menschen auch an anderen erkenntlich, so dass die Möglichkeit des ›Wir‹ entsteht. Das heißt neben das individuelle, unersetzbare, an die je bestimmte eigene Existenz gebundene ›Ich‹ tritt ein allgemeines, prinzipiell ersetzbares

5

Plessner (1981 [1928]), Stufen des Organischen, S. 368.

6

Plessner (1981 [1928]), Stufen des Organischen, S. 340.

7

Plessner (1981 [1928]), Stufen des Organischen, S. 396. Mit der »vermittelten Unmittelbarkeit« meint Plessner die Tatsache, dass der Mensch sich der eigenen Vermittlungsleistung bei der Wahrnehmung der Dinge gewahr wird, sodass er begreift, dass er nicht die Wirklichkeit selbst ›hat‹, sondern Reflexionen der Wirklichkeit, die auf den Erscheinungen der Dinge beruhen, hinter denen sich ihr An-sich-sein und damit ihre von seiner Wahrnehmung unabhängige Realität verbirgt.

8 9

Plessner (1983 [1961]), Conditio humana, S. 174. Daher unterscheide sich der Werkzeuggebrauch des Menschen qualitativ von dem anderer Lebewesen: Wenn Einzeldinge aus ihrer Umwelt gelöst werden können, ließen sich auch einmal gefundene Werkzeuge von der Situation ihrer Entdeckung abheben und auf analoge Situationen und Probleme übertragen.

10

Plessner (1981 [1928]), Stufen des Organischen, S. 375.

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und dem anderer Personen gleichartiges ›Ich‹, und auch diese Dopplung versteht Plessner als unaufhebbar. Die menschliche Situation zeichnet sich Plessner zufolge also durch den Bruch mit der Natur in der Natur und aus ihr heraus aus, sodass sie sich stets zwischen den Polen von Gebundenheit und Freiheit, Geschlossenheit und Offenheit, Wirklichkeit und Möglichkeit bewegt: »Dann ist es [das Lebewesen Mensch, S.H.] diesseits und jenseits der Kluft, gebunden im Körper, gebunden in der Seele und zugleich nirgends, ortlos außer aller Bindung in Raum und Zeit, und so ist es Mensch«11 . Aus dieser Lage ergebe es sich als Problem und als Chance, dass der Mensch sein Leben führen muss. Während die anderen Lebewesen ein natürlich vorgegebenes, genetisch bedingtes und instinktgebundenes Programm von Entwicklung, Wahrnehmung und Verhalten vollzögen und damit Anlage und Realisierung genau übereinstimmten, entstehe für den Menschen ein Spielraum. Er müsse sich »zu dem, was er schon ist, erst machen«12 : Die exzentrische Positionsform verlangt nach ihrer Durchführung, die keineswegs selbstverständlich oder unproblematisch ist, damit aber auch vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten bereithält und kulturell und historisch unterschiedlich ausgestaltet werden kann. Stets gelten laut Plessner jedoch drei »anthropologische Grundgesetze«13 : Natürliche Künstlichkeit, vermittelte Unmittelbarkeit bzw. Expressivität und utopischer Standort. Da der Mensch sich aufgrund seiner unvollständigen natürlichen Bindung in einer wesentlich gleichgewichtslosen Situation befindet, schafft er sich Stabilität durch die Herstellung einer künstlichen, also technischen und kulturellen Welt – Künstlichkeit der Lebensführung als Folge der natürlichen Situation. Weil der Mensch über die Fähigkeit zur Versachlichung verfügt und sein Weltbezug durch die vermittelte Unmittelbarkeit gekennzeichnet ist, lösen sich die Resultate seines Tuns vom Vorgang des Tuns ab und gewinnen ein objektives Eigengewicht. Weil außerdem jedes schöpferische Tun die Umsetzung von Möglichem in Wirkliches bedeutet und dabei das tatsächlich Ausgedrückte nie lückenlos mit dem Entwurf übereinstimmt, entsteht angesichts der eigenständigen Realität des Geschaffenen die Spannung von Form und Inhalt, die alle menschlichen Werke auszeichnet – so ist das menschliche Tun stets expressiv. Daraus resultiere ein 11

Plessner (1981 [1928]), Stufen des Organischen, S. 363.

12

Plessner (1981 [1928]), Stufen des Organischen, S. 383, Herv. i. O.

13

Plessner (1981 [1928]), Stufen des Organischen, S. 383.

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Moment, das den Menschen zu Überbietung und Steigerung drängt, da stets neue Ausdrucksversuche unternommen, jede Konstruktion durch eine andere überboten werden könne: »Die Übersteigerung […] ist das notgedrungen diese Form annehmende Mittel der Kompensation seiner Halbheit, Gleichgewichtslosigkeit, Nacktheit.«14 Als drittes Gesetz führt Plessner das des utopischen Standorts ein, womit er den die exzentrische Positionsform auszeichnenden Standpunkt außerhalb, hinter oder neben sich bezeichnet. Da das Nebeneinander der beiden Verortungen am utopischen Standort einerseits und in der konkreten körperlichen und psychischen Existenz andererseits unaufhebbar nebeneinander bestehen, meint Plessner: »Exzentrische Mitte bleibt aber ein Widersinn, auch wenn sie verwirklicht ist«15 . Die dieser Position korrespondierende Wirklichkeit sei, da sie durch den Bruch der exzentrischen Position bestimmt werde, ebenfalls in diesem Sinne paradox, was sich im Kontingenzbewusstsein realisiere. Der Mensch bemerke, dass die bestehende Welt nicht notwendig ist und dass er selbst auch ein anderer hätte werden können, woraus das Bewusstsein einer ungesicherten Wirklichkeit resultiere: »Bewußtsein der Individualität des eigenen Seins und der Welt und Bewußtsein der Kontingenz dieser Gesamtrealität sind notwendig miteinander gegeben und fordern einander«16 . Dieses Bewusstsein führe zum Wunsch nach Sicherung, Bindung und Eindeutigkeit. Definitive Standfestigkeit könne der Wirklichkeit aber nur über den Glauben an die »Idee des Weltgrundes […], des Absoluten oder Gottes«17 verschafft werden. Der letzte Grund der Religiosität liegt Plessner zufolge also in dem mit der Haltlosigkeit der exzentrischen Positionalität entstehenden Wunsch nach der Setzung eines stabilisierenden Definitivums, das wirklichkeitstranszendent sein muss, um diese Funktion erfüllen zu können. Allerdings garantiere die exzentrische Positionalität auch die Möglichkeit, diese Idee zu hinterfragen: »Die Exzentrizität seiner Lebensform, sein Stehen im Nirgendwo, sein utopischer Standort zwingt ihn, den Zweifel gegen die göttliche Existenz, gegen den Grund für diese Welt und damit gegen die Einheit der Welt zu richten«18 . Als weitere Folge des utopischen Standorts 14

Plessner (1981 [1928]), Stufen des Organischen, S. 395.

15

Plessner (1981 [1928]), Stufen des Organischen, S. 420.

16

Plessner (1981 [1928]), Stufen des Organischen, S. 422.

17

Plessner (1981 [1928]), Stufen des Organischen, S. 419.

18

Plessner (1981 [1928]), Stufen des Organischen, S. 424.

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hebt Plessner die Kontingenz der zwischenmenschlichen Ordnungsversuche hervor. Die unauflösliche Gleichzeitigkeit von Vertretbarkeit und Unvertretbarkeit des Individuums führe zu prinzipiell unklaren Verhältnissen zwischen den Menschen, weshalb sie eine Ordnung festlegen, »klare Verhältnisse schaffen«19 müssen. Soziale, rechtliche und politische Ordnungsverhältnisse resultieren Plessner zufolge also wie Kultur und Geschichte aus der Exzentrizität der menschlichen Position und tragen wie diese die prinzipielle Gemachtheit an sich: Sie müssen zwar bestehen, aber keine der möglichen Formen, die hierfür gefunden werden, kann für sich Notwendigkeit beanspruchen. Man kann also sagen, dass die Freiheit im Zentrum der Plessner’schen philosophischen Anthropologie steht: Der Mensch als exzentrisch positioniertes Lebewesen findet sich in einer grundsätzlich unbestimmten und offenen Position, die ihm die Freiheit der Gestaltung gewährt; zugleich ist er zu Festlegungen gezwungen, da seine »konstitutive Gleichgewichtslosigkeit«20 nach Stabilisierung verlangt. Solche Stabilisierung wird durch religiöse, tradierte und moralische Bindungen, durch kulturelle, politische und gesellschaftliche Formen erreicht. Diese schränken die prinzipiell unbegrenzten Möglichkeiten temporär und situativ ein – sowohl kollektiv als auch individuell. Religion und Glauben, daran lässt Plessner keinen Zweifel, stellen aber die einzige Möglichkeit dar, die Künstlichkeit, Vorläufigkeit und Kontingenz der hergestellten Wirklichkeiten zu überdecken und die sinnfreie, offene Welt zu einem sinnhaft geordneten Kosmos zu schließen, in der die Menschheit und der einzelne Mensch einen festen Platz hat: »Wer nach Hause will, in die Heimat, in die Geborgenheit, muß sich dem Glauben zum Opfer bringen. Wer es aber mit dem Geist hält, kehrt nicht zurück«21 . Plessner plädierte entschieden für die zweite Option und damit für die aktive Gestaltung der zur Freiheit geöffneten menschlichen Situation in all ihrer Unsicherheit; dafür, das Bewusstsein darüber zu bewahren, dass sich der Mensch den Boden, auf dem er steht, immer erst selbst und immer erneut schaffen muss. Er war sich dabei freilich der Herausforderung bewusst, die diese Option bedeutet und meint daher: »Atheismus ist leichter gesagt als getan.«22 19

Plessner (1981 [1928]), Stufen des Organischen, S. 423.

20

Plessner (1981 [1928]), Stufen des Organischen, S. 391.

21

Plessner (1981 [1928]), Stufen des Organischen, S. 420.

22

Plessner (1981 [1928]), Stufen des Organischen, S. 424.

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2. Europäische Moderne und Freiheit Mit der europäischen Moderne tritt eine menschheitsgeschichtlich vollkommen neue Situation ein: Durch die Infragestellung des religiösen Welt- und Menschenbildes, die Fortschritte in der wissenschaftlichen Erkenntnis der Natur und ihrer technischen Anwendung, die Entdeckung außereuropäischer Kulturen und Lebensformen, die Veränderung der alltäglichen Lebenswelten in der Folge von Industrialisierung und Urbanisierung sowie durch die nunmehr rein immanente Legitimation politischer und sozialer Ordnung vollzog sich innerhalb weniger Generationen eine Umwälzung der Lebensverhältnisse, die Plessner als »Sprengung eines bestimmten für zeitlos gehaltenen Rahmens des menschlichen Lebens«23 beschreibt. Eine zentrale Voraussetzung dieser »Sprengung« sieht Plessner im Fraglichwerden der religiösen Weltdeutung und der damit einhergehenden Freisetzung des technischen und künstlerischen Schaffens: Während menschliche Werke innerhalb eines religiös strukturierten Selbst- und Weltverhältnisses stets an die Nachahmung der Natur gebunden bleiben, zeichnet sich die spezifisch moderne Kunst und Technik durch ihre Artifizialität und Möglichkeitsoffenheit aus – also dadurch, dass Werke geschaffen werden, die durch kein transzendentes Kriterium gebunden sind und daher in einem Raum prinzipiell unendlicher Möglichkeiten des Entwerfens und Überbietens stehen. Plessner spricht in diesem Zusammenhang davon, dass sich moderne technische Produkte durch ihre »beliebige[] Erweiterungsfähigkeit und Umbildungsfähigkeit«24 auszeichnen und dass in der Kunst mit dem Verlust verbindlicher Maßstäbe des Schönen ab dem 19. Jahrhundert eine Entwicklung in Gang kam, in der Themen, Materialien und Gestaltungsmittel freigesetzt wurden, bis schließlich die ständige Überholung der ästhetischen Prinzipien zum Normalzustand avancierte25 . Eine solche Offenheit und Artifizialität 23

Plessner, Helmuth (1982 [1935/1959]), Die verspätete Nation. In: Ders., Gesammelte Schriften VI, S. 96.

24

Plessner, Helmuth (2001 [1932]), Wiedergeburt der Form im technischen Zeitalter. In: Ders., Politik – Anthropologie – Philosophie, S. 77.

25

Plessner, Helmuth (1985 [1965]), Über die gesellschaftlichen Bedingungen der modernen Malerei. In: Ders., Gesammelte Schriften X und Plessner, Helmuth (2001 [1958]), Zur Genesis moderner Malerei. In: Ders., Politik, Anthropologie, Philosophie; vgl. zu diesem Themenkomplex Makropoulos, Michael (2018), Zum

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der Gestaltung, darauf läuft Plessners Argumentation hinaus, ist erst möglich auf der Grundlage des Verlusts von, oder anders gewendet, des Verzichts auf absolute, transzendente Mächte und Ordnungsgarantien, die das menschliche Schaffen dadurch final begrenzen, dass die Infragestellung sowohl dieser transzendenten Instanz als auch des von ihr Geschaffenen – der Natur – verwerflich ist. Entfallen diese prinzipiellen Schranken, so eröffnen sich vollkommen neuartige und nicht mehr begrenzbare Spielräume der technischen und künstlerischen Konstruktion. Auf wissenschaftlicher und weltanschaulicher Ebene korrespondiert mit dieser Situation der moderne Naturbegriff, der die Natur als frei von transzendenten, kosmischen oder göttlichen Sinnbezügen und Plänen, frei von ihr innewohnenden Zielkräften und somit als neutrales Material ohne Eigenwert betrachtet. Die Folgen dieser Veränderung im Welt- und Selbstverhältnis sind laut Plessner gerade darum so tiefgreifend, weil die technischen Neuerungen in Produktion und Alltag eine Vermittlungsstelle darstellen, an der der prinzipiell endlose Prozess der immer erneuten Herstellung künstlicher Gleichgewichte zur alltäglichen Erfahrung wird und damit die Gewöhnung an eine offene Wirklichkeit ermöglicht. Die Antworten auf diese Situation in der Kunst – dafür plädiert Plessner bereits 1932 in Bezug auf Architektur und Design und erneut in zwei späteren Texten zur modernen Malerei26 – müssen nicht in der Gegenbewegung bestehen, zumindest in der Kunst doch noch erfahrbare Totalität herzustellen, sondern können im Gegenteil den Versuch unternehmen, die Erfahrung der Verschränkung in die immanente Unendlichkeit aufzugreifen und in der »offenen Form«27 zu gestalten. Eine weitere einschneidende Erfahrung der europäischen Moderne sieht Plessner in der Entdeckung des außereuropäischen Raums und der damit einhergehenden Erkenntnis der Variabilität religiöser, moralischer, kultureller, sozialer, politischer und rechtlicher Formen, die im Zusammenspiel mit der Skepsis gegenüber der religiösen Begründung

Begriff der Möglichkeit bei Helmuth Plessner. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie, 2018/2. 26

Plessner (2001 [1932]), Wiedergeburt der Form; Plessner (1985 [1965]), Über die gesellschaftlichen Bedingungen der modernen Malerei; Plessner (2001 [1958]), Zur Genesis moderner Malerei.

27

Plessner (2001 [1932]), Wiedergeburt der Form, S. 71.

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dieser Formen letztlich in ihrer Rückführung auf den Menschen kulminiert. So erkenne sich der »Mensch als Macht«28 und Schöpfer seiner Kultur, was mit der Relativierung seines Welt- und Selbstverhältnisses nicht nur gegenüber vorhandenen, sondern vor allem gegenüber dem unbegrenzten Bereich der möglichen anderen Welt- und Selbstverhältnisse einhergeht. Diese Relativierung öffne den Blick in die »offene[] Welt des bodenlosen Wirklichen«29 , in der Bindung, die Vertrautheit schafft, orientierende Deutung, sichernde Ordnung immer erst festgelegt werden müssen, um der menschlichen Existenz einen Boden zu schaffen. Dies mache dem menschlichen Tun ungekannte Spielräume zugänglich, da sich eine neue Freiheit der Gestaltung auftut, wenn Ordnungen als gemachte durchschaut werden. Die potenziell unendlichen Möglichkeiten der Ausgestaltung dieser Situation sind freilich situativ beschränkt, da zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort bestimmte Setzungen schon vorgenommen sind – so »gibt [es] die Schranken und Grenzen dessen, was hier und jetzt möglich ist.«30 Der offenen, fremden Welt werde durch die Entscheidung, bestimmte Möglichkeiten zu realisieren und andere unverwirklicht zu lassen, in einer »erwirkten Einseitigkeit«31 des Selbst- und Weltverständnisses ein Stück Vertrautheit abgewonnen. Erst im Rahmen einer solchen Setzung, die entweder Geschichte fortsetzt oder mit ihr bricht, könne der Mensch seine sozialen und politischen Beziehungen gestalten. Daher sei die Entscheidung für ein bestimmtes Welt- und Selbstverständnis stets politisch. So zeigt Plessner den Menschen auch in seiner politischen Anthropologie in einer »Zwischenstellung«32 : Auf der einen Seite stehen die situativen Begrenzungen dessen, was hier und jetzt realisierbar ist, auf der anderen Seite die im »positiven Überschuß« der aktuell nicht zu verwirklichenden Möglichkeiten aufscheinende »Unendlichkeit der offenen Welt«33 . Plessner spricht in diesem Zusammenhang von einem

28

Plessner, Helmuth (1981 [1931]), Macht und menschliche Natur. In: Ders., Gesammelte Schriften V, S. 185.

29

Plessner (1981 [1931]), Macht und menschliche Natur, S. 198.

30

Plessner (1981 [1931]), Macht und menschliche Natur, S. 197.

31

Plessner (1981 [1931]), Macht und menschliche Natur, S. 187.

32

Plessner (1981 [1931]), Macht und menschliche Natur, S. 198.

33

Plessner (1981 [1931]), Macht und menschliche Natur, S. 197 u. S. 198.

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»Zwang zum Willen zur Macht«34 , um zu verdeutlichen, dass an der Setzung bestimmter situativer Begrenzungen auch nicht vorbeikommt, wer wie der Mensch der europäischen Moderne im Bewusstsein der prinzipiell unbegrenzten Möglichkeiten von Menschsein und Weltverstehen und der damit einhergehenden Freiheit der Gestaltung handelt. Über die Bestimmung des »Menschen als Macht« macht Plessner die Geschichtlichkeit des Menschen zur Grundlage seiner philosophischen Anthropologie: Was der Mensch ist und wie er sich versteht kann nicht endgültig bestimmt werden, da es nicht festliegt. Vielmehr steht der Mensch in einer »Relation der Unbestimmtheit zu sich«35 , weshalb anthropologische »Strukturformeln […] keinen abschließendtheoretischen, sondern nur einen aufschließend-exponierenden Wert beanspruchen [dürfen]«36 . In der europäischen Moderne »entdeckt [der Mensch, S.H.] sich für sein Leben, theoretisch und praktisch als offene Frage«37 – eine offene Frage, die eine Antwort verlangt, auf die aber eine Vielzahl an Antworten möglich ist, wovon die historisch und kulturell verschiedenen Selbst- und Weltdeutungen zeugen. Diese können, wenn sich der Mensch als die Instanz begreift, auf die seine Selbst- und Weltverhältnisse zurückgehen, erstmals als prinzipiell gleichwertige Varianten des Menschseins und Weltverstehens anerkannt werden, womit sich die Aufgabe stellt, die eigene Variante zu verteidigen und zu bewahren, da ihre Kontingenz und damit die Möglichkeit ihres Verlusts bewusst werden38 . Die Auffassung des Menschen als Macht bedeute den Verzicht auf eine eindeutige und heimkehrgewährende Antwort auf die Frage danach, was der Mensch ist und wie er leben soll, und stelle Rechtsetzung und politisches Handeln ebenso wie die individuelle Lebensführung in den Kontext einer neuartigen Freiheit. Diese Freiheit stellt sich einerseits positiv als Offenheit und »Kraft des Könnens«39 dar, kann aber andererseits in ihrer Gleichgewichtslosigkeit und Bodenlosigkeit erschreckend 34

Plessner (1981 [1931]), Macht und menschliche Natur, S. 199.

35

Plessner (1981 [1931]), Macht und menschliche Natur, S. 188.

36

Plessner, Helmuth (1983 [1937]), Die Aufgabe der philosophischen Anthropologie. In: Ders., Gesammelte Schriften VIII, S. 39.

37 38

Plessner (1981 [1931]), Macht und menschliche Natur, S. 188. Vgl. hierzu insbesondere Plessner (1983 [1937]), Die Aufgabe der philosophischen Anthropologie.

39

Plessner (1981 [1931]), Macht und menschliche Natur, S. 188.

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wirken und den Wunsch nach haltgebend-definitiven Antworten auslösen. Vor allem wächst dem Menschen im Rahmen dieser Freiheit die Verantwortung für die eigenen Setzungen und Gestaltungen zu, wodurch die Lebensführung »stets den Charakter der Nichtnotwendigkeit, Zufälligkeit, Korrigierbarkeit und Einseitigkeit hat«40 und mit dem Risiko des Scheiterns behaftet ist. Individuell bieten Religion und Glauben freilich auch nach ihrem gesamtgesellschaftlichen Bedeutungsverlust und den Plausibilitätseinbußen als Weltdeutungs- und moralische Orientierungsinstanz eine Möglichkeit, diese Verantwortung abzugeben. Der Mensch als unergründliches Wesen kommt Plessner zufolge aus der Konfrontation mit seiner Freiheit als gestaltungsbedürftiger Aufgabe nicht heraus: Neben den biologischen, traditionellen, geistig-kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Bindungen, die Orientierung und Stabilität schaffen, bestehen Tendenzen, die sie gegen andere Möglichkeiten relativieren und auf ihre Durchbrechung in eine unbekannte Zukunft drängen. In der Moderne werden diese Kräfte maßgeblich nicht nur für die Struktur der technischen und künstlerischen Entwicklung, sondern auch für die Form der Vergesellschaftung, die auf individuelle soziale Mobilität und Pluralität in den Lebensentwürfen setzt. Plessner betont, dass die tiefgreifenden und rapiden Umwälzungen des Welt- und Selbstbildes, der ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen und der alltäglichen Lebensumstände gerade in der Übergangszeit »Schocks«41 auslösen, was künstlerisch reflektiert wurde, im Sozialen zum Ruf nach der Rücknahme moderner Vergesellschaftung und der Wiederbelebung gemeinschaftlicher Sozialformen führte und sich schließlich politisch als Wunsch nach einer neuen definitiven, Klarheit schaffenden Ordnung äußerte.

3. Plessners Einsatz für die Freiheit Hier setzt das an, was man als Plessners Kulturkritik bezeichnen könnte. Kulturkritik ist, wie die Herausgeber dieses Bandes hervorheben, kein klar umgrenzter Begriff, sondern umfasst in seiner Breite verschiedenste Positionen und Haltungen. Gemeinsam ist der modernen Kulturkri40 41

Plessner (1981 [1931]), Macht und menschliche Natur, S. 199. Plessner (1985 [1965]), Über die gesellschaftlichen Bedingungen der modernen Malerei, S. 284.

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tik, so der Kulturwissenschaftler und Germanist Georg Bollenbeck, dass sie sich auf die »emanzipatorischen Verheißungen« der Aufklärung bezieht, diese ernst nimmt und angesichts einer »nicht mehr vermittelbare[n] Diskrepanz zwischen hochgestimmten Erwartungen und ernüchternden Erfahrungen« in der Moderne »Verlustgeschichten« erzählt42 . Teil des kulturkritischen Ansinnens sei dabei der Entwurf von Alternativen und Aussichten, die sich in dem »neuartigen Zeitbewusstsein mit offener Zukunft«43 abspielen, durch das die Moderne gekennzeichnet ist. Nun ist eine ›Verlustgeschichte‹ der Moderne gerade das, was Plessner nicht erzählen möchte. Vielmehr plädiert er dafür, im Verzicht auf definitive Antworten die Unergründlichkeit und Möglichkeitsoffenheit des Menschen zur Grundlage des theoretischen und praktischen Tuns zu machen, also den Menschen als offene Frage zu begreifen, die immer neue Antworten herausfordert. Auch hat Plessner wiederholt Einspruch gegen verbreitete kulturkritische Topoi erhoben, sei es gegen Hans Sedlmayrs reaktionäres Beklagen eines »Verlusts der Mitte«44 oder gegen die Hoffnungen auf eine Aufhebung von Entfremdung, Verdinglichung und Abstraktion durch die Überwindung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft45 . In seinen Beiträgen zur Kultursoziologie ging es Plessner darum, ausgehend von den auch bei ihm durchaus ambivalenten Möglichkeiten der Moderne und den nur teilweise oder nicht eingelösten Versprechen der Aufklärung die Frage danach zu stellen, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen sich Tendenzen ausprägen, die auf die Rücknahme moderner Lebensformen drängen und philosophische, geistes- und sozialwissenschaftliche und politische Entwürfe an Plausibilität gewinnen, die einseitig die mit der Moderne verbundenen Verluste hervorheben, ohne die mit diesen Verlusten entstehenden Freiheiten zu würdigen. Gegen diese Reaktionen setzt Plessner eine

42

Bollenbeck, Georg (2007), Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 11.

43

Bollenbeck (2007), Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 14.

44

Plessner, (2001 [1958]), Zur Genesis moderner Malerei, S. 101; vgl. Sedlmayr, Hans (1998 [1948]), Verlust der Mitte: die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit.

45

Vgl. etwa Plessner, Helmuth (1985 [1960]), Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung; ders. (1985 [1960]), Soziale Rolle und menschliche Natur; ders. (1985 [1969]): Technik und Gesellschaft in Gegenwart und Zukunft; alle in: Ders., Gesammelte Schriften X.

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Perspektive auf die Moderne, die zur aktiven, tätigen Gestaltung der sozialen, politischen und geistigen Wirklichkeit auffordert. Die Grundlage der Kritik der Kulturkritik bildet bei Plessner die Annahme, dass die Sehnsüchte nach Heimat, Geborgenheit, guter Geschlossenheit und definitiven Antworten nur die eine Seite der von ihm über die exzentrische Positionalität bestimmten menschlichen Situation ausmachen, während auf der anderen Seite der Geist auf Durchbrechung jeder Festlegung, auf Zweifel an allen sich abschließend gebenden Antworten, auf Überbietung und eine offene Zukunft drängt. Letzteres wird in der Moderne zu einer konkreten, realen Erfahrung, was gerade in Zeiten rascher Veränderungen durch erfolgreiche Modernisierung Widerstand hervorrufen und den Wunsch nach einer Rückkehr zu vormodernen Schließungen befördern muss. Im Folgenden werden drei Auseinandersetzungen Plessners mit der Frage erörtert, unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen solche Wünsche und Sehnsüchte entstehen und virulent werden. Sein Fokus verschob sich dabei mit den sich verändernden sozialen und politischen Wirklichkeiten. In Grenzen der Gemeinschaft (1924) greift Plessner die Debatte um die von Ferdinand Tönnies46 eingeführte Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft auf, wobei er eine unter deutschen Intellektuellen der 1920er Jahre ungewöhnliche, vor allem ungewöhnlich liberale Position vertritt. Denn gegen den »sozialen Radikalismus«, der »den Gemeinschaftsgedanken über die gesellschaftliche Lebensordnung triumphieren lassen will«47 , setzt Plessner eine entschiedene Verteidigung der Gesellschaft. Nur gesellschaftliche Formen, die sich durch Künstlichkeit, Indirektheit, Vermittlung und Distanz auszeichnen (etwa Takt, Zeremoniell, Prestige und Diplomatie), gewährten den Einzelnen die Freiheit, sich nicht vollständig zu zeigen und nur teilweise in Kontakt zu treten. Dies sei aber die Voraussetzung dafür, dass die Individuen im sozialen Kontakt ihre Würde bewahren, indem neben dem Sich-Zeigen auch die Verhaltung, das Verbergen und Verrätseln der eigenen Person ermöglicht wird. Ein solches Wechselspiel von Nähe und Distanz werde der Undurchdringlichkeit des Psychischen gerecht, das immer zugleich 46

Tönnies, Ferdinand (2019 [1935/1887]), Gemeinschaft und Gesellschaft. In: Ders., Gesamtausgabe Bd. 2.

47

Plessner, Helmuth (1981 [1924]), Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. In: Ders., Gesammelte Schriften V, S. 11.

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Sein und Werden, Tatsächliches und Mögliches, Form und Potenzialität sei und daher nie definitiv er- oder gekannt werden könne. Die rückhaltlose Vereinnahmung der Person, wie sie in gemeinschaftlichen Formen angestrebt werde, bedeute dagegen deren Festlegung und Stillstellung, wodurch die Seite der unerschöpflichen Möglichkeiten des Werdens übergangen werde. Dagegen erlaubten gesellschaftliche Formen es einander fremden Menschen »bei einem Maximum an Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit ein Maximum an Sicherheit vor dem ironischen Zerstörerblick, bei einem Maximum an seelischem Beziehungsreichtum zwischen den Menschen ein Maximum an gegenseitigem Schutz voreinander«48 zu bewahren. Daher kritisiert Plessner die Radikalität solcher Forderungen, die – sei es im Namen der Religion, der Nation oder des Sozialismus – nicht mehr Gemeinschaft fordern, sondern die Ersetzung jeglicher Gesellschaft durch Gemeinschaft, die Abschaffung aller Künstlichkeit und Indirektheit zugunsten unmittelbar-konkreter Sozial- und Sachbezüge. Plessner hingegen plädiert dafür, dass gemeinschaftliche und gesellschaftliche Formen nebeneinander bestehen, um dem Wunsch nach Zugehörigkeit, Bindung, Gesehen- und Gekanntwerden in vertrauten Zusammenhängen auf der einen und dem nach Öffentlichkeit, Distanz und partiellem Sich-Zeigen auf der anderen Seite gerecht zu werden. Seiner Hochschätzung der Gesellschaft liegen die anthropologischen Annahmen zur natürlichen Künstlichkeit, vermittelten Unmittelbarkeit und zum utopischen Standort zugrunde; seine Kritik an der Gemeinschaftssehnsucht beruht auf der Annahme, dass die Idee eines ursprünglichen, entfremdungsfreien Zustands, in dem ein unmittelbar-konkreter Kontakt zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Welt möglich ist, einen gefährlichen Mythos darstellt, da er zur radikalen Ablehnung aller vermittelten Sozialformen führen müsse. Dass der Ruf nach Gemeinschaft, insbesondere nach solcher im Namen des Volkes, nach dem Ersten Weltkrieg gerade in Deutschland so laut wurde, stellt Plessner in einen Zusammenhang mit der spezifisch deutschen Geschichte innerhalb der gesamteuropäischen Moderne. Schon 1921 stellt er fest, dass sich in Deutschland anders als in anderen europäischen Staaten keine politische Kultur entwickelt habe: »In der Geringschätzung des politischen Geschäfts sind sich alle

48

Plessner (1981 [1924]), Grenzen der Gemeinschaft, S. 79.

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Deutschen einig«49 . In einer modernen Staatswirklichkeit stelle dies aber ein Problem dar, da diese gerade nicht substanziell bestimmt, sondern »ein offenes System von Möglichkeiten der Umbildung und Neuschöpfung«50 sei, das aktive Gestaltung verlange. Wenn, wie in demokratischen Staaten, die Verantwortung für diese Gestaltung letztlich dem Volk obliege, werde die »Begeisterungsfähigkeit für das im Rahmen der Wirklichkeit Mögliche, die Freude an der Staatskunst«51 entscheidend, und diese erschöpfe sich weder im preußischen Gehorsam gegenüber dem Staat noch sei sie mit der Begeisterung für ein zu verwirklichendes Staatsideal gleichzusetzen. Den Grundgedanken einer fehlenden politischen Kultur in Deutschland griff Plessner 1935, unter dem Eindruck der Machtübernahme der Nationalsozialisten und seiner Emigration in die Niederlande, erneut auf und unterfütterte ihn mit einer Analyse des Schicksals des deutschen Geistes seit dem 16. Jahrhundert. Die Deutschlandstudie stellt einen Versuch Plessners dar, die geistigen und kulturellen Voraussetzungen des Nationalsozialismus verständlich zu machen, sie »leistet von außen, im Exil, aber doch von innen heraus, aus innerer Beteiligung an dem, was sich als ›deutscher Geist‹ verstand, eine kritische Untersuchung von dessen historischer Partikularität, die einen barbarischen Naturalismus in Deutschland ermöglicht«52 . Plessner war sich der Beschränktheit dieser Perspektive und der Relevanz materieller Faktoren dabei sehr bewusst. Gleichwohl hielt er die wirtschaftliche, soziale und politische Krise nach dem Ersten Weltkrieg als Erklärung für die Empfänglichkeit des deutschen Bürgertums für die NS-Ideologie für unzureichend und betont die Relevanz der »Kritik der Grundlagen […], die den geistigen Nährboden für die Ideen des Nationalsozialismus abgaben und – bei nicht wesentlich geänderter wirtschaftlicher Struktur – auch weiter abgeben werden«53 . Die geistige und kulturelle Sondersituation Deutschlands habe sich über eine lange Zeit entwickelt, in der entsicherten Lage nach dem 49

Plessner, Helmuth (2001 [1921]), Politische Kultur. Vom Wert und Sinn der Staatskunst als Kulturaufgabe. In: Ders., Politik – Anthropologie – Philosophie, S. 51.

50

Plessner (2001 [1921]), Politische Kultur, S. 55.

51

Plessner (2001 [1921]), Politische Kultur, S. 54f.

52

Fischer (2016 [1990]), Die exzentrische Nation, S. 67f.

53

Plessner (1982 [1935/1959]), Die verspätete Nation, S. 26.

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Ersten Weltkrieg sei sie schließlich zu vollem Ausdruck und zur Wirksamkeit gelangt. Plessners Argumentation läuft auf die These hinaus, dass die Gründung des deutschen Nationalstaats 1871 »in die Zeit einer bereits fortgeschrittenen Skepsis an dem Wertsystem des Humanismus«54 fiel, sodass keine an aufklärerische Ideale gebundene Staatsidee entstehen konnte; dass Deutschland an der konfessionellen Spaltung und der Abwertung von Öffentlichkeit, Staat und Politik litt, die aus der »innerweltlichen Weltfrömmigkeit«55 und der pathetischen Aufladung des deutschen Kulturbegriffs resultierte; und dass die Reichsgründung 1871 unter dem Schatten des nicht gelösten Problems der Wiener und Berliner Option stand. Die Folgen der beschleunigten Industrialisierung und der Durchsetzung des auf Dynamik und Übersteigerung angewiesenen Kapitalismus seien in Deutschland angesichts des wenig gefestigten Staates stärker ausgefallen als in anderen europäischen Ländern und Naturwissenschaften, Technik und ökonomisches Unternehmertum seien weitgehender entfesselt worden. Und schließlich seien auch die geistigen Entwicklungen, die ganz Europa betrafen, radikaler ausgefallen und hätten zu einer größeren Verunsicherung geführt: Das Hinterfragen zunächst der religiösen, dann aber auch aller innerweltlichen Autoritäten (Vernunft, Freiheit, Fortschritt und Geschichte, Menschlichkeit). Das Deutsche Reich sei daher ohne Staatsidee geblieben und es bildete sich »ein Wettstreit der Perspektiven, […], der das Verlangen nach Einheit, und zwar in allen Schichten der menschlichen Existenz, weckte«56 . Angesichts der für Deutschland bezeichnenden »Traditionslosigkeit«57 und dem mangelnden Verhältnis zu den modernen europäischen Rechts- und Staatsideen sei eine solche Einheit zunächst in der Geschichte und schließlich in der Natur gesucht worden. So sei das deutsche Bürgertum aus dem 19. Jahrhundert getreten ohne Bindung an eine Staatsidee, geistig verunsichert und mit mangelndem nationalen Selbstbewusstsein. Die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und die folgende Beschränkung seiner politischen, militärischen und ökonomischen Möglichkeiten habe die »Opposition im geistigen Felde« befördert, die sich als Kampf

54

Plessner (1982 [1935/1959]), Die verspätete Nation, S. 46.

55

Plessner (1982 [1935/1959]), Die verspätete Nation, S. 46.

56

Plessner (1982 [1935/1959]), Die verspätete Nation, S. 108.

57

Plessner (1982 [1935/1959]), Die verspätete Nation, S. 92.

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»gegen den politischen Humanismus der westlichen Welt«58 äußerte. Dieser habe vor dem Hintergrund stattgefunden, dass die moralische und politische Vormachtstellung Europas im Zuge der Unabhängigkeitsbewegungen der außereuropäischen Staaten, der Katastrophe des Ersten Weltkrieges und der Wirtschaftskrise insgesamt fraglich geworden sei. Plessner hält fest, dass Deutschland in dieser wenig gefestigten Lage »offen [ist], aufgebrochen zu Möglichkeiten, die für den Westen keine Möglichkeiten mehr sind«59 . Diese Lage stelle sich zwiespältig dar: Deutschland sei »das Land ohne Tradition, das unter ihrem Mangel leidet, aber aus ihm seine titanischen Kräfte zieht«60 . Erneut zeigt sich die Doppelseitigkeit der Freiheit, hier der Freiheit von Tradition und ideeller Bindung im Nationalstaat, die über die Suche nach einem festen Boden dazu führen konnte, dass das Konstrukt des »Volkes die Rolle einer politischen Idee«61 übernahm, die durch kein über bloße Natur und Machtfragen hinausreichendes Ideal mehr gebunden war und das daher das destruktive Potenzial entfalten konnte, das in Völkermord und Krieg kulminierte. Während Plessner in diesem Text auf der analytischen Ebene verbleibt, hat er sich in der Nachkriegszeit wiederholt für eine Stärkung der Öffentlichkeit eingesetzt. Er geht dabei einerseits von der Beobachtung der zunehmenden Rationalisierung, Bürokratisierung und Funktionalisierung in Ökonomie, Wissenschaft und Staat und der daraus resultierenden erhöhten Manipulierbarkeit und abnehmenden Freiheit der Einzelnen aus. Andererseits hält er daran fest, dass die Antwort auf diese Situation und das mit ihr verbundene Leiden nicht in der Forderung nach der Aufhebung jeglicher Entfremdung, Verdinglichung und Selbstentfremdung bestehen könne, die er als letztlich stets in einer eschatologischen geschichtsphilosophischen Perspektive verwurzelt bestimmt. Hier kommt Plessner auf seine philosophische Anthropologie zurück, indem er argumentiert, dass ein Missverständnis hinsichtlich der menschlichen Natur bestehe, wenn ein nicht entfremdeter Zustand imaginiert wird: Was als aufzuhebende Pathologie der Moderne interpretiert wird, der Bruch im menschlichen Selbst- und Weltverhältnis, die Notwendigkeit von Vermittlung, Versachlichung 58

Plessner (1982 [1935/1959]), Die verspätete Nation, S. 40.

59

Plessner (1982 [1935/1959]), Die verspätete Nation, S. 91.

60

Plessner (1982 [1935/1959]), Die verspätete Nation, S. 91f.

61

Plessner (1982 [1935/1959]), Die verspätete Nation, S. 46.

Offen und gleichgewichtslos

und Abstraktion, sieht Plessner als mit der exzentrischen Positionsform notwendig gegeben. Dass das Theorem der Entfremdung eine solch starke Resonanz finden konnte, erklärt Plessner daraus, dass es im 19. Jahrhundert, als sich die kapitalistische und industrialisierte Produktion durchsetzte, eine konkrete Erfahrung benannte; der Fehler bestünde in der Extrapolation dieser Erfahrung in die Vergangenheit der gesamten Menschheitsgeschichte und in die Zukunft. Da Entfremdung als reale, gefühlsmäßige Erfahrung in den weiter entwickelten Ökonomien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verblasse, der Begriff aber in der Idee der menschlichen Selbstentfremdung weiterlebe, ändere sich deren Gehalt: »Mit der Figur des entfremdeten Menschen meint der literarische Sprachgebrauch heute das einzelne Individuum in seiner sozialen Rolle, die ihm von einer verwalteten Welt zudiktiert wird, den Menschen als Funktionsträger«62 . In der Idee der Selbstentfremdung überlebe das »Prinzip […], daß der Mensch mit sich identisch werden müsse, weil er es einmal gewesen sei«63 . Öffentlichkeit und Gesellschaft würden aus dieser marxistischen Perspektive ebenso wie im spätbürgerlichen Existenzialismus abgewertet und führten zu »Philosophemen […], die im öffentlichen Leben nur eine Ablenkung von allem sehen, was für den Menschen wesentlich ist, eine Zone, in der er sich fremd wird«64 . Gegen diese Herangehensweise an das Problem der Öffentlichkeit stellt Plessner eine Perspektive, in der »die Emanzipationskraft unserer Taten […] nicht so verstanden werden [darf], daß sie die Verwirklichung unserer Absichten vereitelt«65 . Vielmehr sei die Unabhängigkeit der Produkte menschlichen Schaffens ein Resultat der exzentrischen Positionalität und eröffne positive Möglichkeiten. Denn gerade durch die Ablösung der Handlungsresultate vom Handlungsvorgang entstünde der Spielraum, in dem Erfindungen und Entdeckungen, Sagen und Meinen, schöpferische Tätigkeit und Spiel möglich werden. Dies gelte auch im Sozialen, für die Gesellschaft, die nur durch die Übernahme von Rollen möglich sei. Diese schränkten zwar das Verhalten ein, schafften andererseits aber die Voraussetzung für einen »dauerhaften Kontakt« zwischen Menschen: Soziale Rollen schaffen Distanz, einen Umweg im Kon62

Plessner (1985 [1960]), Das Problem der Öffentlichkeit, S. 218.

63

Plessner (1985 [1960]), Das Problem der Öffentlichkeit, S. 220.

64

Plessner (1985 [1960]), Das Problem der Öffentlichkeit, S. 213.

65

Plessner (1985 [1960]), Das Problem der Öffentlichkeit, S. 220.

127

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takt, sie sind für den Menschen »das Mittel seiner Unmittelbarkeit«66 . Gleichwohl sei es möglich, die Dopplung von Rollenträger und Rollenfigur zu vergessen, »sich an seine soziale Figur zu verlieren«67 , wovon viele alte und außereuropäische Kulturen Zeugnis ablegten. In modernen Gesellschaften werde das Doppelgängertum hingegen bewusst erfahren und die Theoreme der Selbstentfremdung und Eigentlichkeit stellten eine Interpretation dieses Umstandes dar. Dem stellte Plessner den Gedanken des »Menschen als ein Wesen, das sich nie einholt«68 gegenüber, für den Entäußerung unumgänglich ist. Plessner bestimmt das Aufgeben des Selbstentfremdungstheorems als eine Voraussetzung der Aufwertung der Öffentlichkeit und diese wiederum als Bedingung für die Sicherung gesellschaftlicher Freiheit: »Nur ein gegen die Verführungen des Entfremdungsgedankens gefeiter, nur ein entmythisierter Öffentlichkeitsbegriff sichert den Spielraum der Verantwortung zur Wahrung unserer gesellschaftlichen Freiheit«69 . Die Freiheit sieht Plessner auch von der Seite der zunehmenden wissenschaftlich-technischen Naturbeherrschung und ihrer Folgen bedrängt, die mit den »immer wirksamere[n] Möglichkeiten Natur zu manipulieren« die Gesellschaft an die Aufgabe der Naturbeherrschung »versklave«70 . Hinzu komme der Machtzuwachs des Staates sowie die Konzentration von Machtpotenzialen in den Funktionen, die für die Organisation der weitgehend automatisierten Produktion zuständig sind. Um in dieser Lage gesellschaftliche und individuelle Freiheiten zu bewahren, brauche es eine Stärkung der zu kritischem Einspruch fähigen Geisteswissenschaften ebenso wie die Stärkung der »individuelle[n] Widerstandskraft jedes Menschen gegen die wachsende Gefahr seiner Beeinflußbarkeit durch die jeweils herrschenden Gruppen im Staate«71 . Entscheidend werde am Ende sein, ob die Einzelnen ein nüchternes Verhältnis »gegenüber einem so durchrationalisierten Ganzen«72 erwerben, das sie dazu befähigt, es aktiv zu gestalten und die 66

Plessner (1985 [1960]), Das Problem der Öffentlichkeit, S. 223 u. S. 224.

67

Plessner (1985 [1960]), Soziale Rolle und menschliche Natur, S. 235.

68

Plessner (1985 [1960]), Soziale Rolle und menschliche Natur, S. 236.

69

Plessner (1985 [1960]), Das Problem der Öffentlichkeit, S. 225.

70

Plessner, Helmuth (1985 [1958]), Zur Lage der Geisteswissenschaft in der industriellen Gesellschaft. In: Ders., Gesammelte Schriften X, S. 177.

71

Plessner, (1985 [1969]), Technik und Gesellschaft, S. 299f.

72

Plessner (1985 [1969]), Technik und Gesellschaft, S. 300.

Offen und gleichgewichtslos

Verantwortung für die kulturellen, sozialen und politischen Formen zu übernehmen, deren Mannigfaltigkeit durch die Freisetzung des Menschen in der europäischen Moderne im Vergleich zu allen früheren Epochen ungemein gewachsen sei.

Schlussbemerkung Freiheit, das ist bei Plessner zunächst die dem Menschen vorbehaltene Situation, die sich aus der nur teilweisen natürlichen Gebundenheit ergibt und die es ihm als Chance und Herausforderung aufgibt, dass er sein Leben irgendwie führen und sich die Grundlagen dafür in natürlicher Künstlichkeit, vermittelter Unmittelbarkeit und am utopischen Standort immer erst schaffen muss, indem er kulturelle, soziale und politische Wirklichkeiten und Ordnungen herstellt. Deren Artifizialität und Gemachtheit können ebenso in Vergessenheit geraten wie der Sinn des Freiheitsbegriffs, wenn Tradition, Religion oder politische Ideologie die Wirklichkeit zu einem geschlossenen Kosmos ordnen und die Einzelnen hinsichtlich ihrer Lebensführung eng binden. Die europäische Moderne lässt sich mit Plessner als die erste Epoche begreifen, in der natürliche Künstlichkeit, vermittelte Unmittelbarkeit und der utopische Standort des Menschen in die Struktur des kollektiven und individuellen Handelns unverdeckt eingehen. Dies zeigt sich im technischen und ästhetischen Schaffen als dessen Artifizialität; in der Lebensführung als Pluralisierung und Individualisierung; im Bereich sozialer und politischer Ordnungen als deren rein innerweltliche und damit stets prekäre Legitimation und Garantie. Die damit entstehenden Freiheiten stellen sich wiederum in der Zweiseitigkeit von Offenheit und Möglichkeit einerseits, Unsicherheit und Bindungslosigkeit andererseits dar und rufen Gegenbewegungen verschiedenster Provenienz und Orientierung hervor. Plessner plädiert dagegen für die aktive Gestaltung dieser Freiheit und für die Übernahme der Verantwortung für die dabei vorgenommenen Setzungen. Da der Mensch aber nicht zur Ruhe kommen kann, sondern immer weiter in eine offene Zukunft strebt, ist die Gestaltung der Freiheit bei Plessner eine Aufgabe, die nie abgeschlossen werden kann, sondern sich immer erneut stellt.

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Herbert Marcuse und die Freiheit Ingrid Gilcher-Holtey

Einführung »Look, I know wherin our most basic value judgments are rooted«, erklärte Herbert Marcuse kurz vor seinem Tod 1979 Jürgen Habermas, »in compassion, in our sense for the suffering of others«.1 Was bedeutet Freiheit, wenn Mitgefühl der zentrale Wertbezug ist? Was verstand Marcuse unter Freiheit? Was bedeutete sie für ihn? Welche Rolle wies er ihr im Prozess der Transformation der Gesellschaft zu? 1898 in Berlin geboren, aufgewachsen in der Belle Époque des deutschen Kaiserreichs in großbürgerlichen Verhältnissen, wird Herbert Marcuse mit der Freiheitsproblematik durch historische Ereignisse früh unmittelbar konfrontiert. Der Verlauf des Ersten Weltkriegs zwingt ihn, 1916 mit einem Notabitur das Gymnasium zu verlassen, um sich einer Militärausbildung zu unterziehen. Aufgrund einer Augenschwäche nicht an die Front entsandt, leistet Marcuse seinen Wehrdienst bei der Luftschiffer-Ersatz-Abteilung Nr.1 in Berlin-Reinickendorf. Technisch hoch entwickelt, gelten die Zeppeline als Wunderwaffe des Kaiserreichs. Indes, zwei Drittel der Luftschiffe werden bei Einsätzen zerstört. Die Kriegserfahrung sowie Massenstreiks der Arbeiterschaft gegen den Krieg 1916/17 bilden den Hintergrund für Marcuses Bruch mit der konservativen politischen Tradition seiner Familie. 1917 tritt er in die Sozialdemokratische Partei (SPD) ein, 1918 wird er in den Arbeiterund Soldatenrat von Berlin-Reinickendorf gewählt. Als Mitglied einer Bürgerwehr kämpft er auf dem Alexanderplatz mit der Waffe für die Verteidigung der Weimarer Republik gegen Freikorpsgruppen. Nach

1

Jürgen Habermas, in: Robert Pippin, Andrew Feenberg, Charles P. Webel (Hg.), Marcuse: Critical Theory and the Promise of Utopia, Basingstoke: MacMillan Education 1988.

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der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wendet er sich von der SPD ab. Einer politischen Organisation tritt er nie wieder bei. Zeit seines Lebens sucht er als Wissenschaftler nach einer Erklärung für das Scheitern der Novemberrevolution. Das Spektrum seiner Forschungen ist breit. 1922 an der Universität Freiburg in Literaturwissenschaft promoviert,2 kehrt er, nach gescheitertem Versuch, sich als Schriftsteller, Verleger, Buchhändler und Herausgeber einer Zeitschrift in Berlin (1922–1928) zu etablieren, 1929 nach Freiburg zurück, um bei Martin Heidegger in Philosophie zu habilitieren. Die Qualifikationsschrift ist 1931 fertiggestellt, eingereicht wird sie – aufgrund antisemitischer Vorbehalte in der Fakultät – nicht. Sie erscheint jedoch 1932 im Klostermann Verlag, der auch der Verlag Heideggers ist.3 Noch vor der Machtergreifung Hitlers verlässt Marcuse Deutschland. Als Mitarbeiter des emigrierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung wendet er sich in Genf, Paris, New York und Santa Monica der Zeitdiagnose zu: Der Analyse der Bedingungen des Aufstiegs des Faschismus (1939–1941).4 Nach Kriegseintritt der USA arbeitet er mit Franz Neumann und Otto Kirchheimer (1942–1945) in Washington in der Gruppe Research & Analysis des 1942 gegründeten Office for Strategic Services (OSS), aus dem sich der amerikanische Geheimdienst (CIA) entwickelte. Betraut mit Lageberichten über Deutschland unter dem Nationalsozialismus, beobachtet und untersucht die Gruppe Machtstrukturen innerhalb der neuen Elite, die Opposition gegen das System und die Judenverfolgung.5 Nach Kriegsende setzt Marcuse seine Tätigkeit für die amerikanische Regierung im State Department in Washington fort. Unter den sich verschärfenden Bedingungen des Kalten Krieges wird er mit der Untersuchung der Entwicklung des Kommunismus in der Sowjetunion und den ihr verbundenen Blockstaaten – darunter

2

Die Dissertation wurde erstmals veröffentlich in: Herbert Marcuse, Der deutsche Künstlerroman. Frühe Aufsätze, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978.

3

Herbert Marcuse, Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit, Frankfurt: Klostermann 1932.

4

Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule: Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung, München: Hanser 1986.

5

Im Kampf gegen Nazideutschland. Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943–1949, hg. von Raffaele Laudani. Aus dem Englischen von Christine Pries, Frankfurt a.M.: Campus 2016.

Herbert Marcuse und die Freiheit

vor allem Jugoslawien – betraut (1945–1952).6 Nach Gastdozenturen am Russian Institute der Columbia University (New York) sowie des Russian Center der Harvard University tritt er seinen ersten Lehrstuhl 1954 an der Brandeis University an. 1965 wechselt er an die Universität San Diego in Kalifornien, wo er bis 1970 lehrt. Der Universitätswechsel sowie die Einstellung der akademischen Lehre werden durch politischen Druck auf die Universitäten, die ihn berufen hatten, erzwungen. In beiden Fällen bildet sein Engagement für die Protestbewegungen in den USA (die Studentenbewegung, Bürgerrechtsbewegung, Opposition gegen den Vietnamkrieg) den Hintergrund. Bereits diese knappe Skizze zeigt, die Freiheitsproblematik durchzieht in all ihren Facetten den Lebenslauf Marcuses. Sie stellte sich ihm je nach politischem System neu und nicht zuletzt in neuem Gewand. So trug Marcuse die Uniform des Kaiserreichs und trat seinem Lehrer Heidegger beim ersten Treffen nach dem Krieg 1947 in amerikanischer Militäruniform entgegen. Von den Medien zum »Guru« und »Propheten« der transnationalen 68er-Bewegung erhoben und mit Marx und Mao in eine Reihe gestellt, wurde er nach 1968 von Studenten als CIA-Agent attackiert und denunziert, vom Ku-Klux-Klan mit Morddrohungen überzogen und vom Gouverneur von Kalifornien, Ronald Reagan, aus dem Professorenamt gedrängt. Die Fragestellung »Marcuse und die Freiheit« erzwingt angesichts dieses mehrere Systemwechsel übergreifenden Lebenslaufs (1898–1979) und der Rollenvielfalt des Protagonisten eine Eingrenzung. Ich werde mich nachfolgend auf den »späten« Marcuse konzentrieren, auf Marcuse, den Vordenker und Deuter der transnationalen 68er-Bewegung (1964–1979). Akzentuiert werden sollen sein Verständnis von Freiheit und Befreiung (I), seine Thesen zu Kunst und Freiheit (II), zum Reich der Freiheit (III), zu Freiheiten in der bürgerlichen Demokratie (IV) sowie seine Forderung nach Freiheit und Befreiung der Natur (V).

1. Freiheit und Befreiung Am Anfang steht eine Negation: Geschichte ist für Marcuse kein Prozess des notwendigen Fortschritts zur Freiheit. Er weist Hegels Geschicht6

Tim B. Müller, Krieger und Gelehrter. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg, Hamburg: HIS-Verlag 2010.

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sphilosophie zurück. »The facts of fascism, of Nazism and of neoimperialism«, so seine These, »refute the concept of progress.«7 Auch im Eindringen der Idee des Fortschritts zur Freiheit in die marxistische Dialektik erkennt er – trotz allen Beharrens auf dem Bewusstsein und der bewussten Aktion der Arbeiterklasse – ein Problem. Er sieht das historische Subjekt als nicht »frei für die Befreiung« an.8 So konstatiert er in Der eindimensionale Mensch nicht nur ein »Schwinden von Freiheiten«,9 sondern auch ein »Dahinschwinden der historischen Kräfte«, die auf vorangegangenen Entwicklungsstufen neue Daseinsformen aufscheinen ließen.10 Wie konnte es dazu kommen? Warum begehren in fortgeschrittenen Industriegesellschaften Menschen gegen die sie bedrückenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht auf? Warum fügen sie sich Interessen, die ihren Bedürfnissen entgegenstehen? Wann und wie bricht das stillschweigende Einverständnis mit der bestehenden Ordnung? Auf der Suche nach Antworten auf diese erkenntnisleitenden Fragen verknüpft Marcuse die Begriffe Freiheit und Befreiung zu einer neuen gesellschaftlichen Transformationsstrategie. Absorption der »inneren Freiheit«: Als grundlegend für das Schwinden der Vorstellung, die Welt könne eine andere sein, sieht Marcuse die Tatsache an, dass die »innere Freiheit« des Menschen – verstanden als »Raum, worin der Mensch er selbst werden und bleiben kann« – infolge von »Introjektionsprozessen« beschnitten worden ist. Die Individuen haben, so Marcuse, die von der Gesellschaft ausgehenden äußeren Kontrollen so verinnerlicht und »introjiziert«, d.h. das Äußere ins Innere, äußere Gegebenheiten in innere Anforderungen überführt. Der Verlust der inneren Dimension führe zur Identifikation mit der Gesellschaft als Ganzes und zur Paralyse von Kritik und Opposition.11 Ein circulus vitiosus, Teufelskreis, von Freiheit und Befreiung setze ein.

7

Herbert Marcuse, »Interview with L’Archibras« (geführt am 15 Dezember 1966, publiziert im Oktober 1967), in: Ders., Art and Liberation, Collected Papers of Herbert Marcuse, Vol. IV, hg. von Douglas Kellner, London/New York: Routledge 2007, 198–199, hier 199.

8

Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied: Luchterhand 1967, 61.

9

Ebd., 21.

10

Ebd., 29.

11

Ebd., 30.

Herbert Marcuse und die Freiheit

Denn der Verlust der inneren Dimension hebele die Macht der Negation, des Negativen, den Status quo transzendierenden Denkens aus und stelle den »Eckstein der Marxschen Theorie« in Frage: die Vorstellung, »daß die befreienden historischen Kräfte sich innerhalb der etablierten Gesellschaft entwickeln.«12 Auch Marcuses Lehrer Martin Heidegger spricht – von ganz anderen Voraussetzungen als Marx kommend – davon, dass in der modernen Gesellschaft der Mensch vom selbstbewussten Herrn der Schöpfung zum Arbeiter und Massenmenschen, zum bloßen Rohmaterial einer Technik degradiert werde, die auf Wachstum und nihilistische Selbstperpetuierung ziele. Das Ende der cartesianischen Subjektivität und Freiheit des Menschen führe zu seiner Heimatlosigkeit und Entfremdung unter der Hegemonie eines ideologischen Totalitarismus, der auf Beherrschung und Ausbeutung des Menschen und der Natur gerichtet sei.13 Doch Heideggers Fatalismus über das Sein des Menschen in der modernen Gesellschaft ist Marcuse fremd. Mit der Integration der einst negativen Kräfte und transzendierenden gesellschaftlichen Kräfte in das bestehende System wachsen, so seine These, auch neue »negative Freiheiten«. Neue Formen der Freiheit: So unterscheidet Marcuse 1964, dem Jahr, in dem das Buch The One-Dimensional Man in den USA erscheint, in einem Radiovortrag mit dem Titel »Freiheit: zu oder von«, ausgestrahlt vom Westdeutschen Rundfunk, drei Formen der Freiheit, die in der hochentwickelten Industriegesellschaft entstehen, aber »eingefangen« und »gehemmt« werden14 : »1. Freiheit von der Notwendigkeit, sein Leben zum Mittel des Existenzkampfes zu machen, d.h. Freiheit von der Notwendigkeit von Arbeit, in der das Individuum nicht seine menschlichen Fähigkeiten entfalten kann; 2. Freiheit von der Notwendigkeit, bloßes Objekt der Politik zu sein,

12

Ebd., 43.

13

Michael Allen Gillespie, »Martin Heidegger 1889–1976«, in: Leo Strauss/Joseph Cropsey (Hg.) History of Political Philosophy. 3rd ed. Chicago/London: University of Chicago Press 1987, 888–906, hier 897f.

14

Herbert Marcuse, »Freiheit: zu oder von«, in: Herbert Marcuse, Nachgelassene Schriften, Bd. 3: Philosophie und Psychoanalyse, hg. von Peter-Erwin Jansen, Lüneburg: zu Klampen 2002 [1964], 131–146, hier 132.

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die als Bereich der gesellschaftlichen Arbeitsteilung von Berufspolitikern gemacht wird; 3. Freiheit von der Notwendigkeit, einer Öffentlichkeit ausgesetzt zu sein, die als äußere Macht auch die innere Sphäre der privaten Existenz determiniert.«15 Marcuses Unterscheidung zwischen »Freiheit zu« und »Freiheit von« erinnert auf den ersten Blick an die Entgegensetzung von »negativer« und »positiver Freiheit«, die Isaiah Berlin in seiner Oxforder Antrittsvorlesung 1958 berühmt gemacht hat. Als negative Freiheit bezeichnete Berlin die Möglichkeit eines Menschen, unbehindert durch die Intervention Dritter nach seinen Vorstellungen handeln zu können. Den Begriff der positiven Freiheit deutete er als Selbstverwirklichung des Individuums.16 Auch für Marcuse ist Freiheit Selbstbestimmung, Autonomie. »Aber das Subjekt dieser Autonomie ist«, wie er schreibt, »niemals das zufällige, private Individuum als das, was es gegenwärtig oder zufällig gerade ist; vielmehr das Individuum als ein menschliches Wesen, das imstande ist, frei zu sein mit den anderen.« Und er folgert: das Problem, eine Harmonie zwischen individueller Freiheit und dem Anderen zu finden, bestehe »nicht darin, einen Kompromiß zwischen Konkurrenten zu finden oder zwischen Freiheit und Gesetz/./sondern darin, die Gesellschaft herbeizuführen, worin der Mensch nicht an Institutionen versklavt ist, welche die Selbstbestimmung von vornherein beeinträchtigen.«17 Eine solche Beeinträchtigung sieht Marcuse in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft gegeben. Korrespondieren die drei neuen Formen der Freiheit doch, so seine Analyse, mit Herrschaftsformen, deren Funktion darin bestehe, »den ersteren entgegenzukommen, ihnen zu antworten, aber so, daß sie dadurch dem Bereich der Herrschaft eingefügt werden.« Die Folge: Kräfte qualitativer Veränderung der bestehenden Lebensform werden zu Faktoren, die das Bestehende erweitern

15 16

Ebd., 133. Isaiah Berlin, Four Essays on Liberty, Oxford/New York: University Press 1969, 118–172. Vgl. auch Charles Taylor, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, 118–120.

17

Marcuse, Repressive Toleranz, in: Wolff, Moore, Marcuse: Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1965, 140.

Herbert Marcuse und die Freiheit

und verlängern, so dass statt Abbau von Herrschaft deren Verfestigung einsetzt.18 Die eindimensionale Gesellschaft integriere dergestalt jede wirkliche Opposition und verleibe sich alle wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Alternativen ein. »Ideen, Bestrebungen und Ziele, die ihrem Inhalt nach das bestehende Universum von Sprache und Handeln transzendieren« werden, so Marcuses These, »entweder abgewehrt oder zu Begriffen dieses Universums herabgesetzt.«19 Negation werde in Affirmation verwandelt oder abgedrängt.20 Circulus vitiosus: Wie lässt sich dieser »circulus vitiosus« durchbrechen und welche Rolle spielt die Freiheit dabei? Marcuses Vision am Ende von Der eindimensionale Mensch klingt pessimistisch. Die kritische Theorie besitze keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und der Zukunft überbrücken könnten. Sie verspreche nichts und könne keine Erfolge zeigen. Sie bleibe negativ, halte damit aber »jenen die Treue, die ohne Hoffnung ihr Leben der Großen Weigerung hingegeben haben und hingeben.«21 »Nur um der Hoffnungslosen willen«, zitiert er Walter Benjamin zum Schluss, »ist uns Hoffnung gegeben«. Da Hoffnung die conditio sine qua non der Möglichkeit und des Wirklichkeit-Werdens des Besseren ist, schließt Marcuse mit dem Appell, den Hoffnungslosen Hoffnung zu geben. Er stellt zugleich einen Begriff bereit, diesen auf Mitgefühl basierenden Appell in politische Praxis zu überführen: »die Große Weigerung«. Eingeführt zuvor an drei Stellen im Text, impliziert »die Große Weigerung – der Protest gegen das, was ist«22 , diejenigen zu unterstützen, die »außerhalb des demokratischen Prozesses« opponieren und »anfangen, sich zu weigern, das Spiel mitzuspielen«: In Der eindimensionale Mensch subsumiert er darunter die »Geächteten und Außenseiter: die Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die Arbeitslosen und die Arbeitsunfähigen.«23 Im Radiovortrag für den WDR führt er als Beispiele der »lebendigen Negation« des Systems »rassische und nationale Minderheiten, dauernd Arbeitslose und Arme« an.24 Ihr Leben 18

Ebd., 133.

19

Marcuse, Der eindimensionale Mensch, 32.

20

Marcuse, Freiheit: zu oder von, 138.

21

Marcuse, Der eindimensionale Mensch, 268.

22

Ebd., 83.

23

Ebd., 267.

24

Marcuse, Freiheit: zu oder von, 137.

137

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bedürfe »am unmittelbarsten und realsten die Abschaffung unerträglicher Verhältnisse und Institutionen«.25 Es sind diese Randgruppen, die er als revolutionär einstuft, auch wenn dies, wie er sieht, nicht ihrem Bewusstsein entspricht. Sie vermögen nicht, sich selbst zu befreien. Sie brauchen Verbündete. Einen potentiellen Verbündeten macht Marcuse in der Kunst fest: »Ob ritualisiert oder nicht, enthält die Kunst die Rationalität der Negation.«26 »Das ästhetische Universum ist die Lebenswelt, von der die Bedürfnisse und Fähigkeiten zur Freiheit abhängen«, schreibt er in Versuch über die Befreiung.27 Kunst wird zum Mittel der Befreiung der Möglichkeiten der Freiheit.

2. Kunst und Freiheit »Freiheit ist«, so Marcuses Ausgangspunkt, »selbst für die freieste der bestehenden Gesellschaften erst herzustellen.«28 Kunst vermittelt in diesem Prozess, so seine These, »eine Vorstellung von einer freieren Gesellschaft und von engeren menschlichen Beziehungen.«29 Freiheit geht, so seine Prämisse, in Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung nicht auf, sondern impliziert »die Bestimmung und Verwirklichung von Zielen/./, die das Leben auf der Erde erhöhen, schützen und befrieden. Und diese Autonomie würde sich nicht nur in der Produktionsweise und den Produktionsverhältnissen ausdrücken, sondern auch in den individuellen Beziehungen zwischen den Menschen, in ihrer Sprache und in ihrem Schweigen, in ihren Gebärden und Blicken, ihrer Sensitivität und ihrem Haß. Das Schöne wäre eine wesentliche Qualität ihrer Freiheit.«30 Ästhetische Erfahrung kann, so Marcuse, individuelle Befreiung sowie die Schaffung einer nicht-repressiven Gesellschaft und Kultur beför-

25

Marcuse, Der eindimensionale Mensch, 267.

26

Ebd., 83.

27

Marcuse, Versuch über die Befreiung, 53.

28

Herbers Marcuse, Repressive Toleranz, 140.

29

Herbert Marcuse im Gespräch mit Richard Kearney, »The Philosophy of Art and Politics«, in: Ders., Art and Liberation, 225–236, hier 226.

30

Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008 [1969], 73.

Herbert Marcuse und die Freiheit

dern, Kunst zur Quelle der Re-Imagination der Gesellschaft werden.31 Drei Argumente für die Verbindung von Kunst und Freiheit führt er immer wieder an. Er setzt dabei vor allem auf die »erkennende Kraft« (Jung) und subversive Macht der Phantasie als eine das Realitätsprinzip verneinende »Denktätigkeit« (Freud).32 Bewusstseinsbildung: Als Mittlerin zwischen Intellekt und Sinnen (Kant) falle es der Phantasie zu, so argumentiert Marcuse unter Berufung auf Sigmund Freud und C.G. Jung, »eine Verbindung zwischen den tiefsten Schichten des Unterbewußten und den höchsten des Bewußtseins herbeizuführen.«33 So schlage die Phantasie »die Brücke/./zwischen den unvereinbaren Ansprüchen von Objekt und Subjekt, von Extroversion und Introversion« und finde ihre Funktion in der »Weigerung, die vom Realitätsprinzip verhängten Beschränkungen des Glücks und der Freiheit als endgültig hinzunehmen« sowie »in ihrer Weigerung zu vergessen, was sein könnte«. Die Phantasie blicke »nicht nur zurück nach einer urtümlichen goldenen Vergangenheit, sondern auch vorwärts auf alle noch unrealisierten aber realisierbaren Möglichkeiten.«34 Die Symbolfigur des Surrealismus, André Breton, mit den Worten zitierend »La seule imagination me rend compte de ce qui peut être«, schreibt Marcuse »den Formen der Freiheit und des Glücks«, die die Phantasie aufruft, den »Anspruch« zu, »historische Wirklichkeit zu werden«.35 Es gehört, aus seiner Perspektive, zum Wesen der Kunst, »das Unmögliche als wirklich erscheinen zu lassen.«36 Antizipation des Noch-Nicht-Realisierten: Kunst enthält, so Marcuse, die Spannung zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen. Kunst ist ein Träger von Freiheit.37 Kunst schafft einen Raum außerhalb des Be-

31

Vgl. dazu Malcom Miles, Herbert Marcuse. An Aesthetics of Liberation, London: Pluto Press 2012, 4; Douglas Kellner, Introduction, in: Ders. (Hg.) Art and Liberation. Collected Papers of Herbert Marcuse, Vol. 4, London: Routledge 2007, 1–70.

32

Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984 [1957], 140f.

33

Ebd.,140, 147.

34

Ebd., 147–148.

35

Ebd., 148.

36

Marcuse, »Kunst und Befreiung«, 136.

37

Douglas Kellner, Introduction, in: Ders. (Hg.) Art and Liberation. Collected Papers of Herbert Marcuse, Vol. 4, London: Routledge 2007, 1–70, hier 28. Vgl. auch

139

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stehenden, von dem aus das Bestehende in einem anderen Licht gesehen in anderen Begriffen erfasst werden kann.38 Sie zeigt Möglichkeiten auf, die Gesellschaft neu zu denken und zu bauen. »Um in der Gegenwart das noch nicht Gegenwärtige als Ziel festzuhalten«, schreibt Marcuse 1937, »bedarf es der Phantasie«. Diese wesentliche Verbindung von Phantasie und Philosophie gehe »schon aus der Funktion hervor, welche ihr unter dem Titel ›Einbildungskraft‹ von den Philosophen zugewiesen« worden sei, insbesondere von Aristoteles und Kant.39 Kunst beinhalte die Notwendigkeit, sich an das zu erinnern, was auch unter extremen Bedingungen überlebt: Die Notwendigkeit, Imaginationen des möglichen ›Anderen‹ zu schaffen und zwar – gemäß den Surrealisten – in der Sprache und in den Bildern. Damit höre sie auf (bloße) Imagination zu sein; sie schaffe eine neue Welt. Die Kraft des Wissens, des Sehens, des Hörens – in der Realität begrenzt, verfälscht, verdrängt – werde in der Kunst zur Kraft der Wahrheit und der Befreiung. Kunst gewinne dadurch ihre antagonistische Funktion zurück. Zwar sei sie als Produkt der Imagination (bloßer) Schein, aber die mögliche Wahrheit und kommende Wirklichkeit träten im Schein auf und versetzten die Kunst in die Lage, die falsche Realität des Status quo zu erschüttern.40 Indem sie Veränderungen des herrschenden Bewusstseins bewirkt, kann Kunst, so Marcuse, »zu einer Waffe im Klassenkampf werden«41 und damit einen der ältesten Träume radikaler Theorie und Praxis einlösen: »…that the creative imagination, and not only the rationality of the performance principle, would become a productive force applied to

Herbert Marcuse, »Kunst und Politik im totalitären Zeitalter. Einige Bemerkungen zu Aragon«, in: Ders., Kunst und Befreiung. Nachgelassenen Schriften, Bd. 2, hg. von Peter-Erwin Jansen, Lüneburg: zu Klampen 2000, 47–70. 38

Herbert Marcuse, »Bemerkungen zu einer Neubestimmung der Kultur«, in: Ders., Kultur und Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt: Suhrkamp 1965, 147–171, hier 154.

39

Herbert Marcuse, »Philosophie und Kritische Theorie«, in: Ders., Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1965, 102–127, hier 122.

40

Herbert Marcuse, »Society as a Work of Art«, in: Marcuse, Art and Liberation, London/New York: Routledge, 123–129, hier 125. Vgl. auch Miles, 57.

41

Herbert Marcuse, Konterrevolution und Revolution, in: Herbert Marcuse, Schriften 9: Konterrevolution und Revolution, Zeit-Messungen, Die Permanenz der Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987 [1972], 81–123, hier 121.

Herbert Marcuse und die Freiheit

the transformation of the social and natural universe/./an ›aesthetic‹ reality – society as a work of art.«42 Daraus folgt: Durch Konfrontation des Wirklichen mit dem Möglichen sowie Antizipation des Noch-Nicht-Realisierten (Bloch) ist Kunst in der Lage das eindimensionale Denken in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft aufzuheben. Sie stellt für Marcuse daher 1967 »die radikalste Möglichkeit der Befreiung« dar.43 Wie setzt sich die Möglichkeit der Befreiung in Handeln mit dem Ziel der Veränderung der Gesellschaft um? Subversion der Erfahrung: Die Erschütterung der das Bestehende reproduzierenden Erfahrung oder die Erfahrung einer anderen (als potentiell gegebenen) Wirklichkeit sind für Marcuse conditio sine qua non der »Befreiung in den Individuen«. Die Subversion der Erfahrung ist eine wesentliche Qualität der Kunst.44 Doch wie kommt es zum Bruch mit der Anpassung an die soziale Repression? »Die subversive Qualität der Kunst liegt«, so Marcuse, »in ihrer Kraft, die verdinglichte und fetischisierte Welt zu durchbrechen, und diesen Durchbruch zur (sinnlichen) Erfahrung zu machen.«45 Die Erfahrung der »Wirklichkeit als zu verändernder« setzt, so seine These, die Veränderung der Organe der Erfahrung voraus: eine »neue Weise der Wahrnehmung, neue Sinnlichkeit, Befreiung der Imagination als erkennenden Vermögens, Befreiung der Vernunft von der Zweckrationalität der Herrschaft und Submission: neue ›Qualität des Lebens‹.«46 Ansätze dazu glaubt er in der amerikanischen Gegenkultur zu entdecken, bevor er sich in seinen Annahmen und Thesen durch die Mai-Bewegung in Frankreich47 bestätigt sieht. Für beide gilt, so seine These: 42

Herbert Marcuse, »Liberation from the Affluent Society« (Vortrag, London 1967): unter: https://www.marcuse.org/herbert/pubs/60spubs/67dialecticlib/6 7LibFromAfflSociety.htm (letzter Zugriff, 1. Juli 2021)

43

Ebd.

44

Herbert Marcuse, »Kunst und Befreiung«, in: Ders., Nachgelassene Schriften, Bd. 2: Kunst und Befreiung, hg. von Peter-Erwin Jansen, Lüneburg: zu Klampen 2000 [1974], 129–150, hier 132; Herbert Marcuse, Die Permanenz der Kunst, in: Herbert Marcuse, Schriften, Bd. IX, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987 [1977], 191–243, hier 201.

45

Ebd., 132.

46

Ebd.

47

Vgl. dazu Ingrid Gilcher-Holtey, Le moment critique, in: Revue française d’éthique appliquée, 2021/1, 11(1), 61–77.

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Ingrid Gilcher-Holtey

»Die heutigen Rebellen wollen neue Dinge in einer neuen Weise sehen, hören und fühlen; sie verbinden Befreiung mit dem Auflösen der gewöhnlichen und geregelten Art des Wahrnehmens.«48 Eine »neue Sensibilität« – verstanden als »Reizbarkeit gegenüber Herrschaft«, als »anti-repressive Sensibilität« sowie »Negation des gesamten Establishments, seiner Moral, seiner Kultur«49 – zeichne die Rebellen aus.50 Diese neue Sensibilität fördere »das vitale Bedürfnis nach Abschaffung von Ungerechtigkeit und Not«51 und aktiviere »die humane Sinnlichkeit« – mithin »compassion/Mitgefühl« – gegen das »Diktat der repressiven Vernunft«.52 Marcuse sieht in der Freisetzung nicht-aggressiver, sensitiver, erotischer, ästhetischer Energien ein triebpsychologisches Fundament für Solidarität in der Gesellschaft entstehen – »Solidarität, die gemäß den Erfordernissen der Klassengesellschaft wirksam unterdrückt wurde, nunmehr aber als Vorbedingung von Befreiung erscheint.«53 Zweifel an dieser These weist er in einem Spiegel-Gespräch kategorisch zurück. »SPIEGEL: Wollen Sie sagen, daß eine Revolution nicht aus ökonomischen Krisen entsteht, sondern durch Bewußtseinsveränderung, also eine Art Kulturrevolution? Ist das nicht unmarxistisch gedacht? MARCUSE: Dieser Vorwurf ignoriert vollkommen den inneren Zusammenhang, der zwischen den philosophischen Begriffen des jungen Marx und seiner späteren ökonomischen Theorie besteht. Ich glaube, man kann seinen Begriff des Sozialismus überhaupt nicht verstehen, wenn man nicht sieht, daß durch die Revolution der Mensch bis in seine sinnlich-physiologische Konstitution hinein befreit werden soll. Wenn die notwendige Veränderung der Produktionsverhältnisse und der Produktionsweise, die eine Grundbedingung bleibt, nicht von solchen neuen Menschen getragen und durchgeführt wird, dann tritt 48

Marcuse, Versuch über die Befreiung, 61.

49

Ebd.,130-131.

50

Ebd., 43.

51

Ebd., 43.

52

Ebd., 52.

53

Ebd., 25. Marcuse verwendet den Begriff »ästhetisch« in diesem Kontext im ursprünglichen Sinn, als Form der Sensitivität der Sinne und als Form der Lebenswelt.

Herbert Marcuse und die Freiheit

genau das ein, was Marx einmal mit dem Ausdruck bezeichnet hat: Dann fängt die alte Scheiße von vorne an././ SPIEGEL: Sehen Sie Ansätze dieses neuen Menschen und dieser neuen Bedürfnisse in der Protestbewegung? MARCUSE: Ja, ich sehe Ansätze darin ./…/Es scheint mir kein Zufall, daß es bei zwei repräsentativen Demonstrationen der Studentenbewegung in den Vereinigten Staaten, die mit der gewalttätigsten Reaktion beantwortet worden sind, jeweils um einen Park ging. nämlich im vorigen Jahr in der Columbia-Universität und im Mai dieses Jahres in Berkeley. Wir sollten uns schließlich daran gewöhnen, daß wir uns mit einem, allerdings für die alte Linke beinahe unvorstellbaren Gedanken auseinanderzusetzen haben, nämlich daß die Revolution, wenn überhaupt, in den technisch fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern aller Wahrscheinlichkeit nach nicht aus der Misere und der Verarmung kommen wird, sondern, das ist jetzt sehr schwer zu formulieren, woraus? SPIEGEL: Aus der Überflußgesellschaft? MARCUSE: … aus einem unerträglichen Ekel an der Art und Weise, wie die sogenannte Konsumgesellschaft den gesellschaftlichen Reichtum mißbraucht und verschleudert, während sie außerhalb der Metropolen das Elend und die Unterdrückung intensiv weiterbetreibt. Ein solcher Ekel ist kein psychologischer Faktor, sondern eine radikale politische Reaktion, die ihrer eigenen Kraft nach zur Weigerung und dann zur Rebellion tendiert.«54 Damit die »neue Sensibilität« einen Umbau der Gesellschaft entwerfen und lenken kann, sieht er eine »neue Sprache (Sprache in einem weiteren Sinn, der Wörter, Bilder, Gesten und Töne einbezieht)« als conditio sine qua non der Transformation an.55 Ansätze einer neuen Sprache entdeckt er in den Redeweisen der black militants, in ihren Graffiti sowie in Slogans

54

»Revolution aus Ekel«, in: Der Spiegel vom 27. Juli 1969, unter: https://www.spiegel.de/kultur/revolution-aus-ekel-a-71423f09-0002-0001-0000-000045789139 (letzter Zugriff, 1. Juli 2021).

55

Marcuse, Versuch über die Befreiung, 55.

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Ingrid Gilcher-Holtey

wie »black is beautiful«, »neue Subjekte« in der »kritischen Intelligenz« und in der Gegenkultur.

3. Reich der Freiheit Wenn der Aufbau einer solidarischen Gesellschaft einen Menschentyp voraussetzt, der sowohl eine andere Sensibilität als auch ein anderes Bewusstsein besitzt, hat das Folgen für die Transformationsstrategie und das Bild der anzustrebenden Zukunftsgesellschaft. Marcuse grenzt sich von der Vision des 28-jährigen Marx ab, der der »klassenlosen Gesellschaft« zuschrieb, jedem einzelnen zu ermöglichen, ›heute dies, morgen jenes zu tun‹, »frei zwischen Fischen, Jagen und Kritisieren zu wählen.« Marx’ Antizipation der Formen der Freiheit des befreiten Menschen enthalte einen »spaßig-ironischen Unterton, was auf die Unmöglichkeit hindeute, die Formen zu antizipieren, in der befreite Menschen ihre Freiheit gebrauchen werden.« Aber auch grundsätzlich sei seine Trennung zwischen »Reich der Notwendigkeit« (gesellschaftlich notwendige Arbeit) und »Reich der Freiheit« (Muße) zu hinterfragen. Es gebe die Möglichkeit der »Freiheit innerhalb des Reichs der Notwendigkeit.«56 Einbruch der Freiheit in das Reich der Notwendigkeit: Es sei möglich, wie von Charles Fourier und den Surrealisten vorausgedacht, den Produktionsprozess in einen Schöpfungsprozess, Arbeit in Spiel zu überführen.57 Utopisch sei das nicht. Die Produktivkräfte seien »materiell wie intellektuell« vorhanden, um »die Abschaffung der Armut und des Elends«, die »Abschaffung entfremdeter Arbeit« und der »surplus repression« (Überschuss an Unterdrückung) möglich zu machen. Kaum ein »ernstzunehmender Wissenschaftler oder Forscher« vermöge dies zu leugnen58 und die Mai-Bewegung in Frankreich habe es vorgemacht.59 Die anarchistische Transformationsstrategie in Erinnerung rufend, vertritt Marcuse die Maxime: »Wenn die sozialistischen Produktionsverhältnisse eine 56

Ebd., 39, 40.

57

Ebd., 39–41.

58

Herbert Marcuse, Das Ende der Utopie. Vorträge und Diskussionen in Berlin 1967, Frankfurt a.M.: Neue Kritik,1980, 4. Vgl. auch Ingrid Gilcher-Holtey, Les formes changeantes de l’utopie de Thomas More à Jürgen Habermas, in: Diogène. Revue internationale des sciences humaines, 2021, Nr. 273–274, 64–85.

59

Marcuse, Versuch über die Befreiung, 41.

Herbert Marcuse und die Freiheit

neue Lebensweise sein« sollen, dann müsse »sich ihre existentielle Qualität – antizipierend und demonstrierend – im Kampf um ihre Verwirklichung offenbaren.«60 Das hat Folgen für die Definition und die Form der Revolution. Evolution der Revolution: Die Ereignisse im Mai 1968 in Paris, die er als Augenzeuge erlebt, bestärken Marcuse in der Auffassung, »daß die traditionelle Revolutionsidee und die traditionellen Revolutionsstrategien tot sind,/./durch die Entwicklung unserer Gesellschaft schlicht überholt.«61 Die 68er-Bewegung habe, das zeigt sich für ihn klar, mit der Orientierung »an einem Begriff von Revolution/./als Machtübernahme im Verlauf einer Massenerhebung, geführt von einer revolutionären Partei« gebrochen. Er folgert: »die Revolution muß gleichzeitig eine Revolution der Wahrnehmung sein, welche den materiellen und geistigen Umbau der Gesellschaft begleitet und die neue Umwelt hervorbringt.«62 Marcuses Revolutionsbegriff akzentuiert den »subjektiven Faktor.« Die Umwandlung der gesellschaftlichen Zustände setzt, so seine These, ein neues Subjekt sowie die experimentelle Erprobung alternativer Kulturwerte in der Gegenwart voraus. Seine Transformationskonzeption holt die Zukunft in die Gegenwart, lenkt das Augenmerk auf die Antizipation und Erprobung solidarischer Zusammenarbeit. Marcuse grenzt damit die »Möglichkeit der Freiheit im Reich der Notwendigkeit« zugleich vom bürgerlichen Idealismus ab, der, aus seiner Sicht, das »Reich der Freiheit« letztlich »in der Innerlichkeit« gesucht, gefunden und »zur Unwirklichkeit« verdammt hat.63

4. Freiheiten in der bürgerlichen Demokratie Handlungsanleitungen für den politischen Kampf – gestützt auf seine Revision der Begriffe Revolution und Reich der Freiheit – gibt Marcuse nicht. Dem Aktionismus studentischer Gruppen tritt er mit Kritik entgegen. Aktionen wie diejenige von Mitgliedern der Kommune I, die am 13. Mai 1968 das Holzwappen der FU von der Stirnwand des Audimax abrissen, vor der Tür zertrampelten und die Inschrift »Veritas, Justitia, 60

Ebd., 130.

61

Ebd., 99.

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Ebd., 61.

63

Marcuse, Konterrevolution und Revolte, 89.

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Ingrid Gilcher-Holtey

Libertas« in Brand setzten, lehnt er ab. Seinen Studenten in San Diego erklärt er: »Ich habe immer die Position vertreten, dass die Universitäten in diesen Ländern immer noch Freiräume für eine relative – und nicht nur relative – Denk- und Ausdrucksfreiheit sind. Daß es immer noch massenhaft Raum und Gelegenheit gibt, Dinge zu lernen, die für das, was sich heute abspielt, von Bedeutung sind. Und daß die Universität zwar eine radikale Reform braucht, daß die radikale Reform aber in der Universität selbst durchgeführt werden sollte und nicht die Form ihrer Zerstörung annehmen sollte.«64 Im Interview mit dem Spiegel 1969, angesprochen auf die Zerstörung der Universität, argumentiert er noch grundsätzlicher: »Ich habe mehrmals das Ziel der Destruktion der Universität abgelehnt. Es ist wieder eines der Beispiele, wo eine Institution der bürgerlichen Kultur benutzt werden kann, um eine radikale Veränderung des Denkens und sogar der Praxis vorzubereiten. Soviel ich weiß, war es Noam Chomsky, der gesagt hat, nach der Logik der absoluten Destruktion hätte Marx das Britische Museum anzünden sollen, anstatt in ihm zu arbeiten.«65 Dennoch gerät er über die Proteste in der Universität mit Theodor W. Adorno in einen Konflikt, der grundsätzliche Differenzen zwischen beiden hinsichtlich der Bedeutung von ›Freiheiten in der bürgerlichen Demokratie‹ zeigt. Hintergrund bildet der »Aktive Streik« an der Universität Frankfurt unter dem Motto »Die Universität gehört uns« – »Nehmt euch die Freiheit der Wissenschaft – entdeckt, was ihr wollt!«, der seit Dezember 1968 zur Besetzung von Seminarräumen des Instituts für Sozialforschung geführt hat. Als die Studenten auch den Hauptsitz okkupieren wollen, veranlasst Adorno einen Einsatz der Polizei. Marcuse argumentiert gegen diese Handlung des Institutsdirektors und so entsteht ein brieflich ausgetragener Dialog, in dem die Freiheiten in der bürgerlichen Demokratie eine zentrale Rolle spielen. MARCUSE: »Brutal: wenn die Alternative ist: Polizei oder Studenten. Ausnahme nämlich, wenn mein Leben bedroht ist oder wenn mit Ge-

64

Marcuse, »Die Pariser Revolte«, 101.

65

Marcuse, »Revolution aus Ekel«.

Herbert Marcuse und die Freiheit

walt gegen meine Person oder meine Freunde gedroht wird und die Drohung ernst ist. Besetzung von Räumen (außerhalb meiner Wohnung) ohne solche Gewaltandrohung ist für mich noch kein Grund, die Polizei zu rufen. Ich hätte sie dort sitzen lassen und es jemand anderem überlassen, die Polizei einzuladen. Ich glaube immer noch, dass unsere Sache (die ja nicht nur unsere ist) bei den Studenten besser aufgehoben ist als bei der Polizei.« /./Wir können die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß diese Studenten von uns (und sicher nicht am wenigsten von Dir) beeinflußt sind/./Und die Mittel, die sie anwenden, um die Theorie in Aktion umzusetzen??? Wir wissen (und sie wissen), daß die Situation nicht revolutionär ist, nicht einmal eine vor-revolutionäre. Aber dieselbe Situation ist so grauenhaft, so erstickend und erniedrigend, daß die Rebellion gegen sie zu einer biologischen physiologischen Reaktion zwingt: man kann es nicht mehr ertragen, man erstickt und muß sich Luft machen. Und diese Luft/…/ist die Luft, die wir (wenigstens ich) einmal atmen möchten. Ich diskutiere mit den Studenten, ich beschimpfe sie, wenn sie nach meiner Ansicht stupide sind und den Anderen in die Hände spielen, aber ich würde wahrscheinlich nicht die schlechteren, scheußlichen Waffen gegen ihre schlechten zur Hilfe rufen. Und ich würde an mir (an uns) verzweifeln, wenn ich (wir) auf der Seite einer Welt erscheinen würden, die den Massenmord in Vietnam unterstützt oder zu ihm schweigt und die alle Bereiche außer dem Bereich ihrer eigenen unterdrückenden Macht zur Hölle verwandelt.«66 ADORNO: »Das Stärkste, was Du anzuführen hast, ist, die Situation sei so grauenhaft, dass man versuchen müsse auszubrechen, auch wenn man die objektive Unmöglichkeit erkenne. Ich nehme das Argument schwer. Aber ich halte es für falsch. Wir, Du nicht anders als ich, haben seinerzeit eine noch viel schauerlichere Situation, die Ermordung der Juden, (mit der Entfernung) ertragen, ohne daß wir zur Praxis übergegangen wären; einfach deshalb, weil sie uns versperrt war. Ich halte es für eine Sache der Selbstbestimmung, daß man sich 66

Herbert Marcuse and Theodor W. Adorno, Brief vom 5. April 1969, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 18: Briefwechsel 1949–1973, Frankfurt: Fischer 1996, 718–720, hier 718,

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Ingrid Gilcher-Holtey

über das Moment der Kälte in einem selbst klar ist. Schroff gesagt: daß Du wegen der Dinge in Vietnam oder Biafra einfach nicht mehr leben könntest, ohne bei den studentischen Aktionen mitzumachen, betrachte ich als eine Selbsttäuschung.«67 MARCUSE: »Du schreibst, zur Einführung Deines Begriffs der ›Kälte‹, daß wir seinerzeit ja auch die Ermordung der Juden ertragen hätten, ohne zur Praxis überzugehen, ›einfach deshalb, weil sie uns versperrt war‹. Ja, und genau heute ist sie uns nicht versperrt. Der Unterschied in der Situation ist der zwischen Faschismus und bürgerlicher Demokratie. Diese gibt uns Freiheiten und Rechte. Aber in dem Grade, in dem die bürgerliche Demokratie (auf Grund ihrer immanenten Antinomik) sich gegen die qualitativen Veränderungen absperrt, und dies durch den parlamentarisch-demokratischen Prozeß selbst, wird die außer-parlamentarische Opposition zur einzigen Form der ›contestation‹: ›civil disobedience‹, direkte Aktion. Und auch die Formen dieser Aktion folgen nicht mehr dem traditionellen Schema. Vieles an ihnen verurteilte ich wie Du, aber ich finde mich damit ab und verteidige sie den Gegnern gegenüber.«68 Kein Zweifel, Freiheiten in der bürgerlichen Demokratie, davon ist Marcuse überzeugt, sind wichtig. Sein Gedankenaustausch mit Adorno zeigt exemplarisch zugleich, wie sich sein Eintreten für Freiheitsrechte mit Mitgefühl für die sozial Schwächeren verknüpft und den Unterschied in den Stellungnahmen beider Repräsentanten der Frankfurter Schule ausmacht.

5. Freiheit und Befreiung der Natur Last but not least, sieht Marcuse in der Natur einen »Verbündeten im Kampf gegen die ausbeuterischen Gesellschaften, in denen die Vergewaltigung der Natur die Vergewaltigung des Menschen verschärft«. Sein Credo lautet: »Befreiung der Natur als Mittel der Befreiung des Menschen«. Er sieht die Natur einer »spezifischen Rationalität unterworfen,

67

Zit. in den Anmerkungen eines Briefes von Herbert Marcuse an Theodor W. Adorno vom 4.5.1969, ebd., 732–735, hier 734 Anm. 5.

68

Ebd., 733–734.

Herbert Marcuse und die Freiheit

die sich in stets wachsendem Maß zu einer auf die Erfordernisse des Kapitalismus zugeschnittenen technologischen, instrumentalistischen Rationalität entwickelt hat.«69 Die immer wirksamer kontrollierte Natur sei dergestalt »zu einer weiteren Dimension der Kontrolle des Menschen geworden, zum verlängerten Arm der Gesellschaft und ihrer Macht«. Sie nehme dem Menschen die Möglichkeit, sich in der Natur wiederzufinden. Marcuse plädiert daher dafür, die Natur nicht länger (wie auch im Marxismus üblich) als Objekt, sondern als ein »Subjekt eigenen Rechts« anzuerkennen, mit dem der Mensch »in einem gemeinsamen menschlichen Universum lebt«.70 Natur sei nicht nur Produktivkraft, sondern bestehe auch »um ihrer selbst willen«, und – in dieser Daseinsweise – für den Menschen.« Er setzt der kapitalistischen Ausbeutung der Natur die »menschliche Aneignung der Natur« entgegen, verstanden als »gewaltlos, nicht zerstörerisch«, »orientiert an den der Natur innewohnenden lebenssteigernden, sinnlichen, ästhetischen Kräften.«71 Das Naturschöne könne nur durch den Menschen freigesetzt werden, der damit zugleich sein eigenes menschliches Potential entfalte. Seine Maxime lautet daher: »auch die Natur wartet auf die Revolution.«72 Wie soll sie herbeigeführt werden? Hat Marcuse in seinem Vortrag »Das Ende der Utopie« im Juni 1967, auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung, noch von einer »Wiederherstellung der Natur nach der Beseitigung der Schrecken der kapitalistischen Industrialisierung« gesprochen, so sieht er zu Beginn der 1970er Jahre ein »Bindeglied zwischen der Befreiung des Menschen und der Natur« bereits in der Gegenwartsgesellschaft hervortreten in ökologischen Vorstößen der radikalen Bewegung gegen Luft- und Wasserverschmutzung sowie die kommerzielle Beschlagnahmung von Naturgebieten. Er sieht in der sich formierenden Ökologiebewegung eine neue, radikale Kraft. Zugleich sieht er Probleme und Grenzen der Anerkennung der Natur als »Subjekt eigenen Rechts« und der »menschlichen Aneignung der Natur«. Sich zur Natur »um ihrer selbst« zu verhalten, schließe konsequenterweise die Verspeisung von Tieren und Pflanzen zur Reproduktion des Menschengeschlechts aus, so dass

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Marcuse, Konterrevolution und Revolte, 63.

70

Ebd., 64.

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Ebd., 70.

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Ebd., 77.

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universeller Vegetarismus und/oder synthetische Naturmittel folgerichtige und notwendige Wege markierten. Angesichts des »Leids, das Menschen von Menschen zugefügt« werde, erscheine dies jedoch »unverantwortlich ›verfrüht‹«. So habe in der gegenwärtigen Welt, wie er 1972 schreibt, »menschliche Solidarität unter den Menschen unbedingten Vorrang«.73 »Und doch«, fügt er hinzu, sei »keine freie Gesellschaft vorstellbar, zu deren ›regulativer Idee der Vernunft‹, nicht der gemeinsame Versuch gehörte, die Leiden, welche die Menschen den Tieren zufügen, folgerichtig zu verringern.«74 Das Verhältnis von Natur und Freiheit wurde, so Marcuse 1972, in der Gesellschaftstheorie und auch im Marxismus selten explizit betrachtet. Die Befreiung der Natur verweise auf »neue Qualitäten der Freiheit«.75 Um seine Reflexionen zu verorten, führt er zum einen die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte des jungen Marx an, die die »vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften« betonen. »Emanzipation der Sinne« impliziere, »daß diese beim Umbau der Gesellschaft praktisch werden, neue (sozialistische) Beziehungen zwischen den Menschen, zwischen Mensch und Dingen, zwischen Mensch und Natur herstellen.«76 Er folgert daraus: »Die Emanzipation der Sinne würde Freiheit zu dem machen, was sie noch nicht ist: zu einem sinnlichen Bedürfnis, einem Ziel der Lebenstriebe (Eros).77 Zum anderen ordnet er »Natur als Subjekt« in die »Ästhetik der Befreiung, Schönheit als Form der Freiheit« ein, eine, wie er mutmaßt, anthropomorphisierende, idealistische Vorstellung, vor der Marx vermutlich »zurückgeschreckt wäre«.78 Er schreibt der »Natur als Subjekt« zu, mit Kants Gedanken einer »Zweckmäßigkeit ohne Zwecke« bestimmbar zu sein und er sieht »das Naturschöne« als »Korrelat (oder besser: Desiderat) des Kunstschönen an«. Marcuse argumentiert: »Daß die Idee des Schönen ebenso für die Natur wie für die Kunst gilt, ist keine bloße Analogie oder eine der Natur auferlegte menschliche Vorstellung – sie beruht auf der Einsicht, daß die ästhetische Form,

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Ebd., 72.

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Ebd., 72.

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Ebd., 64–65.

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Ebd., 74.

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Herbert Marcuse und die Freiheit

als Zeichen der Freiheit, eine Daseinsweise (oder ein Moment?) des menschlichen wie des natürlichen Universums ist, eine objektive Qualität.«79 In der ästhetischen Dimension der Freiheit, die Gewalttätigkeit, Grausamkeit und Brutalität zwischen Menschen und im Verhältnis von Mensch und Natur verwirft, sieht Marcuse eine »Erweiterung der materialistischen Basis« der Transformation der Gesellschaft.80 Zu bedenken sei, dass sich die Natur auch bei »menschlicher Aneignung« feindlich gegenüber dem Menschen verhalten könne. »In diesem Fall wäre nicht Aneignung, sondern ihre Negation das nicht-ausbeuterische Verhältnis: In Ruhe lassen, Anerkennung, Hingabe.«81

Schlussbemerkung In der Freiheitsbewegung der Frauen (Women’s Liberation Movement) sieht Marcuse eine radikale Kraft, insofern sie sich nicht nur für eine Gleichstellung innerhalb der Arbeits- und Wertstruktur der bestehenden Gesellschaft, sondern für eine Veränderung der Struktur selbst einsetzt.82 »Es gibt«, so seine These, »keine individuelle ohne kollektive Befreiung, aber gleichzeitig impliziert die gesellschaftliche Befreiung die Befreiung jedes Individuums.«83 Von der Freiheitsbewegung der Frauen erhofft Marcuse eine »›Verweiblichung‹ des Männlichen, die Schwächung primärer Aggressivität.«84 1974 hält er an der Stanford University einen Vortrag über »Marxism and Feminism«, über den seine Doktorandin Angela Davis 2019 schreibt: »His reference to ›feminist movement‹ … predicted the important influence of anti-capitalist and anti-racist feminism on many contemporary movements including prison abolition, campaigns against police violence and justice for

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Ebd., 70.

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Ebd., 71, 74.

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Ebd., 72.

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Ebd., 78.

83

Herbert Marcuse, Kapitalismus und Opposition. Vorlesungen zum eindimensionalen Menschen, Paris Vincennes 1994, hg. von Lisa Doppler, Pater Erwin Jansen und Alexander Neupert-Doppler, Lüneburg: zu Klampen 2017, 122.

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Marcuse, Konterrevolution und Revolte, 78.

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people with disabilities.«85 Aufmerksam verfolgt er während der 1970er Jahre auch andere neue soziale Bewegungen – auf der permanenten Suche nach Opposition, Widerspruch gegen die bestehende Gesellschaft. Auf dem Campus der Universität von San Diego ist er auch nach seiner erzwungenen Entlassung präsent. Er gibt private Seminare und führt Gespräche mit den Studierenden. Seine Tür ist immer offen.86 1979 nimmt er eine Einladung von Jürgen Habermas an das MaxPlanck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg an. Dem zeitgleich eingeladenen französischen Historiker Jean Marabini erklärt er, dass er gern Venedig und Padua wiedersehen würde. »But I have in spite of myself some fear that I would die in Venice of the heat, like the character in Thomas Mann. If I must go, I would rather stay in my Germany … I believe that the hour of my final rendez-vous with death has arrived, but I am reconciled to it.«87 Herbert Marcuse stirbt am 29. Juli 1979 in Starnberg. Auf seinem Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin steht die Maxime, die er, wie sein Sohn Peter überliefert, immer wieder Gesprächspartnern mitgab: »Weitermachen«.

85

Angela Davis, Foreword zu Paul Buhle, Andrew T. Lamas (Hg.), Herbert Marcuse. Philosopher of Utopia. A Graphic Biography, gezeichnet von Nick Thorkelson, San Francisco: City Light Books 2019, V-VI, hier VI. Vgl. Zum Einfluß auf die neuen sozialen Bewegungen auch Andrew T. Lamas, Todd Wolfson, Peter N. Funke, The Great Refusal. Herbert Marcuse and Contemporary Social Movement, Philadelphia, Rome, Tokyo: Temple University Press 2017.

86

»Herbert’s Hippopotamus: Marcuse and Revolution in Paradise«, unter: https:

87

Barry Katz, Herbert Marcuse. Art of Liberation. An intellectual Biography, Lon-

//www.youtube.com/watch?v=gbzhmMDFcFQ don: Verso 1982, 214.

Karl Poppers offenes liberales Kulturkonzept Daniel Brühlmeier

Einführung Popper in einem Sammelband über Kulturkritik? Das scheint auf den ersten Blick etwas gewöhnungsbedürftig. Sein Oeuvre beschlägt zuerst einmal und immer wieder die Wissenschafts- und Erkenntnistheorie: (Logik der) Forschung, (Vermutungen und) Widerlegung(en), (Objektive) Erkenntnis. Dann natürlich die politische und Gesellschaftstheorie: (Elend des) Historizismus, (Offene) Gesellschaft (und ihre Feinde). Spät auch noch, gewissermaßen das Medium, (Das Ich und sein) Gehirn, dies auch mit der biographischen Einordnung und intellektuellen Begründung als unendliche Suche. Immerhin ist Kritik ein durchgehender, fundamentaler roter Faden durch sein Werk, und Popper wird auch noch einige grundsätzliche Erwägungen zu (Kultur-)Kritik überhaupt beisteuern. Dass Popper schließlich eine für das 20. Jahrhundert zentrale Spielart des Liberalismus im Namen der Freiheit vertritt, steht dann außer Frage. Hier sollen diese Stränge zusammengeführt und, ausgehend vom Konzept der »offenen Gesellschaft« und diese vertiefend, Popper als liberaler Kulturkritiker ausgewiesen werden.

1. Von der Logik der Forschung zur Offenen Gesellschaft Die Grundlage für den Kritischen Rationalismus und das Kritische Denken von Poppers Wissenschaftstheorie liegt in seinem ersten großen, 1934 erschienenen wissenschaftstheoretischen Werk Logik der Forschung, das übrigens nur ein Auszug aus einem früheren und längeren Werk, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, war, das erst 1979 vollständig erschienen ist. Grundlegend ist die These der prinzipiellen Fehlbarkeit sowie der – ebenso prinzipiellen – Unmöglichkeit der Letztbegrün-

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Daniel Brühlmeier

dung menschlichen Wissens. Deshalb müssen wir unsere Erkenntnisse, Problemlösungsvorschläge, Überzeugungen etc. – kurz unser Wissen – nicht (zu) verteidigen (versuchen), sondern möglichst konsequent der Kritik aussetzen, »mit allen Mitteln versuchen, sie selbst umzustoßen«. Erkenntnis resultiert aus diesem kritischen, aus Fehler lernenden Vorgehen; was wissenschaftliche Erkenntnis von nicht- oder vorwissenschaftlicher unterscheidet, ist die bewusste und systematische Verwendung der kritischen Methode in ersterer. Und Weisheit ist nicht etwa gelehrte Schlagfertigkeit, sondern das Realisieren der Grenzen des Wissens. Strikte Falsifizierbarkeit gibt es nur in der (Natur-)Wissenschaft. Im nicht strikt naturwissenschaftlichen Bereich müssen Aussagen so formuliert sein, dass sie kritisierbar sind und sich nicht gegen Kritik immunisieren. D.h. in der Regel ist unsere Erkenntnis falsch, doch dank ihrem großen Wahrheitsgehalt sollte es uns möglich sein, sich der Wahrheit durch kommunikatives »Trial and Error« anzunähern. Dabei erhalten die Annahme und die Präsenz sozialer Institutionen einen zentralen Stellenwert: Organisationen und Organisationsformen – eine Universität, ein Institut oder der Markt, aber auch Traditionen und Gebräuche (etwa Harakiri in Japan, nicht aber Selbstmord in der westlich-okzidentalen Kultur). Sozialwissenschaften sind dann am interessantesten, wenn es ihnen gelingt, unvorhergesehene Ergebnisse oder Konsequenzen absichtlicher menschlicher Handlungen zu erkennen. Dieser Fallibilismus, d.h. die Theorie, dass alle menschlichen Problemlösungsversuche letzten Endes fehlbar sind, begünstigt Lernen und Offenheit zum Lernen von anderen. Das ist grundlegend: Auch Poppers Sozialtheorie und sein Konzept der Sozialwissenschaften basieren auf der Prämisse umfassender unbeabsichtigter und nicht-vorhersehbarer Handlungsfolgen – es ist dies das tiefere Verständnis dessen, was Adam Smith so genial mit seiner »unsichtbaren Hand« umschrieb. Und Popper beschreibt dann auch die »Hauptaufgaben der Sozialwissenschaften« darin, »die unbeabsichtigten sozialen Rückwirkungen menschlicher Handlungen zu analysieren«1 .

1

OG, II, S. 113. Ich gebrauche folgende Ausgaben (und Abkürzungen) für Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bde, 71992, Tübingen (hier OG, mit Bd. u. S.); The Open Society and its Enemies, 2 Bde, 41962, London (hier OS, mit Bd. u. S.).

Karl Poppers offenes liberales Kulturkonzept

Für den Liberalen – so Popper – ist diese Erkenntnis der Externalitäten doppelt bedeutsam. Erstens müssen letztere immer mitbedacht und vorsichtig mit ihnen umgegangen werden. So ist vom Problem, von der lokalen Situation auszugehen und nicht von einer weitentfernten idealen Wunschvorstellung, bei der die Kausalketten zu ihr schnell unübersichtlich und eben mit einer Explosion von nicht-vorhersehbaren Handlungsfolgen behaftet werden. Als Tools stehen zur Verfügung: Die kritisch-rationale (Situations-)Analyse, die von der eigentlichen Entscheidung nicht nur kognitiv zu trennen ist; oder die Vorgehensweise der sozialen Stückwerk-Technik (piecemeal social engineering)2 , die Schritt für Schritt operiert und immer die Reversibilität bedenkt, und in der das angesprochene Lernelement des Trial-and-Error eingebaut ist. Zweitens fokussiert die Theorie der Externalitäten allzu oft (nur) auf den schädigenden Teil, die »negativen Externalitäten«. Das ist zwar wichtig und richtig, geht es doch darum, in einer an Komplexität und damit zwangsläufig an Externalitäten wachsenden Welt via Internalisierung Verantwortlichkeiten zuzuordnen und via Versicherungen, Haftpflicht usw. sich individuell und kollektiv abzusichern. Gleichzeitig müssen auch – und so ist ja auch die unsichtbare Hand Smiths formuliert – die positiven Externalitäten als Nischen der Kreativität mitbedacht werden. Gerade eine liberale Welt ist aufgrund ihres kreativen Potentials, der Freisetzung individueller Talente und Kompetenzen, der generell-abstrakten und auf Rechtsgleichheit gründenden Bändigung negativer menschlicher Neigungen eine Welt mit einer sehr hohen Zahl von nicht-intendierten positiven Effekten. Wir haben gewissermaßen eine eingebaute kumulative oder gar Multiplikatorwirkung der liberalen Taten und Errungenschaften.3 Die Offene Gesellschaft ist nun die große kulturelle Leistung Poppers, sein Programm für eine liberale Welt. Geschrieben als Kritik Platos und dessen Rezeption durch die Jahrtausende und auf dem Hinter2

Nach der schönen Formel von Jörg Paul Müller: »Zur sog. subjektiv- und objektivrechtlichen Bedeutung der Grundrechte«, in: Der Staat, 29 (1990), S. 33–48, auch »dem Schutz vor Erstarrung, vor Perpetuierung von Ungerechtigkeit und vor Versteinerung von Herrschaftsverhältnissen« dienend (hier S. 45).

3

S. dazu auch schon Daniel Brühlmeier: »Gebrauch der Freiheit«, in: Karen Horn (Hg.): Die Mühsal mit dem Liberalismus. Wenn Sicherheit und »soziale Gerechtigkeit« der Freiheit den Rang ablaufen, 2014, Zürich, S. 159–66.

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grund der Wiederkunft des platonischen Totalitarismus im Nationalsozialismus4 formuliert sie das Ideal einer freiheitlichen, abendländischaufgeklärten Gesellschaft und Kultur. Sie ist eine Gesellschaftsordnung, die durch eine oder mehrere ungeplante Revolutionen aus der tribalistischen geschlossenen Gesellschaft heraus entsteht: Weil die statischen Grundbedingungen letzterer schwinden, werden Individuen geboren, die über immer mehr persönliche Entscheidungsfreiheit verfügen und in konventionellen, rationalen und entpersönlichten Strukturen agieren (insb. Arbeitsteilung und Güteraustausch). Es entfaltet sich schließlich ein Individualismus, der auf einem Glauben an Vernunft, Freiheit und (letztlich kosmopolitischer) Brüderlichkeit beruht. Interessanterweise greift Popper für seine Darstellung der Offenen Gesellschaft auf einen der verehrungswürdigsten Kulturklassiker zurück: Perikles’ Gefallenenrede in Thukydides’ Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Bei Thukydides sind es die Abschnitte II.35-46; davon berücksichtigt Popper, auch wieder in Auszügen, 37–41, 1. Satz. Die Hauptelemente in der so auszugsweise zitierenden Darstellung Poppers sind vorab politisch-rechtliche: Koexistenz, Unvergleichbarkeit und Vorbildcharakter der athenischen Verfassung; Demokratie, weil diese zu Gunsten vieler, nicht nur weniger eingerichtet ist5 ; Gleichheit vor Gesetz, aber Verdienst, also Meritokratie als Kriterium für Ämter. Es folgen eine Reihe von gesellschaftlichen Haltungen: Armut ist kein Hindernis, was bei Thukydides später aufgenommen und präzisiert wird als deren Tolerieren, solange die Betroffenen von sich aus versuchen, ihre Lage zu verbessern und sich nicht einfach im Almosenempfang suhlen; Toleranz gegenüber (der Lebensform des) Nachbarn. Bei alledem gibt es keine Duldung von Rechtsverletzungen, und ein spezieller Schutz gilt den ungerecht Behandelten und der Achtung der ungeschriebenen (Sit-

4

Wobei er Platon »grundsätzliches Wohlwollen« (OG, I, S. 204) zugesteht (was er Hitler gegenüber nicht macht). Das ist auch schön ersichtlich, wenn er ihn in seinem schweren inneren Konflikt mit Empathie begleitet, die Klarsicht des »grossen Soziologen« rühmt, ihm sogar zugesteht, die Tyrannei zu hassen.

5

Appliziert man die Trias der zweiten berühmten Gefallenenenrede der Rhetorikgeschichte – government of the people, by the people, for the people aus der Gettysburg Address von Abraham Lincoln –, so sieht man, dass Thukydides hier für die Definition der Demokratie die dritte Komponente, die der Gemeinwohlorientierung und Begünstigung, wählt.

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ten-)Gesetze6 – womit klar wird, dass keineswegs »alles erlaubt ist, was nicht verboten ist« (Popper, das wird hier und andernorts deutlich, ist kein Ellbogenliberaler, nicht einmal ein Herold der negativen Freiheit). Im Außenverhältnis gilt Iffenheit gegenüber Fremden; es werden (nicht wie in Sparta) regelmäßige Verbannungen vollzogen. Dann hebt Thukydides den Ton und auch Popper ist empfänglich dafür: Er besingt Athens Liebe der Schönheit, des Geistes und der Willens- und Spannkraft, oder wie es die Landmann’sche Übersetzung von Thukydides schön sagt: »Wir lieben das Schöne und bleiben schlicht, wir lieben den Geist und werden nicht schlaff«7 . Es folgen dessen demokratische Alleinstellungsmerkale: Bürgerengagement und Entscheidung durch die Bürger8 , und Deliberation zur Vorbereitung und Verbesserung des (politischen) Handelns. Entsprechend ist Tapferkeit die Frucht der Freiheit, und aus Freiheit folgt Glück9 , und Poppers Zitat der Gefallenenrede gipfelt in der berühmten Metapher Thukydides’ Athen als Schule Hellas’ und dessen glückliche Vielseitigkeit und, damit verbunden, individuelle Entfaltung und Selbstgenügsamkeit. Popper weiß natürlich, dass diese Worte von Perikles, die, wie er meint, ihm von Thukydides authentisch in den Mund gelegt wurden, nicht (nur) ein Sachstandsbericht zu Athen 431 v. Chr. waren; sie waren auch, und wohl viel mehr, Programm, Aufruf und Beschwörung10 . Und

6

In der Folge fehlt bei Popper ganz II.38 zu den Wettspielen und öffentlichen Festen sowie, eher erstaunlich, zur (Welt-)Offenheit des Warenverkehrs; ebenso fehlt aus II.39 der Eingangssatz: »Wir bereiten die Kriegssachen vor« sowie alle Ausführungen zur Kriegsschulung und -taktiken.

7

Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges, 31981, München, S. 142. Wilhelm Hennis hat diesen Satz als Zweizeiler in die Widmung seiner Zusendung von »Max Weber und Thukydides«, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, 1. Philologisch-Historische Klasse, Nr. 1, 2003, an den Schreibenden eingeflochten.

8

Der kursive Einschub von Popper (eine kleine Zahl initiiert in der Politik, aber alle sind fähig zu beurteilen) ist so bei Thukydides nicht abgedeckt und in der deutschen Übersetzung speziell ausschweifend.

9

Dies ist ein vager Zusammenzug eines interessanten Absatzes über (spezifisch Athenischen) Edelmut und Treue, Freu(n)demachen durch Geben und Gewähren, nicht durch Erhalt.

10

In diesem Sinne auch Alois Riklin: Engagierte Politikwissenschaft: Ausgewählte Schriften, 2018, Bern, S. 117.

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Poppers eigene Interpretation, die er diesem langen Zitat folgen lässt, ist nicht nur eine Rede-Exegese, sondern selbst ein Programm, ein Ideal, ja vielleicht sogar fast schon so etwas wie eine Utopie, getragen von der normativen Trias Vernunft, Freiheit und (kosmopolitische) Brüderlichkeit. Poppers Begeisterung für die athenische Demokratie, vor allem für Perikles, ist förmlich greifbar, und sie ist bar jeglicher Hellenentümelei (für die etwa exemplarisch Johann Joachim Winckelmann steht). Selbst vom, an sich unverfänglichen11 , Goethe’schen Land-der-Griechen-mitder-Seele-suchen ist wenig zu spüren. Dabei ist Popper aber auch nicht unkritisch gegenüber Perikles: Seine erfolgreiche, im Grunde aber anti-demokratische Kampagne zur Verschärfung der Bürgerrechte (Neubürger nur, wenn beide Elternteile schon das athenische Bürgerrecht besaßen), allerdings aus einer früheren Periode (451/50), kritisiert er entschieden. Über das Ganze gesehen will Popper die Exzeptionalität Athens herausstreichen und bemüht ein Maximum an Verständnis für den Imperialismus Athens – wohl mit Blick auf den späteren Imperialismus Englands, den er entsprechend verteidigen würde. Die dunkleren Seiten Athens diskontiert er; so wird etwa der Melier-Dialog in eine Fußnote verbannt und (in einem bedeutungsreligierenden Sinne) als fiktiv und aus der Voreingenommenheit Thukydides’ heraus erklärt. Perikles’ summarische und wohl leicht abwertende Behandlung der Frauen findet überhaupt keine Erwähnung. Ein Wort noch zu Poppers Methode: Sie ist eine »historische« resp. (wohl besser) »kritische Interpretation«12 , gewissermaßen eine Anwendung des kritischen Rationalismus auf geschriebene Texte. Diese ist immer auch Rekonstruktion, inhärent polemisch – es gibt ja grundsätzlich »no unprejudiced textual interpretation«13 –; sie ist systematisch reartikuliert und problemorientiert, wobei die Probleme unsere sind,

11

Und auch unterschiedlichen: Iphigenie sehnt sich auf dem fremden Tauris ja nach ihrer Heimat.

12

S. auch David Weinstein/Avihu Zakai: Jewish Exiles and European Thought in the Shadow of the Third Reich. Baron, Popper, Strauss, Auerbach, 2017, Cambridge/UK, passim.

13

Karl Popper: Unended Quest. An Intellectual Autobiography, 1982, La Salle und London, S. 55.

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und nicht diejenigen Platos oder Thukydides’ (das wäre unnötiger Histori[zi]smus). Sie setzt Klarheit vor Genauigkeit; Zurechtbiegungen sind soweit erlaubt, als sie als kühne Vermutung in der kritischen Diskussion der Problemlösung dienen; immer engagieren sie aber den Interpretierenden in seiner Verantwortung. Entsprechend ist offensichtlich, dass Popper zuweilen Text-Evidenz vernachlässigte, wenn sie sich ihm entgegenstellte, und dort zu Spekulationen neigte, wenn keine TextEvidenz vorlag.14

2. Diskussion mit den Quellen: Eduard Meyer, Max Weber und Karl Popper Was sind die Quellen Poppers für die OG? Woher kommt die Vorstellung einer »offenen« Gesellschaft? Natürlich von Thukydides selbst, allerdings relativ sparsam, dann selbstverständlich von Platon für (die Figur des) Sokrates. Aus der Sekundärliteratur, insbesondere auch für Thukydides und sein Werk, dominiert bei weitem ein Autor: Eduard Meyer. Dessen Geschichte des Altertums, letztlich ein Torso zwar, ist in den Augen eines vertrauten Nekrologen »etwas bisher einzig Dastehendes«15 . Sie ist nun in der Tat die Quelle Poppers für Thukydides, sein Werk und seine Epoche; Popper nennt ihn »eine der größten modernen Autoritäten dieser Epoche«. Meyer, diese »Institution im Kaiserreich«16 , ist primär Althis-

14

So Malachi Hacohen »Karl Popper in Exile: The Viennese Progressive Imagination and the Making of the Open Society«, in: Philosophy of the Social Sciences, 26 (Dezember 1996), S. 452–92 (hier S. 474).

15

So Walter Otto: »Eduard Meyer und sein Werk«, in: Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft 85 (1931), S. 1–24 (hier S. 23). Offensichtlich kannte Popper Meyers Biographie und vor allem seine prononciert deutschnationalen Neigungen (mit u.a. Rückgabe der Ehrendoktorwürden von Oxford, St. Andrews und Harvard nach dem 1. Weltkrieg) nicht vollständig, sonst hätte er ihn wohl kaum so prominent verwendet (wobei zu sagen ist, dass diese kaum auf sein wissenschaftliches Werk durchschlagen). Von Otto kann ich jetzt in diesem Zusammenhang nicht auch noch sprechen; es ist aber für Meyer typisch – und in dessen Verhältnis zu Popper relevant –, dass Otto ihn mehrfach einem in seiner rationalen Nüchternheit eigentlichen »Versagen gegenüber dem Irrationalen« (20) zeiht.

16

Hans-Peter Mü ller: Max Weber. Eine Spurensuche, 2020, Berlin, S. 41.

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toriker, und Popper setzt sich mit ihm als solchem vor allem in einer eindrücklichen Fußnotenfolge17 auseinander – durchaus auch kritisch, denn er will ihn als Anti-Demokraten und Hegelianer, als Adepten einer »Platonisch-Hegelschen historizistischen Sittenlehre« ausweisen.18 Den dazu finalen Schlag unternimmt er in OS II.12, wo er Hegels abwertende »Litanei der Privattugenden« und damit die Verdrehung der Brüderlichkeit aus der Trias von 1789 als Quelle von Meyers ebenso abwertend interpretierter »flachen moralisierenden Beurteilung« erklärt, »welche an die großen politischen Aktionen den unzulänglichen Maßstab der bürgerlichen Moral anlegt, weil sie die tieferen, wahrhaft sittlichen Faktoren des Staats und der geschichtlichen Verantwortung ignoriert.«19 Es scheint auch, dass Meyer für das zentrale Konzept der »Last der Zivilisation« (strain of civilization) Pate gestanden hat.20 Diese ist

17

Anm. 15–43 und wieder 48 von OS I.10.

18

Wilfried Nippel: Max Weber und die Althistorie seiner Zeit, 1992, Berlin, S. 13, zeigt hingegen überzeugend, dass die »These von der Uranfänglichkeit des Staates [qua…] These von der Universalität von Herrschaft« bei Meyer aristotelischen Ursprungs ist.

19

OG, II, S. 81. Das Zitat von Meyer ist, was für den peinlich genau die Stellen angebenden Popper eher ungewöhnlich ist, im Original OS II, 1. Aufl. S. 64, 1962 S. 68 nicht belegt. Fußnote 75 verweist weiter unten auf die Zitate Hegels aus der Philosophie der Geschichte. Die Stelle findet sich effektiv bei Eduard Meyer: Geschichte des Altertums, Bd. IV., 6 1965, Darmstadt, S. 237; sie wird von Popper allerdings aus dem Kontext einer Literaturdiskussion gerissen und verfälscht: Meyer ist hier keineswegs demokratiekritisch; er kritisiert eine »einseitige Betonung der Verfassungsfragen, welche zu vollständigem Verkennen des eigentlichen Wesens des Staats führt«, in der Theorie (u.a. Platons) und argumentiert mit Thukydides, dass die schließlich im vierten Jahrhundert scheiternde Demokratie gewissermaßen mit dem Bade ausgeschüttet wurde!

20

S. die wichtige Anm. 8 zu OS II.10. Für die Zentralität des »strain of civilization« s. auch überzeugend Erwin Dekker: The Viennese Students of Civilization, 2016, New York, S. 83. Interessanterweise gründet Dekker auf der 1. Auflage von OS; gerade dieser Abschnitt II von OS II.10 ist aber eine der meistbearbeiteten und erweiterten in späteren Auflagen von OS. Die biblische Anspielung ist eigentlich eher erstaunlich für den Agnostiker Popper. Sie wird bestätigt durch eine zweite Stelle, wo explizit vom »›Sündenfall des Menschen‹« die Rede ist (OG, II.10, S. 236; OS, II, S. 198). Man kann sich sogar fragen, ob Poppers Aversion gegen die Utopie als Wiederkehr des Paradieses auf

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gewissermaßen die zweite Vertreibung aus dem Paradies, der entscheidende Stoß von der geschlossenen in die offene (und [teilweise] »abstrakte«) Gesellschaft: In einer primitiven Form von Zivilisation ist die Menschheit eingebettet in tribalistische und familiale Sicherheit (und Glück?). Dann ereignet sich eine ungeplante, tiefgreifende Revolution, die historisch im klassischen Griechenland Perikles’ zu lokalisieren sei und vor allem auf Seehandel, ja überhaupt »kommerzieller Initiative« beruhe (auch dies im Übrigen wesentlich von Meyers »modernisierendem« Verfahren inspiriert, moderne wirtschaftliche Begriffe wie Kapitalismus und Weltwirtschaft auf die Antike anzuwenden21 ). Diese Revolution nimmt uns die Sicherheit, verspricht dafür aber Rationalität und Humanität, Individualität und Freiheit. Weil die statischen Grundbedingungen der geschlossenen Stammesgesellschaft schwinden, werden Individuen geboren, die über immer mehr persönliche Entscheidungsfreiheit verfügen und in konventionellen, rationalen und entpersönlichten Strukturen agieren (insb. Arbeitsteilung und Güteraustausch) – so jedenfalls die Vorstellung Poppers.22 Es entsteht für Popper (im Anschluss an Meyer et al.) ein Individualismus, der auf einem Glauben an Vernunft, Freiheit und (letztlich kosmopolitischer) Brüderlichkeit beruht. Aber hier kommt für Popper die Last, das Kreuz, das wir zu tragen haben: Diese Trias ist nicht eine Option, sondern eine Notwendigkeit, die uns auferlegt wird. Freiheit ist nicht einfach »Befreiung«, sondern genuin mit Verantwortung (als Last) verbunden. Wir haben einen Zwang zur (individuellen) Freiheit, die uns gleichzeitig Verantwortung(en) aufgibt: »Wir müssen, glaube ich, diese Last als Preis bezahlen für jeden weiteren Zuwachs an Erkenntnis, Vernunft sowie an [gesellschaftlicher]

Erden nicht auch einer (radikalen) Interpretation der Bibel – nämlich der Unmöglichkeit eines Heils auf dieser Erde – entspringt. 21

S. dazu Wilfried Nippel: »Methodenentwicklung und Zeitbezüge im althistorischen Werk Max Webers«, in: Geschichte und Gesellschaft, 16 (1990), S. 355–374 (hier S. 370). Informativ zum Verhältnis Meyer-Weber auch Nippel, s. Anm. 18, und Ders.: Max Weber: »Nationalökonom und Politiker«, in: Geschichte und Gesellschaft, 20 (1994), S. 274–298.

22

Röpke wird dieses Konzept von Popper radikal kritisieren und diesem eine »liberale Gesellschaft… im wesentlichen aus selbstgenügsamen Bauern«, also eine Ökonomie face-to-face, gegenüberstellen (s. dazu hier weiter unten Anm. 38).

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Kooperation und gegenseitigem Beistand, und entsprechend [individuell] in Überlebenschancen und [kollektiv] in Wachstum der Bevölkerung. Es ist der Preis, den wir für unser [volles] Menschsein bezahlen müssen.«23 Der einigermaßen kundige Ideenhistoriker assoziiert Eduard Meyer heute nicht in erster Linie mit Popper, sondern mit Max Weber. Eduard Meyer war Gegenstand, ja vielleicht sogar Zielscheibe einer der ersten methodologischen Arbeiten Max Webers von 190624 . Friedrich Tenbruck hat gezeigt, dass sich Weber damals »als Historiker« verstand und gemäß Joachim Radkau kommt ihm, Weber (!), der »Grosshistoriker« Meyer »unter den damaligen deutschen Historikern am nächsten«25 . Für Weber war es neben Meyer wohl noch mehr Wilhelm Roscher, der sein Thukydides-Bild geprägt hat, wie Wilhelm Hennis überzeugend

23

OS, I.10, II, 2. Absatz, 1. Aufl. S. 154, hier eigene und dem besseren Verständnis halber mit »[]« ergänzte Übersetzung nach der 5. Aufl. S. 176, weil gerade hier die z.T. phantasievolle Übersetzung von Paul Feyerabend (OG, I, S. 211) nicht befriedigt.

24

»Zur Auseinandersetzung mit Eduard Meyer«, Teil I unter dem Obertitel »Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik.«, in: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7 1988, Tübingen, S. 215ff. Zwei Missverständnisse sind hier vorgespurt: zuerst geht es auch im Teil II um E. Meyer, nicht nur in I, wo das explizit ist (was selbst einem so versierten WeberInterpreten wie Friedrich Tenbruck: »Max Weber und Eduard Meyer«, in: Wolfgang Mommsen/Wolfgang Schwentker (Hg.): Max Weber und seine Zeitgenossen, 1988, Göttingen, zu entgehen scheint). Zwar wird in einem Brief vom 10.9.05 an Willy Hellpach, (s. Max Weber: Briefe 1903–1905 [MWG II/4], hg. von Gangolf Hübinger und M. Rainer Lepsius, 2015, Tübingen, S. 532) ein »scharfer Angriff auf Ed Meyer« angekündigt, aber es ist nicht so, dass sich Weber hier primär mit Meyer selbst »auseinandersetzt«, sondern es geht um die geschichtstheoretischen Kontroversen, die Meyer ausgelöst hat oder die sich um ihn drehen (Gegenstand der Diskussion Meyers ist dann auch nicht seine Geschichte des Altertums, sondern Zur Theorie und Methodik der Geschichte von 1902). An den wenigen Orten, an denen Weber sich wirklich kritisch mit Meyer auseinandersetzt, wird jede Spitze zurückgehalten.

25

Zu Tenbruck a.a.O., S. 338f.; zu Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, 2013, München, S. 231. Die Bezeichnung »Grosshistoriker« findet sich ebd. S. 672.

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nachgewiesen hat. Roschers Thukydides war prägend für die Formierung von Webers Bild der »hellenischen Geisteskultur« sowie seine historische, verstehend-soziologische Methode und, letztlich, seine politikwissenschaftliche Denkart.26 Hier gerät Popper in Konflikt mit dem entschiedenen Thukydidianer Weber, für den, im Unterschied zu Popper, das Athen des Perikles kein Hort der Freiheit gewesen ist27 . Der Staat habe auf praktisch alles die Hand gelegt: Auf die Lebensführung, das Vermögen und vor allem die Zeit der Bürger, die dem Dienst in Magistraturen und Gerichten kaum entrinnen konnten. Krieg war so gewissermaßen die eigentliche raison d’être der Polis, und dies chronisch und dauernd. Den korrigierenden, vielleicht sogar ironischen Eigenkommentar von Thukydides zur dritten und letzten Rede Perikles’ – »Es war dem Namen nach eine Volksherrschaft, in Wirklichkeit eine Herrschaft des Ersten Mannes« – wird Weber zum Topos seiner politischen Soziologie entwickeln, dass nämlich Regieren nur durch eine Minderheit möglich ist: »Stets beherrscht das ›Prinzip der kleinen Zahl‹, d.h. die überlegene politische Manövrierfähigkeit kleiner führender Gruppen, das politische Handeln.«28 Wenn wir nun die beiden (gleichermaßen kühnen und sich widersprechenden) Hypothesen einander gegenüberstellen und nach heutigen Erkenntnissen urteilen, müssen wir wohl Popper recht geben: Athen war wirklich eine demokratische Ausnahme und muss als solche gewürdigt werden. Das zeigen die neueren Werke von Josiah Ober, Paul Cartledge u.a.m., die dafür einen eindrücklichen Beleg abgeben.29 Um-

26

A.a.O., s. Hennis’ Untertitel, expliziert S. 15.

27

Besonders eindrücklich: Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 5 1976, Tübingen, S. 809f.

28

Max Weber: Gesammelte Politische Schriften, 5 1988, Tübingen, S. 350. Besonders deutlich ist das in der Außenpolitik: »überall, auch und gerade in der ›Demokratie‹, werden die verantwortlichsten Entschließungen der Außenpolitik von einer kleinen Zahl von Menschen gefaßt« (ebd. 380).

29

Für Josiah Ober: Political Dissent in Democratic Athens. Intellectual Critics of Popular Rule, 1998, Princeton; Democracy and Knowledge. Innovation and Learning in Classical Athens, 2008, Princeton, und: The Rise and Fall of Classical Greece, 2015, Princeton; Paul Cartledge: Democracy. A Life, 2016, Oxford.

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so mehr erstaunt deshalb das immer noch weitgehende Verschweigen Poppers in der Fachliteratur zur Demokratie in Athen.30 Es sei hier noch angefügt, dass Popper zu wenig realisierte, dass er in Weber einen Vorläufer gefunden hatte. Zwar rezipierte Popper bemerkenswerterweise Weber nicht ausschließlich als Methodologen31 und fand bei ihm durchaus auch Positives, etwa für die Situationslogik oder die Geschichtserklärung. Und keinen Vorwurf kann man Popper machen, dass er die sog. Nervi-Notizen, die 1902/3 von Weber beim Kuraufenthalt im gleichnamigen Ort an der ligurischen Küste niedergeschrieben und 2018 erstmals veröffentlicht wurden, noch nicht kannte. Da stehen nämlich auf S. 626 die fast schon Popper’schen Sätze: »G[e]g[en]stände treten in das Reich des Wissenswerthen ein dadurch, daß sie Probleme werden, neue Fragen entstehen./Dadurch[,] daß wir erkennen, daß wir etwas nicht wissen«32 . Gerade aber im Zusammenhang mit Meyer zeigen sich zwei verpasste Gelegenheiten bei Popper, Weber als Ahnen seines kritischen Rationalismus zu erkennen. Da hatte Meyer eine zunehmende Tendenz der neueren Geschichtsschreibung kritisiert,

30

In meiner relativ umfangreichen Bibliothek dazu äußern sich nur Ober (s. 1998, ausgewogen kritisch, Popper dafür kritisierend, dass er von einer fälschlicherweise tribalistischen Konzeption ausging und, ohnehin nicht am damaligen Athen, sondern an der Projektion auf unsere Zeit interessiert, die wirkliche Demokratie Athens noch unterschätzte), sowie Mogens Herman Hansen: Polis. An Introduction to the Ancient Greek City-State, 2006, Oxford, S. 122, zustimmend als Beleg für die totalitäre Staatsvision von Platons Nomoi.

31

Ein solches restringiertes Interesse zeigt vor allem auch der berühmte Positivismusstreit der frühen 1960er Jahre, der einen nicht einmal halbierten, sondern maximal gedrittelten Weber präsentierte: beide, von Adorno in ders. et al.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 5 1976, Darmstadt und Neuwied, »Dialektiker« und »Positivisten« gelabelten Lager gehen gleichermaßen auf Distanz zu einem »die Immunität sogenannter letzter Werte gegenüber kritischen Argumenten« behauptenden Weber (so Hans Albert, ebd., S. 300, Anm. 75).

32

Weber: Zur Logik und Methodik der Sozialwissenschaften. Schriften 1900–1907 (MWG I/7), hg. von Gerhard Wagner, 2018, Tübingen. Für Webers Orientierung der Wissenschaft an Problemen und Problemstellungen (vs. »Lösungen«/ Antworten) s. seinen Brief an K. Vossler vom 5.5.1908 in Max Weber: Briefe 1906–1908 [MWG II/5], hg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen, S. 556ff. (hier S. 557).

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»die wissenschaftliche Methode in ihr Gegenteil zu verkehren, nicht vom Sicheren ausgehend das Unsichere zu deuten und einzuordnen, sondern umgekehrt auf Grund der aus dem Unsicheren gezogenen Schlüsse das Gesicherte umzustossen und gewaltsam unter ein durch intuitives Schauen konstruiertes Thema zu zwingen.« Genau das macht Popper, und es ist Weber, der ihn darin bestätigt: »Ganz ohne Hypothesen ist hier nichts zu machen.«33 Und in der ersten Anmerkung auf der ersten Seite des Meyer-Aufsatzes nimmt Weber die »rationale Einstellung«, ein Kernstück der Popper’schen Philosophie und der »autoritären Einstellung«34 gegenüberzustellen, wunderbar vorweg: »Man wird deshalb auch die folgende Kritik, welche absichtlich gerade die Schwächen seiner Formulierungen aufsucht, hoffentlich nicht dem Bedürfnis der ›Besserwisserei‹ zuschreiben. Die Fehler, die ein hervorragender Schriftsteller macht, sind lehrreicher als die Korrektheiten einer wissenschaftlichen Null. Es ist hier eben nicht die Absicht, Ed. Meyers Leistung positiv gerecht zu werden, sondern gerade umgekehrt: dadurch von seinen Unvollkommenheiten zu lernen, daß wir sehen, wie er sich mit gewissen wichtigen Problemen der Geschichtslogik abzufinden, mit sehr verschiedenem Erfolge, versucht hat.«

3. Popper als Erzieher »… als Erzieher« ist eine verführerische, manchmal auch verführende, ja gefährliche Kategorie: Begründet wurde sie wohl noch völlig positiv und in hehrer Absicht von Nietzsche – Schopenhauer als Erzieher 35 –; Nietzsche selbst wurde dann mit dieser Formel schon verschiedentlich ge-

33

Ed. Meyer, Nachtrag zum ersten Band der Geschichte des Altertums, zit. bei Hennis (a.a.O., S. 6). Webers Diktum ist aus Agrarverhältnisse im Altertum, in: Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 2 1988, Tübingen, S. 283.

34

Vgl. in Gerhard Lü hrs et al. (Hg.): Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie, 1975, Berlin, S. 69.

35

Der Erfüllung der von Nietzsche geforderten drei Elementen philosophischer Kraft – Ehrlichkeit, Heiterkeit und Beständigkeit (in: Sämtliche Werke. KSA, Bd. 1, 1980, München, S. 346ff.) – kommt Popper im Übrigen exemplarisch nahe.

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und missbraucht. Kürzlich hat Christian Marty auf überzeugende Weise »Max Weber als Erzieher« ausgewiesen.36 Fritz Stern hat sein wunderbares Buch Kulturpessimismus als Gefahr der »Pathologie der Kulturkritik«, also ihrer Krankheitsgeschichte gewidmet, denn diese gibt es auch, und zentral ist dabei das Buch von Julius Langbehn Rembrandt als Erzieher 37 . Dieses ist in der Tat ein »schlechtes« und »wirres« Buch, das aber eine ungemein und unglaublich programmatische Wirkung entfaltet hat, »eine Rhapsodie des Irrationalismus«. Was hier und in anderen paradigmatischen Werken dieses destruktiven Kulturpessimismus (wie etwa Paul de Lagardes Deutsche Schriften, eine Generation früher als Langbehn 1878/81, oder eine später Arthur Moeller van den Brucks Das Dritte Reich von 1923) ausgebreitet wird, ist genau das, nationalistisch und völkisch im Sinne des 20. Jahrhunderts aufgeladen, was Popper eine »geschlossene Gesellschaft« nennt, die vor den Anfechtungen des Liberalismus bewahrt werden und als imaginierte Vergangenheit die Zukunft prägen soll.38 Dagegen ist Karl Popper der paradigmatischste Kulturoptimist. Ist er auch »ein Erzieher«? Helmut Spinner stellt die Frage geradezu emphatisch und auch über seine Disziplin herausgehend: »Ist er das überhaupt? Wenn ja, wodurch, für wen, auf welche Weise, mit nennenswerten Ergebnissen?«39 Und Spinner ist immerhin zu entnehmen, dass die eigentlich pädagogische Phase Poppers, seine Frühschriften

36 37

Max Weber: Ein Denker der Freiheit, 2 2020, Weinheim und München, Teil 3. Fritz Stern: Kulturpessimismus als Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, 1986, München. Das »Gegenbuch« (so Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, 4 2005, Weinheim und München, S. 28, Anm. 65) zu Langbehn stammt übrigens von Georg Simmel: Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch (1916).

38

Eine interessante liberal-konservative Spielart des Kulturpessimismus, diejenige von W. Röpke, rekonstruieren neuerdings Stefan Kolev/Nils Goldschmidt: »Kulturpessimismus als Provokation. Wilhelm Röpkes Ringen mit der Moderne«, in: Zeitschrift für Politik, 67. Jg. (2020), S. 214–234. Ein optimistisch-liberales Korrektiv dazu bietet Tyler Cowen: In Praise of Commercial Culture, 1998, Harvard; es ist gleichzeitig auch weniger kulturelitär als Popper.

39

Helmut F. Spinner: »Popper als Erzieher? Fortschritte und Fehlentwicklungen des Kritischen Rationalismus: Von der Wissenschaftstheorie zur Politik und Pädagogik«, in: G. Pollak (Hg.): Von der Erziehungswissenschaft zur Pädagogik?, 1994, Weinheim, S. 355–406 (hier S. 391).

Karl Poppers offenes liberales Kulturkonzept

von 1925–32, also die »vorparadigmatische« Phase, nicht nur in der Fachliteratur, sondern auch im generellen Verständnis von Popper vernachlässigt, ja recht eigentlich ignoriert wird. Ihnen wäre nun übertragen auf die Kultur zumindest zu entnehmen, dass sich Popper schon damals gegen Stoff- und Faktenhuberei in der Kultur, und an deren Stelle für (aus der Sicht des Empfängers) aktives und demokratisches (keine Hierarchie!), nicht von einer Vielzahl von Beispielen induktiv schließendes, also kurz »kritisches Denken« ausgesprochen hat. Pikant ist Spinners Feststellung, dass (auch hier) der »Erzieher […] vom Wissenschaftstheoretiker und Methodiker völlig verdeckt worden« ist; Popper sei nämlich »in erster Linie Wertesetzer und Wertevermittler, keineswegs nur für kognitive, wissensbezogene Werte«. Für Spinner wählte Popper mit seinem erzieherischen Credo, der Lehre, »daß jedermann kritisieren kann«, einen Mittelweg: fern der Anmaßung Fichtes (Reden an die deutsche Nation) oder Heideggers (»den Führer führen«), aber auch ohne den Mut Webers, »›mit der geschulten Rücksichtslosigkeit des wissenschaftlichen Blicks‹ dem Wissenschaftsbetrieb seiner Zeit den Spiegel vorzuhalten«, und damit wohl auch ohne die gleich radikale Kritik der Politik.40 Wir wollen hier aber ohne disziplinäre Ausrichtung und ohne jeglichen Anspruch, ja in Ablehnung eines eigentlichen SchulGedankens der Frage nach »Popper als Erzieher«, d.h. was kann er uns lehren?, nachgehen. Die Botschaft ist klar; es ist keine Lehre, sondern das Angebot einer »Einstellung«, einer »Perspektive«, die Popper in einigen seiner schönsten, zügigsten und überzeugendsten Seiten präsentiert: den »kritischen Rationalismus«. Resümieren wir dessen Eckpunkte nochmals: Offene, kritische Diskussion und Idee der Unparteilichkeit; jeder hat das Recht, gehört zu werden und seine Argumente zu verteidigen; Verantwortlichkeit; praktische Sozialtechnik; gemeinsame, verständliche und verständigende Sprache, die wir mit einer möglichst klaren Handhabung hochhalten müssen; Vorstellungskraft und Phantasie entwickeln; Achtung der ganzen Menschheit und Liebe für einige wenige Individuen. So steht uns die Zukunft weit offen, und wir können »ins Unbekannte, ins Ungewisse, ins Unsichere weiterschreiten und die Vernunft, die uns gegeben ist, verwenden«, um eine freie und sichere Gesellschaft zu gestalten.

40

Ebd. S. 401f.

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Wir wollen nur eine Anwendung der Kulturkritik Poppers heranziehen, das Fernsehen.41 Für ihn ist das eine besonders schlimme Form von gesellschaftlicher Gewaltduldung, ja gar -propagierung: Popper empfahl dagegen einen paternalistischen, moralisch legitimierten, aber rigorosen staatlichen Interventionismus, eine eigentliche Zensur im Fernsehbereich. So kommt er (vielleicht erstaunlicherweise) zum gleichen Ergebnis wie sein Gegenspieler Theodor Adorno im »Prolog zum Fernsehen«42 . Während Adorno allerdings ein Feuerwerk an dialektischen Figuren entfaltet, um die Falsch- und Verlogenheit des Mediums zu belegen, setzt Popper gewissermaßen das Ockham’sche Rasiermesser bei den Schwächsten an, bei den Kindern, den noch einzig verbliebenen »underdogs« einer reichen westlichen Wohlstandsgesellschaft, die verletzlich sind und vom Fernsehen verdorben werden. Dies getreu seiner ethischen Grundhaltung der Schadensvermeidung, dass wir bei den Übeln ansetzen müssen, dass Freiheit auf Verantwortung gründet, und ein solches Handeln aus Verantwortung hier zur Rettung der Freiheit notwendig ist. Das zeigt, dass Poppers Liberalismus auch gemeinhin konservativ werden kann, ebenso wie seine politischen Positionsbezüge zuweilen sehr links und ökologisch daherkommen, etwa beim von ihm propagierten Verbot von Waffenexporten oder seiner resoluten Gegnerschaft zur Atomenergie. Dabei muss hervorgehoben werden, dass die moralischen Prämissen bei Popper unhinterfragt bleiben. Das hat ein epistemologisches Pendant: Popper kennt keine Metaebene des Zweifels. Das Falsifikationsprinzip kennt keine Relativierung, geschweige denn eine Hinterfragung in Form einer Falsifikation der Falsifikation. Es gilt unverrückbar. In den tiefsinnigen Kategorien von T.G. Ash43 ist Popper beseelt von einem lutherischen – im Gegensatz zum erasmischen – Geist der Freiheit: Er steht für Mut, weniger für Toleranz – deshalb auch keine Toleranz den Intoleranten – und somit für eine wehrhafte Verteidigung der Freiheit. Das erklärt eine gewisse Militanz und normative Aufladung, gerade auch in der Kulturkritik. Ideen sind machtvoll; so machtvoll, dass Ideengeschichte leicht (im Doppelsinn: Schnell, was den Vorgang, 41 42

S. The Lesson of This Century, 1997, London und New York, S. 35 und passim. Ursprünglich 1953, wieder in: Theodor Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft II, 7

43

2018, Frankfurt a.M., S. 507ff.

Timothy G. Ash: Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt, 2016, München, S. 565ff.

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milde, was das Ausmaß betrifft!) bellizistisch werden kann, wenn auch nicht in der Schmitt’schen Form, die im Extremfall die physische Extermination des Gegners zulässt, wenn »Feinde« auftauchen, die mit allen Mitteln besiegt werden müssen. Dezision wird zwar bei Popper zum entscheidenden Hilfsmittel der Falsifikation resp. der (Kultur-)Kritik, aber sie wird nicht wie bei Schmitt existentialistisch aufgeladen – und vor allem sterben hier nicht Menschen, sondern eben Ideen. In der eben beschriebenen Einstellung zum kritischen Rationalismus findet sich explizit eine zentrale Figur, die erstaunlicherweise in der Popper-Literatur unterevaluiert ist: Sokrates. Popper kannte zwei philosophische Vorbilder, gewissermaßen seine Idole: Kant und Sokrates. Popper kollektiviert Sokrates – Wir wissen, dass wir nichts wissen –, bleibt aber eigentlich immer eingedenk dieser beiden großen Vorbilder individualistisch und subjektivistisch orientiert. Die Freiheit und die Last der Verantwortung – an die große Leistung Kants wird gleichenorts erinnert – tragen wir als Subjekte. Wir haben drei Sokrates44 : den historischen, den wir praktisch nicht kennen, denjenigen aus den Schriften Platons – und denjenigen Poppers. Letzterer Sokrates, diese »Bremse« oder »Stechfliege«, ist bereit, für die Freiheit des kritischen Denkens und für eine Selbstachtung zu sterben, die weder mit Überheblichkeit noch mit Sentimentalität verwandt ist. Dieser Sokrates ist aber auch der Prototyp des Kulturkritikers resp. der Kulturkritiker par excellence, der seine Verteidigungsrede unter dem drohenden Todesurteil zu einer pädagogischen, erzieherischen oder didaktischen Übung umgestaltet: Er hält seinen Mitbürgern, die auch seine Geschworenen sind, den Spiegel vor. Seinen letzten Stachel verwendet dieses Biest, um sein Gemeinwesen, einem »grossen und edlen Pferde gleich, das seiner Grösse wegen etwas träge« geworden ist (Plato, Apologie, 30e), aufzuwecken und wieder anzutreiben. Das 44

Mein bislang vornehmlich durch klassisch-konventionelle Textlektüre geprägtes Antike-Verständnis hat durch die Arbeiten von Josiah Ober eine glückliche Neubelebung erfahren, zu hier in erster Linie durch Ober: »Gadfly on Trial: Socrates as Citizen and Social Critic«, in A. Lanni, Hg., »Athenian Law in its Democratic Context« (Center for Hellenic Studies On-Line Discussion Series; http://w ww.stoa.org/demos/socrates.pdf, zuletzt abgerufen 3.8.2020), 2003, und ders.: The Trial of Socrates as a Political Trial. Explaining 399 BCE, in: Jens Meierhenrich/Devin O. Pendas, Political Trials. Interdisciplinary Perspectives, 2016, Cambridge, S. 65–87.

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war prozessualer Selbstmord zu didaktischen Zwecken, denn das Biest musste wissen, dass es für diese unübliche und provokante Bürgerlektion – um im Bild zu bleiben – zerquetscht würde. Sokrates’ Verteidigung war zweifach misslungen: zuerst durch seine Betonung des privaten daimonion, was natürlich den (zumindest ausdrücklichen) Hauptpunkt der Anklage, die Nichtanerkennung der staatlich anerkannten Götter, leicht macht (allerdings untersagt 45 dieses nur – vor allem Politik zu treiben –, und leitet nicht zu etwas Aktivem an). Die naheliegendste moderne Interpretation ist wohl, dass Sokrates sich auf sein Gewissen beruft, und damit letztlich auf die Gewissensfreiheit, die aber wohl so vom demokratischen Athen nicht anerkannt und so von Sokrates gewissermaßen seine Zeit überschießend für unsere Moderne formuliert wurde. Dann bedient sich Sokrates der Authentizitätsbehauptung des Perikles: Ich bin der selbe geblieben46 ; und: Ihr habt Euch, wankelmütig und bis zum Selbstwiderspruch, verändert. Während diese Verteidigung Perikles halbwegs gelang – die Athener folgten ihm bezüglich der Kriegsfortsetzung und wählten ihn

45

Plato oder Sokrates wäre für Weber die falsche Fährte, denn der Dämon ist bei ihm aktiv, ja verwirklichend, und beschlägt auch präzis die Politik. Im Ganzen ist hier eindeutig Goethe mit seinem ersten Achtzeiler der Urworte. Orphisch zu »ΔAIMΩN, Dämon« wegleitend, s. dazu nun treffend Christian Marty, a.a.O., S. 60f.

46

Thukydides II.61, in seiner dritten und letzten Rede bei Thukydides. Gegenstück bildet etwa Prinz Heinrich, der als frischgekrönter Heinrich V. Falstaff verleugnet: »Presume not that I am the thing I was… I have turn’d away my former self« (2nd part of King Henry IV., V.3). Das kann ganz gewöhnlicher und bekannter Opportunismus sein, im Moment der Machtergreifung den unbequemen Saufkumpanen und Erzieher (!) zu vergessen, oder aber auch eine – dann allerdings tragische – Einsicht in die praktische Unmöglichkeit, eine solche Einheit der Person über ein ganzes Leben zu verwirklichen (es ist klar, dass Weber in Politik als Beruf eher auf diese tragische Seite neigt und seine Zuhörerschaft direkt und gerade sokratisch fragt: »Was wird aus Ihnen allen dann innerlich geworden sein?«). Heinrich befindet sich wohl auf einer mittleren Linie, ein zwar mit diesen unterschiedlichen (Wert)Anforderungen beladenes, aber nicht überladenes Individuum, das zudem zum Lieblingshelden Shakespeares und zu seiner populärsten Königgestalt werden sollte.

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wieder zum Feldherrn, verurteilten ihn aber auch zu einer Geldbuße –, misslingt Sokrates dieser Authentizitätsbeweis vor dem Demos. Hier zeigt sich exemplarisch, dass Kulturkritik immer auch ein Stück Provokation ist (und vielleicht sogar sein muss); es gilt einfach, das richtige Gleichgewicht von Provokation und Aufbau zu finden. In diesem Zusammenhang ist das geläufige Bild der »bissigen Kritik« falsch: Kritik muss stechend sein, nicht Wunden reißen, und mit dem gestochenen Serum einen Heilungsprozess im Organismus auslösen. Für den Kritiker heißt das, dass er von seiner Pflicht zur Kritik und seiner Fähigkeit, die Dinge – und, so Sokrates, andere Mitbürger – zu verbessern, überzeugt sein muss47 . Sokrates behauptet von sich sogar, »der einzige zu sein, der sich um die wahre Staatskunst bemüht und […] für das Staatswohl tätig ist« (prattein ta politika, Gorgias, 521e), weil er seinem kritischen Geschäft ohne Ansehen seiner eigenen Person und seines eigenen Vorteils nachgeht. Sokrates sah seinen Beruf darin, beides zu sein, und die gleichzeitige und gleichwertige Erfüllung seiner beiden Aufgaben zu finden: diesem demokratischen Gemeinwesen als Kulturkritiker Stachel zu sein, und gleichzeitig dessen Bürger zu bleiben. Platon hat mit diesem Anspruch seines Lehrers übrigens zweifach gebrochen: Er hat Philosophie nicht mehr in der Öffentlichkeit, sondern in der (zudem noch bezahlten) Privatheit der Akademie betrieben, nicht mehr jedermann auf der Straße angesprochen, um ihn zum Besseren auch in dieser Stadt zu belehren. Gleichzeitig hat er mit der Demokratie dieser Stadt gebrochen und sich dem Anti-Demokratismus seiner Vorväter verschrieben. Er ist kein liberaler, sondern der Prototyp des elitären, sich vom Gemeinwesen entfernenden Kulturkritikers. Popper hatte nie die Hybris, sich mit seinen Vorbildern Kant oder Sokrates zu vergleichen oder den Vergleich auch nur zu evozieren; er lieferte uns seine kritische Rekonstruktion eines Sokrates in seinem verrückten 20. Jahrhundert48 . Das demokratische Athen der Großen Gesellschaft war demokratisch, aber sicher nicht liberal, denn es kannte

47

In der Tat wird Plato im Gorgias Sokrates’ Unfähigkeit und im Staat dessen Mangel an Pflicht zu beweisen suchen.

48

Die wesentliche Prägung der liberalen Weltgesellschaft des 20. Jahrhunderts durch Popper bejahe ich in Brühlmeier: »Karl Popper: Ein Optimist in einem verrückten Jahrhundert«, in: Jus & News, Nr. 2, 2000, S. 99–110.

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die klassischen individuellen Freiheitsrechte noch nicht. Die Verurteilung von Sokrates war sicher kein Justizirrtum, wohl nicht einmal ein Justizskandal; sie entsprach den rechtlichen Formen des athenischen Geschworenenprozesses und dessen negativer Ausgang wurde wesentlich mitbedingt durch Sokrates’ eigenwillige und ihm letztlich selbst schadende Verteidigung. Sokrates zum Helden dieses Prozesses machen, können wir nur mit rückblickender Interpretation – insbesondere auch, wie es Popper tut, unter Zuhilfenahme seiner staatstragenden Verweigerung der Flucht im Kriton. Die Große Gesellschaft Poppers, in weiten Teilen zu seinen Lebzeiten verwirklicht, ist und war und soll eine demokratische und liberale Gesellschaft und Kultur sein, und nur diese liberale Kultur erlaubt die Dissidenz des Kritikers, die offene Gesellschaft der Kulturkritiker49 . Vielleicht sind wir so am wahren »Ende der Geschichte«, nicht mit Fukuyama via eine Hegel-Kojève’sche Dialektik, sondern mit Popper via die Sokratisch-Kant’sche Weltrepublik50 – ja mit und dank Popper als Sokrates unserer modernen Welt.

Nachwort Dieser Beitrag wurde in der Coronakrise in der ersten Hälfte 2020 geschrieben. Eine Gesellschaft nahezu weltweit im »Lockdown« ist Paradebeispiel einer »geschlossenen Gesellschaft«. Sie ist es allerdings nur auf Zeit, und mit der klaren Perspektive mit der Rückkehr zum Normal- und Wunschzustand der offenen Gesellschaft. Francesca Falk51 hat dazu die wunderbare Entdeckung gemacht, dass der Leviathan auf der Erstausgabe von 1651 über eine geschlossene, unter Seuche stehende Stadt, mit zwei Seuchenärzten mit Schnabelmasken recht unten, herrscht. Ist so vielleicht der Leviathan gar nicht das Normalmodell des Staates, als das es von seinem Autor wohl konzipiert und dann über Jahrhunderte verstanden wurde, sondern die auf diesen Ausnahmezustand zugeschnit49

Formulierung in Anlehnung an Peter Häberle: »Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten«, in: JZ, 30 (1975), S. 297–305.

50

S. dazu Otfried Höffe: Immanuel Kant. Der Weltbü rger aus Königsberg, Liberales Forum St. Gallen, 2004, St. Gallen, und Ders.: Für ein Europa der Bürger, 2020, Tübingen, Kap. 19.1.

51

Eine gestische Geschichte der Grenze. Wie der Liberalismus an der Grenze an seine Grenzen kommt, 2011, München.

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tene und temporäre Lösung? Und wäre dann nicht die im 5. Jahrhundert v. Chr. in Athen probierte Demokratie der OG die immer schon existierende und inhärent überlegene Gesellschafts- und Staatsform? Und dies eingedenk der Tatsache, dass ihre Offenheit auf Globalisierung (zur Erinnerung: Seehandel und »kommerzielle Initiative«) und einem Kosmopolitismus beruht, der Touristen wie Migranten52 gleichermaßen willkommen heißt (allerdings mit Maß und in geregeltem Verfahren). Noch in einem anderen Punkt hat Popper recht bekommen: Die angesagte und im Großen und Ganzen erfolgreiche Politik der Corona-Bewältigung war bei der Mehrheit der politischen Entscheidungsträger(innen) ein kluges, die kleinen Schritte und die Reversibilität der Maßnahmen beachtendes Trial-and-Error im Sinne Poppers; in einer grundsätzlichen »Vorsicht und Umsicht« (Angela Merkel) schien eine gemäßigte Risikoaversion in der Klugheit eingebaut zu sein. Auch so altersweise 21. Jahrhundert-Sokratismen wie derjenige von Jürgen Habermas – »So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie«53 – können als Ausfluss Popper’schen Denkens verstanden werden. Als gänzlich unpopperianisch erscheint dagegen Ignoranz im Sinne von mehr oder weniger bewusstem Wegschauen und Wegreden, oder von dogmatischem Besserwissen. Gleichermaßen anmaßende wie hirnlose Strategieankündigungen und Kriegsrhetoriken sind an dieser unsichtbaren und in vielem unbekannten Gefahr verpufft; die herantastende Methode mit »Trial and Error« und der Reversibilitätsforderung hat sich als einzig gangbarer Weg der Bewältigung erwiesen. Die einschneidende Coronakrise zeigte also, wie popperianisch unsere Wissenschaft, Politik und auch die Kultur immer noch sind und es hoffentlich auch noch lange bleiben werden: Wir wissen, dass wir nichts wissen, und wir 52

Popper misst der Migration eine allgemeine, (leicht) verdeckt aber wohl auch existentielle und persönliche Bedeutung zu (s. auch etwa seine Versuche über Xenophanes); mit letzterem meine ich, dass er das wohl auch auf sich selbst bezieht, auf die beiden Migrationen, 1937 als Flucht, ja wohl sogar Exil vor der europäischen Katastrophe Nationalsozialismus, und 1945 als sein Ost-West-Transfer zurück nach Europa. Die Notwendigkeit der Publikation des Ms. von OS verglich Popper mit dem Gewinnen des 2. WK.

53

Interview mit Markus Schwering: »So viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie«, in: Frankfurter Rundschau, 7.4.2020.

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bewegen uns als nichtwissende, aber an die Umwelt circumspektiv adaptierende Wesen – wie Käfer54 ! – in eine ungewisse Zukunft.55

54

Dazu eine interessante persönliche Reminiszenz: Im vom Schreibenden mitorganisierten und eingeleiteten St. Galler Vortrag von Popper aus dem Jahr 1989 ist deutlich (neutral) von »Käfern« die Rede (Freiheit und intellektuelle Verantwortung, Liberales Forum St. Gallen, 1989, St. Gallen, S. 16). Im Laufe der Übersetzung ins Englische und der Publikation (a.a.O. [hier Anm. 41], S. 81–91) fand eine negative semantische Verschiebung zu »cockroaches«, zu Deutsch Kakerlake, statt, die dem Text nicht unbedingt guttut.

55

August Winkler beendet sein schönes Buch: Wie wir wurden, was wir sind. Eine kurze Geschichte der Deutschen, 2020, München, auch mit einem Corona»Nachwort«, und mit einem Bekenntnis zu »einer selbstkritischen Geschichtskultur« sowie zur wunderbar popperianischen Einsicht: »zum Lernen aus der Geschichte gehört auch die Bereitschaft, aus den bisherigen Lernprozessen zu lernen« (S. 231).

Hannah Arendts Analyse des Totalitarismus Eine Kritik der politischen ›UnKultur‹ des 20. Jahrhunderts? Josette Baer »To neglect the field of Political thought […] is merely to allow oneself to remain at the mercy of primitive and uncriticized political beliefs. It is only a very vulgar historical materialism that denies power of ideas, and says that ideals are mere material interests in disguise.«1 (Isaiah Berlin)

Einführung Obwohl es weibliche Philosophen im 20. und 21. Jahrhundert gibt, zum Beispiel die Sozial- und Rechtsphilosophin Martha Nussbaum (*1947) und die feministischen Denkerinnen Simone de Beauvoir (1908–1986) und Camille Paglia (*1947), nimmt Hannah Arendt (1906–1975) einen besonderen Platz im Pantheon der politischen Denker ein, weil sie die erste Frau war, die sich in einer männlich dominierten akademischen Disziplin behauptete.

1

Berlin, Isaiah (1969). »Two Concepts of Liberty«, in: Four Essays on Liberty. Oxford/New York: Oxford University Press, S. 118–172 und S. 119.

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Mit ihrer Totalitarismus-Theorie schrieb Arendt Ideengeschichte2 ; sie war bereits eine emanzipierte Frau, bevor das Wort »Emanzipation« im feministisch-politischen Kontext der 1970er Jahren allgemein bekannt und gebraucht wurde. In ihrem Denken, auch beeinflusst von den Schrecken des 2. Weltkrieges, gab es nur politische Theorie, denn seit Plato konnte die Philosophie der Politik nicht mehr neutral, also objektiv, gegenüberstehen.3 Politische Theorie war seit Plato immer normativ verbunden mit der Suche nach der guten, gerechten Ordnung. In Arendts politischem Denken spielt die Freiheit eine fundamentale Rolle: Nachdenken über Politik, politische Systeme und die Rechte der Menschen ist begründet in Freiheit. Das Individuum entscheidet, wie es mit seiner Freiheit umgeht, auch unter den Bedingungen, oder besser, Freiheitsbegrenzungen eines autoritär-totalitären Staates. Denken ist per se frei, denn es gibt gemäß Arendts Freiheitsverständnis kein unfreies Denken – nur inhaltsfreien, pseudo-moralisierenden Konformismus, hypokritisch-alibistische Statements und gedankenlos-applaudierendes Nachplappern. Im totalitären Staat bleibe ich so lange physisch frei, komme also nicht im Gefängnis oder GULAG, wie ich den Mund halte, denn das aus freiem Denken resultierende Handeln, das heißt die Äußerung meiner kritischen Gedanken, wird in einem solchen Regime zur Selbstbedrohung, ja sogar zur Selbstauslöschung. Jedoch kann ich selbst im Gefängnis frei denken. Stefan Zweigs (1991–1942) Schachnovelle ist ein gutes Beispiel dafür. Mein Beitrag besteht aus einer Einführung in Hannah Arendts Theorie des Totalitarismus, aus drei Hauptteilen sowie aus einem Schlusswort. In den drei Hauptteilen stelle ich die wichtigsten Elemente von Arendts Theorie des Totalitarismus vor. Im Schlusswort ziehe ich ein Fazit und beantworte die folgenden Fragen, erstens: Kann man Arendts Totalitarismus-Theorie als Kritik einer politischen UnKultur bezeichnen? Zweitens: Was ist das Gegenteil von politischer Kultur?

2

Arendt, Hannah (1973). The Origins of Totalitarianism. San Diego/New York/ London: Harcourt Brace & Company. Arendt gebrauchte den Begriff »Emanzipation« ausschließlich für die Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert; zur weiblichen Emanzipation äußerte sie sich nicht, weil das Thema sie nicht interessierte.

3

Hannah Arendt im Gespräch mit Günther Gaus im Jahre 1964, https://www.youtube.com/watch?v=J9SyTEUi6Kw (letzter Zugriff, 21. Februar 2019).

Hannah Arendts Analyse des Totalitarismus

Meine positivistische Definition von politischer Kultur im Rahmen der Geschichte des Nationalstaates im Europa des 20. Jahrhunderts beruht auf Sidney Verbas (*1932) Definition von political culture:4 »The political culture of a social entity (nation, nationality) consists in the system of beliefs about patterns of political interaction and political institutions. Beliefs as sets of norms and values are shaped by historic experiences of foreign rule and the political ideas of Enlightenment, Nationalism and Liberalism.«5

1. Arendts The Origins of Totalitarianism Die erste Auflage von The Origins of Totalitarianism (im Folgenden The Origins) erschien 1951; Arendt hatte ihre Analyse und Beschreibung totalitärer Herrschaft im letzten Kriegsjahr 1945 in ihrem New Yorker Exil begonnen und erweiterte den Text während des Kalten Krieges. The Origins besteht aus drei Teilen: Im ersten Teil widmete sie sich dem Antisemitismus, der in den Jahren der Entwicklung der europäischen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert entstand. Im zweiten Teil beschäftigte sie sich mit dem Imperialismus, der eng mit der Emanzipation der Bourgeoisie verknüpft war; das sozialdarwinistische Element des Imperialismus bestand im Gedanken, dass nur die ökonomisch und militärisch stärksten Nationen Imperien schaffen konnten und aufgrund ihrer Superiorität das Recht zur Eroberung fremder Territorien und Völker in Afrika und Asien hatten. Im dritten und letzten Teil analysierte sie totalitäre Herrschaft in Nazi-Deutschland und der Sowjetunion unter Stalin. Vorab ein kleiner Exkurs zu Arendts neuer Version ihres Totalitarismus-Teils.

4

»Political culture […] refers to the system of beliefs about patterns of political interaction and political institutions. It refers not to what is happening in the world of politics, but what people believe about those happenings.« Verba, Sidney (1965). »Conclusion: Comparative Political Culture«, in: Political Culture and Political Development. Princeton: Princeton University Press, S. 516. Verba auf https://scholar.harvard.edu/verba/biocv (letzter Zugriff, 21. Februar 2019).

5

Baer, Josette (2007). Slavic Thinkers or The Creation of Polities. Intellectual History and Political Thought in Central Europe and the Balkans in the 19th Century. Washington, DC: New Academia Publishing, S. 12.

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Arendt schrieb in ihrem 1966 verfassten Vorwort zum dritten Teil Totalitarianism, dass sie diesen mit dem Kapitel Ideology and Terror: A Novel Form of Government ergänzt hatte; auch sah sie ihre früheren Aussagen zum Ende des stalinistischen Totalitarismus durch das politische Geschehen bestätigt. Das post-stalinistische Politbüro wechselte zu einem neuen politischen Kurs, den Arendt treffend »detotalitarization« nannte6 : die Eliminierung der brutalsten Elemente Stalin’scher Herrschaft, namentlich eine deutliche Abnahme der Anklagen, die Individuen in das sowjetische System der Arbeitslager (GULAG) verschickten, Säuberungen und innerparteiliche Säuberungen von Top-Funktionären der sowjetischen KP. Auch die allgegenwärtige Angst und der Anreiz zur Denunziation, unter Stalin systematisch vorangetrieben, hörten ab 1953 auf. Eine bescheidene Kritik: Arendt konnte kein Russisch, und heutzutage würden wir eine Analyse, die sich nicht auf historische Quellen in der Originalsprache stützt, wissenschaftlich beanstanden. Aber man befand sich damals in einem ideologischen Krieg und nahm es mit der Quellenbefähigung der akademischen Elite nicht so genau. Arendt stützte sich für ihre Analyse des Stalin’schen Totalitarismus auf Übersetzungen und Analysen von englischsprachigen Historikern und Politologen, die des Russischen kundig waren. Sie kannte die Quellen des Smolensk-Archivs, 1958 herausgegeben von Merle Fainsod (1907–1972).7 Deshalb ist es nicht erstaunlich, wie präzise sie das TerrorRegime des velikii vozhd verstand. Die Enttotalisierung, begonnen nach 1953 unter dem Reformer Nikita S. Chruščev (1894–1971),8 stieß im Block sehr bald auf ihre Grenzen: Arendt war Zeitzeugin der sowjetischen Niederschlagung des ungarischen anti-kommunistischen Revolutionsversuchs von 1956 und der Invasion der Tschechoslowakei am 21. August

6

Arendt, Hannah, The Origins, (1973, op. cit.), S. xxv.

7

Arendt, Hannah, The Origins, (1973, op. cit.), S. xxv. Fainsod, Merle (1958).

8

Sehr empfehlenswert ist Taubman, William (2004). Khrushchev. The Man and His

Smolensk under Soviet Rule. Harvard, MA: Harvard University Press. Era. New York, London: Norton & Co.

Hannah Arendts Analyse des Totalitarismus

1968.9 Sie hielt sich mit einem Urteil zur neuen sowjetischen Politik zurück.10 Sollte man Chruščevs Tauwetter ernst nehmen, nur weil Künstler, Schriftsteller und Maler etwas mehr Freiheit genossen? Ich denke, dass ein Grund für Arendts Vorsicht exakt ihre nicht-existenten russischen Sprachkenntnisse waren. Weil sie auf Übersetzungen angewiesen war, hielt sie sich mit Prognosen zurück. Hätte sie die Pravda im russischen Original lesen können, hätte sie die neue Parteilinie genauestens beurteilen können. Sie hätte Prag 1968 als Beweis von Generalsekretär Leonid I. Brežnevs (1906–1982) neo-stalinistischer Außenpolitik interpretiert, also eine Zurücknahme von Chruščevs bescheidenem Tauwetter in den Beziehungen zum westlichen Klassenfeind. Hätte sie bis zu den SALT II-Verhandlungen 1979 und Ronald Reagans (1911–2004) Wahl zum US-Präsidenten im Jahre 1980 gelebt, hätte sie Michail S. Gorbatschows (*1931) Perestrojka und Glasnost prognostizieren können11 , denn sie hätte gefolgert, dass die starke US-Außenpolitik unter Präsident Reagan die Sowjetunion militärisch, finanziell und politisch unter Zugzwang bringen würde. Was sind nun die fundamentalen Elemente eines totalitären Regimes? Arendt nannte drei: erstens, eine klassenlose Masse von ethisch orientierungslosen Menschen, ideengeschichtlich weder Individuen noch Bürger; zweitens, totalitäre Propaganda und Indoktrination von strikt organisierten Parteien, die einem »genialen« Führer folgen und die Massen mit populistischen Versprechungen und einem politischen Freund-Feind-Bild gewinnen12 ; und drittens, eine neue Form

9

Die neueste Dubček Biographie: Baer, Josette (2018). Alexander Dubček Unknown. The Life of a Political Icon. Stuttgart, New York: Columbia University Press.

10

Arendt, Hannah, The Origins, (1973, op. cit.), S. xxxvi-xxxvii. In On Violence schrieb sie: »There exists now a great many plausible explanations for the de-Stalinization of Russia – none, I believe, so compelling as the realization by the Stalinist functionaries themselves that a continuation of the regime would lead, not to an insurrection, against which terror is indeed the best safeguard, but to paralysis of the whole country.«

11

Sehr empfehlenswert ist Taubman, William (2017). Gorbachev. His Life and Times. London: Simon & Schuster.

12

Siehe hierzu Carl Schmitt (2015). Der Begriff des Politischen. Berlin: Dunker & Humblot.

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des Regierens und Verwaltens, charakterisiert durch ein ausgeklügeltes Zusammenspiel von Ideologie und Terror.

2. Klassenlose Gesellschaft (Classless Society) Nach dem Ende des I. Weltkrieges kollabierten vier Großmächte: das Osmanische Reich, das Wilhelminische Kaiserreich, die Donaumonarchie Österreich-Ungarn und das russische Zarenreich. Was diese immense Zeitenwende mit den Menschenmassen machte, beschrieb Arendt folgendermaßen: »The totalitarian movements aim at and succeed in organizing masses – not classes, like the old interest parties of the Continental nation-states; not citizens with opinions about and interests in, the handling of public affairs, like the parties of the Anglo-Saxon countries. […] After the first World War, a deeply anti-democratic, prodictatorial wave of semitotalitarian and totalitarian movements swept Europe.«13 Wie haben wir uns den psychologischen Zustand dieser Massen vorzustellen? Weshalb waren namentlich die Deutschen und Russen bereit, sich von einer Partei, der NSDAP in Deutschland und der KPdSU in der Sowjetunion, regieren und terrorisieren zu lassen? Einem solchen politischen Zusammenbruch kann sich kein Individuum entziehen. Was in der Hierarchie des klassen-organisierten alten Reichs gestern noch unmöglich war für einen Fabrikarbeiter, nämlich sich in der Politik zu engagieren, war nun in der Weimarer Republik und der Sowjetunion unter Lenin möglich. Gleichzeitig musste ein preußischer oder zaristischer Staatsbeamter, meist dem Adel oder höherem Bürgertum entstammend, es als schmerzlichen Verlust seiner Privilegien und Proletarisierung seiner politischen Heimat empfinden, wenn knapp alphabetisierte Bauern und Arbeiter in den staatlichen Institutionen nun das Sagen hatten. Die Bolschewiki hatten die Zarenfamilie liquidiert – und keine biblischen Katastrophen geschahen, kein Zorn Gottes suchte die Russen heim. Der des Lesens und Schreibens unkundige russische muzhik dachte: Aha, Gott existiert nicht, also hat Lenin recht.

13

Arendt, Hannah, The Origins, (1973, op. cit.), S. 308.

Hannah Arendts Analyse des Totalitarismus

Der Österreicher Stefan Zweig (1881–1942) beschrieb lobend die Traditionen der Donaumonarchie, und der Pole Andrzej Kuśniewicz (1904–1993) die morbid-metaphysische Faszination an ihrem Ende: »When I attempt to find a simple formula for the period in which I grew up, prior to the First World War, I hope that I convey its fullness by calling it the Golden Age of Security. Everything in our almost thousand-year-old Austrian monarchy seemed based on permanency, and the State itself, was the chief guarantor of this stability. […] Then the people had unqualified confidence in their leaders; no one in Austria would have ventured the thought that the all high ruler Emperor Franz Josef, in his eighty-third year, would have called his people to war unless from direct necessity, would have demanded such a sacrifice of blood, unless evil, sinister, and criminal foes were threatening the peace of the Empire.«14 »You will agree with me, Herr Doktor, that death is the most fascinating thing on our planet. I refer to the death that is monitored and tapped, as you did a few minutes ago, when you percussed me from both sides. I don’t know whether you understand me, Herr Doktor, but I am speaking of the inflicting as well as the suffering of death. It could be described as savouring death, don’t you think? This is not only the most consistent attitude towards it, but also the only loyal one.«15 Die neue klassenlose Masse begann einen Appetit für politische Organisation zu bekommen, aber, so könnte man salopp im Sinne Arendts hinzufügen: These two should have never met! Was passiert, wenn meine Sicherheit, mein moralisches und politisches Gestell auf einmal wegfällt? Ich suche eine Orientierung oder Bewegung, die mich auf- und annimmt. Kern des totalitären Staates waren erstens, ethisch und politisch orientierungslose Massen und zweitens, eine totalitäre Partei, die zielsicher die Regierungsmacht anstrebte, hierzu eine Bewegung gründete und von ihren fellow travellers

14

Zweig, Stefan (1964). The World of Yesterday. Lincoln, NE, London: The University of Nebraska Press, S. 1, S. 225.

15

Kuśniewicz, Andrzej (1997). Lektion in einer toten Sprache. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 125.

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und Mitgliedern absolute Loyalität verlangte. Selbstredend hatte die Freiheit des Individuums weder in der NSDAP noch der KPdSU den geringsten Platz, denn diese verfolgten ja eine soziale und politische Revolution, die das alte, verweichlicht-humanistische Regime ersetzen sollte. Im ideologischen Geschwätz dieser Parteien war Freiheit das Gestern; das Morgen würde die Weltherrschaft der arischen Rasse unter Führung der Deutschen und die Einheit aller Proletarier in ihrem staatenlosen Arbeiterparadies sein. Das Selbstgefühl des Individuums war überflüssig;16 es war heimatlos, weil sein Reich den Krieg verloren hatte, ethisch orientierungslos und womöglich noch arbeitslos. Diese sozial-ökonomischen Faktoren führten zu einem bis dato noch nicht existierenden psychologischen Zustand. Arendt sprach von einer self-centeredness, die einherging mit einer deutlichen Schwächung des Instinkts für self-preservation.17 Dieses seltsame Paradox erklärte sie mit den Selbstanklagen loyaler Top-Kommunisten in den stalinistischen Schauprozessen und der Begeisterung deutscher Generäle und Soldaten, für den Führer einen Angriffskrieg zu beginnen.18 Wie die meisten Beobachter im Westen wunderte sich Arendt, dass Lenins alte Kameraden sich des Hochverrats und der Spionage für den kapitalistischen Westen bezichtigten; genauso verhielten sich auch hartgesottene Parteimitglieder der KPs der Blockstaaten, die selbst mit Andersdenkenden überhaupt nicht zimperlich umgegangen waren,19 also hier auch wieder self-centeredness gepaart mit dem Fehlen jeglicher selfpreservation. Ein Beispiel aus der Praxis des Totalitarismus: Rudolf Slánský (1901–1952) war GenSek der KSČ (Komunistická Strana Československá) und ließ das Gefängnis Ruzyně bei Prag 1949 renovieren, um darin Klassenfeinde jedweder Couleur einzusperren – nach seiner Verhaftung im November 1951 wurde er genau dort verhört und gefoltert.20 16

Arendt, Hannah The Origins, (1973, op. cit.), S. 311.

17

Arendt, Hannah The Origins, (1973, op. cit.), S. 315.

18

Zuerst riskierten Generäle und Soldaten ihr Leben (fehlende self-preservation), danach ging es nur noch um Selbsterhalt (self-centeredness).

19

Die Schauprozesse von Lenins alten Kameraden Sinoviev, Kamenev und Bucharin in den 1930er Jahren waren der blueprint für die Schauprozesse der KP Topkader in den sowjetischen Satellitenstaaten in den 1950er Jahren.

20

Lukes Igor (2008). Rudolf Slansky. His Trial and Trials. Cold War International History Project, Working Paper no. 50 (Washington, DC: Woodrow Wilson

Hannah Arendts Analyse des Totalitarismus

Die totalitären Bewegungen und Parteien waren geprägt durch Vulgarität, Zynismus, Kriminalität, Terror und Intellektuellenhass: »What proved so attractive was that terrorism had become a kind of philosophy through which to express frustration, resentment, and blind hatred, […] [political expressionism], which watched delightedly the publicity given to resounding deeds, and was absolutely willing to pay the price of life for having succeeded in forcing the recognition of one’s existence on the normal strata of society.«21

3. Totalitäre Propaganda (Totalitarian Propaganda) Der Massenmensch, sich in seiner neuen politischen Heimat, der totalitären Bewegung, zuhause fühlend, ließ sich widerspruchslos manipulieren und disziplinieren in allen sozialen, ökonomischen und weltanschaulich-moralischen Bereichen des Lebens, das nun keine Trennung von öffentlich und privat mehr anerkannte. Die Partei diktierte: Alles war politisch, und die Privatsphäre des Individuums als Freiheitsrückzugsort passé, sogar justiziabel.22 Was erhielt das gehorchende Individuum für die Aufgabe seiner Freiheit? Anerkennung in der Massenbewegung, Aufgaben, Sinn, materielles Weiterkommen, zum Beispiel die

Center). Arendt hatte noch nicht wichtige Informationen zur Hand, weshalb sich die Angeklagten selbst beschuldigten. Sie wurden so lange gefoltert und »übten« ihre Antworten so lange auswendig, bis das grausige Theaterspiel in allen Details stimmig war – rein organisatorisch ein immenser Aufwand. Offiziere des sowjetischen NKVD (später KGB) führten diese Methoden in den 1950er Jahren in den Satellitenstaaten ein. Siehe mein Spirits that I’ve cited…?: Vladimír Clementis (1902–1952). The Political Biography of a Czechoslovak Communist (2017), Stuttgart/New York: Columbia University Press. 21

Arendt, Hannah, The Origins (1973, op. cit.), S. 332.

22

Siehe die sowjetische Propaganda zum 14-jährigen Pawel Morosow, der in den 1930er Jahren angeblich seine Kulaken-Eltern bei den Behörden als Klassenfeinde denunzierte und zum Held-Vorbild der Pionierorganisation stilisiert wurde: http://soviethistory.msu.edu/1934-2/pavlik-morozov/ (letzter Zugriff, 16. Juli 2020).

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größere Wohnung des Nachbarn, den man bei den Behörden denunzieren konnte für die Nichtigkeit eines harmlosen, nicht mal politisch-regierungskritischen Witzes. Jegliche Kritik wurde eliminiert in den Säuberungen der sowjetischen 1930er Jahre, den Radiumminen des westböhmischen Jáchymov nach Februar 1948,23 in chinesischen Umerziehungslagern nach 1949,24 und im KZ Dachau seit März 1933. Es brauchte aber noch zwei weitere Elemente, um die totalitäre Herrschaft abzusichern, denn Terror allein konnte nur auf bestimmte Zeit eingesetzt werden. Diese Elemente waren Indoktrination und Propaganda. Das brutalste Regime konnte ja nicht auf eine unbestimmte Zeit täglich Leute foltern, einsperren und umbringen – jemand musste sich um die Ernte, die Verwaltung, die Krankenhäuser, Schulen und Parteierziehung kümmern. Indoktrination innerhalb des Staates manipulierte die Massen, während Propaganda die nicht-totalitäre Außenwelt systematisch belog:

23

Die Memoiren eines Häftlings: Klobas, Oldřich (2018). Jak se chodí v laně. Svědectví politického vězně z padesátých let o Jáchymovském Táboře Nikolaj. Praha: Academia. Siehe meine Rezension »A little spa town and the horrors of forced labour in C ommunist C zechoslovakia« zu Klára Pinerová, (ed.) Jáchymov. Jeviště bouřlivého století (Praha: (ABS, 2019), publiziert in New Eastern Europe XLI/2020, no. 3, April-May, 162–165.

24

Mein Kollege und China-Experte Marc Winter, UZH, in einer E-Mail-Konversation vom 1. März 2019: »Die D Arbeitslager waren Zuchthäuser und sie sind es auch heute noch. Darin wird Sklavenarbeit getätigt, meist für Unternehmen, die von der Polizei oder dem Militär kontrolliert werden und die sich so Konkurrenz vom Leib halten. Der Aspekt der Umerziehung wird nach meinem Wissen in den gewöhnlichen Gefängnissen stärker gewichtet oder sagen wir, wurde, weil dies seit dem Ende des Sozialismus als effektiver Leitideologie nicht mehr so wichtig ist, da die Erziehbarkeit des Menschen und seine Reformmöglichkeiten natürlich im idealistischen Weltbild größer und wichtiger wirken als heute. Allerdings wird immer nur der spektakuläre Fall des letzten Kaisers angeführt und dass dieser eine etwas andere Behandlung erfahren hat als der gewöhnliche Fahrraddieb von nebenan. Das brainwashing ist die sogenannte ›Selbstkritik‹, ein Geständnis, das man als Ausgangspunkt der Besserung ansah (Einsicht ist der erste Schritt) und das von allen eingefordert wird, also nicht nur von Leuten in Arbeitslagern. Meines Wissens ist das Geständnis, bzw. die Selbstkritik ein zentrales Element der chinesischen Strafjustiz bis heute.«

Hannah Arendts Analyse des Totalitarismus

»Since totalitarian movements exist in a world which itself is nontotalitarian, they are forced to resort to what we commonly regard as propaganda. But such propaganda always makes its appeal to an external sphere […] The relationship between propaganda and indoctrination usually depends upon the size of the movements on one hand, and upon outside pressure on the other. The smaller the movement, the more energy it will expend in mere propaganda; the greater the pressure on totalitarian regimes from the outside world – a pressure that even behind iron curtains cannot be ignored entirely – the more actively will the totalitarian dictators engage in propaganda.«25 Man könnte die sowjetische Propaganda in den späten 1980er Jahren – denn sie hörte unter Gorbačev keineswegs auf – auch als Überlebensstrategie des Totalitarismus bezeichnen: Propaganda diente nicht nur zur Brandmarkung des bösen kapitalistischen Westens, der mit seinen Nuklearwaffen den friedliebenden sowjetischen Block bedrohte, sondern auch zur Selbst-Identifikation der Funktionäre, Minister, Universitätsprofessoren und Fabrikdirektoren. Gemäß der wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus wusste man, dass die Welt in schwarz und weiß geteilt war und kannte somit den eigenen Platz: Man lebte im besten, moralischsten System, dem humanistischen Sozialismus, der den Frieden global anstrebte, vor allem in der Dritten Welt. Südamerika, Afrika und Asien waren Kontinente, die Opfer des ausbeuterischen Imperialismus des westlichen Kapitalismus im 19. Jahrhundert gewesen waren. Die Sowjetunion war deshalb immens interessiert, die dekolonisierten Staaten der Dritten Welt für sich zu gewinnen. Nebst dem Initial-Terror, der Indoktrination und Propaganda in der Außenpolitik konstatierte Arendt ein weiteres, unheimliches Element, das Václav Havels (1936–2011) Beschreibung von post-totalitärer26 Herr25

Arendt, Hannah, The Origins, (1973, op. cit.), S. 343–344. Beispiele: Der Mauerbau vom Juni 1961 wurde vom Staatsrats-Vorsitzenden Walter Ulbricht (1893–1973) zuerst geleugnet; als die Mauer stand, hieß sie im SEDJargon »antikapitalistischer Schutzwall«. KGB-Spione wurden in der Sowjetunion razvedšiki, also »Aufklärer« genannt, während die DDR-Spione »Kundschafter des Friedens« hießen.

26

Juan J. Linz (1926–2013) erfand den Begriff »post-totalitarianism«. Ein post-totalitäres Regime unterscheidet sich vom totalitären durch limitierten sozialen

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schaft antizipierte. Sehen wir uns Arendts und Havels Gedanken im Vergleich an: »More specific in totalitarian propaganda, however, than direct threats and crimes against individuals is the use of indirect, veiled, and menacing hints against all who will not heed its teachings. […] The important factor for the movements is that, even before they seize power, they give the impression that all elements of society are embodied in their ranks.«27 »Only a superficial glance allows one to distinguish society into rulers and ruled […] [In the post-totalitarian system], the conflict line goes de facto through every person, since everybody is, at the same time, the system’s victim and its supporting pillar.«28 Arendt sprach von der Macht, die die Menschen noch vor der realen Machtergreifung der totalitären Partei einschüchterte, und Havel vom post-totalitären Regime, das nach der Machtergreifung jedes Individuum in seinen Machtbereich zog. Mit der individuellen Freiheit war es also bereits vor der Machtergreifung der totalitären Partei vorbei; der Massenmensch hatte sie freiwillig abgeben. Moralisch orientierungslose Massen waren nur allzu bereit, sich für eine bessere Zukunft ihrer Kinder zu engagieren, auch wenn dieses Engagement verlangte,

Pluralismus und Existenz einer parallel society von Dissidenten und Künstlern; Linz, Juan J. (1975). »Totalitarianism and Authoritarian Regimes«, in Handbook of Political Science. Reading MA: Addison-Wesley, 175–411. 27

Arendt, The Origins, (1973, op. cit.), S. 345 und S. 371. Arendt meinte damit die Parteiorganisationen wie Pioniere, Hitlerjugend, Bund Deutscher Mädel, Union sozialistischer Frauen, Veteranenverbände, »unabhängige« Gewerkschaften und Hobby-Vereine wie Schachklubs. Diese Profilierung von Organisationen, kontrolliert und initiiert von der Partei, vermittelten jedem, der die Bewegung noch kritisch betrachtete, den Eindruck, er sei der Einzige, der noch nicht dazugehörte, wirkte also sozial isolierend und übte massiven psychologischen Druck aus.

28

Havel, Václav (1990). »Moc bezmocných«, in: O lidskou identitu. Úvahy, fejetony, protesty, polemiky, prohlášení a rozhovory z let 1969–1979. Praha: Rozmluvy, S. 55–133, S. 70. Übersetzung von mir.

Hannah Arendts Analyse des Totalitarismus

ethische Prinzipien abzulegen, um im neuen Regime weiterzukommen. Wohin? Zum globalen Arbeiterparadies und zum Triumph der Arischen Herrenrasse. The Pursuit of Happiness war ein US-republikanisches und ergo westlich-kapitalistisches Prinzip, von dem die kriegserschöpften Mittel-Europäer nur träumen konnten. Um die große sozial-ökonomische Revolution29 zu erreichen, hatte die Macht ein gedanklich-immaterielles Überzeugungsinstrument zur Verfügung: Die Staatsideologie mit Verhaltensregeln, Handlungs- und Denkanleitungen und einem psychologisch-argumentativen Steigbügel, der Aktivitäten wie Massenmord, Folter, Deportation und Arbeitslager legitimierte für den Erfolg und das Fortbestehen der totalitären Bewegung. Die Ideologie legitimierte die Zukunftsprojekte des sozialistischen Arbeiterparadieses und des Tausendjährigen Arierparadieses, den Holocaust, die Enteignung von Unternehmen, Firmen, Fabriken und Farmen und die Versklavung der Menschen in einem zentral geplanten ökonomischen System.30

29

Zur Ähnlichkeit des Nazi-Regimes mit dem sowjetischen Sozialismus, siehe Lübbe, Hermann (2013). »Der Totalitarismus. Politische Moral als Anti-Religion«, Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 17, (1), S. 27–43. Laut Eckhard Jesse vermied die DDR-Regierung, das Nazi-Regime als sozialistisch zu bezeichnen und gebrauchte den Begriff »Faschismus«, Jesse, Eckhard (2015) »Antifaschismus in der Ideokratie der DDR – und die Folgen«, in: Extremismus und Demokratie, Parteien und Wahlen. Köln/Weimar/Wien: Nomos, S. 93–104, S. 100. Ich danke Hermann Lübbe für diesen Hinweis; E-Mail-Konversation mit Hermann Lübbe vom 30. Juni 2016.

30

Materieller Besitz und Verantwortung hängen zusammen; wenn ich ein Haus besitze, kümmere ich mich um das Dach, den Garten etc., übernehme also Verantwortung für meinen Besitz. Hannah Arendt hat meines Wissens nichts dazu veröffentlicht. Also: Wie soll ich als Individuum Verantwortung lernen, wenn ich nichts besitzen darf, wenn ich nichts selbst entscheiden darf und meine Regierung über 70 Jahre predigt, dass Eigentum Diebstahl ist? Ist eine civil society ohne Verantwortung des Einzelnen möglich?

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4. Ideologie (Ideology) Die Ideologie wurde von den Parteibossen, Ministern und Funktionären ernstgenommen,31 da die Generation, die den Zweiten Weltkrieg als junge Erwachsene oder Teenager überlebte, Idealisten-Gläubige waren. Die totalitären Ideologien der NSDAP und der KPs – und das unterschied sie von ›einfachen‹ Diktaturen wie dem chilenischen PinochetRegime nach 1973 oder der Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan nach 2017 – verfolgten das Ziel, das Individuum von innen heraus zu transformieren, die Natur des Menschen zu verändern.32 Weltveränderung begann im Verändern des Denkens, und die marxistisch-leninistische Ideologie verfolgte auch eine brutale soziale Revolution: Kindern aus bourgeoisen Mittelschichtsfamilien war Hochschulausbildung verwehrt, während Kinder proletarischer Herkunft Parteikarriere machen und Universitätslaufbahnen beginnen konnten, also eine sozial-ökonomische Umwälzung der Gesellschaft, die ihresgleichen in der Geschichte sucht. Arendt bekundete zur totalitären Erziehung in den Schulen NaziDeutschlands: »The aim of totalitarian education has never been to instil convictions but to destroy the capacity to form any.«33

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Margot (1927–2016) und Erich Honecker (1912–1994) glaubten auch nach dem Zusammenbruch der DDR weiter an den Sozialismus. Nicolae Ceauşescus (1918–1989) schockiertes Gesicht, als ihn die Bukarester Massen im Dezember 1989 ausbuhten, ging um die Welt. Gustáv Husák (1913–1991), nach der Niederschlagung des tschechoslowakischen Frühlings von 1968 Parteivorsitzender (1969–1987) und Präsident (1975–1989) in Personalunion, war Doktor der Jurisprudenz und sagte in seiner Abschiedsrede im Fernsehen am 9. Dezember 1989: »Seit früher Jugend habe ich an das heilige Ideal des Sozialismus geglaubt. Waren da Fehler, waren sie menschengemachte Fehler und keineswegs Fehler der fundamentalen Prinzipien des Sozialismus. Ich kenne […] keine bessere fundamentale Ordnung. Das ist der Grund, weshalb ich weiterhin dem Sozialismus die Treue halte.« Jaksicsová, Vlasta (2013). »Tak, a máme to za sebou …«, in: Husák, Gustáv. Moc politiky. Politik moci. Bratislava: Veda, S. 11. Übersetzung von mir.

32

Arendt, The Origins, (1973, op. cit.), S. 347.

33

Arendt, The Origins, (1973, op. cit.), S. 468.

Hannah Arendts Analyse des Totalitarismus

In der ČSSR wurden Charta 77 Dissidenten zwar nicht in psychiatrischen Anstalten eingesperrt wie in der Sowjetunion unter Brežnev, aber das Husák-Regime bestrafte sie mit Gefängnis, Abschiebung in den Westen und manueller Arbeit – und diese hatte finanzielle Folgen: Familien von Dissidenten wie derjenigen des Schriftstellers Ivan Klíma (*1931)34 waren einer systematisch geplanten und akribisch durchgesetzten Pauperisierung ausgesetzt, denn wenn man nur manuelle Arbeit verrichten durfte wie Kohle schaufeln, Bierfässer rollen oder Straßen putzen, verdiente man einen Minimallohn, der in einer Minimalrente endete. Da die Kinder von Regimekritikern ja nicht studieren durften, befanden sich die Familien in prekären finanziellen Lagen. Wie verändert man die menschliche Natur mittels einer Ideologie, einem politischen Katechismus, der alles erklärt, alles verspricht, de facto wenig hält und die Massen stets auf die revolutionäre Zukunft vertröstet, weil die Gegenwart so frustrierend ist? Andrei A. Ždanov (1896–1948) erklärte in seiner Rede vor dem sowjetischen Schriftstellerverband im August 193435 Stalins Genius mit dem Motto Schriftsteller sollten Ingenieure der menschlichen Seele sein. Was meinte Ždanov damit? Gemäß dem Marxismus-Leninismus ist der Mensch Maschine, definiert durch die Gesetze der Biologie, Physiologie und Chemie. Er ist sterbliche Materie; ein Leben nach dem Tod gibt es nicht. Sein Klassenbewusstsein und

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Siehe den meiner Meinung nach besten Roman Klímas, eine Beschreibung der Normalisierungspolitik in post-1968 Prag: Soudce z milosti (1991). Praha: Rozmluvy; die englische Version ist Judge on trial (1991). New York: Vintage. Ivan Martin Jirous (1944–2011) war spiritus rector der tschechischen Rockband The Plastic People of the Universe und saß dreimal im Gefängnis für seine kritische Haltung. Bevor er 2011 starb, bezahlten ihm die demokratischen post-1989 Regierungen keine Rente, mit der bürokratischen Begründung, er sei ja für Jahrzehnte unter dem alten Regime keiner geordneten Arbeit nachgegangen. Siehe Švehla, Marek (2017). Magor a jeho doba. Život Ivana M. Jirouse. Praha: Torst, S. 12, und meine Rezension in COMENIUS Journal of Euro-American Civilization 6, no. 1 (2019), 132–133.

35

https://www.marxists.org/subject/art/lit_crit/sovietwritercongress/zdhanov.h tm (letzter Zugriff, 27. April 2015). Der Titel des berühmten Romans von Josef Škvorecký (1994). The Engineer of Human Souls (London: Vintage) ist Ironie par excellence; er widmet sich den großen »Ingenieuren der menschlichen Seele«, wie Edgar Allan Poe, Mark Twain, Joseph Conrad und F. Scott Fitzgerald.

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sozial-politisches Verhalten kann aber verbessert werden durch politische und psychologische Technologie, durch Indoktrination. Schriftsteller sollten sich deshalb der menschlichen Seele, die ja selbst als Materie verstanden wurde, annehmen und sie umbauen, dies so, wie man eine Maschine neu konstruiert. Arendt erklärte die totalitären Ideologien mit drei Prinzipien: Erstens sind Ideologien in totalitären Regimen an Geschichte gebunden.36 Da die Ideologie ein in sich logisch kohärentes Gebilde ist, kann sie alles erklären, also die inhuman-ausbeutende Vergangenheit, die bessere Gegenwart im Regime und das Paradies in der Zukunft. Zweitens, wegen dieser Geschichtsgebundenheit hat sich ideologisches Denken von Erfahrung und empirischem Denken gelöst, sich also von der Realität emanzipiert.37 Die Folgen davon sind die paranoide Tendenz, überall und stets Verschwörungen zu wittern, und eine verzerrte Wahrnehmung der Realität. Man denke hier an die bereits erwähnten TopKommunisten, die angeblich für den Westen spionierten und den von Goebbels propagierten Endsieg.38 Arendts drittes Prinzip ist die Herstellung von totaler Konsistenz:39 Alle Fragen sind beantwortet, und das nationalsozialistische und kommunistische Regime hatten stets eine logisch scheinende Erklärung parat. Missernten in den 1950ern, durch die Zwangskollektivierung entstanden, wurden mit dem bösen Kartoffelkäfer erklärt, den die USA auf die Felder der Tschechoslowakei abgeworfen hatten. Die Nazis erklärten die Massenarbeitslosigkeit in den 1930er Jahren mit der jüdischen Weltverschwörung.

36

Arendt, Hannah, The Origins, (1973, op. cit.), S. 470.

37

Arendt, Hannah, The Origins, (1973, op. cit.), S. 470.

38

Siehe hierzu Kershaw, Ian (2011). The End. Hitler’s Germany 1944–45. London: Penguin. Der Begriff Endsieg ist ein totalitäres Wortgebilde: Er vertröstet, appelliert an Hoffnung. Man verliert zwar stets, kämpft an zwei Fronten – aber am Ende werden die Deutschen siegen. Wie das logisch aufgehen sollte, erklärte Goebbels nicht, und jeder Zweifel wurde mit Defätismus und Verrat erklärt und entsprechend bestraft.

39

Arendt, The Origins, (1973, op. cit.), S. 471.

Hannah Arendts Analyse des Totalitarismus

Schlussbemerkung Hannah Arendt war eine großartige Denkerin, stets präzise in Begriffen und Kontexten. Ihre Analyse und Beschreibung des Totalitarismus in Nazi-Deutschland und der Sowjetunion sind eine Bereicherung auch für Historiker, die die Quellenlage kennen, denn sie bot psychologische Erklärungen an, die weit über Quelleninterpretation hinausgehen. Politisch-psychologische Interpretationen, wie das totalitäre Denken zustande kam, wie Ideologie und Terror Hand in Hand wirkten und wie die Unfreiheit des Einzelnen hergestellt und bewirtschaftet-organisiert wurde, bis aus Millionen von Individuen eine Masse von funktionierenden Zombies wurde, des kritischen Denkens unfähig – für diese Erklärungen sind wir Arendt zu Dank verpflichtet. Hatten das Nazi-Regime und die Sowjetunion unter Stalin eigene politische Kulturen, und würde Arendt den Totalitarismus als eine neue Form der politischen Kultur bezeichnen? Ich denke, sie würde auf die lateinische Wurzel des Begriffs »Kultur« zurückgehen: colēre = bebauen, pflegen, verehren (inhabit, cultivate, worship).40 Ihre Antwort würde, auf der Etymologie von »Kultur« beruhend, wahrscheinlich so klingen: Nein, der Totalitarismus ist keine neue Form von politischer Kultur, denn Kultur ist positiv, bejahend, unterstützend und bedarf der Freiheit. In Unfreiheit entsteht keine Kultur, weil Aktivitäten wie Land zu bebauen, einen Tempel zu errichten und eine Glaubensrichtung zu erfinden auf Freiheit, Phantasie, Kreativität und Courage beruhen. Deshalb würde sie auch nicht von einer ›Nazi-Kultur des Todes‹ oder einer ›Sowjet-Kultur des blinden Glaubens‹ sprechen, da Tod und blinder Glauben durch Terror, also Unfreiheit entstanden. Kultur ist kein Produkt von Terror, Ideologie und Propaganda, sondern kann nur unter den Bedingungen der politischen Freiheit entstehen. Letztlich: Der Begriff der UnKultur ist falsch. Das Gegenteil von Kultur ist Chaos und Anarchie, Langeweile und Leere, die Absenz von Imagination und Kreation. Das Gegenteil von politischer Kultur ist nicht »politische UnKultur«, sondern politische Leere, Anarchie und Chaos, also das Fehlen von Politik im Sinne von Aristoteles polis und der römischen res publica.

40

Ayto, John (1991). Bloomsbury Dictionary of Word Origins. London: Bloomsbury, S. 149.

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Anstelle eines Schlusswortes Kulturkritik im Namen der Menschlichkeit. Siegfried Kracauer und das Feuilleton Barbara Thériault

Einführung Ein Kollege sagte, dass es schwer sei, etwas über Kracauer zu lesen, nachdem man etwas von ihm gelesen hat. Das stimmt. Im Vergleich zu seinen anregenden, scharfsinnigen und glanzvoll geschriebenen Texten besteht stets das Risiko, dass Sekundärliteratur umständlich und langweilig wirkt. Kracauer (1889 in Frankfurt a.M. – 1966 in New York) war eine Größe des Feuilletons der Weimarer Zeit, ein Genre, das er auf eine so eigensinnige wie produktive Art betrieb. Zwischen 1920 und 1933 verfasste Kracauer Tausende Feuilletonartikel, Buchrezensionen und Filmkritiken in der renommierten Frankfurter Zeitung, einem liberalen Blatt, welches zuerst in Frankfurt a.M. und – ab April 1930 – in Berlin erschien. Nah an der Sache dran, dennoch mit Distanz und Ironie, berichtete er »soziologisch« über seine Zeit, also kritisch. Um der Falle, vor der man steht, zu entgehen, wenn man über Kracauer schreibt, möchte ich ein kleines Experiment wagen: Ich will hier in voller Länge einen Text Kracauers abbilden: »Kampf gegen die Badehose«. Ausgewählt habe ich diesen Text, weil er die Kulturkritik des Denkers veranschaulicht und weil er – neben vielen anderen – einfach ein gut geschriebener Text ist. Indem ich »Kampf gegen die Badehose« durch Fußnoten kommentiere, mache ich auf die Kulturkritik Kracauers aufmerksam. Die Idee des »footnoting game« entlehne ich Jonathan Franzen. In seinem Buch The Kraus Project (2014 [2013]) übersetzt der Romanschriftsteller und Essayist fünf Texte des Wiener Satirikers und Polemikers Karl

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Kraus (1874–1936) aus den Jahren 1910 bis 1933 ins Englische und kommentiert sie in einem Fußnotenapparat. Franzens Fußnoten sind wahrlich die ersten, die ich gerne gelesen habe. Sie sind mehr als ein gelehrter Kommentar. In Form von Bemerkungen und kleinen Essays zeigt Franzen die Relevanz von Kraus’ Schriften für die heutigen Leser*innen, ohne sich als Kommentator vorzudrängen. Genau das habe ich mir auf den kommenden Seiten vorgenommen. Kracauers Text sollte sprechen und zum Sprechen gebracht werden, indem ich beschreibe, was sein Verfasser gerade macht, auf andere seiner Texte verweise, einige Referenzen von Kennern einbeziehe und ihn in unsere heutige Zeit zu übersetzen versuche. So wird auf die Themen Kracauers eingegangen, auf die Kritik der Verdinglichung und auf die Betonung der menschlichen Würde, auf die Aufgabe von Intellektuellen und auf die Praxis des Feuilletons, auf sein ungewöhnliches Schreiben und die Verwendung literarischer Mittel und auf anderes mehr. »Kampf gegen die Badehose« wurde ursprünglich am 31. März 1931 auf der ersten und zweiten Seite der Abendausgabe der Frankfurter Zeitung veröffentlicht und ist abgedruckt im Band 5.3 des Werkes.

Kampf gegen die Badehose »Bitte schön, haben die Herrschaften schon unser neuestes Heft: Freude am Körper?« So fragt im Großen Schauspielhaus ein halbwüchsiges Mädchen mit Zöpfen, das die Körperfreude in einem ähnlichen Ton verkauft wie Zündhölzer, Schnürriemen oder Blumen. Zahllose Menschen füllen das Theater bis unters Dach. Was hat sie an dem strahlenden Sonntagsmorgen herbeigelockt? Eine Frei-Körperkultur-Matinee. Arbeiter, Angestellte, kleine Beamte – dichtgedrängt sitzen sie teils zwischen den Stalaktiten Poelzigs, teils zwischen den Dekorationen zum »Weißen Rössl«, schöngemalten Almen und Gebirgsdörfern, die sie rundum ziehen. Mich wundert nur, daß kein Wasserfall rauscht.1 1

Als Journalist besuchte Kracauer allerlei Veranstaltungen. Man muss sich vorstellen: Er wird als Reporter rausgeschickt, um – wie hier – über eine Matinee, eine Lesung (»Dichter im Warenhaus« [2011 (1930): 329–331]) oder eine Ausstellung (»Möbel von heute« [2011 (1931): 565–568]) zu berichten und schreibt daraufhin einen Text, wie der, den Sie gerade lesen. Ohne präzise Angaben, verspielt, kritisch. Kracauers Texte sind keine üblichen Zeitungsberichte. Während

Anstelle eines Schlusswortes

Vor den dunklen Waldhintergrund auf der offenen Bühne, über den die Schneegipfel gleißen, tritt Herr Adolf Koch, der Leiter der sozialpädagogischen Körperkulturschule, und begrüßt namens aller möglichen angeschlossenen Verbände die anwesenden Abgeordneten, Schulräte, sozialistische Ärzte, Pressevertreter und überhaupt das ganze Publikum. Herr Koch erzählt uns, dass die kleine Sekte derer, die sich um 1900 zum nackten Körper bekannten, heute zu einer Massenbewegung angewachsen sei, nennt Ziffern von erstaunlicher Höhe und befaßt sich dann in der Hauptsache mit den Zielen der sozialistischen Freikörperkulturbewegung.2 Dieses Wort ist genau so umständlich zusammengeer aus allen Gegenständen ein mögliches Analysenthema machen konnte, hatte er jedoch ein parti pris – das man hier wiederfindet – für Alltagsdinge. Er verbindet Alltag mit größeren Fragen. Kultur ist für Kracauer Kultur mit einem kleinem »k«, d.h. in ihrer alltäglichen Dimension, wie es für viele Soziologen, Anthropologen und Geschichtswissenschaftler heutzutage üblich ist. Sein Interesse galt insbesondere der Kultur der Angestellten. Er behandelt das Thema in unzähligen Texten vor und nach 1930, am bekanntesten in der Reihe – die später als Buch erschienen ist – »Die Angestellten« (2006 [1930/1929]). Stets begleitet Kracauer Angestellte in die Welt der Produktion, aber auch abends – in Kinos und Cafés – sowie bei Ausflügen und beim Sport am Wochenende, »Asyle«, wo sie sich zu zerstreuen erhofften. Im »Kampf gegen die Badehose« finden wir die Werktätigen im Großen Schauspielhaus, dem heutigen Friedrichstadt-Palast bei einer »Frei-Körperkultur-Matinee« der sozialistischen Freikörperkulturbewegung. In seinen Texten richtet Kracauer seine Kritik vordergründig gegen die kapitalistische Gesellschaft. Obwohl er keiner Partei angehörte, stand er seit der Mitte der 1920er Jahre dem Marxismus nah. In seinem Nachwort zur DDRAusgabe des Angestelltenbuches schreibt Lothar Bisky: »Selten war bürgerliche Kulturkritik den wirklichen Lebensproblemen der Massen so nahe wie in Kracauers Schrift ›Die Angestellten‹.« (1981: 123) Die Kritik des als progressiv und bürgerlich gefeierten Denkers, den Bisky mit Hans Fallada vergleicht, macht allerdings keinen Halt – wie im Badehosen-Text sichtbar wird – vor sozialistischen Bewegungen. 2

Hier fällt auf, dass Kracauer zeitgebunden schreibt, sich aber von den üblichen Zeitungsberichten abgrenzt. Oft nennt Kracauer keine genauen Zahlen (hier ist z.B. die Rede von »erstaunlichen Zahlen«). So schafft er eine Distanz, konzeptualisiert, verfremdet, ironisiert. Zugleich verleiht es vielen seinen Texten eine Frische, denen sie heute noch anhaftet. Charakteristisch ist auch – wie wir noch sehen werden –, dass er seine eigene Person einbezieht. Kracauers Artikel sind übrigens keine bloßen Reportagen, wie eine immer wieder zitierte Stelle am An-

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setzt wie die Ziele selber. Wären sie nur aus hygienischer Art, man müßte sie mit Freuden bejahen; denn nichts ist erwünschter als Vorkehrungen, die der werktätigen Bevölkerung zur Gesundheit verhelfen. Aber die Freikörperkulturbewegung begnügt sich nicht mit Gymnastik, Brausen usw., sondern begibt sich noch dazu aufs höhere Gebiet der Weltanschauung. Man kann bei uns kaum eine Zahnbürste einkaufen, ohne gleich eine Weltanschauung als Dreingabe zu erhalten.3 Aus Weltanschauungsgründen also erklären Herr Koch und seine Jünger der Badehose den Krieg. Die Badehose, sagt Herr Koch, ist ein Aberglaube, der bekämpft werden muß.4 Nacktheit, sagt er ferner, ist Ehrlichkeit innerfang der Angestellten verdeutlicht (2006 [1930/1929]: 222; 2011 [1932]: 156–157): Vielmehr sind sie »Mosaike«, die Einzelbeobachtungen verknüpfen und deren Elemente sich gegenseitig beleuchten und die Inhalt, Interpretation und Literarisches miteinander verschränken (Honneth 2014: 128). 3

Der Hinweis auf die Verdinglichung – die Beliebigkeit von »Zündhölzern, Schnürriemen oder Blumen« oder Zahnbürsten – genießt heute noch Popularität, wie die Lektüre von Kracauers Texten in Seminaren an Universitäten beweist. Doch die Ideologiekritik ist heute weniger originell als zu der Zeit des Autors. Anders als die meisten Kommentare seiner Zeit ist die Kulturanalyse Kracauers in seinen Feuilletonartikeln nicht durchgehend pessimistisch. Im Alltag und in der Materialität der Welt sieht Kracauer Hoffnung (⇒ siehe Note 8 und den Epilog zur Theory of Film für seine spätere Einsichten [1997 (1960)]).

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Hier erscheint zum ersten Mal im Text die Badehose, deren Kampf im Titel – ein wichtiges Instrument für Journalist*innen, das von Soziolog*innen oft vernachlässigt wird – angekündigt wird. Spätestens hier merken die Leser*innen, dass Kracauer mit literarischen Mitteln arbeitet: Er personifiziert Gegenstände (in anderen Texten ist die Rede von einem Monokel, einem Klavier, einer Schreibmaschine, Hosenträgern oder Möbeln). Durch diese Gegenstände und die Form der Darstellung erzielt Kracauer einen Effekt: Er bricht unsere Wahrnehmung der Dinge und ändert sie dadurch; er regt unsere Vorstellungskraft, unsere »soziologische Fantasie« im Sinne Mills (2016 [1959]) an. Die Texte Kracauers bleiben dadurch lang im Gedächtnis, beschäftigen uns. In seinen Feuilletonartikeln spricht Kracauer Themen der Zeit an, die Deutschland nachhaltig geprägt haben. Er zeigt sie in ihren direkten, alltäglichen Erscheinungen; so macht er sie greifbar. Hier verspottet er die Natur der Debatte, die Bedeutung, die der Badehose beigemessen wird, auch den Zwangscharakter, der durch die ganze Diskussion deutlich wird. Er plädiert dafür, die Badehose – und seine Träger – in Ruhe zu lassen. Man ist hier an die, seit der 1990er in vielen Ländern Europas herrschenden, Kopftuchdebatten erinnert, wo auch ein Stück Kleidung zum Gegen-

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lich und äußerlich.5 Und zum Ruhme der Nackterziehung weiß er nichts Besseres zu sagen, als daß durch sie all das Schwüle fortfalle, das in der Pubertätszeit sonst über die Menschen komme, er preist das badehoselose Beieinander wie eine Vorwegnahme des Paradieses hienieden – eine Metaphysik der Nacktheit, die ihm übrigens auch zu der Auffassung verführt, die Freikörperkulturbewegung sei ein Bollwerk gegen die kulturpolitische Reaktion in Deutschland. Begeisterte Zuhörer klatschen an verschiedenen Stellen des Vortrags, ohne in ihrer Ahnungslosigkeit mit der Weltanschauung gerechnet zu haben, die ihm aus allen Poren quillt. Eben aus Weltanschauung nämlich lehnt Herr Koch kategorisch das Klatschen ab. Auf die Tat kommt es an, sagt er, und nicht auf das Klatschen. Wo so viel Weltanschauung ist, scheint man sehr aufpassen zu müssen.6 stand weltanschaulicher Debatten von rechts bis links gemacht wurde. Gegen diejenigen, die im Kopftuch ein »Bollwerk« der Islamisierung sehen, kann man sich leicht einen Kracauer vorstellen, der dafür plädiert, seine Trägerinnen in Ruhe zu lassen. Man könnte sich in diesem Sinne heute durchaus vorstellen, dass eine von Kracauer inspirierte Kultursoziologin etwa über Fleischverzehr und Vegetarianismus schreiben würde, um politische Konflikte unserer Zeit anzusprechen oder über Tattoos, um Sinnfragen auf die Spur zu kommen (Thériault 2020: 120–124). 5

Hier spricht Kracauer ein in Deutschland wiederkehrendes Pathos an, ein Pathos, durch das wir näher zum Kern seiner Kritik kommen: den Zwangscharakter der Ideologie (⇒ siehe auch Note 8). Dass die Kritik in Verbindung mit dem Körper steht, überrascht nicht. Sie findet sich in anderen Texten. In »Mißverstandener Knigge. Analyse eines Berliner Wettbewerbs« (2011 [1930]: 373–378) kritisiert er schon z.B. die Forderung, dass das von Verkäufer*innen verlangte Lächeln in Warenhäusern auch aufrichtig sein sollte, d.h. äußerlich und innerlich gemeint sein müsse. Dabei plädiert Kracauer gegen den Zwangscharakter des Lächelns – um des Lächelns willen.

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In seinen Feuilletonartikeln beschreibt Kracauer das offizielle Programm der Veranstaltung, was auf der Bühne passiert. Während er das tut, richtet er aber auch stets auf das Publikum, wovon er Teil ist, seine Aufmerksamkeit. Es handelt sich bei diesen Artikeln um eine Art teilnehmender Beobachtungen, die eine Kritik zum Ziel haben. In seiner Einführung zur französischen Übersetzung des Bands »Ornament der Masse« schreibt Oliver Agard dazu: »Il s’agit de satisfaire à une double exigence: traverser la réalité tout en la critiquant« (2008: 13). Miriam Hansen (1991: 62) spricht in diesem Kontext vom »mimetic subversion« als Kritik. Unter dieser etwas umständlichen Formulierung versteckt sich, so

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Es folgen die mit Spannung erwarteten Darbietungen selber. Die Schneegipfel werden beiseite gezogen, und heraus springt ein nacktes Mädchen, das in Unschuld sein gymnastisches Können zeigt. Andere nackte Mädchen springen ihr nach, und dann treten mehrere Jünglinge auf, wie Gott sie geschaffen hat, und haben ebenfalls Freude an ihrem Körper. Ein wenig später, und beide Geschlechter üben gemeinsam. Als einzig Bekleideter in diesem Garten Eden sitzt Herr Koch am Klavier und gibt seinen Eleven die Tempi an. Manchmal entfesselt er die Gruppen zu bacchantischer Wildheit, um sie danach sofort zu sänftigen, wie es der Hygiene entspricht. Das jagt sich, hüpft, legt den Körper nach rechts und nach links und verschränkt die Arme hinter dem Nacken. Zuletzt geht eine Art von Massendemonstration der Nacktheit vonstatten. Gegen zweihundert Körper bevölkern das Podium, männliche und weibliche, junge und alte, kunterbunt durcheinander. Einige häßliche Exemplare sind in den Hintergrund abgeschoben worden, aber man sieht leider doch, was man besser nicht sähe: überschäumende Brüste, dicke Beine, ausgemergelte Leiber. Ihr Anblick, den die Humanität verböte, scheint die Beteiligten nicht weiter zu stören. Vergnügt hopsen sie alle nach Vorschrift herum, singen sich ein Liedchen dazu und treiben überhaupt ihre ganze Freikörperkultur mit der seligen Unbefangenheit von Kindern.7 ***

Ich weiß nicht, ob es anderen Zuschauern bei der Matinee so ergangen ist: aber mich hat das Mitgefühl mit diesen Menschen ohne Badehodie Deutung meines Kollegen Steffen Andrae in einer persönlichen Kommunikation, die Ansicht, dass Kracauer »sich gewissermaßen dieser Welt angleicht, taucht erfahrend in sie hinab und reflektiert sie kritisch indem er an ihr partizipiert.« 7

Stets bringt Kracauer Mitgefühl denjenigen gegenüber, die keine Stimmen haben, die Teil von Massendemonstrationen sind. Weil er den Blick dieser Menschen hier kaum erträgt, sollte man hier vielleicht auch von Mitleid und Fremdschämen sprechen. Menschen in leitenden Funktionen unterzieht er dagegen mitunter mit Spott, so wie in der herrlich bissigen Bemerkung, wonach allein Herr Koch angezogen auf der Bühne steht. Mit dem spitzen Kommentar deckt Kracauer Widersprüche auf und erreicht wahrscheinlich mehr als durch eine lange Ausführung.

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se erfaßt. Es sind vermutlich zum überwiegenden Teil geplagte werktätige Menschen, die sich durch das Bekenntnis zur Nacktkultur ihren Anteil an der Lebensfreude zu erobern hoffen. Werden sie ihn auch wirklich erhalten? Mir scheint viel eher, daß sie sich durch das ständige Abstreifen des Lendenschurzes um entscheidende Freuden betrügen.8 8

Hinter allen Diskursen und verschiedenen Motiven der Akteure – sei es die Hygiene oder das Wohlbefinden – zeigt Kracauer hier den Zwangscharakter der von der Freikörperkultur geförderten Nacktheit. Er bietet eine eigene Interpretation und damit ein alternatives Narrativ. Er zeigt den weltanschaulichen Charakter der Matinee, der den Blick der Teilnehmer*innen versperrt. Überhaupt fordert er von Intellektuellen, Ideologien zu entlarven – nicht abstrakt, sondern von konkreten Situationen ausgehend (siehe »Minimalforderung an die Intellektuellen«, 2011 [1931]: 601–606). Im Rahmen der internationalen Kracauer-Konferenz, die im Jahre 2022 vom Institut für Sozialforschung in Frankfurt a.M. organisiert wurde, hat Ferdinand Sutterlüty eindringlich gezeigt, wie Kracauer konkret verfährt. In seinen journalistischen Texten – wie hier – operiert er mittels situations- und gegenstandsimmanenter Vergleiche. Sutterlüty bemerkt richtig: »Kracauers Sozial- und Gesellschaftskritik ist performativ: Er führt die Wirklichkeit vor ‒ im doppelten Sinne von Zeigen und von Bloßstellen ‒, so dass sie sich eben […] selbst verurteilt«. Und weiter: »Kracauer zeigt die Konstruktionsfehler dieser Wirklichkeit; er erzeugt Bilder, in denen diese Fehler manchmal förmlich zu greifen, manchmal auf subtile Weise in Formulierungen enthalten sind. Das ist mitunter viel wirkungsvoller als der Leserin/dem Leser zu sagen, was er/sie denken und kritisieren soll«. In Kracauers Verfahren und Darstellungsprinzip sieht Sutterlüty das Potential seiner Soziologie für eine kritische Empirie, die sich an die Frankfurter Tradition der Sozialforschung anschließt. Im Fall von »Kampf gegen die Badehose« zieht Kracauer auch Konsequenzen: Der Zwangscharakter der Nacktheit kann hier reale Beziehungen und Gefühle zwischen den Geschlechtern verhindern, die Würde der Herangewachsenen antasten und die Belange der Menschen, die der Last der mechanisierten Welt zu entkommen versuchen. Es ist von Interesse, dass Kracauer stets von Menschen spricht: Männer und Frauen, auch Kinder. Es geht dabei nicht um jenes Individuum eines Max Webers (Marty 2019), das – laut Kracauer – längst verschwunden ist (siehe »Die Biographie als neubürgerliche Kunstform« [2011 (1930)]; auch 2014 [1995/1969]). Während alles verdinglicht und Gegenstand von Ideologien werden kann, sollte es das nicht werden. Gerade der Körper nicht. So werden die Zustände im Namen eines Restes menschlicher Würde kritisiert. Das Feuilleton Kracauers ist Kulturkritik im Sinne dieses Bandes. »Kampf gegen die Badehose«

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Nicht so, als ob der Einwand der Mucker zuträfe, nach dem der nackte Körper angeblich sündhaft ist. Er ist es nicht, und gerade dann, wenn man ihn gewohnheitsmäßig zur Schau trägt, wird sein Anblick am allerwenigsten die Lüsternheit wecken. Im Gegenteil: dieser Anblick stumpft die Sinne nur über das gebotene Maß hinaus ab. Das ist aber genau die Gefahr, der die Anhänger unterliegen, als sie den Kampf gegen die arme kleine Badehose mit weltanschaulichen Argumenten führen, die sie am freien Umblick verhindern. Nacktheit in Ehrlichkeit meint Herr Koch. Aber zeigt man denn seine Seele immer nackt und spricht man von allem zu allen? Man tut es Recht keineswegs und verzichtet auch mit dem gleichen Recht gemeinhin auf die völlige Entblößung des Körpers. Das ist nicht etwa der Prüderie zuzuschreiben – die Prüderie übertreibt höchstens das legitime Verlangen der Menschen, sich nur bei besonderen Gelegenheiten wechselseitig zu offenbaren. Wenn die Freikörperkulturbewegung die Nacktheit zum Grundsatz erhebt, so schüttet sie, wie ich fürchte, das Kind mit dem Bade aus und legt mit der Badehose Empfindungen ab, die nicht ungestraft verletzt werden. Einen Beweis hierfür erblicke ich in der Feststellung von Herrn Koch, daß durch das nackte Zusammensein während der Pubertätsjahre die Schwüle beseitigt werde, die in dieser Zeit heraufzuziehen pflege. Sind die Erfahrungen, die er als Schwüle entwertet, nicht ein kostbares Besitztum erwachender Menschen? Und so machen noch andere Regungen den Menschen zu Menschen, die dort zu ersticken drohen, wo die Nacktheit zum Alltag wird.9

zeigt explizit, dass Kracauer nicht im Namen der Moral oder der Prüderie kritisiert. Auch nicht im Namen der Ästhetik, bei welcher Dinge, die einem gefallen oder nicht, zu Dogmen errichtet werden, was spätestens Leser*innen von Pierre Bourdieu zweifelhaft vorkommen sollte, wie Jonathan Franzen es zu Recht angemerkt hat (2014 [2013]: 276). Die Kritik Kracauers kennt auch Grenzen, gerade dann, wenn es um den Körper geht. Dort macht sie Halt, denn nicht alles muss entblößt werden. Diese Haltung, die mit methodologischer Vorsicht einhergehen mag, erinnert an diejenige Georg Simmels, wenn er in zwischenmenschlichen Beziehungen für Reserve und Takt plädiert (etwa in der »Psychologie der Diskretion«, 1993 [1906]: 108–115 oder in »Das Geheimnis«, 1993 [1907]: 184–189). 9

»Und so machen noch andere Regungen den Menschen zu Menschen, die dort zu ersticken drohen, wo die Nacktheit zum Alltag wird.« Hier möchte ich auf ein typisches Mittel Kracauers – und Georg Simmels – aufmerksam machen: Die

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Ich will nicht falsch verstanden werden. Ich protestiere nicht gegen die Freunde der Nacktkultur aus sogenannten moralischen Gründen, sondern bedauere nur, in ihrem eigenen Interesse, daß sie in einem fort nackt zusammen sind. Daß sie aus unserer Unkultur herausverlangen – wie gut ist es zu begreifen! Aber ihre prinzipielle Nacktheit ist ja keineswegs eine reinere Natur, sie ist vielmehr lediglich das Widerspiel des mechanisierten Lebens, dem sie entrinnen möchten. Und dadurch, daß sie ihre Körper mit philosophischer Konsequenz hüllenlos voreinander preisgeben, verarmen die sich freiwillig und erschweren sich den Eintritt in manche realen Beziehungen, die unter anderen auch der leiblichen Scham bedürfen.10

Formulierung von »Gesetzen«, die an Aphorismen erinnern (siehe Tokarzewska 2021). Die Sprache Kracauers ist nicht theoretisch. In einer schönen – aber nicht unkritisch gemeinten – Formulierung schrieb Adorno, dass Kracauer »mit dem Bleistift in der Hand« (1974 [1965]) denke. Diese Denkweise ist konkret. Sie baut in den Interpretationen Zweifel ein. Sätze wie »nicht so, als ob …« oder »Mag sein, dass …« »ich kann mich täuschen …« sind typisch für sein Schreiben und seiner Art von Kritik. Freilich ist ein bisschen Koketterie dabei. Kracauer fing mit Philosophie und Soziologie an, bevor er Journalist wurde und das Feuilleton als Ort der Kulturkritik entwickelte. Man kann sich fragen, ob sich der Weg vom kulturkritischen Feuilleton zurück zur Theorie finden lässt. In seinem letzten in den USA verfassten Buch »History. The Last Things Before the Last« (2014 [1995/1969]) versucht Kracauer eben dieses, ja fühlt sich gerade dazu genötigt. Er sieht im »Vorraum« zu den letzten Dingen ein Dazwischen, einen Ort der Beobachtungen. Stets argumentiert er, von den konkreten Dingen auszugehen, von »unten nach oben« zu gehen (2014 [1995/1969]: 203). Dabei zweifelt er, dass sich ein Weg vom Generellen zurück zum Konkreten finden lässt, ohne »[…] to introduce numbers of new definitions (2014 [1995/1969]: 203). Man begegne da »traffic difficulties« (2014 [1995/1969]: 203), schreibt er. 10

In den raren Texten, in denen man etwas über den Alltag Kracauers in Berlin erfährt (etwa im Anhang zu »Straßen in Berlin und anderswo« (2013 [1964]): »Der Zeitungsverkäufer«, »Das Papiermundstück«, oder »Mietshaus im Berliner Westen«), verrät er, dass er in Eile ist oder ungeduldig auf den Lift wartet – Details, die freilich nicht zum oft gezeichneten Bild des berufsmäßigen Flaneurs passen. Wenn er an einem Tag von einem Zeitungsverkäufer angesprochen wird, ist er von der Menschlichkeit des Mannes berührt. Er ertappt sich dabei, selbst an dieser Menschlichkeit vorbeizulaufen – und er schämt sich dafür. Er verspricht sich dann, mehr auf andere zu achten. In der Großstadt Berlin, wo Menschen bloß

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Arme, kleine Badehose – man sollte sie wenigstens nicht aus Weltanschauung fallen lassen.11

Referenzen Adorno, Theodor, W. (1974 [1965]). »Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer«, in: Ders. Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften, Band 11, Tiedemann, Rolf (Hg.). Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 388–408. Agard, Olivier (2008). »Avant-Propos. Siegfried Kracauer, phénoménologue de la crise moderne«, in: Kracauer, Siegfried. L’ornement de Passanten sind, ist das – gesteht er – »[…] schwer, sehr schwer, und fast nie blickt einer von ihnen zurück« (2011 [1930]: 295). In Paris scheint es dagegen Momente zu geben, wo diese Menschlichkeit noch möglich ist. Zwei Stellen bei Kracauer sind mir bekannt, wo diese Momente angesprochen werden und in Verbindung mit Körpern und Vergnügung auftreten: in »Die Berührung« und »Kleine Signale.« In »Adieu«, ein Abschnitt von »Die Berührung«, befindet er sich in einem Pariser Tanzlokal und es schimmert Hoffnung: »Ich beobachtete einige Jünglinge, die sich zu einem beweglichen Klümpchen vereinigt hatten, und erkannte deutlich, daß sie der Scham zugänglich waren, verlegen sein konnten und zu lieben vermochten« (S. 182). In Paris sieht Kracauer einen Rest der Menschlichkeit, die er sich auch für Deutschland wünsche (»Ich wünschte, daß auch bei uns [wie in Frankreich] das gelbe Licht draußen erlöschte und in die Menschen zurückkehrte« (»Kleine Signale«, S. 348)). Wir merken, dass Kracauer sich wünscht, dass die Mechanisierung des Lebens etwas zurücktritt und Menschliches, man könnte sagen »Freiheitliches«, hervorkommt. 11

Heute findet man die Kulturkritik im Stil Kracauers wenig im Feuilleton-Ressort deutscher Zeitungen, aber vielleicht woanders. Hat man sich mit ihr beschäftigt, wird sie mitunter zur Waffe, gar zum Lebensstil. Das Feuilleton macht aus uns aufgeklärte und aufmerksame Angestellte. Kolleg*innen und Studierende, die die scharfsinnigen und ironischen Beobachtungen Kracauers entdeckt haben, scheinen »angesteckt« zu sein. Als er eine Stelle kündigte, reichte ein Student ein Feuilletontext als Kündigungsbrief ein. Ein Kollege hat einen Feuilletontext, in dem er die herrschenden »Buzzwords« in einer Verwaltung ironisiert, in seine Bewerbungsmappe für eine Stelle bei der gleichen Verwaltung reingelegt. Es scheint Hoffnung zu geben, denn er schrieb mir einige Zeit später: »Zum Glück fanden es die Direktorin und die Verwaltungsangestellte, die mich eingestellt haben, lustig. Ich sehe es als einen Beweis für deren Sinn für Humor.«

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la masse. Essais sur la modernité weimarienne. Paris: La Découverte, S. 5–20. Bisky, Lothar (1981). »Nachwort«, in: Kracauer, Siegfried. Die Angestellten – Kulturkritischer Essay. Leipzig/Weimar: Gustav Kiepenheuer Verlag, S. 112–123. Franzen, Jonathan (2014 [2013]). The Kraus Project. Essays by Karl Kraus. London: Fourth Estate. Hansen, Miriam (1991). »Decentric Perspectives: Kracauer’s Early Writings on Film and Mass Culture.« New German Critique (54), S. 47–76. Honneth, Axel (2014). »Der destruktive Realist. Zur sozialphilosophischen Erbe Siegfried Kracauers.« In: Ders. Vivisektionen eines Zeitalters. Porträts zur Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Berlin: Suhrkamp, S. 120–142. Kracauer, Siegfried (1997 [1960]). Theory of Film. The Redemption of Physical Reality. Princeton, NJ: Princeton University Press. Kracauer, Siegfried. (2013 [1964]). Straßen in Berlin und anderswo. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kracauer, Siegfried (2006 [1930/1929]). »Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland«. Werke 1, Deutschland. In: Mülder-Bach, Inka (Hg., unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel). Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 211–310. Kracauer, Siegfried (2011 [1928]). »Die Berührung«. Werke 5.3, MülderBach, Inka (Hg., unter der Mitarbeit von Sabine Biebl, Andrea Erwig, Vera Bachmann und Stephanie Manske). Berlin: Suhrkamp, S. 83–90. Kracauer, Siegfried (2011 [1930]). »Mißverstandener Knigge. Analyse eines Berliner Wettbewerbs«,Werke 5.3, Mülder-Bach, Inka (Hg., unter der Mitarbeit von Sabine Biebl, Andrea Erwig, Vera Bachmann und Stephanie Manske). Berlin: Suhrkamp, S. 373–378. Kracauer, Siegfried (2011 [1930]). »Der Zeitungsverkäufer«. Werke 5.3, Mülder-Bach, Inka (Hg., unter der Mitarbeit von Sabine Biebl, Andrea Erwig, Vera Bachmann und Stephanie Manske). Berlin: Suhrkamp, S. 293–295. Kracauer, Siegfried (2011 [1930]). »Kleine Signale«. Werke 5.3, MülderBach, Inka (Hg., unter der Mitarbeit von Sabine Biebl, Andrea Erwig, Vera Bachmann und Stephanie Manske). Berlin: Suhrkamp, S. 346–348. Kracauer, Siegfried (2011 [1931]). »Kampf gegen die Badehose«. Werke 5.3, Mülder-Bach, Inka (Hg., unter der Mitarbeit von Sabine Biebl, An-

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drea Erwig, Vera Bachmann und Stephanie Manske). Berlin: Suhrkamp, S. 473–477. Kracauer, Siegfried (2011 [1931]). »Minimalforderung an die Intellektuellen«, Werke 5.3, Mülder-Bach, Inka (Hg., unter der Mitarbeit von Sabine Biebl, Andrea Erwig, Vera Bachmann und Stephanie Manske). Berlin: Suhrkamp, S. 601–606. Kracauer, Siegfried (2011 [1931]). »Möbel von heute«. Werke 5.3, MülderBach, Inka (Hg., unter der Mitarbeit von Sabine Biebl, Andrea Erwig, Vera Bachmann und Stephanie Manske). Berlin: Suhrkamp, S. 565–568. Kracauer, Siegfried (2011 [1930]). »Die Biographie als neubürgerliche Kunstform«. Werke 5.3, Mülder-Bach, Inka (Hg., unter der Mitarbeit von Sabine Biebl, Andrea Erwig, Vera Bachmann und Stephanie Manske). Berlin: Suhrkamp, S. 264–269. Kracauer, Siegfried (2011 [1930]). »Der Dichter im Warenhaus«. Werke 5.3, Mülder-Bach, Inka (Hg., unter der Mitarbeit von Sabine Biebl, Andrea Erwig, Vera Bachmann und Stephanie Manske). Berlin: Suhrkamp, S. 329–331. Kracauer, Siegfried (2011 [1930]). »Das Papiermundstück«. Werke 5.3, Mülder-Bach, Inka (Hg., unter der Mitarbeit von Sabine Biebl, Andrea Erwig, Vera Bachmann und Stephanie Manske). Berlin: Suhrkamp, S. 392–393. Kracauer, Siegfried (2014 [1995/1969]). History. The Last Things Before the Last. Princeton: Markus Wiener Publishers. Marty, Christian (2019). Max Weber. Ein Denker der Freiheit. Weinheim: Beltz Juventa. Mills, Charles Wright (2016 [1959]). Soziologische Phantasie. Wiesbaden: Springer. Simmel, Georg (1993 [1906]). »Psychologie der Diskretion«, in: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 8.2, Cavalli, Alessandro und Volker Krech (Hg.). Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 108–115. Simmel, Georg (1993 [1907]). »Das Geheimnis. Eine sozialpsychologische Skizze«, in: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 8.2, Cavalli, Alessandro und Volker Krech (Hg.). Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 184–189. Sutterlüty, Ferdinand. »Auf der Suche nach den Konstruktionsfehlern der Wirklichkeit«, Internationale Kracauer-Konferenz, Institut für Sozialforschung, Frankfurt a.M., 19.–21. Mai 2022.

Anstelle eines Schlusswortes

Thériault, Barbara (2020). Die Bodenständigen. Erkundungen aus der nüchternen Mitte der Gesellschaft. Leipzig: edition überland. Tokarzewska, Monika (2021). »Literary Practice and Immanent Literary Theory«, in: The Routledge International Handbook of Simmel Studies, Fitzi, Gregor (Hg.). London: Routledge, S. 213–224.

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Kulturwissenschaft Tobias Leenaert

Der Weg zur veganen Welt Ein pragmatischer Leitfaden Januar 2022, 232 S., kart., Dispersionsbindung, 18 SW-Abbildungen 20,00 € (DE), 978-3-8376-5161-4 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5161-8 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5161-4

Michael Thompson

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Kulturwissenschaft Stephan Günzel

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Maximilian Bergengruen, Sandra Janßen (Hg.)

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Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)

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