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German Pages 296 [295] Year 2015
Barbara Becker, Josef Wehner (Hg.) Kulturindustrie reviewed
Barbara Becker, Josef Wehner (Hg.) Kulturindustrie reviewed. Ansätze zur kritischen Reflexion der Mediengesellschaft
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INHALT
Vorwort 9
TEIL 1: THEORIE
UND
KRITIK
DER
MEDIEN
Medienanalyse als Beobachtung und als Kritik TILMANN SUTTER 13
Massenmedien und Moderne. Rekonstruktion einer Kontroverse JOSEF WEHNER 33
Kommunikation, Kontingenz, Kritik. Kommunikativer Verweisungsüberschuss in strukturrekonstruktiver Perspektive ULRICH WENZEL 67
Zur Archäologie der Mediennutzung. Zum Zusammenhang von Wissen, Macht und Medien IRMELA SCHNEIDER 83
TEIL 2: MEDIEN
UND KRITISCHE
PRAXIS
Fotografie als Medium der Kritik. Probleme und Möglichkeiten der Sozialdokumentarischen Fotografie BARBARA BECKER 103
Die Überwachungstechnik als Herausforderung der Kritischen Theorie und Praxis LUTZ ELLRICH 127
Diskurs und Praxis: Zur Institutionalisierung von Medienkritik in Deutschland MARCUS S. KLEINER/JÖRG-UWE NIELAND 143
Drei Arten der Fernsehkritik ANGELA KEPPLER 183
TEIL 3: KRITIK
DER
MEDIEN
IN DEN
MEDIEN
Godard for ever. Dekonstruktion des Medienspektakels RAINER WINTER 193
»Zu schön, um wahr zu sein«. Bildkritik des Fernsehens RALF ADELMANN 215
Kritik der Medien als Unterhaltung. Harald Schmidt als moderner Hofnarr? JO REICHERTZ 227
TEIL 4: MEDIEN, ÖFFENTLICHKEIT
UND
KRITIK
Cultural Studies und das Konzept der »mobilen Privatisierung« im Spiegel der Medien- und Öffentlichkeitskritik UDO GÖTTLICH 251
Die Utopie der Aufklärung als»List der Geschichte«. Zur Notwendigkeit und Möglichkeit von Medienkritik ESTHER KAMBER/KURT IMHOFF 267
Hinweise zu den Autorinnen und Autoren 289
VORWORT Zu den Leitvorstellungen der Soziologie gehört seit jeher, sich in einer kritischen Einstellung den Forschungsgegenständen zu nähern. Darunter wird verstanden, die historisch gewachsenen Strukturen des Sozialen zu beschreiben, gleichzeitig die darin eingeschriebenen Ungleichheiten zu benennen und Möglichkeiten ihrer Veränderbarkeit aufzuzeigen. Hierbei spielte immer auch eine Rolle, all jene Mechanismen aufzuspüren und zu analysieren, die dem Projekt der Aufklärung und der Verbesserung sozialer und ökonomischer Verhältnisse entgegenwirken. Vor allem die modernen elektronischen Massenmedien sind immer wieder verdächtigt worden, kritische Erkenntnis und darauf aufbauende gesellschaftspolitische Korrekturversuche systematisch zu behindern. Insbesondere dort, wo der theoretisch anspruchvollste Bezug zur Medienthematik hergestellt wurde, im Umfeld der Frankfurter Schule, wurden die Massenmedien dafür verantwortlich gemacht, die moderne Kultur zu uniformieren und den gesellschaftlichen Status Quo zu stabilisieren. Zu diesem Urteil trug maßgeblich bei, Massenmedien der klassischen Unverträglichkeitsthese zu Kultur und Technik unterzuordnen und sie deshalb als chronische Gefährdung kulturellen Eigensinns zu verstehen. Der Sozialwissenschaftler hatte sich infolgedessen als Anwalt des massenmedial unter Anpassungsdruck gesetzten Subjekts zu verstehen – eine Rolle, die nur solange überzeugen konnte, wie sich durch die Grenzziehung zwischen der Welt der Medien und des Sozialen die Möglichkeit einer exilierten Beobachterperspektive begründen ließ. Weder die exklusive Beobachterrolle noch die Idee einer vormedialen Konstitutionslogik von Subjekt und Gesellschaft wollen heute noch überzeugen. Schon allein deshalb nicht, weil durch ihr Innovationstempo, ihre Differenzierung und Ubiquität Medien jede Vorstellung diese Art absurd erscheinen lassen. So reicht der Einfluss des Fernsehens heute nicht nur bis in die entferntesten Winkel der Provinz, der man gern eine gewisse Anfälligkeit für Geschmacklosigkeit und Triviales nachsagt. Längst haben sich mit diesem Leitmedium auch die Vertreter der Hochkultur angefreundet und seine Vorzüge im Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit zu nutzen gelernt. Und selbst Teile der Wissenschaft scheinen ihre Mediendistanz verloren zu haben und ihre internen Kom-
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munikations- und Erwartungsdynamiken auf die Aufmerksamkeitsregeln der massenmedialen Öffentlichkeit immer offensiver einzustellen. Hinzu kommt, dass Massenmedien mittlerweile auch in der Soziologie nicht länger nur theoretische Abwehrmanöver auslösen. Statt sie wie bisher zu ignorieren oder als eine abzuwehrende Herausforderung für die in ihrem Innersten als medientechnikfrei gedachte (politischen) Kultur zu verstehen, wird ihnen nun eine wichtige Treiberfunktion für die Entstehung und den Wandel der modernen Gesellschaft insgesamt zuerkannt. Wichtige Impulse für diesen Wandel im Medienverständnis kommen aus den Cultural Studies mit ihren Aufwertungen der Leistungen der Rezipienten oder von medienphilosophischer Seite, die auf bislang übersehene Gemeinsamkeiten zwischen »natürlichen« und »künstlichen« Kommunikationsmedien aufmerksam macht. Die elektronischen Kommunikationsmedien werden hier aus ihrer kulturgegensätzlichen Stellung herausgelöst und gewinnen – wie ihre Vorgängermedien – eine sozial- und subjektrelevante Bedeutsamkeit. Für die Medienkritik bedeutet dies, sich von der Vorstellung einer vor den Negativenflüssen der Medienwelt abzuschirmenden Sozialwelt verabschieden und sich fragen zu müssen, inwieweit sie inzwischen nicht längst oder gar immer schon ein medienbeteiligter Beobachter war bzw. geworden ist. Dies würde allerdings bedeuten, an der aktiven Fortsetzung dessen beteiligt zu sein, was man zuvor noch in die Medien objektivierende und distanzierende Kategorien zu beschreiben glaubte. Kündigt sich mit diesem Wandel im Medienverständnis etwa ein Ende der Medienkritik an, wie dies mittlerweile häufig zu hören ist, oder sind Alternativen erkennbar? Welche Maßstäbe der Medienkritik lassen sich unter den veränderten Erkenntnisbedingungen jetzt noch ausweisen? Ist kritischer Mediengebrauch auf eine den Medien vorgängige Einstellung zurückzuführen oder wird er etwa durch das Medium selbst überhaupt erst möglich? Und wie sind die vielen neuen Formate der Medienkritik in den Medien zu verstehen, wenn nicht länger an einem Vorzugsmedium der Kritik festgehalten wird? Die in dem vorliegenden Band versammelten Beiträge versuchen, auf diese Fragen Antworten zu geben. Sie gehen zurück auf Vorträge, die anlässlich einer Konferenz gehalten wurden, die im März 2005 unter dem Titel »Von der Kritik der Medien zu den Medien der Kritik« an der Universität Paderborn organisiert wurde. Den Autoren und Miriam Bader, die uns bei der Fertigstellung des Buches unterstützt hat, möchten wir an dieser Stelle noch einmal herzlich danken für ihre Mitarbeit. Barbara Becker und Josef Wehner
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T EIL 1: T HEORIE UND K RITIK DER M EDIEN
MEDIENANALYSE ALS
BEOBACHTUNG
UND ALS
KRITIK
TILMANN SUTTER Kritik der Medien, die wiederum selbst in vielfältiger Weise auf Verbreitungsmedien angewiesen ist, begleitet uns kontinuierlich in unserem Alltag: Das Ausmaß an Abhängigkeit gesellschaftlicher Bereiche und der Gesellschaftsmitglieder von den Medien ist enorm und mittlerweile auch fest im allgemeinen Bewusstsein verankert. Wenn es darum geht, wer oder was für diese oder jene Fehlentwicklungen schuld ist, treten zunehmend die Massenmedien neben die Politik, die seit jeher als zentrale Adresse für Verantwortungs- und Schuldzuschreibungen fungiert. Dabei sind es vor allem die kurzschlüssigen, schnellen Kritiken, welche die Medien aufs Korn nehmen. Denken wir z.B. an die behauptete Verelendung vor allem männlicher Jugendlicher vor gewalthaltigen PC-Spielen, die dann auch mal Auswüchse wie das Massaker von Erfurt zeitigen soll. Immerhin hat sich der Amokläufer von Erfurt intensiv dem damals beliebtesten Ego-Shooter-Spiel »Counterstrike« gewidmet. Auf diese Weise wird die wissenschaftlich längst überholte einfache Medienwirkungshypothese reaktiviert, die von bestimmten Medieninhalten direkt auf entsprechende Medienwirkungen schließt (vgl. Schenk 1987). Systematisch werden dabei sowohl die Aktivitäten der Rezipienten und Nutzer als auch die sozialen Kontexte des Umgangs mit Medien vernachlässigt.1 Eine Ursache, eine Wirkung: So lässt sich Kritisches zu den Medien tagesaktuell formulieren. Aber diese Form der Kritik fügt sich selbst der Logik des Mediensystems, das sie kritisiert: Sie muss schnell und pointiert auftreten, um mediale Resonanz zu erzeugen, und sie verschwindet dann rasch wieder. Alles Weitere bleibt – nicht nur, aber auch – der langsameren, reflektierteren und wesentlich resonanzärmeren wissenschaftlichen Medienanalyse überlassen. Ein aktuelles Beispiel für das gespannte Verhältnis von Medienkritik und Gesellschaftskritik bildete das globale Pop-Ereignis »Live 8« am 2. Juli 2005, das mit einer Reihe von großen Konzerten weltweit im Vor1
Diese Dimensionen der Medienkommunikation kommen erst durch den Wechsel von einer medienzentrierten zu einer rezeptionsorientierten Untersuchungsperspektive in den Blick (vgl. Charlton 1997).
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feld des Gipfels der acht reichsten Industrienationen in Schottland gegen die Armut in vielen Ländern der Welt mobilisierte. Nicht Geld, sondern Stimmen sollten nach dem Willen des Organisators Sir Bob Geldof gesammelt werden. Konsequenterweise war das ganze Unternehmen als ein globales Fernsehereignis auf massenmediale Resonanz abgestellt: Dies führte u.a. dazu, dass fast nur weiße Künstler mit weltweit hohen Verkaufszahlen und nicht Vertreter der von Armut betroffenen Regionen (vor allem afrikanische Künstler) eingeladen wurden. Diese Auswahl war der Orientierung an massenmedial erzeugter Resonanz geschuldet, um die maximale massenmediale Wirkung zu erzielen. Freilich zog diese Orientierung, wie nicht anders zu erwarten, Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Großereignisses im Dienste der ärmsten Länder der Welt nach sich. Wo liegt die Grenze zwischen eitler Selbstdarstellung oder doch zumindest nebenbei betriebener Imagepflege der Künstler und ehrlichem, aufrichtigem Engagement für die Ärmsten der Armen? Der Frontmann »Campino« der deutschen Gruppe »Die Toten Hosen« immerhin zeigte sich in einem Fernseh-Interview überzeugt, man könne das politische Engagement selbst ohne falsche Beimengungen betreiben: Es handle sich bei dem musikalischen Ereignis in Berlin (einem der Veranstaltungsorte von »Live 8«), an dem seine Gruppe beteiligt war, nicht etwa um ein Rockkonzert, sondern um eine Demonstration. Neben den Künstlern und dem anwesenden Publikum bildete jedoch das weltweite, massenmedial erreichbare Publikum die eigentliche Dimension des Großereignisses. Aus Zuschauersicht handelte es sich um wie üblich inszenierte und moderierte Rockkonzerte, und Teil dieser massenmedialen Inszenierung war das erwähnte Interview mit »Campino«: Selbst wenn dies alles auch als eine Art politische Demonstration angesehen werden könnte, die Beimengungen sind doch unübersehbar. Doch die Kritik an der global verbreiteten Demonstration gegen die Armut in der Welt konnte nur Dank massenmedialer Verbreitung zur Kenntnis genommen werden. Die Angewiesenheit gesellschaftlich wahrnehmbarer Kritik auf Medien führt unausweichlich in diese Ambivalenz der funktionalen Erfordernisse des Mediensystems einerseits und der Glaubwürdigkeit von Kritik andererseits, die Gesellschaft kritisch beobachten will und dabei nicht außerhalb der Gesellschaft stehen kann. Nun gibt es auch in den Sozialwissenschaften eine Kritik der Medien, die zwar ebenfalls auf mediale Verbreitung angewiesen ist, jedoch distanzierter und reflektierter als tagesaktuelle Medienkritiken verfährt. In welchem Sinne aber sind wissenschaftliche Medienanalysen kritisch? Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass Kritik als wissenschaftliche Position keine bestimmte inhaltliche Festlegung meinen kann. Sonst würde man die wissenschaftliche Wahrheitssuche mit Gesinnungs-
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MEDIENANALYSE ALS BEOBACHTUNG UND ALS KRITIK
haftigkeit verwechseln. Natürlich kann man auf breite Zustimmung zählen, wenn man geltend macht, Medien sollten integrieren oder sogar emanzipieren (vgl. Jarren 2000). Aber damit ist nicht geklärt, was Medien zu leisten vermögen und wo ihre Grenzen liegen, und die Kritik gerät zum bloßen Appell und überzeugt nur einen Kreis Gleichgesinnter. In der Wissenschaft dagegen setzt die Kritik grundsätzlich ein inhaltsoffenes Verfahren voraus, das auf gründliche Beobachtung und Analyse abzielt und die Haltbarkeit sowohl theoretischer als auch methodischer Annahmen und Vorgaben prüft. Auf dieser Grundlage können theoretisch und methodisch anspruchsvolle kritische Medienanalysen wiederum einer Kritik unterzogen werden. Dies bildet den ersten Gesichtspunkt für die folgende Betrachtung kritischer Medienanalysen. Der zweite Gesichtspunkt ist theoretischer Natur und macht sich an der lange Zeit dominanten gesellschaftstheoretischen Auseinandersetzung zwischen Kritischer Theorie und soziologischer Systemtheorie fest. Diese Auseinandersetzung findet bis heute in mediensoziologischen Analysen ihren Niederschlag. Kritik hat in der Kritischen Theorie mindestens zwei Bedeutungen: Man darf sich erstens nicht damit bescheiden, einfach die bestehenden Verhältnisse zu beschreiben, sondern muss darüber hinausgehend zu Stellungnahmen und Beurteilungen gelangen, die Möglichkeiten der Weiterentwicklung bzw. der Verbesserung des Bestehenden aufzeigen. Dazu ist zweitens ein normativer Bezugspunkt notwendig, der kritische Beurteilungen des Beschriebenen ermöglicht. Die Kritische Theorie hat nun in verschiedenen Varianten dieser Vorgehensweise die Überwältigung der Rezipienten durch die Massenkommunikation behauptet (vgl. Sutter 1995). Einschlägig sind hier Adornos Analysen der Kulturindustrie, deren standardisierten medialen Produkte die Subjekte manipulieren sollen (vgl. Adorno 1996; Horkheimer/Adorno 1985). Diese Medienkritik wurde in überaus pointierter Form von Ulrich Oevermann (1983) fortgeführt: Er rekonstruierte eine Logik der Selbstinszenierung, die vor allem das Leitmedium Fernsehen auszeichnet, und die mit Merkmalen wie Personalisierung, Moralisierung, Pseudo-Vergemeinschaftung, Pseudo-Authentizität usw. gefasst werden kann. In dieser Logik der Selbstinszenierung soll eine Deformation der Rezipienten, die systematisch getäuscht werden, angelegt sein. Diese normative Medienkritik resultiert aus dem Vergleich natürlicher Interaktion, wie sie allen Formen von Sozialität zugrunde liegt, und den pseudo-interaktiven Verhältnissen, denen die Fernsehzuschauer hilflos ausgeliefert sein sollen. Diese Medienkritik wird in einem ersten Schritt genauer beleuchtet: Zwar stechen ihre medienzentrierte Ausrichtung und die entsprechende Vernachlässigung von Rezipientenaktivitäten sofort ins Auge, aber sie ist doch theoretisch wie methodisch höchst anspruchsvoll angelegt (1).
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Wenn man Oevermanns Medienanalyse aus systemtheoretischer Sicht betrachtet, soll die Massenkommunikation sein, was sie grundsätzlich nicht sein kann: soziale Interaktion. Denn die Maßgabe normaler, unverzerrter Interaktionen wird als Grundlage der kritischen Betrachtung von Medien herangezogen. Der Kontrast zur Systemtheorie könnte nicht schärfer sein: Aus systemtheoretischer Sicht hat sich im Gegenteil die Massenkommunikation von den Beschränkungen sozialer Interaktionen abgekoppelt. Ihre gesellschaftliche Leistung besteht gerade darin, keine soziale Interaktion zu sein; nur deshalb kann sie ihre Funktion in der modernen Gesellschaft erfüllen: Kommunikation gesellschaftsweit zu verbreiten. Eine interaktionstheoretische Kritik der Massenmedien kann deshalb wiederum von einer systemtheoretischen Mediensoziologie beobachtet und kritisiert werden, wie im zweiten Schritt erläutert wird. Allerdings verzichtet die Systemtheorie auf normative Vorgaben und kommt deshalb auch nicht zu normativ gehaltvollen Kritiken der Medien. Ihre Stärke liegt in der Beobachtung der Funktionen der Massenkommunikation in der modernen Gesellschaft (2). Dass die Systemtheorie nicht auf eine normativ anspruchsvolle Kritik abzielt, bedeutet nicht, dass sie überhaupt auf Kritik verzichtet. Vielmehr beschreibt sie die Möglichkeiten der Rationalität von Beobachtungen unter Bedingungen funktional ausdifferenzierter Gesellschaft. Wie alle Beobachtungen kann dann auch eine Medienkritik nur unter den Restriktionen systemrelativer Perspektiven vollzogen werden. Insbesondere kann die Medienkritik nicht von einer als überlegen behaupteten Beobachterposition ausgehen. Stattdessen werden die Differenzen zwischen den Systemen und damit die System-Umwelt-Beziehungen zugrunde gelegt: Voraussetzung für eine Medienkritik ist dann die Beschreibung der verschiedenen Umweltbeziehungen der Massenkommunikation, sonst droht die Gefahr unrealistischer Einschätzungen etwa im Hinblick auf Integrationsleistungen der Medien (3). Dies kann allerdings erst der erste Ansatz einer genuin soziologisch ausgerichteten Medientheorie sein, die eine wissenschaftlich begründete Kritik zu leisten imstande ist. Immerhin reproduziert die Kritische Theorie mit dem medienkritischen Kurzschluss von der rekonstruierten Form der Massenkommunikation auf Deformationen der Rezipienten das übliche Defizit medienzentrierter Ansätze. Dabei werden die aktiv vollzogenen Rezeptionsprozesse und ihre sozialen Kontexte übersehen. Die Systemtheorie ihrerseits bleibt mit dem Verweis auf hohe Freiheitsgrade auf beiden Seiten, der Seite der Massenkommunikation und der Seite der Rezipienten, noch ziemlich vage. Abschließend wird kurz das mediensoziologische Desiderat einer umfassenden, wissenschaftlich leistungsfähigen und in diesem Sinne kritischen Medienanalyse umrissen: Die Beo-
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MEDIENANALYSE ALS BEOBACHTUNG UND ALS KRITIK
bachtungen der Formen und Funktionen der Massenkommunikation, die im folgenden vor allem zur Sprache kommen, müssen mit Untersuchungen der subjektiven und kommunikativen Aneignungsprozesse von Medienangeboten verbunden werden. Hierzu sind bisherige Forschungstraditionen übergreifende Perspektiven notwendig (4).
1. Normative Kritik der Medien Massenkommunikation ist wie jede andere Form der Kommunikation ein sozialer Prozess. Ein allgemeines, zentrales Problem der Mediensoziologie ist die Frage, wie die Unterschiede zwischen Kommunikation, Interaktion, sozialem Handeln und Massenkommunikation zu fassen sind (vgl. Sutter/Charlton 2001). Immerhin sind soziale Handlungen durch die Wechselseitigkeit der Perspektiven gekennzeichnet, wohingegen Massenkommunikation einseitig, d.h. in Form von Einwegkommunikation verläuft. Dennoch tendieren Handlungs- und interaktionstheoretische Medienforschungen dazu, die Unterschiede zwischen Kommunikationsund Handlungsprozessen allgemein und den Formen der Massenkommunikation nur graduell und nicht grundlegend anzusetzen. Medienkommunikation sei wie jede Form der Kommunikation ein Prozess sozialen Handelns. Deshalb könnten sozialwissenschaftliche Medienforschungen theoretisch und methodisch im Rahmen sozialer Handlungstheorien entwickelt werden. In ähnlicher Weise setzt auch eine kritische soziologische Medienanalyse mit bestimmten Voraussetzungen an, welche die Grundstruktur von Sozialität explizieren, die auch der Massenkommunikation unterliegen soll. Dies ist die Ausgangskonstellation der kritischen Medienanalysen von Oevermann (1983): Ihr zufolge kann die Grundstruktur von Sozialität in ihrer reinsten Form an Prozessen sozialer Interaktion abgelesen werden. Soziale Interaktion bildet somit den Bezugsrahmen, in dem die Strukturen der Massenkommunikation rekonstruiert werden können. Diese Vorgehensweise ist an sich nichts Ungewöhnliches, man findet sie in vielen mediensoziologischen und kommunikationswissenschaftlichen Einführungen. Gerade der Vergleich zwischen sozialer Interaktion und der Massenkommunikation fördert die Eigenarten der Massenkommunikation zu Tage. Die kritische Medientheorie Oevermanns geht allerdings einen entscheidenden Schritt weiter: Sie setzt das Modell sozialer Interaktion, denen Reziprozität als Grundstruktur unterliegt, als einen normativen Bezugspunkt voraus. Damit kommt Massenkommunikation als ein defizitäres Geschehen in den Blick, insofern sie den Maßgaben natürli-
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cher Face-to-face-Interaktionen nicht entspricht, sondern Reziprozität als Grundstruktur des Sozialen systematisch verletzt. Das erste, m.E. unproblematische Motiv dieser Vorgehensweise ist ein methodisches: Die verbreiteten Inhaltsanalysen von Medienangeboten erfassen Bedeutungen immer nur auf der Oberfläche und schließen dann auf bestimmte Wirkungen. Aber auch Befragungen von Rezipienten erfassen nur die bewusstseinsfähigen, subjektiven Haltungen und bleiben ebenfalls oberflächlich. Eine mediensoziologische Methode, die nach Medienwirkungen fragt, muss tiefer bohren. Die machtvollen und nachhaltigen Wirkungen sind in den objektiven Sinnstrukturen der Medienangebote zu suchen, die unter der inhaltlichen Oberfläche der Medienangebote liegen und nur teilweise bewusstseinsfähig sind. Auf diese tiefer liegenden Sinnstrukturen richtet sich Oevermanns rekonstruktive Methode der objektiven Hermeneutik. Sie untersucht nicht die subjektiv gemeinten Sinngehalte kommunikativer Akte, sondern die allgemeinen Bedeutungsmöglichkeiten kommunikativer Prozesse. Damit wird der Kommunikation eine Eigenständigkeit eingeräumt, die für eine mediensoziologisch leistungsfähige Methode von ganz entscheidender Bedeutung ist. Nicht dass damit nun subjektive Prozesse überhaupt keine Relevanz mehr haben, nur kommen sie erst in einem zweiten Schritt in Betracht: Aus dem Raum der allgemeinen Bedeutungsmöglichkeiten der Kommunikation wählen die Subjekte bestimmte Bedeutungen aus. Mit dieser Methode kann man zwischen der kommunikativen und der subjektiven Konstruktion von Bedeutungen unterscheiden. Relevant ist diese Unterscheidung insbesondere für das Verhältnis von Produkt- und Rezeptionsanalysen. Das zweite Motiv der medienkritischen Vorgehensweise Oevermanns ist dagegen sehr problematisch: Massenkommunikation und ihre Wirkungen müssen ihr zufolge, wie gesagt, von den allgemeinen Strukturen der Sozialität her rekonstruiert werden. Der Normalfall sozialen Handelns soll sich im Modell der Face-to-face-Interaktion zeigen, das die Reziprozität offenlegt, die jedwede Form von Sozialität (und also auch der Massenkommunikation) erst ermöglicht. Die allgemeinen Sinnstrukturen von Medienangeboten sollen deshalb im Vergleich mit den grundlegenden Strukturen sozialer Interaktion sichtbar gemacht werden können. Diese grundlegenden Strukturen können an einfachen Handlungssequenzen wie z.B. einer Begrüßungshandlung gezeigt werden. Hier wird ein gemeinsamer sozialer Handlungsraum geschaffen, der die beteiligten Personen in ein Verhältnis wechselseitiger Autonomie und Verpflichtungen einbindet. Unter der Bedingung wechselseitig wahrnehmbarer Anwesenheit, wie sie ja für soziale Interaktionen konstitutiv ist, kann der Begrüßte entscheiden, ob er zurückgrüßt oder nicht. Die daraus folgen-
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den Konsequenzen für den weiteren Interaktionsverlauf können von den Beteiligten registriert, beeinflusst und eventuell korrigiert werden. Nun wird die Form der Massenkommunikation zu Recht als Einwegkommunikation bezeichnet, die anders als soziale Interaktionen rückkopplungsarm ist. Die Möglichkeiten wechselseitig wahrnehmbarer Reaktionen werden damit wirksam ausgeschlossen: Wir können uns vor dem Fernseher nur begrüßen lassen, ohne zurückzugrüßen oder den Gruß zu verweigern. Damit werden nach Oevermann reziproke Verhältnisse nur vorgetäuscht und die Autonomie der Rezipienten verstellt. Das Fernsehen kann nur pseudo-interaktive Verhältnisse inszenieren, welche die Reziprozität von Face-to-face-Interaktionen systematisch deformieren. Diese Medienkritik legt nicht nur soziale Interaktion als allgemeines Modell der Struktur von Sozialität zugrunde, sondern setzt die normative Kritik an den Unterschieden zwischen Interaktion und Massenkommunikation an. Es ist allerdings nicht die schiere Form der Einwegkommunikation, an der sich die normative Kritik festmacht, sondern ihre Umsetzung speziell in der Fernsehkommunikation. Diese Umsetzung bezeichnet Oevermann als Logik der Selbstinszenierung. Massenkommunikation muss nämlich nicht notwendig in Form pseudo-interaktiver Täuschungen und deformierender Reziprozitätsverletzungen verlaufen: Sie kann durchaus eine autonome und aufgeklärte Öffentlichkeit mit sachlicher Berichterstattung bedienen. Dies leisten heute vor allem seriöse Printmedien. Die Logik der Selbstinszenierung dagegen stellt das Medium und die Medienakteure selbst in den Mittelpunkt, alles andere wird zur bloßen Staffage (vgl. Oevermann/Tykwer 1991). Das Fernsehen inszeniert sich selbst, und die Fernsehsendungen zeigen immer stärker Merkmale der Selbstinszenierung wie Starkult, Pseudo-Vergemeinschaftung, Pseudo-Authentizität, Personalisierungen, Moralisierungen usw. Vor allem vom Fernsehen selbst inszenierte Sendungen wie Talkshows zeigen diese Merkmale. Die Kritik der Selbstinszenierungslogik des Fernsehens setzt einen normativen Bezugspunkt, der eine Beurteilung von Fernsehsendungen als angemessen und sachorientiert versus unangemessen und selbstinszenierend ermöglicht: Diesen Bezugspunkt bildet die Praxis »[…] der autonomen Öffentlichkeit einer bürgerlichen Gesellschaft« (Oevermann 1996: 214), an der sich Fernsehen als technologisch eingerichtete Kommunikationsform beteiligen könnte und auch beteiligen sollte. Damit haben wir zwei Bausteine dieser normativen Medienkritik vor uns, nämlich eine interaktionstheoretische Fundierung der Medienanalyse, die in eine normative Kritik der Selbstinszenierungslogik des Fernsehens mündet. Ein dritter Baustein fehlt noch: Den in der Selbstinszenierungslogik des Fernsehens angelegten Deformationen und Täuschun-
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gen soll das Publikum hilflos ausgeliefert sein, da sie ja auf der Ebene der Massenkommunikation selbst nicht korrigiert werden können. Darüber hinaus können durch Gewöhnungs- und Normalisierungstendenzen auch systematische Beschädigungen alltäglicher sozialer Praxis vermutet werden. Diese Vermutung bleibt aber ungeachtet vielfältiger empirischer Untersuchungen zu den fraglichen Aspekten weitgehend spekulativ (vgl. ebd.: 203ff.). Mit dieser medienzentrierten Perspektive folgt Oevermann den klassischen Analysen der Kulturindustrie. Er kombiniert eine medienzentrierte mit einer interaktionstheoretischen Untersuchungsperspektive und subsumiert subjektive Rezeptionsprozesse dem sich eigenlogisch durchsetzenden strukturellen Zwang des Fernsehens.
2. Kritik normativer Medienkritik Aus systemtheoretischer Sicht verfehlt diese Medienkritik die gesellschaftlichen Entwicklungen und Probleme, auf die die Massenmedien antworten. Die normative Medienkritik leistet keine zutreffende Beobachtung der Massenkommunikation in der modernen Gesellschaft. Auf eine normativ enthaltsame gesellschaftstheoretische Beobachtung der Medien ist die Systemtheorie zugeschnitten. Die zunehmend komplexe moderne Gesellschaft ist eine funktional differenzierte Gesellschaft. Zwar kann man Gesellschaft als Gesamtheit aller aufeinander Bezug nehmender Kommunikationen begreifen (vgl. Luhmann 1986: 24), aber es gibt keinen Standort außerhalb der Gesellschaft, von dem aus Gesellschaft als Einheit beobachtet und beschrieben werden könnte. Vielmehr differenzieren sich verschiedene gesellschaftliche Teilsysteme aus, die eine je spezifische Beschreibung der Gesellschaft anfertigen, eine bestimmte Funktion erfüllen und sich mit teilsystemspezifisch codierten Kommunikationen abschließen: u.a. Recht, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und eben auch das System der Massenmedien. Die teilsystemspezifischen Codes erlauben eine Beobachtung und Beschreibung aller gesellschaftlichen Vorgänge: im Recht nach recht/unrecht, in der Wissenschaft nach wahr/unwahr usw. »Durch Systemdifferenzierung multipliziert sich gewissermaßen das System in sich selbst durch immer neue Unterscheidungen von Systemen und Umwelten im System.« (Luhmann 1997: 598) Die funktional differenzierte Gesellschaft vervielfältigt sich intern, indem innerhalb der Gesellschaft teilsystemspezifische Beschreibungen der Gesellschaft angefertigt werden: u.a. eine Gesellschaft des Rechts, eine Gesellschaft der Politik, eine Gesellschaft der Wissenschaft, eine Gesellschaft der Massenmedien. Die moderne Gesellschaft ist immer nur nach Maßgabe ihrer funktionalen Teilbereiche resonanzfähig
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und in diesem Sinne eine polykontexturale Gesellschaft, die nicht als Einheit in Teile zerlegbar, sondern nach System-Umwelt-Relationen differenziert ist. Erst in diesem Bezugsrahmen wird die spezifische Form massenmedial verbreiteter Kommunikation verständlich: Verbreitungsmedien der Kommunikation sind »evolutionäre Errungenschaften«, die in ihrer Entstehung und Weiterentwicklung auf das Problem antworten, wie in einer immer weiter ausdifferenzierten Gesellschaft sowohl Möglichkeiten der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung als auch die kommunikative Erreichbarkeit der Adressaten gesichert werden können (vgl. ebd.: 505ff.). Die moderne Gesellschaft hat keine Wahl, mit welcher (realen, inszenierten, manipulierten) Wirklichkeit sie umgehen will: Allein die Massenmedien erzeugen eine Realität, an der sich die Gesellschaft orientieren kann (vgl. ebd.: 1102). Gleiches gilt für die funktional ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilbereiche und die Individuen. Nur so kann ein allgemeiner thematischer Horizont erzeugt werden, eine (wie immer auch konstruierte) gesellschaftsweit verbreitete Realität, die alle sozialen Systeme und alle Personen als gemeinsam unterstellen können. Nur durch Massenkommunikation ist Gesellschaft kommunizierbar und damit reproduktionsfähig (vgl. Luhmann 1996). Das gelingt durch die Form der Einwegkommunikation eines Senders an alle: Nur so kann etwas gesellschaftsweit zum Thema gemacht werden.2 Die Massenkommunikation antwortet auf die Steigerung gesellschaftlicher Komplexität durch die Abkopplung der Kommunikationsform von den Beschränkungen sozialer Interaktionen. Fernkommunikation macht sich von der Bedingung der Anwesenheit der beteiligten Personen unabhängig. Im Zuge gesellschaftlicher Entwicklungen überwinden neue Formen der Kommunikation die eingeschränkten Möglichkeiten sozialer Interaktionen, was zum Bestimmungsmerkmal der Massenmedien wird: »Interaktion wird durch Zwischenschaltung von Technik ausgeschlossen, und das hat weitreichende Konsequenzen, die uns den Begriff der Massenmedien definieren« (ebd.: 11). Die grundlagentheoretische Differenz zwischen der Medienanalyse Oevermanns und der soziologischen Systemtheorie ist damit ganz offensichtlich: Während Oevermann von sozialer Interaktion als Grundmodell sozialer Prozesse ausgeht, legt die Systemtheorie einen allgemeinen Begriff von Kommunikation zugrunde, und Interaktion ist dann eine spezifische Form von Kommunikation. Kommunikation prozessiert als Selektionszusammenhang von Information, Mitteilung und Verstehen. Interaktion ist eine spezifi2
Die Unverzichtbarkeit dieses Selektionsmechanismus wird durch die sogenannten neuen Medien nachdrücklich erhärtet: Gerade weil er mit der Form der Einwegkommunikation verknüpft ist, kann er durch neue »interaktive« Medien nicht bedient werden (vgl. Wehner 1997).
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sche Form von Kommunikation, nämlich Kommunikation unter Anwesenden. Anwesenheit der beteiligten Personen bestimmt die Möglichkeiten und Beschränkungen von Interaktionen. So können in sozialen Interaktionen im Unterschied zur Massenkommunikation Verstehensprozesse kontrolliert werden (vgl. Schneider 2001), aber dafür können die Grenzen überschaubarer Handlungsräume nicht überschritten werden. Massenkommunikation ist ja der Paradefall, an dem gezeigt werden kann, dass Kommunikation und nicht Interaktion als Grundbegriff gesellschaftstheoretischer Analysen anzusetzen ist.3 Die Steigerung gesellschaftlicher Komplexität im Zuge fortschreitender funktionaler Differenzierung schafft das Problem, Kommunikation gesellschaftsweit zu verbreiten. In der gesellschaftsweiten Verbreitung von Kommunikation liegt die exklusive Funktion der Massenkommunikation: Von dieser Leistung sind Selbstbeobachtung und Selbstreproduktion der modernen Gesellschaft abhängig. Allerdings hängt auch die Massenkommunikation von ihrer Umwelt ab: Sie muss rezipiert werden, sie hat, mit anderen Worten, stets das Problem der Verstehbarkeit und der Annahmebereitschaft der Adressaten vor sich. Medienkommunikation wird nicht nur gesellschaftsweit verbreitet, sondern muss auch erfolgreich adressiert werden. Da die Massenkommunikation selbstreferentiell verläuft, operiert sie blind in bezug auf relevante Bereiche der Umwelt. Diese Blindheit bedeutet aber gerade nicht vollkommene Geschlossenheit des Systems: die ist nur auf der Ebene der Operationen gegeben. Auf der Ebene der Strukturen muss sich die Massenkommunikation wie jedes soziale System an die Umweltgegebenheiten anpassen (vgl. Sutter 2005a). Dies geschieht unter systematisch erschwerten Bedingungen: Die Massenkommunikation richtet sich an ein anonymes Publikum und steht zu diesem in einem rückkopplungsarmen Verhältnis. Die Massenkommunikation hat daher keine direkten Rückkopplungsmöglichkeiten mit dem Publikum. Dieser Umstand macht das Problem der Bereitschaft des Publikums, Medienangebote auch anzunehmen, besonders interessant, vor allem im Bezugsrahmen des operativen Konstruktivismus der Systemtheorie: Wie alle sinnhaften Systeme operiert die Massenkommuni3
Das zeigt, wenn auch unfreiwillig, ein prominenter handlungstheoretischer Kritiker der Systemtheorie (vgl. Sutter 2005): Hartmut Esser unterscheidet einen allgemeinen Begriff der Interaktion von einem spezielleren Begriff der Kommunikation als einer von drei Formen sozialer Interaktion. Sicherlich sind soziale Interaktionen konstitutionslogisch den medial verbreiteten Kommunikationen vorgeordnet, denn zunächst organisiert sich die Kommunikation in der einfachen Form von sozialer Interaktion, bevor sich die Kommunikation aufgrund gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse von sozialen Interaktionen abkoppelt. Dann aber räumt auch Esser der Medienkommunikation den Status eines eigenständigen Systems ein (vgl. Esser 2000: 279ff.).
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kation selbstreferentiell geschlossen, hat also keinen direkten Kontakt zu den Rezipienten. Gleichwohl sorgt die Massenkommunikation für eine erfolgreiche Verankerung in der psychischen Umwelt rezipierender Systeme: Dies gelingt in Prozessen der Inklusion, in denen psychische Systeme von kommunikativen Systemen adressiert und beteiligt werden. Soziale, mit Kommunikationen operierende Systeme inkludieren psychische Systeme, indem sie diese als kommunikativ adressierbare Personen beobachten und behandeln (vgl. Luhmann 1997: 618ff.). Im Bereich der Medienkommunikation vollzieht sich Inklusion auf unterschiedlichen Ebenen: Auf der Ebene des Funktionssystems der Verbreitungsmedien gibt es eine grundlegende Allinklusion von Jedermann, d.h. im Prinzip können alle auf die Medienangebote zugreifen. Hinzu treten unterschiedliche Inklusionsmodi auf der Ebene der Programmierung medial verbreiteter Kommunikationen. So setzen verschiedene Programmformen des Fernsehens (u.a. Nachrichten, Werbung und Unterhaltung) bestimmte Individuen voraus: als interessierte Beobachter, als nutzenmaximierende oder sich mit sich selbst auseinandersetzende Personen (vgl. Luhmann 1996: 130ff.).4 Die von Oevermann gegeißelten Pseudo-Interaktionen in der Fernsehkommunikation liegen nun genau auf dieser Ebene des Problems, wie anonyme Adressaten erfolgreich adressiert werden können: In den Printmedien ist es unproblematisch, ohne pseudointeraktive Rahmungen gleich zur Sache zu kommen. Im Fernsehen dagegen treten Medienakteure aus Fleisch und Blut auf, was automatisch Begrüßungen, Verabschiedungen und viele andere Arten der direkten Zuschaueradressierung mit sich bringt (vgl. Hausendorf 2001; 2003). Man kann dem Fernsehen die Aufgabe zuschreiben, eine kritische, autonome Öffentlichkeit mit sachlichen Informationen und Berichten zu versorgen. Tatsächlich aber hat das Fernsehen unter Vielkanalbedingungen in zunehmendem Maße das Problem, die Attraktivität seiner Medienangebote im verschärften Konkurrenzkampf der Anbieter zu erhöhen. Der Lösung dieses Problems dient die von Oevermann so zutreffend beschriebene Selbstinszenierungslogik des Fernsehens. An diese Stelle dockt ein nahe liegender Einwand gegen die systemtheoretische Beschreibung der Massenkommunikation an: Müssen wir nicht die behauptete Abkopplung der Massenkommunikation von Inter4
»In allen Programmbereichen der Massenmedien ist mithin ›der Mensch‹ impliziert – aber natürlich nicht als reale Reproduktion seiner biochemischen, immunologischen, neurobiologischen und bewußtseinsmäßigen Prozesse, sondern nur als soziales Konstrukt.« (Ebd.: 135) Mit diesen sozialen, kommunikativen Konstruktionen, die als Inklusionsprozesse gefasst werden, liest die Massenkommunikation gewissermaßen mit den intern zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ihre psychische Umwelt (vgl. Sutter 2005a).
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aktion hinterfragen, wenn wir doch auf Interaktionen stoßen, wohin auch immer wir in der Massenkommunikation blicken? In der Tat nehmen im Fernsehen die Inszenierungen von Interaktionen, von Gemeinschaft, von Vertrautheit, von Spontaneität usw. geradezu dramatisch zu. Dies sind Merkmale interaktiver Nahbereiche, und die Fernkommunikation erscheint auf diese Weise im Gewand interaktiver Nähe. Aber auch hier erweist sich der kritische Hinweis auf die Inszenierungslogik, die die Reziprozität gemeinsamer Handlungsräume und interaktive Nähe nur vorgaukelt, als nicht entscheidend. Entscheidend ist der Unterschied zwischen interaktionsfreier Massenkommunikation und der Inszenierung und Darstellung von Interaktionen in der Massenkommunikation. Interaktionen sind auf vielfältige Weise an der Herstellung von Medienangeboten beteiligt, denken wir an Talkshows, Diskussionsrunden, Interviews, Dialoge aller Art in Spielfilmen usw., aber durch diese Interaktionen wird die Massenkommunikation selbst nicht zu einem Prozess der Interaktion. Vielmehr werden die dargebotenen Interaktionen ihrerseits massenmedial verbreitet, und dieser Prozess verläuft interaktionsfrei, sonst wäre die massenmediale Verbreitung nicht möglich. Die einseitige Form konstituiert eine mediale Grenze der Massenkommunikation, für die der Empfang und der Umgang mit den Medienangeboten auf der Seite der Rezipienten intransparent ist.5 Aus dieser Sicht, also von Prozessen der Massenkommunikation her gesehen, können auch Merkmale sogenannter »parasozialer Interaktionen« als Strategien massenmedialer Inszenierung und Präsentation sozialer Interaktionen begriffen werden. Üblicherweise werden mit parasozialer Interaktion Unterstellungen der Rezipienten bezeichnet, die so tun, als befänden sie sich in einer sozialen Beziehung zu Medienfiguren. Kommunikationssoziologisch muss nun allerdings der Begriff der parasozialen Interaktion von diesen Unterstellungen der Medienrezipienten abgelöst werden, die sich selbst in einem quasi-interaktiven Verhältnis zu Medienfiguren sehen. Die kommunikationssoziologische Analyse von Massenkommunikation muss von allen Konnotationen quasi interaktiver, quasi dialogischer Wechselseitigkeit von Medienangeboten bzw. Medienfiguren und Rezipienten befreit werden: Es geht mithin eben nicht 5
»Ob mit Zuschauern im Fernsehen geredet (und telefoniert) wird, ob man Zuschauer sieht, die zuschauen und zuhören oder ob jemand uns als Zuschauer vor dem Fernseher begrüßt und verabschiedet (obwohl die damit implizierte Wechselseitigkeit des Sehens und Gesehenwerdens technisch ausgeschlossen ist), immer geht es in diesen und ähnlichen Fällen darum, daß das Massenmedium Fernsehen seine eigene mediale Grenze der Unterbrechung des Kontakts zwischen Sender und Empfänger in Szene setzt. Man könnte auch sagen: das Fernsehen kompensiert auf diese Weise mit Bordmitteln den Strukturzwang des Don’t talk back – ohne daß es diesem Zwang damit in irgendeiner Weise entgehen könnte« (Hausendorf 2003: 58f.).
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um die vielfach mit dem Begriff der parasozialen Interaktion belegten Aktivitäten, Unterstellungen und subjektiven Perspektiven von Medienakteuren und Rezipienten (vgl. die Beiträge in Vorderer 1996). Als Merkmal massenkommunikativer Prozesse unterliegt parasoziale Interaktion den Strukturzwängen einseitiger Kommunikation, die von den Adressaten nicht direkt beeinflusst werden kann. Hieran kann man den Unterschied zwischen realen und parasozialen Interaktionen mit wirklichen Personen und mit Medienfiguren festmachen (vgl. Keppler 1996), aber dies bildet nicht die Ebene der Operationsweise der Massenkommunikation selbst. Bezogen auf diese Ebene wird man über das prinzipiell geringe Maß an Rückkopplungsmöglichkeiten zwischen Empfänger und Sender schnell Einigkeit erzielen können, sich aber dennoch über die Qualität und die Bedeutung der bestehenden Rückkopplungsmöglichkeiten streiten. Es gibt Kommentare, Leserbriefe, Einschaltquoten, man kann Publikumsbefragungen durchführen und immer mehr Personen an Medienangeboten aller Art beteiligen. Diese Prozesse, die häufig in Formen sozialer Interaktionen ablaufen, sind aus systemtheoretischer Sicht zweifellos am Zustandekommen der Medienangebote beteiligt, ohne aber selbst Prozesse der Massenkommunikation zu bilden. Die genannten Rückkopplungsmöglichkeiten dienen nicht dem Kontakt mit der Umwelt, sondern der Selbstreproduktion des Systems der Massenkommunikation (vgl. Luhmann 1996: 34). Diese Möglichkeiten widersprechen somit keinesfalls der Behauptung, dass die Abkopplung von Interaktion konstitutiv für die Massenkommunikation ist. Wenn also die Inszenierung und Präsentation sozialer Interaktionen in der Massenkommunikation nicht dem Kontakt mit der Umwelt, sondern der Selbstreproduktion dienen, bilden auch die von der Massenkommunikation aus beschreibbaren Merkmale parasozialer Interaktionen Momente dieser Selbstreproduktion. Gleiches gilt für die Logik der Selbstinszenierung des Fernsehens: Hier sind mit Oevermann nicht nur Begrüßungen, Anreden und Beteiligungen des Publikums zu nennen, nicht nur die Rolle des Fernsehens als Gastgeber, bei dem verschiedene Akteure und die Zuschauer eingeladen sind, nicht nur die Bedeutung, die Personen und Ereignissen allein als Objekte und Staffage der massenmedial verbreiteten Inszenierungen zukommt. Darüber hinaus werden Personen und Ereignisse in Formate der Vergemeinschaftung, der Moralisierung, des Konflikts, der Personalisierung usw. gegossen. Sie dienen in diesen Formen der Selbstreproduktion der Massenkommunikation. Es sind also gerade die Thematisierungen und Bearbeitungen der medialen Grenze, d.h. der Abkopplung der Massenkommunikation von Interaktion, welche den massiven Einsatz der Inszenierung und Präsentation von In-
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teraktionen im Dienst des interaktionsfreien Operationsmodus der Massenkommunikation begründen. Massenkommunikation kann nicht – auch nicht in übertragenem Sinne – als Interaktion begriffen werden, bedient sich aber auf der Ebene einseitig kommunizierter Medienangebote der Mittel sozialer Interaktionen, um Probleme der Annahmebereitschaft des Publikums zu lösen. Im Verhältnis von sozialen Interaktionen in den Medienangeboten und der massenkommunikativen Verbreitung dieser Interaktionen haben wir also zwei unterschiedliche Systeme vor Augen, und dieser Unterschied kommt in der erörterten normativen Medienkritik nicht in den Blick.
3. Beobachtung und Kritik In welchem Verhältnis stehen nun normative Medienkritik und die mediensoziologischen Beobachtungen dieser Kritik? Lässt die normative Enthaltsamkeit der Systemtheorie überhaupt noch einen Begriff der Kritik zu und wie könnte dieser Begriff aussehen? Bei der Überlegung, welches denn wohl der Text von Niklas Luhmann ist, der am ehesten auch im emphatischen Sinne als kritisch bezeichnet werden kann, könnte man sicherlich den Band »Ökologische Kommunikation« als heißen Kandidaten nennen. Denn darin kritisiert Luhmann die moralisierenden und normativistischen Kritiker gesellschaftlicher Verhältnisse mit einer Verve, die hin und wieder die sonst übliche Gelassenheit vermissen lässt.6 Zugleich aber werden die Beschränkungen und Möglichkeiten von Kritik deutlich. Die Beschränkungen ergeben sich vor allem aus zwei Punkten: Erstens gibt es in einer funktional ausdifferenzierten, polykontexturalen Gesellschaft keine übergeordneten, privilegierten Standpunkte mehr. Genau die aber werden von normativistischen Kritiken in Anspruch genommen. Diese Form der Kritik ist in den Augen der Systemtheorie nicht ausreichend auf die Bedingungen funktionaler Ausdifferenzierung eingestellt. Sie nämlich führt dazu, und dies ist der zweite Punkt, dass es keine gesamtgesellschaftliche Beobachtung mehr gibt, sondern eine gesellschaftsinterne Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Beobachtungen. Gesellschaftliche Vorgänge werden, wie weiter oben erörtert, von den verschiedenen Teilsystemen wie Wissenschaft, Recht, Politik, Wirtschaft 6
Im Bereich der ökologischen Kommunikation diagnostiziert Luhmann, dass sich die Kritik nach dem Verlust allgemeiner, normativ überlegener Bezugspunkte zunehmend an Angstthemen ausrichtet. Die Kritik dieser Kritik fällt dann in einer ganz ungewöhnlichen Tonlage aus: Die Angstrhetorik sei »zwar handlungsnah, aber realitätsfern«. Sie blende »in einer kaum zu verantwortenden Weise gesellschaftliche Interdependenzen und Wirkungsvermittlungen aus.« (Luhmann 1986: 248).
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usw. beobachtet. Damit aber sind alle Möglichkeiten von Rationalität und Kritik an teilsystemische Beobachtungsmöglichkeiten gebunden. Während Jürgen Habermas noch nach einer vernünftigen Identität der modernen Gesellschaft fragen konnte, verweist die Systemtheorie Möglichkeiten der Kritik im Sinne rationaler Beobachtungen an die Beobachtungs- und Resonanzfähigkeiten der gesellschaftlichen Funktionssysteme. Statt sich an der Einheit der scheinbar überlegenen, tatsächlich aber stets bezweifelbaren Beobachtungsposition zu orientieren, muss Kritik auf Differenz umstellen, insbesondere die Differenz der funktionssystemspezifischen Beobachtungen im Verhältnis zur Umwelt. Kritik verfährt nach dem Motto »Ich sehe was, was Du nicht siehst« (vgl. Luhmann 1990), als Beobachtung von Beobachtungen. »Die Gesellschaftskritik«, so Luhmann (1997: 1118), »ist Teil des kritisierten Systems, sie lässt sich inspirieren und subventionieren, sie lässt sich beobachten und beschreiben. Und es kann unter heutigen Bedingungen schlicht peinlich wirken, wenn sie bessere Moral und bessere Einsicht für sich reklamiert.« Damit lässt sich eine methodologische Maßgabe für kritische wissenschaftliche Beobachtungen gewinnen: Statt mit einer als sicher behaupteten Einheit beginnt man mit Differenzen. Man kann behaupten, die Massenkommunikation sei nach Maßgabe unverstellter Interaktionsverhältnisse beschreibbar, man kann dafür halten, die Medien sollten integrieren und emanzipieren: man wird auf diese Weise schwerlich eine gesellschaftstheoretisch tragfähige Beschreibung der Beziehungen der Massenkommunikation zur Umwelt erhalten. Wie erörtert hat die Massenkommunikation insbesondere rezipierende Subjekte zur Voraussetzung. Sie muss deshalb nicht nur für die Verbreitung, sondern auch die Verstehbarkeit und Attraktivität ihrer Kommunikationsangebote sorgen. Jede Kritik der Medien muss diesen Umstand berücksichtigen, ja mehr noch: Will sie Gehör und Aufmerksamkeit finden, muss sie sich selbst der medialen Verbreitung in einer Weise bedienen, die diesem Umstand Rechnung trägt. Die Massenkommunikation steht weiterhin in vielfältigen Leistungsbeziehungen zu anderen gesellschaftlichen Teilsystemen. Was massenmedial gesellschaftsweit verbreitet wird, kann in Recht, Wissenschaft, Wirtschaft usw. weiterverarbeitet werden. Die Angewiesenheit der gesellschaftlichen Funktionssysteme auf die Massenkommunikation ist offensichtlich: »Publish or perish«, heißt es in der Wissenschaft. In der Auseinandersetzung um die Ölplattform Brent Spar hat Greenpeace dem Konzern Shell beigebracht, was man mit einer gut geplanten und erfolgreichen medialen Kampagne bewirken kann. In den Golfkriegen Amerikas spielt der eingebettete Journalismus die Begleitmusik. Besonders
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kritisch werden die engen Beziehungen zwischen Massenkommunikation und Politik betrachtet. Unter dem Zwang der Eigenlogik massenmedialer Präsentationsformen wandelt sich Politik zunehmend zu Symbolpolitik, die sich nicht an Argumenten, sondern an medialen Wirkungen ausrichtet. Ein Abend bei Sabine Christiansen ist wichtiger als eine gute Parlamentsdebatte. Man kann dann natürlich geltend machen, die Medien sollten sich der sachlichen, unvoreingenommenen Berichterstattung widmen, so dass Politik wieder zu sich selbst kommen könne. Aber Medien übermitteln nicht einfach, sondern sie selegieren, inszenieren und präsentieren. Politische Kommunikation ist dann zunächst einmal Material, mit dem attraktive Medienangebote hergestellt werden können, wobei Attraktion in zunehmendem Maße heißt: dem Unterhaltungsbedürfnis der Rezipienten Rechnung zu tragen. Auf dieser Ebene der Medienanalyse kann man direkt auf die Analyse der Selbstinszenierungslogik des Fernsehens zugreifen. Was immer daraus an wissenschaftlicher Kritik folgt: sie hat die spezifischen Beobachtungs- und Resonanzmöglichkeiten der Funktionssysteme zu berücksichtigen, will sie einigermaßen realistisch bleiben. Im Kern ist damit auch gesagt: Es ist nicht zu sehen, wie man von einer normativ gestützten interaktionstheoretischen Ausgangslage zu einer Analyse moderner gesellschaftlicher Verhältnisse vorstoßen kann. Diese Analyse aber bildet die Grundlage einer soziologischen Kritik der Medien.
4 . M e d i e n s o z i o l o g i sc h e D e s i d e r at e Kritik der Medien, diese Einsicht ist zumal aus systemtheoretischer Perspektive nicht überraschend, darf nicht weniger komplex ansetzen als es der Gegenstand erfordert, der kritisiert werden soll. Die kritischen Analysen Oevermanns verfahren, wie bereits deutlich wurde, medienzentriert. Es fehlen die subjektiven Rezeptionsprozesse und die Kontexte, in denen sie verlaufen. Die Systemtheorie steht auch mit der Einschätzung des Verhältnisses von Medienangeboten und Medienrezeption in Kontrast zur Medienkritik Oevermanns: Sie konstatiert nicht die Überwältigung der Rezipienten durch die Medien, sondern Freiheitsgrade auf beiden Seiten, der Seite der Medienangebote und der Seite der Rezipienten. Da eine ausgearbeitete Systemtheorie der Massenkommunikation noch nicht vorliegt, bleibt diese Einschätzung allerdings noch ziemlich pauschal. Durch die Fokussierung auf kommunikative Systeme werden Rezeptionsprozesse nur am Rande angesprochen. Eine umfassende mediensoziologische Perspektive hat m.E. mindestens drei Ebenen miteinander zu verbinden: die hier im Vordergrund ste-
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henden Prozesse der Massenkommunikation, die Prozesse der Medienrezeption samt den relevanten sozialen Kontexten sowie die Anschlusskommunikationen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen (vgl. Sutter 2002). Die verschiedenen Forschungsbereiche auf diesen drei Ebenen sind bislang theoretisch unterschiedlich ausgerichtet: Das System der Massenkommunikation und seine Leistungsbeziehungen zu anderen gesellschaftlichen Bereichen werden makrosoziologisch unter anderem mit der Systemtheorie beschrieben. Die Rezeptionsforschungen sind von Hause aus subjekt- und handlungstheoretisch ausgerichtet (vgl. Charlton/Schneider 1997); die Untersuchung der kommunikativen Aneignungsprozesse legt unter anderem interaktionstheoretische Zugänge nahe (vgl. Holly/Püschel/Bergmann 2001). Eine wissenschaftlich leistungsfähige und in diesem Sinne kritische Medienanalyse wird – mindestens – die drei genannten Ebenen zu berücksichtigen haben (technische und organisatorische Gegebenheiten freilich nicht zu vergessen). Die Frage ist, ob einmal eine fachuniversale soziologische Theorie in der Lage sein wird, diese Bereiche der sozialwissenschaftlichen Medienforschung mit einer einheitlichen Theoriesprache zu untersuchen. Eine Kritik der Kritik von Medien könnte einen Schritt weiter in diese Richtung gehen, um dann wieder kritisch beobachtet zu werden.
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MASSENMEDIEN REKONSTRUKTION
MODERNE. EINER KONTROVERSE UND
JOSEF WEHNER Massenmedien sind in der Soziologie, sofern sie überhaupt als Forschungsgegenstand Beachtung fanden, über viele Jahrzehnte hinweg überwiegend als eine abzuwehrende Herausforderung verstanden worden. Verantwortlich dafür war vor allem ein durch die Frankfurter Schule geprägtes Verständnis der Massenmedien. Für Adorno und seine Schüler stand fest, dass die gesellschaftliche Funktion von Film, Funk und Fernsehen eine ideologische ist, nämlich mit ihren symbolischen Erzeugnissen ihr Publikum zu motivieren, sich mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen zu arrangieren, statt diese in Frage zu stellen. Vor diesem Hintergrund galt die in den Cultural Studies vollzogene Hinwendung zum Medienrezipienten und dessen eigensinnigen Umgang mit den Medienangeboten als Befreiungsschlag gegen eine Perspektive, derzufolge es ausreichte zu wissen, wie Medieninhalte erzeugt werden, um auch zu wissen, wie diese Inhalte auf das Publikum wirken. Dennoch, so die These des vorliegenden Beitrags, reicht diese Rehabilitierung des Medienrezipienten nicht aus, um einen unbefangenen Blick auf die Medien zu gewinnen. Im Gegenteil, auch Cultural Studies zur Medienthematik orientieren sich an Leitsätzen, die (Massen-)Medien in erster Linie als Gegenspieler eines auf Wahrheit und Aufklärung verpflichteten Beobachters erscheinen lassen. Zwar wird begründet, warum nicht nur professionelle Kritiker, sondern auch »einfache Leute« den Inhalten der Medien eigene, mitunter gar »oppositionelle Lesarten« (Hall 1999) abzugewinnen vermögen. Allerdings verraten Argumentationsfiguren wie diese, dass auch in einer rezipientenorientierten Perspektive Massenmedien primär ideologiekritisch gesehen werden – hier im Sinne eines fundamentalen Widerspruchs zu den Bedingungen einer offenen, sich ihrer kulturellen Unterschiede und politischen Vielstimmigkeit bewussten Gesellschaft. Interessant sind deshalb solche Ansätze, in denen dieser Zwang, die Medien von vornherein in ein gegensätzliches Verhältnis zur Gesellschaft zu rücken und daher nicht anders als kritisch sehen zu können, zugunsten einer Perspektive vermieden wird, in der alte und neue Medientechnologien als zugehörig zur Gesellschaft – quasi als soziokul33
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turelles Erbgut der Moderne – betrachtet werden. Für die Soziologie ist eine solche Perspektive vor allem von Luhmann im Rahmen seiner Systemtheorie entworfen worden. Während lange Zeit das Subjekt entweder als Reflex einer medienindustriell erzeugten Symbolwelt betrachtet oder aber, konträr dazu, in der Rolle des kreativen Widerständlers gesehen wurde, eröffnet die Systemtheorie eine dritte Perspektive, in der die zirkulären Verhältnisse zwischen Subjektformen, Kommunikationsweisen und Kommunikationsmedien im Vordergrund stehen. Die Massenmedien werden hier nicht länger als Anstifter kultureller und politischer Verfehlungen oder als Symbolvorrat für kulturoppositionelle Strömungen in der Gesellschaft gedeutet, sondern in der grundlegenden Funktion eines Katalysators gesellschaftlicher Modernisierung gesehen. Offenbar erschöpft sich ihre Funktion nicht darin, in Wahrheit komplexe Sachverhalte zu vereinfachen oder den Sinn für differenzierte Betrachtungsweisen auszulöschen; vielmehr schaffen sie wichtige Voraussetzungen, damit gesellschaftliche Komplexität im Sinne kommunikativ verfügbarer Selbst- und Fremdbeobachtungsmöglichkeiten sich überhaupt aufbauen kann. Man könnte auch sagen, dass solche den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess unterstützenden Komplexitätsgewinne einhergehen mit einem Komplexitätsverzicht im Sinne einer Festlegung der Massenmedien auf eine interaktionsfreie Publikumsbeziehung und relativ einfache, mittlerweile globale symbolische Ausdrucks- und Darstellungsstandards. Es ist derselbe Typ von Kommunikationsmedium, der eine Befreiung von überkommenden normativen und moralischen Zwängen möglich gemacht hat und gleichzeitig eine »Simplifizierung« dessen bewirkt, was über die Gesellschaft gewusst werden kann. Der Hinweis auf solche gegenläufigen Entwicklungen deutet an, dass auch ohne die Annahme eines tiefenstrukturellen Widerspruchs zwischen medientechnisch unterstützten Kommunikationsformen und den Bedingungen einer gelingenden individuellen und kollektiven Identitätsbildung medienkritische Beobachtungen möglich sind. Im Folgenden soll diese Entwicklung im Medien(kritik)verständnis nachgezeichnet werden.
1 . Z u m S el b s tv e r st än d n i s k r i ti sc he r T h eo r i en Der Begriff der Kritik hat für die Sozialwissenschaften traditionsgemäß immer schon eine besondere Bedeutung gehabt, verband sich doch für viele Vertreter dieses Faches die eigene Arbeit stets mit dem Anspruch, sich nicht in den Selbstbeschreibungen der jeweiligen Forschungsgegenstände zu verstricken, sondern diese auf Ungleichheits-, Herrschaftsund Ausbeutungsimplikationen hin zu studieren. Ein solcher Anspruch
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wurde von Anfang an nicht nur, aber in besonderer Weise im Umfeld der Kritischen Theorie erhoben (zsf. Geuss 1988; Kausch 1988). Kritik ist diesem Ansatz zufolge der Analyse gesellschaftlicher Phänomene nichts Hinzugefügtes, kein an die Gesellschaft herangetragenes Wunschdenken, vielmehr legt sie Widersprüche, Spannungen und uneingelöste Versprechungen politisch-moralischer und ökonomischer Art offen, die in den gesellschaftlichen Verhältnissen objektiv vorhanden sind. Zu kritisieren bedeutet deshalb nicht einfach nur, die vorliegenden gesellschaftlichen Verhältnisse abzulehnen, sondern, wie Giegel (1991) betont, zu unterscheiden zwischen den in einer konkret-historischen Situation realisierten Sinnbildungen und den gleichzeitig real vorhandenen, über das aktuelle Sinnbildungsniveau hinausweisenden, jedoch durch die bestehende Gesellschaftsformation geknebelten Sinnbildungsüberschüssen (siehe auch, Boltanski/Chiapello 2002: 68ff; Miller 1991). In dieselbe Richtung argumentiert Müller-Doohm, wenn er Kritik »im Spannungsfeld des Möglichen und Wirklichen« verortet (Müller-Doohm, 2000: 78). Kritik begründet so verstanden ihre Unzufriedenheit mit der vorhandenen Gesellschaft, indem sie diese als eine unter ihren eigenen Möglichkeiten bleibende Übergangslösung in eine bessere Zukunft beschreibt. In der Vergangenheit ist dieses Kritikverständnis konkretisiert worden durch den Nachweis gesellschaftlich tief verankerter Konflikte zwischen Interessensgruppen und durch die Benennung gegensätzlicher Funktionsprinzipien der modernen Gesellschaft. Solche Konflikte und Gegensätze, die leitformelartig in Gegenbegriffen wie Kapital und Arbeit oder System und Lebenswelt eingefangen wurden, galten als konstitutiv für die Struktur und krisenanfällige Verfassung der jeweils in Frage stehenden, noch »unfertigen« Gesellschaft und gleichzeitig als heimliche Antriebskraft für soziale Innovationen auf dem Weg in eine andere, gerechtere Gesellschaft. Man nahm also an, dass in der realen, als widerspruchsvoll erfahrenen und daher für aufklärungs- und korrekturbedürftig befundenen Gesellschaft angesichts von in derselben Gesellschaft bereits vorhandenen, jedoch unterdrückten moralischen wie ökonomischen Prinzipien und daraus ableitbaren, uneingelösten Ansprüchen eine bessere Gesellschaft bereits angelegt war. Diese in der vorhandenen Gesellschaft wirkenden Strukturprinzipien bzw. das Wissen um diese Prinzipien und die darauf aufbauenden berechtigten Erwartungen an eine andere Gesellschaft mit verbesserter Lebensqualität verliehen der Kritik ihre Legitimität und ihren normativen Richtungssinn. Ohne Zweifel lassen sich Theorieansätze, die sich von ihrem Selbstverständnis her als kritisch verstehen, danach unterscheiden, inwieweit sie sich in der Lage sehen, jene ausgeschlossenen Alternativen bzw. Reformpotentiale konkret zu benennen bzw. normativ auszuzeichnen (siehe
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dazu z.B. die Beiträge in Bonß/Honneth 1982). Vor allem in den (neo-) marxistisch orientierten Theoriesprachen ist die kapitalistisch verfasste Gesellschaft unter dem Aspekt ihrer Transformation in eine bessere Gesellschaft diskutiert worden, da man hier nicht nur um die immanenten Widersprüche des zum Untergang verurteilten Systems zu wissen glaubte, sondern auch um die Mechanismen bzw. gesellschaftlichen Akteure, die eine Aufhebung dieses wesensmäßig transitorischen Systems in eine ganz andere Gesellschaft vorantreiben würden. Diese Art der kritischen Gesellschaftsbeschreibung hat jedoch, wie einschlägige Arbeiten aus dem Umfeld der Frankfurter Schule zeigen, bereits während und nach dem zweiten Weltkrieg unter den Eindrücken des Faschismus und Stalinismus, aber auch angesichts der US-Amerikanischen Konsumkultur an Überzeugungskraft verloren. In Reaktion auf diese Erfahrungen verweigerten Vordenker der Frankfurter Schule wie Adorno jegliche Auskunft über mögliche gesellschaftliche Alternativen und Avantgarden. Im Gegenteil, Kritik sollte sich von nun an absoluter Gewissheiten und letzter Wahrheiten entsagen. Sie wurde jetzt als eine Einstellung verstanden, die sich mit den realisierten Verhältnissen nicht zufrieden geben kann und auf unrealisierte, gleichwohl in der Gesellschaft bereits angelegte alternative Gestaltungsmöglichkeiten aufmerksam machen will, die eine Korrektur der vorhandenen sozialen Ordnung und der darin eingeschriebenen Ungleichheiten im Interesse der ökonomisch und politisch unterdrückten gesellschaftlichen Gruppen möglich erscheinen lassen – ohne dabei, hier den Prognosen des Marxismus misstrauend, angeben zu wollen, ob bzw. wie dieses Konkurrenzprojekt realisiert werden kann. Spätestens angesichts der Folgen des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der erstaunlichen Reproduktionsfähigkeit des Kapitalismus haben kritische Forschungsansätze sich umorientieren müssen (vgl. die Beiträge in Auer/Bonacker/Müller-Doohm 1998, Honneth 2002 und Neumann-Braun 2002). Denn mit dem Zusammenbruch der Systemkonkurrenz kündigte sich nicht nur eine Monopolstellung westlicher Demokratien und ihrer Marktwirtschaft an, sondern auch der Verlust solcher grundlegenden Begrifflichkeiten wie Widerspruch und Krise, auf die hin ephemere Strukturveränderungen bezogen werden konnten (Dubiel 1998). Konflikte in der Gesellschaft verweisen jetzt nicht länger auf einen fundamentalen Grundwiderspruch und entsprechende Interessenslagen und Erwartungshaltungen, sondern verzweigen sich in eine Vielfalt unterschiedlicher Konfliktkonstellationen, in die der Einzelne einbezogen wird. So sind im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts neben die nach wie vor bestehenden Auseinandersetzungen in den Produktions- und Dienstleistungsbereichen neue Konfliktlinien getreten, die ihren Ursprung in religiösen, geschlechtlichen, ethnischen oder umweltpolitischen Fragen
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haben (Beck 1986). Mit den zentralen gesellschaftlichen Antagonismen verliert die kritische Theorie jedoch wichtige Bordmittel, um die Richtung auszuloten, in die eine Transformation der bestehenden Gesellschaft entweder bereits von sich aus tendiert oder aber mit Hilfe entsprechender Programme und Strategien zu navigieren wäre. Kritik wird unter diesen Bedingungen zu einem unabgeschlossenen und zukunftsoffenen Projekt (Müller-Doohm 2000). Wie Kritik an diese neuen Rahmenbedingungen anzupassen ist, ohne die Möglichkeit aufgeben zu müssen, in einer durch die Gesellschaft selbst gedeckten Weise die vorhandenen sozioökonomischen Verhältnisse als verbesserungswürdig und -fähig auszuflaggen, hat vor allem Jürgen Habermas in seiner »Theorie des Kommunikativen Handelns« darzulegen versucht (Habermas 1981). Habermas entscheidet sich, auf substanzielle Vorgaben der Kritik gänzlich zu verzichten, stattdessen verortet er die Grundlagen kritischen Räsonnements in anonymen normativen Grundlagen. Diese bevorzugen nicht länger eine besondere gesellschaftliche Gruppe, ebenso wenig versprechen sie konkreten Aussagen über gesellschaftliche Weiterentwicklungen, geschweige denn eine »bessere Zukunft«. Allerdings gewinnen sie als unumstößliche, der modernen Gesellschaft innewohnende Vernunftrichtlinien den unbezweifelbaren Status einer quasi ontologischen Verfassung des Sozialen. Diese gegen die anspruchsärmeren Kommunikationsroutinen des Alltags sich behauptenden Voraussetzungen vernünftiger Kommunikation bilden Maßstäbe der Kritik in mindest zweifacher Hinsicht: Erstens mobilisieren sie die Infragestellung und Überschreitung lebensweltlicher Denkund Handlungsvoraussetzungen und regen so die Erzeugung von Sinnüberschüssen an. Zweitens erlauben sie die Diagnose von Verletzungen dieser Rationalitätsanforderungen im Sinne einer episodischen Missachtung oder gar Überformung durch fremde, das heißt bei Habermas: systemische Standards der Handlungskoordinierung (Habermas, 1981b: 548f.). Aber auch dieser Versuch, aus den Schwierigkeiten der älteren kritischen Theorie zu lernen, ist längst nicht mehr unumstritten. Die Vorstellung einer in der Gesellschaft verankerten Vernunft als unantastbarer Grundlage kritischer Argumentation ist in den letzten Jahren vor allem im Rahmen der sog. Cultural Studies in Frage gestellt worden. Anders als bei Habermas werden hier die Grundlagen der Kritik nicht länger in einem Vorzugsverständigungsmedium und einem entsprechenden Rationalitätsgefälle der Kommunikationsformen verortet, sondern in der Idee eines nichtreduzierbaren Pluralismus soziokultureller Lebensformen (siehe
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Grossberg et al. 1992; Hörning/Winter 1999; Winter 2001).1 Vertreter dieses Ansatzes verfolgen in ihren Arbeiten deshalb das Ziel, auf Einschränkungen und Delegitimierungen der Vielfalt alltäglicher Kommunikationspraktiken und der darin sich jeweils artikulierenden Wissens- und Orientierungsformen aufmerksam zu machen. Vor allem die politischen und ökonomischen Eliten haben aus Gründen des Machterhalts ein strategisches Interesse, die vorhandene Vielfalt der kommunikativen Praxen zu vereindeutigen und ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit und Moral mitsamt den dazugehörigen sozialen Klassifizierungen anderen gesellschaftlichen Milieus aufzuzwingen. Solchen künstlichen Verknappungen möglicher Angebote gesellschaftlicher Selbstverständigung in relevanten Fragen der sozialen Ordnung und den damit verbundenen Rechtfertigungen gesellschaftlicher Privilegien der Bessergestellten gilt es entgegenzutreten, indem auf die tatsächlichen in der Gesellschaft vorhandenen Milieus und deren Deutungskapazitäten aufmerksam gemacht wird. Der Nachweis der gesellschaftlichen Benachteiligung und des Unsichtbarwerdenlassens solcher Milieus lässt gleichzeitig die Anmaßung herrschender Weltanschauungen, Normen- und Wertesysteme erkennen, partikulare Ordnungsentwürfe als deckungsgleich mit der Wirklichkeit auszugeben (Grossberg 1999; Hall 1999). In dieser Einstellung wird dem gesellschaftlichen Ist-Zustand nicht der überlegene Entwurf einer anderen, besseren Gesellschaft entgegenhalten. Vielmehr geht es darum zu zeigen, wie das offizielle Wissens- und Ideenmanagement der gesellschaftlichen Eliten eine bereits vorhandene Vielfalt heterogener Vokabulare und daraus hervorgehender Vorstellungen von sozialer Ordnung und gutem Leben überlagert und in ihrer Entfaltung behindern will. Kritik findet deshalb in dieser gemäßigten Variante einer kritischen Gesellschaftstheorie ihr Bezugsproblem auch nicht länger in der Befreiung von »falschen« Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen oder in der Freilegung unantastbarer Kommunikationsregeln, sondern in der Herstellung von Aufmerksamkeit für Prozesse der Disziplinierung und Kontrolle. Kritik will hier die Menschen aus ihrer perspektivischen und begriffli1
Entscheidend hierfür ist die u.a. von Bourdieu vertretene Annahme, dass symbolische Äußerungen immer nur in einer partikularen Alltagspraxis ihre Bedeutung entfalten können (Bourdieu 1990). Davon ausgehend müssen universalsprachliche Geltungsansprüche, wie sie mit dem Habermaschen Modell der argumentationsorientierten Verständigung verbunden sind, als hoffnungslos akademisch erscheinen, nämlich als unzulässige Generalisierung systemrelativer, das heißt in ihrer Geltung auf die Praxis des Philosophierens beschränkter kommunikativer Konventionen (Bourdieu 1990: 18f.). Konsequenterweise sieht Bourdieu in der Argumentationsfigur der (systemischen) Herausforderungen kommunikativer Verständigung den Versuch, sämtliche, nicht an die postulierten Vernunftrichtlinien heranreichenden alltäglichen Kommunikationsformen einer hochvoraussetzungsvollen, weil an das wissenschaftliche Feld gebundenen kommunikativen Praxis unterzuordnen.
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chen Befangenheit herausführen und ihnen dabei helfen, ihre kulturelle Identität gegen feindliche Übernahmen zu behaupten. Auch sie fordert dazu auf, noch unrealisierte, gleichwohl in der Gesellschaft vorhandene Sinnbildungsreserven zu erkennen und zu nutzen, hier allerdings verstanden im Sinne der Rehabilitierung der vielen bereits vorhandenen, von dominanter Seite für illegitim erklärten oder anderweitig geknebelten Deutungsperspektiven und Orientierungsformen. Die Stimmen der Unterdrückten und Marginalisierten sollen schließlich auch außerhalb ihres jeweils engen lebensweltlichen Geltungsradius Anerkennung erfahren und an den relevanten gesellschaftlichen Diskursen beteiligt werden. Eine solche Beteiligung würde nicht nur das bestehende Normen- und Wertesystem, sondern auch das soziale Positionengefüge und die darin eingeschriebenen Unter- und Überordnungen unter Veränderungsdruck setzen. Auch wenn zwischen den hier vorgestellten Ansätzen die Erwartungen an die Leistungsfähigkeit einer kritischen (Gesellschafts-)Theorie stark variieren, so gibt es doch eine geteilte Denktradition. Diese betrifft vor allem die Frage nach den gesellschaftlich verfügbaren Möglichkeiten der Selbstbeobachtung und Selbstkorrektur. Die Gesellschaft ist nicht so, wie sie sein könnte, weil vor allem ihre dominanten Selbstbeschreibungsdiskurse den Blick für diese Differenz in systematischer Weise eintrüben. Deshalb wird in den hier vorgestellten Ansätzen den gängigen Bildern und Texten misstraut, die die Gesellschaft von sich selbst anfertigt und die ihre Selbstverständigung orientieren, ebenso den entsprechenden Verfahren ihrer Erzeugung und Verbreitung. Diese stehen im Verdacht, nicht nur über die wahre Verfassung der Gesellschaft hinwegzutäuschen, sondern auch davon abzuhalten, Veränderungspotentiale der Gesellschaft zu identifizieren und zu realisieren. Der Kritiker hat die etablierten Selbstbeschreibungen, die in der Gesellschaft zirkulieren, als (Selbst-)Täuschungen über die faktischen gesellschaftlichen Missstände zu entlarven und mit eigenen Gegen-Beschreibungen zu konfrontieren, oder aber alternativ dazu all den untergründigen Beschreibungen, die in den offiziellen gesellschaftlichen Selbstthematisierungsdiskursen marginalisiert oder verschwiegen werden, öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen, um so ebenfalls auf die Selektivität und Kontingenz dominanter Normen- und Wertesysteme sowie auf bislang ungenutzte Sinnbildungsreserven hinzuweisen.
2 . K r i ti k d e r M e d i e n Medienkritik gibt es nicht erst, seitdem sich der globale Siegeszug amerikanischer Film- und Fernsehindustrie beobachten lässt; ebenso wenig
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verbindet sich mit ihr eine spezielle Forschungsmethode oder Theorierichtung (vgl. Göttlich 2005; Stanitzek 2001). Dennoch darf behauptet werden, dass dieser Begriff für unser heutiges Verständnis ganz wesentlich mit dem Aufkommen der modernen Massenmedien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbunden ist und seine wohl berühmtesten und nachhaltigsten Formulierungen in den Arbeiten einiger prominenter Vertreter der sog. Frankfurter Schule gefunden hat. Denn obwohl mit der Verbreitung der modernen Massenmedien die Zahl derjenigen immer größer wurde, die den verheerenden Einfluss betonten, den die modernen Medien auf Bildungs- und Informationsgewohnheiten ausüben, kamen die ambitioniertesten und für die Sozialwissenschaften wohl einflussreichsten medienkritischen Deutungsangebote aus dem Theorielager der Frankfurter Schule. Mit den Namen Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse verbinden sich nicht nur wegweisende gesellschafts- und kulturtheoretische Arbeiten der Frankfurter Schule, sondern gleichzeitig auch mit beispielsloser Wortgewalt geführte Beweisführungen für die These, dass sich die Stabilität der Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse im Spätkapitalismus nicht begreifen lässt, ohne die Rolle der Massenmedien als einem oder gar dem wichtigstem Verteidiger dieses Systems zu berücksichtigen (vgl. Kellner 1982; Müller-Doohm 2000a; Thompson 1995). Zugleich wird vor allem in diesem Umfeld der Anspruch erhoben, zu unterscheiden zwischen dem bereits realisierten Niveau politischer Emanzipation und ökonomischen Wohlstands und den zugleich noch möglichen, über die gegenwärtigen Verhältnisse hinausweisenden qualitativen Verbesserungen (Giegel 1991). Konsequenterweise wurde den Massenmedien vorgehalten, eben diesem Unterscheidungsvermögen und der darin eingeschlossenen Vorstellung einer über sich selbst aufklärbaren und zum Besseren hin dirigierbaren Gesellschaft entgegenzuwirken. Wegweisend für dieses Medienverständnis ist das berühmte Kapitel über die »Kulturindustrie« in der »Dialektik der Aufklärung«, das Horkheimer und Adorno bereits 1944 geschrieben und 1947 publiziert haben (Horkheiner/Adorno 1982). Mit dem Begriff der »Kulturindustrie« verbinden die beiden Autoren die These, dass in einer Gesellschaft, in der das ökonomische Kalkül zur universellen, alles beherrschenden Orientierungsgröße heranwächst, Kultur auf den Status einer standardisierten, massenhaft gefertigten Ware reduziert wird. Kultur wird deshalb – zumal in den Vereinigten Staaten, in denen in den 40er Jahren Presse, Rundfunk und Film ungleich weiterentwickelt waren als im Europa jener Zeit – den Produktionsbedingungen der Massenmedien unterworfen. Sie wird dadurch zu etwas fabrikförmig Hergestelltem, das nicht mehr den Wünschen des Einzelnen entspricht und seiner Emanzipation dient, sondern
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der anonymen Funktionslogik kapitalistischer Ökonomie entspringt und für den schnellen Konsum bestimmt ist. War Kultur einst etwas, was der Idee des Kommerzes opponierte und die Erwartung von Aufklärung und Individualisierung in sich trug, so wird sie nun, indem sie durch die Hände der Medienindustrie geht, zur Komplizin des Kapitals und der staatlichen Bürokratien. Der Sinn dieser kommerziellen Zurichtung von Medien und Kultur ist ein ideologischer: Die Medien, allen voran das Fernsehen, übernehmen die Aufgabe, den Staus Quo der gesellschaftlichen Verhältnisse zu sichern. Indem die Medien das Gesetz der Warenförmigkeit zu ihrem eigenen machen, das heißt ihre Angebote kommerzialisieren und das Publikum auf die Rolle des Konsumenten reduzieren und damit nach denselben Funktionsprinzipien arbeiten wie alle anderen gesellschaftlichen Bereiche auch, gewöhnen sie die Menschen daran, in einer Gesellschaft zu leben, die nur Produzenten und Konsumenten kennt. Durch die Aufspreizung in Medienproduzenten und -konsumenten reproduzieren und verstärken sie das kapitalistische Prinzip der Trennung in diejenigen, die produzieren und entscheiden dürfen, und all jene, die nur verbrauchen und Befehle entgegenzunehmen haben.2 Die Verwandlung der Kultur in Konsumgüter setzt voraus, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit in den Medien lediglich gespiegelt und nicht auf Möglichkeiten der Veränderbarkeit beobachtet wird. Als systemloyale Institutionen, deren ideologische Qualität darin liegt, dass sie die gesellschaftlichen (Macht-)Verhältnisse symbolisch verdoppeln, lenken die (Massen-)Medien von der aktuell bestehenden »schlechten«, weil widerspruchsvollen und krisenhaften Gesellschaft ab und blockieren so jeglichen Reformversuch. Sowohl die Reduzierung auf ein passives Konsumieren als auch die durch sämtliche Angebote der Medien sich durchhaltende Bestätigung des vorherrschenden Werte- und Normensystems tragen dazu bei, dass sich zu der bestehenden Gesellschaft in ihrer Ausrichtung auf das Gesetz der Warenförmigkeit kein Bewusstsein für 2
Eine Wiederauffrischung dieses Arguments ist dort zu finden, wo den Medien nachgesagt wird, sie konditionierten nicht länger ein passives Konsumsubjekt, sondern ein für die Aktivitäts- und Selbstzuständigkeitszumutungen der globalen Weltgesellschaft ansprechbares Subjekt. So beschreibt beispielsweise Holert (2002), wie ein intermediales Konzert aus Fernsehmagazinen, Internetangeboten und Computerspielen den Wandel eines konsumfixierten, passiven Subjekts zu einem aktiven, mitunter gewaltbereiten Individuums fördert. Holert will zeigen, wie unterschiedlichen Medien sich wechselseitig darin unterstützen, Individuen mit bestimmten Wahrnehmungsweisen, Handlungsfähigkeiten und Selbstdeutungen auszubilden und so eine wichtige vergesellschaftende Funktion übernehmen. Möglichkeiten der Kritik gibt es, aber sie sind in diesem Szenario angewiesen auf Risse, Schlupflöcher und alternative, den Medieneinflüssen entzogene Praktiken im ansonsten mit beängstigender Perfektion arbeitenden System der medial unterstützen Einübung in neoliberale Denk- und Verhaltensmuster.
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grundlegende Alternativen mehr bilden kann. Die Menschen werden an die Denk- und Verhaltenserfordernisse des Kapitalismus angepasst mit der Folge einer Verkümmerung ihrer Vorstellungskraft und Spontaneität. Aus ursprünglich autonomiefähigen Subjekten werden willfährige, anpassungsbereite, eben kritikunfähige Konsumenten.3 An Kritik im Sinne der Möglichkeit eines Durchschauens dieser Unterwerfung unter die Prinzipien der Warenförmigkeit ist innerhalb einer Gesellschaft, in der auf jeden Einzelnen der Anpassungsdruck einer gewaltigen Kulturtrivialisierungsmaschine lastet, nicht mehr zu denken: »In der Kulturindustrie verschwindet wie die Kritik so der Respekt: jene wird von den der mechanischen Expertise, dieser vom vergesslichen Kultus der Prominenz beerbt« (Horkheimer/Adorno 1981: 144). Nur allzu verständlich investieren Medienkritiker wie Adorno und Horkheimer kein Vertrauen in die Widerstandskräfte des Publikums und die daran ansetzenden rezeptionsorientierten Forschungsmethoden. Ebenso wenig können medientechnologische Neuerungen sie in ihren Überzeugungen irritieren. Denn trotz aller Unterschiede in den medialen Darstellungs- und Ausdrucksmöglichkeiten ist es die Zugehörigkeit zur Gattung der Massenmedien, die darüber entscheidet, wie die wachsende Vielfalt der Printund Funkmedien zu verstehen und zu bewerten war: »Sonst aber sollte man das Sonderwesen der Fernsehproduktion nicht übertreiben, wenn man nicht selber zur Ideologie beitragen will. Die Ähnlichkeit mit den Filmen bezeugt die Einheit der Kulturindustrie; wo man sie anpackt, ist fast gleichgültig« (Adorno, 1971: 82). Indem sie ihre Vorstellungen vom »unbeschädigten Leben« und einer ungehinderten Entfaltung des Individuums aus der rückwärtsgewandten Projektion eines vorgesellschaftlichen, das heißt von den schädlichen Einflüssen gesellschaftlicher Institutionen noch unbeeinträchtigten Individuums beziehen (vgl. Hertel 1992; Schroer 2000: 18), hätte selbst ein »ganz anderes Kommunikationsmedium« wie das Internet sie zu keiner Relativierung oder gar Revision ihrer Annahmen umstimmen können. Im Gegenteil, jede medientechnologische Innovation musste ihnen als weitere Perfektionierung einer re3
Diese Denkfigur des medial konditionierten Subjekts findet sich freilich nicht nur im Kontext der Frankfurter Schule. So unterschiedliche Theoretiker wie Baudrillard (1978), Bourdieu (1998) und Sennett (1983: 354f.) stimmen darin überein, dass die Medien entweder aus eigener Kraft oder aber im Auftrag übergeordneter Prinzipien bzw. Eliten ein Subjekt so programmieren, dass es sich mehr oder weniger perfekt in die Konsumkultur des globalen Kapitalismus integriert. Vor allem Baudrillard und Bourdieu werfen den Massenmedien vor, dass ihre Rezeption sich im Konsum erschöpfe. Und wer konsumiere, mache sich schuldig – nicht nur, weil er zur Stabilisierung eines Systems beitrage, das strukturell bedingt ungerecht sei, sondern auch deshalb, weil Konsum im Vergleich zur (geistigen) Produktion eine weniger wertvolle Tätigkeit darstellt. Medienkritik ist deshalb i.d.R. immer auch Konsumkritik (vgl. Bolz 2002: 12f.).
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pressiven und uniformierenden Kultur in einer Gesellschaft erscheinen, die in Bezug auf echte alternative Strukturoptionen nur noch Stillstand kennt.4 Ein solcher Kritiker will deshalb nicht nur eine andere Gesellschaft, sondern auch andere Medien bzw. gar keine Medien. Das heißt, Gesellschaftskritik aus Sicht kritischer Theorien schließt immer auch Kritik der (Massen-)Medien mit ein, so wie Medienkritik die Gesellschaft insgesamt nicht verschonen darf (Gebur 2002; Müller-Doohm 2000). Dieses Verständnis der Massenmedien hat sich trotz der bereits angesprochenen zwischenzeitlichen Reformen der kritischen Theorie in den wichtigen Grundannahmen bis heute kaum verändert (siehe Kausch 1988: 92ff.; Kellner 1999). Indem Habermas sich nicht nur vom Marxschen Erbe lossagt, sondern auch von seinem Lehrer Adorno distanziert, verliert das Theorieprogramm der Frankfurter Schule seine kulturpessimistische Grundierung und gewinnt neue wegweisende Impulse, ohne dabei jedoch die ablehnende Haltung gegenüber den Massenmedien abzulegen. Unverändert bleibt die Überzeugung, dass den elektronischen Massenmedien nach wie vor die Rolle des ideologischen Stützkorsetts in einem krisengeschüttelten Gesamtsystem zukommt. Demnach haben sich die Massenmedien als intermediäres System längst von den Interessen der Bürger entkoppelt und unterstützen organisierte Akteure (z.B. die Parteien, Verbände etc.) darin, die Agenda gesellschaftlich relevanter Themen zu beeinflussen, während die »einfachen« nichtorganisierten Bürger als Publikum der Medien von den Möglichkeiten der Mobilisierung und Steuerung gesellschaftlicher Aufmerksamkeit ausgeschlossen bleiben (Habermas 1992: 399-467). Indem die Massenmedien von den Partei- und Verbandsfunktionäre dazu benutzt werden, Zustimmung für die von ihnen vertretenen Mandanten und deren Interessen zu akquirieren, machen sie sich zu Sprachrohren des Elitespektrums einer Gesellschaft und verletzten damit in massiver Weise die Teilnahmebedingungen einer kritischen, an Verständigung und Aufklärung orientierten Kommunikation. Massenmedien bleiben so gesehen auch in den von Habermas grundlegend modifizierten Basisannahmen der Kritischen Theo4
Adorno wusste eine verführerische Argumentation zu entwickeln, die Zweifel an diesem Gedanken lange Zeit erst gar nicht aufkommen ließ. Für ihn stand fest, dass die unbestreitbaren technischen und institutionellen Weiterentwicklungen des Mediensystems nur oberflächlich betrachtet dem Publikum mehr Freiheiten einräumen, tatsächlich jedoch die unheilvolle Beeinflussung des Publikums nur weiter perfektionieren. Dies zeigte sich für Adorno letztlich darin, dass bereits zu seiner Zeit nur noch wenige überhaupt in der Lage seien, die Medien in ihrer Ideologenrolle zu erkennen. Dies konnte zu dem Schluss verleiten, in der Zurückweisung bzw. Nichtbeachtung der eigenen Suche nach verborgenen Wahrheiten hinter den medialen Realitäten keine bedenkenswerte Kritik, sondern eine Bestätigung der Richtigkeit der entsprechenden Thesen und Beweisführungen zu sehen (siehe Adorno 1984: 32f.).
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rie Apologeten des Bestehenden. Ihre Aufgabe liegt nach wie vor in der Beschaffung von Akzeptanz für ein von Herrschaft und sozialer Ungerechtigkeit gekennzeichnetes Gesamtsystem. Überraschen darf dies nicht. Durch die theoretisch bedingte Voreingenommenheit für das Vorzugsmedium der mündlichen Rede, die letztlich zurückgeht auf die Annahme einer kategorialen Verschiedenheit von Mensch und Technik, können Massenmedien mit ihren unbestreitbaren hohen Organisiertheits- und Technisierungsgraden im Vergleich zu älteren Medien nur schlecht abschneiden. Ihnen bleibt – im Gegensatz zu den ersten Printmedien, denen Habermas eine aufklärende Wirkung zutraute, solange sie noch ganz im Rahmen eines Interaktionsmodells interpretiert werden konnten – nur eine Aufmerksamkeitsmobilisierungsfunktion für vorgängig diskutierte und anschließend formulierte Ansprüche und Problemlagen (vgl. Habermas 1992: 381ff.). Die Möglichkeit der Kritik wird zwar nicht mehr, wie noch bei Adorno und Horkheimer, im Subjekt und dessen Fähigkeit zu Kreativität und Reflexivität verankert (vgl. Kögler 1999), sondern im Modell der verständigungsorientierten Kommunikation. Alle vom »Grundmedium« der Sprache abgeleiteten Informations- und Kommunikationsformen können jedoch letztlich nur als Verzicht oder Verlust der für ein kritisches Beobachten erforderlichen kommunikativen Voraussetzungen interpretiert werden (siehe dazu auch Oevermann 1983). Nur in der zwischenmenschlichen Rede, diesem die Anwesenheit der Teilnehmer voraussetzenden, durch keinerlei kommunikationstechnische Abstraktionen reduzierten und durch keine partikularen Systemrationalitäten (Wirtschaft, Politik) beeinträchtigten Medium kann sich eine Vielfalt von Standpunkten zu einem Thema entwickeln. Nur hier lassen sich die vorgetragenen Standpunkte zu einem Thema auf ihre Trag- und Strapazierfähigkeit in der ganzen Breite intersubjektiver Geltungsansprüche testen und Sinnbildungsreserven erschließen (siehe dazu auch Schneider 1995). Selbst dort, wo neue Wege einer (medien-)kritischen Auseinandersetzung beschritten werden sollen, wie vor allem im Kontext des »Cultural Studies Approach« (siehe die Beiträge in Bromley et al. 1999 und in Hörning/Winter 1999 sowie Winter 2001), bleiben vertraute medienkritischen Kernüberzeugungen unangetastet. Hier gelten die Massenmedien als Erzeuger und Anbieter von symbolischen Erfahrungswelten, Ausdrucks- und Selbstdarstellungsformen, die wie vorgegebene Schnittmuster die Bildung und Behauptung personaler und kollektiver Identitäten beeinflussen und so auf die ideologischen Auseinandersetzungen in der Gesellschaft einwirken können. Film, Funk und Fernsehen bestätigen in ihren Darstellungen die dem herrschenden Normen- und Wertekanon eingeschriebene Partikularität und Interessensgebundenheit und tragen so zur Rechtfertigung bestehender Privilegierungen und Benachteiligungen
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bei. Das Vertrackte daran ist, dass dieser Zusammenhang von den Betroffenen selbst, insbesondere jenen, die am meisten unter den Ungleichheiten zu leiden haben, offenbar unbemerkt bleibt. Massenmedien suggerieren, es gebe nur diesen einen normativ-moralischen Kontext, in dem sich alle aktuell bewegen, und hindern die meisten daran zu erkennen, dass es durchaus alternative Entwürfe dazu und damit auch Vergleichsmöglichkeiten gibt (Grossberg 1994; Hall 1999). Das heißt, sie können die Interessen spezieller Gruppen in ihren symbolischen Erzeugnissen unterbringen und damit rückwirkend die Stabilisierung des bestehenden gesellschaftlichen Gefüges von sozialen Unter- und Überordnungsbeziehungen unterstützen, ohne in dieser Rolle eines Wirklichkeitsverstärkers sichtbar zu werden. Dies verschafft solchen gesellschaftlichen Gruppen einen Wettbewerbsvorteil im Kampf um politische und ökonomische Vorteile, denen es gelingt, sich der Medien zu bedienen, um eine ihren Interessen dienliche Weltsicht zu verbreiten, da sie hierbei als Akteure mit besonderen, nichtverallgemeinerungsfähigen Interessen unerkannt bleiben. All dies macht Massenmedien zu Gegnern der Idee, das vorfindbare soziokulturelle Positionengefüge und die darin eingeschriebenen Ungleichheiten als solches zu benennen und damit als eine Übergangslösung erkennbar zu machen. Bekanntermaßen gelingt die medial unterstützte kognitive Programmierung aus Sicht der Cultural Studies nie vollständig. So lassen sich selbst unter Bedingungen einer immer feiner verästelten Vermachtung des öffentlichen Raumes Freiräume und Gegenwelten feststellen, die der Geltung legitimer Ausdrucks- und (Selbst-)Darstellungsformen entzogen bleiben (vgl. Fiske 2000a, 2001). Erklärt wird dies damit, dass Medieninhalte erst dann gesellschaftliche Relevanz gewinnen, wenn sie von den Rezipienten decodiert, das heißt aktiv angeeignet werden. Soweit den Medien ein Eigensinn unterstellt wird, betrifft dieser im wesentlichen die durch herrschende kulturelle Werte und Normen vermittelten, in die verbreiteten symbolischen Erzeugnisse eingeschriebenen »Vorzugslesarten«, die für das Publikum Rahmen vorgeben, in denen sich ein konformer Medienkonsum bewegen soll (Hall 1999). Ob sich diese Lesarten tatsächlich durchsetzen können oder ob nicht doch auch alternative, gegen die Absichten der Medienproduzenten gerichtete Lesarten zustande kommen, hängt immer auch von den jeweiligen soziokulturellen Dispositionen und Aneignungsleistungen der Rezipienten ab. Deren Bereitschaft, sich in die Sichtweisen der Medien einzufinden und die darin enthaltenen Normalitätsunterstellungen zu akzeptieren, ist jedoch begrenzt. Gerade gesellschaftlich benachteiligte Gruppen scheinen immer wieder Gelegenheiten zu finden, sich der herrschenden kulturellen Grammatik zu widersetzen und Gesendetes und Pub-
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liziertes abweichend von den Intentionen der Produzentenseite zu interpretieren. Kritische (Medien-)Theorie und Cultural Studies werden deshalb gern als Antipoden im soziologischen Mediendiskurs aufgefasst. Während die eine Seite beschreibt, wie der Einzelne zum Objekt der Produzenten massenmedial aufbereiteter Populärkultur wird und in den Sog einer inzwischen weltweit voranschreitenden Angleichung kultureller Lebensformen gerät, beobachtet die andere Seite eine unbezähmbare Lust, diesem Anpassungsdruck sich zu widersetzen und aus den Medienangeboten etwas Eigenes zu machen, was sich in der Summe als Trend einer Heterogenisierung von Medienaneignung und kultureller Lebensformen zu erkennen gibt. Und während einmal die Massenmedien sich den soziokulturellen Verhältnissen einschreiben und die Denkweisen und Verhaltensgewohnheiten uniformieren, sind es im anderen Fall umgekehrt die Konkurrenzbeziehungen zwischen verschiedenen sozialen Lagern, die sich den Medien, angefangen von der Sprache bis hin zu den elektronischen Massenmedien, einprägen. Diese Unterschiede sollten jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass beide Ansätze in wichtigen Annahmen zur Medienthematik übereinstimmen. Vertreter beider Positionen verdächtigen die Massenmedien, die Vielfalt möglicher Beschreibungen der Gesellschaft im Interesse weniger starker gesellschaftlicher Interessensgruppen systematisch einzuschränken und eher die Funktion einer Selbstdarstellungsbühne für wenige organisierte Interessensvertreter zu übernehmen als die einer partizipativen Plattform für eine offene Auseinandersetzung mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Beide Seiten sind sich auch darin einig, dass die in den Medien gezeigten Wirklichkeiten nicht identisch sein können mit der Wirklichkeit, so wie sie sich einem Beobachter zu erkennen gibt, der nicht wie die herrschenden Eliten das Interesse an einer Stabilisierung des bestehenden Werte- und Normensystem teilt, sondern ein unparteiisches Erkenntnisinteresse verfolgt. Vertreter beider Ansätze stimmen schließlich darüber ein, dass es sich bei den Medien um eine wie von außen auf das Subjekt einwirkende Kraft handelt, die entweder wie ein Fremdkörper in die Bewusstseine der Rezipienten einzudringen und dort den Sinn für unausgeschöpfte Gestaltungspotentiale auszulöschen vermag – oder aber in etwas Eigenes transformiert wird, nach Vorgaben, die nicht den Medien entstammen, sondern auf die jeweiligen soziokulturellen Bedingungen der Rezipienten referieren. Diese Vorstellung einer Kulturferne der Medien zeigt sich sicherlich stärker in der Kritischen (Medien)Theorie, insofern als hier zunächst eine vormediale Konstitutionslogik des Subjekts angenommen wurde, in einer späteren Phase dann die Sprache als Vorzugsmedium für die Bildung des Subjekts und als Maßstab für die Beschreibung sämtli-
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cher von einem solchen Vorzugsmedium abweichender Medien bzw. Kommunikationsformen behandelt wird. Aber auch die in den Cultural Studies betonte medienrezeptionelle Eigensinnigkeit lässt an ein genuin humanes Vermögen denken, das sich gegen medientechnologische Vereinnahmungen zu behaupten vermag. Es manifestiert sich u.a. darin, gegen die Intentionen der Medienproduzenten gerichtete Lesarten der Medienangebote zu entwickeln. Der einzig angemessene Umgang mit den Medien ist offenbar ein oppositioneller und die dafür verantwortlichen Anstöße und Orientierungen verweisen auf die soziokulturellen Hintergründe der Rezipienten. Das heißt, in beiden Ansätzen wird den Medien eine kulturrelevante, aber keine kulturkonstitutive, die Subjektwerdung und Logik sozialer Bindungen in ihrer Genese betreffende Bedeutsamkeit zugestanden. Der Deutung der Massenmedien als Herausforderung des kulturellen Eigensinns entspricht die Annahme einer extramedialen kritischen Beobachterposition. Die medienideologische Inbesitznahme des Publikums ist nur zu erkennen und abzuwehren, wie sich die Medien distanzierende Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten behaupten lassen. Diese Überzeugung findet sich nicht nur in der Figur des geschulten Kritikers, der im Wissen um die Bedingungen gelungener Identitätsbildung und Kollektivierung das Zerstörungswerk der Medien an der Kultur erkennen und die symbolischen Angebote der Medien als unwahr oder trivial beschreiben kann. Sie zeigt sich auch dort, wo beobachtet wird, wie der Einzelne die ihm zugedachte Rolle als Medienkonsument aufgibt und die Medienangebote eigensinnigen Aneignungsstilen unterwirft. Sowohl in den Beschreibungen des Medienkritikers als auch in den oppositionellen Lesarten des widerständigen Medienrezipienten kommt eine (Vorzugs)Wirklichkeit zum Ausdruck, die sich von den Scheinrealitäten bzw. Vorzugslesarten der Medien abhebt und gleichzeitig die Kontingenz und Veränderbarkeit vorgegebener gesellschaftlicher Verhältnisse und deren impliziten Sinnüberschuss zu erkennen gibt.
3 . M e d i e n d e r K o m m u n i k a ti o n Die Arbeiten von Fiske und anderen wichtigen Vertretern der Cultural Studies gelten als eine vielversprechende Weiterentwicklung medienkritischer Analysen, weil sie die Mediennutzer nicht länger wie Exekutoren einer überindividuellen Logik (etwa der kapitalistischen Warenwirtschaft) behandeln. Ihre Eigensinnigkeit zeigt sich darin, dass die politisch und ökonomisch begünstigten Eliten mit Hilfe der Medien versuchen, das existierende, Ungleichheiten rechtfertigende Normen- und Werte-
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system zu stabilisieren. Dieselben Inhalte können jedoch auch Medienrezipienten dienen, um sich eben diesen Verfügungs- und Kontrollabsichten mehr oder weniger erfolgreich zu widersetzen. In beiden Fällen geht es um Prozesse des strategisch geführten Mediengebrauchs. Massenmedien wie das Fernsehen oder das Radio wirken deshalb wie Werkzeuge in den Händen derer, die mit ihrer Hilfe ihre Selbstbehauptungskräfte und ihr Leistungsvermögen (symbolische Kontrolle über konkurrierende gesellschaftliche Gruppen vs. Widerstandsfähigkeit gegen symbolische Vereinnahmungsversuche) zu steigern versuchen. Geht Fiske also wirklich über das in der kritischen Theorie entwickelte Interpretationsschema einer durch die Medien hindurch wirkenden instrumentellen Rationalität hinaus? M.E. kehrt es nur um, insofern als nun nicht länger die Medien den Menschen benutzen, sondern jetzt umgekehrt die Rezipienten die Medien für ihre Zwecke einsetzen, indem sie sich aus den Umklammerungsversuchen der Medien immer wieder erfolgreich befreien und aus deren Inhalten etwas Eigenes machen. In beiden Ansätzen erzeugt das Schema eine gewisse begriffliche Voreingenommenheit, der geradezu zwangsläufig vor allem die modernen Kommunikationsmedien als ein die Menschen beherrschendes oder von den Menschen (mehr oder weniger) beherrschbares Gegenüber erscheinen müssen. Zugleich wird mit diesem Schema der Eindruck erweckt, dass vor allem die modernen Kommunikationsmedien immer nur als Phänomene zu betrachten sind, die sich der Kommunikation bzw. Gesellschaft hinzuaddieren, nicht jedoch zu deren konstitutiven Voraussetzungen zählen.5
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Fragwürdig wird damit aber auch jener in der Tradition Benjamins und Enzensbergers stehende tendenziell medienutopische Diskurs, in dem die elektronischen Vernetzungstechnologien als Chance einer ungehinderten Entfaltung kommunikativer Bedürfnisse gefeiert werden (z.B. Geser 1996). Hier wird das Verschwinden der »alten Medien« und die mit ihnen verbundenen Formen der Wahrnehmung, des Wissens und der Kommunikation geradezu herbeigesehnt – darin eingeschlossen all jene komplementären Merkmale industriekapitalistisch geprägter Existenzführung. Sowohl in den medienkritischen wie -utopischen Diskursen wird »[...] das Wir, in dessen Namen wir über Kommunikation und ihre Medien sprechen« (Tholen 1999: 23), ob nun in kritischer oder affirmativer Hinsicht unbefragt, als konstante Größe vorausgesetzt, um daran anschließend zu fragen, wie »wir« unter den Medien zu leiden haben oder mit den Medien selbstgesetzte Ziele erreichen können. Die Rede vom »Wir« lässt medientechnologische Entwicklungen entweder als Bedrohung eines vormedial sich konstituierenden Kollektivs erscheinen oder alternativ als technische Voraussetzung erstrebenswerter gesellschaftlicher Veränderungen, über deren Akzeptabilität jedoch vorgängig in einem medienfreien Raum debattiert und entschieden werden kann, um erwartbare positive Folgen zu fördern und mögliche negative Entwicklungen rechtzeitig zu verhindern. Dieses imaginierte »Wir« steht im letzteren Fall für die Idee der Gemeinschaft eines politisch verfassten Gemeinwesens, deren Subjekte sich einen von Einflüssen der Medien unabhängigen Willen bilden und über technologische Entwicklungen souverän befinden können, während es in den
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Dieses Medienverständnis ist in den letzten Jahren vor allem dort in Frage gestellt worden, wo die Wahrnehmungs- und Kommunikationsmedien in einem rekursiven bzw. konstitutionslogischen Interpretationsschema rekonstruiert werden (z.B. Gamm 2002: 275-288; Tholen 2002: 169-203; Ziegler 2005). Medien, die frühen wie die neuen, so erfahren wir von sehr unterschiedlichen Theoretikern, sind keine zusätzlichen Wahrnehmungs- und Kommunikationsprothesen, geschweige ausschließliche Gefährdungen unserer Kultur, sondern Voraussetzungen dafür, dass sich Wertvorstellungen und Normen überhaupt entwickeln, artikulieren und auch wieder ändern können. In dieser Betrachtungsweise werden Medien nicht länger auf ihre instrumentelle Funktion hin thematisiert, stattdessen als Vermittelndes begriffen, durch das spezifische Möglichkeiten und damit immer auch Beschränkungen der Wahrnehmung und Kommunikation geschaffen werden.6 An die Stelle der Veränderung der Wirklichkeit tritt hier die von Medium zu Medium sich jeweils ändernde Konstituierung und Erfahrung der Wirklichkeit (Krämer 1998: 85). Deshalb wird hier zwar unterscheiden zwischen Medien der Wahrnehmung und der Kommunikation, ebenso zwischen verschiedenen Kommunikationsmedien, nicht jedoch zwischen einer vormedialen Premiumkommunikation und anderen, durch die Integration technischer Medien »verschnittenen« Kommunikationsformen. Erste Versuche einer Präzisierung dieser Überlegungen für die Soziologie sind im Umfeld der soziologischen Systemtheorie unternommen
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medienkritischen Perspektiven als bedrohte Instanz behandelt wird, die vor den Negativeinflüssen der Medienwelt zu schützen ist. Selbstverständlich gibt es noch andere, theoretisch noch weitgehend unverarbeitete Beobachtungen, die eine am Nutzer ansetzende Medienperspektive in Frage stellen: So scheinen immer mehr Medien ausschließlich dafür da zu sein, Medienverhalten – das können beispielsweise online getätigte Konsumentscheidungen sein, aber auch Eintragungen in Weblogs oder Beiträge in Onlineforen – zu beobachten, zu vergleichen und auszuwerten (vgl. Butscher 2005). Das heißt, durch Medienkommunikation werden gleichzeitig unbemerkt andere »Hintergrundmedien« (etwa Such- und Analyseprogramme) aktiviert, die unverbundene Ereignisse zu Profilen, Rankings oder anderen Statistiken verrechnen, die wiederum für weitere Kommunikation Orientierungswerte erzeugen und Normalisierungsfunktionen übernehmen können. Zweitens sprengen immer mehr Medien das traditionelle Medienverständnis, weil sie offenbar nun selbst »Nutzerqualitäten« gewinnen, indem sie mit anderen Medien oder mit dem Menschen zu interagieren beginnen. Ein prominentes Beispiel sind die sog. Softwareagenten, die das Internet bevölkern und dabei sind, dort ganze Parallelgesellschaften zu gründen (siehe Malsch 2005). Drittens sind Medientechnologien bereits so tief in viele Bezüge der beruflichen, öffentlichen wie privaten Bezügen integriert, dass selbst einfache Handlungen nur noch mit ihrer Hilfe möglich werden. Eine für das vertraute Nutzer-Medien-Verhältnis klare Grenzziehung ist hier kaum mehr möglich, stattdessen wird in Anlehnung an Latour von hybriden Systemen gesprochen (Christaller/Wehner 2003). Möglichweise tragen Beobachtungen bzw. Verunsicherungen solcherart mit dazu bei, dass heute auf medientheoretische wie -kritische Großaufnahmen weitgehend verzichtet wird.
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worden (vgl. Esposito 1995; Fuchs 1992, 1993; Luhmann 1997: 190-412; Sutter 2005). Hier wird vor allem die für den vorliegenden Zusammenhang relevante These vertreten, dass Kommunikation sich nicht außerhalb, sondern immer nur in entsprechenden Medien der Kommunikation fortsetzen kann. Kommunikation und Kommunikationsmedien bilden demnach keine Gegensätze, sondern gehen komplementäre Beziehungen ein. In mehr als nur einer Arbeit hat Luhmann zu zeigen versucht, wie man sich diese Beziehungen vorzustellen hat. Wie er in seinem vielleicht wichtigsten Buch Soziale Systeme grundlegend ausführt, kann Kommunikation als eine selektive Verknüpfung verschiedener kommunikationsrelevanter Auswahlentscheidungen verstanden werden, die den Inhalt, die Form der Mitteilung und das Verstehen einer Äußerung betreffen (Luhmann 1984: 191-241). Dieses für jede Kommunikation konstitutive Problem der Relationierung bzw. Synthetisierung verschiedener Kommunikationskomponenten ist nun, so Luhmann, nur in und nicht etwa außerhalb der Kommunikationsmedien zu lösen – wobei er hierbei nicht nur an die Sprache oder vielleicht noch an die Schrift denkt, sondern ebenso an die frühen wie auch an die modernen elektronischen Massenmedien. Kommunikation muss sich in einem dieser Kommunikationsmedien vollziehen – in welchem, ist eine nachgeordnete Frage. Ob nun Steintafeln, Pergamentrollen, Bücher oder die modernen audiovisuellen Medien – jedes dieser Kommunikationsmedien stellt bezogen auf das Kernproblem der Komponentensynthese eine autonome Lösung dar. Die Sprache ist deshalb auf dieser sehr elementaren Theorieebene nicht weniger, aber auch nicht mehr Kommunikationsmedium als etwa die Frühformen der Massenmedien. Das bedeutet aber, dass das Zustandekommen und die Kontinuierung der Kommunikation nicht länger als ein Vorgang betrachtet werden sollte, dem die Medien nur nachträglich oder zusätzlich ihre Dienste anbieten können, sondern als ein Geschehen, das sich ohne die Medien überhaupt nicht ereignen könnte. Kommunikation braucht die Medien (der Kommunikation), um sich reproduzieren zu können. Sie wird erst durch die mediale Formung – als gesprochenes Wort oder geäußerter Satz, als publizierter wissenschaftlicher Text, als veröffentlichter Zeitungsartikel oder als Fernsehsendung – zur Kommunikation. Nun definieren Medien wie die Sprache, die Schrift oder das Fernsehen aufgrund ihrer unterschiedlichen »medialen Substrate« (etwa Laute der gesprochenen Sprache oder Buchstaben der Schrift) und die in ihnen möglichen Formbildungen (etwa gesprochene Sätze in der Sprache oder Texte im Medium der Schrift) stark voneinander abweichende Entscheidungsspielräume für das, was überhaupt mitteilungsfähig ist. So bieten die Laute der Sprache bzw. gesprochene Wörter eine völlig andere Grundlage für Mitteilungen als etwa Buchstaben bzw. geschriebene Tex-
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te. Durch die Einführung des Buchdrucks konnten die Zeitpunkte der Mitteilung und des Verstehens entkoppelt und theoretisch unbegrenzt in die Länge gezogen werden. Computermedien erlauben weitere Entkopplungen, die es dann immer unwahrscheinlicher machen, dass sich überhaupt noch ein gemeinsames Hintergrundwissen, wie wir es von den Massenmedien her kennen, herausbilden kann (Esposito 1995). Diese unterschiedlichen medialen Prägungen der Kommunikation sollten jedoch, folgt man Luhmann, nicht so verstanden wäre, als wäre Sprache letztlich doch der Kommunikation verwandter als alle anderen Medien. So ist die Schrift nicht einfach ein dem Denken bzw. der Sprache unter- oder nachgeordnetes Medium – ein Eindruck, der sich einstellen kann, wenn davon ausgegangen wird, dass Gedanken oder die Laute bzw. der Sinn sprachlicher Äußerungen durch Texte kopiert werden können. Schrift kann zwar den sprachlich kommunizierten Sinn übersetzen, sie kann jedoch nicht die Art und Weise kopieren, wie dieser Sinn kommuniziert wird, also die Besonderheiten des kommunikationsstrukturellen Arrangements natürlicher Interaktion, wie etwa die starke Einbeziehung der Teilnehmer oder die Möglichkeiten der Kopplung von Sprechen und Wahrnehmen (Luhmann 1997: 254f.). Stattdessen werden nun ganz andere Voraussetzungen für die Bildung von Sinn geschaffen, die ihrerseits durch das Bewusstsein oder die Sprache nicht kopierbar sind, wie etwa die Möglichkeiten von räumlich verteilten Standorten aus kommunizieren oder ein viele Generationen überdauerndes kollektives Gedächtnis entwickeln zu können. Das heißt, Sprache löst die Aufgabe der Selektion der verschiedenen Kommunikationskomponenten anders als beispielsweise die ersten Massenmedien, aber eben nicht besser oder humaner im Sinne von mehr Wirklichkeitsangemessenheit oder Authentizität, so als würde sich die Gesellschaft durch den zunehmenden Gebrauch moderner elektronischer Medien immer weiter von einer genuin natürlichen und der Wirklichkeit angemessenen Kommunikationsweise entfernen oder aus einem kommunikationsökologischen Gleichgewicht bringen lassen. Solche Überlegungen zum Verhältnis von Kommunikation und Kommunikationsmedien stehen in enger Verbindung zur systemtheoretischen Fassung der Beziehung zwischen Kommunikationsmedien und Bewusstsein (vgl. 2005; Fuchs 2003; Luhmann 1984: 191ff., 1987; 1995, 1995a). Ähnlich wie in der Sprachtheorie die Erzeugung von Bedeutung nicht an eine wie auch immer beschaffende Adäquatheitsbeziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem gebunden wird, sondern an sprachinterne Verweisungszusammenhänge, so wird auch in der Systemtheorie Kommunikation als ein von Wahrnehmungen, Empfindungen und Gedanken unabhängiges Geschehen verstanden, in dem sich die Generierung von Bedeutungen von der Beziehung auf Referenten in einer vorge-
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gebenen objektiven Welt ablöst. Entsprechend wird auch das Bewusstsein als ein operativ geschlossenes System der Empfindungen und Gedanken verstanden, welches zwar kommunikative Prozesse zwingend begleitet, nicht jedoch darin aufgeht. Denken und Kommunizieren müssen wir uns demnach als zwei voneinander unabhängige, jedoch parallel geschaltete, immer gleichzeitig aktive Prozesse vorstellen. Beide Systeme operieren nach eigenen, nur für sie geltenden Prinzipien, die verhindern, dass es zu Determinationen in die eine oder andere Richtung oder etwa zu Vermischungen kommt. Das Bewusstsein geht nicht in Kommunikation auf bzw. ist kein Reflex der (medienkommunikativen) Realität, wie Adorno befürchtete. Es stiftet jedoch zur Kommunikation an. Das ändert nichts daran, dass Gedanken nicht aus sich heraus mitteilungsfähig sind, sondern erst aufgrund der Übersetzungshilfen, die in der Gesellschaft – hier verstanden als das umfassende Kommunikationssystem – zur Verfügung stehen. Die operative Geschlossenheit und Unzugänglichkeit des Bewusstseins und die daraus sich ergebenen Schwierigkeiten der Koordination und Synchronisation von Handlungen bilden gewissermaßen die Bezugsprobleme für die Kommunikation. Erst unter der Voraussetzung einer wechselseitigen Unzugänglichkeit und Undurchschaubarkeit und das heißt auch: einer unaufhebbaren Differentialität der beteiligten Bewusstseine wird Kommunikation motiviert und in Gang gehalten (Clam 2002: 54; Fuchs 2001; Nassehi 2000). Mitgeteilte Gedanken sind jedoch keine gedachten Gedanken. Weil das Bewusstsein keinen direkten gedanklichen Zugang zu einem anderen Bewusstsein finden kann, muss es im Akt der Kommunikation für die mitgeteilten Gedanken Transformationen in Kauf nehmen, indem es sich auf die eigendynamischen Bedingungen des Zustandekommens kommunikativer Beziehungen einlässt (Luhmann 1987: 30) – und das heißt in der hier eingenommen Perspektive: auf das Zusammenspiel von Kommunikation und Kommunikationsmedien und dessen Wandel. Des Weiteren gilt es zu berücksichtigen, dass dieses sich Einlassen auf die eigensinnigen Verarbeitungsprozeduren der Kommunikation das Bewusstsein nicht unbeeindruckt lässt. Denn in der Kommunikation werden nicht nur wichtige Vorentscheidungen darüber getroffen, in welcher Weise das Bewusstsein in soziale Prozesse bzw. Systeme einbezogen werden kann. Auch wie das Bewusstsein sich mit sich selbst befasst, welche Beschreibungen es von sich selbst anfertigt bzw. welche Schemata es dabei anleiten und zu einem Beobachter seiner Beobachtungen werden lassen – diese Identität stiftenden Prozesse gewinnen durch Vorgaben der Kommunikation eine gewisse Orientierung, ohne dass angenommen werden muss, es werde durch diese einseitig festgelegt (siehe dazu Fuchs 1999; 2003), Luhmann (1989: 174f.) und Schmidt (1994: 260f.). Sich als ver-
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schieden von anderen zu begreifen und gleichzeitig anderen als zugehörig zu erfahren, die eigene gedankliche Innenwelt zu erforschen, anderen zugänglich zu machen und sich auf die Innenwelten anderer beziehen zu können – die dafür maßgeblichen Begriffe und Strukturen stehen in einem engen Zusammenhang mit den jeweils historisch vorfindlichen kommunikativen Verhältnissen bzw. mit der in einer Gesellschaft vorherrschenden Semantik, die ihrerseits wiederum maßgeblich durch die jeweils gegebenen medialen Voraussetzungen geprägt wird.7 Denn wenn es zutrifft, dass Kommunikationsmedien jeweils spezielle Lösungen für das Zustandekommen und die Fortsetzbarkeit von Kommunikation bereithalten, und Kommunikation ihrerseits eine Lösung des Problems der Ermöglichung wechselseitiger Bezugnahme und Ansprechbarkeit von teilnehmenden psychischen Systemen darstellt, dann kann angenommen werden, dass unterschiedliche Kommunikationsmedien auch unterschiedliche Möglichkeiten dieser Einbeziehung der Bewusstseine und ihrer wechselseitigen Zugänglichkeit bereitstellen. Das heißt, Variationen in der Komplexität der gedanklichen Innenwelten und in dem Selbstverhältnis des Einzelnen sowie in den darauf bezogenen Subjekt-Semantiken kovariieren mit Steigerungen in der Komplexität kommunikativer Beziehungen, die ihrerseits entscheidende Anstöße durch die Innovation, Differenzierung und Vernetzung der Kommunikationsmedien erfahren.8 Kommunikation gewinnt durch das Hinzukommen neuer Kommunikationsmedien – angefangen von der Sprache über Schrift und Buchdruck 7
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Erst im 18. Jahrhundert entwickelte sich unter dem Eindruck der einsetzenden funktionalen Differenzierung der Gesellschaft in der Literatur und in der Kommunikation eine Begrifflichkeit, die das Subjekt im modernen Sinne des Anspruchs auf Selbstverwirklichung und Besonderung anerkennt (Bohn 1998). Erst in dieser Zeit wird zum Problem, was heute für viele zur Selbstverständlichkeit geworden zu sein scheint, nämlich sich zu fragen, wer man selber ist und wer man nur zu sein vorgibt bzw. wie man sich von anderen unterscheidet. Gleichzeitig werden in dieser Zeit erstmalig entsprechende Hilfestellungen – etwa in Gestalt des Tagebuchs – für die Selbsterforschung und -beschreibung und das Durchschauen des Anderen bzw. des eigenen Selbst entwickelt und mit Hilfe der ersten Massenmedien bekannt gemacht. Individualisierung als ein sozial konditionierter Vorgang ist also von Anfang an mit Prozessen des sozialen und medialen Wandels verbunden und damit abhängig von den jeweils vorherrschenden nicht-individuellen Ausdrucks- und Selbstdarstellungsmöglichkeiten (Luhmann 1989: 162f.). Selbst wenn angenommen wird, dass Individualisierung im Grunde erst dort beginnt, wo gegen medial bereitgestellte Selbsttypisierungen und damit verbundenen Anpassungszumutungen rebelliert wird, setzt dies das Argument von der Kommunikations- bzw. Medienbindung nicht außer Kraft. Auch der Widerstand gegen gesellschaftlich anerkannte und kommunikativ zirkulierende Individualisierungsschemata ist nur mit Hilfe anderer kommunikativ vermittelter Schemata möglich. Der Einzelne kann sich nicht gegen eine Schemakultur entscheiden, sondern allenfalls eine Vorreiterrolle einnehmen innerhalb einer u.a. kommerziell und massenmedial angetrieben Schemaentwertungs- und -innovationsdynamik.
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bis hin zum Mobiltelefon und neuen elektronischen Vernetzungstechnologien – eben nicht nur an Reichweite, sondern reichert auch ihre internen Sinnverarbeitungskapazitäten stetig an. Und davon kann wiederum das Bewusstsein profitieren, insofern als es auf diese Kapazitäten zugreifen kann, um seine Selbstbeobachtung zu dirigieren.9 Neue Kommunikationsmedien und dadurch angestoßene Erweiterungen kommunikativer Sinnverarbeitungsmöglichkeiten nehmen ebenso Einfluss auf Veränderungen in der Ansprechbarkeit und Kommunikabilität des Bewusstseins sowie in der Referierbarkeit auf andere Bewusstseine. Auch in dieser Hinsicht stehen die Differenziertheits- und Komplexitätsgrade des Selbst in enger Beziehung zum strukturellen Reichtum vorhandener Kommunikationsmöglichkeiten. So eröffnete beispielsweise das Schreiben im Vergleich zu oralen Kulturen nicht nur neuartige Möglichkeiten der Selbsterfahrung, da nun Beschreibungen fixiert werden konnten und damit Vergleiche mit eigenen früheren oder fremden (Selbst-)Erfahrungen angeregt wurden, die wiederum rückwirkend für das Bewusstsein instruktiv sein konnten. Ebenso verfügte das Bewusstsein fortan über neue Möglichkeiten, sich in eine kommunikativ anschlussfähige Form zu bringen, das heißt interne Vorstellungen für andere mitteilbar und verstehbar zu machen. Das Bewusstsein kann sich mit neuen Selbstbeschreibungsmöglichkeiten anreichern und die so gewonnene innengenerierte Komplexität für andere in der Kommunikation wiederum beobachtbar machen. Es gibt auf dieser Ebene der Beschreibung keinen Grund anzunehmen, dass diese Entwicklung mit dem Aufkommen von Film, Funk, Fernsehen oder den internetbasierten Möglichkeiten, sich Interessensgemeinschaften (»virtuell communities«) anzuschließen oder öffentlich einsehbare Tagebücher (»weblogs«) zu schreiben, abbricht. Jedes dieser neu hinzu kommenden Kommunikationsme-
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Das wird beispielsweise an der »Erfindung« der Person deutlich. So beschreibt Fuchs, warum die Bezeichnung ›Person‹ nicht auf ein vorgegebenes invariantes Bündel substanzieller Charaktereigenschaften referiert, sondern eine kommunikationsrelevante Zurechnungstechnik darstellt: »Personen sind mithin nicht Systeme oder Objekte oder gar Subjekte, sondern kommunikativ wirksame Strukturen, die limitieren (markieren), welches Verhalten von (sterblichen) Leuten passend, erwartbar, anschlussfähig ist und welches Verhalten als überraschend aufgefasst und dann mitmarkiert (also in die Struktur ›Person‹ eingebaut) werden muss« (Fuchs 2003: 30). Personen sind also keine der Kommunikation vorgegebenen Entitäten, sondern Konstruktionen, die nur in der Kommunikation existieren können. Durch die ›Person‹ wird kommunikatives Verhalten in eine zurechnungsfähige Form gebracht. Umgekehrt gewinnt durch diese Konstruktion die Gesellschaft Zugang zum Einzelnen und können Erwartungen an den Einzelnen adressiert werden. Diese verhaltensregulierenden Erwartungen wie überhaupt die Person als Adressier- und Zurechnungsmöglichkeit variieren wiederum mit den jeweiligen Besonderheiten der Medienkommunikation.
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dien bietet andere, zusätzliche Möglichkeiten der Selbstbefassung, Ansprechbarkeit und der wechselseitigen Referierbarkeit der Bewusstseine. Kommunikationsmedien wirken dabei wie Scharniere zwischen Bewusstsein und Kommunikation, indem sie zwischen beiden Systemen vermitteln, die ohne ihr Wirken keine Zugänge zueinander finden würden, ja, gar nicht existieren könnten. Erst sie ermöglichen ein wechselseitiges Verfügbarmachen, Aufgreifen und Verarbeiten von Komplexifizierungspotentialen (vgl. Clam 2002: 29f.). Medien der Kommunikation werden deshalb in der hier vorgestellten Perspektive nicht länger wie Instrumente oder Ressourcen behandelt, auf die für Zwecke der Verständigung, Koordination oder der Beherrschung anderer zurückgegriffen werden kann. Statt dessen interessiert, wie im Zuge einer sich unter dem Einfluss der modernen Medien differenzierenden Binnenarchitektur der Kommunikation – was die Aufspreizung in differentielle Kommunikationssysteme wie Wirtschaft, Politik, Religion etc. und deren massenmedial bereitgestellte Möglichkeiten der wechselseitigen Beobachtbarkeit einschließt – auch die (Selbst-)Beschreibungen und Mitteilungsmöglichkeiten des Bewusstsein sich zu wandeln beginnen.
4. Kritik der Medien und Medien der Kritik Nachdem lange Zeit das Subjekt als Reflex einer medienindustriell erzeugten Symbolwelt, anschließend unter dem Eindruck neuerer Kulturtheorien stärker in einer aktiven Mediennutzerrrolle gesehen wurde, interessiert man sich nun in einer die Kommunikation als Primärbegrifflichkeit wählenden Perspektive dafür, wie sich die Binnenarchitektur gesellschaftlicher Kommunikationsverhältnisse und das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst und zu anderen wechselseitig bedingen. Hier geht es deshalb nicht nur darum zu verstehen, was die Subjekte aus den Medienangeboten machen, welche Absichten und Erwartungen sie mit ihnen verbinden und welche Nutzungsroutinen sie entwickeln, sondern wie die Medien den Einzelnen in einem grundsätzlichen Sinne befähigen, sich als Subjekt oder als Mitglied eines Kollektivs zu verstehen und zu verhalten. Plausibel wäre es deshalb, sich verändernde Medienkonstellationen und darin jeweils dominierende Leitmedien mit einem Wandel ebenfalls dominierender Subjektverständnisse bzw. praktizierter Formen der Subjektivität in Verbindung zu bringen. Denn nicht nur Bücher, sondern auch die modernen Print- und Funkmedien und das Internet nehmen Einfluss auf das Subjekt – ohne dass hierbei einmal die Bedingungen einer allgemeingültigen Subjektform unterstützt, ein anderes Mal verfehlt oder gefährdet würden. Die schriftbasierten klassischen Bildungsmedien des
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18. und 19. Jahrhunderts favorisierten eben eine andere Semantik des Subjekts und stellten andere kommunikative Voraussetzungen für die Formung und Stabilisierung individueller und »partizipativer Identitäten« (Bohn/Hahn 1999) bereit, als etwa die audiovisuellen Medien des 20. Jahrhunderts oder die neuen elektronischen Medien des auslaufenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Dies muss nicht bedeuten, dass ältere Subjektformen mit dem Wandel der Leitmedien verschwinden müssen. Ähnlich wie ältere Kommunikations- und Wahrnehmungsmedien auch unter neuen Leitmedien fortexistieren, überdauern auch ältere Subjektmodelle die Phase ihrer Hochzeit. Sie werden jedoch unter Anpassungsdruck gesetzt, verändern sich unter dem Einfluss neuer dominanter Medientechnologien und darin sich bildender Subjektformen und verlieren in der Regel an Bedeutung. Wo tief greifende Einschnitte im Subjektverständnis und in den kommunikativen Ordnungen einer Gesellschaft und mediale Transformationen in einem koevolutionären Verhältnis gesehen werden, wird jedoch nicht länger versucht, Merkmale eines kommunikativen Ursprungsmodells oder einer anthropologischen Grundausstattung gegen medientechnologisch veränderte oder erweiterte Formen der Kommunikation auszuspielen (siehe dazu auch Sutter und Wenzel i.d.B.). Umgangen werden ebenso die Schwierigkeiten, die sich aus der Annahme eines medientechnologischen Apriori des Bewusstseins oder der sozialen Ordnung ergeben, demzufolge ausgehend von einer Vorgängigkeit der medialen Codes das Subjekt oder das Individuum nur noch als Imagination oder Selbsttäuschung verstanden werden kann. Luhmann verzichtet deshalb auf kritisch-normative Kommentierungen des Mediengeschehens, ebenso wie er die Nähe zu mediendeterministischen Argumentationsfiguren vermeidet. Im Gegenteil, Transformationen des Mediensystems werden jetzt nicht nur generell mit dem Wandel gesellschaftlicher Formationen und entsprechender Subjektformen in Verbindung gebracht, sondern auch mit der Entstehung und der Verbreitung solcher Beobachtereinstellungen und Kommunikationsformen, die allgemein als kritisch bezeichnet werden. Kritik steht also nicht außerhalb der Medienwelt, sondern ist dieser immanent. Das zeigt bereits die Verbreitung der Schrift. Durch sie werden wichtige Voraussetzungen für eine kritische Einstellung gegenüber der sozialen Ordnung und den entsprechenden Wissensbeständen geschaffen, da sich jetzt im Vergleich zu oralen Gesellschaften Sinnbildungen fixieren und vergleichen ließen. Mit der Verbreitung von Büchern und der Lesekompetenz können individuelle Erfahrungen in das Format eines für viele zugänglichen Wissens gebracht werden, das zu verschiedenen Interpretationen einlädt. Leser werden durch die Lektüre (nicht nur kritischer Schriften) mit Entwürfen möglicher (Lebens-)Wel-
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ten konfrontiert, die ihnen die Begrenztheit wie Überbietbarkeit und Kontingenz ihrer eigenen Denk- und Handlungsgewohnheiten und den zugrunde liegenden Wissensbeständen vor Augen führen. Kritik im eingangs definierten Sinne der Relativierung eingeübter Sinnbildungen im Lichte möglicher, bislang unrealisierter Sinnbildungen realisierte sich also in dem über Bücher und deren Lektüre sich herstellenden Kommunikationszusammenhang – noch unterhalb der Ebene institutionalisierter Kritikformate und entsprechender Rollen wie Literatur, Kino-, Radiooder Fernsehkritik(er) (siehe dazu Schmidt 2000: 158f.). Die Einübung in eine kritische Haltung zur Welt beschränkt sich jedoch nicht, wie vor allem Medienkritiker annehmen, auf die klassischen Bildungsmedien, sondern schließt die Medien des 20. Jahrhunderts wie beispielsweise die Fotografie (siehe dazu Becker i.d.B.) oder das von vielen so geschmähte Fernsehen mit ein. Wenn beispielsweise Zuschauer im Fernsehen die Vertreter von Politik oder Wirtschaft auf unfreiwillig kommunizierte Absichten hin beobachten, dann lässt sich dies durchaus als Gewinn von Fremdthematisierungs- und Widerspruchsmöglichkeiten interpretieren (siehe Esposito 1995). Neue kritische Akzente werden durch das Internet gesetzt, da hier die Teilnahme nicht nur bislang unbekannte Möglichkeiten der interaktiven Themenproduktion und -diskussion eröffnet, sondern noch stärker als die Massenmedien den Effekt einer »[…] Bewusstmachung der Interpretativität und Konstruktivität unseres alltäglichen Selbst- und Weltverständnisse […] nach sich ziehen kann und so die Kontingenz und prinzipielle Überwindbarkeit eingelebter Denk- und Handlungsroutinen erfahrbar werden lässt« (Sandbothe 1999: 380).10 Wenn aber Kritik sich immer nur in und durch die Medien artikulieren kann, sind die begrifflich-methodischen Vorraussetzungen und Gegenstandsbezüge der Medienkritik neu zu überdenken. Denn dies würde doch bedeuten, dass auch eine noch so fundamentaloppositionell eingestellte Kritik der Medien es sich gefallen lassen müsste, ihrerseits als ein medial geprägtes kommunikatives Geschehen beobachtet zu werden. Auch Kritik der Medien findet in Medien und zwar in Medien der Kritik 10 Aber auch die Massenmedien zeichnen sich mittlerweile durch eine gesteigerte Selbstreferentialität aus. Diese zeigt sich etwa dort, wo bislang ungeschriebene Gesetze des Fernsehens, die beispielsweise den Umgang mit dem Publikum im Studio und vor dem Bildschirm betreffen, im Medium ironisch bzw. parodistisch verfremdet werden (Bleicher 2004; siehe auch Reichertz i.d.B.). Ein anderes Beispiel sind Situationen, in denen Fernsehen im Fernsehen unter Einbeziehung zusätzlicher Medien wie Videofilme oder Computeranimation auf seine Selektivität hin beobachtbar wird. Auch wenn dabei nicht unbedingt alle traditionellen Selbstbeschreibungen des Mediums, wie etwa das Objektivitätsideal, in Frage gestellt werden, so deuten sich hier doch zusätzliche Sinnbildungsressourcen erschließende Prozesse an, für die das eingespielte, auf den Vorwurf der Sinnvernichtung abzielende Vokabular der Medienkritik blind bleiben muss (siehe Adelmann i.d.B.).
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statt – die jederzeit auch wieder zum Objekt der Kritik werden können. Jeder Medienkritik haftet deshalb auch etwas Paradoxes an, weil sie gegen etwas ist, was sie immer auch selbst ist, nämlich Medienkommunikation. Ferner muss eine sich noch so überlegen gebende medienkritische Haltung realisieren, dass ihre Flughöhe niemals ausreichen wird, das Mediensystem insgesamt unter sich zu bringen, sondern immer nur einzelne Medien bzw. Mediengattungen und die mit ihnen verbundenen Wirklichkeitszugänge. Tatsächlich war Medienkritik, wie sie sich vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert an den Massenmedien entzündet hat, immer auch eine am Referenzmedium der Schriftlichkeit bzw. der Sprache und den darin eingeschlossenen Möglichkeiten der Codierung eigener Beobachtungen orientierte Thematisierung der neuen audiovisuellen Medien. Diese eröffneten u.a. neue Möglichkeiten der Wissenserzeugung und -verbreitung, der visuellen Darstellung und der Vermischung privater und öffentlicher Sphären, was sie – in Verbindung mit den durch sie favorisierten Habitusformen – in den Augen ihrer Kritiker in einen Gegensatz brachte zu den mit den typografischen Medien verbundenen Formen der Kommunikation und Subjektivität. Soweit solche kritischen Auseinandersetzungen von der Absicht getragen waren, die neue Medienkultur ausschließlich im Sinne einer Abkehr von idealen Voraussetzungen der Kommunikation und Identitätsbildung zu disqualifizieren, sind sie aus Sicht einer konstitutionslogisch argumentierenden Medienperspektive als irreführend zu bezeichnen. Denn selbst ein von der Medienkritik mit soviel Aufmerksamkeit und Ablehnung bedachtes Medium wie das Fernsehen wirkt auf die Sinnbildungsressourcen der Gesellschaft nicht ausschließlich reduzierend, sondern trägt zu deren Erschließung maßgeblich bei. Wozu dann aber noch eine sozialwissenschaftlich geführte Medienkritik? Vielleicht, um Ambivalenzen und gegenläufigen Effekte der Medienentwicklung im Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung aufzuzeigen, wie die nachfolgend zusammengestellten Hinweise vermuten lassen. So beschreiben beispielsweise Esposito (1995) und Spangenberg (1999), wie vor allem das Fernsehen aufgrund seiner visuellen Suggestivkraft dazu tendiert, sich für sein Publikum unsichtbar zu machen und damit eine Art Medienvergessenheit begründet, welche die durch das Medium begründeten Wirklichkeitszugänge und entsprechenden normativen und moralischen Festlegungen unbefragt lässt. Dem Zuschauer erschließen sich, wie weiter oben angesprochen, neuartige Beobachtungsmöglichkeiten, gleichzeitig ist es für ihn offenbar schwierig, beispielsweise Life-Berichterstattungen als Kommunikation, das heißt als ein von Auswahlentscheidungen geprägtes selektives Geschehen, wahrzunehmen. Luhmann (1996) selbst zeigt in seiner Studie zu den Massenme-
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dien, wie diese in die Rolle eines Weltbildproduzenten hineinwachsen, der die Gesellschaft mit einem quasi-konkurrenzfreien Hintergrundwissen und dazugehörenden Weltzugängen versorgt. Über die Massenmedien kann sich eine gesellschaftsweite, nach definierten Zeitpunkten getaktete Vorverständigung über relevante gesellschaftliche Ereignisse und Themen einspielen, die gleichzeitig den zentrifugalen Kräften der nicht nur auf der Ebene der gesellschaftlichen Funktionssysteme, sondern auch der sozialen Milieus voranschreitenden Differenzierung entgegenwirkt. Diese »virtuelle Vollinklusion« bzw. »Superintegration« und die hierdurch unterstützten gesellschaftlichen Komplexitätsgewinne gehen jedoch zu Lasten des erreichbaren Komplexitätsniveaus auf der Ebene der Darstellungs- und Ausdrucksformen in den Massenmedien. Nicht umsonst ist von medienkritischer Seite immer wieder auf die nachrichtenwertgesteuerte Selektivität der Massenmedien mit ihren Personalisierungs- Moralisierungs-, Sensationalisierungs- und Simplifizierungszwängen hingewiesen worden. Ein anderes Beispiel für die gegenläufigen Effekte des Mediensystems betrifft die medial hergestellten Beziehungen ganzer Nationen und Kulturen. Dieselbe durch die Massenmedien erzeugte (Welt-)Öffentlichkeit mit solchen Beobachtungsschemata wie dem der Skandalierung hat in der Vergangenheit immer wieder auch zum Sturz von Parteiführen und Diktatoren beigetragen, indem sie diese für ihre einstigen Verbündeten untragbar erscheinen ließ und damit um die notwendige Unterstützung für den Machterhalt brachte; gleichzeitig hat sie die Wahrscheinlichkeit von (inter-)nationalen Skandalen, Spannungen und Konflikten gesteigert (vgl. Imhof 2000), u.a. auch deshalb, weil in der vernetzten Medienwelt die Abstände zwischen unterschiedlichen politischen Systemen und Kulturräumen verringert und dadurch wechselseitige Irritationen, Provokationen wahrscheinlicher werden. Und wenn gemeinhin im Anschluss an Luhmann festgestellt wird, wie die Politik und andere gesellschaftliche Funktionssysteme zu massenmedial unterstützten Formen der Selbst- und Fremdbeobachtung tendieren, da es für sie offenbar immer wichtiger wird, zu sehen, wie sie in anderen Systemen – nicht nur von den Medien selbst – beobachtet werden, dann stellt sich doch die Frage, welche Anpassungseffekte die ungebremste Bedeutungssteigerung öffentlicher Aufmerksamkeitswerte und Informationsgewinnung in den Systemen nach sich zieht. Für die Politik jedenfalls wird vermutet, dass bereits der Druck, massenmediale Standards der Selbstinszenierung und Rhetorik zu bedienen, schon längst nicht mehr an der Peripherie des Systems abgefangen werden kann, sondern auch die Kommunikationsdynamiken und Erwartungszusammenhänge in den Kernzonen des Politischen erfasst hat.11 Aber auch die Beziehungen zwi11 Allerdings stellt diese Annahme die in der orthodoxen Systemtheorie unter-
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schen Subjekt und Massenmedien sind nicht frei von gegenläufigen Entwicklungen. So lassen sich die Massenmedien durchaus als Promotoren eines inzwischen globalen Diskurses verstehen, in dem die Herauslösung der Individuen aus tradierten moralischen und normativen Zwängen gefordert wird; gleichzeitig wirken sie den hierdurch geweckten Bedürfnissen nach Autonomie und Unverwechselbarkeit entgegen, indem sie diese mit konfektionierten, durch die Werbeindustrie gesponserten Biografieund Lebensstilmustern bedienen. Massenmedien und mehr noch das Internet fordern dazu auf, Individualität zu gewinnen, was als Aufforderung zu verstehen ist, Unterschiede zu kommunizieren und das heißt, sich für andere und damit immer mehr auch für die Medien sichtbar zu machen. Denn viele der entsprechenden Aktivitäten werden entweder von den Medien mit Hilfe Dritter (Trendscouts, Meinungsforscher, Werbe- und Marketingagenturen etc.) ermittelt oder sie finden heute zunehmend in den Medien selbst statt und hinterlassen dort ihre Datenspuren (von Kaufentscheidungen im Internet über elektronische Partnerschaftsvermittlungen bis hin zu virtuellen Tagebucheintragungen), was es um so leichter macht, sie zu beobachten, zu vergleichen und auszuwerten (Gamon et al. 2005). Die entsprechenden Ergebnisse (Trends, Rankings, Profile etc.) dienen nicht nur den Medienrezipienten als Orientierungsangebote. Sie fließen darüber hinaus in die Entscheidungen über kommerzialisierte Individualisierungsangebote ein, was den Anspruch auf Individualität erst recht konterkariert. stellte operative Autonomie der Systeme in Frage. Wie weiter oben bereits im Hinblick auf die Beziehung zwischen Massenmedien und Subjekt skizziert wurde, entspricht es systemtheoretischer Denkart, davon auszugehen, dass Systeme ihre Umweltbezüge nach Maßgabe eigner Strukturen spezifizieren. Bezogen auf die Abhängigkeiten zwischen Bewusstsein und Kommunikation oder zwischen Funktionssystemen verbinden sich jeweils weitgehende Indifferenzen der beteiligten Systeme gegenüber von außen kommenden Irritationsversuchen mit spezifischen Abhängigkeiten. Diese Abhängigkeiten bedingen jedoch keine vorhersehbaren, durch eine einseitige Verfügungsgewalt provozierbare Verarbeitungs- oder Reaktionsformen. Demgegenüber stellt sich die Frage, ob nicht beispielsweise neben der Politik auch andere Funktionssysteme in ihren internen Strukturen mit Modifikationen darauf reagieren, sich verstärkt in der massenmedialen Öffentlichkeit legitimieren zu müssen (siehe dazu auch die Pro- und Contraargumente in Schmidt 1999). So mag man es begrüßen, wenn Wissenschaftler, zumal solche, deren Forschungen ein hohes Risikopotential unterstellt wird, bereit sind, sich einem öffentlichen Diskurs zu stellen. Allerdings ist zu beobachten, wie im Zuge gesteigerter Legitimationserwartungen solche Wissenschaftler, die, aus welchen Gründen auch immer, häufiger in den Massenmedien zu sehen sind, mediale Prominenz gewinnen, die sie in symbolisches Kapital verwandeln können, das ihnen im Kampf um finanzielle Ressourcen Vorteile verschafft (Weingart 2005: 168-188). Solche Vorteile dokumentieren sich in der Expansion bzw. Schrumpfung der Disziplinen und Forschungsbereiche und anderen nachhaltigen Effekten (etwa: Nützlichkeitserwartungen, veränderte Reputationsverteilungsmechanismen) in den Kernzonen des Wissenschaftssystems.
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Hinweise wie diese machen darauf aufmerksam, wie dieselben modernen Errungenschaften, in diesem Fall die Massenmedien, die kommunikativ verarbeitbare Komplexität der Gesellschaft kontinuierlich steigern und gleichzeitig auch wieder in Frage stellen können. Die Beobachtung solcher gegenläufigen Effekte der Medienevolution löst in der hier rekonstruierten Perspektive die eingangs skizzierte These eines Grundwiderspruchs zwischen natürlichen und künstlichen Formen der Kommunikation ab und die damit verbundenen normativen Maßstäbe, an denen sich Medienkritik vergangener Tage immer wieder aufrichten konnte. Statt wie bisher die Bedingungen individueller und kollektiver Identitätsbildung exklusiv einem Vorzugsmedium anzuvertrauen und deshalb überall dort zu korrigierende Fehlentwicklungen anzunehmen, wo dieses Diktum missachtet wird, stehen jetzt die in den Massenmedien und den durch sie ermöglichten Kommunikationszusammenhängen selbst angelegten Spannungen und Paradoxien im Vordergrund.
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KOMMUNIKATION, KONTINGENZ, KRITIK. KOMMUNIKATIVER VERWEISUNGSÜBERSCHUSS IN STRUKTURREKONSTRUKTIVER PERSPEKTIVE ULRICH WENZEL In den Sozialtheorien hat es sich eingebürgert, das Geschehen der Kommunikation – jedenfalls auch – unter dem Gesichtspunkt einer überindividuellen Eigenlogik des Sozialen bzw. der Kommunikation selbst zu perspektivieren. Mögen die in Anspruch genommenen Systematiken und Referenzen auch höchst heterogen sind, so findet sich die Annahme einer zumindest nicht allein auf individuelle Akteure zurückführbaren sozialen Strukturierung bzw. Regelgeleitetheit der Kommunikation in sozialen Konstitutionstheorien (vgl. Habermas 1981, II, 30ff.; Oevermann 1991: 269ff.), in der phänomenologisch orientierten Soziologie (vgl. Srubar 2003), in den Perspektiven der Systemtheorie (vgl. Luhmann 1997: 190ff.; kritisch hierzu Malsch 2005) oder auch in der postmodernen respektive poststrukturalistischen Annahme inkommensurabler Kommunikationsformen bzw. Sprachen (vgl. Lyotard 1989; Derrida 2003: 19ff.). Für keinen dieser Ansätze geht Kommunikation freilich in der identischen Reproduktion allgemeiner oder auch fallspezifischer Regeln bzw. in der Sicherstellung erwartbarer und strukturkonformer Kommunikationsanschlüsse auf. Im Medium der Sprache – ebenso wie in anderen Kommunikationsmedien – kann offenbar auch Überraschendes, Abweichendes und Kritisches entstehen. Die Erklärungen hierfür weichen nicht weniger voneinander ab als die Kommunikationsmodelle selbst: Ist dieses Neue, Abweichende und Kritische in der Kommunikation auf Eigenschaften und Potentiale des Mediums selbst zurückzuführen, auf eine unterstellte Rationalität der Kommunikation, auf die Wechselwirkungen zwischen den symbolischen und nicht-symbolischen Registern des Weltzugangs oder aber auf eine irreduzible Autonomie der Lebenspraxis? Der vorliegende Beitrag skizziert einige Überlegungen zu dieser Frage: Wie kann Kommunikation, verstanden als zumindest auch eigenlogisch operierende, in einem nichttrivialen Sinn von eingeschliffenen Routinen und Sinnstrukturen abweichen? In diesem Sinne, auf dem Wege einer Rekonstruktion sinntranszendenter Potentiale in der Medienkommunikation, sollen die Fragen nach einer Kritik der Medien und nach 67
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den Medien der Kritik angegangen werden. Mit dem Begriff der Kritik der Medien will ich in erster Linie auf den Fragehorizont der Bedingungen der Möglichkeit medial gestützter Kommunikation richten. Und dies soll hier insbesondere heißen, die Frage nach der nichtidentischen Reproduktion kommunikativer Muster und sinnhafter Strukturen im Horizont des Phänomens einer Eigenlogik der Medien zu untersuchen. Thematisch werden so einerseits die für Medienkommunikation spezifischen Kopplungsverhältnisse zwischen Bedeutungsproduktion, Zeichenzirkulation und Rezeption, die für die Soziologie mit Blick auf differenzierungstheoretische Fragestellungen relevant sind. Thematisch werden andererseits die medienspezifischen Formeigenschaften, die nicht ohne Bezug auf den stofflichen Gehalt einzelner Medien betrachtet werden können und doch nicht in technizistischer Weise auf diesen stofflichen Gehalt zu reduzieren sind. Erst auf der Grundlage dieser konstruktivistisch angelegten Medienkritik lässt sich dann nach dem Potential der Medien der Kritik, einer Transzendierung des Gegebenen qua Medienkommunikation fragen. Diese Transzendenzpotentiale zu bestimmen, gelingt nur vor dem Hintergrund einer Konstitutionstheorie medialer Kommunikation. Von deren Gestalt hängen die möglichen normativen Implikationen ab, hier werden die Vorentscheidungen getroffen, inwieweit die Sinntranszendenz, die medialen Kommunikationen innezuwohnen vermag, als kontingenter oder strukturierter Sinnüberschuss zu begreifen ist.
1 . E i g e n l o g i k m e d i al e r K o m m u n i k a ti o n Erst die Neuzeit kann Medienkommunikation als Formproblem und als Problem medialer Eigenlogiken begreifen. Nicht bereits die Einführung des Buchdrucks, sondern erst die Verschränkung massenmedialer Techniken und gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse eröffnet ein neuartiges Feld gesellschaftlicher Kommunikation, das seinen Ausdruck im neuartigen ästhetischen Reflexionsvermögen findet.1 Spätestens im 18. Jahrhundert hat der Modernisierungsprozess eine Dynamik erreicht, die zu einem bis dahin ungeahnten Maß gesellschaftlicher Differenzierung und massenmedialer Formenmultiplikation führt. Der Übergang zur funktionalen Differenzierung als vorherrschendem Modus generiert eine Vielzahl autologischer Diskurse, Medien- und Handlungszusammenhänge, deren Relevanzhorizonte und Typisierungen nicht bruchlos inein1
Dieser autologischen Vielfalt auf seiten der Diskurse korrespondiert die Individualität der Rezeptionshaltungen, die aus systemtheoretischer Sicht (vgl. Esposito 1995) durch die Anonymität und technisch sichergestellte Reproduzierbarkeit massenmedialer Kommunikate nicht etwa gefährdet, sondern überhaupt erst ermöglicht wird.
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ander übersetzt werden können.2 Erst vor diesem Hintergrund ist dann die Herausbildung immer neuer Künste, Gattungen und Stilrichtungen im Bereich massenmedialer Kommunikation denkbar. Die ästhetische Theorie der Spätaufklärung versuchte noch, diese Vervielfältigung und Differenzierung im überkommenen Theoriegefüge einer Nachahmungsästhetik zu begreifen. Ähnlich wie bereits in der Antike Platon, fragt man nach der zeit-räumlichen Strukturiertheit spezifischer Medien, beispielsweise des Bildes im Unterschied zur Poesie, um die Reproduktions- und Gedächtnisspeicherqualität differenziert zu beurteilen. Im Unterschied zum antiken Vorbild greift im 18. Jahrhundert jedoch bereits eine konstruktivistische Perspektive in die Theorie ein, die sich als komplexes Verhältnis zwischen Semiologie und Erkenntnissubjekt artikuliert. Bereits für Lessing ist die Medialität der Künste derartig in den Vordergrund getreten, dass seine ästhetische Theorie im Kern die Forderung aufstellt, diese Medialität zu invisibilisieren, indem zum einen sogenannte natürliche, also motivierte Zeichen Verwendung finden sollen, zum anderen aber, und das ist hier wichtiger, der Künstler sich auf jene Aspekte des Darzustellenden beschränkt, die den Fluss der Rezeption nicht unterbrechen. Und welche Aspekte dies sein können, hängt vom verwendeten Medium ab: Was im Gedicht unnötiges Beiwerk sein mag, das die Illusion des Unmittelbaren zerstört, mag in der bildnerischen Darstellung desselben Gegenstandes unverzichtbar sein. Denn die Poesie besteht aus »artikulierten Tönen in der Zeit«, während die Malerei »Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften« (Lessing 1974: 102f.) präsentiert. Die unterschiedliche Zeitlichkeit der Medien lässt den Künstler nur zur Darstellung der Wahrheit vordringen, wenn er diese mit einem medienspezifischen Index ausstattet (vgl. hierzu ausführlicher Wenzel/ Neumann-Braun 2002). Das für die Medienkritik zentrale Problem der Formbestimmung und Eigenlogik ist damit ausgesprochen: Eine jede Kunst baut auf ihrem Medium, das in seiner Materialität und Konventionalität unabweisbar ist, für einen gelingenden Weltbezug aber zum Verschwinden gebracht werden muss, sofern man diesen Weltbezug als referentiellen konzeptualisieren will. Zwischen den Referenten und seine Darstellung tritt in der Folge ein epistemisches und ästhetisches Subjekt, dessen Verhältnis zur Wahrheit zunächst ungeklärt ist. Nicht vergessen werden soll aber, dass dieses Problem auf der Metaebene der Reflexion in gleicher Weise auftritt. Das Räsonnement über Ästhetik vollzieht sich notwendig in Sprache, zumeist geschriebener wissenschaftlicher Prosa. Und diese unterliegt eigenen 2
Zur Verschränkung leibgebundener, bildlicher und schriftlicher Medien im vorneuzeitlichen Kommunikationsgebrauch vgl. Wenzel (1995); Faulstich (1996).
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Formprinzipien, die zweifelhaft werden lassen, ob der Gegenstand der Kunst mit ihr überhaupt bezeichnet werden kann.
2. Die Wahrheit des Werks (Heidegger) Verfolgen wir das Problem der Wahrheitsfähigkeit von Kunst oder medialer Kommunikation allgemein noch etwas weiter. Es stellt sich in seiner Radikalität freilich erst dar, wenn man die mediale Konstruktivität gesellschaftlicher Welten konsequenter vom nachahmungstheoretischen Traditionsbestand gelöst zu denken beginnt, als dies der Spätaufklärung gelingt. Das konstruktivistische Verständnis der Moderne weiß sich sicher in der Annahme, dass Kultur eine generative Struktur von Weltbezügen ist. Medienkommunikation stellt hierfür die zentralen Mechanismen zur Verfügung. Da dieses konstruktivistische Verständnis sich gerade im Zuge zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung und einer sich abzeichnenden Weltgesellschaft gebildet hat, besteht seine Pointe in der Annahme, die welterzeugende Struktur von Kultur sei nur im Plural zu denken: jede Kultur erzeugt eine eigene Welt, deren Wahrheit, wenn man sie denn sucht, nicht in ihrer Referentialität zu einer vorgegebenen Einheit zu bestehen vermag, sondern aus sich selbst kommen muss, und zwar nicht als ruhende Einheit, sondern als zugleich gründende und flirrende Dynamik. Werksein, schreibt Heidegger »heißt: eine Welt aufstellen«. Eine Welt ist ihm kein Gegenstand, kein analytischer Rahmen des Sichtbaren und Greifbaren, sondern jenes Ungegenständliche, das geschichtliche Bewegungen freisetzt. Der Mensch hat eine Welt, wenn er »sich im Offenen des Seienden aufhält« (Heidegger 1994: 31). Das Werk stellt aber nicht nur eine Welt auf, sondern auch eine Erde her, mit anderen Worten, es rückt die geschichtliche Bewegung in die materielle Basis und das fraglose Vorverständigtsein einer Kultur, die sich den geschichtlichen Dynamiken zugleich stellen und entziehen. Das Werk, so Heidegger, ist folglich durch die Errichtung eines andauernden Streits bestimmt: Das Offene der Welt und das Bergende der Erde werden im Kunstwerk nicht falsch und fade versöhnt, (wie man es den Produkten der Kulturindustrie zuschreiben könnte), sondern in dauernder konfligierender Bewegung gehalten. In dieser Weise tritt die stets sich verbergende Wahrheit ins Licht: Das Werk zeigt nicht die Wahrheit dieses oder jenes Ereignisses oder Gegenstandes, sondern bringt »das Seiende im Ganzen in die Unverborgenheit« (ebd.: 43). Es bringt Wahrheit hervor, insofern es einen Raum für das Wechselspiel von Entbergen und Verbergen erstellt, insofern es der »Offenheit des Seienden« eine Stätte gibt. Kurz, das Werk 70
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bringt die Wahrheit hervor, indem es Geschichte ermöglicht. Und genau dies ist es, was das Kunstwerk der Wissenschaft voraushat: letztere, so Heidegger, kleidet den vom Werk geöffneten Wahrheitsbereich nur aus und systematisiert ihn (vgl. ebd.: 49). Zentral für Heideggers Überlegungen ist die Dinglichkeit des Werkes, seine Geschaffenheit und Stofflichkeit also. Hier berühren wir erneut die mediale Form und Eigenlogik. Das Werk zeigt sich als Geschaffenes, insoweit es Gestalt hat – und die Offenheit, die Wahrheit, die sich nur in dieser Gestalt zeigen kann, als Riss und Fuge. Das Werk weist aber noch in anderer Weise über das bloße Zeug hinaus. Seine Geschaffenheit ist in das Werk selbst hineingeschaffen, so dass sie an ihm selbst erfahren werden kann (vgl. ebd.: 52f.). Hier zeigt sich der Perspektivenwechsel gegenüber der traditionellen Nachahmungsästhetik: In der Moderne zeichnet sich das gelungene Werk nicht durch die Invisibilisierung seiner Medialität, sondern durch deren reflexive Thematisierung aus. Zum Werksein gehört aber nicht nur jene geschaffene Gestalt, in der die Wahrheit als Riss liegt und nicht nur jene mediale Selbstreferentialität als Geschaffenes. Zum Werk wird das Objekt erst dann, wenn es bewahrt wird, also erst durch Rezeption. Diese Rezeption darf allerdings nicht ein kennendes Wissen sein, sondern muss aus einem Sich-Einlassen bestehen, in dem sich das Subjekt öffnet und entgrenzt. Das Werk zu bewahren, heißt die Eröffnung des Daseins zuzulassen, »aus der Befangenheit des Seienden zur Offenheit des Seins« (ebd.: 55). Nicht Erleben, Kennen und Vorstellen, nicht »es gesehen haben« kann die Rezeption des Werkes ausmachen, sondern allein ein SichEinlassen auf jenen geschichtlichen Streit, der im Werk west. Bis hierhin scheinen Heideggers Überlegungen eine fruchtbare Perspektive der Medienkritik aufzuzeigen: Medienkommunikation ist eingestellt in die Welthaftigkeit, also Geschichtlichkeit des Menschen. Nicht etwas wird mitgeteilt, sondern das, was geschichtlich wird, entsteht erst im Prozess des Kommunizierens. Medien sind nicht Werkzeuge zur Intensivierung bestimmter Fähigkeiten (also nicht bloß Ausdehnungsmechanismen der kommunikativen Reichweite o. ä.), sondern weltenschaffende Mechanismen (vgl. Krämer 1998: 83ff.). Und dieser Prozess ist kein reiner Austausch von Zeichen oder Bedeutungen, sondern eine stofflich gebundene soziale Praxis, die stark von implizitem Wissen gekennzeichnet ist, sich also nicht vollständig propositional auflösen lässt. In ähnlicher Weise fassen trotz paradigmatischer Gegensätzlichkeit sowohl pragmatistische Handlungstheorien wie auch die Theorie sozialer Systeme Kommunikation. Was bleibt, ist jedoch die Frage nach dem Movens, die Heidegger mit dem Begriff Wahrheit indiziert. Folgt man dieser Frage, zeigt sich, dass der Praxisbegriff bei Heidegger letztlich
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abhängig ist von einem Moment der Unmittelbarkeit sowie der Vorstellung der Immer-Schon-Gegebenheit der Sprache. Obgleich er vom Dingcharakter des Kunstwerks ausgehen wollte, schränkt Heidegger die Bedeutung dieser Stofflichkeit letztlich doch stark ein. In der Gegenständlichkeit verwirklicht sich die Wahrheit, doch muss diese jener entrissen werden. Wahrheit kann nur am Stoff erscheinen, es ist aber das Werkhafte, nicht das Stoffliche, in dem diese Wahrheit letztlich steckt. Was steckt hinter dieser bemerkenswerten Einschränkung der Bedeutung des Stofflichen? Obgleich das Werk durch seine Gestalt, seine Selbstbezüglichkeit und seine Rezeption bestimmt ist, denkt Heidegger es weder vom Künstler, noch vom Medium noch vom Rezipienten her. Zentrum der Überlegungen ist der Begriff der Geschichtlichkeit, der im Ereignis kulminiert. An der Dichtung, die als »Wesen der Kunst« (Heidegger 1974: 63) bezeichnet wird, zeigt er die Form des Ereignisses auf: Im poetischen Stiften der Wahrheit erscheint Stiften dreifach: als Schenken, als Gründen und als Anfangen. Als Schenkung verweist das Stiften auf den Überfluss, der nie ausgeglichen werden kann, als Gründung und Anfangen ist das Stiften des Werkes ein unvermittelter Sprung, der das Kommende, das geschichtliche Werden, von Anfang an in sich trägt ohne es vorab zu entbergen (ebd.: 64). Kunst stößt Geschichte an, nicht indem sie irgendeine Ereignisfolge freisetzt, sondern indem »die Entrückung eines Volkes in sein Aufgegebenes als Einrückung in sein Mitgegebenes« (ebd.: 65) freisetzt. Am Paradigma der poetischen Sprache erweist sich die Pointe der Heideggerschen Überlegungen: Uns, wie er sagt, »einem Volk«, ist am Grund der Sprache »immer schon« ein gründender Überfluss mitgegeben, der sich im unvermittelten Ereignis zu entbergen versteht.
3 . P r ax i s v e r s u s E r e i g n i s Sprache als immer schon gegebenen Urgrund aller Bedeutung und aller möglichen Sinnverschiebung zu begreifen, ist bekanntlich im Programm des Strukturalismus und Poststrukturalismus konsequent weitergedacht worden. In dieser Tradition figuriert Sprache letztlich als ein System von Signifikanten, das aus seinen differentiellen Bewegungen heraus Bedeutung und Bedeutungsverschiebung generiert. Die Figur des Überflusses und Überschusses findet sich schon bei Lévi-Strauss (1989) ausformuliert, der meinte, jedes kulturelle System benötige sinnentgrenzte Zeichen vom Typ mana, um diesen Überschuss bändigen zu können. Weit stärker durchgearbeitet findet sich diese Überlegung bei Derrida (1988), der die Bedingung der Möglichkeit von medialer Kommunikation auf die dem 72
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Medium innewohnende Iterabilität zurückführt, auf die Möglichkeit des nichtidentischen Zitierens dessen, was im System der Sprache bereits angelegt ist. Ähnlich wie bei Heidegger besteht für Derrida (1993) das Wesen des Kunstwerks in seiner Maßlosigkeit: Es öffnet einen unbegrenzten Raum der Polysemie und Alterität, es erschließt die Zeit und die Geschichte, allerdings nur dann, wenn es selbstlos gegeben wird, wenn nichts in ihm bleibt von der Intentionalität des Künstlersubjekts. Die Theorieanlage ist also derjenigen Heideggers vergleichbar, aber durch zeichentheoretische Überlegungen zur Dissemination des Sinns qua differentiellen Spiels der Signifikanten erweitert. Dieses Potential Wirklichkeit werden zu lassen, macht sich die Derridasche Lektürestrategie der Dekonstruktion zur Aufgabe. Und genau hier tritt der normative Bezug wieder auf, der bei Heidegger im Begriff der Wahrheit aufgehoben war. Die Dekonstruktion nimmt für sich in Anspruch, ihrem Gegenstand, Texten also, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. »Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit«, sagt Derrida (1991: 30). Die dekonstruktive Medienkritik wird an dieser Stelle zur kritischen Kritik, zu einer Bewegung, in der Medien im Gebrauch zu Medien der Kritik werden: Die differenztheoretische Konstitutionstheorie der Bedeutung verlangt normativ gewendet nach einer Hermeneutik (auch wenn das dekonstruktive Lektüreverfahren sich terminologisch gegenüber der Hermeneutik abgrenzt), die die Differenzen ohne identifizierende Lesartenbildung zum Sprechen bringen kann bzw. identifizierende Lesarten im Zuge der Lektüre immer wieder aufs Neue verflüssigt. Anhand der verhandelten Ansätze konnten wir sehen, dass der Begriff der Medienkommunikation als soziale Praxis zumindest in einigen Perspektiven der Medienkritik erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Die Eigenlogik der Medien und ihrer Materialität verführt in der Theoriebildung dazu, unbedingte und unvermittelte Faktoren für das Kommunikationsgeschehen verantwortlich zu machen, seien diese nun die Strukturiertheit eines »immer schon« gegebenen Zeichensystems oder nicht weiter aufklärbare Sprünge, Risse und Ereignisse in der Zeit. Ähnliche Einwände könnte man wohl gegen die Sprachspiel-Theorien im Gefolge Wittgensteins, etwa gegen Lyotard geltend machen. Und trotz gegensätzlicher Anlage kennt auch Habermas’ Theorie kommunikativen Handelns einen immer schon gegebenen Urgrund der normativen Kritik, nämlich die irreduzible Verständigungsorientierung, die der Sprache innewohnen soll (zur Kritik vgl. Sutter/Weisenbacher 1993; Holz 1998).
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4 . K o m m u n i k ati v e r V e r w e i s u n g sü b e r sc h u s s Welche allgemeinen Merkmale medialer Kommunikation bereiten die genannten Schwierigkeiten? Es scheint insbesondere der Aspekt der beständigen Produktion von Verweisungsüberschuss in der Kommunikation zu sein, der zu unbefriedigenden Medienkritiken führt, die vom Unbedingten her argumentieren. Sprach- und zeichentheoretisch gewendet geht es darum, der konstitutiven Rolle nachzugehen, die Metapher und die Metonymie in der Medienkommunikation spielen. Folgt man Ricœr (1986: 27ff.), so ist die Metapher von Grund auf als Kategorienüberschreitung zu kennzeichnen: Nicht ein Wort ist eine Metapher, sondern das Verhältnis zwischen mindestens zweien; dieses Verhältnis ist gestört, es existiert eine Abweichung von der logischen Ordnung; schließlich, diese Abweichung ist letztlich keine wirkliche Abweichung, sondern folgt denselben Prinzipien wie die logische Ordnung, m. a. W., am Grunde der logischen Klassifikation liegen stets Metaphern. Die Eigentümlichkeit dieser Tropen besteht nun gerade darin, Sprache über den Bereich des geschlossenen, begrifflich-identifizierenden Gebrauchs hinauszuführen (vgl. auch Lenk 2000: 269ff). Metaphorisch-metonymisches Sprechen heißt Lacan (1991) zufolge stets auch, den Gegenstand der Rede zu verfehlen und zu entstellen. Man bezeichnet im Reden, meist ohne es zu wissen, stets auch das, was man nicht sagt. Erst hierdurch gelingt es der Kommunikation, jene Fluidität, Komplexität und Beweglichkeit zu erlangen, die nicht enden wollende Anschlüsse ermöglicht. In den differentiellen Theorien der Sprache, wie sie im Anschluss an de Saussure und den Strukturalismus vom Poststrukturalismus entworfen wurden, speist sich die unendliche Generierung von Verweisungsüberschuss aus dem Medium selbst. Syntagmatische und paradigmatische Beziehungen zwischen den Signifikanten generieren unendliche Bedeutungsketten, die zu Bedeutungsverschiebungsketten werden. Für Lacan im Anschluss an Jakobson stehen hierbei die Leistungen der Metapher und der Metonymie im Vordergrund, weil sich hier ein Spiel von Verweisungen auf Abwesendes vollzieht, das scheinbar nicht semantischen, sondern rein differentiell-signifikativen Zusammenhängen folgt (hierzu ausführlicher: Wenzel 2000 b). Mit dieser Denkbewegung sucht der Poststrukturalismus sich aus jenem »repräsentationalen Sumpf« (Brandom 2001: 20) zu befreien, der in der Philosophie nach dem linguistic turn so degoutant ist. Um das Phänomen des Verweisungsüberschusses kommunikationstheoretisch zu fassen, scheint mir jedoch der Verweis auf immer schon präexistente differentielle Beziehungen zwischen den Signifikanten ebenso unnötig zu sein wie die traditionelle Lehre von den semantischen Relationen, die die Tropen ermöglichen. Strukturtheoretisch gesprochen 74
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handelt es sich bei metonymischen und metaphorischen Beziehungen um basale Elemente klassifikatorischer Beziehungen. Es geht hier um Ordnungsbeziehungen, Einschachtelungen und Entsprechungsverhältnisse, und das heißt soziologisch gesprochen eben nicht um inhärente Beziehungen dieser Art zwischen spezifischen Signifikanten oder Bedeutungen. Vielmehr geht es um eine Praxis der Klassifikation und Koordination zwischen basalen Elementen, die deren scheinbar inhärenten Zusammenhang erst stiftet. Diese Praxis ist im Zusammenhang der Medienkommunikationsanalyse auf drei Ebenen zu konzeptualisieren: Auf der Ebene massenkommunikativer Anschlüsse, auf der Ebene interaktiver Anschlüsse und auf der Ebene der Rezeption (vgl. Sutter 1999: 290 f.). Für alle drei Ebenen, auch die erstgenannte – interaktionsfreie – Ebene der Massenkommunikation, gilt jedoch, dass die in ihnen prozedierenden semiotischen Formen aus strukturgenetischer Sicht nur mit Blick auf die basalen vorsprachlichen logischen Koordinationen zu rekonstruieren ist, wenngleich der Blick sich selbstverständlich noch auf andere Bedingungs- und Entstehungszusammenhänge richten muss. Entwicklungspsychologische Studien zeigen beispielsweise auf, dass Kleinkinder im Unterschied zu nicht-menschlichen Primaten bereits lange vor dem Spracherwerb logische Operationen zweiter Ordnung ausführen, das heißt unterschiedliche logische Beziehungen, beispielsweise Entsprechungsverhältnisse, aufeinander zu beziehen wissen (vgl. Langer 1994). Hierdurch eröffnet sich die Möglichkeit, Handlungsschemata zu verinnerlichen und in der Folge noch flexibler aufeinander zu beziehen. Im Vorfeld des Spracherwerbs werden dessen Grundlagen gelegt, und dies umschließt eben nicht nur physiologische Artikulationsfähigkeit oder Deixis. Vielmehr umfasst die vorsprachliche Entwicklung exakt jene Elemente, die den Kern der Fluidität und Flexibilität der Kommunikation qua symbolischer Medien ausmachen. Mit der Fertigkeit zur hierarchischen Verkettung, Einschachtelung und der Konstruktion von Entsprechungsverhältnissen werden in einer leiblichen Praxis, und nicht in einer angeblichen Ordnung der Signifikanten, die Grundlagen für metonymischen und metaphorischen Sprachgebrauch gelegt (vgl. Wenzel 2000 a: 228ff.). Für die Theorie der Massenkommunikation, Anschlussinteraktion und Rezeption hat dies Konsequenzen: Auch in hochgradig differenzierten Gesellschaften noch ist die leibliche Praxis stets involviert und geht mit den kommunikativen Praktiken und den Prozessen des Bewusstseins konstitutionslogische Verbindungen ein.3 Gerade weil es sich um drei eigensinnige, nicht auf3
Von einem anderen – phänomenologischen – Ausgangsort ausgehend kommt Becker (2003) zu vergleichbaren Bestimmungen des Verhältnisses zwischen leibgebundenem und zeichenhaftem Weltzugang. Vgl. auch Joas (1996:
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einander zu reduzierende Ebenen handelt, stellen sie sich wechselseitig Reibungsflächen zur Verfügung.
5 . M e d i e n m a te r i al i t ä t Es bleibt ein Aspekt von Verweisungsüberschüssen, der eng an das Medium gebunden zu sein scheint, allerdings nicht auf der Ebene der Signifikanten oder der Ebene von Bedeutungen, sondern auf der Ebene der Materialität selbst. Die Materialität eines Mediums geht einerseits als Bedingungszusammenhang in jedwede Kommunikation ein, gehört aber andererseits zu dem, was in der Regel ignoriert werden muss, um sie am Laufen zu halten. Wir können nicht beständig hören, dass etwas gesagt wird, wenn wir gleichzeitig verstehen wollen, was gesagt und wie man antworten könnte. Umso auffälliger ist es, wenn die Tatsache, dass kommuniziert wird, in den Vordergrund tritt, meist als Unerwartetes, mitunter als Anstößiges. Das Medium wird dann als »blinder Fleck im Mediengebrauch«, als seine nicht kontrollierte Verwendungsspur (Krämer 1998: 73f.) sichtbar. Wenn in der medialen Kommunikation »Reste« generiert werden, Spuren des Mediums in der Botschaft also, so treten diese dem zeitgenössischen Mediendenken als Spuren einer eigenlogischen, dem instrumentellen und hermeneutischen Zugriff sowohl der Kommunikation als auch des Subjekts entzogenen Realität entgegen. Elemente der Kommunikation, die ihrem dominanten Ordnungsmuster entfliehen, symbolisch nicht kontrolliert werden können und sich als Quelle von Brüchen, Irritationen, Ambivalenzen und Inkonsistenzen entpuppen, figurieren somit als das andere der Kommunikation und des Bewusstseins, als das »Reale« in Lacans (1987) Begriffsfassung. Roland Barthes (1989) hat – an Lacan anschließend – in seiner Studie zur Photographie die Begriffe studium und punctum für die Unterscheidung von Ordnungsmustern und Irritationsquellen geprägt.4 Studium meint hierbei jene Bildelemente, die konventionelle Informationen übermitteln und es dem Betrachter erlauben, zum Beispiel einen historischen oder politischen Sachverhalt zu »studieren«, also mit besonnenem Fleiß in sein Wissen einzuordnen. Das studium ist dementsprechend Produkt des gesellschaftlich wirksamen Codes, es übermittelt einen allgemeinverständlichen Blickwinkel oder eine Information. Das punctum demgegenüber bricht unversehens aus
4
218 ff.). Konstitutionslogische Zusammenhänge zwischen leibgebundenen Assoziations- und Klassifikationsmustern, wie sie im Verlauf ontogentischer Entwicklung auftreten, und massenmedialen Formensprachen lassen sich etwa am Beispiel der Musikvideo-Clips aufzeigen (vgl. Wenzel 1999). Vgl. hierzu ausführlicher Wenzel (2000 b).
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dem Bild hervor und hinterlässt unvorhersehbare Spuren, gar Verletzungen beim Betrachter, indem es seinen distanzierten und objektivierenden Blick durchkreuzt. Im Vollsinne des Wortes »besticht« es den Betrachter. Im Kontext alltäglicher Interaktionen ist die Materialität der Kommunikation vor allem an den Körper gebunden, genauer an die visuellen, auditiven, olfaktorischen, taktilen und gustatorischen Perzeptionen, die das Hören begleiten. Diese Körperlichkeit der Interaktion ist unter normalen Umständen der Wahrnehmung entzogen, insofern sie hinter den sprachlich vermittelten Sinn zurücktritt. »Der Körper wird damit gewissermaßen sozial bzw. medial absorbiert« (Hausendorf 1997). Ausschließlich in spezifischen, institutionell gerahmten Kontexten wird eine aufscheinende Körperlichkeit des Sprechens beachtet und akzeptiert, so etwa beim Lallen des Kleinkindes, das in der Rahmung »Sprechen-Lernen« steht, oder bei der Betrachtung künstlerischer Darstellungen (Theater), bei der artifizielle Intonation als legitimes Stilmittel begriffen wird. Außerhalb solcher sozial verbürgter Rahmungen wird die Wahrnehmung von Körperlichkeit in der Interaktion tendenziell zu einem kommunikativ zu lösenden Problem. In der Alltagspraxis besteht die Lösung darin, Körperlichkeit als Ressource für Stil zu nutzen, indem spezifische Weisen des Sprechens und nonverbale Phänomene zur Reproduktion bestimmter Kommunikationstypen beitragen. Unübersehbare Körperlichkeit der Kommunikation kodiert erwartbare kommunikative Anschlüsse. Dies gilt sowohl im Alltag als auch in den Massenmedien, wie zahlreiche ritualisierte nonverbale Elemente bei der Gestaltung des Sprechens im Radio und Fernsehen lehren.5 Zwischen der Instrumentalisierung und mithin Maskierung des Körpers in der Kommunikation und der Nutzung des Körpers als Ressource für Stil bleibt allerdings genug Raum für die Präsenz »reiner«, nicht-kodierter Körperlichkeit in der Interaktion, sei dies nun eine eigentümliche Intonation eines Sprechers oder sein Schielen bei der Aufnahme von Blickkontakt. Entlang dieser skizzenhaften Überlegungen zur Materialität der Kommunikation sollte deutlich geworden sein, dass die Medienkritik sich nicht allein den Zeichen- und Symbolgebrauch zum Gegenstand machen darf. Kommunikationsmedien übermitteln stets auch symbolisch »uncodierte« Realität, deren phänomenaler Gehalt sich einer reinen Zeichen- und Bedeutungsanalyse nicht erschließt. Die Schlussfolgerung fällt widersprüchlich aus: Auf der einen Seite stellt diese nicht-kodierte Medienmaterialität Ressourcen für Authentizitätsinszenierungen und -fiktionen bereit (etwa im Modus emphatischer Parasozialität). Diese Ressourcen entkräften sich freilich im Zuge zunehmender Stilisierung. Auf der 5
Zum Inszenierungscharakter zeitgenössischer Medienkultur vgl. die Beiträge in Müller-Doohm/Neumann-Braun (1995).
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anderen Seite verbleibt wohl tatsächlich ein Rest ungerichteter, »offener« Materialität, der Anlass zu überraschenden und ggf. widerständigen Kommunikations- und Rezeptionsanschlüssen geben kann, letztlich also Anlass zu Entwicklungsprozessen auf der Ebene der Strukturen.
6 . Re sü m ee Die Kritik der Medien und die Medien der Kritik wurden als Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit medialer Kommunikation thematisiert, die Argumentation konnte nicht mehr als einige Leitlinien skizzieren. Im Zentrum der Überlegungen standen zwei Phänomene, das der kommunikativen Eigenlogik und das der Sinnüberschüsse. Die Rede von der Eigenlogik der Kommunikationssysteme, so lässt sich das Resultat zusammenfassen, muss gegen zwei Missverständnisse abgegrenzt werden: Zum einen resultieren die Spezifika der jeweilig realisierbaren und realisierten Anschlüsse nicht aus einer Logik des Mediums, sondern vielmehr aus den Koordinations- und Verkettungsleistungen der kommunikativen Praxis selbst, in die die Materialität des Mediums als Bedingung eingeht. Mehrdeutigkeit beispielsweise ist keine Eigenschaft eines Satzes, sondern seiner in der gesellschaftlichen Praxis eingeübten und akzeptierten Anschlüsse. Zum anderen kann die Ausdifferenzierung von Kommunikationssystemen keineswegs zur vollständigen wechselseitigen Schließung führen, weil für alle Kommunikationssysteme die Verflechtung mit Prozessen auf der Ebene des Bewusstseins und der Leiblichkeit konstitutiv sind, die mit zu den Ermöglichungsbedingungen des differentiellen, fluiden und beweglichen Spiel der Zeichen gehören. Die Konzeptualisierung des zweiten Phänomens, dem der Überschussproduktion von Sinn, der alltäglichen Überschreitung von Sinngrenzen, stellt, so haben wir gesehen, in entscheidender Weise die Weichen für die Beurteilung der Möglichkeit normativer Kritik der Medien bzw. in den Medien. Die Produktion bzw. das Geschehnis des Sinnüberschusses stellt ein umkämpftes theoretisches Konzept dar, das mit über die Architektur von Kommunikationstheorien entscheidet. Historisch entsteht die medien- und kommunikationstheoretische Fassung dieses sehr alten Problems, des Problems der Bedingungen der Möglichkeit der Entstehung des Neuen, mit der Reflexion über die Heterogenität von Sinnstrukturen im Gefolge der neuzeitlichen Erfahrung sozialer Differenzierung und beschleunigten historischen Wandels sowie der mit diesen Prozessen verbundenen Mediendifferenzierung. Die Eigenlogik der Kommunikation und ihrer Medien, so das neue Verständnis, schreibt sich 78
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in die Potentiale der Sinn- und Sinnüberschussproduktion ein. Kommunikation, Medien und Welt stehen im Verständnis von Neuzeit und Moderne in einem wechselseitigen Bedingungsgeflecht, so dass der sinnhaften Kommunikation eine weltenschaffende Qualität zugesprochen werden muss. Der Medienkritik stehen zwei entgegengesetzte Wege offen: Sie kann entweder auf einen einzigen Mechanismus abstellen, der sowohl die Produktion des weltenschaffenden Sinnüberschusses, als auch Kriterien für dessen normative Triftigkeit erklären soll. Wie gesehen, führt dieses Vorgehen jedoch notwendig zum Postulat eines »immer schon« gegebenen Urgrundes der Kommunikation, der letztlich den Raum der Geschichte, den Raum der Entstehung des Neuen öffnet, sei es im Vollzug immer schon gegebener universaler Regeln (Oevermann), sei es im Vernehmen und Bewahren des Gegebenen im nicht weiter aufklärbaren Ereignis (Heidegger, Derrida). Oder aber, und dies richtet sich gegen Konzeptionen eines sinngenerativen Urgrundes der Kommunikation, die Medienkritik thematisiert den Konstitutionsmechanismus von Sinnüberschuss getrennt von der Frage nach dem normativen Maßstab der Kritik. In dieser begrifflichen Aufgliederung treffen sich strukturrekonstruktive Handlungstheorie und die Theorie sozialer Systeme. Die sich normativ begründende Kritik kann in der Folge dieser grundlagentheoretischen Entscheidung eine Herleitung aus der Konstitutionsanalyse nicht länger in Anspruch nehmen. Gleichwohl gestattet das Verfahren einer historisch-empirische Rekonstruktion zumindest eines: auf verschüttete Chancen gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse hinzuweisen, auf Alternativen, nicht vollzogene Abzweige, die sich in der Geschichte selbst auffinden lassen, sobald man die Pfade zur Gegenwart rekonstruktiv verständlich macht.
L i t e r at u r Barthes, Roland (1989): Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Becker, Barbara (2003): »Philosophie und Medienwissenschaften im Dialog«. In: Stefan Münkler/Alexander Roesler/Mike Sandbothe (Hg.), Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt/M.: Fischer, S. 91-106. Brandom, Robert B. (2001): Begründen und Begreifen. Eine Einführung in den Inferentialismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Derrida, Jacques (1988): »Signatur Ereignis Kontext«. In: Ders., Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen, S. 291-314.
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ZUR ARCHÄOLOGIE DER MEDIENNUTZUNG. Z U M Z U S A M M E N H A N G V O N W I S SE N , M A C H T U N D M ED I E N IRMELA SCHNEIDER Bekanntlich beginnt Niklas Luhmann seine Studie »Realität der Massenmedien« mit der Behauptung: »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien« (Luhmann 1996: 9). Luhmann unterscheidet sich mit seinem ersten Satz von all den Zunftgenossen, die meinen, sie könnten, wenn es um Wissen und Welt, um Weltwissen geht, die Rolle der Massenmedien vernachlässigen. Allerdings ist diese fulminante Eröffnung nicht allzu belastbar: Nimmt man Luhmanns Werk insgesamt, dann spielt dieser so programmatisch klingende Satz eher eine Nebenrolle. Auch Luhmann handelt vom Weltwissen häufig ohne die Massenmedien so prominent zu platzieren wie in seiner Realität der Massenmedien und wie es aus einer medienwissenschaftlichen Perspektive angezeigt ist. Wenn es in Luhmanns Gesellschaftstheorie um Massen- bzw. – so die Bezeichnung, die Luhmann bevorzugt – um Verbreitungsmedien geht, dann geht es vor allem um die evolutionären Errungenschaften von Sprache, Schrift und Druck und weniger um Medien als Verfahren, als Operatoren, die Wissen »über die Welt, in der wir leben«, generieren. Der zitierte Satz gibt Anlass zu einer weiteren Beobachtung. Wenn es in einem ersten Schritt um Wissen und Welt geht, dann interessiert im zweiten Schritt und in den weiteren Überlegungen häufig nur noch die Welt. Das Doppel Welt/Wissen wurde lange Zeit in zahlreichen Diskursen zur verkürzten Frage, was man denn über die Welt und ihre Geschicke weiß. Erst in jüngerer Zeit1 spielt die Frage danach zunehmend eine Rolle, wie denn das Wissen, über das man verfügt, jeweils zustande kommt, fabriziert, organisiert wird und Bestand erhält. Gefragt wird in solchen Studien danach, wie die Kopplung von Medien und Wissen theoriegeleitet zu fassen ist und vor allem welche Differenzierungen diese Kopplung, bezogen auf unterschiedliche Speicher- und Verbreitungsme1
Und man mag darin einen der Effekte sehen, die die Beschreibung der gegenwärtigen Gesellschaft als Mediengesellschaft hat.
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dien, auszeichnen. Die Ausgangsfrage lautet: Wie lässt sich begreifen, dass, wenn es um Medien und Welt geht, das Wissen quasi wie selbstverständlich dazugehört. Wo lassen sich für den Medienarchäologen Spuren davon ausmachen, dass Medien und Wissen mittlerweile ›ihrer Natur nach‹ ein Paar bilden, gleichursprünglich sind. Die Frage danach, wie beide ein Paar wurden und wie die Karriere dieses Paares verlaufen ist, verweist auf den Zusammenhang der folgenden Überlegungen mit meinem Projekt einer Genealogie der Mediennutzung.2 Im Folgenden gehe ich in drei Schritten solchen genealogischen Spuren nach: Es geht erstens um einige Überlegungen zum allgemeinen Zusammenhang von Wissen und Medien – und dies lenkt den Blick darauf, welcher Medienbegriff für eine solche Kopplung leitend ist. Der zweite Schritt führt zum Zusammenhang von Medien und Wissensordnungen. In einem dritten Schritt gehe ich der Frage nach dem mittlerweile untrennbaren Paar von Wissen und Medien aus einer nochmals anderen und für die Kopplung ganz wichtigen Perspektive nach: es geht jetzt um genealogische Spuren, die in den Zusammenhang von Medien, Wissen und Macht führen.
1 . W i ss e n u n d M e d i e n – B e g r i f f s k l ä r u n g e n Daniel Bell definiert Wissen als eine »Menge organisierter Aussagen über Fakten und Ideen« (Bell zit. n.: Knorr Cettina 2002: 17). Ich blende die schwierige Referenz-Frage aus, die eine Kategorie wie Fakten aufruft. Für meinen Zusammenhang von Interesse ist vielmehr, dass Bells knappe Definition bereits auf einen wichtigen Grund für die nachhaltige Verknüpfung von Medien und Wissen aufmerksam macht: Wissen ist, so Bell, an Organisation, an Ordnung, an Formgebung3 gekoppelt. Aussagen allein konstituieren kein Wissen. Aussagen müssen vielmehr, um Wissen zu werden, in eine Ordnung, in Form gebracht werden. Und diejenigen Erfindungen, Muster, Rasterungen und Verfahren, die solche Ordnung stiften, operieren als Medien. Ich bestimme Medien also weder substantiell noch essentialistisch. Es geht weder um eine kulturalistische noch um eine technizistische Definition von Medien, sondern um die 2
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Dieses Projekt verfolge ich im Rahmen eines Forschungsprojekts über »Sondierungen der Mediennutzung«, das ich im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg »Medien und kulturelle Kommunikation« an der Kölner Universität durchführe. Das Konzept der Archäologie bzw. Genealogie geht auf Michel Foucault zurück. Nach Walter Seitter hat Foucault die Kategorie der Archäologie seit seinem zentralen Nietzsche-Essay in »Genealogie« »um[ge]tauft« (vgl. Seitter 1996: 103). Diese Formulierung spielt an auf Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form.
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Frage nach der operativen Logik von Medien.4 Eine solche operative Logik ist einem Wissensbegriff, wie ihn Bell vertritt, eingeschrieben, ohne dass dies allerdings deutlich und explizit wird. Eine erste Antwort lautet: Medien operieren immer dort und dann, wenn Ordnung, Organisation, Formgebung konstitutiv ist, um kommunikative Anschlussfähigkeit zu erreichen. Und das heißt: Wenn man von einer weiten Bedeutung des Begriffs der Regierung ausgeht und darunter die Art und Weise versteht, »in der das Benehmen von Individuen oder Gruppen gelenkt wurde« (Foucault 1996: 37), dann bilden Medien eine Regierungstechnik, indem sie Ordnungen generieren. Mediendifferenzen zu ermitteln, heißt dann, die Unterschiede solcher Regierungstechniken, der Prozessierung von Ordnung zu benennen. Medien grundierte Ordnungen – das ist entscheidend für den Konnex von Wissen und Medien – stiften keineswegs etwas Sekundäres, stellen keine Ordnung für etwas her, was es auch ohne Ordnung schon gegeben hat. Aussagen, Medien und Wissen folgen keinem Zeitschema, das durch eine konsekutive Reihung definiert ist. Die Trias Aussagen/Medien/Wissen lässt sich nicht einteilen in ein Primäres, Sekundäres und Tertiäres; sie konstituiert sich vielmehr im wechselseitigen Bedingungsverhältnis ihrer drei Elemente. Jedes Element dieser Trias erhält seine Position allein in Relation zu den anderen beiden Elementen. Ich erläutere die Trias von Aussagen/Medien/Wissen an einem schlichten Beispiel, nämlich am Medium der Liste, einem der ältesten Medien überhaupt. Auf den bis zu 5000 Jahre alten Listen, die Archäologen bislang gefunden haben, sind z.B. Viehbestände verzeichnet. Die am meisten vollständige Liste, die Archäologen bislang gefunden haben, ist eine Schweineliste. Wie lässt sich der Zusammenhang von Aussagen über Fakten/Ideen, Medien und Wissen an einer solchen Schweineliste erläutern? Das Wissen um Schweine erhält, wenn es als Liste organisiert ist, keineswegs eine sekundäre Ordnung, sondern die Liste formiert allererst ein Wissen von Schweinen als einer in Quantitäten messbaren Größe, als Zählbares. Die Liste operiert hier als Medium, das – wenn man auf Bells Definition rekurrieren will – ›Fakten‹ in eine Ordnung transformiert und auf diese Weise ein spezifisches Faktenwissen konstituiert. 4
Vgl. zur operativen Logik der Medien Jäger (2004: 69-79). Jäger pointiert die Revision der Fragestellung, wenn er nicht nach dem »was«, sondern dem »wann« von Medien fragt. In Bezug auf Wissen hat vor allem Joseph Vogl die Frage nach der operativen Logik formuliert. Vgl. Vogl (2004: 15): »›Wissen‹ ist also weder Wissenschaft noch Erkenntnis, es verlangt vielmehr die Suche nach operativen Faktoren und Themen, die auf verschiedenen Territorien wiederkehren, jeweils eine konstitutive Position darin besetzen und doch keine Einheit und keines Synthese des Gegenstands unterstellen.« Es geht nicht um die »Wahrheit der Aussagen«, sondern um »Verfahren und Regeln [...], die gewisse Aussagen ermöglichen.«
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Es macht einen wichtigen Unterschied, ob Schweine als Tiere, die gefüttert werden müssen, bezeichnet werden, oder ob die Anzahl der Schweine aufgelistet ist. Denn allererst die Liste, aus der die Anzahl hervorgeht, schafft die Voraussetzung für soziale Organisationsformen wie Tausch oder Handel. Und dies heißt: Medien als Prozessoren von Ordnung, als Regierungstechnik sind zugleich ein Machtfaktor, eine Ordnungsmacht. Und dies seit rund 5000 Jahren. Als ein erstes kleines Ergebnis zur Frage nach dem Wissensbegriff im Zusammenhang von Medien und Wissen ergibt sich: Die Frage, warum Wissen und Medien mittlerweile ihrer Natur nach ein Paar bilden, findet eine Antwort in Bells technischem Wissensbegriff, wenn er Wissen als eine »Menge organisierter Aussagen über Fakten und Ideen«, also als eine geordnete Angelegenheit bestimmt. Als Ordnungsprozessoren funktionieren weder Fakten noch Ideen, sondern als solche fungieren Medien. Medien konstituieren das Verfahren, das Ordnung generiert. Wichtig ist: Fakten und Ideen lassen sich ohne Ordnung weder bezeichnen noch wissen. Sie werden also nicht nur geordnet, sondern im Prozess des Ordnens zugleich auf eine bestimmte Weise auch hergestellt. Fakten bzw. Ideen und die Ordnung prozessierende Operation des Mediums gehören konstitutiv zusammen. Das erzeugt den Eindruck, Medien und Wissen seien von Natur aus ein Paar. Das sind sie zwar und als solches auch untrennbar, aber das hat nichts mit ihrer Natur zu tun. Das ist vielmehr ein Effekt der kulturell gegründeten Signifikationspraxis, die – und das markiert die Bezeichnung »von Natur aus« – nicht immer aufs Neue bewusst gewählt werden kann.5 Ein zweites Zwischenergebnis zeichnet sich ab, wenn man sich an Platons »Phaidros« – aus der Sicht von Regis Debray eine Art Gründungstext der Mediologie (Debray 2003: 51ff.) – und die dort formulierte Schriftkritik erinnert: Seit Platons Schriftkritik werden einschneidende Veränderungen der medial produzierten Ordnung von Kommunikation als eine Veränderung der Ordnung des Wissens verhandelt. Genauer: es handelt sich um eine Veränderung nicht nur der Ordnung des Wissens, sondern der Beziehung, der Interrelation zwischen Aussagen, Medien und Wissen. Wissen gab es nicht einfach früher anders und jetzt neu ge5
Vgl. Leibniz (zit. nach: Weinrich 2004: 125): »Es ist bei dem Gebrauch der Sprache sonderlich zu betrachten, daß die Worte nicht nur der Gedanken, sondern auch der Dinge Zeichen sind, und daß wir Zeichen nötig haben, nicht nur unsere Meinung andern anzudeuten, sondern auch unsern Gedanken selbst zu helfen. Denn gleichwie man in großen Handelsstädten, auch im Spiel und sonsten nicht allezeit Geld zahlet, sondern sich an dessen Statt der Zettel oder Marken bis zur letzten Zahlung oder Abrechnung bedienet: also tut auch der Verstand mit den Bildnissen der Dinge, zumal wenn er viel zu denken hat, daß er nämlich Zeichen dafür brauchet, damit er nicht nötig habe, die Sache jedes Mal, sooft sie vorkommt, von neuem zu bedenken.«
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ordnet, sondern die Relationen der Trias werden durch die Schrift neu justiert. Dieser Sachverhalt ließe sich für den mittlerweile gut erforschten und doch immer noch kontrovers verhandelten Unterschied zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit aufzeigen. Mittlerweile stellt sich für diese Differenz durchaus die Frage, ob der Unterschied zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit sich tatsächlich in den Unterschieden konzentriert, die lange Zeit aus Platons Schriftkritik abgeleitet wurden. Auf die Frage nach der Differenz zwischen mündlichen und schriftlichen Gesellschaften gibt es in Claude Lévi-Strauss’ »Schreibstunden«, von denen er in den »Traurigen Tropen« erzählt, eine etwas anders akzentuierte Antwort, als wir sie gewohnt sind. Lévi-Strauss erzählt nämlich, dass die Frage der Macht nicht an die tatsächliche Kompetenz des Schreibens gekoppelt ist, dass vielmehr die Simulation und Erwartung dieser Kompetenz ausreicht (vgl. Lévi-Strauss 1999: 288-300).6 Die den Vater mordende Schrift Platons setzt den der Schrift Kundigen voraus. Der Häuptling der Nambikwara in Lévi-Strauss’ »Schreibstunden« tut nur so, als könne er schreiben, als fertige er eine Liste an. Der Akt der Simulation verschafft ihm seine besondere Stellung, seine potentielle Gleichstellung mit dem Anthropologen. Die Simulation der Macht über die Liste, diese List der Macht durch eine Liste verleiht dem Häuptling seinen besonderen Rang. Macht über Medien, auch ihre Simulation, und die Macht der Medien, das lehren Lévi-Strauss’ »Schreibstunden«, bedingen sich wechselseitig.
2. Veränderungen der Wissensordnungen Seit Platons Schriftkritik heißt eine bekannte These, Wissensordnungen verändern sich, wenn sich Medienordnungen ändern.7 Die Frage nach 6
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Lévi-Strauss erzählt, dass er, obwohl er wusste, dass die Nambikwara nicht schreiben können, gleichwohl Papier und Bleistift verteilte. Die meisten versuchten, den Bleistift so zu benutzen, wie sie es bei Lévi-Strauss beobachten konnten und zeichneten horizontale Wellenlinien auf das Papier, ließen es dann aber bei diesem Bemühen bewenden: »[...] aber der Häuptling sah weiter. Wahrscheinlich hatte er als einziger die Funktion der Schrift begriffen. So hat er mich um einen Notizblock gebeten, und wenn wir nun zusammen arbeiten, sind wir gleichartig ausgerüstet. Er gibt mir die Informationen, um die ich ihn bitte, nicht mündlich, sondern zeichnet Wellenlinien auf sein Papier, die er mir dann vorzeigt, so als fordere er mich auf, seine Antwort zu lesen. [...] Was versprach er sich davon? Vielleicht wollte er sich selbst täuschen; wahrscheinlicher aber seinen Gefährten imponieren, sie davon überzeugen, daß er den Austausch der Waren vermittelte, daß er bei dem Weißen gut angeschrieben und in seine Geheimnisse eingeweiht war (Lévi-Strauss 1999: 288f.).« Vgl. zu Platons Schrift-Kritik, die in den vergangenen Jahren nicht nur im Zusammenhang mit Fragen nach Medien- wie Wissensordnungen, sondern auch
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solchen Veränderungen führt in vier grundlegende Achsenzeiten, die mit Veränderungen der Medienordnung und das meint: mit Veränderungen jener Verfahren, die Ordnung generieren, verbunden sind. Vereinfacht heißt die Ausgangsfrage: Wie ändern sich Wissensordnungen, wenn Medienordnungen neu konfiguriert werden? In diesem Zusammenhang bleibt nur Raum für einen skizzenhaften und damit verkürzten Überblick über diese vier Achsenzeiten und die wichtigsten Veränderungen, die damit verbunden sind. Mit dem Dekret, das die Alphabetschrift einführte, wurden die Voraussetzungen für eine Reihe grundlegender Veränderungen geschaffen, die sich dann allmählich herausbildeten. Die folgende Aufzählung nennt aus einer Fülle von Aspekten die wichtigsten: Die Alphabetschrift als externes Speichermedium ermöglicht die Unterscheidung zwischen überprüfbaren Wahrheiten (episteme) und bloßer Meinung (doxa). Mit der auf der Basis von Schriftlichkeit möglichen Unterscheidung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit diversifizieren sich unterschiedliche Kommunikationsformen. Schriftlichkeit schafft die Dispositionen für politische Zentralisierung und die Entstehung eines politischen Arkan-Wissens. Sie führt zur Systematisierung und Rationalisierung des Wissens. Sie bildet die Voraussetzung für die Unterscheidung zwischen Funktions- und Speicher-Gedächtnis.8 Sie formiert die Bibliothek als Dispositiv des Wissens. Alle diese Veränderungen erfolgen in einem langen historischen Prozess. Mit der Reproduktionstechnik des Buchdrucks wird die Standardisierung von Schreib- wie Drucktechniken möglich und notwendig. Jetzt werden Regeln des richtigen ›Schreibens‹ (was sich jetzt immer mehr auf das Gedruckte bezieht), der Orthographie, aufgestellt. Es bilden sich neue Verfahren der Zirkulation von Aussagen. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert rückt die Frage der Zirkulation und des Zugangs von Aussagen ins Zentrum. Daraus resultiert als eine Konsequenz, dass Kontrolle sich jetzt nicht länger in erster Instanz »auf den Inhalt der Aussage, auf ihre Konformität oder Nichtkonformität mit einer bestimmten Wahrheit, sondern auf die Regelmäßigkeit der Äußerungen bezieht« (Foucault 1999: 219). Diese »eine erhöhte Möglichkeit der Aussagenzirkulation« lässt Wahrheiten viel schneller veraltern und damit ergibt sich »eine epistemologische Aufhebung der Blockade«: »Wie die Orthodoxie, die sich auf den Inhalt der Aussagen bezog, der Erneuerung des Bestandes an wissenschaftlichem Wissen hinderlich sein konnte, so hat die Disziplinierung auf der Ebene der Äußerungen umgekehrt die Erneuerung der Aussagen mit erhöhter Geschwindigkeit möglich gemacht. Wenn Sie so
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mit Fragen nach einer Schrifttheorie zunehmend Aufmerksamkeit gefunden hat, Schneider (2000: 25-38). Vgl. zu dieser Unterscheidung z.B. Assmann/Assmann (1994: 114-140).
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wollen, sind wir von der Zensur der Aussagen zur Disziplin der Äußerung oder, noch besser, von der Orthodoxie zu etwas übergegangen, was ich ›Orthologie‹ nennen würde und die Form der Kontrolle ist, die nun auf der Basis der Disziplin ausgeübt wird« (Foucault 1999: 220). Damit lässt sich das 18. Jahrhundert nicht länger allein als ein Jahrhundert der Aufklärung bestimmen; es ist zugleich »das Jahrhundert der Disziplinierung der Wissen« (Foucault 1999: 217).9 Es bilden sich neue, in dieser Reproduktionstechnik fundierte Konzepte der Erziehung wie des Lernens. Unterscheidungen wie die zwischen öffentlich und privat werden auf veränderte, auf neue Weise bestimmt und relevant. Die Herausbildung wissenschaftlicher Disziplinen und einer wissenschaftlichen Gemeinschaft setzt die Zirkulation und den Zugang zu Druckschriften, zu Büchern und Zeitschriften voraus. Zentrales Dispositiv des Wissens ist die Bibliothek. Angesichts der Steigerung in der Zahl und Zirkulation der Bücher sowie in der Verbreitung von Zeitschriften formieren sich bereits im 18. Jahrhundert Diskurse, die aus unterschiedlichen Perspektiven genau diese Medienentwicklung problematisieren. Das, was Foucault als »Genealogie der Wissen« im 18. Jahrhundert bezeichnet und was als »Fortschritt der Aufklärung«, als »Kampf des Wissens gegen Unwissenheit« beschrieben und als »Vertreibung der Dunkelheit durch das Tageslicht«, eben als Aufklärung, symbolisiert worden ist, muss gerade auch mit Blick auf solche Diskurse als »Formenvielfalt« und als ein zunehmender Kampf innerhalb dieser Vielfalt gezeichnet werden (Foucault 1999: 213). Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts differenziert sich dann das, was im 20. Jahrhundert mit den Kategorien Massenmedien und Massenkommunikation bezeichnet wird, weiter aus. Während im 18. Jahrhundert die Universität die Auswahl und Homogenisierung der verschiedenen Wissensformen noch übernommen hat, so vervielfältigen sich auf der einen Seite im Laufe der nächsten beiden Jahrhunderte jene Instanzen, die diese Kontrollfunktion übernehmen, auf der anderen Seite schreitet der Prozess der Normalisierung solcher verstreuten Wissensformen fort, was heißt: Wissen und jene, die es innehaben, passen sich einander an, kommunizieren untereinander und werden zunehmend austauschbar (vgl. Foucault 1999: 213). Es entsteht im Laufe dieses Prozesses ein völlig neuer Zusammenhang von Wissen und Information (vgl. Vogl 2001). Folgt man Kittler, dann kann man Wissensformen daraufhin unterscheiden, dass mit der 9
Foucault verwendet den Plural von Wissen und betont für das 18. Jahrhundert, dass dieses gekennzeichnet sei durch »einen riesigen und vielfältigen Kampf der Wissen gegeneinander – der Wissen, die sich in ihrer Morphologie, dank ihrer feindlichen Statthalter und dank ihrer inneren Machtwirkungen, einander widersprechen« (Foucault 1999: 213).
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Alphabetschrift Kommunikation und Interaktion unterschieden werden und mit den Verbreitungsmedien Information und Kommunikation (vgl. Kittler 1993). Im Unterschied zu Kommunikation ist der Begriff der Information mit dem Code des Neuen, des Aktuellen verknüpft. Eine Information definiert sich dadurch, dass etwas Neues gesagt wird. Mit den Verbreitungsmedien beziehen sich Wissen, Aktualität und Neuigkeit aufeinander. Es entsteht eine neue Zeitlichkeit von Wissen. Neu zur Disposition steht damit auch, was wissenswert ist und vor allem wie lange Zeit etwas wissenswert ist. Aber nicht nur die Dauerhaftigkeit des Wissenswerten verändert sich, sondern darüber hinaus verliert das alte Prinzip zunehmend seine Gültigkeit, wonach Wissenserwerb unauflösbar mit der »Bildung des Geistes« verbunden ist (Lyotard 1986: 24). Zur Bibliothek als nach wie vor wichtigem Dispositiv des Wissens kommt der Kiosk hinzu, an dem schnell und schnell veraltetes Wissen erworben werden kann. Spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeichnet sich eine weitere und damit vierte Verschiebung der Wissenskultur ab: Mit der Informatisierung, so eine Überlegung von Lyotard aus den frühen 80er Jahren, geht eine zunehmende »Merkantilisierung des Wissens« einher. Die Differenz Wissen/Nichtwissen wird umgeschrieben in die von Zahlungs- versus Investitionserkenntnisse, »das heißt Erkenntnisse, die im Rahmen der Erhaltung des täglichen Lebens [...] ausgetauscht werden, versus Erkenntniskredite hinsichtlich der Leistungsoptimierung eines Programms« (Lyotard 1986: 29). Seit Lyotards »Postmodernem Wissen« wird breit und kontrovers über Veränderungen der Wissensordnung aufgrund der Informatisierung, aufgrund der Digitalmedien diskutiert. Auch jetzt verschieben sich die Dispositive des Wissens. Nach wie vor gibt es Bibliotheken und Kioske, aber zunehmend wichtig werden darüber hinaus das Labor und die Börse, Orte also, an denen Wissen generiert und an denen mit Wissen gehandelt wird. Die Frage, wann Verschiebungen der Wissensordnung datiert werden und vor allem, wie sie bewertet werden, ob als Fortschritt oder Verfall, als Progression oder Degression, als Freiheitsgewinn oder Steigerung von Kontrolle und Disziplinierung, bestimmt keineswegs im Alleingang die technische Basis, das technische Apriori. Die Frage nach der Bewertung entscheidet sich vor allem über jene Kräfte- und das heißt: Machtverhältnisse, die Funktionen wie Leistungen von Medien aushandeln und festschreiben. Hier, auf der Ebene der Beobachter-Instituierung, also auf der Ebene der Formierung von Machtpositionen innerhalb von Diskurszusammenhängen hat eine Kritik der Medien anzusetzen. In welchen sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Rahmungen, so lautet dann die Frage der Kritik, werden Medien und Mediennutzung beobach-
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tet? Welche Genealogie generiert eine spezifische Funktionsbestimmung von Medien? Welche archäologischen Spuren ebnen den Weg dafür, dass z.B. dem Buch ganz unterschiedliche Funktionen und Leistungen zugeschrieben werden? So wird das Buch z.B. in einer der zahlreichen Diskurslinien zur Voraussetzung für eine Steigerung von Rationalität; in anderen Diskurszusammenhängen besitzt es »seine eigene, ›erimitische‹ Selbstgenügsamkeit« (Anderson 1988: 40). Eine weitere Zuschreibung heißt: das Buch ist ein »massenproduziertes Industriegut« (McLuhan 1968: 173). Schließlich gilt es als Ankündigung der Konsumgüter unserer Epoche (vgl. Anderson 1988: 40). Eine kurze Zwischenbilanz: Der Zusammenhang von Wissen und Medien entsteht als ein Effekt der operativen Logik von Medien. Medien operieren in der Trias von Aussagen, Medien, Wissen als Organisations-, als Ordnungsfaktor. Indem sie Ordnungen des Wissens herstellen, bilden sie, im weiten Sinne des Begriffs, eine Regierungstechnik, üben sie – im Sinne Foucaults – Macht aus. Mediennutzung und Wissensordnung, so hat sich im zweiten Teil gezeigt, bilden einen Zusammenhang, da Wissensordnungen sich mit der Etablierung neuer Medien und, damit verbunden, der Um-Organisation von Mediennutzung verändern. Wie die Beziehungen von Mediennutzung und Wissensordnung aber jeweils beschrieben, bewertet und kritisiert werden, ist nicht eine Frage, die allein das technische Apriori beantwortet. Solche diskursiven Zuschreibungen und der Kampf um solche Zuschreibungen weisen vielmehr auf technische, soziale, ökonomische, kulturelle und politische Kraft- und damit Machtverhältnisse.
3 . P a s t o r al g o u v e r n e m e n t al i t ät in der Moderne und Mediennutzung Um den Zusammenhang von Wissen, Medien und Macht geht es im Folgenden und zwar bezogen auf Verbreitungs-, auf Massenmedien und ihre Nutzung. Mediennutzung, so die Ausgangsüberlegung, bildet eine zentrale Subjektivierungstechnik und zwar nicht erst im Zeitalter von Massenkommunikation.10 Aber diese Technik erhält mit den Verbreitungsmedien eine neue Gestalt und damit auch eine neue Funktion. Die Frage nach der Mediennutzung als einer Subjektivierungstechnik soll hier verhandelt werden, indem die Trias von Medien, Subjekt und Macht als einem Kräfteverhältnis problematisiert wird. Es geht nicht um 10 Auf das Problem der Mediennutzung als Subjektivierungstechnik kann ich hier nur verweisen; ich gehe darauf genauer ein in dem Aufsatz mit dem entsprechenden Titel »Mediennutzung und Subjektivierungstechniken« (im Druck).
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die Macht der Medien, sondern um Machtverhältnisse in Bezug auf die Relation von Medien und Subjekt, um Machtverhältnisse im Akt der Mediennutzung. Machtausübung, so Foucault, besteht »im ›Führen der Führungen‹ und in der Schaffung der Wahrscheinlichkeit« (Foucault 1996: 37). Macht, so Foucault weiter, ist »weniger von der Art der Konfrontation zweier Gegner« oder der Verpflichtung des einen gegenüber dem anderen«, sondern von der Art der »Regierung« (Foucault 1996: 37). Der Begriff der Regierung bezieht sich nicht auf Politik, sondern meint im weiten Sinne, in der weiten Bedeutung, die der Begriff im 16. Jahrhundert hatte, die Art und Weise, »in der das Benehmen von Individuen oder Gruppen gelenkt wurde« (Foucault 1996: 37). »Regieren heißt in diesem Sinne, das Feld eventuellen Handelns der anderen zu strukturieren« (Foucault 1996: 37).11 Medien operieren demnach auf einem Möglichkeitsfeld, »in das sich das Verhalten der Subjekte eingeschrieben hat«. Eine Struktur, eine spezifische Rasterung erhält dieses Möglichkeitsfeld, zumindest bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, durch die Option, für alle zugänglich zu sein, durch die Massenmedien charakterisiert sind. Dazu einige wenige Hinweise. Diese Option der All-Inklusion für Verbreitungsmedien beherrscht die Diskurse seit dem 18., verstärkt dann vor allem im 19. und 20. Jahrhundert, als gedruckte Bücher, unterstützt durch Alphabetisierungsmaßnahmen, tatsächlich immer mehr Menschen zugänglich werden, als Zeitungen und Zeitschriften ein wichtiger Faktor der kulturellen Kommunikation werden, als die Gesellschaft schließlich sich selbst als Mediengesellschaft beobachtet und beschreibt. Zu den entscheidenden Voraussetzungen für die Expansion von Verbreitungsmedien und für die Option der All-Inklusion – beides gehört untrennbar zusammen – gehören grundlegende Umstrukturierungen und eine damit verbundene Komplexitätssteigerung der Gesellschaft, die um 1800 einsetzt, in ihren Konsequenzen aber sowohl das 19., wie auch noch das 20. Jahrhundert beherrscht und die sich, je nach theoretischer Perspektivierung, mit unterschiedlichen Begriffen zusammenfassen lassen. Wichtiger als eine solche Benennung ist für meine Überlegungen die mit diesen Umstellungen, Brüchen und Komplexitätssteigerungen verbundene Problematisierung von Verfahren der Inklusion und Exklusion. Eine solche Problematisierung steht an, wenn beides nicht mehr festen Regeln folgt, also nicht mehr über die »Zuordnung zu bestimmten Seg11 Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf diesen Foucault-Essay. Zum Begriff der Regierung und zu terminologischen Umschriften, was die Bezeichnung der modernen Pastoralgouvernementalität betrifft, vgl. Foucault (2004, 2. Bde.).
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menten der Gesellschaft« oder »auf Grund der Zugehörigkeit zu einer Kaste, einem Stand einer bestimmten Schicht« geregelt wird (vgl. Luhmann 2005: 229f.). Die Entstehung und Expansion der Verbreitungsmedien kann vor dem Hintergrund dieses Zusammenbruchs fester Regeln für Inklusion und Exklusion begriffen werden. Wenn Inklusion und Exklusion nicht mehr eindeutig erfolgen, dann muss es Instanzen und Agenten geben, die dieses Ungeregelte auffangen und neue Verfahren der Inklusion und Exklusion auf den Weg bringen. Als ein solcher Agent – so die These – lassen sich die Verbreitungsmedien beschreiben, die ja gerade durch die Option der All-Inklusion bestimmt sind. Daraus ergibt sich die Frage danach, wie Massenmedien mit der Option der All-Inklusion »einzelne« und »alle« regieren?12 Antworten auf diese Frage setzen eine weitere Frage voraus, um die es im Folgenden geht: Wie lässt sich die Genealogie der medialen Regierungstechnik begreifen? Diese Frage ist ganz entscheidend, wenn es um Fragen danach geht, ob und mit welchen Zielvorstellungen eine Kritik der Medien in Angriff genommen werden kann. Die Ausgangsüberlegung hier heißt: Die wichtigste genealogische Spur der medialen Regierungstechnik bildet die Pastoralgouvernementalität oder pastorale Regierungstechnik, wie Foucault sie erläutert hat. Was versteht Foucault unter Pastoralgouvernementalität, pastoraler Regierungstechnik oder – wie es auch häufig heißt – Pastoralmacht? Der moderne abendländische Staat, so eine der Kernthesen von Foucault, hat eine »alte Machttechnik, die den christlichen Institutionen entstammt, in eine neue politische Form integriert« (Foucault 1996: 23). Auf diese Weise kommt es zu einer »verwickelte(n) Kombination von Individualisierungstechniken und Totalisierungsverfahren innerhalb ein und derselben Struktur« (Foucault 1996: 23). Der Prozess der Transformation der christlichen Pastoralmacht in eine moderne Pastoralmacht beinhaltet einen grundlegenden Umbau. Folgende Merkmale sind für den Umbau von der christlichen zur modernen Pastoralmacht kennzeichnend: Es gibt erstens einen »Wechsel ihrer Ziele«: »Es geht nicht mehr darum, die Leute zur Erlösung in der anderen Welt zu führen, sondern ihnen das Heil in dieser Welt zu sichern« (Foucault 1996: 25). Aus dem Ziel Glück im Jenseits wird, verkürzt formuliert, das Benthamsche Prinzip: größtes Glück für die möglichst größte Zahl (»greatest happiness of the greatest number«). Im Unterschied zur kirchlichen Institutionalisierung mit der Zentralstellung der Kirche hat sich – das ist das zweite Merkmal – die Komplexität der Pastoralmacht, was ihre Agenten wie ihre Ziele betrifft, gestei12 Die Option der All-Inklusion meint genau die Doppelbewegung, den einzelnen wie alle zu erreichen, zu adressieren.
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gert. Es bildet sich eine »Verwaltung der Pastoralmacht« heraus, und es vervielfachen sich die Ziele (Foucault 1996: 26). Es werden alte Institutionen wie die Familie mobilisiert, um Pastoralfunktionen zu übernehmen, und es entstehen neue Agenten der Pastoralmacht. Foucault nennt die öffentliche Institution der Polizei im 18. Jahrhundert, Privatinstitutionen wie Fürsorgevereine, Philanthropen und öffentliche Einrichtungen wie Hospitäler oder Erziehungseinrichtungen, also Schulen in ihren unterschiedlichen Formen. Ich ergänze diese Liste um die Massen- bzw. Verbreitungsmedien. Sie fehlen bei Foucault, obwohl sie ohne Frage eine entscheidende Position einnehmen. Das dritte Merkmal betrifft das Wissen über den Menschen; dieses Merkmal hängt mit dem zweiten – mit der Vervielfachung der Agenten wie der Ziele – aufs engste zusammen. Denn beides führt dazu, dass sich – wie Foucault sagt – »das Wissen über den Menschen nach zwei Polen hin entwickelte: der eine, globale und quantitative, betraf die Bevölkerung, der andere, analytische, das Individuum« (Foucault 1996: 26). Auf dieses dritte Merkmal gehe ich etwas genauer ein, da es, wenn es um Medien und Mediennutzung geht, besonders wichtig und aufschlussreich ist. An diesem Merkmal gewinnt Foucaults später Subjektbegriff sein Profil: Der erste Pol, das quantitative Wissen über den Menschen, ist Teil der Bio-Politik – ein von Foucault geprägter Begriff, der eine wichtige Signatur des 19. und 20. Jahrhunderts bezeichnet und vielfach aufgegriffen wurde.13 Seit dieser Zeit nämlich steigt das Wissen über die diversen Quantitäten der Bevölkerung stetig an14, und das meint: mit der Entstehung und Expansion demographischer Untersuchungen, mit der zunehmenden statistischen Erfassung der Bevölkerung – ihrer Unfallzahlen, Geburtenund Sterberaten, ihrer Wohn- und Arbeitsverhältnisse, der Anteile an Lesekundigen und Analphabeten usw. – mit der statistischen Erfassung steigt ein Wissen zur Steuerung und Planung von Maßnahmen wie Kranken- und Unfallversicherungen, Stadt- und Wohnungsplanung, zur Einrichtung von Lehr- und Lernsituationen. Diese Steigerung, was das Wissen über die Bevölkerung und damit ihre Steuerbarkeit betrifft, führen zu Foucaults »Disziplinargesellschaft«. Gilles Deleuze spricht von »Kontrollgesellschaft« (vgl. Deleuze 1993). In einer solchen Gesellschaft dominiert die »probabilistische Vernunft«, d.h.: die Gesellschaft denkt nicht vom Gesetz des Rechts her, sondern vom »Gesetz der großen Zahl«; auch dieses Gesetz, nicht nur die 13 In jüngerer Zeit etwa an zentraler Stelle in den Studien von Giorgio Agamben. 14 Und wird z.B. bei Wehler zum Wissen der Sozialgeschichte (vgl. Wehler 19872003).
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medialen Rahmenbedingungen, konstituiert seit dem 18. Jahrhundert die Ordnung des Wissens.15 Es ist das Gesetz einer globalisierten Welt, in der die Frage nach der Quantifizierung alle Komplikationen außer Kraft setzt, die die Kommunikation verschiedener Kulturen erschweren (vgl. Ruesch 1995: 133ff.).16 Das Prinzip der großen Zahl organisiert, nach einem kurzen, aber für Mediennutzung durchaus wichtigen Interims-Versuch im Prinzip von public-broadcasting, die Print- und audiovisuellen Medien. Sie folgen vor allem dem, wie Ökonomen sagen, large of scale, der Auflage, der Quote. Foucaults Bio-Politik gewinnt höchste Relevanz, wenn man danach fragt, wie, mit welchen Verfahren im Laufe des 20. Jahrhunderts Mediennutzung beobachtet, erfasst, gesteuert wird. Die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konzipierte audience research, die nach dem zweiten Weltkrieg als Publikums- und Wirkungsforschung im deutschsprachigen Bereich eingeführt und bald zum dominanten Paradigma der Sondierung von Mediennutzung wird, ist als eine Praktik neben anderen, ein wichtiger Faktor der Bio-Politik. Die hier eingesetzten Methoden der Befragung und Erfassung haben eine lange Tradition. Fragebögen, auf denen mitgeteilt wird, wen oder was man mag, tut oder verabscheut, gehörten einst zur »Wahrheitsprozedur« der spanischen Inquisition (vgl. Siegert 2003: 127). Mittlerweile, in der, wie Zygmunt Bauman sagt, »flüchtigen Moderne« sind Fragebögen, die persönliche Meinungen erfragen, »Blaupausen einer öffentlichen, medial gestalteten Rhetorik zur Darstellung ‚›subjektiver Wahrheiten‹« (Bauman 2003: 104). Die Kontrolle und Steuerung, die nicht nur in Interviews und qua Fragebögen, sondern auch mit experimentellen und anderen hochdifferenzierten empirischen Methoden in Gang gesetzt wird, ist – bio-politisch betrachtet – seit dem späten 19. Jahrhundert begleitet von einer permanenten Krise von Steuerung und Kontrolle, was neuerliche Aktivitäten des Steuerns produziert. Auf diese Weise erklärt sich das mittlerweile gigantische Ausmaß an empirischen Daten zur Demographie, zum 15 Zur Umstellung von Gesetz des Rechts auf das der großen Zahl vgl. Campe 2002: 18. 16 Ruesch führt die »Wurzeln der Quantifizierung«, den »Hang« der Amerikaner, »Handlungen und Dinge in quantitativer Form zu bewerten«, auf die Situation der Pioniere zurück: »Ohne irgendeine Information über den Charakter oder die Persönlichkeit eines Siedlers, brauchte man nichts destoweniger dringend seine Hilfe. Da man Aussagen aus dem Munde eines Freundes nicht trauen konnte und weil die Pioniere häufig einen unterschiedlichen Hintergrund hatten, war der notwendige Maßstab, um eine Person einzuschätzen, nicht gleich. Um Mißverständnissen vorzubeugen, mußten objektive und quantifizierbare Begriffe benutzt werden, und damit wurde die Position eines Menschen viel mehr von seinem meßbaren Erfolg als von Konvention und Tradition bestimmt« (Ruesch 1995: 133ff.).
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Konsumverhalten, zur Mediennutzung – um nur drei Komplexe zu nennen. Als Verfahren zur Sondierung von Mediennutzung hat die empirische Publikums- und Wirkungsforschung mittlerweile die Diskurshoheit übernommen; ihre Ergebnisse werden zum Beweislieferanten und zur Beglaubigungsinstanz in ganz unterschiedlichen Diskursen über Medien. Der zweite Pol, was das Wissen über den Menschen betrifft, betrifft das analytische Wissen über das Individuum. In der christlichen Pastoral wird die antike Sorge um sich selbst, die antike epimeleia heautou, zu Praktiken des Beichtens umgeformt. Die Sorge um sich selbst wird zu einer Sorge des Wohlgefallens vor Gott. In der modernen Gesellschaft mit ihrem Ziel, das Glück auf dieser Welt zu finden, kommt es zu Formen der Selbstexegese, die, neben anderem, zu diesem Ziel führen sollen. Die unterschiedlichen Formen der Selbstexegese gilt es auch und gerade mit Blick auf die medialen Praktiken zu untersuchen. Eine solche Untersuchung hätte danach zu fragen, inwiefern sich an Formen der Selbstexegese das aufzeigen lässt, was Luhmann »Identitäts-Terror« genannt hat.17 Zu fragen wäre danach, ob und inwiefern ein solcher Terror, der nicht unbedingt als terroristisch empfunden wird, gerade für massenmediale Praktiken signifikant ist, sei es als Roman im Buchformat oder als Fortsetzungsroman in Zeitungen, als Reportage oder Klatsch in der Yellow Press, als TV-Movie, Talk-Show oder Gerichts-Show im Fernsehen. Mit solchen medialen Praktiken, so meine Vermutung, produziert der Identitäts-Terror einen Lärm, der die Probleme von All-Inklusion und singulärer Adressierung, die krisenhafte Spannung des omnes et singulatim, immer wieder aufs Neue übertönen soll (vgl. Fuchs 1997: 75ff.). Resümierend zu den Zielen der modernen Pastoralgouvernementalität zeigt sich also: nicht erst mit Blick auf die Vervielfältigung, sondern bereits angesichts der von Foucault ausdrücklich genannten beiden zentralen Ziele – das Heil in dieser Welt zu sichern und das Wissen über den Menschen auszubauen – zeigt sich, dass hier ganz offenkundig eine Übereinstimmung mit ganz zentralen Selbst- wie Fremdbeschreibungen der Medien besteht.18 Verwiesen sei auf dort gängige Kategorien wie Integration oder Grundversorgung. Solche Ziele schreiben sich fort in zeitgenössischen Utopien einer »virtuellen Gemeinschaft« oder »kollektiven Intelligenz«, die die digitale Netzkultur schaffen soll (vgl. Rheingold 1995; Lévy 1997). 17 Für Luhmann ist dieses Gebot die »ideologische Kommunikationsebene um das Individuum, die sich in dem Moment ausbildet, als die Gesellschaft sich dagegen wehrt, aus Individuen zu bestehen« (Luhmann 1989: 215). 18 Zu den Selbstbeschreibungen vgl. die einschlägigen Programmrichtlinien sowie die zahlreichen Reden und Selbsterklärungen, die man nicht einfach nur als ›Sonntagsreden‹ oder alteuropäisch ad acta legen kann.
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Wenn man die Trias von Medien, Subjekt, Macht als eine pastorale Regierungstechnik beschreibt, dann zeigen sich die genealogischen Spuren der Mediennutzung. Und diese Spuren machen ganz deutlich, dass Mediennutzung eine kulturelle Formation bildet, die konstruiert, die geworden ist. Mediennutzung ist, ebenso wenig wie die Kopplung von Medien und Wissen, von Natur aus gegeben. Wir kommen weder als Sender noch als Empfänger zur Welt.
4 . Z u s am m e n f a s su n g : K r i ti k d e r M e d i e n / M e d i e n d e r K r i ti k Mit einem knappen Ausblick auf die Frage nach der Kritik der Medien und der Medien der Kritik fasse ich meine Überlegungen zusammen. Wenn man Verbreitungsmedien als Agenten der Pastoralgouvernementalität beschreibt, dann wird Mediennutzung zu einer Art und Weise des Regiert-werdens. Dieser Zusammenhang von Regierungstechnik und Regiert-werden führt zu einem Konzept von Kritik, das Foucault in einem Vortrag entwickelt hat, den er am 27. Mai 1978 in der Société française de philosophie gehalten hat. Der Titel des Vortrags lautet: Qu’est-ce que la critique? Der Text liegt mittlerweile in deutscher Übersetzung vor, aus der ich im Folgenden zitiere (vgl. Foucault 1992). Foucault beginnt seine Überlegungen zur Geschichte der Kritik bzw. zur Geschichte dessen, was er die »kritische(n) Haltung« nennt (Foucault 1992: 9), mit der christlichen Pastoral, die, so Foucault, die Idee entwickelt habe, »dass jedes Individuum unabhängig von seinem Alter, von seiner Stellung sein ganzes Leben hindurch und bis ins Detail seiner Aktionen hinein regiert werden müsse und sich regieren lassen müsse« (Foucault 1992: 9f.). Wie wir gesehen haben, transformiert sich die christliche in eine moderne Pastoralmacht und das heißt für die kritische Haltung oder – wie Foucault sagt – »Kunst« der Kritik: sie hat sich »laisiert und in der zivilen Gesellschaft ausgebreitet« (Foucault 1992: 10f.).19 So wie für Foucault Macht und Freiheit zwei Seiten einer Medaille sind, so ist die Frage des Regiertwerdens nicht zu trennen von der Frage, »wie man denn nicht regiert wird« (Foucault 1992: 11). Das Regiertwerden und die »kritische Haltung« gehören also zusammen. 19 Foucault sieht den Ursprung der kritischen Haltung in den »religiösen Kämpfen und geistlichen Haltungen der zweiten Hälfte des Mittelalters«: »Alle Auseinandersetzungen um das Pastoral in der zweiten Hälfte des Mittelalters haben die Reformation vorbereitet und waren sozusagen die geschichtliche Schwelle, auf der sich jene kritische Haltung entwickelt hat« (Foucault 1996: 44). An anderer Stelle charakterisiert Foucault die Reformation als einen »Kampf für eine neue Subjektivität«, ein Kampf, der für ihn von höchster Aktualität ist (vgl. Foucault 1996: 22).
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Eine kritische Haltung muss, so Foucault, den »Nexus von MachtWissen« charakterisieren, »mit dem sich die Akzeptabilität eines Systems [...] erfassen läßt« (Foucault 1992: 33). Dieser Prozess, eine solche Charakterisierung »durchläuft den Zyklus der Positivität, indem es vom Faktum der Akzeptiertheit zum System der Akzeptabilität übergeht, welches als Spiel von Macht-Wissen analysiert wird« (Foucault 1992: 34). Und dieser Weg – so Foucault – ist »in etwa das Niveau der Archäologie« (Foucault 1992: 34). Die archäologische Spurensuche will also nicht eine einzige gewichtige Ursache für eine vielfältige Nachkommenschaft ausfindig machen, sondern die »Erscheinungsbedingungen einer Singularität in vielfältigen bestimmenden Elementen« (Foucault 1992: 37). Die hier vorgestellten Überlegungen zur Archäologie der Mediennutzung verfolgen als Ziel jene kritische Haltung, von der Foucault spricht. Diese Kritik versieht die strittige Sache, um die es geht, mit einem »historischen Index« (Vismann 2004: 15). Die Genealogie der Mediennutzung beabsichtigt keine historistischen Ausgrabungen – kein: so ist es gewesen und anders konnte es auch nicht kommen. »Das Problem besteht darin, das Wissen über die Vergangenheit für die Erfahrung und die Praxis der Gegenwart in Anschlag zu bringen« (Foucault 2004: 187). Die genealogischen Untersuchungen formulieren eine »Gewordenheitskritik« der Mediennutzung.20 Die Überlegungen zum Zusammenhang von Medien und Wissen, zu Veränderungen von Wissensordnungen durch Mediennutzung und schließlich zur Frage, wie die Trias aus Medien, Subjekt und Macht bestimmt werden kann, bilden einen Beitrag zu einer solchen Kritik der Medien. Denn diese Überlegungen rufen die Frage auf, wie die Regierungstechnik der Medien als Teil der Pastoralgouvernementalität beschaffen ist. Wenn aber die Frage gestellt ist, wie regiert wird, dann heißt die unabdingbar nächste Frage, wie anders regiert wird und werden kann und damit: wie andere Techniken der Subjektivierung aussehen. Genealogische Studien haben das Ziel, Antworten auf diese Frage zu finden.
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20 Zur Kategorie der Gewordenheitskritik vgl. Saar (2003: 171).
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T EIL 2: M EDIEN UND KRITISCHE P RAXIS
FOTOGRAFIE ALS MEDIUM DER KRITIK. PROBLEME UND MÖGLICHKEITEN DER SOZIALDOKUMENTARISCHEN FOTOGRAFIE BARBARA BECKER »Documentary photographers are voyeurs who profit from the misery of the poor by stealing and prettyfying their visages, then parading them in exhibitions for the privileged« (Light Witness of our time, 2000: 7). »Photographic realism […] perpetuates the myth that photographs are objective, rather than projections of cultural values who make and distribute them« (Light Witness of our time, 2000: 7).
Der folgende Beitrag versteht sich als Versuch, die Fotografie, insbesondere die sich als sozialdokumentarisch und aufklärend begreifende Fotografie daraufhin zu beleuchten, inwieweit sie als Medium der Kritik fungieren kann und wo die Grenzen einer solchen Nutzung liegen. Dies impliziert ein Vorgehen in folgenden Schritten. Zunächst werde ich einige allgemeine Überlegungen zur Möglichkeit von Kritik formulieren, ohne hier den Anspruch einer umfassenden Darlegung gegenwärtig diskutierter Positionen erheben zu wollen. Vielmehr dienen diese Ausgangsthesen einer Einbettung der eigentlichen Fragestellung. Sodann werde ich im zweiten Schritt in einem kurzen historischen Rückblick die sozialpolitischen Ansprüche der sozialdokumentarischen Fotografie darlegen, um anschließend die auch heute noch vorhandene Problematik des Dokumentarischen ausführlich zu erläutern. Im dritten Schritt wird untersucht, welche Neudeutungen des fotografischen Potentials sich aus der Relativierung des dokumentarischen Anspruchs notwendigerweise ergeben. Abschließend möchte ich die These zur Diskussion stellen, dass mit einer veränderten Perspektive die Fotografie durchaus wirkungsvoll als Medium der Kritik fungieren kann, insbesondere dann, wenn sie durch irritierende Darstellungsformen den Blick eröffnet auf andere Sichtweisen jenseits von etablierten Konventionen und Normen. 103
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1. Zur Notwendigkeit von Kritik Die Legitimierung meines Ansatzes, der Kritik für nötig und möglich hält, erfolgt in Anlehnung an sozialphilosophische Konzepte, die ihren Ursprung in der frühen kritischen Theorie haben, dieser gegenüber jedoch weiter entwickelt wurden. Obwohl das Konzept einer »engagierten Sozialphilosophie«, wie es beispielsweise von Zygmunt Bauman vertreten wird1, vielen Theoretikern nicht mehr aktuell (und damit nicht mehr legitim) zu sein scheint, ist eine derartige Position für mich an dem Punkte überzeugend, wo ein Interesse an der Infragestellung2 gesellschaftlicher Missverhältnisse3 Ausgangspunkt der Beobachtungen ist. Eine so verstandene kritische Theorie ist darum bemüht, die gesellschaftliche »Wirklichkeit« aus der Perspektive eines möglichen Andersseins zu kritisieren.4 Kritik in dieser Sicht lässt sich als Widerspruchsdiagnose begreifen5, d.h. als Analyse der Gesellschaft, die das vermeintlich Gegebene als kontingent begreift und insofern andere Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens denkbar werden lässt.6 Dies impliziert eine beständige Infragestellung sowohl der eigenen Sichtweise als auch des jeweils Wahrgenommenen, wobei der »blinde Fleck« der eigenen Beobachterposition in der reflexiven Analyse Berücksichtigung finden muss. Die sich daraus ergebende Form einer kritischen Analyse besteht dann nicht nur darin, die Kontingenz der gesellschaftlich jeweils dominierenden Sichtweise offen zu legen, sondern darüber hinaus Wahrnehmungsräume für andere Sichtweisen zu eröffnen. Diese Neudeutungen können nicht zu letztgültigen Erkenntnissen führen, sondern bleiben in aller Offenheit stehen, d.h. implizieren stets die Möglichkeit erneuter Umdeutungen. Eine so verstandene Form von Kritik ermöglicht also keine exakten Aussagen über das Sosein der Realität, d.h. keine Korres1
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Hier ließen sich auch Stefan Müller-Doohm und Axel Honneth nennen, die in ihren Schriften einen ähnlichen Anspruch immer wieder erkennen lassen. Und ein weiterer Anknüpfungspunkt ist die jüngst von Schmid Noerr u.a. durchgeführte Tagung und herausgegebene Schrift zur Aktualität von Adorno (2004, hier insb. der Beitrag von W. Post). Und Aufhebung! Genau dies forderte jüngst der Soziologe Michael Jäckel; ebenso wie Johanno Strasser in der ZEIT, der die Verantwortung der Intellektuellen in ähnlichem Sinne einklagt. Und auch Klaus Neumann-Braun (2002) lässt im Vorwort seines Bandes zur Medienkritik Ähnliches anklingen. Ohne, dass dieses »Anderssein« genau bestimmt werden muss. Hier zeigt sich sowohl eine Nähe zu Horkheimer und Adorno wie auch zu Foucaults Analysen einer Kritik der Macht. Diese Perspektive findet sich in Ansätzen bereits bei Adorno: eine Sichtbarmachung von Möglichem scheint ihm durch die Methode der bestimmten Negation von Setzungen, Behauptungen oder Handlungen erreichbar zu sein. Der Widerstand gegen eine Sichtweise, die das Gesetzte durch dessen bloßes Dasein gerechtfertigt sieht, ist für ihn Ausgangspunkt von Kritik.
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pondenz mit einer vermeintlichen Faktizität noch vermag sie ein klar bestimmbares utopisches Ziel zu formulieren. Ihre Stärke liegt vielmehr gerade in der Offenlegung der Perspektivität und Vorläufigkeit der jeweiligen Wirklichkeitsdeutung (vgl. Bonacker 2000). Eine derartige Form von Kritik produziert immer wieder einen provokativen Bedeutungsüberschuss, der nachdenklich macht, vermeintliche Gewissheiten erschüttert und dadurch neue Sichtbarmachung ermöglicht. Kritisches Denken wäre demnach kontrapunktisches, antithetisches Denken7, das ein Spannungsfeld von Ambiguitäten aufbauen kann und damit auf die Einseitigkeiten der jeweils dominanten Sichtweisen verweist.8 Zygmunt Bauman, der als Repräsentant einer derartigen Auffassung von Kritik gelten kann (vgl. Bauman1995), ist der Überzeugung, dass sich universelle, allgemein gültige Moralmaßstäbe, die Grundlage von Kritik sein könnten, nicht mehr formulieren lassen, da sich die Welt als vielschichtig, pluralistisch und bedeutungsoffen erweist. Er bezeichnet die kritische Haltung vielmehr als Modus einer Weltdeutung, der Hergebrachtes, Überliefertes immer wieder neu in Frage stellt, Altbekanntes in verändertem Licht zu zeigen versucht und auf die Vielschichtigkeit und Kontingenz von Deutungen, Setzungen und Faktizitäten verweist. Dementsprechend wird der Kritiker weniger zum Be-Urteiler als vielmehr zum Interpreten der jeweiligen Kontexte, die er kritisch kommentiert, ohne damit einen allgemeingültigen, kontextüberschreitenden Anspruch für die Legitimität seiner Perspektiven zu erheben. Als Deuter und Interpret (vgl. Rorty 1992) befindet er sich einer eigentümlich gedoppelten Position: Einerseits ist er stets eingebettet in den Kontext oder die Situation, die er kritisch zu beschreiben oder zu präsentieren versucht; andererseits verhält er sich wie ein Exilant9, ein externer Beobachter, der sich von der Situation mit seiner kritischen Haltung distanziert, ohne dass ihm dies je gelingen kann. Die ambivalente Position, einerseits in eine Situation eingebettet zu sein und diese gleichzeitig zu beobachten, kann auf produktive Weise genutzt werden, da sie sowohl die Chance der Einfühlung eines immer auch emotional Beteiligten ermöglicht wie sie auch die Möglichkeit einer distanzierten Reflexivität eröffnet, ohne die Kritik nicht denkbar wäre. Ein wechselseitiges sich Aufeinanderbeziehen dieser »internen« wie »externen« Perspektive kann eine wichtige Basis für eine Form kritischen Engagements sein, das weder in einer distanzierten Beobachterrolle verharrt noch sich in situativer Empathie erschöpft. Kritik erweist sich also als ein Denkmodus, der ein Prozess des Öffnens durch Negation bestimmter Setzungen, Handlungsweisen und Deu7 8 9
Dies wäre ganz im Sinne Adornos, wie Müller-Doohm in seinem Aufsatz überzeugend darlegt (Müller-Doohm 2000). Auch an diesem Punkt lässt sich erneut eine Beziehung zu Adorno aufzeigen. Siehe hierzu auch den inspirierenden Beitrag von Auer (2002).
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tungsformen ist.10 Dieser Kritik-Modus versucht, die Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit des scheinbar Gegebenen zu explorieren, indem das interpretativ zu explizierende Phänomen unter stets neuen Bezügen, Gesichtspunkten und Perspektiven beleuchtet und reflektiert wird (MüllerDoohm 2000). Kritik als Reflexionsmodus in einer solchen Deutung ist also darum bemüht, die Kontingenz vermeintlicher Faktizitäten offen zu legen und in ihrer möglichen Vielschichtigkeit und Andersartigkeit darzustellen. Damit konstituiert sich eine Form der Gesellschaftskritik, die sich letzten Wahrheiten verweigert und offen bleibt für ständige Um- und Neudeutungen. Die Frage, inwieweit universelle Konzepte, wie etwas die Deklaration der Menschenrechte, dennoch als allgemeinverbindlicher Maßstab von Kritik notwendig bleiben, kann hier nicht diskutiert werden.11 Bei aller, spätestens an diesem Punkt deutlich werdenden Vorläufigkeit bilden diese Überlegungen den Hintergrund für folgenden Erläuterungen.
2 . F o to g r a f i e a l s M e d i u m d e r K r i t i k Beim Versuch, das gesellschaftskritische Potential der Fotografie auszuloten, richtet sich der Blick unweigerlich auf jenen Bereich der Fotopraxis, der traditionell mit dem Attribut »(sozial-)dokumentarisch« versehen wurde und wird. Bereits in diesem Adjektiv verbirgt sich ein bestimmter Anspruch: Mittels der Fotografie soll eine Dokumentation von sozialen Missständen geleistet werden, die nicht nur zur Aufklärung einer wie immer auch gearteten Öffentlichkeit beitragen sondern zudem die Lebenslage der jeweils betroffenen Personengruppen verändern soll. Dieses ethisch-politische Anliegen findet sich bereits in der Frühphase der Fotografie und wird auch heute noch artikuliert.12 Dabei wurde im Laufe der Geschichte der im Etikett des Dokumentarischen verborgene Anspruch zunehmend in Frage gestellt. Doch werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf den historischen Diskurs des Dokumentarischen bzw. der dokumentarischen Fotografie: 10 Auch hier ist die Nähe zu Adorno spürbar. 11 Ein möglicher Vorschlag zur Lösung des Problems, einerseits der Pluralität möglicher Deutungen zu genügen, andererseits aber auch kontextübergreifende Anschlusskommunikationen zu ermöglichen, könnte darin bestehen, das allgemeine Konzept der Menschenrechte als bedeutungsoffenen Signifikanten zu interpretieren, der zwar in kulturspezifischer Weise jeweils ausgelegt wird, aber dennoch einen Rahmen darstellt für kulturübergreifende Verständigungsprozesse (siehe hierzu auch Bonacker 2002). 12 Viele Fotografen der Fotoagentur MAGNUM sehen sich einer solchen ethischen Perspektive verpflichtet, ebenso wie die berühmten Kriegsfotografen Perress und Nachtwey bzw. sozialpolitisch agierende Fotografen wie Meiselas und Salgado.
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Bis zum Ende des 19.Jahrhunderts/Anfang des 20.Jahrhunderts existierte weithin die Überzeugung, mit dem Medium der Fotografie die Wirklichkeit unverfälscht ablichten und den Menschen ein weitumfassendes »Abbild« der Realität übermitteln zu können (vgl. Freund 2002). Dieses Selbstverständnis verknüpfte sich schon zu Beginn immer wieder mit einem sozialpolitischen Anliegen. Frühe Vertreter einer solchen Sichtweise wie z.B. Lewis Hine und Jakob Rijs versuchten, über ihre Fotografien auf soziale Missstände aufmerksam zu machen und legten so den Grundstein für eine sozialdokumentarische Fotopraxis. Diese fand in den USA in der fotografischen Bewegung der Farmer Security Administration wie auch in der sogenannten »Straight Photography« einen Höhepunkt, da sich die hier versammelten Fotografen vor allem auf die vermeintlich dokumentarischen Möglichkeiten der Fotografie konzentrierten und soziale Fragestellungen zum Fokus ihrer Arbeit machten (vgl. Frizot 2001). Der »Mensch« als Thema der Fotografie trat in den Vordergrund, seine Lebensbedingungen und Nöte sowie seine alltäglichen Probleme sollten durch Fotografien dokumentiert und der Öffentlichkeit präsentiert werden.13 Der in dieser Frühphase mit der sozialdokumentarischen Fotografie einhergehende Anspruch, das Geschehene unverfälscht und authentisch abzubilden14 und die fotografisch »festgehaltenen« Ereignisse »wahrhaftig« und »objektiv« zu repräsentieren (vgl. Freund 2002), wurde zwar immer wieder diskutiert, doch in dieser Phase noch nicht hinreichend reflektiert (vgl. Frizot 2001). Die Unterstellung, mit Fotografien »objektive« Beweise für bestimmte Ereignisse liefern zu können, 15 blieb weitgehend eingebunden in den historischen Diskurs des Dokumentarischen, der wesentlich von der Distinktion »wahr« – »falsch« geprägt war.16 Zwar wurde der scheinbare Beweischarakter der sich als neutral bezeichnenden Dokumentarfotografie immer wieder durch den Verweis auf nachgewiesene »Manipulationen« und interessegeleitete Kontextualisierungen und Beschriftungen in Frage gestellt, 17 doch hatte dies nicht zur Folge, dass der Anspruch der Dokumentarfotografie völlig aufgege-
13 Dorothea Lange mit ihrer weltweit bekannten Fotoreportage über Wanderarbeiterinnen gilt als Prototyp für eine derartige Fotografie. 14 Ein Anspruch, auf dessen Problematik ich später noch ausführlich eingehen werde 15 Eine ähnlich wichtige Bedeutung hatten die Aufklärungsfotos, z.B. von Bourke-White nach dem 2. Weltkrieg, da die Aufnahmen von Konzentrationslagern als Beweismittel gegen die Naziverbrechen fungierten. 16 Eine ausführliche Kritik dieses dokumentarischen Anspruchs liefert auch Gallison (2003). 17 Berühmte Beispiele für Manipulationen finden sich an unterschiedlichster Stelle, siehe hierzu auch Coy’s Differenzierung zwischen primärer und sekundärer Manipulation (Coy 1995).
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ben wurde.18 Die soziale Praxis, der zufolge ein Foto nach wie vor als Dokument eines »realen« Ereignisses betrachtet wird, ist trotz allen Wissens um die vielfältigen Eingriffsmöglichkeiten nach wie vor aktuell.19 Dies verweist auf eine paradoxe Situation, der sich die dokumentarische Fotopraxis immer wieder neu ausgesetzt sieht: Einerseits ist der konstruktive Charakter jeder Fotografie immer wieder hervorgehoben worden, andererseits gilt das Foto immer noch als bildliches Dokument konkreter Ereignisse. In diesem Spannungsfeld operiert die Fotografie bis heute. Obwohl die sozialdokumentarische Fotografie mit ihrem dezidiert sozialpolitischen Anspruch seit den fünfziger Jahren an Terrain verloren hat gegenüber einer Berichterstattung, die aufgrund der ökonomischen Bedingungen des Fotojournalismus eher auf eine Skandalisierung und Dramatisierung der Ereignispräsentation zielt 20, begreifen sich viele Fotografen, insbesondere die Fotografen der Fotoagentur MAGNUM sowie manche Kriegsberichtserstatter weiterhin dieser Tradition gegenüber verpflichtet. »Den Namenlosen eine Stimme geben« – dieses Anliegen ist für viele Fotografinnen und Fotografen21 nach wie vor expliziter Anspruch. Sie möchten mit ihren Fotografien und Fotoreportagen der Welt ein Bild von Geschehnissen vermitteln, das abweicht von regierungstreuen und konventionellen Sichtweisen. Entsprechend sind sie darum bemüht, den Blick der Öffentlichkeit auf die Lage von unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen zu lenken, deren Situation bis dahin unbemerkt geblieben war.22 Insbesondere Fotoreportagen und Fotoessays zeugen vom Engagement dieser sozialpolitisch engagierten Fotografen, da sie Deutungen von Ereignissen und Darstellungen von Lebensschicksalen präsentieren, die jenseits der üblichen massenmedialen Präsentationen anzu-
18 Nach wie vor gelten Fotos als wichtige Indizien zur Ermittlung bei Rechtsvergehen und werden bei Gericht als gültige Beweismittel anerkannt. 19 Trotz vielfacher Verweise auf die mannigfaltigen Praktiken von Fotografen, Bildentwicklern und Publikationsorganen, von Coy als »primäre« und »sekundäre Manipulationen« bezeichnet, dienen Fotografien in diesem Diskurs immer noch als gültige Beweise. Dass diese Unterstellung im Zeitalter der Digitalfotografie immer problematischer wird, weil die »Spur des Referenten« immer unklarer wird, wie Rosler (2000) und Rötzer (2000) überzeugend darlegen, hat sich gerade in jüngster Zeit an verschiedenen Stellen, wie etwa der fotografischen Präsentation des Irakkrieges, gezeigt. Dennoch lässt sich beobachten, dass der Diskurs der dokumentarischen Fotografie nach wie vor bestimmt ist durch Distinktionen wie »wahr« und »falsch« bzw. »manipuliert« und »authentisch«. 20 Hierzu sehr eindrücklich die Darstellung der Fotoselektion durch die SternRedaktion im Dokumentarfilm über James Nachtwey. 21 Deutlich wird dies beispielsweise beim Betrachten der prämierten »world press fotos of the year«, die jährlich neu ausgewählt werden. 22 Fotoreportagen, wie etwa die langfristigen Arbeiten von Susan Meiselas über Nicaragua, verdeutlichen dies.
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siedeln sind.23 In diesem Sinne scheint die Fotografie auf den ersten Blick durchaus eine gesellschaftskritische Funktion zu erfüllen, wie sie beispielsweise von Axel Honneth (vgl. Honneth 1994/2000) gefordert wird. Wenn Honneth eine Form der Gesellschaftskritik einklagt, die Wissen über Ungerechtigkeit und Ausgrenzung vermittelt, um auf diese Weise Reflexionsprozesse zu stimulieren, dann scheint es auf den ersten Blick so, als könne die Dokumentarfotografie dazu beitragen, derartige Aufklärungsfunktionen zu übernehmen, indem sie die Kontingenz offizieller Sichtweisen durch eine Konfrontation mit anderen Blickwinkeln offen legt. Inwieweit ein solchermaßen fotografisch konstituiertes Wissen aber wirklich zur praktischen Auflösung existierender politischer und sozialer Strukturen beizutragen vermag, erweist sich beim zweiten Blick als fraglich und erscheint erst dann wirkungsmächtig, wenn Fotografen mit politischen Institutionen (z.B. NGOs) zusammenarbeiten.24 Genau an diesem Punkt offenbart sich nämlich die Ambivalenz, mit der eine sozialpolitisch motivierte Fotografie, sofern sie im Diskurs des Dokumentarischen operiert, zu kämpfen hat: Trotz des nicht zu unterschätzenden kritischen Potentials, das in der Sichtbarmachung von Wirklichkeiten liegt und unabhängig vom sozialpolitischen Engagement der einzelnen Fotografen, das zumindest partikular eine Legitimation für diese Form der Fotografie darstellt, bleibt die sozialpolitische Fotografie nämlich nicht unberührt von den grundsätzlichen Problemen, denen sich dieses Medium ausgesetzt sieht und die seinen Wirkungsgrad als »Aufklärungsmedium« von vorneherein relativieren. Auf einige dieser Probleme möchte ich im Folgenden eingehen.
3 . D a s P r o b l e m d e s D o k u m e n ta r i sc he n Bereits der Begriff des Dokumentarischen wirft grundlegende Fragen auf: Abigail Solomon-Godeau (vgl. Solomon-Godeau 2002/2003) zufolge ist die Dokumentarfotografie »so ziemlich alles« und »so ziemlich nichts«. Für die erste Auffassung spricht, dass sie ein Dokument von »ETWAS« ist, dass sich im Augenblick der Aufnahme vor der Kamera befand. Für die zweite Überzeugung spricht, dass die Fotografie keine naturgetreue, unvermittelte Transkription physischer Erscheinungen sein kann. So hat sich im Laufe der (Fotografie-)Geschichte die Ansicht immer weiter durchgesetzt, der zufolge die Kamera ikonische Zeichen und bildliche Repräsentationen erzeugt, indem sie Wirkliches in Bildliches 23 Gleichermaßen können hier die Arbeiten Salgados erwähnt werden, der eng mit sogenannten NGOs zusammenarbeitet, um die politische Wirkung der Fotos zu untermauern. 24 Wie es beispielsweise Salgado praktiziert.
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überträgt. Fotografie lässt sich somit als Medium der Sichtbarmachung deuten. Entscheidend für eine Annäherung an die sozialdokumentarische Fotografie ist also weniger der Versuch einer ontologischen Begriffsbestimmung des Dokumentarischen als vielmehr ein Verweis auf die mit ihr jeweils assoziierten sozialen Praktiken. Diese reichen von der Nutzung der Fotografie als investigatorisches Medium (wissenschaftliche Fotografie) bis zu einer sich als aufklärerisch begreifenden sozialdokumentarischen Fotografie. Dokumentarfotografie erweist sich dementsprechend als ein Diskurs mit eigenen Signifikationscodes, die nicht nur die Intention der Fotografierenden umschreiben sowie die Kontexte, in denen sie operieren, sondern ebenso die Rezeption und Gebrauchsweise der Fotos bestimmen. Entsprechend basiert die Dokumentarfotografie auf spezifischen Haltungen und Überzeugungen, die bestimmte Diskurse stabilisiert. Vor allem das Glaubenssystem des Realismus (vgl. SolomonGodeau 2002/2003) ist hier zu nennen, das auch für die alltägliche Fotopraxis nach wie vor Gültigkeit besitzt. Barthes (vgl. Barthes 1986) spricht in diesem Kontext vom »effet reell«: Im Diskurs der Dokumentarfotografie werden die fotografischen Objekte nämlich so interpretiert, als ob sie ein spezifisches (Abbildungs-)Verhältnis zum Realen aufweisen würden. Der »Realitätseffekt« wird zudem durch die fotografische Perspektive untermauert, d.h. durch eine monokulare, statische, seitlich begrenzte und auf einen Fluchtpunkt hin laufende Bildorganisation, die den dominanten Blick des Betrachters unterstützt. Mit dieser beherrschenden visuellen Position des Betrachters (sowohl den Fotografen wie den späteren Betrachter betreffend), dessen Auge zur Kommandozentrale des Blickfeldes wird, offenbart sich eine der Fotografie inhärente dominante Haltung. Diese wird zusätzlich durch eine Einschränkung des offenen Horizonts, die Fokussierung des Blicks und eine Begrenzung der Unbestimmtheit untermauert, was zu einer spezifischen fotografischen Konstituierung eines Objekts führt. Der »Realitätseffekt« wird zudem durch den Umstand unterstützt, dass das Foto als selbstgeneriert erscheint, weil der Fotograf im Bild nicht erscheint. Wir übernehmen als Betrachter den Ort des Fotografen selbst ein, was dem Foto die Qualität einer reinen Gegenwart gibt. Die strukturelle Kongruenz des Blickpunkts vom Auge des Fotografen, dem des Betrachters sowie dem der Kamera unterstützen diesen Eindruck.25 Dieser Realitätseffekt hat also dazu ge25 Einem Blick zurück in die frühe Fototheorie zufolge, wie sie beispielsweise von Benjamin und später Barthes formuliert wurde, ist die Fotografie trotz all dieser konstruktiven Aspekte immer auch »Emanation des Realen«. Das Noema der Fotografie, »So ist es gewesen«, verweist auf eine nach wie vor existierende Beziehung zwischen dem Bild und dem jeweils im Bild dargestellten Phänomen. Fotografie, als das »Mit Licht Geschriebene« untermauert diese
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führt, dass trotz aller Einsicht in die konstruktiven Momente des fotografischen Akts die Fotografie im Kontext einer dokumentarisch-politischen Praxis mit einer sozialen Gebrauchsweise verknüpft wurde und wird, die das Foto so deutet, als ob es sich um eine »objektive« Abbildung von realen Gegebenheiten handle. So ist der Diskurs des Dokumentarischen trotz aller gegenteiligen Einsicht immer noch beherrscht von Zuschreibungen der Neutralität, der Objektivität und der Wahrheit. Matz (vgl. Matz 2000) zufolge offenbart sich bereits in der durch die Fotografen vorgenommenen selektiven Zersplitterung der Welt in raumzeitlich begrenzte Einzelausschnitte deren Konstruktivität. Verkannt wurde zudem (und wird) die stete Einbindung der Fotografie in bestimmte Sinn- und Bedeutungsräume – jede fotografische Wirklichkeitsdarstellung beinhaltet konventionelle perspektivische Blickwinkel, sozial und kulturell bedingte Selektionen und zeitliche Einbindungen. Damit aber erweist sich Fotografie neben allem politischen und dokumentarischen Anspruch immer (auch) als eine ästhetisch überformte Wirklichkeitskonstruktion (vgl. Matz 2000). Das Potential einer Fotografie liegt demnach nicht in einer »wirklichkeitsgetreuen« oder »wahrhaftigen« Realitätsabbildung, vielmehr besteht ihre besondere Bedeutung und Funktion gerade in ihrer Selektionsfunktion, d.h. im Herausheben eines bestimmten Aspektes bzw. in der Betonung von spezifischen Details eines Wirklichkeitsausschnittes. Erneut deutlich wird, dass man das Verhältnis von Fotografie und Wirklichkeit nicht mit den Kategorien »wahr« und »falsch« fassen kann: »Fotografien liefern Betrachtungsweisen der Wirklichkeit und niemals diese selbst« (vgl. Matz 2000). Insofern ist die Fotografie ein Medium, das zwischen Sichtbarkeit und Sichtbarmachung angesiedelt ist und in diesem Spannungsverhältnis sein kritisches Potential entfalten kann: Es obliegt den Intentionen der „dokumentarisch“ arbeitenden Fotografen, welche Wirklichkeitssicht sie der Öffentlichkeit präsentieren wollen und auf welche Weise sie mit der Kontingenz der gewählten Blickwinkel arbeiten. Wie bereits oben angedeutet werden die fotografischen Objekte durch den fotografischen Prozess »ästhetisch überformt«, so dass Fotografien ihre spezifische Bedeutung durch einen ästhetisch-kommunikativen Diskurs, in den sie stets eingebettet sind, erhalten und nicht durch Kriterien der Übereinstimmung bzw. des Analogischen zwischen DarRelation jenseits aller Eingriffs- und Interpretationsmöglichkeiten von Produzenten wie Rezipienten. Und selbst Baudrillard attestiert zumindest der analogen Fotografie noch eine derartige Beziehung, insofern er von der »Spur des Realen« spricht, die aufgrund der Materialität der Lichtspur im fotografischen Material vorhanden ist. Obwohl die Fotografie kaum mehr als »Ikone des Realen« gilt, bewahrt sie doch einen eigentümlichen Bezug zum Dargestellten, der für Bildproduktion wie Bildrezeption gleichermaßen bedeutsam bleibt.
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stellung und Dargestelltem. Entsprechend muss Fotografie als Methode begriffen werden, durch die spezifische Art der Darstellung eines Gegenstandes an der Produktion von Bedeutungen zu partizipieren, die nur vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Sinnhorizonte überhaupt erst verständlich werden. Fotografien entstehen also in einem komplexen Feld verschiedener sozialer, individueller und vom jeweiligen Objekt induzierter Sichtbarkeiten, wobei ihre besondere Bedeutung im Wechselspiel zwischen der alltäglichen Wahrnehmung, der kulturell präformierten Wirklichkeitssicht und der bildnerisch-ästhetischen Konventionen liegt. So scheint es nötig, einen Übergang von einer Abbildungstheorie hin zu einer Theorie der Fotografie zu realisieren, die ihren historischen, sozialen und lebendigen Gebrauch in den Blick nimmt (vgl. Haus 2000) und immer wieder neu das Glaubenssystem des Realismus und die damit einhergehenden Deutungsweisen untergräbt und in Frage stellt. Es lässt sich also zunächst festhalten, dass die mit klaren sozialpolitischen Ansprüchen verbundene Dokumentarfotografie von Beginn an einem Paradoxon unterworfen war, demzufolge sie zwar ihrer Intention nach aufklärend wirken und kritisch sein wollte, dies aber nur innerhalb des allgemeinen, sie umschließenden Systems tat, das sie einschränkte und neutralisierte. Dies bezieht sich nicht nur auf die Art ihrer Produktion, Rezeption und Verwendung, sondern auch auf die strukturell eingeschränkte Fähigkeit konventioneller Dokumentarbilder, das »ideologische« und epistemologische System der Repräsentation zu erschüttern. Indem die Dokumentarfotografie innerhalb der Repräsentationslogik bleibt26, unterliegt sie neben allen Möglichkeiten, die Öffentlichkeit durch Fotografien wachzurütteln, immer auch der Gefahr, eine affirmative Stabilisierungsfunktion der Strukturen zu übernehmen, gegen die sie eigentlich opponieren möchte. Durch ihre, mit der dokumentarischen Fotopraxis assoziierte Form der Sichtbarmachung untermauert sie so häufig die Vorstellung einer vermeintlich gegebenen Faktizität. Die zu Beginn meiner Ausführungen angesprochene Form von Kritik, die ja gerade in einer Negation oder Infragestellung dieser Faktizitäten besteht, würde also von der sozialdokumentarischen Fotopraxis zu wenig entfaltet.
26 Die Annahme, dass die wahrgenommene Realität im zweidimensionalen Raum der bildlichen Repräsentation festgehalten und aufgezeichnet werden kann.
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4. Die Festschreibung und Fixierung h i e r ar c hi sc he r S tr u k tu r e n Entgegen ihrem kritischen Anspruch, etwa durch die Verbreitung bestimmter Bilder und Ideen neue Wahrnehmungsweisen im Gegensatz zur vorherrschenden Sichtweise zu präsentieren und auf diese Weise zur Konstituierung von »Gegenöffentlichkeiten«27 beizutragen, operiert die sozialdokumentarische Fotografie also zumeist innerhalb des Bedeutungskodex der jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen, die sie eigentlich in Frage zu stellen versucht. Neben der bereits angesprochenen Problematik ihrer Einbettung in die Repräsentationslogik offenbart sich dies auch an dem Punkt, wo im fotografischen Akt eine gesellschaftlich bereits existierende Subjekt-Objekt-Hierarchie perpetuiert wird: Der arme, sozial schwache Fotografierte als passives Objekt – der Fotografierende als Deuter, Interpret, als aktives Subjekt. Viele der politisch-ethisch motivierten Fotografien präsentieren die leidenden Personen in einer Weise, die ihren Opfer- und Objektstatus fortschreibt. Individualität und Eigenständigkeit in Blick und Geste werden eher vermieden zugunsten einer Ebene der Abstraktion, die es erlaubt, die je Dargestellten als Prototyp für Bevölkerungsgruppen oder soziale Milieus präsentieren zu können. Diese Art der Darstellung kann so zu einer Stabilisierung statt grundlegenden Infragestellung der hierarchischen Strukturen führen, welche die sozialpolitisch motivierte Fotografie eigentlich kritisieren will. Die eindeutige Gleichsetzung der sozialdokumentarischen Fotografie mit Progressivität und Reform erweist sich vor diesem Hintergrund als problematisch: So kann sich durch die dokumentarische Fotografie auch eine doppelte Unterjochung ergeben, indem einerseits die innerhalb der Gesellschaft existierende Ausgrenzung und Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen oder ethnischer Minderheiten dargestellt wird, andererseits aber das Bild durch die Art des Zugangs und der Darstellung die Bedingungen mitkonstruiert, die es re-präsentiert. Dieser Objektstatus, der den Fotografierten als quasi natürlich attestiert wird, wird auch dadurch verstärkt, dass im Gegensatz zu den Fotografen die Fotografierten keinen Zugang zu den Repräsentationsmedien haben, mit denen ihr Schicksal der Öffentlichkeit präsentiert wird. Ein »kolonialisierender« (vgl. Hall 2003) Blick der Fotografen kann die Folge sein, zumal diese häufig in einer distanzierten Voyeurperspektive verharren. Trotz eines gegenläufigen Anspruchs der Fotografen reproduzieren somit viele sozialdokumentarische Fotografien universelle Klischees und Stereotypisie27 Dieser sich an Negt/Kluge orientierende Begriff ist sicherlich nicht ganz unproblematisch, doch impliziert er einen Kritikmodus, der hier durchaus legitim erscheint.
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rungen und verhärten somit oftmals eher die Strukturen, die eigentlich in Frage gestellt werden sollten (vgl. Wolf 2003). Die großen traurigen Kinderaugen eines hungernden Kindes aus Afrika, die uns in U-Bahnschächten und auf Bahnhöfen alltäglich anschauen, mögen so zwar eine empathische Reaktion auslösen, die im günstigen Fall zu einer Spende an entsprechende Organisationen führt, doch bleibt jenseits aller positiven Effekte solcher Hilfsaktionen auch diese emotionale Reaktion eingebettet in eine problematische Opfer-Helfer-Beziehung, die letztlich fixiert, was Ursache solchen Leidens ist.
5 . F o t o g r a f i e a l s B em ä c h t i g u n g sg e s tu s Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Fotografie, auch die sozialpolitisch motivierte, immer wieder als Instrument der Beherrschung, der Inbesitznahme, der Aneignung und Aggression gedeutet wird. In umgangssprachlichen Formulierungen wie: Bilder schießen, ein fotografisches Objekt ins Visier nehmen, Schnapp-Schuss etc. offenbart sich bereits dieser Gestus der Bemächtigung, der immer auch auf Kontrolle durch Aus- und Abblendung des Nicht-Kontrollierbaren sowie auf die Stabilisierung der mächtigen Subjektposition gegenüber einem ohnmächtigen Objekt zielt. Fotografieren wird in diesem Sinne von Sontag (vgl. Sontag 1990) als unerträgliche Einverleibung und Inbesitznahme des Anderen (Objekt oder Ding) begriffen. Fotografien untermauern die Illusion, man könne sich die ganze Welt bildlich verfügbar machen. Die Welt erscheint in dieser Perspektive als Anthologie von Fotos (vgl. Sontag 1990). Bilder werden zu stapelbaren Objekten, die suggerieren, die Komplexität der Welt bildlich fassen und beherrschen zu können. Fotografien versinnbildlichen den Versuch, auf diese Weise Kontrolle und Unsterblichkeit zu erlangen, da sie scheinbar ermöglichen, Vergangenes unvergänglich zu machen. Der fotographische Akt wird bei Sontag (vgl. Sontag 2003) folglich als Machtausübungsakt gedeutet, der den fotografierten Objekten keine Möglichkeit der Einflussnahme einräumt. Dieser Gestus der Inbesitznahme wird von Vivian Sobchak (vgl. Sobchak 1988) auf das Zeitliche ausgedehnt. Ihr zufolge ist Fotografie mit einer »Mumifizierung von Gegenwart« gleichzusetzen, die auf einen typischen Habitus der Moderne verweist, nämlich den Wunsch und die Illusion, sich die Welt (und ihren zeitlichen Verlauf) mittels des Bildes aneignen und sie kontrollieren zu können. Die Verfügbarmachung der im Foto dargestellten »Objekte« erweist sich so als implizites Ziel des fotografischen Akts, was eine eigentümli-
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che Haltung gegenüber den dargestellten »Opfern« in der sozialpolitisch motivierten Fotografie offenbart. Er zeigt einen Umgang mit dem Fremden (und als solche erscheinen die dargestellten Personen in ihrer Armut und in ihrem sozialen Elend häufig), der entweder einer fotografischen »Einverleibung« unterworfen wird, und/oder durch eine voyeuristische Sichtweise auf Distanz gehalten wird. Die sich hier offenbarenden »emischen« oder »phagischen« Strategien im Umgang mit dem Fremden, auf die Bauman28 an anderer Stelle verweist, werden also in der Fotografie entgegen ihrem Anspruch häufig fortgeschrieben. Die Grenzen einer grundlegenden Kritik an den jeweiligen Lebensverhältnissen durch die Fotografie werden auch hier wieder deutlich. Auch ein anderes Merkmal der sozialdokumentarischen Fotopraxis unterstreicht diese Deutung: Solomon-Godeau (vgl. Solomon-Godeau 2003) zeigt auf, dass in der sozialdokumentarischen Fotografie die Personen häufig als bildliches Spektakel dargestellt werden. In ähnlicher Weise kritisiert Bauman den gegenwärtig zu beobachtenden Bilderstrom, der das Elend anderer Menschen in einem unaufhörlichen Strom leicht beunruhigender, aber auch leicht amüsanter Spektakel auflöst (Bauman 1997: 318). Dazu zählt auch die Fokussierung des Blicks auf einzelne, seltsam plakativ und unpersönlich wirkende Individuen, deren Präsentation im Foto oft zum Anekdotischen degeneriert, weshalb ein entsprechendes Foto zumeist ohne politischen Einfluss bleibt. Stuart Hall (vgl. Hall 2003) unterstreicht diesen Aspekt indem er auf Fotos verweist, die ein folkloristisches Moment beinhalten. So seien viele Fotografien von sozial Unterprivilegierten so inszeniert, dass sie den Betrachtern das Gefühl vermitteln, die dargestellten Personen seien die Hilfeleistungen wert, zu denen man mit den Bildern auffordert. Auch hier offenbart sich erneut eine Ambivalenz der sozialdokumentarischen Fotopraxis: Einerseits werden die dargestellten Opfer instrumentalisiert, andererseits aber evozieren die Fotografien erst jene Hilfeleistungen, ohne die es den Menschen noch schlechter ginge. Zudem bleiben gerade die »effektvollen« Fotografien im (kollektiven) Gedächtnis, in denen das Schicksal von Einzelpersonen in besonders dramatischer Weise dargestellt wird. Eines der berühmtesten Beispiele ist wohl das Foto des vor Napalmbomben flüchtenden nackten Mädchens 29, das Teil unserer Erinnerungskultur geworden ist und als solches jenseits aller zuvor angesprochenen Problematik bis heute eine politische Bedeutung hat. 28 Bauman zeigt auf, dass das Fremde in unserer Kultur entweder einverleibt wird, d.h. assimiliert wird, oder aber ausgegrenzt und auf Distanz gehalten wird (vgl. Bauman 2003). 29 Wobei interessant ist, dass gegenwärtig diskutiert wird, ob dieses Foto gestellt ist bzw. ob und wann der Fotograf eingegriffen hat, um dem fliehenden Mädchen zu helfen.
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Trotz dieser nicht zu verleugnenden positiven Effekte führt die Individualisierung und Personalisierung des sozialen Elends dazu, dass der Blick von den das Elend bedingenden Strukturen abgelenkt wird und die dargestellten Personen lediglich zu (beherrschbaren) Projektions-Objekten von Mitleid und Betroffenheit werden. Statt – wie zu Beginn gefordert – eine Verunsicherung der tradierten Wahrnehmungen und Deutungsweisen zu bewirken, werden diese durch die Fotografien häufig weiter festgeschrieben. Zudem degradiert die herkömmliche Fotopraxis die fotografierten Subjekte auch auf andere Weise, da die Fotografien nur kurzfristige Gültigkeit haben und die Lebensverläufe der jeweiligen Personen in der Öffentlichkeit nicht zur Darstellung kommen. Dies hat wesentlich mit dem massenmedialen Kontext zu tun, der spezifische Rahmenbedingungen der Fotopräsentation schafft. Der fotografische Akt, der einen raumzeitlichen Ausschnitt markiert, berücksichtigt weder die komplexen Kontexte, in denen sich die einzelne Person befindet, noch zeigt sie deren Geschichte. Längerfristig dokumentieren so die Fotografien eher die Genialität, die Kunstfertigkeit oder den Mut des Fotografen als das Schicksal der Dargestellten.
6 . Re z e p ti o n d e r D o k u m e n t ar f o to g r af i e Die Betrachtung der Fotografie als Medium der Kritik impliziert notwendigerweise auch einen Blick auf die Fotorezeption, da jedes Foto eingebunden ist in eine spezifische Rezeptions- und Deutungstradition. Der Fototheoretiker Haus (vgl. Haus 2000) differenziert bei seiner Analyse des gesellschaftlich tradierten Umgangs mit Fotografie zwischen einem sozialen (öffentlichen, konventionellen, politischen) und einem lebendigen (persönlichen, an einen individuellen Betrachter gebundenen) Gebrauch des Mediums. Die öffentliche, durch Konventionen und Regeln gesteuerte Sicht auf Fotos (hier drängt sich eine Bezugsetzung zum Barthes’schen Begriff des Studiums auf), ermöglicht eine Fotointerpretation auf der Basis sozialer Standards und festgelegter Bedeutungsraster. Sie ist zu unterscheiden von einer immer auch möglichen, parallel dazu verlaufenden individuellen Rezeption, die sich als emotionales Berührtsein offenbart oder sich in Form einer schockartigen Betroffenheit durch ein winziges Fotodetail (punktum!) äußert. Der »lebendige Gebrauch« kann dazu führen, dass die Betrachter eine eigenständige Beziehung zwischen einem Foto und dem persönlichen Erfahrungshorizont herstellen. Haus zufolge verdeutlicht die Rezeption der Fotografie in besonderer Weise, in welchem Ausmaß unsere Weltsicht von Wahrnehmungskonventionen und entsprechenden Bilddeutungen beeinflusst ist. Die Foto-
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grafie und ihre Rezeption sind immer in historische Zusammenhänge eingebettet, d.h. die Art und Weise, wie Wirklichkeit in einem Foto (re-) präsentiert und rezipiert wird, ist Teil einer gewachsenen, in ständigem Umbruch sich befindlichen menschlichen Praxis. Wenn Menschen also ein Foto betrachten, so sind sie stets in diese Sinnhorizonte eingebunden. Und doch vermag möglicherweise ein irritierender Funke im Bild jenen Überschuss an Sinn erzeugen, aus dem sich ein kritisches Potential entfalten kann. Obwohl also der Kontext der Rezeption eines Fotos, z.B. das jeweilige Publikationsorgan samt den für dieses typischen Rezeptionsweisen (Galerie versus Presse), das redaktionelle Umfeld (Bildunterschrift etc.) und die jeweils beigefügten Texte, die individuell dem Foto zugeschriebene Bedeutung maßgeblich beeinflusst, kann im Foto ein Bedeutungsüberschuss verbleiben, der einen produktiven Riss im Bedeutungsgefüge erzeugt. Zwar wird durch die oben beschriebenen kontextuellen Eingrenzungen und Festlegungen die Vielschichtigkeit möglicher Deutungen eingegrenzt, doch bleibt im Idealfall jenseits der offensichtlichen »Botschaft« ein Rest, ein sinn-leerer Raum, in dem sich individuelle Bedeutungsgenerierungen entfalten können. Auf das damit einher gehende mikropolitisch wirksame Kritikpotential haben insbesondere Vertreter der Cultural Studies, allen voran Stuart Hall (vgl. Hall 2000) und John Fiske (vgl. Fiske 1999) ausführlich verwiesen. Dieses Potential ist jedoch durch die Menge an Bildern bedroht, denen wir gegenwärtig allerortens begegnen.30 Sie hat nicht nur zu einer oft ermüdeten, gelangweilten und desinteressierten Haltung der Betrachter geführt, sondern schreibt häufig die gesellschaftlichen Strukturen der Ausgrenzung fort (wie oben bereits angesprochen). Zudem führen diese »Bilderfluten« nicht selten dazu, dass sich ein Voyeurismus31 als typische Haltung des Rezipienten herausbildet, der das dargestellte Leid auf Distanz hält und kaum Re-AKTIONEN evoziert (vgl. auch SolomonGodeau 2002). Die Schaulust ist dabei zudem häufig mit einem Bemächtigungstrieb assoziiert, der auch die möglicherweise noch vorhandenen Reste eines potentiell beunruhigenden Fremden im Bild entsprechend den konventionellen Bedeutungsmustern einverleibt und den Fotos damit ihre Schärfe raubt (vgl. Wolf 2003: 129). Wenn überhaupt – wie bei der jüngsten Tsunamikatastrophe beobachtbar, Reaktionen erfolgen, so sind diese primär gefühlsmäßig. Als solche sind sie zwar insofern wichtig, als sich daraus eine »Welle der Hilfsbereitschaft« entwickeln kann, die den 30 Und auch von Susan Sontag (2003) diagnostizierte. 31 Zudem kommen die komplexen Aspekte der sexualisierten Voyeurposition mit ins Spiel, der zufolge sich jede Wahrnehmung als komplexes Gefüge von Begehren, Projektion, Besetzung und Verdrängung erweist, die besonders problematisch im Bereich des Sozialdokumentarischen ist.
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betroffenen Menschen durchaus von Nutzen ist. Doch führen die emotionalen Reaktionen nur selten zu einer reflexiven Auseinandersetzung mit den strukturellen Umständen derartigen Leids, die aber für eine, über die situative emotionale Betroffenheit hinausgehende politische Aktivität erforderlich wäre.32 Abschließend ist darüber hinaus kritisch anzumerken, dass sowohl auf Seiten der Fotografierenden wie der Betrachter immer wieder eine Haltung zu beobachten ist, die Bauman (vgl. Bauman 1997) an anderer Stelle als typische Attitüde der Spätmoderne bezeichnet: Die Haltung des Flaneurs oder des Touristen, der im Vorüberziehen den Bildern und Phänomenen kurze Aufmerksamkeit schenkt, doch keine Bindungen eingeht, d.h. keine Verantwortung übernimmt. In einer distanzierten Beobachterperspektive verharrend, nimmt der Flaneur oder Tourist den im Bild dargestellten Schrecken zwar zur Kenntnis, doch bleibt er davon zumeist unberührt (vgl. Becker 2005). Dies gilt nicht nur für den Betrachter, sondern ebenso für viele Fotografen, die – wenn überhaupt – allemal einen kurzlebigen Kontakt mit den fotografierten Leidenden aufbauen.33 Da zudem das Fremde, Unvertraute und der potentiell bedrohliche Schrecken in einem vertrauten Rahmen (Fotoserien in Zeitschriften, Ausstellungen etc.) präsentiert werden und auf diese Weise auf Distanz gehalten werden können, rütteln die Bilder nicht an den konventionellen Wahrnehmungsweisen und Lebensformen. Sie bleiben auf diese Weise häufig wirkungslos, weil sie die Haltung des Flaneurs oder Touristen nicht wirklich zu durchbrechen vermögen, dessen eigenes Leben von den Bildern kaum tangiert wird. Trotz einer Fülle an bildlichen Darstellungen menschlichen Elends wird die von Bauman diagnostizierte Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit nur selten durchbrochen, weil das dargestellte Elend aufgrund der distanzierten Beobachterhaltung nicht in Beziehung gesetzt werden muss zur eigenen Lebensform. Wenn, wie im Fall der Tsunamikatastrophe, es doch zu einer breiten Hilfsaktion kommt, deren Wichtigkeit und Wirkung hier nicht unterschätzt werden soll, bleibt diese zumeist begrenzt auf eine bestimmte Periode und eine spezifische Situation.34 So führen auch derartige Reaktionen nur selten dazu, dass eine tiefergreifende Solidarität (i.S. von Rorty 1992) mit den Leidenden entwi-
32 Die Begrenztheit solcher Hilfeleistungen zeigte sich auch darin, dass die vom Bürgerkrieg betroffene Provinz Aceh in Indonesien von Hilfsgütern nur wenig bekam, weil diese von Regierungstruppen konfisziert wurden oder in Korruptionsfällen verloren gingen. 33 Nachtwey ist hier ein hervorzuhebendes Ausnahmebeispiel. 34 Die zeitliche Nähe zum emotionsbeladenen Weihnachtsfest und die große Anzahl deutscher Touristen unter den Opfern hat sicherlich mit dazu beigetragen, dass in Deutschland eine so große Spendensumme zustande kam.
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ckelt wird, sich eine Gefühl der individuellen Verantwortung entfaltet35 und die strukturellen Ursachen derartigen Elends analysiert werden.
7 . W a s k an n d i e F o t o g r af i e a l s M e d i u m d e r K r i ti k l e i s t e n ? Betrachtet man die Fülle an Problemen, denen sich die sozialdokumentarische Fotografie ausgesetzt sieht, so stellt sich die Frage, in welcher Weise Fotografie überhaupt als »Medium« von Gesellschaftskritik fungieren kann, scheint sie doch – entgegen ihrer Absicht – mit ihren Darstellungsformen die kritisierten Zustände eher zu stabilisieren als zu demontieren. Einige abschließende Bemerkungen sollen im Folgenden das dennoch verbleibende Potential dieses Mediums ausloten. Bereits zuvor wurde kurz die aktive bedeutungsgenerierende Rolle des Betrachters angesprochen, aus der sich Potentiale von Kritik entfalten können.36 Diese sinnstiftende Funktion wird durch die spezifischen Merkmale des Mediums Fotografie unterstützt, da die fotografische Aufnahme die zeitliche Kontinuität unterbricht und den räumlichen Zusammenhang aufbricht.37 Erst der Bildbetrachter vermag diese Zerstückelung durch eigene Assoziationen wieder rückgängig machen, indem er das Foto zeitlich und räumlich re-kontextualisiert. Dies impliziert eine aktive, reflexive Auseinandersetzung mit der Fotografie, da die Betrachter dazu genötigt sind, das jeweilige Foto vor dem Hintergrund ihres individuellen Erfahrungshorizonts wie auch des vorherrschenden kulturellen Codes zu entziffern. Zudem müssen sich die Betrachter der eigenen Beobachtersituation ebenso bewusst werden wie sie die Bedingungen analysieren müssen, unter denen eine Fotografie entstanden ist und wie sie jeweils präsentiert wird. Dieser voraussetzungsvolle Umgang mit Fotografie bedarf allerdings einer noch zu erlernenden neuen Wahrnehmungs- und Deutungspraxis: Ein derartiger reflexiver Zugang impliziert zum einen eine Entschlüsselung des expliziten wie impliziten Codes eines Bildes jenseits des konkret Dargestellten sowie eine Analyse der Assoziationsketten, die Fotos auslösen, und die eine Differenz zur konventionellen Sicht aufzeigen können. Die Aufdeckung der Diversifikation zwischen den Intentionen des Bildschaffenden und der Deutung durch den Betrachter sowie die Analyse der medienspezifischen Ästhetik der Fotogra35 Wie es beispielsweise Bauman fordert (Bauman 2003). 36 Hier knüpfe ich – wie bereits gesagt – an Perspektiven an, wie sie von Vertretern der Cultural Studies entwickelt wurden (z.B. Hörning/Winter 1999). 37 Hierzu auch Sontag (1999): »Fotos sind einprägsamer als bewegliche Bilder – weil sie nur einen säuberlichen Abschnitt und nicht das Dahinfließen der Zeit zeigen«.
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fie können zusätzlich dazu führen, den komplexen Bedeutungszusammenhang einer Fotografie jenseits ihrer plakativen Oberfläche und ihrer vermeintlich eindeutigen Botschaft zu erkunden. Flusser (vgl. Flusser 2000: 190) fordert dementsprechend eine komplexe Entzifferungspraxis, die notwendig ist, um die vielschichtigen Bedeutungsebenen und die miteinander vermengten Codes einer Fotografie zu entschlüsseln. Aus diesem reflexiven Zugang ergibt sich die Chance, die angesprochenen vielschichtigen Probleme der Dokumentarfotografie zu erkunden und den latenten wie offenen ideologischen Charakter vieler Dokumentarprojekte und die in ihr herrschende DOXA (Solomon-Godeau 2003) freizulegen. Das bedeutet, die kulturelle, politische und sprachliche Eingebundenheit der Fotografie zu analysieren und ihre Bedeutung innerhalb der Repräsentationssysteme, in denen sie operiert, kritisch zu beleuchten. Eine neue Praxis des Sehens ist dabei ebenso gefordert wie eine damit einhergehende ständige Infragestellung vermeintlicher Faktizitäten. So bedarf es immer wieder neu einer Analyse des Spannungsverhältnisses, das zwischen dem medienimmanenten Kritikpotential der Fotografie und der von ihr gleichzeitig übernommenen »ideologischen« Rolle im Gesellschaftssystem besteht. Um diese reflexive Ebene der Auseinandersetzung zu unterstützen, ist eine neue Praxis des Dokumentarischen erforderlich (vgl. Solomon-Godeau 2003), die sich einer vermeintlichen Wiedergabe der Realität verweigert, weil diese ohnehin Fiktion ist. Kritische Fotografen mit einem derartigen Anspruch streben dementsprechend einen radikalen Dokumentarismus an, der von der Kontemplation zur Aktivation führen soll und der häufig eher in der künstlerischen Tradition der Fotografie verankert ist. Durch irritierende Darstellungsformen, die Brüche in der Repräsentationslogik evozieren, vermag Fotografie die Kontingenz etablierter Sinnhorizonte offen legen und vermeintliche Faktizitäten als gesellschaftliche Konstruktionen entlarven. Indem sie auf diese Weise eingefahrene Deutungsmuster mit anderen möglichen Sicht- und Denkweisen konfrontiert, kann sie Alternativen eröffnen und somit eine wichtige Grundlage für die Entfaltung von Handlungsoptionen schaffen. Die von Adorno bis Bauman für das kritische Denken geforderte Negation des Gegebenen und die Übertreibung als Denk- und Darstellungsmodus sind allerdings in der künstlerischen Fotografie eher umsetzbar als in der dokumentarisch sich präsentierenden Fotografie. Und ebenso findet sich hier jener Kritikmodus realisiert, den Bauman (vgl. Bauman 2003) und Sontag einfordern, wenn sie Bedeutungsverschiebungen, Irritationen des bestehenden Sinnzusammenhangs und Infragestellungen scheinbarer Gewissheiten als notwendige Modi kritischen Denkens beschreiben.
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Derartige Irritationen und Risse in der Repräsentationslogik finden sich immer wieder in der künstlerischen Fotografie, die auf ihre Weise die bestehenden Strukturen zu erschüttern vermag. Gerhard Richter zeigt so beispielsweise in seinen Gemälden zur Geschichte der RAF eine eigentümliche Nähe zur Fotografie auf, da seine Bilder unscharfen Fotoreihen gleichen, die aufgrund ihrer Anordnung deutliche Assoziationen zu den zeitgleich verbreiteten Fahndungsfotos der RAF aufweisen. Durch die Unschärfe der Bilder wird die der Fotografie allgemein attestierte Repräsentationslogik ebenso attackiert wie das dahinter stehende Herrschaftssystem. Es bleibt für den Betrachter zunächst unklar, welches Verhältnis zwischen Malerei und Fotografie hier besteht. In ihrer Ambiguität und Uneindeutigkeit entziehen sich die Bilder damit einer direkten Einordnung und Klassifikation, sondern evozieren jene Nachdenklichkeit beim Betrachter, aus der sich kritisches Denken entfalten kann. In ähnlich irritierender Weise operiert Martha Rosler, die mit ihren Fotografien von Slums einerseits an die Tradition der dokumentarischen Fotografie anzuknüpfen scheint, andererseits aber Ratlosigkeit beim Betrachter durch den beigefügten »Text« auslöst: Es sind nur einzelne, zusammenhanglose Worte, die den Fotografien beigeordnet sind, Worte, die sinnlos erscheinen und nur schwer mit den jeweiligen Bildern in Beziehung zu setzen sind, Sie nötigen den Betrachter, einen eigenen Sinnzusammenhang herzustellen zwischen Wort und Bild. Die sich hier ergebenden Assoziationen sind zunächst sehr persönlich, bergen aber das Potential zur Kommunikation und damit zur Aktivation in sich.38 Die bei Richter und Rosler gleichermaßen beobachtbare Verweigerung, sich mit ihren Arbeiten in das bestehende kulturelle Sinnsystem einzuordnen, lässt sich in Beziehung setzten zu jenem Modus oppositionellen Denkens, der zu Beginn als Möglichkeit von Kritik skizziert wurde. Mit ihren unscharfen Fotoimitationen und den »unstimmigen« TextBild-Bezügen unterwandern sie auf subversive Weise die vorherrschende Signifikationspraxis und fordern die eigenständige Interpretationstätigkeit der Betrachter heraus.
38 Wenn Kritik in dieser Form – v.a. von Habermas und Honneth - als Versuch betrachtet wird, mit argumentativen Mitteln zu überzeugen, wird deutlich, dass die Fotografie zwar auf der Ebene der Aufklärung und emotionalen Evokation einen wesentlichen Beitrag zur Gesellschaftskritik leisten kann, dass Kritik aber darüber hinaus eine reflexive und kommunikative Auseinandersetzung erfordert. Wenn Fotografien sozialen Elends zunächst an die emotionale Ebene, an die Empfindsamkeit rühren, können sie dabei nicht stehen bleiben, sondern erfordern eine distanznehmende, die Betroffenheit übersteigende Form von Reflexivität, die nach sprachlich verfasst sein muss, um Kommunikation mit Anderen und damit auch politische Handlungen überhaupt erst zu ermöglichen.
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Die von Solomon-Godeau (vgl. Solomon Godeau 2003) geforderte neue radikale Praxis des Dokumentarischen, die eher Fragen aufwirft als Antworten liefert und Sichtweisen erschüttert statt stabilisiert, erlaubt es, eine Beziehung herzustellen zu dem Kritikmodus einer fortlaufenden Irritation und Infragestellung bestehender Bedeutungszusammenhänge, auf den zu Beginn verwiesen wurde. Es ist also weniger die traditionelle und zunehmend auch massenmedial verbreitete Form von sozialdokumentarischer Fotografie, die als wirkungsvolles Medium der Kritik fungieren könnte, da diese – wie oben erläutert – systemische Strukturen eher fortschreibt als unterwandert. Fotografien von menschlichem Leid und sozialer Ausgrenzung, wie sie von sozialpolitisch motivierten Fotografen wie Nachtwey, Salgado, Meiselas und anderen in der Öffentlichkeit präsentiert werden, sind durchaus wichtige Indikatoren für die existierende soziale Ungerechtigkeit in der Welt und als solche legitim und notwendig. Doch zeigt sich, dass eine vorwiegend emotionale Reaktion39 auf derartige Fotografien zwar eine kurzfristige Hilfsbereitschaft evozieren kann, es jedoch nur selten zu einer reflexiven Auseinandersetzung mit den möglichen Ursachen für die Ungleichverteilung materieller Güter in der Welt kommt, wie es eigentlich erforderlich wäre. So offenbart sich ein weitergehendes kritisches Potential der Fotografie womöglich eher in einer radikalen Praxis des Dokumentarischen bzw. einer häufig als künstlerisch etikettierten Form von Fotografie, die jenseits der Repräsentationslogik angesiedelt ist und die sich durch Vernetzung verschiedener Medien (Schrift und Bild, Klang und Bild, Fotografie und Malerei) eindeutigen Botschaften verweigert und plakative Zuschreibungen im Sinne der vorherrschenden Bedeutungssysteme ironisch oder irritierend kommentiert. Fotografien, die Fragen aufwerfen, statt durch ihre Darstellungsform bestehende (Vor-)Urteile verfestigen und Klischees perpetuieren, entsprechen weitaus mehr dem anfänglich angesprochenen Kritikmodus, weil sie eine Infragestellung vermeintlicher Faktizitäten darstellen und damit auf die Kontingenz bestehender Sinnhorizonte verweisen. In ihrer Verweigerung eindeutiger Bedeutungen oder »Botschaften« ermöglichen sie eine Öffnung auf andere Betrachtungsweisen und Deutungsmuster jenseits der jeweils vorherrschenden kulturellen Wahrnehmungs- und Deutungskonventionen und evozieren neue Sehweisen abseits vom »dominanten Code«. Zudem eröffnen sie einen Raum von Zweideutigkeit und Zwielichtigkeit, der verstört und Unruhe verbreitet. Fotografien dieser Art problematisieren die dem Foto attestierte »naturalistische Oberfläche« (vgl. Hall 2003) und zeugen da39 Wahrscheinlich auch bedingt durch die zeitliche Nähe zum emotional aufgeladenen Weihnachtsfest und durch die Tatsache, dass unter den Opfern Deutsche waren.
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mit vom Wissen um die Ambivalenz dieses Mediums. Als Folge sind die Betrachter derartig irritierender Fotos zu einer eigenständigen Sinngenerierung aufgerufen, da sie sich jenseits der ästhetischen Wahrnehmung die jeweiligen Fotografien reflexiv erschließen müssen. Dieses Moment der Reflexivität und der damit einhergehenden eigenständigen Sinnkonstituierung ist jedoch eine notwendige Voraussetzung für eine Form der Kritik, die eine, über situative Betroffenheit hinausgehende Wirkung zeigen kann. Fotografie in diesem Sinne eröffnet zudem die Möglichkeit eines »Gesprächs«, da sie keine klaren Botschaften verbreitet oder eindeutige Erklärungen liefert und auf diese Weise Reflexivität und Dialogizität im Keim zu ersticken droht, sondern Fragen stellt und potentielle Dialoge anstößt. Betrachtet man die kommunikative Auseinandersetzung im öffentlichen Raum als notwendige Bedingung für eine wirkungsvolle Kritik am Bestehenden40, kann eine irritierende, verstörende und Fragen aufwerfende Form der Fotografie eine wichtige Initiationswirkung für die reflexive Auseinandersetzung mit den bestehenden gesellschaftlichen Strukturen haben. In dieser Funktion könnte sich Fotografie nach wie vor als wirkungsvolles Medium der Kritik erweisen.41
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40 Wie dies von Bauman, Honneth, Kamber/Imhof, Müller-Doohm und natürlich Habermas gefordert wird. 41 Natürlich ist auch die künstlerische Fotografie in bestimmte Rahmenbedingungen eingebunden, die ihr Kritikpotential bedrohen: Die Regeln des Kunstmarktes, die Rezeptionsformen in Galerien und Museen, die den oben angesprochenen Voyeurismus geradezu provozieren, die gesellschaftliche »Toleranz« gegenüber dem Verstörenden – all dies sind nicht zu verleugnende einschränkende Faktoren.
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D I E Ü B E R W A C H U N G S T E C H N I K AL S H E R A U S F O R D E R U N G D E R K R I T I SC H E N T H E O R I E UND PRAXIS LUTZ ELLRICH Marshall McLuhan, der nicht allein zu den Gründervätern der Medienwissenschaft zählt, sondern auch als Medienberater des Heiligen Vaters hervorgetreten ist, mithin Theorie und Praxis lukrativ und spektakulär zu verbinden wusste, ist berühmt für seine exzentrischen Ansichten. So vertrat er etwa die erstaunliche These, dass eine angemessene Analyse der Medien nur dann gelingen könne, wenn der Beobachter einen gleichsam medien-externen Standpunkt beziehe. McLuhan verließ sich hier augenscheinlich auf das Theoriedesign von Immanuel Kant, der die Bedingungen der Möglichkeit von Gegenstands-Erkenntnis zu klären versuchte, indem er zunächst eine scharfe Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt traf. Was können oder müssen wir – so wäre im Kielwasser der Kantischen Philosophie zu fragen – vor aller Erfahrung mit den Medien über die Medien schon wissen? Und wie könnte ein synthetisches Urteil a-priori über die Medien lauten? Zwei Fragen, auf die es bisher keine überzeugenden Antworten gibt. Dass diese Herangehensweise untauglich ist, wenn man ebenso objektives wie verwertbares Wissen gewinnen möchte, hat bereits Hegel in seiner Kantkritik behauptet und ein historisch-phänomenologisches Programm entworfen, demzufolge das erkennende Subjekt stets in jene Prozesse verwickelt ist, in deren Verlauf das Objekt des Wissens überhaupt erst entsteht.1 In den wirklichen Erkenntnisprozessen, zu denen sogar die transzendentale Analyse (sei es als »Kritik der reinen Vernunft«, sei es als Kritik der puren Medialität) gehört, sind also – laut Hegel – Subjekt und Objekt immer schon vermittelt. Wie aber, so könnte ein obstinater Kantianer zurückfragen, lässt sich nun wiederum diese Vermittlung beobachten, wenn nicht aus der Distanz des Analytikers oder Kritikers, der sich der Vermittlung entwindet und allein unter dieser Voraussetzung die konstitutiven Prozesse sehen kann, die er zu sehen vermeint? 1
Die Figur des externen Beobachters ist – wie man sieht – schon fragwürdig geworden, lange bevor die Heisenbergsche Unschärferelation als unhintergehbare Einsicht in die Logik der Forschung ihren Siegeszug antritt.
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McLuhan bedient sich jedoch keiner erkenntnistheoretischen Volten, um das Kantische Programm zu verteidigen, er entwirft stattdessen ein anthropologisches Modell der medialen Organerweiterung, das gewisse Ähnlichkeiten aufweist mit Helmuth Plessners These, dass der Mensch sich durch seine exzentrische Positionalität auszeichnet. Wenn aber der Mensch zu sich selbst von vorn herein in einem derartigen Verhältnis der Äußerlichkeit steht und zudem in der Lage ist, (Medien-)Techniken zu erfinden, die seine biologischen Mängel nicht allein kompensieren, sondern auch die arteigenen Anlagen ins schier Unermessliche steigern, dann sollte er doch wohl auch im Stande sein, die künstlichen Gebilde, die er sich zu Nutze macht, aus souveräner Distanz zu betrachten. Dieser anthropologisch grundierte Abstand gegenüber einer Technik, die ja nicht bloß fügsam und geschmeidig ist, vielmehr schwer voraussehbare Folgen hat und ihren Erfinder im Akt der Verwendung gleichsam betäubt, manifestiert sich nicht als theoretische Kontemplation, als Haltung des bloßen Betrachters, sie zeigt sich hingegen als überlegener Eingriff des Praktikers, der Techniken nutzt, verändert und zuweilen auch mit guten Gründen auf sie verzichtet. McLuhans Rolle als Medienministrant des Papstes steht deshalb nicht im Widerspruch zu seiner Funktion als Theoretiker. Schließlich lässt sich nur durch die Probe aufs Exempel herausfinden und durch ein synthetisches Urteil a-posteriori bestimmen, wann die Medien, die sich selbst als Botschaft verkünden, mit der Verkündigung der Evangelien zur Deckung gelangen. Trotz faszinierender Implikationen bzgl. der Kopplung von Theorie und Praxis, die uns auch im Weiteren noch beschäftigen wird, scheint McLuhans Figurenarsenal an Attraktivität verloren zu haben. Sind denn nicht Analyse und Kritik der Medien viel effektiver und eindrucksvoller, wenn sie sich in den Medien oder mit Hilfe der Medien artikulieren, welche sie ins Visier nehmen? Provozieren uns nicht Platons Kritik der Schrift im Medium der Schrift (um ein antikes Beispiel zu wählen) oder Bourdieus Attacke auf das Fernsehen, die im Fernsehen ausgestrahlt wurde (um ein Exempel aus der jüngsten Vergangenheit hinzuzufügen), gerade durch ihre paradoxale Struktur und die virtuosen Spiele mit dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, die wir im Text zu Gesicht und Gehör bekommen?2 Fallen dagegen nicht unweigerlich die Zugriffe eines Mediums auf ein anderes – zum Beispiel kritische Bücher über das Fernsehen – ein wenig ab? Man denke etwa an Neil Postmans Werk »Wir amüsieren uns zu Tode«, bei dem wir uns zu Tode langweilen, oder Walter van Rossums kraftvolle Polemik gegen ein bestimmtes TV-Format (»Meine 2
Bourdieu will uns ja die »Auswirkungen« der »unsichtbaren Strukturen« (1998: 53) des Mediums Fernsehen vor Augen führen, indem er die von ihm präsentierte Kritik selbst unter die Wirkungsgesetze des Mediums stellt.
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Sonntage mit Sabine Christiansen«), die dazu führt, dass wir uns diese fade Sendung wieder einmal anschauen und jetzt köstlich amüsieren und einander permanent zurufen: Wie es im Buche steht! Und wirkt nicht auch Barry Levinsons gut gemeinter Film »Wag the Dog« über eine politisch motivierte Medienkampagne, die sich in erster Linie des Fernsehens bedient, seltsam schal, weil er mit der Filmkamera so ostentativ wie irgend möglich Hinterbühnen öffnet, die das TV-Medium selbst viel raffinierter und deshalb im Endeffekt auch erhellender präsentiert? Die Entfaltung der Paradoxie aller Medienkritik, die uns als Darstellungsmethode so reizvoll und sachlich geboten erscheint, kann völlig darauf verzichten, eine Alternative zum be- und verurteilten Gegenstand anzubieten. Adorno sah sich einst noch mit der Forderung nach einer detaillierten Berichterstattung über das vermeintlich Bessere konfrontiert; denn der Status quo galt allein schon als schlagendes Argument. Heute müssen die Kritiker ihr eigenes Verfahren kritisch reflektieren und sind, soweit sie diese Aufgabe mit Bravour erledigen, aus dem Schneider. Der Verzicht auf die Präsentation einer konkreten Utopie ist verknüpft mit der Einsicht, dass zwischen Kritik und Kritisiertem ein enger Zusammenhang besteht. Und wie eng dieser Zusammenhang ist, darüber scheint gerade das Projekt der Medienkritik einigen Aufschluss zu liefern. Die Medien kommen – so notieren Barbara Becker und Josef Wehner – in der Einladung zur Tagung, die der vorliegende Band dokumentiert, »nicht nur auf der Gegenstandseite der Medienkritik vor, sondern auch als Bedingungen der Beobachtung auf der Kritikerseite«. Weder gibt es einen medial nicht infizierten Standpunkt, den der Kritiker einnehmen könnte, noch eine Wirklichkeit jenseits der medialen Präsentations- und Inszenierungsformen, die sich zum Vergleich heranziehen und als die eigentliche, wahre und ggf. sogar bessere Welt bezeichnen ließe. McLuhans eingangs diskutiertes Verlangen nach Distanz können wir uns inzwischen mit milder Ironie ins Gedächtnis rufen. Und die Dank McLuhan zur totalen Entfaltung gekommene katholische Medienpraxis, deren aufmerksame Zeugen wir (lange nach McLuhans Tod) anlässlich des Sterbens von Johannes Paul werden durften, hat die Probleme der Medienkritik beispielhaft in Szene gesetzt. Was die Fernsehkameras direkt nicht zeigen durften, wurde per Computersimulation sichtbar gemacht. Das religiöse Tabu war zum bloßen Schein geworden, zum Anreiz für die Fachleute, ihre Künste vorzuführen. Und die Verwunderung über die technischen Möglichkeiten stellte das Wunder des Glaubens in den Schatten. Kritische Nachfragen nahmen einen kläglichen Ton an: Dürfen der echte Glaube, das echte Mitleiden, die echte Trauer, die echte Freude etc. sich einen derartigen Ausdruck in den Medien verschaffen? Ist das rückhaltlose Zeigen solcher Emotionen nicht ein gänzlich unangemes-
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senes Verhalten? Sind am Ende diese großen Gefühle durch das Medienspektakel überhaupt erst erzeugt worden? Hat die Medientheorie Antworten auf diese schlichten Fragen? Oder ist die Lage im Hinblick auf ihre gesellschaftskritischen Potentiale derart schwierig geworden, dass Versuche der Vitalisierung bei methodischen Aspekten ansetzen und Reflexionsschrauben drehen müssen? Wenn man Tom Holert glauben will, so befindet sich die Kritik längst auf dem Rückzug. Das zeigt – seiner Einschätzung nach – allein schon ein Blick auf die zurzeit dominierenden Vokabeln: »Die terminologische Ausnüchterung durch Begriffe wie ›Adressierung‹, ›Sortierung‹, ›Bilderkennung‹, ›statistische Verteilung‹ oder ›Indizierung‹ werten nicht nur ein info-archivarisches Idiom auf. Als vermeintlich unumgängliche Sprachregelung grenzt sich dieser Jargon einerseits gegenüber älteren Emphasen des Sinns in der Versprachlichung von visuellen Eindrücken ab, wie er andererseits eine Verabschiedung an die ›Adresse‹ kritischer politischer Diskurse ist« (Holert 2001: 142f.).
Dabei ist kaum bestreitbar, dass »dieses post-politische, post-ideologische, post-semantische, post-soziale usw. Verfahren der Überführung von Kritik in Programmierung durchaus seinen Reiz hat (die entsprechende Medientheorie boomt)«; denn »ein Neo-Produktivismus des Selbermachens verbindet sich mit der Heroisierung der professionellen Schnittplatz- und Schnittstellen-Arbeiter/innen« (ebd.: 141f.). Das von Holert angesprochene Problem lässt sich noch verschärfen, wenn man die Krise der Kritik nicht nur anhand der aktuellen Trends und Diskurse diagnostiziert, sondern nach einem besonders harten Prüfstein für die analytische Kraft und die Unerschrockenheit der Medientheorie Ausschau hält. Ich habe den Eindruck, dass die hoch entwickelten Kontroll- und Überwachungssysteme, die sich in den spätmodernen Gesellschaften ausbreiten, eine eminente Herausforderung für die Kritische Theorie der Medien darstellen. Denn einerseits sind diese Systeme Indikatoren für das fortwährende Bestehen, wenn nicht Anwachsen von Herrschaftsformen, die »das symbolische Dispositiv der Demokratie« (Rödel 1989: 83ff.) untergraben.3 Andererseits werden sie – wie es zumindest scheint – von großen Teilen der Bevölkerung nicht nur widerstandslos hin, sondern sogar mit Zuspruch aufgenommen, weil sie vielen 3
Vgl. hierzu auch Meyer (2001; 2005), der auf den Widerspruch zwischen der Medienlogik und der Operationsweise demokratischer Politik hinweist. Ferner ist zu beachten, dass sich im Zuge des Globalisierungsprozesses, der ohne die Errungenschaften der neuen Kommunikationsmedien gar nicht möglich wäre, eine demokratisch nicht-legitimierte Welt-Politik herausbildet.
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Menschen Lebenswelten erschließen, in denen Sicherheit und Vergnügen eine Einheit bilden. Offenbar ist wenig Verlass ist auf die so genannten ›mündigen Bürger‹, die von gesellschaftlichen Institutionen weder überwacht noch kontrolliert werden wollen, sondern ihr Handeln auf vernünftige Einsichten gründen, die sie in der dialogischen Auseinandersetzung mit anderen Personen gewonnen haben. Kritische Theorie gerät in ernsthafte Verlegenheit, sobald sie einräumen muss, dass technisch hochgerüstete Überwachung zur Conditio sine qua non von Lebensqualität, Genuss und Freude geworden ist. Nehmen die herrschenden Verhältnisse gar eine Form an, die zu dem Kommentar Anlass gibt, Kontrolle habe sich »zu einem konsensuellen Ereignis« (Legnaro 2000: 295) entwickelt, so ist jeder Kritik, die an emanzipatorische Interessen und Verständigungsbereitschaft appelliert, ihre unentbehrliche rationale Grundlage entzogen. Die Akzeptanz der Kontrolle manifestiert nämlich eine Form des Einvernehmens, das nicht auf dem Felde der emanzipatorischen Vernunft erreicht wurde. Wer sich angesichts dieser Situation durch den Vorgriff auf eine argumentativ erreichte Verständigung über die politische und moralische Fragwürdigkeit von Überwachungstechnologien berufen möchte, kann nur noch den Charme der Aussichtslosigkeit und Rückständigkeit für sich verbuchen. Solange die Affirmation latent repressiver Zustände in Furcht, Opportunismus oder pflicht-ethischen Leitvorstellungen wurzelt, lässt sich allenthalben Propaganda für die befreiende Kraft der Lust und des Vergnügens machen. (Immerhin wissen die Kritischen Theoretiker spätestens seit Brecht, dass erfolgreiche Einsprüche gegen das so genannte ›Bestehende‹ und seine verlockenden Maskeraden selbst in Gestalt einer ebenso vergnüglichen wie analytisch scharfen Darstellung auftreten und überdies auch eine angemessene Portion Spaß am zukünftigen Leben unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen in Aussicht stellen müssen.) Formen der Repression und Manipulation aber, die sich innigst mit der menschlichen Empfänglichkeit für das Vergnügen vermischt haben, sind gegen Kritik praktisch immun. Wer dennoch auf die Geste des Einspruchs insistiert und nicht ablassen will, die Hebel der kritischen Urteilskraft anzusetzen, sieht sich zu einer doppelten Radikalisierung veranlasst: das beanstandete Übel wird äußerst ›tief‹ positioniert (denn die Verblendung der Betroffenen kennt jetzt keine Grenze mehr) und selbst die kleinste praktische Maßnahme, die ein wenig Abhilfe zu versprechen scheint, wird als Anpassung an das Unheil, als Erleichterung, die alles noch ärger macht, verteufelt. Kritik ist nur noch als »Flaschenpost«, die irgendwann einmal gefunden, gelesen und als berechtigt erkannt wird, möglich. Das besagte Vergnügen erscheint dann als Droge,
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dessen Nebenwirkungen die Abhängigen gar nicht bemerken. Max Horkheimers und Theodor W. Adornos berühmter Satz »Fun ist ein Stahlbad« bildet diese Konstellation ab und macht zugleich deutlich, dass eine solche Bestimmung nur einen Adressaten haben kann, der weder am Spaß noch an der Praxis Gefallen findet, sondern einzig an der Erkenntnis einer Wahrheit, aus der sich als Gewinn nur eben jener sinnlose Schmerz ziehen lässt, gegen den die Kritische Theorie aufsteht und den sie als letzten Legitimationsgrund anführen muss, wenn die Betroffenen sich hingebungsvoll an ihrer eigenen Deformation beteiligen. Ehe man angesichts der aktuellen Überwachungsverhältnisse dem Sog einer Kritik erliegt, die sich nur im Akt der Preisgabe aufrecht erhält, könnte es ratsam erscheinen, die unbehagliche Diagnose, die das Kontrollvergnügen zur contemporären Befindlichkeit erklärt, etwas genauer zu überprüfen.4 Ferner sollte man versuchen, die Vor- und Nachteile der Überwachungstechnologie nüchtern abzuwägen, um ggf. Einsatzpunkte für alternative Sichtweisen und Aktivitäten zu finden. Dass die neuen Kontrollformen, die sich u.a. auf Videotechniken und computerbasierte Operationen der Datengewinnung und -verarbeitung stützen, eine gewisse Akzeptanz erlangt haben, liegt nicht allein daran, dass sie zugleich Sicherheit versprechen und Vergnügen gewähren, also durch phantasievolle Arrangements Überwachung mit Unterhaltung paaren. Sie machen überdies Offerten der Aufmerksamkeit an narzisstisch gepolte oder (falls man abschätzige, mitleidsvolle oder therapie-affine Bezeichnungen vorzieht) gestörte Personen, bieten Bequemlichkeit und Zeitersparnis bei Konsumaktivitäten, ermöglichen eine auf Kaufkraft und individuelle Interessen bezogene Information über Güter und Preise, erweitern die Möglichkeiten der Fürsorge und Aufsicht bzgl. kleiner Kinder, Patienten mit Kontrolldefiziten (z.B. Alzheimer-Kranken) und Straftätern in unterschiedlichen Resozialisierungs- und Bewährungssituationen etc. Dieser reizvollen Angebotspalette kann eine Serie von Nachteilen gegenübergestellt werden, die jedoch weniger konkret und unmittelbar einsichtig zu sein scheint. Jedenfalls behauptet ein intimer Kenner der Materie: »die Vorteile [der neuen Überwachungssysteme] sind offenkundig, handfest, greifbar; die Nachteile hingegen sind nicht so greifbar, sind indirekter und vielschichtiger« (Whitaker 1999: 178). Gleichwohl lassen sich auch die wichtigsten Nachteile (vgl. z.B. Gössner 2000) ohne allzu große Umstände und theoretische Vorbereitungen auflisten; denn sie sind auch den Βetroffenen durchaus präsent5: Dass Daten unterschiedlichster Art von zahlreichen nicht miteinander verknüpften Instanzen erhoben und zu4 5
Vergleiche hierzu meine Überlegungen in Ellrich (2005). Das zeigen Interviews, in denen die Probleme angesprochen werden. Vgl. dazu Ellrich (2005: 45ff.).
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nächst einmal je nach Bedarf und Programm gesondert ausgewertet werden, ist hinreichend bekannt und lässt die meisten Gemüter auch relativ kalt. Diese Einschätzung ändert sich aber, wenn die Betroffenen sich vorstellen oder annehmen müssen, dass die dezentral gewonnenen Informationen durch eine Instanz oder eine Maschine zusammengeführt und unter bestimmten Gesichtspunkten durchforstet werden und schließlich ein kompaktes ›Bild‹ der verdateten Person ergeben, das dann folgenreiche Schlüsse erlaubt. Es bedarf keiner pompösen Aufklärungsarbeit, um den Betroffenen vor Augen zu führen, welche Deutungsmöglichkeiten derart integrierte Datensammlungen eröffnen und welche negativen Auswirkungen dies unter Umständen haben kann. Heikle Informationen (über Einkünfte, Versicherungen, Schulden, Vorstrafen, Krankheiten, psychiatrische Behandlungen, sexuelle Gepflogenheiten usw.) landen nun ggf. dort, wo sie der erfassten Person schaden können und soziale Exklusionen in Gang setzen. Weit wichtiger als faktische Benachteiligungen und Ausschlüsse, die quantitativ gering sein mögen, ist aber der Umstand, dass die potentielle Datenintegration eine diffuse Angst erzeugt, man könnte sich durch ein geringfügiges Indiz, das für sich allein genommen kaum etwas besagt, aber im Ensemble dramatische Effekte zeitigt, als gesamte Person verdächtig machen und aus dem Raster des Akzeptablen herausfallen. Mit feinem Gespür hat daher schon vor Jahren der Datenschutzbeauftragte des Bundes in seinem Bericht auf den »latenten Anpassungsdruck« hingewiesen, der speziell durch eine Beobachtung erzeugt werde, über deren »Art und Zweck [...] Ungewissheit« bestehe (vgl. Gössner 2000: 32). Allerdings lassen sich über den Grad der Verhaltensänderung, die aus dem latenten Anpassungsdruck resultiert, nur Vermutungen anstellen. Ähnliches gilt für die konkrete, aber durch Wahrscheinlichkeitskalküle eingedämmte Furcht, Opfer einer Fehlinformation oder einer Datenpanne zu werden. Spektakuläre Einzelfälle geben Anlass für Dokumentationen in den Massenmedien und ihre Häufung hebt das Problem auch bei Menschen, die keine oder andere Sorgen haben, als ein strukturell begünstigtes Missgeschick ins Bewusstsein, das aus heiterem Himmel hernieder fahren bzw. zu allem anderen Unbill noch hinzutreten kann. Wie Justizirrtümer mit ihren meist irreparablen Folgen üben sie im Augenblick der Kenntnisnahme beträchtliche Irritation aus. Denn niemand ist dagegen gefeit. Und jeder, den die bizarren Fallgeschichten berühren oder erschüttern, kann sich in der einschlägigen Fachliteratur oder im Internet mit Wissen versorgen, das geeignet sein dürfte, bei sensiblen Rechercheuren paranoische Zustände auszulösen. Allein die schlichte Überlegung, dass ein tödlicher Reiseunfall statistisch betrachtet immer noch wahrscheinlicher ist als jener Alptraum, in den der Kalifornier Bronti
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Kelly 1990 geriet, dessen Name in einer allgemein zugänglichen OnlineDatenbank mit einem Bagatell-Delikt in Verbindung gebracht wurde (vgl. Whitaker 1999: 164), vermag Leser mit einer halbwegs robusten Psyche wieder in den – nur ephemer verlassenen – Zustand postmoderner Normal-Gelassenheit oder Normal-Nervosität zurückzutreiben. Auf die Behandlung von Fallgeschichten wird eine kritische Theorie der Medien, insbesondere eine Analyse der sozialen Ursachen und Effekte der Überwachungssysteme nicht verzichten können und wollen. Anekdoten nähern sich nämlich nicht allein den spektakulären Darstellungsweisen, mit denen in den Medien das knappe Gut der Aufmerksamkeit gebunden wird. Sie liefern auch eine günstige Gelegenheit, die Macht, die den Strukturen durch abstrakte Erklärungsmodelle zugeschrieben wird, im konkreten Detail sichtbar zu machen.6 Wenn es kein richtiges Leben im falschen gibt (wie Adorno in seiner umstrittenen soziologisch-philosophischen Kleinkunstsammlung »Minima Moralia« behauptet), so lässt sich auch keine einleuchtende Theorie der Medien entwickeln, die sich puritanisch aufführt und den medialen Manieren verweigert, statt sie für ihre Manöver zu nutzen. Dabei ist es völlig belanglos, ob Daten-Pannen mit existentiellen Desastern in Zusammenhang gebracht, ob die Potentiale des Abhör-Systems ECHOLON an Fällen mutmaßlicher Wirtschaftsspionage dargelegt, ob die verschlungenen Wege des alles andere als freien Handels mit Verschlüsselungssoftware wie die Eskalationsschritte einer Drogendealerstory in Szene gesetzt werden; entscheidend ist allein, dass die erkenntnisfördernden Leistungen des Anekdotischen den Lesern zu Gute kommen. Die Anekdote ist freilich nicht bloß das theoretisch-narrative Bindeglied zwischen Struktur und Ereignis, sie ist ebenso sehr ein Signal für die Grundlagenkrise der Kritik, die nur durch offensive methodische Zugeständnisse in nützliche Erkenntnisse zu transformieren ist. In der Stärke der Fallgeschichte, die sich zur Anekdote zuspitzt, zeigt sich die Schwäche der erkenntnistheoretischen und ethischen Prinzipien. Will man die problematischen und verheerenden Aspekte der Überwachung ins Visier der Kritik nehmen, so hat es wenig Sinn, Emphase und Einspruchsrecht der Kritik unter Rekurs auf den sog. ›Datenschutz‹, der jeder Person ohne Ansehen von Geschlecht, Rasse und Finanzstatus gebührt, zu begründen. Auch das unverbrüchliche Recht, die eigene Privatsphäre gegen öffentliche Neugier sowie staatliche und wirtschaftliche Macht-Interessen zu verteidigen, ist heute keine geeignete Basis mehr, von der sich die Kritik abstoßen und eine erforderliche Flughöhe gewinnen kann. Privatheit mag nach wie vor ihr Gewicht haben, ein erstrangiges Bedürfnis ist sie schon längst nicht 6
Man könnte hier auch die bekannte Figur des ›exemplarischen Lernens‹ ins Spiel bringen.
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mehr. Es hilft in diesem Zusammenhang auch wenig, ganz up to date zu sein und zu bemerken, dass sogar die meisten Personen, die sich schamschwach der Netz-Öffentlichkeit darbieten, auf irgendeine verschrobene Form der Reserve Wert legen (bestimmte Orte der Behausung sind unsichtbar, bestimmte Zeiten bleiben ausgespart, akustische Enthaltsamkeit wird geübt und dergleichen mehr – Spielereien also mit einer reichlich arbiträren und daher um so auffälligeren Art der Zurückhaltung). Während das Private und mit ihm der Datenschutz und die Datensicherheit für die einzelnen Individuen ihre zentralen Positionen eingebüßt haben, sind diese Faktoren für Firmen – auch und gerade im Zeichen der Globalisierung – von kaum zu überschätzender Bedeutung. In der Kontrollgesellschaft geht es in erster Linie um die Kontrolle der Informationstechnologie. Hier liegen »wunderbare Besitztümer«7 vergraben, Anekdotenschätze mit skandalösen Pointen, die nur darauf warten, von einer Kritischen Theorie gezündet zu werden. Die Kommerzialisierung der Daten, der Datenaustausch zwischen Wirtschaft und Staat, die operative Verknüpfung, Zusammenführung, Abgleichung der Daten – all dies geschieht eben von Fall zu Fall, ohne dass die manifeste Dezentralisierung der Überwachung und Verdatung sich deshalb als purer Trug entpuppen würde, der allein auf der Oberfläche der Erscheinungen waltet. Der Vorgang hat System, wird aber von keinem System intentional gesteuert. Und die Kunst der Kritischen Theorie bestünde darin, dies am konkreten Beispiel aufzuzeigen, ohne die Rhetorik der umlaufenden Verschwörungsszenarien in Dienst zu nehmen. Es ist mithin an der Zeit, dass die Kritische Theorie (der Medien) eine Wende vollzieht. Die transzendentale Analyse der Bedingung der Möglichkeit von Verständigung und argumentativ verbürgtem Konsens sowie die methodische Orientierung an Prinzipien und Begründungszusammenhängen besitzen nicht mehr die ihr von Jürgen Habermas zugeschriebene Relevanz. Und das recht verzweifelte Unterfangen Adornos, eine tiefliegende Verfehlung, eine ursprüngliche Katastrophe freizulegen, hat ohnehin längst seine Attraktivität verloren. Erforderlich sind Darstellungs-Strategien, die den aufschlussreichen Einzelfall, die markante Anekdote, zu schätzen wissen. Eine solche Wendung oder Umprogrammierung der Theorie reicht allein jedoch nicht aus. Wenn das Beispiel der medialen Überwachung, die ein weites Feld – von TV-Formaten wie Big Brother (vgl. Ellrich 2005) über Video-Kontrollen und ubiquitäre Verdatungsprozesse bis hin zu Phänomenen wie ECHOLON – umfasst, überhaupt signifikant ist, dann im Hinblick auf das Verhältnis von Kritischer Theorie und politisch-medialer Praxis. Die Überwachungs- und 7
Vgl. Stephen Greenblatts gleichnamiges Buch (1994), in dem der Erkenntnis stiftende Wert von Anekdoten ausführlich dargelegt wird.
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Kontrolltechnologie fordert die Kritische Theorie nicht bloß durch ihre vermeintliche positive Resonanz bei den Betroffenen heraus. Die Lust an der Kontrolle vermag die Kritische Theorie (wie oben schon erläutert wurde) durch eine Pathogenese der Spaß-Kulturindustrie zu kontern. Doch diese Figur ist kein blümerantes Ruhekissen, auf dem sich die Theorie in stilvoll negativistischer Pose betten und von besseren Zeiten träumen kann. Gefragt ist ein Verfahren, welches die Medien nicht nur in und durch die Medien zum Gegenstand der Reflexion macht, sondern die Selbstbezüglichkeit so weit treibt oder besser: soweit trivialisiert, dass mediale Beobachtung bzw. Überwachung nach Gegen-Beobachtung bzw. Gegen-Überwachung geradezu verlangt. Kritische Theorie der selbstbezüglichen Medien kommt also nur zu sich selbst, wenn sie sich mit kritischer Praxis verbindet; was aber nicht automatisch bedeutet, dass sie zu Gunsten solcher Verrichtungen und Realitätsverstrickungen einfach abdankt. Es geht bei den Gegen-Beobachtungen 1. um politisch motivierte Widerstandsaktionen, die sich der neuen Kommunikationstechniken bedienen und eine wirksame Form der demokratischen ›Kontrolle‹ von unten ausüben, 2. um spontane Aktivitäten, deren Auslöser a) vereinzelte rechtswidrige Eingriffe legaler Ordnungskräfte sein können, die zufällig aufgezeichnet werden, weil sich gerade ein unbeteiligter Zeuge mit Kamera oder Tonbandgerät am Tatort aufhält und den Mut aufbringt, die Geräte in Gang zu setzen, oder b) notorische Vorgänge der Repression sein können, die sich zwar beständig wiederholen, aber nur selten durch technische Apparate festgehalten und ans Licht der neu konstituierten (Gegen-)Öffentlichkeit gelangen. Legendär ist inzwischen die mediale Inszenierung der Zapatisten-Bewegung, die als Beispiel für den Typus 1 gelten darf (vgl. Castells 2001: 80ff., Whitaker 1999: 211ff.). Kaum weniger berühmt dürfte das Rodney King Video sein, das als Paradebeispiel für den Typus 2a geeignet ist. Die Strategie der Gegenbeobachtung, die mit dem Typus 2b umschrieben wurde, kann sich auf eine lange Tradition gesellschaftskritischer Praktiken berufen. Schon Bertolt Brechts Beiträge zur Radiotheorie (1927-1932) und erst Recht Hans Magnus Enzensbergers Empfehlungen aus den frühen siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts sind hinreichend bekannt und werden in diesem Zusammenhang immer wieder gern zitiert.8 Hinzuweisen wäre auch auf ästhetisch-politische Experimente, wie z.B. das »unsichtbare Theater«, das Augusto Boal mit seinen Texten über das »Theater der Unterdrückten«
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Enzensberger (1970: 159ff.) unterscheidet zwischen dem repressiven und dem emanzipatorischen Mediengebrauch und wendet sich gegen die defensive Manipulationsthese, die aus seiner Warte nur die Berührungsängste technikfeindlicher Altlinker spiegelt.
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erläutert hat (1979: 34ff., 59ff., 74ff.)9, oder auf Interventionen im Kontext der Performance-Kunst wie etwa das Videoüberwachungs-Projekt »Please Identify!«, welches der ambitionierte Grazer Kunstverein ESC10 unterstützt hat. Als Zwischenergebnis lässt sich mithin festhalten, dass Kritische (Medien-)Theoretiker, die in schmerzlichen Lernprozessen herausfinden, dass universalistische Normen nur eine schwache Bindungs- und eine noch geringere Mobilisierungskraft haben, ihre Arbeit auf spektakuläre Einzelfälle und Gestalten einer lokalen mediengestützten Gegenpraxis konzentrieren werden, statt im rasant angelaufenen Globalisierungsprozess ein Medium zu erblicken, welches die westlichen Prinzipien, die der Westen selbst oft genug mit Füßen getreten hat, auf der ganzen Welt verbreitet. Zeitgerechte Akzente können die verschiedenen Spielarten der Counter-Surveillance allerdings nur setzen, wenn sie ein angemessenes Verständnis derjenigen Überwachungs- und Kontrollmechanismen fördern, die heute bereits wirksam sind und das gesellschaftliche Leben in Zukunft nachhaltig bestimmen werden. Per se sind zahlreiche Formen der Gegen-Überwachung durch ihre Mobilisierung visueller Techniken sensibel für die Bedeutung, die räumliche Faktoren gewinnen.11 Die Kontrollgesellschaft lockert nämlich den »moralisierenden12 Griff auf das 9
Die Pointe des »unsichtbaren Theaters« liegt darin, dass die Zuschauer nicht wissen, »dass sie Zuschauer« und daher gleichzeitig »auch Akteure« sind (Boal 1997: 35). Zur ›Darstellung‹ gelangen alltägliche Situationen der Ausbeutung, Entwürdigung, Ausgrenzung etc., die verschärft und verfremdet werden. Mitunter besteht eine gewisse Ähnlichkeit zu den berühmten »Krisenexperimenten«, mit denen der Soziologe Harold Garfinkel und seine Mitarbeiter die »routine grounds of every day activities« (1967: 35ff.) freilegten. Zu den medien-kritischen Theaterformen, die Boal anführt, gehört z.B. das »Fotoroman-Theater«, das »versucht, den Lesern die perfiden manipulativen Techniken dieser Gattung bewußt zu machen« (ebd.: 61), oder die vergleichende Präsentation einer milieu-typischen Szene und einer nachgespielten TV-Story mit der Absicht, Beiträge »zur Entmystifizierung der Indoktrination durch die Massenmedien« (ebd.: 62) zu liefern. In Anbetracht der aufschlussreichen Forschungen zur TV-Rezeption von Unterschichtsmitgliedern, die unter dem Dach der »British Cultural Studies« durchgeführt wurden, mögen Boals Konzepte eines medien- und sozialkritischen Theaters naiv erscheinen. Aber die Medienironie der englischen Arbeiterklasse ist weit entfernt von der Fernsehfaszination, die unter den Bewohnern lateinamerikanischer Vorstädte und Slums herrscht. 10 Siehe: http://esc.mur.at/06_projekt.htm. 11 Der aktuelle Aufstieg der Raumsoziologie, die lange im Schatten der avancierten Zeittheorien gestanden hat, ist allein deshalb schon zu begrüßen. 12 Inwieweit diese Lockerung, die mit einem Appell an die »Selbstverantwortung« der Individuen einhergeht, nicht ihrerseits auf die Etablierung einer »moralischen Technologie« der Kontrolle hinausläuft, ist eine interessante Frage, die ich an dieser Stelle nicht weiter verfolgen und schon gar nicht beantworten kann. Vgl. dazu O’Malley/Mugford (1992) sowie Krassmann (2005: 321).
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Individuum – aber nicht um ihm unbeschränkte Freiheit zu gewähren, sondern um es einem erneuten, nunmehr räumlich-situativen Kontrollmodus zu unterwerfen« (Lindenberg/Schmidt-Semisch 1995: 3). Diese Modifikation der sozialen Verhaltenssteuerung ist bereits sehr früh von kritischen Kriminologen betont und durch Querverweise auf Studien über den Wandel der Arbeit (vgl. Castel 1995) theoretisch kontextualisiert worden. Der Diskurs über die sog. ›neue Pönologie‹ hat daher rasch die Runde gemacht. Während dem ›alten‹ Programm die Idee zugrunde lag, dass auffällige und schädigende Formen von Fehlverhalten durch entsprechende Maßnahmen korrigiert, die devianten Individuen und Gruppen folglich therapeutisch betreut und in die Gesellschaft, deren Regeln sie verletzt haben, wieder eingebunden werden sollen13, verfolgt die ›neue‹ Strategie andere Ziele: man verzichtet auf aktive, institutionell gelenkte und finanzierte Resozialisierung und entwickelt stattdessen Instrumentarien der Ausgrenzung, Abschottung und Verschiebung. In einer Gesellschaft, in der die Lohnarbeit mehr und mehr ihre Kohäsionsfunktion einbüßt, werden Gruppen, die nicht als Konsumenten oder Wähler interessant sind (Langzeitarbeitslose, Gelegenheitsarbeiter, Drogensüchtige, Alkoholiker, Bettler, Obdachlose, junge Migranten etc.) zunehmend exkludiert. Dieser Ausschluss vollzieht sich weniger durch eine direkte Reduktion von Lebenschancen (denn die Optionen bleiben symbolisch gewahrt), sondern durch eine räumliche Trennung, durch die Produktion überwachter und gesicherter Räume, die von den problematischen Akteuren buchstäblich befreit sind. Den Zonen der Sichtbarkeit, die von Kameras erfasst, von Streifendiensten umhegt und ggf. durch effektive Zugehörigkeits-Schleusen gegen Eindringlinge abgeschirmt werden, so dass gefährliche Handlungen unterbleiben oder zumindest für die relevante Menge der Konsumenten kaum wahrnehmbar sind. Unsichtbarkeit oder Unauffälligkeit bedeuten nicht zwangsläufig die Machtlosigkeit derjenigen, die sich als faktische oder als potentielle Objekte der Exklusion erfahren; das lässt sich unter anderem am Phänomen des Terrorismus ablesen. Die neuartige Form der medientechnischen Dispositionen über Räume hat selbstverständlich eine stark präventive Funktion. Sie liegt aber nicht primär darin, das einst bei Demokraten so umstrittene Projekt des »vorverlegten Staatsschutzes« (Cobler 1976) unter veränderten Randbe13 Das Resozialisierungsprojekt war freilich in der Geschichte der westlichen Gesellschaft – trotz des beträchtlichen Einflusses der christlichen Religion und ihrer Fürsorge-Ethik – niemals dominant. Stets bediente man sich bei Bedarf auch alternativer Praktiken: Problemgruppen (enteignete Bauern, Vagabunden, Delinquenten, politische Extremisten, Prostituierte, unwillkommene Fremde etc.) wurden an entfernte Orte (z.B. Kolonien) geschafft oder je nach Opportunität offen oder heimlich eliminiert.
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dingungen einfach fortzusetzen. Vielmehr sollen Areale geschaffen werden, in denen das Eintreten bestimmter Ereignisse unwahrscheinlich ist. Anders als die notorische Propaganda für den Einsatz von Überwachungstechnologien verkündet, kommt es nicht auf die effektive Reduzierung krimineller Delikte an. Die Raum-Überwachung vermindert – wie Statistiken zeigen – keineswegs deren Anzahl, sondern verschiebt nur den Ort ihres Vorkommens. Und genau das ist auch der Sinn der Sache. Was in den Problemzonen selbst geschieht, ist relativ unwichtig. Nach Eintritt der Dunkelheit ziehen sich die offiziellen Ordnungsdienste zurück und überlassen das Feld anderen Kräften. Kritische Theorien, die gerade denen, die noch nicht unmittelbar von den Geschehnissen betroffen sind, ein Licht aufsetzen möchten, stehen hier vor einer schwierigen Aufgabe. Um das Interesse des Publikums auf diesen schleichenden und daher im Kontext medialer Ablenkungsspektakel fast unmerklichen Prozess zu lenken, scheint jedes sprachliche oder bildliche Mittel recht zu sein. Besonders verführerisch ist der Rekurs auf Giorgio Agambens polit-ästhetische Radikalrhetorik, mit der die aktuellen Formen räumlicher Exklusion und Konzentration unter den Begriff des »Lagers« subsumiert und mit der Figur des »homo sacer« (Agamben 2002) in Verbindung gebracht werden können: »Das Lager ist [...] die Struktur, worin der Ausnahmezustand, über den entscheiden zu können die Grundlage der souveränen Macht ist, auf Dauer realisiert wird« (Agamben 2001: 45). »Manche Peripherien der großen postindustriellen Städte und die gated communities in den USA ähneln heute bereits Lagern in diesem Sinne, in denen bloßes Leben und politisches Leben, zumindest in gewissen Momenten, in eine Zone absoluter Unbestimmtheit eintreten« (ebd.: 47). Derartige Äußerungen schlagen zu Recht Alarm, lassen aber jede soziologische Begriffsschärfe und deskriptive Präzision vermissen.14 Bei den oben skizzierten Arealen handelt es sich gerade nicht um Lager, in denen eine »absolute Macht« (Sofsky 1993: 27ff.) etabliert wird, sondern um Gebilde, die mit unterschiedlichen Typen der Selektion und Exklusion operieren und zudem auf die Mitarbeit der betroffenen Individuen angewiesen sind; denn ohne deren Bereitschaft, ihre subjektiven Kompetenzen zur Selbstkontrolle der Gesellschaft gleichsam als Gabe zu offerieren, die stets auf eine Gegengabe spekuliert und doch in ruinöse Prozesse der Verausgabung einmünden kann, würden die eingesetzten Überwachungs-Systeme zerfallen. Ob und in welchem Maße die Grenzen der geschaffenen Inklusions- und Exklusions-Zonen durchlässig sind, hängt davon ab, wie die interagierenden Personen mit den konkreten Örtlichkeiten und den vorhandenen Schwellen umgehen. Eine Kritische Theorie, die Lernpotentiale entbinden möchte, wird daher nicht 14 Zur Kritik an Agambens Schreibgestus vgl. Kaube (2005).
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(wie Agamben, der noch einmal Heideggers und Adornos Holzwege abschreitet) nach einer fatalen Ursprungsszene des Politischen suchen, sondern die heute mögliche Kombination unterschiedlicher Medienanalysen und Medienpraktiken zur Einübung demokratischer Souveränität aufzeigen. Die Unterstützung der kritischen Avantgarden versteht sich dann von selbst. Persönlicher Mut und eine gewisse Virtuosität im Umgang mit den Counter-Surveillance-Techniken gehören dabei zur Grundausstattung der inspirierten Akteure. Und wer den Um- oder Seitenweg über ein medienwissenschaftliches Studium als Königsweg ansieht, auf dem man das Handwerk der Medienkritik erlernen kann, begegnet beim Anstieg zum Prüfungsgipfel vielleicht DozentInnen, die den Sinn ihrer Schüler auf einen Schlag für den Wert komplexer Gesellschaftsanalysen und die Kraft filmischer Bilder zu entwickeln suchen, indem sie Pierre Bourdieus »Das Elend der Welt« (1993) und Mathieu Kassovitz’ Streifen »La Haine/Der Hass« (1995) im gleichen Kurs zur Diskussion stellen. Während die GegenBeobachtung bei Bourdieu im Gewand der empirischen Sozialforschung erscheint, tritt sie bei Kassovitz als fiktionale Darstellung einer dramatischen Geschichte auf. Beide Versionen behandeln die dramatischen und opferreichen Konflikte um die neue Raum- und Machtordnung mit Blick auf die Rolle der Medien.15 Und beide Versuche motivieren Leser bzw. Zuschauer, sich der Medien in ihrer ganzen Bandbreite zu bedienen, um die Verhältnisse zu ändern.
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DIE ÜBERWACHUNGSTECHNIK ALS HERAUSFORDERUNG
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D I SK U R S
UND
PRAXIS:
ZUR INSTITUTIONALISIERUNG VON MEDIENKRITIK IN DEUTSCHLAND MARCUS S. KLEINER/JÖRG-UWE NIELAND Moderne Gesellschaften sind auf Selbstverständigungsdiskurse und Selbstbeschreibungen angewiesen, d.h. auf Diskurse1 über die und Beschreibungen der Gesellschaft in der Gesellschaft, um sich ihrer gegenwärtigen Form zu vergewissern und sie als Konsensmodell politisch ins Werk zu setzen. Sie ermöglichen, wie Luhmann (1997: 867) betont, »in der Gesellschaft zwar nicht mit der Gesellschaft, aber über die Gesellschaft zu kommunizieren«, also Gesellschaft über sich selbst aufzuklären. Gesellschaften brauchen dazu prägnante Formeln zur Selbstbeschreibung und Selbstproblematisierung, um eine möglichst große Anschlussfähigkeit zu erreichen. Eine, in den letzten fünfzehn Jahren häufig favorisierte Selbstbeschreibung, lautet Mediengesellschaft. Medien sind zugleich konstitutiver Motor, Organisator und Filter dieser selbstproblematisierenden und selbstbeschreibenden Diskurse der Gesellschaft über die Gesellschaft in der Gesellschaft. Ihre Funktion besteht, so Luhmann (1996: 173), »im Dirigieren der Selbstbeobachtung des Gesellschaftssystems«. Diese Diskurse erweisen sich allerdings zunehmend als schwierig, da gegenwärtige (westliche) Gesellschaften durch Pluralität, Kontingenz, Perspektivität, Kontextualität und damit durch die Auflösung von Verbindlichkeiten, seien sie nun religiöser, moralischer, ethischer, politischer kultureller oder theoretischer Art, gekennzeichnet ist. Definitive Eindeutigkeit bzw. Objektivität kann daher von gesellschaftlichen Selbstverständigungs- und Selbstbeschreibungsformeln nicht er1
Unter Diskurs verstehen wir im Anschluss an Foucault (1997: 156) »eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Funktionssystem zugehören«. Sprachliche Formulierungen können als Aussagen bezeichnet werden, wenn sie das Resultat einer bestimmten diskursiven Praxis sind. »Eine diskursive Praxis ist [...] ein Ensemble von ›Regeln‹, die einen Diskurs als endliche Menge tatsächlich formulierter sprachlicher Sequenzen möglich machen. Diese Regeln bestimmen die ›Formation‹ (= Anordnung) der Gegenstände, die in einem Diskurs zur Sprache kommen, der Subjektpositionen, die in ihm eingenommen werden können, der Begriffe, die in ihm verwendet werden und der Theorien bzw. ›Strategien‹, die ihn prägen« (Kammler 1997: 39).
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wartet werden, ebenso wenig können sie eine verbindliche gesamtgesellschaftliche Diagnose dar- bzw. erstellen. Selbstverständigungsdiskurse und Selbstbeschreibungen müssen stets an Diskurse und Beschreibungen anknüpfen. Und diese Anschlüsse verlaufen keineswegs linear, zumal sich die Gesellschaft nicht teleologisch auf einen bestimmten Idealzustand zu bewegt. Die jeweils anschließenden Selbstverständigungsdiskurse und Selbstbeschreibungen stellen also nicht unbedingt Weiterentwicklungen der vorausgehenden dar – ebenso wenig muss die jeweils gegenwärtige Wirklichkeit des Sozialen als die aktuell beste aller möglichen Gesellschaftsformationen angesehen werden. Vielmehr bündeln Selbstverständigungsdiskurse und Selbstbeschreibungen wirkungsmächtige Merkmale einer sozialen, kulturellen, medialen usw. Entwicklungsstufe, eingebettet in eine historische Situation und erklären sie, zumindest für einen bestimmten Zeitraum, zum konstitutiven Motor der Gesellschaft. Die Halbwertzeit spezifischer Selbstverständigungsdiskurse und von Selbstbeschreibungen ist begrenzt. Eine einheitliche, verbindliche und konsensuelle Selbstbeschreibung von Gesellschaft scheint somit unmöglich zu sein, Gesellschaft als reale Einheit, Kollektivbegriff oder umfassende Sozialordnung existiert nicht. Medienkritik sollte, insbesondere wenn sie sich als gesellschaftskritische Medientheorie versteht2, an diesen Diskursen und Beschreibungen beteiligt sein. Gerade angesichts der »heimlichen Medienrevolution« 2
Unser medienkritischer Ansatz versteht sich als gesellschaftskritische Medientheorie und betrachtet das Thema der Institutionalisierung von Medienkritik daher nur aus einem diesen Ansatz leitenden Erkenntnisinteresse. Wenn wir im Folgenden über den wissenschaftlichen Diskurs sprechen, dann beziehen wir uns hierbei auf die Tradition einer gesellschaftskritischen Medientheorie. »Gesellschaftskritische Medientheorien thematisieren die sozialen Funktionen und Gebrauchsweisen von Medien, die Wirkungen der verschiedenen Medientypen und Medieninhalte auf Gesellschaft und Individuum, die Rolle der Medien in der Sozialisation des Individuums und in der Ausbildung kollektiver Identitäten sowie die Fähigkeit der Medien zur ideologischen Beeinflussung und zur Manipulation von Konsumentscheidungen sowie sozialen Wirklichkeitskonstruktionen. Leitend für gesellschaftskritische Medientheorien sind hierbei zwei Prämissen: Einerseits wird Medienanalyse als Gesellschaftsanalyse begriffen und andererseits Medienkritik als Gesellschaftskritik begründet. Medien und Gesellschaft sind ein spannungsreiches Interdependenzgeflecht. Die Medien haben gesellschaftliche Grundlagen, die Gesellschaft mediale. Medienentwicklungen werden als ein zunehmend wichtiger werdender Teilprozess allgemeiner Gesellschaftsentwicklungen angesehen. Medientheorie ist daher Element einer Sozialtheorie, Medienkritik Element einer kritischen Theorie der Gesellschaft. Den apparativen und technologischen Dispositiven von Medien als Kulturtechnik, der Medialität der Medien, widmen sich gesellschaftskritische Medientheorien hingegen kaum – dies steht hingegen im Zentrum einer nachrichtentechnisch informierten Medienwissenschaft« (Kleiner 2004a: 120). Vgl. mit einer theoriegeschichtlichen Einordnung, ausführlichen Kommentierung und Dokumentation der Grundlagentexte dieser Tradition Kleiner/Nieland (2006a) sowie den Beitrag Medienkritik als blinder Fleck sozialwissenschaftlicher Medienforschung von Kleiner/Nieland (2006b.).
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(Möller 2005)3 und der anhaltenden Ökonomisierung des bundesdeutschen Mediensystems4, ist zu fragen: Wie lässt sich Öffentlichkeit für Medienfragen herstellen und wie lässt sich ein darauf bezogener anhaltender Kommunikationsprozess institutionell absichern?5 Nicht zuletzt auf Grund der Tatsache, dass (westliche) Gesellschaften zunehmend zu Mediengesellschaften werden bzw. dieses schon lange sind, macht deutlich, dass der medienkritische Diskurs zur sozialen Selbstverständigung und Selbstbeschreibung von konstitutiver Bedeutung ist. Auch wenn die Bezeichnung Mediengesellschaft sicher nicht alle Merkmale der gegenwärtigen Gesellschaft auf den Punkt bringt, hat sie doch den Vorteil, eine der wichtigsten historischen wie aktuellen Bedingungen unserer Gesellschaft zu nennen: Die bedeutsame Rolle, die Medien für die gesellschaftliche Evolution wie für die individuelle Entwicklung jedes einzelnen Menschen gespielt haben und spielen. Der Terminus Mediengesellschaft soll also darauf verweisen, dass wir in einer medienbestimmten oder zumindest von Medien mitbestimmten Gesellschaft leben. Alle sozialen Einrichtungen sind direkt oder indirekt von ihren Informationsleistungen abhängig, alle Bereiche sozialen Lebens sind ihren Einflüssen ausgesetzt. Unser Alltag ist ohne TV, Telefon und Radio (und für immer mehr Menschen auch ohne PC, Internet, Email, Fax, Video, DVD, Mobilfunk, MP3-Player) nicht mehr denkbar. Medien prägen politische, wirtschaftliche und soziale Prozesse, beeinflussen die öffentliche Meinung und unser Welt-Bild. Medien haben in unserer Gesellschaft als dominante Steuerungs- und Orientierungsinstanzen in allen Teilsystemen eine Schlüsselrolle.
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Möller räumt den Wikis, der freien Software und vor allem den Weblogs enorme Widerstands- und Veränderungspotenziale ein. So nennt er eine Reihe von Beispielen, bei denen die Kommunikation in Weblogs die staatliche Zensur umgehen konnte. Der Gebrauch von freier Software schränkt nicht nur Macht und Profit des quasi Monopolisten Mircosoft ein, sondern verspricht eine benutzerfreundliche Anwendung und schafft ein Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Nutzern. Vgl. zu dieser Thematik auch Nettime (1997), Lovink (2003) und mit einer Bewertung dieser Arbeiten sowie weiteren Literaturverweisen Kleiner (2005). Ökonomisierung meint, dass »ökonomische Prinzipien und Handlungsrationalitäten einen wachsenden Einfluss bei der Institutionalisierung, Diversifizierung, Produktion und Konsumption von Medien bzw. deren Inhalten haben« (Meier/Jarren 2001: 146). Die Ökonomisierung führt unter anderem zu Konzentrationsprozessen auf den Medienmärkten. Bisher wurden die gesellschaftlichen Folgen dieser Konzentrationsprozesse aber kaum systematisch untersucht (vgl. Trappel/Meier/Scharpe/Wölk 2002). Institutionalisierung beschreibt die Entstehung von Institutionen. Saxer (1998: 662) hat vier Grundmuster identifiziert, wie Gesellschaften ihre Mediensysteme institutionalisieren: autoritär, liberal, totalitär oder demokratisch kontrolliert. Demokratisch kontrollierte Mediensysteme benötigen, aus demokratietheoretischen Erwägungen, die Transparenz, Partizipation und Kritik erfordern, die Institutionalisierung von Medienkritik.
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Auf den ersten Blick scheint der medienanalytische und -kritische Selbstverständigungs- und Selbstbeschreibungsdiskurs in Deutschland zu funktionieren. Insbesondere die Aufdeckung des Schleichwerbungskandals durch Volker Lilienthal (2005b)6 kann als Beleg für den Erfolg von investigativem Medienjournalismus7 gelten – und mit dem Fachdienst epd Medien existiert auch ein in der Branche angesehenes Forum für den medienkritischen Diskurs. Neben diesem aktuellen, positiven Fall kann beobachtet werden, dass sich einerseits der Diskurs über die Rolle der Medien (und auch die Medienkritik) in den Medien-, Kommunikations- und Sozialwissenschaften spürbar ausdehnt8, andererseits aber nicht von einer Stärkung der Position der Medienkritik in der Gesellschaft gesprochen werden kann (vgl. Hallenberger/Nieland 2005a). Tatsächlich genügen diese Beispiele für einen funktionierenden medienkritischen Selbstbeschreibungsdiskurs und die erhöhe Aufmerksamkeit der Sozialwissenschaften gegenüber der Medienkritik noch nicht, um die in demokratischen Gesellschaften an die Selbstverständigungsdiskurse gestellten Anforderungen zu erfüllen. Vielmehr benötigt die Zivilgesellschaft9 kulturelle Codes und Erzählungen sowie spezifische Institu6
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Der Beitrag von Lilienthal löste sowohl unter den Medienjournalisten als auch bei den betroffenen Medienanbietern bzw. Produktionsfirmen eine anhaltende und umfangreiche Anschlusskommunikation aus (vgl. bspw. Treffer/Baden 2005; Rosenbach 2005 sowie die WDR-Sendung am 21.07.2005, in der Lilienthal und der WDR Intendant Fritz Pleitgen diskutiert haben, und der WDR-Intendant sich den Fragen der Zuschauer stellte). Die Kriterien eines investigativen Medienjournalismus wurden jüngst von Lilienthal (2005a) selbst beschrieben. Unter investigativ eingreifender Medienkritik versteht Lilienthal »umfassend angelegte Programmbeschreibungen« (ebd.: 276); eine Kritik als abwägende, argumentative Nachbereitung, die das Fernsehen als öffentliche Angelegenheit herausstellt (ebd.). Investigative Recherche muss sich in seinen Augen »auf die innere Struktur der Sender richten, das Handeln Verantwortlicher auf mögliche Widersprüche von Anspruch und Wirklichkeit prüfen, fallweise Fehlentwicklungen und auch Funktionsversagen von Kontrolleinrichtungen aufdecken« (ebd.: 277). Vgl. hierzu aktuell Weiß (2005); Beuthner/Weichert (2005); Hallenberger/Nieland (2005). Die Bände schließen v.a. an die medienkritischen Publikationen der Bundeszentrale für politische Bildung (1988) und Weßler/Matzen/Jarren/Hasebrink (1997) an. »Unter civil society, also Zivil- und Bürgergesellschaft, wird in der Regel ein gesellschaftlicher Raum, nämlich die plurale Gesamtheit der öffentlichen Assoziationen, Vereinigungen und Zusammenkünfte verstanden, die auf dem freiwilligen Zusammenhandeln der Bürger und Bürgerinnen beruhen. Vereine, Verbände und soziale Bewegungen sind dabei typische Organisationsformen. Diese Vereinigungen sind unabhängig von einem staatlichen Apparat und in der Regel auch unabhängig von wirtschaftlichen Profitinteressen, das heißt, idealtypisch bilden sie eine Sphäre aus, die nicht staatlich ist und nicht auf reinen Marktprinzipien beruht. Die meisten Autoren, die sich mit Zivilgesellschaft beschäftigen, grenzen diesen Raum darüber hinaus von der Privatsphäre, zum Beispiel der Familie, ab und betonen, dass zur Zivilgesellschaft Öffentlichkeit gehört. Die Zivilgesellschaft ist auf die Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten angewiesen, also auf einen staatlichen Schutz der Meinungs-, Presse- und Vereinigungsfreiheit. [...] Schließlich beinhaltet das
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tionen, um zwischen der guten und der unzivilen Gesellschaft zu unterscheiden (Adolff 2005: 88). Die Institutionen der Medienkritik müssen sich konstitutiv und fortwährend an diesen Erzählungen beteiligen. Zwei Gruppen erlangen hierbei besondere Bedeutung: einzelne Medienjournalisten, wie im oben geschilderten Fall Volker Lilienthal, und spezifische Diskursmedien.10 Die Kritik der Medien bedarf besonderer Medien der Kritik. Vor diesem Hintergrund ist eine Bestandsaufnahme der Institutionalisierungsbemühungen von Medienkritik in Deutschland notwendig (vgl. Jarren/Zielmann 2005).11 Im Folgenden werden wir zunächst einige ältere und neuere Institutionalisierungskonzepte vorstellen, um dann, unter Hinweis auf die Fallstricke der Medienkritik, zu gelungenen Beispielen medienkritischer Praxis jenseits der etablierten Institutionen überzuleiten.
1. Institutionen der Medienkritik als F o r s c h u n g sg e g e n st a n d Die Medien- und Kommunikationswissenschaften haben bislang die institutionellen Rahmenbedingungen und Organisationen der öffentlichen Kommunikation als Forschungsgegenstand vernachlässigt (vgl. Jarren 2002: 13). Diese Tatsache erscheint problematisch, weil die Medienleistungen und spezifischen Programmqualitäten von der Medieninstitutionalisierung, der rechtlichen Verfasstheit der Medien, den ökonomischen Zielsetzungen, den redaktionellen Organisationsformen sowie den publi-
Zivilgesellschaftskonzept auch ein utopisches Moment: das selbstregierte demokratische Zusammenleben« (Adloff 2005: 8). 10 Hierzu zählen in erster Linie die Fachdienste, wie etwa epd Medien und Funkkorrespondenz, Zeitschriften (u.a. Ästhetik & Kommunikation) sowie insbesondere wissenschaftliche Beiträge, die auch den Dialog mit den Praktikern (z.B. den Medienkritikern selbst sowie den Verantwortlichen in den Medien und den Aufsichtsbehörden) herstellen können. Ein großer Teil dieser Diskursmedien wird von Institutionen der Medienkritik (Adolf Grimme Institut oder einzelnen Landesmedienanstalten) initiiert und unterstützt. 11 Jarren und Zielmann konfrontieren in ihrem Beitrag die Institutionalisierung der Medienkritik mit den Befunden zur Fernsehkritik in den Printmedien (vgl. die Beiträge in Weiß 2005). Vor diesem Hintergrund bewerten sie die (kontinuierliche) Medien- bzw. Fernsehkritik in den Printmedien und zeigen angesichts der Veränderungen des Mediensystems zusätzliche Institutionalisierungsmöglichkeiten auf (insbesondere auf Basis von Media-Governance-Konzepten). Ihrem Bild der kontinuierlichen, positiven Medienkritik sowie den Aussichten auf gelingende Institutionalisierung von Medienkritik folgen wir nur bedingt, weil wir die soziale und mediale Wirksamkeit der Institutionen der Medienkritik im Wesentlichen als gering und folgenlos bewerten.
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zistischen Entscheidungsprogrammen abhängig sind (ebd.; vgl. auch Theis 1993).12 Die Betrachtung konkreter Organisationsformen im Medienbereich leitet ihre (kommunikations-)wissenschaftliche Relevanz daraus ab, dass sie einen Beitrag zu (a) der Organisationsoptimierung (Effizienz und Effektivität, bspw. bei der Verwirklichung von Programmzielen), (b) dem Medien- und Qualitätsmanagement (etwa die Überprüfung von redaktionellen Abläufen bezogen auf das Ziel, die publizistische Qualität zu kontrollieren) und (c) der staatlichen Regulierung und Selbstkontrolle (z.B. ob und wie die Jugendschutzbeauftragten oder auch die Selbstregulierung leistungsfähig im Sinne der (medien-)politischen Vorgaben sind) leisten kann (vgl. Jarren 2002: 25). Eine Auseinandersetzung mit den Erscheinungsformen der Medienkritik erfordert, die ökonomischen Vorgaben, die medienpolitischen Regelungen und den (medien-)rechtlichen Rahmen ebenso wie die Organisationsvorschriften und das Selbstverständnis der (Medien-)Journalisten in den Blick zu nehmen. Um einschätzen zu können, welchen Entwicklungsstand die Institutionalisierung der Medienkritik in Deutschland erreicht hat, stellt der nächste Abschnitt eine Übersicht zu den verschiedenen Ansätzen und Institutionalisierungsanstrengungen vor.
2 . Z u r I n s t i t u t i o n al i s i e r u n g v o n M e d i e n k r i t i k i n D e u ts c hl an d Zu Beginn der Versuche zur Institutionalisierung der bundesdeutschen Medienkritik13 ist das Bemühen unübersehbar, an Ansätze sozialwissenschaftlicher Medienkritik anzuschließen. Das Hans-Bredow-Institut14 eröffnete 1953, in der zweiten Ausgabe der neugegründeten Zeitschrift Rundfunk und Fernsehen, die Diskussion um die Positionierung der Fernsehkritik mit Adornos Aufsatz Prolog zum Fernsehen.15 Schon zu 12 Vgl. zu den Medienstrukturen und -funktionen grundlegend die Beiträge in Haas/Jarren (2002); zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk Ridder/Langenbucher/Saxer/Steiniger (2005). 13 Wenn hier und im Folgenden von Medienkritik die Rede ist, dann ist hauptsächlich die Fernsehkritik gemeint. 14 Einen Rückblick auf die Bedeutung des Hans-Bredow-Instituts für die Medienforschung (nicht nur) in Deutschland, liefert der von Hasebrink und Matzen herausgegebene Band (2001). 15 Adorno fasst das Fernsehen in diesem Aufsatz als Leitmedium der Kulturindustrie (vgl. Adorno/Horkheimer 1997) auf und hebt entsprechend hauptsächlich seine regressiven, instrumentalisierenden, manipulativen und standardisierenden Tendenzen hervor. Grundsätzlich gilt aber, wie bei allen anderen Medienanalysen von Adorno auch, dass das Fernsehen, wie die Medien insgesamt, zwar überwiegend hegemonial genutzt werden und entsprechende Wirkungen zeitigen, aber prinzipiell auch als Medien der Emanzipation genutzt
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Beginn der Institutionalisierungsphase zeigte sich eine bis heute beobachtbare Kluft zwischen Diskurs und Praxis. Hat Adorno (vgl. u.a. 1997c/d/e) für seine Forschung stets betont, dass es ihm nicht darum geht, Handlungsanweisungen zur Gestaltung sozialer Wirklichkeit zu erteilen bzw. Diskurs und Praxis zwei konstitutiv unterschiedliche Bereiche sind, verbleiben auch die von uns im Folgenden vorgestellten Institutionen der Medienkritik in Deutschland zumeist Diskurse für bestimmte Kreise, denen keine substantielle Öffnung zur Medienpraxis sowie den Rezipienten gelingt. Die Gestaltung der Wirklichkeit der Medien bleibt somit (fast ausschließlich) den Medienproduzenten überlassen, (wissenschaftliche und journalistische) Medienkritiker sowie medienkritische Institutionen erweisen sich dementsprechend wesentlich als zahnlose Tiger, Diskurs und Praxis stehen unvermittelt nebeneinander bzw. produzieren aneinander vorbei.16 Ende der 1950er Jahre erhielt die Fernsehkritik in verschiedenen Tageszeitungen einen festen Platz17, aber das Selbstbewusstsein der Kritiker war nur schwach ausgebildet.18 Dadurch ergab sich in der Zusammenarbeit zwischen Kritikern und Kritisierten ein Ungleichgewicht (vgl. Hickethier 1994b: 154; vgl. auch Hickethier 1994a und Saur/Steinmetz 1988). In den 1960er Jahren rückte neben die Kritik an einzelnen Medienprodukten, d.h. der klassischen Werkkritik, die politische und gesellschaftliche Dimension des Fernsehens ins Blickfeld. Verstärkt wurde die Konstitution des Fernsehens als öffentlich-rechtliches Medium, der Verfassungsstreit zwischen Bund und Ländern, um die Länderkompetenzen in Rundfunkfragen, die Begehrlichkeiten der Industrie (sie wollten in das Geschäft der Fernsehproduktion einsteigen), die »Machenschaften der Bundesregierung« (gemeint ist der Versuch mit der Deutschland Fernsehen GmbH einen staatsnahen zweiten Sender zu konstituieren) und die Stellung der deutschen Filmwirtschaft19 thematisiert. Auf einen Nenner
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werden könnten (vgl. zum Fernsehen u.a. Adorno 1971; vgl. zur Aufarbeitung der Kultur- und Medienkritik von Adorno Kleiner 2006). Möglichkeiten zur Überwindung dieser Situation werden wir in unserem Ausblick vorschlagen. Hickethier (1994b: 145-154) setzt sich ausführlich mit den Arbeiten von Martin Morloch (Süddeutsche Zeitung), Christian Ferber (Die Welt), Hellmuth A. Lange (Frankfurter Rundschau), Ernst Johann (FAZ) und Matthias Reihl (Tagespiegel) auseinander. Hickethier (1994b: 154) zitiert u.a. als Beispiel für diese Diagnose Clemens Münster, der 1963 angibt, dass die Fernsehmacher die Kritiker in den Tageszeitungen (»sie war eine Institution geworden«) für dilettantisch und nutzlos hielten: »[M]erkwürdigerweise prägte diese von den Kritisierten formulierte Kritik auch bei der Kritik das eigene Bild von sich selbst.« Es ging hierbei um die Inhalte (Heimatfilme, Schlagerfilme usw.) und die ökonomische Basis, d.h. die Filmindustrie erlebte eine Fernsehkrise, weil das Fernsehen zum Leitmedium aufstieg, und der Staat gewährte Subventionen, Steuernachlässe und günstige Kredite. Erst mit der Gründung des ZDF und
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gebracht: die Medienkritik beschäftigte sich mit ordnungspolitischen Fragen und nicht mit gesellschaftskritischen Ansätzen (vgl. Hickethier 1994b: 156). Hickethier (ebd.) führt dies unter anderem darauf zurück, dass zu diesem Zeitpunkt weder die Kommunikationswissenschaft etabliert oder entwickelt20, noch in den Sozialwissenschaften die Beschäftigung mit den Medien ausgebildet war. Jarren und Zielmann (2005: 549f.) nennen die »publizistische Gewaltenteilung«, d.h. die »außenplurale Kontrolle« des Pressewesens auf der einen Seite und den »binnenplural« organisierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf der anderen Seite, als Fundament des medienpolitischen und -kulturellen Konsens in der Bundesrepublik bis in die 1970er Jahre. Aber auch ohne eine Institution wuchs das kritische Bewusstsein in der (jungen) Bundesrepublik. Schriftsteller und junge Filmemacher wählten andere Medien der Kritik: ihre Romane und Filme lieferten düstere Zustandsbeschreibungen des Landes.21 Die Medienkritik war ein Teil dieser »Bewegung«22 – unter anderem beteiligte sich Hans Magnus Enzensberger an dieser publizistischen Debatte über die Medien. Enzensberger hat in seinen medienkritischen Essays eine Reihe von Themen diskutiert, die bis heute einen wichtigen Referenzpunkt für den Diskurs der Medienkritik bilden, etwa seine Auseinandersetzung mit der Sprache und Ideologie des Spiegels (Die Sprache des Spiegels, 1957), die Diskussion der technischen und sozialen Möglichkeiten neuer Medien (Baukasten zu einer Theorie der Medien, 1970), die Möglichkeiten der Kritik an der Bild-Zeitung (Der Triumph der Bild-Zeitung oder Die Katastrophe der Pressefreiheit, 1983) oder über die Programmlosigkeit des Fernsehens (Das Nullmedium oder Warum alle Klagen über das Fernsehen gegenstandslos sind, 1988).23
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den Aktivitäten des Filmhändlers Leo Kirch wurde der Produktionssektor gestärkt. Es existierten nur weinige Zentren (etwa München, Mainz und Münster) – und diese verstanden Kommunikationswissenschaft hauptsächlich als Zeitungskunde. Erst das Lehrbuch von Roland Burkart (2002) bestimmt die Kommunikationswissenschaft als interdisziplinäre Sozialwissenschaft. Als Beispiel lassen sich etwa der Film Abschied von gestern (1966) und Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos (1968) von Alexander Kluge nennen oder Volker Schlöndorffs Roman-Verfilmung Der junge Törless (1967). Literaten, die in diesem Kontext hervorgehoben werden müssen sind u.a. Heinrich Böll, Günther Grass, Peter Hanke, Hans Magnus Enzensberger, Günter Wallraf, Dieter Wellershof und später Rolf Dieter Brinkmann. So wandte sich die Gruppe 47 in einem Boykott-Aufruf gegen das AdenauerFernsehen, d.h. den Versuch des Bundeskanzlers Adenauer, mit einer zweiten Sendekette ein Staatsfernsehen einzuführen. Dieses Ansinnen wurde 1961 durch das 1. Rundfunkurteil vom Bundesverfassungsgericht untersagt. Zusammengefasst wurden diese Texte in Enzensberger (1997), einem von Peter Glotz zusammengestellten und kommentierten Band.
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Auch das Fernsehprogramm wies zunehmend kritische Beiträge aus – maßgeblich getragen wurde diese Entwicklung von den politischen Magazinen. Nicht nur die technische Verbreitung des Fernsehens stieg, es wurde zum Leitmedium und damit auch von »der Politik« ernster genommen (vgl. Hickethier 1994b: 160). Vor diesem Hintergrund setzte Medienkritik auf der Ebene der allgemeinen Kritik der Medien an. Diese Form der Medienkritik breitete sich vor allem an den Universitäten aus: insbesondere im Umkreis von Friedrich Knilli, Franz Dröge, Horst Holzer sowie der Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation (ebd.).24 Stellvertretend sei aus dieser Vor- bzw. Frühphase der Institutionalisierung der Medienkritik an den Universitäten, Holzer (1971: 101) zitiert. Er schließt sich, vor dem Hintergrund einer Inhaltsanalyse zu Bild und Spiegel, den Forderungen nach einer Umstrukturierung des massenkommunikativen Bereichs an. Konkret fordert er: (a) die Herstellung einer politisierten Öffentlichkeit durch Aktivierung inner- und überbetrieblicher Mitbestimmung, (b) den Abbau der unmittelbaren Abhängigkeit der Medien von der werbetreibenden Industrie durch Einrichtung von Anzeigengenossenschaften, (c) die Installierung einer innerbetrieblichen Mitbestimmung von Journalisten durch Fixierung von Redaktionsräten. Holzer ruft dazu auf, an diesen Vorschlägen theoretisch und praktisch konsequent weiterzuarbeiten, indem »weitere kritische Studien zu den gesellschaftlichen Folgen der Massenkommunikation in der Bundesrepublik erstellt werden« (ebd.). Diesem Anspruch wurden bis auf wenige Ausnahmen, weder in den 1970er Jahren noch heute, Medientheoretiker oder Praktiker gerecht.25
24 Von der (allgemeinen) Aufwertung des Kritikbegriffs profitierte auch die publizistische Medienkritik, weil sich die Theorie des Fernsehens als Kritik des Fernsehens verstand und dabei auch vom Programm und seinen Erscheinungsformen ausging (vgl. Hickethier 1994b: 178). Willy Brandts Wahlkampfund Regierungserklärungs-Slogan »Mehr Demokratie wagen« bedeutete auch, mehr Kritik zu äußern: »An die Stelle des im Adenauerstaat erstrebten Harmonie-Modells trat nun ein gesellschaftliches Konfliktmodell, bei dem Differenzen in der Diskussion der Argumente, in Kritik und Gegenkritik ausgetragen werden und die besseren Argumente in einer ‚herrschaftsfreien’ Kommunikation (Habermas) sich durchsetzen sollten« (ebd.: 179). 25 Eine grundlegende Kritik, die u.a. von Seiten der sog. Kommunikationsguerilla geäußert wurde. Hierbei ist entscheidend, dass die Vertreter der Kommunikationsguerilla ihre (diskursive) Kritik stets praktisch werden lassen, d.h. andere Medien der Kritik wählen, um die Sackgasse der Diskurse zu überschreiten und Medienkritik nicht nur begrenzten Zirkeln zugänglich zu machen (vgl. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels 2001; vgl. zur Bewertung und Einbindung dieses Ansatzes in den medienkritischen Diskurs grundsätzlich Kleiner 2005).
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3 . V i e r I n s ti tu ti o n e n d e r M e d i e n k r i ti k (A) Mainzer Tage der Fernseh-Kritik. Ende der 1960er Jahre standen sich die publizistische Debatte und die ersten Schritte der Institutionalisierung von Medienkritik an den Universitäten auf der einen Seite, und die konservative Medienkritik26 auf der anderen, gegenüber. Da es kaum einen Austausch zwischen diesen Ansätzen gab, kann hier von einem wechselseitigen blinden Fleck gesprochen werden. Für konkrete Institutionalisierungsschritte sorgte das ZDF. Die Intention von Anna-Luise Heygster, Dieter Stolte und dem damaligen Intendanten Karl Holzamer war es, der Fernsehkritik mehr Gewicht und Aufmerksamkeit zu verschaffen. Die ersten Mainzer Tage der FernsehKritik fanden im Oktober 1968 statt.27 Ziel der Mainzer Tage der Fernseh-Kritik war und ist es, nicht nur den Dialog zwischen den Fernsehkritikern und den Fernsehmachern zu befördern, sondern diesen zu institutionalisieren; angestrebt war/ist, einen Beitrag zur Professionalisierung der Kritik zu leisten und »sich selbst bei den Kritikern ins rechte Licht rücken zu können« (Hall 2005: 155). Hall (2005: 156) glaubt, dass diese Ziele realisiert wurden, bedauert aber gleichzeitig, »dass die Medienkritik im Verlauf der folgenden Jahrzehnte kaum an Relevanz gewonnen, im Gegenteil, im Zuge der fortschreitenden marktwirtschaftlichen Dominanz auch im Bereich des Fernsehens und seiner damit einhergehenden Kommerzialisierung weitgehend marginal geblieben ist.« Dies scheint nur eine Teilerklärung zu sein. Bei der Klage über die geringe Tiefenwirkung der Mainzer Tage der Fernseh-Kritik sollte auch selbstkritisch eingestanden werden, dass die Verantwortlichen seit 1968 so gut wie keinen Vertreter kritischer (sozialwissenschaftlicher) Medienforschung als key-note-Speaker eingeladen haben, also keine substantiellen Interaktionen mit dem kritischen wissenschaftlichen Medien-Diskurs gesucht wurden.28 26 Die konservative Kritik hatte »nie ernsthaft Programmkritik betrieben, sondern sich als Institutionenkritik und Personalpolitik formuliert« (Hickethier 1994b: 181). 27 »Jede Zeit hat ihre Schlüsselworte, durch die sie ihr Selbstverständnis artikuliert und in denen sie sich wiedererkennt« (Stolte 1969: 7) – so lautet der erste Satz des Dokumentationsbandes der ersten Mainzer Tage. Verstärkt und zum Teil auch ausgelöst wurden durch die Mainzer Tage der Fernseh-Kritik eine Reihe medienkritischer Sendereihen wie Glashaus – TV-intern im WDR, Mikado im SWR und betrifft: fernsehen im ZDF (vgl. mit einem kritischen Rückblick Quast 1995; mit einer Beschreibung der aktuellen Anforderungen aus Sicht eines Machers Bolz 2005). 28 Eine Übersicht über die eingeladenen wissenschaftlichen Medienforscher macht diesen Befund augenscheinlich. Erstmalig aufgelistet wurden die Beteiligten an den Mainzer Tagen von Hall (2005; hier S. 160). Wir geben an dieser Stelle seine Auflistung wieder, in alphabetischer Reihenfolge, um unsere Einschätzung der fehlenden Berücksichtung gesellschaftskritischer Me-
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Der Dialog, der bei den Mainzer Tagen der Fernseh-Kritik zwischen Produzenten, Konsumenten und Rezensenten geführt werden soll, stellte von Anfang an die zentrale Bedeutung von (Medien)Kritik ins Zentrum. Stolte (1969: 8f.) betont daher 1969 im Vorwort des ersten Tagungsbandes: »Und so ist denn ›Kritik‹ das Losungswort der Stunde. [...] Indem die Kritik so in den Mittelpunkt des Geschehens rückt, nicht mehr kritischer Begleiter von Entwicklungen, sondern selbst Programm ist, ja, mit allen daraus folgenden Konsequenzen als eine ›Grundbefindlichkeit des Menschen‹ [...] angesprochen wird, bedarf es mehr denn je der Vergewisserung darüber, was sie ist und wozu sie da ist.« Karl Holzamer (1969: 14) sah den Kritiker »in seiner wichtigen Wächter- und MittlerFunktion innerhalb der modernen Ausbreitung von Kultur-, Nachrichtenund Unterhaltungsgütern«. Konkretisiert man diese Perspektive, so stellen die Mainzer Tage der Fernsehkritik einen Raum zur (a) Selbstkritik der Macher dar; (b) zur Konfrontation der Macher mit den Kritikern, die ihre Produktionen öffentlich beurteilen, und dem Publikum, für das sie Programm machen; (c) zugleich sind sie ein Ort der Selbstkritik der Kritiker, die hier ihre Kritiken zur Diskussion stellen, und eine Konfrontation mit den Machern, die sie kritisieren und dem Publikum, für das sie kritisieren; sowie (d) ein Ort zur Selbstkritik des Umgangs mit Medien und zur Orientierung der Rezensenten sowie die Möglichkeit, die Mediennutzerpositionen mit denen der Macher und Kritiker zur konfrontieren. Als Voraussetzung von gelingender Medienkritik nennt Münster (1969: 39) die Notwendigkeit, einen entsprechenden gesellschaftlichen Rahmen zu schaffen, in dem Medienkritik kontinuierlich stattfinden und gestalterisch eingreifen kann. Hierzu sind die Grundrechte der Meinungsfreiheit und Abwesenheit von Zensur konstitutive Voraussetzungen,
dientheoretiker bei der Veranstaltung zu untermauern – in den Klammern wird das Jahr angegeben, in dem die jeweilige Person in Mainz vorgetragen hat: Hellmuth Benesch (81), Jerzy Bossak (84), Horst Bredekamp (02), Götz Dahlmüller (73), Helmut Dubiel (90), Wolfgang Ernst (70), Werner Faulstich (01), Jo Groebel (86), Alfred Grosser (96), Friedrich Hacker (86), Michael Haller ((02), Wilhelm Hennis (85), Knut Hickethier (01), Jochen Hörisch (01), Karl Otto Hondrich (02), Friedrich Kittler (95), Hans J. Kleinsteuber (95), Friedrich Knilli (70), Joachim H. Knoll (1968), Thomas Koebner (96), Erich Küchenhoff (76), Michael Kunczik (86), Klaus Laermann (04), Wolfgang R. Langenbucher (75), Claus Leggewie (93), Konrad Paul Liessmann (02), Jutta Limbach (97), Ernst Gottfried Mahrenholz (76), Fredmund Malik (03), Christan Meier (91), Gitta Mühlen Achs (97), Irene Neverla (97), Elisabeth Noelle-Neumann (69), Harry Pross (76), Karl Prümm (77), Horst-Eberhard Richter (89), Karsten Renckstorf (80), Dieter Ross (73), Georg Ruhrmann (04), Erwin K. Scheuch (70), Siegfried J. Schmidt (04), Irmela Schneider (83), Alfons Otto Schorb (76), Winfried Schulz (77), Alphons Silbermann (87), Kurt Sontheimer (74), Erich Strassner (80), Hertha Sturm (73), Will Teichert (76), Richard Wisser (68), Paul Zanker (00), Axel Zerdick (95).
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ebenso dass sich die Rundfunk- und Fernsehanstalten grundsätzlich als öffentliches Gewissen unter demokratischer Kontrolle verstehen müssen. Für Stolte und Holzamer bedeutete Kritik vor allem eines: Distanz einzunehmen. Diese Distanzierung vom Tagesgeschäft der Produktion, Kritik und Konsumption ermöglicht aller erst einen Blick auf deren Grundlagen, Bedingungen, Entstehungskontexte usw., die ansonsten meist unberücksichtigt bleiben. Gerade angesichts dieses Anspruches ist es erstaunlich, wie wenig Nachhaltigkeit von den Mainzer Tagen ausgeht. Weder die jährliche Veranstaltung selbst, noch deren Publikationsreihe, haben die Entwicklung der Medienkritik in Deutschland wesentlich beeinflusst. Das selbsternannte Dialogforum bemüht sich zwar jeweils aktuelle medienpolitische Themen aufzugreifen und zu diskutieren – die gesellschaftskritische Reflexion bleibt dabei meist auf der Strecke, ebenso wie der substantielle Versuch, gemeinsam, d.h. durch die Interaktion von Kritikern (Journalisten), Produzenten und wissenschaftlichen Medienforschern/-kritikern, die Wirklichkeit des Fernsehens zu gestalten bzw. verändern. Die Wirklichkeit der jährlichen Veranstaltungen erweist sich leider als ein Nebeneinander von Positionen, deren Halbwertzeit und medienkritische Nachhaltigkeit genau zwei Tage, nämlich die der Veranstaltung, anzuhalten scheint. Die Einschätzung, dass es sich bei den Mainzer Tagen nur noch »um eine unproduktive Simulation ihrer selbst« handelt, wurde bereits vor gut zehn Jahren von Lutz Hachmeister (1993: 21-23)29 geäußert. Gäbler (2005: 129) legte jüngst nach, als er die »eigenartige Versuchsanordnung« der letztjährigen Veranstaltung bemängelte: »Da lud sich das ›Zweite‹, mit dem man ja angeblich besser sieht, Kritiker ins Haus, um dann stoisch aber auch jede Kritik schlicht zurückzuweisen.« (B) Adolf Grimme Institut. Als zweite Einrichtung hat sich, neben den Mainzer Tagen, das Adolf Grimme Institut als Institution der Fernsehkritik etabliert. Das Institut ist nicht von einem Fernsehanbieter getragen, sondern zahlreichen Förderern verpflichtet, so u.a. dem Volkshoch29 »Die Konstellation zwischen Kritik und Rundfunk, für die das ›Modell der Mainzer Tage‹ (Leder) paradigmatisch steht, zeichnet sich durch eine Symbiose zwischen öffentlich-rechtlichem System und einem schmalen medienkritischen Establishment […] aus. Aller ungleichen Machtverteilung zum Trotz, nahmen sich beide Seiten hinreichend ernst, kritische Solidarität) mit den öffentlich-rechtlichen Idealen war das Motto etablierter Medienkritiker. In ihr Leben war das Fernsehen noch als neues Medium eingebrochen, ihre professionelle Referenz war das bürgerliche Zeitungsfeuilleton (ungeliebt, aber mächtig), ihre Sozialisation wurde durch das studentenbewegte und nachher sozialdemokratische Reformklima der 70er Jahre geprägt. Der medienkritische Gesinnungsschub stützte den kritischen Dokumentarfilm und das experimentelle Fernsehspiel. Die Eintrittsbedingungen waren Lagertreue, Ehrlichkeit, Provinzialität und der stete Groll gegen die ›Hierarchien‹« (Hachmeister 1993: 23).
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schulverband. Dennoch ist eine gewisse Nähe zu den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, vor allem dem WDR, der nordrhein-westfälischen Landesregierung und der Landesanstalt für Medien NRW nicht zu übersehen. 2004 feierte der Adolf-Grimme Preis30, auf den das Institut seine Bekanntheit stützt, sein vierzigjähriges Jubiläum. Zu diesem Anlass gab es vom damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau wohlwollende Worte31, aber keine Bestandsgarantie für das Institut oder einen Vorschlag zur notwendigen Neuausrichtung im deutschen Fernsehpreiswesen (vgl. Scherfer 2005). Zwar gilt der Grimme Preis bei den Machern (weiterhin) als die wichtigstes Auszeichnung für (deutsche) Fernsehproduktionen, aber ähnlich wie die Mainzer Tage gelang es kaum, (sozial)wissenschaftliche Medienkritik in Marl zu beheimaten. Insbesondere das vom Institut herausgegebene Jahrbuch Fernsehen, fällt hinter die bei der ersten Ausgabe angekündigte Zielsetzung zurück. Der damalige Geschäftsführer des Instituts, Lutz Hachmeister (1992: 6), benannte vier Ebenen, auf denen das Jahrbuch einen eigenständigen Beitrag leisten will: »Es kann erstens als Geschichtsbuch dienen, zweitens einen Überblick zu den Schreibweisen der Medienkritik liefern, drittens sinnvolle Kommunikation zwischen Produzenten, Redakteuren und Kritikern stiften und viertens Themenstellungen des Internationalen Filmfestes Köln ergänzen.« Wie bei den Dokumentationsbänden zu den Mainzer Tagen, bleibt die Beachtung der Jahrbücher des Adolf Grimme Instituts bescheiden; gesammelt werden die wichtigsten Kritiken eines Jahres, es wird mit dem Bert DonneppPreis32 ein Kritiker-Preis vergeben, die wichtigsten Tendenzen und Ereignisse des jeweils vergangenen Fernsehjahres oder der entsprechenden Programmentwicklungen werden gewürdigt und es findet eine Beteiligung an der medienpädagogischen Debatte33 statt34. Das Grimme30 Die Kriterien für den Preis, der sich als »die jährliche Definition von Qualitätsfernsehen« versteht, finden sich in dem vom Adolf Grimme Institut 1998 herausgegebenen Statut (vgl. auch Paukens 2000. Vgl. mit einer Auseinandersetzung zum Preiswesen Scherfer 2005). 31 Vgl. www.bundespraesident.de/dokumente/reden/ix_94612.html (abgerufen am 12.06.2004). 32 Dieser Preis (Deutscher Preis für Medienpublizistik) wird seit 1991 vom Verein »Freunde des Adolf Grimme Preises« gestiftet und vergeben. Preisträger waren: Uwe Kammann, Gisela Zabka, Stefan Jakob und Volker Lilienthal (1991); Cornelia Bolesch (1992); Horst Röper (1993); Christian Hellmann (1994); Oliver Herrgesell (1995); Klaus Ott (1996); Klaudia Brunst (1997); Peter Turi (1998); Michael Hanfeld (1999); Sybille Simon-Zürich und Fritz Wolf (2000); Hans-Jürgen Jakobs (2001); Dieter Anschlag und Dietrich Leder (2002); Stefan Niggemeier und Egon Netenjakob (2003); Rainer Braun (2004). 33 In Marl und damit im Umfeld des Adolf Grimme Instituts angesiedelt, war das Europäische Zentrum für Medienkompetenz – bis die Einrichtung den finanziellen Zwängen des nordrhein-westfälischen Landeshaushalts zum Opfer fiel. 34 Aufgrund der angespannten Finanzlage des Instituts musste vor einigen Jahren die Tagung Marler Tage der Fernsehkritik eingestellt werden.
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Institut fungiert als Anlaufstelle, weniger als Plattform der Medienkritik.35 Dies dokumentiert auch die konstatierte Aktion im Jahr 2003: Bei den Juroren und Mitgliedern der Nominierungskommissionen des AdolfGrimme-Preises war vom Verschwinden der Fernsehkritik die Rede. Auf Initiative der beiden Mediendienste epd medien und Funkkorrespondenz wurde eine Resolution erarbeitet um der Krise der Medienkritik entgegenzuwirken. Im Marler Manifest (2003) wird appelliert: »Wir brauchen eine regelmäßige, sich selbst reflektierende Fernsehkritik, die ein Qualitätsbewusstsein ausbildet, die das Auge schult, Genres sortiert, Ideologien zerlegt, eine Kritik, die Schauspielkunst aus rasender Bildflut rettet, die über den Tag hinausdenkt und das Gestern im Heute bewahrt. Wir brauchen eine Fernsehkritik, die die Macher und die Zuschauer nicht allein lässt. Wir brauchen Platz und Stimme. Sonst schweigen die Lämmer!« Diese drängende Poetik ist zugleich Programmatik (vgl. Gäbler 2005: 117). Doch wie bei den Mainzer Tagen ist das Institut weniger auf den Austausch mit (sozial)wissenschaftlichen Medienkritikern aus und schon gar nicht als Netzwerk aktiver Medienkritik36 zu verstehen. Vielmehr stellt das Institut, hauptsächlich über den Grimme-Preis, die Kommunikation zwischen Kritikern und Machern her. Im Unterschied zur Veranstaltung in Mainz, welche in der Regel nett daherkommt und keinem wehtut, muss das Grimme-Institut darauf achten, dass das Gegenüber von Kritikern und Machern »nicht zu einem ritualisierten wechselseitigen Bewerfen mit Wattebäuschen ausartet, indem sich ein kleiner etablierter Kreis des linksliberalen Medienkritik-Establishments und diskussionswillige Programmverantwortliche munter im Kreis wechselseitiger Selbstbespiegelung drehen« (Gäbler 2005: 128). Der ehemalige Geschäftsführer des Instituts, Bernd Gäbler (ebd.: 131), hatte bei der Bewertung der Institutsarbeit dann auch mehr die direkt am Preis beteiligten und eben nicht eine gesellschaftskritische Medienkritik im Blick: »Durch die Kompetenz seiner Juroren bekommt der Grimme-Preis Gewicht. Die Tradition stärkt seine Bedeutung. Sie zu wahren und dennoch den Preis jeweils gegenwartsbezogen neu zu justieren – darin liegt die tatsächliche Verantwortung gegenüber Zuschauern, Produzenten und Sendern.« (C) Stiftung Medientest. Den Anstoß zu einer Stiftung Medientest gab der Bericht über die Lage des Fernsehens (vgl. Grobel et al. 1995). Der Bericht informierte den damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker über den Zustand des deutschen Mediensystems, gut zehn Jahre nach dem Start des Privatfernsehens. Die Kommission verfolgte 35 Dies gilt übrigens nicht mehr nur für das Fernsehen, sondern inzwischen auch für das Internet – das Grimme-Institut vergibt auch einen Online-Award. 36 Vgl. mit diesem Vorschlag Weichert (2005).
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die »Idee und Praxis einer grundsätzlichen Gemeinwohlorientierung« und zwar mit dem Ziel, die »Qualität der öffentlichen Kommunikation« in politischer Hinsicht, wie auch mit Blick auf die gesellschaftliche Integration zu erhalten und weiterzuentwickeln (ebd. 15f.). Die medienpolitische Denkschrift bezieht Stellung zu (a) der Zukunft des öffentlichrechtlichen Rundfunks, insbesondere zu dessen internen Kontrolle; (b) der externen Kontrolle der privaten Anbieter durch die Landesmedienanstalten; (c) den Möglichkeiten, die Konzentrationskontrolle zu verbessern; (d) der Notwendigkeit, die Sanktionsmöglichkeiten durch die Landesmedienanstalten zu differenzieren; (e) Fragen der Wettbewerbssituation und der Finanzierung des dualen Systems; (f) den Bedingungen und Potenzialen der Selbstkontrolle; und schließlich (g) zu den Wegen, die Medienverantwortung als Aufgabe der Öffentlichkeit zu verankern. Zum letztgenannten Punkt votiert die Kommission zum einen für einen »Rat zur Begutachtung der elektronischen Medien (Medienrat)«, zum zweiten für eine Stiftung Medientest und zum dritten für »Publikumsorganisationen«.37 Über die Konzeption einer Stiftung Medientest wurde in der Fachzeitschrift Rundfunk und Fernsehen im Jahr 1997 weiterdiskutiert. Diskussionsgrundlage bildete der Beitrag von Krotz (1996). Die Hauptaufgabe einer Stiftung Medientest sah Krotz beim Testen und Archivieren sowie in der Information der Verbraucher über die Medienentwicklung und -inhalte. Abgeleitet war diese Aufgabenbeschreibung, ähnlich wie bereits im »Bericht zur Lage des Fernsehens«, aus dem umfangreichen Aufgabenkatalog der Stiftung Warentest.38 Der Beitrag von Krotz wurde flankiert von Stellungnahmen verschiedener Akteure, um die Realisierungschancen einer Stiftung Medientest abzuschätzen. Es äußerten sich 37 Vgl. mit einer Diskussion und Verlängerung des im Bericht zur Lage des Fernsehens enthaltenen Ansatzes, die Beiträge in Hamm (1997). Einer umfassenden Analyse wurde der Bericht durch Otfried Jarren und Gerhard Vowe (1995) sowie Georg Ruhrmann und Jörg-Uwe Nieland (1995) unterzogen. Die medienpolitische Wirkung des Berichtes wurde von beiden Autorenteams als begrenzt eingeschätzt, bedauert wurde, dass die von der Kommission vorgeschlagenen Instrumente und Leitbilder nicht den Regulierungsbedingungen in modernen Gesellschaften entsprachen, d.h. zu diesem Zeitpunkt stand die Debatte um die Deregulierung der Mediensysteme im Vordergrund, Maßnahmen der Kontextsteuerungen wurde erst Jahre später, etwa von Donges (2002) ausführlich analysiert. 38 Folgende Kriterien lassen sich hervorheben: (a) Information der Verbraucher/Öffentlichkeit über die Ergebnisse vergleichender Warentests; (b) Steigerung der Angebotstransparenz vor dem Kauf von Konsumgütern; (c) Verbesserung des beim Kauf realisierten Qualitäts- und Preisniveaus; (d) Steigerung der Zufriedenheit mit dem gekauften Produkt; (e) Entlastung der Verbraucher bei der Beurteilung und Auswahl von Produkten; (f) Förderung der Bedarfsreflexion und Bedarfstransparenz; (g) Förderung des Artikulationsverhaltens vor und nach dem Kauf sowie h. die Steigerung der Nachfragemobilität (vgl. Krotz 1996: 224).
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Hans Joachim von Gottberg für die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen, Reinhard Grätz als Vertreter der öffentlich-rechtlichen Anbieter, Imme de Haen, die Direktorin der Evangelischen Journalistenschule in Berlin, Wolfgang Ring für die Landesmedienanstalten, Wolfgang Langenbucher und Heribert Schatz, als Kommunikations- bzw. Politikwissenschaftler, Heide Simonis für die Politik, Lutz Tillmanns aus Sicht des Deutschen Presserates und Theo Wolsing für die Verbraucherzentralen.39 In der Mehrzahl wurde zwar die Initiative gelobt, aber es überwog doch Skepsis: Die Umsetzung des Konzeptes wurde bezweifelt oder gar abgelehnt. Von Gottberg sah die Arbeit der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FES)40 nicht ausreichend gewürdigt, denn die Entscheidungspraxis sei transparent und das Problem der Gewalt- und Sexualdarstellungen habe sich, auch Dank der Arbeit der FES, entschärft. Da sich kein Kriteriensystem für Fernsehprodukte entwickeln ließe und diese Produkte auch nicht so getestet werden könnten, wie Markenartikel, sei keine neue Institution erforderlich. Nach Ansicht von Grätz funktioniert die öffentlich-rechtliche Praxis, hier fällt der ARD-/ZDF-Medienforschung41 eine wichtige Rolle zu. Beim augenblicklichen Stand der Debatte hielt er es für richtig, dass die Stiftung keine Erwähnung in dem Rundfunkänderungsstaatsvertrag erfuhrt, er verweist aber auf die Möglichkeit der Wiedervorlage – ähnlich äußerte sich auch Simonis. De Haen betonte die Notwendigkeit der Informationsvermittlung, hielt die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Stiftung für unumgänglich, wünschte sich eine Auszeichnung des Guten sowie die Möglichkeit, Meinungsbekundungen der Rezipienten zulassen. Ring schätzte die Konstruktion einer Stiftung Medientest für unrealistisch ein (finanziell und organisatorisch). Er kündigte Programminfos für Eltern an. Schatz sah eine Überschätzung der Informationswünsche bei den Befürwortern der Stiftung und verwies auf die Schwierigkeiten, sowohl bei der Akzeptanz der Testkriterien, als auch bei der Selektion des Testmaterials, Fragen würden sich auch bei der Organisationsform ergeben. Tillmanns hielt, vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem Deutschen Presserat, eine Stiftung Medientest für uneffektiv, weil es sich um eine weitere problemfern arbeitende Medien-Institution handelt, die von der notwendigen Sacharbeit durch Selbstkontrollorgane ablenkt. Er formulierte rechtliche Bedenken, zum einen hinsichtlich der Finanzierung (eine Anteilszahlung aus den Rund39 Vgl. mit einer Bewertung der Diskussion in der Zeitschrift Rundfunk und Fernsehen Krotz (1997). 40 Die FES wurde 1994 gegründet. Sie arbeitet als freiwilliger Zusammenschluss der privaten Fernsehanbieter (vgl. grundsätzlich von Gottberg 2005). 41 Die ARD-ZDF-Medienforschung organisiert die Medienforschung im Auftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanbieter. Es wird eine Buchreihe (Schriftenreihe Media Perspektiven) herausgegeben und monatlich erscheint die in der Zeitschrift Media Perspektiven.
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funkgebühren war ein Vorschlag des Berichtes), zum anderen auf Grund der Zusammensetzung der Stiftung (Gebot der Staatsferne) und schließlich mit Blick auf die Möglichkeit, Aufzeichnungen vorzunehmen. Nachdem das Konzept der Stiftung Medientest in der geschilderten Ausführlichkeit in der Fachzeitschrift Rundfunk und Fernsehen debattiert wurde, geriet sie aus dem Fokus der Medienpolitiker und Programmkontrolleure. Anstelle einer Medienkritik als Verbrauchschutz wurde über die Einsetzung der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK), die Einführung des so genannten Zuschaueranteilmodells zur Begrenzung »vorherrschender Meinungsmacht« (diese Debatte ist ausführlich dokumentiert in dem KEK 1999), die Herausforderungen der (technischen) Konvergenz im Medienbereich (vgl. KEK 2000), die Programmforschung durch die Landesmedienanstalten42 und die Gründung der Kommission für Jugendmedienschutz (im Frühjahr 2003)43 diskutiert. In jüngster Zeit wurde der Gedanke der Stiftung Medientest allerdings wieder belebt. Zuerst erinnerten Hallenberger und Nieland (2005b) an die (ursprüngliche) Konzeption und brachten diese mit aktuellen Bemühungen zur Förderung der Medienkompetenz zusammen. Weichert (2005) geht noch einen Schritt weiter: Er befragte namhafte Kommunikationswissenschaftler zu ihrer (Neu)Bewertung der Konzeption und plädierte für einen Zusammenschluss von Medienjournalisten (und -kritikern), als Vorstufe auf dem Weg einer Stärkung der Verbraucherinteressen. (D) Medienkompetenz(förderung) als neues Aufgabenfeld der Medienkritik. Angesichts des in den letzten drei Unterabschnitten beschriebenen Standes der Institutionalisierungsbemühungen der Medienkritik, ist eine Ausweitung der Medienkritik auf andere Akteure und Institutionen geboten. Darauf wies Jarren (1997: 308) bereits 1997 hin: »Solange der Rundfunk gesellschaftlich kontrolliert war, konnte die stellvertretende Wahrnehmung von Interessen durch wenige Akteure und erweitert um (Medien-)Kritiker ohne Eigennutz (wie beispielsweise die Kirchen mit ihren medienkritischen Publikation) mehr oder minder gut realisiert werden. Nun aber, mit dem heraufziehenden Marktrundfunk, mit dem Aufkommen von digitalen Abrufmedien sowie von immer mehr Zielgruppenmedien und dem
42 Die Ergebnisse der Programmforschung bzw. der von den Landesmedienanstalten in Auftrag gegebenen Forschungen sowie die Herleitungen der (medienrechtlichen) Aufträge der Landesmedienanstalten sind dokumentiert in den Jahrbüchern der Arbeitsgemeinschaft der Landesmedienanstalten (ALM) zuletzt ALM 2005. 43 Diese Debatte ist dokumentiert in der Ausgabe 2/2003 der von der Bayerischen Landeszentrale für Neue Medien (BLM) herausgegebenen Zeitschrift tendenz.
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KULTURINDUSTRIE REVIEWED Verlust an herkömmlichen Formen des Veranstalter- und Programmrundfunks, verliert diese Stellvertreterpolitik an Bedeutung.«
Inzwischen rankt sich die medienpolitische wie auch die mediensoziologische Debatte um den Begriff Medienkompetenz. An diese Debatten schließt jenes Konzept von Medienkritik an, welches mit Verbraucherinformation für die Stärkung der Position der Nutzer eintritt. Hierzu lassen sich, orientiert an Hallenberger/Nieland (2005b), einige Beispiele aufzählen: Zum einen die von der Landesanstalt für Medien NordrheinWestfalen (LfM) veranstalteten Medienversammlungen. Hier handelt es sich um Zuschauerparlamente, die dazu dienen, dem Gedankenaustausch zwischen Mediennutzerinnen und –nutzern, den Akteuren der Medienbranche, der Medienwissenschaft und der Medienpolitik, zu initiieren. So beschäftigte sich beispielsweise die dritte Medienversammlung im September 2004 mit den neuen TV-Formaten (Dschungel-Camp, Big Brother und Schönheits-Ops bei Swan). Zum zweiten, die vom Land NRW organisierten Tage der Medienkompetenz, bei denen die Medienkompetenzprojekte vorgestellt wurden (vgl. Landesanstalt für Medien 2004). Zum dritten sei der Verein für die Programmberatung für Eltern erwähnt. Der Verein gibt die Zeitschrift Flimmo heraus, eine medienpädagogische Handreichung für Eltern.44 Beurteilt werden Sendungen von ARD, ZDF, RTL, SAT.1, ProSieben, RTL2, KABEL1 und SuperRTL, die regelmäßig, mindestens einmal im Monat ausgestrahlt werden. Auf dem Feld der durch Sozialwissenschaftler (mit-)konzipierten und (mit)getragenen medienkritischen Initiativen können zwei Beispiele genannt werden. Die Initiative Nachrichtenaufklärung, die einmal im Jahr eine Rangliste der in der Bundesrepublik Deutschland am meisten vernachlässigten Themen und Nachrichten veröffentlicht.45 Auf der Basis von (Themen)Vorschlägen, die sowohl von Medienschaffenden, gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Institutionen als auch von interessierten Bürgerinnen und Bürgern eingereicht werden können, entscheidet die Jury der Initiative über eine Rangliste der Top-Themen und -Nachrichten, die ihrer Meinung nach stärkerer Aufklärung bedürfen. Die Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) stellt sich die Aufgabe, Journalisten und Medien auf Themen hinzuweisen, die zu wenig oder gar nicht öffentlich gemacht werden, obwohl sie relevant sind. Die INA will über Gründe und Folgen dieser Vernachlässigung aufklären. Der Kritik und der Reformierung der publizistischen Selbstkontrolle46 hat sich der 44 Als Grundlage gelten nach Angaben der Redaktion von Flimmo aktuelle Forschungsergebnisse und regelmäßige Befragungen. 45 Weitere Informationen – insbesondere die erwähnten Top 10-Listen – sind unter www.nachrichtenaufklaerung.de abrufbar. 46 Vgl. grundlegend Pöttker (2003).
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Verein zur Förderung der publizistischen Selbstkontrolle (FPS)47 angenommen. Der Verein möchte die öffentliche Beobachtung der publizistischen Selbstkontrolle auf Dauer sicherstellen.48 Als journalistische Vereinigung, die sich der selbstkritischen Medienarbeit verschrieben hat, kann das Netzwerk Recherche gelten.49 Es handelt sich hierbei um einen Verein, der den Recherchejournalismus stärken möchte. Das Netzwerk veranstaltet jeweils im Frühjahr seine Jahrestagung und veröffentlicht Sammelbände zu Fragen der journalistischen Praxis (vgl. bspw. Netzwerk Recherche 2003). Außerdem sind die Mitglieder des Vorstands des Netzwerk ausgewiesen investigative Journalisten der Republik: Hans Leyendecker (u.a. CDU-Spendenaffäre), Christoph Maria Fröder (Irak-Kriegsberichterstattung) und Thomas Leif (Lobbyismus). Im Gegensatz zu den Mainzer Tagen der Fernseh-Kritik und dem Adolf Grimme Institut, kann bei den hier aufgezählten Initiativen noch nicht von echten Institutionen der Medienkritik gesprochen werden. Somit erscheint es verfrüht, auch hier blinde Flecken zu diagnostizieren. Ein Schwachpunkt dieser Initiativen scheint aber die geringe Publizität darzustellen.
47 Vgl. www.publizischtische-selbstkontrolle.net. Vorsitzender des Vereins ist der Dortmunder Kommunikationswissenschaftler Horst Pöttker, weitere Vorstandsmitglieder sind Wolfgang Langenbucher, Achim Baum und Christian Schicha. 48 »Da in Deutschland auch die publizistische Selbstkontrolle nach dem korporatistischen Politikmuster vollzogen wird, mangelt es ihr bisher sowohl an Transparenz als auch an kritischer gesellschaftlicher Beobachtung. Daraus folgen oft beklagte Wirksamkeitsdefizite, die in übertriebenen oder irreführenden Metaphern wie ›Alibiinstanz‹ oder ›Zahnloser Tiger‹ gipfeln. Eine derartige Diffamierung der publizistischen Selbstkontrolle ist gefährlich, weil sie einer stärkeren gesellschaftlichen oder gar staatlichen Kontrolle des Journalismus Vorschub leisten kann. Darum stellt sich der ›Verein zur Förderung der publizistischen Selbstkontrolle‹ (FPS) die Aufgabe, einer organisierten Kontrolle über den Journalismus zuvorzukommen, indem er die öffentliche Beobachtung der publizistischen Selbstkontrolle auf Dauer stellt sowie auf eine Verbesserung ihrer Transparenz drängt« (www.publizistische-Selbstkontrolle.net). 49 »Der Verein Netzwerk Recherche soll eine Lobby für den in Deutschland vernachlässigten investigativen Journalismus sein. Er vertritt die Interessen jener Kollegen, die oft gegen Widerstände in Verlagen und Sendern intensive Recherche durchsetzen wollen. Der Verein sieht sich in der Pflicht, wenn Funktionsträger den freien Fluss von Informationen behindern, wenn kein Geld für Recherchen zur Verfügung gestellt wird, wenn Kollegen für korrekte, kritische Arbeit angegriffen oder zum Teil sogar juristisch verfolgt werden. Zu den zentralen Zielen des Netzwerks gehört es zudem, die Aus- und Fortbildung im Bereich Recherche zu verbessern. Hierzu erarbeitet der Verein selbst Konzepte, organisiert Seminare mit und kümmert sich um die Vergabe von Recherche-Stipendien.« (www.netzwerkrecherche.de)
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4 . Z w i sc he n b e f u n d Bei der Institutionalisierung der Medienkritik in der Bundesrepublik Deutschland kann bisher nicht von der Verwirklichung der Ansprüche der Zivilgesellschaft folgenden Selbstverständigungsdiskurse und Selbstbeschreibungen gesprochen werden. Zwar ist das Prinzip Kritik der Medien und Medien der Kritik bei der Genese des bundesdeutschen Mediensystems ebenso virulent wie bei der gesellschaftlichen Debatte über die Medien (und insbesondere des Fernsehens). Keineswegs ist es aber so, dass eine gesellschaftskritische Medientheorie in den verschiedenen Institutionen der Medienkritik, wie den Mainzer Tagen der Fernseh-Kritik, dem Adolf Grimme Institut oder den Landesmedienanstalten, der publizistischen Debatte oder den Universitäten, einen festen Platz hätte.50 Aufmerksamkeit erlangt die Medienkritik in Deutschland weiterhin nur unter zwei Bedingungen: wenn Katastrophales geschieht, das mit Mediennutzung in Beziehung gesetzt werden kann, etwa der Amoklauf am Gutenberg Gymnasium in Erfurt im Frühjahr 2002, oder wenn neue Fernsehformate die bislang geltenden medialen wie gesellschaftlichen Regeln in Frage stellen, so z.B. die kalkulierten Tabubrüche in Formaten wie Big Brother, Jackass oder dem Dschungelcamp (vgl. Hallenberger/Nieland 2005a: 9). Die Medienkritik befindet sich, wenn sie weiterhin anhand des Einzelphänomens51 argumentiert und ökonomische wie kulturelle Kontexte ausblendet, in der Gefahr, statt kritischer Einwände, zusätzliche Aufmerksamkeit und damit Produkt-PR zu produzieren und den Erfolg des Kritisierten noch zu steigern (ebd.: 10). Gegen die diagnostizierten Defizite der Institutionalisierung der Medienkritik wurden jüngst im Rahmen des von der nordrhein-westfälischen Landesmedienanstalt (LfM) in Auftrag gegebenen Forschungsprojektes Kritik der Medienkritik (vgl. Weiß 2005) Therapievorschläge in Stellung gebracht (vgl. Jarren/Zielmann 2005). Unter der Leitlinie »Interne Anreize schaffen und externe Beobachter etablieren«, sollen die (Medien)Unternehmen, die Reaktionen sowie weitere Akteure, zur Reflexion der Medienentwicklung gestärkt werden. Auf der Medienunternehmensebene muss es medienpolitisches Ziel bleiben, die strukturelle 50 In den USA ist dies anders: Horance Newcomb, mit seiner Reihe Television – The critical view, die im Jahr 2000 in der sechsten Auflage erschien, sowie die Arbeiten von Neil Postman, Herbert I. Schiller, Joshaua Meyrowitz und Manuel Castellls werden bzw. wurden in den Sozialwissenschaften, wie von den Medienschaffenden, wahrgenommen und diskutiert. 51 Hiermit ist gemeint, dass Medienkritik häufig in die klassische Werkkritik zurückfällt und entsprechend nur das einzelne Medienprodukt sieht. Somit kann Medienkritik nicht den Anforderungen folgen, die gegenwärtig an Medienkritik zu stellen wären (vgl. die Beiträge in Hallenberger/Nieland 2005, insbesondere Lilienthal 2005; vgl. außerdem Kleiner/Nieland 2006a).
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Diversität im Mediensektor zu erhalten bzw. zu stärken und gleichzeitig die Initiative zur Etablierung von Media-Governance-Ansätzen (Leitbildern, Selbstverpflichtungen, redaktionellen Statuten) durch Regulierungsbehörden und Branchenverbände zu ergreifen. Schließlich sollte es zur Ausweitung von Formen der Co-Regulierung, bezogen auf das Qualitätsmanagement durch Regulierungsbehörden und Branchenverbände, kommen. Auf der redaktionellen Ebene, insbesondere im Bereich des Medienjournalismus, muss eine Auseinandersetzung über publizistische Grundsätze und redaktionsinternes Regelwerk, auch bzgl. des Umgangs mit Informationen über das eigene Haus und eine Erweiterung des Pressekodex einsetzen. Auf der dritten Ebene geht es um die Förderung und Etablierung von Akteuren zur Reflexion. Dies könnte durch die Förderung der bestehenden publizistischen Angebote mit medienanalytischem und medienkritischem Charakter (Intellektuellen-/Elitendiskurs) geschehen, Initiativen zur Etablierung neuer medienkritischer Akteure außerhalb des bestehenden institutionellen Rahmens (Stiftung Medientest) und zivilgesellschaftliche Aktivitäten zur Verbesserung von Medienkompetenz jenseits staatlicher und medienpädagogischer Instanzen.52
4.1 Selbstbeobachtungsfalle und Critainment als Fallstricke der Medienkritik Die Schwächen in der Praxis, d.h. die Wirkungslosigkeit bzw. mangelnde Nachhaltigkeit, sowie hinsichtlich der Institutionalisierung der (sozial)wissenschaftlicher Medienkritik, haben die Risiken erhöht, dass sich die Medienkritik in der Selbstbeobachtungsfalle (Beuthner/Weichert 2005 sowie die Beiträge in Beuthner/Weichert 2005) und dem Crititainment (Hallenberger/Nieland 2005c) verstrickt. (A) Selbstbeobachtungsfalle. Im Gegensatz zu den USA ist in den bundesdeutschen Medien eine breit angelegte Reflexion in eigener Sache selten. Michael Beuthner und Stephan Weichert sprechen in diesem Zusammenhang von der Selbstbeobachtungsfalle. Folgende Probleme sind dabei konstitutiv: Zum einen das Definitionsproblem, d.h., dass bislang keine Einigkeit darüber besteht, worüber Medienjournalisten berichten sollen. Eine oft beobachtete Folge ist, dass Programmvorschauen und Schauspielerinterviews berufsbezogene Eigenkritik oder Gesellschaftsanalysen mit Medienbezug ersetzen. Zweitens die Kollegenorientierung, womit gemeint ist, dass Eitelkeiten und Geltungsdrang den Blick auf die 52 Neben Jarren/Zielmann (2005) diente als eine weitere Quelle bei dieser Aufstellung das Handout von Jarren, welches auf der Projektpräsentation am 3. März 2005 in Köln verteilt wurde.
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Strukturen und Inhalte der Medien verstellen. Drittens das Glashaus-Dilemma, d.h., Medienjournalisten befinden sich nicht nur in einem kollegialen, sondern auch in einem ökonomischen Interessenskonflikt. Viertens das Institutionalisierungsproblem. Darunter verstehen Beuthner und Weichert, dass dem Medienjournalismus strukturelle Grundlagen und Ressourcen fehlen. Fünftens die Betriebsblindheit. Die beiden Autoren haben fünf Beobachtungsebenen identifiziert: Aussageebene, Professionsebene, Mediensystemebene, Rezeptionsebene und die Gesellschaftsebene. Diesen Ebenen ordnen sie Beobachtungsgegenstände und -funktionen zu: Auf der Aussageebene sind es die Medienprodukte, die die Orientierung garantieren sollen. Die Professionsebene lässt sich über die (Medien)Akteure beobachten und diese sollen die Qualität sicherstellen. Medienpolitik und -ökonomie sind die Beobachtungsgegenstände auf der Mediensystemebene, ihre Funktion ist es, Transparenz zu erzeugen. Das Medienpublikum repräsentiert die Rezeptionsebene, hier ist Medienkompetenz als Beobachtungsfunktion verortet. Schließlich markiert die Aufklärung die Beobachtungsfunktion für die Mediengesellschaft (Beuthner/Weichert 2005c). Die Vorschläge von Beuthner und Weichert, der Selbstbeobachtungsfalle zu entkommen, lauten: (a) Zum Definitionsproblem: Ihrer Ansicht nach sind die Medienjournalisten aufgerufen, nicht nur ihr Denk- und Wirkungsumfeld selbstbewusst zu erweitern und zu konsolidieren, sondern auch den eigenen Gegenstand umfassender zu definieren und so die publizistische Autonomie zu verteidigen. Zusätzlich sollten sie sich vergegenwärtigen, dass zahlreiche gesellschaftliche Bereiche in einem engen Wechselverhältnis zu Medieneinflüssen stehen (sie nennen die Berichterstattung zu den Terroranschlägen am 11. September). (b) Zur Kollegenorientierung: Der Vorschlag von Beuthner und Weichert läuft auf die Installation von Ombudsleuten innerhalb von Redaktionen hinaus. Diese Personen könnten sowohl als Mittler zwischen Redaktion und Publikum fungieren, als auch eine Argumentationsgrundlage für die Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit der Medienjournalisten liefern. (c) Zum Glashaus-Dilemma: Die Medienjournalisten sind aufgerufen, die Ansprüche, die Journalisten an sich und ihre Berichterstattung stellen, auch bei der Behandlung von Medienthemen anzuwenden. (d) Zum Institutionalisierungsproblem: Zur besseren Verankerung des Medienjournalismus und der Medienkritik, plädieren sie für Redaktionsstatute mit professionellen Kodizes, da sie glauben, dass diese die Medienressorts intern wie extern vor redaktioneller Einflussnahme schützen können. Außerdem regen sie die Verbesserung der entsprechenden Aus- und Fortbildung (an Universitäten und Journalistenakademien) an. (e) Zur Betriebsblindheit: Beuthner und Weichert schließen sich der Forderung
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an, dass der Medienjournalismus stärker das gesellschaftliche Machtpotenzial der Medien ins Visier nehmen sollte; dabei kann auch die Wissenschaft mit ihren (distanzierteren) Ansätzen und Analysen eine Hilfestellung geben.53 (B) Crititainment. Für eine aktuelle Tendenz der Fernsehunterhaltung haben Hallenberger und Nieland (2005c) den Begriff des Crititainment vorgeschlagen. Mit diesem Begriff soll der Trend beschrieben werden, dass die wertende Beurteilung beliebiger Objekte als Fernsehunterhaltung geschieht. Crititainment funktioniert zum einen auf Grund der Fokussierung auf nicht weiter begründungsbedürftige und letztlich nicht hinterfragbare subjektive Geschmacksurteile. Zum Zweiten, weil die Beschäftigung mit äußeren Gegenständen die spielerische Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstbild ermöglicht und dabei drittens an die umfänglich verfügbaren populärkulturellen Referenzen angeschlossen wird (vgl. zur lustvollen, eigensinnigen Rezeption populärkultureller [Medien-]Produkte u.a. Göttlich/Winter 2000). Tatsächlich ist das, was in und mit Medien geschieht, heute mit einem hohen Nachrichtenwert verbunden. Dies gilt sowohl für ökonomische Krisen, z.B. den Zusammenbruch des Kirch-Imperiums im Frühjahr 2002 oder die Übernahme von VIVA durch MTV seit Sommer 2004, als auch für das Privatleben von Medienprominenten (vgl. hierzu kritisch Kleiner 2004b). Verfügen die erwähnten Prominenten zusätzlich noch über Unterhaltungswert54, dann geschieht die Selbstthematisierung in Boulevardmagazinen und in Talk Shows. Hinzu kommt, dass die Programmmedien sich inzwischen in erheblichem Maße auf Verweise als Programmbestandteil stützen55 und hierbei die Möglichkeiten der CrossPromotion ausschöpfen. Als Cross-Promotion wird die Werbung für bestimmte Medienprodukte in anderen Medienprodukten bezeichnet.56 53 Das Grundmuster dessen, was Beuthner und Weichert als Selbstbeobachtungsfalle bezeichnen, hat Bourdieu (1998: 9-96) bereits 1996 mit seinem Konzept der manipulierten Manipulateure ausgearbeitet (vgl. hierzu Kleiner 2004a: 113-115). 54 Gemeint ist hiermit, dass heute zunehmend Unterhaltungssendungen von der Medienpräsenz von Medienpersönlichenkeiten (vgl. Kleiner 2004b) und Prominenten (aus Politik, Sport und Wirtschaft) leben. 55 Was früher etwa im Fernsehen mit der Programmansage begann, hat sich mittlerweile zu einem komplexen System entwickelt, das neben Ausschnitten von Nachfolgesendungen des gleichen Kanals, im Sinne von On-Air-Promotion, auch erst in einigen Wochen anstehende saisonale Höhepunkte oder Angebote anderer Sender der gleichen Sendergruppe bewerben kann. 56 Wenn ein Sender etwa über eine Prominenten-Talk-Show verfügt und eine neue fiktionale Serie startet, muss man in der Regel nicht lange warten, bis einer der Hauptdarsteller der Serie als Gast in dieser Talk Show auftritt. Selbst wenn sie bei einer Tonträgerfirma unter Vertrag ist, die mit dem betreffenden Sender nicht verknüpft ist, kann der Auftritt einer prominenten Sängerin effektive Cross-Promotion darstellen, wenn ihr Auftritt vorher bekannt ist – worum sich in der Regel wieder andere Medien kümmern. In die-
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Schließlich gehört auch die Bewerbung sendungsbezogener Produkte zum Feld der medialen Selbstthematisierung. Merchandising hat sich inzwischen zu einer lukrativen Einnahmequelle entwickelt, und kaum eine erfolgreiche Produktion verzichtet darauf, beispielsweise das Buch, die CD und/oder die DVD zur Sendung auf den Markt zu bringen – oder wenigstens einen Klingelton.57 Diese Aufzählung verdeutlicht, dass sich das unterhaltungsorientierte Fernsehen in hohem Maße anderer Medieninhalte bedient. Hier bietet sich die Gelegenheit an, die populärkulturelle Tradition der Lust an höchst subjektive Bewertungen (vgl. Hornby 1996; Göttlich/Winter 2000) anzuschließen. Die Befriedigung dieser Lust kann wiederum selbst Objekt weiterer Unterhaltung(ssendungen) sein. Pionier war dabei Oliver Kalkofe, dessen Mattscheibe sowohl früher auf Premiere wie heute bei ProSieben mit den Mitteln der Verkleidung, der karikierenden Imitation und der satirischen Kommentierung gesendetes Fernsehen lächerlich macht. In letzter Zeit wird dieser Ansatz mit Listenbildung verknüpft – ebenfalls einer populärkulturellen Tradition (vgl. Hornby 1996) –, die nicht nur kommunikative Funktionen erfüllt, sondern zusätzlich Orientierung in einer zusehends unübersichtlichen (Medien-)Welt gibt. Dies gilt völlig unabhängig davon, ob man als Zuschauer die vorgenommene Hierarchisierung von Phänomenen teilt: Zustimmung wie Ablehnung rekurrieren auf eigene Wertungsschemata, deren Bedeutsamkeit durch die entsprechenden Sendungen bestätigt wird. Beispiele wären, in positiver Hinsicht und eher ernsthaft, Unsere Besten, eine 7-teilige ZDF-Reihe aus dem Herbst 2003 oder, als negatives Fallbeispiel, Die 90er – Die peinlichsten Popsünden (RTL II), Die Trash Top 100 der schlechtesten Musikvideos (VIVA) sowie die Reihen Die 100 nervigsten … von ProSieben und Die 10 … auf RTL. Bei diesen Sendungen überwiegen die negativen Auswahlen, da sie höheren Unterhaltungswert besitzen und leichter auf Zustimmung stoßen. Unabhängig von der Beurteilung der Stärken und Schwächen einzelner Sendungen, die diesen Trends zuzuordnen sind, ist Crititainment problematisch, weil die Ausrichtung auf aktuellen Untersem Fall profitiert der Fernsehsender dadurch vom Auftritt der Sängerin, dass er neben seinem Stammpublikum auf diesem Sendeplatz ihre Fans hinzugewinnt; die Sängerin wiederum hat zur Bewerbung ihres aktuellen Musiktitels neben ihren Fans noch das allgemeine Sendungspublikum (vgl. Hallenberger/Nieland 2005c). Als Beispiel könnte Jeanette Biedermann genannt werden, die als ehemalige Daily Soap Darstellerin (Gute Zeiten, Schlechte Zeiten – RTL) eine Musikkarriere startete und in verschiedenen Sendungen (u.a. in der Castingshow Star Search auf SAT.1 als Jurymitglied) auftauchte. 57 Inzwischen lassen sogar U2 von ihren Hits Klingeltöne erstellen. Ein anderes Beispiel wäre die Verwertungskette bei Star Wars oder Harry Potter, grundsätzlich auch bei (Kult-)Serien (etwa Star Trek, Baywatch), Daily Soaps, Reality Sopas (u.a. Big Brother) oder Casting Shows (wie Deutschland sucht den Superstar).
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haltungswert die Gefahr der Dekontextualisierung und Dehistorisierung58 der ver- bzw. behandelten Gegenstände in sich birgt. Was vorkommt, kommt primär auf Grund seines aktuellen Vermarktungswertes vor oder seines nostalgischen Wertes, der aber ebenfalls aktuell vermarktet werden kann. Geschichte, vor allem populärkulturelle Geschichte, wird zum Mosaikstein von Gegenwart reduziert, sie verpufft in Aktualität.
4.2 Diskurs und Praxis. Martin Keßlers Dokumentarfilm Neue Wut Scheinen die bisherigen Versuche der Institutionalisierung von Medienkritik, wie der vorausgehende Überblick verdeutlicht hat, letztlich keine nachhaltige soziale und mediale Wirksamkeit zu verursachen, werden wir im Folgenden, an Hand des Dokumentarfilms Neue Wut diskutieren, ob ausgehend von Medienproduktionen (Medien der Kritik), und nicht von Diskursen (Kritik der Medien), eine Institutionalisierung der Medienkritik initiiert werden könnte, die Nachhaltigkeit bzw. Wirksamkeit, Vernetzung und gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit erzielt, also die Gestaltung der Wirklichkeit der Medien und damit der Gesellschaft zu einer gemeinsamen Aufgabe macht. »Der Dokumentarfilm Neue Wut«. Steigende Arbeitslosigkeit, die Hartz IV genannte Reform des Arbeitsmarktes, eine alternde Bevölkerung, aufmerksamkeitsökonomisch wirksam inszenierte Kapitalismuskritik des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering – Diskurse, Reformen und soziale Umwälzungen, die jeden betreffen. Dies waren zentrale Fragen der 38. Mainzer Tage der Fernseh-Kritik 2005 zum Thema Bilder des sozialen Wandels. Das Fernsehen als Medium gesellschaftlicher
58 In der Morgendämmerung der Medientheorie hat Benjamin (1977: 13f.) bereits auf den Verlust des historischen Bewusstseins, man könnte auch von historischer Amnesie sprechen, hingewiesen, der durch neue elektronische Reproduktionstechniken und der Fokussierung auf den Ausstellungswert von (Kunst)Werken verursacht wurde: »Die Reproduktionstechnik [...] löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte. Diese beiden Probleme führen zu einer gewaltigen Erschütterung des Tradierten – einer Erschütterung der Tradition, die die Kehrseite der gegenwärtigen Krise und Erneuerung der Menschheit ist. Sie stehen im engsten Zusammenhang mit den Massenbewegungen unserer Tage. Ihr machtvoller Agent ist der Film. Seine gesellschaftliche Bedeutung ist auch in ihrer positiven Gestalt, und gerade in ihr, nicht ohne diese seine destruktive, seine kathartische Seite denkbar: die Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe.«
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Selbstverständigung.59 Unter den Rednern war auch der mittlerweile ehemalige VW-Manager Peter Hartz, Mitinitiator und Namensgeber einer der drastischsten Reformen in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Dem Interview mit Hartz ging die Vorstellung einiger Rohschnitte aus dem Dokumentarfilm Neue Wut. Vereinzelter Protest oder neue soziale Bewegung von Martin Keßler voraus. Die Ausschnitte veranschaulichten eindringlich die Schattenseiten des sozialen Wandels in Deutschland und der von Hartz mitinitiierten Reformen. Seine Intention beschrieb Martin Keßler wie folgt: »Aprildemonstrationen gegen die Agenda 2010, Proteste gegen Hartz IV, Arbeitskämpfe bei Mercedes, Opel und VW. Es ist vor allem Wut, die die Menschen treibt: Wut über die Praxis- oder Studiengebühr. Wut über Lohn- und Personalabbau. Wut über die schamlose Bereicherung bei ›denen da oben‹ und immer neue Einsparungen ›bei denen da unten‹. Und hinter dieser Wut steht oft genug blanke Angst. Die Angst, endgültig sozial abzustürzen. Die Langzeitbeobachtung Neue Wut begleitet ›einfache Demonstranten‹ und so genannte ›Rädelsführer‹, die sich gegen den ›Rückbau des Sozialstaates‹ zur Wehr setzen. Sie kommen aus den unterschiedlichsten sozialen und politischen Milieus, finden zu neuen Gemeinsamkeiten oder bekämpfen sich mitunter gegenseitig. Der Dokumentarfilm Neue Wut schaut da intensiv hin, wo eine zunehmend hysterische aktuelle Berichterstattung immer öfter wegschaut: Woher kommt diese Wut? Sind es nur spontane Aufwallungen oder Vorboten einer neuen sozialen Bewegung? Für den Erhalt des Sozialen, gegen den blanken Terror der Ökonomie, für eine gerechte Globalisierung? Oder erleben wir zur Zeit das letzte Gefecht zur Verteidigung des deutschen Sozialstaates, der schon bald einem globalen ›Turbo-Kapitalismus‹ mit notdürftiger Armenfürsorge Platz macht?«60
Dieser mediale Umgang mit sozialem Wandel entspricht den Ansprüchen, die Markus Schächter (2005), Intendant des ZDF, für die öffent59 Vgl. zum Thema Fernsehen und sozialer Wandel grundlegend Schatz (1996). 60 Auch nachzulesen unter: http://www.neuewut.de/f_derfilm.html. Bisher ist es nicht gelungen, den Dokumentarfilm an einen Fernsehsender zu verkaufen. Als es einmal fast gelungen war (Phoenix), kam die Bundestagswahl dazwischen. Jetzt wird der Film in verschiedenen Städten mit Unterstützung lokaler Initiativen gezeigt, außerdem wird er als DVD verkauft. Beispiel Marburg (14.7.2005): Die Veranstaltung wurde von der AkademikerInnen-Solidarität Marburg sowie attac organisiert und fand in einem alternativen Kulturzentrum statt. Die Vorführung des Films fand mit einer Podiumsdiskussion zwischen dem Jugendbildungsreferenten von ver.di, Hartz IV-Betroffenen, dem stellvertretenden Landrat des Kreises, der gleichzeitig Job-Center-Verantwortlicher ist (Marburg ist eine Optionskommune) sowie Martin Keßler statt. Wie bei dieser Besetzung zu erwarten, wurde es eine Diskussion zum Thema, weniger zum Film. Wir danken unserem Kollegen Gerd Hallenberger für seinen Bericht über diese Veranstaltung.
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lich-rechtliche Beschreibung und meinungsführende Begleitung dieses Themas forderte: Orientierung zu vermitteln und Aufklärung zu bieten. Diese Aufgabe ließe sich nur durch umfassende Informationen, etwa durch Themenabende, Tagesschwerpunkte, Dokumentationsreihen oder Fernsehspiele, Sinnangebote und Werte, die in zeitgemäßer und sachorientierter, nicht aber in sensationalisierender und skandalisierender Weise, dargeboten werden müssten, verwirklichen. Entscheidend hierbei sei, dass alle (nicht-fiktionalen und fiktionalen) Informationsangebote, im Dienst der Sache miteinander vernetzt würden, d.h. »Querschnittsdramaturgien« erzeugen, die sich an den Sorgen und Nöten der Menschen orientierten. Keßlers Dokumentarfilm legt weiterhin nahe, dass die Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV nicht erfolglos waren, sondern im Gegenteil mit zu den Neuwahlen und dem Aufstieg der Linkspartei beigetragen haben und somit die innenpolitische Situation nachhaltig verändern könnten. Neue Wut veranschaulicht eindringlich, wie unter den Bedingungen von Agenda 2010 der Alltag vieler Menschen grundlegend verändert und von permanenter Angst um Jobverlust, sozialen Abstieg usw. begleitet wird. Dies nicht aus der Distanz oder durch permanente Kommentare, wie sie etwa die Filme von Michael Moore auszeichnen, sondern an Hand von individuellen Biographien, wie der der arbeitslosen Frankfurterin Barbara Willmann. Keßler begleitet sie zur Arbeitsagentur, wo ihr Antrag für das neue Arbeitslosengeld nach Hartz IV begutachtet wird. Tatsächlich hat die Sachbearbeiterin etwas zu beanstanden. Die Zinsen vom Sparbuch eines der Kinder von Frau Willmann sind nicht angegeben. Obwohl es sich um Centbeträge handelt, muss sie den Nachweis nachreichen. Besser hätte man nicht darstellen können, was es heißt, unter den Bedingungen von Hartz IV zu leben. Gesellschafts- und Medienkritik werden in diesem Dokumentarfilm gekonnt miteinander verbunden, gerade dadurch, dass medial in Szene gesetzt wird (Medien der Kritik – Neue Wut), was medial kaum gezeigt wird (Kritik der Medien – Medien-Berichterstattung über Agenda 2010, Hartz IV etc.) und dies wiederum nicht in einem sicheren Raum (Fernsehen), sondern an Orten, an denen der Film eine anschließende Diskussion auslösen soll, also die Rezeptionseindrücke unmittelbar und wechselseitig erörtert werden können. Auch wenn sich Keßler um einen Fernsehsendeplatz bemüht, war gleichsam immer das Vorführen an Orten geplant, an denen anschließende Diskussionen zwischen Produzenten, Konsumenten, Betroffenen, Verantwortlichen und Kritikern (Journalisten bzw. Wissenschaftlern) stattfinden sollten. Die Wirkungen, die von Neuer Wut ausgehen oder ausbleiben, können noch nicht abgeschätzt werden. Auf jeden Fall sollte von seiner Thematisierung gegenwärtiger Reformen eine Signalwirkung
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ausgehen, wie Gesellschafts- und Medienkritik gegenwärtig entworfen werden könnte, d.h. in der Interdependenz zwischen der (diskursiven) Kritik der Medien, den Medien der Kritik, Formen (neuer) Institutionalisierungsbemühungen sowie der Einbeziehung der Mediennutzer.
5 . D i e I n s ti tu ti o n al i si e r u n g v o n M e d i e n k r i t i k a u s d e r P e r sp e k t i v e e i n e r g e s e l l s c h af t skritischen Medientheorie. Ein Ausblick Adorno (1997b: 516) beschließt seine Überlegungen, im Aufsatz Prolog zum Fernsehen, mit einer Prognose über die Zukunft des Fernsehens: »Was aus dem Fernsehen werden mag, lässt sich nicht prophezeien; was es heute ist, hängt nicht an der Erfindung, nicht einmal an den besonderen Formen ihrer kommerziellen Verwertung, sondern am Ganzen, in welches das Mirakel eingespannt ist.« Bezieht man diesen Gedanken auf das Thema der Institutionalisierung von Medienkritik, so wird damit angezeigt, dass die Auseinandersetzung einen gesamtgesellschaftlichen Bezug haben muss. Um den Bogen hierbei nicht zu weit zu spannen, werden wir abschließend auf die konstitutiven Felder verweisen, die diskutiert werden müssen, um die Anforderungen an die Institutionalisierung der Medienkritik aus der Perspektive einer gesellschaftskritischen Medientheorie zu skizzieren. Die vorliegende Analyse der Institutionalisierungsbemühungen hat eine Reihe von Defiziten zu Tage gefördert. Den untersuchten Institutionen ist es (bislang) kaum gelungen, einen nachhaltigen Diskurs zu etablieren. Vielmehr ist in regelmäßigen Abständen vom Verfall oder dem Verschwinden der Medienkritik die Rede. Die Diskursmedien (Fachdienste und Spezialzeitschriften) genießen nur bei den Experten Aufmerksamkeit, die Medienseiten der Tages- und Wochenzeitungen sind eingestellt oder deutlich zurückgefahren, im Fernsehen findet sich aktuell nur ein Medienmagazin. Über die Arbeit der Landesmedienanstalten im Bereich der Medienkompetenzförderung und des Jugendmedienschutzes erfährt die Öffentlichkeit zu wenig. Medienpädagogische Aktivitäten sind deshalb oft unkoordiniert und bestenfalls auf Einzelfälle bezogen. Eine (Ver-)Stärkung der Institutionalisierung der Medienkritik sollte unserer Meinung nach vor allem in zwei Bereichen angestrebt werden: beim (Medien)Verbraucherschutz und dem Medienjournalismus. Wenn Medienkritik sich auch als Verbraucherschutz versteht, dann ist eine Wiederaufnahme und Weiterentwicklung des Konzeptes der Stiftung Medientest notwendig. Als unabhängige Dokumentations- und Analyseeinrichtung wäre von der Stiftung eine systematische Beobachtung und
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Kommentierung der Medienentwicklung zu leisten. Diese Analysen können (bzw. müssen) die Aufstellungen zur Konzentration im Medienbereich (laut Rundfunkstaatsvertrag ist dazu die KEK verpflichtet) sowie die von den Landesmedienanstalten in Auftrag gegebene Programmforschung (vgl. ALM 2005) ergänzen. Bemühungen, den Organisationsgrad der Mediennutzer zu erhöhen, hatten bislang wenig Erfolg. Beschwerdestellen werden beispielsweise kaum genutzt. Auch ist die Kommission für Jugendmedienschutz der Landesmedienanstalten (KJM) nicht so handlungsfähig, wie vom Gesetzgeber (vgl. den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag der Länder (vom 01.04.2003) beabsichtigt – die zum Teil erheblich unterschiedlichen Einschätzungen zu aktuellen Formaten (etwa der Dschungel-Show oder Schönheitsoperationen) durch die KJM auf der einen und der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FES) sowie den ausstrahlenden Sendern auf der anderen Seite dokumentieren diesen Entwicklungsstand. Um die Rolle der Medienjournalisten zu verbessern, liegen eine Reihe von Vorschlägen vor. Insbesondere die Gefahren der Selbstbeobachtungsfalle erfordern ein Bündel von Maßnahmen. Derzeit erscheint der Maßnahmenkatalog von Beuthner und Weichert in die richtige Richtung zu gehen. Ausgangspunkt sind Selbstverpflichtungen (und Leitbilder) der Medienkritiker: so zum Beispiel im Marler Manifest. Mit dem Bert Donnepp-Preis ist der Versuch markiert, die Medienpublizistik stärker in der Öffentlichkeit zu verankern und die Position der Medienkritiker (in ihren Häusern) zu verbessern. Unser Rückblick auf die Institutionalisierung von Medienkritik hat gezeigt, dass neue Formen der Co-Regulierung im Medienbereich zur Anwendung kommen müssen (vgl. umfassend Donges 2002). Denn die Medienordnungspolitik hat »strukturelle Diversität« zu gewährleisten und muss gleichzeitig Kommunikationsaktivitäten zivilgesellschaftlicher Akteure unterstützen, um den Institutionalisierungsgrad im Feld der Medienkritik zu erhöhen. Die von uns vorgestellten Initiativen (Nachrichtenaufklärung, publizistische Selbstkontrolle und Netzwerk Recherche) sind augenblicklich nur wenig vernetzt und deshalb nur von geringer Durchschlagskraft. Die Medienpolitik sollte sich öffnen für Media-Governance-Initiativen, wie sie von Trappel, Meier, Scharpe und Wölk (2002) vorgeschlagen wurden. Angesichts des von uns formulierten Anspruchs einer gesellschaftstheoretischen Medientheorie, ist die Etablierung neuer Akteure notwendig (hier Stiftung Medientest und einen Medienrat). Voraussetzung jeder Form der Institutionalisierung von Medienkritik ist eine kontinuierliche und umfassende Reflexionsarbeit, d.h. die Produktion medienkritischer (journalistischer und wissenschaftlicher) Dis-
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kurse, die nicht von einem festen Kanon der Gebote ausgehen, sondern sich, mit Blick auf die jeweiligen Anforderungen bzw. Veränderungen der Zeit, flexibel konstituieren, ohne dabei beliebig zu sein. Zentral für eine gesellschaftskritische Medientheorie ist hierbei, dass medienkritische Diskurse sich nicht auf die Messung (möglicher) Medienwirkungen, davon ausgehenden Rückschlüssen auf das Denken und Handeln der Mediennutzer sowie einer hieraus resultierenden Erarbeitung von Kritikmaßstäben fokussieren. Vielmehr muss in diesen medienkritischen Diskursen einerseits die Produktanalyse im Vordergrund stehen, d.h. die Diskussion der Frage, was mit bestimmten Medienformaten bzw. -produkten ausgesagt wird und nach welchen Maßstäben diese beurteilt werden könnten. Voraussetzung dieser Perspektive ist, dass Medienproduktionen nicht als singuläre gesellschaftliche Phänomene aufgefasst werden, sondern stets deren gesamtgesellschaftliche Implikationen bedacht werden. Andererseits muss mitbedacht werden, welche alternativen Formate bzw. Handlungen möglich wären. Kritik muss sich selbst als praxiskompetent erweisen.61 Diese medienkritischen Diskurse dürfen aber nicht einfach nebeneinander existieren62, sondern müssen in einen permanenten Dialog miteinander treten. Das Diskursfeld Medienkritik müsste gemeinsam zu einer gemeinsamen Sache gemacht werden, ohne sich hierbei Diskursimperativen unterzuordnen. Gerade eine Vielfalt von Stimmen und Positionen trägt hierzu entscheidend bei. Um sich vor der Gefahr neuer Unübersichtlichkeiten und Überkomplexität zu schützen, müssten miteinander verbundene Plattformen (Publikationsreihen, Netzseiten, Tagungen, Formate im Fernsehen oder Radio, Aktionen usw.) entstehen, von denen aus unter anderem (a) Diskurse initiiert werden; die (b) Diskurse dokumentieren; auf denen (c) Diskurse miteinander in einen Dialog treten können; die (d) Diskurse nach Themen ordnen; die einen (e) permanenten Austausch zwischen Kritikern, Produzenten und Nutzern anregen; (f) 61 Ein blinder Fleck der Analysen gesellschaftskritischer Medientheorien besteht hierbei in der Nichtbeachtung der spezifischen Medialität bzw. Technizität der jeweils thematisierten Medien. Dieser Mangel muss grundlegend überwunden werden, um die Auseinandersetzung mit den Medien nicht von einem Außerhalb der Medien, also etwa von Fragen nach Inhalt oder Formaten, dominieren zu lassen. 62 Bis heute ist es üblich, dass medienkritische Diskurse, Akteure und Institutionen sich nur untereinander substanziell austauschen, ansonsten nur nebeneinander existieren, und Kritik an anderen Positionen, Personen und Institutionen zumeist aus theoriepolitischer Blindheit und Distinktionsinteressen üben, ohne sich hierbei umfassend auf die Gegenstände ihrer Kritik in ihrer jeweiligen Eigenlogik einzulassen. Somit entsteht eine große Zirkularität, die dem medienkritischen Diskurs und seiner Institutionalisierung schadet. Ein Blick in medienkritische Publikationen der letzten Jahre, auf die Personenauswahl bei einschlägigen Tagungen sowie die Themenauswahl von Medienseiten großer Feuilletons, veranschaulicht diese These eindringlich.
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die Diskurse in Praxisformen überführen; (g) die zusammen mit unterschiedlichen Akteuren medienkritische Produkte erarbeiten (hiermit sind im Wesentlichen nicht Bücher oder Aufsätze gemeint, sondern z.B. DVDs, Radiosendungen, Filme etc.); die (g) Räume (z.B. Sendeplätze) in den Medien, die sie kritisieren, schaffen, in denen sie sich äußern können; die (h) darauf drängen, medienkritische Diskurse in medienrechtliche Entscheidungsprozesse einzubinden; und die (i) versuchen, Medienkritik als zentrales Feld der Medienpolitik institutionell abzusichern. Eine Form der Institutionalisierung von Medienkritik, die bisher in Deutschland noch in keiner Weise vorangetrieben wurde, ist, Medienkritik als universitäres Fach zu verankern bzw. entsprechende Lehrstühle einzurichten. Dies wäre aber die Grundlage, um einen kontinuierlichen wissenschaftlichen Diskurs zur Medienkritik zu ermöglichen und aus seiner, seit den 1980er Jahren existierenden Marginalisierung im Feld der Medienforschung, herauszuführen.63 Dieser Diskurs müsste zugleich in einem permanenten Austausch mit der Medienpraxis stehen und diese als integralen Bestandteil ihrer Kritik auffassen, damit die Kritik der Medien und die Medien der Kritik ein spannungsreiches Interdependenzgeflecht bilden und nicht, wie bisher, zunächst und zumeist aneinander vorbei schreiben bzw. senden.
L i t e r at u r Adolf Grimme Institut (Hg.) (1998): Statut 35. Adolf Grimme Preis, Marl. Adolff, Frank (2005): Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis, Frankfurt a.M./New York: Campus. Adorno, Theodor W. (1971): »Fernsehen und Bildung«. In: Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 50-69. Adorno, Theodor W. (1997a): »Résumé über Kulturindustrie«. In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1.: Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen/Ohne Leitbild, hrsg. v. Rolf Tiedemann, unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 337-344. 63 Ob sich diese Situation durch vier aktuelle Bände zur Medienkritik, die 2005 erschienen sind bzw. 2006 erscheinen, grundlegend ändern wird, bleibt abzuwarten. Es handelt sich hierbei um Sammelbände zur Medienkritik, in denen es einerseits um eine grundlegende Bestimmung dieses Gegenstandsbereichs (Kleiner/Nieland 2006) und andererseits um eine aktuelle Bestandsaufnahme medienkritischer Positionen und (theoretischer sowie praktischer) Arbeitsfelder der Medienkritik (Hallenberger/Nieland 2005; Beuthner/ Weichert 2005; Weiß 2005) geht.
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DISKURS UND PRAXIS
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DISKURS UND PRAXIS
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DISKURS UND PRAXIS
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DISKURS UND PRAXIS
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DREI ARTEN
DER
FERNSEHKRITIK
ANGELA KEPPLER Auf die Frage, wie Fernsehkritik möglich ist, gibt es keine einfache Antwort, denn schließlich gibt es zahlreiche Spielarten dieser Kritik. Auf die Frage hingegen, wie Fernsehkritik sinnvoll möglich ist, ist eine Antwort schon leichter. Die normative Zuspitzung der Frage erlaubt es nämlich, einige der bekannten Formen als wenig oder nur in begrenzten Maß sinnvoll auszuschließen. In diesem Beitrag werde ich eine Antwort auf diese normative Frage zu geben versuchen. Gezeigt werden soll, wie eine Fernsehkritik – sinnvoll – möglich ist, die das Medium weder pauschal verdammt oder verteidigt noch sich lediglich auf eine Beurteilung einzelner Sendungen oder Genres konzentriert. Es wird ein Typus von Kritik skizziert, der dem Medium des Fernsehens auf eine aufschlussreiche Weise gerecht zu werden vermag. Beginnen jedoch möchte ich mit einer Vorüberlegung zur Verfassung dieses Mediums. Denn eine minimale Bedingung einer jeden einsichtigen Kritik des Fernsehens dürfte sein, dass sie in der Lage ist, sich auf die Eigenarten ihres Gegenstands einzulassen und mit ihren Wertungen auf diese zu reagieren.
1. Inszenierungen der Realität Um die Bedeutung dieser Bedingung zu klären, werde ich zunächst einige Resultate meines gerade fertig gestellten Buchs Mediale Gegenwart präsentieren (vgl. Keppler 2006). Diese Untersuchung ist im Kern eine Abhandlung darüber, wie das Fernsehen Realität inszeniert. In der Machart seiner Sendungen, so meine ich zeigen zu können, kommuniziert das Fernsehen fortwährend Auffassungen dessen, was wirklich und möglich, möglich und unmöglich, wichtig und unwichtig ist. Jedoch wäre es falsch, das Fernsehen deswegen einfach als einen Produzenten unserer Lebenswirklichkeit zu verstehen. Denn es inszeniert nicht geradewegs Realität, sondern Verständnisse von Realität und nimmt hierdurch einen gehörigen Einfluss auf eine soziale Realität, die ihrerseits wesentlich von den Verständnissen der in ihr Handelnden getragen wird. Diese Verständnisse beherrscht das Fernsehen nicht, da sie sich aus vielerlei Prak-
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KULTURINDUSTRIE REVIEWED
tiken zugleich ergeben, die sich tagtäglich im interaktiven Handeln bewähren müssen und die daher nicht von einer Instanz dominiert werden können. Aber es beeinflusst sie erheblich, weil es in der formalen Verfassung seiner Sendungen zu nahezu allen Lebensbereichen fortwährend Verständnisse anbietet, die dazu geeignet sind, Eingang in das Realitätsbewusstsein der Zuschauer und dadurch in die Realität ihres Lebens zu finden. Da die Tätigkeit des Fernsehens selbst eine kontinuierliche Praxis vieler Gesellschaftsmitglieder darstellt, ist das Fernsehen ein kontinuierlicher Teil der Lebenswirklichkeit, in der die hier angebotenen und aufgenommenen Verständnisse wirksam werden. Deswegen erscheint es angebracht, die heutigen Lebensverhältnisse als »mediale Lebensverhältnisse« zu bezeichnen: als Lebensverhältnisse, zu deren Normalität es gehört, dass mediale Deutungen in ihnen rund um die Uhr produziert, angeboten und angeeignet werden. Diese Deutungen aber, so habe ich in meinen materialen Untersuchungen zu zeigen versucht, sind der Form der Sendungen eingegeben. Zur Deutung dieser Deutungen bedarf es ästhetischer Analysen, weil anders das Spezifische ihres Gehalts verfehlt werden würde. Ohne eine Rücksicht auf die gesamte audiovisuelle Form der Sendungen wäre nicht zu erkennen, was für eine Haltung zu den jeweils thematischen Phänomenen sie präsentieren. Der Inszenierungscharakter der Sendungen ist für ihre Gehalte konstitutiv – und dies gerade in denjenigen Sendungen, die vergleichsweise schmucklos und uninszeniert daherkommen. Durch die Arten ihrer Inszenierung bieten die Sendungen im Fernsehen eine stets mit Deutungsmustern und Wertungen imprägnierte Form der Wahrnehmung des in ihnen Dargebotenen an. Inwiefern aber enthält das Angebot des Fernsehens immer zugleich, wie ich behauptet habe, Inszenierungen von Realität oder genauer: Inszenierungen eines Verständnisses von Realität? Spricht nicht der eminent ästhetische Charakter aller seiner Produktionen gerade gegen diese Auffassung? Zeugt nicht die zunehmende Beherrschung des Programms durch Spiel- und Comedy-Shows, fiktive Serien und Filme, zeugt nicht die im Rahmen des Reality-TV systematisch erzeugte Unsicherheit bezüglich der «Echtheit» von Situationen und das Bemühen, selbst Nachrichtensendungen so unterhaltend wie möglich zu gestalten, von einer zumindest tendenziellen Erschütterung, Schwächung, Relativierung, ja einer Auslöschung des Realitätsbewusstseins, wie es die radikalen Kritiker dieses Mediums von Anfang an behauptet haben? Nimmt man aber den Charakter des Fernsehens als eines Kontinuums audiovisueller, sich differentiell voneinander unterscheidender Gattungen ernst, so erscheint diese Konsequenz verfehlt. Zwar ist es so, dass die Inszenierungen der Sendungen des Fernsehens einen sehr unterschiedlichen
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DREI ARTEN DER FERNSEHKRITIK
Charakter annehmen, das Spektrum reicht von der Dokumentation eines Geschehens an einem exakt bestimmten Schauplatz bis zu weitgehend fingierten Erzählungen in Spielfilmen oder Science-Fiction-Serien. Zwischen den Polen der eindeutigen Dokumentation und der eindeutigen Fiktion aber bewegen sich viele andere Sendungen des Fernsehens, in denen sich beide Elemente manchmal ununterscheidbar mischen: Sportübertragungen, Talk-Shows unterschiedlicher Couleur, Spiel- und Comedy-Shows, Werbesendungen und vieles andere mehr. Im Fernsehen aber stehen alle diese verschiedenen Gattungen beständig nebeneinander. Keine bedeutet, was sie bedeutet, ohne die Abgrenzung zu der anderen, eine Abgrenzung, die häufig in einem Austausch verwandter Elemente sich vollzieht. Auch die Indikatoren, die in einer oft komplexen Weise auf den realen oder fiktiven Status von Worten und Bildern verweisen, gewinnen ihren Wert aus dieser fortwährenden Abgrenzung und Übernahme der stilistischen Mittel voneinander. Dies aber hat zur Folge, dass die Differenz zwischen realen und fiktiven Welten in den Sendungen des Fernsehens immer mit im Spiel ist. Denn die Frage, wie sich das im Medium Gezeigte zu der Wirklichkeit der Lebensverhältnisse verhält, ist immer virulent, wo eine Sendung als (eher) informierend oder (eher) fingierend wahrgenommen wird. Durch die Situierung der einzelnen Sendungen in einem Kontext von Gattungen ist die Frage der Art und des Grades ihres Realitätsbezugs immer ein Punkt, der in der Wahrnehmung gleichsam scharf gestellt werden muss, wenn die Sendung mit Aufmerksamkeit verfolgt und in ihrer Anlage verstanden werden soll. Fernsehen bedeutet geradezu, die Unterscheidungen nachzuvollziehen, mit denen das System Fernsehen den Unterschied zwischen seinen Gattungen markiert. Seine Nutzung setzt voraus, die Codes des Dokumentarischen und des Fiktiven in ihrer oft komplexen Verwendung zu beherrschen. Es bedeutet, die zentralen Unterschiede in der Markierung von Sendungen zu kennen, die sich in der Praxis des Fernsehens herausgebildet haben. Diese aber bilden sich an den Produkten heraus, wo sie sich als Unterschiede in der audiovisuellen Dramaturgie manifestieren. Dies führt zu einem möglicherweise überraschenden Resümee: Das Fernsehen bietet auch und gerade dort Inszenierungen von Realität an, wo es in seinen Sendungen auf (eindeutig) realistische Darbietungen verzichtet. Die unterschiedlichen Grade an Realismus und Irrealismus in den Sendegattungen des Fernsehens ergänzen einander zu einer fortwährenden Exploration der Unterscheidung von Realem und Nicht-Realem und damit zu einer fortwährenden Verständigung darüber, was in der jeweiligen Gegenwart Wirkliches von Unwirklichem unterscheidet. Gerade das also, wovon das Fernsehen nach Meinung seiner modernen wie postmodernen Kritiker nicht handelt, was es verwischt und verdrängt, erweist
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sich als die zentrale Obsession dieses Mediums: die Differenz von Dokumentation und Fiktion, von Realität und Irrealität. Es spielt sie aus und spielt sie durch, es spielt mit ihr, aber stets mit dem Effekt, sie wieder entstehen zu lassen. So sehr das Fernsehen in vielen seiner Produkte die Sicherheiten der Differenzierung von Sein und Schein, Dokumentation und Fiktion untergräbt, das Medium Fernsehen kann sie nicht preisgeben, da diese ein unverzichtbares Scharnier der stilistischen Ausdifferenzierung seiner Gattungen darstellt. In dieser Ausdifferenzierung aber, in dem Kontinuum von Gattungen, als das seine Programme sich vor den Augen der Zuschauer vollziehen, stellt es fortwährend Verhältnisse von mehr oder weniger realistischen und irrealistischen Darbietungen her, an denen sich jederzeit die Frage nach dem Realitätsgrad des Gezeigten entzünden kann. Gerade weil das Fernsehen im Fluss und in der Fülle seiner Sendungen insgesamt kein realistisches Medium ist, hält es die Frage nach der Wirklichkeit des Wirklichen offen: die Frage danach, worauf es ankommt, wenn das Wirkliche vom Unwirklichen und das Wichtige vom Unwichtigen unterschieden werden soll. Indem das Fernsehen im Kontinuum seiner Gattungen auf direkte und indirekte Weise immer wieder diese Unterscheidung trifft, vermittelt es seinen Benutzern ein Wissen darum und zugleich ein Gefühl dafür, was über ihre eigene Lebensumgebung hinaus historische, soziale und kulturelle Gegenwart ist.
2. Bedingungen der Fernsehkritik Damit sollte etwas von dem besonderen kommunikativen Profil des Fernsehens deutlich geworden sein, dem eine angemessene Kritik dieses Mediums gerecht werden muss. «Gerecht werden» meint dabei zunächst nur den Blick für eine Verfassung, für die eine ernstzunehmende Kritik aufmerksam sein sollte, wie positiv oder negativ ihre Wertungen auch sein mögen. Wird das Fernsehen durch die ihm gewidmete Kritik nicht als ein spezifisches Kontinuum differentiell zu verstehender Gattungen wahrgenommen, so wird es überhaupt nicht wahrgenommen und kann von der ihm zugedachten Kritik auch nicht lobend oder tadelnd getroffen werden. Freilich kann »Fernsehkritik«, wie zu Beginn gesagt, recht Verschiedenes bedeuten. In den vielen klassischen Polemiken gegen das Fernsehen einschließlich neuerer Lobreden auf es herrscht eine Fundamentalkritik vor, die das Medium in seiner ganzen Disposition verteufelt (oder im Gegenzug verherrlicht), ohne das Spiel seiner unterschiedlichen Gattungen einer näheren Betrachtung zu würdigen. Die alten Heroen einer negativen Fundamentalkritik, ob sie nun Adorno, Anders oder Gehlen
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DREI ARTEN DER FERNSEHKRITIK
heißen, haben sich auf komparative Analysen dieser Art so wenig eingelassen wie es die neueren Anführer einer nicht weniger fundamentalen Apologie des Mediums getan haben, ob sie nun McLuhan, Baudrillard, Virillio, Bolz oder Bourdieu heißen mögen. Eine solche, die Mühen einer differentiellen Betrachtung vermeidende Kritik geht an der Eigenart dieses Mediums von vornherein vorbei. In den älteren Arbeiten wird dabei oft ein Vergleich mit anderen Kulturformen angestellt, die als Maßstab der Beurteilung der Fernsehproduktion und des Fernsehkonsums herhalten müssen. Im Grunde wiederholt sich hier das Muster der Auseinandersetzung über den sittlichen Wert des Lesens von Romanen oder von Kinobesuchen aus vergangenen Jahrhunderten, weswegen man die Fundamentalkritik des Fernsehens als ein Phänomen des 20. Jahrhunderts ad acta legen sollte. Mit dieser Verabschiedung sollte eine Überwindung der Frage verbunden sein, zu welchen Anteilen das Fernsehen nun »unterhält« oder »bildet«. Auch diese Opposition stellt keine sinnvolle Basis einer adäquaten Kritik des Fernsehens dar. Denn das Fernsehen ist ein Unterhaltungsmedium, das noch dort, wo es in bestimmten Sendungen Abstand von den gängigen Mechanismen der Unterhaltung nimmt, seinerseits Spannung erzeugen, Interesse erwecken, Aufmerksamkeit binden will. Die Opposition zwischen Unterhaltung und Bildung ist ein Fetisch zumal der deutschen Reaktion auf die populäre Kultur, der den Blick auf die Tugenden und Untugenden des Mediums gerade verstellt. Der Fundamentalkritik des Fernsehens steht auf der anderen Seite eine Einzelkritik gegenüber, wie sie heute vor allem in Zeitungen und im Radio, gelegentlich aber – nicht zuletzt in satirischer oder humoristischer Form – im Fernsehen selbst geübt wird. Hier werden bestimmte Sendungen oder Sendungstypen nach – mit dem Adressatenkreis variierenden – unterschiedlichen Gesichtspunkten rezensiert, wobei der ästhetischen Verfassung, nicht zuletzt dem Genrecharakter der Produkte häufig große Beachtung geschenkt wird. Diese Art der Fernsehkritik ist ein etabliertes journalistisches Genre, dem innerhalb des Fernsehens in jüngerer Zeit andere, vom Format der Rezension unabhängige Formen zugewachsen sind. Ich denke daran, wie bestimmte Sendungen oder Sendungstypen von Entertainern wie Harald Schmidt, Oliver Kalkhofe oder Stefan Raab innerhalb des Fernsehens weniger kritisiert als konterkariert werden. Auch diese im Medium von Satire und Comedy vorgeführte Kritik ist vorwiegend eine Einzelkritik – sie will bestimmte Akteure oder Formate des Fernsehens treffen. Hier wie dort aber ist es nicht »das Fernsehen«, das zum Gegenstand der Kritik wird, sondern bestimmte seiner Produkte. Es handelt sich um eine vorwiegend ästhetische Kritik dieser Produktionen, die je nach Gegenstand ihre eigenen Kriterien zu entwickeln weiß.
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Eine solche Einzelkritik des Fernsehens ist völlig legitim, in vieler Hinsicht hilfreich und in mancher Hinsicht auch sehr unterhaltsam. Sie kann jedoch nicht an die Stelle der veralteten Fundamentalkritik des Mediums treten, der man zugute halten sollte, dass sie – wenn auch, wie ich meine, vergeblich – versucht hat, das Fernsehen in seiner Gesamtheit einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Aus gutem Grund, nämlich in der richtigen Annahme einer gehörigen gesellschaftlichen Macht dieses Mediums, hat sie versucht, die Institution des Fernsehens zu einem Gegenstand der Kritik zu erheben. Daher stellt sich die Frage, wie eine solche institutionelle Kritik aussehen könnte, die über die Einzelkritik hinaus, aber ohne die Kurzschlüsse der Fundamentalkritik, tatsächlich dem Medium Fernsehen gerecht zu werden vermag. Eine derartige Kritik müsste sich auf das beziehen, was gemeinhin »das Angebot« des Fernsehens genannt wird, also die Konstellation von Gattungen, die das Fernsehen in einer bestimmten Periode ausmachen. Eine solche Kritik müsste auch keineswegs in Opposition zu intelligenten Formen der Einzelkritik stehen. Denn wenn es möglich ist, nicht allein die Sendungen, sondern das Medium selbst einer kritischen Wertung zu unterziehen, dann wird diese Kritik auch Konsequenzen haben für die Begutachtung einzelner Sendungen, die ja stets Teil des Kontinuums medialer Präsentationen sind. Wenn es also ein plausibles Kriterium der Beurteilung des Zustands der Koexistenz von Fernsehprogrammen gibt, wie er zu einem gegebenen Zeitpunkt besteht, so könnte es ein Kriterium auch der Einzelkritik von Sendungen sein, ob diese in ihrer Machart zu einem Fernsehen beitragen, das dieses Kriterium erfüllt. Man sollte also von vornherein von einer Wechselbeziehung zwischen Einzelkritik und institutioneller Kritik ausgehen. Die entscheidende Frage freilich ist, ob sich ein solches allgemeines Kriterium formulieren lässt, an dem sich eine institutionelle Kritik orientieren kann. Denn wie sollte die Konstellation von Programmen und Sendungen des Fernsehens überhaupt kritisch beurteilbar sein? An dieser Stelle, so meine ich, kann die Theorie des Fernsehens einen brauchbaren Hinweis geben. Denn wenn es zutrifft, dass das Fernsehen im Ganzen ein zentraler Motor der Ausbildung des Realitätssinns einer Gesellschaft ist, dann lässt sich fragen, wie der gesellschaftliche Sinn für Realität durch das Fernsehen modifiziert und moderiert wird: so, dass die Aufmerksamkeit für das politische und soziale und private Leben alles in allem eher geschärft oder eher geschwächt wird. Denn, dass das Fernsehen, wie ich behauptet habe, zur Ausbildung des Realitätssinns der Mitglieder einer Gesellschaft (und dadurch der Gesellschaft) beiträgt, sagt natürlich alleine noch nichts darüber, wie trügerisch oder untrügerisch, öffnend oder verstellend, lähmend oder animierend das so ausgebildete Verständnis
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historischer Lebensverhältnisse ist. Der Realitätssinn, den es propagiert, kann alles in allem erhellend oder vernebelnd sein. Zwar arbeitet das Fernsehen als solches niemals nur mit Illusionen, sondern stets mit Differenzierungen von Illusion und Nicht-Illusion; aber es kann dies auf eine eher illusionäre oder eher nicht illusionäre Weise tun. Dies zu unterscheiden und zu entscheiden ist die Aufgabe einer dem Zustand der Institution Fernsehen gewidmeten Kritik. Eine institutionelle Kritik des Fernsehens kann sich daher an dem Kriterium orientieren, ob der gesellschaftliche Sinn für Realität durch das Fernsehen zu einer bestimmten Zeit alles in allem eher geschärft oder geschwächt wird. Bei ihrer Beantwortung ist ein unterstützendes ästhetisches Kriterium hilfreich, das mit anderen Worten bereits Adorno im Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung aufgestellt, wenn auch sehr einseitig angewandt hat (vgl. Keppler/Seel 1991). Es betrifft die Differenz unter und innerhalb der Gattungen des Fernsehens. Die Erhaltung dieser Differenzen dürfte zu einer Erhaltung eines wachen Sinns für die Gegenwart eher beitragen als ihre Einebnung; die Bewahrung der Heterogenität des Mediums in der Fülle seiner Sendungen dürfte ein wirksames Gegengift gegen die Tendenzen einer ästhetischen und ideologischen Vereinheitlichung und Nivellierung der TV-Kommunikation sein. Diese Differenz ist kein Selbstzweck, sondern sie bezeugt ein Potenzial der Abwechslung sowohl in formaler wie in inhaltlicher Hinsicht: ein Potenzial der Variation von Perspektiven auf die Welt und nicht minder eines der Variation von Rhythmen der alltäglichen Unterhaltung. Das postulierte Kriterium ist also ebenso sehr ein ästhetisches und ein ideologisches Kriterium: es betrifft die Verfasstheit von Sendungen ebenso wie ihren Gehalt, es betrifft die Choreografie von Programmen ebenso wie die Haltungen, die in ihnen Ausdruck finden. Dabei ist es weder ein elitäres noch ein populäres Kriterium; es gesteht dem Fernsehen das Recht zu, in unterschiedlichen Kombinationen populär und manchmal auch elitär zu sein. Aber es bewertet das Medium daraufhin, ob es in der Konfiguration seiner Angebote ein Bewusstsein der Komplexität und des Reichtums von gesellschaftlicher und individueller Wirklichkeit eher schärft oder schwächt. Eine Kritik, die sich an diesen Leitlinien orientiert, kann freilich nur gelingen, wenn sie in einem engen Kontakt mit exemplarischen Interpretationen zur Differenz der Gattungen des Mediums ausgeführt wird. Interpretation bleibt das A und O nicht allein einer theoretischen, sondern ebenso einer kritischen Würdigung des Mediums. Eine solche Würdigung muss von Anfang an komparativ verfahren. Sie kann verschiedene Formate von Nachrichtensendungen miteinander und mit anderen Formen der Dokumentation vergleichen und deren Verhältnis zu fiktionalen Formen der Verarbeitung des Weltverstehens kritisch untersuchen.
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Ähnlich kann sie mit dem weiten Spektrum von Talks-Shows im heutigen Fernsehen verfahren und die dort ausgeformten Deutungen öffentlicher und privater Angelegenheiten mit den Ideologien in Beziehung setzen, die in Spielfilmen vertreten oder aufgebrochen werden. Sie kann Unterhaltungssendungen verschiedener Couleur zueinander in Beziehung setzen und dabei etwa auch erkunden, wie im Vergleich dazu im Sport das Drama von Gelingen und Scheitern, Planung und Zufall, Individuum und Kollektiv in Szene gesetzt wird. Sie kann untersuchen, wie globale Medienereignisse produziert und Spartenprogramme weiter ausdifferenziert werden, wie also etablierte Öffentlichkeiten im Fernsehen zugleich segmentiert und transzendiert werden. Und vieles Weitere mehr. Sie wird dabei stets im Auge behalten müssen, welchen Stellenwert die interpretierten Sendungen im Kontext des Mediums insgesamt haben, d.h. welches Gewicht ihnen mit den von ihnen präsentierten Sichtweisen zukommt. Diesen vom Fernsehen präfigurierten Einstellungen und ihrem jeweiligen Gewicht sollten die resümierenden Bewertungen einer institutionellen Kritik des Fernsehens gelten. Dabei müssen die jeweiligen Kritiker, wie es nicht anders sein kann, ihr in Theorie und Praxis gewonnenes Verständnis des Wirklichen und Wichtigen, des Realen und des Irrealen einsetzen. Sie müssen sich ein Urteil darüber zutrauen, was für Politik und Unterhaltung, Wissenschaft und Kultur in ganz unterschiedlichen Bedeutungen relevant ist – und wie dieser Relevanz im Medium des Fernsehens Gestalt gegeben oder Gestalt genommen wird. Und sie sollten dieses Urteil so einsetzen, dass sie an den fraglichen Sendekonfigurationen zeigen, weshalb diese eine verengende oder erweiternde, intelligente oder stupide, differenzierende oder verflachende Einstellung vorgeben und weshalb sie einen kurzweiligen oder ermüdenden, facettenreichen oder eindimensionalen Zeitvertreib gewähren.
L i t e r at u r Keppler, Angela (2006): Mediale Gegenwart. Eine Theorie des Fernsehens am Beispiel der Gewalt, Frankfurt/M.: Suhrkamp. (im Druck). Keppler, Angela/Seel, Martin (1991): Zwischen Vereinnahmung und Distanzierung. Vier Fallstudien zur Massenkultur. In: Merkur 45, S. 877-889.
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T EIL 3: K RITIK DER M EDIEN IN DEN M EDIEN
GODARD D E K O N S T R UK T I O N
FOR EVER.
DES
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MEDIENSPEKTAKELS
RAINER WINTER Jean-Luc Godard ist für viele der wichtigste Künstler im Bereich des Films, da er seit seinen Anfängen die Gegenwart des Kinos repräsentiert. Seit über 50 Jahren steht sein Name für Innovation, Inspiration und Provokation im Ausschöpfen und der Entfaltung der Möglichkeiten des Mediums. Wie Alain Bergala schreibt. »None better than Godard« (nach Bellour 2004: 11). Manche sprechen von einer Zeit des Films vor und nach Godard. Es gibt begeisterte Godard-Seher, aber auch leidenschaftliche Gegner. Dabei besteht sein Werk nicht nur aus Spielfilmen, einer Fernsehserie und Videoproduktionen, sondern auch aus Filmkritiken, die er bereits in seinen Zwanzigern verfasste, aus Essays, Interviews und Reden. Godard kommentiert nicht nur seine filmischen Arbeiten, er schreibt über die Geschichte des Films und ist ebenso ein vehementer Kritiker des Films wie der kapitalistischen Gesellschaft. Seine Kritik am kommerziellen Hollywood-Kino, das er als ein Kino des Spektakels begreift, ist sehr scharf. So wirft er ihm u.a. vor, dass »es zu verbergen versucht, was mit den Leuten los ist« (Theweleit 1995: 25). Insbesondere in seiner explizit radikalen Periode von 1968 bis 1978 nutzte er filmische Möglichkeiten, um ein politisches Kino zu realisieren. Die Ausnahmesituation des Mai 1968, die damit verbundenen Wünsche und Hoffnungen, werden für ihn zu einem Schlüsselerlebnis. Er wendet sich von der rein ästhetisch orientierten Cinéphilie ab, die ihn mit der Nouvelle Vague verbindet, verzichtet auf die Produktionsbedingungen, die ihm als bekanntem Regisseur zur Verfügung stehen würden, und bezeichnet seine bis dahin gedrehten Filme, die sich an populäre Genre anlehnen, als bourgeoise, gar faschistoide Produkte (vgl. MacCabe 2003: 179-238). Dagegen sollten Film und Politik zu einer Einheit verschmel-
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So hieß eine viertägige internationale Konferenz im Juni 2001 an der Tate Modern in London, in der Spezialisten aus unterschiedlichen Disziplinen (Film-, Literatur-, Musikwissenschaft, Geschichte, Philosophie, Feminismus, Cultural Studies) das fünfzigjährige Schaffen von Godard kommentierten (vgl. Temple/Williams/Witt 2004
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zen. Ästhetische Fragen sind von nun an immer auch in moralisch-politische Problematiken eingebunden. Bis heute betreibt Godard in seinen medialen Arbeiten eine Kritik der (Massen-)Medien, dekonstruiert deren Medienspektakel und entwirft mit filmischen Mitteln (utopische) Alternativen zur bestehenden Gesellschaft. Nach seiner Auffassung bilden Filme nicht Wirklichkeiten ab bzw. reproduzieren sie, sondern sie schaffen eigene Wirklichkeiten. Folglich, geht es für Godard darum, deren Konstruktionsprinzipien, das jeweilige Verhältnis von Bild und Ton, zu bestimmen. Dabei untersucht er nicht nur Bilder, er begreift sie auch als eine Metaebene. Godard ist in den kinematographischen Schöpfungen auf der Suche nach Momenten des Widerstands (Büttner 1999: 14f.). 1995 erhielt er den Adorno-Preis der Stadt Frankfurt, mit Adorno verbinden ihn seine vielseitigen künstlerischen und intellektuellen Talente, eine ungebrochene Radikalität in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Missständen und Widersprüchen sowie eine Ablehnung resignativen Denkens. Adornos (und Horkheimers) Medienkritik wird mir deshalb im folgenden als Einstieg dienen, um Godards Werk im Kontext von Frankfurter Schule und Cultural Studies zu positionieren. Es geht mir darum, auf Gemeinsamkeiten, Affinitäten und Unterschiede in diesen gesellschaftskritischen Projekten hinzuweisen und zu zeigen, wie sie fruchtbar aufeinander bezogen werden können. Adorno steht wie Godard den Produkten der Kulturindustrie äußerst kritisch gegenüber. Seine Kritik kommt von »außen«, ist distanzierend, manchmal elitär. Anders als Adorno, der vor allem dem Buch und der Musik zugeneigt war, kennt Godard aber die Produkte der audiovisuellen Kulturindustrie genau, weiß, wie sie funktionieren, wie sie umfunktioniert werden können und warum man eine Leidenschaft für sie entwickeln kann. Godard zeigt, wie das Kino die Geschichte vorwegnehmen und welche Entwürfe einer Gegengesellschaft es enthalten kann. Adorno hat für das Radio gearbeitet, Godard für das Fernsehen, indem er eine TVideopolitik (vgl. James/Zeyfang 2003) entfaltet hat, auch wenn es in Numéro deux (1975) heißt »Schalte den Fernseher ein, und du wirst zum Komplizen«. Godard lässt sich auf die im Sinne Adornos »niederen Formen des Vergnügens« ein. Er gibt für eine gewisse Zeit das Kino auf und damit auch die Rezeptionssituation, in der sich Zuschauer unter idealen Bedingungen konzentriert, bewusst und intensiv mit Filmen auseinandersetzen. Wie der Filmkritiker und Wegbegleiter von Godard Serge Daney (2000: 268) treffend bemerkte, wird das Publikum im Kino gezähmt, indem es stillgelegt wird: »Reglos verharrende Leute wurden auf die Beweglichkeit der Welt aufmerksam, auf jede Form von Beweglichkeit, auf die der
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Fiktionen [...] ebenso wie der Körper [...], der Materie oder des Verstandes [...]«. Die Veralltäglichung des Fernsehens und die Dominanz der Werbung haben aber im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer Umkehrung dieses Verhältnisses geführt. Wir haben gelernt, den Fernseher zu ignorieren, ihn als Hintergrundsmedium zu nutzen, während der Rezeption unterschiedlichen Aktivitäten nachzugehen. Die Werbung, die auf vorgefertigte und starre Bilder zurückgreift, bestimmt Kino, Fernsehen und unsere Alltagsästhetik. »Wir sind also bewegungslos vor vorbeiziehenden Bildern verharrt und neigen heute dazu, unsererseits an immer weniger beweglichen Bildern vorbeizuziehen« (Daney 2000: 269). In einer Situation, in der das Kino nur ein Medium unter anderen ist und von Fernsehen und Werbung bedrängt wird, lässt Godard sich intensiv auf die Sehbedingungen in privaten Haushalten ein, die in der Perspektive von Adorno durch Zerstreuung, Ablenkung und »Banausentum« gekennzeichnet sind, freilich nur, um die Erwartungen von Fernsehzuschauern zu enttäuschen, indem er ihnen das »vorsetzt, was er/sie typischerweise nicht sehen möchte« (Beech 2003: 32). Godards Arbeiten sind anti-populistisch orientiert, erschüttern traditionelle Seherwartungen und intervenieren in den Bereich des Populären. Um Godards Position als Medien- und Gesellschaftskritiker genauer zu bestimmen, liegt es deshalb nahe, sie auch im Kontext von Cultural Studies zu diskutieren, die die Populärkultur zu einem wichtigen Forschungsthema gemacht haben (Göttlich/Winter 1999; Winter 2001) und eine kritische, vor allem ideologiekritisch orientierte Medienpädagogik entwickelt haben, die auch an Positionen der Frankfurter Schule anknüpft (Winter 2004). Die zunehmende Etablierung von Cultural Studies hat manche Interpreten in intensiven und umkämpften Debatten zu der Einschätzung geführt, dass die Populärkultur zur Rivalin der Kunst geworden sei, was allerdings nicht automatisch bedeutet, dass sie mit Nicht-Kunst gleichzusetzen sei, wie Adorno meinte. Diese Auffassung eines Konkurrenzverhältnisses entspricht aber nicht der transdisziplinären Perspektive von Cultural Studies, die in ihrem Bemühen, die wichtige Bedeutung des Populären herauszustellen, keinesfalls die Hochkultur ablehnen, sie allerdings vernachlässigt haben. »Cultural studies means taking popular culture seriously and without condescension, but it should not lead to a flip-flopping of value, such that studying the popular becomes a sign of political righteousness, whereas high art is placed on the side of conservatism and reaction« (Felski 2005: 40). Vor diesem Hintergrund möchte ich die Position Godards betrachten, der als philosophischer Filmemacher die Grenzen zwischen Populär- und Hochkultur überschreitet und in Auseinandersetzung mit den ästheti-
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schen Möglichkeiten des Films eine Pädagogik entwickelt, die über Ideologiekritik hinausgeht, trotz Fernsehen sich einen Glauben an die widerständige und emanzipatorische Kraft von Bildern, in denen sich filmisches Denken kondensiert, bewahrt und politische Wirkungen entfalten möchte. Zunächst werde ich also kurz an die Kritikposition von Adorno/Horkheimer in ihrem berühmten Theorem der Kulturindustrie erinnern (1). Anschließend bestimme ich die Position der Medien- und Gesellschaftskritik in den Cultural Studies näher, indem ich John Fiskes Analyse von »media events« und Douglas Kellners Untersuchung der zeitgenössischen Medienspektakel diskutiere. Es wird deutlich werden, welche Unterschiede zu Adorno/Horkheimer bestehen und welche Anknüpfungspunkte es gibt (2). Schließlich diskutiere ich Godards Medienarbeit als eine Dekonstruktion des Spektakels, untersuche Beispiele seines Vorgehens, vor allem in seiner explizit politischen Phase, und betrachte seine Pädagogik des Bildes (3). Abschließend zeige ich, wie in neueren Arbeiten zur interpretativen Ethnographie im Rahmen von Cultural Studies ähnliche Impulse wie bei Godard entfaltet werden (4).
1 . D i e k r i ti sc he T he o r i e d e r K u l tu r i n d u st r i e Die Theorie der Kulturindustrie ist das wichtigste Beispiel für die weit verbreitete negative Einschätzung der Rolle der Massenmedien und ihres Einflusses auf die Kultur in der modernen Gesellschaft. Theoretisch elaborierter und stringenter als viele ihrer Nachfolger versuchen Adorno und Horkheimer (1969) zu zeigen, dass die Massenmedien als soziale Kontrollinstrumente zur Integration der Konsumenten beitragen, die das ihnen offerierte Vergnügen mit einer Manipulation ihres Bewusstseins und wegen der standardisierten Warenproduktion kultureller Formen mit der Verkümmerung ihrer Einbildungskraft, ihres unabhängigen Denkens und schließlich dem Verlust ihrer Individualität begleichen müssen. »Die Kulturindustrien mobilisieren Unterstützung für die bestehende Gesellschaft von unten, stiften im Sinne von Gramsci einen Konsens und liefern den sozialen »Kitt«, der die Individuen an die bestehende Ordnung bindet« (Kellner 1982: 485). Unter Kulturindustrie2 verstehen Horkheimer und Adorno die gesellschaftlich verfügbaren und der Unterhaltung dienenden Reproduktionstechnologien, die mit der im späten 19. Jahrhundert entstandenen Vergnügungsindustrie im 20. Jahrhundert zu einem System verschmelzen, 2
Zum Konzept der Kulturindustrie vgl. die instruktive Studie von Steinert (1998).
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das durch Standardisierung und Serienproduktion von Kulturprodukten gekennzeichnet ist. Diese sind kapitalistischen Produktionsprozessen unterworfen, werden zu Waren, die den Gesetzen des Marktes unterliegen. Sie besitzen, so die Autoren, nicht die ästhetischen Eigenschaften, die die authentische Kunst auszeichnen und die deren Logik von der des gesellschaftlichen Systems radikal trennen. Mit ihrer Abhängigkeit von den Gesetzen des Markts haben die Artefakte der Kulturindustrie, so die Auffassung, nämlich die für den Ausdruck von Leiden, Widerspruch und einer Idee des guten Lebens notwendige Distanz verloren. Sie seien von den Elementen, die der jeweiligen gesellschaftlichen Wirklichkeit kritisch gegenüber stehen, gereinigt. Ausgehend von den Genrefilmen und Seifenopern im Radio aus den 30er und 40er Jahren zeigen Adorno und Horkheimer, dass die Standardisierung der Kulturprodukte zu einer Einebnung der Differenzen bei gleichzeitiger Etablierung von konventionalisierten Formeln und Stereotypen geführt habe. Es entstehe eine für Waren typische Uniformität, die sich an den Handlungsabläufen, den Themen und den Charakteren ablesen lasse. Auf diese Weise sei die Produktion der Kulturindustrie durch eine monolithische, nur oberflächlich variierende Warenproduktion gekennzeichnet, die Kreativität sowohl auf Seiten der Produktion als auch der Rezeption geradezu ausschließe. Denn Kulturwaren ermöglichen, so Adorno und Horkheimer, bei der Rezeption nicht die Erfahrung ästhetischer Distanz, vielmehr würden sie den Rezipienten zu einer Identifikation mit der Wirklichkeit animieren, von dieser abweichende Vorstellungen und gegen sie opponierende Gefühle würden in den Produkten der Kulturindustrie und nachfolgend – quasi automatisch – vom Zuschauer selbst zensiert. »Die Verkümmerung der Vorstellungskraft und Spontaneität des Kulturkonsumenten heute braucht nicht auf psychologische Mechanismen erst reduziert werden. Die Produkte selber, allen voran das charakteristischste, der Tonfilm, lähmen ihrer objektiven Beschaffenheit nach jene Fähigkeiten. Sie sind so angelegt, dass ihre adäquate Auffassung zwar Promptheit, Beobachtungsgabe, Versiertheit erheischt, dass sie aber die denkende Aktivität des Betrachters geradezu verbieten, wenn er nicht die vorbeihuschenden Fakten versäumen will« (Horkheimer/Adorno 1969: 114).
Da jede Kulturware lediglich ein Modell des Systems sei, würden die Konsumenten unweigerlich an das System und dessen Erfordernisse gebunden. Während Kunst zur Entideologisierung und Entmythologisierung gesellschaftlicher Verhältnisse beitrage, sei die Kulturindustrie mit Ideologien und Mythologien gesättigt, die die bestehende Gesellschaft
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legitimieren und Individualität liquidieren würden, was z.B. in den vernichtenden Urteilen von Adorno über den Jazz deutlich wird, der seine Rezipienten angeblich zu masochistischer Passivität und blind autoritärer Aggression als Kompensation verdamme. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Kulturindustrie nach Horkheimer und Adorno als eine industriell organisierte und verfahrende Massenkultur manipulativ und bewusstseinsbesetzend wirkt. In ihren Analysen erscheint sie als ein planvoll gelenkter Apparat, der gesellschaftliche Macht durch die Entindividualisierung des einzelnen Bewusstseins reproduziert (Kipfer 1999: 50). Dabei wird die Dynamik des kulturindustriellen Prozesses durch seine kapitalistisch-industrielle Verfasstheit erklärt. Die Gesellschaft erscheint als hermetisch geschlossene Totalität. Rettung ist nur von individueller Differenz zu erwarten. Nur einzelne, sei es als Kritiker oder als Künstler, können das falsche Ganze aufsprengen und individuelle Andersheit realisieren, die als Rettung erscheint. Viele der Arbeiten von Godard lassen sich in diesem Sinne interpretieren. Wie Adorno ist auch er vom Konzept der Genieästhetik3 beeinflusst, dass ein einzelner realisieren könne, was für die Allgemeinheit relevant sei.4 Der negativen Totalität, dem falschen Ganzen, stehen die individuelle Erkenntnis und Praxis gegenüber, die die falsche Totalität auf den Begriff bringen und ihr mit individueller Differenz begegnen. Sowohl das Theorem der Kulturindustrie als auch Adornos normative Theorie der Gesellschaft erscheinen aus verschiedenen Gründen heute nicht mehr überzeugend. So führen die sozialen Differenzierungsprozesse zum einen dazu, dass die Gesellschaft nicht mehr als eine in sich geschlossene negative Totalität gedacht werden kann. Zum anderen haben Ausdifferenzierung und Enttraditionalisierung zu einer Freisetzung von Individualität geführt (Beck 1986), die ambivalenten Charakter hat. Die Konzeption einer Unterdrückung von Individualität scheint auf den ersten Blick irreführend zu sein, gleichwohl ist diese gefährdet (Kipfer 1999). Noch problematischer erscheint die Vorstellung, dass alle kulturellen Erfahrungen und Praktiken einheitlich seien und quasi-zentral organisiert würden. Es fällt einem Dr. Mabuse, der Spieler (1921/1922) von Fritz Lang ein, mit dem Adorno im amerikanischen Exil befreundet war (vgl. Aurich et al. 2001: 403-410). Mabuse gelingt es, alles zu organisieren und zu lenken. Er sitzt in einem Kontrollraum und hat eine »Armee von Augen«, die ihn unterstützt. Langs und Adornos Konzeptionen wären 3 4
Für Raymond Bellour (2004: 11) ist Godard der letzte Romantiker: »The final incarnation of the Jena School of Romanticism«. Allerdings arbeitet er als Filmemacher in der Regel nicht alleine, sondern mit anderen zusammen.
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ohne die Vorahnung bzw. Existenz des Faschismus nicht entstanden. Wenn wir unsere gegenwärtigen Gesellschaften betrachten, so sind die medialen Texte und die kulturellen Aktivitäten aber keineswegs so homogen und werden auch nicht zentral organisiert. Im Bereich der Kulturtheorie und der Medienanalyse waren es vor allem die Cultural Studies, die zu einer Neueinschätzung der Massenkultur und der Position des Kritikers geführt haben, wobei ich nun nicht, wie es leider oft gemacht wird, der Theorie des angeblich absoluten Verblendungszusammenhangs und dem als elitär gescholtenen Kritiker Adorno die Theorie des aktiven Rezipienten und den Populärkultur genießenden Wissenschaftler à la John Fiske entgegenstellen möchte. Vielmehr möchte ich auch Kontinuitäten zwischen Frankfurter Schule und Cultural Studies berücksichtigen. Beide Theorietraditionen sind z.B. interdisziplinär angelegt und bemühen sich um kritische Analysen der Medienwelt. Hierzu möchte ich exemplarisch auf die Konzeption des »media event« bzw. des Medienspektakels eingehen und auf die Kritikposition von Cultural Studies.
2 . C u l t u r a l S tu d i e s u n d d i e k r i ti sc h e A n a l y s e v o n M e d i e n e r e i g n i ss e n In seinem späten Buch Media Matters (1994) stellt John Fiske spektakuläre Medienereignisse in den USA, wie den O.J. Simpson-Fall, das Rodney King-Video und seine Folgen oder die alltägliche Videoüberwachung in »shopping malls« ins Zentrum seiner Betrachtungen. Seine Untersuchungen lassen sich wie die von Godard als eine Kritik des Spektakels begreifen. In der Interpretation von Cultural Studies5 schaffen Medien symbolische Karten der Welt, versuchen, den Bereich des »Wahren« zu definieren, und üben Macht über diejenigen aus, die diese Bedeutungsrahmen anwenden, um mit ihrem alltäglichen Leben zurechtzukommen.6 Bei der Analyse der Mediendiskurse der USA geht Fiske von der sozialen Diversifikation, der Multidiskursivität und Multikulturalität westlicher Gesellschaften aus. Er möchte einerseits die diskursiven Auseinandersetzungen aufdecken, in denen mediale Diskurse als Resultate artikulatorischer Praxis Personen, Gruppen oder Wissensformen unterdrücken, marginalisieren und ausschließen, also die soziale Einbettung des Wissens und der Kultur in den Kontext der alltäglichen Lebenspraxis und in soziale Interessenskämpfe. Andererseits will Fiske den Kampf der 5 6
Die am CCCS entstandene Gemeinschaftsarbeit »Policing the Crisis« (Hall et al. 1978) ist hierfür das elaborierteste Beispiel. Vgl. hierzu Stuart Halls eindringliche Analyse »Das Spektakel des ›Anderen‹«(Hall 2004).
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Subordinierten, der Ausgegrenzten, der Minderheiten und der Randgruppen gegen die Einschränkungen durch die disziplinierende und normalisierende Macht analysieren und zeigen, wie sie sich um Zugang zu den Technologien der sozialen Zirkulation bemühen, damit sie auf ihre Interessen aufmerksam machen und für eine transparentere Gesellschaft kämpfen können. Die dekonstruktive Medienanalyse mündet hier in alternative und kritische Formen von Medienarbeit und Medienaktivismus.7 Da Wirklichkeit nur diskursiv artikulierbar ist, gibt es eine Kontinuität zwischen Ereignissen und Diskursen. Mediale Repräsentationen sind daher nicht Diskurse über Ereignisse, vielmehr sind sie Diskursereignisse bzw. Medienereignisse (Fiske 1994: 4), die immer Spuren von anderen, konkurrierenden Diskursen beinhalten. Insbesondere spektakuläre Medienereignisse, die ein Maximum an Visibilität mit einem Maximum an sozialer Turbulenz, die sonst oft im Verborgenen bleibt, verbinden, ermöglichen Interventionen verschiedener sozialer Formationen. Fiske zeigt, wie diese zum Ort sozialer Auseinandersetzungen werden, in denen sich Machtbeziehungen durch Diskurse und Gegendiskurse, durch Wissen und Gegen-Wissen verschieben. So lassen sich z.B. die Berichterstattung und die öffentliche Diskussion über die Ereignisse in Los Angeles nach dem Rodney King-Prozess Anfang der 90er Jahre als Auseinandersetzung rekonstruieren, der mittels diskursiver Mittel unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben wurden, die jeweils partikularen sozialen Interessen dienten.8 Für viele der Ghetto-Bewohner beruhten die Kämpfe, die sich im Anschluss an die Medienereignisse entfalteten, auf ihrer konkret erfahrenen Repression und Erniedrigung in einem spezifischen historischen und sozialen Kontext. Ihre Darstellung in den Medien ist ein diskursiver Konflikt um die Bedeutung dieser Ereignisse. Waren sie bloße Plünderungen, ein Aufruhr, eine Rebellion oder gar eine Revolution? An dieser Stelle wird deutlich, wie eng Fiske Michel Foucault (1976) folgt, für den Erfahrung, Wissen und damit auch »Wahrheit« in Machtverhältnisse eingebettet sind und sich nur perspektivisch bestimmen lassen. Er strebt keinen radikalen Relativismus an, der Wahrheitsansprüche per se ablehnt oder Theorie auf Interpretationen bzw. Beschreibungen reduziert, wie dies z.B. Richard Rorty (1989) vorführt. Auch wenn Wissen in Machtbeziehungen gewonnen wird, kann es eine gewisse formale Autonomie erreichen, wie z.B. das psychiatrische Wissen. »Wahrheit 7 8
In der Zwischenzeit ist das Internet zum bevorzugten Ort des kritischen Medienaktivismus geworden (vgl. Kahn/Kellner 2003; McCaughey/Ayers 2003). Auch die Berichterstattung über die Katastrophe von New Orleans lässt sich auf diese Weise analysieren und würde interessante Einblicke in die verschiedenen interessensgeleiteten Perspektiven geben.
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und Methode« sollen in einer von Foucault geprägten Soziologie nicht aufgegeben werden, aber ihr politischer Charakter, die Verknüpfung von Wissen und Wahrheit mit Macht, soll anerkannt werden, damit Wissen auch zur Subversion gegenwärtiger Machtverhältnisse eingesetzt werden kann. Entscheidend werden die Fragen, welche Zwänge und Einschränkungen die Gegenwart bestimmen und wie sie überwunden werden können. Die Aufgabe der Medienkritik, die gleichzeitig eine Kritik gesellschaftlicher Machtverhältnisse darstellt, ist, diese Zwänge zu diagnostizieren und neue Möglichkeiten aufzuzeigen. Auch Douglas Kellner (Kellner 2003; Winter 2005) zeigt in seinen neueren Arbeiten, wie mediale Spektakel das politische und soziale Leben der Gegenwart zunehmend formen. Guy Debord (1996; orig. 1967)9 folgend, definiert er sie als jene Phänomene, welche die heutigen zentralen Werte und Einstellungen westlicher Gesellschaft verkörpern, Individuen in ihre Lebensweisen einweisen, und die gesellschaftlichen Kontroversen, Auseinandersetzungen, aber auch deren Möglichkeiten der Konfliktlösung dramatisieren. Erfahrung und Alltag werden folglich durch die Spektakel der Medienkultur und der Konsumgesellschaft geformt und vermittelt. Kellner schlägt vor, die Pluralität und Heterogenität der unterschiedlichen Spektakel der Gegenwart zu bestimmen, und – ähnlich wie Fiske – das Spektakel als umkämpftes Terrain zu sehen. Dementsprechend bemüht er sich, die Widersprüche innerhalb dominanter Spektakel offen zu legen und zu zeigen, wie sie unterschiedliche Bedeutungen, Interpretationen und Effekte verursachen. Er verknüpft Cultural Studies mit einer an der Frankfurter Schule orientierten diagnostischen Kritik und möchte zeigen, was Schlüsselbeispiele von medialen Spektakeln über die aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen aussagen. »Ich versuche also zu unterscheiden, was die Medienkultur über gegenwärtige Gesellschaften enthüllt [...]. Während ich mich daher beim Lesen von kulturellen Texten mit der Repräsentationspolitik und Ideologiekritik beschäftige, gehe ich auch über die Texte hinaus, um den Kontext zu hinterfragen, in dem sie produziert und rezipiert werden. Meine Untersuchungen rufen deshalb den sozialen Kontext und die Geschichte auf den Plan, um dabei zu helfen, die Texte der Medien-Spektakel zu lesen und kulturelle Texte zur Erläuterung des sozialen und kulturellen Milieus der Gegenwart einzusetzen« (Kellner 2005a: 213).
Hierbei folgt er der Dialektik von Text und Kontext, die von Walter Benjamin und T.W. Adorno in ihrer Vorstellung von kulturellen Texten als 9
Eine systematische Darstellung der Arbeiten Debords und der Situationistischen Internationale liefern Baumeister/Negator (2005).
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Hieroglyphen oder Prismen entwickelt wurde, die eine Quelle diskursiver Auseinandersetzungen der aktuellen Zeit darstellen. Die Interpretation der Spektakel populärer Texte der Medienkultur hilft dabei, Einblicke in aktuelle und im Entstehen begriffene soziale Realitäten, Prozesse und Trends zu sehen. »Populäre Texte vergrößern die Aufmerksamkeit und Vorstellungskraft eines riesigen Publikums und sind daher Barometer aktuellen Geschmacks, aktueller Hoffungen, Ängste und Fantasien« (Kellner 2005a: 214). Hierzu untersucht Kellner ganz unterschiedliche Medienspektakel: vom Reality-TV über Michael Jordan bis zu Akte X (vgl. Winter 2005). Seine Medienkritik verbindet er mit einer Medienpädagogik, die den Zuschauern die Kompetenzen vermitteln soll, mediale Texte kritisch zu lesen und zu analysieren. Sie sollen lernen, wie Medien eine Version von Wirklichkeit präsentieren und auch, was man durch ihre Analyse über die soziale Wirklichkeit lernen kann (vgl. Kellner 2005b). Kellner verknüpft also Analyseverfahren der Frankfurter Schule mit Positionen der Cultural Studies. Heraus kommt dabei eine Ideologiekritik, die nicht von einer totalen Manipulation ausgeht und stattdessen Medienkritik mit Medienpädagogik und radikaler Medienpolitik verbindet. In den Medien reproduzieren sich die Widersprüche und Konflikte der Gesellschaft, der gesellschaftliche Wandel, und es finden sich in ihnen subversive, oppositionelle und utopische Elemente. Die Nähe zu Godard ist hier offensichtlich, denn viele seiner Arbeiten lassen sich als eine Kritik an der Gesellschaft des Spektakels, an den Inszenierungen von Hollywood-Filmen und Fernsehsendungen begreifen. Auch Godard möchte in seinen Medienarbeiten Einblicke in aktuelle gesellschaftliche Prozesse geben. Im Folgenden werde ich diese Perspektive vertiefen, indem ich exemplarisch auf einige seiner Werke eingehe.10
3 . G o d ar d s D e k o n st r u k t i o n des Spektakels der Medien Seit 1968 sind Godards Arbeiten, die sich vom Spektakel der Medien distanzieren, explizit einer Dekonstruktion der kinematographischen Sprache Hollywoods verpflichtet. Er analysiert Bilder und Repräsentationssysteme, führt selbstreflexive Elemente in die Medienarbeit ein und untersucht die Konstitution von Subjektivität. Diese kritische Einstellung zeigte sich aber schon zuvor. Während er sich in seinen frühen Arbeiten vom populären Genrekino Hollywoods und der amerikanischen Populär10 Für einen Überblick zu seinen Arbeiten vgl. die lesenswerte Biographie von Colin MacCabe »Godard. A Portrait of the Artist at 70« (2003).
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kultur hat faszinieren lassen und sich in seinen Genreversuchen an sie anlehnt, werden bereits in Une femme mariée (1964), Masculin-Féminin (1966) und Made in USA (1966) populäre Bilder selbst tragende Bestandteile der Narrationen. Seine Protagonisten gewinnen ihre Subjektivität durch Auseinandersetzungen mit den Bildern der Werbung und der populären Kultur (wie der Popmusik). Ähnlich wie die Pop Art der 60er Jahre versucht Godard, deren Einfluss auf das Alltagsleben und die Alltagsästhetik zu bestimmen (Sheikh 2003). So ist Une femme mariée in der Art von Werbespots fotografiert, gleichzeitig aber eine kritische Analyse des Einflusses der Werbung. Wir folgen der Hauptfigur Charlotte durch ihren Tag. Sie trifft abwechselnd ihren Geliebten und ihren Ehemann. Zentrales Thema des Films ist die neue Konsumwelt der 60er Jahre. Charlotte, die schön sein möchte, vertieft sich intensiv in Frauenzeitschriften, die hauptsächlich Werbung für Dessous und Lippenstifte enthalten, und schwärmt von BHs. Die bereits in A Bout de Souffle (1960) benutzte Ikonographie des Konsumkapitalismus wird in diesem Film zu einem strukturierenden Prinzip, das sowohl die Erzählung als auch den Fluss der Bilder segmentiert. Zudem hören sich die Dialoge nicht so an, als könnten sie sich im Alltag ereignen. Godard benutzt formelle und informelle Interviewtechniken. Das Ergebnis sind Äußerungen, die zum Teil Werbeslogans oder den Experten in den Medien gleichen. Hier beginnt der Einfluss der Brechtschen Ästhetik auf Godards Arbeiten, aber ebenso zu den Mythen des Alltags (1957, dt. 1964) von Roland Barthes, einem der wichtigsten Förderer Brechts in Frankreich, lassen sich Verbindungen herstellen. In diesem Buch analysiert er, wie in der Nachkriegs-Konsumgesellschaft die bürgerliche Welt ohne Bezug zur Vergangenheit des Krieges medial als natürliche Welt inszeniert wird. Auch im Film wird gezeigt, wie Geschichte, was im Subtext der Auschwitz-Prozesse und in den eingestreuten Céline-Zitaten deutlich wird, verleugnet wird. Mittels soziologischer sowie semiotischer Methoden und politischer Kritik analysierte Godard in seiner weiteren Arbeit die Strukturen der Repräsentation im Hollywoodkino und in der Konsumgesellschaft. Gleichzeitig versuchte er, deren explizite politische Ideologien aufzuzeigen. »Godard entfernte sich nicht nur vom narrativen Kino, um sich dem ›minimalen‹ Kino zu nähern, sondern auch vom Spektakel-Kino, um es durch ein Kino als politisch-kritisches Medium zu ersetzen« (Sheikh 2003: 130). In Debords kraftvoller Fortführung des Marxismus Die Gesellschaft des Spektakels (1996, orig. 1967) ersetzt das Bild die Ware als zentrale Beziehung. »Das Spektakel ist nicht ein Ganzes von Bildern, sondern ein durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen« (Debord 1996: 14).
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Godard ist deshalb der Auffassung, dass ein politisches Kino das Kino als Spektakel reflektieren und sich davon lösen muss. So zeigt sein Film Weekend (1967) in langen Einstellungen und Totalen Spektakel, scheint diese aber auch zu transzendieren. Sein Interesse gilt auch immer mehr dokumentarischen Formaten, die scheinbar die Realität repräsentieren. Sein bereits erwähnter Film One Plus One (1968) stellt z.B. eine Dokufiktion aus heterogenen miteinander verknüpften Elementen und Ideen dar. Dokumentarische Studioaufnahmen der Rolling Stones bei Proben für ihr Beggars Banquet-Album werden mit Aufnahmen von Black Power-Aktivisten auf einem Schrottplatz, von Lesungen aus Mein Kampf in einem pornographischen Buchladen und von einem Interview mit einer Frau namens Eve Democracy (Anne Wiazemsky) verbunden. Sheikh (2003: 130) stellt in Bezug auf die Rolling Stones fest: »Sind diese Aufnahmen der probenden Rolling Stones eine Repräsentation der Revolution als Work-in-progress oder ein Exposé der zynischen, gut geplanten Inszenierung eines Popsongs? Bezeichnenderweise ist One Plus One nur Prozess oder vielleicht sogar nur Praxis, denn wir sehen die Stones, wie sie sorgfältig und langsam an der Fertigstellung von Sympathy for the Devil arbeiten, aber wir hören die Melodie nie in seiner fertigen Version«.
Sheikh (ebd.) kommt zu dem Schluss, dass Godard zeigen möchte, dass nicht nur die Aufnahme des Songs, sondern auch die Revolution ein »work-in-progress« sei. Eine wirkliche Überwindung der konsumistischen Haltung im Umgang mit Bildern kann Godard aber erst durch seine radikalen Arbeiten für das Fernsehen11 realisieren, die mit dem Prinzip der Narrativität gänzlich brechen. MacCabe (2003: 216) fasst zusammen, was die fünf Filme der kollektiv organisierten Dziga VertovPeriode in seinem Schaffen auszeichnet: »All the films are in some simple sense unwatchable – the premiss of each is that the image is unable to provide the knowledge that it claims; that the camera is not a neutral recorder of reality but an essential element in the reality that is being represented. They constantly demonstrate the reality of the camera, most importantly through an emphasis on the sound, which does not work merely as the invisible complement of the image but as an autonomous element«.
11 Ironischerweise repräsentiert im Film gerade das Fernsehen den Bereich des Falschen und der Lüge, was auch Hollywood-Produktionen wie Network (1976), Broadcast News (1987) oder Truman Show (1998) zeigen.
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So ist bereits seine erste Arbeit in diesem Kontext Le Gai Savoir (1968), die keine Rücksicht auf das Fernsehpublikum nimmt und nie ausgestrahlt wurde, ein essayistischer Film über Bilder, Ideologie, ZuschauerInnen und Macht. Der Held folgt einem 3-Jahres-Plan, der in gewisser Weise Godards eigenes Schaffen reflektiert. »Im ersten Jahr werden Bilder, Töne und Experimente gesammelt. Im zweiten Jahr kritisieren wir alles, dekomponieren, reduzieren, ersetzen es und setzen es neu zusammen. Im dritten Jahr versuchen wir uns an einigen Modellen wiedergeborener Filme« (nach Sheikh 2003: 132). Eigentlich hat das Fernsehen den Kinofilm zum allgemeinen Kulturgut gemacht. Interessanterweise versucht Godard nun das Fernsehen zu nutzen, um die Sprache und die Macht des Kinos zu reflektieren und zu dekonstruieren. Er stellt gewohnte Übereinstimmungen zwischen Bild und Ton in Frage, problematisiert die Rahmen, die für die Konstruktion von Filmwirklichkeiten charakteristisch sind und zeigt die kinematographischen Gebrauchsweisen von Bildern und Tönen auf. Mit den Techniken der Fragmentierung und Segmentierung möchte Godard die Logik des Spektakels unterlaufen. Er möchte nicht Ereignisse für die Kamera reproduzieren, Filmkunst, die im Sinne Debords einen gesellschaftlich anerkannten »Ewigkeitswert« symbolisiert, sondern Ereignisse hervorbringen, die ohne die Kamera nicht existieren würden. Dabei ist er von Anfang an fasziniert von der Interaktion zwischen Leben und Kunst, Leben und Repräsentation, Ich-Identität und sozialer Identität. Früh lehnt er den phänomenologischen Ansatz von André Bazin (2004) ab, der davon ausgeht, dass die Filmwirklichkeit sich asymptotisch der im Alltag wahrgenommenen Wirklichkeit annähere. Stattdessen ist Godard in bezug auf das Kino der Auffassung: »Die Kunst ist nicht die Reflexion der Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit dieser Reflexion« (Godard nach Büttner 1999: 10). Er möchte dokumentieren, wie Ereignisse für die Kamera produziert werden. Da fiktionale Filme für Godard durch und durch ideologisch sind, sind sie kein neutrales Medium, um Wirklichkeit zu vermitteln. Dies bedeutet nun nicht, dass er den Anspruch des Dokumentarfilms teilt, »wahrer« als ein Fiktionsfilm zu sein. Er zeigt auch an dokumentarischen Techniken, wie sie funktionieren und Wirklichkeitseffekte produzieren. Beispielsweise nutzt er in Tout Va Bien (1972) das Interview, unterläuft aber die mit ihm verbundene ideologische Annahme, dass es einen direkten Zugang zur Wahrheit darstelle und der Interviewte eine faire Chance habe, seine Meinungen und Ideen auszudrücken. So geben alle Hauptpersonen Statements ab. Als der Firmenchef und der Gewerkschaftsfunktionär, gefilmt in langen Einstellungen, sich darstellen, sind
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weder die Fragen zu hören, noch weiß man, wer sie stellt. Den ganzen Film über ist man sich der Präsenz der Kamera bewusst. Die Fabrik selbst erweckt den Eindruck eines Theatersets. Die beiden Hauptfiguren, Jane Fonda und Yves Montand, unterscheiden sich als Charaktere nicht stark von ihren öffentlichen Rollen als politische Aktivisten. Durch die an Bertolt Brecht orientierten Techniken, die Distanz und Engagement bewirken sollen, gelingt es dem Film überzeugend, die Unzufriedenheit mit der Arbeit in Fabriken und im Bereich der audiovisuellen Medien zu vermitteln. Auch dieser Film war aber ein Misserfolg, da er kein Publikum fand und zudem bei der Kritik nicht ankam. »As for the Dziga Vertov films, they were made for an audience that didn’t exist at the time, and it is hard to imagine them finding a real one now. Their politics seem grotesque, if not offensive, but it is difficult to think of a more comprehensive critique of the audiovisual world of information, a world whose dominance is far greater now than when they were made« (MacCabe 2003: 237).
Godard setzt den Bildern, die einer am Markt orientierten Profitlogik folgen, eine Pädagogik entgegen, die die gesellschaftlich vorgegebenen und dominanten Rahmen der Bildwahrnehmung ablehnt. Jenseits der Vorgaben industrieller Filmproduktion möchte er den Zuschauer lehren, Bilder sehen zu lernen. In den zusammen mit Anne-Marie Miéville entstandenen Arbeiten Ici et Ailleurs (1970-1974) entwickelt er eine filmische Pädagogik des Bildes, die das Anderswo mit dem Hier verbindet und das Ereignis dieser Bewegung ins Zentrum rückt. »Godard bietet den Betrachtern seines Films nicht allein eine ideale Angriffsfläche, um selbst sehen zu lernen. Er führt die Anstrengungen eines genauen Sehens in actu vor, stellt den Vorgang des Wendens der Bilder und ihrer Loslösung aus vorgefassten Kontexten aus« (Büttner 1999: 79). Er dekonstruiert virtuelle Klischees, verkettet Bilder neu, folgt einer Logik des UND, wie Gilles Deleuze12 feststellt, und fordert zu einem aktiven Sehen und Hören auf, das die Grenzen der Wahrnehmung und die unüberschreitbare Differenz von Ton und Bild sichtbar machen möchte. Im Vergleich zu Adorno belegt Godard Bilder also keineswegs mit einem Tabu, sondern zeigt, wie sie funktionieren und versucht, sie anders funktionieren zu lassen. Die theoretische Kritik, die er in Interviews, Essays und Reden äußert, verbindet er mit einer durch die mediale Arbeit 12 In einem Interview mit Cahiers du Cinéma zu Six fois deux (1976) stellt Deleuze fest. »Die Verwendung des UND bei Godard ist das Wesentliche. Das ist wichtig, weil sich unser ganzes Denken sich eher nach dem Verb ›sein‹ richtet, nach dem IST« (Deleuze 1993: 67).
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mit Film, Fernsehen und Video artikulierten Kritik, die gleichzeitig eine Gesellschaftskritik ist. Er trifft sich mit den Cultural Studies, die in ihren Analysen mediale Texte und ihre ideologische Verfasstheit dekonstruieren, soziale Kritik artikulieren sowie die Medienkompetenz der ZuschauerInnen und ihre Handlungsfähigkeit steigern möchten. Allerdings findet sich bei den Cultural Studies keine Pädagogik des Bildes, wie Godard sie entwickelt hat, die dessen Möglichkeiten auslotet und vom emanzipatorischen Potential des Sehens überzeugt ist. Dies hängt damit zusammen, dass bisher bei der Analyse von (in der Regel) populären Filmen die Bestimmung von Lesarten und deren (politischer) Effektivität in sozialen Kontexten dominierte. Eine systematische Auseinandersetzung mit dem Werk Godards könnte im Rahmen von Cultural Studies jedoch die oft einseitige Konzentration auf den Bereich des Konsums überwinden und die Seite der Produktion von Bildern angemessener berücksichtigen. Godard kümmert sich in seinen Arbeiten nicht um die Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur. Auch für die Cultural Studies wäre es sinnvoll, souverän mit dieser lange Zeit sehr wichtigen gesellschaftlichen Grenzziehung umzugehen und alle Formen der Kultur zu analysieren und alternative Weisen der Wirklichkeitskonstruktion erkunden. Sowohl Godard als auch die Cultural Studies problematisieren aber traditionelle Formen der Wirklichkeitsdarstellung und suchen nach neuen Wegen eines produktiven Umgangs mit sozialen Wirklichkeiten. Abschließend möchte ich dies am methodologischen Ansatz der interpretativen Ethnographie zeigen, der im Kontext von Cultural Studies und qualitativer Sozialforschung in den letzten Jahren in den USA entwickelt wurde.
4 . I n t er p r e t at i v e E t hn o g r ap hi e i n d e r » c i n e m at i c s o c i e ty« Die interpretative oder auch »neue« Ethnographie ist ein Ansatz in der qualitativen Sozialforschung, der von einer kritischen Analyse der Spektakel und narrativen Strukturen des Hollywood-Films und seiner Auswirkungen auf die Gesellschaft ausgeht. Angesichts dessen, dass alltägliche an medialen Praktiken gemessen werden und im Sinne Debords und Baudrillards (1982) das Spektakel dominiert bzw. das Simulakrum, die endlose mediale Reproduktion des Realen, die »eigentliche Wahrheit« darstellt, wird in der interpretativen Ethnographie der ethnographische Realismus dekonstruiert und damit auch die Konzeption von Wahrheit, die Aussagen daran misst, dass sie Ereignisse in der realen Welt angemessen wiedergibt. Diese erweist sich als Konstruktion bzw. historische
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Fiktion, wie z.B. die feministische Kritikerin und Filmemacherin Trinh in der Tradition von Godard hervorhebt: »The belief that there can exist such a thing as an outside foreign to the inside, an objective, unmediated reality about which one can have knowledge once and for all, has been repeatedly challenged by feminist critics [...] realism as one form of representation defined by a specific attitude toward reality is widely validated to perpetuate the illusion of a stable world« (Trinh 1991: 164).
Eine hier anschließende Kritik lautet, dass der ethnographische Realismus von vornherein durch die Darstellungsformen und narrativen Strategien der Massenmedien geprägt sei und den soziologischen Diskurs in der Figur des Geschichtenerzählers mit einem notwendigen empirischen Gerüst versorge. In der zeitgenössischen Medienkultur ist jedoch eine Dekonstruktion der Opposition zwischen Fakten- und Fiktions-Diskursen erforderlich, was Godard, aber auch Erving Goffman (1977) in seinen ethnographischen Studien der eigenen Kultur bereits vorführten. Hierzu muss vor allem die Funktion von Erzählungen im Alltag und im soziologischen Diskurs bestimmt werden. Wie Charles Lemert (1997) pointiert und provokativ feststellt, besteht die Soziologie – und ähnliches gilt für die qualitative Sozialforschung – zum Teil aus Geschichten von Menschen, die sie über ihre Erfahrungen und Erlebnisse im sozialen Leben erzählen. Die interpretative Ethnographie entlarvt den realistischen Ethnographen als Voyeur, der in den Dispositiven der Überwachungsgesellschaft vorgeben kann, »authentische« Darstellungen gelebter Erfahrungen wiederzugeben (Denzin 1995). Des Weiteren erkennt sie die narrativen Strukturen in Alltag und Wissenschaft an, arbeitet sie heraus und experimentiert mit ihnen. Ereignisse, Erfahrungen und Erlebnisse existieren nicht unabhängig von ihren Repräsentationen, sondern können in ihnen Gestalt, Geschlossenheit und Kohärenz gewinnen. Deshalb kann, so die Auffassung der neueren qualitativen Forschung, gelebte Erfahrung nicht direkt wiedergegeben werden, sondern im Untersuchungsprozess und im Text, den der Wissenschaftler schreibt, wird sie in gewisser Weise erst geschaffen, was sich mit Godards Analyse der Rolle der Kamera bei der Schaffung von Filmwirklichkeiten deckt. Eine qualitative Medienforschung, die sich der interpretativen Ethnographie bedient, wird deshalb die narrativen Prozesse in Medien und Alltag ins Zentrum rücken, um der Perspektive der Informanten möglichst gerecht zu werden. Gelebte Erfahrungen sind durch soziale, institutionelle und mediale Diskurse vermittelt. Deshalb sollten im Forschungsprozess die erlebten
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Wirklichkeiten auch sozial und medial kontextualisiert werden. Nur auf diese Weise kann die Textur gelebter Wirklichkeiten in der »cinematic society« die Perspektive der Untersuchten freigeben. Ein weiterer hiermit zusammenhängender Aspekt der interpretativen Ethnographie ist ihre Selbstreflexivität. Da davon ausgegangen wird, dass es keine unvoreingenommene Forschung geben kann, kommt der Reflexivität die Funktion zu, für eigene Vorannahmen zu sensibilisieren, sich der eigenen sozialen Verankerung bewusst zu werden und offen für andere Perspektiven auf die untersuchten Welten zu sein. Das Selbst des Forschers13, seine sozialen und moralischen Verpflichtungen, seine Auffassungen werden kritisch reflektiert, um der Perspektive des Anderen gerecht zu werden. Dabei impliziert Selbstreflexivität aber nicht, dass ein »wahreres« Wissen der Welt möglich ist (Haraway 1997: 16). Für unseren Zusammenhang kommt der interpretativen Ethnographie aber auch deshalb große Bedeutung zu, weil sie die Methodendiskussion im Kontext der »cinematic society« führt, sich also fragt, welche Methoden in einer durch Spektakel geprägten Mediengesellschaft sinnvoll sind. So empfiehlt Norman Denzin z.B. die Methode des reflexiven Interviews (2003: 57-76) für die »cinematic society«, auf die ich kurz eingehen möchte, um die Parallelen und Affinitäten zu Godard noch deutlicher herauszuarbeiten. Denzin (2003: 57ff) stellt zunächst fest, dass wir in einer Second-hand-Welt von Bedeutungen leben, die durch die Medien der postmodernen Gesellschaft vermittelt werden. Die Kultur ist eine visuell dominierte Medienkultur, in der dramaturgische Inszenierungen und durch die Medien geprägte Erzählungen die Oberhand gewonnen haben. Das reflexive Interview soll nun eine Möglichkeit sein, dem Zustand Rechnung zu tragen, dass Subjektivität immer mehr durch Geschichten vermittelt wird, die durch Interviews produziert worden sind. »The reflexive interview is simultaneously a site for conversation, a discursive method, and a communicative format that produces knowledge about the self and its place in the cinematic society – the society that knows itself through the reflective gaze of the cinematic apparatus« (Denzin 2003: 58). Das Interview ist eine Bekenntnispraktik, die zu einer öffentlichen Form der Unterhaltung geworden ist. Das Stellen von Fragen, die Aufforderung, eine Geschichte zu erzählen, bringt situierte Erzählungen des 13 Auch hier gibt es eine Parallele zu Godard, auf die ich hinweisen möchte. Seine Filme sind in der Regel stark autobiographisch geprägt. So stellt Theweleit (1995: 25) fest: »Zeigen, was mit den Leuten los ist, war immer sein Begehr. Dies geht, wie in einer Psychoanalyse nur, wenn man nicht verheimlicht, was mit einem selber los ist. Godards Filme taten das nie. Dadurch haben sie die Eigenschaft, sich fortzusetzen in die Wohnorte und Lebensabläufe derer hinein, die sie sehen«.
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Selbst hervor. Denzin unterscheidet dann zwischen verschiedenen Formen des Interviews, die dem Interviewer unterschiedliche Positionen zuweisen. Im »objektiv neutralen« Format benutzt er einen strukturierten oder semi-strukturierten Leitfaden, um zu Informationen zu gelangen. Die Geschichte, die erzählt wird, wird von ihm, so seine Auffassung, nicht beeinflusst. Im Entertainment- bzw. investigierenden Format versucht der Interviewer, mit unterschiedlichen Methoden an eine Geschichte zu kommen, die er gewinnbringend verkaufen kann. Im auf Mitarbeit angelegten, aktiven Format treten die Identitäten von Interviewer und Interviewten in den Hintergrund. Eine Konversation entsteht, und eine Geschichte wird zusammen erzählt. Das von Denzin präferierte Format ist das reflexive Interview, das von einer dialogischen Beziehung getragen wird. »In this relationship, a tiny drama is played out. Each person becomes a party to the utterances of the other. Together, the two speakers create a small dialogic world of unique meaning and experience. In this interaction, each speaker struggles to understand the thought of the other, reading and paying attention to such matters as intonation, facial gestures, and word selection« (Denzin 2003: 67).
Am Beispiel von Filmen veranschaulicht er dann die unterschiedlichen Interviewformate. Dabei kommt Trinhs Film Surname Viet Given Name Nam (1989) eine Schlüsselrolle zu, weil er den Gebrauch von »objektiv neutralen« Interviews in Dokumentarfilmen, die nicht dialogisch angelegt sind, kritisch vorführt. In Dokumentarfilmen ist der Filmemacher/Interviewer ein Beobachter, der über seine Erfahrungen und Erlebnisse mit Menschen in einer realen Welt berichtet. Die ästhetischen Strategien des dokumentarischen Interviews, das auch wesentliches Element von Fernsehnachrichten und -reportagen ist, vermitteln dem Zuschauer den Eindruck, dass er unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit habe (Trinh 1991: 40). Trinhs Film dagegen ist dialogisch angelegt, die Grenzen zwischen Tatsache und Fiktion verwischen. Ebenso entpuppen sich Bedeutungen als politische Konstruktionen. Wie Godard spielt die Regisseurin mit der Rahmenstruktur von Filmen und ihren Konstruktionen von Wirklichkeiten, um vielfältige Erfahrungen zu ermöglichen. Im Anschluss an Trinh fordert Denzin deshalb eine Intensivierung von Reflexivität: »I want to cultivate a method of patient listening, a reflexive method of looking, hearing, and asking that is dialogic and respectful. This method will take account of my place as a constructor of meaning in this dialogic rela-
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GODARD FOR EVER tionship […]. I will use the reflexive interview as a tool for intervention […]. I will use it as a method for uncovering structures of oppression in the life worlds of the persons I am interviewing« (Denzin 2003: 75).
Das Forschen in der »cinematic society« erfordert neue Methoden, um deren Ideologien und Mythen zu dekodieren, eine gemeinsame Konstruktion von Bedeutungen zu erlauben und eine Politik des Möglichen zu schaffen.
S c hl u s s Mein Beitrag sollte zeigen, dass es Affinitäten und Parallelen in der Medienkritik von Godard, der Frankfurter Schule und den Cultural Studies gibt. In allen drei Traditionen ist sie in eine Gesellschaftskritik eingebunden. Während Adorno sich von den audiovisuellen Medien abwendet und auf die negative Dialektik setzt, vertiefen sich Godard und neuere Ansätze der Cultural Studies wie die interpretative Ethnographie in die Analyse audiovisueller Techniken und Strukturen sowie in die Dekonstruktion der durch sie geschaffenen Welten. Sie zeigen den Prozess- und Produktionscharakter gesellschaftlicher Wirklichkeiten auf und forschen nach Möglichkeiten, sie zu verändern. In beiden Traditionen geht es darum, die Medienkompetenz der Zuschauer zu steigern und ihre Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Godards souveräner und dekonstruierender Umgang mit der Tradition des Films enthält erhellende und weiterführende Einsichten für die zu erneuernde Methodendiskussion einer Medien- und Kommunikationssoziologie bereit, die Medienkritik mit Gesellschaftskritik verbinden möchte.
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»Z U S C H Ö N , U M W A H R Z U S E I N «. BILDKRITIK DES FERNSEHENS RALF ADELMANN Das Fernsehen in den Mittelpunkt von Überlegungen zur Bildkritik zu stellen, ist auf den ersten Blick nicht weiter ungewöhnlich. In der Fernsehgeschichte bot sein visueller Anteil immer wieder die Angriffsfläche für die Kritik am televisuellen Medium. Fernsehbildern wurde häufig jene suggestive Kraft unterstellt, die für die negativen Folgen wie Sucht, Manipulation und ›Verdummung‹ verantwortlich ist.1 Eine andere Seite der frühen Bildkritik findet sich beispielsweise bei Marshall McLuhan in einer Aussage, die im Licht seiner Medientheorie eine positive Eigenschaft des Mediums Fernsehen hervorhebt: »Das Fernsehbild ist visuell gesehen datenarm« (McLuhan 1964/1992: 357). Im Vergleich zu Fotografie und Film sieht McLuhan die Stärke des Fernsehbildes auf Seiten der Rezipienten: Durch die ›Datenarmut‹ seiner Bilder werden die Zuschauer gezwungen, ein aktives Verhältnis zum Medium aufzubauen. Dadurch ist das Fernsehen »vor allem eine Erweiterung des Tastsinns« (McLuhan 1964/1992: 378). Diese überraschende Verbindung von Taktilität und Fernsehen eröffnet die Möglichkeit einer aktiven und – im wahrsten Sinne des Wortes – begreifenden Rolle des Zuschauers. Fällt diese ›Datenarmut‹ weg, verliert sich ein wichtiges Abgrenzungskriterium des Fernsehens zu anderen Medien. Ausgehend von diesen Mediendefinitionen bei McLuhan erscheint es nach einer technikhistorischen Zäsur wie der momentanen Digitalisierung des Fernsehens durchaus sinnvoll, sich erneut zu fragen, wie sich das Medium geändert hat und wie sich Bildkritik im Sinne neuer Aktivierungsformen im Fernsehen wieder findet. In diesem Sinne wird Bildkri-
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Bei Adorno, dessen differenzierte Haltung zum frühen Fernsehen ansonsten bemerkenswert ist, kann man zur ›Verdummung‹ folgendes lesen: »Die Lücke, welche der Privatexistenz vor der Kulturindustrie noch geblieben war, solange diese die Dimension des Sichtbaren [Herv. R.A.] nicht allgegenwärtig beherrschte, wird verstopft« (Adorno 1963: 69). Diese ›Verstopfung‹ führt nach Adorno dann zu einer Verwechslung zwischen sozialer Wirklichkeit und Fernsehwirklichkeit. »Das verstärkt die Rückbildung [beim Fernsehzuschauer; R.A.]: die Situation verdummt […]« (Adorno 1963: 75).
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tik mehr als mediale und soziokulturelle Innovation im Dispositiv des Fernsehens und weniger als eine Kritik von ›Außen‹ verortet. Vor dem Hintergrund dieses kurz skizzierten Ansatzes einer Geschichte televisueller Bildkritik werden die weiteren Ausführungen einer bottom-up-Strategie folgen. Von konkreten Beispielen im Umfeld der technisch-ästhetischen Transformationen des Mediums in den letzten Jahren ausgehend werden dann allgemeinere Überlegungen zu ästhetischen Operationen des Fernsehens und zum Stellenwert der Bildkritik entwickelt. Die leitende These unterstellt eine Verlagerung der Bildkritik in das Dispositiv des Fernsehens als integraler Bestandteil seiner aktuellen Konstituierung als digitales Medium. Dabei werden zwei Begriffe als Beschreibungsebenen dieser Verlagerung aufgegriffen: Der erste Begriff »Retro-Kontrolle« leitet sich aus ›empirischen Anekdoten‹ zum Videografischen ab. Demnach beginnt die Entwicklung zu einer neuen Bildkritik des Fernsehens schon in den Praxen videografischer Visualisierungen. Mit den ästhetischen und technischen Potentialen des Videografischen verbinden sich diskursive Positionen der RetroKontrolle. Der Begriff »Retro-Kontrolle« umfasst die videografischen Phänomene eines empowerment, das sich von den Videoaktivisten der sechziger und siebziger Jahre deshalb unterscheidet, weil das empowerment im televisuellen System selbst stattfindet, weil es Teil des Diskurses ist und weil es Kontingenzen in Machtstrukturen des Medialen aufdeckt; also weil es kritisches Potential hat. Diese Retro-Kontrollen sind demnach eine Spezifik der televisuellen Kritik. Sie sind Aktivierungspotentiale, die im Dispositiv Fernsehen an ganz unterschiedlichen Stellen Kritik ermöglichen. Produktion und Rezeption, Nähe und Distanz oder mediale Form und Bedeutung gewinnen durch die Retro-Kontrolle nicht nur neue antagonistische Positionen, sondern ermöglichen neue Allianzen der Kritik. Der zweite Begriff »Re-Visualisierung« verankert diese ›empirischen Anekdoten‹ des Videografischen als Strategien einer dynamischen Ästhetik des Fernsehens. Ganz im Sinne der bottom-up-Strategie bei der Theoriebildung entsteht das Spezifische dieser Form der Bildkritik aus den jeweils aktuellen fernsehtypischen Ästhetiken der Re-Visualisierung. Im Konzept der Re-Visualisierung verbindet sich das Videografische als ein Element mit anderen Stilisierungsformen des Fernsehens. Somit wäre zu fragen, welche ästhetischen Operationen das Fernsehen zur Bildkritik in Produktion und Rezeption zur Verfügung stellt.
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1. Retro-Kontrolle Zum Einstieg in die ›empirischen Anekdoten‹ möchte ich etwas andere Geschichten einer kontrollierten Visualität des Videografischen erzählen und damit die Frage des empowerment im Videografischen neu stellen. Im Unterschied zu Film und Rundfunk, die mit ganz spezifischen Techniken und Diskursen verknüpfen werden, fehlt dem Videografischen – und infolge dessen dem heutigen Fernsehen – deren stabile materielle und diskursive Struktur. Das Videografische ist vielmehr eine flexible kulturelle, soziale und technische Formatierung, die in andere Medialitäten hineinreicht und mit Ihnen korrespondiert.2 Es ist dabei weder nur technisch determiniert, noch rein diskursiv konstruiert. In den folgenden Beispielen wird diese Seite des Videografischen als Medium der Bildkritik unter dem Fokus des binären Modells Kontrolle/Retro-Kontrolle herausgestellt. Das erste Beispiel stammt aus dem Golfkrieg 1990/91, der aus medienwissenschaftlicher Sicht, von der Simulationsthese bis zur Allmacht des Bombenblicks, zu einer Flut von kulturkritischen Beiträgen (topdown) geführt hat: Der Golfkrieg wurde als hegemonial und medial kontrolliert diskutiert sowie als Paradigmenwechsel in der Medienwissenschaft inszeniert.3 Neben diesen generellen kulturkritischen Äußerungen fehlte es aber an kleinteiligen (bottom-up) Analysen des Fernsehgeschehens. Interessanterweise fand eine der wenigen Analysen von Fernsehmaterial nicht in der Medienwissenschaft, sondern in ganz anderen wissenschaftlichen Feldern wie der Physik statt. Zur Kontrolle der militärischen Lage trugen damals angeblich die Patriot-Raketensysteme zur Abwehr der irakischen SS-1 Raketen, von der NATO »Scud« genannt, bei. Die Patriots sollten Israel und SaudiArabien vor möglichen konventionellen, chemischen und biologischen Angriffen schützen. Als sich der Kriegsnebel etwas verzogen hatte, kamen Zweifel an der angeblich fast hundertprozentigen Wirksamkeit der Patriot auf (Nach den ersten Erfolgsmeldungen wurden 45 von 47 Scuds abgeschossen). Und diese Zweifel wurden durch Videos bzw. Videoanalysen genährt. Das Ausgangsmaterial für diese Analyse stammte unter anderem von Live-Schaltungen verschiedener US-Sender nach Israel und Saudi-Arabien, die als Nebenprodukt ›zufällig‹ irakische Scud-Angriffe 2
3
Das Videografische umfasst mehr als nur den engen Rahmen analoger oder digitaler Videotechnik. Zum Videografischen gehören Dateiformate, materialunabhängige ästhetische Optionen, Verwendungsweisen usw. Dieser Paradigmenwechsel und andere kulturkritische Anmerkungen wurden insbesondere von Paul Virilio vertreten, der vom »ersten Fernsehkrieg in der Geschichte« (Virilio 1993: 147) und der Reduktion des Krieges »auf ein Bild [Herv. P.V.]« sprach.
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aufzeichneten. Dies war möglich, da die Korrespondenten meist neben ihren Satellitenantennen auf Haus- oder Hoteldächern ihre Berichte sendeten. Im Hintergrund dieser Korrespondentenberichte, wurden in späteren Sichtungen des Materials am Videohimmel einige Scud-Angriffe und dadurch ausgelöste Patriot-Abwehrversuche entdeckt. Die beiden MIT-Mitarbeiter und Physiker George Lewis und Theodore Postol (Lewis/Postol 1993) analysierten das Videomaterial der Sender zusammen mit eigenen Aufnahmen der US-Army (die am 31.03.1992 einen Bericht unter dem Titel: »Analysis of Video Tapes to Assess Patriot Effectiveness« veröffentlicht hatte). Am Ende dieser Videoanalysen zeigte sich, dass keine einzige Scud-Rakete effektiv durch die Patriots abgeschossen wurde.4 Dieses Ergebnis wurde sowohl in der scientific community als auch in einem Kongressausschuss diskutiert und zwar ganz im Sinne des kritischen Potentials von Kontrolle und Retro-Kontrolle: Die Videoanalyse entmystifizierte einerseits die These vom perfekten Fernsehkrieg und andererseits diente sie der Verbesserung der im Golfkrieg militärisch nutzlosen Patriot-Raketensysteme. Nun könnte man vielleicht einwenden, dass über den film- und fernsehwissenschaftlichen Kontext hinaus in der Wissenschaft Videoanalysen seit langem üblich sind und diese Vorgehensweise der beiden Physiker somit kein neues Verfahren darstellt. Dagegen steht meines Erachtens eine epistemologische Differenz in den jeweiligen Praxen der Wissensproduktion. Diese Praxen markieren eine qualitative Differenz zwischen unter Laborbedingungen entstandenem, das heißt für wissenschaftliche Zwecke erstelltem Material, und der Zweitverwertung von frei zugänglichen Nachrichtenaufzeichnungen. Gerade in dieser analytischen Zweitverwertung, die unmittelbar durch das Videografische ermöglicht wird, entfaltet sich das Potenzial des Modells Kontrolle/RetroKontrolle. Dieses Modell ermöglicht die Problematisierung verschiedener Diskursebenen in einem medialen Kristallisationspunkt. Durch basale videografische Operationen wie Aufnahme, Wiederholung und Zeitlupe war das Versagen der Patriot-Raketensysteme für jeden Fernsehzuschauer beobachtbar.5 In der Retrokontrolle der Videoaufnahmen der Scud-Abschüsse wird ein diskursives Spektrum von der Kontrolle der Kriegsbilder über die Kontrolle durch Fernsehsender mit ihren one-to-many Verbreitungs4
5
Die Ereignisse werden hier etwas verkürzt dargestellt. Wichtig für die weitere Argumentation ist nur, dass aus dem Videomaterial im Nachhinein (also in Form einer Retro-Kontrolle) neue Bedeutungen gewonnen wurden. In der aktuellen Berichterstattung hätte der aufmerksame Zuschauer/Journalist/Wissenschaftler beobachten können, wie aufsteigende Abwehrraketen die niedergehenden Sprengköpfe der Scuds verfehlen oder unkontrolliert am Boden explodieren.
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strukturen bis zur militärischen und politischen Kontrolle über die Ereignisse aufgefächert. In der Vielfältigkeit diskursiver Effekte, die durch die Zeit- und Bildmanipulationen des Videografischen ermöglicht werden, liegt die neue Qualität des empowerment. Während der letzten Jahre wurde diese Zweitverwertung und damit ein Modus der Kontrolle/RetroKontrolle in den televisuellen Diskurs immer stärker eingebunden. In der zweiten ›empirischen Anekdote‹ ist das videografische Verfahren der Kontrolle/Retrokontrolle schon tiefer in den militärisch-politischen Diskurs eingedrungen. Im Kosovo-Krieg 1999 wendet die NATO ähnliche videografische Verfahren bei der Präsentation eines angeblich versehentlichen Angriffs auf einen Personenzug an. Am 12. April 1999 sterben bei diesem Raketenangriff von NATO-Flugzeugen auf die Leskovac-Brücke bei Grdelicka mindestens vierzehn Zivilisten. Um dieses Vorfall zu erläutern, präsentiert der NATO-Oberkommandierende (US-General) Wesley Clark am nächsten Morgen auf einer Pressekonferenz die Videos, welche die Kameras aus den beiden Raketenköpfen aufgenommen haben (Abb. 1). Ausgerüstet mit einem überdimensionierten Zeigestock betont Wesley Clark die kurze Reaktionszeit des Piloten zwischen Zielerfassung und Feuer und entschuldigt mithilfe der auf der Pressekonferenz analysierten und ausgedeuteten Videobilder den ›Fehler‹, dass die Raketen neben dem eigentlichen Ziel der Brücke auch einen Personenzug getroffen hatten. Das Zusammentreffen von Rakete und Zug, so die Deutung der Videobilder durch Wesley Clarke, sei ein unglücklicher Zufall (Abb. 2).
Abb.2
Abb.1
Durch die nachträgliche Recherche von Journalisten6 stellt sich heraus, dass nicht der Pilot, sondern der dafür zuständige Waffensystemoffizier die Rakete per Steuerknüppel lenkt und dass die Zeit auf dem Videoband mehrfach schneller läuft als Realzeit. Durch Zeitmessungen am Video6
Vgl. hierzu den Artikel von Arnd Festerling »Ja, das Video läuft wesentlich schneller« in der Frankfurter Rundschau vom 06.01.2000 (Seite 7). Für diesen Hinweis danke ich Judith Keilbach.
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material belegt, müsste der Zug sonst über 300 Stundenkilometer fahren. Ein weiteres Indiz ist das Fehlen der normalerweise vorhandenen Uhr in den Statusanzeigen der Videobänder. Auf diese Ungereimtheiten angesprochen, gibt die NATO später die zeitliche Raffung des Bandes zu, erklärt sie aber mit Problemen in der Computerhardware, die beim Überspielen der Videos in das MPEG-Format die Raffung automatisch und unbemerkt vorgenommen habe. Wie schon im ersten Beispiel ermöglicht das Videografische, das Analysematerial einer Retro-Kontrolle zu unterziehen. Durch diese nachträgliche Hermeneutik der videografischen Bilder durch die NATO und durch die Journalisten wird ein diskursiver Effekt erzielt, der die Wissensgenerierung aus dem Videomaterial vervielfacht und Eindeutigkeiten definitiv abbaut. Letztlich sind wie im berühmten Fall des Rodney King Videos Frei- und Schuldspruch aufgrund ein und desselben Videobandes möglich. In den bisherigen Beispielen wurde das kritische Potenzial des Videografischen mehr von den diskursiven Rändern an das Televisuelle herangetragen durch wissenschaftliche, militärische und journalistische Analysen. Im dritten und letzten Beispiel wird die Hermeneutik der Videobilder und damit das binäre Modell von Kontrolle/Retrokontrolle direkt in die televisuellen Strukturen und die Bildlichkeiten des Fernsehens eingeführt. In einem Beitrag der TAGESTHEMEN vom 22.03.2003 wird Videomaterial von embedded correspondents von CNN im Irak-Krieg durch einen ehemaligen Militär und einen Journalisten ausgedeutet und analysiert. Die videografische Retro-Kontrolle wird somit endgültig zum integrativen Bestandteil der Objektivitätskonstruktion von Nachrichtensendungen. Das CNN-Video läuft am Schnittcomputer auf mehreren Monitoren, wird immer wieder angehalten und vom Duo Journalist und Experte einer kritischen Bildanalyse unterzogen (Abb. 3). Zur Verdeutlichung einige Zitate aus dem Beitrag im Kontext des dazu gezeigten Videomaterials: »Zu schön, um wahr zu sein« (Abb. 4), »Das ist zu perfekt, um echt zu sein«, »vorbereitet und gestellt« (Abb. 5), »Die Experten lassen sich nicht täuschen. Ihr Urteil: Diese Bilder sind inszeniert« (Abb. 3), »Noch ein Fehler: Laufen mit dem Rücken zum Feind. Unrealistisch« (Abb. 6).
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Abb.3
Abb.4
Abb.5
Abb.6
An diesem Beispiel zeigt sich, dass es dem televisuellen Diskurs in besonderer Weise gelingt, mithilfe der videografischen Verfahren der Kontrolle/Retro-Kontrolle die kritische Distanzierung zu sich selbst aufzubauen. Die Hermeneutik der Videobilder erlaubt es fast in Form einer Filmkritik, einen Verriss mit der Kommentierung am Schnittplatz abzuliefern. Dieses Verfahren ist strukturell dem der televisuellen Kommentierung von Videomaterial aus Überwachungs- oder Home Video-Kontexten ähnlich. In Formaten wie PLEITEN, PECH UND PANNEN oder DIE DÜMMSTEN MITARBEITER DER WELT erreicht das Videomaterial seine narrative Kohärenz durch die Tonspur aus Off-Kommentar und Soundtrack, welche die Collagen des Dokumentarischen zusammenhalten. Ähnliche Verfahren ließen sich für Zeitlupenaufnahmen und Wiederholungssequenzen im Sportfernsehen nachweisen. Die videografischen Effekte der Kontrolle und Retro-Kontrolle entwickeln im televisuellen Raum eine Produktivität, die mit Verfahren der Analyse (vergrößern, anhalten, Zeitlupe, wiederholen usw.) und einer Hermeneutik der Videobilder erreicht wird. Im gezeigten TAGESTHEMENBeitrag werden Kategorien des Authentischen, des Realen, des Echten usw. als ästhetische Verfahren diskutiert und dadurch gleichzeitig im Fernsehen beobachtbar gemacht.
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Nichts ist leichter, als im Fernsehen über ›die Medien‹ zu sprechen und damit die eigene mediale Situiertheit transparent werden zu lassen. Als rhetorische Operation der Distanzierung kennen wir dies aus den vielen Fernsehsendungen über ›die Medien‹. Die Implementierung einer Bildkritik ist dagegen als visuelle Strategie des Fernsehens ein relativ neues Phänomen.
2. Re-Visualisierung7 Mit dem Begriff der Visualisierung werden Prozesse der Sichtbarmachung und des Sehens angesprochen und in Bezug auf das Fernsehen beispielsweise Schrift, Sprache und andere Gestaltungsmittel in die Ebene visueller Phänomene integriert, wie sie insbesondere auf den Oberflächen von MTV, CNN, Bloomberg TV oder QVC auftreten. In den Verfahren der Re-Visualisierung steckt das ästhetische Potential des Fernsehens selbst und sie demonstrieren wie in den zuvor geschilderten ›empirischen Anekdoten‹ welche Effekte dieses ästhetische Potential hat. Demnach ist meine These, dass für eine aktuelle Bildkritik des Fernsehens ästhetische Prozesse (z.B. das Videografische) und die Transformation des Dispositivs (durch die Digitalisierung) wichtige Faktoren darstellen. Diese Frage nach der Ästhetik lenkt die Aufmerksamkeit auf die visuelle Stilisierung. Die Prozesse der Stilisierung werden dabei als eine vorübergehende Verfestigung oder Verhärtung bestimmter ästhetischer Formen wie beispielsweise das Videografische, splitscreens, Textlaufbänder, Computeranimationen, auteur-Stile usw. verstanden, die sich in den Re-Visualisierungen des Fernsehens beobachten lassen. Die heutige dispositive Struktur des Fernsehens erlaubt ein breites Spektrum an möglichen Bildquellen. Es gibt nicht die eine konsistente Materialebene des Fernsehens, sondern jedes visuelle Element kann verwendet werden. Daraus generiert sich ein Feld der Visualisierungen, das keine typischen Bilder produziert, aber durchaus spezifische Ästhetiken wie das Videografische prozessiert. In die Visualisierungen des Fernsehens geht damit die Bildproduktion aus anderen Medien- und Diskursbereichen ein. In Formaten des Reality-TV oder der Dokumentar- und Nachrichtensendungen werden Computeranimationen, Infrarot und Ultraschallaufnahmen sowie Videomaterial aus Überwachungskameras oder aus privaten Camcordern eingebracht. Vor dem Hintergrund dieser Re-Visualisierungen erklären sich
7
Meine Bemerkungen zu Re-Visualisierungen basieren auf gemeinsamen Überlegungen mit Markus Stauff (vgl. Adelmann/Stauff 2005).
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die Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Fernsehästhetik. Gleichzeitig entstehen durch die televisuelle Vielfalt mögliche Orte der Bildkritik. Demnach erlaubt der televisuelle Diskurs eine immense Variation in seinen visuellen Stilen und gleichzeitig eine exzessive Markierung von und Auseinandersetzung mit Bildhaftigkeit. Die Beispiele des Videografischen als Verfahren der Kontrolle/Retro-Kontrolle haben verschiedene Stufen der televisuellen Integration dieser Bildkritik als dynamischen Prozess in den Visualisierungen selbst gezeigt. Eine Geschichte der Bildkritik als integrales Element einer Stilgeschichte des Fernsehens müsste in Ergänzung zum externen Beobachterstandort der Kulturkritik erst noch geschrieben werden. Aktuelle Beispiele wie die Verwendung von privatem CamcorderMaterial in der televisuellen Ausarbeitung der Flutkatastrophe Ende 2004 demonstrieren die Potenziale dieser Bildkritik, die durch visuelle Werkzeuge wie den Lichtkreis Evidenzen erzeugen, die in anderen medialen Konstellationen und Praxisbereichen als Wissensprozess etabliert wurden (Abb. 7 und 8).
Abb.7
Abb.8
Die Gegensätze von Naturalisierung und Artifizialisierung des Bildmaterials werden bei diesen und anderen Re-Visualisierungen aufgelöst und können durch ihre Stilisierung nicht mehr getrennt betrachtet werden. Das Artifizielle der bearbeiteten Camcorderaufnahmen erzeugt die Evidenz des Gesehenen. Augenblicklich können die Visualisierungen anderer Medien zu einer kritischen Instanz werden, weil sie scheinbar von ›Außen‹ in die Fernsehbilder eindringen. Die Kommentierung, die Montage und die visuelle Bearbeitung durch den Lichtkreis stehen nicht im Kontrast zur ›Authentizität‹ der Camcorder-Aufnahmen der Flutwelle, sondern sind Teil dieser Re-Visualisierung als eine dokumentarische Stilisierung. Die visuellen Flächen werden zu Objekten expliziter und extensiver Befragung und erhalten gerade dadurch visuelle Prägnanz und Überzeu-
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gungskraft. Die videografischen Effekte der Kontrolle/Retro-Kontrolle haben diese dynamische Konstruktion von Evidenz demonstriert. Die bildkritische Reflexion auf ›andere‹ Visualisierungen und deren Medialität schließt die strategische oder ideologische Produktivität von Fernsehbildern keineswegs aus. Eine Bildkritik hat demnach immer noch diese klassische Funktion von Kritik. Voraussetzung für die Untersuchung dieser strategischen Produktion ist allerdings die Verschiebung des Kritikerstandortes von ›außen‹ nach ›innen‹. Diese erkenntnistheoretische Bewegung veranschaulichen die ›empirischen Anekdoten‹, in denen Bildkritik mit Mitteln des Videografischen arbeitet oder auf der Ebene des Visuellen situiert wird. Zum Schluss bleibt die Frage, inwieweit die Re-Visualisierungen das Dispositiv Fernsehen verändern. Aus den ›empirischen Anekdoten‹ wird deutlich, dass aus den Bezügen des Fernsehens auf andere Medien keine einheitlichen Stile und keine kohärente Ästhetik entstehen können. Durch ihren transformativen Charakter sind Re-Visualisierungen nur untaugliche Mittel einer Mediendifferenzierung. Stattdessen bilden sie Transformationspotentiale in Produktion und Rezeption, die zur unspezifischen Bestimmung des Fernsehens beitragen. Fernsehen realisiert sich und produziert seine Machteffekte, indem es sich in seinen Visualisierungen und Re-Visualisierungen ständig strategisch neu positioniert. Als ein Effekt der ständigen Re-Visualisierungen lässt sich im heutigen Fernsehen die Bildkritik bezeichnen. Dadurch erhält Fernsehen seine Machteffekte nicht ausschließlich aus seiner Definition von ›Welt‹, ›Realität‹, ›Ereignis‹ usw., sondern aus der steten Neu-Definition seiner eigenen dispositiven Verfasstheit, die immer auch die Praktiken von Produktion und Rezeption mit einschließt. Somit stellt sich Fernsehen fortlaufend in Frage und ist demnach selbstkritisch. Gleichzeitig bestätigt es sich durch die Möglichkeiten anderer Visualisierungen und erneuert damit immer wieder die Voraussetzungen und die Effekte von Bildkritik.
Literatur Adelmann, Ralf/Stauff, Markus (2005): »Ästhetiken der Re-Visualisierung. Zur Selbststilisierung des Fernsehens«. In: Oliver Fahle/Lorenz Engell (Hg.), Philosophie des Fernsehens, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag, S. 55-76. Adorno, Theodor W. (1963): »Prolog zum Fernsehen«. In: Ders. (Hg.), Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 6980.
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Lewis, George N./Postol, Theodore A. (1993): »Video Evidence on the Effectiveness of Patriot During the 1991 Gulf War«. Science & Global Security 4,1, S. 1-63. McLuhan, Marshall (1964/1992): Die magischen Kanäle, Düsseldorf u.a.: Econ. Virilio, Paul (1993): Krieg und Fernsehen, München, Wien: Carl Hanser Verlag.
Abbildungsverzeichnis Abb. 1 und 2: Pressekonferenz der NATO mit General Wesley Clark am 13. April 1999; Ausschnitt aus einem Bericht der TAGESSCHAU. Abb. 3-6: Bericht über embedded correspondents während des Irakkrieges in den TAGESTHEMEN vom 22.03.2003. Abb. 7 und 8: Videomaterial aus privaten Camcordern in einem Bericht des RTL NACHTJOURNAL vom 31.12.2004.
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K R I T I K D E R M E DI E N A L S U N T E R H A L T U N G . H A R A L D S C H M I DT A L S M O D E R N E R H O F N A R R ? JO REICHERTZ Fische, die gegen das Wasser predigen, werden gebraten. (Autor unbekannt)
Es passierte Anfang Februar im Jahr 2005. Ort des Geschehens: die alte ARD. Harald Schmidt war schon fast am Ende seiner Late Night Show. Vorgegeben war wohl eine medienübliche ›Übergabe‹ der Zuschauer an die nachfolgende Sendung. In diesem Fall war dies das Berlin-Magazin Polylux, moderiert von Tita von Hardenberg. Schmidt kündigte seine Kollegin nun mit den Worten an, die ARD räume der Moderatorin mit dieser Sendung etwas Zeit zum »Üben« ein. Nicht nur die so geschmähte Moderatorin war beleidigt, auch einige Medien fanden, dass dies zu weit ginge und forderten Schmidt öffentlich auf, sich zu entschuldigen – was dieser auch tat, wenn auch mit doppelbödigen Worten, die den politisch Korrekten Genüge taten und sie zugleich lächerlich machten. So gab er in einer der folgenden Sendungen zu Protokoll, dass er sich missverstanden fühle. Natürlich sei Polylux »eine der ganz großen Sendungen im deutschen Fernsehen« und die Moderatorin sei »eine großartige Frau«. Und: Polylux sei sein »persönlicher Programmtipp« Und: »Bleiben Sie dran!« (vgl. Berliner Zeitung vom 19.02.2005: 30). Spöttischer geht’s nimmer, aber kritisch genug? Die Entscheidung, nach einer langen Arbeitszeit bei dem Privatsender SAT 1 jetzt bei der ARD, seiner alten Heimat, sein Werk fortzusetzen, ist Harald Schmidt offensichtlich nicht leicht gefallen. Dennoch hat er letztlich den Arbeitgeber gewechselt – wenn auch nur für acht Millionen Euro Gage per Annum. So antwortete er noch im Sommer 2003, also als sein Vertrag mit der ARD noch in weiter Ferne war, auf die Frage, ob er sich vorstellen könne, noch einmal für die ARD zu arbeiten, mit folgenden Worten: »Wenn Sie mal Claudia Schiffer gebumst haben, ziehen
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Sie auch nicht mehr zu Ihrer Mutter« (Spiegel 2004, 52: 92).1 Ziemlich kritisch, aber kritisch genug? Für einige Zeit war es ein running gag von Dirty Harry: der eher weniger denn mehr versteckte Hinweis, dass man sich nämlich außerhalb der öffentlich rechtlichen Fernsehsender im Unterschichtfernsehen befände – »wobei das ja nicht nur von der Unterschicht gesehen wird – sondern auch von der geistigen Unterschicht, zu der ich unbedingt auch die Arztfrauen zähle, also den geistigen Slum« (Zeit vom 24. Feb. 2005: 61). Es waren nicht die deutschen Ärzte, die ob dieser Bemerkung aufschrieen, sondern RTL, SAT 1, Pro 7 & Co., die fürchteten, sie könnten die Hersteller anspruchsvoller Waren als ihre Werbekunden verlieren. »Völlig absurd!« nannten sie Schmidts Spott, Einschaltquoten wurden publiziert, die belegten, dass der höchste Anteil der Besserverdienenden bei Wer wird Millionär? (RTL) vor dem Fernseher sitzen und dass der Musikantenstadl im öffentlich-rechtlichen Raum stattfindet (vgl. Die Welt vom 31. März 2005). Der Focus bestätigte in einer Titelstory Schmidts (bei Paul Nolte 2005) gefundene Erkenntnis von denen da unten, die privat gucken. Der Spiegel kommentierte, die Süddeutsche auch2. Kritik mit Folgen, so scheint es.
1 . M e d i e n k r i ti k – K r i ti k i n d e n M e d i e n o d e r K r i ti k an d e n M e d i e n ? Ohne Zweifel würde man im deutschen Sprachraum (wenn auch nicht in jedem Sprachspiel3) die oben wiedergegebenen Äußerungen Schmidts 1
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Diese Äußerung Schmidts ist in einem Spiegel-Interview gefallen und in eben diesem Spiegel findet sich die Großschreibung von ›Ihrer‹. Da davon auszugehen ist, dass Spiegelredakteure der Rechtschreibung mächtig sind, habe ich diese Schreibweise übernommen, was der Äußerung Schmidts noch eine besondere kritische Note in Richtung Printmedien gibt. Fraglich ist nur, wie die Redakteure die Großschreibung heraus gehört haben. Symptomatisch für die deutsche Kulturdebatte ist (und das zeigt vielleicht, dass ein Schmidtwort zumindest auch mal einen Sturm im Wasserglas auslösen kann), dass es Schmidts Gag vom Unterschichtfernsehen war, der den deutschen leitenden Printmedien ein paar Artikel wert war. Ähnliche Befunde von Medienwissenschaftlern, Soziologen und Politikwissenschaftlern riefen dagegen nur geringes Medienecho hervor (Nolte 2005; Reichertz 2000). Lange Zeit wurde in der Gruppe der von der Frankfurter Schule beeindruckten Sozial- und MedienwissenschaftlerInnen und GymnasiallehrerInnen der Begriff ›Kritik‹ synonym mit dem Begriff ›Ideologiekritik‹ verwendet. Typisch für diese Position ist folgende Formulierung: »In einer durch Herrschaftsverhältnisse geprägten Gesellschaft ist die Wirklichkeitserfassung der Menschen durch deren reale gesellschaftliche Stellung verzerrt. […] Auch die Ideologiekritik kritisiert Vorstellungen, aber sie tut dies nicht im Namen wissenschaftlicher ›Objektivität‹, sondern im Vorgriff auf die reale Möglichkeit der Verwirklichung einer humanen Gesellschaft« (Bürger 1975: 2ff).
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KRITIK DER MEDIEN ALS UNTERHALTUNG
›kritisch‹ nennen – wird doch hier von Harald Schmidt etwas beurteilt, zu etwas Stellung genommen. Genauer: Schmidt tadelt mit seinen Worten, er beanstandet etwas – er kritisiert halt. Einige würden die Äußerungen Schmidts sogar ›sehr kritisch‹ nennen. Für andere wären es nur Beleidigungen, für wieder andere ein (wenn auch geschmackloser) Spaß. Ist Harald Schmidt damit also ein Kritiker des Fernsehens oder gar ein Kritiker der Medien, vielleicht sogar der einzige wahre? Kritik wird im Fernsehen aber nicht nur von Schmidt geäußert, auch wenn seine Kritik schon etwas Besonderes ist. Kritik gibt es bei näherer Betrachtung überall im Fernsehen, auf allen Programmen. Auch Kritik am Fernsehen. Auch Kritik an seinen Machern, an Moderatoren, an Formaten, an Sendungen, an Prominenten, an der Politik, an der Wissenschaft und natürlich auch an den Medien. Das Fernsehen, öffentlichrechtliches wie privates, bietet geradezu eine Fülle von (oft auch gern gesehenen) Sendungen, in denen besorgte Redakteure mit ernstem Gesicht über die Gewalt in den Medien, über die Verdummung der Menschen im Allgemeinen und der Kinder und Jugendlichen im Besonderen, über die Rolle der Medien bei der Zerstörung der öffentlichen und politischen Kultur sprechen (siehe auch: Kohn 1996). Im Fernsehen gesendete Selbstanklagen gibt es also reichlich. Was davon ist nun Medienkritik, also Kritik an den Medien, und welche Aufgabe hat sie? Kann man im Fernsehen das Fernsehen kritisieren?4 Gewiss kann man im Fernsehen die Inhalte des Fernsehens kritisieren, denn gegenüber Inhalten ist das Medium (fast) neutral, aber kann man auch die Botschaft des Fernsehens kritisieren, ohne ihr selbst zu verfallen. Welche Medien sollen überhaupt Kritik formulieren und in welchem System? Und wer ist zuständig zu beurteilen, welches Medium für Kritik zuständig ist. So erübrigt sich die Frage, ob das Speicher- und Transportmedium ›Eisenbahn‹5 oder deren Beschäftige, also Zugführer oder 4
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Erinnert sei in diesem Zusammenhang hier nicht nur an die schönen, wenn letztlich im Fernsehen nicht erfolgreichen Versuche von Schlingensief, das Talkformat im Fernsehen zu kritisieren, sondern auch an die Punkbewegung, die ja mit ihrem Outfit, ihrem Verhalten und ihrer (sehr schlichten und schlampig gespielten) Musik nicht nur die Gesellschaft kritisierte, sondern vor allem das damals schon vorhandene Rock-und-Pop-Establishment mit seiner (durchaus als Schließungsmerkmal genutzten) Heroisierung musikalischer Virtuosität (Lau 1992). Die Eingemeindung des Punk in die Musikindustrie hat nicht nur gezeigt, dass mit Musik nur schwer gegen Musik vorzugehen ist, sondern auch, und das ist vielleicht der historische ›Verdienst‹ des Punk, dass bewusstes Nichtskönnen als Akt der sozialen Rebellion dargestellt und gefeiert werden kann. Für Medientheoretiker in der Tradition von McLuhan ist die Eisenbahn ohne Zweifel ein Medium, sogar eines, das am Siegeszug der Industrialisierung und der Internationalisierung der Produktions- und Handelsbeziehungen und damit auch am Erfolg des Kapitalismus maßgeblichen Anteil hatte. Möglicherweise Gründe genug, das Medium einer grundlegenden Kritik zu unterziehen.
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Schaffner, die Aufgabe haben, Kritik an der Bahn, der Gesellschaft oder der Wirtschaftsform zu formulieren, oder genügt es, wenn sie Kritiker transportiert – so sie denn den Fahrpreis gezahlt haben, nicht randalieren und nicht die Notbremse ziehen. Alle diese Fragen sind ohne Zweifel wichtig, doch kann und will ich hier darauf nicht eingehen – einfach deshalb, weil sie mir zu ›groß‹ erscheinen. Ich möchte mich hier mit einer sehr viel ›kleineren‹ Frage beschäftigen, nämlich der, ob die Entertainer des Fernsehens, also öffentliche, auf die Bedürfnisse bestimmter Zielgruppen hin entworfene Personen (= personae6) wie Harald Schmidt, Thomas Gottschalk, Günter Jauch, Jürgen von der Lippe, Anke Engelke, Gaby Köster. Stefan Raab, Oliver Pocher, Atze Schröder, Elton und viele andere mehr das Erbe der Hofnarren angetreten haben oder soziologischer: ob die Entertainer der heutigen Tage ein funktionales Äquivalent zu den Narren der alten Tage darstellen. Die Hofnarren interessieren mich deshalb, weil nach der offiziellen Geschichtsschreibung es allein die Hofnarren waren, denen es nicht nur erlaubt, sondern geboten war, Kritik an ihrem Dienstherrn, also am jeweiligen Herrscher öffentlich in scherzhafter Form vorzutragen.7 Ihr Geschäft war dementsprechend die immer währende Hofkritik. Natürlich hätte man auch die Rolle und die Bedeutung des Intellektuellen (Sartre, Koestler, Jens, Grass etc.) und hier insbesondere die des Medienintellektuellen (Bolz, Sloterdijk etc.) in den Blick nehmen können, doch hierzu liegen bereits hinreichend anregende und informative Arbeiten vor (z.B. Foucault 2005, Chomsky 1969, Marcuse 1971, Gramsci 1983, Lepenies 1992, Brunkhorst 1990, Bourdieu 1991 und 1998, Habermas 1981 und 1990, natürlich mit neuem Vorwort). Demnach hat sich das Verhältnis der Intellektuellen zu den Medien, so der fast durchgängige Befund, grundlegend gewandelt: »Die Medien für eigene Zwecke als Öffentlichkeitsorgan und Verbreitungsagenturen zu nutzen, ist dem Intellektuellen schon immer zu eigen gewesen. Mittlerweile subordiniert ihn allerdings die Systemlogik der Massenmedien. 6
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Zum Konzept und der theoriestrategischen Bedeutung der ›persona‹ innerhalb parasozialer Interaktion und der Theorie der Medienkommunikation siehe Horton & Wohl (2001) und Vorderer (1996). Zumindest aus Andersens Märchen ist noch eine andere öffentliche Kritik am Herrscher bekannt – nämlich die des Kindes, das angesichts des unbekleideten Kaisers ausruft: »Aber der hat ja gar nichts an.« Diese kindliche Feststellung veranlasst den Vater zu dem Ausruf: »O Himmel, hört die Stimme der Unschuld!« (Andersen 1980: 283). Dieser Topos vom unschuldigen Kind, das in Unkenntnis der Konventionen einfach nur die Wahrheit sagt, wird auch heute gerne noch bemüht, doch keiner weiß so recht, was das Kind denn nun wirklich sieht. Entertainer unserer Tage versuchen erst gar nicht, sich der Figur des ›unschuldigen Kindes‹ zu bedienen – aus gutem Grund.
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KRITIK DER MEDIEN ALS UNTERHALTUNG Der Intellektuelle wird medialisiert – so wie die Massenmedien längst andere Gesellschaftsbereiche von ihren Gesetzen abhängig gemacht haben. Die Massenmedien warten nicht auf den kritisch-moralischen Gestus und lassen ihn auch nicht ungehindert passieren. Sie entscheiden selbst, wen sie wann als Intellektuellen auftreten lassen« (Altenschmidt/Ziemann 2005: 6).
Die harschen Worte, die Bourdieu für die Medienintellektuellen, die in seinen Augen vor allem Kollaborateure sind, gefunden hat, sollte man selbst nachlesen (Bourdieu 1998).
3 . D e r F r a n k f u r t e r M y th o s v o m H o f n ar r e n Der Soziologe Wolf Lepenies, der sich durchaus als Kritiker der Kulturindustrie verstand, hat vor gut dreißig Jahren in seinem Buch Melancholie und Gesellschaft die These aufgestellt, der ›Entertainer‹ der Neuzeit sei durchaus mit dem Hofnarren des Mittelalters zu vergleichen (Lepenies 1969: 94). Auch wenn Lepenies mit seiner Bemerkung nicht unbedingt die Entertainer des deutschen Fernsehens meinte, möchte ich seine Überlegungen zum Anlass nehmen, etwas systematischer über seine These nachzudenken, Um dies zu leisten, muss erst einmal der Argumentationsgang von Lepenies dargestellt werden. Zum mittelalterlichen Hof gehörte – so der Ausgangspunkt der Argumentation von Wolf Lepenies – ein allgemeines Freudegebot und damit verbunden auch ein allgemeines Melancholieverbot. »Vom Hofe muß die Melancholie verbannt bleiben; Herrschaft kann Traurigkeit nicht dulden – gesteht sie allenfalls dem Herrscher als Privileg zu« (Lepenies 1969: 90). »Die zu verwirklichende Totalität des verplanten, in Gesellschaft fugenlos aufgehenden Lebens kennt keine Trauer«, so Lepenies weiter, »weil sie ja gerade das Glück fabrizieren will« (ebd.: 91). Glück will das Leben am Hof des Mittelalters also in dieser Sicht der Dinge produzieren und der Hofnarr soll durch sein Tun, seine Kapriolen, sein Späße, seine Narreteien maßgeblich an dieser Fabrikation des Glücks mitarbeiten: Der Hofnarr erscheint hier als ein »Entlastungsfunktionär« (ebd.), der die Melancholie und Langeweile des Herrschers und der Herrschenden zu vertreiben hatte. Er darf und soll Dinge sagen, die vom Konsens der Herrschenden abweichen, und so lange die Kritik in wohl gesetzten Worten daherkommt und im Rahmen der Narretei verbleibt, kritisieren die Narren, ohne wirklich kritisch zu sein. Der Todeskampf der Hofnarren begann, als die Literaten aufkamen und am Hofe begannen, folgenlos die Herrscher zu loben und zu kritisieren und so in Konkurrenz zu den Narren gingen. Die Literaten waren die
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ersten, die den Narren das Terrain streitig machten. Endgültig starb der Narr, so Lepenies, aber erst mit dem Niedergang der Königshäuser – also etwa gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Er wird arbeitslos, weil das aufsteigende Bürgertum keine Melancholieaustreiber mehr benötigt. Die Narren dieser Zeit, die Dandies und Flaneure, legen sich die Attitüde des Adels zu, aber sie vertreiben nicht mehr die Langeweile eines Publikums, sondern vor allem die eigene (ebd.: 93). Der Dandy erscheint als ›Hofnarr ohne Publikum‹. »Seines Publikums beraubt, spielt er für sich. […] Der Flaneur und der Dandy stabilisieren mit ihren Attitüden der Exzentrizität kein System, sondern nur sich selbst: wie der Flaneur gegen den Produktionsprozess, so protestiert der Dandy gegen die Alltagsnorm. Flaneur und Dandy schnurren ein Programm ab, das nicht mehr der Gesellschaft dient, die es aus Distanz genießt, sondern nur mehr dem, der es produziert« (ebd.: 94).
Nach den Literaten, den Flaneuren und den Dandies waren es, so eine Vermutung Lepenies, die Wissenschaftler, und hier vor allem Wissenschaftler, die sich als Teil einer freischwebenden Intelligenz begriffen, die sich der verwaisten Hofnarrenrolle bemächtigten. »Von der Funktion des Narren haben alle Wissenschaften etwas, die in Gefahr kommen, ihr Erkenntnisinteresse nicht emanzipatorisch zu nutzen, sondern den herrschenden Mächten zur Verfügung zu stellen. In dieser Rolle gefällt sich Soziologie als eine bürgerliche Wissenschaft, die nichts sein will als Soziologie – so wie der Narr einst nichts sein durfte als Narr, um vom Herrscher goutiert zu werden. […] Der Hofsoziologe«, so der abschließende Befund Lepenies, »ist Nachfahr des Hofnarren geworden« (ebd.: 96).
Nun ist diese Vermutung nicht ohne Charme, doch soll ihr hier nicht weiter nachgegangen werden. Das sollen andere tun. Mir geht es hier vor allem um andere Institutionen und andere Akteure, die für Lepenies ebenfalls als neuzeitliche Erben der Narren gelten: Oper und Operette, aber auch der Film und die Entertainer sind für ihn »Melancholie und Langeweile bannende Institutionen« (ebd.: 277), während der Film erstmalig die Chance der Entlastung der Massen brachte. Auch dies dient letztendlich den Herrschenden, werden doch die Beherrschten in der Freizeit unterhalten, auf dass sie in der unfreien Zeit umso widerstandsloser arbeiten. Für Lepenies ist der neue Narr, egal welche Form er sich gibt, eingebunden in den Prozess des Herrschens: er unterstützt die Unterdrückung, indem er den Unterdrückten die Zeit vertreibt, in der sie auf ›dumme‹ Gedanken kommen könnten.
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3 . H o f n a r r u n d s e i n e F u n k t i o n i m W an d e l der Zeiten – Eine Skizze Diese Deutung des Hofnarren, die gut erkennbar in der Tradition kritischer Sozialforschung Frankfurter Prägung steht, ist in der Fachliteratur nicht unstrittig. Viele andere Autoren haben sich an der Deutung des Hofnarren versucht und die Befunde variieren teils erheblich. Bis heute, so resümiert Werner Mezger, »gibt es noch keine zufrieden stellende Erklärung dafür, warum ausgerechnet an den Höfen, wo die streng geordnete Welt des Mittelalters ihre feierlichsten und vollkommensten Lebensformen entwickelte, stets eine Gestalt auftauchte, die nicht nur außerhalb aller Ordnung stand, sondern die obendrein auch noch das krasse Gegenteil des idealen Menschenbildes jener Zeit verkörperte: der Narr« (Mezger 1981: 7).
Auch wenn vieles noch ungeklärt ist oder auf immer im Nebel verschwunden bleiben wird, will ich im Weiteren versuchen, kurz zusammenzutragen, was in der Fachliteratur zum Hofnarren als relativ sicher gilt – auch wenn man vor wissenschaftlichen Verklärungen und Mythenbildungen nie ganz sicher sein kann. Hier eine kurze Skizze: Hofnarren gab es über einen sehr langen Zeitraum: etwa sechs bis sieben Jahrhunderte, was eine beachtliche Zeit ist. Während dieser Zeit wandelte sich die Funktion des Hofnarren wenigstens dreimal. Deshalb ist es auch nur bedingt richtig, von dem Hofnarren und seiner Funktion zu sprechen. Auch hier wird man (wie überall) unterscheiden und auseinander halten müssen. Aber nacheinander. Das historische Ursprungsland der Hofnarren war (wohl) das Frankreich des 11. Jahrhunderts. Manche Quellen wollen den Narren auch schon im 10. Jahrhundert gesichtet haben, doch hier ist die Literatur uneinheitlich. Möglicherweise kamen die Narren über die Kreuzzüge nach Frankreich, denn an arabischen Höfen waren Zwerge und Narren bekannt.8 8
Unklarheit herrscht auch über die Etymologie des Begriffes. Laut Wikipedia ist der Narr zurückzuführen auf das mittelhochdeutsche narre oder das althochdeutsche narr. »Man vermutet eine Ableitung aus spätlat. nario Nasenrümpfer, Spötter. Um den mittelalterlichen Narren zu verstehen, ist ebenso eine andere Bedeutung von Narr elementar. Als Narren werden in manchen Dialekten noch heute verkümmerte Früchte benannt. Da Gott laut der Bibel den Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen hatte, wurden verkrüppelte Menschen als Narren bezeichnet, da sie nicht dem Normbild Gottes entsprachen, worunter auch die geistig Zurückgebliebenen zählten. Menschen, die Gott verleugneten wurden als ›natürliche Narren‹ spezifiziert, da sie dem damaligen Glauben nach ›innen hohl‹ waren, also keine eigene Seele hatten, ebenso wie eine verkümmerte Frucht« (wikipedia.org/wiki/hofnarr).
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Anfangs, also etwa die ersten zwei-, dreihundert Jahre verkörperte der Hofnarr, die Insipiens, die Dummheit, das Unvernünftige, das im Unglauben seine Ursache hatte, im Gegensatz zum Sapiens, den weisen Berater oder dem König selbst, der im rechten Glauben ruhte. Der Hofnarr war in dieser Zeit nicht nur die Verkörperung des Ungläubigen und damit machtlos und lächerlich zugleich, er hatte auch etwas Beunruhigendes, etwas Abgründiges: »Die Narren waren dem ursprünglichen Verständnis nach weit weniger Spaßmacher und Unterhalter ihrer Herren, als vielmehr ernste Mahnung und gewissermaßen lebender Hinweis darauf, dass es vom gefeierten Herrscher zu verachteten Toren nur eines kleinen Schrittes bedurfte« (Mezger 198: 17). Der Narr hatte also ursprünglich die Aufgabe, den König an die Vergänglichkeit des Lebens und des irdischen Glücks zu erinnern. Denn niemand, auch nicht der mächtigste Herrscher konnte sich seines Glückes und seiner Macht gewiss sein. So stammt aus dieser Zeit die Geschichte von König Robert von Sizilien, der für seine Überheblichkeit bekannt war. Seinen Mangel an Demut bestrafte Gott dadurch, dass er ihn über Nacht in einen Narren verwandelte. Schlussendlich musste er an seinem eigenen Hofe den Hofnarren geben (vgl. Mezger 1981: 17). Nicht zufällig erinnert diese Geschichte an antike, nicht-christliche Glücksvorstellungen, und da diese für unser Thema von Bedeutung sind, sei kurz daran erinnert (ausführlich dazu Reichertz 2002): Geht man nicht zu sehr ins Detail, dann lässt sich das Deutungsmuster ›Glück‹ des alten Hellas in etwa so beschreiben: Tyche, eine der vielen Töchter des Zeus, hatte die Macht, über das Schicksal der Menschen nach eigenem Gutdünken zu entscheiden. Manchen gab sie viel Glück, anderen nahm sie selbst das Notwendigste. Tyches Tun war völlig unberechenbar: weder mit Gebet, noch Versprechen, noch Opfergaben konnte man sie ›zwingen‹, einem selbst oder anderen Glück zuzuweisen. Kurz: Tyche war besonders launig und eigensinnig. Wesentlich bei dieser Deutung von Glück ist nun, dass der Mensch nicht aktiv an seinem Glück arbeiten konnte, sondern einem ›blinden‹, Verdienste und Opfer ignorierenden ›Schicksal‹ unterworfen war, das schnell und viel geben, aber genauso schnell viel nehmen konnte: wie gewonnen, so zerronnen. Aber ganz bedeutungslos war der Mensch in der Welt des alten Hellas denn doch nicht bei der Gestaltung seiner Glückskarriere: er konnte nämlich zumindest in Maßen versuchen, den Entzug des Glücks zu beeinflussen. Denn Menschen, die Tyche mit den unterschiedlichen Gaben aus ihrem Füllhorn überschüttet hatte, taten gut daran, einen Teil der Gaben den Göttern als Opfer wiederzugeben und auch die ärmeren Mitbürger an dem Wohlstand teilhaben zu lassen – natürlich in Maßen. Und was
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der glückliche Mensch auf gar keinen Fall tun durfte, war die öffentliche Zurschaustellung des Glücks oder gar die Behauptung, das Glück verdanke sich eigener Leistung. Ein solcher Übermut (Hybris) löste fast zwangsläufig erst den Neid und dann die Rache der Götter aus. Und Nemesis, die Tochter des Okeanos, sorgte dann dafür, dass der Übermütige massiv und sichtbar erniedrigt wurde – was bei manchen eine Katharsis bewirkte, die dann in weise Bescheidenheit mündete. Die Lehre aus diesem Deutungsmuster ist leicht zu erkennen: Wenn Dir Glück gegeben wird, posaune es nicht laut hinaus, und behaupte nie, das Glück allein eigener Leistung zu verdanken. Danke Gott und sei demütig! Der Narr am Hofe, der im Übrigen meist nicht seinen eigenen Namen trug und der über keine ›wirkliche‹ eigene Identität verfügte, erinnerte im 12. und 13. Jahrhundert an diese Zerbrechlichkeit des irdischen Glücks. Aber er war nicht einer der normalen Angehörigen des Hofes, so wie der Mundschenk, der Kammerdiener und der Ratgeber. Der Narr war sehr viel enger mit dem König verbunden, wenn auch auf eine verrückte Weise. König und Narr bildeten die zwei äußersten Pole einer Qualität: der Ordnung. König und Narr waren zu einer eigenen, für die Welt gut sichtbaren Einheit zusammengebunden. Diese Einheit mahnte die Welt, stellte die Mahnung gut sichtbar aus und sie stellte die Mahnung auf Dauer. Der Narr verkörperte nämlich das Gegenbild des Königs, genauer: das spiegelverkehrte Bild des Königs (vgl. Mezger 1981: 19). Die Funktion des Narren veränderte sich allerdings im Laufe der Jahrhunderte – zwar allmählich, aber tief greifend: Im 14. und 15. Jahrhunderts, also im Herbst des Mittelalters, am Vorabend der Neuzeit, verkörperte und symbolisierte der Narr in dem von der Pest und dem Krieg gezeichneten Europa nicht mehr nur Dummheit, Sündhaftigkeit, Verblendung, sondern zunehmend auch Hinfälligkeit und Vergänglichkeit – also auch den Tod. Memento mori. Bedenke, dass Du sterblich bist. Der Narr (und auch der Wahnsinnige) wurden so in einer Zeit des gewaltvollen Umbruchs zum ›ernsten‹ Zeichen der Zeit. Der Narr verband sich mit dem Tod und überwand ihn dadurch, dass er in düsteren Zeiten seinen Spaß mit ihm machte. Denn, so eine Deutung von Foucault, die Aufgabe der Narren bestand darin, dass sie den Tod und die Angst vor ihm durch ihr Auftreten und ihr Gehabe sinnlos machten: »Der Spott des Wahnsinns, tritt an die Stelle des Todes und seine Feierlichkeit. […] Die Angst vor dieser absoluten Grenze des Todes wird in einer fortgesetzten Ironie verinnerlicht. Man entwaffnet diese Angst im voraus, macht sie zum Objekt des Gespötts, indem man ihr eine alltägliche und beherrschte
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KULTURINDUSTRIE REVIEWED Form gibt, indem man sie in jedem Augenblick während des Schauspiels des Lebens erneuert, indem man sie in den Lastern, den Verschrobenheiten und Schrullen eines jeden zerstreut. Die Zerstörung durch den Tod bedeutet nichts mehr, weil sie bereits alles bedeutet, denn das Leben selbst besteht nun aus Abgedroschenheit, hohlen Worten, leerem Geklingel und Narrenschellen. Der Kopf, der zum Schädel werden soll, ist bereits leer« (Foucault 1977: 34).
Der Narr, der angesichts des Todes spottete und zugleich Prahlerei, Einbildung, und Eitelkeit dementierte, indem er all dies aufwendig zelebrierte, avancierte in dieser Zeit, also im 14. und 15. Jahrhundert, auch zum Inhaber höherer Weisheiten, zum weisen Narren, zum Künder verborgener Wahrheiten – von dunklen Ahnungen getrieben. Der Narr wandelte sich vom Insipiens zum Sapiens. Seine Aufgabe bestand nun darin, seinen höher geborenen Herrn zu warnen, ihm mit seinen Ahnungen einen verborgenen Weg zu weisen. Die Hofnarrenidee, entstanden etwa im 11. Jahrhundert, erlebte im 14. und 15. Jahrhundert ihren Höhepunkt und veränderte sich mit der Renaissance erneut gravierend. Hier, in der Renaissance, übernimmt der Narr die Funktion, von der Lepenies berichtet, und die auch heute meist noch aufscheint, wenn man von Hofnarren spricht: es ist die Idee vom Narren, der seine Herren mit Witzen und Narreteien unterhält, ihnen die Langeweile vertreibt und dabei in Maßen auch über die Strenge schlagen darf bzw. auch soll. Der Hofnarr der frühen Jahrhunderte mahnte zur Demut, der Hofnarr der Renaissance wurde am Hof gehalten, um die Lebensfreude am Hofe zu steigern und »sich an ihrem absonderlichen Benehmen zu belustigen« (Mezger 1981: 76). So wurden die Hofnarren schrittweise zu Komödianten, die ihre Herren schmückten. Dies führte dazu, dass hoher und niedriger Adel, aber auch hoher und niedriger Klerus miteinander darum konkurrierten, die lustigsten oder absonderlichsten Narren zu besitzen. »Es gab keinen Herrscher in Europa, der nicht Zwerge und Debile für sein Kuriositätenkabinett suchte: es wurde darum gewettet, wer den winzigsten Zwerg oder den blödesten Tölpel besaß; es kam sogar vor, dass sie gegeneinander ausgeliehen, getauscht oder verkauft wurden« (Lever 1983: 86). Einen oder gar viele Narren sein eigen zu nennen, war erst Privileg, dann Aufgabe und dann Standesabzeichen, Teil eines demonstrativen Luxus der herrschenden und besitzenden Klassen. Der Umstand, dass niemand, von dem man etwas halten sollte, auf seine Hofnarren verzichten durfte und wollte, führte dazu, dass das Hofnarrentum zu Beginn des 16. Jahrhundert enorm expandierte. Diese Hochkonjunktur des Hofnarren »erklärt
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sich als eine Mode- und Auflösungserscheinung zugleich« (Mezger 1981: 76). Die langsame, aber unaufhaltsame Erosion der Institution ›Hofnarren‹ begann Ende des 17. Jahrhundert und dauerte ein Jahrhundert. So war es Ludwig XIV. (1643-1715), der als erster in Frankreich die ›Planstellen‹ der Hofnarren strich. In Preußen war es Friedrich II. (17401786), der vehement dem Hofnarrentum entgegentrat. Über die Gründe für Niedergang des Hofnarren, also einer Institution, die wenn auch in wandelnden Gestalten und Funktionen etwa sechs Jahrhunderte vom europäischen Hof nicht wegzudenken war, wird in der Literatur spekuliert. Eine Deutung ist, dass die am Hof stärker werdenden Mätressen, beliebte Objekte des Spottes und der Häme aller Narren, ihren Einfluss dazu nutzten, die Narren, vom Hof zu entfernen (vgl. Petrat 1998: 103). Andere Deutungen gehen davon aus, dass die Narren sukzessive von den ›harmloseren‹ Spaßmachern und dem Schauspiel bzw. den Schauspielern verdrängt wurden. Sie boten Spaß und Unterhaltung pur, hier musste niemand mit Kritik rechnen, die sich als Witz tarnte. Narren waren im frühen wie im späten Mittelalter Menschen außerhalb der ordentlichen Gesellschaft. Aber auch wenn ihr Platz draußen war, gehörten sie dazu. Sie waren Außenseiter, weil sie grundlegend anders waren als die Übrigen: Sie hatte entweder gravierende körperliche oder geistige Defekte. Im Einzelnen waren das z.B. Zwerge, Krummwüchsige, Krüppel, Wirrköpfe, Phantasten und Verrückte – skurrile Personen also, denen oft jede Eingebundenheit in eine Gemeinschaft fehlte, die auf der Strasse oder in speziellen Hospitälern oder Narrenhäusern lebten. Viele dieser entbetteten Menschen wurden zum Narren berufen, weil sie auf der Strasse einem Adligen auffielen oder weil ihnen der Ruf besonderer Ungewöhnlichkeit vorauseilte. Neben diesen ›natürlichen Narren natürlichen Narren, also den Narren, die ihre Skurrilität der Natur bzw. körperlichen irreparablen Verunstaltungen und Defekten zu ›verdanken‹ hatten, gab es auch die künstlichen Narren. Der Anteil der letzteren steigerte sich im Laufe der Jahrhunderte erheblich, weil sie sich sehr viel besser für die geistreiche Unterhaltung eigneten. Gerade der Typus ›künstliche Narren‹ »wurde in der Renaissance mehr und mehr bevorzugt, weil er im Gegensatz zu den oft nur dumpf dahindämmernden und manchmal regelrecht furchteinflößenden natürlichen Narren für geistvolle Unterhaltung sorgte und zum Lachen reizte« (Mezger 1981: 60). Weil die Narren außerhalb der höfischen Ordnung standen, standen auch ihr Benehmen und ihre Worte außerhalb dieser Ordnung, was hieß: sie hatten einen beachtlichen Handlungsspielraum und konnten (fast) alles sagen und tun, was sie wollten, ohne dass unbotmäßiges Verhalten
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üble Konsequenzen nach sich zog. Die Redebeiträge der Narren waren von Sarkasmus, Hohn, Zoten, Obszönitäten und platten Unflätigkeiten gekennzeichnet. Sie waren an keine Norm gebunden, weil alles, was sie taten und sagten, im wahrsten Sinne des Wortes für den Hof bedeutungslos war – gerade auch dann, wenn es sich auf den Hof bezog. Oder wie Ronald Hitzler dies auf seine unnachahmliche Art einmal formuliert hat: »Die Regel, dass der Ernst kein Spiel sei, wird vom Narren gebrochen, doch der Regelverstoß selber erfolgt im Sinne der Spielregeln der Narretei, bleibt im Spiel-Raum seiner sozialen Sonderrolle und somit im Rahmen normaler Sinn-Kriterien als Un-Sinn begreiflich« (Hitzler 1988: 124). Das ist gemeint, wenn man auch heute noch von der Narrenfreiheit spricht. Es ist die Freiheit des Narren, aus der Kritik einen Witz zu machen. Mit Narrenfreiheit ist dagegen nicht gemeint, einen kritischen Witz zu erzählen. Das ist für manche schon Subversion, für andere noch Kabarett. Insofern, und das lässt sich jetzt schon sagen, machte Dieter Hildebrandt auf der Münchner Bühne etwas anderes als seine heutigen Kollegen im Fernsehen, solange er noch kritische Witze machte.
4. Alte Narren am neuen Hof? Folgt man einmal dieser sehr knappen Skizze der Institution ›Hofnarren‹, die im Wandel der etwa sechs Jahrhunderte, als es sie gab, viele Formen annahm und Funktionen innehatte, dann wird es schwer, die Ausgangsfrage zu beantworten, nämlich die, ob die modernen Entertainer die Hofnarren der Neuzeit sind. Verfolgt man die Frage aber weiter, muss man sich der neuen Zeit und den Entertainern zuwenden und sie, ihr Aussehen, ihr Verhalten, ihre Orte und natürlich den ›Hof‹ betrachten, also den Ort und den Rahmen, an und in dem sie ihrem Geschäft nachgehen. Auch hier sind die Dinge weitgehend bekannt: Die Entertainer tummeln sich auf der Bühne, in der Öffentlichkeit oder genauer: sie betreiben vor allem ihr Geschäft in den Bildmedien und hier vor allem im Fernsehen. Das neue Leitmedium der Gesellschaft, das Fernsehen ist also der Hof, an dem die Narretei stattfindet. Und auch hier, was durchaus eine Parallele zum Mittelalter darstellt, konkurrieren die Herrschenden im Fernsehen mit ihren Mitteln (also den Gagen) darum, nicht nur einen, sondern viele Narren und nicht nur die mittelmäßigen, sondern die oder gar den besten ihr Eigen zu nennen. Und wenn man den modernen Kampf um die Narren bzw. die Entertainer betrachtet, dann scheint es A-Narren, B-Narren, C-Narren und noch jede Menge Fußvolk zu geben. Zu den A-Narren gehören ganz offensichtlich zurzeit, also zu Beginn des
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3. Jahrtausends Harald Schmidt, Thomas Gottschalk und Günter Jauch, vielleicht noch Anke Engelke. Der ›Beste‹ ist nun nicht der, der am besten unterhält (was immer das auch heißen mag), sondern der, den die Zielgruppe am liebsten sehen will, der also die Gewähr dafür bietet, dass er den Werbekunden die meisten zu ihm ›passenden‹ Zuschauer vor dem Bildschirm versammelt. Je nach Zielgruppe, können deshalb unterschiedliche Entertainer die besten sein: Stefan Raab lockt andere Zuschauer vor das Gerät als Harald Schmidt und Gottschalk andere als Anke Engelke und Atze Schröder andere als Helge Schneider. Alle diese Akteure sind, gemessen an der bundesdeutschen Einkommensverteilung, Großverdiener, eingebunden in einen Rahmen, der ihrem Handeln mal weite und mal enge Grenzen setzt, aber der das Handeln auch sinnvoll macht: das Fernsehen. Sie sind Teil dieses Rahmens und man kann ihr Tun nur innerhalb dieses Rahmens verstehen. Deshalb muss man sich zu Beginn erst einmal den Rahmen ›Fernsehen‹ ansehen und fragen, was das Fernsehen zu leisten gewillt ist. Dann kann man auch leichter die Aufgabe der Narren darin erkennen. Die Entertainer sind über das Fernsehen eingebunden in das große vielfältige Glücksprogramm der Gesellschaft, das vieles für viele bietet, und innerhalb dieses Programms sind sie, wie das Fernsehen selbst, für das mediale oder das medial vermittelte Glück zuständig bzw. für spezifische Formen des Glücks. Sie liefern keine Information, sie produzieren keine Spannung, keinen Schauer und helfen auch nicht, das Leben in eine neue Bahn zu bringen. Das Glücksprogramm der Medien ist nun recht vielfältig: Es liefert großes und kleines Glück, und darunter auch große und kleine Fluchten. Die Entertainer sind für das kleine Glück und die kleinen Fluchten zuständig. Sie liefern das kleine Glück des Alltags für Jedermann, indem sie Langeweile, Frustration oder Einsamkeit mit ausgestrahlter Heiterkeit vertreiben oder überdecken. Die Medien und hier vor allem das Fernsehen organisieren für die Menschen auf der Couch die kleinen Fluchten in das Land des Unsinns und der Narretei, in der nichts mehr zählt außer dem Stakkato der Pointen, die so dicht kommen müssen, dass dazwischen kein Gedanke an Anderes mehr Platz hat. Entertainment nennen die Verantwortlichen das. Es sind also nicht die große Fluchten ins mediale Glück, welche die Narren ermöglichen. Die großen Fluchten, die ein, zwei und manchmal auch drei Stunden dauernden medialen Fluchten werden immer noch vom Kino und den großen Hollywoodfilmen im Fernsehen ermöglicht. Sie sind die »Tagträume der Gesellschaft«, wie es schon Krakauer 1927 schrieb (Krakauer 1977: 280), von denen sich die kleinen Ladenmädchen
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in eine bessere Welt entführen lassen. Und Tagträume markieren nach Mead, der die Bildmedien vor allem als stundenweise organisierte Fluchthilfe oder genauer: als Freigang aus dem ungeliebten und beschwerlichen Alltag versteht, als »die Isolation des Menschen inmitten der Gesellschaft« (Mead 1983: 359). Die Entertainer sind auch nicht dort, wo die Macht ist. Weder halten sich Politiker, noch Wirtschaftsbosse, noch hohe Gewerkschaftsfunktionäre einen Narren. Im Gegenteil: in diesen Machtzentren geht es bierernst zu. Und wenn ein Politiker, ein Unternehmer oder gar ein Gewerkschafter mal einen Witz machen sollte, ist der massenverständlich und natürlich absolut politisch korrekt. Die modernen Entertainer sind also nicht da, wo die Macht ist, sind aber dort, wo die Macht sich zeigt: im Fernsehen. Die Fernsehsender sind ihre Arbeitgeber, die viel Geld für sie bezahlen und die sich gerne damit brüsten, den besten Unterhalter zu haben und es sind die Fernsehsender, die sich die besten Entertainer gerne einander abjagen. Das Medium der aktuellen Narretei ist das Fernsehen, nicht die Zeitung und nicht der Hörfunk, was ein wenig verwundert, ist doch die heutige Narretei im Fernsehen sehr wortlastig. Der gespielte Sketsch, also der in szenisches Erleben umgesetzte Witz, hat seine besten Zeiten schon hinter sich. Peter Frankenfeld, Didi Hallervorden und Harald Juhnke waren die alten Großmeister des Sketsches. Heute pflegt insbesondere Anke Engelke, die sich einige Zeit auch als Nachfolgerin von Harald Schmidt bei SAT1 versuchte, an dieses Erbe. Die aktuellen Narren frönen dem Wortwitz. Allen voran und beispielgebend für viele Nachahmer die Sendung Sieben Tage, sieben Köpfe. Das ist eine Ansammlung von den üblichen Verdächtigen aus der Branche, Comedians, die abwechselnd über Abwesende, Anwesende und sich selber Witze jeder Art und jeder Güte reißen. Jeder Witz ein schneller Schuss ins Gehirn, der Lachen ausbrechen lässt. Und die Kunst der Entertainer ist es, mit der jeweils nächsten Pointe aufzuwarten, wenn die Lachwoge auf den gebotenen Witz langsam verebbt. Auf diese Weise folgt Witz auf Witz in so dichtem Abstand, dass kein Gedanke mehr dazwischen passt. Ein solches Witzstakkato vertreibt jede Laune, gute wie schlechte, weil es die Zeit vergessen lässt. Es hat in gewisser Hinsicht die Wirkung von Alkohol: für eine gewisse Zeit hört die Welt auf, sich zu drehen. Sie ist einfach verschwunden und mit ihr die Notwendigkeit, sich in irgendeiner Weise zu ihr zu verhalten. Die Entertainer bieten, jeder auf seine Weise und jeder für sein Publikum, kleine Fluchten an. Es sind solche, welche die Zeit vergessen lassen. Der im Medium gezündete Witz verglüht auch im Medium. Er hat weder ein Nachspiel noch Nachwirkungen. Er ist nicht Stein des Ansto-
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ßes und kein Anstoß für Widerstand oder Reflexion nach dem Mediengebrauch, es sind keine Spitzen, die erst sitzen und dann nachhaltig wirken, sondern Spitzen, die sitzen und sofort wieder vergessen werden. Die Fernsehmoderatoren bieten fernsehöffentlich eine Übersteigerung des Klatsches, sie verteidigen gerade die Normen, wenn sie über den angeblich erhöhten Alkoholkonsum von Meyer-Vorfelder witzeln oder die Homosexualität von Westerwelle. Aber in keinerlei Weise erinnern die Entertainer mehr an die Vergänglichkeit des Glücks und des Lebens. Sie betreiben gerade die gegenteilige Arbeit. Also die des Überdeckens, des Sedierens, des Nicht-zu-Wort- und Nicht-zu-Gedankenkommens. Die neuen Entertainer verstehen sich explizit nicht als Narren. Sie bezeichnen sich als Moderatoren9, Unterhalter, Comedians oder in einem Anflug von Zynismus auch mal ›Quotennutte‹ (Gottschalk) oder ›Mediennutte‹ (Schmidt). Niemand dieser Unterhalter ist wirklich körperlich entstellt (einer ist vielleicht etwas klein, ein anderer vielleicht ein wenig dürr, andere verfügen über eine beachtliche Nase), keiner präsentiert sich in Narrenkleidung (selbst die eigenwillige Kleiderwahl von Wigald Boning und Gottschalk können nicht ernsthaft als Narrenkleidung durchgehen) und keiner von ihnen ist verrückt oder schwachsinnig. Im Gegenteil: alle geben sich entsetzliche Mühe, immer durchscheinen zu lassen, dass alles nur ein Spiel ist und sie im Spiel eine Maske (persona) tragen. Ohne Zweifel sind die Entertainer Spaßmacher. Ihr Tun zielt auf den Zuschauer. Er soll Spaß haben. Er soll sich nicht auf sich selbst besinnen, er soll sich nicht konzentrieren, er soll sich im Spaß selbst weder finden noch in ihm wiederfinden. Der Spaß zentriert den Zuschauer nicht, er wirft ihn nicht auf sich selbst zurück, sondern er dezentriert ihn: Der Spaß entfernt den Zuschauer von sich selbst, er lässt ihn sich selbst vergessen. Das ist wohl so und daran ist erst einmal nichts Anstößiges. Kurz: Sie sind Spaßmacher. Keine Hofnarren. Gleiches gilt auch für Harald Schmidt, auch wenn er ein besonderer Spaßmacher ist.
5 . H a r a l d S c hmi d t – e i n H o f n a r r ? Und Schmidt ist ein Großmeister des Entertainment, dieses Entertainment – zurzeit wohl der größte und ein besonderer. Acht Millionen zahlt die ARD dem ehemaligen Frontmann von SAT 1. Dafür witzelt er zweimal die Woche zu später Stunde vor 1,5 bis 2 Millionen Zuschauern über 9
Nicht nur die Hofnarren differenzieren sich im Laufe der Jahrhunderte in viele Typen, sondern auch die Moderatoren – nur dass letztere dazu keine Jahrhunderte benötigten. Einen sehr guten Überblick über die Typologie der deutschen Moderatoren liefern Strobel/Faulstich (1998).
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das, was die Medien bewegte. Weil das Publikum ihn (trotz sinkender Quote) auf dem Bildschirm wünscht, wird er ab 2006 dreimal die Woche zu sehen und zu hören sein (und möglicherweise die Fußballweltmeisterschaft ›kommentieren‹). Harald Schmidt arbeitet in seinen Shows durchgängig mit der Zweitund Drittverwertung von bereits durch die Medien Bekannt gewordenem. Das bereits Bekannte wird in Anlehnung an Elemente der Klatschkommunikation neu aufbereitet, kommentiert und bewertet. Aber Schmidt kommentiert nicht nur in Medien bereits Dargestelltes oder auch schon Kommentiertes. Die Besonderheit von Harald Schmidt besteht darin, dass er stets auch auf einer zweiten Kommunikationsebene sich selbst kommentiert. Diese Kommentierung der Kommentare inszeniert Schmidt mit den unterschiedlichsten Mitteln: oft mit Hilfe einer ausgeprägten und das Gesagte konterkarierenden Gestik, Mimik und/oder Stimmführung, oft auch mit Hilfe sprachlichen Irrwitzes und/oder haarsträubenden Unsinns unterschiedlichen Niveaus. Heraus kommt (zumindest für Medientheoretiker) eine Satire zu gängigen Gattungskonventionen und Präsentationsklischees im Fernsehen, die im Übrigen all jene erfreut, sich in ihrer Verachtung des (fernseh-)politisch Korrekten einig glauben. In den Medien greift man gern zum Begriff des Hofnarren, wenn von Schmidt die Rede ist, so auch Lars von Gönna in der WAZ: »Der eingekaufte Hofnarr jenes Senders, der fleißig daran arbeitet, die StadlStrohballen noch weiter aufzutürmen und Ideen hinterher zu watscheln (Quiz, Retro-Show), die längst die Privaten hatten, lächelt wissend. Und er lächelt satt. […] Die Tatsache, dass ein begrenzter Schauspieler und ein guter Kabarettist gefeiert wird wie ein Messias, zeigt erst, wie tragisch es um sein neues Zuhause bestellt ist« (Gönna 2005).
Narrenfreiheit besitzt Schmidt durchaus. Er darf vieles von dem, das andere nicht dürfen: So nimmt er sich bewusst das Recht heraus, die Grenzen des guten Geschmacks, des Anstandes und der Höflichkeit großzügig zu überschreiten – gegenüber fast jedem. Er scheint niemanden von seinem Biss auszusparen: weder den amerikanischen Präsidenten, noch den Bundeskanzler, weder den Bundestrainer noch Bundesadler, weder die Zuschauer noch seinen Arbeitgeber, weder seine Kollegen noch sich selbst. Er erkämpft sich diese ›Narrenfreiheit‹ auch mit einer Ernsthaftigkeit, die beachtlich ist. Schmidt ›bedient‹ mit seiner Haltung, seinem Humor und seiner Weise, mit Kultur zu spielen, sie zu drehen und zu verdrehen, sich selbst im Spiegelkabinett von ernst gemeintem Spiel und spielerischem Ernst zu zeigen und zu verhüllen, im Wesentlichen ein Publikum, das sich (mit
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oder ohne gutem Grund) auf der sicheren Seite wähnt, das gewohnt ist, sich im Feld des Kulturellen geschmeidig und halbwegs gekonnt zu bewegen.10 Schmidt witzelt für die Mittelschicht und hier vor allem für die mittlerweile weitgehend verstummten Künder und die immer noch nach Erfolg strebenden Kinder der Spätmoderne. Diese sich als individualisiert verstehenden Akteure glauben (dem verinnerlichten Credo der Spätmoderne folgend) immer noch, dass ihre Entscheidungen solche Unterschiede produzieren, die wirkliche Unterschiede machen, dass es also im Wesentlichen von ihnen selbst abhängt, welche Bahn ihr Leben ziehen wird: Über alles darf, kann, muss deshalb entschieden und gewitzelt werden – auch über die Sinnhaftigkeit des (eigenen) Lebens. Der rechte Lebens-Sinn ist nicht länger eine gesellschaftlich erarbeitete und verbürgte Vorgabe, sondern vor allem individuelle Aufgabe, die das Risiko des Misslingens in sich trägt.11 Eine solche Aufgabe mag erfahrenen und mit ökonomischen Ressourcen gut ausgestatteten Lebensstil-Surfern ein gewisses Wohlgefallen bereiten, auch den hochgebildeten kreativen Weltenerschaffern, die mit einer gewissen Leichtigkeit immer wieder neue Versionen von sich und der Welt entwerfen und in Spiel und Witz erproben können, aber diese Aufgabe ist all denen eine gefährliche Last, deren kulturelles wie ökonomisches Kapital gering ausgefallen ist. Vor allem die zuletzt Genannten, die man immer noch und verstärkt vornehmlich in der Unterschicht findet, suchen Halt im Wort und keinen Drehschwindel. Und sie glauben, in diesem Prozess auch mal eine Pause verdient zu haben. Atze Schröder ist hier die Unterhaltung der Wahl.
10 »Aus dieser Gelassenheit erwuchs einen Narrenfreiheit, die es 47-jährigen erlaubte, eine bissige Show mit Talkgästen in ein spaßiges Telekolleg zu verwandeln: Amüsantes Bildungsfernsehen für Menschen, die gern geistreich plaudern« (Howahl 2005). 11 Siehe hierzu (um nicht immer wieder die klassischen Formulierungen zu wiederholen) die Ausführungen von Makropoulos: »Das soziale Charakteristikum von Modernität ist die weitgehende Freisetzung der Individuen aus angestammten und umfassenden Gruppenbindungen – mit der Folge ihrer sozialen und räumlichen Mobilität. Der lebensweltliche Effekt dieser gesellschaftlichen Situation ist die Vielfalt von Lebensentwürfen und Lebensgewohnheiten an einem Ort und zur gleichen Zeit. Es ist eine Vielfalt, in der sich diese einzelnen Lebensentwürfe und Lebensgewohnheiten nebeneinander verwirklichen oder gegenseitig verwerfen, sich ergänzen oder einander ausschließen, sich allemal aber autonom gestalten und nicht zwingend aufeinander bezogen sind. Werden sie jedoch aufeinander bezogen, dann relativieren sie sich gegenseitig und halten so verschiedene, vielleicht disparate Möglichkeiten der Lebensführung präsent. Keine dieser Konstruktionen des Selbst und des Sozialen ist freilich von Dauer, weil sie stets durch mindestens eine andere relativierbar ist und ihre Dauerhaftigkeit die Reduktion der heterogenen Möglichkeiten voraussetzte« (Makropoulos 1991: 676; siehe natürlich auch die Befunde von Luckmann, Beck, Giddens, Baumann, Gross, Sennett etc.).
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Schmidt strengt dagegen an. Er ist gewiss der einzige Entertainer, der für die geistige Elite Deutschlands, also die herrschende Meinung in Spiegel, Zeit, Focus, Frankfurter Allgemeine etc. halbwegs satisfaktionsfähig ist. Er macht zwar den Spaß der anderen Leute zu seinem Geschäft (und das reicht normalerweise aus, von den ernstes Medien ignoriert zu werden), aber sein Geschäft hat einen Stil, der den an postmoderner Literatur und deren Intertextualität geschulter Verstand der Intellektuellen, Lehrer und Feuilletonisten anspricht und für sie sogar verständlich ist (vgl. Frieske 1998). Deshalb wird er so oft und so gerne im Feuilleton besprochen, mal gut, mal schlecht. Schmidt bedient das Niveau der herrschenden Mittelschicht in den Medien. Er hat den intelligenten Witz, der sich zynisch gibt, salonfähig gemacht. Schmidt macht Witze für die, die sich für Durchblicker halten, die glauben oder besser: mit aller Inbrunst glauben wollen, dass Hartz IV für sie nie in Frage kommt. Und sollten einige von ihnen doch von Hartz IV ereilt werden, dann werden sie gewiss der Ansicht sein, das Schicksal müsse sich in ihrem Fall geirrt haben. An Schmidt scheiden sich nicht Qualität und Nichtqualität, sondern an Schmidt scheiden sich die Zielgruppen, die Schichten oder anders: die Klassen. Schmidt betreibt durchaus Kulturkampf. Über ihn lacht die Mittelschicht, also auch der Hauptschullehrer, während seine Schüler sich über Stefan Raab amüsieren und Schmidt doof finden. Schmidt hat sich auch öffentlich mit den Herrschenden verbündet, erkennbar daran, dass er in der ARD ständig über die vermeintlich Doofen witzelt, die bei SAT1 oder RTL in der ersten Reihe sitzen. Schmidt trägt weder ein Narrengewand noch erzählt er Wahrheiten (welche sollten das auch sein), er erinnert nicht an die Fragilität des Bodens, auf dem alle tanzen, er klatscht zur Musik und beschleunigt auf seine Weise auch noch das Tempo. Seine Kunst ist kein Abgesang, sondern sie ist ein Symptom. Er spielt nicht für die Herren, sondern für die Öffentlichkeit. Sein Hof ist der mediale Marktplatz, seine Aufgabe, Passanten mit Hilfe seiner Narretei dazu zu bewegen, ein wenig zu verweilen und die in seinem Umfeld präsentierten Warenangebote wohlwollend zur Kenntnis zu nehmen.12 Insofern tut er das, was auch die anderen Entertainer betreiben. 12 Vielleicht ist der moderne Entertainer, da er öffentlich auf dem neuen medialen Markt auftritt, der Nachfahre des Stadtnarren, der ebenfalls im Mittelalter seine Hochzeit hatte. Die Stadtnarren waren besonders in Frankreich und in Deutschland verbreitet. Sie unterhielten auf Jahrmärkten das umherstehende Publikum, führten aber oft auch die Fronleichnamprozession an (vgl. Lever 1983: 61ff). Sie ›gehörten‹ entweder den Städten oder einzelnen Zünften, die sie für solche Feiern zur Verfügung stellten. Das Spezifische der Stadtnarren, die in Deutschland meist ›Possenreißer‹ hießen, war nun, dass sie gerade nicht die öffentlich Ordnung durch ihre Narreteien verdrehten oder umstießen, sondern dass ihre Witze ohne ›Ver-rücktheiten‹ auskamen,
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7 . V o n S p aß m ac he r n u n d d e r S p a ß g e se l l sc h af t Analysen, die angesichts der Vielzahl von Entertainern von den ›Spaßmedien‹ oder gar von einer ›Spaßgesellschaft‹ sprechen – wie dies z.B. Dieter Stolte, langjähriger Intendant des ZDF in seinem kritischen Spätwerk in Buchform macht, scheinen mir nun aber viel zu kurz zu greifen (Stolte 2004: 32ff). Denn niemand wundert sich, wenn er (man verzeihe mir diese grobe Metapher) in einer Metzgerei in jeder Ecke auf die appetitlich verpackten Überreste von getöteten Rindern und Schweinen stößt. Im Gegenteil: Jeder wäre sehr verwundert, wenn er das nicht täte. Und niemand, der bei Verstand ist, würde von der Metzgerei auf das gesamte Land schließen und jedes Gebäude für ein Schlachthaus halten, weiß er doch, dass es außer Metzgereien auch noch Bäckereien und Naturkostläden gibt, dass Finanzämter und Bauernhöfe ihren Aufgaben nachgehen und dass Tierschutzvereine und auch die Kirchen sich um die Moral der Menschen Sorgen machen. Kurz: Auch Spaß hat eine Funktion (wie die Kritik), und zu fordern, Spaß solle den Menschen aufrütteln und zugleich ›kritisch aufklären‹, gleicht dem Begehren, in einer Metzgerei sollten in Zukunft nur noch Backwaren verkauft werden. Unterkomplex sind auch solche Analysen, die durchaus in kritischer Tradition und Pose das Treiben der Spaßmacher als Teil einer groß angelegten Doppelstrategie (Brot und Spiele) ansehen, wobei der Staat für das ›Brot‹ und die Medien für die ›Spiele‹ zuständig wären. Bei den Spielen ginge es vor allem darum, das Volk mit Hilfe lustiger Narren abzulenken, einzulullen, einzuschläfern, bei Laune zu halten, kurz; zu entpolitisieren (vgl. Stolte 2004: 26ff). Zyniker könnten zuspitzen und vortragen, in den Hartz-IV-Zeiten verschiebe sich das Verhältnis von panem et circenses: Jetzt, da der Staat immer weniger Unterhalt (panem) zahlen wolle und könne, erhöhe man im Fernsehen halt den Anteil der Unterhaltung (cicenses). Das ist vielleicht eine gute Pointe, aber keine gute Diagnose. Hilfreich zum besseren Verständnis der Mediennarren und derer, die sich von ihnen vergnügen lassen ist vielleicht ein Brechtwort, das zwar alt, aber aus meiner Sicht keineswegs überholt ist. Er schrieb: »Seit jeher ist es das Geschäft des Theaters, wie aller anderen Künste auch, die Leute zu unterhalten. Dieses Geschäft verleiht ihm überall seine besondedafür von viel Grimassenschneiden und Lärm begleitet wurden. Stadtnarren betrieben gerade keine Umkehrung der Normen, sie vertrieben vor allem die Zeit der Umstehenden. Die Hofnarren dagegen unterhielten mit der Umkehrung von Werten und Normen, sie verrückten in Worten die Ordnung der Dinge. Sie waren Boten einer nicht nur um ein paar Meter Normalität ver-rückten Ordnung, wenn auch ihre Verrücktheit eine unernste war.
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KULTURINDUSTRIE REVIEWED ren Würde; es benötigt keinen andern Ausweis als den Spaß, diesen freilich unbedingt. […] Weniger als alles andere brauchen Vergnügungen eine Verteidigung« (Brecht 1977: 131).
Ist nun der (Fernseh-)Kritiker Schmidt ein Hofnarr? Einmal nein, weil er nicht die neuen Herren unterhält, sondern die alte Mittelschicht. Zweimal nein, weil er auch dann, wenn er kritisiert, seinem Publikum nach dem Munde spricht. Dreimal nein, weil er kein Kritiker ist, sondern ein Spaßmacher. Manche verstehen seinen Spaß nicht immer, aber das hat damit zu tun, dass die Unverständigen (zu) wenig die Medien benutzen. Würden sie zu regelmäßigen Mediennutzern, könnten und würden sie verstehen und (vielleicht) mitlachen.
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T EIL 4: M EDIEN , Ö FFENTLICHKEIT UND K RITIK
CULTURAL STUDIES UND DAS KONZEPT DER »MOBILEN PRIVATISIERUNG« IM SPIEGEL DER M E D I E N - U N D Ö F F E N T L I C H K E I T SK R I T I K UDO GÖTTLICH Der vorliegende Beitrag geht der Fragestellung zum Ort und zur Stellung der Medienkritik in den Cultural Studies nach und setzt dazu bei den grundlegenden Arbeiten von Raymond Williams zur Analyse der kulturellen Form des Fernsehens ein. Die Position von Williams wird in diesem Zusammenhang als exemplarisch für die Form und Gestalt der Medienkritik in den Cultural Studies vorgestellt. So markieren seine Arbeiten einen der maßgeblichen Ausgangspunkte für die in unterschiedlichen Kontexten weiter fortgetragenen kulturtheoretischen Analysen der Cultural Studies mit ihren medienkritischen Implikationen. Bereits in den 1970er Jahren macht er mit der Herausstellung des Zusammenhangs von Medium, Medientechnik und kultureller Form darauf aufmerksam – und darin liegt seine nicht nur für die Cultural Studies zentrale theoriegeschichtliche Leistung –, welche theoretische Anstrengung es erfordert, den Zusammenhang der genannten Aspekte und Elemente in ihrer wechselseitigen Bedingtheit aufzuschließen, um die kulturelle Form eines Mediums – zudem noch im Kulturvergleich –, zu erfassen und medienkritisch einzuordnen.1 Im vorliegenden Rahmen gilt es dabei zu diskutieren, inwiefern seine Überlegungen zur spezifischen kulturellen Form des Fernsehens sowohl in medienhistorischer als auch in gegenwartsanalytischer Blickrichtung Anregungen für die Medienkritik beinhalten. In der bisherigen Rezeption von Williams maßgeblicher Arbeit zum Fernsehen mit dem Titel »Television, Technology and Cultural Form« (1974) ist es vor allem der Begriff des »flow«, dem eine medienkritische Stellung in seinen medientheoretischen Arbeiten zukommt. Der »flow« bezieht sich auf die besondere Angebotsform des Mediums Fernsehen, die mit den üblicherweise benutzten Begriffen des Programms, oder der Berücksichtigung einzelner Angebotsformen nur verkürzend zum Aus1
In der deutschsprachigen Medienwissenschaft wird diese Schwierigkeit exemplarisch bereits an der unterschiedlichen Anlage der Arbeiten von Siegfried Zielinski und Friedrich Kittler deutlich, die in ihren medienhistorischen Analysen an grundverschiedene Theorien anschließen.
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druck gebracht wird, da das kulturelle Produkt, das aus dem Zusammenspiel einzelner Elemente – etwa aus der Aneinanderreihung von unterschiedlichen Einzelbeiträgen ersteht – nicht weiter fokussiert wird. An dem Konzept des »flow« wird hingegen deutlich, dass die kulturelle Form eines Mediums etwas anderes ist, als die Summe seiner zum Funktionieren unverzichtbaren Elemente, angefangen bei den technischen Voraussetzungen bis hin zum Programm und dessen kulturabhängiger Gestaltung. Das kritische Moment von Williams Perspektive kommt somit bereits in den analytischen Kategorien, die auf das Produkt des Zusammenhangs unterschiedlicher Elemente – also auf die kulturelle Form - zielen, zum tragen. Das Produkt von Williams Analyse – in diesem Fall die »flow« genannte kulturelle Erscheinungsform der Angebotsseite – ersteht vor dem Hintergrund seiner literatur- und kulturkritischen Ausrichtung, aus der heraus er in seiner Fernsehstudie eine weitere medientheoretische Perspektive entfaltet hat. Konkret handelt es sich um den in seinen späteren gesellschaftspolitischen Arbeiten weiter ausgearbeiteten und als Grundlage für die gesellschafts- und kulturkritische Analyse genutzten Begriff der »mobilen Privatisierung« bzw. um die kulturelle Form der »mobile privatisation« (Williams 1975: 26).2 Im folgenden wird es um die medienkritischen Implikationen dieses Konzepts gehen, dem in der Rezeption des Fernsehbuches bislang keine größere Aufmerksamkeit zuteil wurde3, dass aber gerade auch in Kenntnis seiner späteren Arbeiten als weitreichende medienkritische Stellungnahme zur kulturellen Entwicklung in der Spätmoderne begriffen werden kann. Analytisch geht es sowohl um die Frage, was die Kennzeichen der gesellschaftlichen Kommunikationsweise sind, also wodurch diese sich auf der alltagskulturellen Ebene auszeichnet, als auch darum, welche Konsequenzen für die weitere Entwicklung der kulturellen Form von Medien und der öffentlichen Kommunikation sich aus dieser Form ableiten lassen. In dieser Ausrichtung liegt der medienkritische Kern seiner Analysen, als auch des Konzepts der mobilen Privatisierung eingeschlossen, das für die im vorliegenden Rahmen beabsichtigte Bestimmung der aktuellen Rolle von Medienkritik genauer befragt werden soll. Die Frage nach den Implikationen dieses Konzepts ist am Rande auch für die Herausarbeitung der Unterschiede innerhalb der medienkri2
3
Diese Perspektivenerweiterung wird offensichtlich nun mit einiger zeitlichen Verzögerung aufgegriffen, wie eine aktuelle Arbeit von David Morley (2000) zu den Auswirkungen und kulturellen Folgen der medientechnischen Mobilisierung innerhalb der Cultural Studies zeigt. Allerdings findet sich in den historischen Arbeiten Zielinskis ein auch medientheoretisch weiterführender Aufgriff des Konzepts der »mobilen Privatisierung« (vgl. 1989 und 1993), auf den ich weiter unten auch inhaltlich Bezug nehme.
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tischen Positionen in den Cultural Studies aufschlussreich. Im Vergleich zu den auf die Publikumsaktivität gründenden Positionen – die eine eigenständige medienkritische Bedeutung einnehmen, die aber im Rahmen dieses Beitrags nicht weiter verfolgt werden –, erlaubt es die von Williams entwickelte analytische und begriffliche Konzeption eine dem öffentlichkeitstheoretischen Diskurs kritisch gegenüberstehende bzw. eine diesen Diskurs erweiternde Perspektive zu formulieren. Diese Position geht auf die prozessualen Rahmenbedingungen des Verhältnisses von Privat und Öffentlich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein und bietet eine spezifische, kultur- und gesellschaftskritisch angelegte Erweiterung des für die Mediensoziologie und gesellschaftliche Kommunikationsanalyse zentralen Öffentlichkeitsbegriffs, vor allem für die Bewertung der Entwicklungen seit der Nachkriegszeit. Dieser zeitliche Rahmen findet nicht von ungefähr das verstärkte Interesse in unterschiedlichen Cultural-Studies-Arbeiten – was sich bei Williams in dessen Arbeiten »The Long Revolution« (1961) und »Communications« (1962) zeigt –, da in diesen Zeitraum viele der für die modernen demokratischen Mediensysteme maßgeblichen Entwicklungen gefallen sind.4 So ist die institutionelle Form des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die für die nationalen Mediensysteme in Europa kennzeichnend ist, Moment einer spezifischen kulturellen Form, die für Williams in dem Konzept der mobilen Privatisierung wurzelt und auch mit seinen weiteren Entwicklungen darauf bezogen bleibt. Das Konzept der mobilen Privatisierung bietet sich in diesem Zusammenhang für die Formulierung von aktuellen Grundfragen an, die sich auch auf den Öffentlichkeitswandel mit seinen kulturellen Folgen erstrecken. Im folgenden kann es jedoch nicht um eine erschöpfende Behandlung aller mit dem analytischen Konzept der mobilen Privatisierung im Zusammenhang stehenden Erscheinungsformen gehen, sondern allein um die Darlegung der theoretischen und medienkritischen Anregungen, die mit dem Konzept vorgezeichnet oder angesprochen werden. Dazu werde ich im folgenden Kapitel zunächst das Konzept der mobilen Privatisierung in seinen Grundzügen vorstellen und daran anschließend auf den damit eröffneten Zusammenhang von Medien- und Gesellschaftskritik in den Cultural Studies eingehen. Im abschließenden Kapitel sollen dann sowohl Desiderate als auch Möglichkeiten einer Medienkritik, die sich aus der hier erörterten Perspektive ergeben, als aktuelle Herausforderungen diskutiert werden.
4
In den Sozialwissenschaften lässt sich für diesen Zeitraum aber auch an die Arbeit von Riesman, »Die einsame Masse« erinnern, während in den Cultural Studies unzweifelhaft Thompsons »The Making of the English Working Class« und Hoggarts »The Uses of Literacy« hinzugehören.
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1. Zum Konzept der mobilen Privatisierung5 Die Herleitung des Begriffs »mobile Privatisierung« steht in dem besagten Fernseh-Buch im Zusammenhang mit der in mediensoziologischer Hinsicht keineswegs weltbewegenden, sondern eher trivialen Beobachtung, dass die Anfang des 20. Jahrhunderts (noch neuen) Medientechniken – vor allem die des Rundfunks – zum einen eine die Gesellschaft wie die Kultur auf spezifische Weise mobilisierende Bedeutung haben (sie erlauben und ermöglichen eine historisch erstmalig gegebene Verbindung entfernt liegende Orte), während der Ort, in dem sie wirken, funktionieren, oder in dem sie genutzt werden, der private Raum ist, dessen Grenzen sich mit der Mobilität im Industriekapitalismus selbst erst herauszukristallisieren begannen. Die Erfahrungsweise, die diese kulturelle Form erlaubt oder mit sich trägt, besteht dabei – auch auf dem zweiten Blick – aus zwei gegensätzlichen Elementen. Mobilität als Inbegriff des ständigen Ortswechsels wird mit Privatheit, und der mit Privatheit verbundenen Vorstellung eines fixen Ortes verbunden. Diese Erfahrung ist in den sechziger und siebziger Jahren mit keinem Medium stärker verbunden als mit dem Fernsehen: »The experience of domestic television consumption is then one of ›simultaneously staying home and imaginatively, at least, going places‹« (Morley 2000: 149). Wie diese Form auf der alltagsweltlichen Seite gestaltet ist, welche Medien zum Einsatz kommen und welche Nutzungsweisen und Erfahrungsmöglichkeiten sich mit ihr verbinden, intendiert das Konzept, das auch begrifflich und sprachlich eine widersprüchliche Einheit ausdrückt, als Zusammenhang darzustellen. Mit dieser »kulturellen Form« ist die Ausweitung auf neue, in den siebziger und achtziger Jahren noch nicht absehbare medientechnische Neuerungen mit einbegriffen. Im Rahmen der Kommunikations- und Medienforschung versucht Williams mit diesem Konzept also den für die Theoriebildung zentralen Umstand zu beschreiben, dass die Rundfunkentwicklung im 20. Jahrhundert als Ausdruck einer auf Individualisierung und Kommerzialisierung angelegten Kultur zu verstehen ist, die auf der einen Seite die Mobilität der Individuen fordert und befördert, diese auf der anderen Seite jedoch in ihren abgeschlossenen Wohneinheiten privatisiert – wenn nicht sogar isoliert –, was auf die besagte widersprüchliche Vereinheitlichung deutet. Aktuell berührt das Konzept zwangsläufig auch den Wandel von Privatheit selber, wenn diese nun nicht mehr an einen fixen Ort gebunden ist, sondern zusammen mit den Medien mobilisiert wird. Der Logik des Begriffs entspräche diese Form dann einer »privaten Mobilisierung«.
5
Dazu auch Göttlich (1996: 270).
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In beiden Problemstellungen finden sich jeweils auch Aspekte des öffentlichkeitstheoretischen Problems ausgedrückt. Denn die Mobilität fordert und bedingt Kontakte, die allein aus der Sphäre der Privatheit heraus entwickelt werden müssen oder aufrecht erhalten werden können, wobei die Medienöffentlichkeit als ein Erfahrungsraum erscheint bzw. nur einen Erfahrungsraum bildet und darstellt, in dem sich die gesellschaftlichen Interessen ausdrücken. Über die konkreten kulturellen Formen und Erfahrungen ist sowohl in historischer als auch alltagskultureller Perspektive bislang jedoch wenig genaues bekannt. Und auch die Analyse bei Williams stützt sich zunächst auf für die Kommunikationswissenschaft ungewohnte Quellen der naturalistischen Dramen aus dem späten 19. Jahrhundert. Jedoch sind es solche literarischen Quellen, die aus der Perspektive von Schriftstellern und Intellektuellen neben zeitgenössischen Zeitschriften Aufschluss über die kulturellen Veränderungen ermöglichen. Bei Ibsen und später bei Strindberg – die von Williams als wesentliche Zeugen für den mit dem Konzept markierten Wandel herangezogen werden – bildete die familiäre Situation sozusagen prototypisch das Zentrum des dramatischen Interesses für die Darstellung des Wandels auch der bürgerlichen Öffentlichkeit: Als die das alltägliche Leben prägende Erfahrung und Situation galt dabei »[...] the family home, but men and women stared from its windows, or waited anxiously for messages, to learn about forces, ›out there‹, which would determine the conditions of their lives. The new ›consumer‹ technology which reached its first decisive stage in 1920s served this complex of needs within just these limits and pressures. [...] Some people spoke of the new machines as gadgets, but they were always much more than this. They were the applied technology of a set of emphasis and responses within the determining limits and pressures of industrial capitalist society« (Williams 1974: 27).
Wie aus dieser Schilderung deutlich wird, dient das Konzept zur Beschreibung einer grundlegenden gesellschaftlichen Tendenz, die u.a. am Fernsehen resp. den neuen Medien in ihrer weiteren Auswirkung beobachtet werden kann, und die als eine Voraussetzung der Kommunikationstechnikentwicklung im zwanzigsten Jahrhundert gewertet werden muss. Somit taucht das Konzept der mobilen Privatisierung nicht von ungefähr im Zentrum des Buches »Television, Technology and Cultural Form« (1974) erstmals auf. Die Grundannahme zu dem Konzept und seiner Beziehung zum Fernsehen bzw. zur Fernsehtechnologie lautet: »In the very broadest perspective, there is an operative relationship between
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a new kind of expanded, mobile and complex society and the development of a modern communication technology« (Williams 1975: 20). Das, was auf den ersten Blick an dieser Formulierung wie eine deterministische Annahme zu den Ursachen der medientechnischen Entwicklung klingt, ist aber hier bereits auf das kulturelle Produkt der aus einem spezifischen gesellschaftlichen Zusammenhang von Medientechnik und Medienorganisationen entspringenden Verbindung gerichtet. Und dieses Produkt ist offensichtlich nur in einer widersprüchlichen und auch merkwürdig klingenden Verbindung zu haben. Das besagte Konzept dient in diesem Horizont somit dem Beschreibungsversuch einer zunehmend zu beobachtenden Mobilisierung der Individuen – die sich aktuell nochmals anders darstellt als in den frühen siebziger Jahren vorstellbar –, die im Zusammenhang mit einer ebenfalls zunehmenden Privatisierung des Einzelnen als Ergebnis der gesellschaftlichen Entwicklung im industriekapitalistischen Zeitalter steht. Daraus lässt sich sogar schließen, dass viele der modernen Medientechniken wie das Handy oder das iPod geradezu das aus dem lebendigen Öffentlichkeitszusammenhang herausgefallen Individuum zu ihrem Ziel haben und diese Tendenz weiter verstärken. Oder anders formuliert: Im Mittelpunkt des medienkritischen Interesses steht die als Ergebnis des gesellschaftlichen Differenzierungsprozesses zu sehende »erzwungene Mobilität und ihre privatistische Reaktionsform«6, die mittels der Medientechnik erst in dem uns aktuell bekannten Ausmaß möglich und immer mehr forciert wird. Im Kontext der mit dem Begriff der mobilen Privatisierung beschriebenen widersprüchlichen Vereinheitlichung ist somit die Entwicklung der neueren Kommunikationsmedien zu analysieren und in ihrer Leistung zu bewerten, da sie die getrennten Individuen, die aus ihrem traditionalen und damit nicht weniger »lebendigen Öffentlichkeitszusammenhang« herausgelöst sind, qua Technikeinsatz auf grundlegend neue Art miteinander verbindet. Das Konzept der mobilen Privatisierung bietet damit, wie eingangs bereits gesagt, einen eigenständigen Kommentar zu der in der Medien- und Kommunikationswissenschaft für die Thematisierung dieser Fragen zentralen Behandlung der Öffentlichkeitsproblematik, die bei dem Strukturwandel der bürgerlichen Öffentlichkeit einsetzt. 6
Vgl. Dröge/Kopper (1991: 61). Auch im Fall von Dröge und Kopper finden wir ein Beispiel für die stillschweigende Wirkung von Williams' Medientheorie, diesmal sogar in Deutschland. Dröge und Kopper greifen in ihrer Argumentation auf das Schlüsselkonzept von Williams zur Erklärung des Zusammenhangs von Technik resp. medialer Entwicklung und Gesellschaft zurück, ohne nun explizit - außer durch einen Hinweis auf Television, Technology and Cultural Form - auf Williams’ Ansatz einzugehen, dem dieser Begriff zweifelsohne entlehnt ist.
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Aus dieser Perspektive betrachtet stellt das Konzept den Prozess der Ausbildung einer spezifischen, für den aktuellen »Öffentlichkeitszusammenhang« prägenden kulturellen Form in den Mittelpunkt und nutzt diesen für die Deutung und Beurteilung der spezifischen kulturellen Form des Mediums selber bzw. genauer der modernen Medienkultur. So macht das Konzept und die mit ihm eingenommene Perspektive u.a. darauf aufmerksam, dass diese Organisationsform des Sozialen, die für die im Privaten isolierten Individuen vor allem eine Verbindungsmöglichkeit qua Medientechniken erkennt, nicht nur zu einer spezifischen Organisationsweise von Medien, sondern eben auch zu einer ganz bestimmten institutionellen Ausbildung des Privaten selber führt, was auch auf aktuelle Herausforderungen der Öffentlichkeitstheorie verweist. Denn die mit dieser Form der Mobilität einhergehende Form der Privatheit bzw. der Erfahrungsrealität des privaten Raumes, um den es sich dabei handelt, ist nicht zu trennen von dem gesellschaftlich Allgemeinen, also der Reproduktionsweise des Kapitals, sowie der für die Reproduktion dieser Gesellschaftlichkeit zentralen Institutionen und Organisationen, die offensichtlich zu einer widerspruchsvollen Vereinheitlichung streben. Zum Gegenstand der Kritik wird also zum einen die Formveränderung der Privatheit unter technischem, kulturellem und öffentlichem Einfluss selber, womit zum anderen aber auch die Formveränderung der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Widersprüchen angesprochen ist, deren idealtypisch angelegtes Öffentlichkeitskonzept unter den bestehenden kulturellen Bedingungen nur »eine« intermediäre Leistung erbringen kann, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt »dennoch« ausreichen muss. Im Prozess der mobilen Privatisierung eingeschlossen liegen damit zum einen sowohl Herausforderungen als auch Gefährdungen für diese Form der Gesellschaftlichkeit mit ihrer Öffentlichkeit. Nicht zuletzt bestimmt sich von dieser Seite, was in der modernen Medienkultur überhaupt als Privatheit gelten kann oder auch gelten gelassen wird. Im Gegensatz dazu tritt in der Mediensoziologie verstärkt die in der Öffentlichkeitstheorie auch zu beobachtende Verfallsthese auf, die etwa wie am Beispiel Sennetts (1996) zu sehen, das Vordringen der Intimität in der Öffentlichkeit kritisiert, ohne die Frage zu stellen, was den überhaupt noch als privat erfahrbar oder welche Form von Privatheit in der Spätmoderne unter Bedingungen der Enttraditionalisierung und Individualisierung – um nur zwei neuere Schlagworte der Gesellschaftsanalyse zu nennen – vorstellbar ist. Ausgeblendet wird unter einer öffentlichkeitstheoretischen Behandlung dieses Problems auch ein bereits von John Carey (1990) angesprochener Erfahrungsgehalt, der von der durch die neuen Medientechniken möglichen Gemeinschaftsbildung spricht, die sich aber eben nicht lokal, sondern räumlich, eben mobil entfaltet (vgl.
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Carey 1990: 160) und damit sowohl die Grenzen des Nationalstaats als auch der damit verbundenen kulturellen Ordnungen und Semantiken herausfordert. Diese Herausforderung klingt auch bei David Morley im Rahmen von dessen Aktualisierung des Topoi der mobilen Privatisierung an, wenn er formuliert: »If the announcement of the obsolescence of the nation state is premature, nonetheless [...] ›in a world of migration and television satellites, the policing of frontiers and collective essences can never be absolute‹ and ›nations‹ require constant maintenance. Moreover, nationalisms articulate their purportedly homogenous ties and spaces selectively, in relation to new transnational flows and cultural forms« (Morley 2000: 12).
2 . M e d i e n k r i ti k u n d G e s e l l sc ha f t sk r i ti k Versteht man – wie hier erörtert – das Konzept der mobilen Privatisierung in seiner Anwendung auf das Fernsehen als Versuch, die gesellschaftlichen und kulturellen Tendenzen, die mit der Industrialisierung und Modernisierung traditionaler Gesellschaften in Gang gekommen sind, im Zusammenhang zu denken, dann ist es nicht verwunderlich, – und allein hierin liegt der oben angemerkte deterministischer Zungenschlag begründet – wenn die Rundfunktechnik zunächst als »notwendige« Antwort wie als Ausfluss der gesellschaftlichen Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert bewertet wird. Diesem Determinismus entzieht Williams sich aber mit der Blickwendung auf die kulturellen Folgen des Prozesses von »mobility and change«, die er in der Form von »lived experiences« auf der alltagskulturellen Ebene der Medienaneignung und der Einbindung der technischen Artefakte zur Bewältigung alltäglicher Herausforderungen verfolgt und herausstreicht (Williams 1976: 22). Zusammenfassend gesprochen geht es in dem Konzept um den durch die Massenkommunikationsmedien möglichen »Erfahrungshaushalt«, aber auch um Beschränkungen, wobei ihm letztere gerade dadurch verfestigt zu werden scheinen, da die Medien in eine kapitalistische Ordnung eingebunden sind und sich um einen Öffentlichkeitszusammenhang gruppieren, der den Dualismus von Privat/Öffentlich für seine Herrschaftszwecke durch eine spezifische Prägung der mobilen Privatisierung zu beherrschen sucht. Diese Kritik drückt sich bei Williams im Rahmen eines späteren Aufsatzes mit dem Titel »Problems of the coming period« (1983) nochmals schärfer aus. Dort hält er in einer Auseinandersetzung mit der neo-liberalen Politik der Thatcher-Regierung in den achtziger Jahren –
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reflektiert durch die »Brille« des Konzepts der mobilen Privatisierung – fest: »Die Identität, die uns angeboten wird, ist eine neue Art von Freiheit in dem Bereich unseres Lebens, den wir innerhalb der gesellschaftlichen Determinationen und Zwänge abgesteckt haben. Sie ist privat. Sie schließt viel Konsum ein. Vieles davon ist auf das Heim, den Wohnort ausgerichtet. Vieles davon nimmt eine Menge der produktivsten, vorstellungsreichsten Impulse und Aktivitäten der Menschen in Anspruch [...]. Gleichzeitig handelt es sich nicht um eine Privatisierung in der Form des Rückzugs, denn sie verleiht eine beispiellose Mobilität. Man kann in einer Art Schale leben [...]. Es bedeutet, nicht in einer festsitzenden Schale zu leben. Es ist eine Schale, die man mitnehmen kann [...]. Man bekommt das Gefühl einer ursprünglichen Identität, des wirklichen Lebens angeboten. Und die meisten Menschen begreifen es als ihr wirkliches Leben [...]« (Williams 1983: 261).
Wie diese Textstelle zeigt, geht es keinesfalls um die alleinige Behandlung öffentlichkeitstheoretischer Fragen, die überwiegend normativ begründet werden. Relevant wird erneut die Erfassung und Analyse eines doppelten Prozesses, der sich an der Oberfläche als Zusammenhang von medientechnischer Entwicklung und der Veränderung der Privatheit darstellt, der in dieser Formulierung an die materialistische Entfremdungsthese erinnert. Die von Williams formulierte Kritik an diesem Prozess hat Zielinski in seinem Buch »Audiovisionen« (1989) dahingehend aufgegriffen, indem er das Konzept der mobilen Privatisierung als Zugang zur Analyse des »Bedingungszusammenhang[s]« bei der »allmählichen Herausbildung einer neuen Identität für die Subjekte« (ebd.: 279) im Rahmen medientechnischer Dispositive aufgefasst hat. Dabei kommt er zu dem Urteil: »In lediglich affirmativer Entfaltung führt diese Identität zu jener Singularisierung, wie wir sie als Einfallstore für das kulturindustrielle Dispositiv beschrieben haben. Aber die ›mobile Privatisierung‹ ist ambivalent. Sie ist auch verbindbar mit alternativen Lebensentwürfen und im Gruppenzusammenhang verallgemeinerbar« (ebd.: 279).
Mit Blick auf diese Ambivalenz wären eine Reihe weiterer unterschiedlicher Fragen zu klären, die den Kern einer medienkritischen Positionierung ausmachen können. In dem von Zielinski herausgestrichenen Spannungsfeld von massenkultureller Kontrolle und emanzipatorischer Mediennutzung geht es konkret darum zu klären, wie beide Momente ineinandergreifen; wie diese sich möglicherweise wechselseitig bedingen oder
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doch getrennt voneinander verlaufen und dann unter bestimmten Voraussetzungen wieder aufeinander einwirken. Und auch Zielinski bewertet die für die Beschreibung und Analyse dieses Prozesses verwandten Dualismen von Intimität oder Privatheit versus Öffentlichkeit als eine Schwächung der wissenschaftlichen Perspektive, »weil sie nur aus einer diskursiven Praxis oder einer spezifischen Gruppe von Ausdruckspraxen gewonnen sind« (Zielinski 1993: 160). Und mit dieser Wendung schließt sich der Kreis zur Kritik der Öffentlichkeitstheorie, die das Konzept der mobilen Privatisierung im Interesse einer diesen Diskurs erweiternden Perspektive äußert. Diese medienkritische Ausrichtung wiederum trifft sich mit der Position der Cultural Studies, die einer Engführung an traditionellen Fragestellungen und Theorien skeptisch gegenüber stehen, gerade wenn es darum geht, die erstmals von der Öffentlichkeitstheorie aufgeworfene Frage des Verhältnisses von Privatheit und Öffentlichkeit von Seiten einer Analyse der kulturellen Praktiken selber vorzunehmen. Also von Seiten der von Richard Johnson (1999) beschriebenen kulturellen oder genauer subjektiven Formen im Moment ihrer Zirkulation. Mit dieser Blickrichtung verlängert sich im übrigen eine von Richard Hoggart in »The Uses of Literacy« (1954) erstmals aus Sicht der Cultural Studies verfolgten Perspektive, die auf die Veränderung der lebensweltlichen Situation von Arbeitern und Angestellten, etwa durch die kulturindustriell gefertigten Medienangebote, schaute und deren kulturverändernde Kraft im Auge hatte, die sich als Zerstörung oder Transformation von (traditionellen) Lebenszusammenhängen zeigte. Außer in den Cultural Studies – oder hierzulande der Volkskunde – finden sich im wissenschaftlichen Diskurs leider nur wenige Chronisten dieser für die Moderne einschneidenden Veränderungen, die eine Formulierung Maases (2003) aufgreifend, auch die »Unterwelten der Kultur« ernsthaft in den Blick nehmen. In dieser Ausrichtung kommt als Grundproblem der Cultural-StudiesAnalysen die Frage nach dem »gesellschaftlichen Leben subjektiver Formen in jedem Augenblick ihrer Zirkulation« (Johnson 1999: 169) zum tragen, die sich in dem hier im Mittelpunkt stehenden Problem im Begriff der mobilen Privatisierung niederschlagen, deren jeweilige kulturabhängige Form zu analysieren wäre. In dieser Perspektive steht die jeweilige Form oder kulturelle Ausprägung der mobilen Privatisierung in einem spezifischen Vermittlungsverhältnis zum gesellschaftlichen Differenzierungsprozess, als dessen Zeugen Williams für die Beschreibung der Situation am Ende des 19.Jhdts. eben auch deshalb – wie oben bereits angedeutet – die Dramen Ibsens herangezogen hat, da dieser mit seinen typischen Szenen einen Vorschein auf das erstehende gesellschaftliche und kulturelle Verhältnis
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der privaten Isolierung geboten hat. Aber auch dieser Erfahrungszusammenhang ist in der Medien- und Kommunikationswissenschaft bislang vorwiegend in öffentlichkeitstheoretischer Perspektive und nicht als Problem einer widersprüchlichen Vereinheitlichung, wie sie sich auf der lebensweltlichen bzw. alltagskulturellen Ebene darstellt, behandelt worden. In der historischen Herleitung des Problems findet sich zwischen den Zeilen – mit den Topoi der naturalistischen Dramen veranschaulicht – auch ein Hinweis auf die u.a. von Dröge und Kopper (1991) an anderer Stelle analysierte Zertrümmerung des lebendigen bürgerlichen Öffentlichkeitszusammenhangs, den die damals neuen Medien in eine Form transformieren, die in öffentlichkeitstheoretischer Perspektive bei Habermas im Begriff des kulturkonsumierenden Publikums zum Ausdruck kommt, also bei dem Problem des Strukturwandels der Öffentlichkeit einsetzt. Wenn man diesen Prozess auf Basis des Dualismus privat/ öffentlich kritisiert und der Öffentlichkeitsfrage Vorrang einräumt, dann gehen nach Williams gerade jene Aspekte des »Privaten« verloren, in denen die Individuen – jenseits durchaus bestehender Zwänge – bereits auch »Freiheiten« errungen hatten. Der Strukturwandel der Öffentlichkeit konzentriert sich stärker auf die Frage der Kontrollgenerierung gegenüber den »Massen«, getarnt im Integrationsdiskurs als Sorge um die »gute Gesellschaft«. Williams ist an dieser Stelle nun nicht so blauäugig, die möglichen Freiheiten nicht bereits unter der Kontrolle von massenkulturellen Strukturen und Interessen zu sehen, die den von Habermas u.a. kritisierten Öffentlichkeitszusammenhang konstituieren. Um die Verteidigung möglicher »Freiheiten« ist es ihm mit dem Konzept der mobilen Privatisierung aber insofern zu tun, als dass dieser auch über die Eingriffs- und Gestaltungsmöglichkeiten aufklären helfen soll, die in der Privatheit selber angelegt sind. Für weiterführende Aussagen zu diesem Verhältnis braucht es einer breiteren Kenntnis der Formen und Strukturen des Privaten und alltäglichen Lebens. Dies ist kein Versäumnis der Öffentlichkeitstheorie, aber mit dem Fortwirken der mobilen Privatisierung bzw. der privaten Mobilisierung sollte in medienkritischer Absicht die Notwendigkeit zu einer Perspektivenerweiterung nachvollziehbar sein. An dieser Stelle erwächst für die Medienkritik mit Blick auf die Ausformung spezifischer Kommunikationsverhältnisse im Zeichen der mobilen Privatisierung eine Herausforderung nicht nur für deren Beschreibung, sondern auch für deren praxistheoretische Ausrichtung.
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3 . I m p l i k a ti o n e n d e s K o n z e p ts d e r m o b i l e n Privatisierung für eine aktuelle Medienkritik Das Konzept der mobilen Privatisierung setzt Williams zur Beschreibung einer am Ende des 19.Jhdt. anbrechenden gesellschaftlichen Tendenz ein, die er im wesentlichen auf die großtechnologischen Innovationen und ihrer kulturverändernden Kraft bezogen sieht, und die sich bis auf unsere Tage, wenn auch prozessual gewandelt und in ihrer Gestalt deutlich verändert, fortpflanzt. Den Hintergrund seiner Überlegungen bildet – wie im Beispiel des »flow« – der formelhaft als »technology and cultural form« bezeichnete Bezugsrahmen seiner Analysen. Unter dieser Blickrichtung interessiert ihn das wechselseitige Entwicklungs- oder Bedingungsverhältnis, das die Dominanz einer die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung prägende Kraft offenbart, die an der Privatisierung interessiert und orientiert ist, zugleich aber mit dieser Ausrichtung und Orientierung auch Widersprüche schafft, auf die die Medienkritik sich richten sollte. Die mit der möglichen Anwendung des Konzepts vorgezeichnete Auseinandersetzung mit den alltagskulturellen Formen von Privatheit und deren Wandel scheint mir ein Desiderat der aktuellen medienkritischen Auseinandersetzung, in der die öffentlichkeitstheoretische Diskussion und Theoriebildung immer stärker von den kulturellen Implikationen der Medien und der Medienkommunikation absieht und in Reaktion auf die Ausbildung von Teilöffentlichkeiten verstärkt mit normativen und funktionalistischen Begriffen und Konzepten argumentiert (vgl. Weßler 1999, Gerhards/Neidhardt 1990). An den Stellen jedoch, an denen den kulturellen Implikationen weiter nachzugehen wäre, etwa in der Frage der Ausbildung von »Unterhaltungsöffentlichkeiten«, dominiert ebenfalls ein auf die Vermittlung politischer Inhalte konzentrierter Blick, der vor allem die populärkulturellen Momente in der öffentlichen Kommunikation auszublenden droht. Die kulturelle Form des Mediums, d.h. die Weiterentwicklung der stilistischen und formalen Ausdrucksweisen wie der Inhalte werden nicht in Beziehung gesetzt zu veränderten gesellschaftlichen Kommunikationsweisen, die im Prozess der mobilen Privatisierung aufweisbar werden. Diese werden auch nicht als ein veränderter kultureller Ausdruck, d.h. als das Produkt veränderter Kommunikationsverhältnisse thematisiert. An die Stelle einer Analyse der kulturellen Form und deren Folgen, tritt eine normative Betrachtung der Funktionsweise der Öffentlichkeit, die auch die Medienkritik mit anleiten soll. Diese kann dann aber kaum mehr als Abweichungen von einem wie auch immer begründeten Ideal der Öffentlichkeit feststellen, anstatt den beobachtbaren Wandel als Ausdruck bestimmter Machtverhältnisse und damit verbundener Interessen zu deu-
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ten, dessen Einfluss auch auf das kulturelle Produkt der Privatheit weitreichender ist, als ein am Verhältnis von Privat und Öffentlich orientierte Problematisierung erfassen kann. So gesehen bleibt die Herausforderung, mit welcher Privatheit denn die Form der Öffentlichkeit, die für demokratische Gesellschaften als funktional behandelt wird, zu rechnen hat und welche Herausforderungen gerade im Wandel von Privatheit für die Öffentlichkeit erwachsen. Damit wäre die von Habermas so klar in den Vordergrund gestellte Kolonialisierung der Lebenswelt in ihren vielfältigen Spielarten ernst zu nehmen und mit Blick auf die Leistung neuer Medientechnologien zu analysieren. Damit stehen wir vor einer Situationsbeschreibung, die zu einer Neubewertung unserer Konzepte auffordert. Die hier vorgestellte und bereits in den siebziger Jahren entwickelte Perspektive von Williams stellt einen von den Cultural Studies eröffneten Weg zur Analyse von »Mikropolitiken« und deren Möglichkeiten dar, die in neuen Medienumwelten immer vielfältiger werden. In diesem Rahmen muss es um die Suche nach Reaktionsformen gehen, die sich in neueren handlungstheoretischen Überlegungen zur Kreativität des Handelns andeuten, und die auf die vom Zuschauer bzw. vom Publikum zu erbringende Leistung ausgehen, ohne allein im Diskurs um die Medienkompetenz bereits wieder eingehegt zu werden. Auch für diese Fragen haben wir uns daran gewöhnt, die Privatheit als Rückseite der Öffentlichkeit zu sehen und wenn nicht als solche, so doch als erklärten Adressaten der Medienleistung. Auch diese Überlegungen führen zu den Anforderungen an eine Mikropolitik als verändernde Kraft der Öffentlichkeit und des Öffentlichkeitsdiskurses, wie sie Eric Maigret (2003) in seiner »Sociologie des Medias« als Fluchtpunkt für mediensoziologische Anstrengungen diskutiert hat. Die Entwicklung einer solchen Perspektive sieht auch dieser Autor als Konsequenz der in der Öffentlichkeitstheorie gelegenen Einschränkungen. Denn in dieser zentrieren sich im Wesentlichen zwei Debatten (vgl. ebd.: 218f.): 1. Die Perspektive des rational Handelnden und seiner Handlungslogiken wie Orientierungsleistungen und 2. die Frage des Politischen im Zusammenhang mit dem Publikum als Adressaten. Das Konzept der mobilen Privatisierung verweist auf das Kraftfeld, in dem dieser Diskurs steht, von dem er herausgefordert wird und das ihn auf die Probe stellt. Allerdings lässt sich die Bewegungsrichtung der mobilen Privatisierung auch unter dem von Zygmunt Baumann (1995) in seiner Analyse des postmodernen Zustands geäußerten Vorbehalt betrachten und beurteilen, wonach sich die Wirkungsrichtung der postmodernen Konstellation darin zusammenfassen lässt, dass sie eher noch zu einer Privatisie-
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rung von Ängsten beiträgt. Baumann urteilt zu der von ihm als grundlegend erachteten Tendenz: »Die Moderne war eine fortwährende, kompromisslose Anstrengung, die Leere zu füllen oder zuzudecken; die moderne Mentalität war fest überzeugt, die Aufgabe könne erfüllt werden – wenn nicht heute, dann morgen. Die Sünde der Postmoderne besteht darin, die Anstrengung aufzugeben und den Glauben zu leugnen [...]« (ebd.: 17),
wodurch der Angst vor der Leere nicht ihre dramatische Triebkraft genommen werden kann. Im Ergebnis folgt nach Baumann daraus eine »Privatisierung der Ängste«, womit eine weitere Seite zu der im Zusammenhang mit der Neo-Liberalismus-Kritik beschriebenen negativen Lesart der Folgen der mobilen Privatisierung in der Gegenwart hinzugefügt wäre. Nun ist Baumann kein Medienkritiker. Seine Darstellung der von den Individuen versuchten und gesuchten Angstbewältigung lässt sich für medienkritische Überlegungen jedoch auf das Konzept der mobilen Privatisierung übertragen, wenn er etwa festhält: »Die Privatisierung der Ängste ist zugleich eine Privatisierung der Fluchtwege und Fluchtfahrzeuge [...]« (ebd.: 18), als die sich Medien durchaus verstehen lassen. Die Privatisierung ist, so Baumann, dabei eine Do-It-Yourself-Flucht. »Von der Kollektivität erwartet man nur eines: einen Montagesatz für die DIYArbeit. Die soziale Welt stellt sich dem Individuum als unerschöpflicher Vorrat an Angeboten dar, genauer gesagt als Markt« (ebd.: 18). Und dieser Markt, so Baumanns Gedanken weitergedacht, entzieht sich einer am Dualismus Privat/Öffentlich orientierten Kontrolle, Auflösung oder Heilung, weil solcherart die Voraussetzungen für die Öffentlichkeit mittlerweile zerstört ist. Für die Medienkritik im Rahmen der Öffentlichkeitstheorie hat diese Beschreibung nun besondere Konsequenzen, über die es in unterschiedlichen Kontexten mit der Anwendung der hier erörterten Perspektive konkreten Aufschluss zu gewinnen gilt. In der medienkritischen Reflexion auf die Formen der Privatheit und deren Veränderung unter den Bedingungen der (geforderten) Mobilisierung erwächst aber auch der öffentlichkeitstheoretischen Perspektive eine entscheidende Herausforderung, deren Konturen hier in Grundzügen vorgezeichnet werden konnten.
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L i t e r at u r Baumann, Zygmunt (1995): Ansichten der Postmoderne, Hamburg, Berlin: Argument Verlag. Carey, James W. (1990): Communication a culture: Essays on media and society, Boston: Unwin Hyman. Dröge, Franz/Kopper, Gerd. G. (1991): Der Medien-Prozess, Opladen: Westdeutscher Verlag. Gerhards, Jürgen; Neidhardt, Friedrich (1990): Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit. Fragestellungen und Ansätze. Discussions Paper FS III-90-101, WZB-Berlin. Göttlich, Udo (1996): Kritik der Medien, Opladen: Westdeutscher Verlag. Habermas, Jürgen (1962): Strukturwandel der Öffentlichkeit, Darmstadt u. Neuwied: Luchterhand Verlag. Hallenberger, Gerd; Nieland, Jörg-Uwe (Hg.) (2005): Neue Kritik der Medienkritik. Werkanalyse, Nutzerservice, Sales Promotion oder Kulturkritik? Köln: Herbert von Halem Verlag. Horkheimer, Max: Adorno, Theodor, W. (1987): Dialektik der Aufklärung. In: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften Bd.5, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag, S. 13-290. Jarren, Otfried (1997): Macht und Ohnmacht der Medienkritik oder: Können Schwache Stärke erlangen? Medienkritik und medienpolitische Kommunikation als Netzwerk. In: Hartmut Weßler et al. (Hg.), Perspektiven der Medienkritik, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 307-328. Johnson, Richard (1999): Was sind eigentlich Cultural Studies? In: Roger Bromley/Udo Göttlich/Carsten Winter (Hg.), Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, Lüneburg: zu Klampen Verlag, S. 139-188. Kittler, Friedrich (1986): Grammophon, Film, Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose. Maase, Kaspar; Warneken, Bernd Jürgen (2003): Der Widerstand des Wirklichen und die Spiele sozialer Willkür. Zum wissenschaftlichen Umgang mit den Unterwelten der Kultur. In: dies. (Hg.), Unterwelten der Kultur, Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, S. 7-24. Maigret, Eric (2003): Sociologie de la communication et des médias, Paris: Armand Colin. Morley, David (2000): Home Territories: Media, Mobility and Identity, London: Routledge. Weiß, Ralph (Hrsg.) (2005): Zur Kritik der Medienkritik. Wie Zeitungen das Fernsehen beobachten, Hamburg: Vistas Verlag.
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Weßler, Hartmut (1999): Öffentlichkeit als Prozeß. Deutungsstrukturen und Deutungswandel in der deutschen Drogenberichterstattung, Opladen: Westdeutscher Verlag. Williams, Raymond (1961): The Long Revolution, London: Chatto & Windus. Williams, Raymond (1962): Communications, Harmondsworth: Penguin. Williams, Raymond (1974): Television, Technology and Cultural Form, London: Routledge. Williams, Raymond (1983): Problems of the Coming Period, in: New Left Review, No. 140, S. 7-18. Williams, Raymond (1983): Mobile Privatisierung. In: Das Argument, Jg. 26, Nr. 144, S. 260-263. Zielinski, Siegfried (1989): Audiovisionen, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt. Zielinski, Siegfried (1993): Zur Technikgeschichte des BRD-Fernsehens, in: Knut Hickethier (Hg.), Institution, Technik und Programm. Rahmenaspekte der Programmgeschichte des Fernsehens, Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, München: Wilhelm Fink Verlag, S. 135-170.
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D I E U T O P I E D E R A U F K L Ä R U N G AL S »L I S T D E R G E S C H I C H T E «. Z U R N O T W E N D I G K E I T U N D MÖGLICHKEIT VON MEDIENKRITIK ESTHER KAMBER/KURT IMHOF Gemessen an der Utopie der Aufklärung, der wir die Moderne verdanken, ist die Moderne immer illegitim. Kritik – Medien- und Gesellschaftskritik – ist daher ein inhärentes Potential der Moderne und sie muss sich auf die starken Normen der Aufklärung beziehen, insbesondere auf das Öffentlichkeitsideal der Aufklärungsphilosophie. Der vorliegende Beitrag plausibilisiert die Feststellung im Untertitel in drei Schritten und zeigt erstens die ungebrochene Aktualität der kritischen Basis des Aufklärungsverständnisses von Öffentlichkeit in der Auseinandersetzung mit der medienvermittelten öffentlichen Kommunikation; er zeigt zweitens, dass sich die normativen Postulate des Aufklärungsverständnisses von Öffentlichkeit für eine Kritik an der medienvermittelten Kommunikation eignen; und er zeigt drittens eine Operationalisierung und empirische Validierung der »demokratischen« Qualität medienvermittelter Kommunikation jenseits eines bloßen Kulturoptimismus oder -pessimismus (vgl. Weßler 1997/Ross 1997).
1 . L i s t d e r G e sc hi c h te Eine Auseinandersetzung mit der öffentlichen Kommunikation moderner Gesellschaften hat sich zuerst den starken Normen und Werten anzunehmen, die ihr insbesondere seit der Aufklärung zugrunde liegen. Wenn man die Auseinandersetzungen um die Öffentlichkeit in den Geistes- und Sozialwissenschaften und im Feuilleton verfolgt, dann fällt auf, dass die Rede vom Zerfall, der Vermachtung oder der Monopolisierung der Öffentlichkeit und die Klage über die Trivialisierung ihrer Inhalte durchwegs auf einem Öffentlichkeitsverständnis beruht, das außerordentlich stark normativ geladen ist. Weite Bereiche der geistes- und sozialwissenschaftlichen Kommunikations-, Publizistik- und Medienforschung orientieren sich ähnlich wie kulturkritische Essays implizit oder explizit am Öffentlichkeitsideal der Aufklärungsphilosophie oder gar am aristoteli267
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schen Öffentlichkeitsbegriff, um insbesondere die politische Kommunikation moderner Gesellschaften daran messen zu können. Dadurch wird das herrschaftsemanzipierte Raisonnement freier Bürger, das gemäß dem Diktum Immanuel Kants »Vernunft und Tugend« und demjenigen Aristoteles den »logos« produziert, zum Maßstab eines beständigen Niedergangs (vgl. Imhof 1996). Gerade jedoch in dieser Klage über den Niedergang der Öffentlichkeit beweist sich die Wirkmächtigkeit der regulativen Idee herrschaftsemanzipierten Raisonnements, die auf das engste mit der Aufklärung verbunden ist. An diese regulative Idee sind die Freiheits-, Bürger- und Menschenrechte und das republikanische wie liberale Konzept demokratischer Meinungs- und Entscheidungsfindung untrennbar geknüpft. Mit anderen Worten: Es handelt sich kategorial um eine derjenigen ›Weberschen‹ »Weichensteller-Ideen«, deren normative Geltung und gesellschaftsstrukturelle Institutionalisierung die »Bahnen« bestimmt, »in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte«.1 Die »Idee« der Konstitution von Vernunft und Tugend durch herrschaftsemanzipierte Kommunikation führte zu den Normen mit dem nach wie vor höchsten Status im Verfassungs-, Völker- und Menschenrecht und damit zum zentralen Maßstab einer Demokratiekritik, deren nun über 200jährige Persistenz die Moderne als Moderne definiert. Utopie blieb allerdings der Vernunftsabsolutismus: Der revolutionäre Gehalt der Forderung nach Transparenz der Herrschaft und – alsbald darüber hinausgehend – nach Herrschaft der Vernunft, die das Bürgertum in selbstbewusster Verkörperung des dritten Standes zum Postulat erhob, entzog der durch das Gottesgnadentum begründeten ständisch-patrimonialen Herrschaft die Legitimation. Die Selbsterhebung des Bürgertums zum Souverän bedeutete die posttraditionale Negation der natürlichen Ungleichheit der Menschen und damit die letztlich unaufhaltsame Ablösung des Ständepartikularismus durch ein Staatsbürgertum mit idealiter gleichen Rechten und Pflichten. Dieser fundamentale Wandel von der Heterogenität des Untertanenverbandes zur Homogenität des Staatsbürgerpublikums konnte sein zentrales Postulat nur in der Forderung nach einer freien Öffentlichkeit finden. Die »selbstverschuldete«, »beinahe zur Natur gewordene Unmündigkeit« lässt sich – so Kant – nur im Licht der »Öffentlichkeit« überwinden. Die Rationalisierung der traditionalen Herrschaft zur Macht der Vernunft hat das freie Raisonnement mündiger Bürger zur unabdingbaren Voraussetzung.
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»Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ›Weltbilder‹, welche durch ›Ideen‹ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.« (Weber 1973: 414).
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DIE UTOPIE DER AUFKLÄRUNG ALS »LIST DER GESCHICHTE«
Zwischen der »selbstverschuldeten Unmündigkeit« und der vernunfterleuchteten Mündigkeit steht also Öffentlichkeit, und nur, was in das Licht dieser Öffentlichkeit gelangt, wird der dunklen Unvernunft einsamer Herrschaft entrissen. Indem die Aufklärer das herrschaftsemanzipierte Raisonnement zur Bedingung von Vernunft und Tugend erheben und damit das Wahre und das Gute gemeinsam als Resultat eines säkularen Fortschrittsprozesses verstehen, wird die Gegenwart zur Etappe auf einem Pfad, der in die lichte Zukunft führt, während sich die Vergangenheit im Dunkel der Unvernunft verliert. Damit verwandelt sich die traditionale Eschatologie zur modernen Geschichtsphilosophie – und indem die Eschatologie zur Ideologie wird, erleidet sie das Schicksal aller Ideologien: sie scheitert am selbst geschaffenen Bewährungsdruck, d.h. an der Realisierung der eigenen Fortschrittsziele. Utopie blieb ebenfalls das Öffentlichkeitsideal: Auch unter Verabschiedung des Vernunftsabsolutismus der Aufklärung, zeigt die Geschichte der Moderne, dass die Grundfunktionen, die die politische Öffentlichkeit moderner Gesellschaften erfüllen muss – die Sicherung von Intersubjektivität, die seismographische Funktion der Selektion sozialer Probleme für die Meinungs-, Willens- und Entscheidungsfindung und die Kontrolle der Herrschaftsordnung – sich nicht auf das basisdemokratische Ideal eines permanenten Versammlungsdiskurses abstellen lassen. Entsprechend konnten die Aufklärungsgesellschaften das revolutionäre Projekt der Institutionalisierung einer gesellschaftsweiten Arena, der ihren Teilnehmern die freie Verfügung über die gemeinsamen Dinge des Lebens in Permanenz sichert, in dem Herrschaft durch die kollektive Macht konsensorientierten Diskurses substituiert wird, Traditionen sich reflexiv verflüssigen und die Umstände der materiellen Reproduktion der Gesellschaft als partikuläre Privatangelegenheiten keinen Einfluss haben dürfen, nicht über die Errichtung der bürgerlichen Gesellschaft hinaus entfalten. Im politischen Kampf um die staatliche Macht wird die Öffentlichkeit als Sphäre herrschaftsemanzipierten Raisonnements dementiert. Die in ökonomischen Konzentrationsprozessen akkumulierte wirtschaftliche Macht wie die pauperisierten Unterschichten ließen sich nicht von öffentlicher Einflussnahme abhalten. Die der Privatheit zugeordnete materielle Reproduktion wurde dadurch immer öffentlicher, die Teilnehmer öffentlichen Raisonnements über die Auflösung der Zensusbestimmungen immer zahlreicher, während der dem Diskurs-Habitus des Bildungsbürgertums entsprechende Charakter einer affektkontrollierten öffentlichen Deliberation sich sukzessive auflöste. Trotz diesen nicht realisierbaren Zielen finden wir in der Moderne eine beständige Selbstkritik am Maßstab der Aufklärungsideale. Bereits 1840 schrieb Alexis de Tocqueville:
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KULTURINDUSTRIE REVIEWED »In den demokratischen Völkern besitzt [...] die Öffentlichkeit eine einzigartige Macht [...]. Sie bekehrt zu ihrem Glauben nicht durch Überzeugung, sie zwingt ihn auf und lässt ihn durch eine Art von gewaltigem geistigem Druck auf den Verstand jedes einzelnen in die Gemüter eindringen. In den Vereinigten Staaten übernimmt es die Mehrheit, den Menschen eine Masse fertiger Ansichten zu liefern, und sie enthebt sie dadurch der Aufgabe, sich selbst eine eigene zu bilden« (Tocqueville 1959: 22).
Mit dieser Kritik des Historikers und Kulturkritikers Tocqueville akzentuiert sich eine Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit, die bis heute anhält, mal mehr, mal weniger virulent ist, aber in ihrer Kernaussage gleich bleibt. Die real existierende öffentliche Kommunikation ist in dieser Perspektive nicht Kommunikation zum Zwecke der argumentativen »Überzeugung«, sie ist nicht herrschaftsemanzipiertes Raisonnement über die gemeinsamen Dinge des Lebens, sondern – in den Worten Tocquevilles – »Zwang«, d.h. »eine Art von gewaltigem geistigem Druck auf den Verstand jedes einzelnen«. Marxens spätere Formulierung über die »herrschende Ideologie als Ideologie der Herrschenden« klingt hier an. Für diesen Kritiktypus lassen sich seither Beispiele aus allen politischen Milieus anführen: Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas etwa sprechen im Namen der ›ersten‹ Kritischen Theorie von der Öffentlichkeit als »universalem Verblendungszusammenhang« (vgl. Adorno 1968), von einer »Massenkultur«, die zum bloßen »Konsumgut« degeneriert sei (vgl. Habermas 1984); Ralf Dahrendorf charakterisiert die Subjekte der modernen Mediengesellschaft als »passiv und einsam« (vgl. Dahrendorf 1969 / Riesmann 1956); Hannah Arendt sieht das freie Handeln der Menschen unter dem Einfluss moderner Massenmedien zum bloßen »Verhalten« »außengesteuerter« und bloß noch konsumorientierter »Jobholders« absinken (vgl. Arendt 1974). Die extensive Thematisierung von »sex & crime«, die Entwicklung des »human interest-Journalismus« und der Verlust des öffentlichen Distanz- und Diskurshabitus beklagt Richard Sennett als »Tyrannei der Intimität« (vgl. Sennett 1983); Helmut Dubiel spricht von einem gegenaufklärerischen politischen »Populismus« (vgl. Dubiel 1986) und Oskar Negt und Alexander Kluge reden von der ideologischen Rattenfängerei in der »Saisonöffentlichkeit der Wahlen« (vgl. Negt/Kluge 1972). Öffentlichkeit präsentiert sich hier nur noch in ihren Zerfallsformen. Entgegen dieser Zerfallsbeschreibungen muss das klassische Öffentlichkeitsverständnis als Geschichtsphilosophie der Aufklärung identifiziert werden, der durch die massenwirksame Entlegitimation der bestehenden patrimonialen Herrschaftsformen materielle Gewalt zukam, den Weg in die Moderne ebnete und ihre Potentiale bestimmte, jedoch ihre
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DIE UTOPIE DER AUFKLÄRUNG ALS »LIST DER GESCHICHTE«
Institutionalisierung als herrschaftsemanzipierte Öffentlichkeit freien Raisonnements, das Vernunft und Tugend hervorbringt, im Sinne des Aufklärungsideals nie erlebte. Unter dem Druck konfliktueller, nun ökonomisch-politischer Machtansprüche konnte die Öffentlichkeit die Bedingung ihrer Vernünftigkeit, die Freiheit von privaten Interessen, nicht erfüllen. Die Organisation sozioökonomischer, ethnischer und religiöser Wert- und Interessengegensätze in Parteien, der Bedarf nach Legitimierung der bestehenden ökonomischen und politischen Herrschaft und der Bedarf nach Entlarvung existierender Ungleichheit mitsamt ihrer materiellen und ideellen Not verwandelten die politischen Briefe, Pamphlete und Periodika jener literarisch-politischen agora-Öffentlichkeit der Aufklärung in Partei- und Verbandszeitungen (Strukturwandel der Öffentlichkeit). Dadurch wurde die Öffentlichkeit zur Arena des Klassen-, Kultur- und Nationalitätenkampfes. Die »Tyrannei der Mehrheit« ersetzt diejenige des Fürsten oder der patrizischen Obrigkeit. Die Mehrheit als solche wird nicht Subjekt, sondern vielmehr Ziel allen politischen Handelns und damit Objekt politischer Propaganda. Auch die durch die Werbewirtschaft kommerzialisierte Presse zerstörte – gemessen am Aufklärungsideal – die Bedingungen eines freien Diskurses derjenigen, die sich für das Gemeinwohl interessierten und sich dazu als mündig erachteten. Die Rollenspezifizierung der öffentlich Debattierenden zu Partei-, Verbands- und Regierungsvertretern und ihre Ablösung von der eigenständig werdenden Berufsrolle der Zeitungsredakteure, die Verwandlung der literarisch-politischen Periodika in Parteiorgane, die Entwicklung der Werbewirtschaft, verbunden mit der teilweisen oder gänzlichen Emanzipation der Medien von ihren Parteien zugunsten neuer, nun ökonomischer Abhängigkeiten, die Kommerzialisierung, die Monopolisierung und schließlich die Boulevardisierung verwandeln die bürgerliche Öffentlichkeit wesentlich zur Veröffentlichkeit eines eigenlogischen Mediensystems im Wettbewerb um Medienkonsumenten (neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit). Die Versammlungsöffentlichkeit aller interessierter Staatsbürger, die auf der Basis ihrer materiellen Unabhängigkeit selbstbestimmt und konsensorientiert über die gemeinsamen Dinge des Lebens raisonnieren, blieb Utopie. Aber gerade als Utopie wurde das Öffentlichkeitsideal der Aufklärung zu einer Hegelschen List der Geschichte. Denn wir verdanken dem zutiefst politischen Öffentlichkeitsverständnis der Aufklärung die demokratischen Institutionen des modernen Rechtsstaats wie die Bürger- und Menschenrechte. Durch die geschichtsphilosophische Aufladung der Dichotomien Vernunft gegenüber dem Irrationalen einerseits, dem Sittlichen gegenüber dem Unsittlichen andererseits wird Öffentlichkeit zu einem Schlüsselterminus der modernen Umgangssprache insbesondere der
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politischen Sprache, der Sprache der Philosophie, der Sprache des Rechts und der Sprache der Sozialwissenschaft.
2 . B a s i s n o r m en d e r M o d e r n e Unsere Klassiker standen vor einem Problemzusammenhang vor dem wir nach wie vor stehen und zu dem auch sie sich positionieren mussten: Es handelt sich um die ungeheuere Bedeutung, die die wissenschaftsverliebte Aufklärung der herrschaftsemanzipierten Kommunikation verlieh. Öffentlichkeit ist allein schon deshalb eine zentrale – wenn nicht die zentralste – sozialwissenschaftliche Kategorie. Eine zivilisierte Gesellschaft war für die Aufklärungsphilosophie ohne Öffentlichkeit nicht denkbar: Erst die Öffentlichkeit schafft eine zivilisierte Gesellschaft, verabschiedet die Vormoderne als »selbstverschuldete Unmündigkeit«, ist somit die Bedingung emanzipierter Selbstherrschaft. In der Perspektive der Aufklärung wirkt sich die in freier Öffentlichkeit deliberativ entstehende Vernunft auf zwei Seiten hin aus: Zum einen sorgt sie für die Mündigkeit der Staatsbürger und versetzt sie qua eigenes Denkvermögen in die Lage, zu theoretischen und praktischen Einsichten zu gelangen, die auf prinzipielle Weise an das Denkvermögen der anderen Staatsbürger anschlussfähig sind. Zum anderen sind Vernunft und Tugend Voraussetzung der Gesellschaftsfähigkeit des Menschen. Gerade weil die Deliberation Universalistisches hervorbringt, können sich die Menschen auf das Allgemeingültige einigen (vgl. Kohler 1999). Damit ist auch die soziale Integration das Produkt von Freiheits- und Vernunfthandeln: Integration ist die gemeinsame Einsicht in das Allgemeingültige und Notwendige. Voraussetzung hierzu ist die Freiheit der Reflektierenden. In politischer Hinsicht wird dadurch die Meinungs- und Redefreiheit zur Bedingung von Vernunft und Tugend und diese wiederum adeln das Prinzip der Publizität. Öffentlichkeit wird entsprechend zur zentralen Forderung der Aufklärung gegenüber der geheimen Kabinettspolitik der anciennes régimes. Analytisch lässt sich der normative Horizont des Aufklärungsverständnisses von Öffentlichkeit in drei Grundbegriffen herausarbeiten: (1) Konstitution von Vernunft und universalistischer Moral: In deliberativer Hinsicht versteht sich die Aufklärungsöffentlichkeit als Vernunft konstituierende Versammlungsöffentlichkeit, deren verschiedene Erscheinungsräume (Akademien, Aufklärungsgesellschaften, Nationalvereine etc.) über die Interaktionsgeflechte des (Bildungs-)Bürgertums und über Periodika miteinander und mit dem Parlament dem Ausschuss aller öffentlichen Erscheinungsräume verbunden sind. In diesen Kom-
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DIE UTOPIE DER AUFKLÄRUNG ALS »LIST DER GESCHICHTE«
munikationsflüssen soll der doppelte Universalismus entstehen: der Universalismus der Vernunft und der Universalismus der Moral. Nennen wir es die deliberative Dimension der Moderne. Sie hat nach wie vor den höchsten Normstatus überhaupt: Sie hat verfassungs-, menschen- und völkerrechtlichen Status. (2) Emanzipation und Rechtsstaat: In politisch-rechtlicher Hinsicht emanzipiert sich der Untertan auf der Basis dieser kommunikativen Infrastruktur zum Staatsbürger und das räsonierende Publikum zum Souverän, während die staatlichen Institutionen durch das Öffentlichkeitsprinzip und das bürgerliche Recht domestiziert und die Bürger-, Minderheiten- und Menschenrechte geschützt werden. Dies führt zur diffizilen Balance von Menschenrechten und Demokratie im Rechtsstaat. Nennen wir es die politisch-rechtliche Dimension der Moderne. Sie hat nach wie vor ebenfalls den höchsten Normstatus im Verfassungs-, Menschen- und Völkerrecht. (3) Demokratie und Nationalstaat: In sozialintegrativer Hinsicht konstituiert dies die bürgerliche Gesellschaft, die sich alsbald über Wahlrechtsreformen im Zeichen der Nationalbewegungen zur verfassten Staatsnation erweitert. Der Universalismus der Aufklärung stoppt dadurch realpolitisch im Partikularismus des Nationalstaats: die Definition des Souveräns führt über einen sozialintegrativen Gemeinsamkeitsglauben zu einem nationalen Loyalitätsverband. Der Nationalstaat, als zentrales Ordnungsprinzip der Moderne – nennen wir es die sozialintegrative Dimension der Moderne – hat ebenfalls nach wie vor den höchsten Normstatus ebenfalls im Verfassungs-, Menschen- und Völkerrecht. Das heißt nun zunächst nichts anderes, als dass die Basisnormen und -institutionen der Moderne nach wie vor mit der Öffentlichkeitskonzeption der Aufklärung verknüpft sind. Wenn wir diese drei Dimensionen abbilden (vgl. Abb. 1), dann lassen sie sich als Bedingungen von vernunftkonstituierter Freiheit und intentionaler Vergesellschaftung direkt der vierten Dimension, der vernunftabsolutistischen Einsicht in die Notwendigkeit des Aufklärungsverständnisses gegenüber stellen. Dieses normative und kognitive Schnittmuster der Moderne entstand an seiner Schwelle und bestimmt diese Gesellschaftsformation bis heute. Die Moderne bleibt Moderne, solange diese Basisnormen Geltung für ihre Selbstkritik behalten. Auch wenn diese Normen und die mit ihnen verbundenen Institutionen in der Verfassungs-, Menschen- und Völkerrechts(r-)Evolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts noch an Verbindlichkeit und Präzision gewinnen, konnten die Klassiker der Sozialwissenschaften nicht anders als sich mit diesen konstitutiven Vorgaben moderner Vergesellschaftung auseinanderzusetzen. Ihnen konnte weder die evidente soziale Kraft dieser Ideen noch ihre gesellschaftsstrukturelle
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Umsetzung entgehen. Ihre unterschiedlichen Antworten werden wichtig für die theoretische Entwicklung der Sozialwissenschaften bis in unsere Gegenwart.
Freiheit:
Öffentlichkeit
Notwendigkeit: Privatheit
Deliberative Dimension
Universalistische Vernunft und Moral
politischrechtliche Dimension
Menschen- & Minderheitenrechte, Demokratie und Staatsgewalt
Sozialintegrative Dimension
Intersubjektivität und Nationalstaat
Natur- und Sozial- Hinter den Mengesetze, Affekte schen und durch sie hindurch
Kultur Intentionalität Handlung
Struktur System
Abb. 1: Normativer Horizont der Aufklärungsöffentlichkeit: Freiheit und Notwendigkeit Wir haben es also mit der ›Eingleisung‹ der Gesellschaftstheorie zu tun. Wir können diese ›Eingleisung‹ nach der Bedeutung gliedern, welche die Kategorie Öffentlichkeit und das daran geknüpfte kommunikative und intentionale Moment einnimmt. Umgekehrt lassen sich die gesellschaftstheoretischen Ansätze evidenterweise auch danach gliedern, inwieweit die Kategorie sozialstrukturelle Gesetzmäßigkeit durch die Einsicht in die Notwendigkeit den Kern des theoretischen Zugriffs ausmacht (vgl. Imhof 2005). Hier konzentrieren wir uns auf das intentionale Moment der Aufklärung und die daraus hervorgehende republikanische und liberale Tradition politischer Deliberation in der politischen Philosophie. Denn diese aus den Aufklärungsidealen gerinnenden Traditionen der Deliberation prägen die Vorstellungen über die Qualität der öffentlichen Meinungsbildung. Im Kern unterscheiden sich diese beiden Traditionen in der unterschiedlichen Betonung von Deliberation und Rechtstaat: Während in republikanischer Perspektive die deliberative Selbstverständigung und die daraus hervorgehende demokratische Selbstherrschaft der vereinigten Staatsbürger im Mittelpunkt stehen, betont der klassische Liberalismus den Rechtsstaat funktionalistisch als rahmensetzendes Element der politischen Deliberation und der individuellen Freiheit (Habermas 1992: 274
DIE UTOPIE DER AUFKLÄRUNG ALS »LIST DER GESCHICHTE«
359-362). Hier spiegelt sich die erste Aporie des modernen Freiheitsverständnisses, in dessen Spannungsfeld die moderne Gesellschaft sowohl die Freiheit und ihre stützenden Institutionen hervorzubringen (Republikanismus), wie aber auch gleichzeitig den Einzelnen von den potentiell freiheitsbeschränkenden Institutionen des Staates (und der Mehrheit) zu schützen hat (klassischer Liberalismus in der Tradition John Lockes). Das republikanische Verständnis der politischen Deliberation tritt uns am reinsten in der aristotelischen Sozialphilosophie Hannah Arendts entgegen: Die politische Meinungs- und Willensbildung der Staatsbürger ist konstitutiv für das Selbstverständnis der Gesellschaft, in ihr verkörpert sich die Selbstherrschaft, die Staatsbürger bilden gewissermaßen den Staat (Arendt 1983: 193-202). Die Meinungs- und Willensbildung in freier Öffentlichkeit ist die Bedingung, dass sich die vereinigten Bürger überhaupt als Gesellschaft verstehen können. Kommunikation und die daraus hervorgehende Gesellschaft ist damit per se politisch, die Gesellschaft ist auch eine Gemeinschaft, weil nur freie Kommunikation eine gemeinsame Geschichte und Identität konstituiert. Außerdem entsteht »Macht« in diesem radikal-republikanischen Selbstverständnis ausschließlich kommunikativ, d.h. durch das »Übereinstimmen der Vielen« in der »öffentlichen Meinung« (Arendt 1983: 193f.; Hölscher 1978: 413468; Koselleck 1973: 68-104). Daraus ergibt sich ein idealistisches Freiheitsverständnis, welches in einem permanenten Spannungsverhältnis zu staatlichen Institutionen steht. In der Perspektive des klassischen Liberalismus entfaltet sich dagegen die demokratische Willensbildung der Bürger im Rahmen einer Verfassung, in der die Staatsgewalt durch Grundrechte, Gewaltenteilung und Gesetzesbindung domestiziert ist. Außerdem führt der Wettbewerb der politischen Parteien auch stellvertretend für die Bürgerschaft zur Berücksichtigung der relevanten gesellschaftlichen Interessen. Während die republikanische Tradition vom kollektiven Akteur eines räsonierenden Staatsbürgerpublikums ausgeht, kann das realistischere liberale Politikverständnis auf eine kollektiv handlungsfähige Bürgerschaft verzichten. Die Deliberation derjenigen, die sich daran beteiligen und die damit verbundenen Wahl- und Abstimmungsrechte dienen hier der Legitimation der Regierung, der staatlichen Institutionen und dem Parlament, das die Deliberation auf Dauer stellt; die Deliberation da dient substantialistischer der permanenten Selbstbestimmung der vereinigten Republikaner. Gleichwohl setzen beide Traditionen die Deliberation als konstitutiv für die moderne Gesellschaft voraus. Ohne Deliberation in freier Öffentlichkeit – so die Quintessenz – keine moderne Gesellschaft (vgl. auch Dewey 1996). Daraus ergibt sich, dass die demokratische Gesellschaft ihren Bürgern das Selbstverständnis zubilligen muss, sich als Autoren je-
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ner Gesetze verstehen zu können, denen sie sich selbst unterziehen (Habermas 1998: 93). Daraus ergibt sich weiter die Bedeutung, die den Bedingungen und Formen der politischen Deliberation – also der Qualität der öffentlichen Meinungsbildung – zukommt. Diese Bedeutung manifestiert sich in der Kritik an den real existierenden Formen der Meinungs- und Willensbildung, die die ganze Moderne kennzeichnet. Von Hegel, Tocqueville und Marx bis zur zeitgenössischen Gesellschaftstheorie entfaltet sich eine ununterbrochene Geschichte der Kritik, die bis hinein in das Feuilleton und die zeitkritische Talkshow implizit oder explizit an diesen Basisnormen Maß nimmt. Gerade indem die Aufklärungsutopie mit dem, was daraus entstand, beständig verglichen wird, erhält sich die Moderne ein wirkmächtiges Kritikpotential. Öffentlichkeit als medial veranstaltete ›Veröffentlichkeit‹ und damit Mittel des politischen wie auch ökonomischen Marketings wird zum Hauptkritikpunkt und damit zu dem demokratietheoretischen Problem der Moderne. Gesellschaftsweit relevante Kommunikation reproduziert sich – insbesondere nach dem neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit (vgl. Münch 1995) – in den Eigenlogiken eines kommerzialisierten Mediensystems und dessen Interdependenzen namentlich zu Politik und Wirtschaft sowie in sozialen Strukturen, die die Gesellschaft stratifikatorisch, funktional und segmentär untergliedern. Insbesondere laufen Selektions- und Interpretationslogiken in und über professionalisierte Kommunikationszentren ab, zu denen die Zugangschancen ungleich verteilt sind. Aufmerksamkeitsbezüge und Leitbilder, die die Realitätserfahrung der Gesellschaftsmitglieder affizieren, sind nicht das Produkt eines verständigungsorientierten Einigungsprozesses, sondern Folge eines komplexen Wettbewerbs und seiner intendierten und nicht-intendierten Folgen um Aufmerksamkeit und Definitionsmacht über die Realität. Aber die radikaldemokratischen Postulate im Öffentlichkeitsbegriff der Aufklärung begleiten als Maßstab der Kritik den Modus der politischen Entscheidungsfindung in modernen Gesellschaften. Als Kritik am Bestehenden wirkt also die »Idee« des aufklärungsliberalen Öffentlichkeitsverständnisses bis in unsere Gegenwart hinein. Gemessen an der Utopie, der wir die Moderne verdanken, ist diese Moderne immer illegitim.
3 . V al i d i e r u n g d er » d em o k r a ti s c he n Q u al i tä t« m e d i e n v e r m i tte l t e r K o m m u n i k a ti o n Nach dem sprachphilosophischen, pragmatischen, phänomenologischen und/oder konstruktivistischen Austritt aus dem Aufklärungsrationalismus, der der Vernunft noch die unmittelbare Wirklichkeitserfassung zu-
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DIE UTOPIE DER AUFKLÄRUNG ALS »LIST DER GESCHICHTE«
traute, bleiben nach wie vor die normativen Postulate der Aufklärungsphilosophie, auf die eine ertragreiche Medienkritik basieren muss. Das Tertium einer kritischen Analyse medienvermittelter Weltdarstellung kann keine »wirkliche Wirklichkeit« sein, die den Medienbildern entgegengestellt werden kann, sondern der Anspruch auf demokratische Selbstherrschaft und eine prozessurale Vernunft. Die medienvermittelte öffentliche Kommunikation muss an diesem Maßstab gemessen werden. Damit ist Medienkritik immer auch Gesellschafts- und Demokratiekritik, und die Medien selber sind ebenso Subjekt wie Objekt der Kritik. Die dem Öffentlichkeitsverständnis der Aufklärung entstammenden Basisnormen der Moderne sind bei diesem Ansatz Ausgangspunkt für die empirische Validierung der »demokratischen Qualität« medienvermittelter Kommunikation. Konfrontiert man diese Basisnormen mit den Grundfunktionen politischer Öffentlichkeit (vgl. Neidhard 1994), erhält man eine Matrix (vgl. Abb. 2), aus der sich Forschungsfragen ableiten lassen, welche einer Operationalisierung und empirischen Validierung zugeführt werden können.
Grundfunktionen politischer Öffentlichkeit
Aufklärungsdimensionen der Moderne Deliberative Dimension
Politisch-rechtli- Sozialinteche Dimension grative Dimension
Problemselektion Deliberative für Meinungs-, Wil- Qualität lens u. Entscheidungsfindung
VerfahrensAdäquanz
Resonanzchancen
Kontrolle von Herrschaft
Kritikpotential
Kontrollierende Qualität
Definitionschancen
Sicherung von Intersubjektivität
Thematisierungsvielfalt
Repräsentationsadäquanz
Vermittelnde Qualität
Abb. 2: »Demokratische Qualität« medienvermittelter politischer Kommunikation In dieser Matrix lässt sich die deliberative Dimension auf die Grundfunktion der Problemselektion für die Meinungs-, Willens- und Entscheidungsfindung beziehen, bzw. die politisch-rechtliche Dimension auf die Herrschaftskontrolle und die sozialintegrative Dimension auf die Sicherung der Intersubjektivität. Daraus lassen sich die »demokratischen« Qualitäten medienvermittelter Kommunikation ableiten: 277
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Die deliberative Qualität medienvermittelter Kommunikation bemisst sich an der öffentlichen Be- und Verarbeitung sozialer Problemlagen. Dabei kommt der medienvermittelten öffentlichen Kommunikation die Aufgabe zu, Probleme zu identifizieren, Meinungen verschiedener Interessengruppen zu vermitteln und die Lösungs- und Entscheidungsfindung zu befördern. Die kontrollierende Qualität medienvermittelter Kommunikation äußert sich in einer kritischen Reflexion des Rechtsstaates und seiner Instanzen. Das Transparentmachen von Machtpotentialen, von allfälligen Machtungleichgewichten und -missbräuchen wird nach dem Strukturwandel der Öffentlichkeit nicht mehr allein von der politischen Opposition wahrgenommen, sondern vor allem von den politisch entkoppelten und ökonomisierten Medien. Die vermittelnde Qualität medienvermittelter Kommunikation zeigt sich an den Möglichkeiten durch die öffentliche Kommunikation Einsicht in unterschiedliche Lebenswelten, Interessenlagen und Interpretationshorizonte zu erhalten. Auch diese Aufgabe des sozialen Verstehensund Verständigungsprozesses ist nach dem Strukturwandel der Öffentlichkeit an die politisch entkoppelten und ökonomisierten Medien delegiert. Allerdings können nicht nur diese Querbezüge zwischen den Basisnormen und den Grundfunktionen von Öffentlichkeit hergestellt werden: In Hinsicht auf Problemselektion und -lösung kann die politischrechtliche wie sozialintegrative Dimension ebenso reflektiert werden. Dann interessieren die verfahrensadäquate Thematisierung von Entscheidungsprozessen bzw. die Resonanzchancen von nicht definitionsmächtigen, zivilgesellschaftlichen wie oppositionellen Akteuren. Die Kontrolle von Herrschaft lässt sich in deliberativer Sicht mit der Frage nach dem Kritikpotential medienvermittelter Kommunikation verbinden. Und in sozialintegrativer Sicht stellt sich die Frage nach den Definitionschancen von nicht machthaltigen Akteuren, und damit nach dem Ausgleich von Definitionsmacht zwischen professionellen Akteuren der Interessenvertretung und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Schließlich hängt die Sicherung der Intersubjektivität in deliberativer Hinsicht von der Thematisierungsvielfalt medienvermittelter Kommunikation, d.h. davon ab, inwieweit verschiedene Aspekte der Thematik in die Deliberation Eingang finden. Und in Bezug auf die politisch-rechtliche Dimension kann die Intersubjektivität nur gesichert werden, wenn Minderheiten in der medienvermittelten Kommunikation adäquate Berücksichtigung finden – Repräsentationsadäquanz. Werden die genannten Elemente der »demokratischen Qualität« auf die besprochene, republikanische und liberale Tradition politischer Deli-
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DIE UTOPIE DER AUFKLÄRUNG ALS »LIST DER GESCHICHTE«
beration bezogen, erschließen sich die unterschiedlichen Anforderungen, die diese Traditionen an die medienvermittelte Kommunikation stellen. Weil die republikanische Tradition die deliberative Selbstverständigung der Bürgerinnen und Bürger betont, orientiert sie sich stärker an den Aspekte der deliberativen Qualität, des Kritikpotentials und der Thematisierungsvielfalt. Mit der Betonung des Rechtsstaates in der liberalen Tradition politischer Deliberation sind die Anforderungen an die »demokratische Qualität« medienvermittelter Kommunikation geringer als in der republikanischen Tradition. Wohl kann auch die liberale Tradition nicht auf eine deliberative Qualität medienvermittelter Kommunikation verzichten. Aber mit dem stärkeren Akzent auf die Verfahrensadäquanz im Problemlösungsverfahren, auf die kontrollierende Qualität hinsichtlich der Herrschaftspraxis und auf die Repräsentationsadäquanz, ist in dieser Tradition die »demokratische Qualität« medienvermittelter Kommunikation ›leichter‹ zu erreichen. Trotz diesen Unterschieden zwischen den republikanischen und liberalen Tradition politischer Deliberation bleiben die drei zentralen Größen der »demokratischen Qualität« medienvermittelter Kommunikation die deliberative, die kontrollierende und die vermittelnde Qualität. Alle drei sind für die Selbstwahrnehmung und -steuerung von modernen, demokratischen Gesellschaften essentiell. Der zentrale Adressat solcher Anforderungen kann nach dem neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit nur das von der Politik ausdifferenzierte und von der Wirtschaft entdifferenzierte Mediensystem sein. Regulative Instanz solcher Leistungsansprüche ist zwar nach wie vor die Politik, als Öffentlichkeitsakteur ist sie aber zu einem Mitspieler um die öffentliche Aufmerksamkeit geworden. Daher muss sich die Politik den sich eigenständig etablierenden, vermehrt nach ökonomischen Gesichtspunkten funktionierenden Medien unterwerfen und verliert damit ihr altes Öffentlichkeitsmonopol in Form der Parteiund Verbandszeitungen wie des staatlichen bzw. öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Da sich die normativ geforderte Herrschaftskontrolle synergetisch mit der Aufmerksamkeitsmaximierung der Medien mittels Skandalisierung von Machtträgern verbindet, wird zwar die kontrollierende Qualität medienvermittelter Kommunikation gestärkt, wobei Medien Subjekt der Kritik sind. Die deliberative Qualität entspringt aber politischen Logiken und Notwendigkeiten, die auf Seiten der ausdifferenzierten Medien keine synergetischen Entsprechungen finden (vgl. Meyer/Ontrup/Schicha: S 31ff.). Im Gegenteil: Sie wird im Wechselspiel zwischen den Aufmerksamkeit erheischenden Meinungsinszenierungen und Interessenmanifestationen durch politische Akteure und der Selektion von ›medientauglichen‹, oft machthaltigen bzw. prominenten Politikakteuren durch die
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medialen Akteure geschwächt. Die vermittelnde Qualität unterliegt ebenfalls Strukturwandelseffekten. Die verstärkte Personalisierung und Privatisierung medienvermittelter Kommunikation führt dazu, dass die sozialen Verstehens- und Verständigungsprozesse vermehrt individualisiert und die Vermittlung von Gruppenpositionen in den Hintergrund gedrängt wird. Weil nach dem neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit das ausdifferenzierte Mediensystem nicht nur, aber hauptsächlicher Adressat der normativen Anforderungen an öffentliche Kommunikation ist, und weil sich die kontrollierende Qualität medienvermittelter Kommunikation mit den Eigenlogiken der Medien verbindet, muss sich Medienkritik – im Sinne der Medien als Objekt der Kritik – insbesondere auf die deliberative und vermittelnde Qualität medienvermittelter Kommunikation beziehen. In und für die Öffentlichkeit sollen Medien nicht nur im Sinne der Herrschaftskontrolle die vierte Gewalt darstellen, sondern ebenso Meinungs-, Willens- und Entscheidungsfindung wie Verstehens- und Verständigungsprozesse fördern. Diese Präzisierung des Gegenstandes der Kritik an der medienvermittelten öffentlichen Kommunikation lässt sich hier nur in Teilaspekten untersuchen. Operationalisieren und empirisch umsetzten lässt sich etwa die Frage nach der deliberativen Qualität bzw. der Verfahrensadäquanz und der Resonanzchancen von zivilgesellschaftlichen Akteuren anhand der Analyse eines policy cycles. Dadurch lässt sich die Problemselektion wie die Meinungs-, Willens- und Entscheidungsfindung in der öffentlichen Kommunikation nachvollziehen. Konkret verglichen werden die mediale und parlamentarische Kommunikation sowie die Schritte des Entscheidungsverfahrens. Zum Schluss wird nun eine Validierung der »demokratischen« Qualität medienvermittelter Kommunikation anhand des Fallbeispiels ›Ausländer- und Asyldiskus in Deutschschweizer Printmedien‹ vorgestellt. Im Zentrum steht die Frage, welche Akteure in der medienvermittelten Kommunikation Resonanz erhalten. Die Berichterstattung zur Problematisierung des Fremden in deutschschweizerischen Leitmedien wurde ausgewählt, weil diese die massenmediale, politische Agenda anhaltend wie intensiv prägte und prägt und von allen wesentlichen, politischen Akteuren wie den Medien bewirtschaftet wurde und wird. An der Problematisierung des Fremden, so wird hier unterstellt, zeigen sich die Effekte des neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit repräsentativ, weil gerade intensive politische Konflikte durch eine Vielzahl von Akteuren geprägt sind.
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DIE UTOPIE DER AUFKLÄRUNG ALS »LIST DER GESCHICHTE«
Im Verlauf dieser Debatte über das Fremde2 (vgl. Abb. 3) verschiebt sich der Problemkern. Anfänglich konzentriert sich diese auf das ›Ausländerproblem‹ und in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums ist sie auf das ›Problem der Asylsuchenden‹ fokussiert. Diese intensive, immer neue Herkunftsgruppen einbeziehende Auseinandersetzung (vgl. Kamber/Schranz 2000) wird in beiden Phasen, d.h. sowohl in der Problematisierung der Arbeitsmigration in den 60er Jahren, wie der Asylmigration in den ausgehenden 70er und 80er Jahren von rechtsbürgerlichen Protestparteien bewirtschaftet (Abb. 3: Abstimmung/Vorlage von »Rechts« bzw. »Links«), um dann auch die etablierten politischen wie staatlichen Akteure (Abb. 3: Abstimmung/Vorlage von »Bundesrat« bzw. »Parlament«) einzubeziehen. Ausländer - Gast- und Fremdarbeiter Problematisierung
Asylsuchende - Flüchtlinge
Rechtsopposition
Politisches Zentrum Rechtspopulismus
Rechtspopulismus Autonome Medien
Abstimmung Vorlage von: Rechts - R Links - L Bundesrat - BR
R
R
R
L BR
BR R
BR
R
BR
1996
1999
Parlament
Mediendiskurs
1960
1962
1966
Inhaltsanalyse
1969
1972
1975
1978
1981
Kommunikationsereignisse
1984
1987
1990
Ja - Nein
1993
Debatte
Abb. 3: policy cycle – Ausländer- und Asylproblem Allerdings führt der policy cycle mit den Phasen der Problemdefinition, der Bestimmung der politischen Agenda in Parlament, der Politikformulierung und der Implementation beim Ausländer- und Asylproblem nicht zu einer zeitfesten politischen Lösung. Vielmehr wird der policy cycle 2
Der Mediendiskurs wurde in seinen wesentlichsten Kommunikationsereignissen (Imhof 1993: 11–60) – also als Kommunikationsereigniskette – systematisch aus Deutschschweizer Printmedien erhoben. Erfasst wurden die zehn größten Kommunikationsereignisse – des Blicks, Tages-Anzeigers, der NZZ, der Tagwacht bzw. des Bund und des Vaterlandes bzw. der (Neuen) Luzerner Zeitung – von 1910 bis in die Gegenwart. Durch die Inhaltsanalyse der Kommunikationsereignisse lässt sich der Wandel der Akteure des politischen Entscheidungsfindungs- und Durchsetzungsprozesses als zentrale Aussageträger in der Berichterstattung über die Ausländer- und Asylpolitik in ihrer wechselseitigen Interdependenz nachvollziehen.
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zerhackt (vgl. Imhof/Kamber 2001), es kommt zu einer Verstetigung des plebiszitären Drucks (Abb.3: Abstimmung/»Ja – Nein«), die Kadenz der parlamentarischen Debatten erhöht sich über die vier Jahrzehnte (Abb. 3: Parlament/»Debatten«) und ist teilweise eigentlichen Medienkampagnen nachgelagert. Die Asylrechtsgesetzgebung und der Vollzug werden dadurch – zusätzlich gefördert durch den innereuropäischen Verschärfungswettbewerb – zu einer Dauerbaustelle. Der Beobachtungszeitraum dieses ›repetitiven‹ policy cycles von 1960 bis 1999 kann anhand des dargestellten Mediendiskurses, der Parlamentsdebatten und der Abstimmungen in vier Phasen unterteilt werden: In der ersten Phase der Problematisierung der Arbeitsmigration in den 50er und frühen 60er Jahre sind zunächst im Rahmen der Konjunkturdebatte Kräfte des politischen Zentrums, wie der Linken und der Gewerkschaften beteiligt. Die Problematisierung des Fremden betreiben ab 1964 aufstrebende, nicht etablierte rechtsbürgerliche Akteure und treiben den politischen Prozess unter dem Schlagwort »Überfremdung der Schweiz« mit medienwirksamen Manifestationsformen und durch Volksinitiativen an (vgl. Eisenegger/Karl 1995). Diese rechtsbürgerlichen Protestparteien unterliegen mit ihren Initiativen v.a. in der ersten Hälfte der 70er Jahre teilweise sehr knapp (1970). Das »Gastarbeiterproblem« wird in dieser zweiten Phase letztlich nicht einer politischen Lösung zugeführt, sondern im Rahmen der Wirtschaftskrise und der damit verbundenen Rückwanderung von ausländischen Arbeitskräften massiv entschärft. Die dritte Phase der 80er Jahre ist zweigeteilt: In der ersten Hälfte werden die Lösungsvorschläge zum Fremdarbeiterproblem von Links und vom politischen Zentrum abgelehnt. In der zweiten Hälfte bewirtschaften die wiederaufstrebenden rechtsbürgerlichen Protestparteien immer mehr und ausschließlicher die Asylpolitik. Die vierte Phase der 90er Jahre ist geprägt durch die Schweizerische Volkspartei (SVP), welche die Problematisierung des Fremden (neben der Europafrage) zu ihrem zentralen Gegenstand macht. Als Partei des politischen Zentrums verdrängt sie die rechtsbürgerlichen Protestparteien, inkorporiert deren Wählersegmente und baut durch die stetige Skandalisierung der Asylpolitik der Behörden im Verbund mit dem Boulevardmedium Blick (bis 1997) einen außerordentlichen plebiszitären Druck auf. Dies führt zu einer Fülle von Asylgesetzrevisionen und damit zur wiederholten Verschärfung des Gesetzes und des Vollzugs. Im Folgenden wird aus der Untersuchung der Medienberichterstattung (Abb. 3: Inhaltsanalyse) die relative Resonanzintensität der verschiedenen politischen Akteure im Ausländer- und Asyldiskurs in den vier skizzierten Phasen dargestellt und der Frage nachgegangen, welche
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DIE UTOPIE DER AUFKLÄRUNG ALS »LIST DER GESCHICHTE«
deliberative Qualität sich zeigt bzw. inwieweit ein verfahrensadäquater und Resonanzchancen eröffnender Mediendiskurs zu beobachten ist. Trotz der Nichtberücksichtigung der Meinungen, welche die resonanzintensiven Akteure im Mediendiskurs vermitteln, zeigt die Analyse, dass in dieser hoch konfliktiven Debatte die deliberative Qualität der medienvermittelten öffentlichen Kommunikation gemessen am Ideal stark eingeschränkt ist. Trotz der sich erhöhenden Kadenzen der Parlamentsdebatten erhält die Legislative im Verlauf der vier Jahrzehnte immer weniger Resonanz, während die Exekutive/Verwaltung massiv gewinnt (vgl. Abb. 4). Dies bedeutet, dass die Deliberation im Parlament kommunikativ »eingeschlossen« wird. Der Kern des deliberativen Prozesses, das Parlament, büßt dabei seine Funktion für die kollektive Meinungs- und Willensbildung ein. Die Konsens bildende und pragmatischere Diskursivität des Parlaments wird überlagert durch die mediale Präsentation von Entscheidungs- und Verwaltungshandeln. Die Aushandlung eines Kompromisses, insbesondere auch im Bundesrat als konkordante Instanz und unter den Bundesratsparteien (die Mehrheitsbeschaffer in der Legislative), wird durch solche Kommunikationsdynamiken erschwert und die Chancen auf mehrheitsfähige Lösungen verschlechtern sich. 40%
Resonanzintensität im Mediendiskurs
Anzahl
8
Debatten 35%
7
Exekutive / Verwaltung Legislative
30%
6
Bundesratsparteien Verbände / Gewerkschaften
25%
5
20%
4
15%
3
10%
2
5%
1 0
0% Problematisierung 60er
Rechtsopposition 70er
politisches Zentrum / Rechtspopulismus 80er
Rechtspopulismus / autonome Medien 90er
Abb. 4: Problemselektion – staatliche und etablierte Politikakteure Ebenfalls eine Scherenbewegung zeigt sich bei den etablierten Politikakteuren, wobei die Bundesratsparteien an Resonanz gewinnen und die Verbände verlieren. Ingesamt verweisen diese Resonanzintensitäten von staatlichen und etablierten Akteuren auf eine Schwächung der Resonanz der Legislative und der korporativ agierenden Verbandsakteure. Die 283
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Konfliktlösungsmechanismen des schweizerischen Politiksystems werden geschwächt, weil unter Bedingungen neuer Medienlogiken machtträchtige Akteure (Exekutive) und konfliktstilisierende, polarisierende Akteure (Schweizerische Volkspartei) erhöhte Resonanzchancen gewinnen. Die Resultate zeigen, dass auch von einer Verfahrensadäquanz der medienvermittelten öffentlichen Kommunikation im Ausländer- und Asyldiskurs nicht die Rede sein kann. Gerade in intensiven politischen Konflikten genügt die medienvermittelte öffentliche Kommunikation den Qualitätsanforderungen auch der liberalen Tradition mit ihrer Betonung der Verfahrensadäquanz nicht. Medien müssen deshalb in Konfliktsituationen zum Objekt der Kritik werden, wenn sie nicht zum Instrument der Konfliktverschärfung ›verkommen‹ sollen. Allerdings eröffnen die untersuchten deutschschweizerischen Printmedien im sozialen Wandel Resonanzchancen für nicht etablierte Politikakteure und sorgen damit für die Durchlässigkeit von alternativen Sichten in der medienvermittelten öffentlichen Kommunikation (vgl. Abb. 5). 40%
35%
30%
Exekutive / Verwaltung 25%
Bundesratsparteien nicht etablierte Politikakteure Medien
20%
15%
10%
5%
0% Problematisierung 60er
Rechtsopposition 70er
politisches Zentrum / Rechtspopulismus 80er
Rechtspopulismus / autonome Medien 90er
Abb. 5: Problemselektion und -lösung – Medien und nicht-etablierte Politikakteure In der Krise der 70er Jahre überflügelt die Resonanz der nicht etablierten Akteure im Ausländerdiskurs diejenige der Exekutive und der Verwaltung wie diejenige der Bundesratsparteien. Weil sich der neue Strukturwandel der Öffentlichkeit bereits beschleunigt und durch die krisentypische Umkehrung der Definitionsmacht zwischen Zentrum und Peripherie erhalten die nicht etablierten Akteure (rechtsbürgerliche Protestparteien
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insbesondere die »Nationale Aktion für Volk und Heimat« und die [Schwarzenbach-]»Republikaner«) als zentrale Aussageträger durch ihre medienwirksamen Aktionen sehr hohe Resonanz. Dieser krisentypische Resonanzgewinn von nicht etablierten Politikakteuren bricht aber in den folgenden zwei Jahrzehnten nicht mehr gänzlich zusammen, was auf die gewandelte Funktion der Medien selber im öffentlichen Diskurs zurückzuführen ist. Noch vor der Akzelerationsphase im neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit in den 80er Jahren sind die Medien im Diskurs über das Fremde die definitionsmächtigsten Akteure – gemessen als zentrale Aussageträger. Dies erklärt sich dadurch, dass im Meinungskampf die noch parteiverbundenen oder -nahen Medien selbst die Positionen des etablierten politischen Zentrums verkörpern und Agenda wie Inhalt der Berichterstattung auf der Basis ihrer politischen Selektions- und Interpretationslogiken kreieren. Mit dem Niedergang der Parteiorgane bzw. ihrer Ausdifferenzierung aus der Politik werden die Medien zum Forum für die politischen Akteure. Dadurch wird die Selektionsfunktion der Medien gegenüber ihrer Interpretationsfunktion aufgewertet und nicht etablierte Akteure erhalten erhöhte Resonanzchancen, sofern sie sich den neuen Selektionslogiken der Medien anpassen. Nicht nur in Krisen, sondern generell – so lässt sich folgern – ist die Durchlässigkeit der Medien für oppositionelle Akteure gestiegen. Dies erhöht die Qualität der medienvermittelten öffentlichen Kommunikation insofern, als dass die Problemselektion vom politischen Zentrum stärker entkoppelt wird. Allerdings stellt sich die Frage nach der Überfrachtung der Politik mit Problemlagen, die je nach dem von unterschiedlicher Dringlichkeit und sozialer Relevanz sind, aber bei mediengerechter Inszenierung und Propagierung breite öffentliche Aufmerksamkeit zu generieren vermögen.
L i t e r at u r Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max (1968): »Ideologie«. In: Institut für Sozialforschung: Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskussionen. (Hg.) Adorno Theodor W./Walter Dirks. Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt, S.162-181. Arendt, Hannah (1974): Über die Revolution, München: Piper (Erstausgabe: 1963). Arendt, Hannah (1985): Vita activa oder vom tätigen Leben, 4. Auflage. München: Piper, (Originalausgabe: The Human Condition, Chicago 1958).
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KULTURINDUSTRIE REVIEWED
Dahrendorf, Ralf (1969): »Aktive und passive Öffentlichkeit«. In: Löffler, M. (Hg.), Das Publikum, München: Beck, S. 3-91. Dewey, John (1996, [1927]): Die Öffentlichkeit und ihre Probleme. Bodenheim: Philo. Dubiel, Helmut (Hg.) (1986): Populismus und Aufklärung, Frankfurt/M.: Suhrkamp Eisenegger, Mark/Karl, Hanspeter (1995): Die Differenzsemantiken der schweizerischen »Neuen Rechten« und des politischen Konservatismus. Zur ideologischen Konstruktion von »Eigen« und »Fremd« im massenmedialen Diskurs. Lizentiatsarbeit an der Universität Zürich. Habermas, Jürgen (1984): Strukturwandel der Öffentlichkeit, Darmstadt: Luchterhand Habermas, Jürgen (1992): Faktizität und Geltung, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1998): Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Hölscher, Lucian (1978): »Stichwort: Öffentlichkeit«. In: Brunner, O., W. Conze, R. Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 6 Bde., Bd. 4, Stuttgart: Klett-Cotta S. 413-468. Imhof, Kurt (1993): »Vermessene Öffentlichkeit – vermessene Forschung?« In: Kurt Imhof/Heinz Kleger/Gaetano Romano (Hg.) (1993): Zwischen Konflikt und Konkordanz. Analyse von Medienereignissen in der Schweiz der Vor- und Zwischenkriegszeit, Reihe: Krise und sozialer Wandel, Bd. 1, Zürich: Seismo. S. 11-60. Imhof, Kurt (1996): »Öffentlichkeit« als historische Kategorie und als Kategorie der Historie. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 1/1996, S. 3-25. Imhof, Kurt (1996a): »Die gesellschaftskonstitutive Bedeutung des Fremden und die diskontinuierliche Ethnisierung des Politischen. Zur Problematik der Trendperspektiven in der Gesellschaftstheorie«. In: Annali di Sociologia/Soziologisches Jahrbuch der Italienisch-deutschen Gesellschaft für Soziologie, S. 73-96. Imhof, Kurt (2003): »Öffentlichkeitstheorien«. In: Günter Bentele/HansBernd Brosius, Otfried Jarren (Hg.), Öffentliche Kommunikation. Handbuch Kommunikations- und Medienwissenschaft, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 193-209. Imhof Kurt (2005): Die Diskontinuität der Moderne. Theorie des sozialen Wandel und der Öffentlichkeit. Reihe ›Theorie und Gesellschaft‹, Axel Honneth/Hans Joas/Claus Offe/Peter Wagner (Hg), Bd. 36, Neuausgabe, Frankfurt/M.: Campus.
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DIE UTOPIE DER AUFKLÄRUNG ALS »LIST DER GESCHICHTE«
Imhof, Kurt/Kamber, Esther (2001): »Politik und Gesellschaft im Strukturwandel der Öffentlichkeit«. Zur Veränderung der Konstitutionslogiken der öffentlichen Kommunikation im Licht der Integrationsund Ordnungsdebatten, In: Jutta Allmendinger (Hg.), Gute Gesellschaft? Plenumsband A zum 30. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Opladen: Leske+Buderich. S. 425-453. Kamber, Esther/Schranz, Mario (2000): »Die Wahrnehmung des Fremden in deutsch-schweizerischen Medien«. In: Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny (Hg.): Das Fremde in der Schweiz, Zürich: SeismoVerlag. S. 135-151. Kohler, Georg (1999): »Was ist Öffentlichkeit?«. In: Studia philosophica, Vol. 58 / 1000, S. 197-217. Koselleck, Reinhart (1959): Kritik und Krise, Frankfurt/M.: Suhrkamp Meyer, Thomas/Ontrup, Rüdiger/Schicha, Christian (2000): Die Inszenierung des Politischen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Münch, Richard (1995): Dynamik der Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1972): Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Neidhard, Friedhelm (1994): »Jenseits des Palavers. Funktionen politischer Öffentlichkeit«. In: Wolfgang Wunden (Hg.): Öffentlichkeit und Kommunikationskultur. Beiträge zur Medienethik. Band 2. Hamburg, Stuttgart. S. 19-30. Riesman, David (1956): Die einsame Masse, Darmstadt [u.a.]: Luchterhand. Roß, Dieter (1997): »Tradition und Tendenzen der Medienkritik«. In: Hartmut Weßler/Christiane Matzen/Otfried Jarren/Uwe Hasebrink Uwe (Hg.), Perspektiven der Medienkritik, Opladen: Westdeutscher Verlag. S. 29-45. Sennett, Richard (1983): Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt/M.: Europäische Verlags-Anstalt. Toqueville de, Alexis (1959): Über die Demokratie in Amerika. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt. Weber, Max (1973): »Einleitung in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen«. In: Winckelmann, Johannes (Hg.), Max Weber. Soziologie, Universalgeschichtliche Analysen, Politik, Stuttgart: Alfred Körner, S. 398-440 (Erstdruck 1916).
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HINWEISE
ZU DEN
AUTORINNEN
UND
AUTOREN
Adelmann, Ralf, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienwissenschaften der Universität Paderborn. Momentane Arbeitsund Forschungsfelder: dokumentarische Fernsehformen, Medienökonomien der Populärkultur und visuelle Kulturen. Aktuelle Publikation: Visuelle Kulturen der Kontrollgesellschaft. Zur Popularisierung digitaler und videografischer Visualisierungen im Fernsehen, Münster: Lit Verlag (erscheint demnächst). [email protected] Becker, Barbara, Prof. Dr., Professorin am Institut für Medienwissenschaften der Universität Paderborn. Arbeitsschwerpunkte: Körperkonzepte und Identitätskonstruktionen in alten und neuen Medien, Analyse von Virtualisierungsprozessen (Virtuelle Gemeinschaften, virtuelle Identitäten), künstlerische und gesellschaftspolitische Dimensionen von Fotografie, Radio und digitalen Medien. Publikationen u.a.: Selbstinszenierung im Netz, in: Krämer, S. (Hg.) Performativität und Medialität“, München 2004; Medienphilosophie der Nahsinne, in: Sandbothe, M./Nagl (Hg): Systematische Medienphilosophie, Berlin 2005; Digital Beauties: Mediale Identitäts- und Körperinszenierungen“ (zus. m. Jutta Weber), in: Ehm, S./Schicktanz, S. (Hg): Körper als Maß, Stuttgart 2006. [email protected] Ellrich, Lutz, Prof. Dr., Professor für Medienwissenschaft an der Universität Köln. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Kommunikations-, Konflikt- und Computer-Theorie. Publikationen u.a.: Verschriebene Fremdheit, Frankfurt/New York 1999; Folter als Modell, in: P. Burschel (Hg.): Das Quälen des Körpers. Eine historische Anthropologie der Folter, Köln, Weimar, Wien 2000; Theatralität und Souveränität, in: M. Karmasin (Hg.) Kulturwissenschaft als Kommunikationswissenschaft, Opladen 2003. [email protected] Göttlich, Udo, PD Dr., Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung und Politikberatung an der Universität Duisburg-Essen. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Medien-, Kommunikations- und Kultursoziologie, Cultural Studies Approach. Aktuelle Publikation: zusammen mit Mike
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KULTURINDUSTRIE REVIEWED
Friedrichsen (Hrsg.), Diversifikation in der Fernsehunterhaltungsproduktion, Köln: Herbert von Halem Verlag. [email protected] Imhof, Kurt, Ordentlicher Professor für Publizistikwissenschaft und Soziologie an der Universität Zürich und Leiter des „fög – forschungsbereich öffentlichkeit und gesellschaft / Universität Zürich“; Direktor des „Soziologischen Instituts der Universität Zürich“; Arbeitsschwerpunkte: Öffentlichkeits- und Mediensoziologie, Gesellschaftstheorie, Soziologie sozialen Wandels, Minderheitensoziologie. Publikationen: Triumph und Elend des Neoliberalismus. (zus. m. T. Eberle), (Hg.), Zürich 2005; Demokratie in der Mediengesellschaft. Reihe Mediensymposium Luzern, Band 9, (zus. m. R. Blum, H. Bonfadelli, O. Jarren) (Hg.) Band 9, Wiesbaden 2006; Die Diskontinuität der Moderne. Theorie des sozialen Wandels; Neuausgabe, Frankfurt 2006. [email protected] Kamber, Esther, lic. Phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich; Leiterin des Bereichs „Forschung und Entwicklung“. Forschungsschwerpunkte: Öffentlichkeitssoziologie und -geschichte, Sozialer Wandel moderner Gesellschaften; Strukturwandel der Öffentlichkeit; politische und wirtschaftliche Kommunikation in Massenmedien, publizistische Qualität von Printmedien, Programmforschung im Radio und Fernsehen. Publikationen u.a..: Mediengesellschaft - der Gesellschaftsbegriff im Spannungsfeld der Modernetheorie, in: Imhof, K./Blum, R./Bonfadelli, H./ Jarren, O. (Hg.), Mediengesellschaft. Strukturen, Merkmale, Entwicklungsdynamiken, Wiesbaden: VS Verlag 2004; Der neue Kampf um Aufmerksamkeit. Zeitreihenanalyse der öffentlich-politischen Kommunikation (zus. m. K. Imhof), in: Donges, P. (Hg.), Politische Kommunikation der Schweiz, Bern: Haupt 2005. [email protected] Keppler, Angela, Prof. Dr.; Professorin für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Mannheim. Arbeitsschwerpunkte: Medien- und Kulturforschung, Film- und Fernsehtheorie, Film- und Fernsehanalyse, qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung, Rezeptionsforschung, Kommunikations- und Wissenssoziologie. Ausgew. Veröffentlichungen: Die Einheit von Bild und Ton. Zu einigen Grundlagen der Filmanalyse, in: Mai, M./Winter, R. (Hg.), Das Kino der Gesellschaft – die Gesellschaft des Kinos. Interdisziplinäre Positionen, Analysen und Zugänge 2006; Mediale Gegenwart. Eine Theorie des Fernsehens am Beispiel der Darstellung von Gewalt, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006 (im Druck). [email protected]
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HINWEISE ZU DEN AUTORINNEN UND AUTOREN
Kleiner, Marcus S. Kleiner, geb. 1973. Medien- und Kulturwissenschaftler, wiss. Mitarbeiter im Institut für Soziologie der Universität DuisburgEssen, Campus Duisburg und dort zudem Koordinator des Studiengangs „Angewandte Kommunikations- und Medienwissenschaft“. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Medien- und Kultursoziologie/-wissenschaft, Medien- und Kulturtheorie/kritik, Postmoderne/Poststrukturalismus, Populärkultur. Herausgeber der Kulturbuchreihe quadratur. Veröffentlichungen u.a.: Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken, Soundcultures. Über elektronische und digitale Musik, Globalisierungswelten. Kultur und Gesellschaft in einer entfesselten Welt. [email protected] Nieland, Jörg-Uwe; Jg. 1965; Diplom Sozialwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung und Politikberatung an der Universität Duisburg – Essen (Campus Duisburg). Arbeitsgebiete: Politische Kommunikation, Multimedia, (Pop)Kulturanalysen, empirische Medienwissenschaft. Veröffentlichungen (Auswahl): Politik, Medien, Technik. Festschrift für Heribert Schatz (mit H. Abromeit und Th.Schierl) (Hrsg.) Wiesbaden 2001; Neue Kritik der Medienkritik. Werkanalyse, Nutzerservice, Sales Promotion oder Kulturkritik? (mit G. Hallenberger) (Hrsg.) Köln 2005. [email protected]. Reichertz, Jo, Prof. Dr.; Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Duisburg-Esse; zuständig für die Bereiche ‚Strategische Kommunikation’, ‚Qualitative Methoden’, ‚Kommunikation in Institutionen’, und ‚Neue Medien‘. Arbeitsschwerpunkte: Medienwirkungen, Mediennutzung qualitative Text- und Bildhermeneutik, Kultursoziologie, Religionssoziologie; Neuere Publikationen: Jo Reichertz (2000). Die Frohe Botschaft des Fernsehens. Ein Essay. Konstanz 2000; Irritierte Ordnung. Die gesellschaftliche Verarbeitung von Terror. (mit. R. Hitzler) (Hrsg.), Konstanz; [email protected] Schneider, Irmela, Prof. Dr.; Professorin am Institut für Theater-, Filmund Fernsehwissenschaft; stellvertretende Geschäftsführende Direktorin und Teilprojektleiterin am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 'Medien und kulturelle Kommunikation' der Universität zu Köln. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Medientheorie und Mediengeschichte. Letzte Veröffentlichungen: Medienkultur der 70er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Band 3, Wiesbaden 2004 (Hg. mit Christina Bartz und Isabell Otto); Medienkultur der 60er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Band 2, Wiesbaden 2002 (Hg. mit Christina Bartz und Torsten Hahn); Medien in Medien, Köln 2002 (= Mediologie; Bd. 6) (Hg. mit Claudia Liebrand). [email protected]
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KULTURINDUSTRIE REVIEWED
Sutter, Tilmann, Prof. Dr., Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Arbeitsgebiete: Mediensoziologie, Soziologische Theorie, Sozialisationstheorie, Methodologie, Soziologie der Moral. Veröffentlichungen u.a.: Massenkommunikation, Interaktion und soziales Handeln (Hg. mit Michael Charlton), Wiesbaden 2001; Processes of inclusion in mass communication: A new perspective in media research. Communications. The European Journal of Communication Research (2005). [email protected] Wehner, Josef, PD Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fraunhofer Gesellschaft und am Institut für Medienwissenschaften der Universität Paderborn. Seine Forschungsschwerpunkte und Lehrgebiete sind Technik-, Medien- und Kommunikationssoziologie. Veröffentlichungen: Autonomie der Maschinen. Eine Einführung (zus. m. Thomas Christaller), in: T. Christaller/J. Wehner (Hg.), Autonome Maschinen - Perspektiven einer neuen Mediengeneration, Wiesbaden 2003; Innovation und Diffusion im Mediensystem – Eine netzwerktheoretische Sichtweise (zus. m.. Raimund Hasse), in: Medienwissenschaft Schweiz, 1/2005. [email protected] Wenzel, Ulrich, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Differenzierungstheorie, arbeitsmarktbezogene Biographieforschung, Wissens-, Kultur- und Mediensoziologie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Poststrukturalistische Medienforschung: Denken vom Vorrang der Zeichen, in: K. Neumann-Braun/St. MüllerDoohm (Hg.), Medien- und Kommunikationssoziologie, 2000; Subjekte und Gesellschaft. Zur Konstitution von Sozialität, 2005, (hg. zus. mit Bettina Bretzinger und Klaus Holz); Kulturen vergleichen. Sozial- und kulturwissenschaftliche Grundlagen und Kontroversen, 2005, (hg. zus. mit Ilja Srubar und Joachim Renn). [email protected] Winter, Rainer, Prof. Dr., Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: Medien- und Kulturtheorie, Cultural Studies, Medien- und Rezeptionsforschung. Bücher u.a.: Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozess (1995) und Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht (2001). [email protected]
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Kultur- und Medientheorie Simone Dietz, Timo Skrandies (Hg.) Mediale Markierungen Studien zur Anatomie medienkultureller Praktiken
Georg Stauth, Faruk Birtek (Hg.) ›Istanbul‹ Geistige Wanderungen aus der ›Welt in Scherben‹
Dezember 2006, 270 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-482-4
Oktober 2006, ca. 280 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-474-3
Vittoria Borsò, Heike Brohm (Hg.) Transkulturation Literarische und mediale Grenzräume im deutschitalienischen Kulturkontakt
Ursula Link-Heer, Ursula Hennigfeld, Fernand Hörner (Hg.) Literarische Gendertheorie Eros und Gesellschaft bei Proust und Colette
Dezember 2006, ca. 280 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-520-0
Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts Dezember 2006, ca. 220 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-420-4
Peter Rehberg lachen lesen Zur Komik der Moderne bei Kafka Dezember 2006, ca. 224 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-577-4
Jutta Zaremba New York und Tokio in der Medienkunst Urbane Mythen zwischen Musealisierung und Mediatisierung Oktober 2006, ca. 225 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-591-X
Oktober 2006, ca. 400 Seiten, kart., ca. 31,80 €, ISBN: 3-89942-557-X
Hedwig Wagner Die Prostituierte im Film Zum Verhältnis von Gender und Medium Oktober 2006, ca. 320 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 3-89942-563-4
Sibel Vurgun Voyages sans retour Migration, Interkulturalität und Rückkehr in der frankophonen Literatur Oktober 2006, ca. 280 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-560-X
Stefan Kramer Das chinesische Fernsehpublikum Zur Rezeption und Reproduktion eines neuen Mediums Oktober 2006, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-526-X
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Petra Leutner, Hans-Peter Niebuhr (Hg.) Bild und Eigensinn Über Modalitäten der Anverwandlung von Bildern
Michael C. Frank Kulturelle Einflussangst Inszenierungen der Grenze in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts
Oktober 2006, ca. 180 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-572-3
August 2006, ca. 230 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-535-9
Arno Meteling Monster Zu Körperlichkeit und Medialität im modernen Horrorfilm
Helga Lutz, Jan-Friedrich Mißfelder, Tilo Renz (Hg.) Äpfel und Birnen Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften
Oktober 2006, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 31,80 €, ISBN: 3-89942-552-9
Annett Zinsmeister (Hg.) welt[stadt]raum mediale inszenierungen September 2006, 160 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 16,80 €, ISBN: 3-89942-419-0
Bettina Mathes Under Cover Das Geschlecht in den Medien September 2006, ca. 220 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN: 3-89942-534-0
Karin Knop Comedy in Serie Medienwissenschaftliche Perspektiven auf ein TV-Format September 2006, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-527-8
Petra Missomelius Digitale Medienkultur Wahrnehmung – Konfiguration – Transformation August 2006, ca. 180 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN: 3-89942-548-0
August 2006, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-498-0
Barbara Becker, Josef Wehner (Hg.) Kulturindustrie reviewed Ansätze zur kritischen Reflexion der Mediengesellschaft August 2006, 250 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-430-1
Martin Pfleiderer Rhythmus Psychologische, theoretische und stilanalytische Aspekte populärer Musik August 2006, 386 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 3-89942-515-4
Antje Krause-Wahl, Heike Oehlschlägel, Serjoscha Wiemer (Hg.) Affekte Analysen ästhetisch-medialer Prozesse August 2006, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-459-X
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Michael Treutler Die Ordnung der Sinne Zu den Grundlagen eines ›medienökonomischen Menschen‹ Juli 2006, 282 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-514-6
Regina Göckede, Alexandra Karentzos (Hg.) Der Orient, die Fremde Positionen zeitgenössischer Kunst und Literatur Juli 2006, 214 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN: 3-89942-487-5
Georg Mein (Hg.) Kerncurriculum BA-Germanistik Chancen und Grenzen des Bologna-Prozesses Juli 2006, 94 Seiten, kart., 11,80 €, ISBN: 3-89942-587-1
Petra Gropp Szenen der Schrift Medienästhetische Reflexionen in der literarischen Avantgarde nach 1945 Juli 2006, 450 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-404-2
Ralf Adelmann, Jan-Otmar Hesse, Judith Keilbach, Markus Stauff, Matthias Thiele (Hg.) Ökonomien des Medialen Tausch, Wert und Zirkulation in den Medien- und Kulturwissenschaften Juli 2006, 338 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-499-9
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de